Handbuch Produktions- und Logistikmanagement in Wertschöpfungsnetzwerken 9783110473803, 9783110471304

The manual covers the most important topics in detail, including process and system design, organization and human resou

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German Pages 1340 Year 2018

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Autorenverzeichnis
Konzeptioneller und inhaltlicher Überblick
Teil A: Grundlagen und Ziele
Aufgaben und Ziele des Produktions- und Logistikmanagements
Entwicklungszüge in der Logistik
Die strategische Bedeutung des Supply Chain Managements
Circular Supply Chain: Combining Supply Chain Strategy and Circular Economy
Unternehmensnetzwerke
Organisation der Produktion und Logistik in Wertschöpfungsnetzwerken
Change Management: Erfolgsfaktor für den hyperkomplexen Wandel von Produktions- und Logistiksystemen
Optimierungsmodelle im Supply Chain Management
Teil B: Gestaltung des Leistungsprogramms
Produktions- und Absatzprogrammplanung in Wertschöpfungsnetzwerken
Umweltorientierte Gestaltung des Leistungsprogramms
Sortimentsplanung in filialisierten Handelsunternehmungen
Auftragsorientierte Produktionsprogrammplanung
Revenue Management mit flexiblen Produkten
Produktverantwortlichkeit in Wertschöpfungsnetzwerken
Das Retourenmanagement im interaktiven Handel
Teil C: Systemgestaltung
Kapazitätsdimensionierung von Produktionssystemen
Konfigurierung von Montagelinien
Planung von Kommissioniersystemen: Von der manuellenPerson-zur-Ware-Kommissionierung bis zu autonomen Transportsystemen im Rahmen von Industrie 4.0
Transportsysteme und Infrastruktur
Planung und Optimierung von Hub-and-Spoke-Transportnetzwerken im Sammelgutverkehr
Anreizsysteme
Arbeitszeitflexibilisierung
Personaleinsatzplanung in einem Cross-Docking-Zentrum
Behavioral Operations Management
Strategisches Beschaffungsmanagement
Öffentliche Beschaffung
Sourcing-Strategien
Lieferantenauswahl
Teil D: Prozessgestaltung und -steuerung
Management von Produktionsanläufen
Layoutplanung
Fließbandabgleich
Projektscheduling
Auftragsfreigabe und Produktionssteuerung
Dynamische Losgrößenplanung
Lagerhaltung in Closed-Loop Supply Chains
Handelslogistik
Konsumgüterdistribution
Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken
Tourenplanung
Teil E: Controlling
Produktions- und Logistikcontrolling als Bereichscontrolling
Supply Chain Controlling
Risikocontrolling
Nachhaltigkeitscontrolling in Wertschöpfungsnetzwerken
Performance Measurement
Logistikkennzahlen für das Performance Measurement
Kostenmanagement
Teil F: Energie- und Ressourceneffizienz
Produktion und Umwelt
Nachhaltiges Supply Chain Management
Kreislaufwirtschaft und Recycling
Energie- und ressourceneffiziente Produktion
Energieflexibilität in der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung
Multikriterielle Produktionsplanung
Urbane Produktion
Gestaltung nachhaltiger urbaner Mobilität
Emissionsorientierte Transportlogistik
Planungsaufgaben und Entscheidungsunterstützung im Kontext der Elektromobilität
Integrierte Technikbewertung
Life Cycle Assessment
Teil G: Digitalisierung von Produktion und Logistik
Integrierte Produktionsplanung und -steuerung in Wertschöpfungsnetzwerken mit APS und MES
„Industrie 4.0“ – Stand und Perspektiven digital vernetzter Produktions- und Produktsysteme
Geschäftsmodelle in der Industrie 4.0
Logistik 4.0
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Handbuch Produktions- und Logistikmanagement in Wertschöpfungsnetzwerken
 9783110473803, 9783110471304

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Hans Corsten, Ralf Gössinger, Thomas S. Spengler (Hrsg.) Handbuch Produktions- und Logistikmanagement in Wertschöpfungsnetzwerken

Hans Corsten, Ralf Gössinger, Thomas S. Spengler (Hrsg.)

Handbuch Produktions- und Logistikmanagement in Wertschöpfungsnetzwerken

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ISBN 978-3-11-047130-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047380-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047168-7 Library of Congress Control Number: 2018941949 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: NathanJamesCox/iStock/Getty Images Plus Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com

Vorwort Das Produktions- und Logistikmanagement in Wertschöpfungsnetzwerken hat seine inhaltlichen und methodischen Impulse aus unterschiedlichen betriebswirtschaftli­ chen Spezialisierungen erhalten. So sind neben dem Produktions- und Logistikma­ nagement selbst, insbesondere das Operations Research, die Wirtschaftsinformatik und die Unternehmungsführung zu nennen. Ziel der Herausgeber war es dann auch, dass sich dieser Pluralismus im vorliegen­ den Werk in angemessener Form widerspiegelt. Darüber hinaus war es ein Anliegen, mit diesem Handbuch eine theoretische und praktische Fundierung zu bieten und da­ bei aktuelle Entwicklungen aufzuzeigen. Als Autoren wurden deshalb Wissenschaft­ ler gewonnen, die in den jeweiligen Problemfeldern seit Jahren forschen. Auf dieser Grundlage ist ein forschungsorientierter Sammelband entstanden, der sieben Teile umfasst: A: Grundlagen und Ziele B: Gestaltung des Leistungsprogramms C: Systemgestaltung D: Prozessgestaltung und -steuerung E: Controlling F: Energie- und Ressourceneffizienz G: Digitalisierung von Produktion und Logistik Das Handbuch richtet sich an Studierende, Wissenschaftler und interessierte Prakti­ ker, die sich mit Problemen und Lösungsansätzen im Produktions- und Logistikbe­ reich auseinandersetzen. Es bietet einen ausgewogenen Überblick über das Spektrum produktionswirtschaftlicher und logistischer Aufgabenstellungen und Lösungsansät­ ze. Darüber hinaus unterstützt es sowohl den fundierten Einstieg in die Grundlagen der einzelnen Themenbereiche als auch die vertiefende Auseinandersetzung mit De­ tailfragen aus der aktuellen Forschung. Danken möchten wir allen Autoren, ohne deren tatkräftige Unterstützung dieses Werk nicht hätte entstehen können. Wir danken den wissenschaftlichen Mitarbeitern, Herrn Dipl.-Wirtschaftsingenieur Christian Dost und Herrn Dr. Matthias G. Wichmann, die uns bei der redaktionellen Aufbereitung engagiert unterstützt haben. Frau Carmen Kranz danken wir für die organisatorische Unterstützung und die formatierenden Vor­ arbeiten. Unser Dank gilt ferner Herrn Dr. Stefan Giesen vom DeGruyter Oldenbourg Verlag für die gute Zusammenarbeit. Hans Corsten

Ralf Gössinger

https://doi.org/10.1515/9783110473803-201

Thomas S. Spengler

Inhalt Vorwort | V Autorenverzeichnis | XIII Hans Corsten, Ralf Gössinger und Thomas S. Spengler Konzeptioneller und inhaltlicher Überblick | 1

Teil A: Grundlagen und Ziele Udo Buscher Aufgaben und Ziele des Produktions- und Logistikmanagements | 13 Mathias Mathauer, Wolfgang Stölzle und Erik Hofmann Entwicklungszüge in der Logistik. Treiber, Trends und konzeptionelle Überlegungen für die Zukunft | 31 Herbert Kotzab und Lukas Biedermann Die strategische Bedeutung des Supply Chain Managements | 55 Werner Jammernegg, Gerald Reiner, and Tina Wakolbinger Circular Supply Chain: Combining Supply Chain Strategy and Circular Economy | 67 Gordon Müller-Seitz und Markus Kowalski Unternehmensnetzwerke | 86 Norbert Bach Organisation der Produktion und Logistik in Wertschöpfungsnetzwerken | 104 Michael Reiß Change Management: Erfolgsfaktor für den hyperkomplexen Wandel von Produktions- und Logistiksystemen | 124 Martin Steinrücke und Wolfgang Albrecht Optimierungsmodelle im Supply Chain Management | 147

VIII | Inhalt

Teil B: Gestaltung des Leistungsprogramms Marion Steven Produktions- und Absatzprogrammplanung in Wertschöpfungsnetzwerken | 169 Rainer Souren Umweltorientierte Gestaltung des Leistungsprogramms | 185 Hans Corsten und Benedikt Kasper Sortimentsplanung in filialisierten Handelsunternehmungen | 211 Hagen Salewski Auftragsorientierte Produktionsprogrammplanung | 230 Jochen Gönsch Revenue Management mit flexiblen Produkten | 246 Christian Stauf und Michael Hassemer Produktverantwortlichkeit in Wertschöpfungsnetzwerken | 273 Björn Asdecker und Eric Sucky Das Retourenmanagement im interaktiven Handel. Die Rückwärtslogistik im digitalen Zeitalter | 294

Teil C: Systemgestaltung Stefan Minner Kapazitätsdimensionierung von Produktionssystemen | 311 Michael Manitz Konfigurierung von Montagelinien. Die Produktivität von Fließproduktionssystemen | 323 Ralf Elbert und Jan Philipp Müller Planung von Kommissioniersystemen: Von der manuellen Person-zur-Ware-Kommissionierung bis zu autonomen Transportsystemen im Rahmen von Industrie 4.0 | 343 Sebastian Kummer Transportsysteme und Infrastruktur | 358

Inhalt | IX

Günther Zäpfel und Michael Wasner Planung und Optimierung von Hub-and-Spoke-Transportnetzwerken im Sammelgutverkehr | 369 Fred G. Becker und Jana M. Gieselmann Anreizsysteme. Conditio sine qua non betrieblicher Wertschöpfung! | 387 Stefan Süß Arbeitszeitflexibilisierung | 413 Ferdinand Becker und Hans Corsten Personaleinsatzplanung in einem Cross-Docking-Zentrum | 426 Guido Voigt Behavioral Operations Management | 454 Ronald Bogaschewsky Strategisches Beschaffungsmanagement | 469 Michael Eßig Öffentliche Beschaffung | 487 Rainer Lasch Sourcing-Strategien | 502 Rudolf O. Large Lieferantenauswahl | 518

Teil D: Prozessgestaltung und -steuerung Justus A. Schwarz und Raik Stolletz Management von Produktionsanläufen | 539 Ralf Gössinger und Bernd Hillebrand Layoutplanung | 553 Joachim Reese Fließbandabgleich | 592 Rainer Kolisch Projektscheduling | 609

X | Inhalt

Christoph Schwindt Termin- und Kapazitätsplanung | 624 Hubert Missbauer Auftragsfreigabe und Produktionssteuerung | 646 Florian Sahling Dynamische Losgrößenplanung | 676 Gudrun P. Kiesmüller Lagerhaltung in Closed-Loop Supply Chains | 695 Heinrich Kuhn, Andreas Holzapfel und Manuel Ostermeier Handelslogistik | 716 Andreas Otto, Maximilian Lukesch, Christian Brabänder und Florian Kellner Konsumgüterdistribution | 737 Martin J. Geiger und Sandra Huber Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken | 759 Dirk C. Mattfeld Tourenplanung | 786

Teil E: Controlling Birgit Friedl Produktions- und Logistikcontrolling als Bereichscontrolling | 811 Philipp Dräger, Peter Letmathe und Matthias Schinner Supply Chain Controlling | 829 Anton Burger und Niels Ahlemeyer Risikocontrolling | 842 Edeltraud Günther und Lisa Koep Nachhaltigkeitscontrolling in Wertschöpfungsnetzwerken | 860 Heinz Ahn und Marcel Clermont Performance Measurement | 886

Inhalt | XI

Birgit Friedl Logistikkennzahlen für das Performance Measurement | 904 Ernst Troßmann Kostenmanagement | 923

Teil F: Energie- und Ressourceneffizienz Harald Dyckhoff Produktion und Umwelt | 949 Philipp C. Sauer, Stefan Seuring, Valentin Sommer und Grit Walther Nachhaltiges Supply Chain Management | 976 Thomas S. Spengler und Kerstin Schmidt Kreislaufwirtschaft und Recycling | 994 Matthias G. Wichmann Energie- und ressourceneffiziente Produktion | 1020 Lukas Strob, Kristian Bänsch und Thomas Volling Energieflexibilität in der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung | 1043 Andreas Kleine und Jonas Ostmeyer Multikriterielle Produktionsplanung. Dilemma energieflexibler Ablaufplanung | 1081 Max Juraschek, Sebastian Thiede und Christoph Herrmann Urbane Produktion. Potenziale und Herausforderungen der Produktion in Städten | 1113 Marcus Brandenburg und Hans-Otto Günther Gestaltung nachhaltiger urbaner Mobilität. Entwicklungspfade zu emissionsfreien Megastädten | 1134 Frank Meisel Emissionsorientierte Transportlogistik | 1153 Karsten Kieckhäfer Planungsaufgaben und Entscheidungsunterstützung im Kontext der Elektromobilität | 1164

XII | Inhalt

Jutta Geldermann Integrierte Technikbewertung | 1191 Lilly Meynerts und Uwe Götze Life Cycle Assessment. Ökologische Bewertung im Rahmen des Produktions- und Logistikmanagements | 1210

Teil G: Digitalisierung von Produktion und Logistik Roland Rollberg Integrierte Produktionsplanung und -steuerung in Wertschöpfungsnetzwerken mit APS und MES | 1245 Robert Obermaier „Industrie 4.0“ – Stand und Perspektiven digital vernetzter Produktions- und Produktsysteme | 1266 Wolfgang Kersten Geschäftsmodelle in der Industrie 4.0 | 1286 Kai-Ingo Voigt, Julian Müller, Johannes Veile und Lukas Maier Logistik 4.0 | 1304

Autorenverzeichnis Dr. Niels Ahlemeyer Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für ABWL und Unternehmensrechnung, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Univ.-Prof. Dr. Heinz Ahn Institut für Controlling und Unternehmensrechnung, Technische Universität Braunschweig Dr. Wolfgang Albrecht Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für ABWL sowie Gründungsplanung und Supply Chain Management, Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald Dr. Björn Asdecker Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für BWL, insb. Produktion und Logistik, Universität Bamberg Univ.-Prof. Dr. Norbert Bach Lehrstuhl für Unternehmensführung und Organisa­ tion, Technische Universität Ilmenau Kristian Bänsch Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für BWL, insb. Pro­ duktion und Logistik, FernUniversität in Hagen Ferdinand Becker Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Produktions­ wirtschaft, Technische Universität Kaiserslautern Univ.-Prof. Dr. Fred G. Becker Lehrstuhl für BWL, insb. Personal, Organisation und Unternehmungsführung, Universität Bielefeld Lukas Biedermann Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Logistik, Uni­ versität Bremen Univ.-Prof. Dr. Ronald Bogaschewsky Lehrstuhl für BWL und Industriebetriebs­ lehre, Julius-Maximilians-Universität Würzburg Christian Brabänder Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Controlling und Logistik, Universität Regensburg Prof. Dr. Marcus Brandenburg Professur für BWL, insb. Logistik und Supply Chain Management, Fachhochschule Flensburg Univ.-Prof. Dr. mult. Anton Burger Lehrstuhl für ABWL und Unternehmensrech­ nung, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Univ.-Prof. Dr. Udo Buscher Lehrstuhl für BWL, insb. Industrielles Management, Technische Universität Dresden Dr. Marcel Clermont Akademischer Rat am Institut für Controlling und Unterneh­ mensrechnung, Technische Universität Braunschweig Univ.-Prof. Dr. Hans Corsten Lehrstuhl für Produktionswirtschaft, Technische Uni­ versität Kaiserslautern Philipp Dräger Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Controlling, Rhei­ nisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Univ.-Prof. Dr. em. Harald Dyckhoff Fachgebiet für Operations Management, Rhei­ nisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Univ.-Prof. Dr. Ralf Elbert Fachgebiet Unternehmensführung und Logistik, Techni­ sche Universität Darmstadt

XIV | Autorenverzeichnis

Univ.-Prof. Dr. Michael Eßig Lehrstuhl für ABWL, insb. Materialwirtschaft und Dis­ tribution, Universität der Bundeswehr München Univ.-Prof. Dr. Birgit Friedl Institut für BWL, Lehrstuhl für Controlling, ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel Univ.-Prof. Dr. Martin J. Geiger Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Lo­ gistik-Management, Helmut-Schmidt-Universität – Universität der Bundeswehr Hamburg Univ.-Prof. Dr. Jutta Geldermann Lehrstuhl für Produktion und Logistik, GeorgAugust-Universität Göttingen Jana M. Gieselmann Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für BWL, insb. Personal, Organisation und Unternehmungsführung, Universität Bielefeld Univ.-Prof. Dr. Jochen Gönsch Professur für BWL, insb. Service Operations, Univer­ sität Duisburg-Essen Univ.-Prof. Dr. Ralf Gössinger Lehrstuhl für Produktion und Logistik, Technische Universität Dortmund Univ.-Prof. Dr. Prof. h. c. Uwe Götze Lehrstuhl BWL III – Unternehmensrechnung und Controlling, Technische Universität Chemnitz Univ.-Prof. Dr. Edeltraud Günther Lehrstuhl für BWL, insb. Betriebliche Umwelt­ ökonomie, Technische Universität Dresden Univ.-Prof. em. Dr. Hans-Otto Günther Fachgebiet Produktionsmanagement, Tech­ nische Universität Berlin Univ.-Prof. Dr. Michael Hassemer Lehrstuhl für Zivilrecht, Wirtschaftsrecht, Geisti­ ges Eigentum, Technische Universität Kaiserslautern Univ.-Prof. Dr.-Ing. Christoph Herrmann Institut für Werkzeugmaschinen und Fer­ tigungstechnik, Technische Universität Braunschweig Bernd Hillebrand Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Produktion und Logistik, Technische Universität Dortmund Univ.-Prof. Dr. Erik Hofmann Lehrstuhl für Logistikmanagement, Universität St. Gallen Prof. Dr. Andreas Holzapfel Professur für Logistik-Management, Hochschule Gei­ senheim Dr. Sandra Huber Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für BWL, insb. Lo­ gistik-Management, Helmut-Schmidt-Universität – Universität der Bundeswehr Hamburg Univ.-Prof. Dr. Werner Jammernegg Institute for Production Management, Wirt­ schaftsuniversität Wien Max Juraschek Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik, Technische Universität Braunschweig Benedikt Kasper Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Produktionswirt­ schaft, Technische Universität Kaiserslautern Dr. Florian Kellner Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Controlling und Logistik, Universität Regensburg

Autorenverzeichnis

| XV

Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfgang Kersten Institut für Logistik und Unternehmens­ führung, Technische Universität Hamburg Dr. Karsten Kieckhäfer Akademischer Rat am Institut für Automobilwirtschaft und Industrielle Produktion, Lehrstuhl für Produktion und Logistik, Technische Uni­ versität Braunschweig Univ.-Prof. Dr. Gudrun P. Kiesmüller Lehrstuhl für BWL, insb. Operations Manage­ ment, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Univ.-Prof. Dr. Andreas Kleine Lehrstuhl für BWL, insb. Quantitative Methoden und Wirtschaftsmathematik, FernUniversität in Hagen Lisa Koep Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für BWL, insb. Betriebliche Umweltökonomie, Technische Universität Dresden Univ.-Prof. Dr. Rainer Kolisch Lehrstuhl für Operations Management, Technische Universität München Univ.-Prof. Dr. Herbert Kotzab Lehrstuhl für ABWL und Logistikmanagement, Uni­ versität Bremen Dr. Markus Kowalski Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strategie, In­ novation und Kooperation, Technische Universität Kaiserslautern Univ.-Prof. Dr. Heinrich Kuhn Lehrstuhl für Supply Chain Management & Opera­ tions, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Univ.-Prof. Dr. Sebastian Kummer Institut für Transportwirtschaft und Logistik, Wirtschaftsuniversität Wien Univ.-Prof. Dr. Rudolf O. Large Lehrstuhl für ABWL, Logistik- und Beschaffungs­ management, Universität Stuttgart Univ.-Prof. Dr. Rainer Lasch Lehrstuhl für BWL, insb. Logistik, Technische Univer­ sität Dresden Univ.-Prof. Dr. Peter Letmathe Lehrstuhl für Controlling, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Maximilian Lukesch Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für BWL, Lehrstuhl für Controlling und Logistik, Universität Regensburg Lukas Maier Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für BWL, insb. Industriel­ les Management, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Univ.-Prof. Dr. Michael Manitz Lehrstuhl für BWL, insb. Produktionswirtschaft und Supply Chain Management, Universität Duisburg-Essen Mathias Mathauer Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Logistikma­ nagement, Universität St. Gallen Univ.-Prof. Dr. Dirk C. Mattfeld Institut für Wirtschaftsinformatik, Lehrstuhl Decisi­ on Support, Technische Universität Braunschweig Univ.-Prof. Dr. Frank Meisel Institut für BWL, Professur für Supply Chain Manage­ ment, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Dr. Lilly Meynerts Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für BWL III – Unter­ nehmensrechnung und Controlling, Technische Universität Chemnitz

XVI | Autorenverzeichnis

Univ.-Prof. Dr. Stefan Minner Lehrstuhl für Logistik und Supply Chain Manage­ ment, Technische Universität München Univ.-Prof. Dr. Hubert Missbauer Institut für Wirtschaftsinformatik, Produktions­ wirtschaft und Logistik, Lehrstuhl für Produktionswirtschaft und Logistik, Uni­ versität Innsbruck Jan P. Müller Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Unternehmensführung und Logistik, Technische Universität Darmstadt Julian Müller Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für BWL, insb. Industri­ elles Management, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Univ.-Prof. Dr. Gordon Müller-Seitz Lehrstuhl für Strategie, Innovation und Koope­ ration, Technische Universität Kaiserslautern Univ.-Prof. Dr. Robert Obermaier Lehrstuhl für BWL mit Schwerpunkt Accounting und Controlling, Universität Passau Manuel Ostermeier Externer Doktorand am Lehrstuhl für Supply Chain Manage­ ment & Operations, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Jonas Ostmeyer Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für BWL, insb. Quanti­ tative Methoden und Wirtschaftsmathematik, FernUniversität in Hagen Univ.-Prof. Dr. Andreas Otto Lehrstuhl für Controlling und Logistik, Universität Regensburg Univ.-Prof. Dr. Joachim Reese Institut für Unternehmensentwicklung, Lehrstuhl für BWL, insb. Operations Management, Leuphana Universität Lüneburg Univ.-Prof. Dr. Gerald Reiner Institut für Produktions-, Energie- und Umweltma­ nagement, Abteilung für Produktionsmanagement und Logistik, Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt Univ.-Prof. em. Dr. Michael Reiß Betriebswirtschaftliches Institut (BWI), Lehrstuhl für ABWL und Organisation, Universität Stuttgart Univ.-Prof. Dr. Roland Rollberg Lehrstuhl für ABWL und Produktionswirtschaft, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Univ.-Prof. Dr. Florian Sahling Lehrstuhl BWL VII – Produktionswirtschaft und Industriebetriebslehre, Technische Universität Chemnitz Dr. Hagen Salewski Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Produktions­ wirtschaft, Technische Universität Kaiserslautern Philipp C. Sauer Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für BWL, Fachgebiet Supply Chain Management, Universität Kassel Matthias Schinner Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Controlling, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Dr. Kerstin Schmidt Akademische Rätin am Institut für Automobilwirtschaft und Industrielle Produktion, Lehrstuhl für Produktion und Logistik, Technische Uni­ versität Braunschweig Dr. Justus A. Schwarz Akademischer Rat am Lehrstuhl für ABWL und Produktion, Universität Mannheim

Autorenverzeichnis

| XVII

Univ.-Prof. Dr. Christoph Schwindt Institut für Wirtschaftswissenschaften, Abtei­ lung für BWL, insb. Produktion und Logistik, Technische Universität Clausthal Univ.-Prof. Dr. Stefan Seuring Institut für BWL, Fachgebiet Supply Chain Manage­ ment, Universität Kassel Valentin Sommer Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Operations Ma­ nagement, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Univ.-Prof. Dr. Rainer Souren Institut für BWL, Fachgebiet Nachhaltige Produkti­ onswirtschaft und Logistik, Technische Universität Ilmenau Univ.-Prof. Dr. Thomas S. Spengler Institut für Automobilwirtschaft und Industri­ elle Produktion, Lehrstuhl für Produktion und Logistik, Technische Universität Braunschweig Dr. Christian Stauf Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zivilrecht, Wirt­ schaftsrecht, Geistiges Eigentum, Technische Universität Kaiserslautern Univ.-Prof. Dr. Martin Steinrücke Lehrstuhl für ABWL sowie Gründungsplanung und Supply Chain Management, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Univ.-Prof. Dr. Marion Steven Lehrstuhl für Produktionswirtschaft, Ruhr-Universi­ tät Bochum Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Stölzle Lehrstuhl für Logistikmanagement, Universität St. Gallen Univ.-Prof. Dr. Raik Stolletz Lehrstuhl für ABWL und Produktion, Universität Mann­ heim Lukas Strob Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für BWL, insb. Produktion und Logistik, FernUniversität in Hagen Univ.-Prof. Dr. Eric Sucky Lehrstuhl für BWL, insb. Produktion und Logistik, OttoFriedrich-Universität Bamberg Univ.-Prof. Dr. Stefan Süß Lehrstuhl für BWL, insb. Organisation und Personal, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Dr.-Ing. Sebastian Thiede Abteilungsleiter Nachhaltige Produktion am Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik, Technische Universität Braun­ schweig Univ.-Prof. Dr. Ernst Troßmann Institut für Financial Management, Fachgebiet BWL, insb. Controlling, Universität Hohenheim Johannes Veile Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Management, Lehr­ stuhl für BWL, insb. Industrielles Management, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Univ.-Prof. Dr. Guido Voigt Institut für Logistik und Supply Chain Management, Uni­ versität Hamburg Univ.-Prof. Dr. Kai-Ingo Voigt Institut für Management, Lehrstuhl für BWL, insb. Industrielles Management, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Univ.-Prof. Dr. Thomas Volling Lehrstuhl für BWL, insb. Produktion und Logistik, FernUniversität in Hagen

XVIII | Autorenverzeichnis

Univ.-Prof. Tina Wakolbinger, Ph.D. Institut für Transportwirtschaft und Logistik, Wirtschaftsuniversität Wien Univ.-Prof. Dr. Grit Walther Lehrstuhl für Operations Management, Rheinisch-West­ fälische Technische Hochschule Aachen Dr. Michael Wasner Standortleiter Linz, Industrie-Logistik-Linz GmbH Dr. Matthias G. Wichmann Akademischer Rat am Institut für Automobilwirtschaft und Industrielle Produktion, Lehrstuhl für Produktion und Logistik, Technische Universität Braunschweig Univ.-Prof. em. Dr. Günther Zäpfel Institut für Produktions- und Logistikmanage­ ment, Johannes-Kepler-Universität Linz

Hans Corsten, Ralf Gössinger und Thomas S. Spengler

Konzeptioneller und inhaltlicher Überblick Die Gestaltung, Planung und Steuerung industrieller Produktions- und Logistikpro­ zesse sowie -systeme hat entscheidenden Einfluss auf den ökonomischen Erfolg sowie damit verbunden die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Bedingt durch eine zu­ nehmende Wahrnehmung der Komplexität der Wertschöpfungsnetzwerke sind in den letzten Jahren in der betriebswirtschaftlichen Literatur eine Vielzahl innovativer An­ sätze zum Produktions- und Logistikmanagement entstanden. Diese umfassen neben den herkömmlichen kosten-, kapazitäts- und terminorientierten Zielgrößen zuneh­ mend auch ökologische Ziele. Besonders die Anforderungen der Kreislaufwirtschaft einerseits, als auch die politisch vorgegebenen CO2 -Emissionsminderungsziele zur zukünftigen Begrenzung des Klimawandels andererseits, haben für das Management der industriellen Produktion und der Logistik eine hohe Bedeutung. Entwicklun­ gen der Informationstechnologie gehen mit einer zunehmenden Digitalisierung von Produktion und Logistik einher und haben zu einer weltweiten Vernetzung von Pro­ dukten, Prozessen und Systemen über das Internet geführt. Das vorliegende Handbuch zum Produktions- und Logistikmanagement greift aktuelle Themenfelder und Herausforderungen auf und bietet betriebswirtschaft­ liche Lösungsbeiträge zur Gestaltung, Planung und Steuerung der Produktion und Logistik. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den in den zurückliegenden Jahren ent­ standenen Konzepten und Modellen, die in einschlägigen betriebswirtschaftlichen Fachzeitschriften publiziert und in Wissenschaft und Praxis diskutiert werden. Es richtet sich an interessierte Studierende, Wissenschaftler sowie produktions- und logistikaffine Fach- und Führungskräfte aus der Unternehmungspraxis, die einen gleichermaßen kompakten und umfassenden Überblick über aktuelle Themenfelder und grundlegende Ansätze des Produktions- und Logistikmanagements gewinnen möchten. Das Handbuch ermöglicht einen einfachen thematischen Einstieg und legt auch die Grundlage zur weitergehenden Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Literatur, aber auch zur zukünftigen Umsetzung vielversprechender Konzepte in der industriellen Praxis. Der Sammelband umfasst insgesamt 63 Beiträge ausgewiesener Autoren und glie­ dert sich thematisch in die folgenden Teile: A: Grundlagen und Ziele B: Gestaltung des Leistungsprogramms C: Systemgestaltung D: Prozessgestaltung und -steuerung E: Controlling F: Energie- und Ressourceneffizienz G: Digitalisierung von Produktion und Logistik https://doi.org/10.1515/9783110473803-001

2 | Hans Corsten, Ralf Gössinger und Thomas S. Spengler

Neben einem Grundlagenkapitel, das einen Einstieg in grundlegende Problemfelder der Produktion und Logistik in Wertschöpfungsnetzwerken bietet, zeigen die Teile B bis G eine zweidimensionale Struktur. Während sich die Teile B, C und D mit den Ge­ staltungsfeldern Leistungsprogramm, System-(Potential-) und Prozessgestaltung be­ schäftigen, liegt den Teilen E, F und G mit den Themengebieten Controlling, Energieund Ressourceneffizienz sowie Digitalisierung eine aufgabenübergreifende, „quer“ zu den angesprochenen Gestaltungsfeldern verlaufende Perspektive zugrunde. In Teil A „Grundlagen und Ziele“ werden zunächst die wesentlichen Aufgaben und Ziele des Produktions- und Logistikmanagements (Buscher) herausgearbeitet. Der technologische Wandel sowie die zunehmende Komplexität globaler Wertschöp­ fungsnetzwerke gehen mit neuen Herausforderungen im Hinblick auf die Gestaltung zukünftiger Logistiksysteme einher. Im anschließenden Beitrag (Mathauer/Stölzle/ Hofmann) wird daher auf eine strukturierte Analyse von Entwicklungszügen in der Logistik eingegangen, mit dem Ziel, technologische und gesellschaftliche Treiber zu diskutieren und daraus Logistiktrends abzuleiten. Zur kooperationsorientierten und unternehmensübergreifenden Koordination von Wertschöpfungsnetzwerken werden im Supply Chain Management Konzepte und modellbasierte Werkzeuge entwickelt. Der nachfolgende Beitrag (Kotzab/Biedermann) diskutiert die strategische Bedeu­ tung des Supply Chain Managements im Hinblick auf steigende Kunden- und Flexibi­ litätsanforderungen. Durch die neuen rechtlichen Vorschriften zur Kreislaufführung von Produkten ergeben sich zusätzliche Anforderungen an das Supply Chain Ma­ nagement. Zur effizienten und effektiven Umsetzung dieser wird im darauffolgenden Beitrag (Jammernegg/Reiner/Wakolbinger) auf Möglichkeiten zur Erweiterung von Supply Chains zu Circular oder Closed-Loop Supply Chains eingegangen. Im sich anschließenden Beitrag (Müller-Seitz/Kowalski) stehen sodann Unternehmensnetz­ werke im Vordergrund. Durch die fortschreitende Globalisierung und den technolo­ gischen Wandel verändern sich zunehmend die Grenzen zwischen den am Netzwerk beteiligten Organisationseinheiten und erfordern damit zukünftig verstärkt inter­ organisationale Kooperationen. Die an den Netzwerken beteiligten Akteure verän­ dern sich allerdings im Zeitablauf immer wieder, so dass speziell im Produktionsund Logistikbereich die Entwicklung und der Einsatz dynamischer Konzepte zur netzwerkweiten Koordination erforderlich sind. Diese Überlegungen weiterführend, befasst sich der nächste Beitrag (Bach) mit der Frage, wie organisatorische Aufgaben­ stellungen auf Netzwerk- und Unternehmensebene zusammenhängen. Das Change Management als Erfolgsfaktor für den hyperkomplexen Wandel in Produktions- und Logistiksystemen wird im darauf folgenden Beitrag (Reiß) diskutiert. Bedingt durch die Kumulation zahlreicher technischer Änderungen, innovativer Geschäftsmodelle und Organisationsstrukturen entstehen neue Anforderungen an Instrumente zum Change Management, die im Beitrag hinsichtlich ihrer Tauglichkeit zum Handling der vorliegenden komplexen Veränderungsprozesse bewertet werden. Im abschlie­ ßenden Beitrag (Steinrücke/Albrecht) wird ein Überblick über mathematische Op­ timierungsmodelle im Supply Chain Management gegeben. Diese werden anhand geeigneter Kriterien anwendungsbezogen klassifiziert.

Konzeptioneller und inhaltlicher Überblick | 3

Teil B „Gestaltung des Leistungsprogramms“ umfasst 7 Beiträge. Die Produkti­ ons- und Absatzprogrammplanung in Wertschöpfungsnetzwerken ist Gegenstand des ersten Beitrags (Steven). Hierin wird insbesondere die Diskrepanz zwischen der Ent­ wicklung umfassender Operations-Research-Modelle in der Theorie und dem prag­ matischen Einsatz von Advanced Planning Systems im Kontext von Industrie 4.0 in der Praxis aufgezeigt. Der sich anschließende Beitrag (Souren) befasst sich mit der umweltorientierten Gestaltung des Leistungsprogramms. In ihm werden Ansätze und Optimierungsmodelle zur Integration des Umweltschutzes in die Programmplanung diskutiert und mit Hilfe von Beispielrechnungen illustriert. Der darauffolgende Bei­ trag (Corsten/Kasper) fokussiert auf die Situation in Handelsunternehmungen und geht der Frage nach, ob und wie ein für alle Filialen zu fixierendes Grundsortiment jeweils um regionale Produkte zu erweitern ist, so dass regionale Nachfrageunter­ schiede erfolgswirksam genutzt werden können. Die auftragsorientierte Produktions­ programmplanung ist Gegenstand des vierten Beitrags (Salewski). Eine Besonderheit der hier betrachteten Fragestellungen liegt in technisch und ökonomisch fundierten Annahme- und Ablehnungsentscheidungen von Kundenaufträgen und den damit verbundenen innovativen Konzepten der in der Literatur betrachteten Available- und Capable-to-Promise-Ansätze. Der fünfte Beitrag (Gönsch) untersucht den Einsatz von Methoden des Revenue Managements zur Produktions- und Absatzplanung flexibler Produkte, d. h. von Produkten, bei denen zum Zeitpunkt des Verkaufs in Folge neuer Vertriebswege noch nicht festgelegt ist, in welchem Umfang zu deren Bereitstellung zu späteren Zeitpunkten Ressourcen eingesetzt werden müssen. Im sechsten Beitrag (Stauf/Hassemer) wird die Frage der Produktverantwortlichkeit in Wertschöpfungs­ netzwerken thematisiert und anhand zukünftiger Herausforderungen der Automobil­ industrie am Beispiel autonom agierender Fahrzeuge konkretisiert. Im abschließen­ den Beitrag (Asdecker/Sucky) wird untersucht, wie das Retourenmanagement im interaktiven Handel, der in der Regel durch umfangreiche Rückgaberechte gekenn­ zeichnet ist, optimal gestaltet und durchgeführt werden kann. Teil C „Systemgestaltung“ geht in insgesamt dreizehn Beiträgen der Frage nach, wie Produktions- und Logistiksysteme betriebswirtschaftlich effizient zu gestalten und zu dimensionieren sind. Im ersten Beitrag (Minner) werden Planungsprobleme zur Kapazitätsdimensionierung von Produktionssystemen vorgestellt und anhand ausgewählter Entscheidungsmodelle und Lösungsverfahren quantitativ untersucht. Der folgende Beitrag (Manitz) betrachtet quantitative Planungsmodelle zur Konfigura­ tion flexibler Fließproduktionssysteme und konkretisiert diese am Beispiel von Mon­ tagelinien. Herausforderungen bei der Systemgestaltung ergeben sich aus varianten­ abhängigen Bearbeitungszeiten, die zudem durch eine Reihe weiterer und oftmals stochastischer Einflussfaktoren gekennzeichnet sind. Im sich anschließenden Bei­ trag (Elbert/Müller) werden ausgewählte Aspekte der Planung und des Einsatzes von Kommissioniersystemen in der Lagerlogistik behandelt. Neben neuesten technolo­ gischen Entwicklungen im Bereich der autonomen Transportsysteme sowie mobiler Kommissionierroboter werden auch ausgewählte Planungsansätze zur Auswahl und

4 | Hans Corsten, Ralf Gössinger und Thomas S. Spengler

Gestaltung von Kommissioniersystemen vorgestellt. Der nächste Beitrag (Kummer) be­ schäftigt sich mit der Planung und Steuerung ausgewählter Transportsysteme sowie der zugehörigen Infrastruktur. Der fünfte Beitrag (Zäpfel/Wasner) betrachtet eine wichtige Planungsaufgabe der logistischen Systemgestaltung, die sich durch die Ko­ operation unabhängiger Logistikdienstleister ergibt. Diese kooperieren in virtuellen Transportnetzwerken, die üblicherweise in einer Hub-and-Spoke-Struktur organisiert sind. Es stellt sich auf der Ebene der Systemgestaltung die Frage nach einer optimalen Gestaltung von Hub-and-Spoke-Transportnetzwerken im Sammelgutverkehr, die in Form von Optimierungsmodellen beantwortet wird. Als ein wesentlicher Faktor zur Steigerung des Unternehmenserfolgs wird in Literatur und Praxis die strukturelle Mit­ arbeiterführung angesehen. Im nachfolgenden sechsten Beitrag (Becker/Gieselmann) wird hierzu die Konzeption geeigneter Anreizsysteme, die zu einer Steigerung der Motivation, Leistung und Zufriedenheit der Mitarbeiter führen sollen, behandelt. Aspekte der Arbeitszeitflexibilisierung, die hierfür zur Verfügung stehenden kurzund langfristigen Gestaltungsoptionen sowie eine Diskussion über die Work-LifeBalance von Mitarbeitern sind Gegenstand des siebten Beitrags (Süß). Im Zentrum des nachfolgenden Beitrags (Becker/Corsten) steht die Torbelegungsplanung in ei­ nem Cross-Docking-Zentrum. Anders als üblich wird dabei der Einsatz der Mitarbeiter explizit in die Modellierung aufgenommen, um den Interdependenzen zwischen Personaleinsatz und Torbelegung Rechnung zu tragen. Der neunte Beitrag (Voigt) fo­ kussiert auf das Themenfeld des Behavioral Operations Managements, ein aktuelles Forschungsgebiet, in dem verhaltenswissenschaftliche Ansätze vor dem Hintergrund einer quantitativen Entscheidungsunterstützung in Produktion und Logistik unter­ sucht werden. Aufbauend auf einer strukturierten Einführung in das Thema und die zugrundeliegenden Ansätze wird auch auf Ziele und Anwendungsfelder von öko­ nomischen Laborexperimenten mit engem Bezug zum Operations Management und Supply Chain Management eingegangen. Im nächsten Beitrag (Bogaschewsky) wird das strategische Beschaffungsmanagement betrachtet und hinsichtlich der Auswahl von Beschaffungsmärkten und Lieferanten sowie des Beziehungsmanagements zu letzteren strukturiert dargestellt. Ein Hauptaugenmerk wird dabei auf ein differen­ ziertes Risikomanagement im Rahmen globaler Beschaffungsaktivitäten gelegt. Der sich anschließende Beitrag (Eßig) thematisiert die öffentliche Beschaffung. Die Be­ schaffung im öffentlichen Sektor ist durch das Vergaberecht als Ordnungsrahmen geregelt, wodurch ein Spannungsfeld zwischen der juristischen und der betriebs­ wirtschaftlichen Perspektive erzeugt wird. Erste empirische Befunde hierzu werden im Beitrag vorgestellt. Der zwölfte Beitrag (Lasch) ist im strategischen Beschaffungs­ management angesiedelt und greift die Konzeption geeigneter Sourcing-Strategien heraus. Zu deren Würdigung wird ein multidimensionaler Ansatz entwickelt und angewendet. Die strategische Lieferantenauswahl ist Gegenstand des abschließen­ den Beitrags (Large). Neben Theorien des organisationalen Beschaffungsverhaltens werden auch sozialpsychologische Theorien zur Erklärung des komplexen Auswahl­ prozesses vorgestellt.

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Teil D „Prozessgestaltung und -steuerung“ fokussiert in zwölf Beiträgen auf ab­ laufbezogene Planungs- und -steuerungsprobleme. Das Management von Produkti­ onsanläufen wird im ersten Beitrag (Schwarz/Stolletz) aus der Perspektive einzelner Produkte und Produktvarianten sowie auch von Anläufen in Produktionsnetzwer­ ken betrachtet. Von besonderem Interesse sind hierbei die durch neue Produkte und Prozesse begründeten Unsicherheiten und damit die Stochastik und Dynamik produktionswirtschaftlicher Kennzahlen. Die Layoutplanung ist Gegenstand des fol­ genden Beitrags (Gössinger/Hillebrand), der Grundprobleme, Entscheidungsmodelle und algorithmische Lösungsansätze zur Bestimmung optimaler Layouts diskutiert und aktuelle Forschungstendenzen aufzeigt. Im dritten Beitrag (Reese) werden die unterschiedlichen Planungsprobleme zum Fließbandabgleich aufgezeigt. Beson­ ders bei variantenreicher Produktion sind sowohl die Taktzeit des Fließbands als auch die Anzahl der einzurichtenden Arbeitsstationen entscheidende Abstimmungs­ parameter, die sich sodann auch auf die Reihenfolgenplanung der unterschiedli­ chen Produktvarianten auswirken. Der vierte Beitrag (Kolisch) beschäftigt sich mit Fragestellungen zum Projektscheduling und stellt die wichtigsten Planungsmodel­ le und Lösungsverfahren hierzu vor. Die zugrundeliegende Problemstruktur ist eng mit der Termin- und Kapazitätsplanung verwandt, so dass auf vergleichbare Mo­ dellformulierungen und Lösungsverfahren zurückgegriffen werden kann. Der dar­ auf folgende Beitrag (Schwindt) wendet sich diesem wichtigen Thema im Detail zu und behandelt Fragestellungen der Abstimmung verfügbarer und in Anspruch ge­ nommener Kapazitäten von Produktionsanlagen, mit dem Ziel eine kapazitätszu­ lässige Terminierung der einzuplanenden Produktionsaufträge zu erreichen. Mittels geeigneter Verfahren der Projektplanung können praxisrelevante Größenordnun­ gen mit bis zu tausend Arbeitsgängen näherungsweise optimal gelöst werden. Der sich anschließende sechste Beitrag (Missbauer) zur Auftragsfreigabe und Produkti­ onssteuerung konkretisiert nun die Ergebnisse der Termin- und Kapazitätsplanung auf der Ebene der Freigabe von Produktionsaufträgen, die zwischen der Produk­ tionsplanung und der Produktionssteuerung angesiedelt ist. Eine wichtige Aufga­ be der Produktionssteuerung ist darüber hinaus die erneute Durchführung einer Maschinenbelegungsplanung infolge von Störungen, die etwa bedingt durch Maschi­ nenausfälle auf der Steuerungsebene notwendig werden kann. Der darauf folgende Beitrag (Sahling) befasst sich mit der dynamischen Losgrößenplanung bei kapazi­ tätsbeschränkten Produktionsanlagen in der Werkstatt- sowie der Fließproduktion. Es werden ausgewählte mathematische Modellformulierungen aufgezeigt und ein fle­ xibler Lösungsansatz auf Basis der mathematischen Programmierung beschrieben. Im achten Beitrag (Kiesmüller) zur Lagerhaltung in Closed-Loop Supply Chains wird das Problem von Retouren aufgegriffen, und es wird aufgezeigt, welchen Einfluss diese auf das Bestandsmanagement in einer Supply Chain haben. Fragestellungen zur Handelslogistik schließen sich im neunten Beitrag (Kuhn/Holzapfel/Ostermeier) an. Der zehnte Beitrag (Otto/Lukesch/Brabänder/Kellner) beschäftigt sich mit der Konsumgüterdistribution aus systemtheoretischer Sicht und diskutiert prinzipielle

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Arbeitsfelder zur zukünftigen Umgestaltung der Konsumgüterdistribution. Quantita­ tive Methoden zur gewinnmaximalen Ausgestaltung von Absatzprozessen bei unsi­ cherer Nachfrage und gemeinsam genutzten, kurzfristig nicht anpassbaren Kapazi­ täten werden im Revenue Management entwickelt. Der elfte Beitrag (Geiger/Huber) beschäftigt sich mit der Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken. Es werden wichtige Optimierungsmodelle vorgestellt und hinsichtlich ihrer spezifischen Beson­ derheiten und verfügbaren Lösungsverfahren diskutiert. Die Tourenplanung, die über die Besuchsreihenfolge von Kunden sowie über die Zuordnung von Kundenbesuchen zu Fahrzeugen der Lieferflotte entscheidet, ist Gegenstand des abschließenden Bei­ trags (Mattfeld). Aufbauend auf einem Basismodell und spezifischen Erweiterungen werden aktuelle heuristische Lösungsverfahren vorgestellt, die aufgrund der Komple­ xität des Planungsproblems speziell für praxisrelevante Größenordnungen geeignet sind. Teil E „Controlling“ befasst sich in insgesamt sieben Beiträgen mit einschlä­ gigen Konzepten und Ansätzen des Produktions-, Logistik-, Nachhaltigkeits- und Risikocontrollings. Im ersten Beitrag (Friedl), der sich mit dem Produktions- und Logistikcontrolling als Bereichscontrolling beschäftigt, geht die Autorin auf die Ko­ ordination differenzierter und dezentraler Entscheidungen ein. Von besonderer Be­ deutung ist hierbei die konzeptionelle Abgrenzung zum Unternehmenscontrolling, das für die bereichsübergreifende Koordination von Entscheidungen zuständig ist. Der daran anschließende Beitrag (Dräger/Letmathe/Schinner) zum Controlling von Supply Chains gibt zunächst einen Überblick über Begrifflichkeiten und Methoden. Darauf aufbauend erfolgt eine kritische Reflexion des aktuellen Entwicklungsstan­ des des Supply Chain Controllings sowie der Problematik der Übertragung und An­ wendung auf internationale Wertschöpfungsnetzwerke. Im dritten Beitrag (Burger/ Ahlemeyer) beschäftigen sich die Autoren mit dem Risikocontrolling. Dieses bietet ei­ ne vornehmlich ergänzende und entlastende Unterstützung des Risikomanagements in Gestalt einer systembildenden und systemkoppelnden Koordination und wird auch für ein Risikoreporting herangezogen. Der vierte Beitrag (Günther/Koep) thematisiert das Nachhaltigkeitscontrolling in Wertschöpfungsnetzwerken. Es wird den Fragen nachgegangen, ob und inwieweit sich Nachhaltigkeit für Unternehmen ökonomisch rechnet, und was zum Aufbau eines Nachhaltigkeitscontrollings in Wertschöpfungs­ netzwerken erforderlich ist. Zudem werden mit der strategischen Steuerung nachhal­ tiger Transportprozesse sowie der Materialflusskostenrechnung in Lieferketten zwei ausgewählte Instrumente vorgestellt. Der folgende Beitrag (Ahn/Clermont) greift den Themenkomplex des Performance Measurements auf. Ausgehend von einer Charak­ terisierung der beiden zentralen Performancedimensionen Effektivität und Effizienz wird auf die Problematik der Subjektivität von Performanceanalysen eingegangen. Aus diesem Grund wird ein Leitfaden skizziert, der die drei einschlägigen Methoden Data Envelopment Analysis, Stochastic Frontier Analysis und Stochastic-Non-Smooth Envelopment of Data umfasst. Am Beispiel der Balanced Scorecard wird sodann der Bogen vom Performance Measurement zum Performance Management betrieblicher

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Leistungen geschlagen. Im sechsten Beitrag (Friedl) werden Kennzahlensysteme für das Performance Measurement in der Logistik erläutert. Eine besondere Herausfor­ derung liegt hierbei in der Abstimmung der Logistikkennzahlen mit den strategi­ schen Zielen der Funktionsbereiche von Unternehmen. Diese finden in bisherigen Ansätzen zur Entwicklung von Logistikkennzahlensystemen noch keine Berücksich­ tigung. Abschließend erfolgt im siebten Beitrag (Troßmann) eine Darstellung der Aufgaben, Instrumente und organisatorischen Realisierungsalternativen des Kosten­ managements. Schwerpunkte des Beitrags liegen in den Entscheidungsstufen des Produktionsprozesses sowie den Kostentreibern der einzelnen Stufen. Gleichfalls wird auf das produktbezogene Target Costing und die abteilungsbezogene Kosten­ budgetierung eingegangen. Industrielle Produktionsprozesse sind inputseitig durch den Einsatz stofflicher und energetischer Ressourcen sowie outputseitig durch Schadstoffemissionen in die Umweltmedien Luft, Wasser und Boden gekennzeichnet. Gleichzeitig tragen auch die hergestellten Produkte während ihrer Nutzungsdauer, aber auch danach durch Recycling und Entsorgung zum Verbrauch stofflicher und energetischer Ressourcen sowie zu Schadstoffemissionen bei. Teil F „Energie- und Ressourceneffizienz“ befasst sich in zwölf Beiträgen mit wichtigen ausgewählten Fragestellungen und Lösungsan­ sätzen zum Management von Stoff- und Energieströmen im Rahmen des Produktionsund Logistikmanagements. Im ersten Beitrag (Dyckhoff) wird das Konzept einer öko­ logisch nachhaltigen Produktion theoretisch fundiert und anhand praktischer Bezüge umrissen. Insbesondere wird hierbei auch die Notwendigkeit einer zeitnahen Trans­ formation des globalen Wirtschaftssystems verdeutlicht. Der darauf folgende Bei­ trag (Sauer/Seuring/Sommer/Walther) fokussiert auf das nachhaltige Supply Chain Management, das das Management von Wertschöpfungsnetzwerken mit Zielen aus den drei Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales verbindet. Aufbauend auf einer Einführung in die Thematik und deren Historie werden entlang des Produktle­ benszyklus Ansätze zur Modellierung und Optimierung nachhaltiger Supply Chains aufgezeigt. Im dritten Beitrag (Spengler/Schmidt) geht es um Konzepte und Planungs­ aufgaben der Kreislaufwirtschaft und des Recyclings von Produkten am Ende ihrer Nutzungsdauer. Diese werden als grundlegend für die zukünftige Gestaltung nach­ haltiger Wirtschaftsweisen angesehen. Neben einer Einführung in die rechtlichen und technologischen Rahmenbedingungen werden Optimierungsmodelle zur De­ montage- und Recyclingplanung vorgestellt und anhand eines aktuellen Beispiels verdeutlicht. Im vierten Beitrag (Wichmann) erfolgt zunächst die Abgrenzung der in industriellen Produktionsprozessen eingesetzten energetischen und stofflichen Res­ sourcen. Hierauf aufbauend werden ausgewählte Planungs- und Steuerungsansätze einer energie- und ressourceneffizienten Produktion vorgestellt und diskutiert. Die Energieflexibilität in der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung ist Gegenstand des fünften Beitrags (Strob/Bänsch/Volling). Mit der Umstellung von fossilen auf regenerative Energieträger geht ein Verlust an angebotsseitiger Flexibilität einher, dem nachfrageseitig mit einer steigenden Energieflexibilität begegnet werden muss.

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Zu diesem Zweck wird ein geeigneter Bezugsrahmen zur ökonomisch effizienten Be­ rücksichtigung von Preissignalen des Energiemarkts im Produktionsmanagement definiert. Im anschließenden Beitrag (Kleine/Ostmeyer) werden diese Überlegungen weiter in Richtung einer multikriteriellen Produktionsplanung entwickelt, und es wird das Dilemma einer energieflexiblen Ablaufplanung aufgezeigt. Durch den ver­ stärkten Ausbau regenerativer Energieerzeugung kommt es wie bereits erwähnt zu einer deutlich steigenden Volatilität der Energiepreise, die wiederum eine Anpassung von Auftragsreihenfolgen erfordert. Dies kann zu weiteren Konflikten mit den in der Produktionswirtschaft üblichen Zielsetzungen kommen, so dass zur Bestimmung effizienter Lösungen auf die multikriterielle Entscheidungsunterstützung sowie die gemischt-ganzzahlige lineare Optimierung zurückgegriffen wird. Der siebte Beitrag (Juraschek/Thiede/Herrmann) wendet sich der Gestaltung einer urbanen Produktion zu. Historisch sind die urbane Produktion und der urbane Raum eng miteinander verknüpft und weisen vielfältige materielle und immaterielle Wechselwirkungen auf. Wichtige Gestaltungsfragen liegen vor allem in der Verbindung von Produktion und Logistik im urbanen Kontext. Im achten Beitrag (Brandenburg/Günther) erfolgt die Vorstellung eines Konzepts zur Gestaltung nachhaltiger urbaner Mobilität, in dem auf grundlegende Entwicklungspfade zu emissionsfreien Megastädten eingegangen wird. Zur Bewertung wird ein multidimensionales Kennzahlensystem vorgeschla­ gen, und es wird eine Optimierungsstrategie entwickelt, in deren Mittelpunkt die Minimierung der Zeitspanne steht, in der vordefinierte und durch Kennzahlen spe­ zifizierte Nachhaltigkeitsziele erreicht werden. Der neunte Beitrag (Meisel) widmet sich der Reduktion von Treibhausgasemissionen in der Transportlogistik. Es werden zunächst generelle Herausforderungen einer Bilanzierung und Allokation transport­ bedingter Emissionen beschrieben und daran anschließend spezifische Aspekte des Straßen-, Eisenbahn-, See- und Luftverkehrs erläutert. Der darauf folgende Beitrag (Kieckhäfer) beschäftigt sich mit Planungsaufgaben und Entscheidungsunterstüt­ zung im Kontext der Elektromobilität. Aus unterschiedlichen Perspektiven der be­ teiligen Akteure, wie Hersteller, Flotten- und Infrastrukturbetreiber, werden strate­ gische und operative Fragestellungen zur Technologie- und Kapazitätsplanung in Wertschöpfungsnetzwerken oder zur Touren- und Ablaufplanung dargestellt und an­ hand von zwei einschlägigen Praxisbeispielen verdeutlicht. Im elften Beitrag (Gelder­ mann) geht es sodann um die integrierte Technikbewertung. Nachdem in einem ersten Schritt auf den Hintergrund und den betriebswirtschaftlichen Kontext eingegangen wird, erfolgt in einem zweiten Schritt die Vorstellung von grundlegenden Bewer­ tungsansätzen auf Basis der multikriteriellen Entscheidungsunterstützung sowie des Risikomanagements. Zur ökologischen Bewertung von Produkten und Prozessen wer­ den üblicherweise die Instrumente des Life Cycle Assessments (LCA) herangezogen, die im abschließenden Beitrag (Meynerts/Götze) erläutert werden. Ferner wird ein Ausblick auf weiterführende Ansätze zur Berücksichtigung aller drei Säulen einer Nachhaltigkeitsbewertung, wie das Life Cycle Sustainability Assessment (LCSA), ge­ geben.

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Teil G „Digitalisierung von Produktion und Logistik“ rundet das Handbuch zum Produktions- und Logistikmanagement in Wertschöpfungsnetzwerken ab. Es befasst sich in vier Beiträgen mit aktuellen Fragestellungen des Produktions- und Logistik­ managements, die in den zurückliegenden Jahren durch die Fortschritte und Errun­ genschaften der Informationstechnologie entstanden sind und zunehmend Relevanz in der industriellen Produktion und Logistik erlangen. Im ersten Beitrag (Rollberg) werden Advanced Planning Systems (APS) und Manufacturing Execution Systems (MES) im Hinblick auf eine Integration von Produktionsplanung und Produktions­ steuerung zur zukünftigen Verwirklichung von Industrie-4.0-Konzepten in Wert­ schöpfungsnetzwerken diskutiert. Unter diesem Stichwort wurden in jüngster Zeit eine Vielzahl unterschiedlicher Konzepte und Werkzeuge vorgestellt und in Wissen­ schaft und Praxis kontrovers erörtert. Der zweite Beitrag (Obermaier) greift diesen Themenkomplex auf und gibt einen strukturierten Überblick über den aktuellen Stand und die zukünftigen Perspektiven. Der Erfolg von Industrie 4.0 hängt allerdings nicht nur von der Verbesserung von Flexibilität und Produktivität in der eigenen Fer­ tigung ab. Die Weiterentwicklung unternehmenseigener Geschäftsmodelle und de­ ren Verknüpfung mit den Veränderungen von Produktions- und Logistikprozessen durch digitale Transformation werden im sich anschließenden Beitrag (Kersten) the­ matisiert. Der vierte Beitrag (Voigt/Müller/Veile/Maier) überträgt Industrie 4.0 auf die Logistik und stellt Herausforderungen und Konzepte zur Logistik 4.0 vor. Neben rechtlichen Unsicherheiten sowie offenen Fragen zur Datensicherheit und dem Daten­ eigentum liegen entscheidende Voraussetzungen zum Erfolg der digitalen Vernetzung von Wertschöpfungsnetzwerken in den Möglichkeiten und Rahmenbedingungen ihrer zukünftigen unternehmensübergreifenden Umsetzung. Insgesamt liegt mit diesem Handbuch eine strukturierte Sammlung aktueller Forschungsarbeiten zu den aufgezeigten Themenfeldern des Produktions- und Logis­ tikmanagements in Wertschöpfungsnetzwerken vor. Es bietet damit einerseits einen kompakten Überblick über die wesentlichen Weiterentwicklungen der angesproche­ nen Forschungsgebiete in den zurückliegenden Jahren und andererseits einen ein­ fachen Einstieg in die grundlegenden Konzepte und Modelle sowie die einschlägige Literatur.

| Teil A: Grundlagen und Ziele

Udo Buscher

Aufgaben und Ziele des Produktions- und Logistikmanagements 1 1.1 1.2 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2

Einordnung und Abgrenzung des Produktions- und Logistikmanagements | 13 Funktionale Sichtweise | 13 Wertschöpfungsorientierte Sichtweise | 15 Ziele des Produktions- und Logistikmanagements | 16 Sach- und Formalziele des Produktions- und Logistikmanagements | 16 Strategische versus operative Ziele des Produktions- und Logistikmanagements | 17 Aufgaben des Produktions- und Logistikmanagements | 19 Strategische Aufgaben des Produktions- und Logistikmanagements | 20 Operative Aufgaben des Produktions- und Logistikmanagements | 26 Literatur | 29

Zusammenfassung. Das Produktions- und Logistikmanagement beschäftigt sich da­ mit, ein System zu gestalten, zu betreiben und zu verbessern, das der Herstellung und der Auslieferung von Produkten und Dienstleistungen dient. Die untrennbar mit­ einander verbundenen Produktions- und Logistikprozesse sind so aufeinander abzu­ stimmen, dass die Kundenanforderungen bestmöglich erfüllt werden können. Anstatt dabei ausschließlich wirtschaftliche Ziele zu verfolgen, gewinnt in jüngerer Zeit das Konzept des nachhaltigen Wirtschaftens größere Bedeutung, das neben wirtschaft­ lichen auch soziale und ökologische Ziele explizit mit einbezieht. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden in diesem Beitrag Aufgaben und Ziele des Produktions- und Logistikmanagements überblicksartig vorgestellt.

