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German Pages 294 Year 2014
Schriften zum Internationalen Recht Band 196
Hassrede im Internet Grundrechtsvergleich und regulatorische Konsequenzen
Von
Christian Mensching
Duncker & Humblot · Berlin
CHRISTIAN MENSCHING
Hassrede im Internet
Schriften zum Internationalen Recht Band 196
Hassrede im Internet Grundrechtsvergleich und regulatorische Konsequenzen
Von
Christian Mensching
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2009 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2009/2010 von der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Wesentliche Entwicklungen in Rechtsprechung und Literatur konnten im Rahmen der Drucklegung innerhalb des Fußnotenapparats bis Ende 2012 berücksichtigt werden. Großen Dank schulde ich zunächst meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Matthias Herdegen. Meine Zeit als Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl hat nicht nur das Interesse an rechtsvergleichenden Fragestellungen und dem (internationalen) Grundrechtsschutz, sondern auch die Freude am wissenschaftlichen Arbeiten und der juristischen Diskussion in besonderer Weise gefördert. Herrn Professor Dr. Matthias Schmidt-Preuß danke ich für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Einen wesentlichen Teil der Arbeit habe ich parallel zu meiner Tätigkeit als Rechtsanwalt verfasst. Dies wäre mir ohne die Unterstützung und Ermunterung von Herrn Rechtsanwalt Gernot Lehr nicht möglich gewesen. Hierfür und für den von der Konrad-Redeker-Stiftung zur Veröffentlichung dieser Arbeit gewährten Druckkostenzuschuss danke ich sehr. Unterstützung und Ermunterung habe ich – nicht zuletzt – von meinen Freunden und meiner Familie erfahren. Dies gilt in besonderem Maße für Dr. Patrick Schäfer, meinen Vater Jürgen Mensching und meine Frau Ariane, denen ich stellvertretend sehr herzlich danke. Unsere Söhne Jonathan und Benjamin haben ihren Vater mit ihren eigenen Mitteln angespornt, die Druckfassung fertigzustellen. Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern Almut und Jürgen Mensching – als kleines Zeichen meiner großen Dankbarkeit. Köln, im Mai 2014
Christian Mensching
Inhaltsübersicht Einleitung
25
A. Die regulatorische Herausforderung des Internets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
B. Bisherige Versuche einer regulatorischen Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Aussichtslose Auslieferungsersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Aussichtslose Vollstreckungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gescheiterte Harmonisierungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Besser als nichts: Die deutschen Sperrungsverfügungen . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Radikallösung, die keine ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26 27 28 30 30 32
C. Untersuchungsgegenstand und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Konzentration auf Volksverhetzungen und Gewaltaufrufe in transatlantischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32 33 35
D. Zwei juristische Prämissen und ihre Konsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die europäische Prämisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die amerikanische Prämisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Konsequenz der kombinierten Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36 37 39 40
Erstes Kapitel
Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
41
A. Die Bedeutung der EMRK als gesamteuropäischer Grundrechtsstandard . . I. Die EMRK als rechtsetzender Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Intensive Einwirkung auf das innerstaatliche und europäische Recht . . . . . . III. Gemeineuropäischer Grundrechtsstandard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41 42 42 46
B. Die liberale und die demokratisch-funktionale Komponente von Art. 10 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
C. Dogmatische Struktur von Art. 10 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schutzbereich von Art. 10 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtfertigung von Eingriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49 50 54 55
8
Inhaltsübersicht
D. Das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK: Die wehrhafte Konvention . . . . 64 I. Entstehungsgeschichte und Zielsetzung des Art. 17 EMRK . . . . . . . . . . . . . . 65 II. Bedeutung, Reichweite, Regelungsgehalt und dogmatische Konsequenzen von Art. 17 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 E. Rechtsprechungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Leugnung des Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Volksverhetzende und zum Hass aufstachelnde Äußerungen . . . . . . . . . . . . . III. Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76 77 86 110
Zweites Kapitel
Der Schutz der Äußerungsfreiheit in den Vereinigten Staaten von Amerika
120
A. Theoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Instrumental-funktionale Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Individualistische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Eklektizistische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Ansatz des Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120 121 122 122 124
B. Die Struktur des First Amendment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorfrage: Sind Internet-Inhalte rundfunkähnlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtfertigung von Eingriffen: Die zentrale Unterscheidung zwischen inhaltsbezogenen und inhaltsneutralen Grundrechtseingriffen . . . . . . . . . . . . III. Overbreadth und Vagueness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bereichsausnahmen: Die sogenannten unprotected categories . . . . . . . . . . . .
127 128
C. Rechtsprechungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Group Libel: Beauharnais v. Illinois . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Incitement und Advocacy of Illegal Conduct: Brandenburg v. Ohio . . . . . . . III. Fighting Words: R.A.V. v. St. Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. True Threats: Virginia v. Black . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145 146 150 160 167
D. Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Minimaler regulatorischer Spielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Preferred Position des First Amendment? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zentrale Charakteristika der First Amendment-Rechtsprechung des Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Stabilität der Praxis des First Amendment trotz zeitgeschichtlicher Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
171 171 173
130 132 135
176 191
Inhaltsübersicht
9
Drittes Kapitel
Der Status volksverhetzender, insbesondere rassistischer Äußerungen im Völkerrecht und im Europarecht A. Universelles Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 . . III. Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Völkermordkonvention und Statut von Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Prosecutor v. Nahimana: Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda bestraft Hassrede als Anreizung zum Völkermord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Resolutionen 60/7 und 61/255 der Generalversammlung der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192 192 193 193 196 198 199 202
B. Regionales Völkerrecht und Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 I. Amerikanische Konvention der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 II. Europäische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 C. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
Viertes Kapitel
Vergleich und Ursachenforschung
216
A. Gegenprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Amerikanische Fälle nach dem Recht der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europäische Fälle nach amerikanischem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis: Das First Amendment als strenger Mindeststandard . . . . . . . . . . .
216 216 219 220
B. Die transatlantische Divergenz: Gegensatzpaare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Inhaltsbezogenheit und Wertorientierung $ Inhalts- und Wertneutralität . . II. Gefahrenneutralität $ Gefahrenbezogenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Staatliche Regulierung des Marktplatzes der Ideen $ „Laissez Faire“ . . . . IV. Abwägungsoffenheit $ Abwägungsfeindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
222 222 222 223 224
C. Ursachenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Exkurs: R. v. Keegstra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Keegstra als analytisches Raster: Die unterschiedlichen vorrechtlichen Prämissen und juristischen Begründungswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Versuch einer juristischen Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225 225 234 240
D. Zusammenfassung: Konzentrische Kreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
10
Inhaltsübersicht Fünftes Kapitel
Regulatorische Konsequenzen A. Das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität auf dem Prüfstand des First Amendment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Artikel 3 Absatz 1 – Verbreitung rassistischen und fremdenfeindlichen Materials über Computersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Artikel 4 – Rassistisch und fremdenfeindlich motivierte Drohung . . . . . . . . . III. Artikel 5 – Rassistisch und fremdenfeindlich motivierte Beleidigung . . . . . . IV. Artikel 6 – Leugnung, grobe Verharmlosung, Billigung oder Rechtfertigung von Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit . . . . . . . . V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Gegenbeispiel: Die erfolgreiche Bekämpfung kinderpornographischer Internet-Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Artikel 9 des Übereinkommens über Computerkriminalität – Straftaten mit Bezug zu Kinderpornographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kooperationsbereitschaft der Vereinigten Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251
251 252 253 254 255 255 256 256
257 258
Sechstes Kapitel
Fazit und zusammenfassende Thesen
259
A. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 B. Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
Inhaltsverzeichnis Einleitung
25
A. Die regulatorische Herausforderung des Internets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
B. Bisherige Versuche einer regulatorischen Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Aussichtslose Auslieferungsersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Aussichtslose Vollstreckungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gescheiterte Harmonisierungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Besser als nichts: Die deutschen Sperrungsverfügungen . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Radikallösung, die keine ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26 27 28 30 30 32
C. Untersuchungsgegenstand und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Konzentration auf Volksverhetzungen und Gewaltaufrufe in transatlantischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32 33 35
D. Zwei juristische Prämissen und ihre Konsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die europäische Prämisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die amerikanische Prämisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Konsequenz der kombinierten Prämissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36 37 39 40
Erstes Kapitel
Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
41
A. Die Bedeutung der EMRK als gesamteuropäischer Grundrechtsstandard . . I. Die EMRK als rechtsetzender Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Intensive Einwirkung auf das innerstaatliche und europäische Recht . . . . . . III. Gemeineuropäischer Grundrechtsstandard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41 42 42 46
B. Die liberale und die demokratisch-funktionale Komponente von Art. 10 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Dogmatische Struktur von Art. 10 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schutzbereich von Art. 10 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pressefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49 50 50 53 54
12
Inhaltsverzeichnis 1. Unmittelbare und mittelbare Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eingriffe durch Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtfertigung von Eingriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Gesetzesvorbehalt des Art. 10 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Materieller Gesetzesbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zugänglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vorhersehbarkeit bzw. hinreichende Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Problem der „Vierten Instanz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft . . . . . a) Das Wesen der demokratischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beurteilungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54 55 55 56 56 57 57 59 59 60 61 62
D. Das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK: Die wehrhafte Konvention . . . . I. Entstehungsgeschichte und Zielsetzung des Art. 17 EMRK . . . . . . . . . . . . . . II. Bedeutung, Reichweite, Regelungsgehalt und dogmatische Konsequenzen von Art. 17 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff der demokratischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reichweite des Missbrauchverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wann ist der Rückgriff auf Art. 17 EMRK angezeigt? . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Welche dogmatischen Konsequenzen hat der Rückgriff auf Art. 17 EMRK? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wortlaut und amtliche Überschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Spruchpraxis der Konventionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64 65
E. Rechtsprechungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Leugnung des Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beispielhaft: Der Fall Marais ./. Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Spruchpraxis der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzbereich und Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte . . . a) Das obiter dictum zur Auschwitz-Lüge: Lehideux & Isorni: Die théorie du double jeu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Witzsch ./. Deutschland I: Holocaust-Leugnung auf dem Postweg I . . c) Garaudy ./. Frankreich: Revisionismus mit wissenschaftlichem Anstrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Witzsch ./. Deutschland II: Holocaust-Leugnung auf dem Postweg II
67 68 70 71 74 74 75 76 76 77 78 78 78 79 79 80 81 81 82 83 85
Inhaltsverzeichnis
13
4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
II. Volksverhetzende und zum Hass aufstachelnde Äußerungen . . . . . . . . . . . . .
86
1. Volksverhetzende Meinungsäußerungen in der Straßburger Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
a) Glimmerveen & Hagenbeek ./. Niederlande: Die Niederländische Volksunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
b) Kühnen ./. Deutschland: Ein „prominenter“ deutscher Neonazi . . . . .
89
c) Jersild ./. Dänemark: Ein Interview mit Rechtsradikalen . . . . . . . . . .
89
d) Schimanek ./. Österreich: Anführer einer nationalsozialistischen Kameradschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
e) Norwood ./. Vereinigtes Königreich: Ein islamfeindliches Plakat . . . .
91
f) Pavel Ivanov ./. Russland: Antisemitische Veröffentlichungen im fernen Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
2. Die „Türkei-Fälle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
a) Zana ./. Türkei: Ein inhaftierter ehemaliger Bürgermeister gibt ein seltsames Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
aa) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
bb) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
b) Die dreizehn Urteile vom 8. Juli 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
aa) Das nationale Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
bb) Sachverhalt im Fall Sürek No. 1: Die Leserbriefe . . . . . . . . . . . . .
97
cc) Das Urteil: „Appeal to bloody revenge“ oder polemische Meinungsäußerung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
(1) Legitimes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
(2) Absenkung der Kontrolldichte durch erweiterten Beurteilungsspielraum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
(3) Notwendigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
(a) Allgemeine Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
(b) Anwendung auf den Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99 (aa) Zeitgeschichtlicher Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 (bb) Solidarisierung mit gewaltbereiter Organisation? . . 100 (cc) Forum der Äußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 (dd) Person des sich Äußernden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (ee) Wirkung der Äußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (ff) Ergänzend: Schärfe der strafrechtlichen Sanktion . . 102
(c) Argumentation im Fall Sürek (No. 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 (aa) Das Mehrheitsvotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 (bb) Sondervotum Palm et al.: Kritik an der fehlenden Gefahrenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 (cc) Sondervotum Bonello: Der amerikanische Ansatz . . 104
14
Inhaltsverzeichnis (dd) Sondervotum Tulkens et al. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ee) Sondervotum Fischbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Entscheidungen nach dem 8. Juli 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verurteilungen wegen separatistischer Propaganda . . . . . . . . . . . . bb) Verurteilungen wegen Volksverhetzung: Insbesondere der Fall Gündüz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Versuch der Kategorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Leugnung des Holocaust nie vom Schutzbereich des Art. 10 EMRK erfasst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Volksverhetzende Äußerungen rechtsextremer Natur . . . . . . . . . . . . . . c) Ausdrückliche Gewaltaufrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Implizite Gewaltaufrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zugespitzte politische Meinungsäußerung, die die Grenze zur Hassrede nicht überschreiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zentrale Charakteristika der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhaltsbezogenheit und Werteorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Referenzpunkt der Inhaltsbezogenheit: Die Grundwerte der Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Demokratiebezogenheit und Bedeutung der Menschenwürde . . . . . . . d) Gefahrenneutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Holocaust-Leugnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Volksverhetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gewaltaufrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Abwägungsbezogenheit und Abwägungsfeindlichkeit . . . . . . . . . . . . . .
105 106 106 107 108 110 111 111 111 111 112 112 112 112 115 116 116 117 117 118 118
Zweites Kapitel
Der Schutz der Äußerungsfreiheit in den Vereinigten Staaten von Amerika A. Theoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Instrumental-funktionale Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Individualistische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Eklektizistische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Ansatz des Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. John Milton und John Stewart Mill: Die Verbindung zwischen Freiheit und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Oliver Wendell Holmes und Louis D. Brandeis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120 120 121 122 122 124 125 126
B. Die Struktur des First Amendment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Inhaltsverzeichnis I. Vorfrage: Sind Internet-Inhalte rundfunkähnlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtfertigung von Eingriffen: Die zentrale Unterscheidung zwischen inhaltsbezogenen und inhaltsneutralen Grundrechtseingriffen . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung inhaltsneutraler Eingriffe: Rational Basis Review . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung inhaltsbezogener Eingriffe: Strict Scrutiny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Overbreadth und Vagueness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Overbreadth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vagueness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bereichsausnahmen: Die sogenannten unprotected categories . . . . . . . . . . . . 1. Obszöne und kinderpornografische Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Obszöne Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Miller-Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Miller online? Jugendschutzrecht im Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Echte und virtuelle Kinderpornographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weitere Schutzbereichsausnahmen von zentraler Bedeutung für die Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Rechtsprechungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Group Libel: Beauharnais v. Illinois . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beauharnais v. Illinois . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der schleichende Untergang von Beauharnais . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) New York Times v. Sullivan: Das Ende der Beleidigung als unprotected category . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Collin v. Smith: Ein Berufungsgericht verkündet das Ende von Beauharnais . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Incitement und Advocacy of Illegal Conduct: Brandenburg v. Ohio . . . . . . . 1. Incitement vor Brandenburg: Von Schenck bis Dennis . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schenck v. United States: Die erste Fassung des Clear and Present Danger Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Frohwerk v. United States und Debs v. United States: Der Bad Tendency Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Holmes’ Dissent in Abrams v. United States: „an immediate check required to save the country“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Holmes’ Dissent in Gitlow v. People of State of New York: „Every idea is an incitement“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Brandeis’ Concurrence in Whitney v. California: „Only an emergency can justify repression“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) United States v. Schwimmer: „freedom for the thought that we hate“ g) Dennis v. United States: „If the ingredients of the reaction are present, we cannot bind the Government to wait until the catalyst is added“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 128 130 131 131 132 132 134 135 138 138 139 140 142 145 145 146 146 147 148 148 150 150 151 151 152 153 154 156
156
16
Inhaltsverzeichnis 2. Brandenburg v. Ohio: Holmes’ und Brandeis’ später Triumph . . . . . . . . . 157 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 III. Fighting Words: R.A.V. v. St. Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 1. Ein brennendes Kreuz im Vorgarten einer farbigen Familie . . . . . . . . . . . . 161 2. Das Mehrheitsvotum: „Ungeschützt“ heißt nicht „schutzlos“ . . . . . . . . . . 161 3. Eine concurrence als dissent: Das Sondervotum von Richter White . . . . 163 4. Zwischenfazit: Eng begrenzter regulatorischer Spielraum . . . . . . . . . . . . . 164 IV. True Threats: Virginia v. Black . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Sachverhalt: Eine Ku Klux Klan Rally in Cana, Virginia . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Das Mehrheitsvotum: Distinguishing R.A.V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3. Richter Souters Sondervotum: „A Pragmatic Doctrinal Move“ . . . . . . . . . 169 4. Zwischenfazit: Vorsichtige Lockerung der engen Grenzen von R.A.V. . . . 170
D. Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 I. Minimaler regulatorischer Spielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 II. Preferred Position des First Amendment? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 III. Zentrale Charakteristika der First Amendment-Rechtsprechung des Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1. Die Erklärungskraft der Metapher des Marktplatzes der Ideen . . . . . . . . . 176 a) Staatliche Eingriffe in die Äußerungsfreiheit als (potentielle) Verfälschung des Wettbewerbs der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Der Zusammenhang zwischen wettbewerbsverfälschendem Potential und Effekt eines Grundrechtseingriffs und den Anforderungen an seine verfassungsrechtliche Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 aa) Inhaltsneutralen Eingriffen wohnt nur ein begrenztes Potential zur Wettbewerbsverfälschung inne – sie sind leichter zu rechtfertigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 bb) Inhaltsbezogene Maßnahmen sind von hohem wettbewerbsverfälschendem Effekt – ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung unterliegt höchsten Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 c) Die „wettbewerbliche“ Rechtfertigung der unprotected categories . . . 178 d) Overbreadth und vagueness als unzulässige Marktzutrittsschranken . . 179 e) Die Marktplatz-Metapher als Symbol des Vertrauens in Präsenz und Kraft der Gegenrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. Kritik an der Marktplatz-Metapher und ihren Konsequenzen . . . . . . . . . . 180 a) Subjektiviert-relativer Wahrheitsbegriff des Marktplatzes . . . . . . . . . . 181 b) Freier Marktzugang – eine Fiktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 c) Selbstbezogenheit der Marktplatz-Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 d) „Kurzsichtigkeit“ des Marktplatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 e) Kritik von begrenzter Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 3. Inhaltsneutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
Inhaltsverzeichnis 4. Gefahrenbezogenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Abwägungsfeindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Freiheitsbezogenheit und Wertneutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Stabilität der Praxis des First Amendment trotz zeitgeschichtlicher Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 187 188 190 191
Drittes Kapitel
Der Status volksverhetzender, insbesondere rassistischer Äußerungen im Völkerrecht und im Europarecht
192
A. Universelles Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 . . 1. Vorbehalt der Vereinigten Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Fall Faurisson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Völkermordkonvention und Statut von Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Prosecutor v. Nahimana: Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda bestraft Hassrede als Anreizung zum Völkermord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Resolutionen 60/7 und 61/255 der Generalversammlung der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192 193 193 194 195
B. Regionales Völkerrecht und Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Amerikanische Konvention der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europäische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Europarat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Empfehlungen der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Empfehlung Nr. R (97) 20 des Ministerkomitees . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 13 EG (a. F.) und resultierendes Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechtecharta und Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Binnenmarktrichtlinien: Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip . . . .
203 203 204 205
196 198 199 202
205 207 208 208 209 210 211 212
C. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
18
Inhaltsverzeichnis Viertes Kapitel
Vergleich und Ursachenforschung
216
A. Gegenprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 I. Amerikanische Fälle nach dem Recht der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1. Brandenburg v. Ohio nach dem Recht der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. R.A.V. v. St. Paul und Virginia v. Black nach dem Recht der EMRK . . . . 218 II. Europäische Fälle nach amerikanischem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 III. Ergebnis: Das First Amendment als strenger Mindeststandard . . . . . . . . . . . . 220 B. Die transatlantische Divergenz: Gegensatzpaare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 I. Inhaltsbezogenheit und Wertorientierung $ Inhalts- und Wertneutralität . . 222 II. Gefahrenneutralität $ Gefahrenbezogenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 III. Staatliche Regulierung des Marktplatzes der Ideen $ „Laissez Faire“ . . . . 223 IV. Abwägungsoffenheit $ Abwägungsfeindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 C. Ursachenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 I. Exkurs: R. v. Keegstra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2. Das Urteil: Hassrede als antidemokratischer Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 3. Sondervotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4. Analyse: Vorrechtliche Prämissen und juristische Begründungswege . . . 232 a) Vorrechtliche und juristische Prämissen des Mehrheitsvotums . . . . . . 232 b) Vorrechtliche und juristische Prämissen des Sondervotums . . . . . . . . . 233 II. Keegstra als analytisches Raster: Die unterschiedlichen vorrechtlichen Prämissen und juristischen Begründungswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 1. Vorrechtliche Annahmen: Übereinstimmungen und Unterschiede . . . . . . 234 2. Grundrechtsprüfung: Parallelen und Kontraste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 3. Gemeinsamkeiten und Unterschiede Kanada – EMRK – USA: Tabellarischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 III. Versuch einer juristischen Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 1. Wortlautbedingte Abwägungsoffenheit und Werteorientierung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 2. Methodisch bedingte Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 3. Grundrechtsdogmatische Unterschiede: Die Schutzpflichten . . . . . . . . . . . 243 4. Historisch bedingte Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 5. Völkerrechtlich bedingte Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 6. Teleologisch bedingte Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 D. Zusammenfassung: Konzentrische Kreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Inhaltsverzeichnis
19
Fünftes Kapitel
Regulatorische Konsequenzen A. Das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität auf dem Prüfstand des First Amendment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Artikel 3 Absatz 1 – Verbreitung rassistischen und fremdenfeindlichen Materials über Computersysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Artikel 4 – Rassistisch und fremdenfeindlich motivierte Drohung . . . . . . . . III. Artikel 5 – Rassistisch und fremdenfeindlich motivierte Beleidigung . . . . . IV. Artikel 6 – Leugnung, grobe Verharmlosung, Billigung oder Rechtfertigung von Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit . . . . . . . . V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Gegenbeispiel: Die erfolgreiche Bekämpfung kinderpornographischer Internet-Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Artikel 9 des Übereinkommens über Computerkriminalität – Straftaten mit Bezug zu Kinderpornographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kooperationsbereitschaft der Vereinigten Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251
251 252 253 254 255 255 256 256
257 258
Sechstes Kapitel
Fazit und zusammenfassende Thesen
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A. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 B. Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
Abkürzungsverzeichnis a. A. A.B.A. Found Res. K. ABl. Abs. ACHR ACLU AEMR AEUV a. F. AfP AG Alta. L. Rev. Am. J. Int’l L. AMRK Anm. Anm. d. Verf. AnwBl. AöR Art. AVR Bd. Ber. Berkeley J. Int’l L. BGBl. BGH BGHSt bspw. BT-Drs. B.U. Int’l L. J. BVerfG BVerfGE BVerwGE bzw. Cal. L. Rev. Cardozo L. Rev. Cath. U. L. Rev.
anderer Ansicht American Bar Association Foundation Research Journal Amtsblatt Absatz American Convention on Human Rights American Civil Liberties Union Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Archiv für Presserecht Amtsgericht Alberta Law Review American Journal of International Law Amerikanische Menschenrechtskonvention Anmerkung Anmerkung des Verfassers Anwaltsblatt Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Archiv für Völkerrecht Band Bericht Berkeley Journal of International Law Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen beispielsweise Bundestagsdrucksache Boston University International Law Journal Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsrichts Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise California Law Review Cardozo Law Review Catholic University Law Review
Abkürzungsverzeichnis CEDH Chi.-Kent L. Rev. Colum. Journalism Review Colum. L. Rev. Comm. & Strat. Const. Comm. Cornell L. Rev. CR ders. dies. DR Dt. DuD DUDH Duke L. J. DVBl. ECRI ECRL EG EGMR EGV EHHR EJIL EKMR EMRK endg. Entsch. ERPL ETS EU EuG EuGH EuGRZ EUV EuZW f. Fed. Comm. L. J. ff. Fla. J. Int’l L. Fn. FS
21
Convention Européenne des Droits de l’Homme Chicago-Kent Law Review Columbia Journalism Review Columbia Law Review Communication and Strategies Constitutional Commentary Cornell Law Review Computer und Recht derselbe dieselbe(n) Decisions and Reports deutsch/deutsche Datenschutz und Datensicherheit Déclaration Universelle des Droits de l’Homme Duke Law Journal Deutsches Verwaltungsblatt European Comission against Racism and Intolerance E-Commerce-Richtlinie Europäische Gemeinschaft(en); Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Europäischer Gerichtshof für Menschenrecht Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Essex Human Rights Review European Journal of International Law Europäische Kommission für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention endgültig Entscheidung European Review of Public Law European Treaty Series Europäische Union Europäisches Gericht erster Instanz Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechtezeitschrift Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht folgend Federal Communications Law Journal folgende Florida Journal of International Law Fußnote Festschrift
22 Geo. L. J. Geo. Mason L. Rev. GG Gonz. L. Rev. GS Harv. BlackLetter L. J. Harv. C.R.-C.L. L. Rev. Harv. Int’l L. J. Harv. J. L. & Pub. Pol’y Harv. L. Rev. Hastings Const. L. Q. h. L. h. M. Hofstra L. Rev. HRLJ Hrsg. ICTR i. d. F. IHT Ind. L. J. insb. insg. Int’l Legal Stud. IPBPR i. S. v. IÜBR i.V. m. JA JuS JZ LG lit. Loy. Intell. Prop. & High Tech. J. Loy. U. Chi. L. J. McGeorge L. Rev. McGill L. J. MdB Media L & Pol’y Me. L. Rev. mglw.
Abkürzungsverzeichnis Georgetown Law Journal George Mason Law Review Grundgesetz Gonzaga Law Review Gedächtnisschrift Havard Blackletter Law Journal Harvard Civil Rights-Civil Liberties Law Review Harvard International Law Journal Harvard Journal of Law and Public Policy Harvard Law Review Hastings Constitutional Law Quarterly herrschende Lehre herrschende Meinung Hofstra Law Review Human Rights Law Journal Herausgeber International Criminal Tribunal for Rwanda in der Fassung International Herald Tribune Indiana Law Journal insbesondere insgesamt Journal of International Legal Studies Internationaler Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte im Sinne von Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Juristische Schulung Juristenzeitung Landgericht Littera Loyola Intellectual Property and High Technology Journal Loyola University of Chicago Law Journal McGeorge Law Review Mc Gill Law Journal Mitglied des Bundestages Media Law and Policy Maine Law Review möglicherweise
Abkürzungsverzeichnis Mich. J. Int’l L. Mich. L. Rev. Minn. Miss. L. J. MMR MuR m.w.Nachw. New Eng. J. Int’l & Comp. L. New Eng. L. Rev. n. F. NJW N. Ky. L. Rev. No. Notre Dame L. Rev. Nr. NVwZ Nw. U. L. Rev. N Y. L. Sch. L. Rev. N. Y. Review of Book N.Y. Times N. Y. U. L. Rev. NZA Ohio St. L. J. OVG Penn St. L. Rev. RDIDC Rdnr. RDP Rec. RIW RJD RTDH Rutgers L. Rev. S. s. San Diego L. Rev. Santa Clara L. Rev. S. Ct. Slg. Stan. J. Int’l L. Stan. L. Rev.
23
Michigan Journal of International Law Michigan Law Review Minnesota Mississippi Law Journal Multimedia und Recht Medien und Recht mit weiteren Nachweisen New England Journal of International and Comparative Law New England Law Review neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Northern Kentucky Law Review Number Notre Dame Law Review Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Northwestern University Law Review New York Law School Law Review New York Review of Books New York Times New York University Law Review Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Ohio State Law Journal Oberverwaltungsgericht Penn State Law Review Revue de Droit International et de Droit Comparé Randnummer Revue du Droit Public Recueil Recht der internationalen Wirtschaft Reports of Judgments and Decisions Revue trimestrielle des droits de l’homme Rutgers Law Review Seite siehe San Diego Law Review Santa Clara Law Review Supreme Court Reports Sammlung Stanford Journal of International Law Stanford Law Review
24 StGB Suffolk Transnat’l L. Rev. Sup. Ct. Rev. Tex. Int’l L. J. Transnat’l L. & Contemp. Probs. Transnat’l L. & Pol’y Tul. Eur. & Civ. L. F. u. u. a. U. Chi. L. Rev. U.C.L.A. L. Rev. U. Det. Mercy L. Rev. U. Ill. L. Rev. U. Pa. L. Rev. Urt. U.S. USA U.S.C. v. Va. J. Int’l L. Va. J. L. & Tech. vgl. VN Vt. L. Rev. VVDStRL Wash. & Lee L. Rev. Willamette L. Rev. Wis. Int’l L. J. Wm. & Mary Bill of Rts. J. WVK Yale L. J. ZaöRV ZAR z. B. Ziff. ZP ZRP ZUM
Abkürzungsverzeichnis Strafgesetzbuch Suffolk Transnational Law Review Supreme Court Review Texas International Law Journal Journal of Transnational Law and Contemporary Problems Journal of Transnational Law and Policy Tulane European and Civil Law Forum und und andere; unter anderem University of Chicago Law Review University of California at Los Angeles Law Review University of Detroit Mercy Law Review University of Illinois Law Review University of Pennsylvania Law Review Urteil United States Reports United States of America United States Code vom; versus Virginia Journal of International Law Virginia Journal of Law and Technology vergleiche Vereinte Nationen Vermont Law Review Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer Washington and Lee Law Review Willamette Law Review Wisconsin International Law Journal William and Mary Bill of Rights Journal Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Yale Law Journal Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht zum Beispiel Ziffer Zusatzprotokoll Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht
Einleitung A. Die regulatorische Herausforderung des Internets Geschwindigkeitsbegrenzungen auf echten Autobahnen sind leicht einzuführen und durchzusetzen. Es ist selbstverständlich, dass der deutsche Autofahrer auf dem Weg von New York nach Washington, D.C., das amerikanische Tempolimit zu beachten hat. Umgekehrt fühlt sich kein amerikanischer Autofahrer auf der A 3 zwischen Köln und Frankfurt an die in seiner Heimat geltende Geschwindigkeitsbegrenzung gebunden. Auch wird die Geltung des amerikanischen Tempolimits nicht dadurch infrage gestellt, dass auf deutschen Autobahnen (zumindest im Grundsatz) so schnell gefahren werden darf, wie der Motor erlaubt. Die Regulierung der Datenautobahn, vor allem von Internet-Inhalten, ist ungleich schwieriger. Entscheidet sich der deutsche Gesetzgeber für ein „Tempolimit“ oder möchte er die Autobahnauffahrt gänzlich versperren, stellt er etwa die Verbreitung volksverhetzender und zu Gewalt aufrufender Inhalte unter Strafe, fühlt sich der amerikanische Nutzer daran nicht gebunden, obwohl seine Internet-Veröffentlichungen in Deutschland ebenso einfach und schnell abgerufen werden können wie in den Vereinigten Staaten, er sich also im übertragenen Sinne sowohl auf der amerikanischen als auch der deutschen (Daten-)Autobahn bewegt. Möchte der deutsche Staat diese „Geschwindigkeitsüberschreitung“ ahnden, steht er vor einem schwierigen Problem. Den amerikanischen InternetNutzer kann er nicht am Straßenrand herauswinken, um dessen Personalien festzustellen und ein Bußgeld auszusprechen. Auch von der amerikanischen Regierung kann sich der deutsche Staat keine Hilfe erhoffen. Dort hält sich zunächst niemand für befugt und berufen, deutsche „Tempolimits“, etwa durch Auslieferung oder Vollstreckung, durchzusetzen. Das Internet ist grenzenlos, dezentral und anonym, seine Nutzung kostet wenig.1 Diese Eigenschaften befördern die erstaunliche Dynamik, mit der sich das Internet als Kommunikationsmedium und -plattform in kürzester Zeit fortentwickelt und einen festen Platz in unserem Alltag eingenommen hat.2 Sie begren1 Überblicke über die verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten des Internets und dessen Entstehungsgeschichte finden sich etwa bei Gets, S. 28 ff.; Mayer, S. 30 ff.; Wüllrich, S. 47 ff. 2 Nach den Erhebungen des Statistischen Bundesamtes nutzten in Deutschland bereits 2007 65% der Personen ab zehn Jahren das Internet, mehr als die Hälfte davon (56%) täglich oder fast täglich. In der Gruppe der 10- bis 24-Jährigen waren 92% täg-
26
Einleitung
zen zugleich die Möglichkeiten des Nationalstaats, die „offline“ geltenden Regeln auch „online“ durchzusetzen3 und erleichtern so Extremisten aller Couleur Kommunikation und Agitation4. Kurz: Das Internet stellt den Nationalstaat vor eine bislang unbekannte regulatorische Herausforderung.
B. Bisherige Versuche einer regulatorischen Antwort Als Antwort auf diese Herausforderung kommt das gängige Instrumentarium der internationalen, insbesondere der transatlantischen Zusammenarbeit in Betracht: Auslieferung, gegenseitige Anerkennung und Harmonisierung. Letztere scheint besonders vielversprechend: Gälte – um im Beispiel zu bleiben – in den USA und in Deutschland die gleiche Geschwindigkeitsbegrenzung, würde es aus regulatorischer Perspektive keinen Unterschied machen, wo die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten wird. Der „Raser“, also der Autor rechtswidriger Inhalte, würde so oder so bestraft. Ähnliches gilt für die gegenseitige Anerkennung etwa im Sinne der Vollstreckung einer in Deutschland verhängten Strafe durch amerikanische Behörden. Auch bei der Auslieferung stünde am Ende die Ahndung des Verstoßes. Die Gewissheit bzw. die erhebliche Wahrscheinlichkeit, dass dem Verstoß eine Strafe folgen wird, würde die bezweckte verhaltenssteuernde, also regulierende Wirkung entfalten. Bei der Regulierung von volksverhetzenden und zu Gewalt aufrufenden Internet-Inhalten, dem Gegenstand dieser Untersuchung, haben diese Mechanismen transatlantischer regulatorischer Zusammenarbeit bislang nicht funktioniert. Grundsätzlich gilt, ohne der folgenden Analyse vorzugreifen, dass diese Inhalte in den Vereinigten Staaten verbreitet werden dürfen, in Europa jedoch strafbar sind. Von dem Prinzip geleitet, dass auch „online“, also im Internet, illegal sein müsse, was „offline“, also etwa in gedruckter oder gesprochener Form, von jeher illegal ist,5 haben vor allem die Staaten Europas versucht, diesen Unterschied zu lich online, in der Gruppe der 25- bis 54-Jährigen 82%, vgl. Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 79 v. 27.02.2007. Für das Jahr 2011 ermittelte das Statistische Bundesamt, dass von 1.000 Einwohnern Deutschlands 793 das Internet nutzten (Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2011, S. 688). Im Jahr 2012 verfügten 83% der deutschen Haushalte über einen eigenen Internetanschluss (Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2012, S. 642). 3 Grewlich, S. 291; Holznagel/Kussel, MMR 2001, 347 (350); McGuire, 74 N. Y. U. L. Rev. 750, 751 (1999); Sieber, ZRP 2001, 97 (98). 4 Tsesis, 7 Va. J. L. Tech. 5, Nr. 6 (2002) („The relatively inexpensive technologies necessary to run computer servers have enabled hate groups to rapidly increase their presence on the Internet by spreading ideologies through electronic pamphlets, books, and a variety of multimedia documents. They can also engage in real time discussions with similarly minded ideological devotees, even though they are physically hundreds of miles apart. These group meetings, think tanks, and strategy sessions can either be public or the messages can be encrypted for secure conversations with limited audiences.“).
B. Bisherige Versuche einer regulatorischen Antwort
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überwinden. Im eingangs bemühten Bild könnte man, vielleicht etwas überpointiert, von dem Versuch sprechen, europäische Tempolimits auf amerikanischen Highways durchzusetzen. Vier kurze Beispiele belegen das weitgehende Scheitern dieses Versuchs. Die Möglichkeiten der regulatory arbitrage6 bleiben bislang unvermindert bestehen.
I. Aussichtslose Auslieferungsersuchen Bemühungen deutscher Behörden, von den USA die Auslieferung von Leugnern des Holocaust zu erreichen, sind ohne Aussicht auf Erfolg.7 Im transatlantischen Kontext ist eine Auslieferung ohnehin nahezu ausgeschlossen, wenn der Täter Angehöriger des Auslieferungsstaats ist.8 In anderen Fällen scheitern die Auslieferungsersuchen an dem Erfordernis der doppelten Strafbarkeit. Zwar enthält beispielsweise der deutsch-amerikanische Auslieferungsvertrag eine Liste von 32 per se auslieferungsfähigen Straftaten, § 130 StGB („Volksverhetzung/ Auschwitzlüge“) ist allerdings nicht darunter.9 Eine Auslieferung käme nach Art. 2 Abs. 1 lit. b des insoweit typischen Vertrages nur in Betracht, wenn die Leugnung des Holocaust sowohl nach deutschem als auch nach amerikanischem Recht strafbar wäre. Das amerikanische (Straf-)Recht kennt jedoch kein Verbot der Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch andere in Europa strafbare Formen der „Hassrede“ (hate speech) sind in den Vereinigten Staaten straffrei. In all diesen Fällen sind Auslieferungsersuchen europäischer Staaten zum Scheitern verurteilt. Auf seine Weise illustriert der Fall Toben10 diese Problematik besonders eingänglich. Frederick Toben, ein australischer Staatsbürger und einer der Gründer des revisionistischen Adelaide Institute, hatte in drei auf amerikanischen Servern11 hinterlegten Internet-Publikationen den nationalsozialistischen Völker5 Siehe bspw. Europäische Kommission, Mitteilung über illegale und schädliche Inhalte auf dem Internet v. 16.10.1996, KOM(96) 487 endg., S. 4. 6 Begriff von Froomkin, in: Kahin/Nessen (Hrsg.), Borders in Cyberspace, S. 129 ff., der allerdings annimmt, dass das Internet vornehmlich demokratische und liberale Ideen fördern werde. Gelegentlich wird auch der Begriff der jurisdictional arbitrage verwandt. 7 Zur (frühen) Verbreitung der Auschwitzlüge aus den USA über das Internet siehe Fogo-Schensul, 33 Gonz. L. Rev. 241, 244–246 (1997/1998). 8 Vgl. Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG sowie Art. 7 Abs. 1 des deutsch-amerikanischen Auslieferungsvertrages. 9 Vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. a des Auslieferungsvertrages (einschl. Anhang). 10 Vgl. BGHSt 46, 212 ff.; zur strafrechtlichen Problematik vor dem Urteil des BGH Ringel, CR 1997, 302 ff. 11 Die Wahl fiel auf amerikanische Server, weil auch in Australien die Leugnung des Holocaust strafbar ist; vgl. van Blarcum, 62 Wash. & Lee L. Rev. 781, 803 (2005) (mit Fn. 118); dies ist ein typischer Befund, Holznagel, AfP 2002, 128 (129).
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Einleitung
mord an den Juden geleugnet. Zu seiner Festnahme in Deutschland kam es allerdings nicht im Anschluss an eine Auslieferung, sondern nur, weil Toben kurioserweise dem zuständigen Mannheimer Staatsanwalt freiwillig einen Besuch abstattete, um ihn über den Holocaust „aufzuklären“.12 Er wurde im Dienstzimmer des Staatsanwalts verhaftet.13 Ähnlich liegt der Fall des amerikanischen Neonazis Garry Lauck, der es als so genannter „Farmbelt Führer“ aus Nebraska zu mehr als zweifelhafter Berühmtheit gebracht hat. Auch er wurde nicht in den USA, sondern in Dänemark verhaftet und nach Deutschland ausgeliefert.14 Hätte er die Vereinigten Staaten nicht verlassen, hätte er sich dem Zugriff der deutschen Strafverfolgungsbehörden weiterhin entziehen können. Beide Beispiele zeigen, dass in diesen und vergleichbaren Fällen die Effektivität der Strafverfolgung von der Unbedachtsamkeit der Täter abhängt. Sie machen zugleich deutlich, wie leicht vom sicheren Ausland aus über das Internet in Deutschland strafbare Inhalte verbreitet werden können, ohne dass für die Autoren eine reale Gefahr besteht, bestraft zu werden. Dieses strukturelle, in den Besonderheiten des Internet begründete Vollzugsdefizit wird durch die vom Bundesgerichtshof im Fall Toben bejahte extensive Anwendung des Territorialitätsprinzips15 ebenso wenig beseitigt wie durch eine Ausweitung des Personalitätsprinzips16. Der Vollzug deutschen Strafrechts setzt voraus, dass die Staatsgewalt des Täters habhaft wird.
II. Aussichtslose Vollstreckungsversuche Der auf beiden Seiten des Atlantiks mit großer Aufmerksamkeit verfolgte Yahoo-Fall17 zeigt, dass auch die privatrechtlichen Versuche, europäische Inhaltsstandards in den USA durchzusetzen, von allenfalls eng begrenzter Aussicht auf Erfolg sind. Auf „Yahoo.com“ können private Gegenstände versteigert werden. In diesem Rahmen kam es zu Auktionen von „Nazi-Memorabilia“ wie Hakenkreuzen, SSDolchen und nachgeahmten Zyklon B-Behältern. Ein Pariser Gericht befand sich für zuständig – Yahoo hatte französische Besucher mit französischsprachigen 12
Sieber, ZRP 2001, 97 (101 f.). Rötzer, abrufbar unter http://www.heise.de/tp/r4/artikel/4/4453/1.html. 14 Southern Poverty Law Center, When Laws Conflict, Intelligence Report, Herbst 2001. 15 Vgl. BGHSt 46, 212; der BGH stellte im Fall Toben fest, dass die über einen australischen Server für Deutsche abrufbar im Internet verbreitete Auschwitzlüge gemäß § 130 StGB strafbar ist; der „zum Tatbestand gehörende Erfolg“ im Sinne der §§ 3, 9 Abs. 1 StGB sei in Deutschland eingetreten. 16 So aber Bremer, Strafbare Internet-Inhalte in internationaler Hinsicht, S. 222 ff. 17 Siehe hierzu die Zusammenfassung bei Goldsmith/Wu, S. 1 ff. 13
B. Bisherige Versuche einer regulatorischen Antwort
29
Werbebannern begrüßt und sich so gezielt in ein französisches Forum begeben – und verurteilte das Unternehmen aus Silicon Valley im November 2000, soweit wie möglich französische Nutzer von der Teilnahme an diesen Auktionen auszuschließen.18 Yahoo beantragte daraufhin bei einem amerikanischen Bundesgericht in San José, Kalifornien, festzustellen, dass das Pariser Urteil in den Vereinigten Staaten nicht vollstreckbar sei. Richter Jeremy Fogel gab diesem Antrag unter Verweis auf den ersten Zusatzartikel (First Amendment) zur amerikanischen Verfassung, der die Äußerungsfreiheit gewährleistet, statt.19 In der Berufungsinstanz hob der Ninth Circuit Court of Appeals dieses Urteil aus prozessualen Gründen mangels Rechtsschutzbedürfnisses (ripeness) auf.20 Yahoo hatte zwischenzeitlich freiwillig Nazi-Memorabilia aus den Auktionen verbannt, so dass das Berufungsgericht keinen unmittelbar bevorstehenden Schaden (harm) im Sinne eines drohenden Vollstreckungsversuchs erkennen konnte, der ein summary judgment erfordern würde.21 Selbst wenn man unterstellt, dass sich Yahoo dem Druck des französischen Gerichts gebeugt hat, ist der Fall alles andere als ein Paradebeispiel für die länderübergreifende Durchsetzung nationaler inhaltlicher Standards im Internet. Als internationales Unternehmen unterhielt Yahoo eine („pfändbare“) Niederlassung 18 Tribunal de Grande Instance, Urt. v. 20.11.2000, La Ligue Contre le Racisme et l’Antisémitisme c. Yahoo!, Inc., No. de RG 00/5308 u. 00/08085; Hoeren spricht von einem Versuch der Reterritorialisierung des Internet, Hoeren, NJW 2008, 2615 (2616). 19 Yahoo!, Inc. v. La Ligue Contre le Racisme et l’Antisémitisme, 169 F.Supp.2d 1181 (N.D. Cal. 2001); dazu Hadas, 15 Fla. J. Int’l L. 299 (2002); Henn, 21 B.U. Int’l L.J. 157 (2003); Reimann, 24 Mich. J. Int’l L. 663 (2003); Timofeeva, 12 J. Transnat’l L. & Pol’y 253 (2003); Wrenn, 38 Stan. J. Int’l L. 97 (2002); siehe als Parallelfall Ehrenfeld v. Mahfouz, 489 F.3d 542 (2d Cir. 2007). 20 Yahoo!, Inc. v. La Ligue Contre le Racisme et l’Antisémitisme, 433 F.3d 1199 (9th Cir. 2006). In den Urteilsgründen schwingt Anerkennung für das erstinstanzliche Urteil mit, dieses wird etwa als „thoughtful“ bezeichnet, 433 F.3d 1199, 1204 (2006), wie das Untergericht bejahte auch der Court of Appeals die Zuständigkeit (personal jurisdiction) des Gerichts; zur Frage der internationalen Zuständigkeit im Online-Bereich Rau, RIW 2000, 761 ff. 21 Yahoo!, 433 F.3d at 1211–1223 („As currently framed, however, Yahoo!’s suit comes perilously close to a request for a forbidden advisory opinion. There was a live dispute when Yahoo! first filed suit in federal district court, but Yahoo! soon thereafter voluntarily changed its policy to comply, at least in part, with the commands of the French court’s interim orders. This change in policy may or may not have mooted Yahoo!’s federal suit, but it has at least come close. Unless and until Yahoo! changes its policy again, and thereby more clearly violates the French court’s orders, it is unclear how much is now actually in dispute.“); im Hinblick auf das First Amendment ist folgende Feststellung des Mehrheitsvotums bemerkenswert: „If the only consequence of compliance with the French court’s orders is to restrict access by Internet users in France, Yahoo!’s only argument is that the First Amendment has extraterritorial effect. The dissent fails to acknowledge that this is inescapably a central part of Yahoo!’s argument, let alone acknowledge that it may be Yahoo!’s only argument.“, Yahoo!, 433 F.3d at 1222).
30
Einleitung
in Frankreich und war so französischem Vollstreckungsdruck und -zugriff ausgesetzt.22 Bei „privaten“ Internet-Nutzern, die volksverhetzende und zu Gewalt aufrufende Inhalte im Internet veröffentlichen, ist dies nicht der Fall. Sie könnten sich daher in den USA, dies steht nach wie vor zu vermuten, unter Verweis auf den Schutz des First Amendment europäischen Vollstreckungsmaßnahmen entziehen und zwar auch dann, wenn es ausnahmsweise einmal gelingt, ihre Identität festzustellen.
III. Gescheiterte Harmonisierungsversuche Sind unterschiedliche rechtliche Standards die Ursache der geschilderten Probleme der Rechtsdurchsetzung, bietet sich die Harmonisierung dieser Standards an. Dadurch ließe sich das Problem der fehlenden doppelten Strafbarkeit beseitigen, auch der Vollstreckung ausländischer Urteile stünde unter diesem Umständen kaum etwas entgegen. Ohnehin bedürfte es nur noch selten einer grenzübergreifenden Rechtsdurchsetzung. Die gemeinsamen Standards könnten durch die jeweiligen nationalen Stellen durchgesetzt werden. Mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand, also volksverhetzende und zu Gewalt aufrufende Internet-Inhalte, hat die internationale Gemeinschaft einen solchen Harmonisierungsversuch unternommen. Im Rahmen der Vorarbeiten zum Übereinkommen über Computerkriminalität bemühte man sich, gemeinsame inhaltliche Standards auch zur Bekämpfung rassistischer und fremdenfeindlicher Internet-Inhalte zu entwickeln. Dieser Versuch scheiterte jedoch an den Vereinigten Staaten, die unter Verweis auf die Vorgaben des First Amendment den vorgeschlagenen Regelungen nicht zustimmten.23 Diese Regelungen wurden sodann in ein fakultatives Zusatzprotokoll ausgelagert, dem die Vereinigten Staaten bis heute fern geblieben sind. Worin diese grundrechtlichen First Amendment-Bedenken bestanden, insbesondere ob sie berechtigt waren, ist eine der Fragen, die diese Arbeit beantworten möchte. Gewiss ist bereits jetzt, dass zumindest dieser Harmonisierungsanlauf gescheitert ist.
IV. Besser als nichts: Die deutschen Sperrungsverfügungen Welche Möglichkeiten verbleiben einem Staat, der, wie Deutschland, an seinen inhaltlichen Standards festhalten und diese auch gegenüber ausländischen, insbesondere amerikanischen Inhalten durchsetzen möchte? Die deutsche Staatsgewalt hat sich entschieden, statt den Autor des Inhalts dessen Mittler in Anspruch zu nehmen. Am Anfang dieses Weges stand der höchst fragwürdige und in zweiter Instanz zu Recht gescheiterte Versuch, den Geschäftsführer der deutschen Toch22 23
Goldsmith/Wu, S. 8. Gets, S. 131.
B. Bisherige Versuche einer regulatorischen Antwort
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tergesellschaft eines amerikanischen Internet-Providers für die auf den amerikanischen Seiten dieses Unternehmens abrufbaren illegalen Inhalte strafrechtlich in Haftung zu nehmen.24 Auf ordnungsrechtlicher Ebene hat sich die Bezirksregierung Düsseldorf Anfang 2002 entschlossen, durch auf den mittlerweile außer Kraft getretenen und in das Telemediengesetz überführten Mediendienste-Staatsvertrag gestützte Sperrungsverfügungen gegen in Nordrhein-Westfalen ansässige Provider vorzugehen, über deren Dienste rechtsradikale und volksverhetzerische Inhalte abgerufen werden konnten.25 Die Sperrungsverfügungen gaben den Internet-Providern auf, den Zugang ihrer Kunden zu bestimmten Internet-Angeboten zu sperren. Diese Vorgehensweise rief viel Aufmerksamkeit26 und Protest27 hervor, hatte aber vor den Verwaltungsgerichten Bestand.28 Die Geeignetheit des Mittels der Sperrungsverfügungen ist, wenngleich nicht in rechtlicher, so doch in tatsächlicher Hinsicht zweifelhaft.29 Sperrungsverfügungen bekämpfen nur die Symptome, nicht die Ursachen des Problems. Sie provozieren ein „Katz und Maus-Spiel“ zwischen der „sperrenden Behörde“ und dem Autor illegaler Inhalte, der die Verfügungen durch den Gebrauch so genannter Spiegelseiten, die den Inhalt einer gesperrten Seite abbilden, umgehen kann. Auch der Zugang zu diesen Seiten kann durch eine neuerliche Sperrungsverfügung vereitelt werden, woraufhin regelmäßig eine weitere Spiegelseite auftaucht. Diese Vorgehensweise ist insofern effektiv, als sie den Zugang zu besonders bekannten oder einprägsamen Internet-Seiten verhindert. Die beanstandeten Inhalte werden so schwerer auffindbar, verschwinden jedoch nicht gänzlich aus dem Internet. Rechtlich dürfte sich aus der erschwerten Auffindbarkeit und der Abwehr der von der konkreten Internet-Seite ausgehenden Gefahr die Geeignetheit dieser ordnungsrechtlichen Maßnahme ergeben. Regulatorisch und politisch bleibt das Ergebnis unbefriedigend.30 24 Gemeint ist der „Fall Somm“, LG München I, MMR 2000, 171 ff.; Vorinstanz: AG München, MMR 1998, 429 ff.; dazu Bremer, MMR 2002, 147 m. w. Nachw. 25 Ein Musterbescheid ist abrufbar unter http://www.nps-brd.nrw.de/BezRegDdorf/ autorenbereich/Dezernat_21/PDF/39sperrverf_022002.pdf; dieser Bescheid nimmt ausdrücklich auf das erstinstanzliche Urteil im Yahoo-Fall Bezug, um die Aussichtslosigkeit der Inanspruchnahme der unmittelbar Verantwortlichen zu begründen. 26 Siehe aus der Vielzahl der Veröffentlichungen Eberwine, 49 N.Y. L. Sch. L. Rev. 353 (2004); Hornig, ZUM 2001, 846 ff.; Koenig/Neumann, CR 1999, 438 ff.; Stadler, MMR 2002, 343 ff. 27 Siehe bspw. die Reaktion des damaligen MdB Jörg Tauss, Stellungnahme zur Sperrungsverfügung der Bezirksregierung Düsseldorf vom 22.02.2002 („in politischer Perspektive fehlgeleitet und in rechtlicher Hinsicht unhaltbar“). 28 Siehe etwa OVG Münster, NJW 2003, 2183 ff.; dazu Spindler/Volkmann, MMR 2003, 353 ff. 29 Auch in rechtlicher Hinsicht zweifelnd, Zimmermann, NJW 1999, 3145 (3150). 30 Das Bundeskriminalamt fordert bereits seit einiger Zeit eine gesetzliche Verpflichtung der Internet-Provider zur Sperrung von Webseiten mit antisemitischen Inhalten, die nicht mehr durch eine Verfügung konkretisiert werden müsste, Bundeskriminalamt, Mit-
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V. Die Radikallösung, die keine ist Die radikalste Lösung ist keine, die für den demokratischen Rechtsstaat in Betracht kommt. Während der Proteste gegen die in Myanmar regierende Militärjunta im Herbst 2007 kappten die Machthaber vorübergehend die Internet-Verbindungen zum Ausland.31 Selbstverständlich ist das Vorgehen undemokratischer Militärmachthaber keine Option in einer demokratischen Debatte. Doch zeigen das Beispiel Myanmars ebenso wie die dramatischen Zensurbemühungen der chinesischen Regierung32, zu welch extremen Maßnahmen ein Staat greifen muss, der Internet-Inhalte umfassend kontrollieren will.
C. Untersuchungsgegenstand und Gang der Untersuchung Als Ursache für den soeben skizzierten regulatorischen Konflikt und den daraus resultierenden „Ohnmachtserfahrungen“ 33 des Nationalstaats werden immer wieder Unterschiede in der Reichweite der Äußerungsfreiheit dies- und jenseits des Atlantiks angeführt. Mehr oder weniger pauschal wird behauptet, der Schutz durch das First Amendment sei unbegrenzt, während in Europa die Äußerungsfreiheit regelmäßig hinter konkurrierende Individual- und Kollektivinteressen zurücktreten müsse. Die Ursachen des Konflikts seien also verfassungs- bzw. grundrechtlich verankert und könnten durch internationale Verhandlungen nicht überwunden werden. Die Arbeit möchte dieser Behauptung auf den Grund gehen. In ihrem Mittelpunkt steht eine rechtsvergleichende Untersuchung des grundrechtlichen Schutzes, den volksverhetzende und zu Gewalt aufrufende Äußerungen nach Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie dem ersten Zusatzartikel zur amerikanischem Verfassung, dem First Amendment, genießen. Hierzu werden die bestehenden grundrechtlichen Unterschiede und ihre Ursachen in einem ausführlichen Rechtsvergleich ermittelt und analysiert. Auf dieser Grundlage lassen sich sodann die Grenzen einer transatlantischen regulatorischen Zusammenarbeit zur Bekämpfung volksverhetzender und zu Gewalt aufrufender Internet-Inhalte bestimmen. Denn die Vereinigten Staaten könnten sich an einer solchen Zusammenarbeit nur in dem Maße beteiligen, in dem die internationalen Inhaltstandards mit dem First Amendment zu vereinbaren wären. Gleiches gilt für die Staaten Europas im Hinblick auf Art. 10 EMRK, den gemeineuropäischen Standard der Äußerungsfreiheit. teilung zur Pressekonferenz am 27.08.2008 zum Bundeslagebild Organisierte Kriminalität, http://www.bundeskriminalamt.de. 31 Mydans, N.Y. Times v. 4.10.2007, S. A1. 32 Dazu Goldsmith/Wu, S. 87 ff. 33 Begriff von Germann, S. 41.
C. Untersuchungsgegenstand und Gang der Untersuchung
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Die Untersuchung rückt also die grundrechtlichen Rahmenbedingungen völkerrechtlicher Zusammenarbeit in den Mittelpunkt. Nachgelagerte Fragen regulatorischer Details, etwa nach der Verantwortlichkeit der Zugangs- oder Inhaltsanbieter, bleiben bewusst außen vor.34 Diese Fragen der Ausgestaltung setzen bereits voraus, dass eine Regulierung grundrechtlich überhaupt zulässig ist.
I. Konzentration auf Volksverhetzungen und Gewaltaufrufe in transatlantischer Perspektive Die Arbeit leistet keinen allumfassenden Grundrechtsvergleich. Dessen Umfang richtet sich vielmehr nach der regulatorischen Fragestellung. Die Arbeit konzentriert sich auf die genannten Äußerungen – Volksverhetzungen und Gewaltaufrufe. Die Definition dieser beiden Begriffe fällt allerdings weit aus. Sie umfasst, angelehnt an § 130 StGB sowie einschlägige völkerrechtliche Dokumente35, solche Äußerungen, die vor allem aber nicht nur aus rassistischer und fremdenfeindlicher Motivation zu Hass, Gewalt und Willkür gegen einzelne Personen und bzw. oder Teile der Bevölkerung aufrufen.36 Die Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie etwa die Auschwitzlüge37, bildet ebenso eine einschlägige Fallgruppe wie rechtsradikale und andere extremistische Meinungsäußerungen. Zur Beschreibung des Untersuchungsgegenstands wird auch der Begriff der „Hassrede“ verwandt, der den in der amerikanischen Diskussion gebräuchlichen Terminus der hate speech aufnimmt. Diese Einschränkung des Untersuchungsgegenstands hat sachliche Gründe. Volkverhetzende Internet-Inhalte sind, zumindest aus europäischer Perspektive, eines der brennenden und ungelösten Probleme bei der Regulierung des Internets. Laut Verfassungsschutzbericht gab es bereits 2006 ca. 1.000 von deutschen Staatsbürgern betriebene rechtsextremistische Internetauftritte. Strafbare Inhalte würden nach wie vor anonym und „vornehmlich über die USA“ eingestellt.38 Auch für das Jahr 2011 geht das Bundesamt für Verfassungsschutz von 1.000 34 Dazu Müller-Terpitz, in: Kröger/Gimmy, S. 535 ff.; Sieber, S. 105 ff. jeweils m. w. Nachw. 35 Bspw. Art. 4 IÜBR, Art. 20 Abs. 2 IPBPR, siehe im Einzelnen unten, Drittes Kapitel, A. I. und II. 36 Ähnliche Definition etwa bei Boyle, 53 Me. L. Rev. 487, 489 (2001) („Hate speech describes a problematic category of speech [. . .] that involves the advocacy of hatred and discrimination against groups on basis of their race, colour, ethnicity, religious beliefs, sexual orientation, or other status.“); Section 319 (2) des kanadischen Strafgesetzbuches spricht allgemeiner von „promotion of hatred against an identifiable group“. 37 Dazu aus transatlantischer Perspektive Stein, 85 Mich. L. Rev. 277 (1986). 38 Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2006, S. 53; siehe auch S. 59 mit einem beispielhaften Foreneintrag. Im Jahre 2000 waren „nur“ 330 einschlägige deutschsprachige Homepages gezählt worden, siehe Bundesamt für Verfassungsschutz, Rechtsextremistische Bestrebungen im Internet, S. 15.
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„eigenständigen rechtsextremistischen Internetpräsenzen“ aus und betont darüber hinaus die Ausweitung rechtsextremistischer Aktivitäten über Angebote des Web 2.0.39 Nach „vorsichtigen Schätzungen“ liege der Anteil strafrechtlich relevanter Inhalte bei unter fünf Prozent, da die von „deutschen Rechtsextremisten auf ihren Internetpräsenzen“ eingestellten Inhalte „in der Regel so formuliert“ seien, dass „die rechtsextremistische Zielsetzung zwar klar erkennbar“ sei, „für eine strafrechtliche Verfolgung jedoch keine Angriffsfläche“ böten. Strafbare Inhalte würden demgegenüber „vornehmlich über ausländische Server verbreitet, was der Verfolgung durch deutsche Sicherheitsbehörden Grenzen“ setze.40 In seinem Jahresbericht „Digital Terrorism and Hate 2007“ zählte das Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles knapp 7.000 Internet-Angebote, auf denen antisemitisches oder volksverhetzendes Gedankengut zu finden ist.41 Das Wachstum ist stetig. Schon 2001 zählte der Europarat 4.000 rassistische Internet-Seiten, 2.500 davon auf amerikanischen Servern.42 Die skizzierten Bemühungen, auf nationaler und internationaler Ebene dem Problem volksverhetzender Internet-Inhalte Herr zu werden, unterstreichen die besondere Relevanz dieser Problematik. Das Problem der Hassrede im Internet ist übrigens keineswegs auf rechtsradikale und neonazistische Inhalte begrenzt. Auch radikal-islamistische und linksextremistische Inhalte werden zunehmend dort verbreitet.43 Die Untersuchung erfolgt aus transatlantischer Perspektive. Eine Konzentration auf die europäische und die amerikanische Rechtsordnung ist in zweifacher Hinsicht sinnvoll. Zum Ersten tritt das Problem des Umgangs mit volksverhetzenden und zu Gewalt aufrufenden Internet-Inhalten vor allem im transatlantischen Zusammenhang auf. Die europäischen Behörden streben danach, diese Inhalte aus dem Internet zu verbannen und deren Autoren zu bestrafen.44 Diese Urheber halten sich regelmäßig in den Vereinigten Staaten auf, dort stehen auch die Server, auf denen die in Rede stehenden Inhalte in das Internet eingestellt werden.45 So sollen 90 Prozent der deutschsprachigen neonazistischen Internet-Seiten auf ame-
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Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2011, S. 87. Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2011, S. 88. 41 Simon-Wiesenthal-Center, Digital Terrorism and Hate 2007. 42 Tsesis, 7 Va. J. L. & Tech. 5, Nr. 8 (2002). 43 Siehe die Beispiele bei Tsesis, 7 Va. J. L. & Tech. 5, Nr. 10–13 (2002). 44 Die geschilderten Fälle Toben und Lauck belegen dies beispielhaft; zutreffend auch Holznagel, AfP 2002, 128 (132), der mit Blick auf den Yahoo-Fall und die Sperrungsverfügungen der Bezirksregierung Düsseldorf anmerkt, es wäre auf „amerikanischer Seite eine Illusion [. . .] zu hoffen, man werde in Europa aufgrund der bestehenden praktischen Schwierigkeiten auf eine Verteidigung der eigenen Rechtsordnung verzichten“. 45 Holznagel, AfP 2002,128 (129). 40
C. Untersuchungsgegenstand und Gang der Untersuchung
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rikanischen Servern liegen.46 Zum Zweiten würde ein den Globus umspannender Grundrechtsvergleich den Rahmen des Machbaren sprengen. Probleme bei der Regulierung von Internet-Inhalten treten nicht nur im Zusammenhang mit volksverhetzenden Inhalten auf. Auch die Verbreitung von Kinderpornographie hat durch das Internet erheblich zugenommen. Im Gegensatz zu volksverhetzenden Äußerungen ist es hier jedoch, etwa durch Art. 9 des Übereinkommens über Computerkriminalität, gelungen, unter Beteiligung der Vereinigten Staaten gemeinsame inhaltliche Standards zu entwickeln. Die internationalen Maßnahmen zur Bekämpfung der Kinderpornographie behandelt die Arbeit daher als Gegenbeispiel. Dies erklärt, warum der grundrechtliche Status (kinder-) pornographischer Inhalte zwischenzeitlich erörtert wird.
II. Gang der Untersuchung Zum Abschluss dieser Einleitung werden zunächst zwei zentrale Prämissen erläutert, auf denen der hier verfolgte rechtsvergleichende Ansatz beruht: Bei ihren Bemühungen, volksverhetzende und zu Gewalt aufrufende Internet-Inhalte international, mit den Mitteln des Völkerrechts, zu bekämpfen, unterliegen die Staaten Europas – neben den nationalen Grundrechtsgewährleistungen – auch und insbesondere den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention. Entsprechend sind die Vereinigten Staaten an ihre Verfassung gebunden, vor allem an das First Amendment. Diese grundrechtlichen Vorgaben, die im Fokus der Untersuchung stehen, definieren den (juristischen) Handlungsspielraum für eine transatlantische Zusammenarbeit zur Regulierung von Internet-Inhalten. Auf der Grundlage dieser Prämissen beschreiben das erste und das zweite Kapitel diese grundrechtlichen Vorgaben. Einer Darstellung der theoretischen Ansätze sowie der dogmatischen Struktur von Art. 10 EMRK bzw. des First Amendment folgt jeweils eine Analyse der einschlägigen Rechtsprechung der Straßburger Konventionsorgane sowie des amerikanischen Supreme Court. Das erste, der EMRK gewidmete Kapitel erörtert darüber hinaus eingangs die Bedeutung der Konvention als gemeineuropäischer Grundrechtsstandard und rechtfertigt so die Konzentration auf Art. 10 EMRK sowie die damit verbundene Zurückstellung nationaler Gewährleistungen der Äußerungsfreiheit. Auch Art. 17 EMRK, der den Missbrauch der durch die Konvention gewährten Rechte verbietet und die hier interessierende Spruchpraxis der Straßburger Konventionsorgane nachhaltig beeinflusst, wird näher beleuchtet. Das dritte Kapitel beschreibt die zahlreichen zumeist nicht Internet-spezifischen völker- und europarechtlichen Vereinbarungen, Vorkehrungen und Maßnahmen gegen die Verbreitung von volksverhetzendem Gedankengut. Es unter46
Henn, 21 B.U. Int’l L. J. 157, 175 (2003).
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sucht zudem, ob und, wenn ja, in welchem Umfang sich die Staaten Europas und die USA an diesen Anstrengungen beteiligt haben. Zugleich schafft dieses Kapitel die Grundlage, um etwaige Wechselwirkungen zwischen Völkerrecht und den grundrechtlichen Garantien der Äußerungsfreiheit offen zu legen. Nicht zuletzt gilt, dass sich Versuche einer transatlantischen Regulierung von Internet-Inhalten in die bestehende Völkerrechtsordnung einfügen müssten. Auch vor dem Hintergrund dieses völkerrechtlichen Panoramas stellt das vierte Kapitel Art. 10 EMRK und das First Amendment unmittelbar gegenüber. Im Sinne einer Gegenprobe werden europäische Sachverhalte unter dem Blickwinkel des First Amendment beurteilt und – umgekehrt – amerikanische Fälle nach Art. 10 EMRK geprüft. Im Anschluss daran werden Gegensätze und Übereinstimmungen herausgearbeitet. Die Arbeit unternimmt sodann den Versuch, auch unter Rückgriff auf die wohl detaillierteste Entscheidung eines Grundrechtsgerichts zur Problematik volksverhetzender Äußerungen – gemeint ist die Keegstra-Entscheidung des obersten kanadischen Gerichtshofs –, die Ursachen der transatlantischen Divergenz zu ermitteln. Auf dieser Grundlage benennt das fünfte Kapitel die regulatorischen Konsequenzen der Ergebnisse des Grundrechtsvergleichs und kehrt damit zum Ausgangspunkt der Arbeit zurück. Es identifiziert die Voraussetzungen, unter denen sich sowohl die Mitgliedstaaten der EMRK als auch die USA an einer völkerrechtlichen Bekämpfung illegaler Internet-Inhalte beteiligen können und wendet diese Ergebnisse auf aktuelle Versuche einer solchen Zusammenarbeit an. Auf diesem Weg wird das zentrale First Amendment-Argument in der Diskussion um eine Inhaltsregulierung des Internet auf seine Stichhaltigkeit und Reichweite überprüft und ein Ausblick unternommen. Das sechste und letzte Kapitel zieht ein Fazit und fasst die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit in Thesen zusammen.
D. Zwei juristische Prämissen und ihre Konsequenz Dieser Arbeit liegen eine europäische und eine amerikanische juristische Prämisse zugrunde. Die europäische Prämisse besagt: Bei ihren Bemühungen, volksverhetzende und zu Gewalt aufrufende Internet-Inhalte (auch) durch völkerrechtliche Formen der Zusammenarbeit zu bekämpfen, sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention an Art. 10 EMRK gebunden. Eine Einigung auf inhaltliche Standards, die mit Art. 10 EMRK unvereinbar sind, könnte nur um den Preis eines Konventionsverstoßes umgesetzt werden und ist keine zulässige Option. Art. 10 EMRK definiert also die aus europäischer Sicht geltenden grundrechtlichen Rahmenbedingungen einer auch transatlantischen Zusammenarbeit zur Regulierung von Internet-Inhalten. Im Hinblick auf die Vereinigten Staaten gilt eine analoge Prämisse. Der politische Spielraum der USA, sich an einer solchen Zusammenarbeit zu beteiligen, ist
D. Zwei juristische Prämissen und ihre Konsequenz
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juristisch durch das First Amendment begrenzt. Die Vereinigten Staaten dürfen sich folglich nur an solchen völkerrechtlichen Maßnahmen beteiligen, die mit dem First Amendment in Einklang stehen. Beide Prämissen sollen in der gebotenen Kürze erläutert werden.
I. Die europäische Prämisse Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde in der Form eines völkerrechtlichen Vertrages geschlossen.47 Beteiligen sich die Mitgliedstaaten an einem weiteren völkerrechtlichen Vertrag, in dem sie sich zum Verbot bestimmter, durch die EMRK geschützter Inhalte verpflichten, stellt sich die völkervertragsrechtliche Frage nach der Lösung dieses Konflikts. Auf den ersten Blick scheint Art. 30 Abs. 3 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge48 („Anwendung aufeinander folgender Verträge über denselben Gegenstand“) die Antwort parat zu halten. Sind alle Parteien eines früheren Vertrags zugleich Parteien eines späteren, ohne dass der frühere Vertrag beendet oder suspendiert wird, soll grundsätzlich der spätere Vertrag Vorrang genießen. Schwieriger wird es bereits, wenn sich nicht sämtliche Mitgliedstaaten der Konvention an dem (noch fiktiven) Vertrag über Internet-Inhalte beteiligen würden. In diesem Fall sähe Art. 30 Abs. 4 des Wiener Übereinkommens gespaltene Verpflichtungen vor. Zwischen den Staaten, die Vertragsparteien beider Verträge sind, soll grundsätzlich der spätere Vertrag maßgeblich sein. Zwischen einem Staat, der Partei beider Verträge ist, und einem Staat, der Vertragspartei nur des früheren Vertrags ist, soll hingegen dieser frühere Vertrag gelten. Diese Regelung ist sinnvoll, wenn es sich um einen Vertrag handelt, der in bioder multilateraler Weise die Beziehungen zwischen den Staaten koordiniert.49 Ein Vertrag wie die EMRK, der mit den Mitteln des Völkerrechts vor allem individuelle Rechte der der Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten Unterworfenen schützt und durchsetzt, kann nicht uneinheitlich angewendet werden. Unklar bliebe ohnedies, nach welchem Vertrag sich das Verhältnis zwischen dem Mitgliedstaat und seinem Bürger richten soll, da das Wiener Übereinkommen lediglich auf das Verhältnis der Vertragsparteien untereinander abstellt. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Die EMRK hält mit dem System der Zusatzprotokolle einen Mechanismus bereit, durch den der Inhalt der Konvention konsensual verändert werden kann. Es liefe der Systematik der Konvention zuwider, wenn einzelne oder alle Mitgliedstaaten nicht durch eine ausdrückliche und 47
Zur EMRK im Einzelnen, siehe Erstes Kapitel, A. I. bis III. BGBl. 1985 II, 927 ff. 49 Gemeint sind insb. sog. Austauschverträge (contractual treaties), dazu Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rdnr. 7. 48
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einstimmige Änderung der Konvention im Wege eines Zusatzprotokolls, sondern durch den Abschluss eines nur partiell überlappenden späteren völkerrechtlichen Vertrages ihre Verpflichtungen aus der EMRK auf das gerade opportune Maß „zurechtstutzen“ könnten. Eine solche Teilkündigung durch die Hintertür wäre überdies mit dem zentralen von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Auslegungsprinzip, dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit50, unvereinbar. Diese Sichtweise wird durch die Rechtsprechung des EGMR zur Anwendbarkeit der EMRK auf Rechtsakte des Europäischen Gemeinschaftsrechts und nationale Rechtsakte, die in dessen Vollzug ergehen, gestützt.51 In diesem Zusammenhang hat die Große Kammer des EGMR bestätigt, dass die EMRK die Mitgliedstaaten zwar nicht daran hindert, im Rahmen internationaler Zusammenarbeit Hoheitsrechte auf supra- oder internationale Organisationen zu übertragen.52 Selbst in diesem „Extremfall“ – der über den bloßen Abschluss eines „einfachen“ völkerrechtlichen Vertrages, der hier in Rede steht, hinausgeht – bleibe es aber dabei, dass der Mitgliedstaat nach Art. 1 EMRK für alle Handlungen und Unterlassungen seiner Organe verantwortlich sei. Dies gelte unabhängig davon, ob ein solches Handeln oder Unterlassen auf innerstaatliches Recht zurückgehe oder durch die Einhaltung völkerrechtlicher Verpflichtungen bedingt sei. „[T]he Court has recognised that absolving Contracting States completely from their Convention responsibility in the areas covered by such a transfer would be incompatible with the purpose and object of the Convention: the guarantees of the Convention could be limited or excluded at will thereby depriving it of its peremptory character and undermining the practical and effective nature of its safeguards. The State is considered to retain Convention liability in respect of treaty commitments subsequent to the entry into force of the Convention.“ 53
Kann sich also ein Mitgliedstaat, zumindest im Grundsatz, nicht einmal durch die Übertragung von Hoheitsrechten von der konventionsrechtlichen Haftung befreien, wird ihm dies erst recht nicht durch den Abschluss eines zeitlich späteren, „einfachen“ völkerrechtlichen Vertrags gelingen. Hier ist die im modernen Völkerrecht vermehrt anzutreffende Tendenz festzustellen, gerade Instrumente zum Menschenrechtsschutz aus der Fixierung auf den Konsens der Vertragsstaaten zu lösen und ihnen so zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen.54 50 Vgl. z. B. EGMR, Urt. v. 12.3.2003, Öcalan, Nr. 46221/99, § 153; Urt. v. 12.7. 2001, Hans-Adam II., RJD 2001-VIII, § 45; Urt. v. 29.4.1999, Chassagnou, RJD 1999III, § 100; Urt. v. 18.2.1999, Matthews, RJD 1999-I, § 34 („[T]he Convention is intended to guarantee rights that are not theoretical or illusory, but practical and effective“). 51 Hierzu umfassend Schäfer, S. 32 ff.; siehe auch Herdegen, Europarecht, § 3 Rdnr. 58 ff. 52 EGMR, Urt. v. 30.6.2005, Bosphorus, Nr. 45036/98 = NJW 2006, 197 ff.; dazu Bröhmer, EuZW 2006, 71 ff.; Heer-Reißmann, NJW 2006, 192 ff. 53 EGMR, Urt. v. 30.6.2005, Bosphorus, Nr. 45036/98, § 154; siehe auch EGMR, Urt. v. 12.7.2001, Hans-Adam II, RJD 2001-VIII, § 47.
D. Zwei juristische Prämissen und ihre Konsequenz
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Eine pragmatische Überlegung bestätigt die Maßgeblichkeit der EMRK für die völkerrechtliche Zusammenarbeit. Trotz Unterschieden im Wortlaut der nationalen und europäischen Gewährleistungen der Äußerungsfreiheit ist von weitgehender europaweiter Übereinstimmung der materiellen Grundrechtsgehalte auszugehen.55 In der Folge beantwortet eine Überprüfung am Maßstab des Art. 10 EMRK zugleich zuverlässig die Frage, ob die ins Auge gefasste völkerrechtliche Maßnahme im Einklang mit der jeweiligen nationalen Gewährleistung der Äußerungsfreiheit getroffen und umgesetzt werden könnte.
II. Die amerikanische Prämisse Die amerikanische Prämisse lautet, dass sich die Vereinigten Staaten nur an solchen völkerrechtlichen Maßnahmen zur Regulierung von Internet-Inhalten beteiligen können, die im Einklang mit dem First Amendment stehen. Diese Prämisse ergibt sich bereits aus der Rechtsprechung des Supreme Court. In dessen Entscheidung im Fall Reid v. Covert aus dem Jahre 1957 heißt es: „[N]o agreement with a foreign nation can confer power on the Congress, or on any other branch of Government, which is free from the restraints of the Constitution.“ 56
Bestätigt wird dieser Grundsatz durch einen Blick in das nach wie vor autoritative Restatement (Third) of Foreign Relations Law of the United States. Danach ist auch die auswärtige Gewalt der Vereinigten Staaten umfangreich an die Verfassung, insbesondere die Bill of Rights gebunden: § 115 (3): „A rule of international law or a provision of an international agreement of the United States will not be given effect as law in the United States if it is inconsistent with the United States Constitution.“ § 302 (2): „No provision of an agreement may contravene any of the prohibitions or limitations of the Constitution applicable to the exercise of authority by the United States.“ § 721: „The provisions of the United States Constitution safeguarding individual rights generally control the United States government in the conduct of its foreign relations as well as in domestic matters, and generally limit governmental authority whether it is exercised in the United States or abroad, and whether such authority is exercised unilaterally or by international agreement.“
Käme es zu einem Konflikt zwischen Verfassungs- und Völkerrecht, befänden sich die USA somit in einer Zwickmühle: Die Erfüllung der völkerrechtlichen 54 Zur generell zu beobachtenden Abschwächung der Konsenstheorie Herdegen, Völkerrecht, § 3 Rdnr. 8 ff. 55 Bspw. Seidel, S. 111, weist darauf hin, dass zwar der Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 GG weiter gefasst ist als Art. 10 EMRK, aber aufgrund der extensiven Interpretation von Art. 10 EMRK durch den EGMR von einer weitgehenden Kongruenz zwischen Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 10 EMRK ausgeht. 56 Reid v. Covert, 354 U.S. 1, 16 (1957).
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Einleitung
Verpflichtung wäre nur um den Preis eines Verfassungsverstoßes möglich. Die Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zöge zwingend einen Völkerrechtsverstoß nach sich. Nach Art. 27 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge können sich Staaten jedoch nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um einen Vertragsverstoß zu rechtfertigen.57 Um diesen Konflikt zwischen Völkerrecht und Verfassungsrecht zu vermeiden, müssen die Vereinigten Staaten daher bei Abschluss völkerrechtlicher Verträge darauf achten, dass diese ohne Verstoß gegen die Verfassung ins nationale Recht umgesetzt werden können. Dies zwingt im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung zu einer Prüfung am Maßstab des First Amendment.
III. Die Konsequenz der kombinierten Prämissen Kombiniert man diese beiden Prämissen, ergibt sich folgende Konsequenz: Nur solche Maßnahmen, die sowohl mit Art. 10 EMRK als auch mit dem First Amendment vereinbar sind, kommen als Mittel zur transatlantischen Regulierung (und Bekämpfung) von Internet-Inhalten in Betracht. Der regulatorische Spielraum umfasst als Schnittmenge diejenigen Inhalte, deren Verbot weder gegen Art. 10 EMRK noch das First Amendment verstößt. Mit einer Darstellung der Vorgaben des Art. 10 EMRK wendet sich die Arbeit nunmehr der Definition dieser Schnittmenge zu.
57 Eine eng begrenzte Ausnahme gilt nach Art. 46 WVK nur bei groben und evidenten Verletzungen der innerstaatlichen Regel über die Abschlusskompetenz, vgl. Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rdnr. 13, 16.
Erstes Kapitel
Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK A. Die Bedeutung der EMRK als gesamteuropäischer Grundrechtsstandard Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) wurde am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet.58 Im Anschluss an die Ratifikation durch zehn Signatarstaaten trat sie am 3. September 1953 in Kraft.59 Die Präambel nimmt ausdrücklich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 Bezug und unterstreicht, dass die Konvention auf der gemeinsamen Auffassung und Achtung der Menschenrechte durch die Unterzeichnerstaaten beruht. Diese gemeinsame Grundlage ermöglichte es, wiederum in den Worten der Präambel, die „ersten Schritte“ auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie gewisser in der AEMR verkündeter Menschenrechte zu unternehmen. Bereits ihre Autoren begriffen die EMRK als gemeineuropäischen Mindeststandard im Bereich der Grundrechte.60 Im Rahmen des regionalen Menschenrechtsschutzes ist die EMRK das älteste Vertragswerk seiner Art.61 Ihre Ausarbeitung, mit der unmittelbar im Anschluss an die Gründung des Europarates im Jahre 1949 begonnen wurde, stand stark unter dem Eindruck des Endes des Zweiten Weltkrieges und der systematischen Menschenrechtsverletzungen während des Nationalsozialismus.62 Die EMRK reiht sich in die zahlreichen Bemühungen gegen Mitte des vergangenen Jahrhunderts ein, auf regionaler wie auf internationaler Ebene ein engmaschiges völkerrechtliches Netz zum Schutz der Menschenrechte zu knüpfen.63
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Bekanntmachung der Neufassung in: BGBl. 1998 II, 1054 ff. Frowein, in: Frowein/Peukert, Einführung Rdnr. 2; vgl. zur Entstehungsgeschichte der EMRK Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 1 Rdnr. 1 ff.; Klein, AVR 2001, 121 ff.; Partsch, ZaöRV 13 (1953/54), 631 ff. 60 Dies verdeutlicht auch Art. 53 EMRK, der im Verhältnis zu den nationalen Grundrechtsgewährleistungen das Günstigkeitsprinzip normiert. Der durch die EMRK errichtete Grundrechtsstandard darf also über-, aber nicht unterschritten werden. Ein Beispiel für eine solche Überschreitung bietet Art. 3 Abs. 1 GG, der einen im Vergleich zu Art. 14 EMRK deutlich weiterreichenden Gleichheitssatz beinhaltet. 61 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 1 Rdnr. 1. 62 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 1 Rdnr. 1; Siess-Scherz, EuGRZ 2003, 100 (102). 63 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 1 Rdnr. 1. 59
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
Bereits die schiere Zahl der Konventionsstaaten beweist die Bedeutung der EMRK. Im Anschluss an das Ende des Ost-West-Konflikts hat sich die Zahl der Mitgliedstaaten von 22 auf nunmehr 47 mehr als verdoppelt.64 Mehr als 800 Millionen Menschen haben Zugang zum Rechtsschutzsystem der EMRK.65
I. Die EMRK als rechtsetzender Vertrag Die EMRK wurde als völkerrechtlicher Vertrag geschlossen. Die Konvention normiert jedoch nicht im Sinne eines Austauschvertrages wechselbezügliche Verpflichtungen der Vertragsstaaten, sondern errichtet im Sinne eines law-making treaty66 eine grundsätzliche Ordnung zum Schutz der Menschenrechte.67 Wenngleich die EMRK mithin in die völkerrechtliche Typologie eingeordnet werden kann, unterscheidet sie sich in mehrfacher Hinsicht von anderen völkerrechtlichen Vertragswerken. Zunächst regelt die EMRK in der Hauptsache nicht die zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern das Verhältnis zwischen dem Einzelnen, der seine Konventionsrechte geltend macht, und den Konventionsstaaten, die sich zur Wahrung dieser Rechte verpflichtet haben.68 So heißt es in Art. 1 EMRK: „Die Hohen Vertragsschließenden Teile sichern allen ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I dieser Konvention niedergelegten Rechte zu.“ 69 Darüber hinaus hebt sich die EMRK auch von anderen völkerrechtlichen Instrumenten zum Menschenrechtsschutz durch das „justizförmige Kontrollsystem“ ab, das in für das Völkerrecht außergewöhnlicher Weise dem Einzelnen die Möglichkeit einräumt, sogar den Heimatstaat vor einem internationalen Organ zur Rechenschaft zu ziehen.70
II. Intensive Einwirkung auf das innerstaatliche und europäische Recht Auf eine für einen völkerrechtlichen Vertrag untypische Art wirkt die EMRK auch auf die nationalen Rechtsordnungen und insbesondere deren Grundrechts-
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Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 1 Rdnr. 4. Siess-Scherz, EuGRZ 2003, 100. 66 Zur Unterscheidung zwischen law-making und contractual treaty siehe Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rdnr. 7; siehe auch de Visscher, S. 128 ff. 67 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 2 Rdnr. 1. 68 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 2 Rdnr. 1. 69 Vgl. dazu Tomuschat, EuGRZ 2003, 95 (96); siehe auch Cohen-Jonathan, S. 243 f. 70 Herdegen, Europarecht, § 3 Rdnr. 3; ders., in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. 2 Rdnr. 27; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 2 Rdnr. 1 f.; Tomuschat, EuGRZ 2003, 95 (97). 65
A. Bedeutung der EMRK als gesamteuropäischer Grundrechtsstandard
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gewährleistungen ein.71 Die Konvention ist in jedem Konventionsstaat Bestandteil des innerstaatlichen Rechts.72 In Österreich genießt sie gar Verfassungsrang, in zahlreichen anderen Staaten ist sie in der Normenhierarchie zwar unterhalb der Verfassung, jedoch über den einfachen Gesetzen angesiedelt.73 Dies gilt unter anderem für die Schweiz, Belgien, Frankreich und einige Staaten Osteuropas.74 In einer dritten Gruppe von Staaten, der auch Deutschland75 angehört, steht die EMRK im Rang eines einfachen Gesetzes.76 Die oben angesprochene Einwirkung der EMRK auf das nationale Recht erschöpft sich keineswegs in der bloßen innerstaatlichen Geltung. Diese wäre – zum Beispiel in Deutschland angesichts des Art. 59 Abs. 2 GG – nicht weiter bemerkenswert.77 Die Konvention wird jedoch darüber hinaus – unter anderem durch das deutsche Bundesverfassungsgericht78 – zur Auslegung der nationalen 71 Frowein, NVwZ 2002, 29; eine Typologie der Einwirkungen findet sich bei Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 3 Rdnr. 11 f. 72 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 3 Rdnr. 1; Polakiewicz, ERPL 2002, 853 (854). 73 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 3 Rdnr. 2; Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (301) spricht vom „Mezzanin zwischen Gesetz und Verfassung“. 74 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 3 Rdnr. 3. 75 H.M.: BVerfGE 111, 307 (315 ff.); 82, 106 (120); 74, 358 (370); Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 3 Rdnr. 5; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. 2 Rdnr. 41; Staebe, JA 1996, 75 (79). Siehe auch unten Anm. 77 sowie Schmalz, S. 9 ff. 76 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 3 Rdnr. 5; siehe auch Gerards, S. 123 ff. 77 Bestimmte Garantien der EMRK wie etwa das Verbot der Folter und der Sklaverei, Art. 3, 4 Abs. 1 EMRK stellen allgemeine Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 S. 2 GG dar und gehen aus diesem Grund den einfachen Gesetzen vor, Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rdnr. 12; Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (306); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 3 Rdnr. 9; HoffmannRiem, EuGRZ 2002, 473 (475); Limbach, EuGRZ 2000, 417 (418). Der Weg über Art. 25 S. 2 GG ist nur für die Garantien der EMRK gangbar, die universelles Gewohnheitsrecht darstellen. Ausweislich seines insoweit eindeutigen Wortlauts erfasst Art. 25 GG nicht regionales Gewohnheitsrecht, Herdegen, in: Maunz/Dürig, Art. 25 Rdnr. 22, 32. Bleckmann, EuGRZ 1994, 149 (153 f.) vertritt die Auffassung, dass die EMRK insgesamt Völkergewohnheitsrecht darstellt; hierzu Uerpmann, S. 65 ff. Langenfeld, in: Bröhmer, Grundrechtsschutz in Europa, S. 95 (99 ff.) möchte die EMRK über Art. 24 Abs. 1 GG in Verfassungsrang erheben. Schließlich kursiert der Vorschlag, die Beachtung der EMRK über das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG zu überprüfen, dazu Frowein, ZaöRV 46 (1986), 286 ff. Es bleibt bei der bewussten Entscheidung des deutschen Normgebers, die EMRK nicht auf die Stufe des Verfassungsrechts zu erheben, Spranger, AöR 127 (2002), 27 (50). Übersichtlich zu den verschiedenen Ansätzen Staebe, JA 1996, 75 (79 f.). 78 Siehe Frowein, FS Zeidler, Bd. 2, S. 1764 ff.; Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473 (475). Dies gilt in besonderem Maße für die Verfahrensgarantien der EMRK, die im deutschen Grundgesetz keine adäquate Entsprechung finden, Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 3 Rdnr. 9. Siehe BVerfGE 111, 307 (317); sowie grundlegend E 74, 358 (370): „Bei der Auslegung des Grundgesetzes sind auch Inhalt und Entwicklungsstand der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen, [. . .] Deshalb dient insoweit auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
Grundrechtskataloge und des einfachen Rechts herangezogen.79 Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes80 ermöglicht eine Auslegung der Verfassung, die sich um Konformität mit der im Rang eines einfachen Bundesgesetzes stehenden EMRK bemüht.81 Streng genommen kommt es zu einer um Übereinstimmung mit einem einfachen Gesetz bemühten Auslegung des Grundgesetzes.82 Insgesamt befördert diese Entwicklung die bereits in der Einleitung angesprochene Kohärenz zwischen den nationalen Grundrechtskatalogen und der EMRK.83 Der in Frankreich seit einiger Zeit von Fachgerichten praktizierte contrôle de conventionalité bildet ein weiteres Beispiel für die Vehemenz, mit der sich die EMRK auf nationale Rechtsordnungen auswirkt. Traditionell existiert im französischen Rechtssystem nur eine präventive, jedoch keine nachträgliche Verfassungskontrolle von Gesetzen. Kommt ein Fachgericht hingegen im Rahmen des nachträglichen contrôle de conventionalité zu dem Ergebnis, dass ein Gesetz mit
und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes.“ Siehe auch BVerfGE 82, 106 (120); BVerfG, EuGRZ 1987, 203 (Pakelli-Beschluss); BVerwGE 110, 203 (212) sowie Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 3 Rdnr. 6 ff.; Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rdnr. 10; Limbach, NJW 2001, 2913 (2914 f.), dies., EuGRZ 2000, 417 (418). 79 Für das Vereinigte Königreich siehe House of Lords, United Kingdom Association of Professional Engineers v. Advisory, Conciliation and Arbitration Service (H.L.), [1980] 2 W.L.R. 254 (266 per Lord Scarman) sowie A.G. v. Guardian Newspapers Ltd. (No. 2) (Ch.D.), [1983] 3 All E.R. 545 (582 per Scott J). Für die Niederlande vgl. Oberster Gerichtshof der Niederlande, Urt. v. 12.9.1997, Nederlandse Jurisprudentie 1998, Nr. 687. Siehe auch Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (94). 80 Hierzu Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rdnr. 8 ff.; zur „Menschenrechtsfreundlichkeit“ des Grundgesetzes siehe Herdegen, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. 2 Rdnr. 3, 47, spezifisch zur EMRK-freundlichen Auslegung Rdnr. 48, 68. 81 BVerfGE 111, 307 (317 f.) („Diese verfassungsrechtliche Bedeutung eines völkerrechtlichen Vertrages, der auf regionalen Menschenrechtsschutz zielt, ist Ausdruck der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, das die Betätigung staatlicher Souveränität durch Völkervertragsrecht und internationale Zusammenarbeit sowie die Einbeziehung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts fördert und deshalb nach Möglichkeit so auszulegen ist, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht.“); 74, 358 (370); Bernhardt, EuGRZ 1996, 339; Heldrich, NJW 2004, 2634 (2636); Herdegen, Europarecht, § 3 Rdnr. 52 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15 ff.; Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie, S. 192 ff.; Uerpmann, insb. S. 137 ff.; siehe auch Langenfeld, in: Bröhmer, Grundrechtsschutz in Europa, S. 95; Staebe, JA 1996, 75 (81). 82 Dieses Phänomen veranlasst Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rdnr. 14, von einem „quasi verfassungsrechtlichen Rang“ der EMRK zu sprechen. 83 In diesem Sinne auch Bernhardt, EuGRZ 1996, 339, der aber auf den Kollisionsfall Vogt hinweist, vgl. EGMR, Urt. v. 20.9.1995, Vogt, Serie A 323. In der jüngeren Vergangenheit wurde diskutiert, ob im Zusammenhang mit den Persönlichkeitsrechten Prominenter ein weiterer Konfliktfall droht, siehe EGMR, Urt. v. 24.6.2004, von Hannover, RJD 2004-VI=NJW 2004, 2674, dramatisierend etwa Engels/Jürgens, NJW 2007, 2517; kompromissbereiter Benda, AnwBl 2005, 602; allg. Schmalz, S. 35 ff.
A. Bedeutung der EMRK als gesamteuropäischer Grundrechtsstandard
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der EMRK nicht vereinbar ist, so lässt es dieses unter Durchbrechung des traditionellen Grundsatzes unangewendet.84 Welchen Inkorporationsdruck die EMRK gerade durch das mit ihr verbundene Rechtsschutzsystem zu entfalten vermag, zeigt der am 2. Oktober 2000 in Großbritannien in Kraft getretene Human Rights Act 1998. Nach dem streng dualistischen „Westminster Modell“ kann ein völkerrechtlicher Vertrag ohne einen Umsetzungsrechtsakt im innerstaatlichen Recht keine Rechte und Pflichten des Einzelnen begründen. Da das britische Rechtssystem keine Möglichkeit vorsah, Grundrechtsverletzungen gerichtlich geltend zu machen, wurden gegen das Vereinigte Königreich zahlreiche Verfahren vor den Straßburger Organen angestrengt. Diesen Zustand empfand der britische Gesetzgeber als unbefriedigend und schuf durch die Einführung des Human Rights Act, der die Konventionsrechte im Wesentlichen transkribiert, Abhilfe.85 Im Jahre 2003 folgte Irland mit dem European Convention on Human Rights Act dem britischen Beispiel.86 Auswirkungen der EMRK lassen sich nicht nur im Hinblick auf die nationalen Rechtsordnungen feststellen. Auch für die Europäische Union und insbesondere für den durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) gewährten Grundrechtsschutz ist die EMRK maßgeblich.87 Nach Art. 6 Abs. 3 EUV sind die „die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind . . . als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.“ 88 Bereits zuvor hatte der EuGH auf die EMRK als Rechtserkenntnisquelle bei der Ermittlung der Gemeinschaftsgrundrechte zurückgegriffen und sich dabei auch ausdrücklich auf die Rechtsprechung Straßburgs berufen.89 Gerade vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, 84 Vgl. z. B. Conseil d’Etat, Entsch. v. 30.10.1998, Lorenzi, RDP 1999, 649 (Anwendung des Öffentlichkeitsgrundsatzes aus Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Verfahren vor Disziplinargerichten); Entsch. v. 20.10.1989, Nicolo, Rec. Lebon, S. 190 (dt. Übersetzung EuGRZ 1990, 99); Misera, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, S. 221 (insb. 226); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 3 Rdnr. 4; Walter, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 1 Rdnr. 12 sowie Langenfeld, in: Bröhmer, Grundrechtsschutz in Europa, S. 95 (96). 85 Dazu Grote, ZaöRV 58 (1998), 309 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 3 Rdnr. 5; Herdegen, Europarecht, § 3 Rdnr. 52; mit Blick insb. auf Art. 10 EMRK Robertson/ Nicol, S. 33 ff. 86 European Convention on Human Rights Act (No. 20 of 2003) abrufbar unter http://www.oireachtas.ie/documents/bills28/acts/2003/a2003.pdf; vgl. auch Polakiewicz, ERPL 2002, 853 (854). 87 Vgl. schon oben, Einleitung, D. I. 88 Art. 6 Abs. 2 EUV a. F. brachte nur eine politische, nicht hingegen eine rechtliche Bindung der Europäischen Union oder der Europäischen Gemeinschaften zum Ausdruck, Kingreen, in: Callies/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 33. 89 Vgl. EuGH, Slg. 1974, 491 Rdnr. 13 – Nold; Slg. 1986, 1651 Rdnr. 18 – Johnston; Slg. 1989, 2859 Rdnr. 18 – Hoechst.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
dass der Vertrag von Lissabon in Art. 6 Abs. 2 EUV eine Verpflichtung der Union vorsieht, der EMRK beizutreten.90
III. Gemeineuropäischer Grundrechtsstandard Die Geltung der Konvention in nahezu ganz Europa (einzige Ausnahme ist Weißrussland) sowie die Bedeutung, die der EMRK sowohl für den europäischen als auch den nationalen Grundrechtsschutz zukommt, rechtfertigen es, die EMRK als gemeineuropäischen Grundrechtsstandard91 zu bezeichnen. Der EGMR selbst nennt die EMRK ein „Verfassungsinstrument des europäischen ordre public“ 92, im Schrifttum finden sich zahlreiche weitere emphatische Begriffe.93 Gerade die besondere Bedeutung der Konvention rechtfertigt es, die Gewährleistung der Meinungsfreiheit im Rahmen der EMRK zum Ausgangspunkt der Ermittlung der Gewährleistungsreichweite der Meinungsfreiheit in Europa zu machen. Im Folgenden soll zunächst die allgemeine Struktur der durch die EMRK in Art. 10 geschützten Äußerungsfreiheit umrissen werden. Diese allgemeine Darstellung bildet den Hintergrund, vor dem die Gewährleistungsreichweite für volksverhetzende und zur Gewalt aufrufende Inhalte ermittelt werden kann. Den Ausgangspunkt bildet – neben dem Wortlaut von Art. 10 EMRK – die Rechtsprechung des EGMR.
90 Art. 6 Abs. 2 Satz 1 EUV lautet: „Die Union tritt der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei.“; vgl. zu dem „Vorgänger“ Art. I-9 Abs. 2 Satz 1 des Europäischen Verfassungsentwurfs Kingreen, in: Callies/Ruffert, Verfassung der EU, Art. I-9 Rdnr. 14 ff. Siehe auch Art. 218 Abs. 6 UAbs. 2 lit. a) ii) EUV; mglw. zu Unrecht zweifelnd bzgl. einer Beitrittsverpflichtung unter Verweis auf die englische Fassung („shall accede“) Walter, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 1 Rdnr. 35. Die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Ermächtigung ergibt sich aus dem Gutachten 2/94 des EuGH, vgl. EuGH, Slg. 1996, I-1759 ff.; Walter, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 1 Rdnr. 35. Ein Beitrittsszenario entwickeln etwa Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 93 ff. Die Annahme, die Schaffung der Grundrechtscharta würde den Forderungen nach einem EMRK-Beitritt den Wind aus den Segeln nehmen, hat sich nicht bewahrheitet, Grabenwarter, FS Steinberger, S. 1129 ff. 91 Herdegen, Europarecht, § 3. 92 EGMR, Urt. v. 23.3.1995, Loizidou (Preliminary Objections), Serie A 310, § 75 („constitutional instrument of European Public Order“). 93 Häberle, EuGRZ 1991, 261 (265) („Teil des ordre public européen“); Frowein, JuS 1986, 845 ff. („Europäische Menschenrechtsverfassung“); Hillgruber, DVBl. 1999, 1155 (1176) („materielle gemeineuropäische Verfassung“); Hoffmeister, Der Staat 2001, 349 (353 ff.) („Grundrechtsverfassung“); Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 260 (294 f.; 316 f.) („völkerrechtliche Teilverfassung im Bereich der Menschenrechte“); Polakiewicz, ERPL 2002, 853 (855) („Bill of Rights für ganz Europa“).