1 Einordnung und Abgrenzung des Produktions- und Logistikmanagements 1.1 Funktionale Sichtweise Produktion bezeichnet den durch Menschen gestalteten und gelenkten Entstehungs­ prozess von Produkten (vgl. z. B. Bloech/Lücke 1982, S. 2; Hahn/Laßmann 1999, S. 3). Dabei werden Einsatzgüter (Input) in einem Prozess so kombiniert und trans­ formiert, dass ein werterhöhter Output entsteht. Als Input dienen Produktions­ faktoren, die aus menschlicher Arbeit, Werkstoffen und Betriebsmitteln bestehen. https://doi.org/10.1515/9783110473803-002

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In einem Produktionsprozess (Throughput) werden durch eine eindeutige Kombina­ tion von Produktionsfaktoren bestimmte Leistungen (Produkte) hergestellt. Lassen sich bestimmte Leistungen durch alternative Prozesse erstellen, dann ergibt sich ein Dispositionsspielraum (vgl. Zäpfel 1982, S. 7). Als Ergebnis des Produktionsprozesses (Output) entstehen Produkte, bei denen es sich um Sachgüter, um Dienstleistun­ gen oder auch um Leistungsbündel aus materiellen und immateriellen Leistungen handeln kann. Durch den Kombinationsprozess können gleichwohl aber auch ein unerwünschter Output in Form von Ausschuss oder Emissionen entstehen. Insbesondere in der Betriebswirtschaftslehre interessieren nicht nur die techni­ sche Art und Weise des Kombinationsprozesses, sondern insbesondere dessen öko­ nomische Herausforderungen. Diese bestehen darin, aus einer zumeist großen Anzahl an Alternativen diejenige zu wählen, die die knappen Güter unter Berücksichtigung von verschiedensten Kapazitätsrestriktionen so kombiniert, dass die intendierte Wert­ schöpfung resultiert. Mithin bietet es sich dann an, eher von Produktionswirtschaft, als von Produktion zu sprechen (vgl. Kern 1996, Sp. 1630). Die oben beschriebene Sichtweise auf die Produktion charakterisiert sie als einen Funktionsbereich in einer funktional gegliederten Unternehmensorganisation. Bei Be­ trachtung des gesamten Material- und Güterflusses, liegt die Produktion zwischen den beiden Funktionsbereichen Beschaffung und Absatz. Während die Beschaffung dar­ auf abzielt, das Unternehmen mit dem notwendigen Input wie Materialien, Zuliefertei­ len, Vorprodukten, Maschinen/Anlagen und Dienstleistungen zu versorgen, umfasst der Absatz alle Maßnahmen, die dem Verkauf (marktliche Verwertung) der erstellten Leistungen dienen (vgl. Kummer/Grün/Jammernegg 2009, S. 24). Die besondere Be­ deutung des Absatzes wird auch dadurch deutlich, dass die geplanten Absatzmengen maßgeblich alle anderen betrieblichen Funktionen beeinflussen. Die Logistik stellt für den Material- und Güterfluss eine weitere unverzichtbare Funktion dar. Anstatt die logistischen Aktivitäten zersplittert in den genannten grundlegenden güterwirtschaftlichen Funktionsbereichen (Beschaffung, Produktion, Absatz) zu belassen, werden sämtliche Transport-, Umschlag- und Lagerprozesse (TUL-Prozesse) in dem eigenständigen Funktionsbereich Logistik zusammengefasst (vgl. Wäscher 1998, S. 423). Hierdurch wird nicht nur eine verbesserte Abstimmung der unterschiedlichen logistischen Aktivitäten bezweckt, sondern auch versucht, Spezialisierungs- und Erfahrungskurveneffekte zu realisieren. Neben den TUL-Kern­ prozessen umfasst die Logistik auch die Unterstützungsprozesse des Verpackens, des Kommissionierens, des Etikettierens und des Palettierens. Die funktionale Interpretation der Logistik führt häufig zwar zu einer Verbesse­ rung der Logistikleistung in den güterwirtschaftlichen Funktionen, gleichwohl kann das gesamte Verbesserungspotential nicht ausgeschöpft werden, weil konkurrieren­ de Bereichsinteressen einer weitergehenden Abstimmung entgegenstehen (vgl. Wä­ scher 1998, S. 423). Mithin wird in einer umfassenderen Auffassung der Logistik ihr die Aufgabe zugesprochen, den quer durch die Funktionsbereiche des Unternehmens verlaufenden Material- und Güterfluss zu koordinieren. Somit kann die Logistik als

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Querschnittsfunktion sogar dahingehend interpretiert werden, dass nicht nur der Fluss bei bestehenden Strukturen zu koordinieren ist, sondern diese flussorientiert zu ge­ stalten sind (vgl. Weber/Dehler/Wertz 2000, S. 265).

1.2 Wertschöpfungsorientierte Sichtweise Die separate Erfüllung der produktionswirtschaftlichen und logistischen Aufgaben in den jeweiligen Funktionen wird zunehmend durch eine Sichtweise ersetzt, die darauf abzielt, die Aufgaben so abzustimmen, dass die Kundenanforderungen bestmöglich erfüllt werden können. Dies erscheint umso mehr geboten, als dass die Aufgaben der Produktion und der Logistik insbesondere im Bereich der innerbetrieblichen Logistik und teilweise auch in der Beschaffungslogistik untrennbar miteinander verbunden sind (vgl. Günther/Tempelmeier 2009, S. 9). Dieser integrativen Auffassung folgend beschäftigt sich das Produktions- und Logistikmanagement damit, ein System zu ge­ stalten, zu betreiben und zu verbessern, das der Herstellung und der Auslieferung von Produkten und Dienstleistungen dient (vgl. zu einer ähnlichen Definition Jacobs/ Chase 2017, S. 4). Zugleich stellt bei dieser systemorientierten Sichtweise das Produktions- und Logistiksystem ein Subsystem des gesamten Unternehmens dar. Um das Unterneh­ mensgeschehen als Prozess darzustellen und den Wertbeitrag verschiedener Bereiche beziehungsweise Bearbeitungsstufen zu verdeutlichen, kann auf den Ansatz der Wert­ schöpfungskette zurückgegriffen werden. Die Darstellung als Wertkette (Value Chain) geht auf Porter zurück und dient Töpfer dazu, sie als erweiterte Wertschöpfungskette fortzuentwickeln (vgl. Töpfer 2007, S. 483 ff.). Im Unterschied zur „einfachen“ Wert­ kette ermöglicht sie eine Differenzierung in übergeordnete, direkte und flankierende Prozesse. Im Folgenden wird der Begriff Wertschöpfungskette allerdings weniger um­ fassend verwendet und sich auf die Prozesse konzentriert, die unmittelbar mit dem Güter- und Informationsfluss verbunden sind. Während die Produktion den Kern der direkten, wertschöpfenden Prozesse bildet, zählt die Logistik zu den flankierenden Prozessen. Im Mittelpunkt des Produktions- und Logistiksystems steht der Material- und Güterfluss von den Lieferanten bis zum Unternehmen, innerhalb des Unternehmens und von dort zu den Kunden (vgl. hier und im Folgenden Fleischmann 2004, S. A 1–4). Der Güterfluss repräsentiert eine Aneinanderreihung von Transport-, Lager-, Umschlag- und Produktionsprozessen. Während Transportprozesse den Güterfluss von und zum Unternehmen dominieren, gilt dies für die Produktionsprozesse inner­ halb des Unternehmens. Gleichwohl fallen in einer mehrstufigen Produktion auch Transporte zwischen den einzelnen Produktionsstufen an.

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2 Ziele des Produktions- und Logistikmanagements 2.1 Sach- und Formalziele des Produktions- und Logistikmanagements Unternehmen zielen grundsätzlich darauf ab, Güter und Dienstleistungen (zusam­ mengefasst Produkte) zur Bedürfnisbefriedigung bereitzustellen (allgemeines Sach­ ziel). Da die Produktion unmittelbarer Ausdruck des unternehmerischen Geschehens ist, stehen die Ziele der Produktionswirtschaft in engem Zusammenhang mit den ge­ nerellen Leitlinien des betrieblichen Handelns (vgl. Zahn/Schmid 1996, S. 68). Das Un­ ternehmen wählt sein Produktionsprogramm so aus, dass eine vorliegende oder latent vorhandene Nachfrage befriedigt werden kann. Das unternehmerische Sachziel wird erreicht, wenn das Produktionsprogramm qualitäts-, mengen-, orts- und zeitgerecht fertiggestellt wird (vgl. hier und im Folgenden Bloech/Lücke 1982, S. 21). Aus der hier gewählten ganzheitlichen Sicht auf das Produktions- und Logistiksystem reicht dies allerdings noch nicht aus. Zum einen gilt es absatzseitig dafür zu sorgen, dass die Produkte den an den verschiedenen Standorten lokalisierten Nachfragern zur fest­ gesetzten Zeit, in der festgelegten Qualität und in der vorbestimmten Menge zur Ver­ fügung stehen. Zum anderen ist auf der Beschaffungsseite darauf zu achten, dass der aus dem Produktionsprogramm abgeleitete Bedarf an Produktionsfaktoren in quali­ tativer, mengenmäßiger, ortsbezogener und zeitlicher Hinsicht befriedigt wird. Einen normativen Maßstab zur Beurteilung von Sachzielrealisationen liefern Formalziele. Damit lässt sich die Vorteilhaftigkeit von Handlungen und Zuständen des Unternehmens einschätzen, die aus den Motiven der Entscheidungsträger resultieren und den Sinn des unternehmerischen Handelns zum Ausdruck bringen (vgl. Buscher et al., S. 12). Dabei geht es nicht ausschließlich um wirtschaftliche Ziele, sondern vielmehr rückt seit den 1990er Jahren vermehrt eine Integration von wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Formalzielen in den Vordergrund, die mit dem Begriff des nachhaltigen Wirtschaftens erfasst wird (vgl. Kummer/Grün/Jammernegg 2009, S. 22). Dahinter steht die Einsicht, dass die Bedürfnisbefriedigung der heutigen Generation nicht diejenige künftiger Generationen gefährden darf. Die wirtschaftlichen Formalziele stellen auf Wertgrößen ab. Jedem ökonomischen Handeln liegt das Prinzip der Wirtschaftlichkeit zugrunde (vgl. Corsten/Gössinger 2012, S. 45 f.). Formal ergibt sich die Wirtschaftlichkeit aus dem Quotient aus Ertrag und Aufwendungen beziehungsweise Leistungen und Kosten. Ein weiteres wichtiges wirtschaftliches Maß stellt die Rentabilität dar, die durch die Relation von Gewinn zu Kapital erfasst wird. Sie drückt damit die Verzinsung des eingesetzten Kapitals bezogen auf einen bestimmten Zeitraum aus. Soziale Formalziele adressieren die Mitglieder einer wirtschaftlich handelnden Einheit und nehmen Rücksicht auf deren Befindlichkeiten und Entwicklungsmöglich­ keiten. So geht es zum einen um klassische Forderungen der Arbeitnehmer wie gerech­

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te Entlohnung, gute Arbeitsbedingungen, betriebliche Sozialleistungen, Arbeitsplatz­ sicherheit und Mitbestimmung (vgl. Wöhe/Döring/Brösel 2016, S. 66). Zum anderen fallen hierunter aber auch individuelle Entfaltungsziele wie Macht- und Unabhängig­ keitsziele, die sich erst durch das Zusammenleben von Individuen in einer Gemein­ schaft definieren (vgl. Zelewski 2008, S. 13). Sowohl die Schonung der Umwelt vor schädlichen Einflüssen, beispielsweise durch die Begrenzung von Schadstoffemissionen, als auch der sparsame Umgang mit den natürlichen Ressourcen determinieren die wichtigsten ökologischen Formalziele. Teilweise können sogar beide Ziele gleichzeitig verfolgt werden, wie beispielsweise mit dem Recycling und dem Downcycling. Neben den drei bereits genannten Formalzielen (wirtschaftliche, soziale und öko­ logische Ziele) bietet es sich an, zusätzlich noch technische Formalziele zu betrachten, bei denen insbesondere Mengen und Zeiten eine Rolle spielen. So wird der Quotient aus Output und Input als Produktivität bezeichnet und gibt darüber Auskunft, wie gut die eingesetzten Faktoren genutzt werden. Zu den technischen Zielen zählen bei­ spielsweise auch Vorgaben zur Kapazitätsauslastung, zu Durchlaufzeiten oder auch zu Qualitätsraten.

2.2 Strategische versus operative Ziele des Produktions- und Logistikmanagements Aus strategischer Sicht besteht das Ziel einer erfolgsorientierten Unternehmens­ führung darin, die langfristige Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten oder besser nachhal­ tige komparative Wettbewerbsvorteile zu realisieren (vgl. Rollberg 1996, S. 10). Hierbei gilt es, die strategischen Erfolgsfaktoren Qualität, Kosten und Zeit zu beherrschen. Je besser die Produktions- und Logistikstrategie in die Unternehmens- beziehungsweise Geschäftsbereichsstrategie eingebettet wird, desto besser lassen sich die gesetzten strategischen Ziele erreichen. Zur Umsetzung der Produktions- und Logistikstrategie wurde eine Vielzahl von Konzepten entwickelt, um den Veränderungen auf den Ab­ satzmärkten zu begegnen. An dieser Stelle seien beispielhaft „Agile Manufacturing“, „Efficient Consumer Response“ (ECR), „Just in Time“ (JiT), „Collaborative Planning, Forecasting and Replenishment” (CPFR) und „Vendor Managed Inventory” (VMI) ge­ nannt. Gleichwohl ist festzuhalten, dass nicht alle Unternehmen in der Lage sind, im Produktions- und Logistikbereich dauerhafte Wettbewerbsvorteile zu generieren, um so den Unternehmenswert dauerhaft zu sichern (vgl. Sydow/Möllering 2009, S. 70). Unabhängig hiervon bedarf es aber einer Überführung der strategischen Zie­ le in konkrete und quantifizierbare Zielgrößen (vgl. Zahn/Schmid 1996, S. 151). In Abbildung 1 sind einige operative Zielgrößen exemplarisch zusammengestellt. Die Differenz zwischen Erlösen (Ertrag) und Kosten (Aufwand) weist für die wirtschaftli­ che Unternehmensführung eine zentrale Bedeutung auf. Durch die Produktion wer­ den im Wesentlichen die Kosten beziehungsweise der Aufwand beeinflusst (vgl. hier

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Wirtschaftliche Ziele  Hohe Wirtschaftlichkeit  Geringe Herstellund Logistikkosten  Hohe Deckungsbeiträge  Hohe Rentabilität  Geringe Kapitalbindung

Ökologische Ziele

Soziale Ziele  Hohe Sicherheitsstandards  Anspruchsvolle Arbeitsinhalte  Hoher Qualifikationsgrad  Ergonomische Arbeitsplätze

 Geringer Ressourcenverbrauch  Geringer Schadstoffausstoß  Minimale Abfallmengen  Hohe Recyclingquoten

Operative Produktionsund Logistikziele

Technische Ziele  Hohe Produktivität  Hohe Kapazitätsauslastung  Große Stückzahlen  Geringer Materialverbrauch  Geringer Ausschuss  Minimale Rüstzeiten

 Kurze Lieferzeiten  Hohe Lieferzuverlässigkeit  Minimale Durchlaufzeiten  Schnelle Auftragsabwicklung  Schnelle Anpassungsfähigkeit

 Hohe Lieferqualität  Hohe Lieferflexibilität  Hohe Produktqualität  Geringe Ausfallraten  Niedrige Fehlerquoten

Abb. 1: Operative Produktions- und Logistikziele im Überblick (vgl. in Anlehnung an Zahn/ Schmid 1996, S. 152).

und im Folgenden Hahn/Laßmann 1999, S. 20 f.). Mithin gilt es, die Kosten zu mi­ nimieren, die für die Realisierung eines bestimmten Produktionsprogramms an­ fallen (Minimierungsprinzip). Es ist aber darauf hinzuweisen, dass beispielsweise eine hohe Produktqualität und Serviceleistungen die Erlöse steigern können. Aller­ dings gelingt es nicht immer, sämtliche planungsrelevanten Kostenelemente hin­ reichend genau oder ökonomisch sinnvoll zu erfassen. Hier bietet es sich an, auf technische Zielgrößen (Mengen und Zeiten) zurückzugreifen (vgl. hierzu auch noch­ mals Abbildung 1). Bei der Umsetzung des Produktionsprogramms reicht es aber häufig nicht aus, sich ausschließlich auf die Zielgrößen zu konzentrieren, sondern es sind vielmehr bestimmte Einschränkungen des Gestaltungsspielraums zu be­ achten. Hierzu zählen technische Restriktionen, aber auch ökologische und soziale Vorgaben.

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Untrennbar mit der Produktion verbunden ist der Material- und Güterfluss. Bei der Wahl der logistischen Perspektive besteht das Ziel darin, die richtigen Güter in der richtigen Menge und Qualität zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu den richtigen Kosten bereitzustellen. Mithin umfasst die Aufgabe eine Leistungs- und eine Kosten­ komponente. Logistikleistungen können als das Resultat derjenigen Handlungen defi­ niert werden, die die Planung, Steuerung und Ausführung des Transfers von Gütern und Abfällen umfassen (vgl. Large 2012, S. 23). Häufig fällt es aber schwer, die erbrachte logistische Leistung monetär auszudrü­ cken. Mithin wird stattdessen häufig auf die Serviceziele der Logistik zurückgegriffen, zu denen die folgenden zählen (vgl. Buscher et al. 2013, S. 14): – Lieferzeit: Zeitspanne von der Erteilung des Auftrags bis zur Verfügbarkeit beim Kunden. – Lieferzuverlässigkeit: Wahrscheinlichkeit, mit der die zugesagte Lieferzeit einge­ halten wird. – Lieferflexibilität: kurzfristiges Eingehen auf besondere Kundenwünsche z. B. im Hinblick auf Mengen und/oder Termine. – Lieferqualität: Liefergenauigkeit nach Art und Menge sowie des Zustands der Lie­ ferung. – Informationsfähigkeit: Möglichkeit, Kundenanfragen vor und nach der Auftrags­ erteilung schnell und genau beantworten zu können. Dem Wirtschaftlichkeitsprinzip folgend gilt es, für eine gegebene Logistikleistung die Logistikkosten zu minimieren. Die Erfassung der Logistikkosten kann einerseits nach Maßgabe der Art der zugrunde liegenden logistischen Handlung erfolgen, so dass Transport-, Umschlags-, Lagerhaus-, Lagerhaltungs- und Verpackungskosten vonein­ ander unterschieden werden können (vgl. Large 2012, S. 26). Andererseits kann eine kostenartenbasierte Unterteilung vorgenommen werden, die beispielsweise Perso­ nal-, Energie-, Miet- und Versicherungskosten sowie Abschreibungen und Kosten für logistische Fremdleistungen voneinander abgrenzt.

3 Aufgaben des Produktions- und Logistikmanagements In Abhängigkeit der Tragweite der zu treffenden Entscheidungen werden typischer­ weise drei Handlungsebenen des Managements unterschieden. Die Ebene, die sich mit den grundlegenden Festlegungen des Unternehmens befasst, wird als normatives Ma­ nagement bezeichnet und besteht aus den vier Dimensionen Unternehmenspolitik, -verfassung, -kultur und -vision (vgl. Göpfert 2013, S. 147 ff.). Der Frage, ob die betrieb­ lichen Funktionen jeweils ein eigenständiges normatives Management entwickeln sollten, oder ob sie eher Beiträge zur Ausgestaltung der Dimensionen des norma­

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tiven Managements liefern sollen, wird hier nicht weiter nachgegangen (vgl. z. B. zum Aufbau eines eigenständigen normativen Logistikmanagements Göpfert 2013 S. 145 ff.). Vielmehr wird hier die integrierte Planung der Produktion und der Logis­ tik im Rahmen des strategischen Managements behandelt, das darauf bedacht ist, Erfolgspotentiale aufzubauen, zu pflegen und zu nutzen, um Wettbewerbsvorteile für das Unternehmen zu erlangen (vgl. Zahn/Schmid 1996, S. 144). Die im normati­ ven und strategischen Management gemachten Vorgaben müssen schließlich durch das operative Management vollzogen und umgesetzt werden. Wird dem klassischen Managementprozess gefolgt, dann schließt sich hieran die Kontrolle der tatsächlich erzielten Ergebnisse an, gegebenenfalls gefolgt von einer Korrektur der Planung oder von Steuerungsmaßnahmen aufgrund etwaiger Planabweichungen. Allerdings handelt es sich hierbei um einen idealtypischen Prozess, der die im Unternehmen anzutreffende Situation oftmals nur verkürzt wiedergibt. Die Kri­ tik am klassischen Managementprozess konzentriert sich im Wesentlichen auf die folgenden vier Punkte (vgl. hier und im Folgenden Sydow/Möllering 2009, S. 10). Zuerst sind in der Phase der Willensbildung weder alle relevanten Informationen über die externe Umwelt und die internen Voraussetzungen verfügbar, noch alle Entscheidungsalternativen und geschweige deren Konsequenzen bekannt. Zweitens ist der Entscheidungsprozess häufig durch Zielkonflikte und interessenbezogene Ent­ scheidungen geprägt, die das Ergebnis der widerstrebenden Interessen aus der in­ dividuellen Rationalität der Entscheider einerseits und der Systemrationalität ande­ rerseits repräsentieren. Drittens werden die Implementierungsprobleme unterschätzt und viertens die Organisation als soziales System weitgehend vernachlässigt. Wenn im Folgenden die Aufgaben des Produktions- und Logistikmanagements diskutiert werden, sind diese Kritikpunkte im Hinterkopf zu behalten.

3.1 Strategische Aufgaben des Produktions- und Logistikmanagements Grundsätzlich lässt sich das strategische Management als Führungsaufgabe auffassen, die darauf abzielt, die langfristige und nachhaltige Überlebensfähigkeit des Unternehmens sicherzustellen. Das strategische Management beschränkt sich nicht nur auf die Ableitung von Unternehmens- und Geschäftsfeldstrategien, son­ dern formuliert auch Strategien für die betrieblichen Funktionsbereiche (vgl. Zahn/ Schmid 1996, S. 146). Umgekehrt haben die betrieblichen Funktionen aber auch die Aufgabe, den Beitrag zu erkennen, den sie zur Erreichung der unternehmensweiten Ziele und Strategie leisten können (vgl. Sydow/Möllering 2009, S. 11). Bei der hier gewählten wertschöpfungsorientierten Sichtweise auf den Güterfluss sind nicht nur die strategischen Aufgaben der Funktionen Produktion und Logistik eng miteinander verwoben, sondern auch diejenigen der Beschaffung und der Distribution. Mithin

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lässt sich nicht für sämtliche Aufgaben eine eindeutige Zuordnung zu den beiden Bereichen Produktion und Logistik vornehmen. Die mit dem strategischen Produktions- und Logistikmanagement verbundenen Aufgaben sind in Abbildung 2 aufgeführt. Dabei wird einerseits eine grobe Unterschei­ dung zwischen Aufgaben der Produktion und der Logistik vorgenommen und anderer­ seits nach den zu gestaltenden Aktionsparametern Struktur, Strategie und Techno­ logie unterschieden. Die Lage der in Abbildung 2 aufgeführten und grau hinterlegten Aufgaben gibt eine grobe Einordnung in den aufgespannten Rahmen an. Während die links in Abbildung 2 aufgeführten Aufgaben klassische strategische produktions­ wirtschaftliche Aufgaben repräsentieren, werden die rechts aufgeführten dem strate­ gischen Logistikmanagement zugeordnet. Je nach Sichtweise können die dazwischen angesiedelten Aufgaben dem einen oder anderen Bereich zugerechnet werden¹. Die Netzwerkplanung dient dazu, zumeist über einen längeren Zeitraum die räum­ liche Anordnung von Produktions- und Logistikstandorten so festzulegen, dass der Material- und Güterfluss möglichst effektiv und effizient abgewickelt werden kann (vgl. hierzu Rohde/Meyr/Wagner 2000, S. 10). Der resultierende Verbund von Standor­ ten und Material- und Güterflüssen ergibt die räumliche Struktur des Logistiksystems

Produktion

Logistik

Netzwerkplanung

Struktur Produktionsorganisation

Strategie

Kapazitätsstrategie Strategisches Produktionsprogramm

Fertigungstiefe SourcingKonzept

Distributionsstrategie Beschaffungsstrategie

Technologie Produktionsmaschinen

Lieferantenauswahl

IuK-Systeme

Transport- und Lagertechnologie

Abb. 2: Strategische Aufgaben in Produktion und Logistik im Überblick.

1 Beispielsweise rechnet Rollberg (2018, S. 1 f.) Aufgaben des strategischen Beschaffungsmanage­ ments dem strategischen Produktionsmanagement im weiteren Sinne zu, während Göpfert (2013, S. 198 ff.) diese Aufgaben dem strategischen Logistikmanagement zuweist.

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der Unternehmung (vgl. Günther/Tempelmeier 2009, S. 63). Im Rahmen der Netzwerk­ planung gilt es zunächst zu klären, welche Rolle die einzelnen Standorte einnehmen sollen und welche Aufgaben dort zu erfüllen sind (vgl. Chopra/Meindl 2014, S. 146). Anschließend geht es darum die Fragen zu beantworten, wo sich die Standorte befin­ den sollen, welche Märkte bedient und welche Bezugsquellen den Standorten zuge­ wiesen werden. Eng damit verknüpft ist die Kapazitätsstrategie. Zum einen sind die einzelnen Standorte kapazitiv auszulegen, wobei primär die Potentialfaktoren, d. h. die mensch­ lichen Arbeitskräfte (arbeitsbedingte Kapazität) und die Betriebsmittel (anlagen­ bedingte Kapazität) die Kapazität beziehungsweise das Leistungspotential (in ei­ nem bestimmten Zeitabschnitt) determinieren². Darüber hinaus bedarf es auch einer Strategie im Hinblick auf die Auslegung der zukünftigen Kapazität. Während zu­ nächst Kapazitätserweiterungsstrategien im Fokus der Forschung standen³, so dür­ fen je nach Nachfrageentwicklung Strategien zur Kapazitätsrückführung als auch zur Kapazitätsumstrukturierung nicht vernachlässigt werden. Dies wiederum lässt sich nicht unabhängig von der Fertigungstiefenentscheidung diskutieren. Hierbei sind diejenigen Produktionsprozesse auszuwählen, die inner­ halb einer Unternehmung ablaufen sollen (vgl. hier und im Folgenden Helber 1996, Sp. 1603 f.). Damit wird automatisch auch das Maß der vertikalen Integration fest­ gelegt. Geht es in diesem Zusammenhang um die Integration vorgelagerter Produkti­ onsstufen, dann handelt es sich um eine sogenannte Make-or-Buy-Entscheidung. Mit der Transaktionskostentheorie steht ein Instrumentarium zur Verfügung, mit dessen Hilfe ökonomische Konsequenzen alternativer Ausprägungen der Produktionstiefe in grundsätzlicher Art und Weise analysiert werden können. Liegt eine Buy-Entscheidung vor, dann gilt es, eine Beschaffungsstrategie fest­ zulegen. Beschaffungsstrategien lassen sich danach unterscheiden, ob für den Be­ schaffungsvorgang ein Kundenauftrag vorliegt oder nicht⁴. Im ersteren Fall liegt eine Beschaffung im Bedarfsfall vor, während andernfalls auf Vorrat beschafft wird. Eine besondere Form der Beschaffung im Bedarfsfall stellt die produktionssynchrone (Just-In-Time-)Zulieferung dar. Sie stellt sicher, dass die Produktion bedarfszeitpunktund bedarfsmengengerecht versorgt wird. Das Sourcingkonzept ist eng mit der Beschaffungsstrategie verwoben⁵. Die An­ zahl der in Anspruch genommenen Bezugsquellen für ein Beschaffungsobjekt legt

2 Daneben sind auch noch sekundäre Faktoren wie z. B. die herzustellenden Erzeugnisse selbst, Werkstoffe, Energie und die Produktionsorganisation zu berücksichtigen (vgl. Betge 1996, Sp. 852 f.). 3 Vgl. zu einem einfachen spezifischen Kapazitätserweiterungsmodell z. B. Nahmias (2005, S. 40 ff.). 4 Rollberg (2018, S. 10 f.) weist zu Recht darauf hin, dass in diesem Sinne verstandene Beschaffungs­ strategien in der Literatur häufig als Bereitstellungsprinzipien beziehungsweise -konzepte diskutiert werden. 5 Nach Göpfert (2013, S. 198 ff.) determiniert sogar nur eine Kombination aus Sourcing- und Bereit­ stellungskonzepten eine Beschaffungslogistikstrategie.

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im Wesentlichen die Beschaffungsstruktur fest. So kann ein Objekt von mehreren Lieferanten (Multiple Sourcing) oder auch nur von einem, möglichst dem leistungs­ fähigsten Lieferanten (Single Sourcing) bezogen werden. Weiterhin lässt sich danach unterscheiden, ob sich die Beschaffungsaktivitäten auf die vor Ort ansässigen Liefe­ ranten konzentriert (Local Sourcing), oder ob das weltweite Beschaffungspotential (Global Sourcing) ausgenutzt wird. Schließlich hängt das Sourcingkonzept auch von dem Beschaffungsobjekt selbst ab. Handelt es sich um einzelne Teile, aus Einzelteilen zusammengesetzte Module oder um komplexe Systeme, dann spricht man von Unit Sourcing, Modular Sourcing oder von System Sourcing. Um die Voraussetzungen für die Umsetzung der Beschaffungs- und Sourcing­ konzepte zu schaffen, dient die strategische Lieferantenauswahl dazu, eine Ent­ scheidung über die Aufnahme eines Neulieferanten in die Lieferantenbasis einer bestimmten Beschaffungsobjektgruppe zu treffen (vgl. Large 2009, S. 170). Der Aus­ wahl geht eine Bewertung des Lieferanten voraus, wobei der Festlegung der Kriterien eine entscheidende Rolle zukommt. Dabei stehen die Erfolgspotentiale der Liefe­ ranten im Mittelpunkt und nicht die Vergabe konkreter Aufträge über bestimmte Beschaffungsobjekte an Lieferanten (vgl. Janker 2004, S. 45). Dies obliegt vielmehr der operativen Lieferantenauswahl. Der Erfolg des Unternehmens hängt wesentlich davon ab, welche Leistungen das Unternehmen erbringt. Gegenstand der Programmplanung in Industriebetrieben ist es, die Frage zu beantworten, wann welche Erzeugnisse in welchem Umfang zu er­ bringen sind. Der strategischen Programmplanung obliegt es die Produktfelder aus­ zuwählen, auf denen das Unternehmen tätig sein will (vgl. hierzu Jacob 1990, S. 406 und 409). Wie der Begriff Produktfeld schon andeutet, handelt es sich nicht um ein einzelnes Endprodukt, sondern um die Gesamtheit aller Erzeugnisse, die sich auf ein Grunderzeugnis zurückführen lassen. Mithin erfolgt eine Vorgabe, wie die Bemühun­ gen des Unternehmens ausgerichtet werden sollen, um marktgerechte Leistungen zu erbringen. Die Leistungserstellung im Unternehmen bedarf einer Strukturierung des Produk­ tionssystems, die der Produktionsorganisation obliegt. Mit dem Verrichtungs- und dem Prozessfolgeprinzip lassen sich zwei grundlegende Gestaltungsprinzipien unterschei­ den. Dem Verrichtungsprinzip folgend, werden Anlagen mit gleichen oder gleichar­ tigen Funktionen räumlich in Werkstätten gebündelt (vgl. Corsten/Gössinger 2012, S. 30 f.). Verschiedene Werkstücke beziehungsweise Produkte durchlaufen die Werk­ stätten in unterschiedlichen Reihenfolgen mit der Folge, dass häufig vergleichsweise hohe Materialflusskosten entstehen. Das Prozessfolgeprinzip sieht hingegen eine Anordnung der Maschinen vor, die sich an der Arbeitsgangfolge der Erzeugnisse orientiert. Voraussetzung für eine solche Fließfertigung ist ein für alle Erzeugnisse weitgehend gleicher Durchlauf, der sich im Wesentlichen nur dadurch unterscheidet, ob die Stationen vollständig oder nur teilweise besucht werden. Das Objektprinzip stellt ein weiteres Gestaltungsprinzip dar, nachdem alle diejenigen Betriebsmittel in organisatorischen Einheiten räumlich zusammengefasst werden, die für den kom­

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pletten Herstellungsprozess von Produkten beziehungsweise Produktfamilien ver­ antwortlich sind (vgl. Rollberg 2018, S. 5). Die organisatorischen Einheiten werden als Produktionsinsel oder auch zum Teil als Fertigungszentrum bezeichnet, wobei häufig versucht wird, eine Fließfertigung innerhalb der Insel zu realisieren. Technologieentscheidungen sind in mehrfacher Hinsicht zu treffen. Bei der Fra­ ge, welche Produktionsmaschinen eingesetzt werden, spielt die fertigungstechnische Flexibilität eine bedeutende Rolle (vgl. Rollberg 2018, S. 5). Sie erfasst, ob, in wel­ chem Umfang und wie schnell ein Produktionssystem an andersartige Aufgaben angepasst werden kann (vgl. Corsten/Gössinger 2012, S. 14). Mit Spezialmaschinen lässt sich zumeist nur ein Produkt fertigen und ihre Flexibilität besteht häufig darin, in einem bestimmten Zeitabschnitt unterschiedliche Ausbringungsmengen zu ferti­ gen. Mehrzweckaggregate sind hingegen in der Lage, mehrere Tätigkeits- und Werk­ verrichtungsarten an unterschiedlichen Produkten durchführen zu können. Flexible Fertigungssysteme (FFS) setzen sich aus mehreren numerisch gesteuerten Maschinen zusammen, die durch ein automatisiertes Transportsystem miteinander verbunden sind (vgl. hierzu ausführlicher Günther/Tempelmeier 2009, S. 107 ff.). Ihnen ist es möglich, Produkte eines vorgegebenen Spektrums in beliebiger Reihenfolge ohne nennenswerte Umrüstvorgänge zu bearbeiten. Um einen reibungslosen innerbetrieblichen Material- und Güterfluss zu gewähr­ leisten, bedarf es auch einer entsprechenden Transport- und Lagertechnologie. Aus­ gangspunkt für die Gestaltung des innerbetrieblichen Transportsystems sind die Fördergüter. Auf ihrer Grundlage werden die Förderhilfsmittel festgelegt, die mehrere Güter zu Gebinden beziehungsweise Ladeeinheiten zusammenfassen. Sie dienen dazu, Fördergüter zu schützen, lade-, transportier- und lagerfähig zu machen sowie informationstechnisch zu erfassen und zu verarbeiten (vgl. Baumann et al. 2008, S. 155). Erst nach der Festlegung der Förderhilfsmittel erfolgt die eigentliche Aus­ wahl des Fördermittels. Hierzu zählen alle Transportmittel für den innerbetriebli­ chen Material- und Güterfluss, wobei insbesondere zwischen stetigen und unsteti­ gen Fördermitteln unterschieden wird (vgl. hierzu z. B. Schulte 2009, S. 155 ff.). Zur Abstimmung zwischen Transport- und Produktionsprozessen sind regelmäßig auch Bestände notwendig, die gelagert und verwaltet werden müssen. Speicher, Puffer und Lager nehmen solche Bestände auf und müssen gewährleisten, dass ein Zugriff in gewünschter Zeit erfolgen kann (vgl. Arnold 2004, S. A1-20). Dabei spielt auch die Lagertechnik, d. h. die Art der verwendeten Lagerplätze und -regale sowie Lagergeräte und Lastaufnahmemittel eine wichtige Rolle. Um einen reibungslosen Produkt- und Güterfluss zu realisieren, bedarf es einer Unterstützung durch Informations- und Kommunikationssysteme (IuK-Systeme). Häu­ fig unterstützen sogenannte betriebliche Anwendungssysteme die Unternehmen bei der Erledigung ihrer Aufgaben. Hierbei handelt es sich zumeist um standardisierte Softwaresysteme (kurz Standardsoftware), die ein breites Einsatzspektrum haben (vgl. hier und im Folgenden Kurbel 2016, S. 1 ff.). Ihr Ursprung liegt in Informati­ onssystemen zur Materialbedarfsplanung (englisch Material Requirements Planning

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(MRP)) beziehungsweise Produktionsplanung und -steuerung (PPS). Über die Be­ rücksichtigung von den für die Produktion notwendigen Kapazitäten in sogenannten MRP II-Systemen, wobei MRP für Manufacturing Resource Planning steht, führte der Weg zu Systemen des Enterprise Resource Planning (ERP), die idealtypischerweise sämtliche relevanten Planungsbereiche und Ressourcen mit einbeziehen. Planungs­ systeme des Supply Chain Managements (SCM), die in der Regel über Schnittstellen mit den ERP-Systemen verbunden sind, dienen dazu, den Umfang der Planung nicht an der Unternehmensgrenze enden zu lassen, sondern vielmehr für die Abstimmung der Beschaffungs-, Produktions- und Absatzpläne entlang der Lieferkette zu sorgen. Weitergehende Unterstützung liefern Systeme zum Advanced Planning und Sche­ duling (APS), die aufgrund des methodischen und rechentechnischen Fortschritts in der Lage sind, vormals nicht zu bewältigende Aufgaben des Produktions- und Logistikmanagements zu lösen. In neuerer Zeit entsteht verbunden mit dem Begriff Industrie 4.0 eine neue Vision des Produktions- und Logistikmanagements. In dem entstehenden cyberphysischen Produktionssystem (CPPS) sind physische und ver­ netzungsfähige Komponenten in dem sogenannten Internet der Dinge miteinander verbunden (vgl. hier und im Folgenden Mosler 2017, S. 496 f.). Dort wird jedem realen Objekt ein virtuelles digitalisiertes Abbild zugeordnet und somit die Voraussetzung für die vertikale Integration der Produktionssysteme geschaffen. Das Verschmelzen der Sensor-, Aktor-, Steuerungs-, Produktionsleit-, Herstellungs- und der übergeord­ neten Unternehmensplanungsebene durch integrierte IT-Systeme soll zu einer per­ formanten, flexiblen und dynamischen Planung und Steuerung sämtlicher Logistik-, Produktions- und Vertriebsprozesse führen – so das Ideal. Im Rahmen der Distributionsstrategie gilt es zum einen die Distributionskanäle (auch als Absatzwege bezeichnet) festzulegen und zum anderen ein passendes Dis­ tributionskonzept auszuwählen. Bei der Wahl des Distributionskanals beziehungs­ weise der Distributionskanäle geht es zunächst darum, die unternehmensinternen und -externen Organisationseinheiten zu bestimmen, die für den Weg des Produk­ tes vom Produzenten zum Kunden eingebunden werden sollen (vgl. Kummer/Grün/ Jammernegg 2009, S. 323). Liegt auch eine Entscheidung hinsichtlich des Verkehrsträ­ gers vor, dann muss aus logistischer Sicht ein Distributionskonzept festgelegt werden. Exemplarisch seien hier neben der Direktbelieferung Zentrallagerbelieferungen, Ge­ bietsspediteurkonzepte sowie Transshipment- und Cross-Docking-Konzepte genannt (vgl. hierzu ausführlicher Schuh/Stich/Kompa 2013, S. 128). Auch die Just-in-TimeAnlieferung ist ein spezielles Distributionskonzept zur Steuerung des Material- und Güterflusses entlang der Logistikkette, das seit Mitte der Achtziger Jahre in produ­ zierenden Unternehmen (mit der Automobilindustrie als Vorreiter) verbreitet ist (vgl. Schulte 2009, S. 481). Der Handel hat mit etwas Verzögerung nachgezogen und in den Distributionskanälen mit Quick Response (QR), Efficient Consumer Response (ECR), Vendor Managed Inventory (VMI), Collaborative Planning, Forecasting and Replen­ ishment (CPFR), Buyer Managed Inventory und Continuous Replenishment (CR) ei­ ne Vielzahl neuer Konzepte eingeführt (vgl. hierzu ausführlicher z. B. Buscher 2009, S. 53 ff.).

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3.2 Operative Aufgaben des Produktions- und Logistikmanagements Die Entscheidungen des strategischen Produktions- und Logistikmanagements bil­ den ein spezifisch ausgestaltetes Wertschöpfungssystem, das den Rahmen bildet innerhalb dessen die operativen Aufgaben abzuwickeln sind. Mit der Erfüllung der operativen Aufgaben wird angestrebt, die Vorgaben bestmöglich umzusetzen, um so die Erfolgspotentiale weitgehend auszuschöpfen⁶. Aufgrund der planerischen Inter­ dependenzen müssen die Entscheidungen aufeinander abgestimmt werden, so dass ein konsistentes produktionswirtschaftliches und logistisches Maßnahmenprogramm entsteht⁷. Allerdings besteht wenig Hoffnung ein Totalmodell zu entwickeln und zu lösen, das sämtliche Interdependenzen berücksichtigt, so dass eine vertikale und horizontale Dekomposition von Entscheidungsfeldern nicht vermeidbar ist. Einen Überblick über wichtige operative Aufgaben in Produktion und Logistik gibt Abbil­ dung 3, ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

Produktion

Operatives Produktionsprogramm

Logistik Materialbereitstellungsplanung

Innerbetrieblicher Transport Losgrößenund Ressourceneinsatzplanung

Maschinenbelegungsplanung

Verpacken/ Kommissionieren

Transport- und Tourenplanung

Bestandsmanagement

Auftragsabwicklung

Abb. 3: Operative Aufgaben in Produktion und Logistik im Überblick.

6 Der Einfluss von der operativen auf die strategische Ebene ist hingegen eher gering und beschränkt sich zumeist auf die Rückkopplung von nicht realisierbaren Vorgaben. 7 Zur Konsistenz des produktionswirtschaftlichen Maßnahmenprogramms vgl. Rollberg (2018, S. 16).

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Der operativen Produktionsprogrammplanung obliegt es, die Mengen an Produkten zu bestimmen, die in einer kurzfristigen Sicht hergestellt werden sollen. Dabei konkur­ rieren die Produkte häufig um knappe Kapazitäten in den jeweiligen Produktions­ segmenten. Der Hauptproduktionsprogrammplanung kommt dabei die Aufgabe zu, in einem mehrperiodigen Planungszeitraum die Produktionssegmente so zu koordi­ nieren, dass ein zulässiges Produktionsprogramm ermittelt wird, das die relevanten Produktions-, Lagerhaltungs- und ressourcenabhängigen Kosten minimiert (vgl. Gün­ ther/Tempelmeier 2009, S. 170). Für die Ermittlung des Produktionsprogramms werden auch die kurzfristig ge­ planten Absatzmengen der Produkte benötigt. Diese Mengen resultieren zum einen aus Prognosedaten, aber zum anderen auch aus eingegangenen Kundenaufträgen, die schon im System zur Auftragsabwicklung erfasst worden sind. Letztere umfasst sämt­ liche Tätigkeiten des Übermittelns, des Bearbeitens und des Kontrollierens, die in der Zeitspanne von der Auftragsaufgabe des Kunden bis zum Eingang der Ware und Rech­ nung beim Kunden anfallen (vgl. Schulte 2009, S. 473). Um das ermittelte Produktionsprogramm tatsächlich umzusetzen, hat die Ma­ terialbereitstellungsplanung dafür zu sorgen, dass das für die Produktion benötigte Material (Rohstoffe, Hilfsstoffe, Halb- und Fertigfabrikate) sowie Betriebsstoffe in der erforderlichen Menge und Qualität zur rechten Zeit sowie am rechten Ort zur Verfügung stehen. Das Festlegen von Bestellmengen und -terminen obliegt hinge­ gen der Materialdisposition, während die operative Abwicklung des eigentlichen Beschaffungsprozesses in den Händen des Einkaufs liegt (vgl. Bloech et al. 2014, S. 148). Hierzu gehören beispielsweise die operative Lieferantenauswahl, die Bud­ getprüfung des Bedarfsträgers, das Erstellen und Übermitteln der Bestellung sowie deren Überwachung während der Lieferzeit. Die fertigungsseitige Umsetzung des Produktionsprogramms erfolgt mit der detaillierten Losgrößen- und Ressourceneinsatzplanung, deren Ziel darin besteht, segmentspezifisch die Losgrößen und Fertigungstermine der Produktionsaufträge gemeinsam festzulegen (vgl. hier und im Folgenden Günther/Tempelmeier 2009, S. 180 f.). Dabei sind zwei wesentliche Restriktionen zu berücksichtigen. Einerseits müssen die segmentspezifischen Bedarfstermine eingehalten werden, die aus der übergeordneten Planungsebene übernommen werden und andererseits gilt es gleich­ zeitig, die dem jeweiligen Produktionssegment zur Verfügung stehenden Kapazitäten einzuhalten. Um die Umsetzung der Pläne nicht scheitern zu lassen, erweist sich häufig eine arbeitsganggenaue Betrachtung der Aufträge inklusive einer detaillier­ ten Berücksichtigung der Anlagenkapazitäten als notwendig. Im Ergebnis werden den Anlagen bestimmte Arbeitsgänge zugeordnet, die im Laufe eines bestimmten Zeitabschnitts (häufig ein Tag) abgearbeitet werden sollen. Der Maschinenbelegungsplanung kommt schließlich die Aufgabe zu, die einer An­ lage zugeordneten und damit in einer Konkurrenzsituation stehenden Aufträge in eine Reihenfolge zu bringen (vgl. z. B. Buscher et al. 2013, S. 195). Dabei gilt es, die Rüst- und Betriebszustände der Anlagen und die Verfügbarkeit weiterer Ressourcen wie Bedie­

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ner und Werkzeuge zu berücksichtigen. Formal geht es darum, eine bestimmte Anzahl von Aufträgen auf einer vorgegebenen Anzahl an Maschinen zu bearbeiten. Unmittelbar mit der Produktionsplanung und -steuerung ist der innerbetrieb­ liche Transport verbunden, der zeitlich und mengenmäßig nicht unabhängig von den Produktionsprozessen geplant werden kann. Neben der eigentlichen Ausführung des Transportes müssen drei weitere Teilaufgaben erfüllt werden (vgl. hier und im Folgenden Large 2012, S. 131 ff.). Die erste Teilaufgabe besteht darin Transportauf­ träge zu generieren, wobei die Art und Weise des Entstehens von Transportaufträgen von der Form der Produktionssteuerung abhängt. In einem zweiten Schritt gilt es, geeignete Transportlosgrößen zu bestimmen, die nicht zwangsläufig den Fertigungs­ losgrößen entsprechen müssen. Hier sind sowohl das Zusammenfassen aber auch das Aufsplitten von Fertigungslosen zu geeigneten Transportlosgrößen denkbar (vgl. ausführlicher zur simultanen Planung von Fertigungs- und Transportlosgrößen Bo­ gaschewsky/Buscher 1999). Die dritte Teilaufgabe besteht darin, den Transportauf­ trägen entsprechende Kapazitäten zuzuordnen. Da die Höhe der Bestände in den verschiedenen Lagern entlang der Wertschöp­ fungskette durch die Planung der Produktions- und Transportprozesse bestimmt wird, stellt das Bestandsmanagement keine eigenständige Planungsaufgabe dar (vgl. Fleischmann 2004, S. A1-11). Mithin liegt die Aufgabe vielmehr darin, die Auswir­ kungen der Prozesse auf die Bestände zu analysieren, um mit diesem Wissen die Prozesse schließlich so zu gestalten, dass sie zu den angestrebten Beständen führen. Dabei bietet es sich an, zwischen verschiedenen Bestandsarten (Losgrößenbestand, Transportbestand, Sicherheitsbestand, Saisonbestand und Work in Process (WIP)) zu differenzieren. Nicht nur, aber insbesondere am Ende des Herstellungsprozesses werden Produk­ te verpackt. Dabei übernimmt das Verpacken unterschiedliche Funktionen. Zunächst dient es dem Schutz des Produktes vor Beschädigungen und ungewollten quantitati­ ven und qualitativen Veränderungen. Es kann aber auch der besseren Handhabung und Lagerung dienen sowie Transporte ermöglichen, vereinfachen und optimieren. Zudem erfüllt die Verpackung auch eine Informationsfunktion. So kann die Verpa­ ckung beispielsweise über Barcode oder RFID-Etikett mit Informationen über das verpackte Gut, den Empfangsort und den Transportweg bestückt werden. Während des Wertschöpfungsprozesses können Tätigkeiten des Kommissionierens notwendig werden. Mit der Kommissionierung wird das Ziel verfolgt, aus einer Gesamtmenge an Gütern Teilmengen zu entnehmen und sie auftragskonform zusammenzustellen (vgl. hierzu Large 2012, S. 172). Teilweise erweist es sich hierbei zuvor als notwendig, Ladeeinheiten aufzulösen (vgl. Schuh/Hering/Brunner 2013, S. 9 f.). Eine Kernaufgabe der Logistik stellt die Distributionslogistik dar, die sämtliche Transport- und Lagerprozesse plant, steuert und überwacht, die mit dem Materialund Informationsfluss vom Ende der Produktion bis zur Übergabe der Ware beim Kunden anfallen (vgl. Schuh/Stich/Kompa 2013, S. 116). Zwei wesentliche damit einhergehende Aufgaben sind die Transport- und Tourenplanung. Im Rahmen der

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Transportplanung wird eine Situation betrachtet, in der ein Produkt an mehreren Standorten mit bestimmter Kapazität hergestellt wird und an regional verteilte Ab­ nehmerzentren ausgeliefert werden muss (vgl. Günther/Tempelmeier 2009, S. 286). Es gilt dann die Frage zu beantworten, von welchem Standort aus die Nachfrage in den Abnehmerzentren befriedigt werden soll, so dass die Transportkosten minimiert werden. In der Tourenplanung geht es darum, auf kurze Frist (zumeist innerhalb eines Tages) verschiedene Transportaufträge mit einem gegebenen Fuhrpark zu erledigen. Die Planungssituation zeichnet sich typischerweise dadurch aus, dass die Aufträge im Verhältnis zur Transportkapazität der Fahrzeuge so klein sind, dass es sich lohnt, mehrere Aufträge zu einer Tour zusammenzufassen (vgl. Günther/Tempelmeier 2009, S. 293). Allerdings ist das Transportvolumen so groß, dass der Einsatz mehrerer Fahr­ zeuge notwendig ist. Mithin muss festgelegt werden, welche Abnehmer einer be­ stimmten Tour zugeordnet werden und wenn dies erfolgt ist, in welcher Reihenfolge sie zu bedienen sind.

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Mathias Mathauer, Wolfgang Stölzle und Erik Hofmann

Entwicklungszüge in der Logistik Treiber, Trends und konzeptionelle Überlegungen für die Zukunft 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 5

Einleitung | 32 Historische Entwicklungszüge in der Logistik | 32 Begriffsbestimmungen | 34 Vorgehensweise | 35 Langfristige Treiber im Logistikumfeld | 37 Gesellschaftliche Entwicklungen | 37 Schlüsseltechnologien | 38 Mittelfristige Trends mit Relevanz für die Logistik | 40 Automatisierung und Robotik | 40 Visibilität | 41 Customization | 42 Vernetzung | 43 Nachhaltigkeit | 44 Konzeptionelle Überlegungen für die Logistik der Zukunft | 45 Digital-Autonomous Logistics | 45 Shareconomy Logistics | 46 Logistics on Demand | 48 Regionalized Logistics | 49 Adaptive Logistics | 50 Resümee und Ausblick | 52 Literatur | 52

Zusammenfassung. Die zunehmende Komplexität globaler Wertschöpfungsnetzwer­ ke und starker technologischer Wandel dominieren die aktuelle Diskussion rund um Logistiktrends. Unternehmen umtreibt die Frage, wie vor diesem Hintergrund zukunftsfähige Logistikkonzepte zu gestalten sind. Eine konzeptionelle Herausfor­ derung besteht darin, dass sich Logistiktrends typischerweise überlagern und ge­ genseitig beeinflussen. Der vorliegende Beitrag liefert statt einer reinen Aufzählung von Trends ein systematisches Vorgehen für die strukturierte Analyse von Entwick­ lungszügen in der Logistik. Unter Berücksichtigung von gesellschaftlichen und tech­ nologischen Treibern werden Logistiktrends abgeleitet, deren Wechselwirkung zu konzeptionellen Überlegungen für die Logistik der Zukunft führt.

https://doi.org/10.1515/9783110473803-003

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1 Einleitung Fortschritte in Wissenschaft und Technik haben in den letzten Jahrzehnten zu einer globalisierten, dynamisch wachsenden Weltwirtschaft geführt (vgl. Mack/Khare 2016, S. 4). Wertschöpfungsstufen werden in jene Länder verlagert, die sich z. B. aufgrund der Verfügbarkeit von Rohstoffen oder ihrer Lohnstruktur als vorteilhaft erweisen. Damit einher geht eine Erhöhung der Komplexität von Wertschöpfungsnetzwerken, durch welche die Logistik eine inhaltliche Erweiterung erfährt und verstärkt wett­ bewerbsstrategische Bedeutung bekommt. Dieses Handlungsumfeld stellt Unterneh­ men sowie deren Entscheidungsträger vor große Herausforderungen im Hinblick auf die Identifikation von relevanten Entwicklungen für die Logistik der Zukunft. In ei­ nem Wirtschaftsgefüge, welches durch Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität (kurz VUCA) gekennzeichnet ist, reichen eine bloße Bestandsaufnahme und Fortschreibung jahrzehntelanger, bekannter Trends nicht länger aus. Stattdessen sollte das aus der Wechselwirkung verschiedener Logistiktrends entstehende Disrup­ tionspotential sowie die daraus ableitbaren Implikationen für die Logistikkonzeption in den Fokus der Betrachtung rücken. Der vorliegende Beitrag greift diese Herausforderungen auf und entwickelt ein systematisches Vorgehen für die strukturierte Auseinandersetzung mit Entwicklungs­ zügen in der Logistik. Ausgangspunkt sind langfristige Treiber in Gesellschaft und Technik, aus deren Wechselwirkung inhaltliche Logistiktrends abgeleitet werden kön­ nen. Das Zusammenspiel dieser Trends führt schließlich zu konzeptionellen Überle­ gungen für die Logistik der Zukunft. Im Unterschied zu bestehenden Konzepten in der Logistik adressieren die konzeptionellen Überlegungen keine einzelnen Trends (wie z. B. die Berücksichtigung von Customization bei Engineer-to-Order-Konzepten oder die Berücksichtigung von Nachhaltigkeit bei Green-Logistics-Konzepten), sondern zeigen zukünftige Stoßrichtungen aus dem Zusammenwirken verschiedener Trends auf. Diese Systematik erlaubt belastbare Aussagen über die Entwicklung der Logistik, welche der Ausgestaltung zukunftsfähiger Logistikkonzepte zugrunde gelegt werden können.

1.1 Historische Entwicklungszüge in der Logistik Die Logistik wird seit jeher von gesamtgesellschaftlichen und technologischen Ent­ wicklungen geprägt. Ein kompakter Überblick über ausgewählte historische Meilen­ steine von den 1950ern bis heute soll zu einem vertieften Verständnis der Wirkungs­ mechanismen beitragen, welches für die Herausarbeitung künftiger Entwicklungs­ züge in der Logistik essentiell ist. – 1950er: In der Nachkriegszeit löst der ansteigende Konsum das deutsche „Wirt­ schaftswunder“ aus, moderne LKW werden massenfähig und erleichtern den

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Straßengütertransport. Auf diesem Verkäufermarkt wird die Logistik als reine Verrichtungshilfe eingesetzt (vgl. Wegner/Wegner 2017, S. 4). 1960er: Bei anhaltend hohem Konsum vollzieht sich ein Wandel hin zum Käu­ fermarkt, und Kundenserviceleistungen treten in den Vordergrund. Die Logistik fokussiert auf die Optimierung der physischen Warendistribution. Im Kontext des Eisenbahngütertransports wird die Europalette eingeführt. 1970er: Die Ölkrise führt zu einer volkswirtschaftlichen Stagflation. Zahlreiche Unternehmen verankern die Logistik als Funktion in ihrer Organisationsstruktur (vgl. Wegner/Wegner 2017, S. 5). In technologischer Hinsicht beginnt die Ära des PC, womit der Weg für den standardisierten, elektronischen Datenaustausch ge­ ebnet wird. 1980er: Der Nachhaltigkeitsgedanke erfährt gesellschaftliche Legitimierung durch die Gründung grüner Parteien in ganz Europa. Großen Einfluss auf die Lo­ gistik nimmt die technologische Durchdringung der Wirtschaft durch Barcodes, ERP-Systeme und PC, wodurch funktionsübergreifende Prozessverbesserungen erleichtert werden. Die Logistik wird als unternehmerische Querschnittsfunktion verstanden. 1990er: In Zeiten der „Erschließung“ osteuropäischer Märkte und der allmähli­ chen Verbreitung von Mobilfunknetzen und Internet liegt der Fokus nicht länger auf den Basisfunktionen („TUL-Logistik“) innerhalb eines Unternehmens, son­ dern auf der Planung, Steuerung und Koordination an Schnittstellen zwischen Unternehmen. 2000er: China steigt zu einer globalen Wirtschaftsmacht auf, und die Hypothe­ kenkrise zieht ein vorläufiges Ende der wirtschaftlichen Dynamik nach sich. In der ersten Hälfte der 2000er wird die Logistik von Advanced Planning Systems (APS) geprägt, welche die zentrale Planung und Steuerung des physischen Güter­ flusses im Sinne eines „Control Tower-Prinzips“ unterstützen. In der zweiten Hälf­ te der 2000er rückt der digitale Informationsfluss entlang der Wertschöpfungsket­ te in den Vordergrund, wobei Daten für einen vereinfachten Zugriff zunehmend in Clouds abgespeichert werden. 2010er Jahre: Die Kommerzialisierung des Internets setzt sich endgültig durch (E-Commerce) und erneuerbare Energien werden erschlossen. Da die Nachwir­ kungen der Hypothekenkrise spürbar bleiben, schwächt sich die Beschleunigung der Globalisierung ab. In Zeiten von Internet der Dinge und Industrie 4.0 wächst in der Logistik die Bedeutung des Umgangs mit großen Datenmengen (Big Data). Die Logistik integriert Wertschöpfungsketten zu globalen Netzwerken, welche nun auch in der Praxis endgültig als Supply Chains bezeichnet werden (vgl. Schul­ te 2013, S. 22).