B. Liberale und die demokratisch-funktionale Komponente von Art. 10 EMRK 47
B. Die liberale und die demokratisch-funktionale Komponente von Art. 10 EMRK Der EGMR hat die besondere Bedeutung, die er der durch Art. 10 EMRK geschützten Äußerungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft beimisst, stets betont. In seiner Leitentscheidung zu Art. 10 EMRK im Fall Handyside94 aus dem Jahr 1976 hat der Gerichtshof diese Bedeutung prägnant formuliert: „Freedom of expression constitutes one of the essential foundations of [a democratic] society, one of the basic conditions for its progress and the development of every man. Subject to paragraph 2 of Article 10, it is applicable not only to ,information‘ or ,ideas‘ which are favourably received or regarded as inoffensive or as a matter of indifference, but also to those that offend, shock or disturb the State or any sector of the population. Such are the demands of that pluralism, tolerance and broadmindedness without which there is no ,democratic society‘.“ 95
Mit diesen Worten bringt der Gerichtshof die doppelte Zielsetzung zum Ausdruck, die er der Äußerungsfreiheit entnimmt. Zunächst schützt Art. 10 EMRK einen Bereich persönlicher Freiheit, in der sich der Einzelne durch die ungehinderte Kundgabe seiner Ansichten selbst entfalten können soll. Der EGMR spricht insoweit von einer Grundvoraussetzung der Selbstentfaltung des Einzelnen.96 In diesem Sinne ist die durch die EMRK garantierte Äußerungsfreiheit zunächst als „reine“ Freiheit vor staatlichen Eingriffen zu verstehen. Dem Einzelnen wird diese Freiheit schlechthin und nicht zur Erreichung eines bestimmten Zwecks, etwa eines „demokratischen Effekts“, eingeräumt. Dieses Verständnis des Art. 10 EMRK als „negative Kompetenznorm“ 97 steht der liberalen Grundrechtstheorie nahe. Über diesen Schutz der Persönlichkeitsentfaltung hinaus bildet die Äußerungsfreiheit jedoch den „Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft“.98 Die Demokratie ist auf den durch die Äußerungsfreiheit geschützten Austausch von Meinungen und Informationen angewiesen, dieser ist „Grundvoraussetzung für ihren Fortschritt“.99 Eingriffe in diese Freiheit bedeuten damit nicht nur einen 94 Zu den Hintergründen Spiecker gen. Döhmann, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, S. 569 ff. 95 EGMR, Urt. v. 7.12.1976, Handyside, Serie A 24, § 49. Der EGMR hat sichtlich Gefallen an seiner eigenen Formulierung gefunden und rezitiert diese mittlerweile nahezu in jeder Entscheidung, die zu Art. 10 EMRK ergeht, vgl. z. B. Urt. v. 23.5.1991, Oberschlick I, Serie A 204, § 57; Urt. v. 21.1.1999, Fressoz et Roire, RJD 1999-I, § 45; Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 142 (insb. Fn. 52). 96 „Basic condition [. . .] for the development of every man“, bzw. „l’une des conditions primordiales . . . de l’épanouissement de chacun“, EGMR, Urt. v. 7.12.1976, Handyside, Serie A 24, § 49. 97 Begriff bei Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (89 ff.). 98 EGMR, Urt. v. 7.12.1976, Handyside, Serie A 24, § 49. 99 EGMR, Urt. v. 7.12.1976, Handyside, Serie A 24, § 49.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
Eingriff in die persönliche Freiheitssphäre des Einzelnen, sondern auch in den demokratischen Prozess. Umgekehrt verbindet der EGMR mit der Äußerungsfreiheit auch die Erwartung, dass der Einzelne von seiner Freiheit durch möglichst rege Anteilnahme am öffentlichen Diskurs Gebrauch macht. Die Äußerungsfreiheit wird auch als Voraussetzung der Verwirklichung weiterer Freiheiten und Rechte begriffen.100 Das liberale Grundrechtsverständnis wird somit um eine demokratisch-funktionale101 Komponente ergänzt. Auch diese Komponente findet im Wortlaut des Art. 10 EMRK eine Stütze: Zentrales Kriterium für die Rechtfertigung eines Eingriffs ist, ob die Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist.102 Wegen dieser „positivrechtlichen Anordnung einer demokratisch-politischen Interpretation des Grundrechts“ 103 darf die Äußerungsfreiheit nicht ausschließlich als eine Freiheit ex negativo verstanden werden. Sie wird darüber hinaus auch – und vielleicht vor allem – gewährleistet, um das demokratische Wesen der Gesellschaft zu fördern.104 Individuelle Freiheit und demokratischer Prozess sollen gesichert werden.105 Dieses sowohl liberal als auch demokratisch-funktional geprägte Verständnis der Äußerungsfreiheit wirkt sich auf allen drei Ebenen der Grundrechtsprüfung aus: Es trägt das weite Verständnis von Schutzbereich und Eingriff und prägt die Anforderungen, die an die Rechtfertigung106 eines Eingriffs zu stellen sind. Demokratisch-funktionale und liberale Auslegung stehen nicht im Widerspruch; sie ergänzen einander.107 100 Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 142 („zwingende Voraussetzung zur Sicherung weiterer Freiheiten“). 101 Begriff von Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1534 f.). 102 Zu den Wesensmerkmalen dieser demokratischen Gesellschaft siehe unten, Erstes Kapitel, C. III. 3. a) und D. II. 1. 103 Nolte, AfP 1996, 313 (316). 104 (Über-)pointiert Kübler, AfP 2002, 277 (278), der die Auffassung vertritt, die Meinungs- und Pressefreiheit verleihe „nicht die Befugnis, sich auf Kosten der Mitbürger individuell zu entfalten; diese Verbürgungen stehen vielmehr strikt im Dienst von Gemeinwohlbelangen.“ Der EGMR hat sich ein derart exklusiv-funktionales Verständnis der Äußerungsfreiheit nicht zu Eigen gemacht. Frowein, EuGRZ 2008, 117 betont die „funktionale Bedeutung“ der Meinungsfreiheit, wehrt sich aber dagegen, dass die Meinungsfreiheit nur im Zusammenhang mit Demokratie gesehen wird. 105 Grote/Wenzel, in: Grote/Marauhn, Kap. 18 Rdnr. 15, sprechen von einer „politischen Aufladung“ des Grundrechts. Siehe auch zur allgemeinen europäischen Diskussion, Kühling, in: Heselhaus/Nowak, § 23 Rdnr. 3 ff., der zutreffend von einem „Ergänzungsverhältnis“ spricht; ähnlich Robertson/Nicol, S. 37. 106 Etwa Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie, S. 195 f., weist darauf hin, dass sich der Gerichthof dort, „wo es um die Freiheit der demokratischen Erörterung geht, nicht in Zurückhaltung übt, sondern eine eingehende Prüfung vornimmt.“ 107 Diese doppelte Zielsetzung betont auch Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 10 Rdnr. 1; ähnlich Jacobs/White, S. 222 f.
C. Dogmatische Struktur von Art. 10 EMRK
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Im Ergebnis kommt es dennoch häufig zu einer zumindest faktischen Privilegierung der politischen Meinungsäußerung gegenüber Beiträgen zu vermeintlich trivialeren Themen.108 So betont der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Bedeutung der freien politischen Debatte für die demokratische Gesellschaft und billigt den Staaten nur einen sehr eingeschränkten Beurteilungsspielraum zu, wenn es um Eingriffe in den politischen Meinungskampf geht.109 Bei weniger politischen Äußerungen reduziert der Gerichtshof hingegen die Kontrolldichte, so dass eine Rechtfertigung des Eingriffs nach Art. 10 Abs. 2 EMRK leichter gelingt.110 Aus der besonderen Bedeutung der Äußerungsfreiheit für den politischen Prozess ergibt sich dennoch keine herausgehobene Stellung in der Grundrechtshierarchie.111 Vielmehr lehnt der EGMR einen solchen „gestuften“ Grundrechtsschutz ab und zieht es vor, der Bedeutung der einzelnen Grundrechte im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung Rechnung zu tragen.112 Art. 10 EMRK ist kein „preferred freedom“.
C. Dogmatische Struktur von Art. 10 EMRK Art. 10 EMRK lautet: „(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben. (2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohun108 Siehe hierzu zum einen unten, Erstes Kapitel, C. III. 3. a), vgl. zum anderen EGMR, Urt. v. 24.6.2004, von Hannover, RJD 2004-VI. Dort stellt der EGMR im Rahmen der Abwägung zwischen dem Berichterstattungsinteresse der Presse und dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) Prominenter maßgeblich darauf ab, inwiefern Gegenstand der Berichterstattung ein Thema von politischer Bedeutung ist. Handelt es sich um einen privaten Vorgang, der keinen oder nur einen schwachen Bezug zur Wahrnehmung politischer Aufgaben aufweist, gewährt der Gerichtshof den Rechten aus Art. 8 EMRK den Abwägungsvorrang. Kritisch Grabenwarter, AfP 2004, 309; ders., in: Bröhmer u. a., FS Ress, 979 ff.; Überblick über die Reaktionen bei Wüllrich, S. 87 ff. 109 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 8.7.1986, Lingens, Serie A 103, § 42; Urt. v. 12.7.2001, Feldek, RJD 2001-VIII, § 83. 110 Grote/Wenzel, in: Grote/Marauhn, Kap. 18 Rdnr. 12 („politische Lesart der Meinungsfreiheit“). 111 Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 142. Missverständlich Nolte, AfP 1996, 313 (316). Gegen eine solche herausgehobene Stellung spricht nicht zuletzt, dass Art. 10 EMRK nicht zu den nach Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfesten Menschenrechten gehört. 112 In diesem Sinne auch Laeuchli Bosshard, S. 7.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK gen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zu Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.“
Ähnlich der deutschen Grundrechtsdogmatik erfolgt die Prüfung der Verletzung eines Konventionsrechtes in der Regel dreistufig auf den Ebenen „Schutzbereich“, „Eingriff“ und „Rechtfertigung“. Der Gerichtshof unterscheidet in seiner Prüfung allerdings häufig nur zwischen Anwendbarkeit und Rechtfertigung. Eine geraffte Darstellung der diese Prüfung prägenden Prinzipien soll der Analyse der für die Untersuchung unmittelbar relevanten Straßburger Spruchpraxis vorangestellt werden.
I. Schutzbereich von Art. 10 EMRK Der Schutzbereich von Art. 10 EMRK umfasst mehrere Grundrechte. Zu nennen sind vor allem die Meinungsbildungs- und die Meinungsäußerungsfreiheit, die Freiheit, Informationen zu empfangen, sowie die Presse- und Rundfunkfreiheit113 und die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks114. Diese einzelnen Grundrechtsgewährleistungen werden unter den Oberbegriffen der Äußerungsfreiheit bzw. der Kommunikationsfreiheit zusammengefasst. Bei den von der Konvention gewährleisteten Grundrechten handelt es sich – wie bereits der Titel der Konvention deutlich macht – um Menschenrechte. Der personale Schutzbereich von Art. 10 Abs. 1 EMRK umfasst daher sowohl In- als auch Ausländer.115 Auch die Staatsbürgerschaft eines Konventionsstaats ist nicht Voraussetzung, um sich auf die EMRK berufen zu können.116 Träger der in Art. 10 Abs. 1 EMRK genannten Rechte können auch juristische Personen des Privatrechts sein, zumal vielfach gerade Personengruppen und juristische Personen wie Parteien, Verbände und Unternehmen an Kommunikationsprozessen teilnehmen.117 1. Allgemeines Der Schutzbereich der von Art. 10 EMRK gewährleisteten Freiheit ist in mehrfacher Hinsicht weit gefasst.118 Geschützt sind zunächst Werturteile und Tatsa113
Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rdnr. 2. EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Karatas¸, RJD 1999-IV, § 49; Urt. v. 24.5.1988, Müller, Serie A 133, § 27. 115 Determann, S. 307. 116 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 17 Rdnr. 2. 117 EGMR, Urt. v. 22.5.1990, Autronic AG, Serie A 178, § 47; Urt. v. 28.3.1990, Groppera Radio AG, Serie A 173, § 55; Determann, S. 307 f.; Gurazde, Art. 10 Rdnr. 2; Reid, S. 233. 114
C. Dogmatische Struktur von Art. 10 EMRK
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chenbehauptungen.119 Die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Tatsachenbehauptungen ist für die Eröffnung des Schutzbereichs ohne Bedeutung.120 Dieser „offene Kommunikationsbegriff“ 121 ist bereits im Wortlaut der Vorschrift angelegt. Art. 10 Abs. 1 Satz 2 EMRK spricht von der „Freiheit [. . .] zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen“. Die authentischen englischen und französischen Fassungen verleihen Art. 10 EMRK den Titel freedom of expression bzw. liberté d’expression.122 Beides deutet auf einen umfassenden Schutzbereich im Sinne einer allgemeinen Äußerungsfreiheit hin und schließt eine Begrenzung des Schutzbereiches auf Meinungen aus.123 Für die Eröffnung des Schutzbereichs kommt es auf Wert, Bedeutung oder öffentliche Relevanz der Äußerung nicht an.124 Auch und gerade solche Äußerungen, die den Staat oder einen Teil der Bevölkerung schockieren, verletzen oder stören, sind erfasst.125 Politische wie kommerzielle Äußerungen werden geschützt.126 Der Schutzbereich des Art. 10 EMRK wird abgerundet, indem nicht 118
Jacobs/White, European Convention on Human Rights, S. 223. Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie, S. 194; Tsakiridis, S. 90. Die Unterscheidung zwischen Werturteil und Tatsachenbehauptung spielt hingegen im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung eine wichtige Rolle, insbesondere wenn es um einen Wahrheitsbeweis als Exkulpationsvoraussetzung geht, vgl. z. B. EGMR, Urt. v. 8.7.1986, Lingens, Serie A 103; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rdnr. 4. 120 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rdnr. 5; Rigaux, RTDH 1993, 3 (10); auch diese Unterscheidung kann sich jedoch auf der Rechtfertigungsebene auswirken. 121 Begriff von Berka, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg.), Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd. II, S. 415 f.; siehe auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rdnr. 4 („jede Form der Kommunikation im zwischenmenschlichen Bereich“). Zweifel an der „Offenheit“ des durch Art. 10 EMRK geprägten Kommunikationsbegriffs haben sich im Zusammenhang mit zwei obiter dicta des EGMR in den Fällen Jersild und Lehideux et Isorni ergeben. Eine vergleichbare Frage stellt sich in Bezug auf Erpressungen und Drohungen, vgl. dazu Berka, EuGRZ 1982, 413 (417); Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 147 f. 122 Die nicht verbindliche deutsche Übersetzung als „Freiheit der Meinungsäußerung“ ist insofern unbefriedigend, Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 144 f. 123 Determann, S. 305 („Freiheit zur Äußerung schlechthin“); Frowein, in: Frowein/ Peukert, EMRK, Art. 10 Rdnr. 5; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rdnr. 4 ff.; Gurazde, EMRK, Art. 10 Rdnr. 4; Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 145 f.; Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rdnr. 6. 124 EGMR, Urt. v. 23.6.1994, Jacubowski, Serie A 291-A, § 25 („The fact that that freedom is exercised other than in the discussion of matters of public interest does not deprive it of the protection of Article 10.“); van Dijk/van Hoof, Theory and Practice of the European Convention of Human Rights, S. 559. 125 EGMR, Urt. v. 7.12.1976, Handyside, Serie A 24, § 49; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 10 Rdnr. 6. 126 EGMR, Urt. v. 23.6.1994, Jacubowski, Serie A 291-A, § 25; Urt. v. 24.2.1994, Casado Coca, Serie A 258-A, § 36 f.; Urt. v. 25.3.1985, markt intern Verlag GmbH und Klaus Beermann, Serie A 90, § 42; EKMR, Entsch. v. 1.3.1983, Liljenberg, Nr. 9664/ 119
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
nur die Substanz einer Mitteilung erfasst wird, sondern auch deren Form und Darstellung.127 Die Weite des Schutzbereichs von Art. 10 EMRK kommt auch im Hinblick auf die geschützten Kommunikationsmittel zur Geltung.128 Von Art. 10 EMRK umfasst sind grundsätzlich schriftliche wie mündliche, verbale wie non-verbale Äußerungen, symbolische oder künstlerische Akte.129 Eine Einbeziehung von Äußerungen über die neuen Medien ist daher ohne weiteres möglich.130 Auch schlichte „Realhandlungen“, die Ausdruck einer bestimmten Auffassung sind, stellen ein im Sinne des Art. 10 EMRK taugliches Kommunikationsmittel dar.131 Geschützt ist dennoch nicht jedes nach außen tretende Verhalten, nur kommunikative Akte, denen eine über die bloße Vornahme einer Handlung hinausgehende Bedeutung abgewonnen werden kann, genießen den Schutz von Art. 10 EMRK.132 82; Entsch. v. 5.5.1979, X and Church of Scientology, DR 16, 68; Frowein, in: Frowein/ Peukert, EMRK, Art. 10 Rdnr. 9; Laeuchli Bosshard, S. 19 ff. („commercial speech“). 127 EGMR, Urt. v. 11.1.200, News Verlags GmbH & Co KG, Nr. 31457/96, § 39; Urt. v. 24.2.1997, De Haes und Gijsels, RJD 1997-I, § 48; Urt. v. 23.9.1994, Jersild, Serie A 298, § 31; Urt. v. 23.5.1991, Oberschlick, Serie A 204, § 57; Urt. v. 8.7.1986, Lingens, Serie A 103, § 31 („Art. 10 protects not only the substance of the ideas and information expressed, but also the form in which they are conveyed.“); Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rdnr. 9. 128 Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 150. 129 Zur Meinungsäußerung durch künstlerische Aktivitäten, EGMR, Urt. v. 24.5. 1988, Müller, Serie A 133, § 27; zum Tragen von Kleidung bzw. „Stickern“ als Meinungsäußerung EKMR, Entsch. v. 3.3.1986, Stevens, DR 46, 245, § 2; Entsch. v. 1.3. 1979, X ./. Vereinigtes Königreich, DR 16, 101 (102 f.); Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 150; allgemein Frowein, in: Frowein/ Peukert, EMRK, Art. 10 Rdnr. 5; Rigaux, RTDH 1993, 9. 130 Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 151. 131 EGMR, Urt. v. 25.11.1999, Hashmann & Harrup, RJD 1999-VIII, § 28 (Störung einer Fuchsjagd durch wiederholtes Blasen des Jagdhorns); Urt. v. 23.9.1998, Steel, RJD 1998-VII, § 92 (Protest gegen die Moorhuhnjagd durch langsames Gehen); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rdnr. 5; Hoffmeister, EuGRZ 2000, 358 (359). 132 In diesem Sinne hat die EKMR einverständlichen (homo-)sexuellen Handlungen den Schutz aus Art. 10 EMRK versagt, Ber. v. 12.10.1978, X. ./. Vereinigtes Königreich, DR 19, 66, § 173; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rdnr. 5. Zur Beantwortung der Frage, ob einer Verhaltensweise eine solche Bedeutung beigemessen werden kann, schlägt Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 151, einen „gemischt subjektiv-objektiven“ Ansatz vor. In diesem Sinne fordert Laeuchli Bosshard, S. 24 f., das allgemeine Publikum müsse erkennen (objektives Kriterium), dass der Urheber mit seinem nonverbalen Verhalten eine Meinung ausdrücken möchte (subjektives Kriterium). Grundsätzlich muss indes allein der Wille des Grundrechtsträgers, seinem Verhalten eine besondere kommunikative Bedeutung beizumessen, maßgeblich sein. Ob Dritte dies erkennen oder nicht, kann auf Schutzbereichsebene, anders als im Rahmen der Rechtfertigung des Eingriffs, nicht ausschlaggebend sein.
C. Dogmatische Struktur von Art. 10 EMRK
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Die EMRK unterscheidet nicht zwischen Äußerungs- und Informationsfreiheit. Beide Gewährleistungsinhalte unterfallen gleichermaßen dem Schutz des Art. 10 EMRK. Dies hat zur Folge, dass Art. 10 EMRK sämtliche Kommunikationsschritte und -teilnehmer umfasst. Der Schutzbereich reicht von der Bildung der Meinung bzw. der Erlangung einer Information über die Mitteilung bis zu deren Empfang.133 2. Pressefreiheit Eine besondere Bedeutung kommt – insbesondere durch die Rechtsprechung des EGMR – der Pressefreiheit zu. Dass Art. 10 EMRK die Presse nicht ausdrücklich erwähnt, steht dem nicht entgegen.134 Ausgangspunkt der Rechtsprechung der Straßburger Organe zur Pressefreiheit ist – wie bei Art. 10 EMRK allgemein – deren besondere Aufgabe im Rahmen einer demokratischen Gesellschaft. Erneut wird die liberale Grundrechtskomponente durch demokratisch-funktional geprägte Erwägungen ergänzt. Die demokratische Funktion der Presse sieht der EGMR dabei in ihrer Rolle als „öffentlicher Wachhund“ (public watchdog); es sei Aufgabe der Presse, die Öffentlichkeit auf Mängel, Fehler und rechtswidrige Machenschaften in Politik und Gesellschaft hinzuweisen und so eine breite Debatte zu ermöglichen.135 Dieser Aufgabe stehe auch ein Recht der Bevölkerung gegenüber, über solche Vorgänge informiert zu werden.136 Die Bedeutung dieser Abgrenzung auf Schutzbereichsebene zwischen Presseund allgemeiner Meinungsfreiheit sollte dennoch nicht überschätzt werden. Die Entscheidung, ob ein Eingriff gerechtfertigt ist, fällt erst zu einem späteren Zeit133 Für die Pressefreiheit bereits EGMR, Urt. v. 26.4.1979, Sunday Times Nr. 1, Serie A 30, § 65 („Not only do the media have the task of imparting such information and ideas: the public also has a right to receive them.“); Urt. v. 26.11.1991, Observer and Guardian, Serie A 216, § 59; siehe auch Urt. v. 29.10.1992, Open Door and Dublin Well Woman, Serie A 246-A, § 77; Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 10 Rdnr. 11 ff. 134 Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 10 Rdnr. 15; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rdnr. 8; Jacobs/White, The European Convention on Human Rights, S. 227. 135 EGMR, Urt. v. 26.11.1991, Observer and Guardian, Serie A 216, § 59 („Whilst [the Press] must not overstep the bounds set, [. . .] it is nevertheless incumbent on it to impart information and ideas on matters of public interest. Not only does the press have the task of imparting such information and ideas: the public also has a right to receive them. Were it otherwise, the press would be unable to play its vital role of ,public watchdog‘.“); Urt. v. 2.5.2000, Bergens Tidende, Nr. 26132/95, § 49; Urt. v. 20.5.1999, Bladet Tromsø & Stensaas, RJD 1999-III, § 59; Urt. v. 23.9.1194, Jersild, Serie A 298, § 31. 136 EGMR, Urt. v. 26.4.1979, Sunday Times Nr. 1, Serie A 30, § 66; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 10 Rdnr. 21. Gurazde, EMRK, Art. 10 Rdnr. 5, spricht von „Informationsfreiheit im reflexiven Sinne“.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
punkt. Zwar kann die Zuordnung einer Veröffentlichung zum Bereich der Presse dazu führen, dass eine gewisse Vermutung zugunsten der Unzulässigkeit des Eingriffs besteht.137 Eine solche Vermutung besteht allerdings ohnehin für politische Meinungsäußerungen – unabhängig von ihrer pressemäßigen Verbreitung. Maßgeblich ist vor diesem Hintergrund eher die Öffentlichkeitsrelevanz und damit der Informationswert des jeweiligen Inhalts.
II. Eingriff Art. 10 Abs. 2 EMRK sieht als Eingriffsarten „Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen und Strafdrohungen“ vor. Eine Zuordnung eines Eingriffs zu den nicht abschließend aufgezählten Eingriffsarten ist nicht notwendig, auch der EGMR verzichtet regelmäßig auf eine solche Kategorisierung. Die authentischen englischen und französischen Fassungen lassen erkennen, dass sowohl präventive als auch repressive Maßnahmen Eingriffe in Art. 10 EMRK darstellen können.138 Anders als Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG enthält die EMRK kein absolutes Verbot der Zensur.139 1. Unmittelbare und mittelbare Eingriffe Unmittelbare Eingriffe in die Äußerungsfreiheit zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine bestimmte Kommunikation direkt unterbinden oder erschweren. Klassische Beispiele hierfür sind Veröffentlichungsverbote oder Strafdrohungen bezüglich bestimmter Äußerungen.140 Diesen Eingriffen ist gemeinsam, dass sie sich unmittelbar gegen den Akt der Äußerung wenden und diesen erschweren oder gar unmöglich machen, sei es durch Maßnahmen in deren Vorfeld oder durch die Androhung bzw. Verhängung anschließender staatlicher Sanktionen. Jeder Akt staatlicher Gewalt, der eine solche Wirkung entfaltet, ist als unmittelbarer Eingriff in den Schutzbereich von Art. 10 Abs. 1 EMRK zu werten. 137 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rdnr. 8 („Konsequenzen der Abgrenzung „freilich gering“ aber „Rolle der Presse bei der Rechtfertigung von Eingriffen besonders zu berücksichtigen“). 138 „Formalities, conditions, restrictions or sanctions“ bzw. „formalités, conditions, restrictions ou sanctions“, Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 162; siehe auch Harris/O’Boyle/Warbrick, S. 386 f. Für die Rundfunkfreiheit erwähnt Art. 10 Abs. 1 S. 3 EMRK einen Eingriff ausdrücklich, Art. 6 Abs. 1 EMRK nennt den Ausschluss der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen als Eingriff in die Presse- und Informationsfreiheit; für eine Aufzählung typischer Eingriffe, siehe Villiger, Handbuch der EMRK, Rdnr. 604. 139 EGMR, Urt. v. 26.11.1991, Observer and Guardian, Serie A 216, §§ 66 ff.; dazu Mensching, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, S. 342 ff.; Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 10 Rdnr. 24; a. A. Engel, Privater Rundfunk vor der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 196 f. Denkbare Eingriffskategorien sind also prior restraint und subsequent punishment. 140 Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rdnr. 25.
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Anders als unmittelbare Eingriffe wenden sich mittelbare Eingriffe nicht direkt gegen den Akt der Äußerung. Der Grundrechtsträger wird prima facie nicht daran gehindert, von seinem Recht aus Art. 10 Abs. 1 EMRK Gebrauch zu machen. Mit der Ausübung dieses Rechts verbindet der Staat aber negative Konsequenzen. Sofern diese Konsequenzen geeignet sind, die Äußerung zu erschweren oder gar unmöglich zu machen, stellen sie einen, wenn auch mittelbaren, Eingriff in den Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 EMRK dar.141 2. Eingriffe durch Gesetz Eingriffe können nicht nur aufgrund eines Gesetzes, sondern auch direkt durch ein Gesetz erfolgen. In diesem Falle führt die bloße Existenz eines solchen Gesetzes zu einem Eingriff in Art. 10 Abs. 1 EMRK. Je nachdem, wie gezielt sich der Inhalt solcher Gesetze gegen Kommunikation oder eine bestimmte Form hiervon wendet, kann ein solcher Eingriff durch Gesetz der Kategorie der unmittelbaren oder mittelbaren Eingriffe zugeordnet werden. Damit bereits das Gesetz selbst und nicht erst der aufgrund eines Gesetzes erlassene staatliche Vollzugsakt einen Eingriff in die Äußerungsfreiheit darstellt, fordert der EGMR, dass sich das Gesetz gegenwärtig und unmittelbar auf die Ausübung der durch Art. 10 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Freiheiten auswirkt.142 Diese Voraussetzung ist insbesondere bei Normen erfüllt, die ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Äußerung mit Strafe bedrohen und somit den Bürger bereits vor Gesetzesvollzug in seinen Rechten aus Art. 10 Abs. 1 EMRK beschränken.
III. Rechtfertigung von Eingriffen Die Prüfung der Rechtfertigung von Eingriffen in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK richtet sich nach dessen Abs. 2 und vollzieht sich grundsätzlich in einem Dreischritt. In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob der Eingriff vom Gesetz vorgesehen ist (prescribed by law/prévue par la loi). Zweitens muss der Eingriff einen der in Art. 10 Abs. 2 EMRK genannten Eingriffszwecke verfolgen. In einem dritten Schritt ist zu fragen, ob der Eingriff zur Erreichung dieses Zwecks in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist (necessary in a democratic society/nécessaire dans une société démocratique). Während der EGMR 141 Vgl. Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 163 f.; Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rdnr. 26 („indirekte Sanktion“). 142 Dieses Kriterium wurde zunächst im Rahmen von Art. 8 EMRK entwickelt, vgl. EGMR, Urt. v. 26.10.1988, Norris, Serie A 142, § 38; für Art. 10 siehe EGMR, Urt. v. 29.10.1992, Open Door and Dublin Well Woman, Serie A 246-A, § 44 (dort zur Opfereigenschaft des Beschwerdeführers, die Ausführungen gelten analog für die Frage des Eingriffs).
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
häufig auf eine genaue Abgrenzung zwischen Schutzbereich und Eingriff verzichtet, erfolgt die Rechtfertigungsprüfung in der Regel schematisch. Der Schwerpunkt der Prüfung liegt dabei in der Regel auf der Frage, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Der erste Halbsatz von Art. 10 Abs. 2 EMRK, der auf die mit der Ausübung der Äußerungsfreiheit verbundenen Pflichten und Verantwortlichkeiten hinweist, hat keine eigenständige Bedeutung erlangt.143 Grundsätzlich liegt die Hürde zur Rechtfertigung eines Eingriffs hoch.144 In den Worten des EGMR: „Freedom of expression, as enshrined in Article 10, is subject to a number of exceptions which, however, must be narrowly interpreted and the necessity for any restrictions must be convincingly established.“ 145
1. Der Gesetzesvorbehalt des Art. 10 Abs. 2 EMRK Als erste Rechtfertigungsvoraussetzung enthält Art. 10 Abs. 2 EMRK einen Gesetzesvorbehalt, der einer doppelten Zielsetzung dient: In rechtsstaatlicher Hinsicht soll behördlicher Willkür vorgebeugt werden, in demokratischer Hinsicht soll eine ausreichende Legitimation des Eingriffs sichergestellt werden.146 a) Materieller Gesetzesbegriff Der materielle Gesetzesbegriff der Konvention meint eine generell-abstrakte Norm, die innerstaatlich Gesetzeskraft hat und die Behörde zum Eingriff ermächtigt.147 Die Entscheidung für einen solchen materiellen Gesetzesbegriff ist maßgeblich auf die Rechtsordnungen zurückzuführen, in denen richterrechtliche Elemente stark ausgeprägt sind (z. B. common law im Vereinigten Königreich sowie in Irland).148 Ein rein formelles Gesetzesverständnis hätte in diesen Ländern zur 143 Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rdnr. 30, unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 25.6.1992, Thorgeirson, Serie A 239, § 46; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rdnr. 20. 144 Roberston/Nicol, Media Law, S. 38. 145 EGMR, Urt. v. 26.11.1991, Observer & Guardian, Serie A 216, § 59. 146 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 7; Villiger, Handbuch der EMRK, Rdnr. 545; vgl. auch Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 8 Rdnr. 38 („Ausfluss des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips“). 147 Villiger, Handbuch der EMRK, Rdnr. 545. 148 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 8; Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 168. Im Urteil Sunday Times, in dem es um das Rechtsinstitut des contempt of court (Missachtung des Gerichts) ging, hat der EGMR ausgeführt, man könne nicht davon ausgehen, dass die Grundrechtsvorbehalte der EMRK die Rechtsordnungen der Staaten des common law verändern wollten, EGMR, Urt. v. 26.4.1979, Sunday Times, Serie A 30, §§ 47 ff.; hierzu Jacobs/White, S. 224 f.; sowie Mensching, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, S. 573 (575). Vgl. außerdem EGMR, Urt. v. 25.11.1996, Wingrove, RJD 1996-V, § 40, sowie für Art. 8 EMRK, EGMR, Urt. v. 2.8.1984, Malone, Serie A 82, § 66.
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Folge, dass Eingriffe in die Abwehrrechte der EMRK regelmäßig wegen Verstoßes gegen den Gesetzesvorbehalts unzulässig wären, während solche Eingriffe in Rechtsordnungen, in denen das formelle Gesetz traditionell von größerer Bedeutung ist, ohne Weiteres gerechtfertigt werden könnten.149 Ob ein solches – materielles oder formelles – Gesetz den Ansprüchen der EMRK genügt, ermittelt der EGMR anhand des sog. Sunday-Times Test.150 Danach müssen die Voraussetzungen der Zugänglichkeit und der Vorhersehbarkeit erfüllt sein. Diese Voraussetzungen – die sich weder aus einem formellen noch einem materiellen Verständnis des Gesetzesbegriffs ergeben – zeigen, dass der Begriff des Gesetzes im Rahmen der EMRK eine autonome Auslegung erfahren hat. b) Zugänglichkeit Zunächst muss das Gesetz, auf dem der Eingriff beruht, hinreichend zugänglich sein. Dies setzt die Möglichkeit voraus, die anwendbaren Normen zu ermitteln und von deren Inhalt Kenntnis zu nehmen.151 Der Bürger muss sich mithin in angemessener Weise über das für ihn geltende Recht informieren können. Unveröffentlichte, rein interne Bestimmungen erfüllen dieses Kriterium nicht. Ein auf solche Vorschriften gestützter Eingriff in Art. 10 Abs. 1 EMRK ist unzulässig. c) Vorhersehbarkeit bzw. hinreichende Bestimmtheit Zweites Kriterium ist die Vorhersehbarkeit. Aus der deutschen Rechtsordnung besser bekannt ist der Begriff der Bestimmtheit. Ein Gesetz genügt nur dann den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts der EMRK, wenn es so formuliert ist, dass der Bürger – gegebenenfalls nach rechtlicher Beratung – die Folgen seines Handels voraussehen kann und sich entsprechend verhalten kann.152 „Absolute Gewissheit“ hält der EGMR für nicht erreichbar und fordert sie daher auch nicht. Die Unbestimmtheit von Rechtsbegriffen kann etwa durch eine klare Rechtsprechungspraxis ausgeglichen werden.153 149 Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rdnr. 63; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 8; Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 168; Laeuchli Bosshard, S. 103 f. 150 Begriff von Jacobs/White, S. 225. 151 EGMR, Urt. v. 26.4.1979, Sunday Times, Serie A 30, § 49 („Firstly, the law must be adequately accessible: the citizen must be able to have an indication that is adequate in the circumstances of the legal rules applicable to a given case.“); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 10. 152 Vgl. EGMR, Urt. v. 26.4.1979, Sunday Times, Serie A 30, § 49 („Secondly, a norm cannot be regarded as a ,law‘ unless it is formulated with sufficient precision to enable the citizen to regulate his conduct: he must be able – if need be with appropriate advice – to foresee, to a degree that is reasonable in the circumstances, the consequences which a given action may entail.“); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 11. 153 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 11 (Kompensation von „relativen Unbestimmtheiten“ durch „verfahrensrechtliche Sicherungen“ und „gerichtliche Kontrolle“).
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
Die Anforderungen an den Grad der Bestimmtheit variieren in doppelter Hinsicht. Zunächst hängt der erforderliche Grad der Vorhersehbarkeit von der Art der betreffenden Rechtsregel ab. Handelt es sich um ein Rechtsinstitut des common law, so fordert der EGMR eine eindeutige Rechtsprechungspraxis, um das Fehlen eines geschriebenen Statuts auszugleichen.154 Handelt es sich dagegen um ein Gesetz im formellen Sinne, kann die Rechtsnorm bereits aus sich heraus hinreichend bestimmt sein. Die Anforderungen des Bestimmtheitskriteriums sind außerdem der Intensität des jeweiligen Eingriffs anzupassen: Je schwerer ein Grundrechtseingriff wiegt, desto genauer müssen auch die innerstaatlichen Eingriffsvoraussetzungen normiert sein.155 Im Rahmen von Art. 10 EMRK erlangt das Bestimmtheitsgebot durch eine demokratisch-funktionale Auslegung dieses Menschenrechts besondere Bedeutung. Dies ist auf die Gefahr eines chilling effect156, einer abschreckenden Wirkung, die von unpräzisen Normen ausgeht, zurückzuführen. Vage Vorschriften sind in besonderem Maße geeignet, den Bürger, der die Gefahr der Strafverfolgung vermeiden will, von der Teilnahme am öffentlichen Diskurs abzuhalten. Noch bedeutsamer ist das Bestimmtheitsgebot im Bereich der Pressefreiheit, deren Wächterrolle in Frage gestellt wird, wenn Journalisten zu einer Art Selbstzensur („Schere im Kopf“) gezwungen werden, um einer zumindest möglich erscheinenden Sanktion aus dem Weg zu gehen. Die Anforderungen, die der EGMR an dieser Stelle der Rechtfertigungsprüfung stellt, sind nicht übertrieben hoch. Von Anfang an hat der Gerichtshof betont, dass absolute Bestimmtheit nicht erreicht werden kann und in gewisser Weise auch nicht erstrebenswert ist. Daher verstoßen weder Generalklauseln 154 Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 169, unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 25.11.1996, Wingrove, RJD 1996-V, § 40; siehe auch Urt. v. 25.5.1993, Kokkinakis, Serie A 260-A, § 40 f. 155 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 11 (strengere Anforderungen in „grundrechtssensiblen Bereichen“). Ein Beispiel hierfür bieten die Entscheidungen in den französischen Abhörfällen (Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 11): Dort kam der EGMR zu dem Ergebnis, die Eingriffe in Art. 8 EMRK seien nicht durch ein Gesetz im Sinne der EMRK vorgesehen, da der „abhörfähige“ Personenkreis ebenso wenig vom Gesetz festgelegt worden sei wie die Dauer der Abhörmaßnahmen und die Löschung der Abhörergebnisse. Es fehle daher an einer hinreichenden Begrenzung des Ermessens des die Abhörmaßnahme anordnenden Untersuchungsrichters; vgl. EGMR, Urt. v. 24.4. 1990, Kruslin, Serie A 176-A, §§ 33 ff.; Urt. v. 24.4.1990, Huvig, Serie A 179-B, §§ 32 ff.; i. d. S. auch EGMR, Urt. v. 30.7.1998, Valenzuela Contreras, RJD 1998-V, § 46. 156 Der Begriff des chilling effect ist eine Prägung des amerikanische Supreme Court (Buckley v. Valeo, 424 U.S. 1 [1976]), den der EGMR inzwischen übernommen hat (vgl. etwa Urt. v. 17.12.2004, Cumpana and Mazare, RJD 2004-XI, § 114: „The chilling effect that the fear of such sanctions has on the exercise of journalistic freedom of expression is evident.“); siehe auch Frowein, EuGRZ 2008, 117 (117 f.).
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noch Ermessensnormen a priori gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. Bei letzteren ist jedoch erforderlich, dass sich aus dem Gesetz ergibt, zu welchem Zweck und in welchem Umfang von den gewährten Befugnissen Gebrauch gemacht werden kann.157 d) Das Problem der „Vierten Instanz“ Genauso wenig wie das Bundesverfassungsgericht versteht sich der Straßburger Gerichtshof als Superrevisionsinstanz. Abgesehen davon, dass eine Überprüfung der Rechtsanwendung in allen Mitgliedstaaten der Konvention schon faktisch nicht durchführbar wäre, betont der EGMR den Erkenntnisvorsprung der nationalen Behörden.158 Im Anschluss an die von Art. 34 Abs. 1 EMRK geforderte Rechtswegerschöpfung besteht eine Vermutung, dass die vor dem EGMR angegriffenen Rechtsakte im Einklang mit der jeweiligen nationalen Rechtsordnung stehen. Allerdings entspricht ein Rechtsakt dann nicht mehr den Erfordernissen des Gesetzesvorbehalts, wenn eine klare Verletzung innerstaatlichen Rechts vorliegt.159 2. Legitimes Ziel Art. 10 Abs. 2 EMRK enthält eine abschließende Aufzählung der in Betracht kommenden Ziele von Eingriffen in die Rechte aus Art. 10 EMRK. Auf den ersten Blick mag diese Auflistung als erhebliche Beschränkung der Eingriffsmöglichkeiten erscheinen. Bereits die Fülle der genannten Ziele deutet jedoch darauf hin, dass das Kriterium des legitimen Ziels keine wesentliche Hürde im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung darstellt.160 Die Bedeutung dieses Prüfungspunktes wird auch dadurch nicht gesteigert, dass der Zweck festgelegt wird, dessen Bedeutung mit den Folgen des Eingriffs im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung abzuwägen ist. Der EGMR definiert in der Regel zunächst unabhängig vom Katalog des Art. 10 Abs. 2 EMRK, welches Ziel der Staat mit einer bestimmten Maßnahme 157 Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 169 f. unter Verweis auf Velu/Ergec, CEDH, § 190. In diese Richtung deutlich EGMR, Urt. v. 3.5.2007, Ulusoy et al., Nr. 34797/03, § 53. 158 Vgl. EGMR, Urt. v. 24.10.1979, Winterwerp, Serie A 33, § 46; Urt. v. 5.11.1981, X ./. Vereinigtes Königreich, Serie A 46, § 43; vgl. auch EGMR, Entsch. v. 9.7.2002, Posokhov, Nr. 63486/00, § 5 („The Court notes that it is not its task to act as a . . . court of fourth instance from the decisions taken by domestic courts. It is the role of the domestic courts to interpret and apply the relevant rules of procedural or substantive law.“). 159 EGMR, Urt. v. 25.3.1985, Barthold, Serie A 90, § 48 („clear non-observance“). 160 Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 171. Einen Überblick über die verschiedenen legitimen Ziele bieten Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rdnr. 34 ff. sowie Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rdnr. 23 ff.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
verfolgt. Sodann ordnet er diese Zielsetzung einem der in Art. 10 Abs. 2 EMRK genannten Ziele zu, ohne diese Begriffe je abstrakt zu definieren.161 Dies hat zur Folge, dass der (durch die Zuordnung zu einem als legitim anerkannten Ziel in Art. 10 Abs. 2 EMRK verankerte) tatsächlich verfolgte Zweck im Mittelpunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung steht – andernfalls wäre ohnehin keine konkrete Prüfung der Zweck-Mittel-Relation möglich. Bislang hat der Gerichtshof noch keinen Eingriff daran scheitern lassen, dass er ein legitimes Ziel nicht ausmachen konnte. Etwaige Zweifel des EGMR, ob der betreffende Staat tatsächlich ein legitimes Ziel verfolgt hat, wirken sich eher im Rahmen der Frage aus, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.162 3. Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft Die Prüfung der Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft bildet den Schwerpunkt der Rechtfertigungsprüfung. Der Begriff der Notwendigkeit ist dabei nicht mit dem Begriff der Erforderlichkeit gleichzusetzen,163 sondern entspricht dem aus dem deutschen Recht bekannten Terminus der Verhältnismäßigkeit.164 Der EGMR fordert, dass die Gründe für den Eingriff relevant und ausreichend („relevant and sufficient“) sowie verhältnismäßig zum legitimen Ziel („proportionate to the legitimate aim pursued“) sind.165 Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so werde der Eingriff einem dringenden sozialen Bedürfnis („pressing social need“)166 gerecht und sei daher als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft anzusehen. Die Vorgehensweise des EGMR hat sich darüber hinaus zusehends einer „deutschen“ Verhältnismäßigkeitsprüfung angenähert. Wenngleich er eine Unterteilung in die Prüfungspunkte Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit nicht vornimmt, so spricht er diese Punkte doch in dem Maße an, in dem sie sich 161 162
Kempees, in: Mahoney/Matscher/Petzold/Wildhaber, GS Ryssdal, S. 659 (660). Ein Beispiel hierfür bietet der Fall Wille, EGMR, Urt. v. 28. 10.1999, RJD 1999-
VIII. 163 EGMR, Urt. v. 7.12.1976, Handyside, Serie A 24, § 48; Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rdnr. 65. 164 EGMR, Urt. v. 25.3.1985, Barthold, Serie A 90, § 55; Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rdnr. 65; Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Vorbemerkung zu Art. 8–11 Rdnr. 14 ff., insb. Rdnr. 17; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 14; Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), S. 290 (308); Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rdnr. 41 f. 165 Z. B. EGMR, Urt. v. 26.2.2002, Dichand, Nr. 29271/95, § 38; Urt. v. 23.9.1998, Lehideux et Isorni, RJD 1998-VII, § 51; Urt. v. 25.11.1996, Wingrove, RJD 1996-V, § 53; Urt. v. 24.5.1988, Müller, Serie A 133, § 32; Urt. v. 8.7.1986, Lingens, Serie A 103, § 39. 166 Vgl. EGMR, Urt. v. 27.2.2001, Jerusalem, Nr. 26958/95, § 33 zurückgehend auf Urt. v. 7.12.1976, Handyside, Serie A 24, § 48; siehe weiter die in Anm. 165 genannten Urteile.
C. Dogmatische Struktur von Art. 10 EMRK
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als problematisch erweisen.167 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung wird ferner durch eine Reihe von Grundsätzen geprägt, die die Rechtsprechung des EGMR im Laufe der Jahre entwickelt hat. Insgesamt kann man von einer „scharfen Verhältnismäßigkeitsprüfung“ durch den EGMR sprechen.168 a) Das Wesen der demokratischen Gesellschaft Die Auslegung von Art. 10 EMRK ist sowohl durch eine liberale als auch durch eine demokratisch-funktionale Komponente geprägt. Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung ist die Berücksichtigung der zweiten Komponente bereits durch den Wortlaut („in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“) vorgegeben. Der interpretatorische Hintergrund, der sich bei nationalen Verfassungen aus dem Staatsorganisationsrecht ergibt, etwa aus den in Art. 20 Abs. 1 GG genannten Strukturprinzipien, wird hier in die Schranken-Schranken aufgenommen.169 Einschränkungen der Rechte aus Art. 10 Abs. 1 EMRK sind daher im Lichte ihrer Auswirkungen auf die demokratische Gesellschaft zu prüfen. Nach Ansicht des EGMR zeichnet sich eine solche Gesellschaft, die nicht zuletzt auf dem Grundpfeiler der Äußerungsfreiheit basiert, durch Pluralismus, Toleranz und einen Geist der Offenheit aus.170 Aus diesem Grunde sind auch schockierende oder verletzende Äußerungen hinzunehmen.171 Drastische Meinungsäußerungen sind also nicht per se von geringerer Schutzwürdigkeit. Eingriffe in Art. 10 Abs. 1 EMRK, die die demokratische Substanz in Frage stellen, wiegen hingegen besonders schwer.172 Daher kontrolliert der EGMR das mitgliedstaatliche Handeln besonders wachsam, wenn die Freiheit der öffentlichen, demokratischen Erörterung auf dem Spiel steht.173 Im Rahmen dieser Kontrolle geht der EGMR davon aus, dass Art. 10 EMRK für Maßnahmen, die sich gegen politische Meinungsäußerungen oder Debatten über Angelegenheiten des öffentlichen Inte167 Ähnlich Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 15; Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rdnr. 42. 168 Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Vorbemerkung zu Art. 8–11 Rdnr. 17. 169 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 19; zur demokratisch-funktionalen Komponente auch Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rdnr. 41 170 EGMR, Urt. v. 29.3.2001, Thoma, RJD 2001-III, § 44; Urt. v. 3.10.2000; du Roy et Malaurie, RJD 2000-X, § 27. Dieser Grundsatz geht einmal mehr zurück auf EGMR, Urt. v. 7.12.1976, Handyside, Serie A 24, § 49; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 18; Jacobs/White, S. 226 („pluralism, tolerance and broad-mindedness“). 171 Siehe die in Anm. 170 genannten Fundstellen sowie EGMR, Urt. v. 1.7.1997, Oberschlick II, RJD 1997-IV, § 29. 172 EGMR, Urt. v. 8.7.1986, Lingens, Serie A 103, § 42 („. . . freedom of political debate is at the very core of the concept of a democratic society which prevails throughout the Convention“). 173 Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 179; Nolte, Beleidigungschutz in der freiheitlichen Demokratie, S. 195 f.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
resses richten, grundsätzlich nur wenig Raum lässt.174 Anders formuliert vermutet der Straßburger Gerichtshof, sofern es sich um Äußerungen der beschriebenen Art handelt, die Unzulässigkeit des Eingriffs.175 Auch die Rechtsprechung zu den Grenzen zulässiger Kritik an Politikern verdeutlicht die besondere Bedeutung, die der EGMR der politischen Debatte beimisst. Der EGMR betont mit großer Regelmäßigkeit, dass in einem demokratischen System die Handlungen und Unterlassungen von Politikern nicht nur Gegenstand der Kontrolle der Judikative und der Legislative sind, sondern auch der Kontrolle durch die öffentliche Meinung unterliegen.176 Um die Effektivität der durch Presse und öffentliche Meinung ausgeübten Kontrolle nicht zu gefährden, sind die Grenzen der zulässigen Kritik an Politikern im Verhältnis zu Privatpersonen deutlich weiter gesteckt.177 Gerade in diesen Fällen wird die demokratischfunktionale Auslegungskomponente besonders greifbar.178 Ein weiteres, bereits angesprochenes Beispiel für eine demokratisch-funktionale Grundrechtsauslegung bietet die Pressefreiheit. Um ihre demokratische Funktion erfüllen zu können, benötigt die Presse in besonderem Maße Schutz vor staatlichen Eingriffen. Daher sind die Rechtfertigungsanforderungen an Maßnahmen, die die Presse in ihrer Funktion in Frage stellen, besonders streng.179 b) Beurteilungsspielraum Wenngleich der EGMR die Kontrolldichte in für den demokratischen Prozess besonders wichtigen Bereichen erhöht, finden sich auf der anderen Seite auch von Art. 10 EMRK erfasste Lebensbereiche, in denen der Gerichtshof seine Kontrolldichte absenkt. In diesen Fällen gewährt der EGMR den Mitgliedstaaten einen großzügigeren Beurteilungsspielraum („margin of appreciation“/„marge d’appréciation“). Hierdurch mag es nicht zu einer inhaltlichen Modifikation des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kommen;180 jedoch werden dessen Kriterien 174 EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Baskaya, RJD 1999-IV, § 62 („[T]there is little scope under Article 10 § 2 . . . for restrictions on political speech or on debate of matters of public interest“); Urt. v. 25.11.1996, Wingrove, RJD 1996-V, § 58; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 10 Rdnr. 27. 175 In diesem Sinne Nolte, AfP 1996, 313 (316). 176 EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Baskaya, RJD 1999-IV, § 62; Urt. v. 8.7.1986, Lingens, Serie A 103, § 42. Darüber hinaus betont der EGMR, dass der Politiker sein Verhalten bewusst und unausweichlich zum Gegenstand journalistischer und allgemeiner Erörterung macht. 177 Grundlegend EGMR, Urt. v. 8.7.1986, Lingens, Serie A 103, § 42, dazu ausführlich Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie, S. 196 ff. (insb. S. 201 ff.). 178 So auch Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rdnr. 41 (Privilegierung politischer Meinungsäußerungen). 179 Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 180.
C. Dogmatische Struktur von Art. 10 EMRK
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weniger streng angewandt, der EGMR folgt hier dem Grundsatz „im Zweifel für den Mitgliedstaat“. Dieser Beurteilungsspielraum ist Ausdruck der Subsidiarität des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes.181 Der EGMR räumt ein, dass die nationalen Behörden und Gerichte in bestimmten Fragen eher in der Lage sind, die miteinander konkurrierenden Interessen zu einem verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen, als eine internationale Instanz dies kann.182 Dies gilt insbesondere für Fälle, in denen nationale oder gar regionale Besonderheiten von Bedeutung sind oder wenn allgemein anerkannte europäische Vorstellungen und Standards (noch) nicht existieren.183 Die Einräumung des Beurteilungsspielraums ist daher auch als ein Akt richterlicher Zurückhaltung zu verstehen. Zu einer völligen Suspendierung der Straßburger Kontrollkompetenz kommt es indes nicht. Der EGMR unterstreicht, dass die Gewährung eines Beurteilungsspielraums Hand in Hand mit einer europäischen Kontrolle der Ausübung desselben gehe.184 Außerdem unterliegt auch der Beurteilungsspielraum demokratisch-funktional motivierten Einschränkungen. Der EGMR unterstreicht auch bei Anwendung dieser Rechtsfigur die Bedeutung von Art. 10 EMRK als „Funktionsbedingung der Demokratie“. 185 Im Vergleich zu Art. 8 EMRK, wo der EGMR häufig auf die Figur des Beurteilungsspielraums zurückgreift, handhabt er diese bei Art. 10 EMRK deutlich zurückhaltender. Genereller formuliert sind Einräumung und Umfang des Beurteilungsspielraums nicht zuletzt von Intensität und Bedeutung des jeweiligen Eingriffs abhängig.186 Sofern es sich um politische Meinungsäußerungen und andere Beiträge von hohem öffentlichem Interesse handelt, kann sich ein Mitgliedstaat nicht mit Aussicht auf Erfolg auf seinen Beurteilungsspielraum berufen.187 180 So Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 20 („Variation seiner Kontrolldichte“); Kühling, in: Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (621) spricht von einer „Kontrolldichte-Konzeption“. 181 Andeutungsweise EGMR, Urt. v. 7.12.1976, Handyside, Serie A 24, § 48; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 21; Kühling, Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 177, spricht von der Rücksicht auf „berechtigte nationale Souveränitätsinteressen“. 182 Wildhaber, EuGRZ 2002, 569 (570). 183 Siehe sogleich unten, sowie Callewaert, in: Mahoney/Matscher/Petzold/Wildhaber, GS Ryssdal, S. 147 (164). 184 Vgl. nur EGMR, Urt. v. 7.12.1976, Handyside, Serie A 24, § 49. 185 Callewaert, in: Mahoney/Matscher/Petzold/Wildhaber, GS Ryssdal, S. 146 (164); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 21. 186 So auch die Große Kammer des EGMR im Fall Sommerfeld, Urt. v. 8.7.2003, RJD 2003-VIII, § 63 („The margin of appreciation to be accorded to the competent national authorities will vary in accordance with the nature of the issues and the importance of the interests at stake.“). 187 Typischer Anwendungsbereich des Beurteilungsspielraums sind Maßnahmen zum Schutz der Moral. Der EGMR geht davon aus, dass es eine einheitliche europäische
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
Einen großzügigeren Beurteilungsspielraum hat der EGMR den Mitgliedstaaten – zumindest auf dem Papier – auch bei der Regulierung von Gewaltaufrufen im Zusammenhang mit Problemen des Terrorismus zugestanden.188 Diese Großzügigkeit steht in einer gewissen Spannung zu dem Grundsatz strenger Straßburger Kontrolle bei eminent politischen Äußerungen. So nährt auch die – im Folgenden eingehend dargestellte – Spruchpraxis des Gerichtshofs zu dieser Kategorie Zweifel, ob es in diesem Bereich tatsächlich zu einer spürbaren Absenkung der Kontrolldichte gekommen ist.189
D. Das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK: Die wehrhafte Konvention Neben Art. 10 EMRK spielt das „Verbot des Missbrauchs der Rechte“ – Art. 17 EMRK – in der hier relevanten Rechtsprechung des EGMR vielfach eine Rolle. Diese Vorschrift enthält kein eigenes Menschenrecht, soll aber dennoch dem Schutz solcher Rechte dienen. Art. 17 EMRK lautet: „Die Konvention darf nicht so ausgelegt werden, als begründe sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist.“
Vorbild war Art. 30 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), dem Art. 17 EMRK nahezu im Wortlaut entspricht.190 Entsprechende Regelungen finden sich in nahezu allen seit 1945 abgeschlossenen internationalen Menschenrechtsabkommen.191 Das Grundgesetz enthält in Art. 18 GG ein mit der VerwirKonzeption der Moral nicht gibt und aus diesem Grund die nationalen Behörden in einer günstigeren Position sind als er selbst, um die Notwendigkeit einer Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft zu beurteilen, also die Abwägung zwischen den konfligierenden Interessen und Rechtsgütern vorzunehmen, vgl. EGMR, Urt. v. 24.5.1988, Müller, Serie A 133, § 32; kritisch dazu Würkner, NJW 1989, 369 (insb. 371); siehe auch Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 10 Rdnr. 35. 188 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, § 61 („Finally, where such remarks incite to violence against an individual or a public official or a sector of the population, the State authorities enjoy a wider margin of appreciation when examining the need for an interference with freedom of expression.“). 189 Dazu unten, Erstes Kapitel, E. II. 2. b) cc) (2) (S. 98). 190 Guradze, EMRK, Art. 17 Anm. 1; Art. 30 AEMR lautet: „Keine Bestimmung dieser Erklärung darf dahin ausgelegt werden, dass sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person irgendein Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, welche die Beseitigung der in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten zum Ziel hat.“ 191 Dies gilt etwa für die jeweiligen Art. 5 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; vgl. z. B. Art. 5 Abs. 1 IPBPR: „Keine Bestimmung dieses Paktes darf dahin ausgelegt werden, dass sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person
D. Das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK
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kung von Grundrechten sanktioniertes Missbrauchsverbot, das in der Verfassungswirklichkeit jedoch nahezu bedeutungslos geblieben ist.192 Art. 54 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (nunmehr inkorporiert durch Art. 6 Abs. 1 EUV) enthält ein Art. 17 EMRK im Wesentlichen gleich lautendes Missbrauchsverbot.193
I. Entstehungsgeschichte und Zielsetzung des Art. 17 EMRK Das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK verweigert in seiner auf den einzelnen Grundrechtsträger bezogenen Dimension die Berufung auf die Rechte der Konvention, soweit sie dazu missbraucht werden sollen, deren Rechte und Freiheiten zu zerstören.194 In den Beratungen zur Konvention war das Missbrauchsverbot nicht Gegenstand besonderer Kontroversen. Die wenigen Wortmeldungen, die sich in den travaux préparatoires finden, unterstrichen die Gefahr, dass die durch die Konvention geschützten Rechte von anti-demokratischen Kräften „zweckentfremdet“ werden könnten.195 So sprach der französische Delegierte in der damaligen Beradas Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, die auf die Abschaffung der in diesem Pakt anerkannten Rechte und Freiheiten oder auf weitergehende Beschränkungen dieser Rechte und Freiheiten, als in dem Pakt vorgesehen, hinzielt.“; hierzu Nowak, CCPR, Art. 5 Rdnr. 5 ff. 192 Siehe Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 18 Rdnr. 1; Papier/Durner, AöR 128 (2003), 341 (348 f.); siehe auch § 9 Abs. 1 BVerfGG, der das entsprechende Verfahren regelt; schließlich BVerfGE 10, 118 (123) („Art. 18 GG ist ebenso wie Art. 21 GG Ausdruck des bewussten verfassungspolitischen Willens zur Lösung des Grenzproblems der freiheitlichen demokratischen Staatsordnung. Das Grundgesetz lässt danach die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten politischen Meinungsäußerungen nur soweit zu, als sie dabei nicht selbst gefährdet wird. Für den Missbrauch des Rechts der freien politischen Betätigung zum Kampf gegen die freiheitliche Demokratie hat es schwere Sanktionen angedroht, zugleich aber durch besondere Rechtsgarantien dafür gesorgt, dass diese nicht leichthin verhängt werden können. Dem gilt vor allem die Beschränkung des Ausspruchs der Sanktionen durch das Bundesverfassungsgericht. Dass diese verfassungsrechtliche Regelung sinnvoll und bindend ist, hat das Bundesverfassungsgericht für Art. 21 GG bereits dargetan. Für Art. 18 GG muss aus den gleichen Gründen dasselbe gelten.“); zu den Unterschieden zwischen Art. 17 EMRK und Art. 18 GG Guradze, EMRK, Art. 17 Anm. 3. 193 Hierzu Borowsky, in: Meyer, Carta der Grundrechte der EU, Art. 54 Rdnr. 2 ff.; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 54 Rdnr. 1 ff. 194 EGMR, Urt. v. 6.1.2011, Paksas, Nr. 34932/04, § 87 unter Zitat von EGMR, Urt. v. 1.7.1961, Lawless, Series A 3, § 7 („[T]he purpose of Article 17, in so far as it refers to groups or individuals, is to make it impossible for them to derive from the Convention a right to engage in any activity or perform any act aimed at destroying the rights an freedoms set forth therein“); siehe auch EGMR, Urt. v. 15.1.2009, Orban, Nr. 20985/05, § 33. 195 Siehe Rensmann, in: Menzel, Verfassungsrechtsprechung, S. 57, zur deutschen Erfahrung: „Die Geschichte hatte die Väter des Grundgesetzes gelehrt, dass verfas-
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
tenden Versammlung des Europarates, Pierre-Henri Teitgen, einer der Väter der Konvention und späterer Richter am EGMR, in unverhohlener Anspielung auf den Nationalsozialismus von einer „gewissen Form des Anti-Kommunismus“, die sich diktatorischer Methoden bediene und dabei die Demokratie in Gefahr bringe.196 Noch prägnanter äußerte sich der griechische Delegierte Maccas. Die Menschenrechte dürften nicht zu einem Arsenal werden, in dem die Feinde der Freiheit die Waffen zur Zerstörung eben dieser Freiheit finden könnten.197 Der türkische Delegierte Düsünsel, auf dessen Vorschlag diese Norm zurückgeht,198 verwies auf die Gefahr, dass eine faschistische oder kommunistische Partei eines Tages als „Wolf im Schafspelz“ versuchen könnte, die Freiheiten des demokratischen Staates für einen Umsturz zu missbrauchen.199 In diesen Äußerungen spiegelt sich zum einen die Präsenz der Erfahrungen während des Dritten Reiches und der Umstände der nationalsozialistischen Machtübernahme, zum anderen aber auch ein Gefühl totalitär-kommunistischer Bedrohung wider. In seinem Urteil im Fall Refah Partisi aus dem Jahr 2003 greift der EGMR diesen historischen Bezug auf: „. . . the Court considers that it is not at all improbable that totalitarian movements, organised in the form of political parties, might do away with democracy, after prospering under the democratic regime, there being examples of this in modern European history.“ 200
Die Aufnahme von Art. 17 EMRK nahezu wörtlich entsprechenden Vorschriften in die Grundrechtecharta zeigt, dass der Ende der 1940er Jahre bestehende Konsens heute noch fortbesteht.201 Art. 17 EMRK ist Ausdruck des auch im deutschen Verfassungsrecht verankerten Gedankens der wehrhaften Demokratie.202 Dies unterstreicht der slowenische sungsrechtlich verbürgte Freiheit zur Zerstörung des freiheitlichen Systems missbraucht werden konnte.“ Gegen die These der mangelnden Wehrhaftigkeit der Weimarer Verfassung, Gusy, Weimar – die wehrlose Republik?, passim. 196 Zitiert nach Europarat, Travaux préparatoires de l’article 17 de la Convention européenne des Droits de l’Homme, DH (57), 23.4.1957, S. 2. 197 Zitiert nach Europarat, Travaux préparatoires de l’article 17 de la Convention européenne des Droits de l’Homme, DH (57), 23.4.1957, S. 2. 198 Fawcett, Application of the ECHR, 1969, S. 252. 199 Zitiert nach Europarat, Travaux préparatoires de l’article 17 de la Convention européenne des Droits de l’Homme, DH (57), 23.4.1957, S. 5. 200 EGMR, Urt. v. 13.2.2003, Refah Partisi et al., RJD 2003-II, § 99. 201 Art. 54 GRC geht auf einen Vorstoß von Marc Fischbach, den Beobachter des EGMR im Grundrechtekonvent zurück, Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 54 Rdnr. 4; in beiden Konventen war diese Vorschrift unumstritten, von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 54 Rdnr. 1. 202 Siehe aus der umfangreichen Literatur zu diesem Topos Fox/Nolte, 36 Harv. Int’l L. Journal 1 (1995); Papier/Durner, AöR 128 (2003), S. 341 ff.; sowie die Beiträge in Thiel, Wehrhafte Demokratie.
D. Das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK
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Richter Jambrek in einem Sondervotum zum Urteil der Großen Kammer im Fall Lehideux & Isorni. Er beschreibt zunächst das Spannungsfeld zwischen der konstitutiven Bedeutung freier Meinungsäußerung für eine freiheitliche Demokratie und der Notwendigkeit, diese Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen. Grundsätzlich sei freie Kritik die geeignete Antwort auf jede subversive Doktrin. Sodann verweist Jambrek auf den historischen Hintergrund der EMRK als Antwort auf die totalitären Regime vor und während des Zweiten Weltkriegs. Der Gerichthof habe in seiner Rechtsprechung das Prinzip der „wehrhaften Demokratie“ ausdrücklich gebilligt.203 Der zeithistorische Hintergrund mag erklären, warum die Straßburger Organe Art. 17 EMRK nahezu ausschließlich im Zusammenhang mit rechtsradikalen, rassistischen und antisemitischen Äußerung heranziehen.204 Über diese Fälle hinaus hat der EGMR auf Art. 17 EMRK nur selten zurückgegriffen; in einem obiter dictum einer Kammerentscheidung aus dem Jahr 2009 verwies der EGMR darauf, dass auch die Rechtfertigung von Kriegsverbrechen wie standrechtliche Hinrichtungen ein „détournement“ der Rechte aus Art. 10 EMRK bedeute, so dass Art. 17 EMRK in solchen Fällen ebenfalls eingreife.205 Demgegenüber findet sich in mehreren türkischen Parteiverbotsfällen die knappe Bemerkung, es bestehe keine Notwendigkeit, Art. 17 EMRK „ins Spiel zu bringen“.206 Nicht einmal im einzigen Fall, in dem der EGMR ein türkisches Parteienverbot gebilligt hat, Refah Partisi207, wurde Art. 17 EMRK explizit geprüft.208
II. Bedeutung, Reichweite, Regelungsgehalt und dogmatische Konsequenzen von Art. 17 EMRK Die Zielsetzung des Art. 17 EMRK, die Konvention vor einem Missbrauch durch ihre Feinde und die Demokratie vor der Subversion zu schützen, wirft wei203 EGMR, Urt. v. 23.9.1998, Lehideux & Isorni, RJD 1998-VII, Sondervotum Jambrek, § 2 f. unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 26.9.1995, Vogt, Series A 323, § 59. 204 Für Art. 54 GRC geht Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der EU, Art. 54 Rdnr. 11, davon aus, dass dessen Anwendungsbereich primär rassistische, antisemitische und ausländerfeindliche Bestrebungen erfasse. 205 EGMR, Urt. v. 15.1.2009, Orban, Nr. 20985/05, § 35. 206 EGMR, Urt. v. 30.1.1998, United Communist Party of Turkey et al., RJD 1998-I, § 60; vgl. auch Urt. v. 25.5.1998, Socialist Party et al., RJD 1998-III, § 53; Urt. v. 8.9.1999, ÖZDEP, RJD 1999-VIII, § 47. 207 EGMR, Urt. v. 13.2.2003, Refah Partisi et al., RJD 2003-II. 208 Dort findet sich allerdings folgende Aussage, die zumindest Assoziationen zu Art. 17 EMRK weckt: „It necessarily follows that a party whose leaders incite to violence or put forward a policy which fails to respect democracy or which is aimed at the destruction of democracy and flouting of the rights and freedoms recognised in a democracy cannot lay claim to the Convention’s protection against penalties imposed on those grounds.“, EGMR, Urt. v. 13.2.2003, Refah Partisi et al., RJD 2003-II, § 98 sowie den bereits oben zitierten § 99; hierzu Kontopodi, S. 26 ff.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
tere Fragen auf. Was sind die Grundlagen der freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft, deren Schutz Art. 17 EMRK bezweckt? Welche Reichweite kommt Art. 17 EMRK zu; versperrt die Norm die Berufung auf sämtliche Rechte der Konvention oder gilt sie nur im Hinblick auf besonders „missbrauchsanfällige“ Garantien? Und: In welchen Situationen ist es geboten, zur Verteidigung der Grundwerte der Konvention auf das Missbrauchsverbot zurückzugreifen? Genauer: Bedarf es einer konkreten Gefahr für diese Grundwerte oder reicht bereits eine demokratiefeindliche Zielsetzung des Handelnden aus? In dogmatischer Hinsicht stellt sich schließlich die Frage, ob es sich bei Art. 17 EMRK um eine Schutzbereichsbegrenzung oder eine im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu beachtende Abwägungsmaxime handelt. 1. Begriff der demokratischen Gesellschaft Die EMRK verwendet den Begriff der „demokratischen Gesellschaft“ – der zentrale Referenzpunkt des Art. 17 EMRK – nicht als politischen Programmsatz, sondern als entscheidenden Maßstab der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die „demokratische Gesellschaft“ ist Rechtsbegriff im Stile eines Staatsstrukturprinzips.209 Die zweiten Absätze der Art. 8 bis 11 EMRK erlauben nur Eingriffe, die in einer „demokratischen Gesellschaft notwendig sind“. Etwas verklausuliert finden sich Bezüge zur Demokratie als von der Konvention vorausgesetzte Staatsform auch in der Präambel („gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen“).210 Dieses gemeinsame Erbe birgt nach Auffassung des Gerichtshofs die der Konvention zugrunde liegenden Werte: Ziel der Konvention sei die Wahrung und Förderung der Ideale und Werte der demokratischen Gesellschaft: „Democracy thus appears to be the only political model contemplated by the Convention and, accordingly, the only one compatible with it.“ 211
Den Versuch, den konventionsrechtlichen Demokratiebegriff – und damit die grundlegenden Werte der Konvention212 – genauer zu konturieren, hat der EGMR in den türkischen Parteiverbotsfällen unternommen.213 Anlass war jeweils die Frage, ob das Programm der verbotenen Parteien mit den Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft unvereinbar war; anderenfalls wäre ein Verbot nicht, wie von Art. 11 Abs. 2 EMRK gefordert, in einer demokratischen Gesell209 Deutlich EGMR, Urt. v. 30.1.1998, United Communist Party of Turkey, RJD 1998-I, § 45, sogleich zitiert; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 18. 210 EGMR, Urt. v. 30.1.1998, United Communist Party of Turkey, RJD 1998-I, § 45. 211 EGMR, Urt. v. 30.1.1998, United Communist Party of Turkey, RJD 1998-I, § 45. 212 Vgl. EGMR, Urt. v. 23.9.1998, Lehideux & Isorni, RJD 1998-VII, § 53 („underlying values“). 213 Allg. zu den in diesem Zusammenhang vom EGMR entwickelten Maßstäben Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rdnr. 95 f.; zum Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung in der Rechtsprechung des BVerfG siehe BVerfGE 2, 1 (12) und E 5, 85 (139).
D. Das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK
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schaft notwendig. Auf eine abschließende Definition der „demokratischen Gesellschaft“ hat der EGMR zwar verzichtet.214 Er hat jedoch einige Wesensmerkmale hervorgehoben, anhand derer sich seiner Überzeugung nach die Demokratie von anderen Staats- und Gesellschaftsformen unterscheidet.215 Im Mittelpunkt steht der Gedanke des demokratischen Pluralismus.216 Dieser erfordere im Rahmen von Art. 10 EMRK Meinungspluralismus, insbesondere den Schutz auch schockierender, polemischer und besonders provokanter Äußerungen. Art. 3 1. ZP EMRK verpflichte den Staat regelmäßig freie Wahlen abzuhalten.217 Im Herzen des Konzepts einer demokratischen Gesellschaft liegt der Gedanke der öffentlichen Debatte.218 Demokratischer Boden wird verlassen, wenn diese Debatte nicht mehr mit Worten, sondern gewaltsam betrieben werden soll.219 Auch Toleranz und Respekt vor der Würde anderer sind daher Grundlagen einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft.220 Zwei Beispiele mögen verdeutlichen, wo der Gerichtshof die demokratische Grenze zieht: Das Verbot der türkischen islamischen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) hielt die Große Kammer des Straßburger Gerichtshofs vor allem für gerechtfertigt, weil ihr Programm auf die Einführung der Sharia als zweites, paralleles Rechtssystem ausgerichtet war und der Gerichtshof die Sharia mit den in der Konvention enthaltenen grundlegenden demokratischen Prinzipien für unvereinbar erklärte: „Principles such as pluralism in the political sphere or the constant evolution of public freedoms have no place in it (gemeint ist die Sharia, Anm. d. Verf.). The Court notes that, when read together, the offending statements, which contain explicit references to the introduction of sharia, are difficult to reconcile with the fundamental principles of democracy, as conceived in the Convention taken as a whole. It is difficult to declare one’s respect for democracy and human rights while at the same time supporting a regime based on sharia, which clearly diverges from Convention values, particularly with regard to its criminal law and criminal procedure, its rules on the 214
So auch Boyle, EHHR 2006, S. 1 (8); Kontopodi, S. 59. Boyle, EHRR 2006, 1 (8 ff.). 216 EGMR, Urt. v. 13.2.2003, Refah Partisi et al., RJD 2003-II, § 89; Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 18. 217 Zusammenfassend EGMR, Urt. v. 30.1.1998, United Communist Party of Turkey et al., RJD 1998-I, § 54 („political pluralism, universal suffrage and freedom to take part in politics“). 218 EGMR, Urt. v. 30.1.1998, United Communist Party of Turkey, RJD 1998-I, § 57; Urt. v. 13.2.2003, Refah Partisi et al., RJD 2003-II, § 97. 219 EGMR, Urt. v. 13.2.2003, Refah Partisi et al., RJD 2003-II, §§ 98, 131; vgl. schon Urt. v. 30.1.1998, United Communist Party of Turkey et al., RJD 1998-I, § 57; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rdnr. 96; Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rdnr. 81. 220 EGMR, Urt. v. 4.12.2003, Gündüz, RJD 2003-XI, § 40 („[T]he Court would emphasise, in particular, that tolerance and respect fort he equal dignity of all human beings constitute the foundations of a democratic, pluralistic society“). 215
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK legal status of women and the way it intervenes in all spheres of private and public life in accordance with religious precepts. [. . .] In the Court’s view, a political party whose actions seem to be aimed at introducing sharia in a State party to the Convention can hardly be regarded as an association complying with the democratic ideal that underlies the whole of the Convention.“ 221
Im Fall Schimanek hat der EGMR, wenig überraschend, der nationalsozialistischen Ideologie die Unvereinbarkeit mit den Werten der Konvention bescheinigt. Auf eine mit dem Urteil Refah Partisi vergleichbare, detaillierte Begründung konnte er verzichten. Den ausdrücklichen Rückgriff auf Art. 17 EMRK scheute er hier nicht. „National Socialism is a totalitarian doctrine incompatible with democracy and human rights and its adherents undoubtedly pursue aims of the kind referred to in Article 17 of the Convention.“ 222
2. Reichweite des Missbrauchsverbots Seinem Wortlaut nach ist der Geltungsbereich des Missbrauchsverbots nicht auf bestimmte Konventionsrechte begrenzt. Die Europäische Kommission für Menschenrechte hat 1959 in ihrem Bericht in der Sache Lawless ./. Irland 223 die Reichweite von Art. 17 EMRK jedoch eng definiert.224 Danach sperrt das Missbrauchsverbot nicht die Berufung auf sämtliche Rechte und Freiheiten der Konvention. Die Norm findet vielmehr nur im Hinblick auf die so genannten „Verhaltensrechte“, also insbesondere die Art. 9, 10 und 11 EMRK225 Anwendung; dies auch nur dann, wenn diese Freiheiten als Instrumente zur Zerstörung der freien demokratischen Ordnung genutzt werden sollen. Die Rechte etwa aus Art. 5 und 6 EMRK können hingegen nicht unter Berufung auf Art. 17 EMRK eingeschränkt bzw. gesperrt werden.226 Art. 17 EMRK verlangt die Entfaltung 221 EGMR, Urt. v. 13.2.2003, Refah Partisi et al., RJD 2003-II, § 123 unter Zitat von § 72 der vorangegange Kammerentscheidung. 222 EGMR, Entsch v. 1.2.2000, Schimanek, Nr. 32307/96, Nr. 1 c) a. E. der Entscheidungsgründe. 223 EKMR, Ber. v. 19.12.1959, Lawless, Series B 1, § 141. 224 EKMR, Entsch. v. 20.7.1957, KPD, DR 8, 222 ff. hatte die Reichweite von Art. 17 EMRK nicht klar definiert. Der KPD war unter Verweis auf Art. 17 EMRK pauschal die Berufung auf die Art. 9 bis 11 EMRK verweigert worden. Nach dem Parteiprogramm der KPD setze der Übergang zum Kommunismus eine Phase der Diktatur und damit die Zerstörung zahlreicher Rechte der Konvention voraus, vgl. zusammenfassend Fawcett, Application of the ECHR, S. 253. 225 Ergänzend kommt auch Art. 3 1. ZP, das Recht zur (aktiven und passiven) Teilnahme an freien Wahlen in Betracht, vgl. EKMR, Entsch. v. 11.10.1979, Glimmerveen & Hagenbeek, DR 18, 187 ff. 226 EKMR, Ber. v. 19.12.1959, Lawless, Series B 1, § 141 („The rights set forth in Articles 5 and 6 of the Convention, on the other hand, are in no way diminished by Article 17. Thus, an agitator, who pursues communist, fascist, national, socialist or, generally, totalitarian aims is entitled to avail himself of the provisions on procedure contained in Articles 5 and 6.“).
D. Das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK
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einer „Tätigkeit“ oder die Vornahme einer „Handlung“,227 die auf die Zerstörung der Rechte der Konvention zielt. Die Berufung auf die Rechte aus Art. 5 oder 6 EMRK kann bereits dem Wortlaut nach weder Tätigkeit noch Handlung in diesem Sinne sein.228 In seinem Urteil im gleichen Fall aus dem Jahre 1961 machte sich der EGMR diese Sichtweise der Kommission zu Eigen.229 Art. 17 EMRK vermag der totalitären Agitation den Schutz des Art. 10 EMRK entziehen, nicht aber dem Agitator den Schutz der Art. 5 und 6 EMRK oder anderer nicht zum Missbrauch geeigneter Menschenrechtsgewährleistungen. Den Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren, die Freiheit von Folter und anderer unmenschlicher Behandlung und weitere nicht im engeren Sinne politische Menschenrechte tangiert Art. 17 EMRK hingegen nicht.230 Art. 17 EMRK ist also keine Strafnorm zu Lasten des totalitären Agitators, sondern eine Schutznorm zugunsten der freiheitlichen demokratischen Ordnung.231 3. Wann ist der Rückgriff auf Art. 17 EMRK angezeigt? Art. 17 EMRK dient dem Schutz der Grundlagen der demokratischen Gesellschaft und damit der grundlegenden Werte der Konvention. Wann bedarf es des 227 Englisch: „engage in any activity or perfom any act“; Französisch: „se livrer à une activité ou d’accomplir un acte“. 228 Plastisch Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 54 Rdnr. 10 zu Art. 54 GRC: „Danach können nur diejenigen Grundrechte nicht mehr in Anspruch genommen werden, die selbst zur Bekämpfung der Grundrechtsordnung verwandt wurden.“ Folglich bleiben insbesondere die Verfahrensgrundrechte erhalten. Konkret sind von Art. 17 EMRK etwa nicht erfasst: Art. 2, 3, 4 Abs. 1, 5, 6, 7, 12 EMRK, Guradze, EMRK, Art. 17 Anm. 4. Zu Art. 5 Abs. 1 IPBPR Nowak, CCPR, Art. 5 Rdnr. 8: „This means that Art. 5 (1) is applicable only to those rights whose exercise requires an activity.“ 229 EGMR, Urt. v. 1.7.1961, Lawless, Series A 3, § 7 („[T]his provision is negative in scope and cannot be construed a contrario as depriving a physical person of the fundamental individual rights guaranteed by Articles 5 and 6 of the Convention“). Der Beschwerdeführer, G.R. Lawless, war 1957 einzig wegen des Verdachts, Mitglied der Irisch Republikanischen Armee (IRA) zu sein, über einen Zeitraum von fünf Monaten auf Anordnung eines irischen Ministers in Haft genommen worden; zu den Einzelheiten, siehe Schneider, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, S. 521 (522 f.). In einem türkischen Parteiverbotsfall hat der EGMR durch eine Bezugnahme auf das Urteil Lawless dessen ungeminderte Gültigkeit bestätigt, vgl. EGMR, Urt. v. 30.1.1998, United Communist Party of Turkey, RJD 1998-I, § 60. 230 Zu Art. 5 Abs. 1 IPBPR Nowak, CCPR, Art. 5 Rdnr. 7: „[The drafters] particularly had in mind the exercise of political rights and freedoms.“ 231 Jacobs/White, S. 311 f.; Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 17 Rdnr. 2. Die auf die politischen Menschenrechte beschränkte Reichweite des Missbrauchsverbots ist auch im nationalen Verfassungsrecht anzutreffen. Die in Art. 18 GG vorgesehene Grundrechtsverwirkung beschränkt sich auf einige Grundrechte. Manche hiervon, wie das Eigentum oder das Grundrecht auf Asyl, weisen jedoch zugegebenermaßen keinen unmittelbaren Bezug zum Prozess der politischen Meinungsbildung auf.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
Rückgriffs auf Art. 17 EMRK, um diesen Schutz zu aktualisieren? Ist eine konkrete Gefahr erforderlich? Muss eine bestimmte Verhaltensweise zumindest abstrakt geeignet sein, diese Grundwerte in ihrem Fundament zu erschüttern, oder reicht bereits die bloße Unvereinbarkeit eines bestimmten Handelns mit den Werten der Konvention, also insbesondere der freiheitlich demokratischen Ordnung aus, um Art. 17 EMRK ins Spiel zu bringen? In den bereits angesprochenen Parteiverbotsfällen verfuhr der EGMR mit Art. 17 EMRK ausgesprochen zurückhaltend. Dies erklärt sich vor allem dadurch, dass der Gerichtshof, anders als das türkische Verfassungsgericht, bis auf den Ausnahmefall Refah Partisi den Programmen der verbotenen Parteien keine den Werten der EMRK gegenüber feindliche Grundeinstellung entnehmen konnte. Zwar strebten sämtliche der verbotenen Parteien einen anderen als den gegenwärtigen Staat an. „Anders“ heißt für den EGMR jedoch nicht automatisch mit der Konvention unvereinbar.232 Eine Partei kann nur dann verboten werden, wenn sie gesellschaftliche, politische und verfassungsrechtliche Veränderungen auf illegalem und undemokratischem Wege anstrebt und/oder das Ergebnis dieser Veränderungen mit grundlegenden demokratischen Prinzipien nicht vereinbar ist.233 Ein Parteiverbot ist mit Art. 11 Abs. 2 EMRK unvereinbar, solange die jeweilige Partei auf demokratischem und gewaltfreiem Wege Ziele verfolgt, die ihrerseits nicht die Grundfesten der Demokratie erschüttern.234 In dem bereits erwähnten Sondervotum zum Urteil Lehideux & Isorni definiert Richter Jambrek die Voraussetzungen einer Anwendung von Art. 17 EMRK unter Berufung auf einen Passus aus dem Urteil des EGMR im Fall United Communist Party of Turkey: „In order that Article 17 may be applied, the aim of the offending actions must be to spread violence of hatred, to resort to illegal or undemocratic methods, to encourage the use of violence, to undermine the nation’s democratic and pluralistic political system, or to pursue objectives that are racist or likely to destroy the rights and freedoms of others.“ 235
Art. 17 EMRK findet somit unabhängig von einer konkreten Gefahr Anwendung. Wie bereits der Wortlaut dieser Vorschrift („darauf abzielt“) zeigt, kommt 232 EGMR, Urt. v. 25.5.1998, Socialist Party et al., RJD 1998-III, § 47. Spiecker gen. Döhmann, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann (Hrsg,), Völkerrechtsprechung, S. 597 (599). 233 So auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rdnr. 96. 234 Pabel, ZaöRV 63 (2003), S. 921 (930); siehe auch EGMR, Urt. v. 13.2.2003, Refah Partisi et al., RJD 2003-II, § 98: „On that point, the Court considers that a political party may promote a change in the law or the legal and constitutional structures of the State on two conditions: firstly, the means used to that end must be legal and democratic; secondly, the change proposed must itself be compatible with fundamental democratic principles.“; hierzu die klarstellenden Bemerkungen im Sondervotum Ress/Rozakis. 235 EGMR, Urt. v. 23.9.1998, Lehideux & Isorni, RJD 1998-VII, Sondervotum Jambrek, § 2.
D. Das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK
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es allein auf die Zielsetzung der jeweiligen Handlung bzw. den Inhalt der jeweiligen Äußerung an. Ist diese auf Abschaffung oder unzulässige Beschränkungen der Rechte und Freiheiten der Konvention, dem Verständnis der Konventionsorgane nach also auf die Abschaffung einer freiheitlich demokratischen Ordnung und damit gegen die grundlegenden Werte der Konvention gerichtet, greift das Missbrauchsverbot ein. Im Rahmen von Art. 10 EMRK verlangt dieser Maßstab eine inhaltliche Bewertung der jeweiligen Äußerung, gleichsam eine Überprüfung der „Demokratie-Kompatibilität“. 236 Zu prüfen ist, ob die Äußerung im Widerspruch zu den grundlegenden Werten der Konvention steht. Illustrativ sowohl hinsichtlich der Entbehrlichkeit einer konkreten Gefahr als auch der dezidiert inhaltlichen Bewertung, die der EGMR bei Anwendung des Art. 17 EMRK vornimmt, ist folgende Passage aus der Unzulässigkeitsentscheidung des EGMR im Fall Norwood: „The poster in question in the present case contained a photograph of the Twin Towers in flame, the words ,Islam out of Britain – Protect the British People‘ and a symbol of a crescent and star in a prohibition sign. The Court notes and agrees with the assessment made by the domestic courts, namely that the words and images on the poster amounted to a public expression of attack on all Muslims in the United Kingdom. Such a general, vehement attack against a religious group, linking the group as a whole with a grave act of terrorism, is incompatible with the values proclaimed and guaranteed by the Convention, notably tolerance, social peace and nondiscrimination. The applicant’s display of the poster in his window constituted an act within the meaning of Article 17, which did not, therefore, enjoy the protection of Articles 10 or 14.“ 237
Die Praxis des EGMR ist nicht gänzlich widerspruchsfrei. Während der Gerichtshof, wie gezeigt, grundsätzlich nicht auf eine konkrete Gefahr sondern nur auf Ziel und Inhalt abstellt, begründete er die Zulässigkeit des Verbots der türkischen Wohlfahrtspartei ohne (expliziten) Rückgriff auf Art. 17 EMRK.238 Dennoch ist mit der wohl herrschenden Meinung davon auszugehen, dass auch unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens des Art. 17 EMRK239 eine konkrete Gefahr für das demokratische System nicht unerlässliche Voraussetzung eines Par-
236 Vgl. z. B. EGMR, Entsch v. 1.2.2000, Schimanek, Nr. 32307/96, Nr. 1 c) a. E. der Entscheidungsgründe; hierzu Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 17 Rdnr. 3. 237 EGMR, Entsch. v. 16.11.2004, Norwood, RJD 2004-XI. 238 Vgl. EGMR, Urt. v. 13.2.2003, Refah Partisi et al., RJD 2003-II, § 107 f. Dort heißt es unter der Überschrift „The appropriate timing for dissolution“: „The Court accordingly considers that at the time of its dissolution Refah had the real potential to seize political power without being restricted by the compromises inherent in a coalition. If Refah had proposed a programme contrary to democratic principles, its monopoly of political power would have enabled it to establish the model of society envisaged in that programme.“; kritisch im Hinblick auf das Schweigen des Gerichtshofs zu Art. 17 EMRK, Boyle, EHHR 2006, 1 (10). 239 Sarx, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 177 (188).
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
teiverbots ist.240 Gerade vor diesem Hintergrund ist es überraschend, dass der Gerichtshof in Refah Partisi Art. 17 EMRK nicht erwähnt.241 Dies mag der generellen Linie des EGMR geschuldet zu sein, Art. 17 EMRK nur ausnahmsweise in Extremfällen anzuwenden und im Übrigen den Weg über eine Rechtfertigung des Eingriffs im Rahmen der Parameter von Art. 10 Abs. 2 EMRK zu gehen.242 4. Welche dogmatischen Konsequenzen hat der Rückgriff auf Art. 17 EMRK? Zuletzt bleibt die Frage, welche dogmatischen Konsequenzen mit einem Rückgriff auf Art. 17 EMRK verbunden sind. In Betracht kommt sowohl ein Verständnis als Schutzbereichsbegrenzung als auch eine Deutung als Auslegungs- und Abwägungsregel, die im Rahmen der Notwendigkeitsprüfung – etwa als besondere Schrankenklausel243 – zur Anwendung kommt. Die praktischen Auswirkungen dieser Frage mögen überschaubar sein. Im Hinblick auf den im amerikanischen Verfassungsrecht anzutreffenden categoric approach, der einer Schutzbereichsbegrenzung nahe kommt, rechtfertigt sich dennoch ein kurzer Abriss dieses Problems. a) Wortlaut und amtliche Überschrift Dem Wortlaut der Vorschrift („ist nicht so auszulegen“) nach handelt es sich um eine Auslegungsregel. Damit ist jedoch die Frage, ob es sich um eine Schutzbereichsbeschränkung oder eine Abwägungsmaxime handelt, nicht beantwortet.244 Sowohl bei der Bestimmung des Schutzbereichs als auch bei der Anwendung des Kriteriums der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft handelt es sich methodisch um Akte der Auslegung. Die Überschrift („Verbot des Missbrauchs der Rechte“ 245) spricht für ein kategorisches Verständnis dieser Norm. Entweder liegt ein Fall des Missbrauchs vor – dann wäre dem Beschwerdeführer die Berufung auf die Konventionsrechte im genannten Umfang zu versagen – oder es liegt kein Fall des Missbrauchs vor, so dass eine Anwendung von Art. 17 EMRK auch im Rahmen der Abwägung nicht zulässig wäre. 240 Kontopodi, S. 91; auch das BVerfG hat klargestellt, dass eine Partei auch dann verfassungswidrig sein und damit verboten werden kann, wenn keine Aussicht darauf besteht, dass sie ihre verfassungswidrige Absicht ab absehbarer Zeit verwirklichen kann, siehe BVerfGE 5, 85 (143) sowie Pabel, ZaöRV 63 (2003), S. 921 (932). 241 Dem zustimmend aber Kugelmann, EuGRZ 2003, 533 (535). 242 Vgl. das Urteil der Großen Kammer im Fall Paksas, EGMR, Urt. v. 6.1.2011, Nr. 34932/02, § 87 („this Article is applicable only on an exceptional basis and in extreme cases“). 243 So Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK, Art. 17 Rdnr. 1. 244 Hong, ZaöRV 70 (2010), S. 73 (76) unterscheidet zwischen „Nichtanwendungs-“ und „Rechtfertigungsmodell“. 245 Englisch: „Prohibition of Abuse of Rights“, Französisch: „Interdiction de l’abus de droit“.
D. Das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK
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b) Spruchpraxis der Konventionsorgane Die Kommission wandte Art. 17 EMRK als Abwägungsregel an. In zahlreichen Entscheidungen hat die Kommission zunächst den Schutzbereich von Art. 10 EMRK eröffnet, einen Konventionsverstoß aber im Rahmen der Notwendigkeitsprüfung unter maßgeblichem Verweis auf Art. 17 EMRK verneint.246 Die Praxis des EGMR war anfänglich uneinheitlich. Zwei obiter dicta in den Urteilen Jersild 247, dort ohne ausdrückliche Erwähnung von Art. 17 EMRK, und Lehideux & Isorni 248 deuteten darauf hin, dass der Gerichtshof diese Vorschrift als eine Schutzbereichsbeschränkung auslegt. In beiden Fällen bezeichnet der EGMR bestimmte Äußerungen als dem Schutz des Art. 10 durch Art. 17 entzogen („removed from the protection of article 10 by article 17“). In der Entscheidung Witzsch I 249 hingegen erwähnte der Gerichtshof Art. 17 EMRK wiederum als einen Faktor im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung. Ebenso verfuhr der Gerichtshof im Fall Schimanek. Dort heißt es deutlich: „The Court concludes that it derives from Article 17 that the applicant’s conviction was necessary in a democratic society within the meaning of the second paragraph of Article 10.“ 250
In vier weiteren Entscheidungen, Garaudy251, Witzsch II 252, Norwood 253 und Pavel Ivanov 254, kehrte der EGMR zu einem Verständnis von Art. 17 EMRK als Schutzbereichsbegrenzung zurück und verneinte eine Verletzung von Art. 10 EMRK, ohne in eine Prüfung der Voraussetzungen des Art. 10 Abs. 2 EMRK einzutreten.255 Im Ergebnis ist daher davon auszugehen, dass es sich bei Art. 17 246 Siehe z. B. EKMR, Entsch. v. 11.10.1979, Glimmerveen & Hagenbeek, DR 18, 187 ff.; Entsch. v. 12.5.1988, Kühnen, DR 56, 205 ff.; Entsch. v. 29.11.1995, NPD Bezirksverband München-Oberbayern, Nr. 25992/94; Entsch. v. 16.1.1996, Rebhandl, Nr. 24398/94. 247 EGMR, Urt. v. 23.9.1994, Series A 298. 248 EGMR, Urt. v. 23.9.1998, RJD 1998-VII. 249 EGMR. Entsch. v. 20.4.1999, Witzsch I, Nr. 41448/98. 250 EGMR, Entsch v. 1.2.2000, Schimanek, Nr. 32307/96, Nr. 1 c) a. E. der Entscheidungsgründe. 251 EGMR, Entsch. v. 24.6.2003, Garaudy, RJD 2003-IX. 252 EGMR, Entsch. v. 13.12.2005, Witzsch II, Nr. 7485/03. 253 EGMR, Entsch. v. 16.11.2004, Norwood, RJD 2004-XI. 254 EGMR, Entsch. v. 20.2.2007, Pavel Invanov, Nr. 35222/04. 255 Siehe bspw. EGMR, Entsch. v. 24.6.2003, Garaudy, RJD 2003-IX, Nr. 1 (i) a. E. („Accordingly, the Court considers that, in accordance with Article 17 of the Convention, the applicant cannot rely on the provisions of Article 10 of the Convention regarding his conviction for denying crimes against humanity.“); Entsch. v. 13.12.2005, Witzsch II, Nr. 7485/03, Nr. 3 der Entscheidungsgründe („The Court finds that the views expressed by the applicant ran counter to the text and the spirit of the Convention. Consequently, he cannot, in accordance with Article 17 of the Convention, rely on the provisions of Article 10 as regards his statements at issue.“); Entsch. v. 16.11.2004, Norwood, RJD 2004-XI. Iin diesem Sinne auch Urteil der Großen Kammer im Fall
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
EMRK nach der Rechtsprechung des EGMR um eine Schutzbereichsbeschränkung, nicht um eine Abwägungsmaxime handelt.256 c) Fazit In der praktischen Anwendung mag die Frage, ob es sich bei Art. 17 EMRK um eine Schutzbereichsbegrenzung oder „nur“ um eine im Rahmen der Einzelfallprüfung zu berücksichtigende Abwägungsregel handelt, zweitrangig sein und sich nicht auf das jeweilige Endergebnis auswirken. Eine Situation, in der nach den Maßstäben des Gerichtshofs ein Fall des Missbrauchs der Konventionsrechte vorliegt, der Eingriff aber dennoch unverhältnismäßig erscheint, ist nicht vorstellbar. Das vom Gerichtshof nunmehr praktizierte Verständnis von Art. 17 EMRK als Schutzbereichsbeschränkung unterstreicht indes nachdrücklich dessen Bereitschaft, einer Verhaltensweise oder Äußerung allein aufgrund politisch-inhaltlicher Missbilligung – also ihrer fehlenden „Konventionskompatibilität“ – a priori den Schutz der Konvention zu entziehen. Ein Fall des Missbrauchs liegt schon vor, wenn der Beschwerdeführer eine Meinung äußert, die zur Überzeugung des EGMR mit den der Konvention zugrunde liegenden Werten unvereinbar ist. Diese inhaltsbezogene Schutzbereichsbeschränkung setzt eine Gefahr für das Schutzgut von Art. 17 EKMR – die demokratische Gesellschaft – nicht voraus. Die inhaltliche Unvereinbarkeit der Äußerung mit den Grundwerten der Konvention genügt.
E. Rechtsprechungsanalyse Die Spielarten extremistischer Meinungsäußerungen sind kaum überschaubar. Es ist nicht ganz leicht, diese Aussagen zu kategorisieren. Dennoch bedarf es einer Konzentration auf die häufigsten Formen volksverhetzender Äußerungen und Gewaltaufrufe. Eine erste Fallgruppe bilden Leugnungen des Holocaust. Es handelt sich hierbei um revisionistische Aussagen, denen gemeinsam ist, dass sie den Holocaust insgesamt oder einzelne seiner grausamen Facetten leugnen. Paksas (2011), nach dem im Anwendungsbereich von Art. 17 EMRK eine auf Art. 10 EMRK gestützte Beschwerde „ratione materiae“ mit den Vorschriften der Konvention unvereinbar ist, Urt. v. 6.1.2011, Nr. 34932/04, § 88; ebenfalls im SInne einer Schutzbereichsbegrenzung e contrario EGMR, Urt. v. 2.10.2008, Leroy, Nr. 36109/03, § 27 („La Cour est d’avis que l’expression litigieuse ne rentre pas dans le champ d’application des publications qui se verraient soustraites par l’article 17 de la Convention à la protection de l’article 10.“). 256 A.A. Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 17 Rdnr. 4; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rdnr. 3, 24; offenbar ebenfalls a. A. Kontopodi, S. 32; für Art. 54 GRC geht von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 54 Rdnr. 7, von einer Schutzbereichsbeschränkung aus.
E. Rechtsprechungsanalyse
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Eine zweite Kategorie bilden rechtsradikale volksverhetzende Inhalte, die sich etwa durch neonazistische Aussagen, Anstachelung zum Rassenhass oder gar durch Aufrufe zu neonazistisch motivierten Straftaten auszeichnen.257 Diese beiden Fallgruppen unterscheiden sich vor allem dadurch, dass im Fall der Leugnung des Holocaust falsche Tatsachen behauptet werden – etwa dass es keine Gaskammern gegeben habe – während in der zweiten Fallgruppe regelmäßig Meinungsäußerungen radikalen Inhalts anzutreffen sind. Eine dritte Gruppe von Äußerungen betrifft die so genannten „Türkei-Fälle“, die allesamt vor dem Hintergrund des Kurden-Konflikts im Südosten der Türkei spielen. Gegenstand der Verfahren vor dem EGMR waren auf den Vorwurf separatistischer und volksverhetzender Propaganda gestützte Verurteilungen wegen prokurdischer Äußerungen der jeweiligen Beschwerdeführer. Diesen Äußerungen fehlt in der Regel der extremistische Hintergrund, wenngleich die türkischen Stellen in diesen Fällen den Beschwerdeführern häufig eine linksradikale Gesinnung unterstellten. Meistens handelt es sich, wenn überhaupt, um mehr oder weniger direkte Aufrufe zu aufständischer Gewalt.
I. Leugnung des Holocaust In der Spruchpraxis der Straßburger Konventionsorgane finden sich zahlreiche Fälle zu Äußerungen, die den Holocaust insgesamt oder in wesentlichen Teilen leugnen. Zumeist wurden diese Fälle nicht durch den Gerichtshof entschieden, sondern scheiterten bereits an der ersten Hürde, die das ursprünglich zweistufige Rechtsschutzsystem der EMRK vorsah, der Europäischen Menschenrechtskommission (EKMR). Die Kommission erklärte die Mehrzahl dieser Beschwerden mit häufig gleich lautender, fast formularmäßig wirkender Begründung für offensichtlich unbegründet und damit unzulässig im Sinne des Art. 35 Abs. 4 EMRK. Erst seit Inkrafttreten des elften Zusatzprotokolls, das das Rechtsschutzsystem der EMRK grundlegend reformierte, die EKMR abschaffte und einen ständigen Gerichtshof schuf, muss sich der EGMR selbst vermehrt mit Beschwerden auseinandersetzen, die die Leugnung des Holocaust betreffen. Im Folgenden wird – nach Schilderung eines beispielhaften Sachverhalts – zunächst die Spruchpraxis der Kommission dargestellt. Daran schließt eine Zusammenfassung der Rechtsprechung des Gerichtshofes an. In einem dritten Schritt erfolgt eine erste Bewertung.
257 Diese Kategorie umfasst nicht sämtliche Aufrufe zu Straftaten, sondern setzt eine Verbindung mit einer besonderen „politischen“ Motivation voraus.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
1. Beispielhaft: Der Fall Marais ./. Frankreich Pierre Marais258, französischer Staatsbürger, veröffentlichte 1992 in der September-Ausgabe der französischen Zeitschrift Révision einen dreiseitigen Artikel unter der Überschrift „Die tödliche Gaskammer von Struthof-Natzweiler, ein besonderer Fall“ 259. Darin behauptete Marais, es sei unter chemisch-wissenschaftlichen Gesichtspunkten unwahrscheinlich, dass mit der von den Nationalsozialisten verwendeten Methode eine Vielzahl von Menschen getötet worden sein könnte. Die französischen Gerichte sahen den Straftatbestand der Leugnung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit als verwirklicht an.260 Nachdem er sich innerstaatlich ohne Erfolg gegen seine Verurteilung gewehrt hatte, wandte sich Marais an die Europäische Kommission für Menschenrechte und berief sich unter anderem auf Art. 10 EMRK. 2. Spruchpraxis der Kommission Die übrigen Sachverhalte, die den von der Kommission entschiedenen Beschwerden zugrunde lagen, verliefen im Wesentlichen parallel. Die Beschwerdeführer hatten den Holocaust insgesamt, in wesentlichen Teilen geleugnet oder in Zweifel gezogen und waren deswegen teils strafrechtlich, teils auf anderem Wege belangt worden. Die Beschwerdeführer rügten jeweils eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 10 EMRK. a) Schutzbereich und Eingriff Die Eröffnung des Schutzbereichs sowie das Vorliegen eines Eingriffs hat die Kommission in keiner ihrer Entscheidungen in Frage gestellt. Zumeist erklärte sie formelhaft, dass ein oder mehrere staatliche Eingriffe in die durch Art. 10 EMRK garantierte Äußerungsfreiheit vorlägen und sich daher die Frage nach der Rechtfertigung dieser Eingriffe anhand der Maßstäbe des Art. 10 Abs. 2 EMRK stelle.261 An dieser Stelle verzichtete die Kommission auf eine Auseinanderset258
Entsch. v. 27.6.1996, Marais, Nr. 31159/96. Im Original: „La chambre à gaz homicide de Struthof-Natzweiler, un cas particulier“. 260 Grundlage der Verurteilung war Artikel 24bis des Pressegesetzes vom 29. Juli 1881. Nach dieser (im Jahre 1990 eingefügten) Vorschrift begeht eine Straftat, wer u. a. die im Urteil des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg vom 1. Oktober 1946 festgestellten Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet: „Seront punis des peines prévues par le sixième alinéa de l’article 24 ceux qui auront contesté, par un des moyens énoncés à l’article 23, l’existence d’un ou plusieurs crimes contre l’humanité tels qu’ils sont définis par l’article 6 du statut du tribunal militaire international annexé à l’accord de Londres du 8 août 1945 et qui ont été commis soit par les membres d’une organisation déclarée criminelle en application de l’article 9 du dit statut, soit par une personne reconnue coupable de tels crimes par une juridiction française ou internationale.“ 259
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zung mit dem Inhalt der streitgegenständlichen Äußerungen, insbesondere ging sie in keiner Entscheidung auf den fehlenden Wahrheitsgehalt der jeweiligen Tatsachen-behauptungen ein. Auch mit der Frage, ob bestimmte Kategorien von Äußerungen a priori aus dem Schutzbereich von Art. 10 EMRK auszuschließen sind, setzte sich die Kommission nicht auseinander. b) Rechtfertigung Der Schwerpunkt der Entscheidungen der Kommission lag auf der Rechtfertigungsebene. Eingehendere Ausführungen finden sich in der Regel zur Notwendigkeit der angegriffenen Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft. Auch hier besteht zwischen den Entscheidungen ein hohes Maß an Übereinstimmung. Die Frage, ob der zu rechtfertigende Eingriff aufgrund eines Gesetzes erfolgte, problematisierte die Kommission in keiner der einschlägigen Entscheidungen. Die Rechtfertigungsprüfungen beginnen daher mit den legitimen Zielen, denen die streitgegenständlichen Eingriffe dienten. aa) Legitimes Ziel In nahezu jeder Entscheidung hielt die Kommission das Ziel des „Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer“ für einschlägig. Die Kommission verstand die Leugnung des Holocaust auch und vor allem als eine Ehrverletzung nicht nur gegenüber den Opfern des Holocaust, sondern auch gegenüber der gesamten jüdischen Gemeinschaft.262 Darüber hinaus bejahte die Kommission in der Mehrzahl der Fälle die Zielsetzung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sowie der Verbrechensverhütung.263 Die Auschwitz-Lüge ist in zahlreichen Län261 Vgl. EKMR, Entsch. v. 9.9.1998, Nachtmann, Nr. 36773/97 (Leugnung und Verharmlosen des nationalsozialistischen Völkermords); Entsch. v. 27.6.1996, Marais, Nr. 31159/96 (Leugnung der Gaskammern im Konzentrationslager Struthof-Natzweiler); Entsch. v. 11.1.1995, Walendy, Nr. 21128/92 (Auschwitzlüge in Zeitungsartikel); Entsch. v. 6.9.1995, Remer, DR 82-A, 117 (121) (Auschwitzlüge in Artikeln); Entsch. v. 29.3.1993, F. P. ./. Deutschland, Nr. 19459/92 (Holocaust als „zionistische Lüge“); Entsch. v. 12.10.1989, H., W., P., und K. ./. Österreich, DR 62, 216 (220) (Verbreitung der Auschwitzlüge durch Handzettel); Entsch. v. 14.7.1983, T. ./. Belgien, DR 34, 166 ff.; Entsch. v. 16.7.1982, X. ./. Deutschland, DR 29, 194 (197) (Holocaust als „zionistischer Schwindel“). 262 Besonders deutlich wird dies in einer Entscheidung der EKMR vom 16.7.1982, DR 29, 194 (198) („The Commission also finds it neither arbitrary nor unreasonable to consider the pamphlets distributed by the applicant as a defamatory attack against the jewish [sic] community and against each individual member of this community.“); vgl. auch EKMR, Entsch. v. 9.9.1998, Nachtmann, Nr. 36773/97; Entsch. v. 17.6.1996, Marais, Nr. 31159/96; Entsch. v. 6.9.1995, Remer, DR 82-A, 117 (121); Entsch. v. 11.1. 1995, Walendy, Nr. 21128/92. 263 Vgl. EKMR, Entsch. v. 9.9.1998, Nachtmann, Nr. 36773/97; Entsch. v. 17.6.1996, Marais, Nr. 31159/96; Entsch. v. 6.9.1995, Remer, DR 82-A, 117 (121); Entsch. v. 29.3. 1993, F. P. ./. Deutschland, Nr. 19459/92.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
dern Europas verboten; ein Verstoß gegen solche Verbote wird sowohl aus repressiven als auch aus präventiven Gründen geahndet. In Einzelfällen wurden weitere in Art. 10 Abs. 2 EMRK genannte Zielsetzungen erwähnt.264 Ihrer Praxis entsprechend beließ es die Kommission an dieser Stelle dabei, die einschlägigen legitimen Ziele zu benennen, ohne näher auszuführen, in welcher Weise und in welchem Maße die Eingriffe diesen Zielen tatsächlich dienten. Diese Frage ordnete die EKMR zutreffend der Notwendigkeitsprüfung zu, handelt es sich hierbei doch um ein Kriterium zur Überprüfung der Zweck-Mittel-Relation. bb) Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft Wenngleich der Schwerpunkt der Kommissionsentscheidungen auf der Prüfung der Notwendigkeit der gerügten Maßnahmen in einer demokratischen Gesellschaft lag, zeichnen sich insbesondere die späteren Entscheidungen, die auf der Grundlage einer gefestigten Spruchpraxis ergingen, durch eher pauschale Bemerkungen aus. Ausgangspunkt der Notwendigkeitsprüfung bildete das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK.265 Die Leugnung des Holocaust sei Ausdruck der nationalsozialistischen Ideologie, die ihrerseits mit grundlegenden Prinzipien der Konvention nicht vereinbar sei.266 Diese recht allgemein gehaltenen Ausführungen wurden mitunter – keinesfalls immer – durch Darlegungen zu dem beleidigenden und diskriminierenden Charakter der Ausschwitz-Lüge gegenüber dem jüdischen Volk sowie die Bemerkung, die Feststellungen der jeweiligen nationalen Gerichte böten nicht den Anschein von Willkür, ergänzt.267 Eine hierüber hinausgehende Auseinandersetzung mit der jeweiligen Äußerung und ihrem (fehlenden) Wahrheitsgehalt unterblieb. Auch ließ die Kommission offen, welche dogmatische Bedeutung Art. 17 EMRK in diesem Zusammenhang zukommt. Die Erwähnung von Art. 17 EMRK im Rahmen der Notwendigkeitsprüfung deutet, wie bereits erläutert, auf ein Verständnis dieser Norm als bloße Abwägungsregel hin.
264 In dem Fall F. P. ./. Deutschland etwa war die Auschwitz-Lüge von einem Korvettenkapitän der Bundeswehr verbreitet worden. Dieser wehrte sich vor den Konventionsorganen gegen ihm gegenüber verhängte soldatenrechtliche Maßnahmen. Auf den Gesamtzweck des Soldatenrechts abstellend sah die EKMR hier neben der Aufrechterhaltung der Ordnung auch die Zielsetzung des Schutzes der nationalen Sicherheit als erfüllt an, vgl. EKMR, Entsch. v. 29.3.1993, F. P. ./. Deutschland, Nr. 19459/92. 265 Zu Art. 17 EMRK, siehe oben Erstes Kapitel, D. (S. 64). 266 Hierzu bereits oben, Erstes Kapitel, D. II. 1. (S. 70). 267 Oben Anm. 262.
E. Rechtsprechungsanalyse
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3. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Der EGMR hatte sich bis dato mit drei Beschwerden268, die die Leugnung des Holocaust269 betrafen, zu befassen. Dabei hat sich der EGMR zwar eng an der Spruchpraxis der Kommission orientiert, jedoch ohne sich darauf zu beschränken, die Praxis der Kommission fortzuführen. Die Große Kammer hat sich in einem obiter dictum auch zu der Frage geäußert, inwiefern die Leugnung der historischen Tatsache des Holocaust den Schutz von Art. 10 EMRK beanspruchen kann. a) Das obiter dictum zur Auschwitz-Lüge: Lehideux & Isorni: Die théorie du double jeu Mit ihren Individualbeschwerden wandten sich die Beschwerdeführer im Fall Lehideux & Isorni270 gegen Verurteilungen wegen „Verteidigung des Verbrechens der Collaboration mit dem Feind“. Sie hatten eine Anzeige in der Tageszeitung Le Monde geschaltet, in der sie die Taten des Maréscal Pétain in einem positiven Licht darstellten und die so genannte théorie du double jeu propagierten. Nach dieser historisch bestenfalls umstrittenen Theorie spielte Pétain mit den deutschen Besatzern ein „doppeltes Spiel“ und ermöglichte durch seine nur scheinbare Kooperation das Überleben des französischen Staates sowie die spätere Befreiung Frankreichs. Die Veröffentlichung der Anzeige führte zu einer Verurteilung der Beschwerdeführer nach Art. 23 und 24 des französischen Pressegesetzes271, wonach die öffentliche Rechtfertigung des Verbrechens der Kollaboration mit den deutschen Besatzern während des zweiten Weltkriegs strafbar ist. Vor dem EGMR rügten die Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 10 EMRK. Die Große Kammer des EGMR gab der Beschwerde mit 15 zu sechs Stimmen statt. Der EGMR hob entscheidend darauf ab, dass sich die Beschwerdeführer in unmissverständlicher Weise von den Gräueltaten während des Nationalsozialismus distanziert hätten. Daher könne deren strafrechtliche Verurteilung nicht als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig angesehen werden. Diese Argumentation deutet zugleich daraufhin, dass der EGMR eine solche ausdrückliche Distanzierung auch erwartet hatte. 268 EGMR, Entsch. v. 13.12.2005, Witzsch II, Nr. 7485/03; Entsch. v. 24.6.2003, Garaudy, RJD 2003-IX; Entsch. v. 20.4.1999, Witzsch I, Nr. 41448/98. 269 Im Fall Witzsch II ging es, streng genommen, nicht um die Leugnung des Holocaust. Allerdings hatte der Beschwerdeführer in einem Schreiben an einen bekannten Historiker die Behauptung aufgestellt, dass es unvertretbar sei zu verbreiten, Hitler und die NSDAP hätten einen Massenmord an den Juden geplant, initiiert und durchgeführt. Der EGMR stellt diese Behauptung der Leugnung des Holocaust gleich, vgl. Entsch. v. 13.12.2005, Witzsch II, Nr. 7485/03, § 3. 270 EGMR, Urt. v. 23.9.1998, RJD 1998-VII. 271 „Loi du 29 juillet 1881 sur la liberté de la presse“.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
In den Entscheidungsgründen setzte sich die Große Kammer mit der Frage auseinander, ob das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK den Beschwerdeführern die Berufung auf Art. 10 EMRK verwehrt. Dabei grenzte die Große Kammer die streitgegenständliche Äußerung deutlich von anderen Aussagen ab, bei denen Art. 17 EMRK seine Sperrwirkung entfalte. Hierzu gehöre insbesondere die Leugnung des Holocaust: „The Court considers that it is not its task to settle this point (gemeint ist die Frage, ob Pétain tatsächlich ein doppeltes Spiel verfolgt hat, Anm. d. Verf.), which is part of an ongoing debate among historians about the events in question and their interpretation. As such, it does not belong to the category of clearly established historical facts – such as the Holocaust – whose negation or revision would be removed from the protection of Article 10 by Article 17.“ 272
Ohne direkten Bezug zu Art. 17 EMRK heißt es in dem Urteil nicht minder kategorisch, es könne kein Zweifel bestehen, dass, wie im Falle jeder Äußerung, die sich gegen die grundlegenden Werte der EMRK richte, der Rechtfertigung einer „pro-Nazi policy“ nicht der Schutz des Art. 10 MRK gewährt werden könne.273 Für den Erfolg der Beschwerde war von ausschlaggebender Bedeutung, dass sich die Beschwerdeführer zu einem anderen Komplex als der historisch beantworteten Frage, ob es den Holocaust gegeben hat, geäußert hatten. Hätten die Beschwerdeführer den Holocaust geleugnet, so die deutliche Aussage des obiter dictum, wäre ihrer Beschwerde der Erfolg versagt geblieben. b) Witzsch ./. Deutschland I: Holocaust-Leugnung auf dem Postweg I Im Fall Witzsch I 274 hatte der Beschwerdeführer den Holocaust ausdrücklich geleugnet. In Briefen an bayerische Politiker hatte sich der Beschwerdeführer gegen die Anfang der 1990er Jahre geplante Novellierung des § 130 StGB gewandt, in deren Zuge die Auschwitz-Lüge ausdrücklich unter Strafe gestellt wurde. Diesen Briefen hatte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme beigefügt, in der er die Existenz von Gaskammern und Massentötungen während des „Dritten Reiches“ leugnete. Diese Behauptungen brachten ihm eine strafrechtliche Verurteilung wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener gemäß § 189 StGB (in der damaligen Fassung) ein. Vor dem EGMR berief sich Witzsch auf Art. 10 EMRK. Der EGMR stellte zunächst fest, dass ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 10 EMRK gegeben sei. Dieser Eingriff sei aufgrund eines Gesetzes erfolgt und habe den legitimen Zielen der Aufrechterhaltung der Ordnung, der Verbrechensverhütung sowie des Schutzes der Ehre und der Rechte anderer gedient. Zu 272 273 274
EGMR, Urt. v. 23.9.1998, Lehideux & Isorni, RJD 1998-VII, § 47. EGMR, Urt. v. 23.9.1998, Lehideux & Isorni, RJD 1998-VII, § 53. EGMR, Entsch. v. 20.4.1999, Witzsch I, Nr. 41448/98.
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Beginn der Prüfung der Notwendigkeit der Verurteilung in einer demokratischen Gesellschaft verwies der Gerichtshof im Stile der Kommission auf Art. 17 MRK sowie auf seine eigene Rechtsprechung im Fall Lehideux & Isorni, nach der Art. 17 EMRK der Leugnung des Holocaust den Schutz des Art. 10 EMRK per se entziehe. Daher überwiege das Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, der Verbrechensverhütung sowie dem Schutz der Rechte der Opfer des Nazi-Regimes die Äußerungsinteressen des Beschwerdeführers. Mit der Ausnahme des Verweises auf das Urteil im Fall Lehideux & Isorni findet sich in dieser Entscheidung gegenüber der Kommissionspraxis keine Abweichung. Dies war insofern ein wenig überraschend, als der Verweis auf das Urteil Lehideux & Isorni nahegelegt hätte, die Prüfung bereits auf Schutzbereichsebene abzubrechen. Nichtsdestotrotz führte der EGMR – mit gleichem Ergebnis – eine kursorische Rechtfertigungsprüfung durch. c) Garaudy ./. Frankreich: Revisionismus mit wissenschaftlichem Anstrich Roger Garaudy275 ist Autor des Buches „Die Geburtsmythen der Politik Israels“ 276. In diesem Buch finden sich zahlreiche revisionistische und negationistische Aussagen. Unter anderem bestreitet der Autor unter der Überschrift „Der Mythos des Holocaust“ die systematische Tötung der Juden, die vielmehr der Zwangsarbeit und Epidemien zum Opfer gefallen seien. Gaskammern habe es in den Konzentrationslagern nicht gegeben. Das Buch enthielt darüber hinaus weitere Aussagen, die von den französischen Gerichten als rassistische Verleumdung und Aufstachelung zum Rassenhass gewertet wurden. Im Anschluss an seine Verurteilung zu Bewährungs- und Geldstrafen durch die französischen Gerichte wandte sich der Beschwerdeführer an den EGMR und rügte eine Verletzung von Art. 10 EMRK. Hatte der EGMR die Beschwerde im Fall Witzsch I noch in knappen Worten zurückgewiesen, lieferte er in Garaudy eine eingehendere Begründung, die sich mit dem Inhalt der streitgegenständlichen Publikation wertend auseinandersetzte. Zunächst unterteilte die Kammer die Aussagen des Beschwerdeführers in jene, mit denen er den Holocaust leugnet und solche, in denen er sich kritisch mit der Politik Israels und dem Verhalten jüdischer Organisationen auseinandersetzt. Während der Gerichtshof im Hinblick auf die zweite Kategorie eine klassische Rechtfertigungsprüfung vornahm – die Aussagen des Beschwerdeführers also zunächst als durch Art. 10 EMRK geschützt ansah –, kam er bezüglich der Leugnung des Holocaust zu dem Ergebnis, dass Art. 17 EMRK dieser Aussage den Schutz des Art. 10 EMRK verweigere.
275 276
EGMR, Entsch. v. 24.6.2003, RJD 2003-IX. „Les mythes fondateurs de la politique israélienne“.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
Im Hinblick auf den ersten Komplex verknüpfte der Gerichthof seinen üblichen Verweis auf die grundlegende Bedeutung der Äußerungsfreiheit für die demokratische Gesellschaft bereits mit einem Hinweis auf deren Grenzen. Insbesondere gebe es keinen Zweifel daran, dass – wie jeder Äußerung, die sich gegen die der Konvention zugrunde liegenden Werte richte – der Rechtfertigung einer pronazistischen Politik der Schutz des Art. 10 EMRK nicht gewährt werden könne.277 Sodann folgte ein Verweis auf Art. 17 EMRK und die Feststellung, dass der Beschwerdeführer im Hinblick auf Existenz, Ausmaß und Schwere der Judenverfolgung gesicherte historische Tatsachen in Zweifel ziehe; solche Zweifel seien nicht legitimer Gegenstand einer öffentlichen Diskussion. Garaudy habe sich nicht darauf beschränkt, die Politik des Staates Israels zu kritisieren, sondern systematisch die Verbrechen der Nationalsozialisten an dem jüdischen Volk geleugnet. Ihm sei es nicht darum gegangen, einen Beitrag zur Wahrheitsfindung zu leisten. Vielmehr habe er bezweckt, das NS-Regime zu rehabilitieren und in der Konsequenz dessen Opfer der Geschichtsfälschung zu beschuldigen und zum Hass auf sie anzustacheln: „Denying crimes against humanity is therefore one of the most serious forms of racial defamation of Jews and of incitement to hatred of them. The denial or rewriting of this type of historical fact undermines the values on which the fight against racism and anti-Semitism are based and constitutes a serious threat to public order. Such acts are incompatible with democracy and human rights because they infringe the rights of others. Its proponents indisputably have designs that fall into the category of aims prohibited by Article 17 of the Convention. The Court considers that the main content and general tenor of the applicant’s book, and thus its aim, are markedly revisionist and therefore run counter to the fundamental values of the Convention, as expressed in its Preamble, namely justice and peace. It considers that the applicant attempts to deflect Article 10 of the Convention from its real purpose by using his right to freedom of expression for ends which are contrary to the text and spirit of the Convention. Such ends, if admitted, would contribute to the destruction of the rights and freedoms guaranteed by the Convention. Accordingly, the Court considers that, in accordance with Article 17 of the Convention, the applicant cannot rely on the provisions of Article 10 of the Convention regarding his conviction for denying crimes against humanity.“ 278
Auf dieser Grundlage wies der Gerichtshof die Beschwerde als offensichtlich unbegründet und damit unzulässig ab. Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist vor allem, dass dem Beschwerdeführer, anders als in Witzsch I, bereits die Berufung auf Art. 10 EMRK versagt wird. Der Gerichtshof wendet Art. 17 EMRK als Schutzbereichsbegrenzungsnorm an und verzichtet in der Folge auf eine Abwägung eventuell widerstreiten277 EGMR, Entsch. v. 24.6.2003, Garaudy, RJD 2003-IX, Abs. 1 a. E. der Entscheidungsgründe („En Droit“). 278 EGMR, Entsch. v. 24.6.2003, Garaudy, RJD 2003-IX, Abs. 1 (i) der Gründe.
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der Interessen. Dabei wertet er die Leugnung des Holocaust nicht schlicht als eine falsche Tatsachenbehauptung, sondern bezeichnet sie als Ausdruck einer mit den Grundwerten der Konvention unvereinbaren politischen Ideologie. Diese „ideologische Unvereinbarkeit“ verbietet dem Beschwerdeführer, die Rechte aus Art. 10 Abs. 1 EMRK für sich in Anspruch zu nehmen. d) Witzsch ./. Deutschland II: Holocaust-Leugnung auf dem Postweg II Auch der zweite Fall Witzsch279 wurde durch einen Brief des Beschwerdeführers – diesmal an einen prominenten Historiker – ausgelöst. Darin stellte Witzsch die Behauptung auf, es sei unvertretbar zu verbreiten, Hitler und die NSDAP hätten einen Massenmord an den Juden geplant, initiiert und durchgeführt. Das Amtsgericht Fürth verurteilte den Beschwerdeführer wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener zu einer dreimonatigen Freiheitsstrafe. Das Landgericht Nürnberg-Fürth bestätigte diesen Schuldspruch. Der Beschwerdeführer – durch seine frühere Straßburger Erfahrung offenbar nicht abgeschreckt – wandte sich erneut an den EGMR und rügte, unter anderem, eine Verletzung von Art. 10 EMRK. Hatte der EGMR im Fall Garaudy seiner Entscheidung noch eine ausführlichere Begründung gegeben, so fasste er sich nunmehr kurz. Zwar habe der Beschwerdeführer nicht ausdrücklich den Völkermord an den Juden geleugnet, allerdings eine historische Tatsache von vergleichbarer Bedeutung bestritten, nämlich dass Hitler und die NSDAP den Massenmord an den Juden geplant, initiiert und durchgeführt hätten. Die politische Überzeugung des Beschwerdeführers, die in dieser Äußerung Ausdruck finde, sei mit der EMRK unvereinbar, so dass sich der Beschwerdeführer in Anwendung des Art. 17 EMRK nicht auf Art. 10 EMRK berufen könne. Der EGMR wies die Beschwerde als offensichtlich unbegründet ab. 4. Zwischenfazit Die Spruchpraxis der Kommission zur Holocaust-Leugnung weist auf allen drei Ebenen der Grundrechtsprüfung ein hohes Maß an Parallelität auf. Ein Fall, in dem die Kommission von dieser Einheitlichkeit abgewichen wäre oder gar entschieden hätte, die Beschwerde dem Gerichtshof vorzulegen, findet sich nicht. Vielmehr ist das Bestreben der EKMR unverkennbar, diese Beschwerden so knapp und klar wie möglich als offensichtlich unbegründet abzuweisen. Entscheidender inhaltlicher Gesichtspunkt war stets, dass nach dem Dafürhalten der Kommission durch die Leugnung des Holocaust die nationalsozialistische Ideologie beworben werden sollte. Da diese Ideologie aber mit dem politischen Leitbild der Konvention unvereinbar ist, war eine Berufung auf Art. 10 EMRK zu deren 279
EGMR, Entsch. v. 13.12.2005, Nr. 7485/03.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
Verbreitung in den Augen der Kommission letztlich rechtsmissbräuchlich. In den jeweils eher stichwortartigen Begründungen findet sich regelmäßig ein Verweis auf Art. 17 EMRK, in dessen Licht insbesondere die in Art. 10 Abs. 2 EMRK normierten Schranken der Äußerungsfreiheit anzuwenden seien. Auf Schutzbereichsebene nahm die Kommission allerdings keine Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen vor. Stets ging sie davon aus, dass der Schutzbereich von Art. 10 EMRK eröffnet war. Von dieser Spruchpraxis unterscheidet sich der EGMR in einem Punkt. Zwar hat er in den drei oben beschriebenen Fällen die Beschwerden, wie auch die Kommission, für offensichtlich unbegründet und daher unzulässig erklärt. Allerdings ergibt sich diese offensichtliche Unbegründetheit bereits aus der Nichteröffnung des Schutzbereichs von Art. 10 EMRK. Der EGMR seit der Entscheidung Garaudy davon aus, dass es eine bestimmte Kategorie historisch gesicherter Tatsachen gibt, deren Richtigkeit außer Zweifel steht und deren Bestreiten in direktem Widerspruch zu den Werten steht, auf denen die Konvention beruht. Würde man einer solchen, den Grundwerten der Konvention zuwiderlaufenden Äußerung den Schutz des Art. 10 EMRK gewähren, würde die Konvention, so der Gerichtshof, zur Waffe gegen sich selbst. Dies zu vermeiden sei Zweck des Art. 17, der die Berufung auf Art. 10 EMRK bereits im Ansatz versagt, also als Schutzbereichsbeschränkung wirkt. Während also die Kommission Art. 17 EMRK lediglich den allgemeinen Gedanken entnahm, dass Meinungsäußerungen, die sich gegen die der Konvention zugrunde liegenden Wertvorstellungen richten, von geringer Schutzwürdigkeit sind, wendet der Gerichtshof diese Vorschrift unmittelbar an, um dem Beschwerdeführer den Schutz des Art. 10 EMRK von vornherein zu verweigern. Sowohl die Kommission als auch der Gerichtshof begründen ihre Entscheidungen stark inhaltsbezogen. So sieht die Kommission die Eingriffe in die Äußerungsfreiheit nicht etwa deswegen als gerechtfertigt an, weil die fraglichen Tatsachenbehauptungen erwiesenermaßen falsch und daher minder schutzwürdig wären. Auch der Gerichtshof stellt nicht maßgeblich darauf ab, dass derjenige, der den Holocaust leugnet, bewusst die Unwahrheit sagt. Beide Konventionsorgane sehen in der Leugnung des Holocaust vielmehr den Ausdruck einer politischen Ideologie, die mit den fundamentalen Wertvorstellungen, die die Konvention voraussetzt, unvereinbar ist. Die Behauptung, es habe den Holocaust nie gegeben, darf also gerade wegen der hierdurch verbreiteten politischen Überzeugung verboten werden.
II. Volksverhetzende und zum Hass aufstachelnde Äußerungen Die in der soeben beschriebenen Fallgruppe der Leugnung des Holocaust zusammengefassten Entscheidungen zeichnen sich durch zahlreiche Gemeinsamkeiten aus. Die streitbefangenen Äußerungen waren im Kern inhaltsgleich. Sie
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betrafen das gleiche historische Ereignis. Es handelte sich um Tatsachenbehauptungen. Dass der Holocaust stattgefunden hat, ließe sich (auch) mit den Mitteln der Beweisaufnahme feststellen. Sämtliche Behauptungen, die den Holocaust als historische Tatsache in Abrede stellen, sind erwiesenermaßen falsch. In der Konsequenz sind die oben beschriebene Entscheidungen der Konventionsorgane nur begrenzt sachverhalts- und einzelfallabhängig. Die Leugnung des Holocaust erfährt stets die gleiche konventionsrechtliche Behandlung, unabhängig davon, wer eine solche Behauptung aufstellt und in welchem Forum, vor welchem zeitgeschichtlichen oder politischen Hintergrund dies geschieht. Wird der Holocaust geleugnet, kann die entsprechende Äußerung verboten werden. Die beschriebene Gleichförmigkeit dieser Fälle erleichtert die rechtliche Analyse. Unterschiede und Tendenzverschiebungen in der rechtlichen Betrachtungsweise – soweit es sie gab – waren vergleichsweise leicht feststellbar, weil Besonderheiten des Sachverhalts als Ursache ausschieden. Den Entscheidungen zu volksverhetzenden und zu Gewalt aufrufenden Meinungsäußerungen, denen sich die Untersuchung nunmehr zuwendet, fehlen diese tatsächlichen Parallelen. Etwas anderes gilt nur für die so genannten „TürkeiFälle“. Diese spielen vor dem Hintergrund des seit Mitte der 1980er Jahre schwelenden Konflikts zwischen den türkischen Sicherheitskräften und bewaffneten Mitgliedern der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Gegenstand dieser Individualbeschwerden waren stets strafrechtliche Verurteilungen, die auf Äußerungen beruhten, die von den türkischen Gerichten als separatistisch und/oder zur Gewaltanwendung anstachelnd beurteilt worden waren. 1. Volksverhetzende Meinungsäußerungen in der Straßburger Spruchpraxis Die Konventionsorgane haben sich in einer Reihe von Urteilen mit Individualbeschwerden befasst, die die strafrechtliche Verurteilung der Beschwerdeführer wegen Volksverhetzung betrafen. In der Regel wiesen diese Fälle einen neonazistischen oder zumindest rechtsradikalen Hintergrund auf, häufig handelte es sich um antisemitische Äußerungen. a) Glimmerveen & Hagenbeek ./. Niederlande: Die Niederländische Volksunion In dem 1979 von der Europäischen Kommission für Menschenrechte entschiedenen Fall Glimmerveen & Hagenbeek280 ging es zum einen um eine strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers Glimmerveen, zum anderen um die
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EKMR, Entsch. v. 11.10.1979, DR 18, 187 ff.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
Nichtzulassung beider Beschwerdeführer zu den Wahlen zum Den Haager Stadtrat. Die Beschwerdeführer waren Mitglieder der bereits zum damaligen Zeitpunkt verbotenen Niederländischen Volksunion. Nach deren Programm bedurfte jedes Volk einer eigenen Nation; dem Allgemeininteresse sollte nur in eine ethnisch streng homogene Gesellschaft gerecht werden. Der Beschwerdeführer Glimmerveen wurde in Besitz eines Flugblattes angetroffen, in dem er – im Einklang mit der Ideologie der verbotenen Volksunion – die Ausweisung sämtlicher „Türken, Surinamesen und anderer so genannter Gastarbeiter“ ankündigte, sobald die Volksunion die Macht übernommen habe. Glimmerveen wurde aufgrund eines Volksverhetzungstatbestands zu einer Freiheitsstrafe von zwei Wochen verurteilt. Beide Beschwerdeführer wandten sich auch gegen die Entscheidung, einer von ihnen aufgestellten Liste die Teilnahme an den Wahlen zum Stadtrat von Den Haag zu versagen. Die Behörden hatten geltend gemacht, dass es sich bei dieser Liste um eine unzulässige Ersatzorganisation der verbotenen Niederländischen Volksunion handele. Die EKMR wies die sowohl auf Art. 10 EMRK als auch auf Art. 3, 1. ZP EMRK (passives und aktives Wahlrecht) gestützten Beschwerden als offensichtlich unbegründet ab. Zwar handele es sich bei beiden angegriffenen Maßnahmen um Eingriffe auch in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK. Die Äußerungsfreiheit bringe aber nach Art. 10 Abs. 2 EMRK Pflichten und Verantwortung mit sich, die Art. 17 EMRK konkretisiere. Die Kommission bewertete das Flugblatt sodann inhaltlich und stellte fest, dass die von der Volksunion propagierte Politik „klare Elemente der Rassendiskriminierung“ enthielt. Rassendiskriminierung sei jedoch unter der EMRK und nach anderen internationalen Vereinbarungen verboten. Konkret verwies die EKMR auf Art. 14 EMRK, das Verbot der Kollektivausweisung nach dem 4. Zusatzprotokoll zur EMRK, sowie das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung aus dem Jahr 1965. Die Verbreitung der politischen Ideen der Beschwerdeführer sei daher eine der von Art. 17 EMRK erfassten Aktivitäten. „The applicants are essentially seeking to use Article 10 to provide a basis under the Convention for a right to engage in these activities which are, as shown above, contrary to the text and spirit of the Convention and which right, if granted, would contribute to the destruction of the rights and freedoms referred to above.“ 281
Den Beschwerdeführer war somit kraft des Art. 17 EMRK die Berufung auf Art. 10 EMRK versagt. Gleiches galt für Art. 3 1. ZP EMRK.282 281
EKMR, Entsch. v. 11.10.1979, DR 18, 187 (194). Ganz ähnlich in Begründung und Ergebnis EKMR, Entsch. v. 14.7.2983, T. ./. Belgien, DR 34, 158 ff. 282
E. Rechtsprechungsanalyse
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b) Kühnen ./. Deutschland: Ein „prominenter“ deutscher Neonazi Im Fall Kühnen283 hat sich die EKMR eng an dem in Glimmerveen & Hagenbeek entwickelten Begründungsmuster orientiert. Der Beschwerdeführer war in den 1980er Jahren einer der prominentesten deutschen Neonazis. 1983 nahm er in der „ANS/NA“ 284, einer neonazistischen Organisation, deren erklärtes Ziel die Wiedererrichtung der NSDAP war, eine führende Stellung ein. Im Rahmen dieser Tätigkeit verbreitete der Beschwerdeführer zahlreiche Publikationen, unter anderem einen so genannten „Frankfurter Aufruf“, in dem er den Kampf für ein „unabhängiges, sozialistisches Großdeutschland“ propagierte. In anderen öffentlichen Erklärungen äußerte sich der Beschwerdeführer rassistisch und antisemitisch und sprach davon, Gegner zukünftig „auszuschalten“. In der Folge wurde der Beschwerdeführer vom Landgericht Frankfurt nach § 86 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt. Vor den Straßburger Organen machte er eine Verletzung von Art. 10 EMRK geltend. Die Beschwerde wurde als offensichtlich unbegründet abgewiesen. Zwar greife die Verurteilung des Beschwerdeführers in dessen Rechte aus Art. 10 EMRK ein. Die Kommission zog aber, wie schon in Glimmerveen & Hagenbeek, Art. 17 EMRK heran. Die propagierte Ideologie, insbesondere die dort befürwortete rassistische und religiöse Diskriminierung, sei mit den in der Konvention zum Ausdruck kommenden und ihr zugrunde liegenden Werten unvereinbar. Der Beschwerdeführer habe im Ergebnis versucht, die Rechte und Freiheiten der Konvention zu deren Zerstörung zu missbrauchen. Dies zu verhindern, sei in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. c) Jersild ./. Dänemark: Ein Interview mit Rechtsradikalen Der Sachverhalt, der der Entscheidung der Großen Kammer im Fall Jersild 285 zugrunde lag, betraf nur mittelbar fremdenfeindliche und volksverhetzende Äußerungen. Der Beschwerdeführer, Jens Olaf Jersild, war Journalist für ein Nachrichtenmagazin des dänischen Fernsehens. Im Rahmen der Dreharbeiten zu einer Reportage über eine neonazistische Jugendgruppe, die „Greenjackets“, interviewte er einige ihrer Mitglieder. Auf die anstößigsten Bemerkungen zusammengeschnitten, wurde dieses Interview im Abendprogramm des dänischen Fernsehens ausgestrahlt. Die Jugendlichen bezeichneten Ausländer als „Nigger“ und „Tiere“, 283 284 285
EKMR, Entsch. v. 12.5.1988, DR 56, 205 ff. Die Abkürzung „ANS“ stand für „Aktionsfront Nationaler Sozialisten“. EGMR, Urt. v. 23.9.1994, Series A 298.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
die in „Zimbabwe-Kleidung“ herumliefen, sich in „Hula-Hula-Sprache“ ausdrückten und mit Drogen dealten. Der Beschwerdeführer wurde wegen der Ausstrahlung dieser Aussagen der Beihilfe zur Volksverhetzung für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe verurteilt.286 Im Mittelpunkt der konventionsrechtlichen Auseinandersetzung stand die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Journalist für Aussagen (strafrechtlich) in Haftung genommen werden kann, die er selbst nicht getätigt, aber im Rahmen eines Interviews eingeholt hat. Der EGMR sah in der Verurteilung Jersilds einen Verstoß gegen Art. 10 EMRK und begründete dies zum einen mit der Aufgabe der Presse, die Öffentlichkeit umfassend und realitätsgetreu über gesellschaftliche und politische Vorgänge zu informieren, zum anderen mit der enormen Relevanz von Interviews als Mittel der Berichterstattung. Ein Sondervotum von sieben Richtern verneinte hingegen eine Verletzung von Art. 10 EMRK. Der Beschwerdeführer habe sich von den Aussagen der „Greenjackets“ nicht hinreichend distanziert. Jersild hatte die Äußerungen der „Greenjackets“ nur verbreitet. Hätte sich der Schutz des Art. 10 EMRK auch auf die Äußerungen der Jugendlichen erstreckt, wäre eine Verbreiterhaftung des Beschwerdeführers mit der Konvention von vornherein unvereinbar gewesen. Der EGMR stellte aber, unter Verweis auf die Entscheidungen der Kommission in Glimmerveen & Hagenbeek und Kühnen ohne eigene Begründung in einem Satz fest, dass die Äußerungen der Greenjackets nicht den Schutz von Art. 10 EMRK beanspruchen könnten: „There can be no doubt that the remarks in respect of which the Greenjackets were convicted were more than insulting to members of the targeted groups and did not enjoy the protection of Article 10.“ 287
So spärlich diese Begründung ist und so sehr sie offen lässt, ob es sich hierbei um eine Schutzbereichsbegrenzung oder das vorweggenommene Ergebnis einer Abwägung auf Rechtfertigungsebene handelt, so häufig hat der EGMR in der Folgezeit auf diese Passage im Urteil Jersild Bezug genommen. Dieses obiter dictum liefert einen weiteren deutlichen Hinweis auf die Bereitschaft des EGMR, aufgrund seiner Bewertung des (politischen) Inhalts einer Äußerung über deren Schutzwürdigkeit zu entscheiden. Im Unterschied zu Lehideux & Isorni handelt es sich hier um die Bewertung einer Meinungsäußerung, nicht einer offensichtlich falschen Tatsachenbehauptung. Dies verdeutlicht, dass Anknüpfungspunkt der Bewertung durch den EGMR nicht der Wahrheitsgehalt einer Äußerung ist, sondern die politische Botschaft, die sie ausdrückt und vertritt.
286 287
Dazu Filser, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, S. 588 ff. EGMR, Urt. v. 23.9.1994, Jersild, Series A 298, § 35.
E. Rechtsprechungsanalyse
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d) Schimanek ./. Österreich: Anführer einer nationalsozialistischen Kameradschaft In dem Fall Schimanek288 hatte sich der EGMR mit der Verurteilung eines österreichischen Staatsbürgers wegen nationalsozialistischer Betätigung zu befassen. Dabei begegnete er einer österreichischen Besonderheit, dem sogenannten Verbotsgesetz von 1947.289 Dieses im Verfassungsrang stehende Gesetz verbietet jede Form nationalsozialistischer Betätigung. Der Beschwerdeführer war zunächst von einem Geschworenengericht wegen Verstoßes gegen § 3a Nr. 2 des Verbotsgesetzes zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt worden.290 Diese Verurteilung wurde durch den österreichischen Obersten Gerichtshof im Schuldspruch bestätigt, das Strafmaß wurde jedoch auf acht Jahre Freiheitsstrafe gesenkt. Beide Gerichte hatten es als erwiesen angesehen, dass der Beschwerdeführer als Anführer einer Kameradschaft zahlreiche nationalsozialistische Aktivitäten (etwa sog. Wehrsportübungen) durchgeführt und die Organisation der VAPO („Volkstreue Außerparlamentarische Opposition“), deren erklärtes Ziel die – notfalls gewaltsame – Errichtung eines „Großdeutschlands“ war, geleitet hatte. Die auch auf Art. 10 EMRK gestützte Beschwerde wies der EGMR als offensichtlich unbegründet ab. Im Lichte der Vergangenheit und des unmittelbaren historischen Hintergrunds der Konvention sei das Verbot der Verbreitung nationalsozialistischer Ideen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. Unter Beachtung von Art. 17 EMRK erweise sich der Eingriff in die Äußerungsfreiheit des Beschwerdeführer als gerechtfertigt, zumal die von ihm unterstütze Ideologie des Nationalsozialismus mit Demokratie und Menschenrechten unvereinbar sei. e) Norwood ./. Vereinigtes Königreich: Ein islamfeindliches Plakat Die Entscheidung des Gerichtshofs im Fall Norwood 291 aus dem November 2004 betrifft – wie die zuvor erläuterten Entscheidungen – eine rechtsextreme Meinungsäußerung. Die Entscheidung ist allerdings von besonderem Interesse, weil die Meinungsäußerung nicht antisemitischer, sondern antiislamischer Natur war und vor dem Hintergrund der Ereignisse des 11. Septembers 2001 erfolgte.
288
EGMR, Entsch v. 1.2.2000, Nr. 32307/96. Vgl. dazu umfassend Müller, Verbotsgesetz im Spannungsverhältnis zur Meinungsfreiheit. 290 § 3a Nr. 2 des Verbotsgesetzes verbietet die Gründung und führende Betätigung in einer Verbindung, „deren Zweck es ist, durch Betätigung ihrer Mitglieder im nationalsozialistischen Sinn die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Republik Österreich zu untergraben oder die öffentliche Ruhe und den Wiederaufbau Österreichs zu stören“. 291 EGMR, Entsch. v. 16.11.2004, RJD 2004-XI. 289
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
Mark Anthony Norwood war ein regionaler Anführer der British National Party (BNP), die der EGMR ausdrücklich der rechtsextremen Szene zuordnete. Zwischen November 2001 und Januar 2002 hängte er ein großflächiges Plakat der BNP in sein Fenster. Das Plakat zeigte beiden in Flammen stehenden Türme des World Trade Centers und war mit der Parole „Islam out of Britain – Protect the British People“ sowie einem durchgestrichenen Halbmond versehen. Wegen des zur Schau Stellens dieses Plakats wurde der Beschwerdeführer zu einer Geldstrafe von 300 Pfund verurteilt.292 Der EGMR wies die auf Art. 10 EMRK gestützte Beschwerde als offensichtlich unbegründet ab. Dass der Beschwerdeführer in ländlicher Umgebung wohnte und kein Muslim das Plakat je zu Gesicht bekommen hatte, hielt der Gerichtshof für unbeachtlich. Er konzentrierte sich auf eine inhaltliche Bewertung des Plakats, das er als öffentlichen Angriff auf alle Muslime im Vereinigten Königreich deutete. Diese politische Aussage sei mit den Werten der Konvention, insbesondere der Toleranz, dem sozialen Frieden und der Diskriminierungsfreiheit, unvereinbar. In Anwendung des Art. 17 EMRK sei dem Beschwerdeführer daher die Berufung auf Art. 10 EMRK versagt. Dieser Fall zeigt mit besonderer Deutlichkeit, dass sich der EGMR auch bei einem offenbar eher folgenlosen Anlass nicht scheut, Art. 17 EMRK anzuwenden.293 f) Pavel Ivanov ./. Russland: Antisemitische Veröffentlichungen im fernen Russland Weiter hatte sich der EGMR im Fall Pavel Ivanov294 mit antisemitischen Meinungsäußerungen zu befassen. In einer von ihm selbst herausgegeben Zeitung rief Ivanov unter anderem dazu auf, die Juden aus dem gesellschaftlichen Leben auszuschließen und behauptete, sie seien für sämtliche politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme verantwortlich. Die russischen Gerichte verurteilten ihn wegen der Anstachelung zu religiösem, nationalistischem und rassistischem Hass zu einer Geldstrafe von 10.000 Rubel (ca. 300 Euro). Der EGMR wies die Beschwerde Ivanovs als offensichtlich unbegründet ab. In ebenso knappen wie klaren Worten referierte der Gerichtshof zunächst seine Entscheidungspraxis:
292 Der Tatbestand des § 5 des Public Order Act 1986 entzieht sich einer Zusammenfassung: „Displaying, with hostility towards a racial or religious group, any writing, sign or other visible representation which is threatening, abusive or insulting, within the sight of a person likely to be caused harassment, alarm or distress by it.“; Näheres zum Public Order Act bei Roberston/Nicol, Media Law, S. 217 f. 293 Siehe auch das Zitat auf S. 73. 294 EGMR, Entsch. v. 20.2.2007, Pavel Ivanov; Nr. 35222/04.
E. Rechtsprechungsanalyse
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„The Court has held, in particular, that speech which is incompatible with the values proclaimed and guaranteed by the Convention would be removed from the protection of Article 10 by virtue of Article 17 of the Convention [. . .]. The examples of such speech examined by the Court have included statements denying the Holocaust, justifying a pro-Nazi policy, alleging the prosecution of Poles by the Jewish minority and the existence of inequality between them, or linking all Muslims with a grave act of terrorism.“ 295
Die Äußerungen des Beschwerdeführers seien mit den Grundwerten der Konvention, insbesondere mit den Prinzipien der Toleranz, des sozialen Friedens und der Diskriminierungsfreiheit unvereinbar und daher kraft Art. 17 EMRK nicht durch Art. 10 EMRK geschützt. Diese Entscheidung bringt die auf die jeweilige Meinung bezogene Vorgehensweise des EGMR besonders klar auf den Punkt. 2. Die „Türkei-Fälle“ Der EGMR hat eine mittlerweile kaum mehr überschaubare Vielzahl von Urteilen zu Art. 10 EMRK gefällt, die im Zusammenhang zu dem türkischen „Kurden-Konflikt“ stehen. Ein hinreichend differenzierter historischer Abriss dieses Konflikts würde den Rahmen der Arbeit sprengen und ist nicht Voraussetzung einer Analyse der in diesem Zusammenhang ergangenen Entscheidungen der Konventionsorgane. Auch der EGMR fasst sich in seinen Urteilen regelmäßig kurz. Er verweist darauf, dass es seit 1985 zu schweren Unruhen im Südosten der Türkei gekommen ist. Die Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und Mitgliedern der kurdischen Arbeiterpartei PKK hätten zu jeweils rund 4.000 Opfern auf beiden Seiten geführt. Seit 1987 gelte in zehn von elf südosttürkischen Provinzen der Ausnahmezustand.296 In zeitlicher Hinsicht lassen sich die nunmehr besprochenen Entscheidungen des EGMR in drei Kategorien unterteilen. Zunächst erging im Jahre 1994 – noch durch den alten Gerichtshof, also vor Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls – das Urteil im Fall Zana.297 Am 8. Juli 1999 entschied der EGMR dreizehn Fälle298, die allesamt strafrechtliche Verurteilungen wegen prokurdischer Äußerungen betrafen. Die Leitentscheidung erging dabei im Fall Sürek (No. 1).299 In eine dritte Kategorie fallen die nach 1999 ergangenen Entscheidungen des EGMR, die in erheblichem Umfang auf die Entscheidungen aus dem Jahr 1999 zurückgreifen.
295
EGMR, Entsch. v. 20.2.2007, Pavel Ivanov; Nr. 35222/04, § 1. EGMR, Urt. v. 25.11.1997, Zana, RJD 1997-VII, § 10., vgl. die Verweise etwa in EGMR, Urt. v. 8.7.199, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, § 52; Urt. v. 8.7.1999, Arslan, Nr. 23462/94, § 40. 297 EGMR, Urt. v. 25.11.1997, Zana, RJD 1997-VII. 298 Es handelt sich um die Urteile Ceylan, Arslan, Gerger, Polat, Karatas ¸, Erdogdu & Ince, Baskaya & Okcuoglu, Okcuoglu, Sürek & Özdemir, sowie Sürek (No. 1 bis 4). 299 EGMR, Urt. v. 8.7.199, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV. 296
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
a) Zana ./. Türkei: Ein inhaftierter ehemaliger Bürgermeister gibt ein seltsames Interview Der Beschwerdeführer im Fall Zana war der ehemalige Bürgermeister von Diyarbarkir. Vom Militärgefängnis aus gab er einer großen türkischen Tageszeitung ein Interview, in dem er zum einen erklärte, die „nationale Befreiungsbewegung PKK“ zu unterstützen, sich zum anderen aber gegen Massaker aussprach. Sodann sagte er: „Jeder kann Fehler machen und die PKK tötet Frauen und Kinder aus Versehen.“ Aufgrund dieser Äußerungen wurde der Beschwerdeführer zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr wegen „öffentlicher Rechtfertigung einer Straftat“ und „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“ nach den Artikeln 168 und 312 des türkischen Strafgesetzbuchs verurteilt.300 aa) Entscheidung Der Gerichtshof verneinte eine Verletzung von Art. 10 EMRK. Die Verurteilung des Beschwerdeführers habe dem legitimen Ziel des Schutzes der nationalen und öffentlichen Sicherheit gedient. Auch sei der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, also insbesondere nicht unverhältnismäßig gewesen. Zwar sei die Äußerung widersprüchlich und doppeldeutig. Der Beschwerdeführer bekenne sich zur Unterstützung der PKK, lehne Massaker jedoch ab. Auch sei nicht klar, ob er mit dem Verweis auf versehentlich getötete Frauen und Kinder seine Ablehnung von Massakern begründen oder diese „Versehen“ entschuldigen wollte. Aufgrund der besonders angespannten Lage in der Türkei und des zeitlichen Zusammenhangs zwischen den Äußerungen des Beschwerdeführers und den Mordanschlägen der PKK, die er noch dazu als Befreiungsbewegung bezeichnet habe, sei der Eingriff dennoch gerechtfertigt. Der Beschwerdeführer genieße als ehemaliger Bürgermeister besondere Aufmerksamkeit, er habe seine Aussagen über eine landesweit erscheinende, auflagenstarke Tageszeitung verbreitet. Sein Interview sei daher geeignet gewesen, zu einer weiteren Verschärfung der Situation beizutragen. Dies rechtfertige das behördliche Einschreiten. Dieses Ergebnis war innerhalb des Gerichtshofes stark umstritten. Eine erste Gruppe von „Dissentern“ 301 stellte darauf ab, dass dem Beschwerdeführer angesichts der Widersprüchlichkeit seiner Aussagen im nationalen Verfahren hätte Gelegenheit gegeben werden müssen, deren Bedeutung klarzustellen. Darüber hinaus leuchte nicht ein, warum den Aussagen eines ehemaligen Bürgermeisters, der sich noch dazu in Gefangenschaft befand, eine derart hohe, „explosive“ Bedeutung beizumessen sein solle. 300
EGMR, Urt. v. 25.11.1997, Zana, RJD 1997-VII. Es handelt sich um die Richter van Dijk, Palm, Loizou, Mifsud Bonnici, Jambrek, Kuris und Levits. 301
E. Rechtsprechungsanalyse
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Noch deutlicher wird Richter Thor Vilhjalmsson, der in drei kurzen Absätzen erklärt, die zentrale Aussage des Interviews sei, dass der Beschwerdeführer zwar die Ziele der PKK teile, deren Methoden indes ablehne. Wieso diese in einer Istanbuler Zeitung veröffentlichten Worte eine Gefahr für die nationale oder öffentliche Sicherheit und die territoriale Unversehrtheit darstellten oder eine Billigung krimineller Aktivitäten bedeuteten, sei nicht zu erkennen. bb) Bewertung Der EGMR ließ bereits zwei Umstände zur Rechtfertigung des Eingriffs ausreichen: Die angespannte Gesamtsituation im Südosten der Türkei, also den politisch-gesellschaftlichen Kontext, und die aus Sicht des Gerichtshofs nachvollziehbare Einschätzung der türkischen Stellen, die Äußerungen des Beschwerdeführers seien geeignet gewesen, diese Spannungen zu verschärfen. Dabei gilt: Je angespannter und aufgeladener die Stimmung, desto geringer die Anforderungen an die Äußerung als solche. Die Kritik der Sondervoten ist berechtigt. Die Verurteilung Zanas begegnet bereits deswegen Bedenken, weil die nationalen Gerichte ihrer strafrechtlichen Verurteilung die für den Beschwerdeführer nachteiligste Deutung zugrunde gelegt haben.302 Der EGMR erkennt diese Mehrdeutigkeit, wendet sie jedoch gegen den Beschwerdeführer. Dieser habe erkennen müssen, dass seinen Doppeldeutigkeiten in der aufgeheizten Atmosphäre des schwelenden Konflikts besondere Bedeutung beigemessen werden würde. Wie naheliegend ein anderes, unverfängliches Verständnis der Äußerung Zanas war, zeigt indes die abweichende Meinung des Richters Thor Vilhjalmsson. Auch das zweite Sondervotum betont die Doppeldeutigkeit der Äußerungen und legt dar, dass es ein Gebot der Fairness gewesen wäre, dem Beschwerdeführer im nationalen Verfahren zumindest die Möglichkeit zu geben, sich zu seiner Aussage zu erklären. Der Gerichtshof übergeht im Urteil Zana ferner, dass der Aussage jeder Appellcharakter fehlt. Die Überlegungen, mit denen der Gerichtshof die besondere 302 Im Fall EGMR, Urt. v. 1.2.2007, Ferihumer, Nr. 30547/03, §§ 25 ff., in dem es um einen Unterlassungsanspruch ging, betonte der Gerichtshof, dass die dortige Äußerung, die von den nationalen Gerichten zum Nachteil des Beschwerdeführers als Tatsachenbehauptung gedeutet worden war, auch als Werturteil zu verstehen gewesen sein könnte. Von dieser – für den Beschwerdeführer deutlich günstigeren – Deutung als Werturteil ging der EGMR in seinen weiteren Erwägungen aus. Im deutschen Verfassungsrecht ist ebenfalls anerkannt, dass, jedenfalls für die Entscheidung über repressive Maßnahmen (strafrechtliche Verurteilung, Schadensersatz, Entschädigung) bei mehrdeutigen Äußerungen von der meinungsfreiheitsfreundlichsten Deutungsvariante auszugehen ist. Vgl. aus der deutschen Verfassungsrechtsprechung etwa BVerfG NJW 1999, 204 (205): „Insbesondere dürfen die Gerichte . . . im Fall von Mehrdeutigkeit nicht von der zur Verurteilung führenden Deutung ausgehen, ehe sie andere Deutungsmöglichkeiten mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen haben.“; ferner BVerfGE 93, 266 (293).
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
Gefährlichkeit der Worte des Beschwerdeführers begründen möchte, überzeugen nicht. Besonders bedenklich ist, dass dem Beschwerdeführer seine frühere politische Aktivität und der Umstand, dass er einmal Bürgermeister der Stadt Diyarbakir war, zum Verhängnis werden. Hieraus die besondere Gefährlichkeit seiner Worte abzuleiten, war sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht fragwürdig. In den Feststellungen des Urteils findet sich keine Aussage darüber, wann der Beschwerdeführer Bürgermeister war und inwiefern er nach wie vor erhöhte Aufmerksamkeit genießt. Offenbar unterstellt der Gerichtshof dies zu Lasten von Zana. Und: Nimmt man das Urteil beim Wort, bedeutet es, dass derjenige, der sich verstärkt politisch engagiert, dessen Worte daher besondere Aufmerksamkeit finden und der sich vermehrt öffentlicher Kritik aussetzt, mit dem Florett zu fechten hat, während jemand, der kein politisches Engagement an den Tag legt, getrost mit dem Säbel zuschlagen darf. Diese Konsequenz ist mit dem auch demokratisch-funktional geprägten Verständnis von Art. 10 EMRK kaum in Einklang zu bringen. b) Die dreizehn Urteile vom 8. Juli 1999 Im Jahr 1999 hatte sich der EGMR erneut mit einer Reihe von Fällen auseinanderzusetzen, die vor dem Hintergrund des Kurden-Konflikts spielten und Art. 10 EMRK betrafen. Offenbar hatte das Urteil Zana bei den türkischen Behörden den (nachvollziehbaren) Eindruck erweckt, der Bekämpfung prokurdischer Äußerungen seien kaum konventionsrechtliche Grenzen gesetzt. aa) Das nationale Recht Diese dreizehn Fälle303 ähneln sich in tatsächlicher Hinsicht. Die angegriffenen Verurteilungen beruhten in der Regel auf Art. 311 und 312 des türkischen Strafgesetzbuches und § 8 des türkischen „Terrorismusverhütungsgesetzes“. Die Art. 311 f. verbieten den Aufruf zu Straftaten. Sofern diese Aufforderung ein volksverhetzendes Element beinhaltet – etwa gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe gerichtet ist – greift eine Strafschärfung. Erfolgt die Aufforderung öffentlich, also etwa über die Medien, ist die Strafe zu verdoppeln. § 8 des Terrorismusverhütungsgesetzes stellt seinerseits bestimmte Verhaltensweisen unter Strafe, die – nach Auffassung des türkischen Gesetzgebers – darauf gerichtet sind, die territoriale Integrität und Unteilbarkeit der Nation zu gefährden. Wird dieser Tatbestand über Print- oder andere Massenmedien verwirklicht, kommt es wiederum zu einer Strafschärfung. Die strafrechtliche Haftung erstreckt sich dabei auch auf die Herausgeber der Printmedien.
303
Vgl. die Aufstellung in Anm. 298.
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bb) Sachverhalt im Fall Sürek No. 1: Die Leserbriefe Sürek war Hauptanteilseigner einer türkischen Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die in Istanbul eine Wochenzeitung verlegte. In deren Ausgabe vom 30. August 1992 erschienen zwei Leserbriefe. Der erste Brief trug den Titel „Waffen können die Freiheit nicht besiegen“. Der Verfasser dieses Briefes bezeichnete die türkische Armee als faschistisch und warf ihr vor, strategische Massaker zur Auslöschung des kurdischen Volkes zu begehen. Der Brief endete mit der Feststellung, das kurdische Volk habe wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Sein Freiheitskampf könne nicht länger durch Blutvergießen, Panzer und Granaten aufgehalten werden. Der zweite Brief nannte die türkische Regierung eine Bande aus „imperialistischen gedungenen Mördern“, die unter dem Vorwand, die Demokratie zu schützen, Dissidenten einsperrten, folterten und töteten. Diese Aussagen wurden dem Beschwerdeführer als Hauptanteilseigner der herausgebenden Gesellschaft zugerechnet. Er wurde nach § 8 des Terrorismusverhütungsgesetzes zu einer Geldstrafe verurteilt. Von dem nach Art. 312 des türkischen Strafgesetzbuchs erhobenen Vorwurf der Volksverhetzung wurde der Beschwerdeführer indes freigesprochen. Den übrigen am 8. Juli 1999 entschiedenen Fällen lagen ähnliche Sachverhalte zugrunde. Im Folgenden werden die tatsächlichen Unterschiede nur soweit sie rechtlich bedeutsam sind aufgegriffen und erläutert. cc) Das Urteil: „Appeal to bloody revenge“ oder polemische Meinungsäußerung? Alle am 8. Juli 1999 ergangenen Urteile teilen Struktur und Begründungsmuster. Dies gilt insbesondere für die allgemeinen Prinzipien, die der Gerichtshof referiert, bevor er sich dem Einzelfall zuwendet. Bis auf Sürek (No. 1) bejahte der EGMR in sämtlichen Fällen eine Verletzung von Art. 10 EMRK.304 (1) Legitimes Ziel Wie in den übrigen Entscheidungen vom gleichen Tage sind die Ausführungen zu den einschlägigen legitimen Zielen des Eingriffs auch im Urteil Sürek (No. 1) knapp gehalten. Der Gerichtshof wies – unter Verweis auf die entsprechende Passage im Urteil Zana – auf die angespannte Sicherheitslage im Südosten der Türkei hin. Daher müssten die türkischen Behörden Verhaltensweisen, die geeignet sind, weitere Gewalttaten zu provozieren, mit gesteigerter Aufmerksamkeit begegnen. Vor diesem Hintergrund erwies sich ein ganzes Bündel legitimer Ziele als einschlägig, nämlich der Schutz der nationalen Sicherheit und der territoria304 Gemeint sind die Fälle Arslan, Baskaya & Okcuoglu, Ceylan, Erdogdu & Ince, Gerger, Incal, Karatas¸, Okcuoglu, Polat, Sürek (No. 2), Sürek (No. 3), Sürek (No. 4).
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
len Unversehrtheit sowie die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten.305 (2) Absenkung der Kontrolldichte durch erweiterten Beurteilungsspielraum? Diese recht umfangreiche Auflistung legitimer Ziele wirkte sich auf den weiteren Verlauf der Rechtfertigungsprüfung nicht spürbar aus. Der EGMR wendete seine allgemeinen Prüfungskriterien an und modifizierte diese nur an einer Stelle. Diese Ausnahme betrifft die Kontrolldichte. In einigen Entscheidungen – so auch in Sürek (No. 1) – betonte der EGMR, dass den Mitgliedstaaten dann ein erweiterter Beurteilungsspielraum zustehe, wenn die fraglichen Äußerungen als Aufrufe zur Gewalt gegen eine Person, einen Vertreter des Staates oder einen Bevölkerungsteil zu qualifizieren seien.306 Weise der Staat nach, dass es sich um einen solchen Gewaltaufruf handle, stehe zu vermuten, dass der Eingriff gerechtfertigt sei. Diese substantielle Erleichterung der Rechtfertigung griffe aber erst, wenn der Gerichthof festgestellt habe, dass es sich tatsächlich um einen solchen Gewaltaufruf und nicht lediglich um einen zugespitzten oder auch überzogenen Beitrag zur politischen Debatte handle. (3) Notwendigkeitsprüfung Die Prüfung, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, vollzog sich in dem für den EGMR üblichen Zweischritt. Zunächst referierte das Gericht in sämtlichen Entscheidungen die allgemeinen Prinzipien, die es in ständiger Rechtsprechung zu Art. 10 EMRK entwickelt hat. Nicht zuletzt weil diese allgemeinen Kriterien in einer gewissen Spannung zum Ergebnis im Fall Sürek (No. 1) stehen, seien sie an dieser Stelle knapp zusammengefasst. (a) Allgemeine Prinzipien Der EGMR begann mit der Handyside-Formel, nach der die Äußerungsfreiheit von grundlegender Bedeutung sowohl für die demokratische Gesellschaft als auch die freie Entfaltung der Persönlichkeit ist. Darauf folgte die Lingens-For305 EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, § 52. In den weiteren Urteilen: Incal, § 42, Aufrechterhaltung der Ordnung; Ceylan, § 27 f.; Arslan, § 40; Baskaya, § 56; Gerger, § 42; Erdogdu, § 24: nationale Sicherheit, Aufrechterhaltung der Ordnung und Schutz der territorialen Unversehrtheit; Aufrechterhaltung der Ordnung und Verbrechensverhütung, wegen der Besonderheiten des Kampfes gegen den Terrorismus. 306 Vgl. die nahezu gleichlautenden Passagen in EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek, RJD 1999-IV, § 61; Arslan, § 46; Baskaya, § 62; Gerger, § 48; Erdogdu, § 62 („Finally, where such remarks incite to violence against an individual or a public official or a sector of the population, the State authorities enjoy a wider margin of appreciation when examining the need for an interference with freedom of expression.“).
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mel: Der Schutz des Art. 10 EMRK erstreckt sich nicht nur auf angenehme und moderat vorgetragene Äußerungen. Er gilt auch für solche Informationen und Ideen, die verletzen, schockieren und verstören. Dies sei ein Gebot des Pluralismus, der Toleranz und der „broadmindedness“ (sinngemäß: Weltoffenheit), ohne die es keine demokratische Gesellschaft gebe. Die Schranken des Art. 10 EMRK müssten eng ausgelegt und das Bedürfnis nach einer Einschränkung überzeugend begründet werden.307 Sodann betonte der EGMR in sehr allgemeiner Form den Beurteilungsspielraum, der auch im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Einschränkung den nationalen Instanzen zukomme. Diese Bemerkung ging allerdings mit dem Hinweis einher, dass dem EGMR selbst die Letztentscheidung über die Rechtfertigung eines Eingriffs gebühre.308 Soweit Vertreter der Presse betroffen waren, hob der Gerichthof neuerlich die besondere Bedeutung der Presse als „Wachhund“ in einer demokratischen Gesellschaft hervor. Die Presse spiele eine unverzichtbare Rolle in der Demokratie. Ihre Aufgabe sei es, auch über spalterische Themen und Ansichten zu berichten. Diesem Berichterstattungsrecht und -auftrag der Presse stehe das Recht der Öffentlichkeit auf Information gegenüber. Gerade auf diesem Wege werde sichergestellt, dass sich die Bevölkerung von den Ideen und Einstellungen der politischen Führer ein genaues Bild machen könne.309 Bevor sich der Gerichtshof dem Einzelfall zuwendet, hebt er die Rechtfertigungshürde noch einmal an. Gerade wenn es sich, wie hier, um Äußerungen zu Themen handele, die das öffentliche Interesse berühren, lasse Art. 10 EMRK grundsätzlich wenig Raum für Einschränkungen. Dies gelte umso mehr, wenn Kritik an der Regierung geäußert werde. Denn zum einen bedürften Handlungen der Regierung stets besonderer öffentlicher Kontrolle, zum anderen zwinge die dominante Position der Regierung im Meinungskampf zu besonderer Zurückhaltung, wenn sie mit strafrechtlichen Mitteln gegen ihre Kritiker vorgehe.310 (b) Anwendung auf den Einzelfall Der EGMR begann die Einzelfallprüfung mit einer Analyse des Wortlauts der jeweiligen Äußerung. Handelte es sich um eine klare Aufforderung zur Anwendung von Gewalt, war für den EGMR die Grenze des Zulässigen stets überschrit307 Vgl. z. B. EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 8.7.1999, Ceylan, RJD 1999-IV, § 32. 308 Vgl. z. B. EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 8.7.1999, Ceylan, RJD 1999-IV, § 32. 309 Vgl. z. B. EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 8.7.1999, Sürek (No. 3), Nr. 24735/94, § 38. 310 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Arslan, Nr. 23462/94, EGMR, Urt. v. 25.11.1996, Wingrove, RJD 1996-V, § 58.
1999-IV, § 58; Urt. v. 1999-IV, § 58; Urt. v. 1999-IV, § 59; Urt. v. § 46 unter Verweis auf
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
ten – der in solchen Fällen zugunsten der Mitgliedstaaten erweiterte Beurteilungsspielraum entfaltet dann seine volle Wirkung. War der Wortlaut hingegen interpretationsbedürftig und/oder -fähig, unterzog der Gerichtshof die Äußerung einer umfassenden, über den Wortlaut hinausgehenden Analyse, um festzustellen, ob es sich nach Sinn und Zusammenhang um eine Aufforderung zur Gewalt handelt (Folge: Rechtfertigung des Eingriffs), oder die Kritik zwar heftig und im Tonfall womöglich aggressiv, aber in einer demokratischen Gesellschaft hinzunehmen ist (Folge: Verletzung von Art. 10 Abs. 1 EMRK). Diese Einzelfallprüfung orientierte sich an verschiedenen Gesichtspunkten: (aa) Zeitgeschichtlicher Kontext In diese Prüfung floss zunächst der zeitgeschichtliche Kontext ein. Bildlich gesprochen bewertete der EGMR die „Explosionsgefahr“ einer Äußerung. In einer politisch entspannten Atmosphäre werde aggressiver Rede eine andere Bedeutung beigemessen als in einer Situation, in der „Blei in der Luft liegt“. So stellte er in einigen Entscheidungen darauf ab, dass die dortigen Äußerungen unmittelbar nach Ende des ersten Golfkrieges und damit zu einer Zeit erfolgten, in der Tausende Kurden in die Türkei drängten.311 In anderen Entscheidungen, in denen eine derartige Zuspitzung der Situation fehlte, hielt der EGMR demgegenüber auch besonders provokante Aussagen für hinnehmbar.312 Der zeitgeschichtliche Kontext sprach dann gegen einen ausdrücklichen Gewaltaufruf. (bb) Solidarisierung mit gewaltbereiter Organisation? Sodann prüfte der EGMR, ob die Äußerung einer Solidarisierung mit einer gewaltbereiten Organisation, etwa der PKK, gleichkommt.313 War dies der Fall, so bedurfte es zur Unzulässigkeit der Äußerung nicht einmal mehr des ausdrücklichen Aufrufs zur Gewalt. (cc) Forum der Äußerung Ein weiterer Faktor, der in die Bewertung des Gerichtshofs einfloss, war das Forum der Äußerung. Erfolgte sie etwa bei einer Gedenkzeremonie314, in einem 311 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Ceylan, RJD 1999-IV, § 35. Bereits im Fall Zana betonte der EGMR die „extreme tension at the material time“, Urt. v. 25.11.1997, Zana, RJD 1997-VII, § 59. 312 EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Gerger, Nr. 24919/94, § 49. 313 So schon EGMR, Urt. v. 25.11.1997, Zana, RJD 1997-VII, § 60. 314 EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Gerger, Nr. 24919/94, § 50.
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literarischen Werk315 oder einer akademischen Abhandlung316, sprach dies gegen ihren aufrührerischen Charakter. Gleiches galt für freie Rede im Rahmen einer Diskussionsrunde.317 Hier berücksichtigt der EGMR zum einen die Möglichkeit, dass die Aussagen durch Widerspruch „ausbalanciert“ werden können. Zum anderen wurde dem Redner zugute gehalten, dass er unter dem Eindruck der Debatte keine Möglichkeit hatte, eine ausgefeilte und um Ausgewogenheit bemühtes Erklärung abzugeben. (dd) Person des sich Äußernden Der EGMR berücksichtigte auch die Person des sich Äußernden. So wertete er die Wirkung der Aussagen im Fall Arslan mit der Bemerkung gering, der Redner habe nur als Privatperson gehandelt.318 Im Fall Ceylan wiederum hielt er einem Gewerkschaftsführer zugute, dass dieser sich nun einmal auf dem politischen Parkett bewege und ihm daher ein deutliches Wort nicht verwehrt werden dürfe.319 Ähnlich hob der Gerichtshof in weiteren Entscheidungen darauf ab, die Eingriffe in die Äußerungsmöglichkeiten eines Politikers nur unter gesteigerten Voraussetzungen zulässig seien. Im Fall Zana war den Äußerungen des Beschwerdeführers hingegen noch besondere Bedeutung beigemessen worden, weil es sich um den ehemaligen Bürgermeister der größten Stadt im Südosten der Türkei gehandelt hatte.320 An dieser Stelle argumentiert der EGMR inkonsistent und ohne klare Linie. (ee) Wirkung der Äußerung Soweit feststellbar, fand auch die Wirkung, die eine Äußerung hatte, Eingang in die Bewertung. Ließ sich erweisen, dass die in Rede stehenden Äußerungen zu einem Anstieg der Gewalt geführt haben, sprach dies gegen deren Zulässigkeit. War hingegen „nichts passiert“, so war die Äußerung im Zweifelsfall nicht als Aufruf zur Gewalt zu verstehen.321
315 EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Arslan, Nr. 23462/94, § 48. Der Gerichtshof spricht vom „limited impact“ einer solchen Verbreitungsweise; vgl. auch EGMR, Urt. v. 8.7. 1999, Karatas¸, RJD 1999-IV, § 49 („appeals to a minority of readers“). 316 Vgl. EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Baskaya & Okcuoglu, RJD 1999-IV, § 64. 317 EGMR, Urt. v. 4.12.2003, Gündüz, RJD 2003-XI, § 44. 318 EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Arslan, Nr. 23462/94, § 48. 319 EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Ceylan, RJD 1999-IV, § 36. 320 EGMR, Urt. v. 25.11.1997, Zana, RJD 1997-VII, § 60. 321 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 9.6.1998, Incal, RJD 1998-IV, § 58.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
(ff) Ergänzend: Schärfe der strafrechtlichen Sanktion Ergänzend berücksichtigte der Gerichtshof auch die Schärfe der strafrechtlichen Sanktion.322 Fiel diese, etwa in Form einer mehr als einjährigen Freiheitsstrafe, scharf aus, sprach dies gegen die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.323 Handelte es sich hingegen um eine Geldstrafe, nahm der EGMR in der Regel daran keinen Anstoß.324 Dieser Gesichtspunkt stellte allerdings nicht die Berechtigung des Staates in Frage, wegen der fraglichen Äußerung in Art. 10 EMRK einzugreifen. Er betraf nur die Art und Weise des konkreten Eingriffs. (c) Argumentation im Fall Sürek (No. 1) Der Gerichtshof konnte sich im Fall Sürek (No. 1) nicht auf einheitliche Linie verständigen. (aa) Das Mehrheitsvotum Das Urteil des Gerichthofs im Fall Sürek (No. 1) orientiert sich an dem oben geschilderten Muster. Die auf den Einzelfall bezogenen Ausführungen begannen mit einem Verweis auf die besonderen Probleme im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Terrorismus. Sodann entdeckte der Gerichtshof in den Leserbriefen die „klare Absicht“, die andere Seite des Konflikts durch Bezeichnungen wie „faschistische türkische Armee“, „Mörderbande“, „gedungene Mörder“ und „Massaker“ zu stigmatisieren.325 In den Augen des EGMR handelte es sich um einen Aufruf zu blutiger Rache („appeal to bloody revenge“ 326), der niedere Gefühle ansprach und Vorurteile verstärkte, die bereits zu tödlicher Gewalt geführt hätten. Der Gerichtshof löste sich sodann von dem Wortlaut der Leserbriefe und betonte den politischen Kontext des Kurden-Konflikts, der bereits zahlreiche Menschenleben gefordert habe. Vor diesem Hintergrund seien die Leserbriefe dazu geeignet, zu weiterer Gewalt in der Region anzustiften und aufzustacheln. Sie
322 Ausdrücklich EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Baskaya & Okcuoglu, RJD 1999-IV, § 66 („The Court notes [. . .] that the nature and severity of the penalty imposed are also factors to be taken into consideration when assessing the proportionality of the interference.“). 323 Siehe EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Arslan, Nr. 23462/94, § 49 („[T]he Court is struck by the severity of the penalty imposed on the applicant“, hier ein Jahr und acht Monate Freiheitsstrafe); Urt. v. 8.7.1999, Ceylan, RJD 1999-IV, § 37; Urt. v. 8.7.1999, Gerger, Nr. 24919/94, § 51. 324 Siehe EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, § 64. 325 EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, § 62 („clear intention to stigmatise the other side of the conflict“). 326 EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, § 62.
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riefen bei den Lesern ein tief sitzendes und irrationales Gefühl des Hasses gegenüber denjenigen hervor, die für die angeblichen Grausamkeiten verantwortlich gemacht würden. Letztlich werde dem Leser die Botschaft vermittelt, die Anwendung von Gewalt sei eine notwendige und gerechtfertigte Maßnahme der Selbstverteidigung. Einer der beiden Briefe habe darüber hinaus einige Personen namentlich genannt und sie daher der Gefahr ausgesetzt, Opfer von Angriffen zu werden. Zwar bleibe es dabei, dass der schockierende oder verletzende Charakter, für sich genommen, einen Eingriff in Art. 10 EMRK nicht rechtfertigen könne.327 Aber: „What is in issue in the instant case, however, is hate speech and the glorification of violence.“ 328
Schließlich unterstrich der Gerichtshof, dass sich die dem Beschwerdeführer auferlegte Geldstrafe als relative milde erweise, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs gewahrt worden sei.329 (bb) Sondervotum Palm et al.: Kritik an der fehlenden Gefahrenanalyse Wie bereits im Fall Zana, war auch das Ergebnis in Sürek (No. 1) innerhalb des Gerichtshofs umstritten. Die Entscheidung gegen eine Verletzung von Art. 10 EMRK fiel mit elf zu sechs Stimmen. Die schwedische Richterin Palm warf der Mehrheit vor, die harsche und bittere Sprache der Leserbriefe auf Kosten des Gesamtzusammenhangs und der Frage nach den wahrscheinlichen Auswirkungen überzubewerten sowie einer Gefahrenanalyse zu vernachlässigen. Für die Entscheidung, ob gewaltsame und verletzende Sprache nicht mehr den Schutz der Konvention genieße, seien zwei Kriterien maßgeblich: Verfolgten die Worte das Ziel, zu Gewalt anzustacheln? Und: Bestand ein tatsächliches und echtes Risiko, dass die Worte ihre gewalttätige Wirkung auch entfalten? Wolle man diese Frage beantworten, müsse man sich eingehender als der Gerichtshof mit dem Gesamtzusammenhang der Äußerung auseinandersetzen. Als Beispiel nennt Richterin Palm – etwas überraschenderweise – das Urteil Zana. Dort habe der (alte) Gerichtshof festgestellt, dass das fragliche Interview zeitlich mit Mordanschlägen der PKK auf Zivilisten zusammenfiel, dass der Beschwerdeführer als Bürgermeister der größten Stadt im Südosten der Türkei hohe Aufmerksamkeit genoss und dass das Interview in einer der türkischen Haupttageszeitungen erschienen und daher davon auszugehen gewesen war, dass es zur Verschärfung der ohnehin angespannten Lage in der Region beigetragen hatte.330 327 328 329 330
EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, § 62. EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, § 62. EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, § 64. EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, Sondervotum Palm et al.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
Wende man diesen Ansatz auf den Fall Sürek (No. 1) an, falle zunächst auf, dass der Beschwerdeführer von den nationalen Gerichten allein wegen separatistischer Propaganda, nicht wegen Aufstachelung zum Hass verurteilt worden war. Indem der Gerichtshof den Schutz des Art. 10 EMRK mit der Begründung versage, es handele sich um Hassrede, gehe er über die Feststellung der nationalen Gerichte hinaus, die eine „Anstachelung“ ja verneint hatten. Ferner seien weder der Beschwerdeführer noch die Autoren der Leserbriefe – anders als der Bürgermeister in Zana – prominente Persönlichkeiten gewesen, die die öffentliche Meinung nennenswert beeinflussen konnten. Drittens nähmen Leserbriefe in der Regel keine herausgehobene Position in der Aufmachung eines Blattes ein und würden eher selten gelesen. Überdies handele es sich um private Meinungsäußerungen, bei denen es in der Natur der Sache liege, dass die Wortwahl grober und undifferenzierter ausfalle. Angesichts dieser Umstände kommt Richterin Palm zu dem Ergebnis, dass eine tatsächliche Gefahr eines Gewaltausbruchs nicht bestand. Daher sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer nicht wegen des Tonfalls der Briefe und der damit verbundenen Gefahren, sondern allein wegen dessen politischer Botschaft verurteilt worden sei. Daraus ergebe sich eine Verletzung von Art. 10 EMRK.331 Für Richterin Palm steht der (unterstellte) separatistische Inhalt der Aussage unter dem Schutz von Art. 10 EMRK, der insoweit „inhaltsneutral“ ist. Die Äußerung könnte hingegen bei einer realen Gefahr verboten werden, wenn sie also konkret drohte, Gewalt heraufzubeschwören. Diese Argumentation unterstreicht die gefahrenneutrale Vorgehensweise der Mehrheit, die zwischen denkbarer und tatsächlicher Gefahr nicht unterscheidet. (cc) Sondervotum Bonello: Der amerikanische Ansatz Die stark durch die amerikanische Rechtsprechung inspirierte abweichende Meinung des maltesischen Richters Giovanni Bonello setzt mit der Vorgehensweise der Mehrheit ebenfalls kritisch auseinander.332 Für den Gerichtshof sei offenbar entscheidend, ob die jeweilige Äußerung ihrem Wortlaut oder dem Gesamtzusammenhang nach Gewalt unterstützt oder gar zur Anwendung von Gewalt aufruft. Sei dies der Fall, sei ein Eingriff stets gerechtfertigt. Diesen Maßstab lehnt Bonello ab. Zur Begründung reiht er verschiedene Zitate aus Urteilen des U.S. Supreme Court aneinander. Seine Kernaussage lautet: „I believe that punishment by national authorities of those encouraging violence would be justifiable in a democratic society only if the incitement were such to 331
EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, Sondervotum Palm et al. Richter Bonellos abweichende Meinungen haben auch in anderen Zusammenhängen besondere Aufmerksamkeit erfahren. Zu seinen Ehren wurde ein Sammelband mit den bedeutendsten Sondervoten Bonellos veröffentlicht, siehe Bratza/O’Boyle, A Free Trade in Ideas. 332
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create ,a clear and present danger‘. When the invitation to the use of force is intellectualised, abstract and removed in time and space from the fori of actual or impending violence, then the fundamental right to freedom of expression should generally prevail.“ 333
Die Strenge dieses Maßstabs zeigt sich auch am Fall Sürek (No. 1). Von den dortigen Äußerungen sei keine Gefahr ausgegangen, schon gar keine klare und gegenwärtige. Solange eine solche Gefahr aber nicht bestehe, „subventioniere“ der Gerichtshof die „Unterwanderung der Äußerungsfreiheit“ 334, wenn er eine Verletzung von Art. 10 EMRK verneine.335 Nach Bonellos Maßstab kommt eine Einschränkung der Äußerungsfreiheit nur in Betracht, wenn entweder sofortige Gewaltanwendung zu erwarten steht bzw. befürwortet wird, oder wenn das Verhalten des Beschwerdeführers in der Vergangenheit Anlass zu der Annahme bietet, dass sein Aufruf zur Gewalt unmittelbare Taten nach sich ziehen wird.336 Das Sondervotum Bonellos ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert. Zum einen fordert es einen sehr äußerungsfreundlichen Maßstab. Dass die Äußerung auch unter Berücksichtigung der politischen Gesamtsituation in nachvollziehbarer Weise als Gewaltaufruf verstanden werden kann, soll nicht zur Rechtfertigung des Eingriffs ausreichen. Bonello fordert den konkreten Nachweis, dass die Äußerungen intendierten und geeignet waren, unmittelbare und schwerwiegende Gewalttaten hervorzurufen. Fehlt es an dieser Unmittelbarkeit, so bleibt Zeit, die Äußerung nicht durch Strafe, sondern durch Gegenrede zu „entschärfen“. Dieser Ansatz ist kennzeichnend für die im folgenden Kapitel dargestellte Vorgehensweise des amerikanischen Supreme Court. Richter Bonello argumentiert bewusst und offen mit den Begrifflichkeiten des amerikanischen Verfassungsrechts und der Rechtsprechung des Supreme Court. Er wird diese „amerikanische Perspektive“ in den Beratungen der Großen Kammer eingebracht haben. Hieraus ergibt sich, dass sich die Mehrheit der Richter bewusst und explizit gegen den amerikanischen Ansatz entschied. (dd) Sondervotum Tulkens et al. Auch die Richter Tulkens (Belgien), Casadevall (Andorra) und Greve (Norwegen) gingen von einer Verletzung von Art. 10 EMRK aus. Sie begründeten 333
EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, Sondervotum Bonello. EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, Sondervotum Bonello. 335 Richter Bonello schreibt: „The guarantee of freedom of expression does not permit a state to forbid or proscribe advocacy of the use of force except when such force is directed to inciting or producing imminent lawlessness and is likely to incite or produce such action. It is a question of proximity and degree.“ 336 Wiederum in den Worten Bonellos: „In order to support a finding of clear and present danger [. . .] it must be shown either that immediate serious violence was expected or was advocated, or that past conduct of the applicant furnished reason to believe that his advocacy of violence would produce immediate and grievous action.“ 334
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
dieses Ergebnis mit drei Erwägungen: Zum ersten dürfe die Äußerungsfreiheit in Fällen wie diesem nur beschränkt werden, wenn es sich um den direkten Aufruf zur Begehung schwerer Straftaten (gemeint sind „crimes“, also Verbrechen) handelt. Zum zweiten leuchtete den drei Richtern nicht ein, warum der Gerichtshof im Fall Sürek (No. 1) eine Verletzung von Art. 10 EMRK verneinte, sie aber in zahlreichen anderen, am gleichen Tag entschiedenen Fällen bejahte. Es sei unklar, warum im Streitfall, nicht aber in den anderen Fällen, die Aussage, Gewalt sei aus Gründen der Selbstverteidigung geboten, angenommen worden sei. Drittens, und dies scheint der ausschlaggebende Punkt gewesen zu sein, beklagen die drei Richter, wie schon Richterin Palm, dass sich der Streitfall deutlich von dem Sachverhalt in Sachen Zana unterscheide.337 (ee) Sondervotum Fischbach Das letzte Sondervotum des Richters Fischbach (Luxemburg) kann in den beiden Leserbriefen bereits keine Äußerungen erkennen, die als eine Anstiftung zur Gewalt interpretiert werden könnten. Unter Vergleich mit anderen Entscheidungen des Gerichts unterstreicht Richter Fischbach, dass der Beschwerdeführer nichts anderes getan habe, als die Situation im Südosten der Türkei wahrheitsgemäß zu beschreiben. Der Inhalt der Leserbriefe unterscheide sich nicht wesentlich von solchen Aussagen, die der Gerichtshof in anderen, am gleichen Tag entschiedenen Fällen für hinnehmbar gehalten habe.338 c) Die Entscheidungen nach dem 8. Juli 1999 Der EGMR hatte auch nach dem 8. Juli 1999 über die Vereinbarkeit von Verurteilungen nach Art. 312 des türkischen Strafgesetzbuchs und § 8 des Terrorismusverhütungsgesetzes mit Art. 10 EMRK zu entscheiden.339 In mehr als 30 Fäl337
EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, Sondervotum Tulkens et al. EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, Sondervotum Fischbach. 339 Etwa EGMR, Urt. v. 15.6.2000, Erdogdu, RJD 2000-VI; Urt. v. 18.7.2000, Sener, Nr. 26680/95; Urt. v. 7.2.2002, E.K., Nr. 28496/95; Urt. v. 4.6.2002, Yagmurderli, Nr. 29590/96; Urt. v. 23.09.2002, Karkin, Nr. 43928/98; Urt. v. 4.3.2003, Yasar Kemal Gökceli, Nr. 27215/95 und 36194/97; Urt. v. 2.10.2003, Kizilyaprak, Nr. 27528/95; Urt. v. 4.12.2003, Gündüz, RJD 2003-XI; Urt. v. 4.3.2004, C.S.Y., Nr. 27214/95; Urt. v. 6.4. 2004, Mehdi Zana (No. 2), Nr. 26982/95; Urt. v. 15.7.2004, Haydar Yildirim et al., Nr. 42920/98; Urt. v. 29.7.2004, Ibrahim Ülger, Nr. 57250/00; Urt. v. 23.09.2004, F. Yazar, Nr. 42713/98; Urt. v. 19.10.2004, Varli, Nr. 38586/97; Urt. v. 21.10.2004, Doganer, Nr. 49283/99; Urt. v. 9.11.2004, Marasli, Nr. 40077/98; Urt. v. 10.11.2004, Dicle, Nr. 34685/97; Urt. v. 10.11.2004, Kalin, Nr. 31236/96; Urt. v. 10.11.2004, Odabasi, Nr. 41618/98; Urt. v. 30.11.2004, Ozkaya, Nr. 42119/98; Urt. v. 9.12.204, Elden, Nr. 40985/98; Urt. v. 11.1.2005, Halis, Nr. 30007/96; Urt. v. 11.3.2005, Gundus et al., Nr. 40303/98; Urt. v. 16.6.2005, Ergin (No. 2); Nr. 49566/99; Urt. v. 16.6.2005, Ergin (No. 4), Nr. 63733/00; Urt. v. 16.6.2005, Ergin & Keskin, Nr. 50273/99; Urt. v. 16.7. 2005, Ergin (No. 3), Nr. 50691/99; Urt. v. 13.9.2005, Han, Nr. 50997/99; Urt. v. 20.12. 338
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len hat der EGMR eine Verletzung von Art. 10 EMRK angenommen. Diese Zahl dürfte nicht zuletzt dadurch zu erklären sein, dass die türkischen Gerichte mitunter bereits die bloße Erwähnung des Wortes „Kurdistan“ als verbotene separatistische Propaganda werteten. aa) Verurteilungen wegen separatistischer Propaganda Diese Urteile lassen sich wiederum zwei Gruppen zuordnen. In einer ersten Gruppe ging es um Verurteilungen nach § 8 des Terrorismusbekämpfungsgesetzes, der die Verbreitung von separatistischer Propaganda unter Strafe stellt. Im Gegensatz zum ebenfalls häufig bemühten Art. 312 Abs. 2 des türkischen Strafgesetzbuchs enthält dieser Tatbestand kein Volksverhetzungselement. Während also eine Verurteilung nach Art. 312 Abs. 2 des türkischen Strafgesetzbuchs den öffentlichen Aufruf zum Hass gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe voraussetzt, genügt für eine Strafbarkeit nach § 8 des Terrorismusbekämpfungsgesetzes zumindest im Grundsatz bereits die verbale Unterstützung kurdischer Unabhängigkeitsbestrebungen. Dieser Unterschied spielte für den EGMR eine erhebliche Rolle. In den Fällen, in denen eine Verurteilung allein nach § 8 des Terrorismusbekämpfungsgesetzes erfolgt war, versagte er dem türkischen Staat regelmäßig die Berufung auf das Argument, die jeweilige Verurteilung sei zur Unterbindung des Aufrufs zu Gewalttaten notwendig gewesen. In einem zweiten Schritt zieht der EGMR als „Zulässigkeitsmaßstab“ – im Sinne eines case-law-Ansatzes – den Sachverhalt im Fall Sürek (No. 1) heran. Danach ist ein Eingriff in Art. 10 EMRK nur gerechtfertigt, wenn die streitgegenständlichen Äußerungen, wie dies in Sürek (No. 1) zur Überzeugung (der Mehrheit der Richter der Großen Kammer) des EGMR der Fall war, als Aufruf zur und Glorifizierung von Gewalt verstanden werden können. Im Unterschied zu den türkischen Gerichten versteht der EGMR sämtliche Äußerungen als scharfe Kritik an der türkischen Kurdenpolitik, nicht jedoch als Aufrufe zu Aufstand und Gewalt und damit nicht als „hate speech“. Beispielhaft: „The Court examined the present case in the light of its case-law and considers that the Government have not submitted any facts or arguments capable of leading to a different conclusion from that in the above-mentioned judgments. It has had particular regard to the words used in the impugned speech. It has also taken into account the background to the case and, in particular, the problems linked to the prevention of terrorism. In this connection, the Court observes that the speech in question consisted of a critical assessment of Turkey’s policies concerning the Kurdish problem, whereas the State Security Court considered that the impugned speech contained se2005, Korkmaz (No. 2), Nr. 42589/98; Urt. v. 21.3.2006, Koc & Tambas, Nr. 50934/99; Urt. v. 4.5.2006, Ergin (No. 6), Nr. 47533/99; Urt. v. 9.11.2006, Düzgören, Nr. 56827/ 00; Urt. v. 19.12.2006, Falakaoglu & Saygili, Nr. 11461/03.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
paratist propaganda. The Court examined the reasons given in the State Security Court’s judgment and does not consider them sufficient to justify the interference with the applicant’s right to freedom of expression. It considers that, taken as a whole, the applicant’s speech does not encourage violence, armed resistance or insurrection and, therefore, does not constitute hate speech. In the Court’s view, this is the essential factor (contrast Sürek v. Turkey (no. 1) [GC], no 26682/95, § 62, ECHR 1999-IV, and Gerger v. Turkey [GC], no. 24919/94, § 50, 8 July 1999) in the assessment of the necessity of the measure.“ 340
In einigen Entscheidungen untermauerte der EGMR diese Argumentation mit dem Hinweis, dass nicht einmal die türkischen Gerichte der Äußerung eine zum Hass aufstachelnde Bedeutung beigemessen hätten: „Furthermore, the Court observes that the applicant was convicted by the Istanbul State Security Court not for incitement to violence, but for disseminating separatist propaganda by referring to a particular region of Turkey as ,Kurdistan‘ and alleging that the population of Kurdish origin living in that region was subjected to oppression.“ 341
Diese Entscheidungen bestätigen die bereits in den Urteilen vom 8. Juli 1999 zu erkennende Tendenz des Gerichts, darauf abzuheben, ob es sich dem Wortlaut oder dem Zusammenhang nach um einen Aufruf zu Gewalt handelt, oder lediglich um eine zugespitzte politische Meinungsäußerung. bb) Verurteilungen wegen Volksverhetzung: Insbesondere der Fall Gündüz In den Fällen, in denen der EGMR über Verurteilungen nach Art. 312 Abs. 2 des türkischen Strafgesetzbuchs, dem Volksverhetzungstatbestand, zu befinden hatte, sah sich das Gericht zu einer etwas ausführlicheren, weniger schematischen Begründung veranlasst, die über einen bloßen Abgleich des konkreten Falles mit den Äußerungen in Sürek (No. 1) hinausgeht. Ein Beispiel hierfür bildet das Urteil im Fall Gündüz aus dem Jahr 2003.342 Gegenstand des Verfahrens waren Äußerungen des Anführers einer islamischen Sekte, in einem TV-Diskussionsprogramm. Im Kern hatte der Beschwerdeführer behauptet, weder die Demokratie noch eine andere säkulare Staatsform seien mit dem Islam vereinbar. Er bekannte sich zu einem auf der Sharia basierenden politischen System und verstieg sich zu der Aussage, jedes Kind, das aus einer vor einem türkischen Standesbeamten geschlossenen Ehe hervorging, sei ein „Bastard“. Dies trug ihm eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren sowie einer Geldstrafe von 600.000 türkischen Lira ein. Die daraufhin erhobene Individualbeschwerde nahm die Erste Sektion des EGMR zum Anlass, im Anschluss an das Urteil Sürek (No. 1) noch einmal Grundsätzliches auszuführen.343 340 341 342
EGMR, Urt. v. 13.9.2005, Han, Nr. 50997/99, § 31 f. EGMR, Urt. v. 18.7.2000, Sener, Nr. 26680/95, § 45. EGMR, Urt. v. 4.12.2003, Gündüz, RJD 2003-XI.