Die aufgegriffenen Meilensteine zeigen, dass für eine ganzheitliche Betrachtung der Entwicklungen in der Logistik die Berücksichtigung des gesellschaftlichen und tech­ nologischen Kontexts unabdingbar ist. Als Grundlagen für deren differenzierte Ana­

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lyse werden im folgenden Abschnitt zunächst die Begriffe Treiber und Trend vonein­ ander abgegrenzt sowie das dem Beitrag zugrundeliegende Logistikverständnis dar­ gelegt.

1.2 Begriffsbestimmungen Megatrends sind „globale sowie tiefgreifende und nachhaltige gesellschaftliche, öko­ nomische und technologische Veränderungen, die sich langsam entfalten, langfristig gestalten und die Zukunft prägen“ (Fontius 2013, S. 19). In diesem Sinne sind Mega­ trends auch als Treiber kurz- und mittelfristiger Entwicklungen zu bezeichnen (vgl. Kille/Grotemeier 2017, S. 29). Sie sind stabil, bilden sich aus diversen Bewegungen heraus und werden ihrer thematischen Herkunft nach unterschieden. Technologische Treiber entfalten ihre Wirkung in der Regel schneller als gesellschaftliche (vgl. Pill­ kahn 2007, S. 130). Der vorliegende Beitrag differenziert terminologisch zwischen ge­ sellschaftlichen Treibern und Schlüsseltechnologien. Schlüsseltechnologien können die Wettbewerbsdynamik auf dem Markt beeinflussen. Im Gegensatz zu Basistech­ nologien beherrschen bei Schlüsseltechnologien noch nicht alle Mitbewerber diese Technologien zum Betrachtungszeitpunkt (vgl. Trommsdorff/Steinhoff 2013, S. 13 ff.). Der begriffliche Übergang von Treibern zu Trends ist fließend. Auch ein Trend ist die Bezeichnung für zukünftige Entwicklungsrichtungen einzelner Variablen oder ih­ rer Beziehungen zueinander. Treiber beeinflussen die Richtung und Wirkungsstärke von Trends (vgl. Pillkahn 2007, S. 131). Ein weiteres Differenzierungsmerkmal dieser beiden Begriffe stellt der Zeithorizont dar. Von Treibern wird ab einer Wirkungsdauer von ca. 25 Jahren gesprochen, während Trends auf die mittlere Frist von 5 bis 10 Jahren abzielen (vgl. Fontius 2013, S. 17). Sowohl Treiber als auch Trends interagieren mitein­ ander, weshalb ihre individuelle Wirkung schwer analysier- und vorhersehbar ist (vgl. Müller-Stewens/Lechner 2016, S. 4 f.). Aus analytischen Gründen werden hier Treiber und Trends separat voneinander beleuchtet. Für die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen von Treibern und Trends auf die Logistik ist weiterhin das Begriffsverständnis von Logistik darzulegen. Grundsätz­ lich kann zwischen Logistik als Funktion und der Logistikkonzeption unterschieden werden, wobei letztere den Rahmen für die Erfüllung der Funktion darstellt (vgl. Pfohl 2016, S. 5). Die Logistikkonzeption ist prozessorientiert, weshalb ihr eine verti­ kale Koordinationsleistung entlang der Wertschöpfungskette zu eigen ist. Sie markiert den Übergang von der Akteurs- auf die Netzwerkebene und liefert Impulse für die Ge­ staltung und Steuerung integrierter, globaler Wertschöpfungsnetzwerke (vgl. Eßig et al. 2013, S. 119). In diesem Sinne ist Logistik Teil des Supply Chain Management (vgl. Ballou 2007, S. 340) und findet entlang aller Phasen der Supply Chain statt: Beschaf­ fungs-, Produktions-, Distributions- und Entsorgungslogistik. An den Schnittstellen zwischen Beschaffungs- und Produktionslogistik (Inbound-Logistik) sowie zwischen Produktions- und Distributionslogistik (Outbound-Logistik) findet die Intralogistik

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statt. Bei dieser Systematik handelt es sich um eine idealtypische Auffassung, wes­ halb die Trennlinien zwischen den Phasen in praxi verschwimmen. Während die Logistikkonzeption als Handlungsrahmen zu verstehen ist, weist ein Logistikkonzept unmittelbaren Handlungsbezug auf. Es wird nicht aus theoretischen Überlegungen gewonnen, sondern aus Erfahrungs- und Praxiswissen ohne Anspruch auf generelle Gültigkeit gespeist. Konzeptionelle Überlegungen stellen Stoßrichtungen dar, wohin sich Logistikkonzepte in Zukunft wahrscheinlich entwickeln werden.

1.3 Vorgehensweise Die wissenschaftliche Trendliteratur ist methodisch nicht allzu stark entwickelt (vgl. Fink/Siebe 2011, S. 163). Allerdings besteht eine Tendenz zum Einsatz von Top-DownVerfahren, bei welchen von allgemeinen auf spezifische Entwicklungen geschlossen wird. Der vorliegende Beitrag folgt dieser Systematik und wendet einen Dreischritt an, um gesamtgesellschaftliche Entwicklungslinien auf Implikationen für die Logistik herunterzubrechen (vgl. Abbildung 1). Im ersten Schritt werden Treiber und Schlüssel­ technologien untersucht, deren Wirkungsgrad alle gesellschaftlichen Bereiche durch­ dringt und nicht auf die Logistik beschränkt ist. Die Identifikation erfolgt anhand des folgenden Schemas (vgl. Fink/Siebe 2016, S. 312): Aufspüren von Veränderungs­ mustern in der Gesellschaft („Semiotik“), Analyse von Fakten („Beweisführung“) und Namensgebung für den Treiber oder die Schlüsseltechnologie („Naming“). Der zweite Schritt umfasst die Auseinandersetzung mit Trends, welche eine hohe Relevanz für die Logistik aufweisen und sich aus der Interaktion von Treibern und Schlüsseltechnologien ergeben (vgl. Mussnig/Mödritscher 2013, S. 186). Zur Verifizie­ rung der ausgewählten Trends wird das eben dargestellte Schema erneut durchlaufen, wobei nach der „Beweisführung“ noch ein Abgleich eingeschoben wird, inwieweit der jeweilige Trend Potential für die Logistik besitzt („Ökonomischer Abgleich“). Im dritten Schritt werden konzeptionelle Überlegungen für die Logistik aufgezeigt und diskutiert, welche sich aus der Konvergenz vorheriger Trends ableiten lassen (vgl. Krys 2011, S. 378). Die vorgestellten konzeptionellen Überlegungen für die Logistik der Zukunft basieren auf den zuvor identifizierten Treiber und Trends und sind als Im­ pulse für künftige Entwicklungszüge zu verstehen.

Digitalisierung

Urbanisierung

Individualisierung

Healthstyle

B.

C.

D.

E.

Sensor-/Aktortechnologie

Technologie zur Positionsbestimmung

Elektronische Plattformen

Big Data Analytics

G.

H.

I.

J.

Abb. 1: Konzeptioneller Aufbau des Beitrags.

Auto-ID-Technologie

F.

Schlüsseltechnologien:

Demographischer Wandel

A.

Gesellschaftliche Entwicklungen:

1. Schritt: Treiber

C, E I

A, B, F, G

B, F, G

B, D, J

IV. Vernetzung

III. Customization

II. Visibilität

V. Nachhaltigkeit

E, G, H, J

I. Automatisierung und Robotik

2. Schritt: Logistiktrends

I, II, III

I, II, IV

II, IV, V

II, III, IV

3. Logistics on Demand

4. Regionalized Logistics

5. Adaptive Logistics

II, III, V

2. Shareconomy Logistics

1. Digital-Autonomous Logistics

3. Schritt: Konzeptionelle Überlegungen

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Entwicklungszüge in der Logistik

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2 Langfristige Treiber im Logistikumfeld Abschnitt 2 bietet einen Überblick über ausgesuchte gesellschaftliche und techno­ logische Treiber, deren Zusammenspiel die Entwicklungen der Logistik mittelfristig prägen.

2.1 Gesellschaftliche Entwicklungen Es lassen sich mit dem vorgestellten Vorgehen fünf gesellschaftliche Treiber mit Relevanz für die Logistik identifizieren: Demographischer Wandel, Digitalisierung, Urbanisierung, Individualisierung und Healthstyle. Nicht enthalten ist z. B. die Glo­ balisierung, da diese bereits seit über 25 Jahren Einfluss auf die Logistik ausübt und als Treiber für neue Impulse an Dynamik verliert. Der demographische Wandel wirkt in zweierlei Hinsicht auf die Logistik ein. Durchschnittlich älter werdende Mitarbeiter sind bei der Ausführung körperlich inten­ siver Tätigkeiten eingeschränkt. Der unterstützende Einsatz geeigneter Technologien oder die Substitution humaner Arbeitskraft durch Automatisierungslösungen sind ausgewählte Antworten auf diese Entwicklung (vgl. Schroven 2015, S. 27). Gleich­ zeitig verändern sich durch den demographischen Wandel auch die Bedürfnisse der Kunden. Logistikkonzepte müssen diesen spezifischen Anforderungen begegnen. Denkbar sind Belieferungskonzepte bis in die Wohnung immobiler Menschen inklu­ siver Rückführungslösungen für Leergut und weiterer Zusatzleistungen. Durch den Einsatz digitaler Technologien liegen Daten zu Logistikobjekten ent­ lang der gesamten Wertschöpfungskette vor, weshalb die Digitalisierung alle Phasen der Supply Chain durchdringt. Diese Zunahme an Informationen kann für Prozess­ verbesserungen und neue Service-Angebote genutzt werden (vgl. Hausladen 2014, S. 306 ff.). Beispielsweise ermöglicht die Digitalisierung eine effizientere Auslastung von Ressourcen, da Nachfrage und Angebot auf elektronischen Plattformen nahezu in Echtzeit zusammengebracht werden können. Im Zuge der Urbanisierung verändert sich der Kontext für logistische Prozesse. Mit der zunehmenden Bevölkerungsverlagerung in Ballungsgebiete müssen größere Warenmengen in Agglomerationen transportiert und anschließend distribuiert wer­ den – die Verkehrsbelastung steigt (vgl. Pletscher et al. 2016, S. 168). Diese Entwick­ lung wird zusätzlich verstärkt durch abnehmende Sendungsgrößen und eine höhere Belieferungsfrequenz. Dadurch sind einerseits Logistikkonzepte gefragt, welche ei­ ne zeitpunktgenaue Distribution auf der letzten Meile in chronisch überlasteten Ver­ kehrsgebieten ermöglichen (z. B. Einsatz von Lastenfahrrädern). Andererseits müssen möglichst effiziente Logistiklösungen für die Zustellung in Randgebieten entwickelt werden (z. B. Einsatz von Drohnen).

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Die Individualisierung als postmodernes Lebensprinzip bedingt, dass die indivi­ duelle Gestaltung von Produkten ebenso selbstverständlich geworden ist wie die in zeitlicher und räumlicher Sicht individuelle Versorgung mit Informationen und Wa­ ren. In der Folge ergeben sich Anforderungen an die Logistik in Form von Zeitvorgaben (z. B. Same Day Delivery) und im Hinblick auf eine individuelle Behandlung von Wa­ ren und Gütern (vgl. ten Hompel 2010, S. 3). In Kombination mit der „Aufsplittung“ der transportierten Sendungsmengen muss das bis dato vorherrschende Paradigma der „Skaleneffekte durch Bündelung“ hinterfragt werden. Logistikkonzepte sind fle­ xibel und adaptiv auszugestalten, was z. B. durch eine modulare Prozesskonfiguration gelingt. Aus dem Streben vieler Menschen nach einem gesunden Lebensstil (Healthstyle) ergeben sich diverse Anforderungen an die Logistik. Zunächst steht die Forderung im Vordergrund, Ressourceneinsatz und Emissionen im Zuge einer Transportdienst­ leistung zu minimieren. Healthstyle geht aber über eine rein ökologische Dimension dahingehend hinaus, als dass Transparenz über alle Stufen der Wertschöpfungskette verlangt wird. Endkunden legen vermehrt Wert darauf, auch auf Informationen zu vor­ gelagerten Wertschöpfungsstufen (z. B. Vorlieferanten) zugreifen zu können. Service­ angebote wie Tracking & Tracing können helfen, diesen Anforderungen zu begegnen.

2.2 Schlüsseltechnologien Schlüsseltechnologien prägen neben den gesellschaftlichen Treibern die Entwick­ lung der Logistik. Folgende Technologien konnten mit der diesem Beitrag zugrun­ deliegenden Methodik identifiziert werden: Auto-ID Technologie (= Technologie zur automatischen Identifikation), Sensor- und Aktortechnologie, Technologie zur Posi­ tionsbestimmung, elektronische Plattformen und Big Data Analytics. Auto-ID-Technologien ermöglichen die Realisierung leistungsfähiger und robus­ ter Identifikationskonzepte. Während Barcodes in der Logistik flächendeckende Ver­ wendung finden, kommen RFID (= Radio-Frequency Identification) oder auch EPCIS (= Electronic Product Code Information Services) bisher nur punktuell zum Einsatz. RFID-Tags können nicht nur eine warenbezogene Identifikationsnummer speichern, sondern auch ergänzende Daten zum Transportziel oder dem Sendungsinhalt. Aus der Verdichtung dieser Daten zu Informationen erhöht sich die Transparenz entlang der Supply Chain deutlich. Als integraler Bestandteil vieler Logistikkonzepte finden sie vor allem bei der Kommissionierung, Lagerung oder für Pick-by-Voice-Lösungen Anwendung (vgl. Kuzmany/Luft/Chisu 2010, S. 55). Das Zusammenspiel von Sensor- und Aktortechnologie (auch „Feldbusse“ ge­ nannt) gilt als zentrales Element der Industrie 4.0, werden doch dadurch die Rege­ lung, Steuerung und Automatisierung von Prozessen ermöglicht. Die Einsatzfelder in der Logistik sind vielfältig. Sensoren werden häufig in RFID-Transpondern integriert oder unterstützen den Schutz von Mitarbeitenden bei Robotiklösungen. Collaborative

Entwicklungszüge in der Logistik |

39

Roboter benötigen aufgrund hochperformanter Sensoren nicht länger einen Schutz­ zaun, da sie bei der Berührung eines Hindernisses sofort abschalten. Aktoren können in Verbindung mit intelligenten Landungsträgern z. B. die Temperatur regulieren (vgl. Bousonville 2017, S. 19 f.). Technologien zur Positionsbestimmung im Allgemeinen oder Verkehrstelematik­ systeme im Speziellen sind derzeit an das US-amerikanische Global Positioning System (GPS) gekoppelt, worüber eine präzise, weltumspannende Ortung mög­ lich ist. Über eine zeitnahe Übertragung der Fahrzeugposition erleichtern diese Technologien die Navigation erheblich und ermöglichen z. B. Tracking & TracingLösungen (vgl. Shamsuzzoha et al. 2013, S. 38). Die Zukunft der Telematik liegt in der Car2X-Kommunikation, bei welcher Fahrzeuge untereinander oder mit anderen externen Einheiten zur Erhöhung der Fahreffizienz miteinander kommunizieren. Wei­ tere, logistikbezogene Anwendungsfelder der Technologien zur Positionsbestimmung schließen die Kombination mit anderen Technologien mit ein. Beim zusätzlichen Ein­ satz in RFID-Tags kann z. B. die Informationsdichte erhöht werden. Elektronische Plattformen können nach ihrer Art der Datenvorhaltung unterschie­ den werden. Das Kennzeichen „ubiquitärer Plattformen“ ist eine zentrale Datenhal­ tung, welche entweder auf einem lokalen Server oder zur Vereinfachung des Zugriffs in einer Cloud erfolgt. Das Cloud Computing ist in der Logistik bis dato bereits ver­ breitet und findet beispielsweise bei der Lagerverwaltung oder im Supply Chain Ma­ nagement Anwendung. Externe Anbieter offerieren dabei IT-Dienste und Serverplatz, wodurch eigene IT-Infrastrukturen für den Anwender obsolet werden. Die verringer­ ten Fixkosten ermöglichen skalierbare Konzepte, welche flexibel und relativ günstig im Unterhalt sind (vgl. Weirauch 2015, S. 79 ff.). „Neuartigere Plattformen“ zeichnen sich durch eine dezentrale Datenvorhaltung aus und bauen beispielsweise auf der Blockchain-Technologie (BCT) auf. BCT ist ein kryptographischer Datenbankansatz, bei welchem Transaktionen dezentral, manipulationssicher sowie für alle Netzwerk­ teilnehmer transparent abgewickelt werden können. Die Technologie befindet sich ak­ tuell in einem frühen Reifestadium und spielt für die Logistik noch eine unwesentliche Rolle (vgl. Petersen/Hackius/Kersten 2016, S. 626). Die stetige Verdichtung von Daten durch den Einsatz neuer Technologien wie Sen­ soren und Aktoren erweitert die Möglichkeiten, im Rahmen von Big Data Analytics wertvolle Informationen für das Unternehmen herauszuarbeiten. Im Bereich der Lo­ gistik ist dies insbesondere bedeutsam für die Transport- und Streckennetzplanung beim Beschaffungs- und Demand Management. Potential liegt aber auch in der prä­ skriptiven Analytik, bei welcher Entscheidungen darüber getroffen werden, was in Zu­ kunft passieren soll. Beispiel hierfür sind Belieferungskonzepte, bei welchen Waren auf Basis historischer Daten dorthin versendet werden, wo erst in Zukunft ein Bedarf entstehen wird (vgl. Wehberg 2017, S. 377).

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3 Mittelfristige Trends mit Relevanz für die Logistik Abschnitt 3 leitet aus den dargestellten gesellschaftlichen und technologischen Trei­ bern exemplarische Logistiktrends ab, aus deren Zusammenwirken Stoßrichtungen für die Logistik der Zukunft hervorgehen.

3.1 Automatisierung und Robotik Die Relevanz von Automatisierung und Robotik als Trend für die Logistik wird im gesellschaftlichen Bereich vor allem von der Digitalisierung getrieben, wobei der Demographische Wandel unterstützende Wirkung entfaltet. Die technologischen Voraussetzungen stellen Auto-ID-Technologie sowie Sensor- und Aktortechnologie. Automatisierung umschreibt die Umrüstung von Unternehmen auf eine Infrastruk­ tur zur selbständigen Tätigkeitsausübung unter Ausschluss humaner Arbeitskraft. Roboter können im Rahmen der Automatisierung eingesetzte Bewegungsautoma­ ten mit mehreren Achsen sein, welche im Hinblick auf die Bewegungsfolge und -wege frei programmierbar sowie gegebenenfalls sensorgeführt sind. Die Konse­ quenzen dieses Trends betreffen in der Logistik vor allem den physischen Waren­ strom. Mit dem demographischen Wandel wird ein Fachkräftemangel erwartet, welcher für die personalintensive Logistik besonders prekär ist (vgl. Delfmann et al. 2017, S. 20). Automatisierung und Robotik wirken dieser Entwicklung durch die Ergän­ zung oder Substitution manueller, repetitiver und häufig körperlich anstrengender Tätigkeiten entgegen. Darüber hinaus bieten Automatisierung und Robotik durch einen angestrebten Null-Fehler-Standard die Möglichkeit, die Produktivität entlang logistischer Prozesse weiter zu erhöhen (vgl. Rohde 2016, S. 34). Allerdings setzt ein erfolgreicher Einsatz von Automatisierungs- und Robotik­ lösungen die Überwindung des „Automatisierungs-Flexibilitäts-Paradoxon“ voraus. Ein Verlust an Flexibilität ist der „Preis“, welchen Unternehmen beim derzeitigen Entwicklungsstand von Automatisierung und Robotik für deren Einsatz bezahlen müssen. Deshalb wird heute das Automatisierungspotential bei standardisierten Pro­ zessen (z. B. Shuttles für Ein- und Auslagerungsprozesse im Lager) bereits stark ausge­ schöpft, während Robotiklösungen für komplexe Prozesse (z. B. kundenindividuelles Co-Packaging) noch eine untergeordnete Rolle spielen. Dies liegt darin begründet, dass die Mehrheit der verfügbaren Lösungen bis dato stationär gebunden und we­ der mit Wahrnehmungsfähigkeiten noch mit Entscheidungsintelligenz ausgestattet ist. Im Gegensatz zu Industrierobotern müssen Roboter in der Logistik häufig mit ei­ ner großen Anzahl an Teilen in einer unbestimmten Anzahl an Kombinationen und Einsatzszenarien zurechtkommen können. Es ist davon auszugehen, dass Lösungen mit dem Fortschritt im Bereich der Sensortechnologie und künstlichen Intelligenz

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künftig schneller, akkurater und günstiger werden. Durch modulare Systemarchitek­ turen ist bereits heute ein deutlicher Anstieg der Flexibilität von Robotiklösungen auszumachen.

3.2 Visibilität Treibende gesellschaftliche Kraft hinter dem Logistiktrend Visibilität ist Healthstyle, während Sensor- und Aktortechnologie, Technologie zur Positionsbestimmung und Big Data Analytics die umsetzungskritischen Schlüsseltechnologien darstellen. Visibilität kann in der Logistik verstanden werden als gemeinsame Zugriffsmöglichkeit von Ak­ teuren eines Wertschöpfungsnetzwerks auf objektbezogene Daten entlang aller Pha­ sen der Supply Chain (vgl. McIntire 2014, S. 1). Dies umfasst vor- und nachgelagerte Wertschöpfungsstufen, über welche Konsumenten in Zeiten von Healthstyle Trans­ parenz verlangen. Die Herkunft von Rohstoffen ist für einen ganzheitlichen Lebens­ ansatz ebenso bedeutsam wie die Arbeitsbedingungen, unter welchen Produkte und Services hergestellt beziehungsweise erbracht werden (vgl. Deckers/Heinemann 2008, S. 76 ff.). Visibilität erlaubt sowohl logistische Prozessverbesserungen als auch neue Ser­ viceangebote. Erstere beziehen sich auf Visibilität im Sinne von Informationsaus­ tausch zwischen Unternehmen in einem Wertschöpfungsnetzwerk (vgl. Swamina­ than/Tayur 2003, S. 1387 ff.). Sensoren an Waren und Gütern erheben Daten, welche z. B. via GPS an den gewünschten Empfänger übermittelt werden können. Bestandswie Bewegungsinformationen werden so neben weiteren, logistikobjektbezogenen Daten in Echtzeit zwischen Unternehmen ausgetauscht. Dadurch verbessert sich die Qualität von Bedarfsprognosen. In der Folge ist eine schnellere Reaktion auf Bedarfs­ schwankungen trotz reduziertem Warenbestand möglich – das Customer Service Level steigt (vgl. Meißner 2015, S. 32). Insgesamt werden die negativen Auswirkungen des Bullwhip-Effekts abgemildert (vgl. Eßig/Hofmann/Stölzle 2013, S. 7). Neue Serviceangebote entstehen, wenn die jederzeit verfügbaren Daten zu Ort und Status von Logistikobjekten dem Kunden zur Verfügung gestellt werden. Diese Daten können sich auf den Fertigungsstatus eines Produktes ebenso beziehen wie auf die Lagerverfügbarkeit oder Transportstrecken. Tracking & Tracing ist ein etabliertes Beispiel eines solchen Angebots, „intelligente“ Paketsendungen dessen Weiterent­ wicklung. Kunden können hierbei nicht nur ihr Paket in Echtzeit verfolgen, sondern online Zustellort und -zeitfenster wählen. Schließlich schaffen neue Angebote auch Transparenz über die sendungsspezifische CO2 -Emission. Genutzte Verkehrsträger und Umschlagszentren werden für den gesamten Transportprozess ausgewiesen, wo­ durch in Verknüpfung mit den Sendungsdaten eine kundenindividuelle Berechnung des CO2 -Ausstoßes – sogar noch vor Versand – möglich wird. Gleichzeitig kann der Kunde bei jederzeitiger Gewissheit über den aktuellen Aufenthaltsort einer erwarteten Sendung z. B. die dem Erhalt nachgelagerten Prozessschritte besser synchronisieren.

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3.3 Customization Treiber des Logistiktrends Customization sind die Digitalisierung, eine zunehmende Individualisierung in der Gesellschaft sowie Big Data Analytics. Der dem Englischen entlehnte Begriff „Customization“ leitet sich vom Verb to customize – anpassen – ab und beschreibt die Leistungserstellung nach bestimmten Kundenwünschen mit der Effizienz von Massen- oder Serienproduktion (vgl. Piller 2006, S. 161; Pine/ Gilmore 2011, S. 76). Es geht um die Erlangung von Wettbewerbsvorteilen durch ei­ ne kundenspezifische Produktkonfiguration, um dezidiert auf verschiedene Nach­ fragegruppen eingehen zu können. Als Grundlage dient ein Co-Design-Prozess, bei welchem individuelle Leistungen in Interaktion zwischen Anbieter und Nachfrager definiert werden (vgl. Hofmann/Knébel 2016, S. 160 ff.). Der Logistik kommt bei der Customization eine zentrale Rolle zu, da das individu­ ell ausgestaltete Angebot in der Regel preislich einem standardisierten Massenange­ bot zu entsprechen hat. In einer Gesamtkostenbetrachtung muss die individualisierte Leistungserstellung über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg ein Effizienzlevel erreichen, welches standardisierten Prozessabläufen nahekommt (vgl. Piller 2006, S. 160 f.). Dies ist nur durch eine Logistik möglich, welche einheitliche Servicekom­ ponenten einzelfallspezifisch verknüpfen kann. Die Konsequenzen für die Logistik hängen stark von der Ausprägungsform der Customization ab. Grundsätzlich kann zwischen Hard und Soft Customization unter­ schieden werden. Bei der Hard Customization wird in den laufenden Leistungserstel­ lungsprozess eingegriffen. Beispiele sind die Massenfertigung von Unikaten oder eine kundenindividuelle Endfertigung. Der Logistikfokus liegt bei dieser Ausgestaltungs­ form auf dem physischen Warenstrom, genauer auf der kundenindividuellen Beschaf­ fung, Produktion und Distribution (vgl. Piller 2006, S. 175). Die wunschgemäße Pro­ duktion kann beispielsweise durch ein modulares Baukastenprinzip erreicht werden. Bei der Soft Customization findet die Individualisierung außerhalb des eigentlichen Leistungserstellungsprozesses statt. Beispiele sind die Serviceindividualisierung oder eine individuelle Endfertigung am Point of Sale. Logistikdienstleistungsunternehmen haben solche Individualisierungsformen häufig in ihr Leistungsportfolio als Kontrakt­ dienstleistung integriert. Für jede Form der Customization gilt im Hinblick auf die Lo­ gistik, dass Abläufe flexibel, schnell und individualisierbar sein müssen. Als Basis hierfür kann ein modularer Prozessaufbau dienen. Dazu wird der Gesamtprozess in einzelne, standardisierte und unabhängige Einheiten zerlegt, welche untereinander zur Erfüllung heterogener Kundenwünsche austauschbar sind. Am Beispiel einer ge­ forderten Geschenkverpackung muss beispielsweise kein Eingriff in die interne Detail­ struktur des gesamten Verpackungsprozesses genommen werden, sondern lediglich ein vordefinierter Geschenkverpackungsprozess anstatt des Normalverpackungspro­ zesses an den Produktionsprozess lose gekoppelt werden.

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3.4 Vernetzung Getrieben wird Vernetzung als Logistiktrend von der zunehmenden Digitalisierung der Gesellschaft sowie von Auto-ID-Technologien und Sensor-/Aktortechnologien. In der Logistik geht Vernetzung über das aus der Informationstechnik entlehnte Verständ­ nis von Vernetzung zwischen Computern durch das Internet hinaus (vgl. Bousonvil­ le 2017, S. 5). Stattdessen ist die Vernetzung zwischen Funktionen und Systemen im Unternehmen, zwischen Unternehmen als Ganzes sowie zwischen Maschinen oder Objekten gemeint. Zur optimalen Allokation von Ressourcen und Kapazitäten bedarf es einer inte­ grierten Bedarfs- und Angebotsplanung. Voraussetzung hierfür ist die intraorganisa­ tionale Vernetzung zwischen den Funktionen eines Unternehmens. Der dieser Vernet­ zung zugrundeliegende Prozess wird als Sales & Operations Planning bezeichnet. An einer rollierenden Absatzprognose (Sales Planning) können Bedarfs und Angebots­ planung unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen und Kapazitäten laufend aufeinander ausgerichtet wer­ den (Operations Planning; vgl. Lei et al. 2017, S. 81 ff.) Prozessfrequenz und Planungs­ horizont variieren je nach Branche und Geschäftsfeld: Schwankende Nachfrage und kurzlebige Produkte ziehen häufigere Planungszyklen nach sich. Das Funktionieren dieser horizontalen Vernetzung im Unternehmen hängt mit der vertikalen Vernetzung von Systemen im Unternehmen zusammen. Beispielsweise werden vor allem in der Produktionswirtschaft zur planungsbezogenen Unterstützung von Enterprise-Ressource-Planning-Systemen (ERP-Systemen) sogenannte AdvancedPlanning-and-Scheduling-Systeme (APS) eingesetzt. Für eine reibungslose Prozessge­ staltung ist es notwendig, dass die Schnittstellen zwischen APS und den Systemen auf ausführender (Shop Floor-) Ebene nahtlos ausgestaltet sind. Entscheidend hierfür sind gemeinsame Standards für den Datenaustausch. Neben der intraorganisationalen Vernetzung zwischen Funktionen und Systemen in Unternehmen gewinnt die interorganisationale Vernetzung zwischen Unternehmen in Zeiten globalisierter Wertschöpfungsnetze weiter an Bedeutung. Diese Form der Vernetzung ist multidimensional. Eine Ausprägungsform ist die Vernetzung mit Un­ ternehmen, welche vor- oder nachgelagerte Wertschöpfungsprozesse erbringen (siehe Visibilität). Ferner ist die Vernetzung mit Dienstleistern möglich, welche die opera­ tive Ausführung der Wertschöpfung durchführen. Nur wenn diese gewährleistet ist, funktionieren Logistikkonzepte wie die des Fourth Party Logistics Service Provider (4PL), bei welchen der Dienstleister als Orchestrator von Logistikprozessen in Unter­ nehmensnetzwerken ohne eigene Assets auftritt. Dritte Ausprägungsform ist die Ver­ netzung mit Mitbewerbern („Coopetition“) oder Partnerunternehmen (Collaboration). Zuletzt schließt dieser Trend die Vernetzung von Objekten wie Maschinen oder Paletten mit ein, welche physikalisch-mechanische Aufgaben zu verrichten haben. Als Überbegriff für die Vernetzung von Objekten aller Art auf Basis von Auto-ID- und Sensortechnologie hat sich das Internet of Things (IoT) durchgesetzt (vgl. Bousonvil­

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le 2017, S. 5). Die stetige Weiterentwicklung elektronischer Komponenten (z. B. Sen­ soren) führt dazu, dass diese immer günstiger werden (vgl. ten Hompel/Kerner 2015, S. 177). Dadurch erhöht sich die Dynamik des Logistiktrends zusätzlich.

3.5 Nachhaltigkeit Der Trend zur Nachhaltigkeit resultiert gesellschaftlich aus den Treibern Urbanisie­ rung und Healthstyle, während technologisch vor allem elektronische Plattformen die Umsetzung von nachhaltigen Logistiklösungen unterstützen können. Nachhaltigkeit ist ein normatives Konzept, das im Kern eine intergenerative Gerechtigkeitskompo­ nente enthält und aus drei Dimensionen besteht: ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit (vgl. Corsten/Roth 2012, S. 1 f.). Ökologische Nachhaltigkeit geht im Kontext der Logistik mit dem Ausstoß schäd­ licher Stoffe wie Stickstoffoxide (NOx) und Kohlenstoffdioxid (CO2 ) im Zuge des Gü­ terverkehrs einher. Besondere Brisanz verleiht dieser Dimension das Pariser Klima­ abkommen von 2015, welches eine globale Erderwärmung von deutlich unter 2 °C im Vergleich zu vorindustriellen Werten vorschreibt. Diese Restriktion würde für den zu 98 % auf Öl-basierten Technologien angetriebenen deutschen Straßengüterver­ kehr eine 80%-ige Emissionsreduktion bis 2050 bedeuten (vgl. Bretzke 2015, S. 82). Da dieses Vorhaben unter Berücksichtigung der gegenwärtigen technologischen Ent­ wicklungen kaum realisierbar sein dürfte, werden in Deutschland Zulassungsverbote für Verbrennungsmotoren ab 2030 diskutiert. Es ist davon auszugehen, dass sich die Flottenzusammensetzung von Logistikdienstleistern hinsichtlich der Antriebs­ technologien stark verändern wird. Insgesamt bleibt abzuwarten, inwiefern es zu Verschiebungen bei der Verteilung der transportierten Gütermenge auf die Verkehrs­ träger Straße, Schiene, Schiff und Flugzeug kommen wird. Eine politisch forcierte Verlagerung hin zur emissionsärmeren Schiene schreitet in vielen Nachbarländern schneller voran als in Deutschland. Zur ökonomischen Nachhaltigkeit in der Logistik gibt es unterschiedliche Zugän­ ge. Über eine Erhöhung der Effizienz, z. B. durch den Einsatz verbrauchsarmer Fahr­ zeuge, sinken die variablen Betriebskosten bei steigendem Gewinn. Eine Erhöhung der Effektivität, z. B. durch die Zustellung innerhalb von durch Kunden vorgegebenen Zeitfenstern, erhöht sich der Lieferservicegrad bei steigendem Umsatz. Neben der Er­ folgsrechnung sollte auch die Bilanz berücksichtigt werden. Zentrale Position des Um­ laufvermögens für die Logistik sind die Bestände, welche z. B. durch die Einführung eines Just-in-Time-Konzeptes reduziert werden können. Im Hinblick auf das Anlage­ vermögen sind die verschiedenen Finanzierungsformen wie Kauf oder Leasing sowie andere Konzepte der Investitionsgüterbeschaffung wie Performance Based Contrac­ ting (PBC) gegeneinander abzuwägen. Insgesamt ist in ökonomischer Sicht die Ba­ lance zu wahren zwischen Sicherheit, Rentabilität und Liquidität als übergeordnete Zielkriterien des Controllings.

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Die soziale Dimension bezieht sich in der Logistik sowohl auf die Innen- (Mit­ arbeiter im Unternehmen) als auch die Außenwelt (Unternehmensumwelt). Intrans­ parente Arbeitsbedingungen und niedrige Entlohnung sind Gegenstand sozialer Kri­ tik. Speziell die Beschäftigung von Zeitarbeitskräften ohne tarifliche Einordnung für Lagertätigkeiten oder der Einsatz von Subunternehmen zu fragwürdigen Konditionen werden immer wieder öffentlich diskutiert (vgl. Deckert 2016, S. 22). Gleichzeitig muss die Logistik auch ihrer Verantwortung gegenüber der Umwelt gerecht werden. Damit in Zeiten von Same Day Delivery bei Fahrten rund um die Uhr die Grenzwerte für Lärm­ emissionen eingehalten werden können, ist beispielsweise ein geräuscharmer Fuhr­ park notwendig.

4 Konzeptionelle Überlegungen für die Logistik der Zukunft Abschnitt 4 knüpft an der Wechselwirkung verschiedener Logistiktrends systematisch an und zeigt konzeptionelle Überlegungen auf, welche Impulse für die Logistik der Zukunft liefern.

4.1 Digital-Autonomous Logistics Aus den Logistiktrends Automatisierung und Robotik, Vernetzung sowie Visibilität re­ sultiert die erste konzeptionelle Überlegung der Digital-Autonomous Logistics, welche sich durch eine dezentrale Entscheidungskomponente („autonomous“) der eingesetz­ ten Systeme auszeichnet. Digital-Autonomous Logistics markiert den Übergang von hierarchisch geplanten, zentral gesteuerten Logistiksystemen hin zu dezentralen, sich selbst steuernden und autonomen Systemen (vgl. Delfmann et al. 2017, S. 11). Diese Überlegung ist an der Schnittstelle von digitalem Informationsfluss und physischem Warenfluss angesiedelt. Ausgangspunkt ist die Idee, die Prinzipien des Internets der Dinge (Dezentralität und Vernetzung) systematisch auf die logistische Praxis zu übertragen. Aus der Kom­ bination von Sensor- und Aktortechnologie mit dezentralen Entscheidungseinheiten entstehen cyberphysische Systeme (CPS) (vgl. Hänel/Felden 2016, S. 261). CPS agieren als Entitäten der Digital-Autonomous Logistics autonom, sind miteinander vernetzt und kommunizieren untereinander. In der Intralogistik zum Beispiel übernehmen cyberphysische Fahrzeug-Roboter vollautomatisch den innerbetrieblichen Transport, stellen die Kommissionierung der Ware eigenständig sicher, lagern Behälter selbstän­ dig aus und bringen sie an gewünschte Zielorte. Weiterhin kommunizieren die Fahr­ zeug-Roboter untereinander, um eine adäquate zeit-räumliche Gütertransformation sicherzustellen. Dafür ist keine starre Infrastruktur nötig, weshalb Arbeitsstationen

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flexibel bleiben können. Mit Blick auf das volatile Produktions- und Handlungsum­ feld vieler Unternehmen entspricht dies einer logistikorientierten Umsetzung von sogenannten („Produktions-Fraktalen“) (vgl. Warnecke 1992, S. 167 ff.). Als praktisches Beispiel für die Umsetzung von Digital-Autonomous Logistics können selbststeuernde KANBAN-Regelkreise mit vollautomatischen Versorgungs­ einheiten (Roboter) dienen (vgl. Hofmann/Rüsch 2017, S. 25). Beim KANBAN-Konzept ist die Fertigung konsequent auf den tatsächlichen Bedarf ausgerichtet. Fehlen an einer Arbeitsstation Teile, wird eine Belieferung bedarfsgerecht in festgelegter Los­ größe bereitgestellt. Diese Pull-orientierte Form der Produktionssteuerung führt zu Bestandsreduktionen, höherer Flexibilität und kürzeren Durchlaufzeiten – sofern nötige Voraussetzungen wie minimal gehaltene Bedarfsschwankungen oder verzö­ gerungsfreie Informationsweitergabe erfüllt sind (vgl. Eßig et al. 2013, S. 124 f.). Die Belieferung der Stationen kann mit cyberphysischen Transportsystemen erfolgen. Sie sind dazu fähig, mit anderen Fördertechnikmodulen oder Transporteinheiten zu kommunizieren, Informationen auszuwerten und die aufgetragene Aufgabe ohne Fehler vollautomatisch zu erfüllen (vgl. Bauernhansl/ten Hompel/Vogel-Heuser 2014, S. 300). Neben Effektivitäts- und Effizienzsteigerungen entlang des physischen Waren­ flusses bietet Digital-Autonomous Logistics weiterhin Potential hinsichtlich der Ver­ wendung der zugrundeliegenden digitalen Bestands- und Bewegungsdaten entlang der Supply Chain. Beispielsweise können diese zu Informationen verdichtet als Basis für das Angebot digitaler Mehrwertdienstleistungen genutzt werden (siehe Visibili­ tät). Trotz der aufgezeigten Chancen ist hierbei zu beachten, dass die Komplexität eines Logistiksystems mit Einführung von Digital-Autonomous Logistics stark an­ steigt (vgl. Hülsmann/Windt 2007, S. 10). Die Verknüpfung von Informations- und Warenstrom erreicht ein neues Ausmaß, zumal Ladungsträger zukünftig selbst aktiv werden. Entstehende „Ad-hoc Konglomerate“ cyberphysischer Systeme überfordern eine zentrale Steuerung, welche ihrerseits durch den Ansatz obsolet wird (vgl. ten Hompel/Kerner 2015, S. 177).

4.2 Shareconomy Logistics Shareconomy Logistics greift als konzeptionelle Überlegung auf die Logistiktrends Vernetzung, Visibilität und Customization zurück. Es handelt sich um einen Neologis­ mus, welcher alle wirtschaftlichen Aktivitäten mit Fokus auf das Teilen von Gütern, Dienstleistungen oder Wissen umschreibt (vgl. Demary 2015, S. 4). Auf die Logistik bezogen sind hierbei Ressourcen- und Kapazitäten über Marktplätze oder dezentra­ lisierte Netzwerke gemeinsam effizienter zu nutzen. Ausprägungsformen sind in den Bereichen B2B, B2C und C2C anzutreffen. Die Überlegung der Shareconomy Logistics birgt Potential, da Logistiksysteme seit jeher unter Effizienzaspekten weiterentwickelt werden. Systemimmanente Fakto­

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ren (z. B. Volatilität der Nachfrage, Unpaarigkeit oder Sozialvorschriften) führen da­ zu, dass unausgelastete Kapazitäten in traditionellen Logistikkonzepten unumgäng­ lich sind. Konzepte für die besitzerübergreifende Nutzung von Logistikkapazitäten, z. B. im Zuge diverser City-Logistik-Projekte der 1990er Jahre, sind in der Vergangen­ heit vielfach gescheitert (vgl. Bretzke 2014, S. 190). Die Renaissance des Sharing-Gedankens geht auf die Fortschritte in der Informati­ ons- und Kommunikationstechnologie zurück, welche die Möglichkeiten zur gemein­ schaftlichen Güterpotentialnutzung grundlegend verändert haben (vgl. Belk 2014, S. 1596). ICT-Lösungen ermöglichen, dass die beteiligten Parteien (z. B. Logistik­ dienstleister, Verlader und Subunternehmer) in Echtzeit auf sender- und empfänger­ bezogene Auftragsdaten sowie Informationen zur Ressourcenverfügbarkeit, z. B. in der Cloud, zugreifen können. Sowohl für verladende Unternehmen als auch für Logistikdienstleister besteht dadurch die Möglichkeit, logistikaffines physisches Anlagevermögen zu teilen (B2B), um die Kapazitätsauslastung zu steigern und damit Kosten zu senken. Erste Ansätze zielen darauf ab, Transportfahrzeuge an Privatpersonen oder Gemeinden (B2C) für spezielle Anlässen zu vermieten oder Lagerplatz mit einem „on-demand“-Ansatz fle­ xibel zur Verfügung zu stellen. Shareconomy Logistics beinhaltet darüber hinaus die Möglichkeit zur „Coopetition“ entlang der Supply Chain. Damit ist die Zusammen­ arbeit von in Wettbewerb zueinander stehenden Unternehmen gemeint, welche Sup­ ply-Chain-Aktivitäten gemeinsam bündeln und beispielsweise ihre Lagerung oder Outbound-Distribution in loser Kopplung zusammenfassen können. Klassische Transportdienstleistungen werden durch Geschäftsmodelle der Share­ conomy Logistics, wie z. B. durch Plattformen im C2C-Bereich, potentiell substituiert. Wenn sich z. B. Nachfrager und Anbieter eines Pakettransportes von A nach B unter Privatkunden finden, wird ein Logistikdienstleister nicht länger benötigt. Daraus er­ gibt sich für Transportdienstleister die Notwendigkeit, das eigene Leistungsportfolio auf Crowd-basierte Angebote neu auszurichten. Statt Standard-Transportdienstleis­ tungen im Zustelldienst zu erbringen, könnten z. B. Stationen betrieben werden, bei welchen Kunden nicht erfolgreich zustellbare Pakete gegen Gebühr abgeben. Die Idee einer effizienteren Auslastung von Logistikkapazitäten führt weiter ge­ dacht zum Konzept des „Physischen Internets“ (vgl. Montreuil 2011, S. 71). Güter könn­ ten demnach viel effizienter zum Zielort gelangen, wenn sie standardisierter und über gemeinsame Kanäle, ähnlich der Datenpakete im Internet, transportiert würden. Vor­ aussetzung hierfür sind eine verstärkte Modularisierung und standardisierte Schnitt­ stellen. Genormte Lademittel in Form interoperabler Container wären hierfür ebenso notwendig wie synchronisierte IT-Systeme und Netzwerke. Letztlich basiert der Er­ folg dieses Konzepts, ähnlich dem des gesamten Shareconomy-Logistics-Ansatzes, auf der Bereitschaft aller beteiligten Parteien, stärker zusammenzuarbeiten und bisheri­ ge Denkmuster zu überwinden. Dies wirkt sich insbesondere auch auf das Recruit­ ment von Entscheidungsträgern aus, welche diesen neuen Mindset verinnerlicht ha­ ben müssen.

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4.3 Logistics on Demand Bestimmende Logistiktrends hinter der konzeptionellen Überlegung Logistics on De­ mand sind Visibilität, Customization und Nachhaltigkeit. Der englische Begriffszusatz „on Demand“ bedeutet „auf Abruf“ und kann sich auf Produkte und Dienstleistun­ gen gleichermaßen beziehen. Ausgangspunkt für die Ausgestaltung der Leistungs­ erbringung sind bei dieser Überlegung folglich Kundenpräferenzen, welche sich fortlaufend ändern können. Für die Logistik bedeutet dies, dass die gesamte Dienst­ leistung individuell auf den Kunden zugeschnitten werden muss (Front-End) bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der nötigen Flexibilität im Wertschöpfungsprozess, damit auf kurzfristige Nachfrageänderungen adäquat reagiert werden kann (BackEnd). Bisherige Logistikkonzepte richten sich üblicherweise an zwei übergeordneten Zielen aus: Der bedarfsgerechten Verfügbarkeit von Material und Waren beim Kunden sowie höchstmöglicher Effizienz. Effizienz wird über einen hohen Grad an Automa­ tisierung (z. B. Sortiertechnik im Paketdienst oder Lagertechnik im Stückgutbereich) erreicht sowie über Bündelungseffekte (z. B. große Einheiten bei Lang-LKW). Im Er­ gebnis können die Mengengerüste ansteigen, während die Transport- und Logistik­ kosten gleich bleiben oder gar sinken (vgl. Stölzle/Zemp 2017, S. 24). Rückt man den Servicegedanken von Logistics on Demand in den Vordergrund, sind diese Gesetz­ mäßigkeiten der Logistik zu hinterfragen. Automatisierung verringert zum gegenwär­ tigen Zeitpunkt die Flexibilität in der Logistik (siehe Automatisierung und Robotik), während Bündelung und Individualisierung zwei entgegengesetzte Pole eines Konti­ nuums darstellen (siehe Customization). Die Bedeutung von Logistics on Demand erwächst aus einer veränderten Erwar­ tungshaltung an die Logistik. Die Generation der Digital Natives ist daran gewohnt, an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr einkaufen zu können. Daraus er­ gibt sich die Anforderung, an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr zu liefern. Damit der Spannungsbogen zwischen Bestellung und Lieferung zur Vorbeugung von Kundenfrustration durch möglichst kurze Lieferzeiten aufrechterhalten werden kann, zeichnen sich – speziell im Bereich E-Commerce – zwei unterschiedliche Modelle ab: Abonnements und Anticipatory Shipping. Abonnement-Leistungen werden in der Re­ gel für alltägliche Produkte (z. B. Lebensmittel, Pflegeprodukte) angeboten, welche sich durch einen regelmäßigen Bedarf auszeichnen. Nachdem der Konsument Bedürf­ nisse und Präferenzen angegeben hat, wird er mit maßgeschneiderten Angeboten ver­ sorgt. Die Kundenbindungen sind langfristig und die Umsätze vorhersehbar. Auch bei den Zustelloptionen fällt ein individuelles Angebot leicht, da Bestellinformationen im Vorfeld bekannt sind. Das Modell des Anticipatory Shipping basiert auf Big Data Ana­ lytics. Historisches Bestellverhalten dient als Grundlage für die Prognose künftiger Be­ stellungen, so dass Waren bereits vor Bestellung in die Nähe des Kunden geliefert wer­ den können. Auch wenn auf historischen Verkaufszahlen aufbauende Analyseverfah­ ren (z. B. im stationären Einzelhandel) nicht neu sind und Lagerbestände auf Daten

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der Scannerkassen ausgerichtet werden, enthält Anticipatory Shipping eine neuarti­ ge Komponente: Es geht nicht länger um aggregierte, sondern um kundenindividuelle Kaufwahrscheinlichkeitsanalysen. Bei Logistics on Demand sollte dem Kunden also bereits beim Kauf die Mög­ lichkeit gewährt werden, Präferenzen anzugeben. Neben Zustellort und -zeit möchte dieser nicht selten auch darüber entscheiden, welche Dimension der Nachhaltig­ keit besonders stark ausgeprägt sein soll und fordert einzelfallbezogen ökologisch (z. B. wenig Schadstoffausstoß), ökonomisch (z. B. günstig) oder sozial nachhaltige Logistiklösungen (z. B. gute Arbeitsbedingungen). Nach dem Zeitpunkt des Kaufes können Konsumenten anschließend ihre Bestellung über Tracking & Tracing lücken­ los verfolgen und auf Einhaltung ihrer angegebenen Präferenzen überprüfen (siehe Visibilität). Um bei der Leistungserbringung dennoch von Bündelungs- und Effizienz­ vorteilen zu profitieren, helfen gut aufeinander abgestimmte Servicekomponenten (vgl. Mayer 2007, S. 111).

4.4 Regionalized Logistics Die konzeptionelle Überlegung Regionalized Logistics fußt auf den Logistiktrends Vi­ sibilität, Vernetzung und Nachhaltigkeit. Regionalized Logistics ist zunächst klar von verwandten Konzepten abzugrenzen. Im Gegensatz zu Green Logistics ist Regionali­ zed Logistics nicht auf den ökologischen Nachhaltigkeitsbegriff reduziert. Des Weite­ ren muss Regionalized Logistics nicht notwendigerweise im urbanen Raum stattfin­ den. Stattdessen beschreibt Regionalized Logistics die Entwicklung zu dezentralen, lokal verankerten und transparenten Logistiksystemen unter Berücksichtigung aller Dimensionen der Nachhaltigkeit. Die Ausblendung der Gesamtkostenperspektive (Total Cost of Ownership) hat die Offshoring-Entwicklungen in der Vergangenheit verstärkt (vgl. Bretzke 2014, S. 456). Dabei können sich regionale Logistikstrukturen im Vergleich zu globalen Wertschöp­ fungsnetzwerken als vorteilhaft erweisen. Zwar gehen globale Netzwerke häufig mit verhältnismäßig niedrigen Lohnkosten, geringen Abgaben, staatlichen Subventionen und leicht verfügbaren Rohstoffen einher. Regionale Netzwerke weisen dagegen eine deutlich geringere Komplexität, weniger Risiko, keine Währungsschwankungen und stabile wirtschaftliche Rahmenbedingungen auf. Betrachtet man vor diesem Hinter­ grund die Total Cost of Ownership, können Transportkosten zur Überwindung weiter Distanzen die Vorteile bei Material- und Produktionskosten im Ausland aufwiegen. Tatsächlich ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt punktuell eine Tendenz zur Rück­ verlagerung von Wertschöpfung auszumachen („Nearshoring“). Dies liegt darin be­ gründet, dass Regionalisierung mitunter die einzige Möglichkeit ist, um im stärker werdenden Wettbewerb lokalen Kundenwünschen gerecht zu werden und individua­ lisierte Leistungen schnell genug anzubieten. Technologische Fortschritte auf dem Ge­ biet der digital-autonomen Logistik (z. B. Einsatz von Robotern) und neuartige Ferti­

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gungsverfahren (z. B. additive Fertigung) führen dazu, dass kleine Losgrößen flexibel, zeitnah und rentabel in der Nähe des Kunden produziert werden können. Im Handel wandelt sich die Logistik in Zeiten von E-Commerce von einem „HolPrinzip“ aus der Filiale hin zu einem „Bring-Prinzip“ durch einen regionalen Liefer­ service. Da der erwartete Zeitraum zwischen Bestellung und Zustellung stetig kürzer wird, sind dezentrale Logistikstrukturen nötig, die innovative Distributionsansätze für die letzte Meile unter Einsatz neuer technologischer Möglichkeiten verfolgen (vgl. Sonntag/Thulesius 2015, S. 99 f.). Visibilität ist hierfür ein Schlüsselfaktor: Damit der Kunde seine Ware innerhalb weniger Stunden erhalten kann, muss der Zusteller das Lager anfahren, welches die gewünschte Bestellung vorrätig hat und am wenigsten weit vom Kunden entfernt ist. Idealerweise wird die Strecke zum Lager und zum Kun­ den weiter so optimiert, dass zusätzliche Zustellungen und Abholungen auf dem Weg möglich werden. Dies ist nur realisierbar, wenn vollständige Visibilität über die Sup­ ply Chain vorliegt und die Route mit entsprechender Software in Echtzeit unter Be­ rücksichtigung der aktuellen Verkehrslage bestimmt wird. Nicht zuletzt bietet Regionalized Logistics die Chance, dem Konsumenten glaub­ haft eine nachhaltig konfigurierte End-to-End Supply Chain aufzuzeigen. Aus diesem Grund wird der Visibilität entlang der gesamten Wertschöpfungskette auch von Ver­ braucherseite eine immer größere Bedeutung beigemessen (vgl. Amann 2009, S. 17). Konsumenten entwickeln das Bedürfnis, die Herkunft von Rohstoffen ebenso nach­ vollziehen zu können wie z. B. die Produktionspraktiken in Fabriken. Händler bieten bereits Online-Dienste an, um die detaillierte Produktherkunft über eine Tracking­ nummer nachzuvollziehen. Regionalized Logistics kann beispielsweise durch die Einbindung regionaler Lieferanten ins Wertschöpfungsnetzwerk besonders glaubhaft ausgestaltet werden. Dies kann soweit führen, dass Konsumenten selbst zu Zuliefe­ rern werden und eigene Erzeugnisse ins Wertschöpfungsnetzwerk einfließen lassen (z. B. „Urban Gardening“).

4.5 Adaptive Logistics Die konzeptionelle Überlegung der Adaptive Logistics resultiert aus den Logistik­ trends Automatisierung und Robotik, Visibilität sowie Customization. Als adaptiv wird in der Kybernetik die Fähigkeit von selbstregelnden Systemen bezeichnet, sich an Veränderungen der Umweltbedingungen anzupassen (vgl. Unbehauen 1998, S. 348). Somit stellt Adaptive Logistics eine systematische Weiterentwicklung des Konzepts der Digital-Autonomous Logistics dar. Im Kern der Überlegung handelt es sich um selbstregelnde Systeme, die in Ergänzung zu cyberphysischen Systemen ein gewisses Maß an Intelligenz aufweisen. Adaptive Logistics zeichnet sich dadurch aus, dass in einem vollständig autonom gesteuerten Materialfluss schnelle Reaktionen bei verän­ derten Anforderungen oder Zwischenfällen vom System selbst vorgenommen werden können. Dezentrale Entscheidungen werden auf Basis der Visibilität getroffen.

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Die systemimmanente Fähigkeit zur kontinuierlichen Adaption und Neuaus­ richtung in Echtzeit könnte als ein Hauptziel der Logistikkonzeption in Zeiten der digitalen Transformation verstanden werden. Co-Design-Angebote zahlreicher Unter­ nehmen ermöglichen dem Kunden beispielsweise häufig, bis zuletzt Einfluss auf die Ausgestaltung der Leistungserstellung auszuüben. Zur effizienten und zeitnahen Um­ setzung bedarf es hierfür einer Logistiksteuerung, welche die nötigen Maßnahmen selbständig erkennt und effektiv einleitet. Intelligenz kann in diesem Kontext bei­ spielsweise bedeuten, das aktuelle Bestellverhalten eines Kunden mit dessen histo­ rischem Bestellprofil abzugleichen. Im Rahmen einer Extrapolation leitet das System auf dieser Basis Schritte für die Logistik ein, noch bevor der Kunde seine Bestellung abgeschlossen hat. Im Gegensatz zu rein autonomen Systemen findet Selbstoptimie­ rung bei Adaptive Logistics durch ein höheres Maß an prozessualer, organisatorischer und technologischer Flexibilität statt. Die Entwicklungen auf dem Feld der künstlichen Intelligenz sind dieser Über­ legung besonders zuträglich. In der verhaltensbasierten Robotik werden intelligen­ te Systeme gegenwärtig auf eine Art entwickelt, welche im Widerspruch zur logikba­ sierten Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz der vergangenen Jahrzehnte steht. Es herrscht nicht länger das Bestreben vor, das Verständnis eines Systems zur Gänze abzubilden. Stattdessen geht es darum, einfache Verhaltensregeln in komplexe Verhaltensmuster zu überführen. Nichtsdestotrotz ist die Erschließung von Interaktio­ nen in der Logistik so vielschichtig, dass das Ergebnis ein zielführendes, emergentes Verhalten darstellt (vgl. ten Hompel/Kerner 2015, S. 179). Entsprechende Algorithmen finden heute bereits bei Shuttle-Schwärmen und der Losgrößenberechnung Anwen­ dung. Adaptive Logistics steht bis zu einem massentauglichen Einsatz aber noch vor großen Herausforderungen. Allgemein steigen die Anforderungen an die Daten­ qualität und die Form, in welcher der Datenbestand repräsentiert wird. Darüber hinaus schwillt die Datenmenge im Zuge des größerwerdenden Anteils an Software in logistischen Systemen weiter an. Damit Entscheidungs- oder Ausführungssystem in Echtzeit über die benötigte Datengrundlage verfügen, muss ein hohes Maß an Fähigkeit zur Datenaufbereitung bestehen (siehe Big Data Analytics) (vgl. Timm/ Lattner 2010, S. 100). Nicht zuletzt besteht bei emergenten Systemen das Problem, dass es aufgrund der Komplexität zugrundeliegender Wechselwirkungen zu Instabi­ litäten oder Kettenreaktionen kommen kann (vgl. ten Hompel/Kerner 2015, S. 180). Künftige Forschungsvorhaben werden aus diesem Grund gerade auch die Systemsi­ cherheit adressieren müssen. Die Fortentwicklung des Konzepts der Adaptive Logistics kann schließlich zu supra-adaptiven Logistiksystemen führen. Diese verfügen über die Fähigkeit, sich veränderten Rahmenbedingungen unternehmensübergreifend anzupassen. Dafür gilt es, physisch, informatorisch und strukturell ein neues Maß an Mobilität, Ver­ netzungs- und Wandlungsfähigkeit bei allen Akteuren eines Wertschöpfungsnetz­ werks zu erreichen. Grundlage sind Informationssysteme, welche den Datenverkehr

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innerhalb komplexer Systemlandschaften abbilden können. Dadurch steigen die lo­ gistische Planungsgeschwindigkeit und -qualität entlang der Supply Chain. Bei der Integration der involvierten Akteure ist besonders auf eine enge Einbindung von Lo­ gistikdienstleistern zu achten. Forschungsanstrengungen in diesem Feld sind bereits bei der Automobilindustrie in vollem Gange (vgl. ForLog 2017, S. 1).