E. Rechtsprechungsanalyse
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Anstatt auch diese Äußerungen schlicht am Maßstab Sürek (No. 1) zu messen, holt der EGMR weiter aus und stellt zunächst die völkerrechtliche Rechtslage dar. Er verweist auf die zahlreichen völkerrechtlichen Dokumente, aus denen sich Verbote der Hassrede und der Intoleranz sowie der Diskriminierung auf der Grundlage von Rasse, Religion und Weltanschauung ergeben. Besondere Erwähnung findet die Empfehlung Nr. R (97) 20 zur Hassrede des Ministerkomitees des Europarats und die Empfehlung Nr. 7 der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz zur nationalen Gesetzgebung zur Bekämpfung von Rassismus und Rassendiskriminierung.344 Diesen Bezug zum völkerrechtlichen Kontext der konventionsrechtlichen Fragestellung – ein für den EGMR nicht unüblicher Interpretationsschritt345 – greift der Gerichtshof in der zentralen Passage seines Urteils auf. „The present case is characterised, in particular, by the fact that the applicant was punished for statements classified by the domestic courts as ,hate speech‘. Having regard to the relevant international instruments [. . .] and to its own case-law, the Court would emphasise, in particular, that tolerance and respect for the equal dignity of all human beings constitute the foundations of a democratic, pluralistic society. That being so, as a matter of principle it may be considered necessary in certain democratic societies to sanction or even prevent all forms of expression which spread, incite, promote or justify hatred based on intolerance (including religious intolerance), provided that any ,formalities‘, ,conditions‘, ,estrictions‘ or ,penalties‘ imposed are proportionate to the legitimate aim pursued. Furthermore, as the Court noted in Jersild v. Denmark [. . .], there can be no doubt that concrete expressions constituting hate speech, which may be insulting to particular individuals or groups, are not protected by Article 10 of the Convention.“ 346
Auch in Anwendung dieser Grundsätze bejaht der EGMR eine Verletzung von Art. 10 EMRK. Die Angelegenheit betreffe ein Thema von besonderem öffentlichen Interesse. Das Format der konkreten Sendung lebe von Rede und Gegenrede und erlaube es nicht, die eigenen Worte bis ins Detail abzuwägen und zu reflektieren. Da es sich um ein Diskussionsformat gehandelt habe, seien die Äußerungen des Beschwerdeführers nicht unwidersprochen geblieben, sondern ausgeglichen worden. Entscheidend falle aber ins Gewicht, dass der Beschwerdeführer die Sharia zwar gefordert, aber gerade nicht deren gewaltsame Durchsetzung verlangt habe. Die Grenze zur Hassrede habe er daher nicht überschritten. Insoweit folgt der Gerichtshof nicht der Einschätzung der nationalen Gerichte, die einen Fall von Hassrede angenommen hatten:
343 Die Bedeutung dieses Urteils lässt sich auch dem Umstand entnehmen, dass sich der EGMR für dessen Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung des Gerichts entschieden hat. 344 Zu diesen Dokumenten siehe unten Drittes Kapitel, B. II. (S. 204 ff.). 345 Vgl. schon EGMR, Urt. v. 13.6.1979, Marckx, Serie A 31, §§ 31, 41. 346 EGMR, Urt. v. 4.12.2003, Gündüz, RJD 2003-XI, § 40 f.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
„Admittedly, there is no doubt that, like any other remark directed against the Convention’s underlying values, expressions that seek to spread, incite or justify hatred based on intolerance, including religious intolerance, do not enjoy the protection afforded by Article 10 of the Convention. However, the Court considers that the mere fact of defending sharia, without calling for violence to establish it, cannot be regarded as ,hate speech‘. Moreover, the applicant’s case should be seen in a very particular context. Firstly, as has already been noted, the aim of the programme in question was to present the sect of which the applicant was the leader; secondly, the applicant’s extremist views were already known and had been discussed in the public arena and, in particular, were counterbalanced by the intervention of the other participants in the programme; and lastly, they were expressed in the course of a pluralistic debate in which the applicant was actively taking part. Accordingly, the Court considers that in the instant case the need for the restriction in issue has not been established convincingly.“ 347
In der Verallgemeinerung bedeutet dies: Solange eine politische Kritik, so scharf, polemisch und bitter sie auch sein mag, nicht mit einem Aufruf zur Gewalt oder Hass aus Gründen mangelnder Toleranz (so die gerichtliche Definition der Hassrede) verbunden wird, ist die Grenze des Zulässigen nicht überschritten. Handelt es sich hingegen um einen direkten Aufruf zur Gewalt oder „intolerantem“ Hass, ist ein Eingriff in Art. 10 EMRK zu rechtfertigen, und zwar unabhängig davon, ob die konkrete Gefahr besteht, dass Worten Taten folgen werden. Ein wenig überraschend ist, dass der EGMR – anders als in den Fällen rechtsradikaler Meinungsäußerungen – auf einen Rückgriff auf Art. 17 EMRK gänzlich verzichtet. Gerade die Passage in Gündüz, in der der Gerichtshof die der Konvention zugrunde liegenden Werte betont, hätte zumindest einen Verweis auf diese Vorschrift nahegelegt. Bemerkenswert ist schließlich die oben zitierte Aussage des Gerichts, die Staaten seien „im Prinzip“ berechtigt, jede Form der Hassrede zu verbieten, solange die jeweiligen Sanktionen verhältnismäßig sind. Damit kommt nicht der Abwägung zwischen den jeweils konkret betroffenen Rechtsgütern die entscheidende Bedeutung zu, sondern der eher tatsächlichen Frage, ob es sich bei der fraglichen Äußerung tatsächlich um einen Fall von Hassrede, also um einen Aufruf zum Hass aus Gründen der Intoleranz handelt.348
III. Analyse Bevor allgemeine Schlussfolgerungen aus der vorstehenden Zusammenfassung der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR gezogen werden, liegt eine Kategorisierung nahe.
347 348
EGMR, Urt. v. 4.12.2003, Gündüz, RJD 2003-XI, § 51. EGMR, Urt. v. 4.12.2003, Gündüz, RJD 2003-XI, § 40 f.
E. Rechtsprechungsanalyse
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1. Versuch der Kategorisierung Ein solcher kategorischer Ansatz steht in einer gewissen Spannung zur grundsätzlich vom EGMR praktizierten Methode der auf den Einzelfall und dessen besondere Umstände konzentrierten Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dennoch bewertet der EGMR bestimmte Äußerungen gleichen Inhalts stets gleich. Bei der Ermittlung des Inhalts stellt er in unterschiedlicher Intensität auf den Wortlaut und den Kontext ab. a) Leugnung des Holocaust nie vom Schutzbereich des Art. 10 EMRK erfasst Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des EGMR, dass die Leugnung des Holocaust, also einer über jeden Zweifel erhabenen historischen Tatsache, a priori und unabhängig von allen Umständen des Einzelfalls nicht in den Schutzbereich von Art. 10 Abs. 1 EMRK fällt. Das Verbot einer solchen Äußerung greift folglich nicht einmal in die Rechte aus Art. 10 Abs. 1 EMRK ein. Einer Rechtfertigung nach Art. 10 Abs. 2 EMRK bedarf es nicht. b) Volksverhetzende Äußerungen rechtsextremer Natur Eine zweite Kategorie erfasst volksverhetzende, also zum Hass aufstachelnde Äußerungen, die einen rechtsextremen, jedenfalls aber einen dezidiert fremdenfeindlichen bzw., in den Worten des Gerichts, „intoleranten“ 349 Hintergrund aufweisen. In diesem Bereich ist eine deutliche Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR festzustellen: Ging die Tendenz früherer Entscheidungen – und die Praxis der Kommission – dahin, diese Äußerungen zunächst in den Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 EMRK einzubeziehen, um den Eingriff sodann – oftmals unter Verweis auf Art. 17 EMRK – für gerechtfertigt zu erklären, hat der EGMR seit einiger Zeit seine Praxis geändert. Nunmehr nimmt er bereits auf Schutzbereichsebene eine durch Art. 17 EMRK legitimierte inhaltliche Bewertung der fraglichen Äußerung vor. Fällt diese negativ aus, widerspricht der Inhalt der Aussage also den zentralen, der Konvention zugrunde liegenden Wertvorstellungen – Pluralismus, Gleichheit und Toleranz, Würde, Demokratie –, so verneint der Gerichtshof bereits die Eröffnung des Schutzbereichs. Bei fremdenfeindlichen Äußerungen der oben beschriebenen Art, insbesondere bei der Verbalisierung von rechtsextremem und/oder rassistischem Gedankengut, ist dies stets der Fall. Für diese Kategorie verwendet der EGMR den Begriff der „hate speech“. c) Ausdrückliche Gewaltaufrufe Ausdrückliche Gewaltaufrufe schließt der EGMR zwar nicht aus dem Schutzbereich von Art. 10 Abs. 1 EMRK aus. Allerdings gesteht er den Mitgliedstaaten 349
Vgl. etwa wiederum EGMR, Urt. v. 4.12.2003, Gündüz, RJD 2003-XI, § 40 f.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
das Recht zu, derartige Äußerungen zu verbieten. Eine ins Detail gehende Rechtfertigungsprüfung erfolgt allenfalls im Hinblick auf das „Wie“ des Eingriffs. Bildlich gesprochen: Solange der Mitgliedstaat nicht mit Kanonen auf Spatzen schießt, darf er gegen ausdrückliche Gewaltaufrufe auch mit den Mitteln des Strafrechts vorgehen. Dies gilt – bemerkenswerter Weise – unabhängig davon, ob die konkrete Gefahr bestand, dass inkriminierte Worte Gewalttaten nach sich ziehen. d) Implizite Gewaltaufrufe Handelt es sich nicht um ausdrückliche Gewaltaufrufe, so ist anhand einer ins Detail gehenden Analyse der Äußerung zu entscheiden, ob es sich um einen impliziten Aufruf zur Gewalt handelt. Die oben dargestellten Kriterien, mittels derer der EGMR Kontext und Inhalt einer Äußerung analysiert, kommen in diesen Fällen zur Anwendung. Hier ist die Rechtsprechung des EGMR stark tatsachenbezogen. Das Ergebnis der Prüfung hängt nur in geringem Umfang von einer juristischen Abwägung zwischen konkurrierenden Rechtsgütern ab. Das Ergebnis dieser Abwägung sieht der EGMR vielmehr als gegeben an: Genauso wenig wie die Anwendung Gewalt ist der explizite oder implizite Aufruf zu Gewalt überhaupt ein legitimes Mittel im demokratischen Prozess. e) Zugespitzte politische Meinungsäußerung, die die Grenze zur Hassrede nicht überschreiten Die fünfte Kategorie bilden zugespitzte politische Meinungsäußerungen, die in der tatsächlichen Bewertung des EGMR die Grenze zur Hassrede nicht überschreiten, etwa weil sie nicht zu Gewalt aufrufen und nicht zum Hass aus Gründen der Intoleranz aufstacheln. In diesen Fällen bleibt es bei dem seit der Lingens-Entscheidung regelmäßig wiederholten Grundsatz, dass Art. 10 EMRK das Recht zur schockierenden, verletzenden und polarisierenden Äußerung umfasst. 2. Zentrale Charakteristika der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK Die soeben beschriebenen Kategorien legen eine Reihe von Wesenszügen der Praxis zu Art. 10 EMRK offen. a) Inhaltsbezogenheit und Werteorientierung Die Vorgehensweise des EGMR ist zunächst dezidiert inhaltsbezogen. Maßgeblich für die Entscheidung des Gerichtshofs ist die jeweilige politische Aussage und die Frage, ob diese Aussage im Widerspruch zu den Grundwerten der Konvention steht oder mit ihnen vereinbar ist. Besonders deutlich zeigen dies die
E. Rechtsprechungsanalyse
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anfangs dargestellten Straßburger Entscheidungen zu den Holocaust leugnenden Aussagen. Die Konventionsorgane hätten die entsprechenden Beschwerden auf verschiedenen Wegen abweisen können. Sie haben sich für den denkbar inhaltsbezogensten entschieden. So hätte der EGMR zunächst, ähnlich dem deutschen Bundesverfassungsgericht, darauf abstellen können, dass es sich bei der Leugnung des Holocaust um eine unbestreitbar falsche Tatsachenbehauptung handelt.350 Derartige Unwahrheiten, so hätte der Gerichtshof argumentieren können, vermögen keinen signifikanten Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten. Mit dieser Begründung hätte der EGMR – auf Schutzbereichsebene, eher aber im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung – einen Verstoß gegen Art. 10 EMRK verneinen können. Im Mittelpunkt eines solchen Argumentationsweges hätte nicht die mit der Auschwitzlüge verbundene politische Aussage gestanden, sondern der inhaltsneutrale Gesichtspunkt der sachlichen Unrichtigkeit der Äußerung und die daraus resultierende verminderte Schutzwürdigkeit der Äußerungen aufgrund ihrer eingeschränkten Bedeutung sowohl für die Persönlichkeitsentfaltung als auch den demokratischen Prozess. Ebenfalls weniger inhaltsbezogen wäre es gewesen, bei Prüfung der Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft zwischen den Interessen des sich Äußernden und den von dieser Äußerung Betroffenen – etwa den Überlebenden des Holocausts und den Hinterbliebenen der Opfer sowie jüdischer Mitbürger – abzuwägen. Damit wäre zwar eine gewisse inhaltliche Bewertung der Äußerung verbunden gewesen. Diese Bewertung würde aber nicht isoliert und rein politisch erfolgen, sondern im Verhältnis zu den gegenläufigen Interessen Dritter. Die mit einem solchen Urteil verbundene inhaltliche Bewertung wäre relativ und nicht absolut, die in dem Urteil zum Ausdruck kommende politische Stellungnahme des EGMR in der Folge abgeschwächt. Diese beiden alternativen Argumentationswege sind in der Rechtsprechung des Gerichtshofs durchaus angelegt. So stellt das obiter dictum im Urteil Lehideux & Isorni auf „clearly established historical facts“ und damit auf die offensichtliche Unrichtigkeit der Auschwitzlüge ab.351 Andere Entscheidungen greifen den beleidigenden Charakter der Leugnung des Holocausts auf, stellen ihn aber nicht in das Zentrum der Begründung.352 350 Vgl. BVerfGE 90, 241 (249) („Bei der untersagten Äußerung, daß es im Dritten Reich keine Judenverfolgung gegeben habe, handelt es sich um eine Tatsachenbehauptung, die nach ungezählten Augenzeugenberichten und Dokumenten, den Feststellungen der Gerichte in zahlreichen Strafverfahren und den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft erwiesen unwahr ist. Für sich genommen genießt eine Behauptung dieses Inhalts daher nicht den Schutz der Meinungsfreiheit.“). 351 EGMR, Urt. v. 23.9.1998, RJD 1998-VII, § 47. 352 Angedeutet etwa in EGMR, Entsch. v. 20.4.1999, Witzsch I, Nr. 41448/98; deutlicher EGMR, Urt. v. 24.6.2003, Garaudy, RJD 2003-IX, Abs. 1 (i) der Gründe.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
Im Mittelpunkt sämtlicher Entscheidungen der Konventionsorgane zur Auschwitzlüge steht Art. 17 EMRK – das Missbrauchsverbot. Dessen Anwendung vollzieht der Gerichtshof – wie vor ihm die Kommission – stets in einem Dreischritt. Zunächst wird die Zielsetzung dieser Vorschrift abstrakt definiert. Es gilt die Formel: „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit“. Sodann wird die politisch-ideologische Aussage, die in der Auschwitzlüge Ausdruck findet, identifiziert. In einem dritten Schritt fällt das politische Werturteil des Gerichtshofs. Diese Ideologie wird für mit den Grundwerten der Konvention unvereinbar erklärt.353 Bereits hier fließen die gegenläufigen Interessen der Betroffenen ein. War insbesondere die Kommission hier zurückhaltender und berücksichtigte Art. 17 EMRK „nur“ als einen – wenngleich entscheidenden – Abwägungsfaktor bei der Rechtfertigungsprüfung, so bekennt der EGMR deutlich Farbe. Er versteht Art. 17 EMRK als Schutzbereichsbeschränkung. Die von Art. 17 EMRK erfassten Äußerungen sind seinem Verständnis nach also (aufgrund ihres Inhalts) per se, also kategorisch aus dem Schutzbereich von Art. 10 EMRK ausgeschlossen. Diese inhaltsbezogene Vorgehensweise wird am Beispiel der Auschwitzlüge besonders deutlich, ist aber nicht auf diesen Bereich begrenzt. Vielmehr prägt sie auch die Entscheidungen des Gerichtshofs zu volksverhetzenden Meinungsäußerungen, also Aussagen, die nicht im rechtstechnischen Sinn beweisbar wahr oder falsch sind. Dies gilt zunächst für die Kommissionsentscheidungen, die nach dem in Glimmerveen & Hagenbeek entwickelten Muster ergangen sind, und findet – auf der Ebene des EGMR – seine Bekräftigung in dem obiter dictum in dem Fall Jersild. Jüngste und besonders prägnante Beispiele sind die Unzulässigkeitsentscheidungen in den Fällen Norwood und Pavel Ivanov. Mit der Verneinung eines Konventionsverstoßes geht jeweils das explizite politische Unwerturteil des Gerichts über die streitgegenständliche Meinung einher.354 Ein in Nuancen weniger inhaltsbezogenes Bild bietet sich im Bereich der Gewaltaufrufe, insbesondere bei den so genannten Türkei-Fällen. Dies ist allerdings kein Zeichen einer Einschränkung oder gar eine Abkehr von der inhaltsbezogenen Methodik. Grund für den „objektiveren“ Grundtenor der Urteile ist, dass mit den – in der Regel nur vermeintlichen – Gewaltaufrufen keine mit den Grundwerten der Konvention schlechthin unvereinbare politische Auffassung zu Tage trat. Hierauf weist der EGMR ausdrücklich hin, wenn er erklärt, nicht jede For-
353 Plastisch für die Holocaust-Leugnung EGMR, Urt. v. 24.6.2003, Garaudy, RJD 2003-IX, Abs. 1 (i) der Gründe. 354 EGMR, Entsch. v. 16.11.2004, RJD 2004-XI („Such a general, vehement attack against a religious group, linking the group as a whole with a grave act of terrorism, is incompatible with the values proclaimed and guaranteed by the Convention, notably tolerance, social peace and non-discrimination. The applicant’s display of the poster in his window constituted an act within the meaning of Article 17, which did not, therefore, enjoy the protection of Articles 10 or 14.“).
E. Rechtsprechungsanalyse
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derung nach anderen politischen Verhältnissen sei mit Art. 10 EMRK unvereinbar.355 Anders gesagt: Weil diese Aufrufe in ihrer politischen Grundhaltung mit der EMRK nicht unvereinbar erscheinen, werden sie anhand objektiver, also inhaltsneutraler Kriterien beurteilt. Daran zeigt sich im Umkehrschluss zugleich die Inhaltsbezogenheit der Vorgehens- und Argumentationsweise des Gerichtshofes: Sofern in diesen Äußerungen die Unterstützung für eine zur Überzeugung des EGMR mit der Konvention unvereinbare politische Ideologie zum Ausdruck käme, griffe Art. 17 EMRK wiederum ein und der EGMR würde sich auf eine inhaltbezogene Vorgehensweise beschränken.356 b) Referenzpunkt der Inhaltsbezogenheit: Die Grundwerte der Konvention Bestimmte Inhalte werden für mit der Konvention vereinbar erklärt, andere nicht. Anhand welcher Kriterien führt der EGMR diese Inhaltskontrolle durch? Er greift auf die der Konvention zugrunde liegenden Werte, die so genannten underlying values zurück; diese bilden den zentralen Referenzpunkt seiner Rechtsprechung. Die Straßburger Organe verstehen die Konvention nicht nur als eine Rechtsordnung, die das Verhältnis zwischen dem freiheitsbeschränkenden Staat und dem freiheitsberechtigten Bürger austariert. Die in der EMRK enthaltenen Freiheitsrechte sind in den Augen des EGMR auch und vor allem Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher und politischer Grundentscheidungen zugunsten der Demokratie, des Pluralismus, der Toleranz. Der Gerichtshof begreift die Konvention als ein politisches und wertgebundenes Dokument, das – zumindest gegenüber extremistischen Positionen – zur politischen Parteinahme verpflichtet. Ganz in diesem Sinne hat der EGMR die Konvention als ein „instrument designed to maintain and promote the ideals and values of a democratic society“ bezeichnet.357
355 Vgl. etwa ex negativo EGMR, Urt. v. 13.2.2003, Refah Partisi et al., RJD 2003II, § 98. 356 Dieser Meinungsbezug ist keine Straßburger Besonderheit. Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht hat § 130 Abs. 4 StGB, der die Verherrlichung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft unter Strafe stellt, mit einer ausdrücklich meinungsbezogenen Begründung gebilligt (BVerfGE 124, 300 ff.). Zwar handele es sich bei dieser Vorschrift nicht um ein allgemeines – also meinungsneutrales – Gesetz im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG. § 130 Abs. 4 StGB sei dennoch als „meinungsspezifisches Sonderrecht“ (Begriff von Volkmann, JZ 2010, 209 [214] zulässig, weil die Befürwortung und Glorifizierung der NS-Herrschaft ein „Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach innen mit friedensbedrohendem Potential“ sei, der abgewehrt werden müsse (BVerfGE 124, 300 [327 ff.]). Ersetzt man die Formulierung der „Identität des Gemeinwesens nach innen“ mit dem von dem EGMR verwendeten Begriff der ebenfalls identitätsstiftenden „Grundwerte der Konvention“ (dazu sogleich), wird die Parallelität der Argumentation besonders deutlich. 357 EGMR, Urt. v. 7.12.1976, Kjeldsen, Busk, Madsen & Petersen, Serie A 23, § 53.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
c) Demokratiebezogenheit und Bedeutung der Menschenwürde Wendet man sich diesen Grundwerten im Detail zu, erweist sich die Inhaltsbezogenheit zunächst als Demokratiebezogenheit. Der EGMR entnimmt der EMRK in seinen Urteilen zu den türkischen Parteiverboten ein klares Bekenntnis zur Demokratie als von der Konvention geforderte und vorausgesetzte Staatsform.358 Aus diesem Bekenntnis ergibt sich die konkrete Konsequenz, dass jeder Äußerung und jeder Aktivität, die auf die Abschaffung der demokratischen Staatsform zielt, wegen Art. 17 EMRK der Schutz der Konvention zu versagen ist. Die Gedanken der wehr- und werthaften Demokratie fließen an dieser Stelle ineinander: Die grundlegenden Werte der Konvention können zur Überzeugung des EGMR nur in einer Demokratie verwirklicht werden. Dies legitimiert eine Einschränkung des Konventionsschutzes gegenüber den (tatsächlichen oder vermeintlichen) Feinde der Demokratie. Auch die Menschenwürde geht in der Inhaltsbezogenheit auf, vor allem soweit damit die Grundüberzeugung der prinzipiellen Gleichheit eines jeden Menschen, also ein fundamentales Diskriminierungsverbot gemeint ist.359 Insbesondere bei der Ablehnung rassistischer Äußerungen findet dies prägnanten Ausdruck. Aber auch wenn der EGMR darauf hinweist, dass mit der Volksverhetzung regelmäßig auch eine Beleidigung, also eine Verletzung des sozialen Achtungsanspruchs Dritter verbunden ist, kommt dieser Aspekt deutlich zum Tragen.360 Konsequenz dieser Inhaltsbezogenheit ist ein tendenzielles Übergewicht der demokratisch-funktionalen Komponente der Äußerungsfreiheit gegenüber dem liberalen Gesichtspunkt der Selbstverwirklichung. Weil die Äußerungsfreiheit der Demokratie dient, kann sie nicht solche Äußerungen schützen, die – in letzter, auch entfernter Konsequenz – die Demokratie zerstören würden. Der liberale Gedanke, dass Art. 10 EMRK auch solche Äußerungen schützt, die schockieren, verletzen oder verstören, büßt einen Teil seiner eigenständigen, Art. 10 EMRK tragenden Bedeutung ein. d) Gefahrenneutralität Die Gefahrenneutralität tritt als weiterer Wesenszug der Rechtsprechung des EGMR neben die Inhaltsbezogenheit. Der Gerichtshof prüft kaum – fast nie – ob den (verbotenen) Worten auch (verbotene) Taten folgen könnten, ob mithin eine 358 Deutlich insb. EGMR, Urt. v. 30.1.1998, United Communist Party of Turkey, RJD 1998-I, § 45. 359 Dazu Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 113. 360 Als Beispiel sei hier die frühe Leitentscheidung der EKMR in Glimmerveen & Hagenbeek gennant, Entsch. v. 11.10.1979, DR 18, 187 (194); ähnlich Douglas-Scott, 7 Wm. & Mary Bill of Rts. J. 305, 343 (1999).
E. Rechtsprechungsanalyse
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konkrete Gefahr bestand.361 Ebenso wenig interessiert sich der EGMR für die Frage, ob eine demokratiefeindliche Äußerung überhaupt das tatsächliche Potential hat, dem demokratischen Prozess signifikanten Schaden zuzufügen. Bereits die abstrakte Gefahr, dass womöglich erst bei zeitlich gestreckter und kumulativer Betrachtung ein solcher Schaden eintritt, reicht für den Gerichtshof grundsätzlich aus, um einen Verstoß gegen Art. 10 EMRK zu verneinen. Diese „präventive“ Vorgehensweise entspricht der der gedanklichen Logik der Rechtsprechung: In Anbetracht des nahezu maximalen Rangs des Schutzguts – der Demokratie – vermag bereits eine geringe Gefahr ein staatliches Einschreiten zu rechtfertigen. Die Überzeugungskraft dieser nahezu polizeirechtlichen Logik ist allerdings begrenzt, gerade weil sich auf diese Weise letztlich jeder Eingriff rechtfertigen lässt, solange nur eine entfernte Gefahr für die Demokratie konstruiert werden kann. Die Erwartung, dass die Demokratie mit zumindest einem Teil ihrer Feinde aus eigener Kraft also ohne staatlichen Eingriff fertig werden kann und muss, formuliert der EGMR nicht. aa) Holocaust-Leugnung Diese gefahrenneutrale Vorgehensweise findet sich bereits im Bereich der Holocaust-Leugnung. Solche Äußerungen rufen in der Regel nicht zu konkreten Taten auf, sie bestreiten „nur“ das Unbestreitbare. Ob die Gefahr besteht, dass tatsächlich ein erheblicher Teil der Bevölkerung der Auschwitzlüge Glauben schenkt, ob also ein Ausfall der Kräfte der Gegenrede, ein „demokratisches Versagen“, zu befürchten steht, ist für den EGMR ohne Belang. Es ist der „nackte“ Inhalt der Aussage, nicht ihre potentielle Auswirkung, der den staatlichen Eingriff rechtfertigt. Sofern der EGMR die möglichen Langzeiteffekte, etwa eine schleichende Verschlechterung oder Radikalisierung des gesellschaftlich-politischen Klimas aufgrund einer wachsenden Akzeptanz extremistischer Positionen befürchtet, spricht er dies nicht offen an. Letztlich unterstreicht diese Gefahrenneutralität die inhaltsbezogene Vorgehensweise des EGMR. Bereits der Inhalt, nicht erst der Effekt einer Äußerung rechtfertigt den Eingriff. bb) Volksverhetzungen Der Aspekt der Gefahrenneutralität ist nicht auf den Bereich der Auschwitzlüge beschränkt. Im Zusammenhang mit extremistischen Meinungsäußerungen tritt er ebenfalls – vielleicht sogar noch deutlicher – zu Tage. Klarer Beleg ist der Fall Norwood. 362 Das dort streitgegenständliche, radikal-islamkritische Plakat war nur von wenigen Personen wahrgenommen worden. Muslime waren nicht 361 Für eine mit Blick auf die Besonderheiten des Falls wohl nicht verallgemeinerungsfähige Ausnahme siehe EGMR, Urt. v. 6.7.2006, Erbakan, Nr. 59405/00, § 68. 362 EGMR, Entsch. v. 16.11.2004, RJD 2004-XI.
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1. Kap.: Der Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK
unter ihnen. Die Gefahr, dass es aufgrund der rechtsradikalen Aussage des Plakats zu Gewalttätigkeiten kommen würde, bestand nicht. Auch die Gefahr, dass das Plakat nennenswerte Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte, erscheint entfernt. Betont gefahrenneutral lässt der EGMR diese Aspekte außer Betracht. Ihm genügt, dass durch das Poster eine politisch-ideologische Aussage verbreitet wird, die mit den Grundwerten der Konvention unvereinbar ist. Die Frage, ob angesichts der allenfalls minimalen Gefahr nicht darauf hätte vertraut werden können, dass sich die Dinge von selbst regeln, stellt sich der Gerichthof auch hier nicht. cc) Gewaltaufrufe Dem Prinzip der Gefahrenneutralität bleibt der EGMR auch bei den Gewaltaufrufen treu, obwohl gerade hier eine gefährlichkeitsbezogene, also auf die konkrete Gewaltgefahr ausgerichtete Vorgehensweise nahe gelegen hätte. Geradezu fixiert auf den Wortlaut der Äußerung – und damit wiederum gefahrenneutral – fragt der Gerichtshof zunächst, ob die Äußerung eindeutig als Aufruf zur Gewalt zu verstehen ist. Handelt es sich um einen eindeutigen Aufruf zu Gewalt oder anderem illegalem Verhalten, verweigert der EGMR den Schutz des Art. 10 EMRK – und zwar unabhängig davon, ob zu befürchten stand, dass den Worten Taten folgen würden. Auch hier scheint die Wertung des EGMR durch, dass (die Aufforderung zu) Gewalt kein adäquates Mittel zur Meinungsbildung ist und daher eine politische Meinungsäußerung in Form eines auch „ungefährlichen“ Gewaltaufrufs nicht den Schutz des Art. 10 EMRK beanspruchen kann. Ist der Wortlaut nicht eindeutig, so überwindet der EGMR hin und wieder die Gefahrenneutralität und versucht, anhand einer eingehenden Analyse des Einzelfalls das „Eskalationspotential“ der jeweiligen Äußerung zu ermitteln. Dabei konzentriert sich die Analyse des Gerichtshofs allerdings primär darauf, den Sinn der Äußerung zu ermitteln. Eine spezifische Analyse der „Gefahrenlage“ unterbleibt auch hier, von einem gelegentlichen Verweis auf die „Explosivität“ der Situation (etwa im Südosten der Türkei vor dem Hintergrund des Kurden-Konflikts) abgesehen. Handelt es sich den Umständen nach um einen Gewaltaufruf, sind die Grenzen des Art. 10 EMRK erreicht. Dies gilt auch, wenn die Anwendung von Gewalt nicht absehbar gewesen sein sollte. e) Abwägungsbezogenheit und Abwägungsfeindlichkeit Die Rechtsprechung des EGMR ist schließlich abwägungsbezogen und abwägungsfeindlich zugleich. In dem Maße, in dem Art. 17 EMRK zur Anwendung gelangt, lässt der EGMR eine echte Abwägung, die nur im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung erfolgen könnte, nicht zu. Vielmehr folgt der Gerichtshof einem fast kategorischen Ansatz, nach dem bestimmte Äußerungen ob ihres Inhalts dem Schutzbereich des Art. 10 EMRK entzogen sind, weil die Gegeninteressen kate-
E. Rechtsprechungsanalyse
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gorisch überwiegen. In dem Maße, in dem sich der EGMR allerdings – etwa im Bereich der nicht ausdrücklichen Gewaltaufrufe – von dieser nahezu kategorischen Perspektive löst, lässt er eine einzelfallbezogene Abwägung zu. Dennoch bleibt der Befund starker Kategorisierung, der mit der im Übrigen abwägungsfreundlichen Rechtsprechung des EGMR kontrastiert. Die Kategorisierung findet ihren Grund in der Inhaltsbezogenheit und Gefahrenneutralität der Rechtsprechung des EGMR. Im Rahmen eines Abwägungsvorgangs wäre der jeweilige Eingriff zunächst in Beziehung zu den legitimen Zielen zu setzen, denen er dient. In einem zweiten Schritt wäre die (drohende) Beeinträchtigung dieser Zielsetzungen sodann mit der Einbuße an individueller Freiheit abzuwägen. Indem der Gerichtshof seine Argumentation aber nicht an die legitimen Ziele des Eingriffs rückbindet, sondern unmittelbar prüft, ob ein bestimmter Inhalt mit den Werten der Konvention vereinbar ist, verweigert er bereits den Einstieg in eine Abwägung. Wie bereits angedeutet, lässt sich allerdings von einer vorweggenommenen Abwägung sprechen. In gewisser Weise scheint der Gerichtshof davon auszugehen, dass die Konvention in Art. 17 EMRK vorweggenommen hat, dass bei Äußerungen, die den Grundwerten der Konvention zuwiderlaufen, Art. 10 EMRK hinter das Selbstbehauptungsinteresse der demokratischen Gesellschaft und der damit verbundenen demokratischen Werte zurücktreten muss. Bemerkenswerterweise stehen Wertgebundenheit und Abwägungsoffenheit zueinander in gewisser Spannung.
Zweites Kapitel
Der Schutz der Äußerungsfreiheit in den Vereinigten Staaten von Amerika Der erste Zusatzartikel (im Folgenden: First Amendment) wurde als Teil der Bill of Rights im Jahre 1791 in die amerikanische Verfassung eingefügt, also rund 15 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung und vier Jahre nach dem Verfassungskonvent von Philadelphia.363 Seinem Wortlaut nach verbietet das First Amendment dem Kongress, die Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und das Petitionsrecht durch Gesetz zu beschränken. Darüber hinaus steht der Artikel der Gründung einer Staatsreligion sowie der Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Religionen durch Bundesgesetz entgegen: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people to peaceably assemble, and to petition the government for a redress of grievances.“
Seit langem ist anerkannt, dass dieser Verfassungszusatz – über seinen Wortlaut hinaus – die gesamte öffentliche Gewalt bindet und, in Verbindung mit dem 14. Verfassungszusatz, auch gegenüber den Bundesstaaten gilt.364 Wenngleich das First Amendment seit 1791 Bestandteil der amerikanischen Verfassung ist, dauerte es bis 1919, also geschlagene 128 Jahre, bis der Supreme Court – und dies auch nur in einer dissenting opinion – einer auf das First Amendment gestützten Klage nähertrat.365
A. Theoretische Ansätze In der amerikanischen Rechtswissenschaft sind zahlreiche Versuche unternommen worden, eine umfassende Theorie des First Amendment zu entwickeln. Besonderen Einfluss auf die Rechtsprechung des Supreme Court haben sie nicht 363 Zur Geschichte des First Amendment Lewis, Freedom for the Thought That We Hate, S. 1 ff. 364 So genannte Theory of Incorporation, auf die Äußerungsfreiheit angewandt etwa in Gitlow v. New York, 268 U.S. 652, 666 (1925); Virginia v. Black, 538 U.S. 343, 358 (2003); Weaver/Lively, S. 6; Farber, S. 10 f. 365 Lewis, Freedom for the Thought That We Hate, S. 23.
A. Theoretische Ansätze
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entfaltet.366 Die Hauptströmungen in dieser theoretischen Debatte sollen dennoch kurz umrissen werden. Im Wesentlichen stehen sich individualistische und instrumental-funktional geprägte Ansätze gegenüber.367
I. Instrumental-funktionale Ansätze Die Versuche, eine Theorie des First Amendment aus dessen Funktion(en) zu entwickeln, sind zahlreich. So wird das First Amendment als ein Mittel zur Wahrheitsfindung oder zum Ausgleich widerstreitender gesellschaftlicher und politischer Interessen verstanden. Die durch das First Amendment ermöglichte und geschützte öffentliche Debatte fördere auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die soziale Stabilität, weil sie als „Überdruckventil“ 368 die Möglichkeit biete, Auseinandersetzungen mit dem Wort, nicht mit Gewalt auszutragen. Andere verstehen das First Amendment insbesondere als ein Instrument zur Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung. Dritte sehen im First Amendment ein Mittel der Toleranz gegenüber Andersdenkenden.369 Und zahlreich sind die Stimmen, die das First Amendment – wie die Redefreiheit überhaupt – als Instrument des demokratischen Prozesses und der demokratischen Kontrolle deuten.370 Die demokratische Funktion der Redefreiheit steht außer Frage. Dennoch ist es problematisch, die Reichweite dieser Freiheit anhand einer einzigen Funktion bestimmen zu wollen. Eine solche ausschließlich instrumentale Sichtweise übergeht zum einen, dass Redefreiheit auch die Freiheit zur (gänzlich unpolitischen) Selbstentfaltung ist. Zum anderen suggeriert eine rein funktionale Betrachtungsweise eine klare Trennung zwischen politischen und „trivialen“ Inhalten, die es jedoch nicht gibt. Auch scheinbar banale Äußerungen können unerwartet politi-
366 Weaver/Lively, S. 11, betonen, dass sich der Supreme Court nie eine der kursierenden Theorien zu Eigen gemacht habe. 367 Farber, S. 3; so auch Emerson, The System of Freedom of Expression, zitiert nach Franklin/Anderson/Cate, S. 11. Franklin/Anderson/Cate, S. 12 ff., unterscheiden zwischen „Consequential Values“, „Personal Values“ und „Eclecticism“. 368 Farber, S. 6 („safety valve argument“); Barron/Dienes, S. 14 f., in diesem Sinne auch Emerson, The System of Freedom of Expression, zitiert nach Franklin/Anderson/ Cate, S. 10 („Freedom of expression thus povides a framework in which the conflict necessary to the progress of society can take place without destroying society.“). 369 Dies ist der Ansatz von Bollinger, The Tolerant Society, S. 104 ff. 370 Zu diesen verschiedenen funktionellen Sichtweisen auch Meiklejohn, Free Speech and its Relation to Self-Government, S. 24 ff.; ders., 1961 Sup. Ct. Rev. 245 (1961); Sunstein, Democracy and the Problem of Free Speech, S. 35; Bork, 47 Ind. L. J. 1 (1971); Blasi, 1977 A.B.A. Found. Res. J. 521 (1977); ders., in: Bollinger/Stone, Eternally Vigilant, S. 62 ff.; Bollinger, The Tolerant Society, S. 104 ff.; eine knappe Zusammenfassung sämtlicher der Redefreiheit zugeschriebener Funktionen bietet Greenawalt, 42 Rutgers L. Rev. 287, 289 (1990); vgl. auch Barron/Dienes, S. 9 ff.; Farber, S. 3 ff.
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
sche Bedeutung erlangen, umgekehrt stellt sich manche oberflächlich politisch anmutende Äußerung häufig als trivial heraus. Aus diesem Grund mussten prominente Vertreter eines streng funktionalen Ansatzes wie Alexander Meiklejohn und Robert Bork ihre Auffassungen im Laufe der Zeit relativieren. Wollte Meiklejohn ursprünglich den Schutz des First Amendment nur auf die Diskussion solcher Fragen erstrecken, über die auch die Wähler zu entscheiden haben, hat er den Schutzbereich später auch auf benachbarte Themen wie die Diskussionen über Fragen der Sozialwissenschaften, der Kunst und der Bildung ausgeweitet. Bork, der zunächst nur im engeren Sinne politische Rede schützen wollte, hat den Begriff des Politischen schließlich derart umfassend beschrieben, dass nahezu jede Thematik bei entsprechender Begründung als politisch anzusehen wäre.371 In der Folge dieser Zugeständnisse büßen die Theorien ihre Trennschärfe und damit ihre Erklärungskraft ein.
II. Individualistische Ansätze Einer zweckgerichteten Auslegung des First Amendment stehen individualistische und libertär geprägte Ansätze gegenüber. Sie verstehen die Redefreiheit nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Zweck an sich. Danach steht die Verwirklichung des Individuums im Vordergrund. Wird die Redefreiheit auf eine bestimmte Zwecksetzung, etwa die Wahrheitsfindung reduziert, verliere sie den Facettenreichtum, der zur Gestaltung des gesellschaftlichen Wechsels erforderlich sei. Aus der Selbstverwirklichung des Redners mögen sich auch gesellschaftlich und politisch wünschenswerte und in einer Demokratie notwendige Effekte ergeben. Diese seien jedoch nur abgeleitete Effekte und nicht Teil einer vorgegebenen Funktion der Redefreiheit.372 Der zentrale und durchgreifende Einwand gegen diese rein libertären Sichtweisen ist, dass sie den besonderen Schutz nicht erklären können, der der freien Rede im Vergleich zu bloßem self-expressive conduct zuteil wird.373 Letztlich ergibt sich der besondere Stellenwert der Äußerungsfreiheit aus der engen Verbindung zwischen der Freiheit des Einzelnen und dem Wohl der Allgemeinheit.
III. Eklektizistische Ansätze So genannte eklektizistische Ansätze verbinden mehrere theoretische Überlegungen miteinander. Sie beschränken die Äußerungsfreiheit nicht auf instrumen371
Diese Zugeständnisse beschreiben Barron/Dienes, S. 12. Prägnant Baker, Human Liberty and Freedom of Speech, S. 47 ff. („derivative values“); ders., 25 U.C.L.A. L. Rev. 964 (1978). 373 Barron/Dienes, S. 13 f.; in diesem Sinne auch Farber, S. 4 („speech is not unique in its role to self-realization“). 372
A. Theoretische Ansätze
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tale oder libertäre Zielsetzungen, sondern kombinieren die verschiedenen Schutzzwecke.374 Der prägende Vertreter eines solchen „gemischten“ Verständnisses der theoretischen Grundlagen des First Amendment ist Thomas Emerson. In seinem 1970 erschienenen Buch „The System of Freedom of Expression“ definierte Emerson vier zentrale Grundannahmen, auf denen die Äußerungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft beruhe375: Zunächst ermögliche die Redefreiheit die Selbstverwirklichung. Als Mitglied der Gesellschaft habe jeder das Recht, seine Meinung zu den auch ihn betreffenden Fragen zu äußern. Werde ihm dieses Recht verweigert, so unterliege er der willkürlichen und seiner unwürdigen Bevormundung Dritter. Zweitens schütze die Äußerungsfreiheit Wahrheit und Wissen. Derjenige, der auf der Suche nach Wahrheit sei, müsse alle Seiten der Medaille kennen, alle Möglichkeiten in Betracht ziehen und seine eigene Überzeugung durch die Konfrontation mit der Gegenauffassung testen. Dies erfordere Diskussion, selbst wenn die Richtigkeit einer Auffassung nahezu allgemein anerkannt sei oder eine Überzeugung von nahezu allen abgelehnt werde. Drittens sei die Äußerungsfreiheit Voraussetzung der partizipativen (politischen) Entscheidungsfindung innerhalb der Gesellschaft. Nach der Unabhängigkeitserklärung von 1776 leite die Regierung ihre Befugnisse aus der Zustimmung der Regierten („consent of the governed“) ab. Diese Zustimmung könne nur entstehen (und Regierungsgewalt nur legitimiert werden), wenn die zu entscheidenden Fragen vorher in völliger Freiheit diskutiert würden. Schließlich sei die Äußerungsfreiheit ein Mittel zur Stabilisierung der Gesellschaft. Sie schaffe ein Gleichgewicht zwischen gesundem Konflikt und notwendigem Konsens. Träte Gewalt an die Stelle öffentlicher Diskussion, würden rationale Entscheidungen vereitelt. Und: Die offene Diskussion fördere auch den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft. Denn derjenige, der wenigstens ein Mitspracherecht genossen habe, sei eher bereit, gegen sein Votum gefallene Entscheidungen hinzunehmen. Mit diesen vier Grundannahmen verbindet Emerson zwei Konsequenzen: Die freie Rede darf nicht ihres Inhalts wegen unterdrückt werden.376 Zugleich gilt: 374 Franklin/Anderson/Cate, S. 26, unter Verweis auf Schauer, 78 Nw. U. L. Rev. 1284, 1303-04 (1983) und Shiffrin, 78 Nw. U. L. Rev. 1212, 1283 (1983). 375 Emerson, The System of Freedom of Expression, zitiert nach Franklin/Anderson/ Cate, S. 9 ff. („self-fulfillment“; „advancing knowledge and discovering truth“; „participation in decision making by all members of society“; „method of achieving a more adaptable and hence more stable community, of maintaining the precarious balance between healthy cleavage and necessary consensus“); siehe auch Emerson, 72 Yale L. J. 877 (1963). 376 Emerson, The System of Freedom of Expression, zitiert nach Franklin/Anderson/ Cate, S. 11.
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
Während die Mehrheit entscheidet, was getan wird (action bzw. conduct), genießt jede noch so kleine Minderheit das Recht zur Rede (speech, right to talk).377 Die strenge Trennung zwischen dem besonders geschützten Wort und der bloßen Tat kennzeichnet Emersons Denkweise. Auch der Supreme Court grenzt regelmäßig zwischen speech und conduct ab. Diese Trennung erlaubt es beispielsweise, die Strafschärfung bei so genannten hate crimes, also Verbrechen, die etwa aus rassistischer Motivation begangen werden, (anders als die unmittelbare Regulierung von Hassrede) für verfassungsgemäß zu erklären. Hate crimes knüpfen nicht an die Worte des Beschuldigten, sondern an seine Taten an. Taten stehen indes nicht unter dem Schutz des First Amendment.378
IV. Der Ansatz des Supreme Court Der Supreme Court hat sich nie ausdrücklich oder implizit zu einem dieser Ansätze bekannt.379 Mag man einige Äußerungen des berühmten Richters Oliver Wendell Holmes dahin verstehen, das Ziel des First Amendment liege in der Ermittlung der (allerdings subjektiven bzw. relativen)380 Wahrheit, bekannte sich zeitgleich sein intellektueller Weggefährte Louis D. Brandeis in einer der berühmtesten Passagen der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung zu einem facettenreichen Verständnis der Meinungsfreiheit: „Those who won our independence believed that the final end of the State was to make men free to develop their faculties; and that in its government the deliberative forces should prevail over the arbitrary. They valued liberty both as an end and as a means. They believed liberty to be the secret of happiness and courage to be the secret of liberty. They believed that freedom to think as you will and to speak as you think are means indispensable to the discovery and spread of political truth; that without free speech and assembly discussion would be futile; that with them, discussion affords ordinarily adequate protection against the dissemination of noxious doctrine; that the greatest menace to freedom is an inert people; that public discussion is a political duty; and that this should be a fundamental principle of the American government. They recognized the risks to which all human institutions are subject. But they knew that order cannot be secured merely through fear of punishment for its infraction; that it is hazardous to discourage thought, hope and imagination; that fear 377 Emerson, The System of Freedom of Expression, zitiert nach Franklin/Anderson/ Cate, S. 11. 378 Wisconsin v. Mitchell, 508 U.S. 476, 487 (1993) („But whereas the ordinance struck down in R.A.V. was explicitly directed at expression [. . .] the statute in this case is aimed at conduct unprotected by the First Amendment.“); vgl. auch Roberts v. United States Jaycees, 468 U.S. 609, 628 (1984); hierzu auch Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 175. 379 Allgemein Farber, S. 6 f. 380 Krotoszynski, S. 17 („Although Holmes’s approach ostensibly seeks truth, ,truth‘ in the Holmesian tradition is socially constructed by operation of the market.“).
A. Theoretische Ansätze
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breeds repression; that repression breeds hate; that hate menaces stable government; that the path of safety lies in the opportunity to discuss freely supposed grievances and proposed remedies; and that the fitting remedy for evil counsels is good ones. Believing in the power of reason as applied through public discussion, they eschewed silence coerced by law – the argument of force in its worst form. Recognizing the occasional tyrannies of governing majorities, they amended the Constitution so that free speech and assembly should be guaranteed.“ 381
In den Urteilen des Supreme Court taucht immer wieder das Bild von einem „Marktplatz der Ideen“ auf. Dabei handelt es sich nicht um eine Theorie im eigentlichen Sinne. Die Marktplatz-Metapher sagt wenig über den übergeordneten Zweck der Äußerungsfreiheit aus. Einige (unter ihnen Oliver Wendell Holmes) verstehen diesen Marktplatz als ein Instrument, um die (allerdings relative) Wahrheit zu ermitteln.382 Für andere ist die Frage nach dem Marktzweck bereits falsch, sie begreifen den Wettbewerb der Meinungen als Zweck an sich. Beide Sichtweisen finden ihre Stütze in den philosophischen Ursprüngen des jungen demokratischen Amerika. 1. John Milton und John Stewart Mill: Die Verbindung zwischen Freiheit und Wahrheit In seiner berühmten am 23. November 1644 veröffentlichten Rede Areopagitica wandte sich John Milton gegen die mit dem Licensing Order von 1643 in England eingeführte Zensur. Dieses libertäre Plädoyer für die Freiheit der Rede beruht auf der Überzeugung, dass sich die Wahrheit im freien Spiel der Kräfte stets gegenüber dem Falschen durchsetzt: „And though all the winds of doctrine were let loose to play upon the earth, so Truth be in the field, we do injuriously, by licensing and prohibiting, to misdoubt her strength. Let her and Falsehood grapple; who ever knew Truth put to the worse in a free and open encounter?“ 383
Die Überzeugung, dass die freie Debatte der Wahrheit stets ans Licht hilft – sie anderenfalls aber droht, unterzugehen – teilte John Stewart Mill. In seinem 381 Whitney v. California, 274 U.S. 357, 375 (1927) (Brandeis, J., concurring); Oliver Wendell Holmes schloss sich diesem Sondervotum an. 382 Ähnlich Farber, S. 4 („The truth-seeking rationale is often called the ,marketplace of ideas‘.“). 383 Milton, Areapagitica: A speech of Mr John Milton for the liberty of unlicensed printing to the Parliament of England, 1644, zitiert nach Blasi, S. 88 f. Milton war kein „free speech-absolutist“, despektierliche Äußerungen etwa der Kirche gegenüber sollten durch „Feuer und Henker“ bestraft werden können, Douglas-Scott, 7 Wm. & Mary Bill of Rts. J. 305, 312 (1999); siehe auch Lewis, Freedom for the Thought That We Hate, S. 2 f.; zum „Millian Fallibilism“ Schauer, in: Herz/Molnar, S. 129 (131 ff.) („Only by permitting the expression of that which we most fervently and confidently believe to be false, [Mill] argues, do we retain the possibility of learning new truths and of rejecting as false that which we now mistakenly believe to be true.“).
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
Text „On Liberty“, einem der Gründertexte des klassischen Liberalismus, sprach sich Mill nachdrücklich für die freie Rede aus. Diese sei die Grundvoraussetzung für den intellektuellen und gesellschaftlichen Fortschritt. Stets sei es falsch, eine Äußerung zu unterdrücken, weil nie ausgeschlossen werden könne, dass sie einen Funken Wahrheit enthält. Selbst wenn dem nicht so sein sollte, sei eine „falsche“ Meinung nicht wertlos. In einer auch vom Supreme Court zitierten384 Passage schrieb Mill 1859: „But the peculiar evil of silencing the expression of an opinion is, that it is robbing the human race; posterity as well as the existing generation; those who dissent from the opinion, still more than those who hold it. If the opinion is right, they are deprived of the opportunity of exchanging error for truth: if wrong, they lose, what is almost as great a benefit, the clearer perception and livelier impression of truth, produced by its collision with error. [. . .] The real advantage which truth has, consists in this, that when an opinion is true, it may be extinguished once, twice, or many times, but in the course of ages there will generally be found persons to rediscover it, until some one of its reappearances falls on a time when from favourable circumstances it escapes persecution until it has made such head as to withstand all subsequent attempts to suppress it.“ 385
Sowohl Milton als auch Mill ziehen eine Verbindung zwischen Freiheit und Wahrheit. Je größer die Freiheit der Rede, desto schneller wird sich das Richtige gegenüber dem Falschen, die Wahrheit gegenüber Lüge und Irrtum durchsetzen. Die Freiheit der Rede wird damit nicht, zumindest nicht ausschließlich, um ihrer selbst Willen geschützt, sondern auch mit dem Zweck, die Wahrheit, das Richtige zu ermitteln. Damit die Wahrheit aber ihre (Überzeugungs-)Kraft entfalten kann, muss der Prozess der öffentlichen Debatte frei von staatlicher Behinderung sein. Der Marktplatz der Ideen findet hier seine Grundlage und eine erste philosophische Rechtfertigung. 2. Oliver Wendell Holmes und Louis D. Brandeis Die Metapher des Marktplatzes der Ideen fand durch ein Sondervotum des berühmten Verfassungsrichters Oliver Wendell Holmes Eingang in die Rechtsprechung des Supreme Court.386 Wenngleich es sich um eine abweichende Meinung handelte, ist der Einfluss dieses Votums auf die Rechtsprechung und die akademische Debatte nicht hoch genug einzuschätzen. 1919 schrieb Holmes in Abrams v. United States: 384
Bspw. New York Times v. Sullivan, 376 U.S. 254, 279 (1964). Mill, On Liberty, 1859, Kapitel 2, zitiert nach Blasi, S. 327, 335. Auch Mill forderte keine absolute Redefreiheit. Die Grenze sei erreicht, wenn die Äußerung zu einer „positive instigation to some mischievous act“ gerate, denn „actions“ könnten nicht so frei sein wie „opinions“, ders., On Liberty, Kapitel 3, zitiert nach Blasi, S. 354 f.; vgl. auch Jones, 18 Suffolk Transnat’l L. Rev. 427 (486). 386 Rosenfeld, 24 Cardozo L. Rev. 1523, 1533 (2003). 385
B. Die Struktur des First Amendment
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„Persecution for the expression of opinions to me seems perfectly logical. If you have no doubt of your premises or your power and want a certain result with all your heart you naturally express your wishes in law and sweep away all opposition. To allow opposition by speech seems to indicate that you think the speech important, as when a man says that he has squared the circle, or that you do not care whole heartedly for the result, or that you doubt either your power or your premises. But when men have realized that time has upset many fighting faiths, they may come to believe even more than they believe the very foundations of their own conduct that the ultimate good desired is better reached by free trade in ideas – that the best test of truth is the power of the thought to get itself accepted in the competition of the market, and that truth is the only ground upon which their wishes safely can be carried out. That at any rate is the theory of our Constitution.“ 387
Richter Brandeis, der sich diesen Zeilen von Holmes angeschlossen hatte, definierte die Funktionsweise des Marktplatzes der Ideen in einem Sondervotum einige Jahre später im bereits zitierten Fall Whitney.388 Brandeis schrieb: „If there be time to expose through discussion the falsehood and fallacies, to avert the evil by the processes of education, the remedy to be applied is more free speech, not enforced silence. Only an emergency can justify repression.“ 389
Diese beiden Sondervoten, die übrigens in Entscheidungen über Aufrufe zu illegalem Verhalten ergingen, benennen den zentralen Selbstheilungs- und Kontrollmechanismus des Marktplatzes der Ideen: Die Gegenrede. Das Vertrauen auf die Gegenrede ist zugleich ein Vertrauen in die Vernunft. Quell dieses Vertrauens ist die Überzeugung, dass sich auf mittlere und lange Sicht die „vernünftige“ Lösung in der Diskussion durchsetzen wird. Allerdings ist das Ergebnis des Wettbewerbs der Ideen zu akzeptieren, auch wenn es dem Einzelnen noch so unvernünftig erscheint. Holmes macht dies an folgendem Beispiel deutlich: „If in the long run the beliefs expressed in proletarian dictatorship are destined to be accepted by the dominant forces of the community, the only meaning of free speech is that they should be given their chance and have their way.“ 390
B. Die Struktur des First Amendment Der Schutzbereich des First Amendment ist weit gefasst. Geschützt werden nicht nur sämtliche Formen der verbalen Kommunikation – seien sie politisch oder kommerziell391. Der Schutz des First Amendment gilt auch für symbolische 387 Abrams v. United States, 250 U.S. 616, 630 (1919) (Holmes, J., dissenting). Richter Brandeis trat diesem Sondervotum bei. 388 Richter Holmes trat seinerseits diesem Sondervotum bei. 389 Whitney, 274 U.S. at 377 (Brandeis, J., concurring). 390 Abrams, 250 U.S. at 630 (Holmes, J., dissenting); siehe auch Krotoszynski, S. 14, 17. 391 Central Hudson Gas v. Public Service Commission, 447 U.S. 557 (1980); Virginia State Board of Pharmacy v. Virginia Citizens Consumer Council, 425 U.S. 748 (1976).
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
Verhaltensweisen (expressive conduct), also Formen des nonverbalen Ausdrucks.392 Wie im Fall von Art. 10 EMRK werden auch und gerade solche Äußerungen geschützt, die in besonders provokanter Weise die Grenzen des guten Geschmacks überschreiten.393 In einer Entscheidung des Supreme Court, die das öffentliche Verbrennen der amerikanischen Flagge unter den Schutz des First Amendment stellt, heißt es: „If there is a bedrock principle underlying the First Amendment, it is that the government may not prohibit the expression of an idea simply because society finds the idea itself offensive or disagreeable.“ 394
Seinem Wortlaut zum Trotz gewährleistet das First Amendment die Freiheit der Rede nicht einschränkungslos.395 Die Richter Douglas und Black traten über Jahrzehnte für ein absolutes, also schrankenloses Verständnis dieses Grundrechts ein,396 konnten die Mehrheit des Supreme Court von ihrer Position aber nicht überzeugen.397
I. Vorfrage: Sind Internet-Inhalte rundfunkähnlich? Die amerikanischen Medien genießen nicht durchgängig den gleichen Schutz des First Amendment. Der Rundfunk darf strengeren inhaltlichen Anforderungen unterworfen werden.398 Hieraus ergibt sich die Frage, wie Internet-Inhalte generell einzuordnen sind. Diese Frage soll zunächst beantwortet werden, bevor auf weitere Einzelheiten der Struktur des First Amendment eingegangen wird. Nach der Rechtsprechung des Supreme Court unterliegt der Rundfunk im Einklang mit dem First Amendment einer strengeren Inhaltsregulierung. Aufgrund seiner Allgegenwärtigkeit erreiche der Rundfunk den Einzelnen nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der privaten Abgeschiedenheit seines Zuhauses. An diesem Ort sei das Interesse, nicht mit unangenehmen oder gar anstößigen Inhalten konfrontiert zu werden, besonders geschützt.399 Der Gefahr einer sol392 Virginia v. Black, 538 U.S. 343 (2003) (cross-burning); R.A.V. v. St. Paul, 505 U.S. 377, 382 (1992) (cross-burning); Texas v. Johnson, 491 U.S. 397, 406 (1989) (Verbrennen der amerikanischen Flagge); Cohen v. California, 403 U.S. 15, 18 (1971) (Tragen eines Aufklebers „Fuck the Draft“); Tinker v. Des Moines Independent Community School District, 393 U.S. 503, 505–506 (1969) (schwarze Armbänder als Symbol der Ablehnung des Vietnam-Kriegs); Farber, S. 39 („symbolic speech“). 393 New York Times Co. v. Sullivan, 376 U.S. 254, 270 (1964); Watts v. United States, 394 U.S. 705, 708 (1969). 394 Johnson, 491 U.S. at 414. 395 Siehe bspw. Whitney, 274 U.S. at 371. 396 Siehe bspw. die Sondervoten von Richter Black in Konigsberg v. State Bar of California, 366 U.S. 36, 56 (1961) (dissenting); Smith v. California, 361 U.S 147, 157– 159 (1959) (concurring). 397 Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 134 ff.; Stock, S. 79 ff.; Voss, S. 162 ff. 398 Siehe insg. FCC v. Pacifica Foundation, 438 U.S. 726, 748–50 (1978).
B. Die Struktur des First Amendment
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chen unerwarteten Konfrontation könne nicht durch warnende Hinweise auf bestimmte Inhalte begegnet werden, da die Zuhörer und Zuschauer die verschiedenen Programme ständig aus- und einschalteten und daher stets von Anstößigem überrascht werden könnten. Den Hinweis, wem das Programm nicht passe, könne es abschalten, lässt der Supreme Court nicht gelten.400 Das vielleicht entscheidende Argument ist der Jugendschutz.401 Anders als das geschriebene Wort sei der Rundfunk Kindern leicht zugänglich – auch solchen, die noch nicht lesen können. Die Notwendigkeit, die Jugend vor entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten zu schützen, rechtfertige es, den Verkauf bestimmter Zeitschriften nur an Erwachsene zu gestatten. Im Gegensatz zur Presse könne der Rundfunk den Zugang des Publikums zu bestimmten Teilen jedoch nicht beschränken. Daher sei es gerechtfertigt, bestimmte Inhalte dem Rundfunkpublikum insgesamt vorzuenthalten.402 Bei der Regulierung des Internets stellte sich zunächst die Frage, ob die Online-Kommunikation dem Rundfunk oder der Presse gleichzustellen ist.403 Der Supreme Court hat sich im Fall Reno v. ACLU im Jahr 1997 gegen die Rundfunkähnlichkeit des Internets entschieden. Die Faktoren, die die Eingriffsmöglichkeiten des Staates im Bereich des Rundfunks erweitern und den Standard verfassungsrechtlicher Rechtfertigung eines Eingriffes absenken, lägen im Falle des Internets nicht vor. Das Internet zeichne sich – anders als das Fernsehen und das Radio, die häufig im Hintergrund liefen – durch den gezielten Abruf selbst gewählter Inhalte aus. „Unangenehmen“ Inhalten könne sich der Rezipient leichter entziehen; die Gefahr, überrumpelt zu werden, sei gering.404 Das Urteil des Supreme Court endet mit einer Anspielung auf den Marktplatz der Ideen: „As a matter of constitutional tradition, in the absence of evidence to the contrary, we presume that governmental regulation of the content of speech is more likely to interfere with the free exchange of ideas than to encourage it. The interest in en399 Die Inhalte einer Telefonsex-Hotline („dial-a-porn“), die nur auf Abruf übermittelt wurden, unterliegen daher weitergehendem verfassungsrechtlichem Schutz, zumal den Interessen des Jugendschutzes durch weniger einschneidende Maßnahmen als das Verbot bestimmter Inhalte Rechnung getragen werden kann, s. Sable Broadcasting Inc. v. FCC, 492 U.S. 115 (1989): (insb. S. 128: „[Placing] a telephone call is not the same as turning on a radio and being taken by surprise by an indecent message.“). 400 Pacifica, 438 U.S. at 748–49. 401 Zum verfassungsrechtlichen Stellenwert des Jugendschutzes, vgl. Ginsberg v. New York, 290 U.S. 629 (1968). 402 Pacifica, 438 U.S at 749–50. 403 Hierzu Barendt, Freedom of Speech, S. 455 f. sowie knapp Fernández Esteban, in: Fredman, Discrimination and Human Rights, S. 77 (92 f.). 404 Reno v. ACLU, 521 U.S. 844 (1997). Das fragliche Gesetz, der Communications Decency Act, scheiterte darüber hinaus an seiner überschießenden Reichweite, da er auch Inhalte verbot, die zwar Kindern, nicht aber auch Erwachsenen vorenthalten werden dürfen (overbreadth), Weaver/Lively, S. 244 f.; Bothe, DuD 1997, 632 ff.; Kilches, MuR 1998, 325 f.
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
couraging freedom of expression in a democratic society outweighs any theoretical but unproven benefit of censorship.“ 405
Der Schutz des First Amendment für Internet-Inhalte ist also, anders als im Bereich des Rundfunks, nicht reduziert; Internet-Inhalte stehen unter vollwertigem verfassungsrechtlichen Schutz. Die Voraussetzungen, unter denen Eingriffe in die Rechte des First Amendment – auch im Internet – dennoch zulässig sind, werden im Folgenden beleuchtet.
II. Rechtfertigung von Eingriffen: Die zentrale Unterscheidung zwischen inhaltsbezogenen und inhaltsneutralen Grundrechtseingriffen Im Mittelpunkt der Rechtsprechung des Supreme Court zum First Amendment steht der Grundsatz der Inhaltsneutralität.406 Die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Eingriffs variieren je nachdem, ob es sich um eine inhaltsbezogene oder inhaltsneutrale Maßnahme handelt.407 Inhaltsbezogen (content-based) sind staatliche Maßnahmen, die auf die kommunikativen Wirkungen (communicative impact) einer Äußerung abheben.408 Dies ist insbesondere der Fall, wenn eine Aussage aufgrund ihres (politischen) Inhalts, also ihrer „Botschaft“ (etwa der dort geäußerten Meinung), zum Gegenstand eines staatlichen Eingriffs wird.409 Solche Eingriffe sind in einem gesteigerten Maße inhaltsbezogen, sie sind meinungsbezogen (viewpoint-based).410 Inhaltsneutral sind hingegen Eingriffe, die nicht an die in der jeweiligen Äußerung enthaltene Aussage anknüpfen, sondern unabhängig von dieser Aussage etwa Zeitpunkt, Ort sowie Art und Weise der Äußerung regeln (time, place and manner restrictions).411 Grundsätzlich gilt, dass inhaltsbezogene Eingriffe in das 405
Reno v. ACLU, 521 U.S. at 885. Ähnlich Barendt, in: Loveland, S. 218; Douglas-Scott, 7 Wm. & Mary Bill of Rts. J. 305, 313 (1999); Farber, S. 20; Weinstein, in: Hare/Weinstein, S. 81 („intense hostility to the content-based regulation of public discourse“ als „leitmotif of contemporary American free speech doctrine“); kritisch Redish, 34 Stan. L. Rev. 113, 128–151 (1981). 407 Vgl. grundlegend Tribe, S. 788 ff.; Gielow Jacobs, 34 McGeorge L. Rev. 595 (2003); Stone, 54 U. Chi. L. Rev. 46 (1987). 408 Johnson, 491 U.S. at 411; United States v. Eichman, 496 U.S. 310, 317 (1990); siehe auch Ely, 88 Harv. L. Rev. 1482 (1975). 409 Stone, 46 U. Chi. L. Rev. 81 (1978) („restrict communication because of the message conveyed“). 410 Als Beispiel ist das Verbot zu nennen, die amerikanische Flagge zu verbrennen, Johnson, 491 U.S. at 411; siehe auch Farber, S. 28 („Although the Court disapproves of each category of content discrimation, it disapproves most intensely of viewpoint discrimination.“). 411 Siehe als Beispiel einer solchen Ausübungsregelung Hill v. Colorado, 503 U.S. 703 (2000). 406
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First Amendment kaum, inhaltsneutrale Eingriffe in aller Regel verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden können. 1. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung inhaltsneutraler Eingriffe: Rational Basis Review Auch inhaltsneutrale Eingriffe sind nicht uneingeschränkt zulässig, unterliegen jedoch deutlich abgesenkten Rechtfertigungsvoraussetzungen.412 Danach muss der Eingriff einem bedeutenden öffentlichen Interesse (significant governmental interest) dienen und erforderlich sein. Drittens dürfen durch den Eingriff nicht sämtliche Kommunikationskanäle abgeschnitten werden, die „Ausübungsregelung“ darf nicht erdrosselnd wirken.413 Als bedeutendes öffentliches Interesse dürfte nahezu jedes „legitime Ziel“ im Sinne der deutschen Verhältnismäßigkeitsdogmatik anzuerkennen sein. Die Erforderlichkeitsprüfung geht kaum ins Detail. Der Supreme Court untersucht lediglich im Stile einer Evidenzkontrolle, ob der Staat ein offensichtlich milderes, aber gleich effektives Mittel außer Acht gelassen hat. Auch steht regelmäßig nicht zu befürchten, dass einer Äußerung sämtliche Wege in die Öffentlichkeit verschlossen werden.414 2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung inhaltsbezogener Eingriffe: Strict Scrutiny Ein umgekehrtes Bild bietet sich bei den inhaltsbezogenen Eingriffen. Hier sind die Rechtfertigungsvoraussetzungen deutlich strenger. Sofern die jeweilige Äußerung nicht von einer Bereichsausnahme erfasst ist, gilt eine nahezu unwiderlegliche Unzulässigkeitsvermutung.415 412 Farber, S. 14, 24 f., 40 (im Zusammenhang mit dem O’Brien-Test, siehe auch Anm. 413); Tribe, S. 789. Zu beachten ist, dass die Begriffe der rational basis review und der intermediate scrutiny eng nebeneinander liegen. 413 Zusammenfassend United States v. O’Brien, 391 U.S. 367, 377 (1968) („W]e think it clear that a government regulation is sufficiently justified [. . .] if it furthers an important or substantial governmental interest; if the governmental interest is unrelated to the suppression of free expression; and if the incidental restriction on alleged First Amendment freedoms is no greater than is essential to the furtherance of that interest.“); Barron/Dienes, S. 29; Farber, S. 24 f.; siehe zu den einzelnen Voraussetzungen Perry Ed. Ass’n v. Perry Local Educators’ Ass’n, 460 U.S. 37, 45 (1983) („ample alternative channels of communication“); United States Postal Service v. Council of Greenburg Civic Assns., 453 U.S. 114, 132 (1981); Consolidated Edison Co. v. Public Service Comm’n, 447 U.S. 530, 535–536 (1980); Grayned v. City of Rockford, 408 U.S. at 115; Cantwell v. Connecticut, 310 U.S. 296 (1940); Schneider v. State, 308 U.S. 147 (1939); Farber, S. 25, unter Verweis auf eine concurring opinion von Richter Harlan in United States v. O’Brien, 391 U.S. 367, 388–89 (1968) („effect of entirely preventing a ,speaker‘ from reaching a significant audience with whom he could not otherwise lawfully communicate.“). 414 Barron/Dienes, S. 29 f. (auch zusammenfassend); Farber, S. 25. 415 In diesem Sinne Police Department of Chicago v. Mosley, 408 U.S. 92, 95 (1972): „But, above all else, the First Amendment means that government has no power to re-
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Die Rechtfertigung eines inhaltsbezogenen Eingriffs nach den Grundsätzen der strict scrutiny gelingt nur, wenn die jeweilige Maßnahme einem zwingenden staatlichen Interesse (compelling state interest) dient und das Maß des Erforderlichen nicht im Ansatz überschreitet (narrowly drawn to achieve that end).416 Es bedarf also eines überragenden öffentlichen Interesses bei schärfster Erforderlichkeitsprüfung. In deren Rahmen gilt der Grundsatz der ultima ratio, insbesondere bedarf es des Nachweises, dass die Gegenrede nicht in der Lage sein wird, die mit einer Äußerung verbundenen Gefahren zu entschärfen. Selbst wenn dies der Fall ist, muss der Eingriff „passen“: Er darf weder zu kurz noch zu weit greifen (under- und over-inclusiveness). Die Strenge dieses Rechtfertigungsstandards verdeutlicht das Bonmot, strict scrutiny sei strict in theory, fatal in fact.417 Im Ergebnis entscheiden weniger die Umstände des Einzelfalls über das Schicksal des Eingriffs als die Frage, ob er inhaltsneutral oder inhaltsbezogen ist.418
III. Overbreadth und Vagueness Nicht jedes die Äußerungsfreiheit beschränkende Gesetz, das der rational basis review bzw. einer strict scrutiny standhält, ist verfassungsgemäß. Das Gesetz kann auch aus Gründen der overbreadth (wörtlich: Überbreite) sowie der vagueness (Unbestimmtheit) verfassungswidrig sein. 1. Overbreadth Der Begriff der overbreadth lässt sich kaum ins Deutsche übersetzen. Ein Gesetz ist overbroad, wenn es über das Ziel hinausschießt, weil das Verbot nicht nur zulässige Eingriffe erfasst, sondern auch Inhalte und Ausdrucksformen, die uneingeschränkt durch das First Amendment geschützt werden.419
strict expression because of its message, its ideas, its subject matter, or its content.“; ähnlich Cohen, 403 U.S. at 24 (1971); Street v. New York, 394 U.S. 576 (1969); New York Times Co., 376 U.S. at 269–270; Barron/Dienes, S. 39 („presumptively invalid“). 416 Siehe bspw. Johnson, 491 U.S. at 412; Boos v. Barry, 485 U.S. 312, 321 (1988). 417 Ausdruck von Gunther, 86 Harv. L. Rev. 1, 8 (1972); vgl. auch Gielow Jacobs, 34 McGeorge L. Rev 595, 596 (2003); eine seltene Ausnahme von der Regel ist der Fall Burson v. Freeman, 504 U.S. 191 (1992), zum Fall Holder v. Humanitarian Law Project, 103 S. Ct. 2705 (2010), siehe Anm. 561. Sog. prior restraints, also präventive Publikationsverbote, unterliegen den noch einmal gesteigerten Rechtfertigungsvoraussetzungen der super strict scrutiny, Near v. Minnesota, 283 U.S. 697 (1931); New York Times, 403 U.S. at 713. 418 Zutreffend Farber, S. 25, 40. 419 NAACP v. Alabama, 377 U.S. 288, 307 (1964) („This Court has repeatedly held that a governmental purpose to control or prevent activities constitutionally subject to state regulation may not be achieved by means which sweep unnecessarily broadly and thereby invade the area of protected freedoms.“); siehe auch Fallon, 100 Yale L. J. 853 (1991).
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Die Besonderheit dieser Figur liegt in den verfassungsprozessualen Möglichkeiten, die sie eröffnet. Ist ein Gesetz overbroad, vermag es keinen Eingriff zu rechtfertigen – auch dann nicht, wenn die konkret in Rede stehende Äußerung im Einklang mit dem First Amendment verboten bzw. bestraft werden könnte.420 Mit einem overbreadth challenge gewinnt also auch derjenige, der nicht in seinen Rechten aus dem First Amendment verletzt wäre, wenn der Gesetzgeber präzise gearbeitet hätte. Aus verfassungsprozessualer Sicht bedeutet dies eine Ausweitung der Klagebefugnis, des standing.421 In einem solchen Fall wird letztlich nicht die Verletzung eigener Rechte, sondern, gleichsam in Prozessstandschaft, die Verletzung der Rechte derjenigen geltend gemacht, deren Äußerungen in den „überschießenden“ Bereich des angegriffenen Gesetzes fallen.422 Diese weit reichenden prozessualen Angriffsmöglichkeiten beruhen auf mehreren Überlegungen.423 Mit einem „überschießenden“ Gesetz ist eine erhebliche Abschreckungswirkung (chilling effect) verbunden. Die Gefahr ist groß, dass eine eigentlich zulässige Äußerung aus Angst vor Repressalien unterbleibt, der Grundrechtsträger also auf „Nummer sicher“ geht.424 Daher besteht ein gesteigertes Interesse an einer umfassenden und möglichst frühzeitigen verfassungsgerichtlichen Kontrolle und Aufhebung dieser Gesetze, dem die Ausweitung der prozessualen Angriffsmöglichkeiten entspricht. Gegen die (nicht gänzlich ausgeschlossene425) Alternative einer verfassungskonformen Auslegung (saving construction) spricht aus Sicht des Supreme Court der Grundsatz der Gewaltenteilung. Durch eine solche Auslegung würden die Konturen der staatlichen Eingriffsbefugnisse nicht vom Gesetzgeber, sondern von 420
So auch Barron/Dienes, S. 45. Empt, ZUM 2002, 613 (617) unter Verweis auf Tribe und Nowak/Rotunda; Weaver/Lively, S. 85. A.A. Dorf, 47 Stan. L. Rev. 235, 242 (1994), der einen allgemeinen Grundsatz annimmt, dass nur ein (objektiv) verfassungsgemäßes Gesetz eine taugliche Eingriffsgrundlage sein kann; ähnlich Monaghan, 1981 Sup. Ct. Rev. 1; ders., 84 Colum. L. Rev. 277 (1984); hierzu Barron/Dienes, S. 45 f. 422 Board of Airport Comm’rs. v. Jews for Jesus, 482 U.S. 569, 574 (1987) („Under the First Amendment overbreadth doctrine, an individual whose own speech or conduct may be prohibited is permitted to challenge a statute on its face because it also threatens others not before the court – those who desire to engage in legally protected expression but who may refrain from doing so rather than risk prosecution or undertake to have the law declared partially invalid.“); siehe auch Brockett v. Spokane Arcades, Inc., 472 U.S. 491, 503 (1985); Barron/Dienes, S. 45 („third party standing“) Weaver/Lively, S. 85 („the party may be seeking to raise the rights of others not before the court“). 423 Zusammenfassend New York v. Ferber, 458 U.S. 747, 767–773 (1982). 424 Gooding v. Wilson, 405 U.S. 518, 521 (1972) („This is deemed necessary because persons whose expression is constitutionally protected may well refrain from exercising their rights for fear of criminal sanctions provided by a statute susceptible of application to protected expression.“); Barron/Dienes, S. 46; Farber, S. 48 f.; Weaver/Lively, S. 86. 425 Siehe bspw. Yates v. United States, 354 U.S. 298 (1957); Barron/Dienes, S. 46 („danger of selective enforcement“). 421
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der Exekutive und der Judikative festgelegt. Darin, dies ist ein dritter Gesichtspunkt, sieht der Supreme Court außerdem die Gefahr abweichender und willkürlicher Vollzugspraxis, mit der wiederum eine abschreckende Wirkung und eine Ungleichbehandlung verbunden wären.426 Soweit es sich um Recht der Bundesstaaten handelt, scheidet eine verfassungskonforme Auslegung überdies aus föderalen Gründen aus. Der Supreme Court ist als Bundesgericht an die Auslegung des Rechts der Bundesstaaten durch das jeweilige Höchstgericht gebunden.427 Dennoch unterliegt der Gesetzgeber keinen überhöhten Anforderungen. Nicht jeder „Regelungsüberschuss“ führt zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes. Insgesamt verfassungswidrig ist nur ein Gesetz, dass substantially overbroad ist, also in erheblichem Maße auch durch das First Amendment geschützte Rede erfasst.428 Diese Einschränkung ergibt sich zum einen aus der Schärfe der Konsequenz – das Gesetz wird insgesamt kassiert –, zum anderen muss die Gefahr, dass die First Amendment-Rechte Dritter beeinträchtigt werden, erheblich sein, um eine Ausweitung der Klagebefugnis zu rechtfertigen.429 Auch die Gefahr eines abschreckenden Effekts steht im Verhältnis zum Ausmaß der overbreadth.430 Ist diese nur minimal, wird sich kaum jemand abgeschreckt fühlen.431 2. Vagueness Die Figur der vagueness weist zahlreiche Parallelen zum deutschen Bestimmtheitsgebot sowie zum Erfordernis der Vorhersehbarkeit in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 Abs. 2 EMRK432 auf. Allerdings gelten im Bereich des First Amendment gesteigerte Bestimmtheitsanforderungen.433 Der Supreme Court 426 Jews for Jesus, 482 U.S. at 576; Farber, S. 49 („longtime concern over standardless administrative discretion in speech cases“, auch im Zusammenhang mit dem Problem der vagueness). 427 Barron/Dienes, S. 54; Farber, S. 50 f. 428 Etwa Ashcroft v. American Civil Liberties Union, 535 U.S. 564, 584 (2002) m. w. Nachw. 429 Ashcroft v. ACLU, 535 U.S. at 864; Houston v. Hill, 482 U.S., 451, 458–459 (1987); City Council of Los Angeles v. Taxpayers for Vincent, 466 U.S. 789, 801 (1984); Ferber, 458 U.S. at 769; Broadrick v. Oklahoma, 413 U.S. 601, 613–615 (1973). 430 Ferber, 458 U.S. at 772 („While a sweeping statute, or one incapable of limitation, has the potential to repeatedly chill the exercise of expressive activity by many individuals, the extent of deterrence of protected speech can be expected to decrease with the declining reach of the regulation.“). 431 Zum Problem der „retroactive statutory surgery“ bei Gesetzen, die zuvor „substantially overbroad“ waren, siehe Farber, S. 51. 432 Vgl. den Sunday Times Test, EGMR, Urt. v. 26.4.1979, Serie A 30. 433 Hynes v. Mayor of Oradell, 425 U.S. 610, 620 (1976); Buckley v. Valeo, 421 U.S. 1, 40–41 and 77 (1976); Barron/Dienes, S. 53 („Special clarity is demanded when fundamental First Amendments rights are involved“); Stock, S. 189; die unterschiedlichen Maßstäbe betont auch Holznagel, ZUM 2000, 1007 (1027, dort Tabellen 1c u. 1d); Weaver/Lively, S. 88.
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nennt hierfür zwei Gründe: Die Gefahren des chilling effect und des selektiven Gesetzesvollzugs. Haben sie nicht die Möglichkeit, ihr Verhalten der Rechtslage anzupassen, drohen „Unschuldige“ in die Fänge des Gesetzes zu geraten. Erkennen sie diese Gefahr, steht zu befürchten, dass sie aus Angst vor staatlichen Repressalien auf die Ausübung ihrer grundrechtlichen Befugnisse verzichten. Auch begründen unbestimmte Gesetze die Gefahr selektiver Rechtsanwendung – dies ist wiederum unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung problematisch, da die Legislative die Tätigkeit der Exekutive (und der Judikative) nicht hinreichend determiniert.434 Zwei Arten von unbestimmten Gesetzen sind zu unterscheiden. Zunächst gibt es solche Gesetze, die vollständig unbestimmt sind. In diesen Fällen kann jeder, der in den (potentiellen) Anwendungsbereich des Gesetzes fällt, die Unbestimmtheit rügen. Eine zweite Kategorie von Gesetzen weist einen hinreichend bestimmten Kern auf, ist jedoch außerhalb dieses Kerns vage.435 Hier kann nur derjenige, dessen Verhalten außerhalb des hinreichend bestimmten Kerns liegt, mit einem vagueness challenge erfolgreich sein.436 Die für einen overbreadth challenge geltende Erweiterung des standing, der Klagebefugnis, gilt nicht im Bereich der vagueness.437 Ein Gesetz ist vague, wenn es so unbestimmt ist, dass Personen durchschnittlicher Intelligenz seine Bedeutung nur erraten können und über seine Anwendung im Einzelfall streiten müssen.438 Zahlreiche der Gesetze, die die Rechte aus Art. 5 GG beschränken, etwa der Tatbestand des § 130 StGB (Volksverhetzung), dürften diesem Standard kaum gerecht werden.439
IV. Bereichsausnahmen: Die sogenannten unprotected categories Nicht jede Äußerung genießt den Schutz des First Amendment. In seiner Entscheidung im Fall Chaplinsky aus dem Jahre 1942 benannte der Supreme Court erstmals bestimmte Kategorien von Äußerungen, die außerhalb des Schutzbereichs des First Amendment liegen. Bewegt sich der Staat innerhalb dieser Be434 Zu beiden Aspekten Grayned v. City of Rockford, 408 U.S. 104, 108–109 (1972); siehe auch Weaver/Lively, S. 87 f.; Barron/Dienes, S. 53; Farber, S. 49 f. 435 Stock, S. 192, spricht von einem hinreichend bestimmten „Begriffskern“ und einem „unzulässig vage[n] Begriffshof“. 436 Parker v. Levy, 417 U.S. 733, 755–756 (1974); Smith v. Goguen, 415 U.S. 566, 577–578 (1974). 437 Barron/Dienes, S. 54. 438 Connaly v. General Construction Co., 269 U.S. 385, 391 (1926); Stock, S. 193 ff. 439 Zur (noch) hinreichenden Bestimmtheit von § 130 Abs. 4 StGB nach den Maßstäben des Grundgesetzes BVerfGE 124, 300 (338 ff.) sowie in der Vorinstanz BVerwG NJW 2009, 98 (100); siehe auch Anm. 356.
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reichsausnahmen, kann er – zumindest im Grundsatz440 – Inhalte unabhängig von den Vorgaben der strict scrutiny oder des rational basis review regulieren: „There are certain well-defined and narrowly limited classes of speech, the prevention and punishment of which has never been thought to raise any constitutional problem. These include the lewd and the obscene, the profane, the libellous, and the insulting or ,fighting‘ words – those which by their very utterance inflict injury or tend to incite an immediate breach of the peace. It has been well observed that such utterances are no essential part of any exposition of ideas, and are of such slight social value as a step to truth that any benefit that may be derived from them is clearly outweighed by the social interest in order and morality.“ 441
Diese Liste der Bereichsausnahmen ist nicht vollständig. In der Folgezeit hat der Supreme Court Aufrufe zu illegalem Verhalten (incitement bzw. advocacy of illegal conduct)442, die Werbung von Rechtsanwälten443, sowie true threats444 den in Chaplinsky genannten Kategorien hinzugefügt.445 Die Aussage, nach der beleidigende Äußerungen (libel) ebenfalls aus dem Schutzbereich des First Amendment auszuschließen sind, hat der Supreme Court in seiner berühmten Entscheidung im Fall New York Times v. Sullivan446 stark relativiert.447 Entgegen der in der First Amendment-Dogmatik fest verankerten Abneigung gegenüber jeder inhaltsbezogenen Beschränkung der freien Rede begründet Chaplinsky diese Ausnahmen spürbar inhaltsbezogen. Bestimmte Äußerungen werden pauschal als ungeeignet bewertet, einen erheblichen Beitrag zur öffentlichen Debatte und zur Wahrheitsfindung zu leisten. Eigentlich entspräche es dem inhaltsneutralen Reflex der amerikanischen Rechtsprechung, den Marktplatz der Ideen selbst über Wert und Unwert einer Äußerung entscheiden zu lassen. Immerhin erfolgt die Bewertung „nur“ inhalts- und nicht auch meinungsbezogen. Denn jeder Meinung, die etwa auf obszöne Art oder mit einer ernst gemeinten Drohung propagiert wird, wird der Schutz des First Amendment versagt; zu einer
440 Auch im „ungeschützten Bereich“ ist die staatliche Regulierung nicht unerheblichen Grenzen unterworfen, Farber, S. 14; siehe auch die folgenden Ausführungen zu den Urteilen R.A.V. v. St. Paul und Virginia v. Black. Strossen, in: Shapiro, S. 67 (77), nennt von zwei Möglichkeiten, eine „content-based-restriction“ zu rechtfertigen, entweder über den Weg der Bereichsausnahme (unprotected category) oder mit den Mitteln der strict scrutiny. 441 Chaplinsky v. State of New Hampshire, 315 U.S. 568, 572 (1942). 442 Vgl. Brandenburg v. Ohio, 395 U.S. 444 (1969), dazu sogleich im Einzelnen. 443 Solicitation of legal business, vgl. NAACP v. Button, 371 U.S. 415 (1963). 444 Virginia v. Black, 538 U.S. 343 (2003). 445 Weitere nicht abschließende Aufzählungen der Bereichsausnahmen finden sich in New York Times v. Sullivan, 376 U.S. 254, 269 (1964), und Virginia v. Black, 538 U.S. 343 (2003). 446 Sullivan, 376 U.S. at 269. 447 Dazu insb. Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie, S. 119 ff.; Barendt, in: Loveland, S. 217.
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(staatlichen) Bewertung verschiedener Meinungen kommt es nicht. Darüber hinaus kehrt die Rechtsprechung zu ihrer Meinungsneutralität zurück, wenn sie jede meinungsbasierte Differenzierung innerhalb einer ungeschützten Kategorie wiederum am strengen Maßstab der strict scrutiny misst.448 Die Begründung dieser Bereichsausnahmen trägt Züge einer vorweggenommenen Abwägung.449 In dieser Abwägung, so die Sicht des Supreme Court, setzt sich das öffentliche Interesse an „Ordnung und Moral“ stets durch. Diese Begrifflichkeiten wirken ein wenig archaisch, vor allem aber handelt es sich nicht um als zwingend anerkannte Gemeinwohlbelange (compelling interests), derer es eigentlich bedarf, um eine inhaltsbezogene Beschränkung des First Amendment zu rechtfertigen.450 Dass kategorische Schutzbereichsausnahmen kaum als relativ mildestes Mittel zur Verwirklichung eines solchen Belangs angesehen werden können und damit auch die zweite Voraussetzung zur Rechtfertigung inhaltsbezogener Eingriffe (narrowly tailored measure) nicht erfüllt ist, liegt auf der Hand. Dies zeigt: Bei den Bereichsausnahmen handelt es sich um echte Durchbrechungen der Dogmatik des First Amendment. Dennoch hat der Supreme Court das Konzept der unprotected categories nie grundsätzlich in Frage gestellt.451
448 R.A.V. v. St. Paul, 505 U.S. 377 (1992), dazu im Einzelnen unten, Zweites Kapitel, C. III. (S. 160 ff.). 449 Ferber, 458 U.S. at 763–764 („Thus, it is not rare that a content-based classification of speech has been accepted because it may be appropriately generalized that within the confines of the given classification, the evil to be restricted so overwhelmingly outweighs the expressive interests, if any, at stake, that no process of caseby-case adjudication is required.“); ähnlich das Zitat von Chaplinksy in R.A.V. wonach die von den Bereichsausnahmen erfassten Äußerungen „of such slight social value as a step to the truth“ seien, „that any benefit that may be derived from them is clearly outweighed by the social interest in order and morality.“, R.A.V. 505 U.S. at 383; 450 A.A. Richter Brennan in Ferber, 458 U.S. at 776. 451 Im 2010 entschiedenen Fall United States v. Stevens, 130 S. Ct. 1577 (2010), hat der Supreme Court betont, dass sich der kategorische Ansatz allenfalls in engen Grenzen auf weitere Kategorien von Äußerungen ausdehnen lasse. So scheiterte der Versuch, Abbildungen von Gewalt zwischen und an Tieren („depictions of animal cruelty“) kategorisch aus dem Schutzbereich des First Amendment zu verbannen. Im Bemühen, ein Gesetz, das derartige Abbildungen verbot, zu rechtfertigen, hatte die Regierung argumentiert, der Schutz des First Amendment hänge davon ab, ob im Rahmen einer kategorischen Abwägung der Wert der jeweiligen Äußerungsart deren gesellschaftliche Kosten überwiege. Der Supreme Court lehnte diesen rein inhaltsbezogenen Ansatz ab: „As a free-floating test for First Amendment coverage, that sentence [gemeint ist eine kategorienbezogene Kosten-Nutzen-Abwägung] is startling and dangerous. The First Amendment’s guarantee of free speech does not extend only to categories of speech that survive an ad hoc balancing of relative social costs and benefits. The First Amendment itself reflects a judgment by the American people that the benefits of its restrictions on the Government outweigh the costs. Our Constitution forecloses any attempt to revise that judgment simply on the basis that some speech is not worth it.“; hierzu Strossen, in: Shapiro, S. 67 ff.
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
1. Obszöne und kinderpornografische Inhalte In Chaplinsky nennt der Supreme Court als erste Bereichsausnahme „the lewd and the obscene“, das „Unzüchtige“ und das „Obszöne“. In inhaltlichem Zusammenhang mit dieser Bereichsausnahme steht auch der Ausschluss der Kinderpornographie aus dem Schutzbereich des First Amendment. Wenngleich volksverhetzende, fremdenfeindliche und zu Gewalt aufrufende Äußerungen in der Regel nicht zugleich in diesem Sinne obszön sein werden, lohnt es, die Entwicklung dieser beiden Bereichsausnahmen etwas genauer nachzuzeichnen. Zum einen zeigen sich gerade im Bereich des Obszönen die Schwierigkeiten, solche Schutzbereichsausnahmen hinreichend genau zu bestimmen. Zum anderen ermöglichen der Ausschluss von Obszönem und Kinderpornographie aus dem Schutzbereich des First Amendment die Beteiligung der Vereinigten Staaten an internationalen Bemühungen, die Verbreitung der Kinderpornographie – gerade im Internet – zu bekämpfen. So haben die Vereinigten Staaten das Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention „betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie“ als eine der ersten Staaten im Dezember 2002 ratifiziert.452 Auch Art. 9 des Übereinkommens über Computerkriminalität, dem die USA beigetreten sind, sieht ein strafrechtliches Verbot der Kinderpornographie vor.453 Erneut zeigt sich die Bedeutung der grundrechtlichen Grenzen völkerrechtlicher Zusammenarbeit: Nur weil kinderpornographische und obszöne Inhalte aus dem Schutzbereich des First Amendment ausgeschlossen sind, konnten und können sich die USA an deren völkerrechtlicher Bekämpfung beteiligen. Vor diesem Hintergrund sollen diese beiden Bereichsausnahmen kurz erläutert werden. a) Obszöne Inhalte Der Begriff des Obszönen ist ein ebenso schillernder wie konturenloser Begriff des amerikanischen Verfassungsrechts. Zahlreiche Definitionsversuche scheiterten an ihrer Unbestimmtheit. Legendär ist das Zitat des früheren Richters am Supreme Court Potter Stewart, der in einem Sondervotum im Jahr 1964 resigniert schrieb: „I have reached the conclusion, which I think is confirmed at least by negative implication in the Court’s decisions since Roth and Alberts, that under the First and Fourteenth Amendment criminal laws in this area are constitutionally limited to hard-core pornography. I shall not today attempt further to define the kinds of material I understand to be embraced within that shorthand description; and perhaps I could never succeed in intelligibly doing so. But I know it when I see it, and the motion picture involved in this case is not that.“ 454 452 „Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie“, UN Doc. A/RES/54/263 v. 16.01.2001. 453 Siehe zum Ganzen unten, Fünftes Kapitel, B. (S. 256 ff.). 454 Jacobellis v. Ohio, 378 U.S. 184, 197 (1964) (Stewart, J. concurring).
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Der I know it when I see it-test offenbart die Schwierigkeiten, eine handhabbare und hinreichend präzise Definition des Obszönen zu finden. Daran zeigt sich zugleich eine der Schwächen des kategorischen Ansatzes: Die Kategorien suggerieren eine klare Trennlinie zwischen geschützten und ungeschützten Inhalten. Tatsächlich fehlt es oft an solcher Klarheit. Das Problem verschiebt sich in diesen Fällen nur von der Rechtfertigungs- auf die Schutzbereichsebene. aa) Der Miller-Test In seiner Entscheidung im Fall Miller v. California hat der Supreme Court 1973 einen Definitionsversuch des Obszönen unternommen, der bis heute Gültigkeit hat:455 „The basic guidelines for the trier of fact must be: (a) whether ,the average person, applying contemporary community standards‘ would find that the work, taken as a whole, appeals to the prurient interest, (b) whether the work depicts or describes, in a patently offensive way, sexual conduct specifically defined by the applicable state law; and (c) whether the work, taken as a whole, lacks serious literary, artistic, political, or scientific value.“ 456
Die Kriterien sind von ungewöhnlicher Inhaltsbezogenheit.457 Dies gilt insbesondere für die Frage, ob eine bestimmte Veröffentlichung von hinreichendem literarischen, künstlerischen, politischen oder wissenschaftlichen Wert ist, um in den Genuss des First Amendment-Schutzes zu kommen. Darüber hinaus fällt wiederum die Unbestimmtheit dieses Kriteriums auf. Ähnliches gilt für die Frage, ob das Werk insgesamt als schlechthin anstößig abzuqualifizieren ist. Hierfür hat der Supreme Court einige „Regelbeispiele“ genannt.458 455 Einen ersten Definitionsversuch unternahm Richter Brennan im Fall Roth v. United States, 354 U.S. 476 (1957). Danach galt ein Inhalt als obszön und daher ungeschützt, wenn er, aus der Sicht des durchschnittlichen Betrachters, der die gegenwärtig gesellschaftlichen Maßstäbe anlegt, insgesamt und nicht nur in Teilen lüsterne Interessen (prurient interest) anspricht und dabei gänzlich ohne jeden ausgleichenden gesellschaftlichen Wert ist. Dabei waren (großzügigere) nationale, nicht regionale oder etwa lokale Maßstäbe anzuwenden. Im Allgemeinen waren diese Voraussetzungen nur erfüllt, wenn das in Rede stehende Material wesentlich über die üblichen Grenzen der Deutlichkeit der Darstellung und Beschreibung hinausging. Richter Brennan selbst konstatierte 1973, dass eine hinreiche bestimmte Definition des Obszönen nicht gelingen wird: „I am forced to conclude that the concept of ,obscenity‘ cannot be defined with sufficient specificity and clarity to provide fair notice to persons who create and distribute sexually oriented materials . . .“, Paris Adult Theatre I v. Slaton, 413 U.S. 49, 103 (1973) (Brennan, J., dissenting); Zu dem vorangegangenen „doctrinal chaos“ zusammenfassend Weaver/Lively, S. 53 f. 456 Miller v. California, 413 U.S. 15, 24 (1973). 457 In Ferber, 458 U.S. at 756 spricht der Supreme Court von zulässigen Pornographie-Verboten als „unabashedly content-based laws“. 458 Miller, 413 U.S. at 25, nennt zwei Fallgruppen: „(a) Patently offensive representations or descriptions of ultimate sexual acts, normal or perverted, actual or simulated (b) Patently offensive representations or descriptions of masturbation, excretory functions, and lewd exhibition of the genitals.“
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
Das Gericht hat darüber hinaus klargestellt, dass es sich bei den relevanten gesellschaftlichen Maßstäben nicht um nationale459, sondern um lokale Maßstäbe handelt.460 Ein solcher Maßstab mag hinnehmbar sein, wenn die Zielgruppe einer Veröffentlichung leicht bestimmt und das Verbreitungsgebiet leicht kontrolliert werden kann. Werden womöglich obszöne Inhalte jedoch über das Internet verbreitet und sowohl in Texas als auch in Las Vegas abgerufen, birgt dieser Grundsatz die Gefahr, dass sich der Autor nach dem restriktivsten lokalen Maßstab richten muss, um das Risiko der Strafverfolgung zu minimieren. bb) Miller online? Jugendschutzrecht im Internet Die Fragwürdigkeit dieser Konsequenz, insbesondere die Gefahr eines chilling effect (Selbstzensur), ist auch dem Supreme Court nicht entgangen. Zweimal hatte er sich mit dem Child Online Protection Act (COPA) zu befassen, der aus Gründen des Jugendschutzes die Verbreitung bestimmter Internet-Inhalte nur gegen einen Altersnachweis (bspw. Authentifizierung durch eine Kreditkarte) zuließ.461 In einer ersten Entscheidung aus dem Jahre 2002 stand die Frage im Mittelpunkt, ob zur Definition jugendgefährdender Inhalte auf örtliche und regionale, oder aber auf nationale Maßstäbe zurückzugreifen ist.462 Das Gesetz sprach von „contemporary community standards“, anhand derer jugendgefährdendes Material ermittelt werden sollte; es stellte also auf die Moralvorstellungen des jeweiligen Forums ab. Der Third Circuit Court of Appeal sah hierin eine (wahrscheinliche)463 Verletzung des First Amendment.464 Da es an der technischen 459
Roth nahm auf einen solchen nationalen Maßstab Bezug. Miller, 413 U.S. at 32: „It is neither realistic nor constitutionally sound to read the First Amendment as requiring that the people of Maine or Mississippi accept public depiction of conduct found tolerable in Las Vegas, or New York City.“; siehe auch Hamling v. United States, 418 U.S. 87, 105 (1974); Weaver/Lively, S. 55. 461 COPA verbot die Verbreitung „knowingly and with knowledge of the character of the material, in interstate or foreign commerce by means of the World Wide Web, mak[ing] any communication for commercial purposes that is available to any minor and that includes any material that is harmful to minors.“ Den Begriff „harmful to minors“ definierte COPA in enger Anlehnung an die Obszönitätsdefinition in Miller: „any communication, picture, image, graphic image file, article, recording, writing, or other matter of any kind that is obscene or that – (A) the average person, applying contemporary community standards, would find, taking the material as a whole and with respect to minors, is designed to appeal to, or is designed to pander to, the prurient interest; (B) depicts, describes, or represents, in a manner patently offensive with respect to minors, an actual or simulated sexual act or sexual contact, an actual or simulated normal or perverted sexual act, or a lewd exhibition of the genitals or post-pubescent female breast; and (C) taken as a whole, lacks serious literary, artistic, political, or scientific value for minors.“ Zur Geschichte der Regulierungsversuche Deane, 51 Cath. U. L. Rev. 245, 267–278 (2001). 462 Hierzu Deane, 51 Cath. U. L. Rev. 245 (2001); Stone, 9 Media L. & Pol’y 1 (2001); Winstead, 3 Loy. Intell. Prop. & High Tech. J. 28 (2000). 460
B. Die Struktur des First Amendment
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Möglichkeit fehle, den Rezipientenkreis von Internet-Inhalten geographisch hinreichend präzise einzuschränken, wären die Anbieter gezwungen, sich dem jeweils „puritanischsten“ Maßstab zu unterwerfen.465 Die Konsequenz wäre, dass Inhalte, die etwa in New York zulässig wären, nicht online gestellt werden, da sie auch im „strengeren“ Tennessee abgerufen werden und dort zur Strafbarkeit führen könnten. Diese Konsequenz hielt das Berufungsgericht für mit dem First Amendment unvereinbar.466 Noch in einer Entscheidung von 1997 zum Communications Decency Act (CDA) hatte der Supreme Court diesen Gesichtspunkt ebenfalls problematisiert.467 Dennoch folgte eine Mehrheit der Richter des Supreme Court nicht dem Berufungsgericht. Sie argumentierte, dass derjenige, der sich strengsten Maßstäben nicht unterwerfen will, nur solche Medien einsetzen solle, die eine geographische Einschränkung des Rezipientenkreises ermöglichen: „If a publisher chooses to send its material into a particular community, this Court’s jurisprudence teaches that it is the publisher’s responsibility to abide by that community’s standards. The publisher’s burden does not change simply because it decides to distribute its material to every community in the Nation. Nor does it change because the publisher may wish to speak only to those in a community where avant garde culture is the norm, but nonetheless utilizes a medium that transmits its speech from coast to coast. If a publisher wishes for its material to be judged only by the standards of particular communities, then it need only take the simple step of utilizing a medium that enables it to target the release of its material into those communities.“ 468
Die Konsequenz einer solchen Sichtweise ist klar: Bestimmten besonders provokanten Inhalten (nicht nur mehr oder weniger Obszönem) ist das Internet als Verbreitungsweg versperrt.469 Insbesondere die Richter O’Connor470 und Stevens forderten demgegenüber einen nationalen Standard. Richter Stevens betonte, dass der community stan463 Es ging um eine wahrscheinliche Verfassungswidrigkeit, weil eine einstweilige Anordnung (preliminary injunction) beantragt worden war, die bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache den Vollzug des COPA untersagte. 464 ACLU v. Reno, 217 F. 3d 162 (3rd. Cir. 2000). 465 ACLU v. Reno, 217 F. 3d at 175. 466 ACLU v. Reno, 217 F. 3d at 177. 467 In Reno v. ACLU, 521 U.S. 844, 877–878 (1997) hatte der Supreme Court betont, dass „the ,community standards‘ criterion as applied to the Internet means that any communication available to a nationwide audience will be judged by the standards of the community most likely to be offended by the message.“ 468 Ashcroft v. ACLU, 535 U.S. 564, 583 (2002). 469 Zu Recht kritisch unter Nennung von Alternativen Deane, 51 Cath. U. L. Rev. 245, 283–298 (2001). 470 Ashcroft v. ACLU, 535 U.S. at 587 (O’Connor, J., concurring). Richter Breyer legte COPA so aus, dass das Gesetz ohnehin auf einen nationalen Standard abstellte, vgl. ebenda at 590 (Breyer, J., concurring).