5 Resümee und Ausblick Entscheidungsträger in der Logistik sind mit der Herausforderung konfrontiert, in einem zunehmend volatilen und vielschichtigen Handlungsumfeld relevante Trends zu identifizieren. Der vorliegende Beitrag liefert hierfür ein systematisches Vorgehen. Er spannt den Bogen von langfristigen Treibern in Gesellschaft und Technologie (1. Schritt) über mittelfristige Logistiktrends (2. Schritt) bis hin zu konzeptionellen Überlegungen für die Logistik der Zukunft (3. Schritt). Hierbei wird, auch im Vergleich zu den historischen Entwicklungszügen in der Logistik, gegenwärtig eine sehr hohe Dynamik und Komplexität in Wertschöpfungsnetzwerken offenkundig. Die Berück­ sichtigung einzelner Treiber und Trends ist für Unternehmen nicht ausreichend. Statt­ dessen sind diese dergestalt miteinander zu verknüpfen, dass ihr Zusammenspiel im Rahmen eines zukunftsfähigen Logistikkonzeptes nachhaltig Mehrwert bietet. Ob die­ ser Mehrwert schließlich zu einem besseren Finanzergebnis (z. B. durch verstärkten Einsatz von Automatisierung und Robotik), einer umweltfreundlicheren Lösung (z. B. verringerter Ressourcenverbrauch durch Shareconomy-Lösungen), einer individuelle­ ren und flexibleren Leistungserbringung (z. B. adaptive Prozesse, die Kundenwünsche on Demand umsetzen) oder einer Kombination daraus führt, hängt von den externen und internen Faktoren des einzelnen Unternehmens ab. Die Logistikkonzepte der Zukunft sind daher als Impulsgeber für Entscheidungsträger zu verstehen.

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Herbert Kotzab und Lukas Biedermann

Die strategische Bedeutung des Supply Chain Managements 1 2 2.1 2.2 2.3 3 4 5

Einleitung | 55 Die Supply Chain als Ausgangspunkt | 56 Begriffliche Spannweiten und Betrachtungswinkel | 56 SCM als Management von Supply Chains | 58 Grundidee, Ziele und Objekte des SCM | 59 SCM als integrationsorientierte Führungslehre? | 61 Kritik am strategischen SCM-Ansatz | 63 Zusammenfassung | 64 Literatur | 65

Zusammenfassung. Der vorliegende Beitrag erörtert die strategische Bedeutung des Supply Chain Managements (SCM) im Sinne einer kooperationsorientierten und unter­ nehmensübergreifenden strategischen Managementkonzeption. Vor diesem Hinter­ grund zielt das SCM auf die optimale Ausgestaltung von Geschäftsprozessen sowohl innerhalb eines Unternehmens sowie auf vor- und nachgelagerten Wirtschaftsstufen ab. Im Zuge steigender Kundenanforderungen und zunehmend flexibler Produktionsund Logistik-Netzwerkstrukturen entwickelt das SCM den Charakter einer integrati­ onsorientierten Führungslehre. In diesem Zusammenhang werden sich wandelnde Aufgaben, Objekte und Ziele des SCM sowie strategische Prinzipien kritisch diskutiert.

1 Einleitung Globaler Wettbewerb, sich ständig ändernde Wettbewerbsbedingungen, anspruchs­ vollste Kundenanforderungen sowie der technologische Wandel sind die Bedingun­ gen unter denen Unternehmen heute erfolgreich agieren müssen. Die Ära der Massen­ produktion wurde durch die Ära kundenindividueller Produktion von Produkten und Dienstleistungen abgelöst. Das vorhandene technologische Repertoire erlaubt die Ausnutzung von Zeitvorteilen über den gesamten Globus, gepaart mit kostengüns­ tigen Transportmöglichkeiten. Unternehmen von heute können die Anforderungen von Kunden und Märkten nicht mehr alleine erfüllen, sondern benötigen Zugriff auf Ressourcen, die außerhalb ihrer Unternehmensgrenzen liegen. Vor dem Hintergrund der betriebswirtschaftlichen Logistikkonzeption kann das Supply Chain Management (SCM) als Ausprägung eines ganzheitlich planen­ den und steuernden Führungsinstruments gesehen werden (vgl. BVL, 2017; Cors­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-004

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ten/Gössinger 2008; Kotzab 2000). Der Unterschied zum ‚klassischen‘ Logistikma­ nagement liegt im Fokus der organisatorischen Betrachtungsweisen (vgl. Corsten/ Gössinger 2008; Pfohl 2016), insbesondere in der Ausgestaltung der Güter- und da­ zugehörigen Informationsflüsse sowie der Integration und Synchronisation von ent­ sprechenden Geschäftsprozessen (vgl. Fettke 2007). Während die Aufgaben und Ziele des Logistikmanagements innerhalb der Unternehmensgrenzen bleiben, überwin­ det das SCM die Unternehmensgrenzen und versucht sämtliche Stufen einer Liefer-/ Wertkette beziehungsweise einer Supply Chain von der ursprünglichen Quelle zur finalen Senke in seinen Ausgestaltungsüberlegungen zu berücksichtigen (vgl. Cors­ ten/Gössinger, 2008). Da zu Beginn der Vorstellung des allgemeinen Gedankenguts SCM vielfach als probates Mittel zur Reduktion von Lagerbeständen in Lieferketten interpretiert wurde (vgl. dazu beispielsweise Jones/Riley 1985; Pfohl 2016), bezeichnen andere Autoren wie Austin, Lee und Kopczak (1997) SCM als generelles Erfolgsinstrument der Unter­ nehmenssteuerung. Abhängig von der jeweiligen Position in der Supply Chain und der Macht eines Unternehmens ist das SCM einerseits externen vor- und nachgelagerten Einflussfakto­ ren ausgesetzt. Andererseits wird es von internen und unternehmensübergreifenden Fähigkeiten und Ressourcen determiniert (vgl. Kotzab et al., 2015).

2 Die Supply Chain als Ausgangspunkt 2.1 Begriffliche Spannweiten und Betrachtungswinkel In der Literatur finden sich unterschiedliche Synonyme für den Begriff Supply Chain wie Wertschöpfungskette, Lieferkette, Supply Network, ValueNet und andere¹. Grund­ sätzlich lassen sich hierbei verschiedene, zugrunde liegende Betrachtungshorizonte feststellen. Diese sind, in Anlehnung an Otto (2002, S. 89 f.), in Abbildung 1 darge­ stellt. Handfield und Nichols (1998, S. 2) definieren eine Supply Chain als „all activi­ ties associated with the flow and transformation of goods from raw materials stage (extraction), through the end user, as well as the associated information flows“. Hin­ gegen betrachten Otto und Kotzab (2001, S. 216) eine Supply Chain als „ein Netzwerk vertikal alliierter, rechtlich selbstständiger Unternehmen, die per Auftragsschluss se­ quenziell miteinander verbunden sind, über die Herstellung von Sachleistungen in diversen Wertschöpfungsschritten der Vormaterialerzeugung, Verarbeitung, Monta­

1 Für ausführliche Beschreibungen über die historische Entwicklung des Begriffes Supply Chain, und das damit wandelnde Verständnis über die begriffliche Bedeutung, sei an dieser Stelle weiterführend auf Crandall/Crandall/Chen (2010, S. 6 ff.) sowie Bales/Maull/Radnor (2004, S. 251) verwiesen.

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Abb. 1: Spannbreite des Supply Chain-Begriffes (in Anlehnung an Otto 2002, S. 90).

ge, Lagerung, Kommissionierung und Transport.“² Dieser Betrachtungshorizont ent­ spricht der Wahrnehmung einer Supply Chain als organisationale Einheit, die entwe­ der agiert oder reagiert und dadurch eine Leistung (Output) erzielt. Die vorgestellte Sichtweise verdeutlicht, dass anstelle der Anzahl der beteiligten Unternehmen vielmehr die Reichweite der Vernetzung im Vordergrund steht. Abbil­ dung 2 trennt die institutionellen Reichweiten der Begriffe „Lieferantenbeziehung“, „Kundenbeziehung“, „Supply Chain“ sowie „Interne Supply Chain“ branchenunab­ hängig aus der Perspektive eines herstellenden Unternehmens (OEM; original equip­ ment manufacturer). Somit wird eine Supply Chain als ein Prozess der allgemeinen Wertschöpfung definiert, der alle Teilprozesse von der Rohmaterial-Beschaffung, Herstellung, Lage­ rung, dem Verkauf bis hin zur Distribution und dem Transport zum Kunden umfasst

Abb. 2: Kooperationsreichweiten und Supply-Chain-Interpretationen (in Anlehnung an Chopra/ Meindl 2016, S. 14 f.; Otto 2002, S. 99).

2 „Dabei stellen sie erstens den Lieferservice für den Kunden sicher, um das Umsatzziel zu erreichen, zweitens rationalisieren sie entlang der gesamten Kette, um das Kosten- beziehungsweise Kapitalbin­ dungsziel zu erreichen und drittens streben sie eine akzeptable Verteilung von Kosten und Nutzen in der Kette an, um das Stabilitätsziel zu erreichen“ (Otto 2002, S. 92).

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(vgl. Otto 2002, S. 90). Eine Supply Chain lässt sich demnach als besondere Art der Wertkette von Porter (2008) beschreiben, der als erster die strategische Bedeutung der integralen Wirkung von primären und sekundären Prozessen und deren Abhän­ gigkeit von vorgelagerten Prozessabwicklungen und den Einfluss auf nachgelagerte Wirtschaftsstufen erkannte (vgl. Hsuan et al. 2015). Im Vergleich zum allgemeinen Wertschöpfungsansatz kann hierbei die weltweite geografische Verteilung der Betriebsstandorte als Erweiterung des allgemeinen Wert­ schöpfungsverständnisses und als Antwort auf die von Levy (1997) beschriebenen Glo­ balisierungstrends angesehen werden. Das Verständnis einer Supply Chain als generischen Wertschöpfungsprozess er­ weitert den allgemeinen und den unternehmensinternen Erklärungsansatz durch einen Allgemeingültigkeitsanspruch. Dieser entsteht, indem entweder branchenspe­ zifische Wertschöpfungsmodule in eine bestimmte Reihenfolge gebracht werden und somit einen Referenzprozess bilden oder indem ein Bestand einzelner und kombinier­ barer Wertschöpfungsmodule für die Modellierung von Wertschöpfungsprozessen entwickelt wird (vgl. Otto 2002). Beispielhaft für ein derartiges generisches Modell kann das vom Supply Chain Council entwickelte Supply Chain Operations Reference (SCOR)-Modell beziehungsweise Framework herangezogen werden (vgl. SCOR 2017). Der strategische Vorteil, der durch die Kenntnis über die Supply Chain gewonnen werden kann, liegt in der Ausschöpfung der Potentiale durch Eliminierung von Mehr­ fachtätigkeiten entlang der Lieferkette (z. B. Lagerbestände von Endprodukten auf mehreren Stufen) sowie in der schnelleren Anpassung an sich ändernde Kundenan­ forderungen (vgl. Hsuan et al. 2015).

2.2 SCM als Management von Supply Chains Der konzeptionelle Ursprung des Supply Chain Managements ist umstritten. In den Ausführungen von (vgl. Forrester 1961) zur industriellen Dynamik in den Bereichen Distribution und Transport finden sich jedoch bereits Gedankenansätze des heutigen Supply Chain Managements wieder (vgl. Croom/Romano/Giannakis 2000). Gemäß den Untersuchungen von Oliver und Webber (1992) wurde der Begriff Supply Chain Management erstmals zu Beginn der 1980er-Jahre als eine, um die strategische Kom­ ponente angereicherte, Logistikmanagementkonzeption vorgestellt. Die theoretische Festigung des SCM-Begriffes erfolgte gemäß Werner (2013) vor allem durch die Arbeiten von Chopra/Meindl (2016), Christopher (2016), To­ will (1996), Fawcett/Ellram/Ogden (2007), Fisher (1997), Stevens (1989), MacBeth/ Ferguson (1994) und Simchi-Levi/Kaminsiki/Simchi-Levi (2008). Im Einklang hierzu lassen sich die von Braun (2011, S. 10 ff.) identifizierten, ge­ meinschaftlichen Merkmale des SCM anführen: – Die unternehmensübergreifende Integration und Optimierung von Informationsund Materialflüssen.

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– – –

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Ein langfristiger, kooperativer Charakter der Unternehmensaktivitäten. Die Intention, einen insgesamt höheren Zielerreichungsgrad bei den beteiligten Unternehmen herbeizuführen. Die fluss- und prozessorientierte Ausrichtung der Unternehmensaktivitäten.

Auf Basis der vorgestellten Merkmale kann SCM wie folgt definiert werden: Supply Chain Management umfasst das Design, die Planung und Steuerung sowie die konti­ nuierliche Verbesserung unternehmensübergreifender Material-, Informations- und Kapitalflüsse. Seine Ziele liegen zum einen in der effizienten und gleichzeitig fle­ xiblen Gestaltung der unternehmensinternen Prozesse, der Organisationsstruktur und Infrastrukturen. Zum anderen steht die integrative Gestaltung unternehmens­ übergreifender Aktivitäten, im Kontext vertikal alliierter Unternehmensnetzwerke, im Fokus der langfristig ausgelegten Ziele zur Erhöhung des Kundennutzens (vgl. Corsten/Gössinger 2008). In Übereinstimmung hierzu schlägt Fettke (2007) drei Facetten des SCM vor, deren Umsetzung von strategischer Bedeutung für Entscheidungstragende in Unternehmen sind: – SCM als Management der Kooperation: Hier geht es um die systematische Pla­ nung, Steuerung und Überwachung unternehmensinterner sowie -externer Inte­ gration und Synchronisation von SCM-Geschäftsprozessen. – SCM als Management des Warenflusses: Dabei geht es um die mit allen Lieferan­ ten und allen Kunden abgestimmte Gestaltung des gesamten Warenflusses über sämtliche Stufen der Supply Chain. – SCM als Management des Informationsflusses: Dabei geht es um die bedarfs­ gerechte Versorgung von Information an alle Akteure innerhalb der Supply Chain und um den Einsatz adäquater Informationstechnologien und -standards.

2.3 Grundidee, Ziele und Objekte des SCM Moderne Liefernetzwerke vieler Unternehmen sind durch eine Vielzahl von Knoten konstituiert. Folglich treten viele Schnittstellen auf, die bei der Bewegung des Ma­ terials durch das Logistiknetzwerk überwunden werden müssen (vgl. Vahrenkamp/ Kotzab/Siepermann 2012). Während traditionellerweise die Teilnehmer im Liefernetzwerk als unabhängige Akteure auftreten, die untereinander um die günstigsten Konditionen konkurrieren, setzt das SCM auf ein Modell der Kooperation zwischen den Teilnehmern im Liefer­ netzwerk (vgl. Vahrenkamp/Kotzab 2017). Dies führt in der Folge jedoch zu einer Ver­ änderung im Wettbewerbsgefüge in dem nicht mehr Unternehmen mit Unternehmen, sondern Lieferketten mit Lieferketten in Konkurrenz treten (vgl. Christopher 2016). Die kooperative Ausgestaltung der Lieferbeziehungen und -ketten ist langfris­ tig ausgerichtet, wodurch die Netzwerkteilnehmer eine höhere Stabilität erzielen und daher vereinfachte Prozeduren beim Schnittstellenübergang schaffen können

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(vgl. Vahrenkamp/Kotzab/Siepermann 2012). Die Systeme für den Informationsaus­ tausch und den Güterfluss werden unter den Beteiligten in folgender Weise aufeinan­ der abgestimmt (vgl. Vahrenkamp/Kotzab 2017): – durch langfristige Verträge, welche die Erbringung logistischer Leistungen in der Kette eindeutig abgrenzen, – durch umfassende gegenseitige Information, – durch unternehmensübergreifende Informationssysteme mit Standardprotokol­ len, – durch Standards im Materialflusssystem, – durch Vereinheitlichung von Prozeduren und Abstimmung in der ganzen Kette, – durch Abbau von Lastspitzen mittels gemeinsamer Kapazitätsplanung sowie – durch Vorabinformationen für eine effizientere Produktionssteuerung. Die Umsetzung des Grundmodells in eine arbeitsfähige Kooperation unter den Part­ nern erfordert den schrittweisen Aufbau einer vertrauensvollen Zusammenarbeit womit sich das Grundmodell des SCM durch folgende strategische Prinzipien cha­ rakterisieren lässt (vgl. Hsuan et al. 2015; Kotzab 2000; Vahrenkamp/Kotzab/Sieper­ mann 2012, vgl. Tabelle 1). Tab. 1: Strategische Prinzipien des SCM. Strategische Prinzipien des SCM Kundenprinzip

Das Kundenprinzip besagt, dass alle Aktivitäten im Liefernetzwerk von der Kundennachfrage bestimmt werden. Statt Basislösungen zu fertigen und diese dem Markt bereitzustellen (= prognosegesteuertes Push-Prinzip), erlaubt die Weitergabe von Kundenaufträgen eine individuelle Produktion, was eine flexible Konfiguration von Materialen und Arbeitsprozessen ermöglicht (= kundenauftragsbasiertes Pull-Prinzip). Integrations- und Das Integrations- und Kooperationsprinzip bezeichnet die abteilungs- und Kooperationsprinzip unternehmensübergreifende Einbeziehung der gesamten Unternehmensprozesse um eine durchgängige Supply Chain zu ermöglichen. Marketingprinzip Die Basisüberlegungen zum Marketingprinzip beziehen sich auf die Einbeziehung der Kundenaktivitäten in die Ausrichtung der gesamten Supply Chain. Im Idealfall steuert der Endkunde die gesamte Supply Chain. Postponementprinzip Das Konzept des Postponementdenkens verlangt eine ganzheitliche Betrachtung der Supply Chain zur Erschließung vonOptimierungspotentialen (Lagerbestände, Service, Logistikkosten, etc.). Insbesondere ist dabei zu berücksichtigen, kundenspezifische Anforderungswünsche möglichst gegen Ende der Supply Chain zu erfüllen. Informationsprinzip Dieses Prinzip sieht den Aufbau integrativer Informationssysteme vor, die alle Akteure mit SCM-relevanten Informationen versorgen. Dabei sollte die Verknüpfung aller Stufen von der Quelle bis zur Senke (oder final point of consumption) garantiert sein. Prinzip der grenzen­ An sich selbständig handelnde Unternehmen agieren im Liefernetzwerk als losen Unternehmung eine Organisationseinheit indem Entscheidungsprozesse koordiniert werden beziehungsweise Geschäftsprozesse integriert oder synchronisiert werden.

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Tab. 2: Charakterisierung der Objekte, Aufgaben und Ziele des SCM (in Anlehnung an Kotzab 2000). Charakterisierung der Objekte, Aufgaben und Ziele des SCM Objekte Aufgaben

Sachziel

Formalziel

Alle logistischen Einheiten und dazugehörige Informationsfluss zwischen der ersten Quelle und der letzten Senke auftreten. Ausgestaltung von Geschäftsprozessen wie Customer Relationship Management Customer Service Management, Auftragserfüllung, Beschaffung, Retouren, Supplier Relationship Management, Produktentwicklung, Produktionssteuerung und -planung. Aufbau und Betrieb von unternehmensinternen und -externen Ressourcen und Fähigkeiten wie IT-Strukturen, Arbeitsstrukturen, Managementmethoden, Macht, Vertrauen, Belohungssysteme und Kultur. Aufbau und Nutzung eines konkurrenzfähigen Liefernetzwerkes durch Abgleich der Kundenanforderungen mit internen und externen Ressourcen. Schaffung eines Liefernetzwerkvorteils. Verbesserung der Leistung durch Minimieren von eingesetzten Ressourcen (doing more with less).

In Bezug auf Aufgaben und Ziele des SCM stellt Kotzab (2000) die in Tabelle 2 vorge­ stellten Wesensmerkmale des SCM heraus.

3 SCM als integrationsorientierte Führungslehre? Ballou (2007) zeigt in seiner Evolution des SCM einerseits, dass SCM die bislang in unterschiedlichen Abteilungen durchgeführten individuellen logistischen Aufgaben bündelt und diese mit anderen Funktionenbereichen sowie strategischen Elementen bereichert (vgl. auch Abbildung 3). Damit wird der bereichs- und unternehmensüber­ greifende Aspekt des SCM hervorgehoben. Die Untersuchungen von Simchi-Levi, Kaminsky und Simchi-Levi (2008) haben gezeigt, dass jene Unternehmen, die in der Lage sind ihre Geschäftsprozesse mit ih­ ren Kunden und Lieferanten zu synchronisieren, ihre Kundenaufträge sowohl auf­ tragskonform als auch kostengünstiger auszuführen. Dies erfordert laut Möller und Rajala (2007) unter anderem klare Strukturen, Profile sowie die Definition von Aufga­ benbereichen und Zielformulierungen im Liefernetzwerk. Jeder Akteur in der Liefer­ kette kennt die Fähigkeiten der anderen Akteure, die zur Wertschöpfung herange­ zogen werden können, wodurch sich die wertschöpfenden Aktivitäten und Prozesse leichter definieren lassen (vgl. Möller/Rajala/Svahn 2005). Kotzab et al. (2015) belegen in ihrer Studie, dass das Leistungsniveau von SCM in Unternehmen von der Fähigkeit abhängt, anpassungsfähige SCM-Geschäftsprozesse zu installieren. Diese Fähigkeit zielt auf die Intensität der Integration zwischen Lie­ feranten, Kunden und dem Unternehmen ab und hängt wiederum von der Existenz und gezielten Nutzung unternehmensinterner sowie unternehmensexterner oder gemeinsamer Ressourcen ab. Die internen Ressourcen umfassen Human- und Kapi­

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Abb. 3: Die zeitliche Entwicklung des SCM (in Anlehnung an Ballou 2007).

talressourcen sowie weiche Faktoren wie organisationales Verständnis, Vertrauen, Unterstützung vom Top-Management sowie Engagement/Verpflichtung der Supply Chain Akteure während die externen Ressourcen Informationsaustausch, langfris­ tige Orientierung, Entwicklung gemeinsamer Ziele und Visionen, geteilte Kontroll­ systeme, gemeinsame Projektgruppen, gegenseitige Abhängigkeit und Gewinn- und Risikoteilung inkludieren (vgl. Abbildung 4).

Abb. 4: Wirkungspfad SCM-Ressource-Prozess-Umsetzung (adaptiert von Kotzab et al. 2015).

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Die Ergebnisse der Untersuchungen von Kotzab et al. (2015) zeigen, dass der Erfolg von SCM an erster Stelle von der Bereitstellung der internen Ressourcen abhängt. Werden diese nicht bereitgestellt, können die Potentiale des SCM nicht zur Gänze ausgeschöpft werden.

4 Kritik am strategischen SCM-Ansatz Trotz der positiven Beurteilung des SCM-Ansatzes in der wissenschaftlichen Commu­ nity und der unternehmerischen Praxis gibt es einige kritische Kommentare, die es zu berücksichtigen gilt. Ballou (2007) weist dem SCM zwar die strategische Schlagkraft als Basis für die Schaffung von einzigartigen Wettbewerbsvorteilen zu, deren Ausprägung in der Pra­ xis jedoch häufig hinter den Erwartungen zurück bleibt. Die Ursache sieht er in den überzogenen Erwartungen einerseits, sowie in der Vernachlässigung der finanzwirt­ schaftlichen Komponente des SCM, insbesondere die Beurteilung und den Nach­ weis der spezifischen Gewinnwirkung durch SCM. Ebenso kritisiert er die mangelnde bereichs- und unternehmensübergreifende Orientierung von MitarbeiterInnen in Un­ ternehmen, die wiederum auf mangelndes Verständnis sowie mangelnde Aus- und Weiterbildung und die Existenz traditioneller Anreizsysteme zurückzuführen sind. Für Bretzke (2006) verkörpert SCM den Zeitgeist der modernen Logistik. Auch er kritisiert die hohen Erwartungshaltungen sowie teilweise utopisch formulierten An­ sprüche des SCM. Die wesentliche Hauptkritik betrifft die organisationale Ausgestal­ tung der Supply Chain, die in der geforderten Weise nicht realisierbar ist. Bretzke (2006) schlägt daher vor, sich auf eine schwächere Variante der Integration zu kon­ zentrieren, indem auf jene Teile der Supply Chain eingegangen wird, die im Einfluss­ bereich des betrachteten Unternehmens stehen. Für das Management der gesamten Supply Chain fehlt eine eigenständige Organisation, welche die gesamte Supply Chain steuert und koordiniert. Ein solches Konzept der Orchestrierung wird von Christopher (2016) unklar als „confederation of specialist skills and capabilities“ bezeichnet. Ei­ ne empirische Validierung steht diesbezüglich noch aus, da viele empirische Belege für erfolgreiche Netzwerkkooperationen nur auf fokale Unternehmen beschränkt sind (vgl. dazu Vahrenkamp/Kotzab 2017). Als wesentlichen Kritikpunkt hebt Bretzke (2006) jedoch das mangelnde Wett­ bewerbsverständnis von SCM hervor, das im Konflikt zu den bestehenden, auf Wett­ bewerbsprinzipien aufbauenden, Wirtschaftsordnungen steht. Wie aktuelle Beispiele belegen, schalten enge Bindungen an Zulieferer den Wettbewerb aus und gefährden langfristig die Auswahl aus preisgünstigen Alternativen und Anreize zur Entwicklung von technischem Fortschritt (vgl. Gondorf 2017).

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5 Zusammenfassung Das SCM zeichnet sich insgesamt durch einen interdisziplinären Charakter aus (vgl. Klaus 2009) und beheimatet zahlreiche unterschiedliche Paradigmen, Perspektiven, Forschungsansätze, Theorien und Methoden (vgl. Corsten/Gössinger 2008; Larson/ Halldorsson 2004). SCM versteht sich als eine strategische, kooperationsorientierte und unterneh­ mensübergreifende, integrationsorientierte Managementkonzeption, die zu einer Ver­ besserung der Logistikleistung auf allen Stufen der Supply Chain führt. Die Forde­ rung nach Integration und Kooperation geht über die Logistik-Dimension hinaus. Die Steuerung aller Aktivitäten erfolgt durch die Nachfrage der Endverbraucher. Die Ursachen für die steigende strategische Bedeutung von SCM sind auf folgende Entwicklungen zurückzuführen (vgl. Hsuan et al. 2015): – Steigende Kundenanforderungen in Bezug auf Produktangebot und Logistik­ service und die daraus folgende zunehmende Kundenorientierung führen zu einer Zunahme von direkten Bestellvorgängen und direkten Anlieferungen, einer Individualisierung des Produkt- und Serviceangebotes sowie einer Auftragsab­ wicklung und Produktion in Echtzeit. – Konsequenterweise führt diese Atomisierung in den Kundenanforderungen und notwendigen Produktionsvorgängen zu einer Abkehr der Massenproduktion und dem Aufbau flexibler sowie kurzer Produktionsabläufe und -systeme. – Dies wiederum führt zu einer Neuorientierung im Bestandsmanagement, das durch den verstärkten Einsatz von Lean Management die Errichtung von quasibestandslosen, flexiblen Produktions- und Distributionssystemen fördert. – Der verstärkte elektronische Handel in Kombination mit kostengünstigen Trans­ portmöglichkeiten ermöglicht den Aufbau und den Betrieb von schnellen, direk­ ten sowie bestandlosen Verbindungen zwischen Produktion und Konsum auf ei­ nem globalem Niveau. – Die Möglichkeiten der weltweiten Vernetzung von sensorgesteuerten Einheiten (= Internet of Things oder Industrie 4.0) erlaubt flexible und vor allem kleine Or­ ganisationseinheiten, die dennoch in der Lage sind Skalenerträge zu erzielen. Die Ausgestaltung von Supply Chains und das dazugehörige Management werden demnach einem ständigen Wandel unterzogen sein. Nichtsdestotrotz gilt es die eigen­ tümliche Aufgabe des Netzwerkmanagements nach Gudehus (2011, S. 889) zu erfül­ len: “Das Netzwerkmanagement oder Supply Chain Management umfasst die Auswahl, die Gestaltung, die Organisation und den Betrieb der Lieferketten und Logistiknetze zur Versorgung von Bedarfsstellen oder Kunden aus den Liefer- oder Versandstellen. Dazu gehört auch die Disposition der Ressourcen, des Nachschubs und der Bestände in den Lieferketten“.

Die strategische Bedeutung des Supply Chain Managements | 65

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Circular Supply Chain: Combining Supply Chain Strategy and Circular Economy 1 2 3 4 4.1 4.2 5

Circular Economy | 67 Supply Chain Strategy | 71 Circular Supply Chains | 75 Industry focused CE – Cases | 79 Textile and fashion industry | 81 Auto batteries | 81 Conclusion and Outlook | 82 Bibliography | 83

Abstract. The influence of the circular economy concept on policy-makers is growing. The concept has strong interlinkages with research fields such as supply chain man­ agement and could benefit from an inclusion of associated tools, theories and insights. However, in the past, these interlinkages have not always been sufficiently explored. The goal of this chapter is to explore the link between the circular economy concept and the field of strategic supply chain management. Based on this analysis promis­ ing future research directions are derived. Examples from practice highlight how this concept can be put into use.

1 Circular Economy The circular economy concept is shaping environmental and waste management poli­ cies in many countries and regions including China, Japan, the EU and USA (c.f. Ghis­ ellini/Cialini/Ulgiati 2016). According to the Ellen MacArthur Foundation, one of the strong promotors of the circular economy concept, “a circular economy is restorative and regenerative by design, and aims to keep products, components, and materials at their highest utility and value at all times” (Ellen MacArthur Foundation 2017a). The implementation of the circular economy concept has implications on decisions related to diverse stages in a product’s life including product design, sourcing, production, distribution and end-of-life. It is facilitated by the implementation of new business models. The implementation of the circular economy concept can have positive impli­ cations from an economic (e.g. reduction of risk related to virgin material availability and prices), environmental (e.g. reduced energy use and pollution reduction) as well as social perspective (e.g. creation of new jobs; c.f. European Commission 2015). The challenges of implementing a circular economy concept are industry-specific. The Ellen Mac Arthur Foundation provides case studies that describe industry-spe­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-005

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cific changes that would be necessary to facilitate the circular economy (c.f. Ellen MacArthur Foundation 2017b). In the case of mobile phones, changes with respect to collection systems, product design as well as business models for sales of used phones are suggested. In the case of washing machines, new business models (lease models) combined with refurbishing activities are recommended. In the case of cars, possible benefits resulting from new product designs combined with new business models are described. Dell describes the role of sourcing, cloud services as well as virtualization in contributing to a circular economy (c.f. Dell). Figure 1 highlights the design of the circular economy as well as its principles ac­ cording to the MacArthur Foundation. This butterfly diagram successfully highlights the closed-loop characteristics of a circular economy and is widely shared. However, we believe that it has a few important shortcomings. First, it differentiates between technical and biological cycles. Overlaps between these cycles exist as we will show in section 3. Therefore, we believe that this differentiation is more hindering than helpful in describing a circular economy. Secondly, the figure shows the user as the only source of reverse flows, while a supply chain perspective shows that reverse flows occur at all stages of a product’s life (e.g. due to overproduction and quality issues in the production stage, due to overstocks at the retail stage.) Furthermore, the concept suffers from strong aggregation and combines concepts, e.g. refurbishment/

Fig. 1: Ellen MacArthur Foundation Butterfly Diagram (Ellen MacArthur Foundation 2017c)

Circular Supply Chain: Combining Supply Chain Strategy and Circular Economy

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remanufacturing and maintenance/prolongation that are very different with respect to their implications from a supply chain perspective. In the following sections, we will describe how a supply chain perspective can contribute to enriching the circular economy concept. The circular economy concept is based on many diverse theories and school of thoughts, including environmental economics, ecological economics and industrial ecology (c.f. Ghisellini/Cialini/Ulgiati 2016). In this section, we first highlight and define key environmental concepts. We then outline the development of the field of closed-loop supply chains which is the field that is most closely related to the circular economy from a supply chain perspective. The timeline by Seifert and Comaz (2010) shown in Figure 2 highlights important milestones including the definition of sustainable development by the Bruntland com­ mission (1983), the Triple Bottom Line (people, planet, profit) by Elkington (1994) and the introduction of life-cycle thinking. The Bruntland Commission (1983) defines sus­ tainable development as “development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs”. Life cycle thinking is a concept which seeks to “identify possible improvements to goods and ser­ vices in the form of lower environmental impacts and reduced use of resources across all life cycle stages” (European Commission, 2010). Its goals are, therefore, very much in line with the circular economy concept. Life cycle assessment is the “compilation and evaluation of the inputs, outputs and the potential environmental impacts of a product system throughout its life cycle” (International Organization for Standardiza­ tion: ISO 14040 2006). In order to do so, relevant measurement systems and indicators need to be defined. The greenhouse gas protocol defines standards to measure emis­ sions. Scope 3 measures emissions throughout the supply chain. Green supply chain management is defined by Srivastava (2007, p. 54 f.) as “in­ tegrating environmental thinking into supply-chain management, including product design, material sourcing and selection, manufacturing processes, delivery of the final product to the consumers as well as end-of-life management of the product after its useful life”. As part of the field of green supply chain management, the area of re­ verse logistics and closed-loop supply chain management has emerged. Rogers and Tibben–Lembke (1999, p. 2) define reverse logistics as ”the process of planning, imple­ menting, and controlling the efficient, cost-effective flow of raw materials, in-process inventory, finished goods and related information from the point of consumption to the point of origin for the purpose of recapturing value or proper disposal”. Closed-loop supply chain management combines the classical forward sup­ ply chain with reverse logistics activities. Drivers for its implementation include legislation as well as business motivations. Focusing on the business perspective, closed-loop supply chain management can be defined as “the design, control, and operation of a system to maximize value creation over the entire life cycle of a prod­ uct with dynamic recovery of value from different types and volumes of returns over time” (Guide/van Wassenhove 2012, p. 10). Guide and Wassenhove (2012) describe

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1980

1983

1987

1988

1991

1992

1990 „Our Common The Future“ Brundtland Commission Montreal Protocol (ozone depletion) (WCED)

Global warming. Scientists agreement

Earth Summit NGGIP (UNCED, Rio (guidelines de Janeiro) national GHG UNFCCC inventories)

sustainable development

WBCSD (involve businesses in sustainability issues)

1994

1996

1997

1998

Triple Bottom Line (TBL) (Elkington)

ISO 14001, 1st version

ISO 14040 GRI: organization

ISO 14041 GHG Protocol Initiative

1995, Nestlé: 1st environmental report 2001

Kyoto Protocol adoption (global warming)

2002

life cycle thinking Life Cycle Initiative (UNEP & SETAC)

DJSI launch ISO 14042 ISO 14043

GRI: 1st standards

1998, Dell: 1st environmental report

2003

GHG Prot. World Summit on Sustainable Corporate Development Std. 1st ed. (Johannesburg)

2000

1999

Waste Electrical & Electronic Equipment (WEEE Directive EU Restrictions on Hazardous Substances (RoHS) Directive

2004

2005

ISO 14001, UN World Summit 2nd version (NY) MDGs 2004, Dell: Sustainability Kyoto Protocol into force report EU ETS 1st trading period

GRI: 2nd version 2006

2007

2008

2009

2013 2010

GRI G3: 3rd version

REACH EU directive on chemicals

PAS 2050 (assessment LC GHG)

2007, Nestlé: Creating Shared Value report

EU ETS 2nd period

Copenhagen Summit EU ETS 3rd period

Fig. 2: Timeline of Attention Paid to Environmental Issues (c.f. Seifert/Comaz 2010).

the development of the field of closed-loop supply chain management from the early 1990s and divide its development into 5 phases: the golden age of remanufacturing as a technical problem, from remanufacturing to valuing the reverse-logistics process, coordinating the reverse supply chain, closing the loop as well as prices and markets. It thereby highlights a shift from an activity perspective to a first static and then dy­ namic process management and coordination perspective. The last phase includes a consumer and marketing perspective. The consumer perspective is also of high relevance in order to facilitate the circular economy as will be outlined in section 3.

Circular Supply Chain: Combining Supply Chain Strategy and Circular Economy

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As we have shown the circular economy is rooted in a multitude of different research streams. A clear definition of the circular economy concept and a differen­ tiation of related fields is necessary. As a next step, an integration of methods, tools and insights generated by previous research from related fields into the evaluation of the effectiveness of circular economy concepts is necessary. Currently, insights from related research fields, like the area of closed-loop SC management, and supply chain management in general, are not sufficiently considered (c.f. Agrawal/Atasu/van Wassenhove 2015). We, therefore, want to highlight in this article how a strategic sup­ ply chain perspective can contribute to enriching the circular economy concept.

2 Supply Chain Strategy The generic competitive strategies differentiate between a focus on cost leadership and a focus on flexibility and/or responsiveness. Of course, the supply chain strategy must be in alignment with the general competitive strategy. Strategic decisions on the general design of a supply chain can be based on a product-process matrix for supply chains. Functional products are characterized by low variability (e.g. high forecast ac­ curacy) and low contribution margin. For this type of products a physically efficient supply chain designed to minimize cost should be used. Contrary, innovative prod­ ucts, e.g. high-tech or fashion products with short life-cycle, typically experience high variability and there is a high risk of obsolescence for leftover inventory. Thus, high margins should be realized. Consequently, a market-responsive supply chain design should be used focusing on responsiveness and/or flexibility (c.f. Fisher 1997; Cachon/ Terwiesch 2017, Section 11.3.2). Generally, supply chain strategy must consider the trade-off between the ob­ jectives cost and flexibility/responsiveness. Examples are local vs. global production and/or sourcing as well as Make-To-Order (MTO) vs. Make-To-Stock (MTS) production. The position of the customer order decoupling point results in different supply chain strategies and essentially determines the order fulfilment cycle time, i.e. the delivery time for customers. In MTS the decoupling point is the finished goods inventory, i.e. the most expensive version of the product is stored but the responsiveness is high pro­ vided the good is available in inventory. Contrary, in MTO the order decoupling point is the material and parts inventory resulting in comparable low inventory cost. On the other hand, the order fulfilment cycle time is long meaning low responsiveness. A compromise strategy of MTS and MTO is Assemble-To-Order (ATO) – Dell called it Build-To-Order – where components of the product are stored and final assembly is done in case of a customer order. Thus, compared with MTO in ATO the responsive­ ness is higher. In contrast to MTS, not the finished goods are stored in inventory but its components resulting in lower inventory cost. An example of ATO production is mass customization: Manufacturing of standard components is done forecast-based

Retailer

End-user Lead Time

Manufacturer/Assembler

Product variety

Raw material supplier

Demand Variability

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VH

VH

Lg

Risk of obsolete products

Make to order

H

H

Lg

Risk of holding raw materials

Assemble to order

M

M

M

Postponed customization

Make to stock

Lo

Lo

S

Ship to stock

VL

VL

S

End user

Buy to order

A stocking decoupling point for the supply chain

Other specific characteristics

Accurate demand forecast, risk of stock-outs

VH: Very high, H: High, M: Medium, Lo: Low, Lg: Long, S: Short, VL: Very Low

Fig. 3: Supply Chain Strategies and their Key Characteristics (c.f. Mahdavi/Olsen 2017, p. 169).

that are then assembled according to the customers’ requirements. Figure 3 shows the supply chain strategies and their key characteristics for different locations of the customer order decoupling point. The supply chain strategy must prioritize its often conflicting objectives or capa­ bilities cost, time, quality and flexibility: What are the basic qualifying capabilities and what is the market-winning objective? Then the required assets and processes must be specified in alignment with these capabilities. The type of assets – human re­ sources and technical resources – is directly related with the choice of their geograph­ ical locations and required capacities. An important element of the process strategy are strategic sourcing decisions like outsourcing of supply chain operations, verti­ cal integration and supplier relationships. The relationships with customers are de­ scribed by the demand management process. In times of digital manufacturing and digital supply chains the technology strategy is of high significance. It takes into con­ sideration supply chain technologies (manufacturing, warehousing, transportation), product technologies as well as information and coordination technologies (c.f. van Mieghem/Allon 2015, Chapter 1). To summarize, the supply chain strategy must reflect the competitive strategy that based on macroeconomic, political, and technological factors as well as global com­ petition does express the customer value proposition. In the top-down approach from the market perspective the best-aligned supply chain strategy (capabilities, assets and processes) is specified. Otherwise, bottom-up the existing resources and processes and the actual capabilities of the supply chain should support the customer value proposition and thus the competitive strategy well. In the strategic operational au­

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Strategy Gap?

Deliverable Value Proposition

Value Proposition

Market view

Resource view Capability Gap? Capabilities

Resources & Processes

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Resource & Process Gap?

Needed Capabilities

Needed Resources & Processes

Fig. 4: Strategic Operational Audit (c.f. van Mieghem/Allon 2015, p. 33).

dit compares the market view and the resource view to identify gaps and eventually adapt the competitive strategy or the supply chain strategy. In Figure 4, the ovals repre­ sent the current situation and the rectangles the deductions (c.f. Chopra/Meindl 2016, chapter 5; van Mieghem/Allon 2015, chapter 1). This general framework of operations and supply chain strategies is implemented in frequently applied supply chain models like the Supply Chain Operations Reference model (SCOR model). The so-called performance attributes reliability, responsiveness and agility relate to the strategic objectives time, quality and flexibility; the perfor­ mance attributes cost and asset management efficiency to the strategic objective cost. The SCOR attributes are operationalized with the following key performance indictors (KPI) called strategic metrics (c.f. Table 1). Tab. 1: SCOR Performance Attributes and Strategic Metrics (c.f. SCOR). Performance Attributes

Level 1 Strategic Metrics

Reliability Responsiveness Agility

Perfect Order Fulfilment Order Fulfilment Cycle Time Upside Supply Chain Flexibility, Upside Supply Chain Adaptability, Downside Supply Chain Adaptability, Overall Value at Risk Total Cost to Serve Cash-to-Cash Cycle Time, Return on Supply Chain Fixed Assets, Return on Working Capital

Cost Asset Management Efficiency

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The cash-to-cash cycle time is an important liquidity metric expressing the time-pe­ riod from paying the supplier to receiving the money from the customer. In supply chain finance the cycle time of accounts payables is reduced if the environmental standards specified in the contract with the supplier are fulfilled. For example Puma and Levi Strauss enable their suppliers to shorten the accounts receivables cycle time (http://www.scfbriefing.com/supply-chain-finance-and-sustainability). Out of the six SCOR primary management processes for a sustainable supply chain strategy ‘Enable’ and ‘Return’ are of importance. The ‘Enable’ process describes guide­ lines how to manage the network, the assets, data and information, contracts, perfor­ mance as well as the supply chain risks. The ‘Return’ process provides guidelines for handling defects and excess products from upstream and downstream stages in the supply chain. In traditional contracts customers are charged for the provided products whereas in a performance-based contract – representing a trend called servitication – the rev­ enue of the supplier depends on a specific performance target, e.g. the minimum avail­ ability of a technical resource (c.f. Girotra/Netessine 2014, p. 150). Thus, with a per­ formance-based contract the supplier has a strong incentive to provide high quality products and services resulting in a larger time between failures. In this way resource efficiency can be increased e.g. by a lower demand for spare parts. Emerging technologies like additive manufacturing (3-D printing) will change product designs as well as the structure of supply chains. Technological feasibility and economic viability provided, there is a new option for the production of cus­ tomized or even personalized products besides the ATO strategy mass customization. 3-D printing enables high flexibility and especially high responsiveness in the MTO mode resulting in a high-speed bespoke supply chain (c.f. Sodhi/Tang 2017). The sup­ ply chain design in this environment is no longer characterized by centralization and globalization but by decentralization and localization. According to the MTO strategy the focus is on raw material procurement (c.f. Ben-Ner/Siemsen 2017). From the CE perspective the challenge then is to source not only primary material but also recycled material. Another reason for localization is the reaction to supply chains acting in a socalled VUCA (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) environment (c.f. Ben­ nett/Lemoine 2014). By insourcing and/or backshoring originally outsourced and/or offshored supply chain operations some of the VUCA elements can be reduced (c.f. Lam/Khare 2016). Thereby, the synchronization of production with customer demand might become possible; this kind of make-to-order production is called customer-re­ sponsive concurrent production (c.f. Schonberger/Brown 2017). By improving ware­ housing operations and shorter transportation distances a reduction of the supply chain carbon footprint should be achievable. In a VUCA world for outsourced and offshored supply chain operations at first glance the complexity is increased by adding an intermediary between customer and supplier companies. For example, Li and Fung Ltd (2017) provide sourcing services

Circular Supply Chain: Combining Supply Chain Strategy and Circular Economy

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for customers by selecting, verifying and approving offshore suppliers. In this way it controls supply chain risks such as product quality, delivery time and accounts re­ ceivables. The overall Value at Risk (VaR) is a KPI to express the strategic relevance of supply chain risks. Like in the Toyota Production System long-term supplier relation­ ships are established. The intermediary sources for several customer companies and thus has the flexibility to choose the best suited from the pool of suppliers (c.f. Giro­ tra/Netessine 2014, pp. 155). The increased supply chain complexity by installing an intermediary not only leads to higher reliability but also to improved environmental and social sustainability. In general, lean production can be seen as a first step to­ wards sustainability from a triple bottom line perspective by reducing the seven types of waste (overproduction, transportation, inventory, waiting time, motion waste, pro­ cessing waste, defects; c.f. Souza 2012, chapter 3). In general, from a sustainability perspective the capabilities of supply chain strat­ egy are limited to economic – financial and non-financial – objectives. The environ­ mental and social capabilities of supply chains are missing. The SCOR model suggests in GreenSCOR the following strategic environmental metrics (c.f. SCOR): Carbon emissions, air pollutant emissions, liquid waste gener­ ated, solid waste generated as well as the percentage of recycled waste. From a CE perspective this list of environmental metrics is by far not complete. But together with the elements of the ‘Return’ process sketched above it can be used as starting point for designing a performance measurement system according to the CE principles.

3 Circular Supply Chains The high relevance of combining CE and Supply Chain Strategy is in accordance with a World Economic Forum Report (2014), which suggests that supply chains are the key unit of action with regard to CE implementation and success, and will be the founda­ tion for driving needed change. Companies within traditional (linear) economy supply chains from raw materials to end consumers can externalize their waste at the supply chain stages, where reverse logistics may only be relevant to return unwanted, incorrect or defective products in small quantities, i.e., traditional supply chains optimize forward flows (c.f. Blanco/ Cottrill 2014; Weetman 2016). The main focus is on profitability maximization and the reverse flows are seen as inconvenient side effect. This is reflected by the SCOR ‘Return’ management process, even if extensions ‘Green Score’ are addressing perfor­ mance measures like ‘waste generated’ or ‘% of recycled waste’ (c.f. SCOR). However, the main idea is to measure the waste and the emission generated by the source, make and deliver processes. The percentage of recycling is of interest for ‘Green Score’ but not the extension of lifetime through maintenance and repair as well as remanufac­ turing, reuse and resell.

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From environmental management, we know that it is not enough to just consider the direct emissions of a (manufacturing) company but from a life-cycle perspective it is important to take the total supply chain emissions into account (c.f. Schaltegger/ Csutora 2012). According to the Greenhouse Gas Protocol not only the direct Scope 1 and electricity related Scope 2 emissions but the whole Scope 3 emissions from all supply chain stages including consumption have to be considered beyond those in the direct and electricity categories (c.f. Green 2010). Consequently, not only manufactur­ ing wastes but also waste resulting from transportation (e.g. damaged products) and storage processes as well as from consumption (expired products) will be considered in circular supply chains. Food waste – an often-overlooked contributor to emissions – is more important than the emissions associated with transportation, which has been the main focus in the past (c.f. Belavina/Girotra/Kabra 2016). This total supply chain perspective of food waste is also considered in “Closing the loop – An EU action plan for the CE” where food waste is one of the five priority areas (c.f. Efficient Consumer Response 2015). Bocken et al. (2016) define three criteria, which should be considered for circu­ lar supply chain strategy, (i) narrowing resource flows (resource-efficiency), (ii) slow­ ing resource flows (product-life extension) and (iii) closing resource flows (circularity). Therefore, it seems interesting to consider the principle of industrial ecology, where manufacturing wastes from direct and indirect materials or finished goods can be used as input in downstream supply chain processes (i.e., re-valorisation of waste), e.g. as food donations or by recycling materials, e.g. waste cooking oil that can be used in biodiesel production (c.f. Sgarbossa/Russo 2017). Here we must differentiate two types of circular/reverse supply chains. In open-loop reverse supply chain materials, fin­ ished goods, and waste are typically recovered by companies (so-called scavengers) other than the original manufacturers in closed-loop reverse supply chain that can reuse these materials and products (c.f. Genovese et al. 2017). A further criticism is that it might be of interest to differentiate two types of materi­ als that are mixed up in conventional supply chains, i.e., biological materials and tech­ nical materials. In accordance with the Ellen MacArthur Foundation, the closed-loop supply chains are fundamentally different (c.f. Figure 1) (c.f. Ellen MacArthur Foun­ dation 2015). On the one hand, this differentiation contributes to understanding cir­ cular economy, on the other hand it seems that it might not be so easy to separate these supply chains complete because actual circular economy business innovations provide interesting additional aspects to be considered. Here, we would like to men­ tion the case of Heinz (food industry- biological materials) and Ford Motor Company (automotive industry – technical materials). Ford Motor Company and Heinz are col­ laborating to use fibers from tomato skin replacement of plastics in cars, i.e., Heinz is therefore able to upcycle its food waste (peel, stem and seed – biological materials) and supports Ford Motor company to reduce the use of technical materials (plastics) (c.f. Ford 2014).

Circular Supply Chain: Combining Supply Chain Strategy and Circular Economy

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Regulations dealing with maintain, reuse, remanufacture, recycling and disposal are an important driver for the transformation of supply chains to circular economy as well. Examples for these initiatives/regulations are the Kyoto-Protocol – UN, the Emission Trading Scheme (ETS) – EU, Restriction of Hazardous Substances (RoHS) – EU, the Dood–Frank-Act – USA, and the Waste Electrical and Electronic Equipment (WEEE) – guideline of the EU (c.f. Jammernegg et al. 2015). Research studies confirm that these regulations are one of the most important factors for successfully transfor­ mation to circular supply chains among others like market factors and technical fac­ tors (c.f. Wakolbinger et al. 2014). However, it seems that there might be some poten­ tial to emphasize maintain and remanufacture and related business models to reduce recycling and finally disposal. Lean Management principles addressed by the Toyota production systems are dealing with waste reduction ‘Muda’ that are of interest for Circular Supply Chains as well. Based on (i) Fisher’s framework (c.f. Fisher 1997), functional versus innovative products as well as efficient versus responsive supply chains, (ii) Lee’s framework (c.f. Lee 2002) about the integration of supply and demand uncertainty, and (iii) Youn, Yang and Jungbae Roh (2012) differentiation compares eco-efficient supply chains (EESC) and eco-responsive supply chains (ERSC) it is easy to justify that green and lean concepts fit well together, in particular Youn, Yang and Jungbae Roh’s conclusion that EESC should mostly work on process innovation and improvement, and ERSC should focus on product innovation, supplier collaboration, and consumer educa­ tion is of high relevance for a transformation to circular supply chains (c.f. Mahdavi/ Olsen 2017). Sustainability reporting initiatives seem to be another interesting issue that con­ tributes to circular economy. Finally, this might lead to the development of Circular Economy reports. Kolk and Mauser (2017) already stated that the sustainability re­ porting initiatives are progressively enhanced at different levels (see Figure 2), e.g., world business council for sustainable development (WSCSD) as well as the global report initiative (GRI). Furthermore, we are facing an increasing number of compa­ nies applying the GRI guidelines year after year (c.f. GRI 2017). This offers the pos­ sibility to study scientifically in a more reliable way the impact of their environmen­ tal operations management orientations. There are two main data sources that are providing these reports, i.e., the GRI database (c.f. GRI 2017) and Corporate Register database (c.f. Corporate Register Ltd.). Established sustainability reporting programs facing some shortcomings. They tend to focus on symbolic actions and communi­ cation efforts and may be decoupled from substantial operations and supply chain improvements (c.f. Gold/Kunz/Reiner 2017). Therefore, the integration of the circular supply chains seems to be necessary to increase the impact of sustainability reporting. Circular supply chains request to engage the customer (consumers and B2B cus­ tomers) to rethink the supply and demand chains, the related processes need to be planned simultaneously and all supply chain partners need incentives to participate in the circular supply chains (c.f. Blanco/Cottrill 2014). These requirements demon­

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strate the importance of innovations (technical & process) as well as new types of contracts for cooperation and collaboration and the training of experts for circularity. Circular supply chain innovations strategies must deal simultaneously with product design, source, make, deliver, and return processes, to create the expected impact. This impact evaluation might require specific performance indicators and measure addressing the triple bottom line (profit, planet and people) dimensions. Indicators and measures are necessary on multiple levels to measure how success­ fully countries and companies are in achieving circular economy goals. This is true for the individual company level but also holds for the national level as it is exemplified by the statement from the European Union: “In order to assess progress towards a more circular economy and the effectiveness of action at EU and national level, it is important to have a set of reliable indicators. On this basis, the Commission will work in close cooperation with the European Environment Agency (EEA) and in consulta­ tion with Member States to propose a simple and effective monitoring framework for the circular economy.” (European Commission 2015). In this respect, it is important to be able to measure the quality of actions for waste reduction in the supply chain and in consumption (c.f. Figure 5). What are relevant performance indicators and measures for waste management in circular SC? Can ex­ isting sustainability reports in companies be extended to ‘Circular SC reports’? Also, the promotion of consumer responsibility towards CE principles is crucial. Can exist­ ing eco-labels be used as basis for ‘Circular SC-labels’? What other labels could be developed to create awareness in the consumer about CE concepts and their respon­ sibility in achieving CE? The extend research framework for circular supply chains (i.e., resource effi­ ciency, waste management and circularity) presented in Figure 5 overcomes the above addressed limitations and integrates the presented requirements to enable circularity and to measure the impact of circular supply chains (circular SC). The main differ­ ences related to state-of-the-art models are – return flows are allowed from all stages and not only from consumer/user stage, – insights from related research fields are considered, e.g., industrial ecology and closed-loop SC management, – identification of key performance indicators and measures to evaluate the impact of circular supply chains based on the triple bottom line dimensions, – development of standards for circular SC reports and circular SC labels, – directions for future circular SC regulations might be derived, e.g., stronger focus on maintain, reuse and remanufacture and related business models, – integration of biological and technical flows to be able to develop innovative in­ terlinked circular SCs, – basis for a circular SC reference model by addressing all relevant supply process and not “only” technical processes, i.e., source, transport, storage, make, deliver, re-valorization and return,

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Re-valorisation of waste

Donations

Suppliers

Transport, Storage

Manufacturing

Transport, Storage

Recyclers: Materials, Goods, Packaging, Transport Items

Omni channel retailer

Circular SC Regulations

Circular SC Innovations & Experts

Circular SC-Reports & Key Performance Indicators

Consumers

“Circular SC-Labels“ Fig. 5: Circular SC: Framework for Resource Efficiency, Waste Management and Circularity.



donations are considered as well which might be of interest for specific circular SC challenges, e.g. donations of eatable food to social supermarkets to reduce food waste.

4 Industry focused CE – Cases Bové and Swartz (2016) stated that, “the typical consumer company’s supply chain creates far greater social and environmental costs than its own operations, accounting for more than 80 percent of greenhouse-gas emissions and more than 90 percent of the impact on air, land, water, biodiversity, and geological resources. [. . . ] Consumer com­ panies can thus reduce those costs significantly by focusing on their supply chains”. Figure 6 illustrates the statement by Bové and Swartz (2016) that most of the envi­ ronmental impact associated with the consumer sector is embedded in supply chains, i.e., more than 80 % of greenhouse-gas emissions in the most relevant consumergoods categories are in supply chains and only around 25 % of consumer companies engage their suppliers to address scope 3 emissions. We will present selected industry examples to illustrate how circularity might be increased by focusing on their supply chains: Considerable reduction of food waste can be achieved by improving packaging (c.f. ECR Austria 2016). Moreover, companies like Danone on their way towards CE by reducing plastic waste from packaging. In the future, they plan to use 100 % biosourced second-generation plastics (c.f. McKinsey 2016). Plastic is also one of the pri­ ority areas of the EU action plan for CE. Therefore, the use of plastic along the life of

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25

50

75

Focusing on 100 supply-chain vs direct impact

Food and beverage

24x

Personal and household goods

19x

Retail

11.5x

Supply-chain impact Direct impact Breakdown of impact by source, % 0

25

50

75

Focusing on Scope 3 vs 100 Scope 1 and 2 emissions

Manufacturing

5.6x

Food

5.1x

Electronics and electrical equipment

5.0x

Textile, apparel, and shoes

4.2x

Scope 1: direct emissions Scope 2: emissions from purchased power Scope 3: embedded emissions Fig. 6: Relevance of Supply Chain Emissions (c.f. Bové/Swartz 2016, based on Carnegie Mellon Uni­ versity; CDP (formerly the Carbon Disclosure Project); GreenBiz; McKinsey Analysis).

a product, not only as a primary component but also in processes such as transporta­ tion and storage is worth investigating on a path to CE. With respect to transportation, also the reverse supply chain operations of returnable transport items, e.g. pallets, are an important element of overall supply chain waste management. An important element in the CE framework is not only waste reduction in general but also the re-valorisation of waste (c.f. Figure 6). In a linear supply chain configu­ ration virgin cooking oil is used to produce biodiesel. Alternatively, in an open-loop reverse supply chain setting parties other than the original producers can reuse re­ covered material (waste cooking oil) to produce secondary resources (biodiesel). A case study shows that in a linear supply chain the resulting CO2 e-emissions are 1.2737 kg per kg of biodiesel produced but the circular supply chain has only 0.7602 kg CO2 e-emissions/kg of biodiesel (c.f. Genovese et al. 2017).