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
dards-test ursprünglich dem Ziel diente, die Grenzen zulässiger Rede in toleranten Gesellschaften zu erweitern, also gerade verhindern sollte, dass der jeweils strengste Maßstab gilt.471 COPA verkehre den Test in sein Gegenteil: „In the context of most other media, using community standards to differentiate between permissible and impermissible speech has two virtues. As mentioned above, community standards originally served as a shield to protect speakers from the least tolerant members of society. By aggregating values at the community level, the Miller test eliminated the outliers at both ends of the spectrum and provided some predictability as to what constitutes obscene speech. But community standards also serve as a shield to protect audience members, by allowing people to self-sort based on their preferences. Those who abhor and those who tolerate sexually explicit speech can seek out like-minded people and settle in communities that share their views on what is acceptable for themselves and their children. This sorting mechanism, however, does not exist in cyberspace; the audience cannot self-segregate. As a result, in the context of the Internet this shield also becomes a sword, because the community that wishes to live without certain material rids not only itself, but the entire Internet, of the offending speech.“ 472
Nachdem der Gerichtshof 2002 das Urteil des Third Circuit Court of Appeals noch aufgehoben473 und den Fall zurückverwiesen hatte, brach der Supreme Court 2004 endgültig den Stab über COPA. Im Mittelpunkt der Entscheidung stand allerdings nicht die Frage nach lokalen oder nationalen moralischen Maßstäben, sondern die Erforderlichkeit der dortigen Identifikationsregelung. Der Gerichthof kam zu dem Ergebnis, dass ein Authentifikationserfordernis nicht verhältnismäßig sei, weil mit der identifikationsunabhängigen Filtertechnologie, mittels derer bestimmte jugendgefährdende Inhalte „aussortiert“ werden könnten, ein milderes aber gleich effektives Mittel zur Verfügung stünde.474 COPA scheiterte also am narrowly tailored-Element der strict scrutiny.475 b) Echte und virtuelle Kinderpornographie 1982 ließ der Gerichtshof für kinderpornographische Inhalte eine weitere Bereichsausnahme vom Schutz des First Amendment zu.476 In New York v. Fer471 Ashcroft v. ACLU, 535 U.S. at 603 (Stevens, J., dissenting) („In its original form, the community standard provided a shield for communications that are offensive only to the least tolerant members of society.“); siehe auch Anm. 460. 472 Ashcroft v. ACLU, 535 U.S. at 612 (Stevens, J., dissenting). 473 Die einstweilige Anordnung war dennoch in Kraft geblieben. 474 COPA verlangte die Authentifizierung als Erwachsener (bspw. mittels Kreditkarte) bei jedem Zugriff auf die von dem Gesetz erfassten Inhalte. Im Gegensatz dazu erlauben es Filtertechnologien etwa den Eltern, bestimmte Inhalte dem Zugriff ihrer Kinder zu entziehen. In den Augen den Supreme Court stellt dies ein milderes Mittel des Jugendschutzes dar. 475 Ashcroft v. ACLU, 542 U.S. 646 (2004). 476 Empt, ZUM 2002, 613 (616); siehe auch Brugger, JZ 2009, 609 (613).
B. Die Struktur des First Amendment
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ber477 begründete er diesen Schritt ausführlich unter Hinweis insbesondere auf die Umstände, unter denen derartiges Bildmaterial hergestellt werde. Ein Verbot der Kinderpornographie unterdrücke nicht primär bestimmte Inhalte, es finde seine Rechtfertigung in dem Ziel, den Missbrauch von Kindern bei Erstellung des jeweiligen Inhalts zu bekämpfen.478 Das staatliche Interesse, Kinder vor sexueller Ausbeutung zu schützen, sei von höchstem Rang, zumal zwischen dem Missbrauch von Kindern und der Verbreitung von Kinderpornographie ein doppelter Zusammenhang bestehe. Zum einen werde der Schaden, der missbrauchten Kindern zugefügt wurde, durch die Verbreitung der Bilder perpetuiert. Zum anderen führe gerade die Nachfrage nach derartigen Bildern zu ihrer Herstellung und damit zu sexuellem Missbrauch und sexueller Ausbeutung von Kindern. Drittens sei bereits die Herstellung kinderpornographischen Materials strafbar; dass sich derartige Bilder dennoch im Umlauf befänden, sei lediglich die Konsequenz eines strafrechtlichen Vollzugsdefizits. Nicht zuletzt tendiere der künstlerische, artistische oder literarische Wert kinderpornographischer Inhalte gegen Null, notfalls könne man auf kindlich aussehende Erwachsene ausweichen. Insgesamt entspreche diese Logik anderer Bereichsausnahmen: Auch dort überwiege der mit bestimmten Inhalten verbundene Schaden deren Bedeutung für den Einzelnen und die Allgemeinheit deutlich.479 Während der private Besitz von „lediglich“ obszönem Material umfassend durch das First Amendment geschützt ist480, kann der Besitz von Kinderpornographie unter Strafe gestellt werden.481 Im Anschluss an das Urteil im Fall Ferber sei der Markt für Kinderpornographie in den Untergrund gegangen und habe sich daher dem unmittelbaren staatlichen Zugriff weitgehend entzogen. Zur effektiven Bekämpfung der Kinderpornographie sei es daher notwendig, auch den Besitz solchen Materials zu bestrafen, also den Markt trocken zu legen.482 Insbesondere wegen der erweiterten Möglichkeiten der Bildbearbeitung und der Verbreitung dieser Bilder über das Internet stellte sich die Frage, ob auch 477
458 U.S. 747 (1982). Dies unterstrich der Supreme Court erneut in Ashcroft v. The Free Speech Coalition, 535 U.S. 234, 249–250 (2002) („The production of the work, not its content, was the target of the statute.“ Und: „[T]he speech had what the Court in effect held was a proximate link to the crime from which it came.“); ähnlich übrigens die amtliche Begründung zu § 184 StGB, BT-Drs. 12/3001; vgl. auch Holznagel, ZUM 2000, 1007 (1008). 479 Ferber, 458 U.S. at 754–764 (insg.). 480 Stanley v. Georgia, 394 U.S. 557, 565 (1969) („If the First Amendment means anything, it means that a State has no business telling a man, sitting alone in his own house, what books he may read or what films he may watch. Our whole constitutional heritage rebels at the thought of giving government the power to control men’s minds.“). 481 Osborne v. Ohio, 495 U.S. 103 (1990); Brugger, JZ 2009, 609 (613). 482 Osborne, 495 U.S. at 100–111, dazu Empt, ZUM 2002, 613 (617); Strossen, in: Shapiro, S. 67 (69), spricht von einer „drying-up-the-market-rationale“. 478
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
virtueller Kinderpornographie der Schutz des First Amendment verwehrt ist. Der Child Pornography Prevention Act (CPPA) von 1996 erfasste auch solche kinderpornographischen Abbildungen, die am Computer oder auf dem Zeichenbrett, also ohne die (missbräuchliche) Beteiligung von Kindern entstehen. Das Gesetz hatte vor dem Supreme Court keinen Bestand.483 Liege der zentrale Grund für den Ausschluss kinderpornographischer Inhalte im Missbrauch von Kindern bei der Erstellung entsprechender Bilder, komme ein solcher Ausschluss bei virtuellen Bildern nicht in Betracht. Darüber hinaus war der CPPA in den Augen des Supreme Court overbroad. Von seinem Wortlaut wären auch Bilder und Beschreibungen umfasst gewesen, die literarisch, künstlerisch, politisch oder wissenschaftlich wertvoll sind.484 Das Argument, virtuelle Pornographie fördere die Nachfrage nach „echter“ Pornographie, ließ das Gericht bemerkenswerter Weise nicht gelten. Derartige Langzeiteffekte fielen nicht entscheidend ins Gewicht.485 Im Ergebnis gilt: Echte Kinderpornographie fällt aus dem Schutzbereich des First Amendment heraus. Virtuelle Kinderpornographie steht, zumindest im Grundsatz, unter dem Schutz des First Amendment.486 Insgesamt lassen sich drei Gruppen unterscheiden.487 In eine erste Kategorie fallen solche Inhalte, die bereits von der „allgemeinen“ Obszönitäts-Definition nach Miller erfasst sind und daher unabhängig von ihrem spezifisch kinderpornographischen Charakter aus dem Schutzbereich des First Amendment ausgeschlossen sind.488 Eine zweite Kategorie umfasst solche kinderpornographischen Inhalte, die nicht obszön im Sinne von Miller sind, aber dennoch nicht durch das First Amendment geschützt sind. Diese zweite Gruppe bildet die eigenständige Bereichsausnahme. Von dieser Ausnahme erfasst sind nur fotografische oder filmische Darstellungen sexuellen Verhaltens von Kindern unterhalb einer bestimmten Altersgrenze.489 In Abweichung vom allgemeinen Obszönitäts-Stan483 Ashcroft v. The Free Speech Coalition, 535 U.S. 234 (2002), dazu Mota, 55 Fed. Comm. L. J. 85 (2002). 484 The Free Speech Coalition, 535 U.S. at 246 („The CPPA prohibits speech despite its serious literary, artistic, political, or scientific value. The statute proscribes the visual depiction of an idea-that of teenagers engaging in sexual activity-that is a fact of modern society and has been a theme in art and literature throughout the ages.“); Brugger, JZ 2009, 609 (613 f.). 485 The Free Speech Coalition, 535 U.S. at 250–251; vgl. auch Hess v. Indiana, 414 U.S. 105, 108 (1973) („The government may not prohibit speech because it increases the chance an unlawful act will be committed ,at some indefinite future time‘.“); siehe auch Duncan, 76 Miss. L. J. 677 (688). 486 So auch Mota, 55 Fed. Comm. L. J. 85, 93 (2002). 487 Vgl. Ferber, 458 U.S. at 764–765. 488 Empt, ZUM 2002, 613 (616). 489 Der Supreme Court zieht die Grenze bei 16 oder 17 Jahren, Ferber, 458 U.S. at 764 (dort Fn. 17).
C. Rechtsprechungsanalyse
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dard ist ein „Abzielen auf lüsterne Interessen“ (appeal to prurient interests) nicht erforderlich, die Darstellung muss nicht schlechthin anstößig sein und nicht als ganzes, sie darf auch isoliert betrachtet werden. Soweit die Verbreitung und Veröffentlichung solcher Inhalte unter Strafe gestellt wird, bedarf es des Vorsatzes bezüglich dieser Merkmale. Einer dritten, durch das First Amendment umfassend geschützten Gruppe sind Beschreibungen und Darstellungen sexuellen Verhaltens zwischen Kindern zuzurechnen, die nicht „live“ sind oder eine tatsächlich erfolgte Handlung filmisch oder fotografisch abbilden und die die Grenze zur „normalen“, also altersunabhängigen Obszönität nicht überschreiten.490 2. Weitere Schutzbereichsausnahmen von zentraler Bedeutung für die Untersuchung Aus dem Schutzbereich des First Amendment ausgeschlossen sind insbesondere auch unmittelbare Aufrufe zu illegalem Verhalten (incitement bzw. advocacy of illegal conduct)491, so genannte fighting words492 und true threats493, also ernst gemeinte Drohungen. Diese drei Kategorien sind von zentraler Bedeutung für das Thema der Untersuchung. Sie stehen im Mittelpunkt der nun folgenden Rechtsprechungsanalyse.
C. Rechtsprechungsanalyse Die Zahl der Entscheidungen des Supreme Court, die im Folgenden zu untersuchen sind, ist überschaubar. Anders als der EGMR ist der Supreme Court nicht gezwungen, über jede an ihn gerichtete Beschwerde auch in der Sache zu entscheiden. Die Entscheidung, welche Fälle er zur Entscheidung annimmt und in 490 In diese Fallgruppe fällt auch die bereits besprochene virtuelle Kinderpornographie. In einem Rechtsstreit über die Verfassungsmäßigkeit der so genannten „Pandering Provision“ des PROTECT Act, dem Nachfolger des CPPA, bestätigte der Supreme Court im Wege einer savings construction ein Gesetz, das „das Anbieten von Kinderpornographie jedenfalls unter Hervorrufung des Eindrucks, man hätte solche wirklich anzubieten“ (Brugger, JZ 2009, 609 [614]), unter Strafe stellte, ohne dass der Nachweis geführt werden muss, dass tatsächlich Bilder Minderjähriger vorhanden sind. Der Tatbestand sei jedoch nur verwirklicht, wenn der Rezipient des Angebots davon ausgehe, dass „real children“ abgebildet seien. Das ausdrückliche Angebot oder die Anforderung virtueller Kinderpronographie sei daher nicht tatbestandsmäßig. United States v. Williams, 553 U.S. 285 (2008) mit einer dissenting opinion von Richter Souter, der einen unauflöslichen Widerspruch zum Schutz virtueller Kinderpornographie nach Free Spech Coalition beklagt; Brugger, JZ 2009, 609 (614); siehe auch Duncan, 76 Miss. L. J. 677, 701–703 (2007). 491 Brandenburg v. Ohio, 395 U.S. 444 (1969). 492 Chaplinsky v. State of New Hampshire, 315 U.S. 568, 572 (1942). 493 Black 538 U.S. 343 (2003); Watts v. United States, 394 U.S. 705, 708 (1969).
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
welchen er einen grant of certiorari ablehnt, unterliegt, von wenigen prozessualen Sonderfällen abgesehen, seinem freien Ermessen.494 Dies erklärt, warum der EGMR in einem Jahr mehrere tausend Entscheidungen erlässt, der Supreme Court hingegen nur etwa 100.495 Die Praxis des First Amendment kennt weder für die Auschwitzlüge als falsche Tatsachenbehauptung noch für (andere) Volksverhetzungen eine eigene Kategorie. Die Problematik der Gewaltaufrufe lässt sich hingegen in der Regel dem Bereich des incitement („Anstachelung“) bzw. der advocacy of illegal conduct („Aufruf zu illegalem Verhalten“) zuordnen. Äußerungen, die dem kontinentalen Verständnis nach als volksverhetzend zu qualifizieren sind, weil sie zu Hass und Gewalt etwa gegen eine bestimmte religiöse, kulturelle, ethnische oder politische Gruppe aufrufen, können – je nach den Umständen des Einzelfalls – in eine der eben genannten unprotected categories (Bereichsausnahmen) fallen. In Betracht kommen neben der Kategorie des incitement die Bereiche der fighting words („Kampfesworte“) und der true threats („wahre Drohungen“). Zunächst ist jedoch von einer Bereichsausnahme zu berichten, die mittlerweile entfallen ist.
I. Group Libel: Beauharnais v. Illinois Noch 1952 hatte es den Anschein, als würde die Bekämpfung von Hassrede keinen nennenswerten verfassungsrechtlichen Hindernissen begegnen.496 Sofern sich derartige Äußerungen gegen eine bestimmte Gruppe der Bevölkerung richten, handelt es sich – zumindest im Regelfall – um Kollektivbeleidigungen. Liegt die Beleidigung eines Einzelnen (libel) außerhalb des Schutzbereichs des First Amendment, erscheint es prima facie logisch, dass auch die Beleidigung ganzer Bevölkerungsgruppen dessen Schutz nicht genießen kann. 1. Beauharnais v. Illinois Nach dieser Logik hat der Supreme Court im Fall Beauharnais497 entschieden. Joseph Beauharnais war Präsident der „White Circle League“ und Autor eines Flugblattes, in dem er den Bürgermeister und den Stadtrat von Chicago insbesondere aufforderte,
494
Vgl. Section 237 (b) des Certiorari Act, 43 Stat. 936 (13.02.1925). Im Jahr 2006 erließ der EGMR etwa insgesamt 29.658 Entscheidungen, davon 1.498 Urteile und 28.160 Zulässigkeits- oder Streichungsentscheidungen, EGMR, Survey of Activities 2006, S. 38. Demgegenüber hat der Supreme Court im October Term 2006 nur 69 Urteile erlassen, Greenhouse, Dwindling Docket Mystifies the Supreme Court, NY Times v. 6.12.2006, S. A1. 496 Ähnlich die Einschätzung von Rosenfeld, 24 Cardozo L. Rev. 1523, 1536 (2003). 497 Beauharnais v. Illinois, 343 U.S. 250 (1952). 495
C. Rechtsprechungsanalyse
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„to halt the further encroachment, harassment and invasion of white people, their property, neighborhoods and persons, by the Negro“.498
Des Weiteren bezichtigte das Flugblatt die farbige Bevölkerung der Vergewaltigung, des Raubes und des Drogenkonsums und rief zum Widerstand gegen eine vermeintliche schwarze Unterwanderung auf. Beauharnais wurde aufgrund eines Tatbestands, der die Beleidigung von Bürgern einer bestimmten Rasse, Hautfarbe, eines Bekenntnisse oder einer Religion unter Strafe stellte, zu einer Geldstrafe von 200 US Dollar verurteilt. Er rief den Supreme Court an und machte eine Verletzung seiner Rechte aus dem First Amendment geltend. Der Supreme Court bestätigte die Verurteilung mit fünf zu vier Stimmen. Die Mehrheit begann mit der Feststellung, persönliche Beleidigungen bildeten eine unprotected category, eine Bereichsausnahme. Hätte Beauharnais eine einzelne Person als Vergewaltiger, Räuber, Waffenträger und Marihuanakonsument bezeichnet, stünde der beleidigende Charakter dieser Äußerung außer Zweifel.499 Es folgte der entscheidende Satz: „But if an utterance directed at an individual may be the object of criminal sanctions, we cannot deny to a State power to punish the same utterance directed at a defined group, unless we can say that this is a wilful and purposeless restriction unrelated to the peace and well-being of the State.“ 500
Bereits die Sondervoten erschütterten diese Logik. Individualbeleidigungen werden in der Regel von Angesicht zu Angesicht ausgesprochen; es handelt sich um Privatangelegenheiten von – wenn überhaupt – geringem öffentlichem Interesse. Die Beleidigung ganzer Gruppen findet ihre Ursache demgegenüber nicht in individuellem Verhalten, sondern bezieht sich überwiegend auf Vorgänge von öffentlichem, politischem Interesse.501 Die Überlegung, die zum Ausschluss der Individualbeleidigung aus dem Schutzbereich des First Amendments führt (so dies überhaupt der Fall ist), kann auf Kollektivbeleidigungen nur eingeschränkt übertragen werden.502 2. Der schleichende Untergang von Beauharnais Beauharnais wurde zwar nie förmlich, aber faktisch als Präzedenzfall aufgehoben.503 Zwei Entscheidungen machen dies besonders deutlich.
498 Ein Faksimile des Flugblattes ist abrufbar unter http://1stam.umn.edu/archive/pri mary/Beauharnais.pdf. 499 Beauharnais, 343 U.S. at 257–258. 500 Beauharnais, 343 U.S. at 258. 501 Beauharnais, 343 U.S at 267–270 (Black, J., dissenting). 502 Rosenfeld, 24 Cardozo L. Rev. 1523, 1536 (2003). 503 Rosenfeld, in: Herz/Molnar, S. 242 (253); Weaver/Lively, S. 34.
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
a) New York Times v. Sullivan: Das Ende der Beleidigung als unprotected category Die Logik von Beauharnais beruht auf der Annahme, dass die private Beleidigung außerhalb des Schutzbereichs des First Amendment liegt.504 Insbesondere im Anschluss an die berühmte Entscheidung des Supreme Court im Fall New York Times. v. Sullivan505 sind beleidigende Äußerungen nicht mehr per se aus dem Schutzbereich des First Amendment ausgeschlossen.506 Damit trifft die Grundannahme von Beauharnais – wenn die Beleidigung einer Person sanktioniert werden darf, darf auch die Beleidigung von Personengruppen bestraft werden – nicht mehr zu.507 b) Collin v. Smith: Ein Berufungsgericht verkündet das Ende von Beauharnais Dieses Ergebnis bestätigte die viel beachtete Entscheidung Collin v. Smith508 des Seventh Circuit Court of Appeal. Der „American Nazi Party“ war aufgrund einer kommunalen Satzung verboten worden, in Skokie, einem Ort in Illinois, der heute ca. 60.000 Einwohner zählt, viele von ihnen Überlebende des Holocaust509, eine Demonstration (noch dazu in NS-Uniformen und mit Hakenkreuzfahnen) abzuhalten. Insbesondere untersagte die Satzung die Verbreitung von Materia-
504
So auch Jacobson/Schlink, in: Herz/Molnar, S. 217 f. (dort Fn. 3). 376 U.S. 254 (1964). Zu den Hintergründen dieser Leitentscheidung, siehe Lewis, Make No Law. In NYT v. Sullivan stellte der Supreme Court auch diffamierende Berichterstattung der Presse in weitem Umfang unter den Schutz des First Amendment. Für ehrenrührige Falschbehauptungen, die einen public official betreffen, haftet die Presse allenfalls bei sogenannter actual malice, also wenn sie wissentlich oder in grob fahrlässiger Weise („reckless disregard for the truth“) Unwahres berichtet hatte. 506 Siehe Garrison v. Louisianna, 379 U.S. 64 (1964); Curtis Pub. Co. v. Butts & Associated Press v. Walker, 388 U.S. 130 (1967); St. Amant v. Thompson, 390 U.S. 727 (1968); Gertz v. Welch, 418 U.S. 323 (1974); Dun & Bradstreet, Inc., v. Greenmoss Builders, Inc., 472 U.S. 749 (1985); Philadelphia Newspapers v. Hepps, 475 U.S. 767 (1986); Hustler Magazine v. Falwell, 485 U.S. 46 (1988); Milkovich v. Lorain Journal Co., 497 U.S. 1 (1990). 507 Ebenso Jacobson/Schlink, in: Herz/Molnar, S. 217 f. (dort Fn. 3: „Crucial to the Court’s reasoning [in Beauharnais] was the assumption that statutes criminalizing libel enjoy complete immunity from First Amendment restrictions. This assumption was destroyed in New York Times Co. v. Sullivan.“); differenzierend Waldron, S. 61 ff. 508 Collin v. Smith, 578 F.2d 1197 (1978). Der Kläger Frank Smith, Präsident der American Nazi Party, wurde von der linksliberalen Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union vertreten, Farber, S. 117; Kahn, 83 U. Det. Mercy L. Rev. 163, 169–170 (2006); siehe auch Kübler, AöR 125 (2000) 109 (117 f.). 509 Dies betont Richter Blackmun in seinem dissent zum denial of certiorari im Anschluss an die Entscheidung des Seventh Circuit Court of Appeals, 439 U.S. 916 (1978) (Blackmun, J., dissenting). 505
C. Rechtsprechungsanalyse
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lien, die zum Hass aufgrund der Herkunft aufriefen, sowie Demonstrationen in Militäruniformen.510 Der Seventh Circuit Court of Appeal erklärte das Demonstrationsverbot für mit dem First Amendment unvereinbar. Skokie hatte sich insbesondere auf Beauharnais berufen – allerdings ohne Erfolg: „[We] agree with the district court that decisions in the quarter-century since Beauharnais have abrogated the Chaplinsky dictum, made one of the premises of Beauharnais, that the punishment of libel ,has never been thought to raise a Constitutional problem.‘ New York Times Co. v. Sullivan, Garrison v. Louisiana and Gertz v. Robert Welch, Inc., are indisputable evidence that libel does indeed now raise serious and knotty First Amendment problems, sufficient as a matter of constitutional law to require the substantial rewriting of both criminal and civil state libel laws.“ 511
In der Folge erklärte das Berufungsgericht das Demonstrationsverbot für verfassungswidrig. Der Supreme Court nahm den Fall nicht zur Entscheidung an und bestätigte damit indirekt, dass Beauharnais keine Bindungswirkung mehr entfaltet.512 Auch darüber hinaus besteht weithin Einigkeit, dass Beauharnais seine Präzedenzwirkung verloren hat.513 Der Weg über die vermeintliche Bereichsausnahme für Beleidigungen (libel) öffnet der Regulierung der Hassrede somit nicht die 510 Hier scheinen gewisse Parallelen zur deutschen Diskussion über Verbote rechtsradikaler Demonstrationen aus Gründen der öffentlichen Ordnung auf, vgl. BVerfGE 110, 77 ff.; zum Fall Skokie allgemein Strum, S. 4 ff. 511 Collin, 578 F.2d at 1205. 512 Smith v. Collin, 439 U.S. 918 (1978). Richter Blackmun kritisierte diese Entscheidung in einem seltenen dissent from denial of certiorari, 439 U.S. at 919 („I therefore would grant certiorari in order to resolve any possible conflict that may exist between the ruling of the Seventh Circuit here and Beauharnais. I also feel that the present case affords the Court an opportunity to consider whether, in the context of the facts that this record appears to present, there is no limit whatsoever to the exercise of free speech. There indeed may be no such limit, but when citizens assert, not casually but with deep conviction, that the proposed demonstration is scheduled at a place and in a manner that is taunting and overwhelmingly offensive to the citizens of that place, that assertion, uncomfortable though it may be for judges, deserves to be examined. It just might fall into the same category as one’s ,right‘ to cry ,fire‘ in a crowded theater, for ,the character of every act depends upon the circumstances in which it is done.‘“ [interne Zitate ausgelassen]). 513 Nuxoll v. Indian Prairie School Dist., 523 F.3d 668, 672 (7th Cir. 2008); American Booksellers Ass’n, Inc. v. Hudnut, 771 F.2d 323 (7th Cir. 1985) („we concluded that cases such as New York Times v. Sullivan had so washed away the foundations of Beauharnais that it could not be considered authoritative“); Brugger, AöR 128 (2003), 372 (392); Farber, S. 117 (Entscheidung in Skokie „clearly correct under current law“); Greenawalt, 42 Rutgers L. Rev. 287, 303–304 (1990); Jacobson/Schlink, in: Herz/Molnar, S. 217 f. (dort Fn. 3); Kübler, AöR 125 (2000), 109 (117); Powell, 12 Harv. BlackLetter L. J. 1, 34 (1995); Rosenfeld, 24 Cardozo L. Rev. 1523, 1536 (2003); Stone/Seidman/Sunstein/Tushnet/Karlan, Constitutional Law, S. 1214; Suk, in: Herz/Molnar, S. 144 (161) (dort Fn. 3).; Vance, 14 Transnat’l L. & Contemp. Probs. 201, 213, 214 (2004); Weaver/Lively, S. 34 („little if any vitality“); Weinstein, in: Hare/Weinstein,
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Tür.514 Derzeit bleibt es bei den bereits genannten Kategorien incitement, fighting words und true threats, denen sich die Untersuchung nunmehr zuwendet.515
II. Incitement und Advocacy of Illegal Conduct: Brandenburg v. Ohio Die ersten Entscheidungen zu der Fallgruppe des incitement ergingen 1919 auf dem Höhepunkt der Great Red Scare.516 Vor dem Hintergrund der raschen Verbreitung des Kommunismus in Europa und einer Reihe gewalttätiger Aktionen radikaler Gewerkschafter in den USA517 war in der Bevölkerung die – zum Teil gezielt geschürte – Angst vor kommunistischer Unterwanderung groß. Dies führte nicht nur dazu, dass Sauerkraut in „liberty cabbage“ umgetauft wurde, sondern auch zu einer Reihe von Verurteilungen nach dem Espionage Act von 1917, der zahlreiche (vermeintlich) subversive Aktivitäten unter Strafe stellte.518 1919 erreichten drei dieser Verurteilungen den Supreme Court, der sich erstmals näher mit dem First Amendment zu befassen hatte. Des Konflikts zwischen dem legitimen Selbsterhaltungsinteresse des Staates und der Äußerungs- und Pressefreiheit war sich der Supreme Court von Anfang an bewusst. Dennoch dauerte es ein halbes Jahrhundert, bis das Gericht 1969 in Brandenburg v. Ohio die auch heute noch geltende Formel zum Ausgleich dieser widerstreitenden Interessen entwickelte. Es lohnt sich, diese Entwicklung in der gebotenen Kürze nachzuzeichnen. 1. Incitement vor Brandenburg: Von Schenck bis Dennis Den Auftakt der Entwicklung der Rechtsprechung zur Frage des incitement bildeten vier Entscheidungen aus dem Jahr 1919. Der Supreme Court hatte darüber zu entscheiden, ob die Verurteilungen in den Fällen Schenck519, Frohwerk520, Debs521 und Abrams522 gegen das First Amendment verstießen.
S. 81 (87 f.); a. A. soweit ersichtlich nur Jones, 18 Suffolk Transnat’l L. Rev. 427, 514 (1995). 514 In diese Richtung auch Kübler, 27 Hofstra L. Rev. 335, 353 (1998). 515 Der Vollständigkeit halber sei berichtet, dass die geplante Demonstration dennoch nicht in Skokie stattgefunden hat. Die Anhänger der „American Nazi Party“ marschierten stattdessen in Chicago, Smith, 439 U.S. at 917 (Blackmun, J., dissenting). 516 Zum historischen Hintergrund siehe etwa Murray, S. 25 ff. 517 Weaver/Lively, S. 20 f. 518 Lewis, Freedom for the Thought That We Hate, S. 25. 519 Schenck v. United States, 249 U.S. 47 (1919). 520 Frohwerk v. United States, 249 U.S. 204 (1919). 521 Debs v. United States, 249 U.S. 211 (1919). 522 Abrams v. United States, 250 U.S. 616 (1919).
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a) Schenck v. United States: Die erste Fassung des Clear and Present Danger Test In den Fällen Schenck, Frohwerk und Debs beruhten die jeweiligen strafrechtlichen Verurteilungen auf Aktivitäten, die nach dem Espionage Act strafbar waren. Im Fall Schenck hatten die Beschwerdeführer Flugblätter verteilt, in denen sie Männer im wehrfähigen Alter aufgefordert hatten, ihrer Einberufung nicht Folge zu leisten. Die Verurteilungen hatten vor dem Supreme Court Bestand. Das Urteil beginnt mit der Feststellung, das First Amendment beinhalte kein absolutes Verbot einer jeden Beschränkung der Rede- und Pressefreiheit. Schließlich, so Richter Holmes, habe etwa niemand das Recht, in einem vollbesetzten Theater „Feuer“ zu schreien, obwohl es gar nicht brenne.523 Holmes entwickelte sodann die erste, sehr allgemeine Version des clear and present danger-test (klare und gegenwärtige Gefahr), unter dessen Voraussetzungen eine Einschränkung des First Amendment zur Abwendung drohender Gefahren zulässig sein sollte: „The question in every case is whether the words used are used in such circumstances and are of such a nature as to create a clear and present danger that they will bring about the substantive evils that Congress has a right to prevent. It is a question of proximity and degree. When a nation is at war many things that might be said in time of peace are such a hindrance to its effort that their utterance will not be endured so long as men fight and that no Court could regard them as protected by any constitutional right.“ 524
Diese Definition des Tests erscheint – im Rückblick – ausgesprochen unbestimmt. Die Frage, ob der Eintritt des abzuwendenden Übels unmittelbar bevorsteht, spielt eine gewisse, aber keine entscheidende Rolle. Abhängig vom jeweiligen historisch-politischen Kontext – zum Zeitpunkt der Tat befanden sich die Vereinigten Staaten im Krieg – können die Anforderungen an die Unmittelbarkeit der Gefahr absinken oder ansteigen. Unklar bleibt auch, was Holmes als erhebliches Übel (substantive evil) anerkennen möchte, dessen Abwendung einen Eingriff in die Rechte des First Amendment rechtfertigt. b) Frohwerk v. United States und Debs v. United States: Der Bad Tendency Test Im Mittelpunkt der Fälle Frohwerk525 und Debs526 standen ebenfalls Aufrufe, sich den Rekrutierungsbemühungen der Armee zu widersetzen. Trotz der mit 523 Schenck, 249 U.S at 52 („The most stringent protection of free speech would not protect a man in falsely shouting fire in a theatre and causing a panic.“). 524 Schenck, 249 U.S. at 52. 525 Frohwerk v. United States, 249 U.S. 204 (1919).
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Schenck vergleichbaren Sachverhalte griff der Supreme Court, dessen Entscheidungen erneut aus der Feder von Richter Holmes stammen, auf den clear and present danger test nicht ausdrücklich zurück. Stattdessen betonte das Gericht die „natürliche Tendenz“ und die „wahrscheinliche Wirkung“ der Aufrufe. Die Worte seien zu einem Zeitpunkt gefallen, zu dem ein kleiner Luftstoß ausgereicht hätte, um ein Feuer zu entzünden.527 Wie bereits in Schenck erweiterte der zeithistorische Hintergrund auch hier die Eingriffsmöglichkeiten des Staates. Der bad tendency test findet sich in der Rechtsprechung des Supreme Court bis in die 1950er Jahre.528 c) Holmes’ Dissent in Abrams v. United States: „an immediate check required to save the country“? In Abrams standen die Verurteilungen einiger selbst ernannter „Revolutionäre“ und „Rebellen“, die die Kriegspolitik von Präsident Wilson scharf kritisiert hatten, auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand. Diese Kritik gipfelte in der Drohung, dass man dieser Politik nötigenfalls mit Waffengewalt ein Ende setzen müsse. Während die Mehrheit des Gerichts die Verurteilungen unbeanstandet ließ529, erkannten die Richter Holmes und Brandeis in ihr eine Verletzung des First Amendment. Die eloquente Passage, mit der Richter Holmes seine Ablehnung zum Ausdruck brachte und die Metapher des Marktplatzes der Ideen einführte, wurde bereits zitiert.530 Darin verschärfte er den clear and present danger test kein Jahr nach der Entscheidung in Schenck erheblich. Dass eine Äußerung ein legitimes staatliches Interesse in Zeiten des Krieges beeinträchtigen könne, entziehe ihr nicht den Schutz des First Amendment. Erforderlich sei eine unmittelbare Gefahr für das Staatswesen: „I think that we should be eternally vigilant against attempts to check the expression of opinions that we loathe and believe to be fraught with death, unless they so imminently threaten immediate interference with the lawful and pressing purposes of the law that an immediate check is required to save the country.“ 531
Die Verschärfung des clear and present danger tests ergibt sich daraus, dass ein nur „erhebliches“ Übel einen Eingriff in das First Amendment nicht mehr 526 Debs v. United States, 249 U.S. 211 (1919); Eugene V. Debs war mehrfach Präsidentschatfskandidat der Sozialistischen Partei, Lewis, Freedom for the Thought That We Hate, S. 27. 527 Frohwerk, 249 U.S. at 209. 528 Vgl. zum bad tendency test Lewis, Freedom for the Thought That We Hate, S. 24 sowie Post, in: Hare/Weinstein, S. 124 (134). 529 Man unternahm sogar einen Versuch, Holmes von seinem Sondervotum abzubringen, Lewis, Freedom for the Thought We Hate, S. 33 f. 530 Abrams, 250 U.S. at 630; siehe oben S. 127. 531 Abrams, 250 U.S. at 630 (Holmes, J., dissenting).
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rechtfertigen kann. Holmes verlangte nunmehr eine unmittelbare („imminent“) Bedrohung für den Fortbestand des Staates. Wäre dieser überaus strenge Maßstab in den unmittelbar zuvor entschiedenen Fällen Schenck, Frohwerk und Debs angewendet worden, hätten die dortigen Verurteilungen kaum bestätigt werden können.532 Insofern kam der Sinneswandel von Holmes und damit die Verschärfung der clear and present danger-Kriterien unerwartet.533 d) Holmes’ Dissent in Gitlow v. People of State of New York: „Every idea is an incitement“ 1925 hatte sich der Supreme Court erneut mit subversiven Meinungsäußerungen zu befassen. Benjamin Gitlow hatte als Mitglied einer linksradikalen Partei ein „Manifest“ veröffentlicht, das die Massen aufrief, sich zu erheben und einer revolutionären Diktatur des Proletariats den Weg zu bereiten. Er wurde wegen „advocating, advising or teaching the overthrow of organized government by unlawful means“ 534 verurteilt. Der Supreme Court bestätigte auch diese Verurteilung und übte sich zunächst in Zurückhaltung gegenüber der Legislative. In der Einschätzung des New Yorker Parlaments seien Aufrufe zum gewaltsamen Sturz der Regierung per se derart gefährlich, dass sie verboten werden müssten. Diese Wertung könne ein Gericht nicht in Frage stellen. Dass die befürchteten Effekte dieser Äußerungen erst mit erheblicher Verzögerung eintreten könnten, falle nicht entscheidend ins Gewicht. Der Staat habe das Recht, den Funken zu löschen, bevor sich eine Flamme entzünde.535 Richter Holmes widersprach dieser Entscheidung. Im Anschluss an sein Sondervotum in Abrams hob er hervor, dass der clear and present danger test die gegenwärtige Gefahr eines Umsturzversuchs verlange. Der bloße Aufruf zu einem solchen Verhalten reiche nicht aus. Allein die sich aus der Veröffentlichung ergebende abstrakte Gefahr rechtfertige den Eingriff nicht, denn, so Holmes’ berühmte Formulierung, „every idea is an incitement“: 532 In Bezug auf den Fall Debs ebenso Lewis, Freedom for the Thought That We Hate, S. 29. 533 Gunther, 27 Stan. L. Rev. 719, 720 (1975) führt dies insbesondere auf einen Briefwechsel Holmes mit Richter Learned Hand zurück, der in Holmes erst das Gespür für die besondere Bedeutung der freien Rede geweckt habe und ihn für sein Urteil in Schenck kritisiert hatte; in diesem Sinne auch Weaver/Lively, S. 22; siehe auch Lewis, Freedom for the Thought That We Hate, S. 29 ff., der zudem den Einfluss eines Artikels des Harvard-Professors Zechariah Chafee, 32 Harv. L. Rev. 932 (1919), betont. 534 Gitlow, 268 U.S. at 664–665. 535 Gitlow, 268 U.S. at 669 („It cannot be said that the State is acting arbitrarily or unreasonably when in the exercise of its judgment as to the measures necessary to protect the public peace and safety, it seeks to extinguish the spark without waiting until it has enkindled the flame or blazed into conflagration.“); Weaver/Lively, S. 22 („government should not have to assume the risk of belated action“).
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„It offers itself for belief and if believed it is acted on unless some other belief outweighs it or some failure of energy stifles the movement at its birth. [. . .] But whatever may be thought of the redundant discourse before us it had no chance of starting a present conflagration. If in the long run the beliefs expressed in proletarian dictatorship are destined to be accepted by the dominant forces of the community, the only meaning of free speech is that they should be given their chance and have their way. If the publication of this document had been laid as an attempt to induce an uprising against government at once and not at some indefinite time in the future it would have presented a different question. The object would have been one with which the law might deal, subject to the doubt whether there was any danger that the publication could produce any result, or in other words, whether it was not futile and too remote from possible consequences. But the indictment alleges the publication and nothing more.“ 536
e) Brandeis’ Concurrence in Whitney v. California: „Only an emergency can justify repression“ Auch die Entscheidung im Fall Whitney v. California aus dem Jahr 1926 ist weniger wegen des Ergebnisses als wegen eines Sondervotums von Bedeutung. Autor dieser concurring opinion537 war allerdings nicht Holmes, sondern Richter Louis D. Brandeis. Holmes schloss sich diesem Votum an. Gegenstand der Entscheidung war die Verurteilung eines Mitglieds der amerikanischen sozialistischen Partei nach einem Antisyndikalismus-Gesetz.538 Die Mehrheit bestätigte die Verurteilung ohne nähere Begründung durch einen Verweis auf die eigene Entscheidung in Gitlow. Nur aus prozessualen Gründen folgten Brandeis und Holmes dem Ergebnis der Mehrheit. Ihr zustimmendes Sondervotum ist in der Sache ein scharfer dissent, der als der wichtigste Essay in der Geschichte des First Amendment539 beschrieben worden ist. In der bereits zitierten Passage540 schlägt Brandeis den Bogen zu den founding fathers und bekennt sich zum Wettbewerb der Meinungen sowie zur Gegenrede als adäquates Mittel der Auseinandersetzung. Für den clear and present danger test bedeute dies:
536
Gitlow, 268 U.S. at 673 (Holmes, J., dissenting). Es handelte sich nur aus prozessualen Gründen um ein zustimmendes Sondervotum, vgl. Whitney, 274 U.S. at 380 (Brandeis, J., concurring). 538 „Syndicalism“ bezeichnet eine Bewegung, deren Ziel es ist, die kapitalistische Gesellschaft zu „überwinden“ und sowohl Wirtschaft als auch Regierung durch Gewerkschaften und Vereinigungen von Gewerkschaften zu kontrollieren (www.britanni ca.com, „Syndicalism“). 539 Blasi, 29 Wm & Mary L. Rev. 653, 668 (1988) („most important essay ever written, on or off the bench, on the meaning of the first amendment“). 540 Siehe oben S. 124 bei Anm. 381. 537
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„Fear of serious injury cannot alone justify suppression of free speech and assembly. Men feared witches and burnt women. It is the function of speech to free men from the bondage of irrational fears. To justify suppression of free speech, there must be reasonable ground to fear that serious evil will result if free speech is practiced. There must be reasonable ground to believe that the danger apprehended is imminent. There must be reasonable ground to believe that the evil to be prevented is a serious one. [. . .] But even advocacy of violation, however reprehensible morally, is not a justification for denying free speech where the advocacy falls short of incitement and there is nothing to indicate that the advocacy would be immediately acted on. [. . .] To courageous, self-reliant men, with confidence in the power of free and fearless reasoning applied through the processes of popular government, no danger flowing from speech can be deemed clear and present, unless the incidence of the evil apprehended is so imminent that it may befall before there is opportunity for full discussion. If there be time to expose through discussion the falsehood and fallacies, to avert the evil by the processes of education, the remedy to be applied is more speech, not enforced silence. Only an emergency can justify repression. Such must be the rule if authority is to be reconciled with freedom. Such, in my opinion, is the command of the Constitution. It is therefore always open to Americans to challenge a law abridging free speech and assembly by showing that there was no emergency justifying it.“ 541
Ganz im Einklang mit der Metapher des Marktplatzes der Ideen forderten Brandeis und Holmes ein sehr restriktives und damit freiheitsfreundliches Verständnis des clear and present danger test. Soweit es um Aufrufe zum Sturz der Regierung mit illegalen Mitteln ginge, dürfe die Redefreiheit erst beschnitten werden, wenn dieser Sturz unmittelbar bevorstehe. Ein staatlicher Eingriff in den demokratischen Prozess sei erst gerechtfertigt, wenn die Kräfte der Gegenrede bereits versagt haben oder feststeht, dass sie ihre „entschärfende“ Wirkung nicht rechtzeitig entfalten können. Nicht jede Gefahr, dass einem Aufruf zu illegalem Verhalten Taten folgen werden, reiche aus. Ein besonders schwerwiegendes Übel – Brandeis ist insofern großzügiger als Holmes und lässt ein ernstliches Übel (serious evil) ausreichen – muss drohen und dessen Eintritt unmittelbar bevorstehen.542 Nur ein solcher „Notfall“ (emergency) könne einen Eingriff in das First Amendment rechtfertigen. Das Sondervotum von Richter Brandeis hat Anita Whitney übrigens – wenngleich auf Umwegen – geholfen. Einen Monat nach dem Urteil des Supreme Court wurde sie durch den Gouverneur von Kalifornien begnadigt. In seiner Gnadenentscheidung berief sich der Gouverneur auf die dissenting opinion von Brandeis.543
541 542 543
Whitney, 274 U.S. at 376–377 (Brandeis, J., concurring). Whitney, 274 U.S. at 378 (Brandeis, J., concurring). Lewis, Freedom for the Thought That We Hate, S. 36 f.
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f) United States v. Schwimmer: „freedom for the thought that we hate“ Ein weiteres Sondervotum aus der Feder von Richter Holmes verdient Erwähnung. In dem 1929 entschiedenen Fall United States v. Schwimmer ging es um die Frage, ob die Einbürgerung denjenigen verweigert werden konnte, die den Schwur verweigerten, die Vereinigten Staaten auch mit der Waffe zu verteidigen. Als Pazifistin verweigerte Rosika Schwimmer, die Beschwerdeführerin, diesen Eid. Der Supreme Court bestätige die negative Einbürgerungsentscheidung. In seinem dissent schrieb Holmes: „[I]f there is any principle of the Constitution that more imperatively calls for attachment than any other it is the principle of free thought – not free thought for those who agree with us but freedom for the thought that we hate.“ 544
g) Dennis v. United States: „If the ingredients of the reaction are present, we cannot bind the Government to wait until the catalyst is added“ Trotz ihrer Eloquenz blieb die concurrence von Brandeis im Fall Whitney zunächst ungehört. Deutlicher Beleg hierfür ist das Urteil des Supreme Court im Fall Dennis545 aus dem Jahr 1951. Auch diese Entscheidung erging in Zeiten, in denen die Angst der amerikanischen Gesellschaft vor kommunistischer Unterwanderung groß war. Diese Periode des McCarthyism wird in Anspielung auf die Zeit zwischen 1917 und 1920 als Second Red Scare beschrieben.546 Auch die Rechtsprechung des Supreme Court orientierte sich an den Entscheidungen aus der Zeit der Great Red Scare. Dennis und den übrigen Beschwerdeführern war zur Last gelegt worden, sich zur Gründung einer kommunistischen Partei und zur Forderung des gewaltsamen Sturzes der Regierung der Vereinigten Staaten verschworen zu haben. Ihre Verurteilung hatte auch vor dem Supreme Court Bestand. Eine Mehrheit der Richter übernahm eine von dem Bundesrichter Learned Hand547 vorgeschlagene Formel des clear and present danger test und kam zu dem Ergebnis, dass unter diesen Voraussetzungen eine Verletzung des First Amendment nicht festzustellen sei. Diese „Hand-Formula“ setzt die Empfindlichkeit des Übels und die Wahrscheinlichkeit des Eintritts ins Verhältnis zu der mit dem konkreten Eingriff verbundenen Freiheitsbeschränkung:
544
United States v. Schwimmer, 279 U.S. 644, 655 (1929). Dennis v. United States, 341 U.S. 494 (1951). 546 Lewis, Freedom for the Thought That We Hate, S. 122. 547 United States v. Dennis, 183 F.2d 201, 212 (1950); Lewis, Freedom for the Thought That We Hate, S. 122. 545
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„In each case (courts) must ask whether the gravity of the ,evil,‘ discounted by its improbability, justifies such invasion of free speech as is necessary to avoid the danger.“ 548
Die Entscheidung ist von der Annahme geprägt, dem Staat könne nicht zugemutet werden, mit seinem Eingriff bis zum letzten Moment zu warten: „If the ingredients of the reaction are present, we cannot bind the Government to wait until the catalyst is added.“ 549
Nach dieser Logik sinken die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit, dass das Übel eintritt, je empfindlicher das drohende Übel ist. Umgekehrt steigen die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, wenn nur ein geringer Schaden zu befürchten ist.550 Nach dieser fast polizeirechtlichen Formel sinken die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des tatsächlichen Schadenseintritts auf ein Minimum, wenn das Schutzgut, wie der Staat und die demokratische Regierungsform, einen nahezu maximalen Stellenwert genießt. Die Parallele zur Rechtsprechung des EGMR ist augenfällig.551 Der Widerspruch dieser Denkweise zu Brandeis’ Sondervotum in Whitney ist deutlich. Für Brandeis vermochte letztlich nur die Unmittelbarkeit des bevorstehenden Schadenseintritts, vor allem der direkte Angriff auf den Bestand des Staates und seiner Einrichtungen, eine klare und gegenwärtige Gefahr zu begründen. Eine Abwägung zwischen der Schwere des denkbaren Schadens und den Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts wollten weder Brandeis noch Holmes zulassen. Die relative Bedeutung des Schutzguts, zu dessen Gunsten eingegriffen wird, ist ohne Belang. Zu fragen ist einzig, wie konkret die Gefährdungslage ist. 2. Brandenburg v. Ohio: Holmes’ und Brandeis’ später Triumph Brandeis und Holmes fanden erst 1969552 bei einer Mehrheit der Richter des Supreme Court Gehör. Im Fall Brandenburg v. Ohio553 setzte das Gericht die Entscheidung in Whitney als Präzedenzfall außer Kraft und ging sogar noch über die Holmes-Brandeis-Version des clear and present danger test hinaus. Clarence Brandenburg war aufgrund des Ohio Syndicalism Act verurteilt worden. Dieser stellte es unter Strafe, die „Pflicht, Notwendigkeit oder Gebotenheit 548
Dennis, 341 U.S. at 510. Dennis, 341 U.S. at 511. 550 Sottiaux, ZaöRV 63 (2003), 653 (662). 551 Siehe oben, Erstes Kapitel, E. III.2. d) (S. 117). 552 Erste Ansätze zeigten sich bereits in den 1940er Jahren in Bridges v. State of California, 314 U.S. 252 (1941) und Terminiello v. City of Chicago, 337 U.S. 1 (1949), die in den 1950er Jahren jedoch wieder in den Hintergrund traten, Farber. S. 62 f. 553 Brandenburg v. Ohio, 395 U.S. 444 (1969). 549
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von Straftaten, Sabotageakten, Gewalt oder Terrorismus“ als legitimes Mittel zu propagieren, um industrielle und politische Reformen durchzusetzen.554 Es handelte sich also um ein klassisches anti syndicalism statute, das den Gesetzen, die den Verurteilungen in Dennis, Whitney, Gitlow zugrunde lagen, nahezu vollkommen entsprach.555 Brandenburg hatte in verschiedenen Reden vor Versammlungen des Ku Klux Klan in Ohio von „schmutzigen Negern“ gesprochen, gefordert, die Juden zurück nach Israel zu schicken und die staatliche Unterdrückung der weißen Rasse beklagt. Schließlich hatte er die Möglichkeit aufgeworfen, dass man Rache nehmen müsse. Er wurde zu einer Haftstrafe von zehn Jahren sowie einer Geldstrafe von 1.000 US Dollar verurteilt. Seine Verurteilung hatte vor dem Supreme Court keinen Bestand. In einer per curiam opinion556, die keinen Richter als Autor nennt, hob der Supreme Court die Verurteilung auf und definierte die fortan geltenden Voraussetzungen, unter denen der Aufruf zu strafbarem und gewaltsamen Verhalten im Einklang mit dem First Amendment unter Strafe gestellt werden kann. „[T]he constitutional guarantees of free speech and free press do not permit a State to forbid or proscribe advocacy of the use of force or of law violation except where such advocacy is directed to inciting or producing imminent lawless action and is likely to incite or produce such action.“ 557
Danach kommt eine Einschränkung des First Amendment nur in Betracht, wenn sowohl ein objektives als auch ein subjektives Element vorliegen. In subjektiver Hinsicht muss der Aufruf darauf gerichtet sein, unmittelbar zu illegalem Verhalten anzustiften oder solches Verhalten auszulösen. Objektiv ist die Wahrscheinlichkeit erforderlich, dass den jeweils in Rede stehenden Äußerungen solche Taten tatsächlich und unmittelbar folgen. Der Brandenburg-Test lässt sich daher in drei Kriterien unterteilen: (1) Wollte der Redner zur Gewaltausübung anstiften? (2) War es wahrscheinlich, dass die Rede illegales Verhalten auslöst? (3) Stand dieses illegale Verhalten unmittelbar bevor? Durch diese Kombination eines subjektiven und eines strengen, objektiven Elements schützt dieser Test die freie Rede in besonders weitem Umfang.558 554
Brandenburg, 395 U.S. at 444–445. Weaver/Lively, S. 27. 556 I. d. R. handelt es sich bei per curiam opinions um knappe und unkontroverse Entscheidungen. Es ist ungewöhnlich, dass eine per curiam opinion, wie hier, einen bislang gültigen Präzedenzfall außer Kraft setzt. Ursprünglicher Autor von Brandenburg war Richter Abe Fortas, dessen erster Entwurf innerhalb des Gerichts schnell Zustimmung fand. Bevor das Urteil jedoch verkündet werden konnte, musste Fortas zurücktreten (Murphy, Fortas, S. 543). Richter Brennan überarbeitete daraufhin den Entwurf und strich jeglichen Verweis auf den clear and present danger test. Der Brennan-Entwurf wurde sodann per curiam verkündet, Schwartz, 1994 Sup. Ct. Rev 209, 237. 557 Brandenburg, 395 U.S. at 447. 558 Gunther, 27 Stan. L. Rev. 719 (1975); Barron/Dienes, S. 77 f. Nach Gunthers Meinung kombiniert der Brandenburg-Test den Fokus von Holmes und Brandeis auf 555
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Der Ohio Syndicalism Act genügte diesen Anforderungen nicht. Er erfasste auch Äußerungen, die nach den genannten Maßstäben uneingeschränkt dem Schutz des First Amendment unterstehen. Insbesondere fand sich in diesem Gesetz die Unterscheidung zwischen der abstrakten „Lehre“ und dem konkreten Aufruf zum unmittelbaren Gesetzesbruch nicht wieder. Daher war das Gesetz overbroad 559 und insgesamt nichtig. Die Brandenburg-Kriterien sind bis heute maßgeblich. Der Supreme Court hat sie mehrfach bestätigt.560 Auch in den aktuellen Zeiten des „Kriegs gegen den Terrorismus“ sind sie nicht ins Wanken geraten.561 3. Zwischenfazit Die Auseinandersetzung um die Reichweite des verfassungsrechtlichen Schutzes von Aufrufen zu Gewalt und anderem illegalen Verhalten durchzog die Rechtsprechung des Supreme Court im vergangenen Jahrhundert. Die 1919 ergangenen Entscheidungen und die daran anschließende Diskussion um die genauen Konturen des clear and present danger test prägten über Jahre hinweg die Debatte um das First Amendment. Die Entwicklung der Rechtsprechung des Supreme Court vollzog sich nicht in gleichmäßigen Schritten. Das Gericht blieb seiner restriktiven, regierungs- und regulierungsfreundlichen Linie über einen Zeitraum von 50 Jahren treu. Immer wieder war es die Angst vor dem Kommunismus, die den Supreme Court zur Zurückhaltung bewegte.562 Über diesen Zeitraum wurde die gesetzgeberische Entscheidung, mit dem Aufruf zu illegalem Verhalten seien Gefahren verbunden, die es im Keim zu ersticken gelte, nicht in Frage gestellt.563 Fast unerwartet hat der Gerichtshof 1969 diese Zurückhaltung aufgegeben. einen unmittelbar bevorstehenden Schadens mit einer Formel von Richter Learned Hand in Masses Publishing Co. v. Patten, 244 Fed. 535 (1917); vgl. Schwartz, 1994 Sup. Ct. Rev. 209; im Sinne einer solchen Kombination auch Lewis, Freedom for the Thought That We Hate, S. 124. 559 Siehe zur overbreadth oben S. 132 f. 560 Vgl. Black, 538 U.S. 343, 359 (2003); NAACP v. Claiborne, 458 U.S. 886 (1982); Communist Party of Indiana v. Whitcomb 414 U.S. 441, 447–448 (1974); Hess v. Indiana, 414 U.S. 105, 108 (1973); Barendt, Freedom of Speech, S. 165 f. 561 Diese Aussage ist seit der Entscheidung des Supreme Court im Fall Holder v. Humanitarian Law Project im Jahr 2010, 103 S. Ct. 2705 (2010), mit einem Fragezeichen zu versehen. Dort billigte das Gericht unter (vermeintlicher) Anwendung von strict scrutiny einen inhaltsbezogenen Eingriff in das First Amendment aus Gründen der Terrorismusbekämpfung. Allerdings ging es in diesem Fall nicht um incitement im Sinne eines Aufrufs zu illegalem Verhalten, sondern um material support für eine terroristische Organisation durch, verkürzt formuliert, bestimmte Formen der gezielten Rechtsberatung. Sehr kritisch hierzu Cole, N. Y. Review of Books v. 19.08.2010. 562 Rosenfeld, 24 Cardozo L. Rev. 1523, 1530 (2003). 563 Plastisch die concurring opinion von Richter Frankfurter im Fall Dennis, 341 U.S. at 539–540: „How best to reconcile competing interests is the business of the legisla-
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
Der jeweilige zeitgeschichtliche Kontext hat ganz offenbar den Inhalt der Entscheidungen maßgeblich beeinflusst. Sowohl die Entscheidungen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als auch die Anfang der 1950er Jahre ergangenen Urteile stammen aus Zeiten, in der die Furcht vor kommunistischer Unterwanderung groß war und weite Teile der amerikanischen Gesellschaft erfasst hatte. Das Urteil Brandenburg hingegen erging zu einem Zeitpunkt, als ein weiterer Freiraum für die Redefreiheit seinerseits einem gesellschaftlichen Konsens entsprach und die Angst vor einem kommunistischen Umsturz abgeebbt war. Bereits an dieser Stelle werden erste Unterschiede zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte deutlich. Gälte noch heute der 1925 in Gitlow formulierte Grundsatz, dass der Staat aus Angst, ein Feuer könne sich entzünden, bereits den Funken ersticken darf, bestünden zwischen dem EGMR und dem Supreme Court sowohl methodisch als auch im Ergebnis weitgehende Übereinstimmung. Mittlerweile fordert die amerikanische Verfassungsrechtsprechung jedoch über eine abstrakte Gefahr hinaus ein konkretes Risiko, dessen Verwirklichung beabsichtigt ist und unmittelbar bevorsteht. Der EGMR lässt bei ausdrücklichen Gewaltaufrufen die abstrakte Gefahr bereits genügen, auch bei impliziten Aufrufen zu illegalem Verhalten verfährt er strenger.
III. Fighting Words: R.A.V. v. St. Paul Bereits 1942 hatte der Supreme Court im Fall Chaplinsky entschieden, dass fighting words nicht den Schutz des First Amendment genießen. Gemeint sind Äußerungen, die für gewöhnlich und mit hoher Wahrscheinlichkeit eine gewaltsame Reaktion auslösen.564 Erfasst sind insbesondere persönliche Beleidigungen in Form besonders deftiger Schimpfwörter.565 So hatte Walter Chaplinsky, ein missionierender Zeuge Jehovas, den ihn verhaftenden Polizisten als „gottverdammten Gangster“ und als „verdammten Faschisten“ beschimpft.566 Es steht zu vermuten, dass eine solche Bemerkung im Jahre 1942 mehr war, als der durchschnittliche Polizist ertragen konnte, ohne zum Schlagstock zu greifen. Seit Chaplinsky hatte allerdings keine auf die fighting words-Ausnahme gestützte Verurteilung vor dem Supreme Court bestand.567
tures, and the balance they strike is a judgment not to be displaced by ours, but to be respected, unless outside the pale of fair judgment.“ 564 Chaplinsky, 315 U.S. at 568 (1942). Black, 538 U.S. at 359; Cohen, 403 U.S. at 20. 565 Ely, Democracy and Distrust, S. 114 („unambiguous invitation to a brawl“); siehe auch Duncan, 76 Miss. L. J. 677, 680–681 (2007). 566 Chaplinsky, 315 U.S. at 569. 567 Duncan, 76 Miss. L. J. 677, 681 (2007).
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Im Mittelpunkt der Entscheidung im Fall R.A.V. v. St. Paul 568 aus dem Jahr 1992 stand nicht die Frage nach den äußeren Grenzen dieser Bereichsausnahme. Vielmehr ging es darum, in welchem Ausmaß, wenn überhaupt, das First Amendment auch innerhalb der Bereichsausnahmen (und damit außerhalb des eigentlichen Schutzbereichs) einen gewissen Schutz gewährt. R.A.V. ist die vielleicht wichtigste Entscheidung des Supreme Court zum Komplex der Hassrede. 1. Ein brennendes Kreuz im Vorgarten einer farbigen Familie Robert A. Viktora569 hatte gemeinsam mit einigen anderen Teenagern aus einem kaputten Stuhl ein Kreuz gezimmert und es im Vorgarten einer farbigen Familie in St. Paul, Minnesota, angezündet. Die Jugendlichen wurden aufgrund der Bias-Motivated-Crime Ordinance (sinngemäß: Verordnung über vorurteilsmotivierte Vergehen) der Stadt St. Paul belangt. Danach beging eine Ordnungswidrigkeit, wer auf öffentlichem oder privatem Grund ein Symbol, etwa ein brennendes Kreuz (oder ein Hakenkreuz), aufstellte, das bei Dritten Ärger, Besorgnis oder das Gefühl der Ablehnung aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, des Bekenntnisses, der Religion oder des Geschlechts hervorruft.570 Unter Berufung auf das First Amendment beantragte Viktora die Nichtzulassung der Anklage, scheiterte jedoch vor dem Minnesota Supreme Court, der den Anwendungsbereich der Verordnung auf fighting words beschränkte und sie insoweit für verfassungskonform erklärte.571 Daraufhin rief Viktora den Supreme Court an. 2. Das Mehrheitsvotum: „Ungeschützt“ heißt nicht „schutzlos“ Die neun Richter des Supreme Court stimmten darin überein, dass die Entscheidung des Minnesota Supreme Court aufzuheben war. Aber, um es in den Worten von Richter White zu sagen: „[O]ur agreement ends there“.572 Im Mittelpunkt des Konflikts steht die Frage, ob und, wenn ja, inwieweit auch eigentlich ungeschützten Äußerungen der Schutz des First Amendment zusteht. 568
505 U.S. 377 (1992). Der Name des Beschwerdeführers wurde in den Entscheidungen stets anonymisiert, zum vollen Namen siehe Laurence, 21 Hastings Const. L. Q. 1117, 1118 (1994). 570 Der genaue Wortlaut: „Whoever places on public or private property a symbol, object, appellation, characterization or graffiti, including but not limited to, a burning cross or Nazi swastika, which one knows or has reasonable grounds to know arouses anger, alarm or resentment in others on the basis of race, color, creed, religion or gender commits disorderly conduct and shall be guilty of a misdemeanor.“, St. Paul, Minn., Code s. 292.02 (1990) zitiert bei R.A.V., 505 U.S. at 379. 571 Vgl. In re Welfare of R.A.V., 464 N.W.2d 507, 510 (Minn. 1994). Der District Court hatte die Anklage noch aus First Amendment-Gründen zurückgewiesen, vgl. R.A.V., 505 U.S. at 379. 572 R.A.V., 50 U.S. at 397 (White, J., concurring). 569
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
Richter Scalia, der Autor des Mehrheitsvotums, fühlte sich an die Auslegung der Verordnung durch den Minnesota Supreme Court gebunden und unterstellte, dass tatsächlich nur fighting words in deren Anwendungsbereich fallen.573 Frühere Aussagen des Supreme Court, von den Bereichsausnahmen erfassten Äußerungen sei jeglicher verfassungsrechtlicher Schutz zu versagen, dürften nicht wörtlich genommen werden. Auch im Hinblick auf eigentlich ungeschützte Äußerungen seien inhaltbezogene Unterscheidungen grundsätzlich unzulässig. Diese Äußerungen seien nur insoweit schutzlos, als sie ausnahmsweise aufgrund ihres Inhalts reguliert werden dürften. So könnten etwa Inhalte gerade wegen ihrer Obszönität verboten werden.574 Eine inhaltsbezogene Teilregulierung, die bestimmte ungeschützte Äußerungen verbietet, andere aber zulässt, sei hingegen in der Regel verfassungswidrig. Von diesem Grundsatz ließ das Mehrheitsvotum nur wenige Ausnahmen zu. Eine erste Ausnahme greife, wenn die jeweilige Unterscheidung auf dem gleichen Grund beruhe, aus dem die gesamte Kategorie ungeschützt sei. Als eine weitere Ausnahme nannte Scalia im Sinne einer Generalklausel selektive Verbote ungeschützter Äußerungen, die nicht auf die staatliche Unterdrückung bestimmter Ideen schließen ließen.575 Im Einklang mit der ersten Ausnahme hätte sich die Verordnung von St. Paul auf besonders aggressive fighting words beschränken können. In diesem Fall würde das Verbot durch die Eigenschaft bestimmt, die die Bereichsausnahme insgesamt rechtfertigt: Die Gefahr einer unmittelbaren gewalttätigen Reaktion. Unzulässig sei es demgegenüber, nur solche fighting words zu verbieten, die eine bestimmte politische Partei kritisierten. Eine solche Unterscheidung knüpfe nicht an die Gefahr der gewalttätigen Reaktion der Äußerung an. Sie richte sich gegen die politische Meinung, die zum Ausdruck gebracht wird576 und führe daher zu einer unzulässigen meinungsbezogenen Diskriminierung. In diesem Sinne erfasse die Verordnung von St. Paul nicht sämtliche fighting words, sondern nur solche, die sich auf einige so genannte disfavoured topics beziehen. Fighting words, die außer Zusammenhang zu Rasse, Hautfarbe, Bekenntnis, Religion oder Geschlecht stehen, sondern etwa auf politische Überzeugungen oder sexuelle Orientierung Bezug nehmen, blieben erlaubt. Damit stelle die Verordnung nicht auf die besonders aggressive Qualität der Äußerung ab, sondern auf die jeweilige politische Meinung.577 Ein derart selektives, meinungs573
R.A.V., 505 U.S. at 381. R.A.V., 505 U.S. at 383–384. 575 R.A.V., 505 U.S. at 385–386; siehe auch Laurence, 21 Hastings Const. L. Q. 1117, 1120–1121 (1994). 576 Vgl. R.A.V., 505 U.S. at 388–390. 577 A.A. Laurence, 21 Hastings Const. L. Q. 1117, 1199 (1994), der unter Verweis auf das Sondervotum von Richter Stevens argumentiert, St. Paul könne ohne Weiteres angenommen haben, dass fighting words, die sich auf die „disfavoured topics“ beziehen, mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit gewalttätige Reaktionen hervorrufen. Al574
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bezogenes Verbot einiger fighting words gestatte der einen Seite, im Freistil zu kämpfen, während die Gegenseite an die Regeln des Marquis of Queensberry578 gebunden sei.579 Eine solche meinungsbezogene Regulierung könne nur unter den Voraussetzungen der strict scrutiny gerechtfertigt werden. Selbst wenn man ein zwingendes Bedürfnis, die von der Verordnung erfassten fighting words zu verbieten, unterstelle, sei der Eingriff nicht zu rechtfertigen. St. Paul hätte sich für eine weniger meinungsbasierte und daher verhältnismäßigere Form der Regulierung entscheiden und sämtliche fighting words, unabhängig von den ihnen zugrunde liegenden Meinungen, verbieten können.580 St. Paul wird also zum Verhängnis, dass ihre Verordnung nicht zu viel, sondern zu wenig Rede verboten hat (underinclusiveness). Zusammengefasst: Auch innerhalb der unprotected categories ist die inhaltsbezogene Regulierung freier Rede grundsätzlich unzulässig und nur unter den Voraussetzungen der strict scrutiny erlaubt. Diese Voraussetzungen erfüllt ein selektives Verbot bestimmter ungeschützter Äußerungen in der Regel nicht, da als milderes weil weniger inhaltsbezogenes Mittel stets das „Totalverbot“ sämtlicher von der Bereichsausnahme erfasster Äußerungen zur Verfügung steht. 3. Eine concurrence als dissent: Das Sondervotum von Richter White Das Sondervotum von Richter White, dem sich die Richterin O’Connor und Richter Blackmun einschränkungslos und Richter Stevens mit geringfügigen Einschränkungen anschlossen, hielt die Verordnung wegen overbreadth für verfassungswidrig.581 Lässt man die Übereinstimmung im Ergebnis außer Acht, liest sich dieses Votum wie eine abweichende Meinung.582 Richter White verteidigte mit Nachdruck das Konzept kategorischer Bereichsausnahmen als bewährtes und berechenbares Mittel zur Definition des Schutzbereichs des First Amendment. Bereits die Herleitung des kategorischen Ansatzes im Urteil Chaplinsky zeige, dass die von den Bereichsausnahmen erfassten Äußerungen per se des Schutzes durch das First Amendment unwürdig seien. Es widerspreche sich selbst, wenn dem Staat gestattet sei, eine gesamte Kategorie auflerdings ergibt sich aus dem Sachverhalt des Falles nicht, dass die Verordnung tatsächlich auf dieser Annahme beruhte – entsprechendes ist wohl auch nicht im Verfahren vorgetragen worden. 578 Der von Scalia verwendete Begriff der „Marquis of Queensberry Rules“ bezeichnet ein Regelwerk für den Boxsport. 579 R.A.V., 505 U.S. at 391–395. 580 R.A.V., 505 U.S. at 395–396. 581 A.A. die Anmerkung von Shiffrin, 80 Cornell L. Rev. 43, 70–76 (1994). 582 Heatherman, 29 Willamette L. Rev. 763, 771 (1993).
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
grund ihres Inhalts zu regulieren, ihm aber verboten werde, sich auf eine Subkategorie zu beschränken. Sämtliche von dieser Subkategorie erfassten Inhalte seien per definitionem wertlos und verdienten keinen verfassungsrechtlichen Schutz.583 Selbst wenn man der Mehrheit folge und die Verordnung der strict scrutiny unterwerfe, komme es nicht zu einem Verstoß gegen das First Amendment. Insbesondere sei der Eingriff nicht unverhältnismäßig, weil er zu wenig Rede verbiete. Nach der Logik der Mehrheit wäre eine eng begrenzte, inhaltsbasierte Verordnung stets verfassungswidrig, weil das Ziel einer solchen Verordnung regelmäßig auch dadurch erreicht werden könne, Äußerungen in weiterem Umfang und damit „meinungsneutral“ zu verbieten.584 Diese Konsequenz disqualifiziere sich selbst. Auch wenn man in Fällen wie R.A.V. den Schutz des First Amendment verweigere, öffne man einer willkürlichen Regulierung innerhalb der Bereichsausnahmen nicht Tür und Tor. Etwaige Unterscheidungen seien jedoch nicht am First Amendment und dem Maßstab der strict scrutiny zu messen. Anwendbar sei vielmehr der allgemeine Gleichheitssatz nach der Equal Protection Clause des 14. Verfassungszusatzes. Danach sei in Fällen wie diesem eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt, wenn das Verbot ungeschützter Äußerungen in nachvollziehbarer Weise einem legitimen staatlichen Ziel diene (rational basis review). Diesen Anforderungen werde die Verordnung von St. Paul gerecht.585 Dennoch sei die Verordnung im Ergebnis verfassungswidrig. Der Minnesota Supreme Court habe die Kategorie der fighting words zu umfangreich definiert und dadurch auch solche Äußerungen erfasst, die bei ihrem Adressaten Ärger und Wut, nicht aber eine gewalttätige Reaktion hervorrufen. Auch in der Auslegung durch den Minnesota Supreme Court erfasse die Verordnung daher nicht nur ungeschützte Äußerungen, sondern zu einem erheblichen Teil auch durch das First Amendment geschützte Rede und sei somit overbroad.586 Das Sondervotum von Richter White endet mit dem Satz: „I join the judgment, but not the folly of the opinion.“ 587
4. Zwischenfazit: Eng begrenzter regulatorischer Spielraum Schon der scharfe Ton der beiden Voten zeigt, dass der Supreme Court tief gespalten war. Der Streit entzündet sich an der Frage, ob und in welchem Umfang Äußerungen, die den anerkannten Bereichsausnahmen unterfallen, dennoch 583 584 585 586 587
R.A.V., 505 U.S. at 399–403 (White, J., concurring). R.A.V., 505 U.S. at 403–404 (White, J., concurring). R.A.V., 505 U.S. at 406–407 (White, J., concurring). R.A.V., 505 U.S. at 406–405 (White, J., concurring). R.A.V., 505 U.S. at 415 (White, J., concurring).
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den Schutz des First Amendment beanspruchen können. Für Richter White entfällt der Schutz des First Amendment innerhalb der Bereichsausnahmen in vollem Umfang, nur der Gleichheitssatz des 14. Verfassungszusatzes bleibt als Willkürkontrolle. Dem tritt die Mehrheit des Supreme Court, angeführt von Richter Scalia, entgegen. Das Mehrheitsvotum betont mehrfach, dass fighting words nicht aus dem Schutzbereich des First Amendment ausgeschlossen sind, weil sie eine bestimmte Idee oder Überzeugung vermitteln, sondern weil sie jede Idee in einer nicht hinnehmbaren Art und Weise ausdrücken. Diese inhaltsneutrale Rechtfertigung lässt in der Tat eine inhalts- oder sogar meinungsbezogene Unterscheidung innerhalb einer Bereichsausnahme nicht zu. Dennoch: R.A.V. definierte den verfassungsrechtlichen Status eigentlich ungeschützter Äußerungen im Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung neu.588 Bis dahin galt als selbstverständlich, dass Äußerungen aus den unprotected categories unter keinen Umständen den Schutz des First Amendment beanspruchen können. Die Entscheidung in R.A.V. gilt zu Recht als Höhepunkt der Ablehnung jeder Form inhaltsbezogener Regulierung freier Rede durch den Supreme Court.589 Äußerungen, die nach ständiger Rechtsprechung des Supreme Court nicht durch das First Amendment geschützt werden, genießen „plötzlich“ maximalen Schutz, weil sie nicht insgesamt, sondern nur zum Teil verboten werden.590 Erst das selektive staatliche Verbot begründet den verfassungsrechtlichen Schutz. Zugespitzt könnte man formulieren: Gerade weil der Staat eine Äußerung für besonders schädlich hält, genießt sie maximalen verfassungsrechtlichen Schutz. Die Sorge des Mehrheitsvotums galt dabei der Waffengleichheit im Wettbewerb der Ideen. Es befürchtete eine Wettbewerbsverzerrung, wenn sich die Vertreter einer Meinung „unlauterer“ Mittel bedienen dürfen, während die Anhänger einer anderen Meinung, wenn sie die gleichen Mittel einsetzen, bestraft werden. Innerhalb einer Bereichsausnahme komme eine selektives Verbot bestimmter ungeschützter Äußerungen daher nur in Betracht, wenn keine „amtliche Unterdrückung von Ideen“ zu befürchten stünde.591 R.A.V. stellt auch die Frage nach der Grenze zwischen Neutralität und Inhaltsbezogenheit. Die Mehrheit beschränkte sich auf die eher oberflächliche Feststel588
Farber, S. 109. Barendt, Freedom of Speech, S. 185; ähnlich Weinstein, in: Hare/Weinstein, S. 81 (85 f.); vgl. mit Blick auf die Diskussion um so genannten campus speech codes und den Begriff der politischen Korrektheit auch Gould, Speak No Evil, S. 125 f., der Scalias Votum als klares Statement in der „PC debate“ deutet; hierzu auch Farber, S. 111 f. 590 Laurence, 21 Hastings Const. L. Q. 1117, 1130–1131 (1994). 591 Vgl. R.A.V., 505 U.S. at 390 („Indeed, to validate such selectivity [where totally proscribable speech is at issue], it may not even be necessary to identify any particular ,neutral‘ basis, so long as the nature of the content discrimination is such that there is no realistic possibility that official suppression of ideas is afoot.“). 589
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lung, dass die Verordnung von St. Paul nur die Verbreitung bestimmter Ansichten (disfavored topics) im Wege der fighting words verbietet. Dies lege den Meinungsbezug der Regelung offen. Unbeantwortet blieb dabei, ob die durch St. Paul vorgenommene Unterscheidung nicht auch durch neutrale, nicht meinungsoder inhaltsbezogene Überlegungen bedingt gewesen sein könnte. So sprach auf den ersten Blick wenig gegen die Annahme, dass es sich bei den verbotenen Äußerungen (cross-burning) um eine besonders aggressive Form der fighting words handelte.592 In diese Richtung geht auch der Einwand von Cass Sunstein, der betont, dass mit dem Verbot des cross-burnings nicht notwendig eine politische Parteinahme verbunden sei: „According to the Court [. . .] a state cannot legitimately decide that cross-burning is worse than (for example) a vicious attack on your political convictions or your parents. A decision to this effect violates neutrality. But the Court’s conception of neutrality seems wrong. There is nothing partisan or illegitimate in recognizing that this unusual class of fighting words causes distinctive harms.“ 593
Das Sondervotum von Richter White ist nicht nur bemerkenswert, weil es die eigentlich paradoxe Konsequenz der Mehrheitsentscheidung entlarvt, nach der ein umfassenderes Verbot von Äußerungen verhältnismäßiger gewesen wäre als ein auf bestimmte Äußerungen beschränktes.594 White schlägt vor, innerhalb der Bereichsausnahmen nicht das First Amendment, sondern den Gleichbehandlungsgrundsatz der Equal Protection Clause anzuwenden. Anders als im Anwendungsbereich des First Amendment könnten hier die mittel- und langfristigen gesellschaftlichen Konsequenzen der Hassrede und der Gleichheitssatz in die verfassungsrechtliche Prüfung einfließen und einen Eingriff rechtfertigen.595 Das von Holmes und Brandeis geprägte strenge Erfordernis der Unmittelbarkeit zwischen einer Äußerung und dem durch sie verursachten Schaden gälte hier nicht. Dieser Vorschlag steht in scharfem Kontrast zur Denkweise der fünf Richter der Mehrheit, die das First Amendment als geschlossenes System begreift. Wenngleich die concurrence von Richter White nachdenklich stimmt, die fortan maßgeblichen Grundsätze ergeben sich aus dem Mehrheitsvotum. R.A.V. macht die Bekämpfung der Hassrede nahezu unmöglich.596 Die meisten der ent592
Vgl. Laurence, 21 Hastings Const. L. Q. 1117, 1133 (1994) und oben, Anm. 577. Sunstein, 60 U. Chi. L. Rev. 795, 825 (1993). 594 Kritisch auch Preves, 24 Loy. U. Chi. L. J. 309 336–339 (1993). 595 Siehe hierzu Amar, 106 Harv. L. Rev. 124 (1993), der dem Supreme Court vorwirft, den Fall zu Unrecht einzig anhand des First Amendment und nicht anhand des 14. Verfassungszusatzes entschieden zu haben. 596 Kübler, 27 Hofstra L. Rev. 335, 355 (1998) („It may well be that none of the [legislative powers to regulate hate speech] have survived after R.A.V. v. St. Paul.“); Laurence, 21 Hastings Const. L. Q. 1117, 1139 (1994) („The new content-neutrality requirement will effectively eliminate the ability of a state to create a narrowly tailored ordinance aimed specifically at the harms of racial, religious, or gender-based fighting words that would otherwise pass constitutional muster.“); Preves, 24 Loy. U. Chi. L. J. 593
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sprechenden Vorschriften zur Bekämpfung von Hassrede dürften an den zumeist rassistischen Inhalt der Äußerung anknüpfen und damit meinungsbezogen sein. Das Verbot von hate speech ist nachgerade ein klassischer Fall der von der Mehrheit des Supreme Court in R.A.V. abgelehnten „official supression of ideas“ 597.
IV. True Threats: Virginia v. Black598 In seinem Sondervotum in R.A.V. schrieb Richter Blackmun: „I regret what the Court has done in this case. The majority opinion signals one of two possibilities: It will serve as precedent for future cases or it will not. Either result is disheartening.“ 599
Welches dieser „entmutigenden Resultate“ eintreten sollte, zeigte sich 2003 im Fall Virginia v. Black 600. R.A.V. wurde – im Grundsatz – als Präzedenzfall bestätigt. Black betraf eine den fighting words „benachbarte“ Bereichsausnahme, die so genannten true threats, worunter der Supreme Court Drohungen versteht, die geeignet sind, den Adressaten in Angst um Leib und Leben zu versetzen.601 1. Sachverhalt: Eine Ku Klux Klan Rally in Cana, Virginia Am 2. August 1998 veranstaltete Barry Black eine Versammlung des Ku Klux Klan in Virginia. In deren Verlauf wurden Mexikaner, Farbige sowie Bill und Hillary Clinton beschimpft. Jemand sprach davon, wie gerne er eine Waffe nehmen und wahllos auf Schwarze schießen würde. Zum Abschluss wurde zu den Klängen des Kirchenlieds „Amazing Grace“ weithin sichtbar ein Kreuz verbrannt. Black wurde festgenommen und nach dem cross-burning statute602 von 309, 337 (1993); Powell, 12 Harv. BlackLetter L. J. 1, 30 (1995) („The true chilling effect of R.A.V. is on legislative efforts to curb hate speech. Not only does the majority opinion substantially alter First Amendment law, it also articulates a confusing principle – a state is not free to regulate unprotected subcategories of speech unless it also regulates the entire class of unprotected speech“); Tsesis, 38 San Diego L. Rev. 817, 849 (2001) („seemingly blanket prohibition against legislation targeting speech based on its racist content“); Vance, 14 Transnat’l L. & Contemp. Probs 201, 214 (2004); ähnlich Sunstein, 60 U. Chi. L. Rev. 795, 823 (1993). 597 R.A.V., 505 U.S. at 390. 598 538 U.S. 343 (2003). 599 R.A.V., 505 U.S. at 415 (Blackmun, J., concurring). 600 Virginia v. Black, 538 U.S. 343 (2003). 601 Black, 538 U.S. at 359–360 („Intimidation in the constitutionally proscribable sense of the word is a type of true threat, where a speaker directs a threat to a person or a group of persons with the intent of placing the victim in fear of bodily harm or death.“). 602 „It shall be unlawful for any person or persons, with the intent of intimidating any person or group of persons, to burn, or cause to be burned, a cross on the property of another, a highway or other public place. Any person who shall violate any provision
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Virginia angeklagt. Ein Geschworenengericht verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 2.500 Dollar.603 Das Oberste Gericht des Staates Virginia vermochte das fragliche Gesetz nicht von der Verordnung zu unterscheiden, die der Supreme Court in R.A.V. für verfassungswidrig erklärt hatte.604 Auch einen weiterer Teil der Vorschrift, nach dem das Verbrennen eines Kreuzes als Anscheinsbeweis des (vom Tatbestand geforderten) Einschüchterungsvorsatzes anzusehen war, hielt das Gericht für mit dem First Amendment unvereinbar. Der Oberste Gerichtshof von Virginia hob die Verurteilung Blacks auf; daraufhin rief der Staat Virginia den U.S. Supreme Court an und argumentierte, das Gesetz differenziere nicht anhand der durch das Verbrennen des Kreuzes ausgedrückten Meinung, sondern verbiete im Einklang mit den Vorgaben von R.A.V. nur eine besonders intensive Form der durch das First Amendment nicht geschützten true threats. Bestand tatsächlich ein wesentlicher Unterschied zwischen dem brennenden Kreuz in Minnesota und dem in Virginia? 2. Das Mehrheitsvotum: Distinguishing R.A.V. Die von Richterin O’Connor angeführte Mehrheit von fünf Richtern folgte dem Vorbringen Virginias in weitem Umfang. Nur die Regelung zum Anscheinsbeweis hielt verfassungsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Richterin O’Connor schilderte für die Mehrheit detailliert die enge historische Verbindung zwischen dem Ku Klux Klan und der ritualisierten Verbrennung von Kreuzen. Dieses Ritual sei ein Symbol der gemeinsamen Identität und Ideologie des Klan das sowohl der Initiation neuer Mitglieder als auch der Einschüchterung farbiger Mitbürger gedient habe und bis heute diene. Das brennende Kreuz sei ein klares Symbol des Hasses.605 Das Verbrennen eines Kreuzes sei daher nicht als schlichtes Tun (conduct), sondern als symbolisches und damit vom First Amendment im Ausgangspunkt geschütztes Verhalten (symbolic expression) einzuordnen.606 Die Geschichte dieses Rituals rechtfertige es zugleich, das Verbrennen eines Kreuzes, so es in dem Vorsatz geschieht, einzuschüchtern („cross-burning with an intent to intimidate“), als true threat zu qualifizieren. Wie fighting words stünden auch true threats, also Äußerungen, die die Absicht zum Ausdruck bringen, gegenüber einem Einzelnen oder einer Gruppe eine Straftat zu verüben, nicht unter dem Schutz des of this section shall be guilty of a Class 6 felony. Any such burning of a cross shall be prima facie evidence of intent to intimidate a person or group of persons.“ (zitiert nach Black, 538 U.S. at 348–350). 603 Black, 538 U.S. at 348–352. 604 Black v. Commonwealth of Virginia, 262 Va. 764, 772 (2001). 605 Black, 538 U.S. at 352–357. 606 Black, 538 U.S. at 358–361.
C. Rechtsprechungsanalyse
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First Amendment. Ob die Drohung ernst gemeint sei, sei nicht entscheidend. Der Einzelne solle bereits vor der Befürchtung geschützt werden, Opfer einer Straftat zu werden. Die Kategorie der true threats umfasse auch die Einschüchterung (intimidation) im Sinne einer Drohung, die mit dem Ziel ausgesprochen wird, das Opfer in Angst um Leib und Leben zu versetzen.607 Das Mehrheitsvotum betonte sodann die Unterschiede zwischen dem crossburning statute aus Virginia und der Verordnung von St. Paul. Anders als die Verordnung in R.A.V. verbiete Virginia per se, ein Kreuz in der Absicht zu verbrennen, jemanden zu verängstigen. Ebenfalls im Unterschied zu der Verordnung von St. Paul komme es nicht darauf an, welche politische Motivation der Tat zugrunde liege. Virginia habe sich schlicht dafür entschieden – insoweit inhaltsneutral – eine besonders virulente Form der true threats unter Strafe zu stellen, ohne dabei zwischen politischen Ansichten zu differenzieren.608 Daher sei das Gesetz, anders als die Verordnung von St. Paul, mit dem First Amendment vereinbar. Die Beweisregel, die den Einschüchterungsvorsatz zu Lasten des Angeklagten vermutete, hielt die Mehrheit der Richter hingegen für verfassungswidrig. Sofern es nicht in der Absicht geschehe, jemanden zu ängstigen, sei das cross burning ein Akt umfassend geschützter politischer Rede. Es sei daher unzulässig, aus einem solchen, verfassungsrechtlich geschützten Verhalten Schlussfolgerungen zu Lasten des Angeklagten zu ziehen. Da bei der Verurteilung von Barry Black der Anscheinsbeweis angewendet worden war, hatte der Oberste Gerichtshof von Virginia im Ergebnis richtig entschieden und diese Verurteilung aufgehoben.609 3. Richter Souters Sondervotum: „A Pragmatic Doctrinal Move“ In seinem zentralen Sondervotum610 vermochte Richter Souter der Mehrheit des Gerichts bei der Anwendung der Grundsätze aus R.A.V. nicht zu folgen. Zwar erfasse das cross burning statute von Virginia nur solche Äußerungen bzw. symbolischen Verhaltensweisen, die in den ungeschützten Bereich der true threats fielen. Die Unterscheidung, die das Gesetz innerhalb dieser Kategorie vornehme, sei jedoch nach den in R.A.V. entwickelten Maßstäben nicht zu rechtfertigen. Das Verbrennen eines Kreuzes sei untrennbar mit der Ideologie weißer protestantischer Überlegenheit („white Protestant supremacy“) verbunden. Über diese 607
Black, 538 U.S. at 359–360. Black, 538 U.S. at 361–363. 609 Black, 538 U.S. at 363–367. 610 Richter Stevens nahm auf sein und Richter Whites Sondervotum in R.A.V. Bezug. Richter Thomas vermochte dem Verbrennen eines Kreuzes keine hinreichende kommunikative Bedeutung beizumessen und lehnte daher die Anwendbarkeit des First Amendment grundsätzlich ab. Richter Scalia hielt auch die Anscheinsbeweisregel für mit der Verfassung vereinbar. 608
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
historisch gewachsene Verbindung könne sich weder der Gesetzgeber noch der Supreme Court hinwegsetzen. Indem Virginia das Verbrennen eines Kreuzes verboten habe, habe der Staat, der sich dieser Verbindung bewusst gewesen sei, gezielt die Verbreitung der Ideologie des Ku Klux Klan verhindern wollen.611 Das Verbot dieser Untergruppe der true threats beruhe daher nicht – oder zumindest nicht ausschließlich – auf der besonders einschüchternden Wirkung eines brennenden Kreuzes, sondern auf der inhaltlichen Ablehnung der damit stets verbundenen politischen (rassistischen) Aussage. Dies belege nicht zuletzt die Regelung zum Anscheinsbeweis, die faktisch jedes öffentliche Verbrennen eines Kreuzes unter Strafe stelle. Im Ergebnis handele es sich um staatliche Unterdrückung einer unliebsamen Idee, die R.A.V. unter Inkaufnahme teils bizarrer Konsequenzen habe verhindern wollen. Selbst wenn man unterstelle, dass das Verbrennen eines Kreuzes theoretisch auch andere Botschaften als die weiße Überlegenheitsideologie ausdrücken könnte, wären in der Praxis nahezu ausschließlich „white Supremacists“ von dem Gesetz betroffen. Die Mehrheit, die dennoch eine Verletzung des First Amendment verneine, habe den von R.A.V. gesteckten Rahmen verlassen und eine weitere Ausnahme von dem Verbot inhaltsbezogener Regulierung innerhalb der Bereichsausnahmen geschaffen: „The majority’s approach could be taken as recognizing an exception to R.A.V. when circumstances show that the statute’s ostensibly valid reason for punishing particularly serious proscribable expression probably is not a ruse for message suppression even though the statute may have a greater (but not exclusive) impact on adherents of one ideology than others.“ 612
Zur Überzeugung Souters lagen aber die Voraussetzungen selbst dieser Ausnahme in Black nicht vor. Letztlich handelte es sich in seinen Augen um einen Versuch, dem Ku Klux Klan (teilweise) den Zugang zum Marktplatz der Ideen zu versperren, indem ihm eine besonders symbolische und daher wirkkräftige Ausdrucksform genommen wird. Im Ergebnis ziele das Gesetz doch auf eine bestimmte Meinung und sei daher nicht im Einklang mit den Voraussetzungen von R.A.V. zu rechtfertigen. 4. Zwischenfazit: Vorsichtige Lockerung der engen Grenzen von R.A.V. Das Ergebnis in Black ist mit dem rigorosen Ansatz der Mehrheit in R.A.V. nur schwer in Einklang zu bringen. Gerade die in dem Mehrheitsvotum in großem Detail beschriebene Geschichte des cross-burning steht dem Versuch entgegen, diesen symbolischen Akt von der radikalen Ideologie weißer Überlegenheit zu 611 612
Black, 538 U.S. at 384–385 (Souter, J., concurring in part and dissenting in part). Black, 538 U.S. at 384 (Souter, J., concurring in part and dissenting in part).
D. Analyse
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trennen. Es bleibt offen, welche andere „politische Idee“ durch das Verbrennen eines Kreuzes ausgedrückt werden kann als die Überzeugungen des Ku Klux Klan. Das Verbot des cross-burning wird daher nur dessen Anhänger treffen und ist daher, zumindest im Ergebnis, meinungsbezogen. Nimmt man die Grenzen der inhaltsbezogenen Regulierung eigentlich ungeschützter Inhalte aus R.A.V. ernst, wäre auch das cross-burning statute von Virginia aufzuheben gewesen. In der Logik von R.A.V. belastet es die Anhänger einer Meinung überproportional und unterwirft ihren Meinungskampf gezielt Einschränkungen, denen Anhänger anderer Auffassungen nicht ausgesetzt sind. Dieses Ergebnis widerspricht dem Prinzip der „Waffengleichheit“, das der Supreme Court in den Mittelpunkt seines Urteils im Fall R.A.V. gerückt hatte. Richterin O’Connor hatte in R.A.V. gegen die Mehrheit gestimmt. Die Vermutung von Richter Souter, die Grenzen von R.A.V. sollten behutsam erweitert werden, leuchtet auch vor diesem Hintergrund ein.613 Der Spielraum des Staates, gegen Äußerungen vorzugehen, die zum Hass aus Gründen etwa der Rasse, der Religion oder der politischen Überzeugung aufrufen, wurde durch Black dennoch nicht erheblich erweitert. Das cross-burning statute konnte nur bestehen, weil es dem Wortlaut nach nicht auf solche Eigenschaften, sondern „nur“ auf das Vorliegen einer einschüchternden Handlung abstellte. Volksverhetzende Äußerungen hingegen, die unmittelbar (und nicht nur im Subtext) zu Hass aufgrund bestimmter Merkmale aufrufen, sind untrennbar mit einer bestimmten politischen Auffassung verbunden. Sie können auch nach Black nur verboten werden, wenn es sich um incitement, fighting words oder true threats handelt und wenn dieses Verbot nicht auf Äußerungen bestimmter politischer Tendenzen beschränkt ist, also seinerseits inhaltsneutral bleibt.
D. Analyse Auf der Grundlage der soeben dargestellten Rechtsprechung können folgende allgemeine Schlussfolgerungen gezogen werden:
I. Minimaler regulatorischer Spielraum Das First Amendment erlaubt die Regulierung von Gewaltaufrufen und volksverhetzenden Inhalten nur unter strengen Voraussetzungen. Nach dem bis heute geltenden Maßstab von Brandenburg v. Ohio dürfen Aufrufe zu Gewalt und anderem illegalen Verhalten nur verboten und bestraft werden, wenn der Redner zur Gewaltausübung anstiften wollte, es wahrscheinlich erscheint, dass den Worten Taten folgen werden und diese Taten unmittelbar bevorstanden. Diese Verbindung von Vorsatz, Wahrscheinlichkeit und Unmittelbarkeit führt zu einem nahezu 613
In diese Richtung auch Weinstein, in: Hare/Weinstein, S. 81 (87).
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
maximalen Schutz der Äußerungsfreiheit, selbst wenn Gewalt „in der Luft liegt“ oder der Redner erwiesenermaßen beabsichtigte, Gewalt auszulösen. Volksverhetzende Äußerungen genießen einen ähnlich weit reichenden verfassungsrechtlichen Schutz. Soweit sie nicht von einer der denkbaren Bereichsausnahmen (incitement, fighting words, true threats) erfasst sind, unterliegen Eingriffe den faktisch unüberwindbaren Anforderungen der strict scrutiny. Eine Regulierung solcher Äußerungen mittels eines notwendigerweise sehr allgemein formulierten Gesetzes droht darüber hinaus entweder nicht hinreichend bestimmt und deswegen nichtig zu sein (void for vagueness) und/oder zumindest in Teilen zu weit zu greifen und deswegen einem overbreadth challenge zum Opfer zu fallen. Die genannten Ausnahmen vom Schutz des First Amendment (unprotected categories) erweitern den regulatorischen Spielraum nur in geringem Umfang. Sie sind, wie für das incitement bereits erläutert, ausgesprochen eng gefasst. Fighting words setzen eine derart scharfe Wortwahl voraus, dass sich der Gegenüber unmittelbar zu einer gewalttätigen Reaktion provoziert fühlt. Die meisten volksverhetzenden Äußerungen, wenngleich sie abstoßend und beleidigend wirken, erfüllen diese Voraussetzung nicht. True threats verlangen ihrerseits, dass der Gegenüber in unmittelbare Sorge um die eigene körperliche Unversehrtheit versetzt wird. Sie setzen eine konkret-individuelle Einschüchterung voraus, die sich nicht im bloßen Erschrecken über das Gesagte oder Geschriebene erschöpft, sondern ein Gefühl akuter und persönlicher Bedrohung hervorruft. Diese Wirkung wird ebenfalls mit zahlreichen für gewöhnlich als volksverhetzend charakterisierten Äußerungen nicht verbunden sein. Dies gilt insbesondere für Internet-Inhalte, die zumeist allgemein gehalten und an einen breiten Adressatenkreis gerichtet sind, also keinen individuellen „Gegenüber“ ins Visier nehmen.614 Der (kollektiv-)beleidigende Charakter einer Äußerung, die Verletzung der Persönlichkeitsrechte und der Würde des Adressaten rechtfertigen nach der Praxis des First Amendement und im Anschluss an die faktische Aufhebung von Beauharnais die Regulierung von Hassrede ebenso wenig wie deren mittel- und langfristige soziokulturelle Konsequenzen. Selbst wenn sich die staatlichen Eingriffe auf die prima facie ungeschützten Äußerungen beschränken, laufen sie Gefahr, gegen das First Amendment zu verstoßen. Nach R.A.V. gilt auch innerhalb dieser eigentlich ungeschützten Bereiche das Gebot strenger Inhaltsneutralität. Maßnahmen, die sich auf rassistische, fremdenfeindliche oder bestimmte andere extremistische Inhalte beschränken, andere „ungeschützte“ Äußerungen hingegen zulassen, bedürfen einer besonderen Rechtfertigung. Will der Staat etwa nur einige, nicht alle fighting words verbie614 Timofeeva, 12 J. Transnat’l L. & Pol’y 253, 272 (2003); van Blarcum, 62 Wash. & Lee L. Rev. 781, 810 (2005).
D. Analyse
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ten, kann er sich zwar auf die besonders provokanten und daher besonders gefährlichen Äußerungen beschränken. Eine Unterscheidung anhand der zum Ausdruck gebrachten Meinung verbietet R.A.V. jedoch ausdrücklich. Die Rechtfertigung eines solches inhaltsbezogenen Eingriffs innerhalb der unprotected categories am Maßstab der strict scrutiny scheitert regelmäßig daran, dass mit dem Verbot sämtlicher ungeschützter Äußerungen eine inhaltsneutrale und damit mildere Alternative zur Verfügung steht. Damit scheidet eine Regulierung der hate speech nach europäischem Vorbild aus, die gerade an bestimmte als politisch und moralisch besonders verwerflich erachtete Meinungen (etwa den Gedanken der Rassenüberlegenheit) anknüpft. Wie zahlreich die verfassungsrechtlichen Schranken bei der Bekämpfung von Gewaltaufrufen und volksverhetzenden Äußerungen sind, verdeutlicht zusammenfassend das Schaubild auf Seite 174.