Circular Supply Chain: Combining Supply Chain Strategy and Circular Economy |

81

4.1 Textile and fashion industry Remy, Speelman and Swartz (2016) provide an overview about the actual performance of the fashion industry, (i) fashion industry sales increased significantly over the past years to € 1.5 trillion (c.f. Global Fashion Agenda 2017) because, the industry has used fast design and production systems to cut prices and responsive supply chains to in­ troduce new product lines more often instead of one summer and winter assortment, (ii) since 2000 the worldwide clothing production doubled and the number of gar­ ments sold per person increased by 60 percent. Therefore, the environmental impact is of increasing relevance, i.e., making and laundering clothes requires large quantities of water and chemicals; land consumption and important greenhouse-gas emissions (c.f. Remy/Speelma/Swartz 2016). The companies in the textile and fashion industry understood the issues and started with different initiatives and platforms to tackle the challenges, e.g., the ‘Global Fashion Agenda’. “Global Fashion Agenda is calling on fashion brands and retailers to sign a commitment to take the necessary steps to transition to a circular fashion system. Signatories commit to define a strategy, set targets for 2020 and report on the progress of implementing the commitment” (Global Fashion Agenda 2017). Fashion business companies which have signed the call for action are committed to address the following four actions points (c.f. Global Fashion Agenda 2017): 1. Implementing design strategy for cyclability – an example for a product innova­ tion lab is provided by the CEO of Hugo Boss (c.f. Langer 2017), 2. increasing volume of used garments collected, 3. increasing resale of used garments, 4. increasing use of recycled textile fibres – here technical limitations are of high rel­ evance, i.e., the different opportunities for recycling of natural fibre and synthetic fibre (c.f. Hugo Boss 2017).

4.2 Auto batteries Materials in lead-acid auto batteries are the most recycled product worldwide. Com­ pared to 55 % aluminium cans, 45 % newspapers, 26 % tires and 26 % glass bottles, 99 % of battery lead is recycled (c.f. Johnson Controls Inc. 2017). Johnson Controls, a finalist for the Accenture strategy award for circular economy multinational, uses a circular supply chain to design, make, transport, recover and recycle conventional auto batteries. The sold batteries are made up of 80 % recycled materials (c.f. Lacy et al. 2017, p. 19). The Johnson Controls battery recycling process is named ecosteps® and must coordinate the following supply chain processes. The return process of old batteries coming back from consumers e.g. via auto repair shops. To meet safety requirement standards the batteries are transported in so-called paloxes. Then in a recycling cen­

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tre the old lead-acid batteries are broken apart and lead as well as heavy materials are separated from plastic. Finally, the recycled materials are sent to manufacturing plants to make new batteries. The coordination challenge is to handle the peak sea­ sons (time periods with extreme temperatures) where old batteries fail and new bat­ teries are needed (c.f. Blanco/Cotrill 2014; Johnson Controls Inc. 2017). Due to the high value of the lead included in the batteries, manufacturers and distributors have a high incentive to collect used batteries from car repair shops as indicated by the high recycling percentage. Competitive pressures keep manufacturers from establishing refund systems, despite the value of the used batteries. This means that producers are dependent on the good will of car repair shop owners and that the threat of scavengers collecting these batteries exist. Besiou, Georgiadis and van Wassenhove (2012) explore the impact of scavengers on waste recovery systems and shows possible implications from an economic and environmental perspective.

5 Conclusion and Outlook This chapter addressed the need for supply chains that are the key unit of action with regard to circular economy implementation and success, and will be the foundation for driving needed change (c.f. World Economic Forum 2014). Synergies were explored between the circular economy concept and the field of strategic supply chain manage­ ment. This is in accordance with ‘Closing the loop – An EU action plan for the CE’ (c.f. European Commission 2015). First, the overlaps and similarities of circular economy, Green SC, life cycle think­ ing (assessment) and closed loop supply chain management were discussed to provide a common understanding of circular economy. Second, it is demonstrated how sup­ ply chain strategy and associated tools, theories and insights might contribute to the field of circular economy. Third, the integration of circular economy and supply chain strategy towards a circular supply chain was discussed. Based on this analysis a com­ prehensive framework for resource efficiency, waste management and circularity was derived to facilitate promising future research directions. Finally, we presented ‘exam­ ples’ from practice that highlight how circularity might be increased by focusing on supply chains. A next step could be to blend a circular supply chain with components of a digital supply chain like additive manufacturing (3-D printing) and block chains to explore the possibilities for its performance improvement.

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Gordon Müller-Seitz und Markus Kowalski

Unternehmensnetzwerke 1 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2 4

Problemstellung | 86 Definiendum: Zum vielschichtigen Netzwerkbegriff | 88 Ein- und Abgrenzung des Netzwerkbegriffs | 88 Genese von Unternehmensnetzwerken | 89 Management von Unternehmensnetzwerken | 90 Ausgewählte Herausforderungen | 90 Theoretisch-konzeptionelle Herausforderungen | 90 Empirische Herausforderungen | 95 Fazit | 99 Literatur | 100

Zusammenfassung. Die fortschreitende Globalisierung und der technologische Wan­ del verändern die Grenzen zwischen Organisationen und erfordern zunehmend in­ terorganisationale Kooperationen. Die Anforderungen an die Strukturen und die Steuerung von interorganisationalen Netzwerken unterliegen einer Veränderung, weg von statischen hin zu dynamischen Konzepten. Insofern verkörpern Unterneh­ mensnetzwerke auch eine Anpassung an die angeführten Veränderungen. Angesichts dieser Beobachtungen besteht die Zielsetzung dieses Beitrages darin, mögliche Her­ ausforderungen von Unternehmensnetzwerken im Produktions- und Logistikbereich herauszustellen und die dazugehörigen Merkmale zu analysieren. Dabei wurde ei­ ne Unterteilung in theoretisch-konzeptionelle Probleme sowie empirische Phäno­ mene vorgenommen. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die skizzierten Problembereiche und Phänomene insgesamt einen Trend zur Vernetzung unterstrei­ chen. Trotz der Popularität und der vermeintlichen Vorteile lassen sich jedoch auch Limitationen in Theorie und Praxis konstatieren, zu denen die Logistik- und Produk­ tionsforschung und -praxis Antworten finden sollte.

1 Problemstellung Unternehmensnetzwerke sollen für die vorliegende Abhandlung in Anlehnung an Sy­ dow (1992, S. 79) als drei oder mehr rechtlich unabhängige, wirtschaftlich jedoch zu­ meist zumindest in Teilen voneinander abhängige, komplex-reziprok miteinander ver­ flochtene Organisationen betrachtet werden, die einen Teil ihrer Aktivitäten in Zeit und Raum zur Verfolgung einer oder mehrerer gemeinsamer Zielsetzungen eher kooperativ denn kompetitiv koordinieren. Diese Form interorganisationaler Zusammenarbeit ist für Unternehmen im Produktions- und Logistikbereich betriebswirtschaftlich hoch­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-006

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gradig relevant und gleichsam weit verbreitet. Zu denken wäre beispielsweise an mul­ timodale Logistikkonzepte für Pendler, bei denen Kunden zwischen unterschiedlichen Transportmitteln verschiedener Anbieter beim Zurücklegen ihrer Wegstrecke wech­ seln (z. B. die Nutzung eines Mietwagens sowie eines Bahntickets). Wenngleich Unternehmensnetzwerke für die Produktions- und Logistikbranche kein neuartiges Phänomen darstellen und ein etabliertes Instrumentarium an Maß­ nahmen zur Optimierung von gängigen Herausforderungen existiert (z. B. Methoden zur optimalen Tourenplanung vgl. exemplarisch Corsten/Gössinger 2001), so lassen sich dennoch gegenwärtig Probleme identifizieren, die diese etablierten Konzepte in Theorie und Praxis an ihre Grenzen stoßen lassen. Aus theoretisch-konzeptioneller Sicht sollen die drei folgenden Leitgedanken näher beleuchtet werden: Erstens gilt es, Unternehmensnetzwerke nicht nur als statisch-strukturelle Gebilde zu begreifen. Vielmehr scheint es lohnenswert, Un­ ternehmensnetzwerke auch als eine dynamische Gemengelage zu begreifen und deren Praktiken näher zu betrachten. Unter Praktiken werden – in Anlehnung an den britischen Soziologen Anthony Giddens (1984) – wiederkehrende Aktivitäten so­ zialer Akteure, wie Personen oder Organisationen (vgl. Windeler 2000), in Zeit und Raum verstanden. Eine solche Perspektive steht im Einklang mit derzeit aktuellen organisationstheoretischen Strömungen (vgl. Jarzabkowski/Balogun/Seidl 2007; Jarz­ abkowski 2008; Golsorkhi/Rouleau/Seidl 2010). Zweitens stellt die offene Strategiefin­ dung (vgl. Whittington/Cailluet/Yakis-Douglas 2011; Hautz /Seidl/Whittington 2017) eine weitere theoretisch-konzeptionelle Herausforderung dar. Während Strategie­ findungsprozesse früher eher eine Domäne des Topmanagements darstellten und zumeist im Verborgenen vorangetrieben wurden (vgl. Mantere/Vaara 2008), lassen sich derzeit Beispiele in der Organisationspraxis beobachten, die sich nicht mehr mit Hilfe etablierter Strategiekonzepte fassen lassen. Drittens und eng verbunden mit der vorherigen Beobachtung ist die Öffnung gegenüber sogenannten „Crowds“ (vgl. Afuah/Tucci 2012; Sydow/Schüßler/Müller-Seitz 2016). Crowds sollen dabei als zumeist individuell Beitragende verstanden werden, die mittels eines öffentlichen und üblicherweise über das Internet verbreiteten Aufrufs aufgefordert werden, sich freiwillig an Problemlösungs- oder Suchprozessen einer Organisation zu beteiligen, wie es etwa im Fall von Open Source Software oder bei der Online-Enzyklopädie Wi­ kipedia der Fall ist (vgl. Müller-Seitz/Reger 2009; Lakhani et al. 2013). Dies scheint zunächst fernab klassischer Produktions- und Logistikkonzepte angesiedelt zu sein. Wie zu zeigen sein wird, existiert jedoch eine Reihe an Phänomenen, bei denen die Nutzung solcher „Crowds“ von Belang sein kann. Als gegenwärtige, beziehungsweise zunehmend relevant werdende empirische Phänomene sollen nachstehend die folgenden Herausforderungen näher erörtert wer­ den: Erstens zeichnen sich veränderte Konsum- beziehungsweise Verhaltensmuster in der Logistikbranche auf Kundenseite insofern ab, als beim Pendeln nicht mehr nur auf ein Transportmittel – wie klassisch den Personenkraftwagen – zurückgegriffen wird. Vielmehr lässt sich beobachten, dass Kunden aus unterschiedlichen Motivlagen

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heraus (z. B. finanzielle Gründe oder Umweltbewusstsein) auf eigene Personenkraft­ wagen zur Gänze oder teilweise (z. B. beim „Car Sharing“ oder „Park & Ride“) verzich­ ten. Die daraus resultierende Multimodalität stellt einen Trend dar, der nachhaltige Änderungen vor allem in Logistikkonzepten mit sich bringt. Zweitens spielt die Digita­ lisierung von Produktions- und Logistikkonzepten eine immer größere Rolle. Drittens stellt der 3D-Druck die Produktions- und Logistikbranche vor essentielle Herausforde­ rungen. Hier stellt sich unter anderem die Frage, inwiefern der 3D-Druck die Branche verändert oder gar die interorganisationale Logistik mit Blick auf das Transportwesen in Teilen obsolet werden lässt. Das weitere Vorgehen im Rahmen dieses Beitrages ist wie folgt: Im Anschluss an eine kurze Auseinandersetzung mit dem Begriff der Unternehmensnetzwerke (Ab­ schnitt 2) erfolgt eine Betrachtung der skizzierten Herausforderungen (Abschnitt 3). Dabei werden zunächst die theoretisch-konzeptionellen Limitationen thematisiert (Abschnitt 3.1), bevor anschließend die erwähnten empirischen Phänomene darge­ legt werden (Abschnitt 3.2). Der Beitrag schließt mit einem Fazit (Abschnitt 4).

2 Definiendum: Zum vielschichtigen Netzwerkbegriff 2.1 Ein- und Abgrenzung des Netzwerkbegriffs Interorganisationalen Netzwerken wird in der Managementlehre und -praxis zu­ nehmend eine strategische Bedeutung zugewiesen (vgl. Sydow/Schüßler/MüllerSeitz 2016). Erste Beiträge zum Management von Netzwerken lieferten bereits Moreno (1934), Jennings (1938), Forsyth/Katz (1946) oder auch Richardson (1972) in der Mit­ te des 20. Jahrhunderts. Netzwerke sind dabei immer wieder auf dasselbe zugrunde liegende Phänomen zurückzuführen, wonach mindestens drei voneinander recht­ lich unabhängige Akteure über Beziehungen miteinander verbunden sind. Die dabei vorgenommenen Aktivitäten in Zeit und Raum dienen der Verfolgung einer oder meh­ rerer gemeinsamer Zielsetzungen und sind zumeist eher kooperativ denn kompetitiv koordiniert (vgl. Windeler 2000; Sydow/Schüßler/Müller-Seitz 2016). In Bezug zu Unternehmensnetzwerken lassen sich zunächst zwei Analyseebe­ nen unterscheiden: die der intraorganisationalen Netzwerke als rein unternehmens­ interne Vernetzung (vgl. Tsai 2001; Powell/White/Koput 2005) und die der interor­ ganisationalen Beziehungen zur Vernetzung von Unternehmen über organisationale Grenzen hinweg (vgl. Gulati 1998; Provan/Fish/Sydow 2007). Im Nachfolgenden wird verstärkt auf die Ebene der interorganisationalen Beziehungen eingegangen. Inter­ organisationale Unternehmensnetzwerke sind im Produktions- und Logistikbereich betriebswirtschaftlich hochgradig theoretisch relevant und zugleich empirisch weit verbreitet (vgl. Borys/Jemison 1989; Koka/Prescott 2008). Der Grund für eine koordi­ nierte Zusammenarbeit von Unternehmen in Netzwerken liegt dabei in der Forderung

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nach besserer Qualität, schnelleren Produktions- und Lieferzeiten, geringeren Kosten und dem Umgang mit kürzer werdenden Innovationszyklen. Zielsetzung dabei ist es, zum einen die individuelle Wettbewerbsposition zu verbessern und zum anderen eine gemeinsame Effizienzsteigerung im Netzwerk erreichen zu können (vgl. Provan/Fish/ Sydow 2007; Gulati/Nickerson 2008). Hierarchie und Markt wurden nach Coase (1937) lange Zeit als die dominierenden Koordinationsmechanismen betrachtet. Erst durch weitere Forschungsbeiträge zur Koordination wie beispielsweise zu Co-operations (vgl. Richardson 1972) oder auch Collectives (vgl. Butler 1983) wurde die Bedeutung einer intermediären Struktur­ form deutlich. Charakteristisch für Unternehmensnetzwerke sind dabei kooperative Strukturen, Flexibilität sowie die hohe Einsatzbereitschaft der Netzwerkakteure (vgl. Jarillo/Ricart 1987; Siebert 2003). Folglich werden in Unternehmensnetzwerken wett­ bewerbliche (Forderung nach Effizienz oder das Streben nach Spezialisierung) und unternehmerische/kooperative (z. B. Austausch von Informationen oder der Aufbau von Vertrauen) Eigenschaften miteinander verbunden (vgl. Miles/Snow 1986).

2.2 Genese von Unternehmensnetzwerken Die fortschreitende Globalisierung und der technologische Wandel verändern die Grenzen zwischen Organisationen und deren Umwelt, so dass das Management von Netzwerken nicht nur eine strategische, sondern auch eine operative Aufgabe darstellt. Die Anforderungen an die Strukturen und die Steuerung von Netzwerken unterliegen einem Wandel, weg von den statischen hin zu flexibel-dynamischen Kon­ zepten. Interorganisationale Netzwerke bieten ein hohes Maß an Flexibilität und stellen insofern einen Gegenentwurf zur vertikalen und horizontalen Integration dar (vgl. Williamson 1991; Sydow 1992). Unternehmensnetzwerke sind dabei als eine Form der Anpassung an die öko­ nomischen Veränderungen zu verstehen (vgl. Williamson 1985). Im Zuge der Verän­ derungen im Wettbewerbsumfeld und der gesellschaftlichen Anforderungen bilden Unternehmen vermehrt multilaterale Netzwerke, um Herausforderungen, wie etwa der Reduktion von Risiken (vgl. Sydow/Müller-Seitz/Provan), Rechnung tragen zu können. Die dabei rechtlich voneinander unabhängigen, aber wirtschaftlich jedoch zumeist zumindest in Teilen miteinander verflochtenen Organisationen versuchen somit, eine effiziente Informations- und Produktionsstruktur zu schaffen (vgl. Sie­ bert 2003). Dabei besteht das Ziel des Kollektivs darin, durch einen Austausch im Netz­ werk die Kosten zu senken und die Flexibilität steigern zu können. Unternehmens­ netzwerke sollen zudem den Innovations- und Qualitätswettbewerb fördern, indem Unternehmensgrenzen geöffnet und folglich gemeinsam an Ideen und Lösungen gear­ beitet werden kann (vgl. Provan/Fish/Sydow 2007; Koka/Prescott 2008). Powell führte dahingehend bereits 1987 an, dass hybride Strukturen notwendig werden um den Her­ ausforderungen des Wettbewerbes adäquat begegnen zu können (vgl. Powell 1987).

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2.3 Management von Unternehmensnetzwerken Die Koordination von und in Netzwerken unterscheidet sich von marktlicher oder hier­ archischer Koordination aufgrund der intermediären Positionierung. Unternehmens­ netzwerke bedienen sich dabei sowohl der Steuerungsmechanismen des Marktes (z. B. hinsichtlich mittel- bis langfristiger Preisfestsetzung) als auch der Hierarchie (z. B. im Zuge der abgestimmten Koordination von Aktivitäten durch einen zentralen Akteur). Dahingehend zeichnen sich Unternehmensnetzwerke meist durch langfristig angeleg­ te Übereinkommen und eine über die Jahre gewachsene Struktur aus (vgl. Borgatti/ Halgin 2011). Aufgrund der zumeist bestehenden Heterogenität der Unternehmen im Netzwerk erfolgt die Steuerung des gesamten Netzwerkes oftmals über ein im Unter­ nehmensnetzwerk aktives Mitglied. Gründe für die Auswahl des steuernden Unter­ nehmens sind dabei beispielsweise die Wertschöpfungskraft (fokales Unternehmen) oder auch die Reputation des Unternehmens im Vergleich zu den anderen Akteuren im Netzwerk (vgl. Miles/Snow 1986; Provan/Fish/Sydow 2007). Das Management von Unternehmensnetzwerken verläuft dabei stets zielorien­ tiert, wenngleich eine Steuerung durch Anweisungen nicht möglich ist. Daher werden andere Steuerungsmechanismen benötigt. Dies lässt sich damit begründen, dass die voneinander rechtlich unabhängigen Akteure koordiniert werden müssen, so dass sie nicht den mitgliederspezifischen Zielen zuwiderlaufen und zugleich das übergeord­ nete Gesamtziel des Unternehmensnetzwerkes erreicht wird.

3 Ausgewählte Herausforderungen 3.1 Theoretisch-konzeptionelle Herausforderungen Hinsichtlich der theoretisch-konzeptionellen Herausforderungen greifen wir zu­ nächst auf eine Beobachtung zurück, die sich für die theoretische Betrachtung von Netzwerken ganz allgemein konstatieren lässt, dass der Fokus auf der Steuerung von Netzwerken liegt. Was noch fehlt ist eine detaillierte Auseinandersetzung da­ mit, wie tatsächlich Kooperation und Koordination in Netzwerken über die formelle Netzwerksteuerung („Governance“) hinaus praktisch stattfinden. Vor diesem Hinter­ grund erfolgt eine Verschiebung des Fokus von einer Netzwerk-Governance hin zu einer an Praktiken orientierten Perspektive (Abschnitt 3.1.1). Eine aktuelle Strömung der Netzwerkforschung befasst sich mit der Frage, wie möglichst inklusiv, das heißt unter Beteiligung möglichst aller relevanten Akteure, Strategien entworfen werden können. Dieser Strömung soll vor dem Hintergrund des Themenfokus auf Unter­ nehmensnetzwerke unter dem Schlagwort der offenen Strategiefindung nachgespürt werden (Abschnitt 3.1.2). Eng verbunden mit der vorherigen Beobachtung ist der Ein­ bezug von externen Individuen mittels eines offenen Aufrufs zum Handeln, was in

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der Literatur mittlerweile unter dem Begriff des „Crowdsourcing“ thematisiert wird. Diesem Phänomen widmet sich der Beitrag im Anschluss (Abschnitt 3.1.3).

3.1.1 Von Netzwerk-Governance zu Netzwerk-Praktiken Wenn Unternehmensnetzwerke zur Disposition stehen, dominieren präskriptive An­ sätze mit zumeist strukturellem beziehungsweise vertraglichem Fokus (vgl. Sydow/ Schüssler/Müller-Seitz 2016). Diese Tendenz, formelle Aspekte zu berücksichtigen, wird vielfach auch durch methodische Ansätze, wie etwa strukturelle Netzwerkana­ lysen (vgl. Wasserman/Faust 1994), untermauert. Selten stehen sowohl formelle als auch informelle Aspekte im Mittelpunkt (zu einer Ausnahme vgl. Berends/van Burg/van Raaj 2011). Das Streben nach einer optimalen Steuerungsform („Gover­ nance“) wird dabei als Möglichkeit verstanden, die Aktivitäten der Netzwerkpartner bestmöglich aufeinander abzustimmen. Wenngleich Governance-Ansätze zu einem wesentlich besseren Verständnis von Unternehmensnetzwerken beigetragen haben, liefern sie nur wenig Aufschluss dar­ über, wie Akteure in Unternehmensnetzwerken tatsächlich miteinander in praxi in­ teragieren. Hier kann die mittlerweile prominente Forschungsströmung „Strategy-asPractice“ (vgl. Jarzabkowski/Spee 2009; Vaara/Whittington 2012; Nicolini 2013) einen wesentlichen Mehrwert liefern. Bei der Betrachtung von radikalem Wandel oder dem Umgang mit Unsicherheiten etwa, liefern an Praktiken orientierte Ansätze bessere Er­ kenntnisse (vgl. Sydow/Müller-Seitz/Provan). Müller-Seitz und Sydow (2012) verdeutlichen dies etwa anhand ihres strukturati­ onstheoretisch (vgl. Giddens 1984) informierten Beitrags. Der Beitrag betrachtet, wie informelle interorganisationale Führung in heterarchischen Netzwerken ausgeübt werden kann. Die Autoren heben sich dabei von den am Rational-Choice-Kalkül ori­ entierten, strukturellen Ansätzen der Netzwerkforschung ab und zeigen am Beispiel der Halbleiterunternehmung Intel auf, wie Intel zum Zeitpunkt der Untersuchung in der Lage war, informell Führerschaft in einem heterarchischen Netzwerk im Wechsel­ spiel mit Aktivitäten in einem hierarchischen Netzwerk auszuüben (vgl. auch MüllerSeitz 2012). Eine solche Ausleuchtung des Geschehens ist möglich, weil die Struktura­ tionstheorie von Giddens auf Praktiken, verstanden als wiederkehrende, relativ stabi­ le Aktivitäten von sozialen Akteuren in Zeit und Raum, abstellt. Eine denkbare Praktik stellt beispielsweise das interorganisationale Roadmapping durch die International Technology Roadmap for Semiconductors dar. Dabei ist eine solche Praktikenper­ spektive insbesondere auch sensibel für die Art und Weise, wie kognitive, normative und machtbezogene Facetten von Praktiken sich auswirken und durch das alltägliche Handeln rekursiv (re-)produziert werden sowie durch strukturelle Rahmenbedingun­ gen ermöglicht und gleichzeitig auch eingeschränkt werden. So ist die Strukturations­ theorie in der Lage, auch theoretisch-konzeptionelle Spannungen und Widersprüche mit einzufangen, was bei strukturellen Ansätzen nur bedingt der Fall ist.

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3.1.2 Offene Strategiefindung Der Begriff der offenen Strategiefindung lehnt sich an das Gedankengut offener Inno­ vationsprozesse von Chesbrough (vgl. Chesbrough 2003; Chesbrough/Appleyard 2007; Appleyard/Chesbrough 2017) an (vgl. auch kritisch die Auseinandersetzung bei Cors­ ten et al. 2016 sowie Whittington/Cailluet/Yakis-Douglas 2011). Hierunter wird der Prozess verstanden, externe Ideen und außerhalb der Organisation befindliches Wis­ sen mit in den Strategiefindungsprozess einzubeziehen. In Anspielung auf die Debatte zu offenen Innovationen lässt sich grundsätzlich festhalten, dass Strategiefindungsprozesse bis dato vorwiegend organisationsintern abgelaufen sind. Dies lässt sich damit begründen, dass Vorbehalte bezüglich der Of­ fenlegung von Strategiefindungsprozessen in und von Organisationen – ähnlich wie beim Hervorbringen von Innovationen analog zur Chesbroughschen Idee geschlos­ sener Innovationsprozesse – existieren, da so strategische Wettbewerbsvorsprünge vermeintlich verloren gehen könnten. Als Folge hiervon schwebt vielfach gerade­ zu ein mythischer Nimbus um den Strategiefindungsprozess herum (vgl. Mantere/ Vaara 2008; vgl. hier und im Folgenden auch Dobusch/Müller-Seitz 2012). Johnson und Kollegen (2010) unterstreichen ferner, dass häufig auch eine räumliche Abson­ derung vom alltäglichen Organisationskontext zu beobachten ist. Dies kann sich beispielsweise in Form sogenannter „Retreats“ oder „Strategieworkshops“ mani­ festieren, die in entlegenen Örtlichkeiten (z. B. einem Kloster) angesiedelt sind und die Teilnehmenden konspirativ und teilweise sogar auch spirituell auf den Strate­ giefindungsprozess einstimmen sollen. Des Weiteren tragen Spezialistenwissen und -sprachspiele dazu bei, den Mystifizierungscharakter von Strategiefindungsprozessen weiter zu befeuern (vgl. Mantere/Vaara 2008). Lorente-Vicente (2001) betont diesen Aspekt und geht so weit, dass er behauptet, Strategiefindung müsse derartig mysti­ fiziert und verschleiert ablaufen, was durch beschränkten Zugang zu Strategiework­ shops für privilegierte Akteure untermauert wird (vgl. auch Mantere/Vaara 2008; Whittington/Cailluet/Yakis-Douglas 2011). Im Gegensatz dazu und in Analogie zu offenen Innovationsprozessen wird offe­ ne Strategiefindung nunmehr als deutlich inklusiverer Prozess begriffen (vgl. Ches­ brough 2003, Dahlander/Gann 2010). Dabei impliziert offene Strategiefindung auch – zumindest meist implizit aus Sicht der Autorinnen und Autoren – in normativer Form, dass so ein höherer Wertbeitrag für die Organisation erzielt werden kann. Eine eng damit verbundene Vorstellung ist die Möglichkeit, durch offene Strategiefindungs­ prozesse neue Geschäftsmodelle zu generieren (vgl. Chesbrough/Appleyard 2007; Whittington/Cailluet/Yakis-Douglas). Heutzutage gängige Akteure offener Strategiefindung sind Unternehmensbera­ tungen (vgl. Løwendahl 1997; Molloy/Whittington 2005; Hodgkinson et al. 2006, Nord­ qvist/Melin 2008). Dies gilt insbesondere für die Strategy-as-Practice-Forschungs­ richtung (vgl. Vaara/Whittington 2012). Jüngst wurde der Fokus der offenen Strategie­ forschung jedoch ausgeweitet, wie es das Sonderheft von Hautz und Kollegen (2017) dokumentiert.

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Konkret bezogen auf Unternehmensnetzwerke bedeutet dies nunmehr, dass of­ fene Strategiefindung impliziert, dass eine kollektive Strategiefindung (vgl. Dollin­ ger 1990) stattfindet, bei der ehemals getrennte Wissensbestände möglichst syner­ getisch miteinander verknüpft werden (vgl. Chesbrough/Appleyard 2007; Appleyard/ Chesbrough 2017). Ein denkbares Beispiel hierfür wäre der Austausch hinsichtlich der Entwicklung des Kartendienstes Here durch Daimler, BMW, Audi und Intel. Jede Un­ ternehmung verfolgt dabei ihre eigenen Ansprüche und Zielsetzungen, wobei jedoch die systematische Weiterentwicklung des softwarebasierten Kartendienstes im Mittel­ punkt steht und die digitale Transformation der Netzwerkpartner weiter vorantreiben soll. Whittington und Kollegen (2011) unterstellen in diesem Zusammenhang, dass offene Strategiefindung sich anhand des „Strategielokus“ (intern vs. extern) sowie anhand der Merkmale Inklusionsgrad und Transparenz charakterisieren lässt (zur Inklusion vgl. auch Mantere/Vaara 2008; Dobusch/Müller-Seitz 2012). Daher können offene Strategiefindungsprozesse als kritischer Bestandteil neuer Formen der (inter-) personellen und -organisationalen Vernetzung verstanden werden. Offene Strategie­ findung kann also metaphorisch als eine Art Hebel begriffen werden, mittels dessen ehemals vom Strategiefindungsprozess ausgeschlossene, organisationsinterne und -externe Akteure mit in die Strategiefindung einbezogen werden können. Ein möglicher Vorteil offener Strategiefindungsprozesse könnte die Erhöhung von Legitimation und Reputation für das eigene Verhalten sein. Diese Vermutung ließe sich damit begründen, dass hierdurch dem in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu konstatierenden Bestreben nach mehr Offenheit Rechnung getragen wird. Zur Illus­ tration sei an dieser Stelle auf die Bestrebungen verwiesen, das Verwaltungs- und Re­ gierungshandeln offener auszugestalten (vgl. Janssen/Charalabidis/Zuiderwijk 2012; Mergel/Desouza 2013), wie es der ehemalige U.S.-Präsident Barack Obama unter dem Schlagwort „Open Government“ in die Diskussion eingebracht hat. Auch die Idee, wis­ senschaftliche Erkenntnisse einem breiteren Publikum zugänglich zu machen („Open Science“; David 1998; Molloy 2011) fügt sich in diesen Trend ein. Mit Blick auf offene Innovationsprozesse existiert zudem eine Reihe von Studien, die Legitimations- und Reputationsvorteile für Akteure nahelegen (vgl. Alexy/George 2013; ähnlich für offe­ ne Strategieprozesse die Diskussion bei Dobusch/Müller-Seitz 2012 und Luedicke et al. 2017; zu einem Überblick vgl. Alexy/George/Salter 2013). Allerdings stößt ein sol­ ches Vorgehen oftmals an Grenzen. So zeigen etwa Garud und Kollegen (2002) auf, wie die Unterstützung von Sun Microsystems für einen Java-Plattformstandard Schwierig­ keiten erzeugte (vgl. ähnlich kritisch hinsichtlich Wikipedia Kozica et al. 2015).

3.1.3 Öffnung gegenüber „Crowds“? Eine sehr extreme Form offener Strategiefindungsprozesse stellt der offene Austausch mit Individuen dar (vgl. hier und im Folgenden auch Dobusch/Müller-Seitz 2012). Da­ bei kann die Strategiefindung organisationsintern stattfinden (vgl. hierzu die Crowd­

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sourcing-ähnliche Betrachtung über sogenannte Strategy Jams wie bei IBM; vgl. Whit­ tington/Cailluet/Yakis-Douglas) oder organisationsextern (z. B. mittels eines globalen Aufrufs, sich an der Strategiefindung zu beteiligen; vgl. Luedicke et al. 2017; Malho­ tra/Majchrzak/Niemiec 2017). In diesem Zusammenhang wird im vorliegenden Fall der Begriff „Crowds“ verwandt, um dieses Phänomen zu adressieren. Unter Rekurs auf Afuah und Tucci (2012) lässt sich die Auslagerung von Arbeits­ aufgaben (hier: die Strategiefindung) als Crowdsourcing bezeichnen, ein Neologismus der Wörter „Crowd“ (abzielend auf eine beliebig hohe Anzahl individueller Freiwil­ liger) und „Sourcing“ (englisch für „Auslagerung“ ähnlich wie im Falle des mittler­ weile gebräuchlichen Terminus Outsourcing). Dabei definieren die Autoren Crowd­ sourcing als „the act of outsourcing a task to a ‚crowd‘, rather than to a designated ‚agent‘ (an organization, informal or formal team, or individual), such as a contractor, in the form of an open call“ (Afuah/Tucci 2012, S. 355). Verwandte Phänomene werden auch unter den Begriffen „Organized Publics“ (vgl. Blau/Scott 1962) oder „Commu­ nities“ (vgl. West/Lakhani 2008) analysiert. Auch die Forschung zum Crowdsourcing ist durch die Debatte um offene Innovationsprozesse inspiriert, insbesondere durch die Auseinandersetzung mit Open Source Software (vgl. Osterloh/Rota 2007; MüllerSeitz/Reger 2009; Müller-Seitz/Reger 2010; Faraj/Jarvenpaa/Majchrzak 2011). Dobusch und Müller-Seitz (2012) untersuchen den einjährigen Strategiefindungs­ prozess von Wikimedia, der Betreiberorganisation von unter anderem Wikipedia. Die Autoren zeigen auf, wie die Wikimedia-Führungskräfte um eine möglichst radikale Of­ fenheit bemüht waren und im Einklang mit dem Anliegen von Wikipedia, der frei ein­ sehbaren und weitestgehend frei modifizierbaren Online-Enzyklopädie, ein radikales Crowdsourcing für die Strategiefindung anstrebten. Im Laufe des Strategiefindungs­ prozesses zeigte sich jedoch, dass diese Offenheit an Grenzen stößt, mithin gen Ende des Strategiefindungsprozesses letztlich die Entscheidungshoheit in Teilen wieder bei der Organisationsleitung lag. Insofern stehen diese Erkenntnisse im Einklang mit den Annahmen von Whittington und Kollegen, die mutmaßen: „very few organizations are likely to be even close to perfectly inclusive or transparent“. Außerdem verweisen Whittington et al. (2011, S. 53 f.) darauf, dass ein hohes Maß an offener Strategiefin­ dung keineswegs mit tatsächlich demokratischer Entscheidungsfindung verbunden sein muss, wenngleich das Topmanagement durch Inklusion und Transparenz ten­ denziell dahingehend gedrängt wird. Mit Blick auf die Logistikbranche lässt sich hier „BART“ (Bay Area Rapid Transit) als Beispiel anführen. Bei BART handelt es sich um das 1972 gegründete und in Oak­ land/Kalifornien ansässige öffentliche Verkehrssystemunternehmen der U.S.-ame­ rikanischen Stadt San Francisco. Das Unternehmen engagierte sich im Bereich des Crowdsourcing, indem es als eine der ersten öffentlichen Einrichtungen in den U.S.A. die Software-basierten Fahrplandaten für Entwickler frei zugänglich gemacht hat. Heute arbeiten über 100 sich mehrmals wöchentlich beteiligende Entwickler freiwil­ lig an der Aktualisierung und Verbesserung des Fahrplans für die Kundschaft. Im Zuge der Verbreitung von internetfähigen Mobilfunkgeräten hat sich der Schwerpunkt der Aktivitäten mittlerweile auf die Weiterentwicklung von Apps verlegt.

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3.2 Empirische Herausforderungen In Bezug auf die empirischen Herausforderungen für Unternehmensnetzwerke skiz­ zieren wir exemplarisch drei Phänomene, die das veränderte Konsum- und Verhal­ tensmuster im Produktions- und Logistikbereich widerspiegeln. Es soll nicht die kom­ plette Bandbreite empirischer Phänomene dargestellt werden, sondern anhand dieser ausgewählten Beispiele illustrative Herausforderungen und potentielle Lösungsstra­ tegien aufgezeigt werden. Vor diesem Hintergrund erfolgt zunächst eine nähere Be­ trachtung der Multimodalität in der Logistikbranche. Dieser zu beobachtende Trend zur Nutzung verschiedener Verkehrsmittel verdeutlicht ein verändertes Konsum- und Verhaltensmuster auf Kundenseite innerhalb der Logistikbranche (Abschnitt 3.2.1). Zudem spielt die Digitalisierung von Produktions- und Logistikkonzepten eine immer größere Rolle, so dass diesem empirischen Phänomen und der Frage wie Unterneh­ mensnetzwerke darauf reagieren können, anhand so genannter „Smart Factories“ nachgegangen wird (Abschnitt 3.2.2). Eng verbunden mit den vorherigen Ausführun­ gen sind die aus der 3D-Druck-Technologie resultierenden Fragestellungen für die Produktions- und Logistikbranche, inwiefern der 3D-Druck die Branche nachhaltig verändert oder gar in Teilen obsolet werden lässt. Diesem empirischen Phänomen wird im abschließenden Beitrag nachgegangen (Abschnitt 3.2.3).

3.2.1 Multimodalität „Temporär besitzen und geteilt nutzen statt dauerhaft exklusiv aneignen“ (Riegler et al. 2016) – dieser Grundsatz spiegelt vermehrt die derzeitige Haltung der Gesell­ schaft wider. Dahingehend zeichnet sich eine Änderung im Konsum- und Verhaltens­ muster in der Logistikbranche ab, so dass Kunden nicht mehr nur auf ihren eigenen Personenkraftwagen als Transportmittel zurückgreifen, sondern vermehrt zu einer geteilten Nutzung übergehen (vgl. Hunecke et al. 2007; Shaheen 2013). Als Leitmotiv für diesen Wandel dient das Schlagwort „Sharing Economy“, die den Wandel hin zu geteilten Ressourcen versinnbildlichen soll. Diese begünstigt neuartige Mobili­ täts- und Logistikkonzepte wie das „Car Sharing“. Die sich daraus ableitende Multi­ modalität stellt einen gesellschaftlichen und weltweiten Trend dar, der nachhaltige Änderungen insbesondere in den Logistikkonzepten mit sich bringt. Multimodalität bezeichnet dabei die Möglichkeit für einen Konsumenten, verschiedene Verkehrsmit­ tel zu verwenden. Ergänzt wird dieses Verhalten durch die Intermodalität, so dass zusätzlich auch zwischen unterschiedlichen Verkehrsmitteln (Bahn, Personenkraft­ wagen, Fahrrad) auf einer Wegstrecke gewechselt werden kann (vgl. Hamari/Sjöklint/ Ukkonen 2015). Die Motivlagen für einen teilweisen oder gänzlichen Verzicht, beispielsweise auf den eigenen Personenkraftwagen, sind vielfältig. Anhänger dieser gesellschaftlichen Bewegung wollen dazu beitragen, Ressourcen und somit die Umwelt zu schonen und

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gleichzeitig finanzielle Einsparungen zu erzielen, ohne dabei auf den gewohnten Komfort verzichten zu müssen. Um diese Motive einordnen und das Potential der Multimodalität abschätzen zu können, sind verschiedene Nutzungsformen zu unter­ scheiden (vgl. Hamari/Sjöklint/Ukkonen 2015; Riegler et al. 2016). Nach Friedlmeier (2006) ist „Teilen“ als eine freiwillige, prosoziale Handlung“ zu verstehen, wenn diese dem Wohl anderer Menschen dient. Die Ursachen für diese prosoziale Handlung sind vielschichtig. Soziale Norm- und Moralvorstellungen und Empathie können das Ver­ halten ebenso prägen wie eine utilitaristische Verhaltensweise, die auf den eigenen persönlichen Vorteil in der Zukunft abzielt (vgl. Reykowski 1982; Friedlmeier 2006). Demgegenüber steht das „Teilen als Nutzungsstrategie“, so dass dabei eine Auftei­ lung des Nutzens auf mehrere Akteure erfolgt. Charakteristisch für diese Strategie ist das Abwägen von Kosten und Nutzen (vgl. Belk 2009). Zukünftige Logistikkonzepte müssen somit dem veränderten Konsum- und Ver­ haltensmuster auf Kundenseite Rechnung tragen, wobei zwei zentrale Aspekte sowohl Treiber als auch Hemmnis zugleich sein können. Erstens, politische und stadtplaneri­ sche Entscheidungen können maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklungen ausüben und sowohl Restriktionen als auch Anreize für zukünftige Logistikkonzepte bieten. Zweitens, kann die Bedeutsamkeit von eigentumsbasiertem Konsum in der Gesell­ schaft und wie Unternehmen auf diese veränderten Verhaltensmuster von Nutzer re­ agieren richtungsweisend für die Entwicklung multimodaler Logistikkonzepte wer­ den (vgl. Riegler et al. 2016). Dem Nutzer muss ein Mehrwert geboten werden, ohne dass dieser auf den gewohnten Komfort verzichten muss. Nebst den bereits festzu­ stellenden Änderungen der Verhaltensmuster in der Logistikbranche auf Kundenseite werden zukünftig auch im Bereich des Güterverkehrs multimodale Logistikkonzepte notwendig sein, um die globalen Handelsströme bedienen zu können, weshalb Un­ ternehmensnetzwerke diesem Trend der Multimodalität rechtzeitig begegnen sollten.

3.2.2 Smart Factories Das Phänomen der Industrie 4.0 umfasst die Digitalisierung von Arbeitsprozessen, eine intra- und interorganisationale Vernetzung und Modularisierung von Maschi­ nen und bildet eine neue Art der Produktion (vgl. Kagermann/Wahlster/Helbig 2013). Die Digitalisierung von Produktions- und Logistikkonzepten spielt eine immer grö­ ßer werdende Rolle. Phänomene, die unter dem Begriff der Cyber-Physical Produc­ tion Systems (CPPS) thematisiert werden, ermöglichen einen eigenständigen und in­ telligenten Informationsaustausch zwischen Maschinen, so dass Handlungsabfolgen ohne das Eingreifen eines Menschen ausgeführt werden können (vgl. Kagermann/ Wahlster/Helbig 2013; Weyer et al 2015). Diese „Fabriken der Zukunft“, die auch als „Smart Factories“ bezeichnet werden, weisen eine in Teilen neuartige Produktions­ logik auf. Auf Grund der digitalen Vernetzung sind Produkte in einer Smart Factory jederzeit eindeutig zu lokalisieren und zu identifizieren. Die Digitalisierung ermög­

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licht es zudem, die Historie des Produktes über den kompletten Produktlebenszyklus nachzuvollziehen und die weitere Produktionsabfolge zu planen. Zwar bietet die Smart Factory die Möglichkeit einer Produktionssteuerung in Echtzeit, jedoch sind damit auch vielfältige Herausforderungen verbunden. Die kom­ plexen Arbeitsabläufe erfordern neuartige kognitive Fähigkeiten bei den Akteuren, autonome und dezentrale Steuerungsformen und ein kooperatives Arbeitsumfeld, das ein hohes Maß an Fehlertoleranz und Vertrauen aufweisen muss. Anhand der Tech­ nologie-Initiative SmartFactoryKL e. V. (SmartFactoryKL ) wird exemplarisch dargelegt, wie Unternehmensnetzwerke auf diese Herausforderungen reagieren. Die im Jahr 2005 gegründete SmartFactoryKL bildet eine der weltweit ersten her­ stellerunabhängigen Demonstrations- und Forschungsplattformen mit dem Ziel, eine digital vernetzte Fabrik zu gestalten. Im Zuge der Innovationsplattform kooperieren derzeit mehr als 40 Partner aus Industrie und Forschung. Multinational tätige Groß­ unternehmungen, wie beispielsweise CISCO, IBM oder Siemens, und Unternehmen aus dem Mittelstand, wie etwa Arend Automation oder proALPHA, komplettieren das Netzwerk. Die Netzwerkpartner versuchen dabei gemeinsam Innovationen aus diver­ sen Technologiefeldern unter realistischen Bedingungen in einer Art Labor zu testen und anschließend Modifizierungen vorzunehmen, um somit neueste Technologien in innovative Fabrikkonzepte zu implementieren. Empirische Ergebnisse zeigen, dass die SmartFactoryKL bereits vielfältige Koope­ rationsaktivitäten vorweisen kann. Die Innovationsplattform bietet unter anderem die Möglichkeit, sich interorganisational zu vernetzen, sich über bisweilen hete­ rogene Produktionsanlagen und -prozesse auszutauschen und unternehmensüber­ greifende Standards festzulegen und zu testen, um so Produktions- und Logistik­ konzepte bereits heute an die Herausforderungen der Industrie 4.0 bedarfsgerecht anzupassen (vgl. z. B. Zühlke 2010). Großes Potential bietet dabei die Gestaltung und Realisierung einer modularen und herstellerübergreifenden Produktionsanlage. In­ teroperabilität muss dabei sowohl innerhalb der Prozessabläufe als auch im Zuge der Benutzerschnittstellen stets gewährleistet werden, damit die Komplexität der Struk­ tur weiterhin beherrschbar bleibt. Erfahrungswerte und Best-Practice-Anwendungen der SmartFactoryKL dienen dabei der methodischen Weiterentwicklung von Indus­ trie 4.0-Konzepten und folglich der Implementierung von zukünftigen intelligenten Fabriken. Im Zuge der Flexibilisierung und notwendigen Wandlungsfähigkeit von Sys­ temen können Produktions- und Logistikkonzepte durch eine Smart Factory besser aufeinander abgestimmt werden und bedarfsgerechte Geschäftsmodelle entwickelt werden (vgl. Ohmer et al. 2014; Weyer et al. 2015). Natürlich bietet die SmartFactoryKL nur erste Anregungen sich diesem Phänomen anzunehmen, die betriebswirtschaftli­ che Relevanz und Verbreitung der Industrie 4.0-Thematik lässt jedoch eine Auseinan­ dersetzung mit diesem Themenkomplex als sehr dringlich erscheinen.

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3.2.3 Additive Fertigungstechniken („3D-Druck“) – das Ende der Logistik? Additive Fertigungstechnologien, umgangssprachlich auch „3D-Druck“ genannt, hal­ ten Einzug in immer mehr Bereiche und prägen folglich den Industriealltag (vgl. Ray­ na/Striukova 2016). Die dahinter stehende Technologie beruht auf Computer-Aided Design (CAD)-Daten, die ein Objekt schichtweise in dreidimensionaler Ausprägung entstehen lassen. Petrick und Simpson (2013) bezeichnen die additive Verfahrens­ weise auch als disruptive Technologie, die einen fundamentalen Einfluss auf Produk­ tionsprozesse (vgl. Mellor/Hao/Zhang 2014), die Logistik und das Supply Chain Ma­ nagement (vgl. Bogers/Hadar/Bilberg 2016) sowie das Konsumentenverhalten (vgl. Berman 2012) nach sich ziehen dürfte. Konventionelle Produktionsprozesse werden durch diese disruptive Technologie abgelöst, neue Geschäftsmodelle entstehen und darüber hinaus bietet der 3D-Druck ein großes Potential beispielsweise für eine Neu­ gestaltung von Produkten und Lieferketten (vgl. Jiang/Kleer/Piller 2017). Charakteristisch für die additive Fertigungstechnologie sind zwei grundlegende Prinzipien. Zum einen gilt das „Prinzip der Komplexitätsfreiheit“. Mussten bei her­ kömmlichen Fertigungsprozessen die Konstruktionen noch fertigungsadäquat ausge­ staltet werden, so kann bei einer additiven Fertigungstechnologie jedes erdenkliche Objekt ohne großen Mehraufwand hergestellt werden. Ausgehend von digital verfüg­ baren Datensätzen, bestehen hohe Freiheitsgrade in der Ausgestaltung eines Objekts. Aufgrund dieser Freiheiten im Komplexitätsgrad können sämtliche Produkte und Ver­ fahren substituiert werden (vgl. Gibson/Rosen/Stucker 2010). Wissens- und Techno­ logievorsprünge werden obsolet und neue Wettbewerber drängen verstärkt auf den Markt, so dass insbesondere etablierte Unternehmen die Entwicklungen dieser Tech­ nologie kritisch beobachten (vgl. Jiang/Kleer/Piller 2017). Zum anderen lässt sich das „Prinzip der Einzelfertigung“ beobachten. Skaleneffekte treten faktisch nicht mehr auf, da jeder Kunde sein eigenes, individuelles Objekt gestalten und produzieren las­ sen kann, ohne nennenswerte Mehrkosten zu haben (vgl. Rayna/Striukova 2016). Kos­ tete in der konventionellen Produktion ein individuell angefertigtes Objekt noch ein Vermögen und war zumeist erst durch Skaleneffekte für den Massenmarkt zugäng­ lich, ist diese bisher gültige Logik durch den 3D-Druck nun (vermeintlich) obsolet. So entstehen neue Möglichkeiten bei der Gestaltung und Produktion, so dass der Kunde nicht mehr „nur“ Konsument ist, sondern aktiv in den Produktionsprozess mit ein­ greifen kann und seine Wünsche zeitnah und einfach maßgeschneidert befriedigen kann (vgl. z. B. Berman 2012; Mellor/Hao/Zhang 2014). Die Entwicklung additiver Fertigungstechnologien bietet zwar viele neue Mög­ lichkeiten, aber stellt die Produktions- und Logistikbranche gleichzeitig auch vor Herausforderungen. Konventionelle Produktionstechnologien, wie etwa das Gießen, Schleifen oder Bohren, werden durch den 3D-Druck abgelöst. Das Wettbewerbsum­ feld ändert sich, neue Konkurrenten drängen auf den Markt, Produktionsstandorte werden verlagert, um der Nachfrage nach individuellen Objekten gerecht zu werden. Das, was benötigt wird, kann nun regional und nach individuellem Bedarf gedruckt

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und produziert werden. Insbesondere die Ersatzteilindustrie ist von diesem Trend bereits betroffen. Im Gegensatz zur früheren Fertigung in Niedriglohnländern werden Ersatzteile wieder lokal vor Ort und nach aktuellem Bedarf produziert. Vorteile dieser lokalen Einzelfertigung sind Einsparungen im Bereich der Logistikkosten und folglich eine geringere Umweltbelastung, kürzere Herstellungszeiten und die Förderung von lokalen Arbeitsplätzen (vgl. Baumers et al. 2016; Jiang/Kleer/Piller 2017). Der 3D-Druck bietet zwar viel Potential für die Produktions- und Logistikbran­ che, jedoch besteht derzeitig noch ein großer Forschungs- und Handlungsbedarf im Bereich der Materialien, Qualitätsstandards und Verfahren, um die additive Ferti­ gungstechnik serienreif zu gestalten. Viele 3D-Produkte müssen heute noch manuell nachbereitet werden und die Wettbewerber halten sich aus Angst vor Substitutionsef­ fekten bezüglich der Technologieentwicklungen bedeckt (vgl. Rayna/Striukova 2016). Die Waren werden zukünftig vermutlich immer seltener große Transportwege auf physischem Wege zurücklegen, wodurch dem digitalen Daten- und Informations­ austausch eine gehobene Bedeutung zukommt (vgl. Gibson/Rosen/Stucker 2010). Inwieweit die Logistikbranche nun durch den 3D-Druck nachhaltig verändert wird, bleibt abzuwarten. Was aber heute schon abzusehen ist, ist, dass das Transportwesen zwar nicht gänzlich obsolet werden wird, zukünftig jedoch mit anderen Herausforde­ rungen konfrontiert sein dürfte und Strategien gefunden werden müssen, um diesen Herausforderungen zukünftig angemessen begegnen zu können.

4 Fazit Zielsetzung des Beitrags war es, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, mit welchen Herausforderungen sich Unternehmensnetzwerke im Produktions- und Logistik­ bereich konfrontiert sehen. Dabei wurde eine Unterteilung in theoretisch-konzep­ tionelle Probleme sowie empirische Phänomene vorgenommen. Die skizzierten Pro­ blembereiche legen insgesamt nahe, dass der Trend zur Vernetzung weiter anhalten wird. Trotz der Popularität und der vermeintlichen Vorteile lassen sich jedoch auch drängende Limitationen in Theorie und Praxis festhalten, zu denen die Logistik- und Produktionsforschung und -praxis künftig angehalten sind, Beiträge zu liefern, han­ delt es sich doch um dringend zu lösende betriebswirtschaftliche Fragestellungen. Mit Blick auf Phänomene des Managements der digitalen Transformation lässt sich dabei insbesondere festhalten, dass die betriebswirtschaftlichen Teildisziplinen die Ausein­ andersetzung forcieren sollten, um dieses Feld nicht den Ingenieurswissenschaften und der Informatik allein zu überlassen.

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Norbert Bach

Organisation der Produktion und Logistik in Wertschöpfungsnetzwerken 1 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 3.3 4

Problemstellung | 104 Konzeptionelle Grundlagen | 106 Gestaltungsorientierter Ansatz der Organisation | 106 Wertschöpfung und Wertschöpfungsarchitekturen | 108 Organisation in Wertschöpfungsnetzwerken | 110 Gestaltungsbereich und Gestaltungsträger in Wertschöpfungsnetzwerken | 110 Gestaltungsprozess und Gestaltungsziele in Wertschöpfungsnetzwerken | 114 Gestaltungsmittel in Wertschöpfungsnetzwerken | 118 Schlussbetrachtung | 121 Literatur | 123

Zusammenfassung. Der Beitrag grenzt Wertschöpfungsnetzwerke von anderen For­ men der Organisation mehrstufiger Produktionsprozesse ab und erläutert mit Hilfe des Gestaltungsorientierten Ansatzes der Organisation, wie organisatorische Fragestel­ lungen auf der Ebene des Netzwerks und der Unternehmensebene zusammenhängen. Die potentiellen Partner eines Wertschöpfungsnetzwerks müssen vertraglich festle­ gen, wer welche Beiträge zur gemeinsamen Erschließung von Marktpotentialen liefern soll. Für den Vertragszeitraum sind diese Beiträge gegeben, gehen aber in Überlegun­ gen zur Optimierung und Auslastung von Kompetenzen und Kapazitäten auf der Un­ ternehmensebene ein.

1 Problemstellung Bereits Erich Gutenberg in seinem Band „Die Produktion“ (vgl. Gutenberg 1951) erkannte die Bedeutung organisatorischer Fragestellungen für den Unternehmens­ erfolg. Ein optimaler Einsatz der Elementarfaktoren der Produktion ist nur möglich, wenn durch den dispositiven Faktor die Zuordnung von Aufgaben auf die zur Verfü­ gung stehenden Arbeiter gedanklich vorweggenommen und in einer Struktur vorge­ geben wird. Aus diesem Grundgedanken heraus entstand die betriebswirtschaftliche Organisationslehre, die Organisation als System struktureller Regelungen zur effizien­ ten Erreichung betrieblicher Zwecke versteht (vgl. Bach et al. 2017, S. 62 ff.).

https://doi.org/10.1515/9783110473803-007

Organisation der Produktion und Logistik in Wertschöpfungsnetzwerken | 105

Während traditionell der Betrieb beziehungsweise Teile eines Betriebes den Gestaltungsbereich der Organisation bilden, beschränken sich organisatorische Re­ gelungen heute nicht mehr auf die Arbeitsteilung und Koordination der Akteure in­ nerhalb eines Betriebes. Unternehmen schließen sich zu Wertschöpfungsnetzwerken zusammen, um eine am Markt überlegene Leistung anbieten zu können. Idealtypisch fokussiert sich jeder Netzwerkpartner auf diejenigen Aktivitäten, in denen er über Wettbewerbsvorteile verfügt und überlässt andere Aktivitäten den jeweiligen Spezia­ listen. Organisatorische Regelungen in Wertschöpfungsnetzwerken betreffen folglich die unternehmensübergreifende Arbeitsteilung und Koordination der in der gemein­ samen Wertschöpfung aufeinander angewiesenen Unternehmen mit dem Ziel, alle Aufgaben vertraglich dem jeweiligen Spezialisten zu übertragen. Organisatorische Fragestellungen der unternehmensübergreifenden Arbeits­ teilung wurden in der Vergangenheit meist aus der Perspektive eines einzelnen Unter­ nehmens als Outsourcing-Problem oder Make-or-buy-Entscheidung diskutiert. Eine Reduzierung der damit verbundenen Fragestellungen auf einzelne Transaktionen und dyadische Beziehungen greift jedoch zu kurz, da die für Wertschöpfungsnetzwerke maßgeblichen Netzeffekte und externen Skaleneffekte nur bei einer Betrachtung der Gesamtheit der beteiligten Unternehmen erfasst werden können. Als konzeptionelle Grundlage für die Analyse von Wertschöpfungsnetzwerken werden daher zunehmend Wertschöpfungsarchitekturen (vgl. z. B. Bach et al. 2017; Heuskel 1999; Sanchez 2008) und Intermediäre Märkte (vgl. Jacobides 2005) genutzt. In diesem Grundverständnis analysiert dieser Beitrag, ob der Gestaltungsorientierte Ansatz der Organisation auf die Organisation von Produktion und Logistik in Wertschöpfungsnetzwerken ange­ wendet werden kann. Konkret geht es dabei um die folgenden Fragen: 1. Welche Merkmale kennzeichnen ein Wertschöpfungsnetzwerk und was unter­ scheidet es von einer marktlichen Zulieferer-Abnehmer-Beziehung? 2. Wie ist bei Wertschöpfungsnetzwerken der Gestaltungsbereich der Organisation abzugrenzen und wer sind die Gestaltungsträger? 3. Wie verläuft der Gestaltungsprozess der Organisation in Wertschöpfungsnetzwer­ ken? 4. Welche Gestaltungsziele können in Wertschöpfungsnetzwerken unterschieden werden und welcher Zielhorizont wird verfolgt? 5. Welche Gestaltungsmittel können bei der Organisation von Produktion und Lo­ gistik in Wertschöpfungsnetzwerken eingesetzt werden? Nachfolgend werden in einem Grundlagenkapitel zunächst die begrifflichen und konzeptionellen Grundlagen zum Gestaltungsorientierten Ansatz der Organisation und zu Wertschöpfungsarchitekturen erläutert. Anschließend werden Wertschöp­ fungsnetzwerke als Untersuchungsgegenstand definiert und von rein marktlichen Zulieferer-Abnehmer-Beziehungen abgegrenzt. Im Hauptteil des Beitrags werden an­ schließend die Fragen nach dem Gestaltungsbereich, den Gestaltungsträgern, dem Gestaltungsprozess, den Gestaltungszielen und den Gestaltungsmitteln in Wertschöp­ fungsnetzwerken erläutert. Der Beitrag endet mit einer Zusammenfassung in Thesen.