II. Preferred Position des First Amendment? Häufig ist auch unter Verweis auf den clear and present danger-Test zu lesen, das First Amendment genieße im amerikanischen Verfassungs- und Grundrechtsgefüge eine bevorzugte Position (preferred position), die sich vor allem aus den verschärften Rechtfertigungsanforderungen für Eingriffe in diese Freiheit ergebe.615 Während der Supreme Court in den 1940er Jahren diesen Begriff mehrfach verwendete,616 verschwand er im Anschluss an die Kritik von Felix Frankfurter an einer „mechanical jurisprudence through the use of oversimplified formulas“ 617 aus dem Sprachgebrauch des Gerichts. Dennoch heißt es vielfach, materiell sei es bis heute bei der Privilegierung der Freiheiten des First Amendment geblieben.618 Sofern der Verweis auf die preferred position den besonderen Stellenwert betonen soll, den die amerikanische Rechtsprechung der Redefreiheit zubilligt, mag der Begriff berechtigt sein. Richtig ist auch, dass die staatlichen Möglichkeiten, Äußerungen aufgrund ihres Inhalts und der zum Ausdruck gebrachten Meinung zu regulieren, auf ein Minimum begrenzt sind. Bei alledem dürfen allerdings zwei Aspekte nicht übersehen werden. Sofern es sich um einen inhaltsneutralen Eingriff, etwa um eine time, place and manner restriction handelt, gelten die „eingriffsfreundlicheren“ Grundsätze der rational basis review. In diesem Bereich unterscheidet sich die Intensität des First Amend-
615 Siehe bspw. Nowak/Rotunda, S. 1150; Rensmann, Verfassung und Wertordnung, S. 135. 616 Siehe Murdock v. Pennsylvania, 319 U.S. 105, 115 (1943); ähnlich Thomas v. Collins, 323 U.S. 516, 529–530 (1945). 617 Kovacs v. Cooper, 336 U.S. 77, 96 (1949) (Frankfurter, J., concurring). 618 In diesem Sinne Nowak/Rotunda, S. 1150; ähnlich Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 225 ff.
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
Zu verbietende Äußerung(en)
Von einer Bereichsausnahme nicht erfasst, inhaltsbezogener Eingriff
Von einer Bereichsausnahme erfasst (insb. incitement; fighting words; true threats)
Strict Scrutiny
Verbot differenziert inhaltsbezogen
a) compelling state interest; b) narrowly tailored
Strict Scrutiny scheitert (Regelfall)
Strict Scrutiny bestanden (Ausnahmefall)
Regulierung verfassungswidrig
Vagueness Test
Strict Scrutiny
void for vagueness
Hinreichend bestimmt
Regulierung verfassungswidrig
Overbreadth Test
Overbroad → verfassungswidrig
Verbot differenziert nicht inhaltsbezogen
Strict Scrutiny scheitert (Regelfall)
Strict Scrutiny bestanden (Ausnahmefall)
Regulierung verfassungswidrig
Vagueness Test
Regulierung nicht overbroad
Hinreichend bestimmt
void for vagueness
Regulierung verfassungswidrig
D. Analyse
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ment-Schutzes nicht wesentlich von dem etwa im Vierten Zusatzartikel verankerten Verbot „unvernünftiger Durchsuchungen und Beschlagnahmen“ (unreasonable searches and seizures) oder anderen Grundrechtsgarantien. Außerdem kommt der in den 1960er Jahren vom Warren Court entwickelte nahezu unüberwindbare strict scrutiny-Test nicht nur im Bereich des First Amendment, sondern auch bei anderen Grundrechten zur Anwendung.619 Innerhalb des Gerichts hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, bestimmte Freiheitsrechte – keineswegs nur die Freiheiten des First Amendment – seien von solcher Bedeutung, dass Eingriffe nicht bereits dann gerechtfertigt sein könnten, wenn sie auf einer „vernünftigen Grundlage“ (rational basis) beruhen.620 Zugleich scheute das Gericht davor zurück, im Sinne eines umfassenden kategorischen Ansatzes Abgrenzungsfragen holzschnittartig zu lösen. In dieser Situation bot der strict scrutinyTest die Möglichkeit, der besonderen Bedeutung bestimmter Freiheitsrechte Rechnung zu tragen, staatliche Eingriffsmöglichkeiten aus besonders wichtigen Gründen jedoch zu erhalten.621 So misst der Supreme Court beispielsweise so genannte race-based classifications als Eingriffe in das Gleichheitsgrundrecht, die Equal Protection Clause des 14. Verfassungszusatzes, am Maßstab der strict scrutiny.622 Auch im Bereich des substantive due process, also im Rahmen des grundrechtlichen Schutzes der Privatsphäre und Persönlichkeitsentfaltung,623 kommt dieser Test zur Anwendung. Dies gilt etwa für die berühmte Abtreibungsentscheidung Roe v. Wade.624 Im Ergebnis gilt daher: Die Freiheiten des First Amendment genießen im Rahmen des amerikanischen Grundrechtsgefüges zwar einen besonders weit reichenden, nicht aber einen einzigartigen Schutz. Der Rechtfertigungsmaßstab richtet sich weniger nach dem betroffenen, vermeintlich bevorzugten Grundrecht, sondern vielmehr nach Art und Intensität des Eingriffs in einen Bereich individueller Freiheit. Der Begriff der preferred position ist kein verfassungsrechtlicher ter619 Vgl. den Überblick bei Fallon, 54 UCLA L. Rev. 1267, 1273–1285 (2007); siehe auch Volokh, 144 U. Pa. L. Rev. 2417, 2448 (1997). 620 Diese Überlegung geht zurück auf die berühmte Fußnote Nr. 4 von Richter Harlan Fiske Stone im Fall U.S. v. Carolene Products, 304 U.S. 144, 152 (1938) („There may be narrower scope for operation of the presumption of constitutionality when legislation appears on its face to be within a specific prohibition of the Constitution, such as those of the first ten Amendments, which are deemed equally specific when held to be embraced within the Fourteenth.“). 621 Fallon, 54 UCLA L. Rev. 1267, 1273–1274 (2007). 622 Grutter v. Bollinger, 539 U.S. 306, 326 (2003); Gratz v. Bollinger, 639 U.S. 244, 270 (2003) („It is by now well established that ,all racial classifications reviewable under the Equal Protection Clause must be strictly scrutinized‘.“); Adarand Constructors, Inc. v. Peña, 515 U.S. 200, 224 (1995); Richmond v. J.A. Croson Co., 488 U.S. 469, 493 (1989) (plurality opinion). 623 Hierzu Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 114 ff. 624 410 U.S. 113, 162–164 (1973).
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
minus technicus, sondern Ausdruck des Befunds, dass unterschiedliche Grundrechtseingriffe unterschiedlichen Rechtfertigungsanforderungen unterliegen. Damit soll der starke Schutz der Redefreiheit durch das First Amendment, der sich in der Rechtssprechungsanalyse gezeigt hat, nicht relativiert werden. Ein Mythos der Einzigartigkeit, mit dem häufig der Vorwurf unreflektierter Überhöhung der Äußerungsfreiheit verbunden ist, sollte allerdings ebenso wenig geschaffen werden.
III. Zentrale Charakteristika der First Amendment-Rechtsprechung des Supreme Court Wichtiger als die Stellung des First Amendment in der amerikanischen Grundrechtshierarchie ist die Frage, welche Wesensmerkmale die Rechtsprechung des Supreme Court zu diesem Grundrecht prägen. Im Mittelpunkt steht zunächst die Metapher des Marktplatzes der Ideen, die von besonderer Erklärungskraft ist und die Logik offen legt, der die Rechtsprechung des Supreme Court folgt. Sodann richtet sich der Blick auf die Inhaltsneutralität, die Gefahrenbezogenheit, die Abwägungsfeindlichkeit der Rechtsprechung und, in engem Zusammenhang hierzu, ihre Werteneutralität. 1. Die Erklärungskraft der Metapher des Marktplatzes der Ideen Die Metapher des Marktplatzes der Ideen ist von hoher Erklärungskraft. Der Supreme Court bemüht dieses sprachliche Bild regelmäßig625 und gerade mit Blick auf das Internet: In seiner ersten Entscheidung zur Äußerungsfreiheit im Internet bezeichnete das Gericht das World Wide Web ausdrücklich als einen „new marketplace of ideas“.626 Mit gewissen Einschränkungen hilft diese Metapher, die der Rechtsprechung des Supreme Court zugrunde liegenden Annahmen und „libertären Reflexe“ nachzuvollziehen.627 Zugleich verdeutlicht das Bild des Marktplatzes der Ideen die Idealvorstellung – oder idealisierte Vorstellung – des Gerichts von der öffentlichen Debatte in einer freiheitlichen Demokratie, in der sich Meinung und Gegenmeinung in einem ungehinderten, transparenten und fairen Wettbewerb gegenüberstehen und aus dem Wahrheit und Vernunft als Sieger hervorgehen.
625 Siehe bspw. Black, 538 U.S. at 358; Pacifica, 438 U.S. at 745–746; First National Bank of Boston v. Belotti, 435 U.S. 765, 810 (1978); Madison School District v. Wisconsin Employment Rel’s Comm’n, 429 U.S. 167, 175–176 (1976); Lamont v. Postmaster Gen. 381 U.S. 301, 308 (1965) (Brennan, J., concurring); siehe auch Rosenfeld, 24 Cardozo L. Rev. 1523, 1533–1534 (2003). 626 Reno v. ACLU, 521 U.S. at 885. 627 Barendt, Freedom of Speech, S. 11; Holznagel, AfP 2002, 128 (130).
D. Analyse
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a) Staatliche Eingriffe in die Äußerungsfreiheit als (potentielle) Verfälschung des Wettbewerbs der Ideen Der Marktplatz der Ideen kann seine Funktion nur erfüllen, wenn keine Idee, kein Argument oder Gegenargument durch staatliche Eingriffe aus der öffentlichen Debatte ausgeschlossen oder diskriminiert werden. Jeder Meinung, jedem Argument und jedem Gegenargument müssen die gleichen Chancen eingeräumt werden. Jeder gegen eine bestimmte Idee gerichtete staatliche Eingriff stellt diese Chancengleichheit in Frage. Da der Staat ein mächtiger Akteur auf dem Marktplatz der Ideen ist, sind seine Eingriffe besonders suspekt und stehen als ultima ratio in einem strengen Subsidiaritätsverhältnis zu dem Selbstheilungsmechanismus des Marktes, der Gegenrede. Im Grundsatz gilt: Der Staat hat sich so weit wie möglich neutral, also vor allem passiv zu verhalten.628 b) Der Zusammenhang zwischen wettbewerbsverfälschendem Potential und Effekt eines Grundrechtseingriffs und den Anforderungen an seine verfassungsrechtliche Rechtfertigung Der Maßstab der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffs variiert je nachdem, ob er „wettbewerbsneutral“ ist oder aber – direkt oder indirekt – die eine oder andere Position auf dem Marktplatz der Idee stärkt oder schwächt. Diese Überlegung erklärt die oben dargestellte Unterscheidung zwischen inhaltsbezogenen und inhaltsneutralen Eingriffen in der Rechtsprechung des Supreme Court. aa) Inhaltsneutralen Eingriffen wohnt nur ein begrenztes Potential zur Wettbewerbsverfälschung inne – sie sind leichter zu rechtfertigen Inhaltsneutrale Maßnahmen unterliegen einem großzügigen Rechtfertigungsmaßstab, dem rational basis review bzw. äußerstenfalls der intermediate scrutiny. Solche Maßnahmen regeln – für alle Beteiligten gleichermaßen – nur die Rahmenbedingungen des Meinungswettbewerbs. Ähnlich wie Ladenschlussgesetze mögen solche inhaltsneutralen Maßnahmen, bei denen es sich zumeist um time place and manner restrictions handelt, die Möglichkeiten beschränken, an diesem Wettbewerb teilzunehmen. Von solchen Beschränkungen sind jedoch alle Beteiligten gleichermaßen betroffen, eine staatliche Wettbewerbsverfälschung droht nicht.
628 Pacifica Foundation, 438 U.S. at 745–746 („For it is a central tenet of the First Amendment that the government must remain neutral in the marketplace of ideas.“); siehe auch Madison School District, 429 U.S. at 175–176; First Nat’l Bank of Boston, 435 U.S. at 810.
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
bb) Inhaltsbezogene Maßnahmen sind von hohem wettbewerbsverfälschendem Effekt – ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung unterliegt höchsten Anforderungen Ergreift der Staat hingegen im Wettbewerb der Meinungen Partei, fördert oder bekämpft er bestimmte Ideen, Überzeugungen oder Inhalte, verfälscht er die Wettbewerbsbedingungen auf dem Marktplatz der Ideen. Die Gefahr, dass solche inhaltsbezogenen Maßnahmen den Wettbewerb verzerren, liegt auf der Hand. Derartige Eingriffe unterliegen daher den strengen Voraussetzungen der strict scrutiny. Nur zwingende Allgemeininteressen, denen der Mechanismus von Rede und Gegenrede nicht gerecht werden kann, vermögen solche gezielten staatlichen „Wettbewerbsverzerrungen“ zu rechtfertigen – und auch dies nur unter der Voraussetzung, dass keine inhaltsneutralen Alternativmaßnahmen zur Verfügung stehen. c) Die „wettbewerbliche“ Rechtfertigung der unprotected categories Wie in jedem anderen Wettbewerb versuchen auch auf dem Marktplatz der Ideen manche Akteure, die Marktmechanismen, hier: Rede und Gegenrede, zu ihren Gunsten außer Kraft zu setzen. Sofern die Gegenrede ihre Funktion als Selbstheilungsmechanismus nicht erfüllen kann, ist ein korrigierender staatlicher Eingriff gerechtfertigt und erforderlich. Diese Überlegung erklärt mehrere der anerkannten Kategorien ungeschützter Äußerungen, die als per se „wettbewerbswidrig“ eingestuft werden. Kennzeichen der fighting words ist die mit ihnen verbundene Gefahr, dass der provozierte Adressat den Wettbewerb der Meinungen nicht mit Argumenten, sondern mit Fäusten fortsetzen wird.629 Aus dem Marktplatz droht ein Kampfplatz zu werden. Die Gegenrede kann nicht greifen, sie kommt stets zu spät. Fighting words sind keine legitime Form der Teilnahme am Wettbewerb der Ideen, sie gefährden in illegitimer Weise die Auseinandersetzung durch Rede und Gegenrede, ihnen ist der Schutz des First Amendment zu versagen. Der „Angreifer“ provoziert die Eskalation und verhindert so den Ideenwettstreit. True threats sind unmittelbare Drohungen, den Konkurrenten nicht mit Argumenten, sondern mit Gewalt zu überziehen. Gemeint sind existentielle Einschüchterungen630, die wie eine individuelle „Marktzutrittsschranke“ wirken. Derjenige, der mit Gewalt bedroht wird, wird im Zweifel schweigen. Auch in diesen Fällen vermag also die Gegenrede nicht zu helfen. Auch ein Aufruf zu sofortigem illegalen Verhalten (incitement, advocacy of illegal conduct) kann wegen seiner Unmittelbarkeit nicht durch die Gegenrede
629 630
Siehe Chaplinsky, 315 U.S. at 572–573. Siehe Black, 538 U.S. at 359–360.
D. Analyse
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entschärft werden – sie kommt zu spät631 –, so dass auch in diesen Fällen eine Einschränkung der Äußerungsfreiheit mit dem Bild des Marktplatzes der Ideen vereinbar ist. Voraussetzung ist hier aber, dass das rechtswidrige Verhalten unmittelbar bevorsteht: Anderenfalls ist nicht auszuschließen, dass solche (potentiell gefährlichen) Äußerungen durch Gegenrede entschärft werden. Solange das Versagen der Gegenrede aber nicht feststeht, verbietet das Prinzip der Subsidiarität staatlicher Maßnahmen den Eingriff. Es bleibt abzuwarten, ob der Markt der Gefahr aus eigener Kraft beikommt. d) Overbreadth und vagueness als unzulässige Marktzutrittsschranken Auch die beiden Verfassungswidrigkeitsgründe overbreadth und Unbestimmtheit (vagueness) können durch das Bild eines Marktplatzes der Ideen erklärt werden. Wenn jeder Eingriff des Staates in den Wettbewerb der Meinungen eine vermutlich unzulässige Wettbewerbsverfälschung darstellt, gilt es, diese Verfälschung auf ein Mindestmaß zu beschränken. Schießt der Eingriff über das Ziel hinaus, ist er also overbroad, weil er auch Verhaltensweisen erfasst, die nicht legitimer Gegenstand einer staatlichen Intervention sind, wird der Wettbewerb verfälscht, nicht eine Wettbewerbsverfälschung abgewendet. Potentielle Gegenrede wird zu Unrecht unterbunden. Auch hier ist die Gegenrede kein geeignetes Mittel der Korrektur, vielmehr wird legitime Gegenrede durch einen zu weit reichenden Eingriff im Keim erstickt. Die Unbestimmtheit von Ermächtigungsgrundlagen kann wegen ihrer abschreckenden Wirkung (chilling effect) ihrerseits als Marktzutrittsschranke wirken. Denn derjenige, der nicht abschätzen kann, ob er aufgrund seines Beitrags zum Wettbewerb der Ideen zum Ziel eines staatlichen Eingriffs wird, sieht in aller Regel von einem „Markteintritt“ ab; er stellt seine Meinungen nicht zur Diskussion und wird so von Gegenrede abgehalten. e) Die Marktplatz-Metapher als Symbol des Vertrauens in Präsenz und Kraft der Gegenrede Der für die Untersuchung relevante Teil der Rechtsprechung des Supreme Court zum First Amendment lässt sich mithin nahezu durchgängig anhand des Konzepts eines Marktplatzes der Ideen nachvollziehen. Dieses Konzept ist die Zentralmetapher des First Amendment.632 Diese Metapher verdeutlicht zweierlei: Sie zeigt zum einen das ausgeprägte Misstrauen gegenüber jeder staatlichen Ein631
Duncan, 76 Miss. L. J. 677, 680 (2007). Douglas-Scott, 7 Wm. & Mary Bill of Rts. J. 305, 312 (1999) spricht von „one of the prevailing judicial images“ und dem „bedrock of First Amendment doctrine“. 632
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mischung. Dem entspricht, zum anderen, das erhebliche Vertrauen der Rechtsprechung in die Selbstheilungskräfte der Demokratie, insbesondere in die öffentliche Debatte, in deren Verlauf gefährliche und „falsche“ Meinungen und Ideen am besten durch die bloße Gegenrede entschärft werden. Dabei erscheint der Staat nicht primär als fairer Schiedsrichter im Wettbewerb der Ideen oder gar als Wettbewerber, sondern als eine besondere Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Marktplatzes, die Gegenrede im Keim ersticken und den Wettbewerb verzerren kann. Eine staatliche Intervention – und damit eine Beschränkung der Rechte aus dem First Amendment – ist nur hinnehmbar, wenn gewiss ist, dass die Selbstheilungskräfte des Marktes (scil. der Demokratie) versagen werden. Solange noch offen ist, ob die Gegenrede ihre heilsame Wirkung entfalten wird, muss sich der Staat zurückhalten. Dass es lange dauern kann, bis sich Wahrheit und Weitsicht im Wettbewerb der Ideen durchsetzen, erschüttert diesen Glauben an die Kraft der Gegenrede nicht. Deutlich wird auch, warum der falschen Tatsachenbehauptung, der absurden Idee und dem schlechten Vorschlag ein eigener Wert, eine eigene Berechtigung zur Teilnahme an dem Wettbewerb der Ideen zugestanden wird. Zum einen mag man nie sicher sein, ob der heute absurde Vorschlag nicht morgen die Lösung für ein schwieriges Problem bietet. Zum anderen schützt Meinungsführerschaft nicht vor Irrtümern und Fehleinschätzungen. Staatliche Eingriffe, die häufig darauf gerichtet sind, den von der Mehrheit als angenehm empfundenen status quo zu zementieren, sind auch unter diesem Gesichtspunkt besonders fragwürdig. Schließlich gilt, dass nur derjenige weiß, was richtig ist, der zugleich weiß, was falsch ist. 2. Kritik an der Marktplatz-Metapher und ihren Konsequenzen Die an dem Ideal eines Marktplatzes der Ideen ausgerichtete Rechtsprechung des Supreme Court ist nicht ohne (mitunter vehementen) Widerspruch geblieben. Diese Gegenstimmen verdienen Erwähnung, zumal sie sich der Argumente bedienen, die auch aus europäischer Sicht zur Rechtfertigung von Einschränkungen der Äußerungsfreiheit ins Feld geführt werden.633 Dass diese durchaus gewichti633 Diese Parallele betont etwa Desai, 55 Fed. Comm. L. J. 353, 356 (2003) mit Blick auf die Argumentation von Tsesis („It is [. . .] little more than the importation of the theoretical underpinnings of an approach regulating racist ideologies that much of the rest of the world – Europe, in particular – has relied upon, and one that Americans will increasingly have to grapple with as changes in communication technologies impose pressure to harmonize laws regulating information and expression.“). Scharfe Ablehnung des Marktplatz-Modells bei Waldron, S. 155 (insb. S. 157: „Since we do not buy into the assumption that truth will eventually prevail in the marketplace of ideas, or the assumption that the best remedy for bad speech is more speech, or the assumption that legislative attention to content-based impact is always a bad thing, it is not necessary for us to try to force hate speech regulation into a framework of exceptions that have already been admitted into the interstices of these platitudes.“).
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gen Gegenargumente nicht in der Lage waren, den Glauben an die Grundprinzipien des Marktplatzes der Ideen zu erschüttern, demonstriert, wie fest diese Prinzipien mittlerweile in der amerikanischen Rechtskultur verankert sind. a) Subjektiviert-relativer Wahrheitsbegriff des Marktplatzes In einem gewissen Maß mag die Überzeugungskraft der Marktplatz-Metapher ihrer Einfachheit geschuldet sein. Bestimmte Gesichtspunkte blendet dieses Modell aus: Der Marktplatz der Ideen setzt rationales Verhalten des Publikums voraus. Tatsächlich verhalten sich „Meinungskonsumenten“ häufig irrational; sei es wegen des besonderen Geschicks der Präsentation, sei es wegen der konformistischen Tendenzen der Gesellschaft oder aufgrund von Informationsasymmetrien. Damit geht die Befürchtung einher, dass der Wettbewerb der Ideen nicht die „objektive Wahrheit“ hervorbringt, sondern die Thesen „gewinnen“ lässt, die den Konsumenten besonders attraktiv erscheinen.634 Der Wahrheitsbegriff wird subjektiviert und damit (vielleicht) auch relativiert.635 b) Freier Marktzugang – eine Fiktion? Auch der freie Marktzugang, auf den die Marktplatz-Metapher angewiesen ist, ist häufig eine Fiktion636: Ein gut gefülltes Portemonnaie ist oft die Voraussetzung einer lauten Stimme. Derjenige, der über die notwendigen Mittel – seien sie finanziell, seien sie politisch – verfügt, kann eine Auffassung nahezu jeder Gegenrede zum Trotz am Markt halten. Solchen „quersubventionierten“ Meinungen kommt der Marktplatz kaum aus eigener Kraft bei.637 Vieles spricht dafür, dass das level playing field, das der Supreme Court etwa in R.A.V.638 schützen wollte, erheblich stärker durch andere Faktoren gefährdet wird als ein (meinungs-)selektives Verbot einiger fighting words.639 Selbst wenn man die Funktionsfähigkeit 634
In diesem Sinne auch Barendt, in: Loveland, S. 223. Krotoszynski, S. 17; Tsesis, 7 Va. J. L. & Tech. 5, Nr. 28 (2002) bescheinigt Holmes „populist factionalism, regardless of what principle it embraces“. 636 Ingber, 1994 Duke L. J. 1, 36–40; kritisch auch Mahoney, 1996 U. Ill. L. Rev 789, 800 (1996). Auf diesen Gesichtspunkt weist auch Richter Harlan in einer dissenting opinion aus dem Jahre 1967 hin. Dort spricht er von „unchallengable untruths“, denen der Marktplatz der Ideen nicht beikomme, Time, Inc. v. Hill, 385 U.S. 374, 407 (1967) (Harlan, J., dissenting). 637 Ähnlich Mahoney, 1996 U. Ill. L. Rev. 789, 800 (1996). 638 Dazu sogleich unten. 639 Fiss, 100 Harv. L. Rev. 781 (787–788 (1987) weist darauf hin, dass der Markt ausgewählte Gruppen privilegiere und daher nicht gleichmäßig auf die Bedürfnisse der Gesamtbevölkerung reagiere. Auch inhaltlich führe der Markt zu einer Verbreitung dessen, was profitabel sei, nicht was unter demokratischen Gesichtspunkten wünschenswert sei. Der Markt könne daher wirtschaftliche Ziele erreichen, aber nicht eine Debatte gewährleisten, die die Bevölkerung in die Lage versetze, ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben. 635
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des Marktplatzes der Ideen unterstellt, bleibt die Frage, ob es sich die Gesellschaft leisten kann, abzuwarten, bis der Markt sein Werk getan hat und wie hoch der Preis ist, den sie an anderer Stelle hierfür entrichten muss.640 c) Selbstbezogenheit der Marktplatz-Metapher Diese Überlegung führt zu einer weiteren Schwäche der Marktplatz-Metapher, ihrer „Isoliertheit“. Der Marktplatz der Ideen ist auf sich selbst bezogen, Eingriffe sind der Logik des Marktplatzes zu unterwerfen und nach ihr zu rechtfertigen. Eingriffe zugunsten von Gemeinwohl- oder Individualbelangen, die den Interessen eines freien Wettbewerbs der Meinungen vorgehen könnten, aber außerhalb des Marktplatzes liegen, wirken (zunächst) als Systembruch.641 So ist der Supreme Court weder in Brandenburg noch in R.A.V. noch in Black auf die gesellschaftlichen (Langzeit-)Wirkungen solcher Äußerungen eingegangen, die nicht die Schwelle zu einer Bereichsausnahme überschreiten.642 Früheren Ansätzen, etwa den Aussagen in Gitlow, der Staat müsse den Funken ersticken können, bevor sich eine Flamme entzünde,643 hat der Supreme Court seit Jahrzehnten den Rücken gekehrt. So mag etwa in Brandenburg der Gewaltausbruch nicht unmittelbar bevorgestanden haben. Daraus folgt jedoch nicht, dass die antisemitischen und rassistischen Äußerungen des Klan-Leaders gänzlich wirkungslos blieben. Gleiches gilt für das cross burning. Auch hier berücksichtigt der Supreme Court nicht die kontinuierlich einschüchternde und diskriminierende Wirkung, die von diesem Ritual ausgeht. Kommt es ausnahmsweise dennoch zu Ansätzen einer Abwägung, ist die Waagschale massiv zugunsten der Äußerungsfreiheit vorbelastet.644 d) „Kurzsichtigkeit“ des Marktplatzes Dem Supreme Court ist vorgeworfen worden, um das First Amendment einen Kokon zu spinnen, der Gesichtspunkte der politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gleichheit aussperre.645 Das Recht des Redners nähere sich dem Absolu640 Dies betont Mahoney, 1996 U. Ill. L. Rev. 789, 801 (1996) („It cannot take into account the subtle way hate propaganda actually works, which is to indoctrinate over time by establishing that racism is expected and permissible.“); Tsesis, 38 San Diego L. Rev. 817, 856 (2001) („There is cause for concern that through repeated exposure to bigotry, the populace will accept oppression as a matter of course.“). 641 In diese Richtung auch Schauer, in: Herz/Molnar, S. 129 (132 f.), im Kontext des Holocaust Denial. 642 Kritisch mit Blick auf R.A.V., Tsesis, 40 Santa Clara L. Rev. 729, 770–773 (2000); siehe in diesem Zusammenhang auch Shiffrin, 80 Cornell L. Rev. 43 (1994). 643 Gitlow, 268 U.S. at 669. 644 Kritisch Barendt, Freedom of Speech, S. 12 f. 645 Lasson, 6 Geo. Mason L. Rev. 35, 70–72 (1997).
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ten, die Freiheitsverluste, die die Opfer von Hassrede und Gewaltaufrufen erleiden, würden ausgeblendet.646 Dadurch, so der zentrale Vorwurf, werde die gefährliche Illusion geschaffen, Hassrede sei eine legitime Form politischer Debatte und nicht nur juristisch, sondern auch gesellschaftlich und politisch hinzunehmen.647 Diese Gesichtspunkte sind im Laufe der 1980er und 1990er Jahre insbesondere von den Anhängern der Critical Race Studies648 mit Nachdruck in die amerikanische Debatte eingeführt worden.649 Hintergrund der Kritik an der herrschenden First Amendment-Praxis war die Diskussion um so genannte campus speech codes, also Verhaltenskodizes, die das Miteinander auf dem Gelände staatlicher Universitäten regelten und häufig als Mittel zur Durchsetzung eines Mindeststandards politischer Korrektheit verstanden wurden – nicht zuletzt weil sie bestimmte Formen der Hassrede aus erzieherischen Gründen verboten. Sofern es sich um staatliche Einrichtungen handelte, waren die betroffenen Universitäten ihren Studenten gegenüber jedoch an das First Amendment gebunden. Die in diesem Zusammenhang geführte juristische Diskussion konzentrierte sich auch und vor allem auf die Frage, inwiefern erzieherische Gründe (educational reasons), etwa die Gewährleistung einer „lernfreundlichen“ Atmosphäre, diese speech codes rechtfertigen können.650 Wegen dieses besonderen institutionellen Aspekts, der sich auf schlicht öffentliche Foren wie das Internet nicht übertragen lässt, wird diese Debatte hier nicht vertieft. Zahlreiche Autoren wiesen im Rahmen dieser Debatte allerdings eindringlich auf die besonderen Schäden hin, die rassistische Rede verursache, und die sie von anderen Formen verbaler Beleidigungen unterschieden. Daraus leiten sie die Legitimation einer strengeren Regulierung von hate speech ab.651 Ihre Argumenta646 In diese Richtung auch Waldron, S. 33 („The question is about the direct targets of the abuse. Can their lives be led, can their children be brought up, can their hopes be maintained and their worst fears dispelled, in a social environment polluted by these materials?“). 647 Tsesis, 38 San Diego L. Rev. 817, 852 (2001); Powell, 12 Harv. BlackLetter J. 1, 31 (1995); ähnlich Waldron, S. 92 ff., 167 („[T]he hate-speaker is trying to construct an alternative public good: solidarity among like-minded people. Isolated racists sit smoldering in their dens, lamenting the fact that their hateful views are not widely shared. ,Cheer up!‘ says the hate-speaker in his public self-disclosure: ,Here I am. Know that you are not alone in your antagonism.‘“). 648 Allg. Crenshaw, Critical Race Theory. 649 Vgl. die Aufsatzsammlung bei Matsuda/Lawrence/Delgado, Words That Wound. 650 Zur Diskussion aus libertärer Persepektive Gould, Speak No Evil, insb. S. 13 ff., der (S. 125 f.) die Entscheidung in R.A.V. wohl zutreffend als klare Absage an die political correctness und, allgemein, an campus speech codes deutet; vgl. auch Doe v. University of Michigan, 721 F.Supp. 852 (E.D.Mich. 1989) sowie die Anmerkung dazu in 103 Harv. L. Rev. 1397 (1990). 651 Delgado, 17 Harv. C.R.-C.L. L. Rev. 133, 172–179 (1982); Farber, S. 117 ff., spricht deskriptiv von der „uniqueness of harm“ und benennt einen Einschücherungs-
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tion bewegt sich sowohl inner- als auch außerhalb der Metapher vom Marktplatz der Ideen. Rassistische Hassrede, so lautet eine erste Argumentationslinie, führe zu erheblichen Beeinträchtigungen des Marktplatzes der Ideen. Der Wettbewerb der Ideen setze rationales Handeln der einzelnen Bürger voraus. Die durch Hassrede zementierten Vorurteile seien jedoch zutiefst irrational. Hassrede be- und verhindere somit den rationalen, vernunftgesteuerten Entscheidungsprozess, auf den der Marktplatz der Ideen gerade angewiesen sei,652 zumal sich auf Hassrede ohnehin kaum mit rationalen Argumenten reagieren ließe.653 Darüber hinaus wirke Hassrede gegenüber den Angehörigen der betroffenen Minderheiten als kollektive Marktzutrittsschranke, halte sie also von dem Marktplatz der Ideen fern. Das Opfer einer rassistischen Beleidigung ziehe sich erfahrungsgemäß aus der Gesellschaft und damit aus dem Ideenwettbewerb zurück, anstatt sich durch mutige Gegenrede daran zu beteiligen. Dieser Effekt erschüttere die Funktionsfähigkeit des Marktplatzes und beschränke strukturell das Angebot an Ideen.654 Hassrede schließe also selektiv bestimmte Meinungen und Ideen von dem Marktplatz der Ideen aus und verfälsche so den öffentlichen Prozess der Meinungs- und Willensbildung – und zwar intensiver, als die verpönte (zurückhaltende) inhaltsbezogene Regulierung volksverhetzender Äußerungen.655 Überdies sei das Vertrauen in den Wettbewerb der Ideen ohnehin nicht gerechtfertigt. Der Marktplatz sei nicht in der Lage, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Er biete nur ein Forum, in dem die etablierten Interessen ihre geringfügigen Meinungsverschiedenheiten austragen, überwiegend aber gemeinsame Überzeugungen pflegen könnten. Kurz: Der Marktplatz der Ideen
effekt sowie die Sorge, dass der verfassungsrechtliche Schutz der Hassrede „ideas of racism“ in den Köpfen der Mehrheit verfestige. Farber weist zugleich darauf hin, dass diese besonderen Schäden nur im Falle einer „far reaching revision in First Amendment doctrine“ berücksichtigt werden könnten. Eine Zusammenfassung der in dieser Debatte diskutierten „Harms of Racist Speech“ findet sich bei Post, 32 Wm. & Mary L. Rev. 267, 271–277 (1991), der im Ergebnis aber bezweifelt, ob diese besonderen Schäden eine Beschränkung der Rechte des First Amendment erfordern und rechtfertigen. Dworkin, in: Hare/Weinstein, S. viii, argumentiert, die Legitimität von Gesetzen, die etwa gegen rassistisch motivierte Gewalttaten oder Diskriminierungen gerichtet sind, setze voraus, dass sich auch der Rassist an der vorangegangenen Debatte frei beteiligen könne; diesen Ansatz ablehnend aber Waldron, S. 173 ff.; vgl. allg. rechtspolitisch Delgado/Stefancic, N. Ky. L. Rev. 475 (1996); Delgado/Yun, 82 Cal. L. Rev. 871 (1994); Delgado/Stefancic, Must We Defend Nazis?. 652 Lawrence, 1990 Duke L. J. 431, 467–470 (1990); zusammenfassend Post, 32 Wm. & Mary L. Rev. 267, 275 (1991). 653 Mahoney, 1996 U. Ill. L. Rev. 789, 800 (1996). 654 Referierend Post, 32 Wm. & Mary L. Rev. 267, 275 (1991). 655 Lawrence, 1990 Duke L. J. 431, 467–472 (1990).
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habe einen starken status quo bias.656 Die Bekämpfung der Hassrede verlange jedoch gerade die Überwindung des Status quo. Hassrede leiste zudem keinen erheblichen Beitrag zum demokratischen Dialog. Im Gegenteil: Sie lenke von ihm ab, verbreite Gerüchte, Unwahrheiten und Beleidigungen.657 Der Schutz der Hassrede durch das First Amendment habe daher nicht etwa pro-, sondern antidemokratische Konsequenzen. Opfer der Hassrede würden von der Wahrnehmung ihrer demokratischen Rechte abgeschreckt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die gegenwärtige Rechtsprechung perpetuiere so den Irrglauben der Unterlegenheit bestimmter Rassen und Gruppen: Bestehende Vorurteile und Benachteiligungen würden durch die stete Präsenz der Hassrede in der Gesellschaft und ihren ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Schutz zementiert.658 Der Zusammenhang zwischen Wort und Tat dürfe nicht ausgeblendet werden: „Racist diatribe is not a progressive form of political discourse. Hate crimes and terrorist acts are not committed in a social vacuum. There is a close, and virtually necessary, connection between advocacy, preparation, coordination, infrastructure development, training, indoctrination, desensitization, discrimination, singular violent acts, and systematic oppression. Angry words, spoken in the heat of the moment, may result in violence, but the entrenchment of outgroup hatred in an entire culture takes time and has far more impact than spontaneous aggression. On the other hand, the imminent threat of harm perspective insists that only fighting words that resemble the verbal taunting immediately preceding an unplanned riot are dangerous enough to justify legal intervention. The realities of how essential bias speech is to the popularization of nefarious social movements evinces that this view is too narrow.“ 659
Dadurch, dass Hassrede zum Beitrag zur politischen Debatte hochstilisiert werde, werde die Teilnahme rassistischer, intoleranter und anti-demokratischer Gruppen am politischen Prozess legitimiert und aufgewertet.660 Wenn Regeln wie in R.A.V., die vor Intoleranz und Diskriminierung schützen sollen, als verfassungswidrig und gefährlich für die Demokratie gebrandmarkt würden, fördere 656 Powell, 12 Harv. BlackLetter J. 1, 10 (1995); Ingber, 1984 Duke L. J. 1, 75–76 (1984). 657 Tsesis, 38 San Diego L. Rev. 817, 853 (2001). 658 Matsuda, 87 Mich. L. Rev. 2320, 2335–2338 (1989); Post, 32 Wm. & Mary L. Rev. 267, 273 (1991) („Racist expression is viewed as especially unacceptable because it locks in the oppression of already marginalized groups“); Tsesis, 38 San Diego L. Rev. 817, 853–854, 856 (2001). 659 Tsesis, 7 Va. J. L. & Tech. 5, Nr. 21 (2002); insoweit referierend Waldron, S. 178 („[Those who support hate speech laws] say that if we leave hate speech alone, then we are leaving alone the poison that leads to violence and discrimination downstream.“); siehe auch ders., S. 81 ff., 166 („First, [hate speech] aims to dispel the sense of assurance that we attempt to provide for one another, a sense of assurance that constitutes the social upholding of individual dignity.“). 660 Tsesis, 38 San Diego L. Rev. 817, 853–854 (2001).
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dies sowohl den institutionellen als auch den privaten Rassismus. Selbst wenn sich die Toleranz mittel- oder langfristig durchsetzen sollte, sei der Preis zu hoch, den die Opfer der Hassrede in der Zwischenzeit für das „gesellschaftliche Experiment von Oliver Wendell Holmes“ zahlen müssten.661 Hassrede sei nicht Ausdruck demokratischer Freiheit, sondern eines Versagens der Demokratie.662 Dies gelte umso mehr, als die Aufgabe einer demokratischen Regierung gerade im Schutz der Minderheiten liege. Auch und gerade ihnen gegenüber müsse der Gesellschaftsvertrag erfüllt werden.663 In Ergänzung dieser nicht unmittelbar juristischen Argumentation weisen die Kritiker des Supreme Court auf den systematischen Kontext der Bill of Rights, insbesondere auf die Equal Protection Clause, das Diskriminierungsverbot im 14. Verfassungszusatz hin. Dieses verlange ein Verbot der stets diskriminierenden Hassrede: Die Freiheit der Rede müsse eingeschränkt werden, wenn sie die grundsätzliche Gleichheit der Menschen in Frage stelle.664 e) Kritik von begrenzter Wirkung Ungeachtet dieser Kritik prägt das Ideal eines Marktplatzes der Ideen weiterhin in entscheidendem Maße Auslegung und Anwendung des First Amendment durch den Supreme Court – zumindest auf dem für diese Arbeit relevanten Gebiet. Vorschläge, rassistischen Äußerungen unter engen Voraussetzungen per se den Schutz des First Amendment zu entziehen,665 konnten sich nicht durchsetzen. Insbesondere in Kombination mit der in der amerikanischen Bevölkerung fest verankerten Abneigung gegenüber jeder Form staatlicher Einmischung und der Ablehnung egalitären Denkens hat das Ideal eines freien und fairen Wettbewerbs auf einem für alle unter gleichen Bedingungen zugänglichen, nur minimal staatlich regulierten Marktplatz der Ideen seine Anziehungs- und Erklärungskraft bewahrt. 3. Inhaltsneutralität Konsequenz des Bildes eines Marktplatzes der Ideen ist der Grundsatz der strengen Inhaltsneutralität. Jedem staatlichen Eingriff in die Rechte des First Amendment, der seinen Ursprung in dem Inhalt, insbesondere in der politischen Botschaft einer Aussage findet, steht mit der strict scrutiny eine nahezu unüber-
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Tsesis, 38 San Diego L. Rev. 817, 853 (2001). Appleman, 14 Wis. Int’l L. J. 422, 438 (1996). 663 Tsesis, 38 San Diego L. Rev. 817, 854–855 (2001). 664 Powell, 12 Harv. BlackLetter J. 1, 11–14 (1995); ähnlich Post, 32 Wm. & Mary L. Rev. 267, 272 (1991). 665 Der einflussreichste Vorschlag stammte von Mari Matsuda, siehe Matsuda, 87 Mich. L. Rev., 2320, 2356–2359 (1989). 662
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windliche Hürde gegenüber. Die Ablehnung jeder Form inhaltsbezogener Regulierung der freien Rede erreichte mit der Entscheidung in R.A.V. einen vorläufigen Höhepunkt. Sogar innerhalb der Bereiche, die traditionell außerhalb des First Amendment stehen, ist eine inhaltsbezogene Regelung verfassungsrechtlich nahezu ausgeschlossen. Der aus der europäischen Praxis bekannte Rückgriff auf zentrale Wertvorstellungen und die Prüfung, ob eine bestimmte Äußerung im Einklang mit diesen Werten steht, findet sich in der Rechtsprechung des Supreme Court nicht einmal im Ansatz. Der Frage, ob der amerikanischen Verfassung oder auch nur dem First Amendment bestimmte Werte zugrunde liegen, widmet sich der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten nicht. Als einzigen Wert benennt er ein so genanntes bedrock principle: Auch – gerade – unpopuläre, demokratiefeindliche, hasserfüllte Äußerungen stehen unter dem Schutz des First Amendment.666 Das First Amendment wird als Ausdruck der Grundentscheidung für einen offenen unregulierten Markt der Meinungen verstanden. Während der EGMR aus der Grundentscheidung für eine freiheitliche Demokratie die Berechtigung ableitet, die demokratischen Einrichtungen gegen ihre vermeintlichen und tatsächlichen Feinde auch durch die Beschneidung der demokratischen Freiheitsrechte, insbesondere der Freiheit der Rede, zu verteidigen, lehnt der Supreme Court eine solche Vorgehensweise strikt ab. Zwar sieht auch der Supreme Court die Gefahr, dass Freiheitsrechte, insbesondere die Äußerungsfreiheit, von den Feinden der Freiheit missbraucht werden können. Seine Antwort lautet jedoch fast ausnahmslos: More free speech, not enforced silence667. 4. Gefahrenbezogenheit Die freiheitsschützende Wirkung der Inhaltsneutralität amerikanischer First Amendment-Doktrin wird durch deren Gefahrenbezogenheit verstärkt. Sämtliche der hier relevanten Bereichsausnahmen – incitement, fighting words, true threats – verlangen eine konkrete und damit unmittelbare Gefahr. Ist die Gefahr nicht unmittelbar, steht von Verfassungs wegen zu vermuten, dass sie mit den Mitteln der Gegenrede entschärft werden kann und wird.668 Besonders deutlich wird dies im Bereich des incitement. Der Aufruf zu illegalem Verhalten verliert erst dann den Schutz des First Amendment, wenn (unter anderem) die konkrete Gefahr besteht, dass den Worten unmittelbar Taten folgen werden. Entzieht der EGMR den Gewaltaufrufen faktisch bereits dann den Schutz von Art. 10 EMRK, wenn es sich dem Wortlaut nach um einen Aufruf zu 666 667 668
Vgl. etwa Johnson, 491 U.S. at 414. Whitney, 274 U.S. at 377 (Brandeis, J., concurring). Holznagel, AfP 2002, 128 (130).
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2. Kap.: Schutz der Äußerungsfreiheit in den USA
Gewalttaten handelt, versagt der Schutz des First Amendment erst, wenn zu befürchten steht, dass dieser Aufruf unmittelbar in die Tat umgesetzt wird. Ähnliches gilt für fighting words und true threats. Fighting words verlangen die konkrete, unmittelbare Gefahr, dass sich der durch Worte Verletzte mit seinen Fäusten wehrt. Verletzende Äußerungen, bei denen keine unmittelbare gewalttätige Reaktion zu befürchten steht, genießen den vollen Schutz des First Amendment.669 True threats erfassen nicht jede Form verbaler Einschüchterung, sondern nur solche Äußerungen, die das „Opfer“ in die unmittelbare Angst um Leib und Leben versetzen. Wird diese hohe Schwelle nicht überschritten, entfaltet das First Amendment seine ganze Kraft. Das Erfordernis einer unmittelbaren Gefahr lässt kaum Raum für die Berücksichtigung mittel- und langfristiger Effekte.670 Die Überlegung, dass auch der Aufruf zu illegalem Verhalten, der nicht die Grenze zum incitement überschreitet, als steter Tropfen den Stein höhlen könnte, hat in der Praxis des First Amendment keinen Platz. Gleiches gilt, wie bereits angesprochen, für die Befürchtung, bestimmte Äußerungen, die kurz vor der Grenze zu fighting words und true threats halt machen, könnten eine für den öffentlichen Diskurs und das gesellschaftliche Klima zerstörerische Wirkung entfalten. Dies führt zum nächsten Charakteristikum der Rechtsprechung zum First Amendment, der Abwägungsfeindlichkeit. 5. Abwägungsfeindlichkeit Die Rechtsprechung der Supreme Court steht grundsätzlich jeder Form der Abwägung zwischen konkurrierenden Rechtsgütern von Verfassungsrang (balancing) ablehnend gegenüber.671 Der kategorische Ansatz ist geradezu darauf ausgerichtet, einzelfallbezogene Abwägungen zu vermeiden. Strict scrutiny, intermediate scrutiny und rational basis review sehen zwar eine Abwägung vor. Diese ist allerdings kaum ergebnisoffen: Im ersten Fall setzt sich nahezu ausnahmslos die Äußerungsfreiheit durch, in den beiden letzten Fällen unterliegt sie in aller Regel.
669 Eine Ausnahme mag bei erheblichen Individualbeleidigungen gelten. Allerdings besteht im Anschluss an die New York Times v. Sullivan-Entscheidung auch im Bereich des privaten Beleidigungsrechts Unsicherheit über die Reichweite des verfassungsrechtlichen Schutzes. 670 Prägnant Post, in: Hare/Weinstein, S. 123 (134) („Hate speech regulation that suppresses speech because of this bad tendency [to cause social harms] would not be permitted in the United States, because the causal connection between the speech and its consequences would be too attenuated to pass constitutional muster. In most countries, by contrast, speech that causes harm can be regulated even if the causal connection between speech and harm is very loose.“). 671 Deutlich das Mehrheitsvotum in United States v. Stevens, 130 S. Ct. 1577 (2010).
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Eine einzelfallbezogene Abwägung begegnet insbesondere drei Vorbehalten. Zum ersten besteht die Befürchtung, es könne Rechtsunsicherheit samt eines chilling effect eintreten. Der zweite Vorbehalt findet seinen Ursprung im Grundsatz der Gewaltenteilung. Im Vergleich zum kategorischen Ansatz bringt ein abwägungsbezogener Ansatz eine Ausweitung des Spielraums der Exekutive und der sie kontrollierenden Judikative mit sich – jeweils zu Lasten der demokratisch besonders legitimierten Legislative. Drittens besteht die Befürchtung, es entstehe eine slippery slope, eine schiefe Ebene, die First Amendment-Dogmatik verliere ihre Prinzipienfestigkeit und der Grundrechtsschutz könne von Fall zu Fall erodieren,672 sollte die Büchse der Pandora geöffnet werden. In diesem Sinne schrieb Richter White in R.A.V.: „This categorical approach has provided a principled and narrowly focused means for distinguishing between expression that the government may regulate freely and that which it may regulate on the basis of content only upon a showing of compelling need.“ 673
Die Rechtsprechung des Supreme Court zu den Bereichsausnahmen trägt allerdings Züge einer vorweggenommenen Abwägung, eines so genannten definitional balancing (im Gegensatz zu einer auf den Einzelfall bezogenen Abwägung – ad hoc balancing).674 Wird die Abwägung vorweggenommen, kann sie die Umstände des jeweiligen Einzelfalls nicht berücksichtigen und fällt notwendigerweise grobschlächtiger aus. Wie die oben zitierte Passage aus Chaplinsky675 zeigt, erschöpft sie sich in pauschalen Behauptungen, bestimmte Äußerungen seien generell ungeeignet, einen nennenswerten Beitrag zur Entfaltung der Persönlichkeit und der öffentlichen Debatte zu leisten und daher des Schutzes durch die Äußerungsfreiheit nicht würdig. Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt in dem mit jeder Kategorisierung verbundenem Gewinn an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Das definitional balancing birgt jedoch zugleich die Gefahr, über das Ziel hinauszuschießen. Zwar wird der Schutz eines fighting word oder true threat zumeist auch bei einer einzelfallbezogenen Abwägung hinter konkurrierende Rechtsgüter zurücktreten müssen. Allerdings sind – etwa unter dem Gesichtspunkt eines Rechts zum (nur verbalen) Gegenschlag – Fälle denkbar, in denen der Rückgriff auf solche Mittel der Debatte im Einzelfall gerechtfertigt sein könnte, der Schutz des First Amend672 Siehe allg. Schauer, 99 Harv. L. Rev. 361 (1985) (vgl. insb. S. 363: „The Skokie controversy provides one of the most notorious modern examples of this type of argument in freedom of speech debates. The argument there was not that freedom of speech in theory ought to protect the Nazis, but rather that denying free speech protection to Nazis was likely to start us down a slippery slope, at the bottom of which would be the denial of protection even to those who should, in theory, be protected.“); Lode, 87 Cal. L. Rev. 1469 (1999); Volokh, 116 Harv. L. Rev. 1026 (2003). 673 R.A.V. 505 U.S. at 400 (White, J., concurring). 674 Begriffe von Aleinikoff, 96 Yale L. J. 943, 948 (1987). 675 Chaplinsky 315 U.S. at 572; siehe oben, Zweites Kapitel, B. IV. S. 139.
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ment also greifen müsste. Somit erweist sich der kategorische Ansatz als strukturell overbroad – eine Konsequenz, die mit der First Amendement-Dogmatik eigentlich nicht vereinbar sein dürfte. Dem Richter bleibt in einer solchen Situation nur die Möglichkeit, im Rahmen eines neuerlichen definitional balancing eine Ausnahme von der Ausnahme zu schaffen oder den kategorischen Vorgaben zu folgen. Eine einzelfallbezogene ad hoc-Abwägung kann hingegen solchen besonderen Umständen ohne dogmatische Verrenkung Rechnung tragen. Damit ist nichts über eine vermeintliche Überlegenheit einzelfallbezogener Abwägungen gesagt. Auch die Frage, ob ein definitional balancing die Abgrenzungsschwierigkeiten nicht nur von der Rechtfertigungs- auf die Schutzbereichsebene verlagert, muss hier unbeantwortet bleiben. Diese Überlegungen legen lediglich die Abwägungsfeindlichkeit des amerikanischen Ansatzes offen. 6. Freiheitsbezogenheit und Wertneutralität Aus dieser Abwägungsfeindlichkeit sowie der Inhaltsneutralität folgt schließlich, dass die Rechtsprechung des Supreme Court zum First Amendment – anders als die des EGMR – nahezu ausschließlich freiheitsbezogen und damit wertneutral ist. Konkurrierende Belange und Wertvorstellungen wie die Menschenwürde und der damit verbundene Gleichheitsgedanke, die im Rahmen einer Abwägung Berücksichtigung finden könnten, werden durchgängig ausgeblendet.676 Dieser Aussage würde der Supreme Court vermutlich widersprechen. Daraus, dass der Staat kaum zugunsten dieser Werte in den Meinungskampf eingreifen kann, folgt für das Gericht nicht die Nachrangigkeit dieser Belange. Es liegt allerdings an den durch die Äußerungsfreiheit Berechtigten, den Bürgern, durch aktive Teilnahme am öffentlichen Diskurs, insbesondere durch ihre Gegenrede, diesen Belangen zur Geltung zu verhelfen. Wie sehr man durch den europäischen Ansatz geprägt sein mag, der Gedanke, dass die Werte der Würde und der Gleichheit sowie die Interessen der Demokratie aus der Mitte der Gesellschaft und dem Zentrum der öffentlichen Debatte effektiver verteidigt werden können als durch eine staatliche Anordnung, ist nicht ohne Überzeugungskraft. Und so bleibt eine schwierige Frage des Vertrauens: Sollte der Staat abwarten, bis der Demos die Demokratie verteidigt oder sollte er prophylaktisch den Demokraten unter die Arme greifen? Die Antwort richtet sich letztlich danach, ob man die Demokratie als stabil oder als fragil einschätzt. 676 Ähnlich Douglas-Scott, 7 Wm. & Mary Bill of Rts. J. 305, 344 (1999); Rosenfeld, 24 Cardozo L. Rev. 1523, 1529 (2003) („Moreover, the prominence of free speech in the United States is due to many factors, including a strong preference for liberty to equality . . .“); Farber, S. 119, spricht von einem Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit.
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IV. Stabilität der Praxis des First Amendment trotz zeitgeschichtlicher Ereignisse Die Darstellung der Praxis des First Amendment im Umgang mit Aufrufen zu Gewalt und anderem illegalen Verhalten hat den Zusammenhang zwischen zeitgeschichtlicher Realität, etwa der Angst vor kommunistischer Unterwanderung, und einer gesteigerten Bereitschaft, Einschränkungen der Äußerungsfreiheit hinzunehmen677, bereits aufgezeigt. Vor diesem Hintergrund stellte sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die Frage, ob das Pendel nunmehr zurück schwingen würde, um etwa die Verbreitung islamistischer Parolen und abstrakter Aufrufe zum „Heiligen Krieg“ verhindern zu können.678 Derartige Erwartungen haben sich bislang jedoch nicht erfüllt, obwohl ein Anstieg der Hassrede im Internet im Anschluss an den 11. September 2001 zu verzeichnen ist679. Die amerikanische Rechtsordnung ist zwar verschiedentlich unter Druck geraten, etwa im Hinblick auf das Prinzip der Gewaltenteilung, die Beschuldigtenrechte und die Geltung des humanitären Völkerrechts für so genannte enemy combatants.680 Reichweite und Schutz des First Amendment sind demgegenüber nicht derart erschüttert worden. Versuche, durch Gesetzgebung oder (vermeintlich) exekutive Kompetenzen die Äußerungsfreiheit im „Kampf gegen den Terrorismus“ einzuschränken, sind nicht zu verzeichnen. Die im Jahre 2003, also nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ergangene Entscheidung des Supreme Court im Fall Virginia v. Black bestätigte das de facto-Verbot inhaltsbezogener Eingriffe in die Äußerungsfreiheit und zeigte, dass auch der Supreme Court in den aktuellen Zeiten der Krise an seiner bisherigen Rechtsprechung zum First Amendment festhält. Die geschilderte Praxis des First Amendment ist mittlerweile derart gefestigt, dass sie von zeitgeschichtlichen und politischen Strömungen gegenüber weitgehend immun scheint.681
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Diese Verbindung betont auch Rosenfeld, 24 Cardozo L. Rev. 1523, 1530 (2003). Vgl. bspw. Maxwell/Massaloux, Comm. & Strat. 2002, 121 (122). 679 Tsesis, 7 Va. J. L. & Tech. 5, Nr. 6, 10 (2002). 680 Siehe bspw. Boumediene v. Bush, 2008 U.S. LEXIS 4887; Hamdam v. Rumsfeld, 126 S.Ct. 2749 (2006); Padilla v. Rumsfeld, 542 U.S. 426 (2004); Hamdi v. Rumsfeld, 542 U.S. 507 (2004); Rasul v. Bush, 542 U.S. 466 (2004). 681 Auf die mögliche Ausnahme Holder v. Humanitarian Law Project wurde bereits hingewiesen (oben, Anm. 561). 678
Drittes Kapitel
Der Status volksverhetzender, insbesondere rassistischer Äußerungen im Völkerrecht und im Europarecht Neben nahezu jeder nationalen Verfassung schützen zahlreiche völkerrechtliche Dokumente die Freiheit der Rede. In vielen dieser Resolutionen und Vertragswerke finden sich zugleich Regelungen, die der Bekämpfung der Hassrede dienen und den Staaten bisweilen spezifische Verpflichtungen auferlegen. Die wichtigsten dieser Regelungen sollen im Folgenden kurz umrissen werden. Sie bilden den völkerrechtlichen Hintergrund gegenwärtiger und zukünftiger Bemühungen, Internet-Inhalte international zu regulieren. Mit wenigen Ausnahmen bleiben bei dieser Betrachtung Dokumente des soft law682 unberücksichtigt. Ihre Darstellung und Analyse würde den Rahmen der Untersuchung sprengen. Die schiere Anzahl der politischen Absichtserklärungen verdeutlicht allerdings den Stellenwert, den die internationale Politik seit Jahrzehnten dem Kampf gegen volksverhetzende Propaganda beimisst.683 Die Problematik der (nicht volksverhetzend motivierten) Gewaltaufrufe hat kein vergleichbares Echo im Völkerrecht gefunden. Sie wird an dieser Stelle nicht vertieft.
A. Universelles Völkerrecht Bereits im universellen Völkerrecht, also unter solchen Völkerrechtssätzen, die weltweite Geltung beanspruchen, finden sich explizite Regelungen zur Bekämpfung volksverhetzender Inhalte. 682 Zum Begriff des soft law Hillgenberg, 10 EJIL 499 (1999); Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 19 Rdnr. 20 ff.; Herdegen, Völkerrecht, § 20 Rdnr. 4. Als ein Beispiel ist die Resolution 51/81 der Generalversammlung zu nennen. Dort nahm die Generalversammlung zunächst „mit Sorge zur Kenntnis“, dass „Computernetzwerke wie das Internet“ zunehmend zur weltweiten Verbreitung rassistischer und fremdenfeindlicher Propaganda genutzt würden, um dann „tatkräftig“ die Veranstaltung eines Seminars zur Erforschung dieses Phänomens zu empfehlen, A/Res/51/81 v. 12.12. 1996. Auch die auf der World Conference Against Racism vom 31.08. bis 07.09.2001 verabschiedete Durban Declaration bleibt hier außen vor; siehe zusammenfassend die Dokumentensammlung unter http://www.ohchr.org/EN/Issues/Racism/Pages/Index.aspx. 683 Eine Aufstellung zahlreicher solcher Dokumente findet sich auf der Internet-Seite des Committee for the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, http:// www2.ohchr.org/english/bodies/cerd/index.htm.
A. Universelles Völkerrecht
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I. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), die als Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verabschiedet wurde684, schützt die Freiheit der Rede in ihrem Artikel 19. Einschränkungen der in der AEMR genannten Freiheitsrechte sind nur unter den Voraussetzungen der allgemeinen Schrankenklausel des Art. 29 AEMR zulässig. Eine besondere Regelung zur Hassrede findet sich in der Erklärung nicht.685 Ein entsprechender Vorschlag686 scheiterte knapp in einem Unterausschuss.687 Auch weitere, insbesondere sowjetische Vorschläge blieben ohne Erfolg.688 Lediglich der Gleichheitssatz in Art. 7 AEMR begründet einen Anspruch des Einzelnen auf Schutz vor (Anstiftung zu einer) Diskriminierung. Die travaux préparatoires deuten darauf hin, dass die Vertragsparteien diesen Artikel für ausreichend hielten, um Schutz vor nationalistischer, rassistischer oder religiös-aggressiver Propaganda zu gewähren. So soll man sich auch im Hinblick auf Art. 19 AEMR einig gewesen sein, dass Äußerungen, die zu solcher Diskriminierung aufrufen, der Schutz zu versagen ist,689 zumal Art. 29 AEMR und das Missbrauchsverbot aus Art. 30 AEMR Eingriffe in die Äußerungsfreiheit ausdrücklich erlauben.
II. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte690 (IPBPR) schützt die Meinungsfreiheit in Art. 19. Dessen Absatz 2 stellt klar, dass der Pakt nicht nur die Verbreitung von Meinungen im engeren Sinne, sondern von Informationen jeder Art schützt. Neben den allgemeinen Beschränkungsmöglichkeiten nach Art. 19 Abs. 3 IPBPR und dem Missbrauchsverbot des Art. 5 Abs. 1 IPBPR691 sowie dem speziellen Verbot der Kriegspropaganda in Art. 20 Abs. 1 IPBPR bestimmt Art. 20 Abs. 2 IPBPR: „Jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten.“ 684
Resolution 217 A (III) v. 10.12.1948. Farrior, 14 Berkeley J. Int’l L. 3, 11–12 (1996). 686 Der Vorschlag lautete: „Any advocacy of national, racial and religious hostility and any action establishing a privilege or a discrimination on distinctions of race, nationality or religion shall be prohibited by the law of the State.“ (U.N. Doc. E/CN.4/52 v. 6.12.1947, S. 5). 687 Farrior, 14 Berkeley J. Int’l L. 3, 15 (1996). 688 Farrior, 14 Berkeley J. Int’l L. 3, 15–19 (1996). 689 Verdoodt, S. 116. 690 BGBl. 1973 II, 1553 ff. 691 Hierzu ausführlich Fox/Nolte, 36 Harv. Int’l L. J. 1, 40, 43–54 (1995). 685
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3. Kap.: Status volksverhetzender Äußerungen im Völker- und Europarecht
Die Vorschrift enthält eine doppelte Aussage. Zum einen verdeutlicht sie, dass die dort genannten Äußerungen – es handelt sich nach „europäischem“ Verständnis um Volksverhetzungen – nicht den Schutz der Äußerungsfreiheit nach Art. 19 IPBPR genießen. Zum anderen normiert Art. 20 Abs. 2 IPBPR – als einzige Vorschrift des Paktes – eine ausdrückliche positive Verpflichtung der Vertragsstaaten, derartige Äußerungen (nicht zwingend strafrechtlich692) zu verbieten.693 Diese – während der Vorarbeiten heftig umstrittene694 – Verpflichtung unterstrich der Ausschuss für Menschenrechte in seinem General Comment 11 zu Art. 20 IPBPR im Jahre 1983 noch einmal. Zugleich äußerte er Zweifel daran, ob die Staaten dieser Verpflichtung bis zum damaligen Zeitpunkt nachgekommen waren.695 1. Vorbehalt der Vereinigten Staaten Diese Zweifel finden ihren Ursprung vor allem in den Vorbehalten696, die zahlreiche Staaten gegenüber Art. 20 IPBPR erklärt haben.697 Dies gilt auch für die Vereinigten Staaten, die sich erst 1992 entschieden, dem Pakt beizutreten. Der von den Vereinigten Staaten zu Art. 20 IPBPR erklärte Vorbehalt lautet, „that article 20 does not authorize or require legislation or other action by the United States that would restrict the right of free speech and association protected by the Constitution and laws of the United States.“ 698
Dieser Vorbehalt ist auf erhebliche Bedenken gestoßen. Bereits im Vorgriff auf die erwarteten Vorbehalte der Vereinigten Staaten699 hatte der Menschenrechts-
692 Der Ausschuss für Menschenrechte spricht in seinem General Comment 11 von „appropriate sanctions“, verlangt also nicht ausdrücklich strafrechtliche Maßnahmen. 693 Boerefijn/Oyediran, in: Coliver, S. 29 (29, 31); Joseph/Schultz/Castan, ICCPR, Art. 20 Rdnr. 1847; Nowak, CCPR-Kommentar, Art. 20 Rdnr. 14 (Verpflichtung zum Erlass eines „spezifischen gesetzlichen Verhetzungsverbots“); zum Spannungsverhältnis zwischen Art. 19 und Art. 20 Abs. 2 IPBPR Mendel, in: Herz/Molnar, S. 417 (418 ff.). 694 Für einen knappen Überblick siehe Boerefijn/Oyediran, in: Coliver, S. 29 f. 695 Ausschuss für Menschenrechte, General Comment 11, Ziff. 2: „For article 20 to become fully effective there ought to be a law making it clear that propaganda and advocacy as described therein are contrary to public policy and providing for an appropriate sanction in case of violation. The Committee, therefore, believes that States parties which have not yet done so should take the measures necessary to fulfil the obligations contained in article 20, and should themselves refrain from any such propaganda or advocacy.“; siehe auch Boerefijn/Oyediran, in: Coliver, S. 29 (31). 696 Zur Problematik der Vorbehalte bei Menschenrechtsabkommen, Giegerich, ZaöRV 55 (1995), 713 ff.; zur Praxis der USA Henkin, 89 Am. J. Int’ L. 341 (1995). 697 Eine Aufstellung sämtlicher Vorbehalte und Erklärungen ist abrufbar unter http:// treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-4&chapter=4& lang=en. 698 Abrufbar unter dem in Anm. 697 angegebenen Link; siehe auch Catlin, 69 Notre Dame L. Rev. 771, 801–804 (1994); Abrams, in: Herz/Molnar, S. 116 (123). 699 Boyle, 53 Me. L. Rev. 487, 495 (2001).
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ausschuss in einem nicht unumstrittenen700 General Comment festgestellt, dass sich ein Staat nicht das Recht vorbehalten könne, Aufrufe zu nationalistischem, rassistischem oder religiösem Hass zu erlauben.701 In seinen Anmerkungen zu dem ersten Bericht der USA nach Art. 40 IPBPR702 äußert der Ausschuss sein Bedauern, dass die Vereinigten Staaten sich offensichtlich nur in dem Maße völkerrechtlich binden wollten, in dem eine Anpassung des nationalen Rechts nicht erforderlich ist. Auf den zu Art. 20 IPBPR erklärten Vorbehalt, der seine Kritik bestätigt, geht der Ausschuss allerdings nicht mehr ausdrücklich ein.703 Dennoch findet sich vereinzelt die Auffassung, der amerikanische Vorbehalt zu Art. 20 IPBPR sei mit Sinn und Zweck des Paktes unvereinbar und daher nach den allgemeinen Regeln des Völkervertragsrechts unwirksam.704 In der Konsequenz wären die Vereinigten Staaten in vollem Umfang an Art. 20 IPBPR gebunden705 – angesichts der im zweiten Kapitel geschilderten verfassungsrechtlichen Ausgangslage eine rein theoretische Überlegung. 2. Der Fall Faurisson Im Rahmen des nach dem ersten Zusatzprotokoll zum IPBPR geschaffenen Verfahrens der Individualbeschwerde706 hatte sich der UN-Menschenrechtsausschuss auch mit der Auschwitz-Lüge zu befassen. Robert Faurisson, ein ehemaliger Professor für zeitgenössische Literatur an der Universität Lyon, hatte in einem Interview behauptet, die Gaskammern in den Konzentrationslagern seien nicht zur Massenvernichtung, sondern nur zu Desinfektionszwecken verwendet worden. Wegen dieser und ähnlicher Äußerungen wurde er nach der so genann-
700 Das Vereinigte Königreich, Frankreich und die USA haben diesem Comment förmlich widersprochen, vgl. Joseph, 5 J. Int’l Legal Stud. 57, 86 (1999). 701 Ausschuss für Menschenrechte, General Comment 24, 1994 HRLJ 464 (1994), Ziff. 8; siehe auch die Bemerkungen der USA hierzu in 1995 HRLJ 422 (1995). 702 Nach Art. 40 Abs. 1 IPBPR sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, über die „Verwirklichung“ des Paktes ein Jahr nach dessen jeweiligem Inkrafttreten sowie auf Anfordern des Ausschusses zu berichten. 703 Ausschuss für Menschenrechte, Concluding Observations of the Human Rights Committee: United States of America, Ziff. 279. 704 Boyle, 53 Me. L. Rev. 487, 496 (2001); siehe auch Hare, in: Hare/Weinstein, S. 62 (64, insb. Fn. 9). Der Menschenrechtssausschuss hält seinerseits das Wiener Vertragsrechtsübereinkommen nur für bedingt anwendbar (General Comment 24, Ziff. 17) und beansprucht die Kompetenz, verbindlich über Zulässigkeit und Wirksamkeit eines Vorbehalts zu entscheiden (General Comment 24, Ziff. 18); hierzu auch Joseph, 5 J. Int’l Legal Stud 57, 87 (1999). 705 Vgl. Art. 19 lit. c des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge; zu Vorbehalten insgesamt siehe Herdegen, Völkerrecht, § 15 Rdnr. 20 ff.; Vitzthum, in: Vitzthum, Völkerrecht, Teil I Rdnr. 121 f. 706 Zum Verfahren der Individialbeschwerde Hoffmann, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, S. 616 (619).
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3. Kap.: Status volksverhetzender Äußerungen im Völker- und Europarecht
ten loi Gayssot von einem französischen Gericht im April 1991 zu einer Geldstrafe verurteilt. Die loi Gayssot stellt die Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie sie in der London Charter von 1945 definiert sind, unter Strafe.707 Die auf Art. 19 IPBPR gestützte Beschwerde Faurissons wies der Menschenrechtsausschuss in knappen Worten ab. Der mit der strafrechtlichen Verurteilung verbundene Eingriff in die Rechte aus Art. 19 IPBPR sei zum Schutz der Rechte der jüdischen Bevölkerung gerechtfertigt gewesen. Gerade Äußerungen wie die Faurissons seien geeignet, antisemitischen Strömungen Vorschub zu leisten. Das Recht zur freien Rede müsse unter diesen Umständen hinter die Rechte Dritter zurücktreten.708 Das Argumentationsmuster entspricht in wesentlichen Zügen der im ersten Kapitel beschriebenen Vorgehensweise des EGMR. Auch eine Beschwerde der rechtsradikalen Western Guard Party, die sich gegen ein Verbot wandte, über Telefondienste antisemitische Botschaften zu verbreiten, wurde unter Berufung auf Art. 20 Abs. 2 IPBPR abgewiesen.709
III. Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung Einen im Vergleich zu Art 20 IPBPR detaillierteren Verbotskatalog enthält das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung710 aus dem Jahr 1965 (IÜBR). Nach Art. 4 des Übereinkommens unterliegen die Staaten den Verpflichtungen, 707 Art. 24 bis des französischen Pressegesetzes; hierzu Feldman, RDIDC 1998, 229 ff.; Fronza, 30 Vt. L. Rev. 609, 617 (2006); Suk, in: Herz/Molnar, S. 144 (148 ff.). Im Fall Faurisson belief sich die Geldstrafe auf 100.000 französische Francs (ca. 15.240 Euro). Ferner wurde Faurisson auferlegt, das Urteil in vier Tageszeitungen auf eigene Kosten veröffentlichen zu lassen Die Geldstrafe wurde „avec sursis“ ausgesprochen, so dass sie nur fällig würde, wenn Faurisson das gleiche Vergehen innerhalb von fünf Jahren erneut begeht. Faurisson wurde im weiteren Verlauf mehrfach wegen Verstößen gegen die loi Gayssot verurteilt; Suk, in: Herz/Molnar, S. 144 (151 f.), dort auch zu weiteren Anwendungsfällen der loi Gayssot. 708 Faurisson v. France, 4 IHRR 444 (1997) = EuGRZ 1998, 271 ff.; Weiß, EuGRZ 1998, 271 ff.; Zimmer, S. 132 ff. Es erfolgte kein Rückgriff auf Art. 20 Abs. 2 IPBPR, Hare, in: Hare/Weinstein, S. 62 (70 f.); Mendel, in: Herz/Molnar, S. 417 (420).Das amerikanische Mitglied des Ausschusses, der heutige Richter am IGH in Den Haag Thomas Buergenthal, erklärte sich mit den folgenden Worten für befangen: „As a survivor of the concentration camps of Auschwitz and Sachsenhausen whose father, maternal grandparents and many other family members were killed in the Nazi Holocaust, I have no choice but to recuse myself from participating in the decision of this case.“ 709 Taylor and Western Guard Party v. Canada, Rep. H.R.C. 1983, S. 231 ff.; dazu Nowak, IPBPR, Art. 19 Rdnr. 27, Art. 20 Rdnr. 17 f.; Zimmer, S. 118. 710 BGBl. 1973 II, 1553; vgl. dazu Partsch, VN 1971, 1 ff. und 46 ff.
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„a) jede Verbreitung von Ideen, die sich auf die Überlegenheit einer Rasse oder den Rassenhass gründen, jedes Aufreizen zur Rassendiskriminierung und jede Gewalttätigkeit oder Aufreizung dazu gegen eine Rasse oder eine Personengruppe anderer Hautfarbe oder Volkszugehörigkeit sowie jede Unterstützung rassenkämpferischer Betätigung einschließlich ihrer Finanzierung zu einer nach dem Gesetz strafbaren Handlung zu erklären, b) alle Organisationen und alle organisierten oder sonstigen Propagandatätigkeiten, welche die Rassendiskriminierung fördern und dazu aufreizen, als gesetzwidrig zu erklären und zu verbieten und die Beteiligung an derartigen Organisationen oder Tätigkeiten als eine nach dem Gesetz strafbare Handlung anzuerkennen, c) nicht zuzulassen, dass staatliche oder örtliche Behörden oder öffentliche Einrichtungen die Rassendiskriminierung fördern oder dazu aufreizen.“
Der Ausschuss zur Beseitigung der Rassendiskriminierung (Committee on the Elimination of Racial Discrimination – CERD) hat diese Verpflichtungen in einer Allgemeinen Empfehlung aus dem Jahr 1993 konkretisiert.711 Danach verlangt Art. 4 lit. a IÜBR, dass die Staaten vier Verhaltensweisen unter Strafe stellen: Die Verbreitung des Rassenhasses und der Überlegenheit einer Rasse, die Anstiftung zum Rassenhass, rassistisch, religiös oder ethnisch motivierte Gewalttaten und entsprechende Gewaltaufrufe.712 Bereits bei den Vorarbeiten zum IÜBR hatte der Vertreter der USA einen Verweis auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (due regard clause713) dahingehend ausgelegt, dass sich aus Art. 4 keine Verpflichtung zur Einschränkung der Äußerungs- und Versammlungsfreiheit ergebe.714 Angesichts des sehr konkreten Aufgabenkatalogs in Art. 4 IÜBR dürfte hier der Wunsch Vater des Gedankens gewesen sein. Letztlich haben die USA ihrer eigenen einschränkenden Auslegung nicht vertraut. Auch gegenüber den weit reichenden Verpflichtungen aus Art. 4 IÜBR erklärten sie bei der Ratifikation im Jahre 1994 einen pauschalen Vorbehalt, der sich bereits 1966, bei Verabschiedung des Übereinkommens abgezeichnet hatte715:
711
CERD, General Recommendation 15, U.N. Doc. A/48/18 (1994). CERD, General Recommendation 15, U.N. Doc. A/48/18 (1994), siehe auch Joseph/Schultz/Castan, ICCPR, Art. 20 Rdnr. 18.51; zu diesen Verpflichtungen auch Partsch, GYIL 1977, 119 ff. Im Vergleich zu Art. 20 Abs. 2 IPBPR ist Art. 4 IÜBR insoweit enger gefasst, als er „nur“ rassistische Hassrede erfasst. Insbesondere die in Art. 4 IÜBR enthaltene Verpflichtung, Straftatbestände zu schaffen, geht jedoch in diesem Bereich über Art. 20 Abs. 2 IPBPR hinaus, Hare, in: Hare/Weinstein, S. 62 (71 f.). 713 Diese Klausel lautet: „unter gebührender Berücksichtigung der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegten Grundsätze“. 714 CERD, Report on Article 4, Ziff. 4; zur Auslegung der due regard clause, Partsch, in: Coliver, S. 21 (23 ff.). 715 Vgl. Partsch, in: Coliver, S. 21 (24); zu den zum Teil ähnlichen Vorbehalten anderer Nationen siehe Farrior, 14 Berkeley J. Int’l L. 3, 59–60 (1996). 712
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3. Kap.: Status volksverhetzender Äußerungen im Völker- und Europarecht
„The Constitution and laws of the United States contain extensive protections of individual freedom of speech, expression and association. Accordingly, the United States does not accept any obligation under this Convention, in particular under Articles 4 and 7, to restrict those rights, through the adoption of legislation or any other measures, to the extent that they are protected by the Constitution and laws of the United States.“ 716
IV. Völkermordkonvention und Statut von Rom Art. III lit. c der Internationalen Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9. Dezember 1948717 (Völkermordkonvention) verpflichtet die Signatarstaaten, die „unmittelbare und öffentliche Anreizung zur Begehung von Völkermord“ als abstraktes Gefährdungsdelikt unter Strafe zu stellen.718 In Fortschreibung dieser Verpflichtung stellt das Statut von Rom des Internationalen Strafgerichtshofs719 in Art. 25 Abs. 3 lit. b i.V. m. Art. 6 auch die Anstiftung zum Völkermord auch völkerrechtlich unter Strafe.720 Der Völkermordkonvention liegt eine der ersten Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen zugrunde.721 Am 11. Dezember 1946 definierte die Generalversammlung den Begriff des Völkermords und unterstrich, dass Völkermord ein völkerrechtliches Verbrechen sei – unabhängig davon, ob es sich bei dem Täter um Privatpersonen oder Beamte und Regierungsmitglieder handelt. Es bedarf keiner Erwähnung, dass diese Resolution unter dem unmittelbaren Eindruck des nationalsozialistischen Völkermords und der Nürnberger Prozesse verabschiedet wurde. Am gleichen Tag hatte die Generalversammlung bereits eine erste Resolution angenommen, in der sie die völkerrechtlichen Prinzipien, auf denen die Nürnberger Prozesse beruhten, ausdrücklich anerkannte und bestätigte.722 Obwohl die Vereinigten Staaten am 11. Dezember 1948 zu den ersten Unterzeichnern der Völkermordkonvention gehörten, ratifizierten sie diesen Vertrag erst knapp 40 Jahre später, am 25. November 1988. Auch hier erklärten sie den bekannten Vorbehalt, dass die Konvention nicht zu gesetzgeberischen oder ande-
716 Sämtliche Vorbehalte zum IÜBR sind abrufbar unter http://treaties.un.org/Pages/ ViewDetails.aspx?src=TRE ATY&mtdsg_no=IV-2&chapter=4&lang=en. 717 BGBl. 1954 II, 729. 718 Hierzu Gärditz, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, S. 805 (810); Schabas, 46 Mc Gill L. J. 141 (2000); siehe auch Cotler, in: Herz/Molnar, S. 430 (438 f.), der darauf hinweist, dass es sich nicht um ein Erfolgs-, sondern ein abstraktes Gefährdungsdelikt handelt. 719 BGBl. 2000 II, 1393. 720 Vgl. Ambos, in: Triffterer, Art. 25 Rdnr. 27. 721 Resolution 96 (I) des UN Sicherheitsrates v. 11.12.1946. 722 Resolution 95 (I) des UN Sicherheitsrates v. 11.12.1946.
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ren Maßnahmen verpflichte, die mit der Verfassung der Vereinigten Staaten in ihrer Auslegung durch die Vereinigten Staaten unvereinbar sind.723
V. Prosecutor v. Nahimana: Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda bestraft Hassrede als Anreizung zum Völkermord Den Resolutionen der Generalversammlung und der Völkermordkonvention zum Trotz blieben Völkermorde nicht aus. Ein besonders schockierendes Beispiel ist der 1994 von den Hutus an den Tutsis in Ruanda verübte Völkermord, auf den die internationale Gemeinschaft lange, zu lange, nicht reagierte.724 Innerhalb von 90 Tagen wurden ca. 800.000 Tutsis und moderate Hutus ermordet.725 Man nimmt an, dass bis zu einer halben Million Mädchen und Frauen vergewaltigt wurden.726 Im Nachhinein errichtete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein Ad hoc-Tribunal, den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR), der seine Arbeit 1995 im tansanianischen Arusha aufnahm.727 Der Sicherheitsrat hat das Mandat des Gerichtshofs zwischenzeitlich vielfach verlängert, die Zahl der am Gerichtshof tätigen Richter mehrfach erhöht und deren Amtszeit häufig verlängert.728 Am 3. Dezember 2003 sprach das ICTR sein erstinstanzliches Urteil im so genannten „Media Case“. Angeklagt waren drei Journalisten, der Tatvorwurf lautete Völkermord, Anreizung zum Völkermord (direct and public incitement to genocide, vgl. auch Art. III (c) der Völkermordkonvention729 sowie Art. 2 Abs. 3
723 Der Vorbehalt lautet: „That nothing in the Convention requires or authorizes legislation or other action by the United States of America prohibited by the Constitution of the United States as interpreted by the United States.“, zitiert nach http://treaties. un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-1&chapter=4&lang=en, dort ist auch der diesbezügliche Widerspruch („Objection“) der Bundesrepublik Deutschland abrufbar. 724 In seiner Autobiographie spricht Bill Clinton von „one of the greatest regrets of my presidency“, Clinton, S. 593. 725 MacKinnon, 98 Am. J. Int’l L. 325 (2004); Recent Case, 117 Harv. L. Rev. 2769 (2004). 726 Vgl. Human Rights Watch, Leave None to Tell the Story. Für einen kurzen Abriss der Hintergründe des Konflikts, siehe Gärditz, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, S. 805 (806 f.). 727 Zur teilweise umstrittenen Legalität der Ad hoc-Strafgerichtshöfe vgl. die Jurisdiktionsentscheidung des ICTY im Fall Tadic´, HRLJ 1995, 437. 728 Resolutionen 2054 (2012); 2038 (2012); 2029 (2011); 2013 (2011); 2006 (2011) 1966 (2010); 1995 (2011); 1955 (2010); 1932 (2010); 1901 (2009; 1978 (2009); 1855 (2008); 1824 (2008); 1774 (2007); 1717 (2006); 1684 (2006); 1534 (2004); 1503 (2003); 1512 (2003); 1431 (2002); 1411 (2002); 1329 (2000); 1166 (1998); 1165 (1998); 978 (1995); 977 (1995); 955 (1994). 729 Hierzu etwa Schabas, 46 McGill L. J. 141, 149–155, 157–162 (2000).
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3. Kap.: Status volksverhetzender Äußerungen im Völker- und Europarecht
(c) des Statuts des ICTR730) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.731 Ferdinand Nahimana war Gründer und „Chefideologe“ des Senders „Radio-Télévision Libre des Milles Collines“ (RTLM). Hassan Ngeze war Gründer, Eigentümer und Chefredakteur der Zeitung „Kangura“. Der dritte Angeklagte, Jean-Bosco Barayagwiza, war leitender Angestellter bei RTLM und Anführer der Partei „Coalition pour la Défense de la République“ (CDR). Die erste Kammer des Tribunals (Trial Chamber I) kam zu dem Ergebnis, dass RTLM und Kangura Teil einer „Medienfront“ waren, die die angeblich historisch unterdrückten Hutus, die Mehrheit der Bevölkerung, systematisch gegen die Tutsis aufgehetzt habe.732 Ihre unablässige Predigt der Unterdrückung der Hutus durch die Tutsis hätte dem Völkermord den Boden bereitet.733 In der amtlichen Zusammenfassung des Urteils heißt es mit Blick auf das Programm von RTLM: „The Chamber has found that RTLM broadcasts engaged in ethnic stereotyping in a manner that promoted contempt and hatred for the Tutsi population and called on listeners to seek out and take up arms against the enemy. The enemy was defined to be the Tutsi ethnic group and Hutu opponents. These broadcasts called explicitly for the extermination of the Tutsi ethnic group. In 1994, both before and after 6 April, RTLM broadcast the names of Tutsi individuals and their families, as well as Hutu political opponents who supported the Tutsi ethnic group. In some cases these persons were subsequently killed. A specific causal connection between the RTLM broadcasts and the killing of these individuals – either by publicly naming them or by manipulating their movements and directing that they, as a group, be killed – has been established.“ 734
Im Rahmen ihrer Entscheidung setzte sich die Kammer eingehend mit den Grenzen der (völkerrechtlichen) Äußerungsfreiheit auseinander. Die Verteidigung hatte versucht, durch einen Rückgriff auf die durch den Supreme Court entwickelten Maßstäbe der First Amendment-Dogmatik die Handlungen der An-
730 In Prosecutor v. Akeyesu, ICTR-96-4-T, Urt. v. 2.9.1998, § 562, hatte das ICTR bereits betont, Völkermord sei ein derart schweres Verbrechen, dass der direkte und öffentliche Aufruf hierzu auch dann bestraft werden müsse, „where such incitement failed to produce the result expected by the perpetrator“. Danach setzt die unmittelbare und öffentliche Anreizung zur Begehung von Völkermord (1) den Vorsatz, einen Völkermord zu begehen, (2) die Öffentlichkeit des Aufrufs und (3) dessen Unmittebarkeit unter Berücksichtigung des Kontexts im Gegensatz zu einer „mere vague or indirect suggestion“ voraus, Cotler, in: Herz/Molnar, S. 430 (439) unter Verweis auf das erstinstanzliche Urteil des ICTR im Akeyesu-Fall. 731 ICTR (Trial Chamber I), Urt. v. 3.12.2003, The Prosecutor v. Nahimana, Barayagwiza, Ngeze, ICTR-99-52-T. 732 Dies brachte RTLM im Volksmund den Namen „Radio Machete“ ein, Kangura hatte unter anderem Todeslisten und Tötungsbefehle veröffentlicht. 733 Für eine Zusammenfassung des Urteils, insbesondere der Aktivitäten von RTLM und Kangura, siehe ICTR, The Prosecutor v. Nahimana et al., Summary, 3.12.2003, §§ 9 ff. 734 ICTR, The Prosecutor v. Nahimana et al., Summary, 3.12.2003, § 63.
A. Universelles Völkerrecht
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geklagten als zulässige Meinungsäußerungen darzustellen. Dem folgte die Kammer nicht. Unter Hinweis auch auf die Rechtsprechung des EGMR in den Fällen Jersild, Zana und Incal und die Faurisson-Entscheidung des UN Menschenrechtsausschuss stellte sie fest, dass Äußerungen jedenfalls dann verboten werden könnten, wenn zur Anwendung von Gewalt gegen bestimmte Bevölkerungsteile aufgerufen werde und hierdurch Rechtsgüter in konkrete Gefahr gerieten.735 Dies sei der Fall, wenn zu Rassenhass und dadurch (auch mittelbar) zu politisch motivierter Gewalt aufgerufen werde. Die Äußerungsfreiheit sei im Übrigen hinreichend völkerrechtlich verankert, so dass es eines Rückgriffs auf die Grundrechtsdogmatik eines einzelnen Staates nicht bedürfe. Eher oberflächlich und wenig überzeugend ist allerdings der Verweis der Kammer auf die Entscheidung des amerikanischen Supreme Court in Virginia v. Black.736 Die dort behandelte Bereichsausnahme der true threats im Sinne einer unmittelbaren Einschüchterung des Gegenübers dürfte bei massenmedialen Äußerungen nur selten erfüllt sein. Einschlägig erscheint allenfalls die Bereichsausnahme des incitement unter den Voraussetzungen der Entscheidung Brandenburg v. Ohio.737 Inwiefern das in diesem Zusammenhang geltende strenge Unmittelbarkeitserfordernis erfüllt war, ob also die über die Medien verbreiteten Parolen sowohl zeitlich als auch ursächlich unmittelbar zu den Gräueltaten geführt haben, ist allerdings fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass der stete Tropfen den Stein gehöhlt hat; dass also nicht eine bestimmte Äußerung die Gewalt ausgelöst hat, sondern erst die Summe der Äußerungen. Dieser Langzeiteffekt reicht jedoch, wie gezeigt, nach der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court – anders als nach dem case law des ICTR738 – nicht aus, um den Schutz des First Amendment einzuschränken. Überzeugender wäre es daher gewesen, hätte die Kammer an dieser Stelle Farbe bekannt und eingestanden, dass (auch) der völkerrechtliche Schutz der Äußerungsfreiheit im Bereich der hasserfüllten Gewaltaufrufe hinter dem First Amendment zurückbleibt. Die drei Angeklagten wurden für schuldig im Sinne der Anklage befunden.739 Nahimana und Ngeze wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, Barayagwiza zu
735 ICTR (Trial Chamber I), Urt. v. 3.12.2003, The Prosecutor v. Nahimana, Barayagwiza, Ngeze, ICTR-99-52-T., §§ 1004 f. 736 ICTR (Trial Chamber I), Urt. v. 3.12.2003, The Prosecutor v. Nahimana, Barayagwiza, Ngeze, ICTR-99-52-T, § 1010. Offenbar operierte die Kammer mit einer überholten Liste vermeintlicher Bereichsausnahmen. Kritisch unter Verweis auf die zahlreichen Vorbehalte der USA zu entsprechenden völkerrechtlichen Regelungen auch Gärditz, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, S. 805 (809, dort Fn. 231). 737 Die Kammer zitiert diese Entscheidung zwar in Fn. 1011, setzt sich mit ihr jedoch nicht auseinander. 738 Siehe oben Anm. 730. 739 Zusammenfassung und allgemeine Analyse bei Gordon, 45 Va. J. Int’l L. 139 (2004).
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3. Kap.: Status volksverhetzender Äußerungen im Völker- und Europarecht
einer Freiheitsstrafe von 35 Jahren.740 Alle Angeklagten legten Berufung gegen ihre Verurteilung ein. Die Berufungskammer (Appeals Chamber) bestätigte durch Urteil vom 28. November 2007 die erstinstanzlichen Verurteilung in erheblichem, aber nicht vollständigem Umfang und reduzierte die gegen die Angeklagten verhängten Freiheitsstrafen.741 Nahimana und Ngeze wurden (allerdings nur für den Zeitraum nach dem 6. April 1994, bezüglich der vor diesem Datum getätigter Äußerungen hob die Appeals Chamber die Verurteilung auf) nach wie vor des direkten und öffentlichen Aufrufs zum Völkermord für schuldig befunden, Barayagwiza wurde insoweit (mangels redaktioneller Kontrolle über den Inhalt der Sendebeiträge) freigesprochen.742 Die Verurteilung dieser drei „Medientäter“ ist nicht ohne historisches Vorbild. In den Nürnberger Prozessen wurden der Herausgeber des „Stürmer“, Julius Streicher, und der Leiter der Rundfunkabteilung in Goebbels’ Propagandaministerium, Hans Fritzsche, angeklagt. Während Fritzsche freigesprochen wurde, verurteilte der Internationale Militärgerichtshof Streicher wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tod durch den Strang.743
VI. Resolutionen 60/7 und 61/255 der Generalversammlung der Vereinten Nationen Obwohl es sich bei ihnen, wie bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, völkerrechtlich gesprochen, um soft law handelt, verdienen zwei jüngere Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen Erwähnung. Zuerst zu nennen ist Resolution 60/7 vom 1. November 2005 über das Gedenken an den Holocaust.744 Diese Resolution bestimmt den 27. Januar – den Jahres740 Für eine völkerstrafrechtliche Analyse, siehe Orentlicher, 12 New Eng. J. Int’l & Comp. L. 17 (2005); kritisch Simon, 44 Colum. Journalism Review, Nr. 5, S. 9 (2006) („[T]he Rwanda tribunal seems to have conflated incitement to genocide with incitement to hatred“). Diesen Einwand, der auch in einem Amicus Curiae Brief des Open Society Instituts im Berufungsverfahren erhoben worden war, wies die Berufungskammer zurück, Kagan, S. 5 unter Verweis auf §§ 678 ff. des Berufungsurteils vom 28.11.2007. 741 Das Berufungsurteil sowie eine Zusammenfassung sind abrufbar unter http:// www.unictr.org/Cases/tabid/127/PID/31/default.aspx?id=5&mnid=4. 742 Kagan, S. 2, 6 f.; zur weiteren Rechtsprechung des ICTR auf dem Gebiet des incitement to genocide, siehe Cotler, in: Herz/Molnar, S. 430 (439 ff.). 743 Das Nürnberger Tribunal stellte fest: „For his 25 years of speaking, writing, and preaching hatred of the Jews, Streicher was widely known as ,Jew-Baiter Number One‘. In his speeches and articles, week after week, month after month, he infected the German mind with the virus of anti-Semitism and incited the German people to active persecution. Each issue of Der Stuermer, which reached a circulation of 600.000 in 1935, was filled with such articles, often lewd and disgusting.“, Trial of the Major War Criminals Before the International Military Tribunal, Bd. 22, S. 546. Streicher wurde am 16.10.1946 hingerichtet. 744 UN Doc. A/Res/60/7 v. 21.11.2006.
B. Regionales Völkerrecht und Europarecht
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tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 – zum internationalen Holocaust-Gedenktag. Darüber hinaus lehnt die Generalversammlung ausdrücklich jede gänzliche oder teilweise Leugnung des Holocaust als historisches Ereignis ab. Die Resolution 61/255 vom 26. Januar 2007745 geht noch einen Schritt weiter. Nicht zuletzt in Reaktion auf eine von der iranischen Regierung in Teheran veranstaltete pseudo-wissenschaftliche Konferenz, die zahlreiche Leugner des Holocaust versammelte,746 verabschiedete die Generalversammlung eine Resolution mit zwei operativen Absätzen: „The General Assembly, [. . .] 1. Condemns without any reservation any denial of the Holocaust; 2. Urges all Member States unreservedly to reject any denial of the Holocaust as a historical event, either in full or in part, or any activities to this end.“
Diese von 103 Staaten unterstützte Resolution geht bemerkenswerter Weise auf eine Initiative der Vereinigten Staaten zurück. Der Vertreter der USA betonte, dass die Leugnung des Holocaust einer Befürwortung jeder Form des Völkermords entspreche. Wie gesehen sind die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten der USA, diesen Worten Taten folgen zu lassen und die Leugnung des Holocaust (strafrechtlich) zu bekämpfen, eng begrenzt. Dies legt nahe, dass die Initiative der USA primär ein diplomatischer Schachzug zur Isolation des Iran war. Auch der Wortlaut der Resolution deutet in diese Richtung. Die Resolution fordert die Ablehnung der Leugnung des Holocaust („reject“), nicht deren (strafrechtliches) Verbot. Es handelt sich um einen Aufruf zu politischem, nicht rechtlichem Handeln. Die Resolution wurde ohne Abstimmung gegen den alleinigen Widerstand des Iran angenommen.747
B. Regionales Völkerrecht und Europarecht Im regionalen Völkerrecht finden sich ebenfalls verschiedene Regelungen zur Bekämpfung volksverhetzender Äußerungen. Die folgenden Erläuterungen beschränken sich auf Amerika und Europa.
I. Amerikanische Konvention der Menschenrechte Die Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK), der so genannte „Pakt von San José“ aus dem Jahre 1969, schützt die Meinungs- und Äußerungs745
UN Doc. A/Res/61/255 v. 22.03.2007. Vinocur, Iran’s Holocaust Denial, IHT v. 23.01.2007, S. 2; Hoge, Assembly Condemns Denial of Holocaust, N.Y. Times v. 27.01.2007, S. A10. 747 UN Department of Public Information, General Assembly Adopts Resolution Condemning Any Denial of Holocaust, 26.01.2007. 746
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3. Kap.: Status volksverhetzender Äußerungen im Völker- und Europarecht
freiheit in Art. 13. Dessen Absatz 5 enthält eine erkennbar an Art. 20 Abs. 2 IPBPR angelehnte positive Verpflichtung der Vertragsstaaten: „Any propaganda for war and any advocacy of national, racial, or religious hatred that constitute incitements to lawless violence or to any other similar action against any person or group of persons on any grounds including those of race, color, religion, language, or national origin shall be considered as offenses punishable by law.“
Art. 13 Abs. 5 AMRK ist insoweit enger gefasst als Art. 20 Abs. 2 IPBPR, als er nur den Aufruf zu „Gewalt oder ähnlichen Taten“ erfasst, während nach dem IPBPR bereits das öffentliche Eintreten für Hass und Diskriminierung zu verbieten ist.748 Diese Einschränkung geht auf amerikanisches Drängen im Anschluss an die ebenfalls 1969 ergangene Entscheidung in Brandenburg v. Ohio zurück. Im Lichte dieser Entscheidung hielten die Vereinigten Staaten eine Art. 20 Abs. 2 IPBPR in vollem Umfang entsprechende Klausel für mit dem First Amendment unvereinbar.749 Die Vereinigten Staaten haben die Konvention im Januar 1977 zwar unterzeichnet. Die Ratifikation steht jedoch bis heute aus.750 Sollte es zu einer Ratifikation kommen, ist mit einem Vorbehalt nach dem vom IPBPR und IÜBR bekannten Vorbild zu Art. 13 Abs. 5 AMRK zu rechnen.
II. Europäische Maßnahmen Auf europäischer Ebene findet sich eine nahezu unüberschaubare Vielfalt rechtlicher und politischer Maßnahmen zur Bekämpfung volksverhetzender Propaganda. Die beiden zentralen Foren europäischer Zusammenarbeit, der Europarat und die Europäische Union, sind auf diesem Gebiet ausgesprochen aktiv. Ihre Aktivitäten sind nicht zuletzt Ausdruck eines europäischen Grundkonsenses, dass insbesondere rassistische aber auch andere volksverhetzende Rede keine akzeptable Form des politischen Diskurses ist, die den umfassenden Schutz der Grundrechte verdient. In der europäischen Wahrnehmung handelt es sich vielmehr um strafwürdiges Verhalten, das auf nationaler wie supranationaler Ebene bekämpft werden muss.
748 Oyediran, in: Coliver, S. 33; siehe auch Bertoni/Rivera, in: Herz/Molnar, S. 499 (503 f.). 749 Oyediran, in: Coliver, S. 33 (34); siehe auch Bertoni/Rivera, in: Herz/Molnar, S. 499 (504). Bislang haben sich indes weder die Inter-Amerikanische Menschenrechtskommission noch der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte mit einem Fall der Hassrede befasst, Bertoni/Rivera, in: Herz/Molnar, S. 499 (503). 750 Der Ratifikationsstand ist abrufbar unter http://www.oas.org/dil/treaties_B-32_ American_Convention_on_Human_Rights_sign.htm.
B. Regionales Völkerrecht und Europarecht
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1. Europarat Für den Bereich des Europarates ist zunächst auf die bereits im zweiten Teil dargestellte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Spruchpraxis der frühen Europäischen Kommission für Menschenrechte zu verweisen. In Ergänzung zu Art. 10 und Art. 17 EMRK verdienen an dieser Stelle Art. 14 EMRK und Art. 1, 12. ZP EMRK Erwähnung. Art. 14 EMRK enthält ein Diskriminierungsverbot von begrenzter Reichweite. Danach ist nicht jegliche Diskriminierung aufgrund bestimmter Merkmale verboten. Vielmehr handelt es sich um ein akzessorisches Diskriminierungsverbot, das „nur“ verbietet, die übrigen durch die EMRK geschützten Rechte selektiv und damit in diskriminierender Weise zu achten.751 Einen allgemeinen Gleichheitssatz normiert Art. 1 des zwölften Zusatzprotokolls zur EMRK.752 Allerdings haben bislang nur 15 der 47 Mitgliedstaaten dieses Zusatzprotokoll ratifiziert.753 Darüber hinaus haben auch die Organe des Europarats, insbesondere der Ministerausschuss und die Parlamentarische Versammlung, verschiedene Aktivitäten im Kampf gegen extremistische Propaganda zu entfaltet.754 a) Das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität An erster Stelle ist das „Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art“ 755 aus dem Jahre 2003 zu nennen.
751
Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 26 Rdnr. 1 f.; Art. 14 EMRK lautet: „Der Genuss der in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten ist ohne Benachteiligung zu gewährleisten, die insbesondere im Geschlecht, in der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, in den politischen oder sonstigen Anschauungen, in nationaler oder sozialer Herkunft, in der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, im Vermögen, in der Geburt oder im sonstigen Status begründet ist.“ 752 Art. 1, 12. ZP EMRK lautet: 1. Der Genuss eines jeden gesetzlich niedergelegten Rechtes ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten. 2. Niemand darf von einer Behörde diskriminiert werden, insbesondere nicht aus einem der in Absatz 1 genannten Gründe.“ 753 Im Anschluss an die zehnte Ratifikation ist das 12. Zusatzprotokoll am 01.04. 2005 in Kraft getreten, vgl. http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp? NT=177&CM=8&DF=10/11/2007&CL=GER. 754 Überblick bei McGonagle, in: Herz/Molnar, S. 456 ff. 755 European Treaty Series Nr. 189.
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3. Kap.: Status volksverhetzender Äußerungen im Völker- und Europarecht
Ganz im Stile der Rechtsprechung des EGMR betont die Präambel des Protokolls, dass alle Menschen „frei und an Würde und Rechten gleich geboren“ sind, sieht in Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art eine Verletzung der Menschenrechte sowie eine „Bedrohung des Rechtsstaats und der demokratischen Stabilität“ und fordert ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung und der wirksamen Bekämpfung von Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art. Das mit „Innerstaatliche Maßnahmen“ überschriebene zweite Kapitel des Protokolls verpflichtet die Vertragsstaaten, die Verbreitung von rassistischem und fremdenfeindlichem Material durch Computersysteme (Art. 3), entsprechende Drohungen (Art. 4) und Beleidigungen (Art. 5) und die Leugnung, grobe Verharmlosung, Billigung oder Rechtfertigung von Völkermorden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 6) unter Strafe zu stellen. Art. 7 enthält eine Strafverpflichtung für die Beihilfe und Anstiftung zu solchen Handlungen. Art. 2 definiert „rassistisches und fremdenfeindliches Material“ „als jedes schriftliche Material, jedes Bild oder jede andere Darstellung von Ideen oder Theorien, das beziehungsweise die Hass, Diskriminierung oder Gewalt aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, der nationalen oder ethnischen Herkunft oder der Religion, wenn Letztere für eines dieser Merkmale vorgeschoben wird, gegen eine Person oder eine Personengruppe befürwortet oder fördert oder dazu aufstachelt.“
Es handelt sich um den umfassenden Versuch, der Verbreitung rassistischer und fremdenfeindlicher Propaganda über das Internet einen strafrechtlichen Riegel vorzuschieben.756 Dieses Zusatzprotokoll zur „Cybercrime Convention“ 757 haben bislang 20 Staaten ratifiziert, unter ihnen Deutschland.758 Im Anschluss an die fünfte Ratifikation ist das Zusatzprotokoll zum 01.03.2006 in Kraft getreten (Art. 10 Abs. 1).759 Die Vereinigten Staaten, denen dieses Protokoll als Vertragsstaat der „Cybercrime Convention“ offen steht760, haben es nicht unterzeichnet. Mit einem 756 In diesem Sinne auch McGonagle, in: Herz/Molnar, S. 456 (470), unter Verweis auf den explanatory report zu dem Zusatzprotokoll. 757 Übereinkommen über Computerkriminalität, ETS Nr. 185; siehe dazu Keyser, 12 J. Transnat’l L. & Pol’y 287 (2003); Kugelmann, DuD 2001, 215; aus amerikanischer Perspektive Marler, 37 New Engl. L. Rev. 183 (2002); die Vereinigten Staaten haben das Übereinkommen unterzeichnet und im Jahre 2006 ratifiziert, dazu Rosen, 2002 UCLA J. L. & Tech. Notes 19 (2002). 758 Zu den deutschen Ratifikationsmaßnahmen, siehe Bundesministerium der Justiz, „Zypries: Strafrecht im Kampf gegen Rechtsextremismus verschärfen“, Pressemitteilung v. 11.2.2005. 759 Informationen zum Unterzeichnungs- und Ratifikationsstand finden sich unter http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=189&CM=8&DF=9/20/ 2007&CL=GER. 760 Dies erklärt auch die kanadische Unterschrift, der bislang keine Ratifikation gefolgt ist.
B. Regionales Völkerrecht und Europarecht
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Beitritt ist nicht zu rechnen.761 Das Zusatzprotokoll wurde vielmehr geschaffen, um den Vereinigten Staaten den Beitritt zur „Cybercrime Convention“ zu ermöglichen, die First-Amendment-Probleme also zu umschiffen.762 b) Empfehlungen der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) Bereits vor 2003 hat der Europarat zahlreiche, allerdings nicht rechtlich verbindliche Maßnahmen zur Bekämpfung rassistischer und fremdenfeindlicher Äußerungen getroffen. Zu nennen sind die Aktivitäten der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), die in zahlreichen „Allgemeinen Politischen Empfehlungen“ auf Mittel und Wege hingewiesen hat, Rassismus und Intoleranz zu bekämpfen.763 In ihrer Empfehlung Nr. 7 vom 13. Dezember 2002764 empfiehlt die Kommission insbesondere, umfangreiche Gleichbehandlungsgebote und spezifische Diskriminierungsverbote sowie Einschränkungen der Äußerungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zugunsten der Bekämpfung des Rassismus im Rahmen des durch die EMRK zulässigen in die nationalen Verfassungen aufzunehmen. Im Hinblick auf das nationale Strafrecht fordert die Kommission den öffentlichen Aufruf zu Gewalt, Hass und Diskriminierung von Personen oder Gruppen, den öffentlichen Ausdruck einer Ideologie der Rassenüberlegenheit sowie die Leugnung, Verharmlosung, Rechtfertigung oder Billigung von Völkermorden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen zu ahnden. Auch die Gründung, Leitung und Unterstützung einer rassistischen Gruppierung soll unter Strafe gestellt werden. Diese Empfehlungen unterstreichen zum einen den Umfang der europäischen Übereinstimmung zur Bekämpfung des Rassismus. Zum anderen macht die Kommission deutlich, dass die von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen im Einklang mit der EMRK und damit unter Wahrung der Äußerungsfreiheit umgesetzt werden könnten. Die Empfehlungen der ECRI spiegeln damit zugleich einen europäischen Konsens über die Grenzen der Äußerungsfreiheit wider.
761 Murphy, 96 Am. J. Int’l L. 973 (2002); siehe auch van Blarcum, 62 Wash. & Lee L. Rev. 781, 808, 814–818 (2005). 762 Murphy, 96 Am. J. Int’l L. 973 (2002). 763 Vgl. ECRI, Zusammenstellung von Allgemeinen Politischen Empfehlungen von ECRI, S. 5 ff.; zu den Länderberichten der Kommission siehe McGonagle, in: Herz/ Molnar, S. 456 (488 ff.). 764 ECRI, General Policy Recommendation No. 7 on National Legislation to Combat Racism and Racial Discrimination, CRI (2003) 8.
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3. Kap.: Status volksverhetzender Äußerungen im Völker- und Europarecht
c) Empfehlung Nr. R (97) 20 des Ministerkomitees Die Empfehlung765 Nr. R (97) 20 des Ministerkomitees des Europarats zu „Hate Speech“ vom 30.10.1997766 definiert ihrerseits sieben Grundsätze, die die Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung vor allem von rassistischer Hassrede leiten sollen. Anders als die soeben beschriebene ECRI-Empfehlung beschränkte sich das Ministerkomitee dabei auf sehr allgemeine Hinweise zur Notwendigkeit, rassistische Rede auch und gerade in den Medien zu verhindern, ohne dabei die Rechte aus Art. 10 EMRK über Gebühr einzuschränken. Offenbar wurde diese Empfehlung stark durch das Jersild-Urteil des EGMR beeinflusst.767 So lautet der vierte Grundsatz der Empfehlung zwar: „National law and practice should allow the courts to bear in mind that specific instances of hate speech may be so insulting to individuals or groups as not to enjoy the level of protection afforded by Article 10 of the European Convention on Human Rights to other forms of expression. This is the case where hate speech is aimed at the destruction of the rights and freedoms laid down in the Convention or at their limitation to a greater extent than provided therein.“
Im sechsten Grundsatz heißt es aber sodann: „[N]ational law and practice should distinguish clearly between the responsibility of the author of expression of hate speech on the one hand and any responsibility of the media and media professionals contributing to their dissemination as part of their mission to communicate information and ideas on matters of public interest on the other hand.“
2. Europäische Union Auch die Europäische Union schenkt der Bekämpfung volksverhetzender Äußerungen besondere Aufmerksamkeit.768 Bereits 1991 hatte sich der Europäische Rat in einer Erklärung von Maastricht besorgt über „Ausbrüche von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ gezeigt und seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, „dass die Achtung der Menschenwürde für das Europa der Gemeinschaft essentielle Bedeutung besitzt und es deshalb für die Europäische Gemeinschaft als rechtsstaatliche Staatengemeinschaft unerlässlich ist, Diskriminierung in jeder Form zu bekämpfen. Der Europäische Rat hält es deshalb für notwendig, dass die Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten klar und unmissverständlich gegen die Ausbrei765 Der EGMR zieht Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarats regelmäßig zur Auslegung der Konvention heran, siehe bspw. Urt. v. 22.11.2007, Voskuil, Nr. 64752/01, §§ 43 f.; McGonagle, in: Herz/Molnar, S. 456 (474 mit Fn. 82). 766 Recommendation No. R 97(20) of the Committee of Ministers to the Member States on „Hate Speech“, 30.10.1997; eine nichtamtliche deutsche Übersetzung ist abrufbar unter http://www.egmr.org/minkom/gesamt.html. 767 So auch McGonagle, in: Herz/Molnar, S. 456 (476) unter Verweis auf den erläuternden Bericht zu der Empfehlung. 768 Siehe auch den Überblick bei Fernández Esteban, in: Fredman (Hrsg.), Discrimination and Human Rights, S. 76 (89 ff.).
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tung rassistischer und fremdenfeindlicher Einstellungen und Erscheinungen vorgehen.“ 769
Dies gilt auch und in besonderem Maße für den Bereich der Internet-Inhalte. In einer „Mitteilung über illegale und schädliche Inhalte auf dem Internet“ vom 16. Oktober 1996770 benannte die Europäische Kommission neben kinderpornographischen und betrügerischen Inhalten rassistisches oder zum Rassismus anreizendes Material als typischerweise im Internet auffindbare kriminelle Inhalte.771 Dabei betonte die Kommission den überkommenen Grundsatz, was offline illegal sei, müsse auch online illegal seien.772 a) Art. 13 EG (a. F.) und resultierendes Sekundärrecht Allgemein ermächtigte Art. 13 Abs. 1 EG, der zwischenzeitlich durch Art. 19 AEUV773 ersetzt wurde, den Rat der Europäischen Union „auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“
Auf der Grundlage dieses Kompetenztitels hat die Gemeinschaft bislang drei Rechtsakte erlassen.774 Im Zusammenhang dieser Untersuchung besonders hervorzuheben ist die Richtlinie 2000/43/EG zur Anwendung des Gleichbehand769 Anlage 3 zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in Maastricht am 9. u. 10.12.1991, abrufbar unter http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?referen ce=DOC/91/7&format=HTML&aged=1&language=DE&guiLanguage=en. 770 KOM(96) 487 endg. v. 16.10.1996. 771 Europäische Kommission, KOM(96) 487 endg. v. 16.10.1996, S. 11. 772 Europäische Kommission, KOM(96) 487 endg. v. 16.10.1996, S. 4. 773 Art. 19 AEUV lautet: „(1) Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge kann der Rat im Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. (2) Abweichend von Absatz 1 können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die Grundprinzipien für Fördermaßnahmen der Union unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zur Unterstützung der Maßnahmen festlegen, die die Mitgliedstaaten treffen, um zur Verwirklichung der in Absatz 1 genannten Ziele beizutragen.“ 774 Richtlinie 2000/43/EG, ABl. Nr. L 180, S. 22 ff.; Richtlinie 2000/78/EG, ABl. Nr. L 303, S. 16 ff.; Richtlinie 2004/113/EG, ABl. Nr. L 373, S. 37 ff.; siehe insg. Epiney, in: Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 13 EG Rdnr. 10 ff.; Hailbronner, ZAR 2001, 254 ff.; Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 298 (311 ff.); Leuchten, NZA 2002, 1254 ff.
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lungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft.775 Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie verbietet grundsätzlich sowohl im Verhältnis zwischen Staat und Bürger als auch in reinen Privatrechtsverhältnissen direkte und indirekte Diskriminierungen aus Gründen der Rasse und ethnischen Herkunft. Der sachliche Anwendungsbereich dieser Richtlinie ist weit gefasst und betrifft beispielsweise die Einstellung von Arbeitnehmern aber auch die Überlassung von Wohnraum und die Erbringung von Dienstleistungen. Maßnahmen zur Bekämpfung von volksverhetzenden Äußerungen wurden auf der Grundlage dieses Kompetenztitels bislang nicht ergriffen. Sekundärrechtsakte enthalten keine eigenständige und unmittelbare Aussage zur Reichweite der Äußerungsfreiheit. Allerdings kommt in diesen Rechtsakten zum Ausdruck, welche Belange nach europäischer Einschätzung geeignet sind, die freie Rede einzuschränken – und in welchem Umfang. Der Stellenwert, den der Gleichbehandlungsgedanke – auch im Spannungsverhältnis zur Äußerungsfreiheit – genießt, wird sichtbar. b) Grundrechtecharta und Vertrag von Lissabon Die durch den Vertrag von Lissabon in das Unionsrecht (Art. 6 Abs. 1 EUV) inkorporierte Grundrechtecharta enthält eine Reihe von Bestimmungen, die im Zusammenhang zur Bekämpfung von volksverhetzender Rede stehen. Ein ausdrückliches Verbot solcher Äußerungen oder eine staatliche Pflicht, Maßnahmen zur Bekämpfung solcher Inhalte zu ergreifen, findet sich in der Grundrechtecharta jedoch ebenso wenig wie in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Einige Normen sollen dennoch kurz erwähnt werden. Die Präambel der Charta betont die Prinzipien der Menschenwürde und der Gleichheit. Die Charta formuliert in ihrem Art. 1 eine eigenständige Garantie der Menschenwürde, in Art. 20 einen allgemeinen Gleichheitssatz, der durch ein Diskriminierungsverbot – das ausdrücklich eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Rasse und ethnischen Herkunft verbietet – in Art. 21 ergänzt wird. Die Charta verpflichtet die Union darüber hinaus in Art. 22 zur Achtung der Vielfalt der „Kulturen, Religionen und Sprachen“. Die Freiheit der Meinungsäußerung schützt Art. 11. Eingriffe in dieses Grundrecht sind unter den Voraussetzungen des Art. 52 zu rechtfertigen, wobei Art. 54 ein Art. 17 EMRK ähnliches Missbrauchsverbot enthält. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Anwendung dieser Normen zu den gleichen Ergebnissen führen wird, wie die Anwendung von Art. 10 und Art. 17 EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
775
Hierzu Nickel, NJW 2001, 2668 ff.
B. Regionales Völkerrecht und Europarecht
211
c) Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit Bereit seit 2001 beriet die Europäische Union über einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Zum Auftakt dieser Beratungen unterbreitete die Kommission am 28. November 2001 einen Vorschlag.776 Auf zwei Tagungen des Rates für Justiz und Inneres in den Jahren 2003 und 2005 konnte jedoch keine Einigung erzielt werden. 2007 setzte die deutsche Ratspräsidentschaft einen überarbeiteten Vorschlag auf die Tagesordnung.777 Auf einer Sitzung in Luxemburg verständigte sich der Rat der Innenund Justizminister im April 2007 auf einen Kompromiss. Dieser führte am 26. November 2008 zu dem Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.778 Der öffentliche Aufruf zu Gewalt und Hass aus rassistischer oder fremdenfeindlicher Motivation wird danach unter Strafe gestellt, die Verbreitung entsprechender Schriften verboten (Art. 1 des Rahmenbeschlusses). Die Mindeststrafe für Zuwiderhandlungen soll bei einem bis drei Jahren liegen (Art. 3 Abs. 1). Nach dem Vorbild des Zusatzprotokolls zur Cybercrime Convention wird die öffentliche Billigung, Leugnung oder Verharmlosung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verboten, sofern damit rassistische oder fremdenfeindliche Hetze betrieben wird (Art. 1 Abs. 1 lit. d). Auch bei übrigen Straftaten werden rassistische und fremdenfeindliche Beweggründe („hate crimes“) strafschärfend berücksichtigt (Art. 4). Der Rahmenbeschluss gewährt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die Strafbarkeit auf solche Fälle zu beschränken, in denen die Handlung zugleich eine Drohung, Beschimpfung oder Beleidigung darstellt oder geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören (Art. 1 Abs. 2, Art. 7). Die – nach einigen Jahren – erzielte politische Einigung, auf der dieser Rahmenbeschluss beruht, ist weiterer Beleg des ungebrochenen europäischen Konsenses über die Notwendigkeit, zum Schutz der Demokratie und des Einzelnen bestimmte Formen politischer Rede zu verbieten.779 Die in dem Rahmenbeschluss vorgesehene Umsetzungsfrist lief am 28. November 2010 ab. Etwas ver776 Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, ABl. Nr. C 75E vom 26.3.2002, S. 269 ff. 777 Ratsdokument 8544/07 v. 17.04.2007. 778 ABl. Nr. L 328 v. 6.12.2008, S. 55 ff. 779 Die deutsche Initiative, die dem Rahmenbeschluss letztlich den Weg ebnete, ist nicht ohne Kritik geblieben. Article 19, eine renommierte Nichtregierungsorganisation, die sich dem Schutz der Meinungsfreiheit verschrieben hat, wandte sich vor der Ratssitzung im April 2007 mit einem sehr kritischen Schreiben an die Bundesministerin für Justiz und den Europäischen Innenkommissar, vgl. Article 19, Letter of 12 February 2007, abrufbar unter http://www.article19.org/pdfs/letters/german-holocaust-letter.pdf.
212
3. Kap.: Status volksverhetzender Äußerungen im Völker- und Europarecht
spätet, durch ein Gesetz vom 16. März 2011780, setzte Deutschland den Rahmenbeschluss durch eine Neufassung des Volksverhetzungstatbestands § 130 StGB um. d) Binnenmarktrichtlinien: Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip Der Stellenwert, den die Europäische Union dem Kampf gegen volksverhetzende Äußerungen beimisst, zeigt sich auch im Sekundärrecht. Zur Verwirklichung des Binnenmarktes enthalten zahlreiche Richtlinien das Herkunftslandprinzip. Der Ansatz dieser Richtlinien ist stets der gleiche: Anstatt die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten bis ins Detail zu harmonisieren, werden in Richtlinien gemeinsame Mindeststandards festgelegt und um das Herkunftslandprinzip ergänzt. Danach unterliegen bestimmte Angebote – etwa Waren oder Dienstleistungen – nur den rechtlichen Anforderungen ihres jeweiligen Herkunftslands, die ihrerseits den Mindeststandards der Richtlinie entsprechen müssen. Das Angebot und der Vertrieb dieser Waren und Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten der Union kann sodann nicht unter Verweis auf dortige strengere Maßstäbe verweigert werden, solange diese Vorgaben in den koordinierten781 Bereich der Richtlinie fallen (also durch das Herkunftslandprinzip „gedeckt“ sind) und die Anforderungen des Herkunftslands – und damit die in der Richtlinie festgelegten Mindestanforderungen – erfüllt sind. Die Effektivität des Herkunftslandprinzips – und damit auch die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts – steht und fällt mit dessen Reichweite. Jede Ausnahme von diesem Prinzip, die es gestattet, ein ausländisches europäisches Produkt doch den eigenen (über die Mindeststandards hinausgehenden) Anforderungen zu unterwerfen, stellt das Prinzip als solches in Frage. Denn in diesen (Ausnahme-)Fällen ist der Anbieter gezwungen, nicht nur die Anforderungen seines Heimatlands zu erfüllen, sondern auch den Bestimmungen sämtlicher Länder gerecht zu werden, in denen er seine Ware oder Dienstleistung anbieten möchte. Genau solche regulatorischen Marktzutrittsschranken möchte das Herkunftslandprinzip jedoch eigentlich verhindern. Das Herkunftslandprinzip findet sich vielfach im Sekundärrecht der Europäischen Union. Zwei besonders bedeutsame Beispiele sollen hier genannt werden: Die E-Commerce-Richtlinie 782 (ECRL) und die Richtlinie über audiovisuelle
780
BGBl. 2011 I, 418 f. Der koordinierte Bereich einer Richtlinie ist der Bereich, für den die Richtlinie Mindeststandards festlegt, der also ihren Regelungsgegenstand bildet. 782 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) ABl. Nr. L 178 v. 17.07.2000 S. 1 ff. 781
B. Regionales Völkerrecht und Europarecht
213
Mediendienste (MDRL), die die Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ 783 ersetzt hat. Art. 3 Abs. 4 lit. a) i) der ECRL erlaubt eine Durchbrechung des Herkunftslandsprinzips aus Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie, wenn dies zur Bekämpfung von Hetze aus Gründen der Rasse, des Geschlechts, des Glaubens oder der Nationalität, sowie von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen erforderlich ist. Von dieser Ausnahme erfasst sind insbesondere die an Internet Access Provider gerichteten Sperrungsverfügungen bezüglich Internet-Seiten mit illegalen rechtsradikalen Inhalten. Für den Bereich der zusehends technologisch konvergenten Medien ist die audiovisuelle Mediendienste-Richtlinie 784 (MDRL) – eine Fortentwicklung der Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ – von besonderem Interesse. Auch die MDRL, die auch auf im Internet angebotene und dort abrufbare audiovisuelle Mediendienste785, also eine breite Spanne von Bild- und Tonangeboten Anwendung finden wird, normiert zwar grundsätzlich das Herkunftslandprinzip, erlaubt aber – nach dem Vorbild der E-Commerce-Richtlinie – eine Durchbrechung dieses Prinzips zur „Bekämpfung der Hetze aus Gründen der Rasse, des Geschlechts, des Glaubens oder der Nationalität, sowie von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen“ (Art. 2a Abs. 4 lit. a) i) erster Spiegelstrich). Nach Art. 3b MDRL sorgen die Mitgliedstaaten „mit angemessenen Mitteln dafür, dass die audiovisuellen Mediendienste, die von den ihrer Rechtshoheit unterworfenen Mediendiensteanbietern bereitgestellt werden, nicht zu Hass aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion oder Staatsangehörigkeit aufstacheln.“ Dies entspricht der bisherigen Regelung in Art. 22 der Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“. „Audiovisuelle kommerzielle Kommunikation“ 786 darf ihrerseits 783 Richtlinie 89/552/EWG des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. Nr. L 298 v. 17.10.1989, S. 23 ff. 784 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. Nr. L 332 v. 18.12.2007, S. 27 ff., im Folgenden „MDRL“. 785 Ein audiovisueller Mediendienst ist eine Dienstleistung im Sinne der Artikel 49 und 50 des Vertrags, für die ein Mediendiensteanbieter die redaktionelle Verantwortung trägt und deren Hauptzweck die Bereitstellung von Sendungen zur Information, Unterhaltung oder Bildung der allgemeinen Öffentlichkeit über elektronische Kommunikationsnetze im Sinne des Artikels 2 Buchstabe a der Richtlinie 2002/21/EG ist. Bei diesen audiovisuellen Mediendiensten handelt es sich entweder um Fernsehprogramme gemäß der Definition unter Buchstabe e des vorliegenden Artikels oder um audiovisuelle Mediendienste auf Abruf gemäß der Definition unter Buchstabe g des vorliegenden Artikels, vgl. Art. 1 lit. a) MDRL. 786 Dieser Begriff ist wie folgt definiert: „Bilder mit oder ohne Ton, die der unmittelbaren oder mittelbaren Förderung des Absatzes von Waren und Dienstleistungen oder des Erscheinungsbilds natürlicher oder juristischer Personen, die einer wirtschaftlichen
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3. Kap.: Status volksverhetzender Äußerungen im Völker- und Europarecht
nach Art. 3e Abs. 1 lit. c) MDRL nicht zu Diskriminierung aus unter anderem Gründen der Rasse, der ethnischen Herkunft oder der Staatsangehörigkeit auffordern.
C. Schlussfolgerungen Der Stellenwert der Äußerungsfreiheit ist – zumindest auf dem Papier – nahezu allgemein anerkannt. Dies gilt sowohl für den universellen als auch den regionalen Menschenrechtsschutz. Mit der bedeutenden Ausnahme der Vereinigten Staaten besteht darüber hinaus beinahe allgemeine Übereinstimmung, dass die Äußerungsfreiheit eingeschränkt werden kann, um volksverhetzende, insbesondere rassistische und fremdenfeindliche Inhalte zu bekämpfen. Solche Eingriffe in die Äußerungsfreiheit werden unter Verweis auf die Menschenwürde und den Gleichheitsgedanken gerechtfertigt. Darüber hinaus verpflichten mehrere völkerrechtliche Konventionen die Unterzeichnerstaaten sogar, bestimmte Äußerungen (unter Strafe) zu verbieten, also in die Äußerungsfreiheit zugunsten individueller und allgemeiner Belange wie der Menschenwürde und dem Gedanken der Gleichheit einzugreifen. Ähnlich dem europäischen Ansatz erlaubt und fordert auch das universelle Völkerrecht inhalts- und sogar meinungsbezogene Eingriffe in die Äußerungsfreiheit. Auch das Völkerrecht designiert bestimmte Inhalte als besonders gefährlich, würdeverletzend sowie sozial- und individualschädlich und gibt sie zum Verbot frei. Das amerikanische Gebot staatlicher Inhalts- und Meinungsneutralität findet im Völkerrecht keine Entsprechung. Aus den im zweiten Kapitel erläuterten verfassungsrechtlichen Gründen sind die Vereinigten Staaten diesem Bereich der internationalen regulatorischen Zusammenarbeit konsequent ferngeblieben. Die USA haben zahlreiche Vorbehalte erklärt, um die eigenen völkerrechtlichen Verpflichtungen auf das verfassungsrechtlich erfüllbare Maß zu beschränken. Wie der Fall des IPBPR zeigt, gehen diese Vorbehalte bisweilen an die Grenze des nach allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen Zulässigen, weil sie Sinn und Zweck der jeweiligen völkerrechtlichen Vereinbarung in Frage stellen. In dem besonders relevanten Fall der Cybercrime Convention setzten die Vereinigten Staaten sogar durch, dass die Regelungen zur Bekämpfung der Hassrede in ein Zusatzprotokoll ausgelagert wurden. An diesem Beispiel zeigt sich die politisch starke Stellung und die wirtschaftliche Bedeutung, die den USA zu erheblichem Einfluss auf völkerrechtliche Bemühungen zur Regulierung des Internet verhilft. Zugleich wird deutlich, dass die Vereinigten Staaten gezwungen sind, diesen Einfluss geltend zu machen, um einen Tätigkeit nachgehen, dienen. Diese Bilder sind einer Sendung gegen Entgelt oder eine ähnliche Gegenleistung oder als Eigenwerbung beigefügt oder darin enthalten. Zur audiovisuellen kommerziellen Kommunikation zählen unter anderem Fernsehwerbung, Sponsoring, Teleshopping und Produktplatzierung“ (Art. 1 lit. h MDRL).
C. Schlussfolgerungen
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Konflikt zwischen völker- und verfassungsrechtlichen Verpflichtungen zu vermeiden. Der geschilderte Konsens beschränkt sich nicht darauf, dass einzelne Eingriffe in die Äußerungsfreiheit zugunsten des „Kampfes gegen den Rechtsextremismus“ zulässig sind. Vielmehr besteht darüber hinaus Einigkeit, dass derartige Äußerungen aktiv bekämpft werden müssen. Die Staaten sollen zu solchen Eingriffen nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet sein. Diese staatlichen Handlungspflichten sind, um die Begrifflichkeiten des First Amendment zu verwenden, klar inhalts-, wenn nicht sogar meinungsbezogen. Sowohl das universelle als auch das regionale Völkerrecht bringen die Ablehnung der politischen Ideologien des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit klar zum Ausdruck. Diese politische Position prägt die völkerrechtlichen Dokumente. Festzustellen ist allerdings, dass der breite internationale Konsens, der in den beschriebenen völkerrechtlichen Regelwerken zum Ausdruck kommt, nicht im Stande war, auf das verfassungsrechtliche Verständnis in den USA Einfluss zu nehmen. Tendenzen, das First Amendment völkerrechtskonform einschränkend auszulegen und bestimmte Formen inhaltsbezogener Regulierung zuzulassen, sind in der amerikanischen Rechtsprechung nicht zu verzeichnen. Umgekehrt ist zu beobachten, dass der völkerrechtliche Konsens dazu beiträgt, den auch in Europa verfolgten „beschränkungsfreundlichen“ Ansatz zu legitimieren und zu festigen. Sowohl die amerikanische als auch die konträre europäische Position scheinen auch aus völkerrechtlichem Blickwinkel in Stein gemeißelt.
Viertes Kapitel
Vergleich und Ursachenforschung A. Gegenprobe Die Analysen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des U.S. Supreme Court deuten auf tief greifende Unterschiede hin. Der Leugnung des Holocaust verweigert der EGMR ausnahmslos den grundrechtlichen Schutz – für den Supreme Court ist dieser Schutz so selbstverständlich, dass es nicht einmal eine ausdrücklich einschlägige Entscheidung gibt.787 Hassrede oder, allgemeiner gefasst, Äußerungen, die im Widerspruch zu den Grundwerten einer freiheitlichen Demokratie stehen, entzieht Art. 17 EMRK den Schutz von Art. 10 EMRK. Im Gegensatz dazu billigt der Supreme Court solchen Äußerungen beinahe demonstrativ vollen verfassungsrechtlichen Schutz zu. Die Kategorie der Volksverhetzung oder der hate speech findet sich in der Rechtsprechung des Supreme Court nicht. Handelt es sich um hate speech, also um volksverhetzende Hassrede, sind die Grenzen der durch Art. 10 EMRK geschützten Freiheit demgegenüber erreicht, ohne dass der EGMR lange überlegen müsste. Sind diese Unterschiede grundsätzlich und manifest – oder handelt es sich nur um eine Reihe von Einzelfallentscheidungen, die den falschen Eindruck eines „Grundsatzkonflikts“ erwecken? Eine „Gegenprobe“ gibt die Antwort. Wie hätte der EGMR über die Sachverhalte, die den Entscheidungen des Supreme Court zugrunde lagen, entschieden? Und umgekehrt: Wäre der Supreme Court, hätte er über die „europäischen“ Sachverhalte zu entscheiden gehabt, wirklich zu einem anderen Ergebnis als der EGMR gekommen?
I. Amerikanische Fälle nach dem Recht der EMRK Eine Vorbemerkung: Den drei hier aufgegriffenen Entscheidungen des Supreme Court – Brandenburg, R.A.V. und Black – lagen so genannte „facial challenges“ zugrunde. Gegenstand der Prüfung des Supreme Court war stets die Ermächtigungsgrundlage als solche, das „abstrakte“ Gesetz. Die konkreten Äußerungen der Beschwerdeführer waren zweitrangig. Der EGMR misst, wie im ersten Kapitel geschildert, zumeist nicht das den Eingriff legitimierende Gesetz 787 In diesem Sinne auch Fernández Esteban, in: Fredman (Hrsg.), Discrimination and Human Rights, S. 77 (88); Grewlich, S. 290.
A. Gegenprobe
217
am Maßstab von Art. 10 EMRK. Seine Prüfung konzentriert sich auf den einzelnen Eingriff und damit auf die jeweils sanktionierte Äußerung.788 Hieraus ergeben sich, wie im Folgenden deutlich wird, gewisse Unterschiede in Aufbau und Ablauf der Grundrechtsprüfung. 1. Brandenburg v. Ohio nach dem Recht der EMRK Clarence Brandenburg hatte von „schmutzigen Negern“ gesprochen, gefordert, die Juden „zurück nach Israel“ zu schicken, die vermeintliche systematische Benachteiligung der „weißen, kaukasischen Rasse“ angeprangert sowie, etwas verkürzt, einen Tag der Rache vorausgesagt. Seine Verurteilung nach dem Ohio Syndicalism Act hob der Supreme Court wegen Verstoßes gegen das First Amendment auf.789 Hätte der EGMR diesen Fall anhand von Art. 10 EMRK zu entscheiden, käme er zu einem gegenteiligen Ergebnis. Wegen des antisemitischen Charakters der Aussagen Brandenburgs würde der EGMR vermutlich den Schutzbereich von Art. 10 EMRK gar nicht erst eröffnen. Unterstellt man dennoch die Eröffnung des Schutzbereichs, wäre der Eingriff aufgrund eines Gesetzes, nämlich des Ohio Syndicalism Act erfolgt, wobei in einem zweiten Schritt zu unterstellen ist, dass dieses Gesetz seinerseits den Anforderungen der Zugänglichkeit und der Vorhersehbarkeit genügt. Im Rahmen der Prüfung der Notwendigkeit des Eingriffs böten sich dem EGMR drei Argumentationswege an, die zu dem jeweils gleichen Ergebnis führen. Zunächst könnte der Gerichtshof eine aus den Türkei-Fällen bekannte Linie verfolgen und die Äußerungen Brandenburgs primär als Gewaltaufrufe würdigen. Danach ist der unverhüllte, direkte (aber nicht unbedingt unmittelbare) Aufruf zu strafbarer Gewalt nie ein geeignetes Mittel im öffentlichen Diskurs. Eine solche Vorgehensweise wäre allerdings in einem Punkt angreifbar: Die Türkei-Fälle zeichnen sich dadurch aus, dass, zumindest nach dem Vortrag des türkischen Staats, letztlich die nationale Sicherheit und die territoriale Integrität des Staates auf dem Spiel standen, was den Beurteilungsspielraum der Türkei spürbar erhöhte. Diese Dimension fehlt in Brandenburg. Jedoch könnte der Gerichtshof die Äußerungen Brandenburgs im Stile seines Urteils im Fall Sürek (No. 1) als einen „appeal to bloody revenge“ 790 einstufen, der die Anwendung von Gewalt rechtfertigt und verklärt. Hieraus ergäbe sich dann die Rechtfertigung des Eingriffs.
788 Etwas anderes gilt nur, wenn ausnahmsweise das Gesetz selbst unmittelbar in die Rechte aus Art. 10 EMRK eingreift, ohne dass es eines konkretisierenden Exekutivoder Judikativakts bedarf, siehe oben Erstes Kapitel, C. II. 2. (S. 55). 789 Siehe dazu oben, Zweites Kapitel, C. II. 2. (S. 157 ff.). 790 EGMR, Urt. v. 8.7.1999, Sürek (No. 1), RJD 1999-IV, § 62.
218
4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung
Der bereits angedeutete Weg über Art. 17 EMRK ist die zweite Alternative. Der EGMR könnte auf den klar rassistischen Charakter der Äußerungen Brandenburgs abheben und den Sachverhalt im Lichte von Art. 17 EMRK beurteilen. Die Aussagen Brandenburgs, die im Kern auf die These der Überlegenheit der „weißen“ Rasse gegenüber alle anderen Bevölkerungsgruppen hinauslaufen, sind mit dem vom EGMR benannten Grundwerten der Konvention nicht vereinbar. Brandenburgs Äußerungen sind „klassische“ Hassrede, die den Grundwerten der Konvention – etwa Pluralismus, Offenheit, Toleranz – offensichtlich zuwiderläuft. Die dritte Begründungsalternative kombiniert die beiden ersten Ansätze und dürfte die wahrscheinlichste sein. Danach würde der EGMR sich primär im Sinne der zweiten Alternative auf den rassistischen Inhalt der Aussagen konzentrieren, zugleich aber unter Verweis auf die Türkei-Fälle betonen, dass der Aufruf zu illegaler Gewalt grundsätzlich keine akzeptable Form des Meinungskampfes ist. Unter Rückgriff auf Art. 17 EMRK würde der EGMR mit einer im Wesentlichen der zweiten Alternative entsprechenden Argumentation einen Konventionsverstoß verneinen und die Beschwerde verwerfen.791 2. R.A.V. v. St. Paul und Virginia v. Black nach dem Recht der EMRK Eine Analyse der beiden cross-burning-Entscheidungen in R.A.V. und Black anhand von Art. 10 EMRK fällt etwas schwerer.792 An der durch den Supreme Court bemängelten Selektivität der Verordnung von St. Paul, die sich im wesentlichen auf rassistische fighting words beschränkte, würde sich der EGMR nicht stören; vielmehr dürfte eine solche Differenzierung in seinen Augen zum Schutze der Grundwerte der Konvention angezeigt und gerechtfertigt sein. Auch der konkrete Eingriff wäre nach Art. 10 Abs. 2 EMRK zu rechtfertigen. Bei der in R.A.V. kommunizierten Botschaft handelte es sich im Kern um eine rassistische Aussage, der der EGMR unter Verweis auf Art. 17 EMRK den Schutz versagt hätte. Ähnliches gilt für das Gesetz im Fall Black. Allerdings würde sich der EGMR wohl auf die konkreten Aussagen Blacks während des cross burning konzentrieren. Da er nicht maßgeblich auf den Einzelfall abstellt, findet sich in dem Urteil des Supreme Court nur die Information, dass Black „sehr schlecht über Schwarze 791 Auf einen Punkt ist abschließend hinzuweisen: Brandenburg wurde zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Nicht auszuschließen ist, dass der EGMR dieses Strafmaß für unverhältnismäßig befinden und auf diesem Wege dennoch zu einer Verletzung von Art. 10 EMRK gelangen würde. Ein solches Ergebnis beruhte aber nicht auf der Anerkennung einer – gar gesteigerten – Schutzwürdigkeit der Äußerungen, sondern auf allgemeinen Verhältnismäßigkeitserwägungen, die nur in losem Zusammenhang zum Inhalt der Äußerungen stünden. 792 Zu diesen beiden Fällen, siehe oben, Zweites Kapitel, C. III. (S. 160 ff.).
A. Gegenprobe
219
und Mexikaner“ gesprochen habe. Sollten diese Äußerungen die Grenze zum Rassistischen überschritten haben – alles andere wäre überraschend –, würde der EGMR mit der soeben für Brandenburg skizzierten Begründung gegen eine Verletzung von Art. 10 EMRK entscheiden.
II. Europäische Fälle nach amerikanischem Recht Unterwirft man einige der im ersten Kapitel geschilderten „europäischen“ Sachverhalte einer Analyse anhand der Praxis des First Amendments, fällt zunächst auf, dass sämtliche Gesetze, auf denen die jeweiligen staatlichen Eingriffe beruhten, verfassungsrechtlicher Überprüfung durch den Supreme Court nicht standgehalten hätten. Sowohl die Gesetze, die die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellen, als auch die diversen Volksverhetzungstatbestände sowie die türkischen Sicherheitsgesetze sind in ihrem Anwendungsbereich nicht auf anerkannte Bereichsausnahmen des First Amendment (insbesondere incitement, fighting words, true threats) beschränkt. Vielmehr erfassen sie auch solche Äußerungen, die den vollen Schutz des First Amendment genießen und daher nur unter den strengen Voraussetzungen der strict scrutiny verboten werden könnten. Dies gilt beispielsweise für die Leugnung des Holocaust, aber auch für den britischen Public Order Act in Norwood. Diese Gesetze erlauben allesamt auch Eingriffe, die nicht mit dem First Amendment vereinbar sind, und würden daher einem facial overbreadth challenge zum Opfer fallen. Zweitens gelten nach der vagueness-Doktrin im Bereich des First Amendment gesteigerte Bestimmtheitserfordernisse. Insbesondere die sehr allgemein gehaltenen türkischen Gesetze, die etwa pauschal „separatistische Propaganda“ unter Strafandrohung verbieten, wären nach amerikanischen Maßstäben void for vagueness, mangels Bestimmtheit nichtig. Auch wenn man diese beiden Gesichtspunkte ausblendet, die sich aus einer verfassungsprozessualen Besonderheit und einem strengeren Verständnis des Bestimmtheitsgebots im amerikanischen Recht ergeben, ändert sich das Ergebnis nicht. Die Leugnung des Holocaust, streitbefangen etwa in den Witzsch-Entscheidungen und im Fall Garaudy, würde der Supreme Court als durch das First Amendment umfassend geschützte politische Rede einstufen. Gerade durch die Leugnung eines historischen Faktums wird aus Sicht des Supreme Court eine politische Überzeugung kommuniziert. Die Leugnung des Holocaust als solche erreicht nicht die Schwelle zum incitement im Sinne eines unmittelbaren und vorsätzlichen Aufrufs zu illegalen Verhalten. Auch handelt es sich nicht per se um fighting words oder Einschüchterungen im Sinne eines true threats. Ähnliches gilt für (rassistische oder religiöse) volksverhetzende Meinungsäußerungen wie sie etwa im Fall Norwood, aber auch in einigen Türkei-Fällen und
220
4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung
den Kommissionsentscheidungen in den Fällen Glimmerveen und Kühnen anzutreffen waren. Auch diese Äußerungen, etwa die pauschale Beschimpfung von Gastarbeitern oder antisemitische bzw. antiislamische Parolen überschreiten erkennbar nicht die Grenze zu einer der Bereichsausnahmen. Schließlich erreichen auch die Äußerungen in den Türkei-Fällen nie die Schwelle des incitement. Die dort streitgegenständlichen nicht konkreten, sondern, wenn überhaupt, abstrakten Rechtfertigungen von Gewalt könnten seit Brandenburg nicht im Einklang mit dem First Amendment verboten werden. Sofern der EGMR in diesen Fällen bereits eine Verletzung von Art. 10 EMRK feststellte, läge erst recht ein Verstoß gegen das First Amendment vor. Im Fall Sürek No. 1 – der EGMR verneinte hier einen Konventionsverstoß – wäre der Eingriff auch mit dem First Amendment unvereinbar. Die dort in Rede stehenden Leserbriefe sind kein incitement, sie rufen nicht vorsätzlich und unmittelbar zu sofortigem illegalem Verhalten auf. Diese gefahrbezogene Unmittelbarkeit ist aber Voraussetzung des incitement. In allen diesen Fällen stellt sich die Frage, ob die klar inhaltsbezogenen Eingriffe dennoch unter den Voraussetzungen der strict scrutiny gerechtfertigt werden könnten. In der Rechtsprechung des Supreme Court und der Untergerichte findet sich kein Fall, ersichtlich, kein Fall, in dem etwas Vergleichbares gelungen wäre.793 Dies liegt auch daran, dass die meisten Urteile zu overbreadth challenges ergangen sind und daher individuelle Umstände außer Acht lassen konnten. Darüber hinaus gibt es – insbesondere im Bereich der strict scrutiny – keine amerikanische Tradition der einzelfallbezogenen Abwägung. Vielmehr gilt in diesen Fällen weiterhin der bereits zitierte Merksatz, dass strict scrutiny „strict in theory“ und „fatal in fact“ 794 ist.
III. Ergebnis: Das First Amendment als strenger Mindeststandard Das Ergebnis der Gegenprobe fällt deutlich aus: Der EGMR hätte in den drei für diese Untersuchung zentralen Fällen aus der Rechtsprechung des Supreme Court stets eine Verletzung von Art. 10 EMRK verneint, die Beschränkung der Äußerungsfreiheit also zugelassen. Der Supreme Court hätte in sämtlichen „europäischen“ Fällen einen Verstoß gegen das First Amendment bejaht – und dies gleich aus einer Reihe von Gründen. Daraus ergeben sich zunächst drei allgemeine Schlussfolgerungen:
793 Der Entscheidung Holder v. Humanitarian Law Project, 103 S. Ct. 2705 (2010) (dazu oben, Anm. 561), in der ein Eingriff strict scrutiny „überlebte“, liegt kein vergleichbarer Sachverhalt zugrunde. 794 Zu diesem Bonmot siehe die Nachweise bei Anm. 417.
A. Gegenprobe
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– Kann eine Äußerung im Einklang mit dem First Amendment verboten werden, ist dieses Verbot auch mit Art. 10 EMRK vereinbar. Im Vergleich schützt das First Amendment die Äußerungsfreiheit in deutlich weiterem Umfang als Art. 10 EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR. Ist ein Eingriff nach den strengen Maßstäben des First Amendment (in der Auslegung durch den Supreme Court) zulässig, hätte er auch nach Art. 10 EMRK Bestand. Überschreitet eine Äußerung die Grenze zum incitement, kann sie auch im Einklang mit Art. 10 Abs. 2 EMRK zur Aufrechterhaltung der Ordnung, insbesondere aber zur Verhinderung von Straftaten verboten bzw. bestraft werden. Fighting words, also persönliche Angriffe von solcher Schwere, dass sie eine gewalttätige Reaktion provozieren, können im Einklang mit Art. 10 Abs. 2 EMRK insbesondere zum Schutz der Rechte und des Rufes anderer geahndet werden. Gleiches gilt für die massive Einschüchterung und Bedrohung anderer im Sinne eines true threat. Auch hier tritt die Äußerungsfreiheit in der Auslegung des EGMR regelmäßig hinter gegenläufige Individual- und Kollektivinteressen zurück. Handelt es sich bei den Äußerungen um hate speech, haben sie also einen rassistischen oder auf andere Weise volksverhetzenden Inhalt, erleichtert Art. 17 EMRK die Rechtfertigung entsprechender Eingriffe erheblich, ohne dass sich für dieses Argumentationsmuster eine Parallele in der amerikanischen Rechtsprechung finden ließe. – Kann eine Äußerung nicht im Einklang mit Art. 10 EMRK verboten werden, ist dieses Verbot auch mit dem First Amendment unvereinbar. Art. 10 EMRK gesteht dem Staat im Vergleich zum First Amendment weiter reichende Eingriffsmöglichkeiten zu. Scheitert die Rechtfertigung eines Eingriffs bereits im Rahmen von Art. 10 Abs. 2 EMRK, ist eine Rechtfertigung des Eingriffs auch nach den Maßstäben des First Amendment, etwa durch Anwendung einer Bereichsausnahme oder nach den Grundsätzen der strict scrutiny, ausgeschlossen. Wegen der Inhaltsbezogenheit der hier in Rede stehenden Eingriffe kommt die Anwendung des großzügigeren rational basis-oder intermediate scrutiny-Standards durch den Supreme Court ohnehin nicht in Betracht. – Kann eine Äußerung im Einklang mit Art. 10 EMRK verboten werden, ist dieses Verbot mit dem First Amendment nur vereinbar, wenn die Äußerung (ausnahmsweise) von den Bereichsausnahmen (unprotected categories) erfasst wird. Ist die Äußerung hingegen vom Schutzbereich des First Amendment erfasst, käme, wegen der beschriebenen Inhaltsbezogenheit des („hassredebezogenen“) Eingriffs, eine Rechtfertigung nur unter den Voraussetzungen der strict scrutiny in Betracht. Außerdem wäre das dem Eingriff zugrunde liegende Gesetz auf overbreadth zu überprüfen. Die Praxis des First Amendment und die Anwendung der First Amendment-Grundsätze auf europäische Fälle zeigen, dass diese Hürden faktisch nahezu unüberwindbar sind.
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4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung
B. Die transatlantische Divergenz: Gegensatzpaare Wie bereits in den Rechtsprechungsanalysen im ersten und zweiten Kapitel angedeutet, lassen sich die „transatlantischen Divergenzen“ anhand von Gegensatzpaaren beschreiben.
I. Inhaltsbezogenheit und Wertorientierung $ Inhaltsund Wertneutralität Prägender Wesenszug des europäischen Verständnisses der Äußerungsfreiheit ist die Inhaltsbezogenheit. Ob eine Äußerung den Schutz der Äußerungsfreiheit genießt, hängt zunächst von ihrem politischen Inhalt ab. Widerspricht die zum Ausdruck gebrachte Auffassung den Grundwerten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, ist sie also anti-demokratisch, anti-pluralistisch oder in besonderem Maße intolerant, leugnet sie die Würde der Mitmenschen oder die fundamentale Gleichheit aller, genießt sie keinen bzw. allenfalls minimalen grundrechtlichen Schutz. Wer am Wettbewerb der Meinungen teilnehmen möchte, muss zunächst den demokratischen Grundkonsens unterschreiben. Dieser Grundkonsens ist seinerseits stark wertegeprägt, sodass aus der Inhaltsbezogenheit der Rechtsprechung des EGMR eine ausgeprägte Wertorientierung folgt. Die Bedeutung der freiheitlich-demokratischen Grundwerte rechtfertigt und fordert für den Straßburger Gerichtshof den Inhalts- und Meinungsbezug der eigenen Rechtsprechung und die damit einhergehenden Beschränkungen der Äußerungsfreiheit. Die Praxis des First Amendment ist demgegenüber inhalts- und damit nahezu werteneutral. Staatliche Eingriffe können nur verfassungsrechtlichen Bestand haben, wenn sie entweder die eng gefassten Bereichsausnahmen des First Amendment betreffen oder inhaltsneutral sind. Die Regulierung von volksverhetzenden und zu Gewalt aufrufenden Inhalten ist aber ihrem Wesen nach stets inhaltsbezogen, knüpft sie doch an einen bestimmten „politischen“ Inhalt an, etwa die rassistische oder xenophobe Qualität einer Äußerung. Die staatliche Intervention zugunsten oder zulasten einer politischen Überzeugung erscheint aus Sicht des First Amendment nicht als Maßnahme zum Schutz bestimmter Grundwerte – etwa der Menschenwürde –, sondern als unlautere Parteinahme, die den Wettstreit der Meinungen in kontraproduktiver Weise verzerrt. Nach diesem Verständnis ist es also nicht die Aufgabe des Staates, durch den gezielten Eingriff bestimmte gefährliche oder „zerstörerische“ Äußerungen zu verhindern und die Grundwerte der Rechtsordnung zu schützen. Er hat sich darauf zu beschränken, die Rahmenbedingungen für einen ungehinderten Wettbewerb der Ideen zu schaffen.
II. Gefahrenneutralität $ Gefahrenbezogenheit Ein zweiter wesentlicher Unterschied zeigt sich in der Bewertung der Gefahren, die von einer Äußerung ausgehen können. Der europäische Ansatz ist im
B. Die transatlantische Divergenz: Gegensatzpaare
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Wesentlichen gefahrenneutral. Jede Äußerung verpönten Inhalts kann sanktioniert werden, unabhängig davon, ob unmittelbar zu befürchten steht, dass den Worten auch Taten folgen werden oder ob „nur“ mittel- bis langfristige Effekte zu erwarten sind. Die Leugnung des Holocaust wird als eine politisch und gesellschaftlich gefährliche Äußerung verstanden, wiederum unabhängig davon, ob zu erwarten ist, dass der Redner Gehör oder gar Zustimmung findet. Gleiches gilt für rassistische Parolen. Der ausdrückliche Aufruf zur Gewalt kann als schlechthin illegitimes Mittel im Meinungskampf verboten werden, selbst wenn gewiss ist, dass niemand diesem Aufruf Folge leisten wird. Die Rechtsprechung des Supreme Court ist demgegenüber dezidiert gefahrenbezogen. Sämtliche der hier relevanten Bereichsausnahmen setzen in der einen oder anderen Form eine konkrete Gefahr, also die reale Befürchtung voraus, Worte (speech) würden unmittelbar Taten (conduct) auslösen. Mittel- und langfristige Effekte werden ausgeblendet, zumal diese letztlich nur durch eine wertende und damit wiederum inhaltsbezogene Analyse der Äußerung und ihrer Wirkungen Berücksichtigung finden könnten. Der präventive Ansatz des EGMR, der den Staat berechtigt, den Funken zu löschen, damit sich kein Feuer entzünden kann795, ist der amerikanischen Rechtsprechung nunmehr seit Jahrzehnten fremd.
III. Staatliche Regulierung des Marktplatzes der Ideen $ „Laissez Faire“ Dieser Gegensatz zwischen Gefahrenneutralität und Gefahrenbezogenheit führt zu einem weiteren Unterschied. Die Rechtsprechung des Supreme Court ist stark durch das Ideal des Marktplatzes der Ideen geprägt, der nach den Mechanismen von Rede und Gegenrede funktioniert. Diese Metapher und der durch sie versinnbildlichte Glaube an die Kraft der Gegenrede, mit der ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber staatlichen Eingriffen korrespondiert796, finden sich in der Rechtsprechung des EGMR nicht.797 Die Rechtsprechung zu Art. 10 EMRK ist, im Gegenteil, von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Kraft der Gegenrede geprägt. Die Gegenrede erscheint als strukturell unterlegen. Ihre unsichere Wirkung und mangelnde Verlässlichkeit rechtfertigen den staatlichen Eingriff. Gerade weil aus Sicht des EGMR keine Vermutung dafür besteht, dass „schädliche“ oder „gefährliche“ Äußerungen auf dem Marktplatz der Ideen durch die Gegen-
795 Dieses Bild entstammt paradoxerweise der Dennis-Entscheidung des Supreme Court, siehe oben Zweites Kapitel, C. II. 1. g) (S. 156 f.) 796 Schauer, The Exceptional First Amendment, S. 23 f., spricht treffend von einer „culture of distrust“ gegenüber staatlicher Intervention in den Prozess öffentlicher Meinungsbildung. 797 Siehe zu weiteren Unterschieden bei den vorrechtlichen Prämissen, unten, Viertes Kapitel, C. I. 4. (S. 232 ff.).
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4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung
rede entschärft werden, darf (und muss) der Staat eingreifen. Dieser vielleicht ein wenig etatistisch wirkende Ansatz798 steht in scharfem Widerspruch zur libertären, auf Passivität und Neutralität, mit anderen Worten, auf laissez-faire angelegten Rolle des Staates in Rechtsprechung und Dogmatik des First Amendment. Während der EGMR davon ausgeht, dass mit bestimmten privaten Äußerungen eine größere Gefahr für das demokratische Staatswesen verbunden ist als mit einem meinungsselektiven staatlichen Eingriff in die öffentliche Debatte, erscheint aus der Perspektive des Supreme Court ein solcher staatlicher Eingriff als in besonderem Maße undemokratisch and daher zur Wahrung und Förderung der Demokratie nicht geeignet.
IV. Abwägungsoffenheit $ Abwägungsfeindlichkeit Ein viertes Gegensatzpaar bilden Abwägungsoffenheit und Abwägungsfeindlichkeit. Zwar erweist sich auch die Rechtsprechung des EGMR, die stark schematisch vorgeht und daher bestimmten Äußerungen gänzlich ungeachtet der Umstände des Einzelfalls den Schutz des Art. 10 EMRK verweigert, mitunter als abwägungsfeindlich. Auch dieser Schutzbereichsbegrenzung, die ihre normative Grundlage in Art. 17 EMRK findet, liegt jedoch eine wertbezogene Abwägung zwischen den Rechten aus Art. 10 EMRK einerseits und den kollidierenden Demokratie-, Gleichheits- und Menschenwürdeinteressen andererseits zugrunde. Letztlich geht der EGMR davon aus, dass die Äußerungsfreiheit im Rahmen einer Abwägung strukturell hinter diese Rechtsgüter zurücktreten muss. Weder in der Praxis noch in der Dogmatik des First Amendment ist eine solche Abwägung mit konkurrierenden Rechtsgütern und Interessen ernstlich angelegt. Zwar mag es im Rahmen der Bestimmung der Bereichsausnahmen pauschalierte Abwägungen geben. Letztlich vollzieht sich diese Abwägung, wie die Fälle des incitement, der fighting words und der true threats zeigen, aber innerhalb des geschlossenen Systems des First Amendments und anhand der Frage, ob ein zu befürchtendes Übel mit den Mitteln der Gegenrede abgewendet werden kann. Eine Abwägung etwa zwischen der Äußerungsfreiheit und den verfassungsrechtlich ebenfalls anerkannten Gleichheitsrechten findet sich in der Rechtsprechung des Supreme Court nicht.799
798 Brugger, AöR 128 (2003), 372 (294) kontrastiert das amerikanische Misstrauen gegenüber der Fähigkeit von Staatsorgangen, zwischen guten und schlechten Meinungen zu unterscheiden, mit einer deutschen etatistischen Grundhaltung, die keine vergleichbaren Bedenken hegt. 799 Missverständlich insofern Brugger, 17 Tul. Eur. & Civ. L. F. 1 (2002); siehe auch Schauer, The Exceptional First Amendment, S. 32 ff. („methodological exceptionalism“).
C. Ursachenforschung
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C. Ursachenforschung Die geschilderten Unterschiede werfen die Frage nach den Ursachen auf. Verschiedene Erklärungen kommen in Betracht. Sie sollen der Reihe nach auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft werden. Zuvor lohnt es sich, den Blick von dem First Amendment sowie der EMRK für einen Moment zu lösen und auf eine Entscheidung des kanadischen Supreme Court aus dem Jahre 1990 zu lenken.
I. Exkurs: R. v. Keegstra Im Fall R. v. Keegstra800 befand sich der kanadische Supreme Court beinahe in einer Laborsituation. Erstmalig hatte er über den verfassungsrechtlichen Schutz von hate propaganda zu entscheiden. Ungebunden durch Präzedenzfälle standen die Richter vor der „freien“ Wahl zwischen dem US-amerikanischen Ansatz und einer Auslegung der Charter, die dem europäischen und auch international wie völkerrechtlich weit verbreiteten Verständnis der Äußerungsfreiheit entspricht. Während sich vier der Richter für eine Verfassungsauslegung entschieden, die dem „europäischen Ansatz“ nahe kommt, befürworteten drei Richter in einem Sondervotum mit Nachdruck einen am Beispiel des First Amendment ausgerichteten Ansatz. Die Entscheidung in Keegstra ist die wohl detaillierteste und transparenteste richterliche Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine demokratische Gesellschaft mit Hassrede umgehen sollte.801 Nicht nur aber auch aus diesem Grund gibt sie wichtige Hinweise zu den Ursachen der unterschiedlichen Auffassungen in den Vereinigten Staaten und Europa. 1. Sachverhalt Eckville, ein kleiner Ort im Heartland der kanadischen Provinz Alberta, zählt rund 1000 Einwohner und eine Junior and Senior High School. Dort unterrichtete James Keegstra bis zu seiner Entlassung im Jahre 1982.802 Keegstra verbreitete im Klassenzimmer rassistische Parolen und leugnete den Holocaust; diejenigen Schüler, die sich seine Äußerungen nicht zu Eigen machten, mussten mit schlechten Noten rechnen.803 Verärgert über die Behauptung Keegstras, die Irisch-Republikanische Armee stünde dem Kommunismus nahe, stieß eine Mut800 [1990] 3 S.C.R. 697; hierzu auch Mensching, in: Menzel/Pierlings/Hoffmann, S. 234 ff. 801 So auch Schauer, The Exceptional First Amendment, S. 5 (dort Fn. 9) („most important judicial discussion of holocaust denial and freedom of expression“). 802 Martin, N. Y. Times v. 26.5.1983, S. A2. 803 Keegstra war darüber hinaus auch Bürgermeister von Eckville. 96 der 116 Schüler der Senior High School protestierten gegen seine Entlassung aus dem Schuldienst, obwohl eine ehemalige Schülerin berichtete: „If you didn’t agree with him, you didn’t pass.“, siehe Martin, N. Y. Times v. 26.5.1983, S. A2.
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4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung
ter auf Unterrichtsmitschriften ihrer Kinder, die etwa lauteten: „Jews will always cut your throat. They get what they can.“ 804 1984 wurde Keegstra wegen „unlawful promotion of hatred against an identifiable group“, (Section 319 [2] des kanadischen Strafgesetzbuches805), einem Volksverhetzungstatbestand, angeklagt. Er berief sich auf seine Äußerungsfreiheit, konnte aber die Zulassung der Anklage nicht verhindern.806 Nachdem ihn eine Jury für schuldig befunden hatte, legte er gegen dieses Urteil Berufung ein, in deren Verlauf der Alberta Court of Appeal Section 319 (2) für unvereinbar mit Section 2 (b) der Canadian Charter of Rights and Freedoms erklärte.807 Daraufhin rief die Krone den kanadischen Supreme Court an, der sodann – losgelöst vom Einzelfall – die Frage zu beantworten hatte, ob Section 319 (2) in den Schutzbereich der Äußerungsfreiheit eingreift und, wenn ja, ob dieser Eingriff gerechtfertigt ist.808 Der hier relevante Teil der Charter lautet: „1. Rights and Freedoms in Canada: The Canadian Charter of Rights and Freedoms guarantees the rights and freedoms set out in it subject only to such reasonable limits prescribed by law as can be demonstrably justified in a free and democratic society. 2. Fundamental Freedoms Everyone has the following fundamental freedoms: [. . .] (b) freedom of thought, belief, opinion and expression, including freedom of the press and other media of communication“.
804 Vorherige Beschwerden einzelner Schüler waren ohne Folgen geblieben, siehe Martin, N. Y. Times v. 26.5.1983, S. A2; in der Tat scheint Keegstra kaum etwas ausgelassen zu haben, siehe Heinrichs, 36 Alberta L. Rev. 835, 837–838 (1998) („His [Keegstra’s] main deviation was that he taught the curriculum of the Institute for Historical Review, specifically holocaust revisionism, and that he made many statements denigrating Jews, calling them ,gutter rats‘ and ,money thugs‘ and claiming they were responsible, inter alia, for the assassination of Abraham Lincoln, the French and Russian Revolutions, the two world wars, the welfare state, and, of course, communism and high interest rates.“). 805 Section 319 (2) des kanadischen Criminal Code lautet in Auszügen: „(2) Every one, who, by communicating statements, other than in private conversation, wilfully promotes hatred against an identifiable group is guilty of (a) an indictable offence and is liable to imprisonment for a term not exceeding two years;“ Absatz 3 schließt die Strafbarkeit u. a. in Fällen aus, in denen die Äußerungen wahr sind oder im Vertrauen auf ihre Wahrheit im öffentlichen Interesse getätigt wurden. Section 318 (4) des Criminal Code definiert den Begriff der „identifiable group“ als „any section of the public distinguished by colour, race, religion or ethnic origin“. 806 R. v. Keegstra, 87 A.R. 200 (1984) (Alberta Court of Queen’s Bench). 807 Vgl. R. v. Keegstra, 65 C.R. (3d) 289 (1988). 808 Im Verfahren vor dem kanadischen Supreme Court ging es um die generelle Vereinbarkeit des Straftatbestandes mit der Charter. Daher fand der Umstand, dass Keegstras Äußerungen während des Schulunterrichts gefallen sind, keine Berücksichtigung.
C. Ursachenforschung
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Section 52 (1) der kanadischen Verfassung, deren Bestandteil die Charter ist, bestimmt: „[A]ny law that is inconsistent with the provisions of the Constitution is, to the extent of the inconsistency, of no force or effect.“
2. Das Urteil: Hassrede als antidemokratischer Akt Die Grundrechtsprüfung des obersten kanadischen Gerichts vollzieht sich im Wesentlichen in einem auch aus der deutschen und europäischen Grundrechtsdogmatik bekannten Dreischritt, der nach Eröffnung des Schutzbereichs, Vorliegen eines Eingriffs und dessen Rechtfertigung fragt. Die Rechtfertigungsprüfung unterteilt sich ihrerseits in die Frage, ob der Eingriff ein legitimes Ziel (objective of pressing and substantial concern in a free and democratic society) verfolgt und verhältnismäßig (proportionality between the objective and the impugned measure) ist. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bedarf es zunächst eines inhaltlichen Zusammenhangs zwischen Eingriff und legitimen Ziel (rational connection, Geeignetheit). Sodann muss der Eingriff das relativ mildeste Mittel sein (minimal impairment requirement, Erforderlichkeit). Schließlich bedarf es auch der Angemessenheit im Sinne einer ausgewogenen Zweck-Mittel-Relation (proportionality between effect of the measure and the objective, Angemessenheit).809 Das Urteil prüft zunächst, ob bestimmte Formen der Hassrede a priori außerhalb des Schutzbereichs der Äußerungsfreiheit nach Section 2 (b) der Charter liegen und lehnt dies ab. Insbesondere sei auf Schutzbereichsebene für eine inhaltliche Beurteilung der Äußerung kein Platz, der Inhalt könne im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung ausreichend berücksichtigt werden. Am Beginn der Rechtfertigungsprüfung – der Eingriff lag auf der Hand – steht unter der Überschrift „The Use of American Constitutional Jurisprudence“ eine eingehende Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zur Problematik der hate speech.810 Obwohl der kanadische Supreme Court sich ausdrücklich zur Rechtsvergleichung als einer Methode der Verfassungsauslegung bekennt, lehnt er hier eine Übertragung des „amerikanischen Modells“ ab. Die Schrankenklausel in Section 1 der Charter fordere in einem dem US-amerikanischen Verfassungsrecht unbekannten Maße, die Äußerungsfreiheit gegenüber den Werten der Gleichheit (Section 15 (1) der Charter811) und des Multi809 Zur Grundrechtsprüfung im kanadischen Recht siehe Irwin Toy Ltd. v. Quebec, [1989] 1 S.C.R. 927 (Unterscheidung zwischen Schutzbereich und Eingriff) sowie R. v. Oakes, [1986] 1 S.C.R. 3 (Rechtfertigungsprüfung); siehe auch R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 734–737. 810 R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 738–744. 811 „Every individual is equal before and under the law and has the right to the equal protection and equal benefit of the law without discrimination and, in particular, with-
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4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung
kulturalismus (Section 27 der Charter812) und der „einzigartigen kanadischen Vision“ einer freien und demokratischen Gesellschaft abzuwägen. Auf eine solche umfassende Abwägung sei das US-amerikanische Verfassungsrecht hingegen nicht ausgerichtet.813 Für die Mehrheit schrieb Chief Justice Brian Dickson: „Where section 1 operates to accentuate a uniquely Canadian vision of a free and democratic society, however, we must not hesitate to depart from the path taken in the United States. Far from requiring a less solicitous protection of Charter rights and freedoms, such independence of vision protects these rights and freedoms in a different way. As will be seen below, in my view the international commitment to eradicate hate propaganda and, most importantly, the special role given equality and multiculturalism in the Canadian Constitution necessitate a departure from the view, reasonably prevalent in America at present, that the suppression of hate propaganda is incompatible with the guarantee of free expression.“ 814
Zum Auftakt dieser Abwägung erhebt das Urteil zunächst die Bekämpfung volksverhetzender Propaganda zum verfassungsrechtlichen Auftrag. Dieser ergebe sich aus den besonderen Schäden, die Hassrede verursache, den einschlägigen völkerrechtlichen Verpflichtungen Kanadas815 sowie, vor allem, aus dem umfassenden Gleichheitssatz in Section 15 der Charter und dem in Section 27 normierten Gebot, die Bestimmungen der Charter im Sinne der „Bewahrung und Förderung des multikulturellen Erbes Kanadas“ 816 auszulegen. Schaden nehme nicht nur der von der Hassrede betroffene Einzelne, der in seinem Selbstwertgefühl erschüttert und in die Isolation sowie zu konformistischem Verhalten gezwungen werde. Auch die Gesellschaft als solche werde beeinträchtigt. Hassrede spalte und brutalisiere sie, Minderheiten würden ausgegrenzt.817 Die besondere Bedeutung der mit der Bekämpfung von hate propaganda verfolgten Ziele ergebe sich auch durch einen Blick ins Völkerrecht, insbesondere auf Art. 4 IÜBR und Art. 20 IPBPR.818 Im Mittelpunkt dieses Prüfungsabschnittes stehen Section 15 und Section 27 der Charter, die eine die Gleichheit und den Gedanken der Multikulturalität fördernde Interpretation der Grundrechte verlangten. Zusammenfassend heißt es mit Blick auf Section 27:
out discrimination based on race, national or ethnic origin, colour, religion, sex, age or mental or physical disability.“ 812 „This Charter shall be interpreted in a manner consistent with the preservation and enhancement of the multicultural heritage of Canadians.“ 813 R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 743–744. 814 R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 743. 815 „Generally speaking, the international human rights obligations taken on by Canada reflect the values of a free and democratic society, and thus those values and principles that underlie the Charter itself.“, R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 750. 816 Siehe hierzu Tran, 28 Colum. Hum. Rts L. Rev. 33 (1996). 817 R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 745–749. 818 R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 749–755.
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„Multiculturalism cannot be preserved let alone enhanced if free rein is given to the promotion of hatred against identifiable groups. When the prohibition of expressive activity that promotes hatred of groups identifiable on the basis of colour, race, religion, or ethnic origin is considered in light of section 27, the legitimacy and substantial nature of the government objective is therefore considerably strengthened.“ 819
Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung geht der kanadische Supreme Court zunächst allgemein auf das Verhältnis zwischen den durch die Äußerungsfreiheit geschützten Werten (free expression values) und den von dem streitgegenständlichen Verbot erfassten Äußerungen ein. Das Gericht begründet, warum seiner Überzeugung nach die Grundsätze, die einen umfassenden Schutz der Äußerungsfreiheit fordern, zugunsten der Hassrede nicht greifen. Dabei klingt deutliches Misstrauen gegenüber der Funktionsfähigkeit des Marktplatzes der Ideen an. Es sei keineswegs sicher, dass sich die Vernunft in einem unregulierten Marktplatz der Ideen stets durchsetze. Weder sei Hassrede „wahr“, noch sei zu erwarten, dass die durch sie vermittelten gesellschaftlichen Vorstellungen zu einer „besseren Welt“ beitragen würden. Es sei daher verfehlt, derartige Äußerungen als notwendigen Beitrag zur Ermittlung der Wahrheit und Verbesserung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse darzustellen.820 Die Verbreitung von Hassrede sei auch für die Selbstverwirklichung von untergeordneter Bedeutung. Zwar sei es richtig, dass Section 319 (2) die Entfaltungsmöglichkeiten des „Hassredners“ beschränke. Es handele sich jedoch um eine Selbstverwirklichung zu Lasten Dritter, die daher „in der Summe“ nur von geringem Wert sei.821 Auch der demokratische Prozess erleide durch ein Verbot der Hassrede keinen ernsthaften Schaden. Zwar würden bestimmte politische Ideen aus dem demokratischen Prozess verbannt. Aber auch der Gebrauch der Äußerungsfreiheit könne den demokratischen Prozess untergraben und Mitbürgern Achtung und Würde aufgrund ihrer Rasse oder ihrer religiösen Überzeugung verweigern. Letztlich sei das Verbot der Hassrede „demokratischer“ als deren Duldung durch den Staat. Das politische Werturteil des Gerichts lautet: „This brand of expressive activity is thus wholly inimical to the democratic aspirations of the free expression guarantee. Indeed, one may quite plausibly contend that it 819
R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 758 (interne Zitate weggelassen). R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 763 („Indeed, expression can be used to the detriment of our search for truth; the state should not be the sole arbiter of truth, but neither should we overplay the view that rationality will overcome all falsehoods in the unregulated marketplace of ideas. There is very little chance that statements intended to promote hatred against an identifiable group are true, or that their vision of society will lead to a better world. To portray such statements as crucial to truth and the betterment of the political and social milieu is therefore misguided.“) 821 R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 763. 820
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is through rejecting hate propaganda that the state can best encourage the protection of values central to freedom of expression, while simultaneously demonstrating dislike for the vision forwarded by hate-mongers.“ 822
Das Urteil wendet sich sodann den aus seiner Sicht drei zentralen Einwänden gegen die Geeignetheit des Verbots der Hassrede zu: Ein Verbot der Hassrede verhelfe ihr zur besonderen Aufmerksamkeit der Medien. Gerade das staatliche Verbot könne die Bevölkerung zu der Annahme verleiten, an der Hassrede sei „etwas Wahres dran“. Und: Auch im Deutschland der 1920er und 1930er Jahre habe es Volksverhetzungstatbestände gegeben, ohne dass dies den Nationalsozialismus verhindert habe.823 Das Urteil verwirft jeden dieser im Kern eher politischen als juristischen Einwände. Der Volksverhetzungstatbestand in Section 319 (2) sei deutlicher Ausdruck der demonstrativen Ablehnung rassistischen und religiösen Hasses durch die Mehrheit der Gesellschaft. Die Erfahrung, dass der Staat sie mit den Mitteln des Strafrechts schützt, spende den Opfern von Hassrede Trost. Wenig spreche dafür, dass die staatliche Ablehnung einer Meinung deren Attraktivität und Überzeugungskraft steigere. Der Holocaust sei kein Beleg dafür, dass Gesetze gegen die Hassrede partout unwirksam seien. Sowohl Westdeutschland als auch die internationale Gemeinschaft hätten auf den Holocaust nicht durch die Abschaffung des Verbots der Hassrede reagiert, sondern die entsprechenden Verbote noch verschärft. Ausführlich prüft das Urteil die Erforderlichkeit des Eingriffs. Mit den Mitteln der verfassungskonformen Auslegung entkräftet das Gericht zunächst Vorwürfe, das Gesetz sei overbroad, weil es sich nicht auf hate propaganda im engeren Sinne beschränke. Die Vorschrift verlange entweder den direkten Vorsatz, zum Hass anzustacheln oder das Wissen des Täters um einen solchen Effekt. Unter „Hass“ sei nicht jede Form der Abneigung zu verstehen, sondern nur „the most severe and deeply-felt form of opprobrium“ 824. Volksverhetzenden Äußerungen billigt das Urteil insgesamt nur geringe Schutzwürdigkeit zu. Zwar verbanne Section 319 (2) gezielt bestimmte Ansichten aus dem politischen Prozess. Dennoch handele es sich nicht um einen eher oberflächlichen Eingriff in die Äußerungsfreiheit, der zur Erreichung eines Ziels von besonders hohem Stellenwert gerechtfertigt sei.
822 R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 764; kritisch insb. Heinrichs, 36 Alberta L. Rev. 835 (1998). 823 R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 768. 824 R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 786.
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3. Sondervotum Dieses Ergebnis war innerhalb des kanadischen Supreme Court heftig umstritten. In ihrem von der Rechtsprechung zum First Amendment inspirierten Sondervotum825 bekennt sich Richterin McLachlin für die drei dissenter zunächst zu dem Ideal eines Marktplatzes der Ideen, das einen auf Wahrheit und Vielfalt ausgerichteten Diskurs ermögliche.826 Diesen Ansatz kombiniert sie mit weiteren instrumentalen und libertären Rechtfertigungen der Äußerungsfreiheit und qualifiziert Section 319 (2) als inhaltsbezogenen Eingriff in die Äußerungsfreiheit.827 Dieser Eingriff verfolge zwar – auch völkerrechtlich bedeutsame – legitime Ziele.828 Allerdings habe der kanadische Staat mit Einführung der Section 319 (2) kein geeignetes Mittel gewählt, um diese Ziele zu erreichen. Entgegen dem Mehrheitsvotum vertritt McLachlin die Ansicht, die strafrechtliche Verfolgung verschaffe den Hassrednern eher öffentliche Sympathie als gesellschaftliche Ächtung. Hassredner ließen sich – auch historisch betrachtet – nicht mit den Mitteln des Strafrechts zum Schweigen bringen. Vielmehr sei zu befürchten, dass Section 319 (2) der Hassrede ein bisher ungeahntes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit verschaffe und daher kontraproduktiv wirke. Berücksichtige man zugleich die bei einem strafrechtlichen Verbot bestimmter Äußerungen gesteigerte Gefahr eines chilling effect, erweise sich Section 319 (2) als zur Bekämpfung der Hassrede insgesamt ungeeignet.829 Darüber hinaus halte diese Vorschrift auch dem minimum impairment test, der Erforderlichkeitsprüfung, nicht stand. Section 319 (2) sei unbestimmt und overbroad und könne insbesondere nicht in der von der Mehrheit befürworteten Weise verfassungskonform ausgelegt werden. Die Norm drohe in weitem Umfang auch legitime politische Rede verstummen zu lassen.830 Insgesamt erweise sich Section 319 (2) daher als unverhältnismäßiger Eingriff in Section 2 (b) der Charter: „It is far from clear that the legislation does not promote the cause of hate-mongering extremists and hinder the possibility of voluntary amendment of conduct more than it discourages the spread of hate propaganda. Accepting the importance to our 825 Nach Form, Aufbau, Inhalt und Umfang handelt es sich bei diesem Sondervotum um eine majority opinion. Dies legt die Vermutung nahe, dass das Ergebnis in diesem Fall in besonderem Maße zwischen den Richtern des kanadischen Supreme Court umstritten war. 826 R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 803 (McLachlin, J., dissenting). 827 R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 817, 826–842 (McLachlin, J., dissenting) (unter ausführlicher Ablehnung einer Schutzbereichsbeschränkung). 828 R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 846–848 (McLachlin, J., dissenting). 829 R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 851–854 (McLachlin, J., dissenting) („Certainly it cannot be said that there is a strong and evident connection between the criminalization of hate propaganda and its suppression.“) 830 R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 860 (McLachlin, J., dissenting).
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society of the goals of social harmony and individual dignity, of multiculturalism and equality, it remains difficult to see how s. 319(2) fosters them. In my opinion, the result is clear. Any questionable benefit of the legislation is outweighed by the significant infringement on the constitutional guarantee of free expression effected by s. 319(2) of the Criminal Code.“ 831
Der Dissens innerhalb des Gerichts betraf also nicht die Feinheiten der Rechtfertigungsprüfung. Er war grundsätzlicher Natur.832 4. Analyse: Vorrechtliche Prämissen und juristische Begründungswege Der kanadische oberste Gerichtshof hat sich nicht auf eine formelhafte und schematische Begründung beschränkt. Sowohl das Mehrheits- als auch das Sondervotum legen die vorrechtlichen und die juristischen Erwägungen offen, auf denen ihre Auffassungen beruhen. a) Vorrechtliche und juristische Prämissen des Mehrheitsvotums Dem Mehrheitsvotum liegt eine Reihe vorrechtlicher Prämissen zugrunde. Danach ist Funktions- und Leistungsfähigkeit des Marktplatzes der Ideen zweifelhaft, ebenso ist unsicher, ob sich das Wahre und Vernünftige im Wettbewerb der Ideen überhaupt und, wenn ja, rechtzeitig durchsetzt.833 Hassrede verursacht unabhängig davon erhebliche individuelle und gesellschaftliche Schäden. Sie verletzt nicht nur das Selbstwert- und Selbstachtungsgefühl der Betroffenen, sie isoliert die betroffenen Bevölkerungsgruppen und vertreibt sie aus dem gesellschaftlichen Dialog und erzielt damit antidemokratische Effekte.834 Strafrechtliche Verbote solcher Äußerungen sind grundsätzlich ein probates Mittel, diese Schäden zu verhindern. Dies gilt umso mehr, als nicht jeder Eingriff in die Äußerungsfreiheit per se antidemokratisch ist. Vielmehr kann der demokratische Prozess gefördert werden, in dem bestimmte demokratiefeindliche oder den demokratischen Prozess gefährdende Äußerungen verboten werden. Dabei ist es möglich, zwischen legitimer und illegitimer politischer Rede trennscharf zu unterscheiden. Unzulässige Hassrede kann von zulässigen, „nur“ provokativen und schockierenden Inhalten getrennt werden. Diese Trennlinie ist hinreichend klar, sodass die Gefahr, legitime Beiträge zum Wettbewerb der Ideen durch ein Verbot 831
R. v. Keegstra, [1990] 3 S.C.R. 697, 865 (McLachlin, J., dissenting). Der kanadische Supreme Court ist jedoch den in Keegstra eingeschlagenen Weg weitergegangen, vgl. R. v. Andrews, [1990] 3 S.C.R. 870; Human Rights Comm’n v. Taylor, [1990] 3 S.C.R. 892; R. v. Zündel, [1992] 2 S.C.R. 731. 833 Diesen Aspekt betont auch Moon, Constitutional Protection of Freedom of Expression, S. 133, 135 f. 834 Moon, Constitutional Protection of Freedom of Expression, S. 127, spricht vom „silencing argument“. 832
C. Ursachenforschung
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der Hassrede (unzulässigerweise) zu verhindern, auf ein hinnehmbares Maß beschränkt werden kann. Diese Prämissen münden in juristische Überlegungen. Die Schrankenklausel in Section 1 der Charter erlaubt ausdrücklich Grundrechtsbeschränkungen, die in einer „freien und demokratischen Gesellschaft“ gerechtfertigt sind. Section 1 steht damit einem isolierten, rein freiheitsbezogenen Verständnis der Äußerungsfreiheit entgegen. Die Norm verlangt eine Abwägung der Freiheitsrechte des Einzelnen mit konkurrierenden Individualbelangen und den Interessen einer freien und demokratischen Gesellschaft. Diese Interessen, besser: Werte der freien und demokratischen Gesellschaft lassen sich vor allem der kanadischen Grundrechtecharta, aber auch dem Völkerrecht entnehmen. Eine erste zentrale Wertvorstellung ergibt sich aus Section 15 der Charter, dem allgemeinen Gleichheitssatz. Noch konkreter ist Section 27 der Charter, die den ausdrücklichen Auftrag enthält, die Charter, und damit auch die Äußerungsfreiheit und ihre Schranken, im Sinne der Förderung und Bewahrung des multikulturellen Erbe Kanadas auszulegen. Dieser wertegebundene Auftrag wird bestätigt durch den internationalen Konsens, die Verbreitung von Hass, insbesondere von Rassismus und religiöser Intoleranz, zu bekämpfen. Die völkerrechtlichen Verpflichtungen, die Kanada insoweit eingegangen ist, sind ihrerseits Ausdruck der Werte und Prinzipien, die eine freie und demokratische Gesellschaft auszeichnen. Volksverhetzende Äußerungen stehen in direktem Widerspruch zu diesen Wertvorstellungen und sind daher verfassungsrechtlich nur eingeschränkt schutzwürdig. Diese Zusammenfassung zeigt, dass auch der kanadische Supreme Court, wie der EGMR, eine dezidiert inhaltsbezogene Bewertung volksverhetzender Äußerungen vornimmt835, zu der er sich aus den genannten Gründen berechtigt und verpflichtet sieht. b) Vorrechtliche und juristische Prämissen des Sondervotums Die vorrechtlichen Annahmen des Sondervotums stehen in direktem Widerspruch zu den Prämissen der Mehrheit: Zunächst teilt Richterin McLachlin nicht die Skepsis der Mehrheit gegenüber der Kraft des Marktplatzes der Ideen. Sie nimmt an, dass eine „staatliche Marktintervention“, wie Section 319 (2) sie darstellt, mehr schadet als nützt. Hassrede könne zwar zu erheblichen individuellen und gesellschaftlichen Schäden führen. Das staatliche Verbot solcher Äußerungen habe sich jedoch historisch als ineffektiv erwiesen. Verbiete der Staat eine bestimmte Äußerung, verschaffe er ihr nur eine gesteigerte Öffentlichkeit. Da eine Trennung zwischen legitimer politischer Rede und unzulässiger Hassrede nicht hinreichend trennscharf vorgenommen werden könne, erfasse ein Verbot der Hassrede auch wichtige und wertvolle Beiträge zum Wettbewerb der Idee 835
So auch Beckton, in: Beaudoin/Mendes, S. 5–22.
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4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung
oder verhindere sie durch den mit jedem (strafrechtlichen) Verbot verbundenen chilling effect. Damit verliere der demokratische Prozess mehr als er durch das Verbot einiger extremer Äußerungen gewinne. Diese Prämissen wirken sich unmittelbar auf die Auslegung der Äußerungsfreiheit aus. Das Sondervotum greift die Aspekte der Gleichheit und des Multikulturalismus sowie die völkerrechtlichen Verpflichtungen Kanadas nicht im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung auf, sondern handelt sie auf Schutzbereichsebene ab. Geprüft und verneint wird nur, ob volksverhetzende Äußerungen aus diesen Gründen der Schutz der Äußerungsfreiheit per se zu versagen ist. Die Rechtfertigungsprüfung konzentriert sich auf Fragen der overbreadth, der Bestimmtheit und des chilling effect. Zu einer echten Abwägung zwischen der Äußerungsfreiheit und „Gegeninteressen“ kommt es nicht. Wurden im Votum der Mehrheit die Parallelen zur Argumentationsweise des EGMR deutlich, gilt entsprechendes für das Sondervotum und die Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court.
II. Keegstra als analytisches Raster: Die unterschiedlichen vorrechtlichen Prämissen und juristischen Begründungswege Der kanadische Gerichtshof hat in Keegstra seine vorrechtlichen Prämissen und juristischen Argumente, die seine Entscheidung tragen, ebenso transparent wie detailliert geschildert.836 Diese Sorgfalt ermöglicht es, die Entscheidung als analytisches Raster heranzuziehen, um mögliche Ursachen der transatlantischen Unterschiede zu ermitteln. 1. Vorrechtliche Annahmen: Übereinstimmungen und Unterschiede Die vorrechtlichen Prämissen, die dem Mehrheitsvotum in Keegstra zugrunde liegen, werden in Europa, nicht aber in den USA geteilt. Aus US-amerikanischer Perspektive erscheinen, wie bereits angedeutet, die Annahmen des Sondervotums überzeugender. Zahlreiche, wenn nicht alle europäische Staaten haben der kanadischen Section 319 (2) entsprechende Volksverhetzungstatbestände in ihre Rechtsordnung aufgenommen. Wie der kanadische Gesetzgeber wollten sich auch die Mitgliedstaaten der EMRK nicht auf das gesellschaftliche Experiment von Oliver Wendell Holmes einlassen und den öffentlichen Diskurs dem freien Spiel von Rede und Gegenrede überlassen. Auch sie hielten strafrechtliche Verbote der Hassrede offenbar für geeignete Mittel, um Hassredner zum Schweigen zu bringen. Die beinahe unzähligen, im dritten Kapitel dokumentierten Bemühungen der diversen 836
So auch Kübler, AöR 125 (2000), 109 (118 f.) („ungemein sorgfältig“).
C. Ursachenforschung
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Foren europäischer Zusammenarbeit, volksverhetzende Propaganda flächendeckend gerade mit den Mitteln des Strafrechts zu bekämpfen, verdeutlichen die gemeinsame europäische Überzeugung, dass der individuelle und kollektive Schaden solcher Äußerungen ein staatliches Einschreiten, auch zum Schutze der Demokratie, erfordert. Schließlich trauen die europäischen Verfassungsgerichte und der EGMR den europäischen Gesetzgebern zu, säuberlich und fair zwischen legitimen und illegitimen Beiträgen zum Wettbewerb der Ideen zu trennen. Ein vergleichbar hohes Maß an Übereinstimmung besteht, vice versa, zwischen dem amerikanischen Verständnis der Äußerungsfreiheit und den Prämissen des Sondervotums der Richterin McLachlin. Das Vertrauen der Vereinigten Staaten, nicht nur des Supreme Court, in den unregulierten Marktplatz der Ideen ist ungebrochen.837 Das damit verbundene Misstrauen gegenüber staatlichen Eingriffen in den Ideenwettbewerb838 ist derart ausgeprägt, dass staatliche Verbote der Hassrede trotz der auch in den USA nicht geleugneten Schäden und Gefahren, keine Mehrheit finden konnten. Vor diesem Hintergrund erscheint die auch von Richterin McLachlin abgelehnte Trennung zwischen legitimen und illegitimen Inhalten als systemwidrig und zum Scheitern verurteilt. 2. Grundrechtsprüfung: Parallelen und Kontraste Die Parallelen zwischen europäischem Ansatz und dem Mehrheitsvotum in Keegstra sowie dem amerikanischen Ansatz und dem Sondervotum setzen sich auch im Rahmen der konkreten Grundrechtsprüfung, also jenseits vorrechtlicher Überlegungen, fort. Die Schrankenklausel in Section 1 der kanadischen Charter of Rights and Freedoms erlaubt solche Eingriffe, die in einer „freien und demokratischen Gesellschaft“ gerechtfertigt sind. Zentrales Rechtfertigungskriterium im Rahmen von Art. 10 Abs. 2 EMRK ist die Notwendigkeit des Eingriffs „in einer demokratischen Gesellschaft“. Eine entsprechende Schrankenklausel findet sich in der amerikanischen Bill of Rights nicht. Die Abwägung zwischen kollidierenden Rechtsgütern ist also in der kanadischen Charter ebenso angelegt wie in der EMRK, während sich ein vergleichbarer „Abwägungsauftrag“ in der amerikanischen Verfassung und ihren Zusatzartikeln nicht findet. Kanadische Grundrechtscharta und EMRK teilen zudem das normative Bekenntnis zu grundlegenden Wertvorstellungen, die diese Abwägung prägen. Die Charter bekennt sich in der bereits angesprochenen Section 1, wie die EMRK, zu den Wertvorstellungen der freien und demokratischen Gesellschaft. Section 15
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Dies betont auch Brugger, AöR 128 (2003), 372 (394). So auch Brugger, AöR 128 (2003), 372 (394); Rosenfeld, 24 Cardozo L. Rev. 1523, 1530 (2003). 838
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4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung
normiert einen allgemeinen Gleichheitssatz, der sich, wenngleich in abgeschwächter Form, auch in Art. 14 EMRK findet. Section 27 der Charter enthält die „Anweisung“, diese – und damit auch die Schrankenklausel in Section 1 sowie die Äußerungsfreiheit nach Section 2 (b) – im Sinne der Förderung und Bewahrung einer multikulturellen Gesellschaft auszulegen. Der EGMR nennt seinerseits Pluralismus, Toleranz und einen Geist der Offenheit als zentrale Charakteristika der demokratischen Gesellschaft. Art. 17 EMRK verleiht diesen Wertvorstellungen „Biss“. Die Präambel zur EMRK spricht von einer „wahrhaft demokratischen politischen Ordnung“ und nimmt auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sowie das gemeinsame Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit Bezug. Demgegenüber schweigt die amerikanische Verfassung und mit ihr die Bill of Rights als „rein liberales“ Dokument zu den ihr zugrunde liegenden Wertvorstellungen. Der Gleichheitssatz des 14. Verfassungszusatzes wird nicht zur Auslegung anderer Grundrechte herangezogen.839 Der in Kanada und nach der EMRK somit von politischen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen geprägte Prozess der Abwägung legitimiert und verlangt eine inhaltsbezogene Vorgehensweise, die nicht nur fragt, ob eine Äußerung im weitesten Sinne politisch ist, sondern darüber hinaus deren Inhalt auf Übereinstimmung mit den Werten, die dem jeweiligen Grundrechtskatalog zugrunde liegen, überprüft. Einen dieser „Bewertungsgrundlage“ vergleichbaren „politischen Kompass“ enthält die amerikanische Verfassung in der Auslegung durch den Supreme Court nicht. Sowohl in der Rechtsprechung des kanadischen obersten Gerichtshofs als auch in der Praxis des EGMR spielen die völkerrechtlichen Verpflichtungen Kanadas bzw. der Mitgliedstaaten eine wesentliche Rolle. Für Chief Justice Brian Dickson als Autor des Mehrheitsvotums sind die völkerrechtlichen Verpflichtungen Kanadas Ausdruck der Werte einer freien Gesellschaft, auf denen auch die kanadische Grundrechtecharta basiert. Der EGMR greift seinerseits im Rahmen der Konventionsauslegung auf einschlägige völkerrechtliche Dokumente zurück und orientiert seine Rechtsprechung an den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten. In den Vereinigten Staaten wird um die Bedeutung des Völkerrechts – ebenso wie um die Bedeutung der Verfassungsrechtsvergleichung – für die Verfassungsauslegung erbittert gestritten.840 Unabhängig davon entfalten die völker839
Kritisch hierzu mit Blick auf R.A.V., Tsesis, 7 Va. J. L. & Tech. 5, Nr. 39 (2002). Vgl. aus der Rechtsprechung des Supreme Court Roper v. Simmons, 543 U.S. 551 (2005); Lawrence v. Texas 539 U.S. 558 (2003); Atkins v. Virgina, 536 U.S. 304 (2002); aus dem nahezu unüberschaubaren Schrifttum Aleinikoff, 98 Am. J. Int’l L. 91 (2004); Alford, 98 Am. J. Int’l L. 57 (2004); Bader Ginsburg, EuGRZ 2005, 341 ff.; Calabresi, 65 Ohio St. L. J. 1097 (2004); Easterbrook, 30 Harv. J. L. & Pub. Pol’y 223 (2006); Gray, 59 Stan. L. Rev. 1249 (2007); Koh, 98 Am. J. Int’l L. 43 (2004); Levinson, 39 Tx. Int’l L. J. 353 (2004); Neuman, 98 Am. J. Int’l L. 82 (2004); Ramsey, 98 Am. J. Int’l L. 840
C. Ursachenforschung
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rechtlichen Normen, auf die der kanadische oberste Gerichtshof maßgeblich abstellt (Art. 20 IPBPR und Art. 4 IÜBR), wie gezeigt,841 gegenüber den Vereinigten Staaten wegen der insoweit erklärten Vorbehalte keine bzw. nur eingeschränkte Wirkung und wären daher vom Gebot einer völkerrechtsfreundlichen Verfassungsauslegung ohnehin nicht erfasst.842 3. Gemeinsamkeiten und Unterschiede Kanada – EMRK – USA: Tabellarischer Überblick Die Übereinstimmungen zwischen dem europäischem und dem kanadischen Ansatz zeigen sich bei jeder der in Keegstra vorgenommenen Weichenstellungen, zugleich werden die Unterschiede zum amerikanischen Ansatz deutlich. Das Sondervotum der Richterin McLachlin, die auf der Grundlage des gleichen normativen Befunds zu einem dem amerikanischen Ansatz entsprechenden Ergebnis kommt, zeigt jedoch, dass das Ergebnis von Chief Justice Dickson nicht zwingend durch den Wortlaut des Verfassung bzw. der Grundrechte vorgegeben war. Die nachfolgende Tabelle843 bietet einen zusammenfassenden Überblick über Übereinstimmungen und Unterschiede. Kanada844
EMRK
USA
Vorrechtliche Prämissen Marktplatz der Ideen Nein ist überwiegend funktions- und leistungsfähig, auf mittlere bis lange Sicht setzen sich Wahrheit und Vernunft im Kampf der Ideen stets durch; Gegenrede als probates Mittel Hassrede richtet erhebliche gesellschaftliche und individuelle Schäden an und erzeugt antidemokratische Effekte
Ja
Nein
Ja
Ja
Ja, aber für die Rechtsprechung des Supreme Court irrelevant.
69 (2004); McGinnis/Somin, 59 Stan. L. Rev. 1175 (2007); zu dieser Diskussion auch Rensmann, Wertordnung und Verfassung, S. 257, 259 (einschl. Fn. 91); grundsätzlich zur Verfassungsinterpretation Herdegen, JZ 2004, 873 (878 f.). 841 Siehe oben, Drittes Kapitel, A. II. 1. (S. 194 f.). 842 Zur Frage nach Ursache und Wirkung sogleich. 843 „Ja“ bedeutet Zustimmung zu der jeweiligen Aussage, „Nein“ deren Ablehnung. 844 Grundlage ist das Mehrheitsvotum in Keegstra.
238
4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung Kanada844
EMRK
USA
Vorrechtliche Prämissen Ja Strafrechtliche Verbote der Hassrede sind ein grundsätzlich geeignetes Mittel zu Vermeidung dieser Schäden
Ja
Nein
Nicht jeder Eingriff in Ja den Wettbewerb der Ideen ist eine „demokratische Sünde“
Ja
Nein, jeder staatliche Eingriff in den Wettbewerb der Ideen verfälscht den demokratischen Prozess
Ja Zwischen zulässigen und unzulässigen politischen Äußerungen kann auch im Fall der Hassrede hinreichend trennscharf und vorhersehbar unterschieden werden
Ja
Nein
Ja Bei der Regulierung von Hassrede kann die Gefahr eines chilling effect und einer schleichenden Aushöhlung der Äußerungsfreiheit vermieden („slippery slope“) bzw. auf ein hinnehmbares Maß reduziert werden
Ja
Nein
Juristische Begründungswege Schrankenklausel
Ja, Section 1 der Charter of Fundamental Rights and Freedoms.
Ja, Art. 10 Abs. 2 EMRK
Keine ausdrückliche Schrankenklausel
Abwägungsauftrag
Ja, Section 1 der Charter of Fundamental Rights and Freedoms
Ja, Art. 10 Abs. 2 EMRK
Nein, zumindest nicht ausdrücklich
Ausdrückliche Bezugnahme auf Ideale und Werte der demokratischen Gesellschaft
Ja, Section 1 der Charter of Fundamental Rights and Freedoms erlaubt Grundrechtseingriffe, die in einer „freien und demokratischen Gesellschaft“ notwendig sind.
Keine ausdrückliche Ja, Art. 10 Abs. 2 EMRK lässt nur sol- Schrankenklausel che Eingriffe zu, die in einer „demokratischen Gesellschaft“ notwendig sind.
C. Ursachenforschung Kanada844
239
EMRK
USA
Vorrechtliche Prämissen Nein Ja, „demokratische Gesellschaft“ i. S. v. Art. 10 Abs. 2 EMRK zeichnet sich durch „Pluralismus, Toleranz und Geist der Offenheit“ aus; Art. 17 EMRK verbietet u. a. den Gebrauch von Art. 10 EMRK, der diesen Grundwerten zuwiderläuft; Präambel.
Bekenntnis zu bestimmten Wertvorstellungen als Auslegungsmaximen
Ja, Section 15 (Gleichheit) und insb. Section 27 (Multikulturalität) der Charter of Fundamental Rights and Freedoms
Missbrauchsverbot
Kein ausdrückliches Ja, Art. 17 EMRK Missbrauchsverbot, aber Offenheit gegenüber dem Gedanken, dass „demokratische Rechte“ wie die Äußerungsfreiheit in einem für die Demokratie schädlichen und damit minder schutzwürdigen Maße gebraucht werden können.