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2 Konzeptionelle Grundlagen 2.1 Gestaltungsorientierter Ansatz der Organisation Grundlegend für den Gestaltungsorientierten Ansatz der Organisation (vgl. auch nachfolgend Bach et al. 2017, S. 62 ff.) ist das von Erich Kosiol geprägte Verständnis der Aufgabe als Mittel zur Erreichung der Unternehmensziele: „Am Anfang aller or­ ganisatorischen Betätigung steht daher die Aufgabe, die gelöst werden soll und auf die sich, um ihre Erfüllung zu gewährleisten, alle organisatorischen Maßnahmen erstrecken.“ (Kosiol 1976, S. 41). Aus diesem Grundgedanken entwickelte sich die Unterscheidung von Regelungen zur Aufbau- und zur Ablauforganisation. Die Auf­ bauorganisation gliedert das Unternehmen in Einheiten (Abteilungen, Gremien, Stel­ len) und regelt die Beziehungen zwischen diesen Einheiten durch die Zuweisung von Aufgaben und stellenbezogenen Handlungsrechten, im organisatorischen Sprachge­ brauch Kompetenzen genannt. Die Ablauforganisation, im heutigen Sprachgebrauch Prozessorganisation, regelt hingegen die sachlogische und zeitliche Reihenfolge bei der Erfüllung der Teilaufgaben innerhalb der betrieblichen Bereiche. Zusammenfas­ send kennzeichnet im hier zugrunde gelegten instrumentellen Verständnis der Begriff der Organisation ein in Prozessen und Strukturen dokumentiertes System aufeinander abgestimmter Regelungen, die das Leistungsverhalten der Mitarbeiter auf die Errei­ chung der Unternehmensziele ausrichten. Organisatorische Regelungen stellen Be­ ziehungen zwischen der zur Zielerreichung zu erfüllenden Aufgabe, den Mitarbeitern als Aufgabenträgern, den zu verwendenden Hilfsmitteln und den zur Aufgabenerfül­ lung benötigten Informationen her. Sie dienen der sinnvollen Teilung von Aufgaben und Aktivitäten (Architekturen, Prozess- beziehungsweise Strukturgestaltung) und der Abstimmung der zielorientierten Aufgabenerfüllung (Koordination). Die Tätigkeit des Organisierens ist im Verständnis Kosiols die „Strukturierung von Ganzheiten“ (Kosiol 1976). Geht es darum, in einem übergreifenden Verständnis die Aktivitäten der Wertschöpfung zu strukturieren, kann diese „Ganzheit“ nicht an den juristischen Grenzen eines Unternehmens enden. Es empfiehlt sich daher, den Gestal­ tungsbereich der Organisation (vgl. Abbildung 1) in einem funktionalen Verständnis Gestaltungsbereich

Gestaltungsprozess Gestaltungsträger

Einsatz von Gestaltungsmitteln

Gestaltungsziele

Abb. 1: Grundbegriffe des Gestaltungsorientierten Ansatzes der Organisation.

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zu definieren, das die „Ganzheit“ anhand der zur Erreichung der Ziele zu erfüllenden Aufgaben und Aktivitäten abgrenzt. Als Gestaltungsbereich der Organisation wird da­ her die Gesamtaufgabe zur Erbringung einer Leistung für Endkunden betrachtet, un­ abhängig von der institutionellen Verankerung einzelner Aufgabenträger. In diesem erweiterten Verständnis des Gestaltungsbereichs der Organisation können auch Insti­ tutionen (und deren Mitglieder) als Aufgabenträger Teilaufgaben der Wertschöpfung übernehmen. Auf diese Weise ist es möglich, die Grundgedanken des Gestaltungsori­ entierten Ansatzes der Organisation auf Wertschöpfungsnetzwerke zu übertragen. Eng mit der Abgrenzung des organisatorischen Gestaltungsbereichs verbunden ist die Frage, wer für die Aufstellung organisatorischer Regelungen als Gestaltungsträ­ ger verantwortlich zeichnet. In Unternehmen ist die Frage der Entscheidungsbefugnis durch die Unternehmensverfassung geregelt. Üblicherweise delegiert die Geschäfts­ führung die Aufgabe der organisatorischen Gestaltung an die für den betrachteten Gestaltungsbereich verantwortlichen Führungskräfte. Da für Wertschöpfungsnetz­ werke keine eigene Gesetzgebung existiert, sind Fragen der Netzwerkverfassung und damit verbunden die der Gestaltungsträger vertraglich auszuhandeln (vgl. Petry 2006, S. 101). Welche Auswirkungen dies auf den Gestaltungsprozess und das Gestaltungs­ ergebnis hat, gilt es in diesem Beitrag zu prüfen. Der Prozess der organisatorischen Gestaltung (Gestaltungsprozess) umfasst ver­ kürzt zusammengefasst den Einsatz von Gestaltungsmitteln durch den Gestaltungs­ träger zur Erreichung von Gestaltungszielen. Zur Erreichung der unternehmerischen Ziele muss die im Gestaltungsbereich zu erfüllende Gesamtaufgabe analysiert und in Teilaufgaben zerlegt werden. Auf dieser Basis werden im Zuge der Aufgabensynthese mit Hilfe der Gestaltungsmittel Prozesse und Strukturen gestaltet (Prozessgestaltung, Strukturgestaltung) und Regelungen zur Koordination getroffen (vgl. Bach et al. 2017, S. 73 ff.). Als typische Phasen im Gestaltungsprozess sind dabei Aufnahme, Analyse, Konzeption und Umsetzung zu unterscheiden, für die sich in der Praxis jeweils spe­ zifische Methoden und Instrumente etabliert haben (vgl. Bach et al. 2017, S. 84 ff.). Die organisatorischen Regelungen sollten dabei idealtypisch vom Wechsel einzelner Personen unabhängig sein. Im Prozess der organisatorischen Gestaltung ist grund­ sätzlich immer abzuwägen, ob der durch geregelte Prozesse und Strukturen zu erwar­ tende Vorteil in der Aufgabenerfüllung den Aufwand der Erstellung und der Kontrolle der Einhaltung organisatorischer Reglungen aufwiegt. Die Kontrolle der Regelungen ist erforderlich, da für die handelnden Personen ein dominierendes Eigeninteresse unterstellt wird, oftmals gar List und Tücke (vgl. Williamson 1985). Im Laufe einer Zu­ sammenarbeit kann jedoch Vertrauen entstehen, so dass zunächst auf die Kontrol­ le und später auch auf die Regelungen verzichtet werden kann. Auch für Wertschöp­ fungsnetzwerke geht die Literatur davon aus, dass Vertrauen zwischen den beteiligten institutionellen Akteuren die Funktion von organisatorischen Regelungen überneh­ men kann (vgl. Petry 2006, S. 88 ff.). Dies hätte maßgeblichen Einfluss sowohl auf den Prozess als auch das Ergebnis der organisatorischen Gestaltung.

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Ziel des Gestaltungsorientierten Organisationsansatzes ist es, Probleme aus der Unternehmenspraxis zu lösen. Dazu sollen organisatorische Regelungen überarbei­ tet oder durch bessere ersetzt werden. Die Zahl und Komplexität der Einflussfaktoren auf den Unternehmenserfolg lässt jedoch keine direkten Wirkungszusammenhänge zwischen organisatorischen Regelungen und Erfolg zu. Über den Zwischenschritt der Betrachtung organisatorischer Gestaltungsziele ist es jedoch möglich, die Vorund Nachteile einzelner Gestaltungslösungen gegeneinander abzuwägen (vgl. Fre­ se/Graumann/Theuvsen 2012, S. 283 ff.). Als typische Gestaltungsziele werden dabei unterschieden (vgl. Bach et al. 2017, S. 69 ff.): – Entwicklungsorientierung: Anpassungen an Entwicklungen im generellen Umfeld und in den marktlichen Umfeldern sollen ermöglicht und unterstützt werden. – Marktorientierung: Entscheidungsträger sollen möglichst effizient mit Informatio­ nen zu Absatz- und Beschaffungsmärkten versorgt werden. – Ressourceneffizienz: Es ist ein bestmögliches Verhältnis von Output zu Input si­ cherzustellen, auch in Bezug auf die eingesetzten Finanzressourcen. – Prozesseffizienz: Der Prozessfluss soll so wenig wie möglich behindert und Be­ reichsegoismen vermieden werden. – Führungseffizienz: Das Produktionssystem soll effizient auf übergeordnete Ziele ausgerichtet werden können. – Humanressourcen-Orientierung: Die Qualifikation und die Motivation des Ma­ nagements und der Mitarbeiter sollen bestmöglich ausgenutzt werden. Bei der Abwägung zwischen zentralen oder dezentralen Vertriebseinheiten ist z. B. abzuwägen, ob Kundennähe und Marktorientierung der dezentralen Lösung oder ein effizienterer Einsatz der Sach- und Finanzressourcen bei der zentralen Organisation höher zu priorisieren sind. Auch sind zentrale Einheiten leichter zu führen als dezen­ trale Einheiten, wohingegen Verantwortungsübertragung auf dezentrale Einheiten in der Regel eine höhere Motivation bei den Aufgabenträgern nach sich zieht. Obwohl der Grundgedanke der Orientierung an Gestaltungszielen auch auf Wertschöpfungs­ netzwerke übertragbar scheint, ist zu berücksichtigen, dass organisatorische Rege­ lungen in Wertschöpfungsnetzwerken nicht zur Verhaltenssteuerung von Individuen aufgestellt werden, sondern die Kooperation institutioneller Akteure betreffen. Von daher ist systematisch zu prüfen, ob eine Orientierung an Gestaltungszielen Anwen­ dung finden kann und welche Gestaltungsziele für diesen Zweck übernommen wer­ den können.

2.2 Wertschöpfung und Wertschöpfungsarchitekturen Im Zuge der Produktion werden Aktivitäten an Objekten verrichtet und Input in Output transformiert. Sind Kunden bereit, für den produzierten Output einen Preis zu zah­ len, der höher ist als die Herstellkosten, wird im Produktionssystem Wert beziehungs­

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weise Mehrwert geschaffen. In der Sprachkonvention des Rechnungswesens wird da­ bei unter dem Begriff „Wert“ der in Geldeinheiten bewertete Nutzen (Gesamtleistung der Produktion) abzüglich der Werte der eingebrachten Vorleistungen verstanden (vgl. Haller 2002, S. 2131 f.). In einer prozessorientierten Sichtweise bezeichnet der Begriff Wertschöpfung hingegen das „Schaffen von Wert“ als eine zielgerichtete Folge von Ak­ tivitäten (vgl. Porter 1980). Nachfolgend wird die Organisation von Produktion und Lo­ gistik in Wertschöpfungsnetzwerken in diesem aktivitätsorientierten Verständnis von Wertschöpfung als zielorientierter Aktivitätenfolge analysiert. Bezüglich der häufig technologisch determinierten Frage, mit welchen Aktivi­ tätenfolgen Wert geschaffen werden kann, liegen in vielen Branchen umfassende Erfahrungen vor. Auch die heute übliche IT-Unterstützung von Geschäftsprozessen kennt Referenzmodelle je Branche, die lediglich an die unternehmensspezifischen Ge­ gebenheiten angepasst („customized“) werden. Bei näherer Betrachtung weisen die Unternehmen einer Branche dennoch unterschiedliche Wertschöpfungstiefen auf. Trotz einer grundsätzlich vergleichbaren Technologie unterscheiden sich die Produk­ tionssysteme der Unternehmen im Ausmaß der eingekauften Vorleistungen sowie in der Art und dem Umfang der Zusammenarbeit mit Partnerunternehmen. Zahlreiche technologische Entwicklungen seit den 80er und 90er Jahren haben die Möglich­ keiten der Gestaltung von Schnittstellen zwischen Lieferanten und Abnehmern und der Zusammenarbeit in Wertschöpfungsnetzwerken verändert (vgl. Bach/Buchholz/ Eichler 2003). Darüber hinaus haben sich aufgrund der möglichen Spezialisierungs­ vorteile und Handelsmargen für standardisierte Wertschöpfungsaktivitäten, wie z. B. IT-Dienstleistungen, Facility Management oder Personaldienstleistungen, sogenann­ te intermediäre Märkte entwickelt (vgl. Jacobides 2005). Ein Wertschöpfungsnetzwerk unterscheidet sich dabei gegenüber einer reinen Zulieferer-Abnehmer-Beziehung dadurch, dass die am Wertschöpfungsnetzwerk beteiligten Partnerunternehmen spe­ zifische Investitionen zur Koordination ihrer Produktion und Logistik tätigen, so dass im Vergleich zu einem Austausch von Lieferanten der Beitritt zu einem Netzwerk (oder das Ausscheiden) größere Aufbau- beziehungsweise Wechselkosten erfordert. Unabhängig von der Verteilung der Aktivitäten auf verschiedene Wertschöp­ fungspartner existieren bewährte Muster oder „templates“ der Wertschöpfung, für die nachfolgend der Begriff der Wertschöpfungsarchitektur (vgl. Heuskel 1999; San­ chez 2008) genutzt wird. Dieser Begriff kennzeichnet ein System von aufeinander abgestimmten Wertschöpfungsaktivitäten, die auf eine gemeinsame Stiftung von Nutzen für den Kunden abzielen. Die Wertschöpfungsarchitektur beschreibt die sach­ logischen Beziehungen zwischen den zur Nutzenstiftung notwendigen Aktivitäten, d. h. zum einen die Dekomposition des Produktionssystems in Einzelaktivitäten, zum anderen die zur Wertschöpfung notwendige Abstimmung der Aktivitäten über Schnittstellen (vgl. Bach et al. 2017, S. 101). Die einzelnen Aktivitäten als Komponen­ ten der Wertschöpfungsarchitektur eines Produktionssystems sind dabei nicht auf den Einsatz in einem einzigen Produktionssystem beschränkt. Vielmehr können für jede der Aktivitäten auch Skaleneffekte zum Tragen kommen, die aus Einsätzen au­

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ßerhalb des fokal betrachteten Produktionssystems resultieren („External Economies of Scale“; vgl. Garud/Kumaraswamy 1995). Um Unterschiede zwischen den Wertschöpfungsarchitekturen der in einer Bran­ che tätigen Unternehmen aufzuzeigen bietet es sich an, die in einer Branche ver­ fügbaren Standardarchitekturen als Referenz zu nutzen. Unternehmen wählen aus, welche Aktivitäten einer Branchen-Standardarchitektur sie selbst ausführen und wel­ che Aktivitäten sie fremd beziehen möchten. Die Wertschöpfungsarchitektur eines Unternehmens ist daher immer eine mehr oder weniger große Teilmenge – ein Subsys­ tem – einer oder mehrerer Branchen-Standardarchitekturen. Durch Fokussierung auf eine oder wenige Aktivitäten und die damit verbundene häufigere Ausführung einer Aktivität können Unternehmen Spezialisierungsvorteile erzielen. Daraus resultieren­ de Unterschiede im Kompetenzniveau führen wiederum dazu, dass sich im Laufe der Zeit eine oder mehrere Formen der Arbeitsteilung zwischen spezialisierten Unterneh­ men einer Branche als besonders effizient herauskristallisieren (vgl. Jacobides 2008; Jacobides/Hitt 2005). Motivation für eine derartige komplementäre Co-Spezialisie­ rung entlang der Wertkette sind zum einen Spezialisierungsvorteile, zum anderen sogenannte Tauschgewinne („Gains from Trade“; vgl. Jacobides 2005, S. 477). Unter­ nehmen desintegrieren ihre Wertschöpfungsarchitekturen und beziehen Aktivitäten, in denen sie selbst nicht wettbewerbsfähig sind, von anderen Unternehmen. Durch den „Tausch“ der Aktivitäten entstehen Tauschgewinne, die als Anreiz für die orga­ nisatorische Desintegration wirken. Dies hat z. B. zu der heute sehr niedrigen Wert­ schöpfungstiefe in der Automobilbranche geführt. Für viele Aktivitäten existieren spezialisierte Anbieter, die Vor- und Zwischenleistungen für die am Endkundenmarkt tätigen Automobilhersteller erbringen. Gleichzeitig zeigen Beispiele wie Reifen, Glüh­ lampen oder Sitze, dass spezialisierte Anbieter in der Vermarktung ihrer Aktivitäten beziehungsweise Leistungen nicht auf nur eine Branche beschränkt sein müssen. Grundsätzlich kann jede Wertschöpfungsaktivität als mögliches Spezialisierungsfeld begriffen werden, in dem ein Unternehmen spezifische Ressourcen und Fähigkeiten aufbauen kann. Spezialisierte Ressourcen und Fähigkeiten machen ihrerseits ein Un­ ternehmen zu einem gefragten Kooperationspartner in Wertschöpfungsnetzwerken.

3 Organisation in Wertschöpfungsnetzwerken 3.1 Gestaltungsbereich und Gestaltungsträger in Wertschöpfungsnetzwerken Mehrstufige Produktions- und Logistikprozesse können in verschiedenen Organi­ sationsformen ausgeführt werden. Die hier analysierten Wertschöpfungsnetzwerke bilden dabei aus organisationstheoretischer Sicht eine Zwischenstufe zwischen einer Koordination über Preise auf Märkten (Zulieferer-Abnehmer-Beziehung, buy) einer­

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seits und einer einheitlichen Leitung durch Weisungen innerhalb einer Hierarchie (Konzernorganisation, make) andererseits. Märkte sind dadurch gekennzeichnet, dass Unternehmen – ohne sich auf einen bestimmten Partner festlegen und die eigene Wertschöpfung auf diesen Partner ausrichten zu müssen – zwischen mehreren Lie­ feranten als Transaktionspartnern auswählen können. Zwar haben sich in der Praxis auch für diese Fälle häufig langjährige Geschäftsbeziehungen etabliert, jedoch könnte z. B. ein Automobilhersteller grundsätzlich jederzeit ohne nennenswerte Wechselkos­ ten die Reifen eines anderen Herstellers montieren oder die Fahrzeuglogistik einem anderen Spediteur übertragen. Existiert für die benötigten Leistungen jedoch kein Beschaffungsmarkt, bleibt neben der Eigenerstellung die Möglichkeit des Zusammen­ schlusses mit anderen Unternehmen zu einem Wertschöpfungsnetzwerk. Ein Wert­ schöpfungsnetzwerk als der hier betrachtete Gestaltungsbereich der Organisation ist definiert als ein mit riskanten Vorleistungen verbundener Zusammenschluss mehrerer Unternehmen zur gemeinsamen Erschließung von Marktpotentialen, die sonst nicht erschlossen werden könnten. Als konstitutives Merkmal von Wertschöpfungsnetzwer­ ken sind Investitionen in Schnittstellen zwischen den Wertschöpfungspartnern und in die Integration der Partner in eine gemeinsame Wertschöpfungsarchitektur zu leisten (vgl. Bach et al. 2017, S. 115). Solche nicht anderweitig nutzbaren Anlagegüter sind im Verständnis der Transaktionskostentheorie durch eine hohe Asset Specificity gekenn­ zeichnet, die üblicherweise eine Eigenerstellung nahelegt (vgl. Williamson 1985). Die Gefahr eines Moral Hazard kann jedoch durch die Aufteilung des unternehmerischen Risikos auf die beteiligten Akteure abgesichert werden. Vertragliche Regelungen oder wechselseitige finanzielle Beteiligung können trotzdem nicht jegliche Risiken aus­ schließen, weshalb die benötigte Investition in die gemeinsame Wertschöpfungsar­ chitektur für alle Beteiligten eine riskante Vorleistung bleibt. Um nicht einseitig von einem einzigen Netzwerk abhängig zu sein, verfolgen die Unternehmen meist eine Di­ versifikationsstrategie. Sie bieten ihre Leistungen sowohl als Zulieferer auf Märkten an und sie sind gleichzeitig auch als Partnerunternehmen in Wertschöpfungsnetzwerke eingebunden. In der Automobilbranche verkaufen z. B. Reifenlieferanten wie Miche­ lin oder Continental standardisierte Reifen an verschiedene Automobilhersteller und auch im Aftermarket an den Reifenhandel. Daneben gibt es spezielle Produktentwick­ lungen für einzelne Fahrzeugserien, wie z. B. den Bugatti Chiron, ein Fahrzeug das nicht mit einem Standardreifen gefahren werden kann. Der Reifenhersteller Michelin und Bugatti haben bezüglich des Chiron spezifische Investitionen getätigt, sie sind ein Wertschöpfungsnetzwerk eingegangen. Michelin entwickelte einen Reifen, der die hohen Anforderungen des Supersportwagens Chiron erfüllt. Im Gegenzug erteil­ te Bugatti die Herstellerfreigabe ausschließlich für Michelin-Reifen. Bugatti-Kunden sind daher bei Ersatzbedarf auf Reifen von Michelin angewiesen. In Bezug auf die Fragen nach Gestaltungsbereich und Gestaltungsträgern besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen einem Wertschöpfungsnetzwerk und einem Konzern oder Einzelunternehmen. Ziel von Wertschöpfungsnetzwerken ist die anlass­ bezogene gemeinsame Erschließung von Marktpotentialen als Mittel zur langfristigen

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Gewinnmaximierung auf Unternehmensebene. Wertschöpfungsnetzwerke sind of­ fene Systeme, deren Mitglieder – anders als Tochterunternehmen in Konzernen – eigenständig und weitgehend unabhängig über ihre Mitwirkung beziehungsweise ihr Ausscheiden an einem Wertschöpfungsnetzwerk entscheiden können. Mangels einer gesetzlich legitimierten Instanz als Gestaltungsträger können zur Organisation in Wertschöpfungsnetzwerken daher zunächst auch keine hierarchischen Weisungen eingesetzt werden. Die Grundlage der Zusammenarbeit ist ein typischerweise zeitlich befristeter Kooperationsvertrag (Netzwerkverfassung; vgl. Petry 2006, S. 101 ff.), der regelt, welche Kompetenzen und Kapazitäten die Partnerunternehmen in das Wert­ schöpfungsnetzwerk einbringen. Unabhängig vom Ziel der langfristigen Gewinnma­ ximierung auf Unternehmensebene ist die Beteiligung an einem Netzwerk folglich als befristete Entscheidung zur Verwendung vorhandener Kompetenzen oder Kapazitäten zur Erreichung nur gemeinsam erreichbarer Ziele zu verstehen. Deutlich wird der un­ terschiedliche Entscheidungshorizont am Beispiel der Star Alliance, einem 1997 von fünf Fluggesellschaften gegründeten Wertschöpfungsnetzwerk, das aktuell 28 Flug­ gesellschaften als Mitglieder hat. Im Laufe der Zeit wurden nicht nur Unternehmen neu aufgenommen, sondern es haben auch 13 Fluggesellschaften die Star Alliance wieder verlassen. Gestaltungsträger der Organisation ist in Betrieben die Spitzeninstanz des Kon­ zerns oder des Unternehmens. Abgesehen von noch auszuhandelnden Regelungen der Netzwerkverfassung ist bei Wertschöpfungsnetzwerken zunächst nicht von ei­ ner Spitzeninstanz des Netzwerks und hierarchischen Weisungsrechten auszugehen. Für die Aushandlung von Kooperationsverträgen und der Netzwerkverfassung liegt als gesetzliche Grundlage das Vertragsrecht vor, das gleiche Rechte für alle Beteiligten vorsieht. Es wäre jedoch sträflich, in der Realität von gleicher Verhandlungsmacht der an einem Wertschöpfungsnetzwerk beteiligten Unternehmen auszugehen. Zwar sind alle beteiligten Unternehmen auf die Ressourcen der Komplementäre angewiesen, dennoch bestehen immer Unterschiede in der Zahl der für eine bestimmte Aktivi­ tät in Frage kommenden Partner. Eine theoretische Grundlage zur Analyse der Ver­ handlungsmacht liefert die Resource-Dependence-Theorie (vgl. Pfeffer/Salancik 1978). Diese erklärt die Verhandlungsmacht aus der Abhängigkeit der anderen Partner von den Ressourcen des betrachteten Unternehmens. Wer über die wichtigsten Ressour­ cen verfügt, kann die Vertragsbedingungen zu seinen Gunsten beeinflussen und in höherem Maße Kontrolle und Einfluss über das Wertschöpfungsnetzwerk und somit auch über die Ressourcen der anderen Unternehmen ausüben. Dennoch besteht das gemeinsame Ziel darin, durch komplementäre Beiträge zur Wertschöpfung Zusatzren­ diten für alle Beteiligten zu erzielen (vgl. Lavie 2006). Wie hoch diese für das einzelne Unternehmen ausfallen, hängt nicht nur von der Verteilung der Tauschgewinne auf der Netzwerkebene ab. Zusätzlich sind interne Spillover-Effekte (vgl. Lavie 2006, S. 647) zu betrachten, die ihren Ursprung in der externen Zusammenarbeit haben, jedoch in den anderen Geschäften des Unternehmens, z. B. durch Verkauf in Märkte oder Beteiligungen an weiteren Netzwerken, entstehen.

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Die an die zugesagten Beiträge geknüpfte Verhandlungsmacht der Wertschöp­ fungspartner zeigt unmittelbar den Zusammenhang zwischen zugesagten Beiträ­ gen im Gestaltungsbereich des Wertschöpfungsnetzwerks und der Möglichkeit, als Gestaltungsträger Einfluss auf organisatorische Regelungen zu nehmen. Gleichzei­ tig wird deutlich, dass die beteiligten Unternehmen nicht mit allen ihren Aktivi­ täten, Kompetenzen und Kapazitäten in den organisatorischen Gestaltungsbereich des Wertschöpfungsnetzwerks eingehen. Auf Unternehmensebene legen die juristi­ schen Unternehmensgrenzen fest, für welche Aktivitäten die Unternehmensleitung als Gestaltungsträger verantwortlich zeichnet. In Abhängigkeit von der angestrebten Verhandlungsmacht und den verfügbaren Alternativen wird ein Unternehmen einen mehr oder weniger großen Anteil der eigenen Ressourcen in ein Wertschöpfungsnetz­ werk einbringen. Auf der Netzwerkebene konstituiert sich der Gestaltungsbereich der Organisation aus der Summe der zugesicherten Beiträge, er umfasst in der Regel jedoch nur einzelne Teile der in den beteiligten Unternehmen betriebenen Wertschöp­ fungsaktivitäten und deren Kapazitäten. Ein weiterer Unterschied zwischen einem Wertschöpfungsnetzwerk und einem Konzern oder Einzelunternehmen zeigt sich in der Regelungskompetenz. Im Wert­ schöpfungsnetzwerk werden Regelungen nicht durch eine weisungsbefugte Instanz geplant (Fremdregelung), sondern sie werden von den beteiligten Unternehmen selbst ausgehandelt (Selbstregelung). Außerdem bringen Unternehmen in der Regel nicht ihre Gesamtkapazität ein, sondern sie sichern dem Wertschöpfungsnetzwerk ledig­ lich ausgewählte Teile ihrer Ressourcen zu, um auf diese Weise Marktpotentiale er­ schließen zu können, die ihnen alleine nicht zugänglich wären. Gleichzeitig sind auf Unternehmensebene sowohl der Ressourceneinsatz als auch das Risiko begrenzt, das Engagement ist damit planbar. Die dem Netzwerk für eine Planungsperiode zugesag­ ten Beiträge fließen als Planungsgrößen in die Optimierung der Kapazitätsauslastung der beteiligten Unternehmen ein. Hinsichtlich der Organisation von Produktion und Logistik in Wertschöpfungsnetzwerken ist festzuhalten, dass auf der Netzwerkebene zwischen den Partnern ausgehandelte und vertraglich festgelegte Ressourcen und Kapazitäten koordiniert werden. Bei zu starren Verhandlungsergebnissen können Marktschwankungen somit eine Neuverhandlung der Netzwerkverträge bis hin zur Auflösung des Wertschöpfungsverbunds erfordern. Fragen der Kapazitätsallokation und -optimierung sind jedoch auf der Ebene der beteiligten Partnerunternehmen angesiedelt. Den Gestaltungsbereich und die Gestaltungsträger von Wertschöpfungsnetz­ werken betreffend ist zusammenfassend festzuhalten, dass in einem zeitlich be­ fristeten Netzwerk als offenem System sowohl der Gestaltungsbereich als auch die Verhandlungsmacht der Gestaltungsträger aus der Abhängigkeit des Netzwerks von den zugesagten Beiträgen einzelner Unternehmen resultieren. In Abhängigkeit von Marktentwicklungen und alternativen Einsatzmöglichkeiten für die Ressourcen der beteiligten Unternehmen können sich Abhängigkeiten verändern und Machtverhält­ nisse zwischen Gestaltungsträgern verschieben. Während auf Netzwerkebene für den

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Zeitraum der Gültigkeit der Verträge ausgehandelte Kompetenzen und Kapazitäten ge­ leistet werden, findet die Allokation und Optimierung der Kapazitäten auf der Ebene der beteiligten Unternehmen statt.

3.2 Gestaltungsprozess und Gestaltungsziele in Wertschöpfungsnetzwerken Wie bereits erläutert fehlt Wertschöpfungsnetzwerken eine gesetzliche Grundlage, die im Sinne einer Netzwerkverfassung ex ante festlegt, welche Gestaltungsträger für welchen Gestaltungsbereich legitimiert sind, organisatorische Regelungen zu treffen. Demzufolge kann für den Gestaltungsprozess der Organisation in Wertschöp­ fungsnetzwerken auch keines der aus der Literatur bekannten Vorgehensmodelle mit typischen Phasen der Aufnahme, Analyse, Konzeption und Umsetzung (vgl. Bach et al. 2017, S. 84 ff.) unreflektiert übernommen werden. Auf der hier betrachteten Netz­ werkebene muss der Prozess der organisatorischen Gestaltung vielmehr der Tatsache Rechnung tragen, dass Wertschöpfungsnetzwerke als offene Systeme das Ergebnis von Aushandlungsprozessen mit Beitritts- und Austrittsentscheidungen sind, bei denen sich sowohl die einzelnen Beiträge als auch deren Wert beziehungsweise Not­ wendigkeit zur Erschließung des angestrebten Marktpotentials erst im Verlauf des Prozesses herauskristallisieren. Die Konzeptionsphase ist folglich völlig anders gela­ gert als bei Fragestellungen der betrieblichen Organisation. Dennoch kann letztend­ lich nur eine unter mehreren alternativen Organisationslösungen umgesetzt werden. Die Entscheidung darüber, ob es zu einem Zusammenschluss zu einem Wertschöp­ fungsnetzwerk kommt oder nicht, resultiert aus den Entscheidungen der potentiellen Partnerunternehmen auf der Referenzebene des Einzelunternehmens. Diese müs­ sen eine Wahlentscheidung treffen, welchen Beitrag sie zur Beteiligung an welchem Wertschöpfungsnetzwerk zusagen. Die nachfolgenden Überlegungen zum Gestal­ tungsprozess fokussieren daher die Konzeptionsphase, während hinsichtlich der Prozessphasen der Aufnahme und Analyse angenommen wird, dass jedes beteiligte Unternehmen diese bereits unabhängig von den anderen Unternehmen durchlaufen hat, und jedem Unternehmen seine spezifischen Stärken und Schwächen sowie die Schnittstellen in Branchen-Standardarchitekturen bekannt sind. Ziel der Konstituierung eines Wertschöpfungsnetzwerks ist die Erschließung von Marktpotentialen (Opportunities). Daher handelt es sich beim Gestaltungsprozess faktisch um einen Prozess des Entrepreneurship. Zur Begründung eines Wertschöp­ fungsnetzwerks bedarf es in der Konzeptionsphase des Gestaltungsprozesses der Ini­ tiative eines Unternehmens, dass ein nur gemeinsam erschließbares Marktpotential erkennt, positiv bewertet und anschließend potentielle Partnerunternehmen sucht, mit denen das Marktpotential gemeinsam erschlossen werden kann (vgl. Shane/ Venkataraman 2000). Während jedoch in Unternehmen die Wertschöpfungsarchi­ tektur sowie die Strukturen und Prozesse von der durch die Unternehmensverfas­

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sung gesetzlich legitimierten Leitung personenunabhängig gestaltet werden, ent­ stehen die Wertschöpfungsarchitektur des Netzwerks und die Verteilung der Auf­ gaben auf die Netzwerkpartner als Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen den Netzwerkpartnern. Anders als im Gestaltungsprozess der betrieblichen Organi­ sation erfolgt die Konzeption nicht personenunabhängig durch einen nicht an der späteren Aufgabenerfüllung beteiligten Organisator, sondern die potentiellen Wert­ schöpfungspartner suchen in der Konzeptionsphase des Gestaltungsprozesses selbst nach organisatorischen Regelungen der Arbeitsteilung und Koordination, die im Blick auf die jeweiligen Spezialisierungsvorteile der einzelnen Partnerunternehmen die bestmöglichen Tauschgewinne versprechen. Alle Unternehmen sind als zunächst gleichwertige potentielle Partner anzusehen, die bereit sind, zur Erschließung der Geschäftsgelegenheit ihre jeweiligen Kompetenzen und Kapazitäten einzubringen. Erst im Verlauf der Konzeptionsphase zeigt sich, wessen Ressourcen die stärkste Ver­ handlungsposition ermöglichen und wer den größten Einfluss auf die Festlegung der Netzwerkverfassung, die Gestaltung der Netzwerk-Wertschöpfungsarchitektur und die organisatorischen Regelungen im Netzwerk hat. Bezüglich der hier analy­ sierten Fragestellungen ist daher festzuhalten, dass die Produktion und Logistik in Wertschöpfungsnetzwerken nicht als Mittel zur Umsetzung einer ex ante gegebenen Strategie des Netzwerks organisiert werden. Organisatorische Regelungen sind das Resultat eines von den beteiligten Unternehmen geführten Aushandlungsprozesses, in dem sowohl die Netzwerkverfassung, die Strategie des Wertschöpfungsnetzwerks, die Netzwerk-Wertschöpfungsarchitektur als auch die organisatorischen Regelungen zur Arbeitsteilung und Koordination festgelegt werden. Faktisch treffen die Unterneh­ men mit ihrem Beitritt oder Nicht-Beitritt Entscheidungen zwischen Engagements in alternativen Wertschöpfungsnetzwerken. In der hier vorgenommenen Analyse sind Unternehmen beziehungsweise deren Beiträge als Elemente eines oder mehrerer Produktionssysteme auf Netzwerkebene zu begreifen. Da der Beitritt eines Unterneh­ mens und die Zusage bestimmter Beiträge gleichzeitig erfolgen („Task-cum-Agents“; vgl. Baldwin 2008, S. 156), entstehen sowohl die Strategie des Netzwerks als auch die Organisation der Produktion und Logistik faktisch als Resultat der Beitrittsentschei­ dungen der Unternehmen. Im Zuge der Konzeption müssen sich die potentiellen Partner auf eine NetzwerkWertschöpfungsarchitektur verständigen, die gleichzeitig die Arbeitsteilung zwischen den Akteuren regelt. Im Vergleich zur vom Organisator gestalteten Arbeitsteilung in Unternehmen, bei der zunächst die Gesamtaufgabe in verteilungsfähige Teilaufgaben zerlegt wird, die anschließend personenunabhängig Stellen zugeordnet werden, ist die Vorgehensweise der Aushandlung der Arbeitsteilung in Wertschöpfungsnetzwer­ ken genau anders herum. Ähnlich wie im von Sarasvathy (2001) beschriebenen Pro­ zess der Effectuation gilt es, aus den mit den potentiellen Beiträgen möglichen Leis­ tungen ein tragfähiges Geschäftsmodell zu entwickeln (vgl. Abbildung 2). In einer Analogie ausgedrückt geht es bei der Aushandlung der Wertschöpfungs­ architektur auf Netzwerkebene nicht darum, ein gegebenes Bild (Gesamtaufgabe) in

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Strategisches Management

Organisatorische Gestaltung

Prozesse und Strukturen im Unternehmen UnternehmensStakeebene holder InteLangfristige ressen Gewinnmaximierung

Strategie

Wertschöpfungsarchitektur des Unternehmens Beiträge zur Produktion und Logistik in Netzwerken

Initiierung oder Beteiligung an Wertschöpfungsnetzwerk

Netzwerkebene Zeitlich befristete Maximierung der Tauschgewinne

Marktpotentiale

Organisatorische Regelungen als Aushandlungsergebnis

Wertschöpfungsarchitektur des Netzwerks Beitrag als „TaskcumAgent“

Marktpotentiale Verteilung der Aufgaben auf Netzwerkpartner

Abb. 2: Organisatorische Regelungen in Wertschöpfungsnetzwerken als Ergebnis von Aushand­ lungsprozessen.

zueinander passende Puzzlesteine (Teilaufgaben) zu zerlegen. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, aus bei den Partnerunternehmen vorhandenen Bausteinen (akteur­ gebundene Teilaufgaben) ein neues Bauwerk (Gesamtaufgabe des Netzwerks) zu bauen, das ein neues Marktpotential erschließt. Genau wie im von Sarasvathy (2001) beschriebenen Prozess der Effectuation sind Ausgangspunkte der Verhandlungen die Kompetenzen und Kapazitäten der potentiellen Partner, verbunden mit deren unternehmerischen Ambitionen und Risikobereitschaften. Wertschöpfungsnetzwer­ ke sind für die beteiligten Unternehmen ein geeignetes Mittel, um mit begrenztem Ressourceneinsatz („Affordable Loss“ im Prozess der Effectuation) gemeinsam mit Partnern einen vorsichtigen ersten Schritt zur Erschließung neuer Marktpotentiale zu gehen. Ergebnis des Aushandlungsprozesses ist die Arbeitsteilung zwischen den Part­

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nerunternehmen, d. h. welche Bausteine in die Netzwerk-Wertschöpfungsarchitektur aufgenommen werden und welches Partnerunternehmen für die jeweilige Leistung verantwortlich ist. Im Prozess der organisatorischen Gestaltung werden in der Konzeptionsphase al­ ternative Organisationslösungen erstellt und bewertet (vgl. Bach et al. 2017, S. 87 ff.). Die Bewertung der Gestaltungslösungen erfolgt dabei anhand ihrer Zielwirksamkeit in Bezug auf die Erreichung von Gestaltungszielen. Analog müssen auch die im Pro­ zess der Effectuation auf Netzwerkebene entstehenden alternativen Organisationslö­ sungen anhand ihrer Zielwirksamkeit bewertet werden. Als Zielinhalte kann dabei auch auf der Netzwerkebene auf die Gestaltungsziele der betrieblichen Organisation (vgl. Bach et al. 2017, S. 67 ff.) zurückgegriffen werden. Beim Gestaltungsziel der Ent­ wicklungsorientierung geht es darum, auf erforderliche Änderungen der Wertschöp­ fungsarchitektur oder Mengenänderungen beziehungsweise neue Kundenbedürfnis­ se flexibel reagieren zu können. Des Weiteren gilt es bei Wertschöpfungsnetzwerken Regelungen zu treffen, die es dem Netzwerk erlauben, seinen Fortbestand durch Ein- und Austritte einzelner Mitglieder sicherzustellen. Eine entwicklungsorientierte Organisationsgestaltung für Wertschöpfungsnetzwerke ist dann gegeben, wenn die Organisationslösung eine mit der Branchenarchitektur kompatible Dekomposition und Modulstruktur aufweist oder zumindest standardisierte Schnittstellen zu den Marktpartnern (auch auf intermediären Märkten) gewährleisten kann. Auch für Wertschöpfungsnetzwerke gilt, dass es nur durch eine Orientierung am Marktgeschehen gelingen kann, am Absatzmarkt die für die Leistungen des Wert­ schöpfungsnetzwerks erwünschten Preise zu erzielen. Liegt der Engpass jedoch auf dem Beschaffungsmarkt, gelten die gleichen Überlegungen einer effizienten Infor­ mationsversorgung der verantwortlichen Netzwerkpartner analog. Dem wird mit dem Gestaltungsziel der Marktorientierung Rechnung getragen. Die Bewertung der Organisationslösungen erfolgt daher anhand der Informationsverarbeitungskapa­ zität der Organisationslösung in Richtung Märkte. Alternativ sollten die jeweiligen Entscheidungen denjenigen Netzwerkpartnern übertragen werden, die den engsten Marktkontakt haben. Darüber hinaus gilt es im Sinne einer Ressourceneffizienz zu beurteilen, inwiefern die unternehmensübergreifende Organisationslösung einer technologisch bestmög­ lichen Ausführung der Aufgaben und somit optimalen Nutzung der Ressourcen na­ hekommt. In Bezug auf Wertschöpfungsnetzwerke heißt dies, dass jede Aktivität von demjenigen Partnerunternehmen ausgeführt werden sollte, welches über die größten Spezialisierungsvorteile in dieser Aktivität verfügt und somit die höchsten Tauschge­ winne auf Netzwerkebene verspricht. Demgegenüber ist als Gestaltungsziel der Pro­ zesseffizienz zu prüfen, inwiefern die Verteilung der Teilaufgaben auf verschiedene Partnerunternehmen den Prozessfluss nicht unterbricht. In einem Wertschöpfungs­ netzwerk resultiert Prozesseffizienz insbesondere aus der Gestaltung der Schnittstel­ len zu anderen Aufgabenträgern, d. h. aus der Wertschöpfungsarchitektur. Darüber hinaus kann mangelnde Prozesseffizienz aufgrund von Betriebsblindheit und Oppor­

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tunismus durch die Einrichtung von Netzwerk-Koordinationseinheiten eingeschränkt werden. Komplexe Systeme – dies trifft auf Wertschöpfungsnetzwerke in noch größerem Umfang zu wie auf Unternehmen – müssen auf ein übergeordnetes Ziel ausgerichtet werden. Organisationslösungen sollten daher auch anhand ihrer Führungseffizienz bewertet werden. Da die Mitwirkung im Netzwerk auf freiwilliger Basis erfolgt, geht es bezüglich dieses Gestaltungsziels bei Wertschöpfungsnetzwerken insbesondere darum, mit Hilfe der Netzwerkverfassung Steuerungseinheiten im Netzwerk einzu­ richten und diese mit Weisungs- und Kontrollrechten auszustatten. Schließlich ist zu prüfen, ob – analog zur Humanressourcen-Orientierung in der betrieblichen Or­ ganisation – die Eigeninteressen der potentiellen Netzwerkpartner angemessen be­ rücksichtigt werden. Sieht ein Unternehmen keine Möglichkeit, durch Mitwirkung am Wertschöpfungsnetzwerk seine Ziele zu erreichen, so wird es aus dem Netzwerk austreten.

3.3 Gestaltungsmittel in Wertschöpfungsnetzwerken Aufbauend auf die Gestaltungsziele sind die in einem Wertschöpfungsnetzwerk zur Verfügung stehenden Gestaltungsmittel auszuwählen und zu gestalten. Als grundle­ gende Gestaltungsmittel der Organisation kann auch in Wertschöpfungsnetzwerken auf die Arbeitsteilung zwischen spezialisierten Netzwerkunternehmen und die Ko­ ordination bei der Leistungserbringung zurückgegriffen werden. Die Arbeitsteilung zwischen den Netzwerkpartnern wird faktisch durch die Beitritts- und Austrittsent­ scheidungen der Unternehmen als „Task-cum-Agents“ (vgl. Baldwin 2008, S. 156) festgelegt. Diese wurde bereits als Frage nach den Gestaltungsträgern analysiert, wes­ halb an dieser Stelle nicht nochmals darauf eingegangen wird. Alle anderen Formen der Arbeitsteilung finden entweder innerhalb der rechtlichen Grenzen der beteilig­ ten Unternehmen oder als Zulieferer-Abnehmer-Beziehung statt. Unternehmensin­ terne Arbeitsteilung kann durch hierarchische Weisungen koordiniert werden, die Abstimmung der Zusammenarbeit mit Lieferanten erfolgt über Märkte und Preise. Im Fokus stehen daher nun die Regelungen zur Abstimmung der Aufgabenausfüh­ rung in Bezug auf Aktivitäten, die die Partnerunternehmen als eigene Beiträge für das Wertschöpfungsnetzwerk zugesagt haben. Aus organisationstheoretischer Sicht können dabei – sofern die Kooperationsverträge beziehungsweise die Netzwerkver­ fassung dies vorsehen – innerhalb eines Wertschöpfungsnetzwerks die gleichen Ko­ ordinationsmechanismen eingesetzt werden wie zur Koordination der Mitarbeiter in einem Unternehmen. Hier sind strukturelle, technokratische und personelle Koordi­ nationsmechanismen zu unterscheiden. In Netzwerken unabhängiger Partnerunternehmen besteht immer die Gefahr, dass einzelne Unternehmen ihre Eigeninteressen über die Interessen des Netzwerks stellen. Gleichzeitig gibt es aber in Netzwerken keine natürliche beziehungsweise

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rechtlich vorgeschriebene Steuerungsinstanz, wie z. B. den Vorstand einer Aktien­ gesellschaft oder die Geschäftsführung einer GmbH. Dennoch können sich die Part­ nerunternehmen im Einklang mit der Theorie der Verfügungsrechte darauf einigen, dass zum Wohle aller Partner eine organisatorische Einheit geschaffen wird, die Wei­ sungsbefugnisse gegenüber den Mitgliedsunternehmen hat. Faktisch entsteht eine Hierarchie im Netzwerk, mit der präsituativ die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass auch innerhalb des Wertschöpfungsnetzwerks Steuerungseinheiten mit Weisungsbefugnissen, synonym Instanzen, bei Bedarf Abstimmungsbedarfe zwi­ schen den weisungsgebundenen ausführenden Unternehmen regeln. In der Praxis haben sich zur strukturellen Koordination in Netzwerken verschiede­ ne Formen der Steuerungseinheiten bewährt (vgl. Bach et al. 2017, S. 336 ff.). Die häufigste Form ist die Einrichtung eines dauerhaften Koordinationsausschusses, in dem alle Partnerunternehmen vertreten sind. Aufgrund der personellen Zusam­ mensetzung mit Vertretern aus allen Partnerunternehmen kann ein Ausschuss je­ doch nur in unregelmäßigen Abständen tagen und daher nur Entscheidungen zu Grundsatzfragen treffen. Zur Steuerung des Tagesgeschäfts müssen folglich andere strukturelle Einheiten diese Aufgabe übernehmen oder zur Übernahme der Koordi­ nationsaufgabe geschaffen werden. So hat sich in Wertschöpfungsnetzwerken mit nur wenigen Partnern eine nebenamtliche Übernahme von Koordinationsaufgaben durch Führungskräfte der Partnerunternehmen bewährt. Ist die Koordinationsauf­ gabe hingegen umfassender und nicht mehr nebenamtlich zu bewältigen, so kann die Steuerungsfunktion entweder zeitlich befristet und im Turnus wechselnd oder auch dauerhaft einem der Netzwerkunternehmen übertragen werden. Insbesondere Strategische Netzwerke sind dadurch gekennzeichnet, dass ein fokales Unternehmen als sogenannte „Hub Firm“ Weisungsrechte gegenüber den anderen Unternehmen ausübt. Oftmals bestehen Unternehmen, die über die für die Erschließung der Markt­ potentiale wichtigsten Ressourcen verfügen, im Aushandlungsprozess darauf, in der Netzwerkverfassung ein solches Koordinationsrecht rechtlich zugesichert zu bekom­ men. Auf diese Weise übernehmen z. B. die Automobilhersteller die Koordination ihrer durch spezifische Investitionen und Verträge an sie gebundenen Zulieferernetz­ werke. Ist keines der am Wertschöpfungsnetzwerk beteiligten Unternehmen aufgrund seiner Ressourcen gegenüber den anderen Partnern in einer überlegenen Verhand­ lungsposition, so kann eine Steuerungsstelle oder Steuerungseinheit auch als eigene Rechtsperson geschaffen werden. So hat z. B. die Star Alliance eine Steuerungseinheit mit eigener Rechtsform gegründet und dieser in der Netzwerkverfassung Weisungs­ rechte übertragen. Vom Standort Frankfurt aus nimmt diese Steuerungseinheit im Auftrag der Partnerunternehmen zentrale Koordinationsaufgaben wahr, unter ande­ rem im Bereich IT und in Bezug auf Beitritte und Austritte aus dem Netzwerk sowie deren Integration in das Netzwerk. Die Vorteile einer zunächst losen Kopplung der Wertschöpfungspartner können durch eine zu starke strukturelle Koordination auch verloren gehen. Wesentliches Ko­ ordinationsinstrument in Wertschöpfungsnetzwerken ist daher die sogenannte tech­

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nokratische Koordination. Dieser Begriff kennzeichnet die Abstimmung bei der Auf­ gabenausführung durch die Vorgabe von Terminen, Zeiten, Input- und Outputgrößen in Form von Systemen, Programmen und Plänen (vgl. Bach et al. 2017, S. 81 f.). Wich­ tigstes Instrument der technokratischen Koordination in Wertschöpfungsnetzwerken ist ein gemeinsames Planungs- und Kontrollsystem, das die Beiträge der zu koordi­ nierenden Partnerunternehmen abbildet und deren Aufgabenausführung gedanklich vorwegnimmt. Sowohl eine gemeinsame Sachzielplanung im Bereich der Absatzpla­ nung als auch die derivativen Pläne der Beschaffungsplanung, Produktionsplanung oder Personalplanung dienen ebenso der Abstimmung der Netzwerkpartner bei der Aufgabenausführung wie die Formalzielplanung in Form der Budgetierung und Ver­ teilung der Tauschgewinne gegebenenfalls ergänzt um gemeinsame Investitionsplä­ ne. Es bedarf jedoch einer strukturellen Regelung in der Netzwerkverfassung, welche die für die Partnerunternehmen verbindlichen Pläne verabschiedet. Bereits die Aushandlung der Beiträge in der Konzeptionsphase des Gestaltungs­ prozesses im Kontext der Netzwerk-Wertschöpfungsarchitektur verdeutlicht, dass erst standardisierte Beiträge und Schnittstellen die unternehmensübergreifende Zusam­ menarbeit ermöglichen und die Koordination der Aufgabenausführung vereinfachen. Daraus folgt eine in der Praxis auch in Wertschöpfungsnetzwerken häufig anzu­ treffende Form der Standardisierung von Prozessen in Form von Programmen. Sie beschreiben die detaillierte Vorgabe der einzelnen Ausführungsschritte nach Art und Menge. Programme sind also objektivierte Handlungsinstruktionen, auf welche Art und Weise die Tätigkeiten verbindlich auszuführen sind. Voraussetzungen einer Pro­ grammierung der Aufgabenausführung sind die Gleichartigkeit und Wiederholbarkeit der Aufgaben. Instrumente, mit deren Hilfe Programme dokumentiert werden, sind Verfahrensrichtlinien, Handbücher, Ablaufbeschreibungen, Kriterien und Prüfkatalo­ ge, Fact Sheets, Laufzettel, Checklisten, aber auch Prozesshandbücher und Standard Operating Procedures. Technokratische Koordinationsinstrumente sind heute meist in IT-Systemen hinterlegt. In kleineren Wertschöpfungsnetzwerken kann dies z. B. ein gemeinsames Warenwirtschaftssystem sein, in größeren Netzwerken komplette Business-Suite-Lösungen. Faktisch bilden heute die IT-Systeme formale Vorgaben ab, was traditionell unter dem Begriff der Formalisierung diskutiert wurde. In Wertschöp­ fungsnetzwerken mit weniger stark ausgeprägten Weisungsrechten wäre eine erfolg­ reiche Arbeitsteilung ohne Programme oftmals gar nicht möglich. Jacobides (2005, S. 476 ff.) beschreibt daher Standardisierung und Programmierung als notwendige Voraussetzungen der unternehmensübergreifenden Arbeitsteilung. Die Vorgabe des einzusetzenden Instruments und der jeweiligen Eingabe und Nutzungsmöglichkeiten schränkt einerseits den Handlungsspielraum der Partnerunternehmen ein, erhöht jedoch andererseits die Zielwirksamkeit des arbeitsteiligen Zusammenwirkens. Wichtig ist hier festzuhalten, dass eine technokratische Koordination nur die in der Netzwerkverfassung zugesagten Beiträge der Partnerunternehmen umfasst und daher naturgemäß zunächst starr erscheint. Flexibilität entsteht jedoch durch die Möglichkeit der Neuverhandlung einzelner Beiträge oder der Aufnahme weiterer oder

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der Verabschiedung bereits gebundener Partnerunternehmen. Sowohl die Verab­ schiedung von technokratischen Koordinationsinstrumenten als auch Entscheidun­ gen über Bei- und Austritte bedürfen jedoch wiederum einer Organisationshierarchie beziehungsweise einer Einheit, die solche Beschlüsse trifft. Da diese Entscheidungen jedoch grundsätzlicher Natur sind, können Beschlüsse zu technokratischen Koordi­ nationsmechanismen, wie z. B. ein gemeinsames Supply Chain Management, auch paritätisch besetzte Ausschüsse beschließen, sie bedürfen nicht notwendigerweise der Einrichtung einer dauerhaften Stelle oder Rechtsperson. Schließlich kann als dritte Koordinationsform auch in Wertschöpfungsnetzwer­ ken auf die personelle Koordination zurückgegriffen werden. Eine Abstimmung der Aufgabenausführung erfolgt dann dadurch, dass durch die Besetzung von Stellen in verschiedenen Unternehmen mit der gleichen Person Informationsasymmetrien überbrückt und Interessenkonflikte geregelt werden. Da die Besetzung einer Stel­ le mit einem mit den technokratischen Koordinationsinstrumenten vertrauten Auf­ gabenträger sehr schnell eine koordinierende Wirkung entfaltet, kommt personelle Koordination insbesondere bei der Aufnahme neuer Partnerunternehmen in ein Wert­ schöpfungsnetzwerk zum Einsatz. Typische Beispiele hierfür liefert das IT-Outsour­ cing, wobei häufig zunächst nicht nur die Aufgaben, sondern auch die Mitarbeiter des Kundenunternehmens übernommen werden, um auf diese Weise den Betrieb sicherzustellen und bei der anschließenden Systemintegration und dem Aufbau tech­ nokratischer Koordinationsinstrumente auf Erfahrungen und spezifisches Wissen dieser Mitarbeiter zurückgreifen zu können.

4 Schlussbetrachtung Die vorangegangene Analyse hat gezeigt, dass der Gestaltungsorientierte Ansatz der Organisation sich auch auf die Organisation der Produktion und Logistik in Wert­ schöpfungsnetzwerken anwenden lässt. Gleichzeitig zeigen sich insbesondere hin­ sichtlich des Gestaltungsprozesses deutliche Unterschiede im Vergleich zur Organi­ sation von Produktion und Logistik in Betrieben, bei denen darüber hinaus sowohl der Gestaltungsbereich als auch die Gestaltungsträger durch die Unternehmensver­ fassung gesetzlich legitimiert sind. Die wesentlichen Erkenntnisse lassen sich in Thesen zusammenfassen: 1. Der Zusammenschluss von rechtlich und wirtschaftlich selbständigen Unterneh­ men zu einem Wertschöpfungsnetzwerk ist als Prozess des Entrepreneurship zu begreifen. Ausgangspunkt sind Marktpotentiale (Opportunities), die von einem Unternehmen identifiziert und positiv bewertet werden, gleichzeitig aber nur ge­ meinsam mit komplementären Partnerunternehmen erschlossen werden können. 2. Das Denken in Wertschöpfungsarchitekturen und Branchen-Standardarchitek­ turen erleichtert sowohl auf der Unternehmensebene als auch auf der Netzwerk­

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ebene die Analyse, welche komplementären Beiträge Unternehmen in Wert­ schöpfungsnetzwerke einbringen können und welche Marktpotentiale sich durch unternehmensübergreifende Wertschöpfung aus den Beiträgen der Partnerunter­ nehmen erschließen lassen. 3. Wertschöpfungsnetzwerke unterscheiden sich von reinen Zulieferer-AbnehmerBeziehungen dadurch, dass die beteiligten Unternehmen riskante Vorleistungen erbringen, mit deren Hilfe sie die identifizierten Marktpotentiale gemeinsam er­ schließen wollen. Während die Koordination der Zulieferer auf Märkten über Prei­ se erfolgt, bedarf es zur Konstitution eines Wertschöpfungsnetzwerks spezifischer Investitionen zur Abstimmung der Wertschöpfung über Schnittstellen und Sys­ temintegration. 4. Sowohl der organisatorische Gestaltungsbereich, die Gestaltungsträger als auch die Arbeitsteilung zwischen den Partnerunternehmen eines Wertschöpfungsnetz­ werks sind das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, bei dem sich das Prozess­ ergebnis im Sinne einer Effectuation (vgl. Sarasvathy 2001) aus den Beiträgen der potentiellen Partner zusammensetzt. Jedes Partnerunternehmen bietet Beiträge an, über deren Aufnahme in die Netzwerk-Wertschöpfungsarchitektur als „Taskcum-Agent“ (vgl. Baldwin 2008) verhandelt wird. Somit verändert sich mit der wechselseitigen Auswahl der Beiträge/Partnerunternehmen auch die NetzwerkWertschöpfungsarchitektur. 5. Während die Arbeitsteilung im Netzwerk durch die Kopplung von Beiträgen an die Aufgabenträger im Verhandlungsprozess festgelegt wird, bedarf es zur Koordination der Aufgabenerfüllung auch in Wertschöpfungsnetzwerken des Einsatzes von Koordinationsinstrumenten. Neben strukturellen Koordinations­ instrumenten, wie z. B. Koordinationsausschüssen oder vertraglich vereinbarten Weisungsrechten einer Hub Firm, kommen insbesondere technokratische Koor­ dinationsinstrumente wie gemeinsame IT-Systeme zum Einsatz. Darüber hinaus kann zur kurzfristigen Koordination insbesondere neu aufgenommener Netz­ werkpartner auch personelle Koordination genutzt werden. 6. Auf der Netzwerkebene ergeben sich die verfügbaren Kapazitäten aus den von den Partnerunternehmen zugesagten Beiträgen. Kapazitäten auf Netzwerkebene sind daher zumindest innerhalb einer Bandbreite ex ante in der Netzwerkverfassung zu regeln. Auf der Unternehmensebene fließen die für die befristete Dauer der Verträge im Wertschöpfungsnetzwerk gebundenen Kompetenzen und Kapazitä­ ten als feste Planungsgrößen in die Strategie- und Planungsprozesse ein. Wäh­ rend der Vertragsdauer sind diese Beiträge gesetzt, die Kapazitätsoptimierung in den Partnerunternehmen erfolgt anhand anderer Stellhebel. 7. Während der Vertragslaufzeit können auf der Netzwerkebene die Kompetenz und die Kapazität des Wertschöpfungsnetzwerks durch die Aufnahme beziehungs­ weise das Ausscheiden von Netzwerkmitgliedern angepasst werden. Bei der Aus­ handlung der Netzwerkverfassung ist daher darauf zu achten, dass diesbezüglich eindeutige Regelungen im Interesse der beteiligten Unternehmen vereinbart wer­ den.