Nein, Missbrauchsgedanke spielt auch i. Ü. keine auslegungsleitende oder -beeinflussende Rolle
Außerdem: „Inkorporation“ völkerrechtlicher Missbrauchsverbote Relevanz völkerrecht- Ja, zur Ermittlung der Ja, zur Konkretisielicher Dokumente auslegungsrelevanten rung von Art. 10 EMRK im völkerWertvorstellungen rechtlichen Kontext
Nicht ausdrücklich zur Auslegung des First Amendment herangezogen; allerdings: Die in Kanada und Europa zur Auslegung herangezogenen Verträge binden die USA wg. Vorbehalten nur eingeschränkt und in nicht vergleichbarer Weise
Ja Inhaltsbezogenheit verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig
Nein
Ja
240
4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung
III. Versuch einer juristischen Erklärung Wie lassen sich die juristischen Faktoren der geschilderten transatlantische Divergenz vor dem Hintergrund der Keegstra-Entscheidung des kanadischen obersten Gerichtshofs erklären? Ein Versuch: 1. Wortlautbedingte Abwägungsoffenheit und Werteorientierung der EMRK Unterschiede zwischen den europäischen und amerikanischen Gewährleistungen der Äußerungsfreiheit – und damit eine erste denkbare Ursache der transatlantischen Divergenz – bestehen zunächst beim Wortlaut. Während Art. 10 EMRK in seinem Abs. 2 ausdrücklich Schranken (und Schranken-Schranken) der Äußerungsfreiheit benennt und dem Staat die Möglichkeit zum Eingriff einräumt, ist das First Amendment dem Wortlaut nach ein schrankenloses Freiheitsrecht. Allerdings hat sich ein absolutes Verständnis des First Amendment im Supreme Court nie durchgesetzt. Auch in anderen Zusammenhängen ist der Supreme Court einem wortlautgetreuen Verständnis des First Amendment nicht gefolgt. So hat er etwa dessen Geltung nicht nur gegenüber dem im Text einzig genannten Kongress, sondern auch gegenüber der Exekutive und der Judikative bejaht. Das Fehlen einer Schrankenklausel mag zu einem gewissen Grad die generelle Skepsis des Supreme Court gegenüber Einschränkungen der Äußerungsfreiheit erklären845 – mehr jedoch nicht. Allerdings enthält Art. 10 Abs. 2 EMRK eine doppelte Aussage. Dieser Absatz stellt zunächst klar, dass die EMRK die Äußerungsfreiheit nicht ohne Einschränkungen schützt. Zugleich bestimmt Art. 10 Abs. 2 EMRK aus welchen Gründen und in welchem Maße solche Einschränkungen gerechtfertigt sein können. Dabei nennt die Aufzählung der legitimen Ziele zunächst Individual- und Kollektivinteressen, die im Einzelfall der Äußerungsfreiheit vorgehen können. Womöglich noch bedeutsamer ist jedoch der Bezug zur „demokratischen Gesellschaft“ als Schranken-Schranke. Die durch Art. 10 Abs. 2 EMRK geforderte und legitimierte Abwägung verlangt einen wertorientierten Interessenausgleich, eine Gewichtung widerstreitender Interessen im Kontext einer demokratischen Gesellschaft und damit unter Berücksichtigung der Wertvorstellungen, die der Konvention zugrunde liegen (underlying values). Der Wortlaut der Schrankenklausel des Art. 10 Abs. 2 EMRK öffnet der wert- und damit inhaltsbezogenen Vorgehensweise des EGMR die Tür.
845 Krotoszynski, S. 216 („The unqualified protection of a right seems to embolden courts to interpret the right more broadly than does qualified language.“); Schauer, The Exceptional First Amendment, S. 20 („[I)t is potentially important that the language itself remains so stark.“).
C. Ursachenforschung
241
Diese Tür wird weit aufgestoßen durch das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK. Dessen Wortlaut zwingt zur Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Formen des Freiheitsgebrauchs. Ist nach dem Wortlaut des First Amendment davon auszugehen, dass jede Äußerung zunächst eine zulässige Teilnahme am Wettbewerb der Ideen bedeutet, stellt Art. 17 EMRK den Schutz des Art. 10 EMRK a priori unter die Bedingung, dass die Ziele des Redners „konventionskompatibel“ sind. Tätigkeiten und Handlungen, die darauf „abzielen“, die Rechte und Freiheiten der Konvention abzuschaffen, ist der Schutz der EMRK zu verweigern. Auch Art. 17 EMRK erfordert, wie schon Art. 10 Abs. 2 EMRK, eine inhaltliche Analyse von Äußerungen. Ob sie auf die Abschaffung der Rechte und Freiheiten der EMRK abzielen, lässt sich im doppelten Wortsinn nur durch eine „Bewertung“ ihres Inhalts ermitteln. Art. 17 EMRK, der in der amerikanischen Bill of Rights keine Entsprechung findet846, trägt auf diesem Wege maßgeblich zur Legitimation der inhalts- und wertebezogenen Vorgehensweise des EGMR bei. Ein caveat gilt: Art. 10 Abs. 2 und Art. 17 EMRK erklären und rechtfertigen die Vorgehensweise des EGMR. Dies bedeutet nicht, dass sie die Ergebnisse vorherbestimmen, zu denen der Straßburger Gerichtshof durch diese Vorgehensweise gelangt. Abwägungsprozesse und Missbrauchsprüfungen, so wertgebunden sie sein mögen, sind flexibel. Geringe Akzentverschiebungen können zu entgegengesetzten Ergebnissen führen. Denkbar wäre etwa, weniger gefahrenneutral zu verfahren. Auch ein restriktiveres Verständnis von Art. 17 EMRK, das nicht nur die Absicht des Missbrauchs, sondern auch die reale Gefährdung der Rechte und Freiheiten der Konvention erfordert, wäre mit dem Wortlaut der Norm vereinbar. Ebenso könnte Art. 10 Abs. 2 EMRK strenger zugunsten der Äußerungsfreiheit ausgelegt werden, ohne dass dadurch das grundsätzliche Bekenntnis der Konvention zu den Werten des Pluralismus und von Gleichheit, Toleranz und Offenheit in Frage gestellt würde. Als Beleg hierfür dient das Sondervotum der Richterin McLachlin in Keegstra. Auf der Grundlage eines mit der EMRK in weitem Umfang vergleichbaren textlichen Befunds kam sie zu einem der First AmendmentRechtsprechung entsprechenden, den europäischen Ansatz ausdrücklich ablehnenden Ergebnis. Auch die Sondervoten des maltesischen Richters Bonello in zahlreichen „Türkei-Fällen“ zeigen, dass die vom EGMR verfolgte Linie nicht unausweichliche Konsequenz des Wortlauts der Konvention ist. Die Unterschiede im Wortlaut zwischen dem First Amendment, Teil einer „Verfassung ohne Wertordnung“ 847, und den Art. 10 und 17 EMRK erklären die verschiedenen Vorgehensweisen und damit, zum Teil – aber eben nur zum Teil – auch die abweichenden Ergebnisse. Die unterschiedliche textliche Ausgangslage ist von erheblicher, aber nicht vollständiger Erklärungskraft. 846 847
Defeis, 29 Stan. J. Int’l L. 57, 128 (1992). Begriff von Rensmann, Verfassung und Wertordnung, S. 245.
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4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung
2. Methodisch bedingte Unterschiede Bei der Auslegung von Art. 10 EMRK spielt das „normative Umfeld“ eine wichtige Rolle. Um das Wesen der demokratischen Gesellschaft aus Art. 10 Abs. 2 EMRK zu ermitteln, greift der EGMR auf die Präambel zurück, die Bedeutung des Gedankens der Gleichheit begründet er durch einen Verweis auf Art. 14 EMRK. Das Prinzip, dass sich die Feinde der Freiheit nur eingeschränkt auf Art. 10 EMRK berufen können, entnimmt er Art. 17 EMRK.848 Dieses Zusammenspiel der verschiedenen Konventionsnormen findet sich in der amerikanischen Verfassungsauslegung nicht. Der Supreme Court versteht die Bill of Rights nicht als ein „unitary document with interrelated rights“, sondern als eine nahezu zusammenhangslose Aufzählung einzelner Rechte.849 Die Metapher eines Marktplatzes der Ideen entspricht dieser Auslegungsmethodik in besonderer Weise. Sie bietet eine Matrix zur Überprüfung von Eingriffen in die Äußerungsfreiheit, die nahezu ausschließlich auf die Auswirkungen dieser Eingriffe auf die Freiheit der Rede selbst ausgerichtet ist.850 Auf der Suche nach einer Erklärung für diesen unterschiedlichen Auslegungsansatz gelangt man schnell zu dem hinlänglich bekannten Streit zwischen den Anhängern des originalism sowie des strict constructionism, und den Befürwortern einer living constitution.851 So liegt die Vermutung nahe, dass vor allem eine eng am Wortlaut und dem Willen der Autoren der Bill of Rights orientierte Auslegung, wie sie die „Originalists“ proklamieren, gegen die Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Umfelds spricht. Auf den zweiten Blick büßt diese Überlegung jedoch viel von ihrer Erklärungskraft ein. Zum einen verbietet der originalism nicht per se, „benachbarte“ Grundrechte und Verfassungsnormen bei der Auslegung auch des First Amendment zu berücksichtigen. Im Gegenteil: Auf diesem Wege könnte sogar eine Rückbindung an den Willen der „Verfassungsväter“ erreicht werden, schließlich haben sie das verfassungsrechtliche Umfeld des First Amendment selbst geschaffen. Zum anderen vertreten die Anhänger des Leitbilds einer living constiution keineswegs einen abwägungsfreundlicheren Auslegungsansatz. Richter William J. Brennan, einer der eloquentesten Vertreter
848 Defeis, 29 Stan. J. Int’l L. 57, 97 (1992) („Thus, through the interplay of the Convention provisions, speech rights may be limited by law for reasons stated in the Convention.“). 849 Defeis, 29 Stan. J. Int’l L. 57, 127 (1992). 850 Ähnlich Farrior, 14 Berkeley J. Int’l L. 3, 75 (1996). 851 Rensmann, Verfassung und Wertordnung, S. 247, spricht von einem Konflikt zwischen einem „positivistischen, den Wortlaut und den historischen Willen des Verfassungsgebers verabsolutierenden“ Ansatz, und einer „dynamisch-teleologischen Verfassungsexegese“. Aus der originalist school, siehe Calabresi (Hrsg.), Originalism: A Quarter-Century of Debate; Scalia, A Matter of Interpretation, S. 3 ff.; zur „Gegenthese“ Breyer, Active Liberty, S. 115 ff.
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einer dynamischen Verfassungsauslegung, galt nicht zu Unrecht als „Champion“ des First Amendment.852 Der Konflikt zwischen statischer und dynamischer Verfassungsinterpretation spielt für Auslegung und Anwendung des First Amendment durch den Supreme Court somit keine prägende Rolle. Es bleibt dabei, dass vor allem die Schrankenklausel in Art. 10 Abs. 2 EMRK die Tür zu einer wertegeprägten Abwägung öffnet, ohne eine Entsprechung in der amerikanischen Verfassung zu finden. 3. Grundrechtsdogmatische Unterschiede: Die Schutzpflichten Auch über das First Amendment hinaus unterscheidet sich die europäische Grundrechtsdogmatik erheblich von der amerikanischen. Dies gilt insbesondere für die Frage grundrechtlicher Schutzpflichten. Es ist anerkannt, dass die Rechte und Freiheiten der EMRK nicht nur als „negative Kompetenznormen“ 853 einen Bereich individueller Freiheit vor staatlichen Eingriffen schützen, sondern dem Staat auch Schutz- bzw. Gewährleistungspflichten (positive obligations) auferlegen, ihn also zu positivem Tun verpflichten.854 Dies führt insbesondere in dreipoligen Grundrechtsverhältnissen zu Kollisionen zwischen Abwehrrechten und Schutzpflichten, die im Rahmen der Grundrechtsauslegung und -anwendung aufgelöst werden müssen. Diese Kollisionen treten auch in Fällen der Hassrede auf: Der Redner verlangt, gestützt auf Art. 10 EMRK, dass der Staat ihn gewähren lässt. Zumindest der von der volksverhetzenden Äußerung unmittelbar Betroffene, das Opfer, macht, gestützt etwa auf Art. 8 EMRK, einen „konventionsrechtlichen Anspruch“ gegen denselben Staat geltend, vor derartigen Angriffen auf Würde und Ansehen geschützt zu werden.855 Die Schutzpflicht aus Art. 8 EMRK, der auch den sozialen Achtungsanspruch schützt, treibt den konventionsgebundenen Staat nachgerade an, zugunsten des von einer volksverhetzenden Äußerung Betroffenen in den Wettbewerb der Ideen einzugreifen. Diese Schutzpflicht ist übrigens bereits im Wortlaut von Art. 10 Abs. EMRK vorsichtig angedeutet. Dort sind Eingriffe zugunsten der Rechte und des Ansehens Dritter ausdrücklich vorgesehen.
852 Brennan ist der Autor solch berühmter First Amendment-Entscheidungen wie New York Times v. Sullivan 376 U.S. 254 (1964), Texas v. Johnson 491 U.S. 397 (1989) und U.S. v. Eichman 496 U.S. 310 (1990). 853 Begriff von Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnr. 290. 854 Dazu Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 19 Rdnr. 1 ff.; Krieger, in: Grote/Marauhn, Kap. 6 Rdnr. 21 ff.; zu Art. 8 EMRK Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 8 Rdnr. 2 ff.; zur Schutzpflichtendogmatik in anderen europäischen Staaten siehe Rensmann, Verfassung und Wertordnung, S. 171 ff. 855 Der EGMR hat Art. 8 EMRK eine Reihe von „Persönlichkeitsrechten“ entnommen, etwa das Recht auf einen Namen, das Recht am eigenen Bild und das Recht auf sexuelle Identität, vgl. die Aufstellung bei Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 8 Rdnr. 5a ff.
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4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung
Wenngleich die im ersten Kapitel geschilderte Rechtsprechung des EGMR nicht ausdrücklich auf den Schutzpflichtgedanken eingegangen ist, prägen die aus Art. 8 EMRK folgenden Schutzpflichten die Auslegung von Art. 10 EMRK. Prägnantes Beispiel ist die im Jahre 2004 gegen Deutschland ergangene Entscheidung im Fall von Hannover.856 Caroline von Hannover – besser bekannt als Caroline von Monaco – machte geltend, der deutsche Staat habe sie nicht hinreichend vor fotografischen Eingriffen Dritter in ihre Persönlichkeitsrechte geschützt und damit gegen seine Schutzpflichten aus Art. 8 EMRK verstoßen. Der EGMR folgte dieser Argumentation.857 Im Rahmen einer Abwägung zwischen den durch Art. 8 EMRK geschützten Persönlichkeitsinteressen und den Rechten der Presse aus Art. 10 EMRK gab er dem Persönlichkeitsschutz den Vorzug und stellte eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest. Hält man sich vor Augen, wie gering der EGMR den Schutz volksverhetzender Äußerungen durch Art. 10 EMRK bemisst und wie ernst er demgegenüber die mit solchen Äußerungen verbundenen Persönlichkeitsbeeinträchtigungen nimmt, wird deutlich, dass der Staat, der nicht (vorbeugend) gegen Hassrede vorgeht, damit rechnen muss, sich eines Verstoßes gegen die aus Art. 8 EMRK folgenden Schutzpflichten „schuldig“ zu machen. Der Supreme Court muss sich mit solchen doppelt grundrechtlich geprägten Situationen nicht auseinandersetzen. In einer viel beachteten Entscheidung aus dem Jahre 1989 hat er grundrechtliche Schutz- und Leistungspflichten kategorisch ausgeschlossen.858 Diesen Ausschluss hat er vor nicht langer Zeit bekräf856 Vgl. bspw. EGMR, Urt. v. 24.6.2004, von Hannover, RJD 2004-VI=NJW 2004, 2674 (dort insb. in § 50 auch zum Recht am eigenen Bild); siehe hierzu insb. Grabenwarter, AfP 2004, 309; sowie Frowein, EuGRZ 2008, 117 (119 f.). 857 Vgl. insb. die allgemeine Aussagen in § 57 der Entscheidung („The Court reiterates that, although the object of Article 8 is essentially that of protecting the individual against arbitrary interference by the public authorities, it does not merely compel the State to abstain from such interference: in addition to this primarily negative undertaking, there may be positive obligations inherent in an effective respect for private or family life. These obligations may involve the adoption of measures designed to secure respect for private life even in the sphere of the relations of individuals between themselves.“). 858 DeShaney v. Winnebago Dep’t of Social Services, 489 U.S. 189 (1989) (Gegenstand der Entscheidung war der Staatshaftungsanspruch eines minderjährigen Jungen, Joshua DeShaney, den die Behörden in der Obhut seines bekanntermaßen gewalttätigen Vaters belassen hatten und der schwere geistige Behinderungen davongetragen hatte. Der Supreme Court bestätigte dennoch die Abweisung der Klage: „[N]othing in the language of the Due Process Clause itself requires the State to protect the life, liberty, and property of its citizens against invasion by private actors. The Clause is phrased as a limitation on the State’s power to act, not as a guarantee of certain minimal levels of safety and security. It forbids the State itself to deprive individuals of life, liberty, or property without ,due process of law‘, but its language cannot fairly be extended to impose an affirmative obligation on the State to ensure that those interests do not come to harm through other means. [. . .] Consistent with these principles, our cases have recognized that the Due Process Clauses generally confers no affirmative right to govern-
C. Ursachenforschung
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tigt.859 Auch bei der Ratifikation des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte haben die Vereinigten Staaten ausdrücklich erklärt, sie hielten den Pakt für „non self-executing“. Dadurch sollte vermieden werden, dass sich aus Art. 2 Abs. 2 IPBPR860, der auch Legislativmaßnahmen vorsieht, gerichtlich einklagbare Ansprüche ergeben.861 Der Vorwurf, der Staat habe nicht genug zum Schutz der Rechte der Opfer von Hassrede und Gewaltaufrufen getan, kann mithin nach amerikanischem Verständnis nicht zu einer Grundrechtsverletzung führen und bleibt folglich auch bei der Auslegung des First Amendment außer Betracht. Versteht man die „grundrechtlichen Gewährleistungsdimensionen“ als Ausdruck eines wertorientierten Verfassungs- und Grundrechtsverständnisses862, zeigt sich auch an diesem Punkt der Einfluss der unterschiedlichen Wertorientierung der EMRK und der amerikanischen Verfassung. 4. Historisch bedingte Unterschiede Bei der Suche nach den Ursachen werden auch die unterschiedlichen historischen Erfahrungen in Europa und den Vereinigten Staaten betont. Einen Teil seimental aid, even where such aid may be necessary to secure life, liberty, or property interests of which the government itself may not deprive the individual.“ [489 U.S. at 195–196]; Richter Blackmun kritisierte das Ergebnis in einer abweichenden Meinung mit den ebenso berühmten wie bitteren Worten: „Poor Joshua! Victim of repeated attacks by an irresponsible, bullying, cowardly, and intemperate father, and abandoned by respondents who placed him in a dangerous predicament and who knew or learned what was going on, and yet did essentially nothing except, as the Court revealingly observes, ,dutifully recorded these incidents in [their] files.‘ It is a sad commentary upon American life, and constitutional principles – so full of late of patriotic fervor and proud proclamations about ,liberty and justice for all‘ – that this child, Joshua DeShaney, now is assigned to live out the remainder of his life profoundly retarded.“ [489 U.S. at 213]). 859 Town of Castle Rock, Colo. v. Gonzales, 545 U.S. 748 (2005). Rensmann, Verfassung und Wertordnung, S. 261 f., weist zu Recht darauf hin, dass sich die Ablehnung grundrechtlicher Schutz- und Leistungspflichtungen auch aus der Sorge um das bundesstaatliche (Kompetenz-)Gefüge („Federalism“) sowie der im amerikanischen Verfassungsrecht viel diskutierten „counter-majoritarian difficulty“ (Bickel, S. 16 ff.) ergibt. In dem Maße, in dem den Grundrechten der Bundesverfassung staatliche Handlungspflichten entnommen werden, wird der Gestaltungsspielraum der Bundesstaaten eingeschränkt. Gleiches gilt für den Gesetzgeber, den Schutzpflichten zu bestimmten Maßnahmen ungeachtet demokratischer Mehrheiten zwingen können. 860 Art. 2 Abs. 2 IPBPR lautet: „Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, im Einklang mit seinem verfassungsmäßigen Verfahren und mit den Bestimmungen dieses Paktes die erforderlichen Schritte zu unternehmen, um die gesetzgeberischen oder sonstigen Vorkehrungen zu treffen, die notwendig sind, um den in diesem Pakt anerkannten Rechten Wirksamkeit zu verleihen, soweit solche Vorkehrungen nicht bereits getroffen worden sind.“ 861 Hierzu Neuman, 14 Const. Comm. 33, 41–44 (1997); zur Wirksamkeit dieses Vorbehalts Fisler Damrosch, 67 Chi.-Kent L. Rev. 515, 527 (1991). 862 So Rensmann, Verfassung und Wertordnung, S. 278 ff.
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4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung
ner Erklärungskraft büßt dieser historische Ansatz bei näherem Hinsehen jedoch ein.863 Faschistische Gesellschaften, Rassismus als Staatsphilosophie, die Niederlagen der Demokratie gegenüber extremen Ideologien, der Nationalsozialismus, der Holocaust und die Konzentrationslager aber auch der totalitäre Kommunismus sind Phänomene, die in Europa, nicht in den Vereinigten Staaten Wirklichkeit wurden. Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde unmittelbar im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg verfasst. Die Erfahrung, dass Demokratien nicht in der Lage waren, sich gegen ihre Feinde durchzusetzen, dass die Privilegien der Demokratie missbraucht werden können, ist tief in der kollektiven Erinnerung Europas verankert. Nach Situationen, in denen die Kräfte der Gegenrede und der Vernunft versagt haben, in denen also das „gesellschaftliche Experiment“ eines von staatlicher Kontrolle freien Marktplatzes der Ideen gescheitert ist, muss man in der europäischen Geschichte nicht lange suchen. Höhnisch hat Goebbels es als einen der „besten Witze der Demokratie“ bezeichnet, „dass sie ihren Todfeinden die Mittel selber stellte, durch die sie vernichtet wurde.“ 864 Diese historischen Erfahrungen spiegeln sich auch im Text der EMRK. Dies gilt nicht nur für Art. 17 EMRK; die Konvention insgesamt wurde unter dem unmittelbaren Eindruck der Gräueltaten während des „Dritten Reichs“ geschaffen – und auch mit dem Ziel zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. Gleichwohl sollte die Erklärungskraft der historischen Unterschiede nicht überschätzt werden. Ein Blick auf das universelle Völkerrecht und in das außereuropäische Ausland zeigt, dass der von dem EGMR verfolgte Ansatz kein exklusiv europäisches Phänomen oder gar ein europäischer Sonderweg ist. Vielmehr beschreiten die Vereinigten Staaten einen Sonderweg, der weder auf anderen Kontinenten noch im Rahmen der völkerrechtlichen Zusammenarbeit nennenswerte Nachahmer gefunden hat.865 An diesen völkerrechtlichen Verträgen sind zahlreiche nicht-europäische Länder beteiligt. Mag man dagegen noch einwenden, dass diese Länder aus mannigfaltigen Gründen keine besonders einflussreiche völkerrechtliche Rolle gespielt haben, zeigt das Urteil des kanadischen Supreme Court im Fall Keegstra, dass die geschichtliche Erfahrung allein weder die europäische noch die amerikanische Haltung erklären kann. Dennoch sind die historischen Erfahrungen von erheblicher Bedeutung. Eines ihrer Ergebnisse ist das Konzept der „wehrhaften Demokratie“, dessen Ausdruck insbesondere Art. 17 EMRK ist. Auch die übrigen Bestimmungen der Konvention 863 Ebenso Kübler, 27 Hofstra L. Rev. 335, 356–357 (1998) („Explaining the contrast between the two systems by referring to history looks easy, but it does not appear very satisfactory.“). 864 Zitiert nach Bracher, S. 16. 865 Knechtle, 110 Penn St. L. Rev. 539, 542–543 (2006); für ein Beispiel siehe Liptak, IHT v. 11.06.2008.
C. Ursachenforschung
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sind zum Teil eine Konsequenz aus historischen Erfahrungen. Diese Erfahrungen dürften das Vertrauen in Verlässlichkeit und Wirkungskraft der Gegenrede erheblich geschwächt haben. Sie haben eine gesteigerte Sensibilität für das Risiko geschaffen, das die Demokratie eingeht, wenn sie bestimmten gesellschaftlichen und politischen Tendenzen im Vertrauen auf die Selbstheilungskraft der öffentlichen Debatte zunächst freien Lauf lässt. Die dafür nötige Gelassenheit, vielleicht auch das erforderliche demokratische Selbstvertrauen, haben sich nur die Vereinigten Staaten bewahrt.866 Wenngleich juristisch und empirisch schwer zu überprüfen oder nachzuweisen, dürfte hier die Ursache für die Gefahrenneutralität der Vorgehensweise des EGMR liegen. Wesentliches Merkmal der wehrhaften Demokratie ist, dass sie ihren erklärten Feinden bereits von Anfang an energisch entgegentritt und nicht abwartet, bis sich eine ernsthafte, konkrete Gefahr ergibt.867 5. Völkerrechtlich bedingte Unterschiede Die Übereinstimmung zwischen der Rechtsprechung des EGMR und ihrem völkerrechtlichen Umfeld ist augenfällig. Gleiches gilt für die beschriebene völkerrechtliche „Außenseiterposition“ der Vereinigten Staaten.868 Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass völkerrechtliche Impulse maßgeblich zum unterschiedlichen Umgang mit Hassrede und Gewaltaufrufen beigetragen haben. Jedoch dürfen Ursache und Wirkung nicht verwechselt werden. Die divergierenden völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten der EMRK auf der einen und der Vereinigten Staaten auf der anderen Seite sind nicht Ursache, sondern Konsequenz und Ausdruck der unterschiedlichen verfassungs- und grundrechtlichen Ausgangslage. Die USA haben sich völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Bekämpfung der Hassrede nicht bzw. nur in stark eingeschränktem Maße unterworfen, um einen Konflikt mit dem First Amendment zu vermeiden.869 Die regelmäßig von den völkerrechtlichen Verträgen geforderten Maßnahmen, etwa die Schaffung bestimmter Straftatbestände gegen Hassrede, hätten vor dem First Amendment keinen Bestand. Die unterschiedlichen Verpflichtungen haben weiterhin zur Konsequenz, dass auch eine völkerrechtskonforme Auslegung870 durch den Supreme Court „leer 866
Ähnlich Krotoszynski, S. 219. Vgl. die gefahrneutrale Formulierung von Art. 17 EMRK und Art. 18 u. 21 GG; siehe auch oben, Erstes Kapitel, D. (S. 64 ff.). 868 Zu Unrecht zweifelnd Alford, 106 Mich. L. Rev. 1071, 1080 (2008). 869 Siehe oben, Einleitung, D. II. (S. 39 f.). 870 Für das einfache Recht Murray v. The Charming Betsy, 2 Cranch 64, 118 (1804) („It has also been observed that an act of Congress ought never to be construed to violate the law of nations if any other possible construction remains“); Lauritzen v. Larsen, 345 U.S. 571, 578 (1953) m.w.Nachw.; vgl. auch § 114 des Restatement (Third) of 867
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4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung
laufen“ würde. Die völkerrechtlichen Vorbehalte der USA zielen gerade darauf ab, die Substanz des First Amendment zu bewahren und ein Auseinanderklaffen völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Verpflichtungen zu verhindern. Es fehlt mithin bereits an der Notwendigkeit einer völkerrechtsfreundlichen oder sogar völkerrechtskonformen Auslegung des First Amendment. Damit ist in den USA, anders als in Europa (und in Kanada), das Völkerrecht als Auslegungsfaktor im hier relevanten Zusammenhang „neutralisiert“. 6. Teleologisch bedingte Unterschiede Auch Unterschiede im theoretischen Fundament der jeweiligen Gewährleistungen der Äußerungsfreiheit könnten zur Erklärungen der konträren Ergebnisse beitragen. Allerdings teilen der EGMR und der Supreme Court, zumindest im Grundsatz, die theoretische Ausrichtung. Der Straßburger Gerichtshof kombiniert eine demokratisch-funktionale mit einer instrumentalen Komponente. Im Ergebnis ähnlich verfährt der Supreme Court, wenngleich er es bislang vermieden hat, sich zu einer bestimmten Theorie (oder Theorien) des First Amendment zu bekennen. Wie der EGMR misst auch er der politischen Rede besondere Bedeutung bei, was auf eine demokratisch-funktionale Sichtweise hindeutet. Zugleich stellt er – wie der EGMR – auch solche Inhalte, zum Beispiel kommerzielle Äußerungen (commercial speech), unter verfassungsrechtlichen Schutz, die nur mittelbar zum demokratischen Gelingen beitragen und daher eher unter libertären Gesichtspunkten zu rechtfertigen sind. EGMR und Supreme Court sind sich also über die Bedeutung der Äußerungsfreiheit für Staat und Bürger einig. Ein besonders eindrückliches Beispiel für diesen transatlantischen Konsens bietet die Rechtsprechung zum Schutz der freien Rede bei beleidigenden Äußerungen über Politiker. Die Entscheidungsgründe im vom EGMR entschiedenen Fall Lingens871 zeichnen das Urteil des Supreme Court im Fall New York Times v. Sullivan872 mitunter minutiös nach.873 Der Dissens betrifft somit nicht Sinn und Zweck der Äußerungsfreiheit, sondern den Weg, auf dem dieser Zweck erreicht werden kann. Der EGMR optiert für einen regulierten Wettbewerb der Ideen, an dem sich nur beteiligen darf, wer zuvor den demokratischen Grund- und Wertekonsens unterschreibt. Der Supreme Foreign Relations Law (1987) („Where fairly possible, a United States statute is to be construed so as not to conflict with international law or with an international agreement of the United States“); siehe auch Bradley, 86 Geo. L. J. 479 (1998) (weitere Beispiele völkerrechtskonformer Auslegung dort in Fn. 10). 871 EGMR, Urt. v. 8.7.1986, Lingens, Serie A 103. 872 376 U.S. 254, 279 (1964). 873 Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie, S. 224 ff.; Kübler, AöR 125 (2000), 109 (111) (der auch die Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in diese Parallele einbezieht).
D. Zusammenfassung: Konzentrische Kreise
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Court verbannt demgegenüber den Staat in weitem Umfang von dem Marktplatz der Ideen – je unregulierter, desto freier, desto demokratischer, desto verlässlicher, desto besser.
D. Zusammenfassung: Konzentrische Kreise Der Schutz der Äußerungsfreiheit für volksverhetzende und zu Gewalt aufrufende Äußerungen nach der EMRK und dem First Amendment unterscheidet sich in Ansatz, Umfang und Ergebnis. Dabei handelt es sich nicht nur um den besonderen Umständen der Einzelfälle geschuldete Diskrepanzen. Im Gegenteil: Die Unterschiede sind grundsätzlicher Natur. Der Ansatz des EGMR zu Art. 10 EMRK ist durch und durch inhaltsbezogen und wertorientiert. Eine Äußerung muss „konventionskompatibel“ sein, um den Schutz des Art. 10 EMRK beanspruchen zu können. Demgegenüber verfährt die Praxis des First Amendment streng inhalts- und meinungsneutral. Ein zweiter Gegensatz zeigt sich im Umgang mit (potentiellen) Gefahren. Der EGMR verfolgt für Art. 10 EMRK einen gefahrenneutralen Ansatz, die Auslegung des First Amendment und seiner Schranken durch den Supreme Court ist dagegen stark gefahrenbezogen. Nur wenn gewiss ist, dass die Gegenrede versagen wird oder sie bereits versagt hat, darf der Staat einschreiten. Daraus ergibt sich ein dritter Gegensatz. Der Praxis des First Amendment liegt ein stark ausgeprägtes Vertrauen in die Funktions- und Leistungsfähigkeit des Marktplatzes der Ideen zugrunde, dem ein Misstrauen gegenüber jeglicher Form staatlichen Einschreitens entspricht. Der europäische Ansatz trägt etatistische Züge und ist von einem tiefen Misstrauen gegenüber Verlässlichkeit und Kraft der Gegenrede als Selbstheilungsmechanismus geprägt. Methodisch steht die europäische Abwägungsfreundlichkeit im Kontrast zur amerikanischen Abwägungsfeindlichkeit. Die Freiheiten des Art. 10 EMRK müssen im Falle der Hassrede und des Gewaltaufrufs im Rahmen einer wertenden Abwägung, die das verfassungs- und völkerrechtliche Umfeld sowie den Gedanken des Rechtsmissbrauchs berücksichtigt, hinter die Grundwerte der Konvention, vor allem Gleichheit, Pluralismus, Offenheit und Toleranz, zurücktreten. Das First Amendment ist vergleichbaren verfassungs- und völkerrechtlichen Einflüssen nicht ausgesetzt und verbietet eine notwendigerweise inhalts- und meinungsbezogene Auslegung nach europäischem Vorbild. Insgesamt gilt: Geht es um Hassrede und Gewaltaufrufe, stehen Art. 10 EMRK und das First Amendment zueinander im Verhältnis konzentrischer Kreise. Im engsten Kreis liegen solche Äußerungen, die nach beiden Rechtsordnungen verboten werden können. Dies sind sämtliche Äußerungen, die auch im Einklang mit dem First Amendment verboten werden dürfen, etwa weil sie von einer der drei potentiell einschlägigen Bereichsausnahmen erfasst sind und der Verbotstat-
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4. Kap.: Vergleich und Ursachenforschung
bestand nicht unzulässig meinungsbezogen differenziert. Ein zweiter Kreis umfasst Äußerungen, die zwar im Einklang mit der EMRK, aber nur unter Verstoß gegen das First Amendment verboten werden können. Dies gilt beispielsweise für die Leugnung des Holocaust und – in weitem Umfang – für andere volksverhetzende Äußerungen, also die „typischen“ Fälle der Hassrede. In einem dritten Kreis liegen Äußerungen, die weder im Einklang mit Art. 10 EMRK noch mit dem First Amendment Gegenstand eines staatlichen Eingriffs werden können. Als Beispiel hierfür sind etwa politisch-separatistische Meinungsäußerungen zu nennen, die weder nach ihrem Wortlaut noch nach ihrem Kontext zur Anwendung von Gewalt aufrufen. Die völkerrechtliche Zusammenarbeit zur Bekämpfung volksverhetzender und zu Gewalt aufrufender Äußerungen, die den grundrechtlichen Vorgaben Rechnung trägt, kann nur innerhalb des ersten und engsten konzentrischen Kreises erfolgen. In der Konsequenz heißt dies: Das First Amendment ist der entscheidende Prüfungsmaßstab. Damit schränkt der außerordentlich umfassende Schutz des First Amendment die Möglichkeiten transatlantischer regulatorischer Zusammenarbeit stark ein. Eine Übertragung europäischer Regelungen auf die völkerrechtliche Ebene im Sinne einer Universalisierung europäischer Normen kommt unter Beteiligung der USA nicht in Betracht. Am Ende dieses Kapitels steht ein nicht rein juristischer Gedanke: Es ist nicht zu erwarten, dass sich die konträren europäischen und der amerikanischen Ansätze nennenswert aufeinander zu bewegen werden. Beide sind juristisch wie politisch gefestigt und überwiegend gesellschaftlich anerkannt. Sie sind durch völkerrechtliche Verträge bzw. ausdrückliche Vorbehalte zu diesen Verträgen zementiert. Die Praxis des First Amendment ist nicht (einmal) nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 ins Wanken geraten.874 Umgekehrt haben die Anschläge in Europa die Überzeugung, Hassrede sei im Keim zu bekämpfen, weiter gefestigt. Sowohl dies- als auch jenseits des Atlantiks wäre eine Veränderung nur um den Preis auch grundrechtsdogmatischer Umwälzungen möglich. Ansätze des dafür erforderlichen Veränderungsprozesses sind weder in Europa noch in den USA zu erkennen. Der hier geschilderte und analysierte grundrechtliche Befund ist stabil.
874
Siehe aber Anm. 561.
Fünftes Kapitel
Regulatorische Konsequenzen In den Blickpunkt der Untersuchung rücken nunmehr die regulatorischen Konsequenzen, die sich aus der grundrechtsvergleichenden Analyse ergeben. Danach erweist sich das First Amendment als zentrale Hürde völkerrechtlicher Schritte zur Bekämpfung volksverhetzender und zu Gewalt aufrufender bzw. diese verherrlichender Internet-Inhalte. Eine transatlantische Zusammenarbeit bei der Regulierung von Internet-Inhalten hat aus juristischer Sicht nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die strengen Vorgaben des First Amendment beachtet werden. Der regulatorische Spielraum ist auf das (nach amerikanischem Verfassungsrecht zulässige) Mindestmaß reduziert.
A. Das Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität auf dem Prüfstand des First Amendment Einen ersten Versuch, der Verbreitung von Hassrede und Gewaltaufrufen im Internet mit den Mitteln des Völkerrechts Einhalt zu bieten, hat die internationale Gemeinschaft mit dem bereits erwähnten „Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art“ unternommen. Obwohl sie das zugrunde liegende Übereinkommen ratifiziert haben, sind die Vereinigten Staaten diesem Protokoll ferngeblieben. Bekanntlich war ursprünglich vorgesehen, auch die Regelungen des Zusatzprotokolls unmittelbar in das Übereinkommen aufzunehmen. Auf Drängen der Vereinigten Staaten wurden die Vorschriften zur Bekämpfung von „Online-Hassrede“ jedoch in ein Fakultativprotokoll ausgelagert. Die Effektivität des Protokolls ist durch die fehlende amerikanische Beteiligung in Frage gestellt. Eines der Anliegen dieser Arbeit war es, die These, eine transatlantische Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Hassrede und Gewaltaufrufen sei aus grundrechtlichen Gründen ausgeschlossen, auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen. Inwieweit die amerikanische Verhandlungsposition also grundrechtlich vorgegeben ist, zeigt die folgende Analyse des Zusatzprotokolls am Maßstab des First Amendment.
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5. Kap.: Regulatorische Konsequenzen
I. Artikel 3 Absatz 1 – Verbreitung rassistischen und fremdenfeindlichen Materials über Computersysteme Art. 3 Abs. 1 des Zusatzprotokolls verpflichtet die Mitgliedstaaten, die Verbreitung rassistischen und fremdenfeindlichen Materials unter Strafe zu stellen. Art. 2 Abs. 1 des Protokolls definiert „rassistisches und fremdenfeindliches Material“ umfassend als „jedes schriftliche Material, jedes Bild oder jede andere Darstellung von Ideen oder Theorien, das beziehungsweise die Hass, Diskriminierung oder Gewalt aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, der nationalen oder ethnischen Herkunft oder der Religion, wenn Letztere für eines dieser Merkmale vorgeschoben wird, gegen eine Person oder eine Personengruppe befürwortet oder fördert oder dazu aufstachelt.“ Eine Überprüfung dieser Vorschrift anhand des im zweiten Kapitel entwickelten Katalogs875 zeigt deren Unvereinbarkeit mit dem First Amendment. Zunächst ist das von Art. 3 des Protokolls geforderte Verbot nicht auf die Bereichsausnahmen (unprotected categories) begrenzt. Zwar erfasst die Vorschrift (rassistisch und fremdenfeindlich motivierte) Formen des incitement sowie der fighting words und true threats. Der Anwendungsbereich von Art. 3 ist jedoch nicht auf diese Bereichsausnahmen beschränkt. Incitement verlangt, dass der Redner vorsätzlich zu unmittelbarem illegalem Verhalten aufruft und dieser Gesetzesbruch tatsächlich unmittelbar bevorsteht. True threats sind nur solche Drohungen, die den Gegenüber in unmittelbare Angst um Leib und Leben versetzen. Fighting words sind solche Schmähungen, die den Adressaten zu einer unmittelbaren gewalttätigen Antwort provozieren. Entsprechende Unmittelbarkeitserfordernisse finden sich in Art. 3 nicht, die Reichweite der Norm geht weit über diese drei Bereichsausnahmen hinaus und in den „Kernbereich“ des First Amendment hinein. In der Diktion des First Amendment ist Art. 3 des Protokolls overbroad.876 Selbst wenn man, arguendo, unterstellte, dass der Anwendungsbereich von Art. 3 des Protokolls auf die genannten Bereichsausnahmen beschränkt wäre, ließe sich ein Verstoß gegen das First Amendment nicht vermeiden. Denn im Anschluss an das Urteil im Fall R.A.V. ist es dem Staat verwehrt, innerhalb der Bereichsausnahmen zugunsten bzw. zulasten einzelner Meinungen zu differenzieren. Das von Art. 3 geforderte Verbot würde jedoch den Gebrauch etwa von fighting words zur Kommunikation einer anderen als einer rassistischen Meinung durchaus zulassen. Ein solches Verbot wäre also under-inclusive und viewpointbased und deswegen auch dann nicht mit dem First Amendment in Einklang zu
875
Zweites Kapitel, D. I. (S. 173 f.). So in Bezug auf true threats und fighting words auch van Blarcum, 62 Wash. & Lee L. Rev. 781, 815 (2005). 876
A. Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität
253
bringen, wenn der Anwendungsbereich auf rassistisches incitement, rassistische fightings words und rassistische true threats beschränkt würde.877
II. Artikel 4 – Rassistisch und fremdenfeindlich motivierte Drohung Art. 4 des Zusatzprotokolls sieht die Schaffung eines Straftatbestandes vor, der (unter anderem) rassistisch motivierte und mittels eines Computersystems begangene Drohungen gegen Personen oder Personengruppen verbietet. Art. 4 lautet: „Jede Vertragspartei trifft die erforderlichen gesetzgeberischen und anderen Maßnahmen, um folgende Handlung, wenn vorsätzlich und unbefugt begangen, nach ihrem innerstaatlichen Recht als Straftat zu umschreiben: die Drohung, eine schwere Straftat im Sinne des innerstaatlichen Rechts zu begehen, gerichtet mittels eines Computersystems i) gegen eine Person wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch die Rasse, die Hautfarbe, die Abstammung, die nationale oder ethnische Herkunft oder die Religion, wenn Letztere für eines dieser Merkmale vorgeschoben wird, gekennzeichnet ist, oder ii) gegen eine Personengruppe, die durch eines dieser Merkmale gekennzeichnet ist.“ 878
Anders als Art. 3 des Protokolls betrifft Art. 4 nur den grundsätzlich nicht durch das First Amendment geschützten Bereich.879 Bei der Drohung mit einer schweren Straftat handelt es sich um einen true threat, also einen Fall durch das First Amendment nicht geschützter Einschüchterung. Nach Black sind solche Drohungen sowohl ungeschützt, wenn sie gegen eine einzelne Personen als auch wenn sie gegen Personengruppen gerichtet sind.880 Auch Art. 4 des Protokolls sieht jedoch ein meinungsselektives Verbot solcher Drohungen vor. Nur im weiteren Sinne rassistische Drohungen sind zu verbieten. Drohungen, die aus einer anderen, nicht rassistischen aber dennoch politischen Motivation erfolgen, dürfen verschont werden. Ein allgemeiner und damit inhaltsneutraler Nötigungs- bzw. Bedrohungstatbestand, der generell die Androhung schwerwiegender Straftaten unabhängig von der jeweiligen politischen Motivation verbietet, wäre aus Sicht des First Amendment das zwingend zu ergrei877
van Blarcum, 62 Wash. & Lee L. Rev. 781, 815–816 (2005). „Computersystem“ ist eine Vorrichtung oder eine Gruppe miteinander verbundener oder zusammenhängender Vorrichtungen, die einzeln oder zu mehreren auf der Grundlage eines Programms automatische Datenverarbeitung durchführen; vgl. auch den Erläuternden Bericht zum Übereinkommen, § 24. Die Definition von Computersystemen in Art. 1 lit. a des Übereinkommens über Computerkriminalität erfasst das Internet. 879 van Blarcum, 62 Wash. & Lee L. Rev. 781, 817 (2005) („conduct described in this article appears tob e proscribable as a true threat“). 880 Virginia v. Black, 538 U.S. 343, 359 (2003) („,true threats‘ encompass those statements where the speaker means to communicate a serious expression of an intent to commit an act of unlawful violence to a particular individual or group of individuals.“). 878
254
5. Kap.: Regulatorische Konsequenzen
fende mildere Mittel. Art. 4 wird damit zwar den Vorgaben von Black gerecht, ist aber nach den in R.A.V. entwickelten Grundsätzen dennoch mit dem First Amendment nicht vereinbar.881 Da das Verbot sämtlicher Drohungen als „relativ milderes Mittel“ zur Verfügung stünde, wären auch die Voraussetzungen der strict scrutiny, vor allem das strenge narrowly tailored-Kriterium nicht erfüllt.
III. Artikel 5 – Rassistisch und fremdenfeindlich motivierte Beleidigung Art. 5 Abs. 1 des Protokolls verpflichtet die Vertragsstaaten, folgende „vorsätzlich und unbefugt“ begangenen Handlungen unter Strafe zu stellen: „die öffentliche Beleidigung i) einer Person wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch die Rasse, die Hautfarbe, die Abstammung, die nationale oder ethnische Herkunft oder die Religion, wenn Letztere für eines dieser Merkmale vorgeschoben wird, gekennzeichnet ist, oder ii) einer Personengruppe, die durch eines dieser Merkmale gekennzeichnet ist, mittels eines Computersystems.“
Nach Art. 5 Abs. 2 kann als weiteres Tatbestandsmerkmal gefordert werden, dass die betroffene Person oder Personengruppe Hass oder Verachtung ausgesetzt oder der Lächerlichkeit preisgegeben worden sein muss. Ähnlich wie Art. 3 des Protokolls ist auch Art. 5 Abs. 1 nicht auf unprotected categories begrenzt. Beleidigungen als solche sind von dem Schutzbereich des First Amendment nicht ausgenommen, dies gilt im Anschluss an die faktische Aufhebung von Beauharnais insbesondere für Kollektivbeleidigungen. Darüber hinaus ist der Anwendungsbereich von Art. 5 seinem Wortlaut nach nicht auf solche Beleidigungen beschränkt, die im Sinne eines true threats einschüchternd wirken oder, wie ein fighting word, eine gewalttätige Reaktion auslösen. Dies gilt umso mehr, als die jeweilige Beleidigung „mittels eines Computersystems“ begangen werden muss, sich also der Beleidigende und der Beleidigte nicht unmittelbar gegenüber stehen.882 Art. 5 Abs. 2 bietet zwar die Möglichkeit, die Anforderungen an den Inhalt der Beleidigung weiter zu verschärfen, stellt aber nicht sicher, dass der Anwendungsbereich der Strafnorm auf ungeschützte Äußerungen begrenzt bleibt. Art. 5 würde daher einem overbreadth challenge zum Opfer fallen. Darüber hinaus ist das von dieser Regelung vorgesehene Verbot wiederum meinungsbezogen, denn nur rassistische Beleidigungen werden erfasst, nicht auch andere Beleidigungen, die den Adressaten etwa lächerlich machen. Auch Art. 5 missachtet daher die Vorgabe aus R.A.V., sogar eigentlich ungeschützte Inhalte ausschließlich meinungsneutral zu regulieren.883 881
So auch van Blarcum, 62 Wash. & Lee. L. Rev. 781, 817–818 (2005). Timofeeva, 12 J. Transnat’l L. & Pol’y 253, 272 (2003); van Blarcum, 62 Wash. & Lee L. Rev. 781, 817 (2005). 883 Ebenso van Blarcum, 62 Wash. & Lee L. Rev. 781, 817 (2005). 882
A. Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität
255
IV. Artikel 6 – Leugnung, grobe Verharmlosung, Billigung oder Rechtfertigung von Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit Es bleibt Art. 6 des Protokolls. Dessen Absatz 1 verpflichtet die Vertragsstaaten, die Leugnung, grobe Verharmlosung, Billigung oder Rechtfertigung von Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich zu verbieten. Auch diese Regelung greift weit in den durch das First Amendment geschützten Bereich ein. Dies gilt, selbst wenn man die Möglichkeit in Absatz 2 berücksichtigt, nach der die Vertragsparteien den Vorsatz verlangen können, zu Hass, Diskriminierung oder Gewalt gegen eine Person oder einen Personengruppe aufzurufen. Der bloße Aufruf zu Hass und Diskriminierung ist durch das First Amendment geschützt. Gleiches gilt für den Aufruf zu Gewalt, soweit dieser nicht die doppelte Unmittelbarkeitsgrenze (Vorsatz auf unmittelbare Gewalt gerichtet, unmittelbare Gewalt tatsächlich zu befürchten) überschreitet. Solche einschränkenden Voraussetzungen sieht Art. 5 des Protokolls nicht vor. Hinzu kommt wiederum, dass es sich in jedem Fall um eine meinungsbezogene Inhaltsregulierung handelt, die nach R.A.V. nie erforderlich ist und daher auch unter den ohnehin kaum erfüllbaren Voraussetzungen der strict scrutiny nicht gerechtfertigt werden kann.884
V. Ergebnis Das Ergebnis ist eindeutig. Keine der materiellen Regelungen des „Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art“ ist mit dem First Amendment vereinbar. Straftatbestände, die die Vereinigten Staaten nach Beitritt zu dem Protokoll und in dessen Umsetzung im nationalen Recht schaffen würden, wäre in abstracto (facially) verfassungswidrig. Auf die konkrete Anwendung im Einzelfall käme es nicht einmal an. Die von den USA im Rahmen der Verhandlungen zum Übereinkommen über Computerkriminalität angeführten verfassungsrechtlichen Bedenken waren berechtigt. Damit steht zugleich fest, dass das Modell der europäischen Gesetzgeber zur Bekämpfung volksverhetzender Inhalte, das sich in dem Protokoll widerspiegelt, unter der Geltung des First Amendment keine politische Option ist. Eine globale Regulierung von Internet-Inhalten nach europäischem Vorbild kommt damit nur unter Ausschluss der USA, also um den Preis dramatischer Effektivitätsverluste in Betracht.
884
Zum Ganzen van Blarcum, 62 Wash. & Lee L. Rev. 781, 816 (2005).
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5. Kap.: Regulatorische Konsequenzen
B. Gegenbeispiel: Die erfolgreiche Bekämpfung kinderpornographischer Internet-Inhalte Die Relevanz verfassungs- bzw. grundrechtlicher Vorgaben für die Möglichkeiten einer transatlantischen Regulierung von Internet-Inhalten wird auch anhand eines Gegenbeispiels deutlich. Wie im zweiten Kapitel dargelegt, hat der Supreme Court Kinderpornographie aus dem Schutzbereich des First Amendment bereits im Jahre 1982 ausgeschlossen. Diesen Ausschluss hat er zuletzt mit Blick auf das Internet noch einmal bestätigt, zugleich jedoch auf reale im Gegensatz zu virtueller Kinderpornographie beschränkt.885 Ein Verbot kinderpornographischer Inhalte, dies kann angesichts der Abwägungs- und Wertebezogenheit der Rechtsprechung des EGMR unterstellt werden, ist auch mit Art. 10 EMRK vereinbar. Einer internationalen und auch transatlantischen Zusammenarbeit zur Bekämpfung zumindest realer Kinderpornographie steht daher aus der europäischen wie der amerikanischen Grundrechtsperspektive nichts entgegen. Dieser transatlantische Konsens – aber auch seine grundrechtlichen Grenzen – finden auf völkerrechtlicher Ebene Niederschlag.
I. Artikel 9 des Übereinkommens über Computerkriminalität – Straftaten mit Bezug zu Kinderpornographie Dies gilt vor allem für Art. 9 des Übereinkommens über Computerkriminalität, der die Vertragsparteien verpflichtet, Straftatbestände zur Bekämpfung der Kinderpornographie zu schaffen. Die etwas umständlich formulierte Regelung lautet: „1. Jede Vertragspartei trifft die erforderlichen gesetzgeberischen und anderen Maßnahmen, um folgende Handlungen, wenn vorsätzlich und unbefugt begangen, nach ihrem innerstaatlichen Recht als Straftaten zu umschreiben: [es folgt ein Verbot des Herstellens, Anbietens, Verbreitens oder Übermittelns und des Besitzes von Kinderpornographie in einem Computersystem oder auf einem Computerdatenträger, Anm. d. Verf.] 2. Im Sinne des Absatzes 1 umfasst der Ausdruck „Kinderpornographie“ pornographisches Material mit der visuellen Darstellung a) einer minderjährigen Person bei eindeutig sexuellen Handlungen; b) einer Person mit dem Erscheinungsbild einer minderjährigen Person bei eindeutig sexuellen Handlungen; c) real erscheinender Bilder, die eine minderjährige Person bei eindeutig sexuellen Handlungen zeigen.
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Siehe oben, Zweites Kapitel, B. IV. 1. b) (S. 142).
B. Erfolgreiche Bekämpfung kinderpornographischer Internet-Inhalte
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3. Im Sinne des Absatzes 2 umfasst der Ausdruck „minderjährige Person“ alle Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Eine Vertragspartei kann jedoch eine niedrigere Altersgrenze vorsehen, wobei 16 Jahre nicht unterschritten werden dürfen. 4. Jede Vertragspartei kann sich das Recht vorbehalten, Absatz 1 Buchstaben d und e sowie Absatz 2 Buchstaben b und c ganz oder teilweise nicht anzuwenden.“
Die Vereinigten Staaten haben das Übereinkommen gegen Computerkriminalität am 23. November 2001 unterzeichnet und am 29. September 2006 ratifiziert. Das Übereinkommen ist für die USA zum 1. Januar 2007 in Kraft getreten.886 Von der in Art. 9 Abs. 4 ausdrücklich vorgesehenen Möglichkeit, Vorbehalte zu erklären, haben die USA durch folgende Erklärung Gebrauch gemacht: „The United States of America, pursuant to Articles 9 and 42 of the Convention, reserves the right to apply paragraphs (2) (b) and (c) of Article 9 only to the extent consistent with the Constitution of the United States as interpreted by the United States and as provided for under its federal law, which includes, for example, crimes of distribution of material considered to be obscene under applicable United States standards.“
Die Regelungen in lit. b und lit. c des Absatz 2 betreffen „virtuelle Kinderpornographie“, die nach der Entscheidung des Supreme Court im Fall Ashcroft v. The Free Speech Coalition887 – anders als reale Kinderpornographie – unter dem Schutz des First Amendment steht.888 Der Vorbehalt war also wiederum durch das First Amendment geboten, die internationale Beteiligung der USA musste entsprechend eingeschränkt werden.889 Eines Vorbehalts etwa gegenüber dem Verbot des Besitzes von Kinderpornographie bedurfte es hingegen nicht. In Osborne v. Ohio890 hat der Supreme Court entschieden, dass, anders als bei „bloß“ obszönem Material, auch der Besitz von Kinderpornographie strafrechtlich verboten werden kann.
II. Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie Dieses Ergebnis wird durch einen Blick auf ein Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention bestätigt. Art. 3 lit. c des „Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern, die 886 Angaben zum Ratifikationsstand sind abrufbar unter http://conventions.coe.int/ Treaty/Commun/ChercheSig .asp?NT=185&CM=8&DF=11/27/2007&CL=GER. 887 535 U.S. 234 (2002). 888 Siehe dazu oben, Zweites Kapitel, B. IV. 1. (S. 142 f.). 889 Vorausschauend Keyser, 12 J. Transnat’l L. & Pol’y 287, 308 (2003). 890 495 U.S. 103 (1990).
258
5. Kap.: Regulatorische Konsequenzen
Kinderprostitution und die Kinderpornographie“ 891 verpflichtet die Staaten, die Herstellung, den Vertrieb, die Verbreitung, die Einfuhr, die Ausfuhr, das Angebot, den Verkauf und den Besitz von Kinderpornografie unter Strafe zu stellen. Art. 2 lit. c des Protokolls definiert Kinderpornographie als jede „Darstellung, gleichviel mit welchen Mitteln, eines an wirklichen oder simulierten expliziten sexuellen Aktivitäten beteiligten Kindes und jede Darstellung der Geschlechtsteile eines Kindes zu hauptsächlich sexuellen Zwecken.“ Die Vereinigten Staaten haben dieses Zusatzprotokoll am 5. Juli 2000 unterzeichnet und am 23. Dezember 2002 ratifiziert.892
III. Kooperationsbereitschaft der Vereinigten Staaten Die beiden Beispiele zeigen, dass die Vereinigten Staaten, sofern ihnen nicht grundrechtlich die Hände gebunden sind, aktiv an völkerrechtlichen Bemühungen zur Bekämpfung schädlicher Internet-Inhalte teilnehmen. Eine generelle Verweigerungshaltung der USA ist nicht festzustellen. Zugleich wird deutlich, dass es nur gelingt, die Vereinigten Staaten zu beteiligen, wenn etwaigen grundrechtlichen Besonderheiten durch Vorbehalte Rechnung getragen wird. Auch im Bereich der Bekämpfung Kinderpornographie bestimmen die grundrechtlichen Vorgaben die Grenzen internationaler Zusammenarbeit.
891
UN Doc. A/RES/54/263 v. 16.01.2001. Der Ratifikationsstand ist abrufbar unter http://treaties.un.org/Pages/ViewDe tails.aspx?src=TREATY& mtdsg_no=IV-11-c&chapter=4&lang=en. Deutschland hat das Protokoll am 6.9.2000 unterzeichnet und am 15.7.2009 ratifiziert. 892
Sechstes Kapitel
Fazit und zusammenfassende Thesen A. Fazit Der Zusammenarbeit zwischen den Staaten Europas und den USA bei der Regulierung von volksverhetzenden und zu Gewalt aufrufenden Internet-Inhalten sind durch das First Amendment enge grundrechtliche Grenzen gesetzt. Art. 10 EMRK erlaubt großzügig und großflächig auch strafrechtliche Verbote solcher Äußerungen. Das First Amendment lässt solche Verbote, die die Grundlage des europäischen regulatorischen Ansatzes bilden, hingegen nicht zu. In Betracht kommen allein eng begrenzte, nicht meinungsselektive Verbote, deren Anwendungsbereich auf solche Äußerungen beschränkt ist, die nach der Rechtsprechung des Supreme Court grundsätzlich nicht unter dem Schutz des First Amendment stehen. Derart minimale Regelungen vermögen den europäischen regulatorischen Anspruch nicht umzusetzen; vor allem mit dem Petitum, die offline geltenden Regeln auch online durchzusetzen, sind sie nicht vereinbar. Sie bieten keine Antwort auf die regulatorische Herausforderung des Internet. Dies zeigt das Beispiel des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen über Computerkriminalität eindrucksvoll. Versuche einer Harmonisierung inhaltlicher Standards auf völkerrechtlichem Wege bieten keine realistische Perspektive. Die Vereinigten Staaten werden auch in Zukunft diesen völkerrechtlichen Verträgen fern bleiben müssen, wollen sie nicht einen Konflikt zwischen Völker- und Verfassungsrecht eingehen. Dass dieser Konflikt, sollte eine amerikanische Regierung bereit sein, ihn einzugehen, zugunsten des Völkerrechts entschieden würde, steht nicht zu erwarten. Für die in der Einleitung skizzierten Formen internationaler Zusammenarbeit besteht daher nicht etwa wegen politischer Vorbehalte, sondern kraft der die amerikanische Regierung bindenden verfassungsrechtlichen Vorgaben kein nennenswerter (juristischer) Spielraum. Soll sich dies ändern, bedürfte es auf amerikanischer Seite nichts weniger als eines „constitutional moment“.893 Den europäischen Staaten wird es auch künftig nur in Ausnahmefällen gelingen, die „US-Autoren“ von nach europäischem Recht rechtswidrigen Inhalten zu bestrafen. Solange diese „Hassprediger“ die Vereinigten Staaten nicht aus freien 893
van Blarcum, 62 Wash. & Lee L. Rev. 781, 830 (2005).
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6. Kap.: Fazit und zusammenfassende Thesen
Stücken verlassen – wie in den in dieser Hinsicht eher außergewöhnlichen Fällen Thoben und Lauck894 – werden die europäischen Strafverfolgungsbehörden ihrer nicht habhaft werden. Auch privatrechtlichen Versuchen nach dem Vorbild des Yahoo-Falls wird der Erfolg versagt bleiben. Die auf das First Amendment gestützten Vorbehalte gegenüber einer Vollstreckung europäischer Urteile in den USA werden zumindest immer dann durchgreifen, wenn nicht nur die Äußerungsmöglichkeiten in europäischen, sondern auch in amerikanischen Foren eingeschränkt werden.895 Effektive Regulierung muss aber diesen Anspruch erheben, zumal eine Äußerung, die im Internet abrufbar ist, ohnehin kaum dem einen oder dem anderen Kontinent zugeordnet werden kann. Wäre es vor diesem Hintergrund sinnvoll, den zu den Bedingungen des First Amendment möglichen Minimalkonsens völkerrechtlich festzuschreiben? Die Antwortet lautet: Nein. Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand ist davon auszugehen, dass solche Inhalte, die im Einklang mit dem First Amendment verboten werden können und verboten sind, nach europäischem Recht ebenfalls unzulässig sind. Insoweit besteht kein Harmonisierungsbedürfnis. Die parallele Strafverfolgung – hier wie dort – reicht aus. Am Ende der Untersuchung steht ein klares Ergebnis. Die internationale, vor allem die transatlantische Zusammenarbeit bei der Bekämpfung schädlicher und bzw. gefährlicher Internet-Inhalte kann nur in den Grenzen der grundrechtlichen Gewährleistungen der Äußerungsfreiheit erfolgen. Dabei ist die jeweils großzügigste, also äußerungsfreundlichste Grundrechtsgewährleistung maßgeblich. Ob dieses Ergebnis nur als kleinster gemeinsamer Nenner bewertet wird oder, positiv gewendet, als ein Maximum an freier Rede im Internet, ist eine Frage der persönlichen Überzeugung. Die in dieser Arbeit offen gelegte Grundrechtsdivergenz hat – über die insoweit festzustellende faktische Aussichtslosigkeit einer transatlantischen regulatorischen Zusammenarbeit hinaus – eine konkrete praktische Konsequenz: Die Vereinigten Staaten bzw. dort belegene Internet-Server werden auf lange Sicht zur europäischen Überzeugung strafbaren und gefährlichen Inhalten einen sicheren 894
Siehe dazu Einleitung, B. I. (S. 27). Dies gilt umso mehr, nachdem im Jahr 2010 in den USA der „Securing the Protection of our Enduring and Established Constitutional Heritage (SPEECH) Act“ in Kraft getreten ist, 28 U. S. C. §§ 4101–4105. Der sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat einstimmig verabschiedete SPEECH Act verbietet – etwas verkürzt gesagt – die Vollstreckung ausländischer „defamation judgments“, sofern diese nicht mit dem First Amendment vereinbar sind. Der Begriff „defamation“ umfasst dabei „any action or other proceeding for defamation, libel, slander, or similar claim alleging that forms of speech are false, have caused damage to reputation or emotional distress, have presented any person in a false light, or have resulted in criticism, dishonor, or condemnation of any person“, 28 U.S.C. § 4101. 895
A. Fazit
261
Hafen bieten.896 Diese Inhalte werden damit nicht nur in der amerikanischen, sondern auch in der europäischen Gesellschaft (zunehmend) präsent sein. Rechtlich mag es dabei bleiben, dass in Europa auch online illegal ist, was offline nicht verbreitet werden darf. Tatsächlich aber steht dieser Grundsatz nur auf dem Papier, seine Beachtung lässt sich im transatlantischen Verhältnis nicht durchsetzen. Bietet die Selbstregulierung des Internets durch seine Nutzer eine Lösung? Auch auf diese Frage lautet die Antwort: Nein. Zentrales Merkmal der Selbstregulierung ist die Bereitschaft, freiwillig, ohne staatlichen Druck, bestimmte gesellschaftliche Normen anzuerkennen. Leugner des Holocaust und andere „Hassredner“ lehnen diese gesellschaftlichen Normen jedoch demonstrativ ab. Ihre Ideologie definiert sich auch und vor allem durch den Widerspruch zum gesellschaftlichen Konsens. An einer Selbstregulierung mit dem Ziel, ihre Möglichkeiten einzuschränken, diese Ideologie zu verbreiten, werden sie sich nicht beteiligen. Zwar mag es gelingen, auf die eine oder andere Weise ihren Weg in das Internet zu erschweren. Letztlich lässt sich der (per se beschränkten) Selbstregulierung aber genauso einfach, eher einfacher, ein Schnippchen schlagen wie der staatlichen Regulierung. Dieses Ergebnis bietet Anlass, beide Positionen, die europäische und die amerikanische, zu überdenken. Ist mehr als 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und knapp 20 Jahre nach dem Sturz der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa nicht die Zeit gekommen, die Zügel der Inhaltsregulierung in Europa zu lockern und den Selbstheilungskräften der Demokratie größeres Vertrauen zu schenken? Zugleich: Bietet der die USA umgebende, weltumspannende Konsens, dass den erklärten Feinden der Demokratie deren Privilegien nicht uneingeschränkt gewährt werden sollen, nicht Anlass, das Vertrauen in den Marktplatz der Ideen zu hinterfragen und zu relativieren? Ein solcher Reflektionsprozess scheint auf beiden Seiten des Atlantiks geboten. Wenngleich sich die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des amerikanischen obersten Gerichtshofs im Ergebnis widersprechen, teilen sie mitunter ihre Pauschalität. Ihre Rechtsanwendung droht mechanisch und damit der Problematik nicht gerecht zu werden. Dies beweist gerade ein Vergleich mit der Keegstra-Entscheidung des kanadischen obersten Gerichtshofs. Selbst wenn ein solcher Reflektionsprozess einsetzen sollte, seine Ergebnisse werden sich allenfalls langfristig zeigen. Dies gilt umso mehr, als beide Ansätze durch juristische und gesellschaftliche Faktoren stabilisiert werden. Auf absehbare Zeit wird es bei der transatlantischen Divergenz bleiben. Holmes und Brandeis würden Gefallen an diesem Ergebnis finden; die Mütter und Väter der EMRK nicht. 896
Ebenso van Blarcum, 62 Wash. & Lee L. Rev. 781, 829 (2005).
262
6. Kap.: Fazit und zusammenfassende Thesen
B. Zusammenfassende Thesen Einleitung 1.
Das Internet stellt den Nationalstaat vor eine bislang unbekannte regulatorische Herausforderung. Die Besonderheiten des Internets, insbesondere die Anonymität und Dezentralität sowie seine weltweite Reichweite stellen die Fähigkeit des Staates, bestimmte Äußerungen zu regulieren bzw. zu verbieten und zu bestrafen in Frage. Wegen der Grenzenlosigkeit des Internets sind nationale Regelungen strukturell ineffektiv. Von dem „sicheren Hafen“ einer „liberaleren“ Rechtsordnung aus können Äußerungen häufig sanktionslos auch in Foren verbreitet werden, in denen derartige Inhalte verboten sind. Hieraus folgt ein internationaler Regulierungsbedarf.
2.
Die herkömmlichen Instrumente zwischenstaatlicher Zusammenarbeit haben bei der Regulierung von vollksverhetzenden und zu Gewalt aufrufenden Internet-Inhalten bislang überwiegend versagt. Die Vereinigten Staaten haben sich einer Zusammenarbeit auf diesem Gebiet unter Berufung auf den ersten Zusatz zur amerikanischen Verfassung (First Amendment) verweigert.
3.
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention dürfen sich an einer völkerrechtlichen Regulierung in diesem Bereich nur beteiligen, wenn die in diesem Rahmen vereinbarten Verbote mit Art. 10 EMRK im Einklang stehen. Jede entsprechende völkerrechtliche Vereinbarung ist daher an dieser Vorschrift zu messen. Dies gilt umso mehr, als eine mit Art. 10 EMRK konforme Inhaltsregulierung in aller Regel auch mit den nationalen Gewährleistungen der Äußerungsfreiheit vereinbar ist.
4.
Die Vereinigten Staaten von Amerika dürfen ihrerseits an der völkerrechtlichen Regulierung von Internet-Inhalten nur teilnehmen, wenn sie ihre daraus resultierenden völkerrechtlichen Verpflichtungen erfüllen können, ohne gegen das First Amendment zu verstoßen. Steht eine völkerrechtliche Verpflichtung der USA im Widerspruch zu dem First Amendment, beansprucht letzteres nach amerikanischem Verfassungsrecht Vorrang.
5.
In der Konsequenz ist eine transatlantische regulatorische Zusammenarbeit zur Bekämpfung von rechtswidrigen Internet-Inhalten nur möglich, wenn die fraglichen Inhalte im Einklang sowohl mit der EMRK als auch mit der amerikanischen Verfassung verboten werden können. Maßgeblich ist die grundrechtlich determinierte Schnittmenge derjenigen Äußerungen, die nach beiden Rechtsordnungen verboten werden können. Erstes Kapitel
6.
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betont zwar die grundlegende Bedeutung der Äußerungsfreiheit für den demo-
B. Zusammenfassende Thesen
263
kratischen Prozess, erlaubt aber dennoch eine – gerade im Vergleich zu den USA – weitgehende Inhaltsregulierung. 7.
Äußerungen, die den Holocaust leugnen, wird der Schutz des Art. 10 EMRK per se versagt, weil sie Ausdruck einer mit der EMRK unvereinbaren politischen Ideologie sind.
8.
Äußerungen, die eine politische Ideologie propagieren oder eine politische Gesinnung zum Ausdruck bringen, die mit den grundlegenden Werten (underlying values) der Konvention unvereinbar ist – etwa rechtsextremes Gedankengut – wird ebenfalls der Schutz des Art. 10 EMRK a priori verweigert. Art. 17 EMRK und der damit verbundene Gedanke der „wehrhaften Konvention“ entzieht derartigen Inhalten den Schutz des Art. 10 EMRK – unabhängig davon, ob mit ihnen eine konkrete Gefahr verbunden ist.
9.
Ausdrückliche Gewaltaufrufe schließt der EGMR hingegen nicht aus dem Schutzbereich von Art. 10 EMRK aus, verweigert ihnen im Ergebnis allerdings gleichfalls den Schutz. Die Anwendung von Gewalt sei kein legitimes Instrument, um einen politischen und/oder gesellschaftlichen Wandel zu verwirklichen. Ob von dem fraglichen Gewaltaufruf eine konkrete Gefahr ausgeht, prüft der EGMR nicht. Implizite Gewaltaufrufe werden ausdrücklichen gleichgestellt, wenn eine an den Umständen des Einzelfalls ausgerichtete Auslegung dies rechtfertigt.
10. Zugespitzte politische Meinungsäußerungen, die weder zu Gewalt aufrufen noch eine mit den grundlegenden Werten der Konvention unvereinbares Gedankengut propagieren, stehen unter dem umfassenden und weit reichenden Schutz der EMRK. 11. Zentrale Wesenszüge der Rechtsprechung des EGMR zu volksverhetzenden und zu Gewalt aufrufenden Äußerungen sind: a) Inhalts- und Wertebezug: Der Schutz einer Äußerung durch Art. 10 EMRK steht unter der Voraussetzung, dass sich ihr Inhalt als konventionskompatibel erweist. Eine Äußerung ist konventionskompatibel, wenn sie im Einklang mit den Grundwerten der Konvention steht (Demokratie, Toleranz, Pluralismus und Weltoffenheit). b) Demokratie- und Würdebezug: Aus dem Inhalts- und Wertebezug ergibt sich ein Demokratie- und Würdebezug. Äußerungen, die sich gegen die Demokratie als Staatsform und/oder die Würde des Einzelnen richten, wird der Schutz von Art. 10 EMRK im Ansatz oder im Ergebnis verweigert. c) Gefahrenneutralität: Für die Anwendung von Art. 10 EMRK durch den EGMR ist ohne Belang, ob mit einer Äußerung konkrete Gefahren verbunden sind. Die Frage, ob den (zu verbietenden) Worten Taten folgen
264
6. Kap.: Fazit und zusammenfassende Thesen
könnten, findet keine Berücksichtigung. Der Gerichtshof stellt stattdessen auch auf die mittel- und langfristigen Effekte ab, die mit einer zunächst nicht konkret gefährlichen, aber volksverhetzenden Äußerung verbunden sein können. d) Kein Vertrauen in die Kraft der Gegenrede: Der Gedanke, dass die Gegenrede im Vergleich zum staatlichen Eingriff ein milderes und mindestens ebenso effektives Mittel sein könnte, ist der Rechtsprechung des EGMR fremd. e) Abwägungsoffenheit: Der EGMR bestimmt die Grenzen der durch Art. 10 EMRK geschützten Äußerungsfreiheit grundsätzlich in Abwägung mit kollidierenden Rechtsgütern Dritter und Gemeinwohlinteressen. Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand verlässt er diese Linie mitunter und entwickelt einen eher kategorischen Ansatz, etwa indem er die Auschwitz-Lüge per se aus dem Schutzbereich von Art. 10 EMRK ausschließt. 12. Insgesamt verbleibt den Mitgliedstaaten der EMRK ein großzügiger Spielraum zur Regulierung von volksverhetzenden und zu Gewalt aufrufenden Internet-Inhalten. Zweites Kapitel 13. Der erste Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung, das First Amendment, schützt die Äußerungsfreiheit umfassend und sowohl gegenüber Eingriffen der amerikanischen Bundesregierung als auch der Bundesstaaten. 14. Eine einheitliche Theorie des First Amendment hat sich nicht durchgesetzt. Die gegenwärtige Rechtsprechung des Supreme Court ist nachhaltig durch das von den Richtern Holmes und Brandeis entwickelte Bild eines „Marktplatzes der Ideen“ geprägt. 15. Die Rechtsprechung des Supreme Court lehnt inhaltsbezogene Eingriffe des Staates in die öffentliche Debatte nahezu kategorisch ab. Eingriffe, die an den Inhalt der jeweiligen Äußerung anknüpfen (etwa eine staatliche Missbilligung des Gesagten bedeuten) unterliegen dem strengen, nahezu unüberwindbaren Rechtfertigungsmaßstab der strict scrutiny. Nicht inhaltsbezogene Eingriffe, die nicht den Inhalt, sondern nur die Modalitäten der öffentlichen Debatte regeln, sind demgegenüber im Rahmen des rational basis review (bzw. der intermediate scrutiny) einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung ohne weiteres zugänglich. 16. Verbote volksverhetzender und zu Gewalt aufrufender Äußerungen sind ihrem Wesen nach inhaltsbezogen. Die Ablehnung inhaltbezogener Eingriffe lässt dem Staat kaum Spielraum, derartige Inhalte mit (straf)rechtlichen Mitteln zu bekämpfen. Regulatorische Maßnahmen haben daher allenfalls Aus-
B. Zusammenfassende Thesen
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sicht auf verfassungsrechtlichen Bestand, wenn sie sich auf die anerkannten Schutzbereichsausnahmen, die so genannten unprotected categories beschränken. 17. Group libel: Eine Berufung auf die vormals für Kollektivbeleidigungen anerkannte Schutzbereichsausnahme scheidet aus. Mittlerweile ist anerkannt, dass die beleidigende Natur solcher Äußerungen ihren verfassungsrechtlichen Schutz nicht in Frage stellt. 18. Incitement: Aufrufe zu illegalem Verhalten, insbesondere Gewaltaufrufe, können nur verboten und bestraft werden, wenn (1) der Redner beabsichtigt, zur Gewaltausübung anzustiften, (2) die Äußerung wahrscheinlich tatsächlich illegales Verhalten auslöst und (3) dieses illegale Verhalten unmittelbar bevorsteht. Durch diese Kombination eines subjektiven und eines strengen objektiven Elements schützt das First Amendment auch Gewaltaufrufe in einem aus Sicht der EMRK kaum vorstellbaren Umfang. 19. Fighting words und true threats: Fighting words sind Äußerungen, die den Adressaten zu einer gewalttätigen Reaktion provozieren. True threats sind Äußerungen, die zum Zweck der Einschüchterung gegenüber einem Einzelnen oder einer Gruppe Straftaten androhen. 20. Eine inhaltsbezogene Teilregulierung eigentlich ungeschützter Äußerungen verstößt gegen das First Amendment. Auch innerhalb der Bereichsausnahmen ist der Regulierungsspielraum des Staates daher eng begrenzt. Ein Verbot etwa von fighting words und/oder true threats, das nicht sämtliche dieser (ungeschützten) Äußerungen erfasst, sondern nur solche, die eine bestimmte politische Überzeugung zum Ausdruck bringen, ist mit dem First Amendment nicht vereinbar. Ein solches partielles Verbot ungeschützter Äußerungen verstößt gegen das zentrale Prinzip staatlicher Inhaltsneutralität. 21. Als zentrale Wesenszüge der Rechtsprechung des Supreme Court zum First Amendment sind zu nennen: a) Prägung durch die Metapher des „Marktplatzes der Ideen“: Das Sinnbild des Marktplatzes der Ideen durchzieht die Rechtsprechung des Supreme Court. Staatliche Eingriffe werden zunächst nach ihrem wettbewerbsverfälschenden Potential unterschieden. Inhaltsbezogene Maßnahmen sind im Vergleich zu inhaltsneutralen Regelungen in gesteigertem Maße geeignet, die Wettbewerbsbedingungen im Kampf der Meinungen zu verfälschen; sie sind in hohem Maße rechtfertigungsbedürftig und nur in sehr geringem Maße rechtfertigungsfähig. Die Metapher des „marketplace of ideas“ bringt darüber hinaus ein stark ausgeprägtes Vertrauen in die Selbstheilungskraft der öffentlichen Debatte, die Kraft der Gegenrede, zum Ausdruck. Der staatliche Eingriff kann nur gerechtfertigt sein, wenn die Gegenrede versagt.
266
6. Kap.: Fazit und zusammenfassende Thesen
Zentrale Kritikpunkte gegenüber diesem Ansatz sind der Verzicht auf jegliche objektive Bewertung (als wahr und vernünftig gilt, was sich am „Markt“ durchsetzt), der oftmals fiktive freie Marktzugang, die Selbstbezogenheit des Marktplatzes, der „marktexterne“ Effekte, die sich mittelund langfristig zeigen, sowie nicht marktbezogene Interessen Dritter (der Opfer der Hassrede: Würde, Gleichheit) ausblendet. Diese Kritik ist ohne Einfluss auf die Rechtsprechung des Supreme Court geblieben. b) Inhaltsneutralität: Zentrales Prinzip der Rechtsprechung des Supreme Court zum First Amendment ist die Inhaltsneutralität. Der Staat hat sich von Verfassungs wegen einer inhaltlichen (politischen) Bewertung der jeweils zum Ausdruck gebrachten Idee zu enthalten. Er darf im Wettstreit der Meinungen nicht Partei ergreifen. c) Gefahrenbezogenheit: Eine staatliche Intervention in den Ideenwettstreit setzt eine konkrete Gefahr voraus – die Gewissheit, dass die Kraft der Gegenrede versagen wird bzw. versagt hat. Mittel- und langfristige, also nicht unmittelbare Gefährdungen bleiben unberücksichtigt. d) Abwägungsfeindlichkeit: Das First Amendment wird als in sich geschlossenes System verstanden. Eingriffe werden an ihren Auswirkungen auf die öffentliche Debatte gemessen. Eine Abwägung mit konkurrierenden Rechtsgütern Dritter oder der Allgemeinheit (Würde, Ehre, Gleichheit, Sicherheit) unterbleibt in aller Regel. 22. Die Rechtsprechung des Supreme Court zum First Amendment ist stabil und auch im Anschluss an die Ereignisse des 11. Septembers 2001 – im Gegensatz zu anderen Grundrechtsgewährleistungen – nicht ins Wanken geraten. Drittes Kapitel 23. Sowohl das universelle als auch das regionale Völkerrecht lassen Einschränkungen der Äußerungsfreiheit zur Bekämpfung volksverhetzender Äußerungen in einem aus der Rechtsprechung des EGMR bekannten Ausmaß zu. 24. Darüber hinaus verpflichten einzelne völkerrechtliche Verträge die Unterzeichnerstaaten sogar ausdrücklich, bestimmte volksverhetzende Äußerungen unter Strafe zu stellen. Überdies finden sich in der Rechtsprechung internationaler Gerichte seit den Nürnberger Prozessen Beispiele für die völkerrechtliche Strafbarkeit volksverhetzender Äußerungen. 25. Die Vereinigten Staaten bilden in diesem Zusammenhang eine Ausnahme. Die USA haben gegenüber völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Bekämpfung volksverhetzender Äußerungen durchgängig auf das First Amendment gestützte Vorbehalte erklärt. Aus diesem Grund divergieren die bereits auf
B. Zusammenfassende Thesen
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diesem Gebiet bestehenden völkerrechtlichen Bindungen der europäischen Staaten einerseits und der USA andererseits erheblich. 26. Von der Ausnahmestellung der Vereinigten Staaten abgesehen, würde sich ein spezifisches Verbot der Verbreitung volksverhetzender Äußerungen über das Internet nahtlos in den diesbezüglich bereits bestehenden völkerrechtlichen acquis einfügen. Viertes Kapitel 27. Das First Amendment erweist sich als strenger Mindeststandard, als eigentliche Hürde für die Regulierung von volksverhetzenden und zu Gewalt aufrufenden Inhalten: Kann eine Äußerung im Einklang mit dem First Amendment verboten werden, ist dieses Verbot auch mit Art. 10 EMRK vereinbar. Kann eine Äußerung nicht im Einklang mit Art. 10 EMRK verboten werden, ist dieses Verbot auch mit dem First Amendment unvereinbar. Kann eine Äußerung im Einklang mit Art. 10 EMRK verboten werden, ist dieses Verbot mit dem First Amendment nur vereinbar, wenn die Äußerung (ausnahmsweise) von den Bereichsausnahmen (unprotected categories) erfasst wird und innerhalb dieser Kategorie eine inhaltsbezogene Unterscheidung unterbleibt. 28. Ein Vergleich zwischen Art. 10 EMRK und dem First Amendment fördert folgende Gegensätze zu Tage: a) Die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK ist inhaltsbezogen und werteorientiert. Die Rechtsprechung des Supreme Court zum First Amendment ist inhalts- und werteneutral. b) Der EGMR wendet einen gefahrenneutralen Ansatz an, der Supreme Court lässt einen staatlichen Eingriff hingegen erst zu, wenn die Verwirklichung der Gefahr unmittelbar bevorsteht und somit erwiesen ist, dass die Gegenrede als milderes Mittel ausscheidet. (Potentielle) mittel- und langfristige Effekte einer Äußerung finden im Rahmen von Art. 10 EMRK Berücksichtigung; bei Anwendung des First Amendment bleiben sie außer Betracht. c) Während der EGMR davon ausgeht, dass mit bestimmten privaten Äußerungen eine größere Gefahr für das demokratische Staatswesen verbunden ist als mit einem meinungsselektiven staatlichen Eingriff in die öffentliche Debatte, erscheint aus der Perspektive des Supreme Court ein solcher staatlicher Eingriff als in besonderem Maße undemokratisch, weil er den demokratischen Prozess verzerrt. d) Die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK ist im Prinzip abwägungsoffen und berücksichtigt kollidierende Rechtsgüter im Bestreben um einen verhältnismäßigen Ausgleich. Im Rahmen des First Amend-
268
6. Kap.: Fazit und zusammenfassende Thesen
ment spielen derartige „externe“ Interessen kaum eine Rolle. Maßgeblich sind nahezu ausschließlich die Rückwirkungen eines Eingriffs in das First Amendment auf die öffentliche Debatte. 29. Diesen Gegensatzpaaren liegen unterschiedliche vorrechtliche Prämissen zugrunde, in denen sich auch die unterschiedlichen historischen Erfahrungen spiegeln: Die Staaten Europas halten strafrechtliche Verbote für geeignete Mittel, um Hassredner zum Schweigen zu bringen. Dem liegt eine gemeinsame europäische Überzeugung zugrunde, dass der individuelle und kollektive Schaden solcher Äußerungen ein staatliches Einschreiten, auch zum Schutze der Demokratie, erfordert. Zugleich gehen die europäischen Verfassungsgerichte und der EGMR davon aus, dass säuberlich und fair zwischen legitimen und illegitimen Beiträgen zum Wettbewerb der Ideen getrennt werden kann. Demgegenüber ist das Vertrauen der Vereinigten Staaten in den unregulierten Marktplatz der Ideen ungebrochen. Dem entspricht ein tiefes Misstrauen gegenüber staatlichen Eingriffen in die öffentliche Debatte. 30. In juristischer Hinsicht bieten die Unterschiede im Wortlaut der jeweiligen Gewährleistungen der Äußerungsfreiheit einen ersten Erklärungsansatz. Während Art. 10 EMRK insbesondere in Verbindung mit Art. 17 EMRK Anknüpfungspunkte für eine inhaltsbezogene Prüfung einer Äußerung bietet, ist der Wortlaut des First Amendment absolut gehalten. Auch der übrige Verfassungstext enthält kein Art. 17 EMRK vergleichbares „Einfallstor“ für eine inhaltliche Bewertung. 31. Methodische Differenzen: Der Auslegungsansatz des EGMR ist holistisch. Die Konvention wird als ein in sich geschlossenes und aufeinander abgestimmtes normatives System begriffen. Der Supreme Court versteht die Bill of Rights demgegenüber als eine nahezu zusammenhangslose Aufzählung einzelner Rechte, die ohne Wechselwirkungen anzuwenden sind. 32. Grundrechtsdogmatische Unterschiede: Die EMRK erlegt dem Staat auch Schutz- bzw. Gewährleistungspflichten auf. Dies führt insbesondere in dreipoligen Grundrechtsverhältnissen (in Fällen der Hassrede im Dreieck Redner [Art. 10 EMRK] – Staat – Betroffener [Art. 8 EMRK]) zu Kollisionen zwischen Abwehrrechten und Schutzpflichten, die im Rahmen der Grundrechtsauslegung und -anwendung aufgelöst werden müssen. Der Supreme Court ist mit solchen doppelt grundrechtlich geprägten Situationen nicht konfrontiert. Er hat grundrechtliche Schutz- und Leistungspflichten kategorisch ausgeschlossen. 33. Unterschiedlicher historischer Hintergrund: Die historischen Erfahrungen Europas haben das Vertrauen in Verlässlichkeit und Wirkungskraft der Gegenrede diesseits des Atlantiks erheblich geschwächt und ein tiefes Miss-
B. Zusammenfassende Thesen
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trauen gegenüber den Selbstheilungs- und Selbstverteidigungsmechanismen der Demokratie geschaffen. Demgegenüber ist das Vertrauen der USA in die Kraft der Gegenrede und das Misstrauen gegenüber staatlicher Intervention in den Prozess der Meinungsbildung ungebrochen. Das Prinzip der wehrhaften Demokratie, wie es auch in Art. 17 EMRK Ausdruck findet, ist dem amerikanischen Verfassungsrecht fremd. Fünftes Kapitel 34. Die regulatorischen Konsequenzen sind deutlich: Eine transatlantische regulatorische Zusammenarbeit kommt nur in denjenigen Bereichen in Betracht, in denen auch das First Amendment Beschränkungen der Äußerungsfreiheit zulässt. Der regulatorische Spielraum ist von minimalem Umfang. 35. Sämtliche materielle Vorschriften des Zusatzprotokolls zum Cybercrime Übereinkommen sind mit dem First Amendment unvereinbar. Sie erweisen sich durchgängig als overbroad, weil ihr Anwendungsbereich nicht auf solche Äußerungen und Inhalte beschränkt, die im Einklang mit dem First Amendment (inhaltsneutral) verboten werden dürfen. Eine Beteiligung an diesem Zusatzprotokoll oder einer ähnlichen Regelung ist den Vereinigten Staaten aus Gründen des First Amendment verwehrt. 36. Ein Gegenbeispiel bilden die völkerrechtlichen Bemühungen zur Bekämpfung der Verbreitung kinderpornographischer Inhalte. An den in diesem Zusammenhang geschlossenen Übereinkommen konnten sich die USA beteiligen, da auch das First Amendment diesen Inhalten nur einen sehr eingeschränkten Schutz bietet. 37. Eine transatlantische Zusammenarbeit zur völkerrechtlichen Regulierung von volksverhetzenden und zu Gewalt aufrufenden Äußerungen ist auf absehbare Zeit aus im First Amendment wurzelnden Gründen, ausgeschlossen.
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Stichwortregister Bei kursiv gesetzten Einträgen handelt es sich um Gerichtsentscheidungen. Abrams v. United States 126, 150, 152 f. Abwägungsbezogenheit 118 Abwägungsfeindlichkeit 118, 176, 188, 190, 224, 249, 266 Abwägungsregel 74, 75, 76, 80 Achtungsanspruch 116, 243 ad hoc balancing 137, 189 advocacy of illegal conduct 136, 145 f., 150, 178 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 41, 193, 197, 236 Amerikanische Konvention der Menschenrechte 203 Anerkennung, gegenseitige 26 Arslan ./. Turkey 101 Ashcroft v. The Free Speech Coalition 257 audiovisuelle Mediendiensterichtlinie 212, 213 Auschwitzlüge 27, 33, 113 f., 117, 146 Ausschuss zur Beseitigung der Rassendiskriminierung 197 Bad Tendency Test 151, 152 Beauharnais v. Illinois 146 ff., 172, 254 Beleidigung 116, 146 ff., 160, 183 ff., 206, 211, 254 Bestimmtheit 57 ff., 134, 219, 234 Beurteilungsspielraum 49, 62 ff., 98 ff. Bill of Rights 39, 120, 186, 235, 236, 241 f., 268 Binnenmarktrichtlinien 212 Brandenburg v. Ohio 150, 157 ff., 171, 182, 201, 217, 219 f.,
campus speech codes 183 Canadian Charter of Rights and Freedoms 226 certiorari 146 Charta der Grundrechte der Europäischen Union 65 Child Online Protection Act (COPA) 140 Child Pornography Prevention Act (CPPA) 144 chilling effect 58, 133, 135, 140, 179, 189, 231, 234, 238, Clear and Present Danger Test 105, 151 ff., 173 Collin v. Smith 148 Committee on the Elimination of Racial Discrimination (CERD) 197 common law 56, 58 Communications Decency Act (CDA) 141 compelling interest/interests 137 Computerkriminalität 30, 35, 138, 205, 251, 255 ff., 259, conduct 122, 124, 128, 145, 156, 168, 178, 223, 231 contrôle de conventionalité 44 Critical Race Studies 183 cross burning 166 ff., 182, 218 Cybercrime-Convention 206 f., 211, 214 Debs v. United States 150 f., 153 definitional balancing 189 f. Demokratiebezogenheit 116 Dennis v. United States 150, 156, 158 due regard clause 197
Stichwortregister E-Commerce-Richtlinie 212 f. Equal Protection Clause 164, 166, 175, 186 Espionage Act 150 f. Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) 207 f. Europäische Union 45, 204, 208, 211 f. Europarat 34, 41, 66, 109, 204 f., 207 f. European Convention on Human Rights Act 45 expressive conduct 128 Faurisson ./. France 195 f., 201 Ferber v. New York 143 fighting words 145 f., 150, 160 ff., 171 f., 174, 178, 181, 185, 187 f., 218 f., 221, 224, 252, 265 Freiheitsbezogenheit 190 Frohwerk v. United States 150 f., 153 Garaudy ./. France 75, 83, 84 ff., 219 Gefahrenbezogenheit 176, 187, 222 f., 223, 266 Gefahrenneutralität 116 ff., 222 f., 247, 265 Gegenrede 105, 109 117, 127, 132, 154 f., 177 ff., 184, 187, 190, 223 f., 234, 237, 246 f., 264 ff. Generalversammlung der Vereinten Nationen 41, 193, 198 f., 202 f. Gesetzesbegriff, materieller 56 Gewaltaufruf 33, 64, 76, 98, 100, 105, 111 f., 114, 118 f., 146, 160, 171, 173, 183, 187, 192, 197, 201, 217, 245, 247, 249, 251, 263, 265 Gitlow v. People of State of New York 153, 158, 160, 182 Gleichheit 111, 116, 182, 186, 190, 210, 214, 222, 224, 227 f., 234, 239, 241 f., 249, 266 Glimmerveen & Hagenbeek ./. The Netherlands 87 ff., 114, 220 Gündüz ./. Turkey 108, 110
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Handyside ./. United Kingdom 47, 98 Harmonisierung 26, 30 259 Harmonisierungsversuch 30 hate propaganda 225, 228, 230 Herkunftslandprinzip 212 f. Holocaust 27 f., 76 ff., 85 ff., 93, 11, 113, 117, 148, 202 f., 216, 219, 223, 225, 230, 246, 250, 261, 263 Holocaust-Leugnung 82, 85, 117 Human Rights Act 45 Incitement 84, 104, 108, 136, 145 f., 150, 153, 155, 171 f., 174, 178, 187 ff., 199, 201, 204, 219 f., 221, 224, 252 f., 265 Individualbeleidigung 147 Informationsfreiheit 53 Inhaltsbezogenheit 112, 115 f., 119, 139, 165, 221 f., 239 Inhaltsneutralität 130, 172, 176, 186 f., 190, 265 f. intermediate scrutiny 177, 188, 221, 264 Internationale Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords (Völkermordkonvention) 198 f. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte/IPBPR 193 ff., 204, 214, 228, 237, 245 Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) 199 ff. Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung/IÜBR 196 f., 204, 228, 237 intimidation 169 Jersild ./. Denmark 75, 89 f., 109, 114, 201, 208 Jugendschutz 129, 140 Kinderpornographie 35, 138, 142 ff., 256 ff. Kinderrechtskonvention 138, 257 Klagebefugnis 133 ff. Kollektivbeleidigung 146 f., 254, 265
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Stichwortregister
Kompetenznorm 47, 243 Ku Klux Klan 158, 167 f., 170 f. Kühnen ./. Germany 89 f., 220 law-making treaty 42 Lawless ./. Irland 70 Lehideux & Isorni 67, 72, 75, 81, 83, 90, 113 Leistungspflichten 244, 268 level playing field 181 libel 136, 146, 149, 265 Lingens ./. Austria 98, 112, 248 living constitution 242 Loi Gayssot 196 London Charter 196 Marais ./. Frankreich 78 margin of appreciation 62 Markteintritt 179 Marktplatz der Ideen 125 ff., 129, 136, 152, 155, 176 ff., 184, 186, 223, 229, 231 ff., 235, 237, 242, 246, 249, 261, 264 ff., 268 Marktzugang 188, 266 Marktzutrittsschranken 178 f., 181, 212 Meinungsäußerung 33, 49 f., 54, 61, 63, 67, 76 f., 86 ff., 90 ff., 97, 104, 108, 110, 112, 114, 117 f., 153, 201, 206, 220, 222, 250, 263 Meinungsbezug 166, 222 Menschenwürde 116, 190, 208, 210, 213 f., 222 Miller v. California 139 f., 142, 144 Ministerkomitee 109, 208 Missbrauchsverbot 64 f., 68, 70, 73, 80, 82, 114, 193 Multikulturalismus 234 Nationalsozialismus 41, 66, 81, 91, 230, 246 Nationalstaat 26, 32, 262 New York Times v. Sullivan 136, 148 f., 248
Norwood ./. United Kingdom 73, 75, 91 f., 114, 117, 219 obszön, Obszönitäten 138 ff., 143 ff., 182, 257 originalism 242 overbreadth 132 ff., 163, 172, 174, 179, 219 ff., 234, 254 Pavel Ivanov ./. Russian Federation 75, 92, 114 Personalitätsprinzip 28 Persönlichkeitsentfaltung 47, 113 Pluralismus 61, 69, 99, 111, 115, 218, 236, 239, 241, 249, 263 positive obligations 243 preferred freedom, preferred position 49, 173, 175 Pressefreiheit 53, 28, 62, 120, 150 f. Prosecutor v. Nahimana 199 R. v. Keegstra 36, 225, 234 f., 237, 240 f., 246, 261 R.A.V. v. St. Paul 160 f., 164 ff., 181, f., 185, 187, 189, 216, 218, 236, 252, 254 f. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit 211 Rassendiskriminierung 88, 109, 196 f. Rassenhass 77, 83, 197, 201 rational basis review 131 f., 136, 164, 173, 177, 188, 264 Rechtwegerschöpfung 59 Refah Partisi ./. Turkey 66 f., 69 f., 72, 74 regulatory arbitrage 27 Reid v. Covert 39 Reno v. ACLU 129 ripeness 29 Roe v. Wade 175 saving construction 133 Schenck v. United States 150 ff.
Stichwortregister Schrankenklausel 74, 193, 227, 233, 235 f. 238, 240, 243 Schutzbereich 48, 50 ff., 75 f., 78 f., 82, 86, 88, 111, 114, 118, 122, 127, 135 f., 138, 144 ff., 161, 163, 217, 221, 226 f., 254, 256, 263 f. Schutzbereichsbegrenzung 68, 74 ff., 84, 90, 224 Schutzbereichsbeschränkung 74 ff., 86, 114 Schutzpflichten 243 f., 244, 268 Selbstregulierung 261 slippery slope 189, 238 soft law 192, 202 Sperrungsverfügung 30 f., 213 standing 133, 135 Statut von Rom 198 Strafverfolgung 28, 58, 140, 260 strict constructionism 242 strict scrutiny 132 f., 136 f., 142, 163 f., 172 ff., 175, 178, 186, 188, 219 ff., 254, 255, 264 Subsidiarität 63, 179 substantive due process 175 summary judgment 29 Sunday-Times-Test 57 Sürek ./. Turkey (No. 1) 93, 97 f., 102 ff., 217, 220 symbolic expression 168 Tatsachenbehauptung 51, 85 ff., 90, 113, 146, 180 Territorialitätsprinzip 28 Terrorismus 64, 102, 158 f., 191 time, place and manner restriction 130, 173 Toleranz 61, 69, 92, 93, 99, 110 f., 115, 121, 186, 218, 236, 239, 241, 249, 263 travaux préparatoires 65, 193 true threats 136, 145 f., 150, 167 ff., 178, 187 f., 201, 219, 221, 224, 252 ff., 265
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Übereinkommen über Computerkriminalität 30, 205, 251, 255, 259 under-inclusive 252 underlying values 110, 115, 240, 263 United Communist Party of Turkey 72 United States v. Schwimmer 156 unprotected category/categories 135, 137, 146 ff., 163, 165, 172 f., 178, 221, 252, 254, 265, 267 vagueness 132, 134 f., 172, 174, 179, 219 Virginia v. Black 167, 170 f., 182, 191, 201, 216, 218, 253 f. Volksverhetzung 27, 33, 87 f., 90, 97, 108, 116 f. 135, 146, 194, 216 von Hannover ./. Germany 244 Vorbehalt 194 f., 197 f., 204, 214, 237, 239, 248, 250, 257 f., 266 Vorhersehbarkeit 57 f., 134, 217 Wachhund, öffentlicher 53, 99 wehrhafte Demokratie 66 f., 246 f., 263, 269 Werteorientierung 112, 220, 240 Wertneutralität 190, 222 Wertordnung 241 Werturteil 114, 229 Wettbewerb der Ideen 165, 178 ff., 184, 222, 232, 235, 238, 241, 243, 248, 268 Whitney v. California 127, 154 ff. Witzsch ./. Germany I 75, 82 ff., 219 Witzsch ./. Germany II 75, 85 Yahoo-Fall 28, 260 Zana ./. Turkey 93 ff., 100 f., 103 f., 106, 201 Zensur 54, 125 Zugänglichkeit 57, 517 Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität 205 ff., 211, 214, 251 f., 255, 259, 269