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Michael Reiß

Change Management: Erfolgsfaktor für den hyperkomplexen Wandel von Produktions- und Logistiksystemen 1 2 3 4 4.1 4.2 4.3 4.4 5 6

Problemstellung | 125 Die Veränderungslandschaft im Produktions- und Logistikmanagement | 127 Produktions- und Logistikmanagement im Zeichen von hyperkomplexem Wandel | 129 Parameter, Patterns und Paradigmen zur Handhabung des hyperkomplexen Wandels | 131 Überblick | 131 Parameter des Change Managements | 133 Patterns des Change Managements | 134 Paradigmen des Change Managements | 136 Implementierung des hybriden Change Managements | 140 Zusammenfassung und Ausblick | 141 Literatur | 142

Zusammenfassung. Die Kumulation zahlreicher technologischer Änderungen (z. B. Industrie 4.0, Internet der Dinge, Smart Factory, Web 2.0), innovativer Geschäftsmo­ delle (z. B. Hybridprodukte, Engineer-to-Order) und Organisationsstrukturen (z. B. Ecosystems, Co-creation, Projektifizierung, Crowdsourcing) schafft eine hyperkom­ plexe Landschaft von extrem unterschiedlichen und dynamischen Veränderungen. Die Komplexität des Wandels induziert einen Bedarf für einen Meta-Wandel im Ma­ nagement des Wandels, der mitunter als „Change Management 2.0“ oder „Change 4.0“ charakterisiert wird. Vor dem Hintergrund der Hyperkomplexität müssen die gängi­ gen Ansätze des Wandels auf einen Tauglichkeitsprüfstand gestellt werden. Dies gilt für alle drei Ebenen des Change Managements, also für die Parameter (z. B. Werk­ zeuge, Prozesse), Patterns (z. B. Kaskadierung, Step-by-Step-Vorgehensweisen) und Paradigmen wie Agile Manufacturing, Lean Management, Business Process Reen­ gineering, Total Quality Management oder Total Productive Maintenance. Hybride Werkzeuge (z. B. Medienmixe, Blended Learning und Blended Teamwork), hybride Muster (z. B. die Down-up-Koordination oder das ambidextre Lernen) sowie hybride Paradigmen (z. B. logischer Inkrementalismus, Co-produzierter Wandel) bilden die Dreh- und Angelpunkte für das Handling von Hyperkomplexität. Sie gehorchen der Logik, komplexe Lösungen als Antwort auf komplexe Problemstellungen zu nutzen und nicht eine Komplexitätsreduktion vorzunehmen. Allerdings stellt die Implemen­ tierung dieser ambivalenten hybriden Konzepte eine große Herausforderung dar. https://doi.org/10.1515/9783110473803-008

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1 Problemstellung Das Produktions- und Logistikmanagement wird derzeit mit einem extrem umfangrei­ chen Spektrum von Veränderungen konfrontiert (vgl. Baltes/Freyth 2017, S. 3 ff.; Ehren­ mann 2015, S. 130 ff.): Die technologischen Treiber des Wandels umfassen Konzepte wie die Industrie 4.0 (vgl. Liao et al. 2017), Smart Factory (vgl. Strozzi et al. 2017), Additive Fertigungsverfahren („3D-Drucker“), Rapid Prototyping, Internet der Dinge (IoT), Ma­ schinenlernen, Telematik, RFID, Drohnen, Augmented Reality, Smart Grids, kollabora­ tiveIndustrieroboter, Cyber-physischeSysteme, erneuerbareEnergien, digitaleKonver­ genz, Predictive Analysis, Big Data (vgl. Matthias et al. 2017) sowie Web 2.0-Infrastruk­ turen für die Kommunikation und das Wissensmanagement. Der Strategiesektor deckt geschäftsfokussierte Strategien wie das Angebot hybrider Produkte, IT-Service Ange­ bote (vgl. z. B. XaaS: Everything as a Service, Betreibermodelle, Cloud Manufacturing; Zhang, L. et al. 2014), wissensintensive Geschäftsmodelle, Sharing-Modelle (vgl. Sca­ raboto 2015), Globalisierung, Mass Customization (vgl. Barman/Canizares 2015) und produktionsfokussierte Strategien, z. B. Offshoring oder den Übergang von Make-toStock zu Engineer-to-Order (vgl. Akinc/Meredith 2015) ab. Darüber hinaus wird das Pro­ duktions- und Logistikmanagement von diversen Änderungen auf dem Gebiet der Soft Factors bestimmt: Dazu gehören Compliance-Themen (von nationalen Regulierungen bis hin zum UN Global Compact), Umweltstandards (z. B. Kreislaufwirtschaft, nach­ haltige und grüne Produktion), geänderte Arbeitsbeziehungen („New Work“; Arbeit 4.0, vgl. Roth 2017) und Führung (Führung 4.0: vgl. Schwarzmüller/Brosi/Welpe 2017, Wagner 2017) sowie das Reputationsmanagement, also Corporate Social Responsibili­ ty und ethische Integritätsstandards für die Geschäftsbeziehungen entlang der Supply Chain. Schließlich werden zahlreiche Veränderungen der Organisationsstrukturen und der Geschäftsbeziehungen umgesetzt: Hierzu zählen unternehmensübergreifende Produktionsstrukturen (z. B. regionale Cluster), Outsourcing, Supply Chain Manage­ ment, Lieferantenbeziehungsmanagement, Geschäftsprozessmanagement, virtuelle (grenzenlose) Organisationsformen, (vgl. Wadhwa/Mishra/Chan 2009), Open Innova­ tion Management (vgl. Carayannis/Meissner 2017), Business Ecosystems, Netzwerk­ strukturen, Concurrent Engineering, Co-Produktion (mit Kunden, vgl. z. B. Reichwald/ Piller 2009, S. 54 f.) sowie das Management by Projects (Projectification). Die skizzierten Treiber des Wandels stehen durchgängig für a) neue Konzepte im Produktions- und Logistikmanagement und für b) den Wandel, d. h. Konzept-KontextAnpassungen für das Change Management (vgl. Merz 2016, S. 96 ff.). Die umrissenen neuen Konzepte schaffen Herausforderungen für Change Manager. Einige dieser Kon­ zepte und Formen des Wandels sind produktionsspezifisch, wie z. B. E-Manufacturing (vgl. Cheng/Bateman 2008), Additive Manufacturing, Smart Factory, Mass Customiza­ tion, Tele-Wartung und Vendor Managed Inventory. Einige stellen generische Trends dar, die auch das Produktions- und Logistikmanagement beeinflussen. Hierzu ge­ hören vor allem die Digitalisierung (vgl. Kane et al. 2017, S. 2 ff.; Bitkom Research; Forschungszentrum Informatik 2017; Accenture 2017, S. 20 ff.), Virtualisierung, Mo­

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dularisierung, Cloud Computing, Servitization (vgl. Baines/Bigdeli/Bustinza 2017), Projectification, Big Data (vgl. Grover/Kar 2017, S. 203 ff.), Predictive Analytics und Globalisierung. Das Change Management kann das Produktions- und Logistikmanagement bei der Bewältigung dieser Herausforderungen unterstützen (vgl. May/Stahl 2016; Kuula/ Putkiranta/Toivanen 2012). Ferner bestehen mehrere Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Management-Domänen: Beide basieren auf Lernprozessen und Wissens­ management, etwa durch die Nutzung der sogenannten Schwarm-Intelligenz bezie­ hungsweise der Wisdom of the Crowd mit Hilfe von Web 2.0-Tools, also Online-Com­ munities, Blogs und Wikis. Darüber hinaus nutzen sie identische Management-Werk­ zeuge und -Muster. Dies gilt beispielsweise für mehrere Hybridansätze (vgl. Reiß 2013, S. 170 f.), die in beiden Management-Domänen zum Einsatz kommen: So kommen ambidextre Strategien, sprich die Kombination der Exploration neuer ManagementFormen mit der verbesserten Nutzung („Exploitation“) bereits etablierter Ansätze sowohl im Produktions- und Logistikmanagement (vgl. Tamayo-Torres/Roehrich/ Lewis 2017) als auch im Change Management zur Anwendung (vgl. March 1991; Bir­ kinshaw/Zimmermann/Raisch 2016, S. 39). In ähnlicher Weise dient Mass Customization als ein geeignetes Hybridkon­ zept, das die Ziele der Kostenorientierung und der Kundenorientierung sowohl für Produktionsprozesse als auch für Veränderungsprozesse in Einklang bringt. Da Change-Aktivitäten meist mehrere Change-Vorhaben gleichzeitig betreffen, sorgt ein massenindividualisiertes Change Management dafür, dass die jeweiligen Kunden, sprich Auftraggeber und Betroffene, individualisierte Lösungen zu überschaubaren Kosten erhalten. Dies gelingt beispielsweise durch die individualisierte Konfiguration von Standardmodulen, etwa Workshop-Modelle oder Zielvereinbarungen. Bei der Co-Produktion und Co-Creation handelt es sich um weitere Hybridkonzep­ te, die das Produktions- und Logistikmanagement und das Change Management glei­ chermaßen unterstützen (vgl. z. B. Ceccagnoli et al. 2012). Die Co-Produktion in einem Change-Prozess erweitert insofern den gängigen Partizipationsansatz („Betroffene zu Beteiligten machen“; vgl. Reiß 2012, S. 48), als zusätzlich zu deren Interessen auch die Lösungsvorschläge der Betroffenen einbezogen werden. Folglich agieren die Betroffe­ nen sowohl als Stakeholder als auch als Problemlöser, die ihr Wissen und ihre Fähig­ keiten in das Change-Vorhaben einbringen. Diese hybride Form der Involvierung kann in einen co-produzierten, mitunter auch einen co-kreierten Wandel münden. Dadurch verbessert sich nicht nur die Qualität der Lösungsansätze. Darüber hinaus ermöglicht diese Variante der Involvierung auch neue Formen der Risikoteilung: Sowohl die effi­ zienzmindernden Schuldzuweisungen im Fall eines Misserfolgs als auch Widerstände infolge von Not-Invented-Here-Reaktionen werden reduziert. Die beiden kollaborati­ ven Organisationsformen des Change Managements lassen sich zwischen den beiden extrem asymmetrischen Organisationsformen des Wandels interpolieren: Auf der ei­ nen Seite der fremdgesteuerte Wandel (in der Regie von Projektleitern und Lenkungs­ ausschüssen), auf der anderen Seite der selbstinitiierte Wandel, etwa in Gestalt des Kaizen-Prozesses.

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2 Die Veränderungslandschaft im Produktions- und Logistikmanagement Die Erscheinungsformen des Wandels im Produktions- und Logistikmanagement lassen sich in einer Veränderungslandschaft lokalisieren, die aus den drei Sektoren Programm (P), Ressourcen (R) und Organisation (O) besteht, wie Abbildung 1 veran­ schaulicht.

Programm

Ressourcen Maschinenlernen Offshoring

Smart factory Mass Customization Roboter

On Demand -Modelle

IoT

Produkt-Service-Angebote

Cyber-physische Systeme Simulation

Engineer-to-Order Geschäftsmodelle

Digitalisierung Virtualisierung Servitization Modularisierung E-Business Nachhaltigkeit Compliance …

XaaS-Angebote „Sharing“Geschäftsmodelle

Business Process Management

Industrie 4.0 Telematik

Internet TeleWartung

Web 2.0 Mashups

Digitaler Arbeitsplatz Supply Chain Management

Projectification

Social Networking Co-Produktion

Open Innovation Crowdsourcing

Big Data

Virtuelle Organisation

Supplier Relationship Management

Organisatorische Netzwerke Online Communities

Ecosystems

Organisation Abb. 1: Veränderungslandschaft im Produktions- und Logistikmanagement.

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In dieser PRO-Landschaft breiten sich lokale Veränderungen sowohl intra- als auch intersektoral aus. Die Abbildung 1 illustriert diese Ausweitung anhand von technolo­ gischen Änderungen als Auslöser des Wandels. Es gibt zwei Arten von Mechanismen, die für die Verbreitung und Verbreiterung lokaler Veränderungen verantwortlich sind: Enabling und Alignment. Anhand von Abbildung 1 kann man die Kombination der beiden Mechanismen im Produktions- und Logistikmanagement nachvollziehen: Di­ gitale Infrastrukturen im Ressourcensektor ermöglichen die Implementierung neuer Konzepte im Ressourcen-, Organisations- und Programmsektor (vgl. Baroncelli 2016). Das Enabling, etwa von virtuellen Arbeitsstrukturen, generiert dabei keine innovati­ ven Strukturen, sorgt jedoch für mehr Effizienz, indem es beispielsweise die Kosten einer Make-to-Order-Produktion reduziert und damit die Mass Customization perfek­ tioniert. Darüber hinaus lösen neue Konzepte Veränderungen in anderen Baustei­ nen des Produktions- und Logistikmanagements aus, um auf diesem Weg eine Stim­ migkeit (Alignment) zwischen allen alten und neuen Bausteinen sicherzustellen. Im Zusammenhang mit Smart Manufacturing müssen die Fähigkeits- und Bereitschafts­ faktoren des Mitarbeiterverhaltens (z. B. Medienkompetenzen, Fachkompetenzen) angepasst werden, da sich nur so das Selbstorganisationspotenzial tatsächlich aus­ schöpfen lässt. Ganz allgemein müssen technische Ressourcen mit Humanressourcen abgestimmt werden, vor allem mit Blick auf die digitale Führung und den digitalen Arbeitsplatz („Arbeit 4.0“). Analog erfordern Big Data Analytics eine 5G WirelessKommunikationstechnologie, um das Potenzial des Internet der Dinge nutzen zu können. Die Smart Factories der Original Equipment Manufacturers müssen entlang der Supply Chain mit den digitalen Infrastrukturen von Lieferanten und Kunden ab­ gestimmt werden, damit eine Smart Supply Chain zustande kommt. Ferner gilt es, die Implementierung von Organisationsvirtualität (z. B. Arbeiten im Anywhere-AnytimeModus; vgl. Eurofound 2017; International Labour Office 2017) und von Repräsentati­ onsvirtualität (z. B. virtuelle Realität, Simulation, Computer Animation, Avatare) zu synchronisieren (vgl. Reiß/Steffens 2010, S. 78). Schließlich müssen sich Organisati­ onsstrukturen an die Geschäfts-, Ressourcen- und Wettbewerbsstrategien anpassen. Lokale, technologisch getriebene Veränderungen im Ressourcensektor (vgl. Abbil­ dung 1) haben in aller Regel nur einen geringen Einfluss auf die Gesamtperformance des Produktions- und Logistikmanagements. Nur mit integrierten Ansätzen, die auf den Enabling- und Alignment-Mechanismen basieren, lässt sich eine PerformanceSteigerung bewerkstelligen. Mit anderen Worten wird eine Kosten-Nutzen-Analyse von Smart Factory, Internet der Dinge oder Web 2.0 nur dann einen nennenswerten posi­ tiven Effekt verzeichnen, wenn diese Veränderungen durch Anpassungen in den Ge­ schäftsmodellen (vgl. Arnold/Kiel/Voight 2016) und interorganisationalen Strukturen begleitet werden. Gleichzeitig erzeugt die umfassende Change-Landschaft eine signi­ fikante Erhöhung der Komplexität von Aktivitäten des Change Managements. Zusätz­ lich zu dieser spezifischen Komplexitätsherausforderungen müssen mehrere generi­ sche Herausforderungen bewältigt werden, mit denen jedwede Change-Initiative zu kämpfen hat: Zu diesen „Klassikern“ gehören vor allem Widerstand (z. B. Akzeptanz­

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probleme; vgl. Ullrich et al. 2017, S. 297 f.), etwa im Zusammenhang mit den Prekarisie­ rungs- und Jobkiller-Risiken durch Automatisierung und Roboterisierung, ferner Träg­ heit, Inkompatibilität und diverse Fallgruben für die Promotoren des Wandels (z. B. Aktionismus- oder Erfolgsfalle; vgl. Reiß 2012, S. 146 ff.).

3 Produktions- und Logistikmanagement im Zeichen von hyperkomplexem Wandel Die zentrale Herausforderung für das Produktions- und Logistikmanagement ange­ sichts der skizzierten Veränderungen wird weniger durch die jeweiligen Inhalte der Veränderungen als vielmehr durch deren Komplexität definiert (vgl. Lawrence 2015). Dabei ist Komplexität keinesfalls nur ein Problem der Vielzahl von Veränderun­ gen. Weitere Facetten der Komplexität kann man aus den Charakterisierungen die­ ser Veränderungen als „disruptiv“ (vgl. Christensen/Raynor/McDonald 2015; Na­ gy/Schuessler/Dubinsky 2016), „Transformationen”, „industrielle Revolution” oder „Neuerfindung des Unternehmens“ ablesen. Offensichtlich zeichnet sich der Wandel in Produktions- und Logistiksystemen auch durch a) Diversität, als Wesensmerkmal z. B. von Mass Customization, Co-Produktion und Push-Pull-Steuerung sowie durch b) Dynamik aus, etwa im Fall von Backsourcing oder Re-shoring (vgl. Brennan/Ferdows/ Godsell 2015), dem Übergang von „Internet der Dinge“ zum „Internet der Services“ sowie Leap-frogging-Verhalten von Kunden und neuen Herausforderungen für die Cy­ bersecurity. Vor diesem Hintergrund ist eine nähere Beschäftigung mit dem Komple­ xitätsphänomen erforderlich, auch um zu vermeiden, dieses Konstrukt als Leerformel zu verwenden. Eine Analyse ergibt, dass es sich bei der Komplexität um ein mehrdi­ mensionales Konstrukt handelt, was sich beispielsweise im sogenannten VUCA-World Modell (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) oder in IBM’s vier Vs der Big Data (Volume, Variety, Velocity, and Veracity) niederschlägt. Wie Abbildung 2 ver­ deutlicht, lässt sich die umrissene Veränderungskomplexität im Produktions- und Logistikmanagement anhand einer Kombination von vier Komplexitätsdimensionen modellieren und erklären (vgl. Reiß 2004; Reiß 2012, S. 4). Für ein besseres Verständnis der Komplexitätsherausforderung bietet es sich an, die vier Dimensionen zu zwei „Archetypen” zu verdichten: Die beiden Dimensionen des und-verknüpften Wandels lassen sich zu „Diversität“ verdichten, analog die bei­ den Dimensionen des oder-verknüpften Wandels zu „Dynamik“. Dieser zweidimen­ sionale Zugang erlaubt eine Unterscheidung zwischen „einfacher“ und „komplexer“ Komplexität. Komplexe Komplexität resultiert aus einer Kumulation von Diversität und Dynamik. Sehr treffend lässt sich das Wesen der komplexitätsinduzierten Heraus­ forderung für das Produktions- und Logistikmanagement durch den Begriff „Hyper­ komplexität“ erfassen (vgl. Jehle/Hildebrandt/Meister 2016; El Sawy et al. 2010; Zohar/ Morgan 1996). Diese Herausforderung übersteigt die häufig anzutreffende Komplexi­

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Komplexität des Wandels Diversität

Dynamik

Und-verknüpfter Wandel

Oder-verknüpfter Wandel

Vielzahl

Vielfalt

Vieldeutigkeit

Veränderlichkeit

• Anzahl

• Scope

• Unschärfe

• Instabilität

• Menge

• Widerspruch

• Unsicherheit

• Diskontinuität

• Reichweite

• Varietät

• Konfusion

• Speed

• Häufigkeit

• Antagonismus

• Vagheit

• Volatilität

• Größe

• Konflikt

• Intransparenz

• Überraschung

• Dichte

• Pluralismus

• Entropie

• Chaos

• Scale

• Divergenz

• Zufall

• Fragilität

• Volumen

• Spezifität

• Paradoxie

• Wachstum

• …



• …

• …



Abb. 2: Komplexitätsdimensionen im Change Management.

tätsfortpflanzung, etwa „Vielzahl erzeugt Vielfalt, Vielfalt erzeugt Vieldeutigkeit und Vieldeutigkeit wiederum Veränderlichkeit“. Diversität geht immer dann Hand in Hand mit einer spezifischen Herausforde­ rung, wenn zwei konfliktäre Ziele oder konträre Lösungsansätze mit im Spiel sind: Einerseits erfordert dies das Ausbalancieren zweier widersprüchlicher Navigations­ daten, also Ziele und Anforderungen. Dieses Balancing soll Desorientierung und Handlungsunfähigkeit vermeiden. Andererseits kombiniert ein Blending zwei Lö­ sungsansätze, die beide lediglich zweitklassig sind. Da in der Regel keine Ideallösung verfügbar ist, werden zwei zweitbeste Lösungen kombiniert (vgl. Reiß 2013, S. 26 f.). Dies erfolgt sowohl im Produktions- und Logistikmanagement (z. B. Cyber-physische Systeme) als auch im Change Management, etwa in Gestalt des Co-produzierten Wan­ dels. Offensichtlich eignet sich das Blending als nützliches Instrument im Umgang mit Komplexität. Immer wenn es sich bei den kombinierten Komponenten um heterogene, ge­ gensätzliche und antithetische Bausteine handelt, werden die Mischungen als Hy­ bridkonzepte bezeichnet. Mitunter ist der hybride Charakter direkt aus den Bezeich­ nungen ablesbar, etwa im Fall von hybriden Clouds, Coopetition beziehungsweise Koopkurrenz (vgl. Ehrenmann/Reiß 2011; Bouncken et al. 2015), Leagility, Augmented Reality (vgl. Reiß/Steffens 2010a, S. 186 f.), Mass Customization, Prosumers, organi­

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sierte Anarchie oder geführte Evolution. Beim Blending verzichtet man auf die Sub­ stitution des jeweils vorhandenen Lösungsansatzes (z. B. Lean Manufacturing) durch einen neuen Ansatz, etwa Agile Manufacturing. Während alle fokussierten Ansät­ ze sich tendenziell als dogmatisch und orthodox herausstellen, sind Hybridansätze durch und durch pragmatisch, wobei die Kombination nicht selten einen paradoxen Charakter hat (vgl. Schad et al. 2016).

4 Parameter, Patterns und Paradigmen zur Handhabung des hyperkomplexen Wandels 4.1 Überblick Die Hyperkomplexität erfordert primär einen Ausgleich zwischen zwei inkompatiblen Performance-Kriterien: Zum einen fungiert Integration als Antwort auf die und-ver­ knüpfte (konjunktive) Komplexität, sprich Diversität, zum anderen stellt Flexibilität die Antwort auf die oder-verknüpfte (disjunktive) Komplexität dar, vor allem Dyna­ mik. Die hybriden Modelle einer „flexiblen Integration“ oder einer „integrierten Fle­ xibilität“ (vgl. Abbildung 3) umreißen die zentrale Herausforderung für das Change

Flexibilität Integrierte Flexibilität/ Flexible Integration

Dynamik

45

o 45

o

Integration

HyperKomplexität

Diversität

Abb. 3: Harmonisierung von Komplexitätslast und Komplexitätspotenzial.

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Management in der hyperkomplexen Umgebung des Produktions- und Logistikma­ nagements. Ohne Zweifel lässt sich diese Herausforderung nur meistern, wenn das existierende Management des Wandels selbst einem fundamentalen Wandel unterzo­ gen wird. Abbildung 3 illustriert die Überführung der zweidimensionalen Komplexitätslast (Diversität und Dynamik) in ein korrespondierendes zweidimensionales Potenzial zur Handhabung von Diversität (via Integration) beziehungsweise von Dynamik (via Fle­ xibilität). Integration dient als Sammelbegriff für Aktivitäten der Konfliktlösung, Her­ stellung von Interoperabilität, für das ganzheitliche Product Lifecycle Management und für die Schaffung von Synergie. Flexibilität steht für Responsiveness, Anpas­ sungsfähigkeit und Agilität (vgl. Pérez Pérez/Serrano Bedia/López Fernández 2016; Bernardes/Hanna 2009). „Integrierte Flexibilität“ oder „flexible Integration“ bezeich­ net die Antwort auf Hyperkomplexität, also auf die kumulierte Komplexitätslast aus „Hohe Diversität x hohe Dynamik“ (vgl. Kapoor/Klueter 2015). Die Palette der Ansätze einer simultanen Bereitstellung von Flexibilität und Integration enthält komplexe adaptive Systeme (vgl. Schneider/Somers 2006; McDaniel 2007) und dynamische Fähigkeiten (vgl. Helfat/Peteraf 2009; Teece 2012). Außerdem bringen (paradox an­ mutende) Leitideen wie z. B. „Small within big is beautiful” oder „dezentralisierte Zentralization”, also Kompetenzzentren in dezentralen Organisationseinheiten von Konzernen oder Netzwerken, diesen hybriden Ansatz zum Ausdruck. Offensichtlich orientiert sich die Abstimmung von Komplexitätslast und Komple­ xitätspotenzial nicht an der Philosophie der Komplexitätsreduktion, etwa über ein Freezing von Spezifikationen, Durchschnittsbildung, Ausblenden, Standardisierung oder Linearisierung. Vielmehr beruht die Komplexitätsbeherrschung auf einer Kom­ plexitätsoptimierung (z. B. im Sinne von „Simplexity“; vgl. Pina e Cunha/Rego 2010) oder auf einer optimierten Dynamik nach dem Vorbild des „Edge of Chaos“. Die Op­ timierung greift auf Prinzipien des Komplexitätsfits wie z. B. das Gesetz der erforder­ lichen Varietät zurück. Solche Leitideen des Komplexitätsmanagements sind verein­ bar mit komplexen Mix-Ansätzen (z. B. multimodaler Transport) oder Hybridkonzep­ ten wie Mass Customization, Koopkurrenz oder Co-Produktion. Vor diesem Hintergrund erweist sich das Akzeptieren von Komplexität als ein­ zig geeignete Leitidee für das Change Management, zumal Komplexität für alle Über­ gangsphasen charakteristisch ist, wo sich der Aufbau einer neuen Ordnung und der Abbau der alten Ordnung überlagern. Folglich erfordert das komplexitätsfokussier­ te Change Management den kompetenten Umgang mit Komplexität, wozu unter an­ derem die Kompetenzdomänen der Modularisierung, Fokussierung und die Nutzung von Heuristiken in Gestalt von Versionenkonzepten und provisorischen Lösungen ge­ hören. Der Sedimented-Change-Ansatz (vgl. Cooper et al. 1996) sensibilisiert dabei für die erforderliche Komplexitätstoleranz: Statt den Status quo radikal zu ersetzen, er­ hält das Schichtungsprinzip einige der vorhandenen Bausteine (z. B. rekonfigurier­ bare Produktionssysteme, Fertigungszellen, Mini Factories, Gruppentechnologie) und fügt neue Bausteine (vgl. Abbildung 1) als eine überlagernde Schicht hinzu.

Change Management |

133

Es liegt nahe, dass alle existierenden Ansätze des Change Managements (vgl. Van de Ven/Poole 1995; Kotter 2011) angesichts der Herausforderungen der Hyper­ komplexität auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Diese Prüfung umfasst alle Ebenen des komplexitätsfokussierten Change Managements, also Paradigmen, Pat­ terns und Parameter: Paradigmen wie z. B. Organisationsentwicklung oder Business Transformation besitzen einen weiten Geltungsbereich bei schwacher Spezifikati­ on der Bausteine. Demgegenüber haben Parameter (wie z. B. Kick-offs, Open Space, World Café, Promotoren des Wandels) einen eng definierten Anwendungsbereich kombiniert mit einem hohen Spezifikationsgrad. Auf der mittleren Ebene zeichnen sich Patterns durch einen mittleren Anwendungsbereich und einen mittleren Präzisie­ rungsgrad aus. Mit Blick auf die Vielzahl werden einige wenige Prinzipien (mitunter in „Manifesten“ fixiert) mit einer Fülle von Werkzeugen kombiniert.

4.2 Parameter des Change Managements Diese Management-Ebene enthält die Prozesse und den Werkzeugkasten für den Um­ gang mit komplexem Wandel (vgl. Brehm/Petry 2014, S. 295 ff.). Ein werkzeugunter­ stütztes Management verbessert insofern die Kosteneffizienz, als die Problemstellun­ gen mit Hilfe von Routinen und standardisierten Werkzeugen (z. B. Szenario-Analyse, ABC-Analyse) gehandhabt werden. Darüber hinaus ermöglichen standardisierte Tools eine intersubjektive Handhabung, die immer dann benötigt wird, wenn mehrere Ak­ teure einen Konsens im Umgang mit hyperkomplexen Veränderungen finden müs­ sen. Die umfangreichen Werkzeugkästen von Change Managern enthalten heterogene Komponenten, die teilweise das Ergebnis der Kombination von Werkzeugen aus dem Business Process Reengineering und dem Total Quality Management zu einem hybri­ den Werkzeugkasten darstellen (vgl. Dassisti 2010). Solche hybriden Werkzeuge eig­ nen sich als wirkungsvolle Mittel zur Handhabung der Hyperkomplexität. Dies gilt für hybride Medienmixe (z. B. Open Space Tools), die eine gemischt virtuell-physische In­ teraktion ermöglichen (vgl. Reiß/Steffens 2010b) ebenso wie für Ansätze des Blended und Augmented Learning im Dienste des Change Managements, die Face-to-Face- Ler­ nen (z. B. Präsentationen, Diskussionen) mit E-Learning (z. B. Webinars) kombinieren. Diese Kombinationen sorgen für eine Balance von Reichhaltigkeit und Reich­ weite der Change-Kommunikation, weil geographische Grenzen sowie die Grenzen von Unternehmen in Produktionsnetzwerken überwunden werden können (vgl. Cheng/Farooq/Johansen 2015, S. 392 ff.). Darüber hinaus kommen hybride Carrot & Stick-Anreizsysteme zum Einsatz, die Belohnungen und Bestrafungen kombinieren. Bei der Rekrutierung von Change Managern ist eine hybride Make & Buy-Mischung üb­ lich, bei denen sowohl auf interne Promotoren des Wandels (z. B. Projektmanager) als auch externe Promotoren (z. B. Unternehmensberater) zurückgegriffen wird. Schließ­ lich werden auch hybride Organisationsformen verwendet: Einerseits kombiniert das Blended Teamwork die Face-to-Face-Kick-offs mit der virtuellen, auf Telepräsenzsyste­

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men (z. B. Tele- oder Videokonferenztechnik) basierende Teamarbeit (vgl. Reiß 2009). Andererseits hat die Mischung von mehreren Promotoren des Wandels insofern einen hybriden Charakter, also sie auf einer Zusammenarbeit von Experten (z. B. Informa­ tiker, Verfahrensingenieure, Systemintegratoren), Champions (Prozesspromotoren) und Machtpromotoren (Sponsoren) eines Change Vorhabens beruht.

4.3 Patterns des Change Managements Zu den generischen Mustern des Change Managements gehören Managementzyklen (z. B. Feedforward- und Feedback-Mechanismen, Plan-Do-Check-Act-Ansätze), die die Navigationsdaten für den Wandel stufenweise konkretisieren: Auf eine Fixierung der Zielsetzungen („Wohin“) folgt die Problemerkennung („Diagnose der Distanz zwi­ schen Status quo und Zielsetzung“) und anschließend die Problemlösung („Wege zum Ziel“) mit Hilfe von Planung, Organisation, Implementierung und Koordination. Ein weiteres erfolgskritisches Muster für die Bewältigung von hyperkomplexem Wandel ist das Ausbalancieren von Risiken und Chancen, wobei Change Manager ih­ re Aufmerksamkeit sowohl auf die Determinanten von Erfolg und von Misserfolg des Wandels richten. Risiken und Chancen gehen in die Modelle der Change-Performance sowohl als Faktoren (z. B. günstige oder ungünstige Kontextgegebenheiten) oder als Resultate, etwa negative oder positive Abweichungen von den formulierten Anforde­ rungen an die Effektivität und Effizienz des Change-Prozesses ein. Die Leitidee der Komplexitätsoptimierung lässt sich im Wesentlichen durch ver­ schiedene Muster der Implementierung umsetzen, allen voran die schrittweise oder stufenweise Implementierung (vgl. Bildstein/Seidelmann 2017, S. 234). Das bekann­ teste Muster der komplexitätsfokussierten Implementierung ist das generische Zwei­ stufenmodell, das aus einer Pilotphase und einer Roll-Out-Phase besteht. Grundsätz­ lich basieren stufenweise Vorgehensweisen auf einer Segmentierung oder Modula­ risierung, d. h. auf der Dekomposition des gesamten Change-Programms in relativ getrennt einsetzbare Bausteine. Diese Segmentierung wird sowohl auf das zu im­ plementierende Konzept als auch den Kontext des Change-Vorhabens angewendet, wie Abbildung 4 veranschaulicht. Das Konzept wird in Domänen zerlegt, z. B. Hard­ ware, Betriebssysteme, Anwendungssoftware und Netze, der Kontext in Areale, etwa Standorte, Abteilungen oder Geschäftseinheiten. Kommen beide Varianten der Seg­ mentierung gleichzeitig zum Einsatz, vollzieht sich die Implementierung über inkre­ mentelle Schritte. Dieses „Insel-Muster“ bildet den Kontrast zum nichtsegmentierten Vorgehen, das gemeinhin als das „Big Bang-Muster“ charakterisiert wird. Das Step-by-Step-Pattern dient als Leitbild für mehrere Vorgehensmodelle des Change Managements. So liefert beispielsweise das Migrationsmanagement, ur­ sprünglich entwickelt für den optimalen Übergang von vorhandenen Softwarelö­ sungen auf neue Softwarelösungen, wertvolle Anhaltspunkte für die sequentielle Ablösung von alten Bausteinen durch neue Bausteine. In ähnlicher Weise erbrin­

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Konzeptumfang

GesamtKonzept

PilotMuster

Big BangMuster

KonzeptDomänen

InselMuster

ModulMuster

KontextAreale

GesamtKontext

KontextUmfang

Abb. 4: Zweigleisige Segmentierung für die Step-by-Step-Implementierung.

gen stufenweise Vorgehensweisen mitunter Näherungslösungen, ohne dass dadurch die komplette Implementierung des neuen Konzepts bewerkstelligt würde. Die zen­ trale Frage bezüglich dieser komplexitätsreduzierenden Approximationsstrategien lautet: Welcher Approximationsgrad muss erreicht werden, um die durch den Wan­ del angestrebten Performance-Verbesserungen zu erzielen? Die Annahme, dass die Performance der Implementierungsaktivitäten stetig mit dem Approximationsgrad zunimmt, erweist sich häufig als unrealistisch: Erst ein sehr hoher Approximations­ grad erfüllt die Performance-Anforderungen. Darüber hinaus bietet sich das Versio­ nen-Konzept für die schrittweise Implementierung an. Wie bei den sukzessiv imple­ mentierten Versionen von Software-Produkten nimmt die Reife des Konzepts infolge der stattfindenden Update- und Upgrade-Prozesse zu. Diesem Verbesserungsmuster unterliegt beispielsweise das Cloud Computing, etwa im Hinblick auf Sicherheits­ merkmale (vgl. Hänisch/Rogge 2017). Die Suche nach der optimalen Komplexität mündet in weitere Hybridansätze. Sie kombinieren Top-Down- und Bottom-Up-Prozeduren im Rahmen der Mehreben-Archi­ tektur des Change Managements. Wie bereits verdeutlicht, basiert das professionelle Komplexitätsmanagement nicht auf einer Komplexitätsreduktion durch inkremen­ telle Klein-Klein-Vorgehensweisen. Mitunter erfordert ein optimales Komplexitäts­ management sogar eine Erhöhung der Komplexität. Dies illustriert eine zweigleisige Implementierungsprozedur (vgl. Reiß 2012, S. 41 f.) für eine Smart Factory (vgl. Wang et al. 2016). Einerseits finden sich plausible Plädoyers für eine rationales Vorge­ hensmuster, bei welchem jeder weitere Schritt auf einer zuvor installierten Plattform aufbaut: Bei diesem Plattform-Pattern sorgt man zunächst für Grundprinzipien und technische Standards eines digital integrierten Produktionsprozesses, z. B. Product Lifecycle Management, Business Process Model and Notation und Standards für den

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Austausch von Produktmodel-Daten: ISO 1030. Anschließend werden die Facilities an diese Rahmenbedingungen angepasst, um beispielsweise eine Rekonfigurierbarkeit zu ermöglichen. Schließlich werden die digitalen Software- und Hardware-Kompo­ nenten implementiert. Genau umgekehrt wird im zweiten Vorgehensmodell, dem Mosaik-Pattern vorgegangen: Hier implementiert man zunächst einzelnen Baustei­ ne, beispielsweise RFID, Augmented Reality (Hardware und Software), Terminals und Cloud Services. Anschließend wird in einen integrativen Überbau investiert. Ein hybrider Ansatz nutzt die Stärken der beiden eingleisigen Vorgehensweisen und sorgt gleichzeitig für eine Kompensation der jeweiligen Schwächen. Diese zweigleisi­ ge Vorgehensstrategie stellt außerdem sicher, dass trotz der operativen Detailarbeit das Gesamtanliegen, sprich die Mission des Smart-Factory-Vorhabens nicht aus den Augen verloren wird.

4.4 Paradigmen des Change Managements Die Hyperkomplexität rückt die Paradigmen, also die Rahmenbedingungen für Mus­ ter und Werkzeuge, in den Mittelpunkt der Management-Konzepte (vgl. Van de Ven/ Poole 1995; Van de Ven/Poole 2005). Sowohl die einzelnen Paradigmen des Change Managements als auch die des Produktions- und Logistikmanagements unterschei­ den sich grundsätzlich hinsichtlich ihrer Anatomie. Einerseits gibt es fokussierte Pa­ radigmen, die jeweils aus einem konsistenten Cluster von Komponenten bestehen: So kombiniert etwa das Lean Management den kontinuierlichen Verbesserungsprozess, das Waste Management, Empowerment von Teams, Poka-Yoke und Schwergewichts­ projekt-Manager. Im Gegensatz dazu stellen gemischte Paradigmen eine Kombination von zwei (oder mehr) getrennten Clustern dar. Solche hybriden Paradigmen schlagen sich in Frameworks, Leitbildern, Grundprinzipien, Manifesten, Ideologien, Philoso­ phien und Kulturen nieder, die (auf den ersten Blick) unvereinbare Komponenten ent­ halten. Gerade diese hybriden Ansätze, bestehend aus antithetischen Grundprinzipi­ en und Philosophien, eignen sich als Ansätze zur Bewältigung der Hyperkomplexität. Die hybride Anatomie ist unschwer bei so den genannten mechanistisch-organischen Ansätzen des Change Managements erkennbar. Ein weiterer Ansatz kombiniert die Philosophien der partizipativen Organisationsentwicklung (z. B. für langfristige Vor­ haben) mit der hierarchisch angelegten Business Transformation (z. B. für kurzfristige Vorhaben unter Zeitdruck). Die Anwendbarkeit dieser generischen Ansätze lässt sich verbessern, wenn man sie in mehrere spezifische Ansätze aufteilt. Hierfür bietet sich eine Aufteilung in vier hybride Paradigmen an: Hybrider Organisationsmodus: Dieser kombiniert den fremdgesteuerten Wandel in der Regie der Change Manager auf der einen Seite mit dem selbstorganisierten Wan­ del in der Regie der betroffenen Stakeholder, also Mitarbeiter und Auftraggeber von Change-Vorhaben auf der anderen Seite. Man denke hier etwa an Partizipation in Ge­ stalt einer „reglementierten Selbstorganisation“.

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Hybrider Managementmodus: Bereits semantisch erkennbare Mischungen liegen den Ansätzen der geführten Evolution, des logischen Inkrementalismus und kon­ trollierten Chaos zugrunde. Hier zeichnet sich eine Komponente durch eine geringe („Minimal-invasive“) Interventionsintensität aus, weil hier lediglich eine realistische Rekonstruktion von Veränderungsprozessen anhand von Trends und Entwicklungs­ pfaden betrieben wird, etwa Outsourcing. Die Modelle orientieren sich an „Good Practices”, mitunter auch an Management-Moden und Hypes. Sie fokussieren Evolu­ tionsprozesse, z. B. die Supply Chain Evolution (vgl. MacCarthy/Blome/Olhager 2016), Koevolutionsprozesse und Pfadabhängigkeiten. Die andere, konträre Komponente basiert auf der rationalen Konstruktion von geplanten Veränderungen, die mit hoher Eingriffsintensität verfolgt werden und möglicherweise in spezifische Entwicklungs­ pfade abseits des Mainstreams münden. Da sich keiner der beiden Ansätze als über­ legen erwiesen hat, wurden gemischte Paradigmen wie z. B. die geführte Emergenz oder Selbstorganisation oder die Path Constitution (vgl. Sydow et al. 2012) entwickelt. Sie kombinieren die rationale Konstruktion und die realistische Rekonstruktion (vgl. Reiß 2012, S. 36 f.; Lovas/Goshal 2000). Aus Sicht dieser gemischten Paradigmen geht es beim Change Management nicht in erster Linie um Optimierung, sondern eher um Heuristiken und um Mechanismen wie Enabling, Facilitation und Inhibition. Hybrider Interventionsmodus: Implementierungsarbeit wird im Sinne dieses drit­ ten Paradigmas sowohl direkt durch Verhaltensbeeinflussung als auch indirekt durch den Aufbau von Veränderungspotenzialen betrieben. Die direkte Beeinflussung von Verhalten erfolgt über Interaktionen: Im Rahmen des interaktionellen Paradigmas ge­ lingt die Verhaltensbeeinflussung durch Kommunikation, Motivation, Transaktionen („Deals“) und Koordination. Demgegenüber handelt es sich beim Potenzialaufbau um eine Investition in die veränderungsfreundliche Infrastruktur. Im Mittelpunkt dieses infrastrukturellen Paradigmas steht das Empowerment durch den Aufbau von Lernfähigkeit, Veränderungsfähigkeit, Wandlungsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, Change-Readiness (vgl. Gärtner 2013), sogenannten komplexen adaptiven Systemen und Dynamic Capabilities (vgl. Birkinshaw/Zimmermann/Raisch 2016, S. 38 ff.). Das Potenzialspektrum umfasst neben dem Investment in Qualifikation, Einstellungen und Anreizsysteme auch flexible Vereinbarungen, Spielregeln und weitere Koordi­ nationspotenziale, etwa eine Vertrauensbasis. Eine Balance von direkter Verhaltens­ steuerung und indirektem Potenzialaufbau vermeidet sowohl Kurzsichtigkeit (z. B. Aktionismus) als auch Weitsichtigkeit (z. B. Visionsfokussierung) bei der Implemen­ tierung von innovativen Konzepten im Produktions- und Logistikmanagement. Al­ lerdings ignorieren einige Mainstream-Ansätze im Change Management, etwa das 8-Stufen-Modell (vgl. Kotter 2011), die aus der hybriden Anatomie ihrer eigenen Kom­ ponenten resultierenden Anwendungsschwierigkeiten. Hybride Veränderungsintensität: Der Einführungsprozess von neuen Konzepten des Produktions- und Logistikmanagements ist geprägt durch einen spannungsgela­ denen Mix von Kontinuität und Diskontinuität: Kontinuität entspricht dem Leitbild der Stabilität, Nachhaltigkeit, Beständigkeit, Berechenbarkeit, Identität, Sicherheit,

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Standardisierung und Routine (zur Erzielung von Lernkurveneffekten) sowie konti­ nuierlichen Verbesserung (Kaizen-Prozesse). Im Gegensatz dazu steht Diskontinuität für Dynamik, Wandlungsfähigkeit, Transformation, Flexibilität, Adaptivität, Antwort­ fähigkeit (Responsiveness), Fluidität, Innovativität, permanenten Wandel, Perpetual Beta und disruptive Innovationen (vgl. Ross/Rhodes/Hastings 2008). Auch hier gibt es eine Reihe punktueller Ansätze, die auf einem Ausbalancieren von Wandel und Stabi­ lität beruhen. Hierzu zählen mehrere Antworten auf die Wann-Frage, sprich Modelle der temporalen Verknüpfung: Das Spektrum umfasst vor allem das durchbrochene Gleichgewicht (Punctuated Equilibrium: Abfolge von marginalen und radikalen Ver­ änderungen; vgl. Gersick 1991; Romanelli/Tushman 1994, Graetz/ Smith 2010) und die Rhythmisierung von Wandel (vgl. Klarner/Raisch 2013). Antworten auf die WieFrage liefert das Modell des geschichteten Wandels (Sedimented Change), in dem vor­ handene Elemente nicht ersetzt, sondern lediglich von den neuen Elementen überla­ gert werden. Der Ansatz der Path Constitution kombiniert die Verfestigung von Pfaden mit dem Brechen von Pfaden (vgl. Sydow et al. 2012). Anspruchsvolle Modelle orien­ tieren sich dabei an übergeordneten Zielen, etwa an Agilität (vgl. Aghina/de Smet/ Weerda 2015), Fitness oder Rendite. Die Anwendung dieser betont rationalen Lehr­ buchansätze setzt allerdings voraus, dass den beteiligten Akteuren die Ursache-Wir­ kung-Zusammenhänge bekannt sind. Diese hybriden Ansätze der Mischung von Kontinuität und Diskontinuität las­ sen neben dem begriffskonstituierenden Ersetzungsverbund („Dualismus“) zwischen Kontinuität und Diskontinuität auch einen Ergänzungsverbund („Dualität“) zu. Sie tragen damit der faktisch bestehenden Ambiguität der Verbundbeziehung Rechnung (vgl. Farjoun 2010). Der Ersetzungsverbund folgt etwa dem Leitbild der abrupten „schöpferischen Zerstörung“. Demgegenüber nutzt der Ergänzungsverbund produk­ tive Umwege im Einführungsprozess, etwa kreative Erholungsphasen als Vorausset­ zung für innovative Problemlösungen nach dem Vorbild des Intervalltrainings. Die Bewertung von hybriden Paradigmen basiert häufig auf vereinfachten „Fluch oder Segen-Modellen“, d. h. entweder auf uneingeschränkt positiven Einschätzun­ gen („Best of both Worlds“) oder aber auf negativen Evaluationen („Stuck in the Middle“, „Wishy-washy“). Eine differenzierte Bewertung lässt sich mit einer „doppel­ ten“ Stärken-Schwächen-Analyse bewerkstelligen, wie Abbildung 5 am Beispiel des kombiniert infrastrukturellen und interaktionellen Change Managements (hybrider Interventionsmodus) veranschaulicht. Das „produktive“ Spannungspotenzial eines Mix aus direkter Intervention (Ver­ haltenssteuerung) und indirekter Intervention (Aufbau eines Change ReadinessPotenzials) schlägt sich idealerweise in einer synergetischen Stärken-Kumulation nieder, etwa der nachhaltigen, kostengünstigen und beschleunigten Implementie­ rung. Realistischer ist allerdings eine Stärken-Schwächen-Kompensation, also der positive Saldo einer Aggregation von Stärken und Schwächen: Hier gelingt ein Aus­ gleich der Schwächen einer Komponente (z. B. lange Installationszeiten und andere Flexibilitätsdefizite) durch die Stärken der jeweils anderen Komponente, z. B. kurze

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Potenzialaufbau

+

+ Stärken

-

•Weiter Anwendungsbereich •Auch unbekannte Bedarfe •Nachhaltige Wirkung •Proaktiver Einsatz •Fixkostendegression •…

Kompensation

Kumulation

Konflikt

Kompensation

Schwächen •Langwierige Installation •Hoher Abstimmungsbedarf •Gemeinkosten •Fixkosten •Weitsichtigkeitsrisiko •…

+

Chaos

-

+

Konflikt

-

Verhaltensbeeinflussung

Schwächen

Stärken

•Enger Anwendungsbereich •Nur bekannte Bedarfe •Kurzfristige Wirkung •Nur reaktiver Einsatz •Kurzsichtigkeitsrisiko •…

•Kurze Installationszeit •Wenig Abstimmungsbedarf •Variable Kosten •Zurechenbare Kosten •…

Abb. 5: Stärken-Schwächen-Evaluation des hybriden Interventionsmodus.

Implementierungszeiten. „Konflikte“ zwischen den heterogenen Komponenten, hier verstanden als ein negativer Saldo der Stärken-Schwächen-Aggregation, sind das Re­ sultat einer negativen Spannung, die sich in widersprüchlichen Orientierungsdaten (etwa kurzfristige versus langfristige Performance der Implementierung) und in Un­ verträglichkeit niederschlägt. „Chaos“ bezeichnet die Kumulation der Schwächen. Hier entsteht eine echte Dilemma-Konstellation, sprich Handlungsunfähigkeit und

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Lähmung. Um im konkreten Anwendungsfall zu einer Gesamtbewertung zu kommen, müssen die Teilbewertungen in den vier Feldern der Abbildung 5 aggregiert werden. Dabei ist zu beachten, dass die Performance-Indikatoren eines Change-Vorhabens im Zeitablauf variieren. Hier lassen sich drei Phasen im Lebenszyklus einer Change Projekts unterscheiden (vgl. Reiß 2012, S. 32): Die anfängliche Konfusionsphase ist durch Fehler, Hektik, Ängste, Wissenslücken und Leugnen der Relevanz von Indus­ trie 4.0, Cloud Computing oder Produktionsnetzwerken geprägt. Ein Change Manager ist hier vor allem als Coach gefordert. Er muss Widerstände abbauen und zugleich Misserfolgsbarrieren aufbauen. Die Diffusionsphase ist aus den Modellen der Verbrei­ tung neuer Technologien bekannt. Hier steht Diffusion für die Akquise von Unter­ stützern, den unternehmensweiten Roll-Out sowie für die Implementierung weiterer Module, bei der IT-Implementierung beispielsweise weitere Services wie Infrastruc­ ture-, Hardware- oder Platform-as-a-Service. In dieser Phase agieren Change Mana­ ger vornehmlich als Verkäufer des einzuführenden Konzepts und als Multiplikatoren. In der Erosionsphase schwächt sich die Wirkung der Implementierungsbemühungen auf das Verhalten der Betroffenen ab. Einer markanten Erosion unterlag beispielswei­ se der Computer Integrated Manufacturing (CIM)-Ansatz. Gerade die Hypes erodieren sehr schnell (vgl. bezüglich Industrie 4.0 hierzu Mertens/Barbian/Baier 2017, S. 63 ff.). In dieser Phase müssen die Change Manager einen Rückfall der Betroffenen in alte Ge­ wohnheiten verhindern, wofür sich Refreshment Workshops sowie der Einsatz neuer Konzeptversionen (z. B. Updates) eignen. Der Übergang von der Konfusions- in die Diffusionsphase korrespondiert mit dem Paradigma der Anti-Fragilität (vgl. Aven 2015; Bendell 2014; Holtfort 2015): Ein anti­ fragiler Change-Prozess ist nicht nur resilient (vgl. Bhamraa; Daniab/Burnarda 2011; Reiß 2016). Er nutzt darüber hinaus die Konfusion als ein Hebel zur PerformanceSteigerung, etwa für eine beschleunigte Diffusion oder für mehr Nachhaltigkeit des Wandels, sprich für eine entschleunigte Erosion. Demgegenüber scheitern fragile Change-Vorhaben häufig bereits in der Konfusionsphase.

5 Implementierung des hybriden Change Managements Wie mehrfach erläutert, stellen hybride Managementkonzepte ein zentrales Instru­ ment zur Bewältigung der Hyperkomplexität der Veränderungslandschaft im Produk­ tions- und Logistikmanagement dar. Dieser Megatrend hat zwei Auswirkungen auf das Change Management: Zum einen schlägt er sich in zahlreichen Mischansätzen für das Change Management nieder, vom logischen Inkrementalismus und der ge­ führten Evolution über den geplanten Wandel und die geplante Pfadkreation bis hin zu Kombinationen von digitalen und Face-to-Face-Instrumenten. Zum anderen müs­ sen spezifische Implementierungsaktivitäten sich mit einer Fülle von Hybridkonzep­

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ten beschäftigen, um sie mit dem existierenden Kontext in Einklang zu bringen. Die Workload für die Implementierungsarbeit steigt nicht zuletzt deshalb, weil im Produk­ tions- und Logistikmanagement immer häufig Einfachkonzepte durch Hybridkonzep­ te wie beispielsweise Mass Customization, Make & Buy, hybride Clouds oder Brickand-Click-Beschaffungskanäle ersetzt werden. Mit Blick auf die Implementierung diese Hybridkonzepte interessiert hier der Kos­ tenvergleich zur Implementierung von „reinrassigen“ Ansätzen, etwa von Massen­ fertigung oder Einzelfertigung. Hier lassen sich sowohl Argumente für niedrigere als auch für höhere Implementierungskosten finden (vgl. Reiß 2012, S. 274 ff.). Für nied­ rigere Implementierungskosten sprechen folgende Argumente: Häufig sind im Kon­ text bereits Einfachkonzepte vorhanden, so dass der Implementierungsprozess für das Hybridkonzept als eine Anreicherung dieses Einfachkonzepts interpretiert wer­ den kann. Hier gibt es Parallelen zum geschichteten Wandel (Sedimented Change), wo neue Konzepte alte Konzepte überlagern, ohne sie zu verdrängen. Ferner verursachen Hybride insofern weniger Widerstand, als sie meist nicht mit einer kreativen Zerstö­ rung einhergehen, kein radikales Entlernen erfordern oder involvierte Akteure nicht radikal entmachten. Schließlich können Best-of-Both-Worlds-Slogans die Implemen­ tierung durchaus beflügeln. Allerdings gibt es auch Gründe dafür, dass der Implemen­ tierungsprozess eines Hybridkonzepts teurer ausfällt als der eines Einfachkonstrukts. Zunächst erfordern Hybridkonzepte stets die Implementierung von zwei Instrumen­ ten, zwei Mustern und/ oder zwei Paradigmen. Ferner sind sie infolge der eingebauten Spannung weniger gut berechenbar, wodurch alle Bemühungen um eine Akzeptanz aufwändiger werden. Schließlich erzeugen derart „liberale“ Ansätze den Widerstand von Dogmatikern, besonders wenn diese mit ihrem vertrauten fokussierten Ansatz bis­ lang stets nur positive Erfahrungen gemacht haben.

6 Zusammenfassung und Ausblick Um die Prozesse des Wandels im Produktions- und Logistikmanagement zu unterstüt­ zen, ist ein „Metawandel“ im Change Management erforderlich. Dieser betrifft nicht nur die Parameter und Patterns, sondern auch die Paradigmen. Die Mehrheit der verfügbaren Ansätze kann die Herausforderung des hyperkomplexen Wandels nicht meistern, weil die Ansätze nicht in der Lage sind, simultan sowohl flexible als auch integrierte Lösungen für das Produktions- und Logistikmanagement bereitzustellen. Eine zentrale Lehre aus der Handhabung von Hyperkomplexität ist die erfolgskriti­ sche Relevanz von Hybridansätzen. Diese gleichermaßen „faszinierenden“ wie po­ tenziell „frustrierenden“ Konstrukte kompensieren die auftretende Komplexitätslast mit einem Komplexitätspotenzial. Dabei erweisen sich die Kombinationen von in­ frastruktureller und interaktioneller Intervention mit einem signifikanten Anteil von Dynamic Capabilities als äußerst effektiv in der Bewältigung der Hyperkomplexität (vgl. Ehrenmann 2015, S. 246 ff.).

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Ungeachtet ihres Problemlösungspotenzial generieren Hybridkonzepte auch ei­ ne Reihe von Problemstellungen: Die eingebaute Komplexität von Hybridkonstrukten wirft die Frage nach Alternativen auf: Eine Option ist in diesem Zusammenhang der Übergang vom Hybridkonzept auf eine seiner Komponenten. Dadurch werden Hybride zu Zwischenlösungen, ähnlich wie hybride Fahrzeugantriebe möglicherweise durch reine Elektroantriebe ersetzt werden. Als weitere Option kommt ein Investment in die Suche nach überlegenen Lösungskonzepten jenseits der pragmatischen Mischung von zweitbesten Lösungen in Betracht. Trotz der Attraktivität einer solchen Innovati­ onsstrategie bleibt ungewiss, ob dieses ehrgeizige Ziel erreicht werden kann.

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Martin Steinrücke und Wolfgang Albrecht

Optimierungsmodelle im Supply Chain Management 1 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 4 5 5.1 5.2 6

Grundlagen | 147 Strukturplanung in Supply Chains | 149 Entstehung von Wertschöpfungsnetzwerken | 149 Rekonfiguration von Wertschöpfungsnetzwerken | 151 Planung der Leistungserstellung in Supply Chains | 154 Zeitdiskrete Modellierungen | 154 Zeitstetige Modellierungen | 155 Integration von Gründungsplanung und Supply Chain Management | 156 Integration von Finanzplanung und Supply Chain Management | 158 Vollkommene Kapitalmärkte | 158 Unvollkommene Kapitalmärkte | 159 Instabile Unternehmensnetzwerke | 160 Literatur | 162

Zusammenfassung. Bei der Entscheidungsunterstützung der Integrations- und Ko­ ordinationsaufgaben im Supply Chain Management werden zunehmend mathema­ tische Optimierungsmodelle eingesetzt. Für die langfristige Strukturplanung eignen sich vor allem zeitdiskrete Ansätze, dagegen werden zeitstetige Ansätze den Erfor­ dernissen von kurzfristigen Entscheidungen bei der Leistungserstellung am besten gerecht. In Ergänzung hierzu werden Aspekte der Gründungs- und Finanzplanung einbezogen. Dagegen können zentrale Planungsmodelle in instabilen Supply Chains nur unter bestimmten Voraussetzungen eingesetzt werden.

1 Grundlagen Als eine spezielle Form eines Systems, das sich allgemein als geordnete Gesamtheit von Elementen, zwischen denen Beziehungen bestehen, definieren lässt (vgl. Worat­ schek 1995, S. 2438; Ulrich 1978, S. 277), kann ein sich vom Rohstofflieferanten bis zum Endkunden erstreckendes Wertschöpfungsnetzwerk verstanden werden, das auch als Supply Chain (SC) bezeichnet wird (vgl. Simchi-Levi/Kaminsky/Simchi-Levi 2008, S. 4). Es besteht oftmals aus rechtlich unabhängigen Standorten, die miteinander kooperieren. Das Supply Chain Management umfasst sowohl die Integration von Standorten als auch die Koordination der zwischen ihnen bestehenden Material-, Informations- und Finanzströme. Das Ziel ist eine ganzheitliche Optimierung von https://doi.org/10.1515/9783110473803-009

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SC-Netzwerken (SCN) unter Berücksichtigung einer bestehenden Kundennachfrage (vgl. Stadtler 2015, S. 3; Arndt 2013, S. 47; Christopher 2011, S. 2 ff.). Dabei werden funktionsgleiche Standorte zu SC-Stufen zusammengefasst (vgl. Chopra/Meindl 2013, S. 14 f.). Der dem gestalterischen Aspekt des Supply Chain Managements zuzuordnende Planungsbereich ist die standortübergreifende Strukturplanung (Abschnitt 2), die auf die Optimierung der Netzwerkkonfiguration abzielt (vgl. Fandel/Giese/Rauben­ heimer 2009, S. 47). Die Bezeichnungen und Abgrenzungen sind in der Literatur un­ einheitlich, so finden sich neben „Supply Chain Design“ auch die Begriffe „Strategic Network Design“, „Network Design“, „Supply Chain Network Design“ oder „Sup­ ply Chain Configuration Design“ (vgl. Korpela et al. 2002; Yan/Yu/Cheng 2003; Frei­ wald 2005, S. 16 ff.; Truong/Azadivar 2005; Melo/Nickel/Saldanha-da-Gama 2009; Chopra/Meindl 2013, S. 120 f.; Meyr/Wagner/Rohde 2015, S. 100; Schulte 2017, S. 791). Mehrheitlich werden diesem Planungsbereich die Gestaltung der physischen Distri­ butionsstruktur, die Standort- und Kapazitätsplanung und die langfristige Absatz­ planung zugerechnet (vgl. Meyr/Wagner/Rohde 2015, S. 100; Fleischmann/Kober­ stein 2015, S. 107 ff.). Dagegen unterstellt die Leistungsplanung (Abschnitt 3) gegebene Strukturen. Sie umfasst die netzwerkweite Beschaffungs-, Produktions-, Distribu­ tions-, Transport- und Absatzplanung. In der Literatur werden die Termini „Sales and Operations Planning“ und „Supply Chain Planning“ verwendet (vgl. Bowersox et al. 2013, S. 121 ff.; Schulte 2017, S. 793). Sie umfasst zudem sämtliche Prozesse, die – wie es durch den Begriff „Supply Chain Execution“ beschrieben wird – in­ nerhalb eines kurzfristigen Planungshorizonts von wenigen Stunden oder Tagen detaillierte Instruktionen für die unmittelbare Ausführung liefern (vgl. Schulte 2017, S. 796 f.). Im Folgenden geht es dann um die Einbeziehung der Gründungsplanung junger Unternehmen in die Struktur- beziehungsweise Leistungsplanung von SCN (Abschnitt 4) sowie die Integration von Finanzplanung und Supply Chain Manage­ ment (Abschnitt 5). In stabilen SCN sind oftmals die Voraussetzungen für eine institutionalisierte standortübergreifende Koordination (z. B. durch Fokalunternehmen) gegeben. In die­ sem Fall können zentrale Planungsmodelle eingesetzt werden (Abschnitte 2 bis 5) (vgl. Corsten/Gössinger 2008, S. 20 f.; Sydow 1992, S. 81; Rautenstrauch 2004, S. 365). Im Gegensatz dazu entstehen instabile Netzwerke durch einen spontanen, zeitlich begrenzten Zusammenschluss von Unternehmen. In diesem Fall können zentrale Planungsmodelle nur unter bestimmten Voraussetzungen, z. B. bei Existenz eines Schaltbrettunternehmens (vgl. Corsten/Gössinger 2016, S. 22), eingesetzt werden (Ab­ schnitt 6).

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2 Strukturplanung in Supply Chains 2.1 Entstehung von Wertschöpfungsnetzwerken Aus institutioneller Sicht folgt die Entstehung von Wertschöpfungsnetzwerken ge­ mäß Sydow (1992) zwei Grundmechanismen. Die Quasi-Externalisierung führt zur Aufhebung hierarchischer Über- und Unterordnungsbeziehungen in Unternehmen. Sie setzt eine Verringerung der Leistungstiefe der beteiligten Unternehmen voraus, wobei Bereiche, Funktionen oder Prozesse ausgelagert werden. Dadurch entwickeln sich ursprünglich hierarchisch organisierte Unternehmensteile tendenziell zu spezia­ lisierten, rechtlich unabhängigen Partnern. Für diese sind Kooperationen aufgrund ihrer geringen Größe oftmals von Vorteil. Bei der Quasi-Internalisierung kommt es hingegen zur Verfestigung von Kooperationsbeziehungen zwischen selbstständigen Unternehmen. Der Internalisierungsprozess ist durch eine nicht vollständig voll­ zogene Verdrängung des marktlichen Austausches durch hierarchische Über- und Unterordnungsbeziehungen gekennzeichnet. (vgl. Sydow 1992, S. 136 ff.; Kutschker/ Schmid 2008, S. 536 f.) Für die Stabilität von entstehenden Beziehungsmustern ist die strategische Struk­ turplanung von Bedeutung. Durch die Optimierung langfristig ausgerichteter Netz­ werkkonfigurationen ermöglicht sie die Schaffung eines verlässlichen Rahmens für Kooperationen. Wesentliche konfigurationsrelevante Grundprobleme sind beispiels­ weise die Standort- und Kapazitätsplanung sowie Zulieferer- und Zielmarktauswahl. Für die Standortplanung eignen sich Modellierungen, die auf das Warehouse Location Problem zurückgehen (vgl. Baumol/Wolfe 1958; Melo/Nickel/Saldanhada-Gama 2009, S. 402). Diese unterstellen, dass eine Auswahl zwischen potenziel­ len Standortalternativen unter Beachtung gegebener Kapazitäts- und Kostendaten erfolgt, die überdies auch die Allokation aggregierter Transportmengen beinhaltet. Basierend darauf existieren Modellvarianten, die spezifischen Erfordernissen der Entscheidungssituation gerecht werden (vgl. Klose/Drexl 2005, S. 8–22): – Beschränkung von Produktions-, Lager- und Transportkapazitäten, – Erfassung mehrerer Güter und der zugehörigen Erzeugnisstrukturen, – Erfassung besonderer Distributionsstrukturen, wie Hub-Spoke-Systeme oder Lie­ fertouren, – Erfassung rückwärtiger Materialflüsse zur Entsorgung und/oder Wiederaufberei­ tung, – Berücksichtigung von Unsicherheit. Während klassische Standortplanungsprobleme allenfalls Ausschnitte vollständiger Wertschöpfungsnetzwerke abbilden können, müssen Planungsmodelle die Leistungs­ verflechtung in mehrstufigen SCs in geeigneter Weise erfassen.

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Die strategische Kapazitätsplanung bezweckt eine optimale Bereitstellung von Kapazitäten an betriebenen Netzwerkstandorten. Soweit quantifizierbar, beschreiben Kapazitäten das mengenmäßige Leistungsvermögen, wobei dessen Maßstab die Aus­ bringungsmenge je Zeiteinheit ist. Da die Gesamtkapazität einer SC keine geeignete Basis darstellt, ist eine zeitliche, räumliche und funktionale Spezifikation der Kapa­ zitäten sinnvoll (vgl. Corsten/Gössinger 2016, S. 10). Obwohl es auch Ansätze gibt, welche die Kapazitätseinrichtung als stetiges Entscheidungsproblem betrachten (vgl. Chauhan/Nagi/Proth 2004), dominiert in der Literatur dennoch die diskrete Kapazi­ tätsplanung. Letztere zeigt sich in Standorten mit zuordenbaren Kapazitätsstufen, zu denen zulässige Kombinationen von relevanten Potenzialfaktoren (z. B. Arbeitskräfte, Maschinen, Regalflächen) zusammengefasst werden. Es existieren Konzepte, nach de­ nen Kapazitätsstufen kumulativ oder alternativ wählbar sind (vgl. Amiri 2006; Wollen­ weber 2007; Steinrücke/Albrecht 2016b). Während im ersten Fall die Beanspruchung mehrerer Stufen möglich ist, wobei jede zusätzliche Stufe eine zusätzliche Kapazitäts­ bereitstellung bedeutet, handelt es sich im zweiten Fall um sich gegenseitig ausschlie­ ßende Bereitstellungsmöglichkeiten. Auch externe Zulieferer (z. B. Rohstofflieferanten oder Outsourcing-Partner), die nicht durch die Standort- und Kapazitätsplanung erfasst werden, sind in die Optimie­ rung der Netzwerkkonfiguration einzubeziehen. Die grundsätzliche Eignung entspre­ chender Standorte wird dabei üblicherweise anhand qualitativer Kriterien abgeprüft, während die tatsächliche Aufnahme in ein Konfigurationsgefüge eher von quantitati­ ven Größen abhängig gemacht wird. Aufgrund der Heterogenität der Determinanten eignen sich für die Zuliefererauswahl insbesondere mehrstufige Ansätze mit nach­ folgend skizziertem Ablauf. Die Festlegung bewertungsrelevanter Kriterien kann ei­ ner Vorbereitungsphase zugerechnet werden. Darin müssen sowohl externe als auch interne Informationen gesammelt und aufbereitet werden. Die anschließende Phase beinhaltet eine Vorauswahl. Nach Eingrenzung des Planungshorizonts müssen poten­ zielle Zulieferer unter Beachtung bewertungsrelevanter Rahmenbedingungen gefun­ den werden. Als ungeeignet identifizierte Partner sind von der weiteren Betrachtung auszuschließen. In der finalen Phase erfolgen quantitativ fundierte Auswahlentschei­ dungen, beispielsweise auf Basis von Kapazitäts- und Kosten- beziehungsweise Zah­ lungsparametern (vgl. Hong et al. 2005). Zugehörige methodische Herangehensweisen der Zuliefererauswahl, die sich neben der Aufstellung mathematischer Optimierungs­ modelle in der Literatur etabliert haben (vgl. Corsten/Gössinger 2008, S. 199 ff.; Ja­ yaraman/Srivastava/Benton 1999), werden von Ho, Xu und Dey (2010) systematisiert. Durch mögliche Einschränkungen bei der Beanspruchung externer Beschaffungspart­ ner (z. B. Sourcingstrategien; vgl. Fandel/Giese/Raubenheimer 2009, S. 56 ff.; Eßig/ Hofmann/Stölzle 2013, S. 107 ff.) ergeben sich Netzwerkkonfigurationen, die jeweils unterschiedlichen strategischen Ausrichtungen gerecht werden können (vgl. Corsten/ Gössinger 2008, S. 47). Da die Befriedigung der Kundennachfrage als Triebkraft der Leistungserstellung und somit auch der Herausbildung zugehöriger Strukturen gilt (vgl. Christopher 2011,

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S. 38), wird die Konfiguration eines Wertschöpfungsnetzwerks schließlich auch durch die Zielmarktauswahl determiniert. Ähnlich wie bei den Zulieferern kann eine Vor­ auswahl von Märkten oder Marktsegmenten in einem mehrstufigen Phasenmodell un­ ter Heranziehung von Kriterien der Marktbewertung erfolgen (vgl. Meffert/Burmann/ Kirchgeorg 2015, S. 174 ff.; Walker/Mullins 2014, S. 151 ff.). Auf Grundlage realisier­ barer Gewinne und/oder beschränkter Kapazitäten sind Entscheidungen bei Zuläs­ sigkeit einer unvollständigen Nachfragedeckung darüber zu treffen, ob und gegebe­ nenfalls in welchem Umfang die im Vorfeld ausgewählten Märkte beziehungsweise Marktsegmente innerhalb des Planungshorizonts bedient werden (vgl. Steinrücke/ Albrecht 2015). Integrierte Entscheidungsmodelle der Netzwerkplanung entstehen, wenn die zu­ vor separat beschriebenen Teilprobleme zusammengeführt werden. Dies gelingt auf quantitativer Ebene durch gemischt-ganzzahlige Ansätze, die den Standortstatus und aggregierte Materialflüsse miteinander verknüpfen. Die von den Entscheidungsträ­ gern zu präferierende Konfiguration des Gesamtnetzwerks ist aus dem optimalen Lö­ sungsvektor des Modells ablesbar.

2.2 Rekonfiguration von Wertschöpfungsnetzwerken Die Rekonfiguration bestehender Wertschöpfungsnetzwerke kann durch die Unzu­ länglichkeit existierender Strukturen begründet sein (vgl. Oh/Ryu/Jung 2013) oder durch das Hinzutreten neuer Konfigurationsalternativen ausgelöst werden. In bei­ den Fällen bedarf es eines Einsatzes von Entscheidungsmodellen der strategischen Netzwerkplanung, welche die Veränderlichkeit der Netzwerkstruktur im Zeitablauf abbilden können. Aufgrund der Langfristigkeit des Planungshorizonts eignen sich dazu zeitdiskrete Modellierungen, welche die bereits im Rahmen der Netzwerkentste­ hung beschriebenen Planungsprobleme (Abschnitt 2.1) aufgreifen. In der Standortplanung lassen sich Konfigurationsänderungen durch zwei unter­ schiedliche Konzepte zeitlicher Entscheidungsabhängigkeiten beschreiben, nämlich durch sukzessive und simultane Ansätze. Sukzessive Ansätze erlauben eine Zerle­ gung des Problems in Teilprobleme, die jeweils für einzelne Perioden des Planungs­ horizonts gelten und nacheinander zu optimieren sind. Dabei gehen optimale Stand­ ortentscheidungen einer Periode (z. B. der Betrieb eines Werkes) als Datum in die Folgeperiode ein. Somit eignen sich solche Ansätze (wie z. B. ein für öffentliche Ver­ sorgungseinrichtungen formuliertes dynamisches Covering Location Problem; vgl. Schilling 1980) insbesondere für Planungssituationen, in denen ausschließlich ei­ ne Erweiterung bestehender Netzwerkkonfigurationen durch zusätzliche Standorte vorgenommen werden soll. Der wesentliche Vorteil dieses Modellierungsprinzips, der in schlanken Teilmodellen mit einer vergleichsweise geringen Anzahl von Ent­ scheidungsvariablen und Restriktionen besteht, hat sich durch die verbesserte Leis­ tungsfähigkeit der verfügbaren Hard- und Software jedoch marginalisiert, sodass es

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in der gegenwärtigen Literatur nahezu keine Bedeutung mehr besitzt. Letzteres recht­ fertigt sich auch dadurch, dass eine wie zuvor beschriebene Netzwerkerweiterung lediglich einen Spezialfall möglicher Konfigurationsanpassungen in Simultanmo­ dellen darstellt. Simultane Ansätze der dynamischen Standortplanung zielen auf die Optimierung der Konfiguration mittels eines alle Teilperioden des Planungsho­ rizonts umfassenden Modells ab. Dabei setzen sie den Betriebsstatus der Standorte unterschiedlicher Teilperioden zueinander in Beziehung, wobei Statusentscheidun­ gen einer Periode grundsätzlich unabhängig von denen einer Folgeperiode getroffen werden können. Durch Änderungen des Standortstatus lassen sich Eröffnungen und Schließungen modellieren, die entsprechende monetäre Konsequenzen (z. B. Eröff­ nungs- und Schließungskosten) mit sich bringen. Da Letztere sich üblicherweise in einer anderen Größenordnung bewegen als Kosten und Erlöse, die mit der Leistungs­ erstellung in den einzelnen Teilperioden verbunden sind, gelingt es, den langfris­ tigen Charakter von Standortentscheidungen zu wahren. Zur formalen Abbildung des zuvor dargestellten Problems in gemischt-ganzzahligen Modellen existieren zwei unterschiedliche Herangehensweisen: – Durch multiplikative Verknüpfung von Statusbinärvariablen zweier jeweils auf­ einanderfolgender Teilperioden in einer Zielfunktion zur netzwerkweiten Gesamtkostenminimierung entsteht ein quadratischer Ansatz, der keiner zusätz­ lichen Restriktionen und keiner Definition von Binärvariablen zur Standorteröff­ nung und -schließung bedarf. Mittels Substitution der multiplikativen Verknüp­ fung von Statusvariablen in der Zielfunktion durch eine binäre Hilfsvariable, die durch ein zusätzlich einzuführendes Restriktionensystem zu beschränken ist, kann eine Linearisierung vorgenommen werden (vgl. Klose 2001, S. 32 f.). – Andere Ansätze basieren auf Binärvariablen, die Standorteröffnungen und -schlie­ ßungen indizieren und folglich in einer Zielfunktion zur netzwerkweiten Gesamt­ kostenminimierung direkt mit entsprechenden Kosten bewertbar sind. Charak­ teristisch ist jedoch, dass diese Binärvariablen durch ein spezielles Restriktio­ nensystem miteinander zu verknüpfen sind und zudem üblicherweise einer impliziten Minimierung durch die Zielfunktion bedürfen (vgl. Wesolowsky/Tru­ scott 1975). Sollen jedoch neben den Kosten für Konfigurationsänderungen auch Erlöse (z. B. Liquidationserlöse) einbezogen werden, so eignet sich eine Verknüp­ fung durch ein Restriktionsgefüge ohne den zuvor beschriebenen Zielfunktions­ bezug (vgl. Albrecht 2014, S. 111 ff.). Eine Ergänzung um Aspekte der Kapazitätsplanung lässt sich vornehmen, indem die Statusbinärvariable eines Standorts um einen Index ergänzt wird, der seine Kapazi­ tätsstufe in der jeweiligen Teilperiode des Planungshorizonts bestimmt. Grundlegen­ de Ansätze der Literatur beschränken sich darauf, dass die Wahl der Kapazitätsstufe die periodenbezogenen Betriebskosten determiniert (vgl. Amiri 2006). Andere Ansät­ ze gewährleisten durch ein spezielles Restriktionensystem (vergleichbar zu Eröffnun­ gen und Schließungen in der Standortplanung), dass die gewählten Kapazitätsstufen

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aufeinanderfolgender Teilperioden zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dadurch lassen sich monetäre Konsequenzen von Kapazitätserweiterungen und -reduktionen im Zeitablauf erfassen (vgl. Albrecht 2014, S. 115 ff.). Möchte man aus Gründen existie­ render marktlicher, rechtlicher oder sozialer Rahmenbedingungen oder der Komple­ xitätsreduktion die zulässigen Abfolgen von Kapazitätsstufen beschränken, so bietet sich die Möglichkeit einer Zusammenfassung zu alternativen Kapazitätsprofilen an. Dabei erscheint es aus strategischer Perspektive sinnvoll, dass diese einem Standort zu Beginn des Planungshorizonts oder bei dessen Eröffnung zugewiesen werden und ab diesem Zeitpunkt die Entwicklung des Leistungsvermögens am Standort bis zu des­ sen Schließung, spätestens jedoch bis zum Ende des Planungshorizonts, determinie­ ren (vgl. Steinrücke/Albrecht 2016b). Da sich die externen Partner einer SC einer durch das Gesamtnetzwerk bestimm­ ten Standort- und Kapazitätsplanung entziehen, können dort keine entsprechenden Beziehungen zwischen Statusbinärvariablen einzelner Teilperioden hergestellt wer­ den. Auf Ebene der aggregierten Materialflüsse ergeben sich zeitliche Interdependen­ zen zwischen den Teilperioden durch periodenübergreifende Lagermengen an den Netzwerkstandorten sowie Nachliefermengen an den Märkten (Backorders; vgl. Kil­ ger/Wagner 2015, S. 148). Mögliche Einschränkungen von Konfigurationsänderungen können die Lang­ fristigkeit von Standort- und Kapazitätsentscheidungen in mehrperiodigen Optimie­ rungsmodellen bekräftigen und lassen sich durch die Einführung zusätzlicher Re­ striktionen implementieren (zur Begründung solcher Einschränkungen vgl. Hinojosa/ Puerto/Fernández 2000, S. 273). Entsprechend des jeweiligen Aufwands für Planung und Realisation kommen Forderungen nach Unumkehrbarkeit (z. B. für Standorte) und Dauerhaftigkeit (z. B. für Kapazitäten) in Betracht. Für Binärvariablen, die den Betriebsstatus eines Standortes in einzelnen Teilperioden repräsentieren, ergeben sich bezogen auf den gesamten Planungshorizont unterschiedliche kombinatorische Möglichkeiten. Wie zuvor beschrieben, lassen sich Eröffnungen und Schließungen durch Beziehungen zwischen dem Standortstatus einer aktuellen Periode t und der unmittelbar davorliegenden Periode t − 1 ausdrücken. Sollen nun Beschränkungen für Konfigurationsänderungen gelten, so ist zusätzlich auch die Bezugnahme auf den Standortstatus der Ausgangskonfiguration erforderlich. So können durch Einführung eines geeigneten Restriktionensystems Eröffnungen und Schließungen unzulässig werden, sofern zwischen Ausgangskonfiguration und der Periode t − 1 bereits eine Änderung des Standortstatus stattgefunden hat. Mögliche Konstellationen eines sich so ergebenden Teilproblems zeigt Abbildung 1. Eine abgeschwächte Einschränkung stellt eine Forderung nach Dauerhaftigkeit der Entscheidungen dar. Sie kann beispielsweise bewirken, dass in einer Periode ein­ gerichtete oder erweiterte Produktions- und/oder Lagerkapazitäten nicht bereits in einer nahen Folgeperiode wieder abgebaut werden oder dass in einer Periode einge­ richtete oder reduzierte Produktions- und/oder Lagerkapazitäten nicht bereits in einer nahen Folgeperiode wieder erweitert werden. Auch eine Standortschließung kann

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Mögliche Konstellationen Nr. 1

Nr. 2

Nr. 3

Nr. 4

0

0

1

1

•• •

•• •

•• •

•• •

Periode t − 1

0

1

1

0

Periode t

0;1

1

0;1

0

Ausgangskonfiguration

0

Nicht betriebener/ nicht zu betreibender Standort

1

Betriebener/ zu betreibender Standort

0;1

In Abhängigkeit von der Optimierung des Gesamtsystems zu betreibender Standort

Abb. 1: Unumkehrbarkeit von Standortentscheidungen.

bedingen, dass in zeitnahen Vorperioden keine Kapazitätsänderung stattgefunden hat. Modellierungstechnisch können entscheidungsnahe Perioden, die es problem­ spezifisch zu definieren gilt, durch Rückgriffsperioden implementiert werden (vgl. Albrecht 2014, S. 118 ff.).

3 Planung der Leistungserstellung in Supply Chains 3.1 Zeitdiskrete Modellierungen Die Planung der Leistungserstellung umfasst die systemweite Koordination von Güter­ strömen zwischen existierenden Standorten eines SCN. Sie kann sowohl Mengen- als auch Terminentscheidungen beinhalten. Die Anwendung der zeitdiskreten Planung impliziert dabei eine zeitliche Dekomposition des Planungshorizonts in Teilperioden. Obwohl üblicherweise auch in zeitdiskreten Ansätzen der strategischen Struk­ turplanung (Abschnitt 2) unterschiedliche Aspekte der Leistungserstellung enthalten sind, erfolgt deren Betrachtung auf einem stark aggregierten Niveau, das einer weite­ ren Detaillierung durch zeitstetige Ansätze (Abschnitt 3.2) bedarf, um konkret umsetz­ bare Vorgaben zu erhalten. Ein solches hierarchisches Vorgehen begründet sich nicht

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nur durch die Komplexität des Gesamtplanungsproblems, welche sich durch den zu erwartenden Fortschritt der Leistungsfähigkeit von Hard- und Software zunehmend relativieren wird, sondern auch durch die unterschiedliche Prognosegüte, mit der die planungsrelevanten Parameter ermittelbar sind. Im Unterschied dazu gibt es jedoch auch Ansätze der operativen Planung, die sich einer Diskretisierung des Planungshorizonts bedienen. Diese Ansätze versuchen, die erforderliche Planungsgenauigkeit durch eine Unterteilung von Makroperioden in Mi­ kroperioden zu erreichen. Dies gilt beispielsweise für die von Ferreira, Morabito und Rangel (2009), Meyr und Mann (2013) sowie Copil et al. (2017) beschriebenen Losgrö­ ßenprobleme sowie für das integrierte Produktions- und Distributionsplanungspro­ blem von Amorim, Günther und Almada-Lobo (2012).

3.2 Zeitstetige Modellierungen Zeitstetige Entscheidungsmodelle sind insofern ergiebiger, als sich die Start- und Endzeitpunkte sämtlicher Aktivitäten beliebig genau bestimmen lassen. Für mehr­ stufige SCN entwickelt Steinrücke (2011a) einen gemischt-ganzzahligen Ansatz zur integrierten Produktions-, Distributions- und Terminplanung. Dabei wird von einer allgemeinen Netzwerkstruktur ausgegangen, in der jeder Standort einer SC-Stufe je­ den beliebigen Standort einer anschließenden SC-Stufe beliefern kann. Eine weitere Detaillierung der so entstehenden potenziellen Materialflüsse ergibt sich dadurch, dass die Standortproduktionen in Teillosen abgerufen werden können und eine Auf­ teilung der Abrufmengen in unterschiedliche Transportlose möglich ist. Bei einer zeit­ stetigen Terminplanung werden die Produktionsstart- und Produktionsendzeitpunkte aller Abrufmengen innerhalb eines Planungshorizonts zeitpunktgenau koordiniert, wobei sich optimale Materialflüsse mit oder ohne Zwischenlagerung einstellen kön­ nen. Dagegen werden in Steinrücke (2011b und 2015) Entscheidungsmodelle für das multi-stage production-shipping and distribution-scheduling problem with multiple sites (MSPSDS) entwickelt. Mit diesen wird vor Planungsbeginn für alle Standorte festgelegt, ob Zwischenlagerungen vor und/oder nach den Produktionsaktivitäten zugelassen sind oder nicht. Es lassen sich also netzwerkweit zwischenlagerfreie Ma­ terialflüsse modellieren. Zudem können vor Planungsbeginn auch Schiffsliegezeiten als feste Größen berücksichtigt werden. Dadurch ist eine Begrenzung auf tatsäch­ lich unvermeidbare Be- und Entladezeiten möglich. Albrecht und Steinrücke (2017a) ergänzen die integrierte Produktions-, Distributions- und Terminplanung um eine Finanzplanung. Durch die Möglichkeit einer Inanspruchnahme kurzfristiger Kredite kann der Zeitraum zwischen einer kostenverursachenden Leistungserstellung und dem erlösbringenden Absatz der Produkte an den Zielmärkten derart überbrückt werden, dass eine ständige Zahlungsfähigkeit eines SCN während des gesamten mehrtägigen Planungshorizonts gewährleistet ist. Da ein erforderlicher Liquiditäts­ ausgleich nur innerhalb vordefinierter Perioden vorgenommen werden muss, erfolgt

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eine Verknüpfung mit den exakt ermittelten optimalen Startzeitpunkten sämtlicher Prozesse. Die für die Modellierung zugrunde gelegte mehrstufige Netzwerkstruktur erlaubt auch die Entstehung stufenübergreifender Materialflüsse, wodurch sich bei­ spielsweise Direktlieferungen von Rohstoffen an die Zielmärkte einbeziehen lassen. Die Zielfunktion maximiert den am Planungsende resultierenden Liquiditätsüber­ schuss, wobei auch der Umfang sowie gegebenenfalls der Zeitpunkt der Bedienung der Marktnachfrage zum Entscheidungsinhalt werden. Der Ansatz von Albrecht und Steinrücke (2017b) basiert ebenfalls auf einer integrierten Produktions-, Distributi­ ons- und Terminplanung für mehrstufige SCN, hat jedoch nicht Produktionsprozesse, sondern die Distribution verderblicher Produkte zum Gegenstand. Da die Möglich­ keit von stufenübergreifenden Transporten eingeräumt wird, können sämtliche unter Verwendung der Potenzmenge darstellbaren Materialflusswege direkt vom Produ­ zenten zum Markt oder auch über einen oder mehrere Standorte der verfügbaren Distributionsstufen führen. Während auf allen Teilstrecken dieser potenziellen Mate­ rialflüsse eine separate Koordination erfolgt, wobei für sämtliche Transportprozesse zwischen den Standorten innerhalb des mehrtägigen Planungshorizonts exakte Startund Endzeitpunkte ermittelt werden, bestimmt die insgesamt benötigte Durchlaufzeit die Qualität der an die Märkte ausgelieferten Produkte. Eine Verknüpfung zu diskre­ ten Planungselementen ergibt sich, da die absatzpreisbestimmende Produktqualität durch alternative Güteklassen determiniert wird.

4 Integration von Gründungsplanung und Supply Chain Management Für Unternehmen, insbesondere jedoch für Gründungsunternehmen in struktur­ schwachen Regionen, gewinnt eine Einbeziehung in etablierte SCN zunehmend an Bedeutung. Zugleich sind diese zur Absicherung und zum Ausbau ihrer Marktposi­ tion auf Impulse von außen angewiesen. Dadurch wird eine integrierte Betrachtung von Gründungsplanung und Supply Chain Management erforderlich. Eine empirische Untersuchung hierzu findet sich bei Arend und Wisner (2005). Langfristige Kooperationen können nur dann erfolgreich sein, wenn sie für al­ le Beteiligten vorteilhaft sind. Ob das gegeben ist, hängt von den individuellen Be­ wertungen der Ergebnisse ab, die eine solche Zusammenarbeit für die netzwerkweite Struktur- und Leistungsplanung zur Folge hat. Strukturelle Entscheidungen beziehen sich im Wesentlichen auf die Errichtung oder Schließung von Unternehmensstand­ orten, die Gestaltung von Produktions-, Transport- und Lagerkapazitäten sowie die Zulieferer- und Zielmarktauswahl. Dagegen geht es bei der Leistungsplanung haupt­ sächlich um die netzwerkweite Koordination von Produktions-, Transport- und Ab­ satzmengen sowie deren Terminierung.

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Die Integration eines Gründungsunternehmens in ein SCN ist immer im situa­ tiven Kontext zu betrachten. So stellen sich beispielsweise bei der Einrichtung von Depotstandorten mit dem Ziel einer verbesserten Paketzustellung andere Fragen als bei der Eingliederung von Recyclingwerken in eine Wertschöpfungskette, dem Aus­ bau des Filialnetzes einer Einzelhandelskette oder der Leistungsabstimmung bei Inte­ gration eines neuen Produktionsstandortes. Im Allgemeinen gibt es Problemklassen, denen ähnliche Fragestellungen in Unternehmensnetzwerken zugrunde liegen (z. B. Hub-Location-, Covering-Location- und Warehouse-Location-Probleme; vgl. Baumol/ Wolfe 1958; Church/ReVelle 1974; O’Kelly 1987; Hekmatfar/Pishvaee 2009; Fallah et al. 2009; Bagherpoor et al. 2009). Ferner wurden Entscheidungsmodelle für spezifi­ sche Belange entwickelt. Hierzu zählen Ansätze für periodenbezogene Mengenpla­ nungen (vgl. z. B. Brandenburg 2015; Mariel/Minner 2015). Demgegenüber gibt es zeit­ stetige Entscheidungsmodelle zur integrierten Mengen- und Terminplanung in SCN (vgl. Abschnitt 3.2). Langfristige Kooperationen sind in aller Regel an Bedingungen geknüpft, die sich auf einen Vergleich mit dem Status quo beziehen. Das können Gewinnsteigerungen, die Erschließung neuer Märkte, Beschäftigungsvorteile für etablierte Unternehmen, neu zu errichtende Standorte, Mindestauftragsgrößen, Zeitfenster für Zulieferungen, Kompensationszahlungen für integrationsbedingten Mehraufwand und vieles ande­ re mehr sein. Die Auswirkungen von in dieser Weise bedingten Kooperationen auf das komplexe Entscheidungsgeflecht in einem SCN lassen sich durch Ausgangs- und In­ tegrationsmodelle berechnen. Hierbei bleiben die ursprünglichen Modellstrukturen der betrachteten Problemklasse im Wesentlichen erhalten. Des Weiteren kann man durch eine Modifikation von Integrationsmodellen sowohl Tradeoffs bestimmen (z. B. zwischen den Beschäftigungen von Gründungs- und Netzwerkunternehmen) als auch Verhandlungsspielräume offenlegen, indem man darlegt, inwieweit und unter wel­ chen Bedingungen alle Beteiligten eine Aufweichung von „harten“ Bedingungen ak­ zeptieren. Steinrücke und Albrecht (2016a) stellen ein Modell zur Integration mehrerer Standorte eines Gründungsunternehmens in ein SCN, bestehend aus Zulieferern, Werken, Lagern und Märkten, auf. Über detaillierte Einsichten in integrationsbeding­ te Veränderungen von Netzwerkkonfigurationen hinausgehend bietet die Modellie­ rung zudem die Möglichkeit zur Berechnung von verhandlungsrelevanten Schwel­ lenwerten für Mindestabnahmemengen, die dem Gründungsunternehmen durch das Netzwerk zugestanden werden können.

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5 Integration von Finanzplanung und Supply Chain Management Eine ganzheitliche Netzwerkplanung von SCs erfordert neben der zielsetzungsgerech­ ten Optimierung von Materialflüssen auch die Erfassung von Finanzflüssen („Supply Chain Finance“; vgl. Pfohl/Gomm 2009). Letztere lassen sich durch Berücksichti­ gung von Zahlungsreihen in die zuvor beschriebenen Planungsansätze integrieren. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen realgüterwirtschaftlichen Zahlungen, wie den konfigurationsbedingten Ein- und Auszahlungen für Standorteröffnungen bezie­ hungsweise -schließungen oder Kapazitätsanpassungen, den Auszahlungen für die Aufrechterhaltung der Betriebsbereitschaft an den Standorten, den Auszahlungen für die Durchführung der Leistungserstellung, resultierend aus Beschaffung, Produk­ tion, Lagerung und Transport, sowie den Einzahlungen, die sich aus dem Absatz der erstellten Leistungen ergeben. Während im Ergebnis aggregierte realgüterwirt­ schaftliche Zahlungsreihen entstehen, die sich in der Regel nicht mehr einzelnen Entscheidungen zuordnen lassen, ist eine direkte Zuordenbarkeit von Einzahlun­ gen und Auszahlungen in finanzwirtschaftlichen Zahlungsreihen gegeben. Dies gilt beispielsweise für die Aufnahme von Krediten, welche den Unternehmensnetzwer­ ken neben vorhandenen Budgets einen zusätzlichen Handlungsspielraum eröffnen. Unter der übergeordneten Zielsetzung eines nachhaltigen Geschäftserfolgs und der Vermeidung von Insolvenzen sollte eine Finanzplanung auf einen ständigen Liquidi­ tätsausgleich während des Planungshorizonts ausgerichtet sein. Ein solcher kann in zeitdiskreten Modellen durch ein für alle Teilperioden geltendes Restriktionensystem herbeigeführt werden (vgl. Steinrücke/Albrecht 2016b). Auch bei zeitstetiger Planung ist ein solcher Ausgleich erforderlich und durch eine Verknüpfung der Prozesse mit Liquiditätsperioden modellierbar (Abschnitt 3.2; vgl. Albrecht/Steinrücke 2017a).

5.1 Vollkommene Kapitalmärkte Charakteristisches Merkmal der auf vollkommenen Kapitalmärkten basierenden An­ sätze ist die Unterstellung eines einheitlichen Kalkulationszinssatzes, zu dem finanzi­ elle Mittel zu jedem Zeitpunkt in beliebiger Höhe aufgenommen und angelegt werden können (vgl. Götze 2014, S. 64). Trotz restriktiver Annahmen, die auf volkswirtschaftli­ che Gleichgewichtstheorien zurückgehen (vgl. Schumann/Meyer/Ströbele 2011, S. 23), basieren Ansätze der Finanzplanung mehrheitlich auf den Discounted Cash Flow Ver­ fahren (vgl. z. B. Kouvelis/Rosenblatt 2002; Fleischmann/Ferber/Henrich 2006; Lava­ ja et al. 2006). Typischerweise kann dieser Gruppe die Kapitalwertmethode zur In­ vestitionsbeurteilung unter Sicherheit zugeordnet werden. Die zuvor beschriebenen Annahmen gelten auch für Modelle, die auf einem risikoangepassten Kalkulations­ zinssatz basieren, der sich durch das Capital Asset Pricing Model (CAPM) ermitteln

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lässt. Letzteres geht auf die Portfoliotheorie zurück und wurde ursprünglich zur Er­ klärung der Preise beziehungsweise Renditen riskanter Kapitalmarkttitel entwickelt. Unter Verwendung des CAPM lassen sich jedoch auch Kalkulationszinssätze für eine Investitionsbewertung unter Unsicherheit bestimmen (vgl. Götze 2014, S. 378). Laí­ nez et al. (2007) maximieren den Gesamtwert des Unternehmens unter Anwendung der Discounted Free Cash Flow Methode, bei der ein gewichteter durchschnittlicher Kapitalkostensatz zum Einsatz kommt, der sowohl Eigen- als auch Fremdkapitalkos­ ten berücksichtigt. In der Modellierung werden realgüter- und finanzwirtschaftliche Aspekte miteinander kombiniert. Neben strategischen Standort- und Kapazitätsent­ scheidungen sind auch finanzielle Entscheidungen zu treffen (z. B. über die Aufnahme kurz- und langfristiger Kredite), wobei ein finanzielles Gleichgewicht für jede Teilpe­ riode zu gewährleisten ist. Geht es um die Übernahme eines existierenden SCN durch einen institutionellen Investor, so ist das von Steinrücke und Albrecht (2016b) auf Ba­ sis des Flow-to-Equity-Ansatzes entwickelte Modell anwendbar, durch das der Gegen­ wartswert des Eigenkapitals unter Berücksichtigung der periodischen Mittelabflüsse an den Investor (oder auch Mittelzuflüsse von dem Investor) maximiert werden kann. Zusätzlich wird der Wert des Eigenkapitals in die Maximierung einbezogen, der nach Beendigung des zeitlich begrenzten Engagements des Investors entsteht. Er berechnet sich nicht nur aus zukünftig erwartbaren Entnahmen, sondern auch aus verbleiben­ den Lagerbeständen.

5.2 Unvollkommene Kapitalmärkte Durch Abkehr von den Annahmen vollkommener Kapitalmärkte gelingt es, die Sub­ jektivität von Entscheidungen spezifischer Investoren in die Modellierung einzube­ ziehen. Dieses Vorgehen wird durch die klassische angloamerikanische Literatur gestützt. Während sich bereits Williams (1938) gegen die Verwendung eines einheit­ lichen Kalkulationszinssatzes für Bewertungszwecke ausspricht, versteht Hirshleifer (1958) die Abzinsungsfaktoren nicht als externe Opportunitäten, sondern als interne Schattenpreise, die sich aus der Lösung eines integrierten Gesamtproblems ergeben. Im Kontext interdependenter Investitions-, Finanzierungs- und Konsumentscheidun­ gen spiegelt die Konsumpräferenz des Investors, die sich durch eine vorgegebene Entnahmestruktur beschreiben lässt, die Zeitpräferenz des Geldes wider. Folglich müssen Entscheidungen über die zeitliche Verteilung und die Höhe der Entnahmen simultan zu Entscheidungen über die Durchführung von Prozessen, Investitionen und Finanzierungen geplant werden, wobei die Menge der verfügbaren Alternativen durch das subjektive Entscheidungsfeld des spezifischen Investors bestimmt wird. Durch die Übertragung des zuvor beschriebenen Konzepts auf SCs entsteht das von Steinrücke und Albrecht (2017) entwickelte Entscheidungsmodell zur integrierten Netzwerk- und Finanzplanung auf unvollkommenen Kapitalmärkten. Es zielt auf eine Maximierung der gewichteten Entnahmen ab, welche die Liquidität eines existierenden SCN wäh­

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rend seiner Übernahme durch einen institutionellen Investor belasten. Die subjek­ tiven und von den einzelnen Teilperioden des befristeten Engagements abhängigen Handlungsalternativen des Investors enthalten dabei nicht nur Konfigurationsan­ passungen des Netzwerks und veränderte Möglichkeiten der Leistungserstellung, sondern auch Kredite und Finanzinvestitionen mit unterschiedlichen Laufzeiten und laufzeitspezifischen Zinssätzen.

6 Instabile Unternehmensnetzwerke Existieren keine stabilen Netzwerkstrukturen können sich rechtlich unabhängige Un­ ternehmen dennoch für eine konkrete, zeitlich begrenzte Aufgabe zusammenschlie­ ßen. Dadurch entstehen virtuelle Unternehmen, die auftrags-, problem- oder pro­ jektinduzierte Konfigurationen besitzen können (vgl. Corsten/Gössinger 2008, S. 27). Während begriffliche und inhaltliche Ursprünge bereits auf Mowshowitz (1986) bezie­ hungsweise Miles und Snow (1986) zurückgehen, ordnet sich die Organisationsform aus heutiger Sicht in das Spektrum hybrider Formen zwischen Markt und Hierarchie ein, die sich auf der Basis veränderter rechtlicher und technologischer Rahmenbe­ dingungen herausgebildet haben (vgl. Picot/Reichwald/Wigand 2003, S. 419). Trotz uneinheitlicher Abgrenzung und Definition in der Literatur (vgl. Gelbrich/Müller 2011, S. 810; Corsten/Gössinger 2008, S. 29; Wirtz 2000, S. 99 ff.) gilt insbesondere das ein­ heitliche Auftreten gegenüber den Kunden trotz des Fehlens eines gemeinsamen administrativen und rechtlichen Dachs als konstitutives Merkmal. Da die Zusammen­ arbeit einen umfassenden Informationsaustausch voraussetzt, ist ein ausgeprägtes gegenseitiges Vertrauensverhältnis erforderlich. Bezüglich der eingebrachten Kern­ kompetenzen müssen alle beteiligten Partner hinreichende individuelle Beiträge leisten, aus denen sich in Kombination Synergieeffekte ergeben (vgl. Fandel/Giese/ Raubenheimer 2009, S. 70; Scholz 2000, S. 354 ff.). Im Gegensatz zu stabilen Netzwer­ ken wird ein Verzicht auf Institutionalisierung angestrebt, welcher der Herausbildung einer Zentralinstanz entgegensteht. Überdies werden Komitees aus Mitgliedern po­ tenziell kooperierender Unternehmen im Hinblick auf die Spezifika noch unbekann­ ter temporärer Marktchancen des Netzwerks als nicht sinnvoll erachtet (vgl. Gerpott/ Böhm 2000, S. 21). Zur Erklärung der Koordination in virtuellen Unternehmen werden der Transaktionskostenansatz, die Koordinationstheorie und insbesondere auch der Selbstorganisationsansatz herangezogen. Letzterer beschreibt ein Handeln der Orga­ nisationsmitglieder, das auch ohne übergeordnete Anweisungen auf das Erreichen eines angestrebten Ziels ausgerichtet ist und durch Ablauf- und Funktionendiagram­ me sowie die Vermittlung von Sinnsystemen aus Normen und Werten unterstützt werden kann (vgl. Borchardt 2006, S. 74 und S. 88 f.). Gerpott und Böhm (2000) stellen jedoch heraus, dass sich diese Selbstorganisa­ tion im Wesentlichen auf die Abstimmung von Prozessen in bestehenden Netzwer­

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ken beschränkt, nicht aber die Konfiguration eines Netzwerks bezogen auf die auf­ gabenspezifische Gründung und Neuausrichtung umfasst (vgl. Gerpott/Böhm 2000, S. 18 ff.). Vielmehr bedarf es eines interorganisationalen, unter Einsatz von Marktme­ chanismen agierenden Koordinators (auch als Broker bezeichnet), der Funktionen des strategischen Managements übernimmt, jedoch kaum über eigene Ressourcen ver­ fügt (vgl. Fleisch 2001, S. 78 f.). In der Konfigurationsphase obliegt es ihm, für grund­ sätzlich als realisierbar eingestufte Marktchancen geeignete Kooperationspartner auf Grundlage ihrer Kernkompetenzen für spezifische Aufgaben zusammenzuführen. Im Gegensatz zur zentralen Planung in stabilen Netzwerken übernimmt der Koordina­ tor in einer anschließenden Vereinbarungsphase jedoch ausschließlich Aufgaben der Entscheidungsvorbereitung, indem er die bilateralen Verhandlungen zwischen den rechtlich und wirtschaftlich selbstständigen Unternehmen zur Ausgestaltung der In­ halte von Kooperationsvereinbarungen moderiert (vgl. Gerpott/Böhm 2000, S. 22 ff.). Unter konsequenter Weiterführung der für virtuelle Netzwerke typischen Spe­ zialisierung und der damit einhergehenden Ausgliederung von Prozessen können sich Schaltbrettunternehmen („Hollow Corporation“) herausbilden, die ausschließ­ lich Koordinationsfunktionen, d. h. die Zusammenführung von Netzwerkmitgliedern und eine anschließende Aufgabenzuweisung, übernehmen, sich jedoch nicht an der physischen Leistungserstellung beteiligen (vgl. Fleisch 2001, S. 79; Corsten/ Gössinger 2008, S. 22 f.). Ihre besondere Machtposition, die vergleichbar mit einem fokalen Unternehmen stabiler Netzwerke sein kann (vgl. Rautenstrauch 2004, S. 365), kann sich durch Wettbewerbsvorteile aufgrund einer Konsumentennähe ergeben. Zusätzliche Flexibilität entsteht durch das Vorhandensein eines hinreichend großen Pools an Kooperationspartnern. Im Hinblick auf die situationsspezifisch entstehen­ den Konfigurationen instabiler Netzwerke, die auf zeitlich befristeten Arrangements basieren (vgl. Corsten/Gössinger 2008, S. 22), wird einem Schaltbrettunternehmen ei­ ne sehr detaillierte Planung der Vertragsgestaltung mit den rechtlich selbstständigen Partnern möglich, auf deren Grundlage die Letzteren im Rahmen der gemeinsamen Leistungserstellung zueinander in Beziehung treten. Aus modelltheoretischer Per­ spektive eröffnet sich unter diesen Rahmenbedingungen ebenfalls die Möglichkeit des Einsatzes von mathematischen Entscheidungsmodellen. In diesen sind Entscheidun­ gen über die optimale Dauer von Vertragslaufzeiten zu modellieren. Überdies sollten zugehörige Modelle Aufschluss über die resultierende Standort- und Kapazitätsver­ fügbarkeit geben, auf deren Grundlage sich optimale Materialflüsse aus Transporten zwischen den Partnerstandorten und aus der periodenübergreifenden Lagerung an den Partnerstandorten ergeben (vgl. Steinrücke/Albrecht 2015). Praktische Relevanz besitzen dynamische Netzwerke mit Koordination durch Schaltbrettunternehmen beispielsweise in der Computer- und Textilherstellung (vgl. Koch 2006).

162 | Martin Steinrücke und Wolfgang Albrecht

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| Teil B: Gestaltung des Leistungsprogramms

Marion Steven

Produktions- und Absatzprogrammplanung in Wertschöpfungsnetzwerken 1 2 3 3.1 3.2 3.3 3.4 4 4.1 4.2 4.3

Problemstellung | 169 Grundbegriffe | 170 Klassische Produktionsprogrammplanung | 171 Nachfrageprognosen | 172 Grundmodell der Produktionsprogrammplanung | 173 Erweiterungen des Grundmodells | 175 Produktionsprogrammplanung in PPS-Systemen | 178 Produktionsprogrammplanung in Wertschöpfungsnetzwerken | 179 Supply Chain Management | 180 Advanced Planning Systems | 181 Produktionsprogrammplanung bei Industrie 4.0 | 183 Literatur | 184

Zusammenfassung. Die Produktionsprogrammplanung bestimmt die Zusammen­ setzung der über einen mittelfristigen Planungshorizont herzustellenden Produkte nach Art, Menge und Termin. Als Zielsetzung wird die Maximierung des mit dem ge­ planten Produktionsprogramm zu erzielenden Deckungsbeitrags verfolgt. Während in der Theorie immer umfassendere OR-Modelle zur Produktionsprogrammplanung formuliert wurden, um die Realität im Fertigungsbereich möglichst exakt abzubil­ den, dominiert in der Praxis der Einsatz von PPS- beziehungsweise ERP-Systemen, die für die verteilte Leistungserstellung in Wertschöpfungsnetzwerken zu Advanced Planning Systems bzw. Supply Chain Management Systems weiterentwickelt wurden. Auch im Kontext von Industrie 4.0 wird eine zentrale Produktionsprogrammplanung trotz der Fähigkeit von cyberphysischen Systemen, sich autonom zu koordinieren, weiterhin von Bedeutung sein.

1 Problemstellung In den letzten Jahren sieht sich die Produktions- und Absatzprogrammplanung zahl­ reichen Veränderungen im Unternehmensumfeld und daraus resultierend neuen beziehungsweise zusätzlichen Anforderungen gegenüber. Insbesondere die zuneh­ mende Kundenorientierung, die Verlagerung von Wertschöpfungsaktivitäten von Einzelunternehmen auf Netzwerke sowie die Auswirkungen von neuen, digitalen Fer­ tigungs- und Steuerungstechnologien im Zusammenhang mit Industrie 4.0 werfen die https://doi.org/10.1515/9783110473803-010

170 | Marion Steven

Frage auf, welche Anpassungen bei der Produktions- und Absatzprogrammplanung vorgenommen werden müssen, um auch in Zukunft zuverlässige Ergebnisse für die nachfolgende Produktionsplanung und -steuerung zu liefern.

2 Grundbegriffe Unter dem Produktionsprogramm versteht man seit Gutenberg die Zusammenstellung der von einem Unternehmen herzustellenden Produkte nach Art, Menge und Termin (vgl. Gutenberg 1983). Das Absatzprogramm, das auch als Sortiment bezeichnet wird, umfasst hingegen die Produkte, die in den einzelnen Perioden des Planungshorizonts auf dem Markt verkauft werden sollen. Gegenstand des Absatzprogramms sind somit vorwiegend Endprodukte sowie gegebenenfalls zu einem geringen Anteil Bauteile, die vom Unternehmen als Ersatzteile angeboten werden. Das Produktionsprogramm um­ fasst zusätzlich zu den Endprodukten die selbst erzeugten Vor- und Zwischenproduk­ te, durch deren Zusammenbau die Endprodukte entstehen. Diese Unterscheidung ist vor allem für Unternehmen der Fertigungsindustrie relevant, deren Endprodukte ty­ pischerweise in mehrstufigen Montageprozessen erzeugt werden. Weitere Unterschiede zwischen dem Produktions- und dem Absatzprogramm eines Unternehmens resultieren auf der operativen Ebene aus der Entscheidung, La­ gerbestände auf- oder abzubauen. Soll in einer Teilperiode der Lagerbestand erhöht werden, so ist die Produktionsmenge größer als die Absatzmenge. Durch eine Lager­ entnahme kann mehr verkauft werden, als in der Teilperiode hergestellt wird. Dieses Vorgehen findet unter anderem dann Anwendung, wenn gemäß dem Emanzipations­ prinzip der Fertigung Periodenbedarfsmengen zu Fertigungslosen zusammengefasst werden, während beim Synchronisationsprinzip die Fertigung der Nachfrage mög­ lichst exakt folgt. Durch diese auch als Produktionsglättung bezeichnete Entkopplung von Produktion und Absatz lässt sich nicht nur die durchschnittliche Kapazitätsaus­ lastung verbessern, sondern es wird auch das Risiko von Fehlmengen reduziert. Wei­ ter sinken die Gesamtkosten, wenn die zusätzlich anfallenden Lagerhaltungskosten geringer sind als die Kosten einer häufigen Kapazitätsanpassung. Auch auf der strategischen Ebene können sich das Produktions- und das Absatz­ programm unterscheiden: Hier führen Make-or-Buy- beziehungsweise OutsourcingEntscheidungen dazu, dass ein Unternehmen nicht alle Produkte, die es in seiner Fer­ tigung benötigt beziehungsweise auf dem Markt anbietet, selbst herstellt (vgl. Streit­ ferdt 1993, Sp. 3479). Zur Vereinfachung wird im Folgenden auf die Differenzierung zwischen Produk­ tions- und Absatzprogramm verzichtet und einheitlich der Begriff Produktionspro­ gramm verwendet. Die Produktionsprogrammplanung hat die Aufgabe, für einen mit­ telfristigen Planungshorizont die in den einzelnen Perioden herzustellenden Mengen an Vor-, Zwischen- und Endprodukten zu ermitteln. Dabei sind neben der Nachfrage insbesondere Kostenparameter, Stücklistenbeziehungen und Kapazitätsrestriktionen

Produktions- und Absatzprogrammplanung in Wertschöpfungsnetzwerken | 171

zu berücksichtigen. Diese auch als Master Production Scheduling bezeichnete Planung wird üblicherweise zentral durchgeführt, um die begrenzten Fertigungskapazitäten bestmöglich auszulasten. Der Produktionsplan beziehungsweise Master Production Schedule bildet in ERP-Systemen den Ausgangspunkt für eine detaillierte Produkti­ onsplanung und -steuerung. Aufgrund der bereits seit vielen Jahren bestehenden Tendenz, dass die Unter­ nehmen sich zunehmend auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren und alle anderen Bereiche der Wertschöpfung auf spezialisierte Zulieferer auslagern, kommt es zur Bil­ dung von häufig sehr komplexen Supply Chains beziehungsweise Wertschöpfungsnetz­ werken. Hier muss eine Produktionsprogrammplanung nicht nur für jedes einzelne Unternehmen, sondern auch für das Netzwerk insgesamt durchgeführt werden, wobei eine gegenseitige Abstimmung erforderlich ist. Im Mittelpunkt steht dabei die Planung für das fokale Unternehmen, das die Supply Chain führt, in der Regel den Kontakt zu den Endkunden hat und ausgehend von der Marktnachfrage sowohl die eigenen Ferti­ gungsprozesse als auch die der Netzwerkpartner beziehungsweise Zulieferer anstößt. Gleichzeitig gewinnt die als Industrie 4.0 bezeichnete Digitalisierung der Ferti­ gungs- und Steuerungstechnologien für die industrielle Fertigung eine immer grö­ ßere Bedeutung. Ein wesentliches Kennzeichen von Industrie 4.0-Anwendungen ist die weitgehende Automatisierung und Autonomisierung der Produktion. Traditionel­ le Fertigungsanlagen werden zunehmend durch cyberphysische Systeme abgelöst, die über ein virtuelles Abbild der realen Welt verfügen und selbstständig mit dieser inter­ agieren können. Die Fertigungssysteme und die darauf hergestellten Produkte bezie­ hungsweise Aufträge verbinden sich dynamisch, flexibel und weitgehend in Selbst­ organisation mithilfe von aktuellen Informations- und Kommunikationstechnologien mit datenbasierten virtuellen Objekten oder Räumen und den zugehörigen Anwen­ dungen. Zahlreiche Planungsaufgaben, die zuvor zentral durchgeführt wurden, kön­ nen aufgrund der besseren Datenverfügbarkeit und der schnelleren Kommunikati­ onsmöglichkeiten nunmehr mit kurzem Planungshorizont von dezentralen Einheiten übernommen werden. Im Anschluss an eine Darstellung der klassischen Produktions­ programmplanung wird im Folgenden untersucht, welche Auswirkungen die Vernet­ zung und die Digitalisierung auf die Produktionsprogrammplanung haben.

3 Klassische Produktionsprogrammplanung Die Produktionsprogrammplanung für Endprodukte ist auf der operativ-taktischen Pla­ nungsebene angesiedelt und erstreckt sich typischerweise über einen Planungshori­ zont von einem Jahr beziehungsweise einem Saisonzyklus. Sie fällt im Rahmen von strategischen Vorgaben hinsichtlich des zu produzierenden Sortiments und der be­ reitgestellten Kapazitäten und aufgrund der vorliegenden Aufträge beziehungsweise Nachfrageprognosen die Entscheidung, welche Produkte in welchen Teilperioden und

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in welchen Mengen hergestellt werden sollen. Als Zielsetzung wird dabei in der Re­ gel die Maximierung des mit dem Produktionsprogramm erzielbaren Gewinns bezie­ hungsweise Deckungsbeitrags verfolgt. Um den Umfang des Planungsproblems zu reduzieren und die Planung zu verein­ fachen, werden die Endprodukte häufig anhand von markt- oder fertigungsbezogenen Kriterien zu Produktgruppen aggregiert. Die Planung der zur Herstellung dieser End­ produktmengen auf den vorgelagerten Produktionsstufen erforderlichen Mengen an Vor- und Zwischenprodukten erfolgt anschließend auf der operativen Planungsebene. Durch Stücklistenauflösung und Vorlaufverschiebung werden Brutto-Primärbedarfs­ mengen über sämtliche Produktionsstufen hinweg in Netto-Sekundärbedarfsmengen aufgelöst. Die Produktionstechnologie und die Kapazitäten der im Unternehmen vor­ handenen Fertigungsanlagen werden als bekannt vorausgesetzt.

3.1 Nachfrageprognosen Die Produktionsprogrammplanung ist an der Schnittstelle des Unternehmens zu sei­ nen Kunden beziehungsweise den relevanten Absatzmärkten angesiedelt. Sie muss sich daher nicht nur an den produktionstechnischen und kapazitätsmäßigen Möglich­ keiten des Unternehmens, sondern auch an den Wünschen und Bedürfnissen der po­ tentiellen Abnehmer orientieren. Ausgangspunkt der Produktionsprogrammplanung sind die voraussichtlichen Nachfragemengen der vom Unternehmen am Markt ange­ botenen Produkte, die von der Art der Kundenbeziehungen abhängen: – Die relevanten Nachfragemengen ergeben sich bei einem Unternehmen, das auf Basis von kundenspezifischen Aufträgen fertigt, anhand von bereits vorliegenden oder für die nächste Zeit erwarteten Kundenaufträgen. Die zu einem Auftrag zu­ gehörigen Produkte müssen zu den mit den Kunden vereinbarten Lieferterminen fertiggestellt werden. – Stellt das Unternehmen seine Produkte für einen anonymen Markt her, so sind für die Durchführung der Produktionsprogrammplanung Nachfrageprognosen erfor­ derlich, die auf der Basis einerseits von Nachfragedaten der Vergangenheit und andererseits von zukünftigen Markterwartungen erstellt werden. Als quantitative Prognoseverfahren kommen dafür insbesondere Zeitreihenanalysen in Betracht (vgl. z. B. Bamberg/Baur 2002; Steven 2015, S. 18 ff.). In manchen Branchen – wie z. B. in der Automobilindustrie – treten Mischformen dieser Kundenbeziehungen auf. Hier liegt die Nachfrage zum großen Teil in Form von Kundenaufträgen vor, daneben werden jedoch auch Fahrzeuge für den anonymen Markt gefertigt, um die Kapazitäten besser auszulasten. Die für die Produktionsprogrammplanung relevante Nachfrage nach einer Pro­ duktart in einer bestimmten Periode ergibt sich, indem man die aus der Marktnach­ frage abgeleiteten Bruttonachfragemengen mit den verfügbaren Lagerbeständen

Produktions- und Absatzprogrammplanung in Wertschöpfungsnetzwerken | 173

abgleicht. Der verfügbare Lagerbestand ist der Teil des physisch vorhandenen La­ gerbestands, der nicht als Sicherheitsbestand dauerhaft gehalten werden soll, um unvorhersehbare Nachfrageschwankungen abzufangen. Diese Nettonachfragemenge wird wie folgt berechnet: Nettonachfrage = max{0; Bruttonachfrage − verfügbarer Lagerbestand}

(1)

Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist eine fortwährende Tendenz zu immer anspruchs­ volleren Kunden mit individuellen Anforderungen an die Produkte zu beobachten. Das führt dazu, dass ein Unternehmen immer mehr Produktvarianten anbieten muss, von denen jeweils immer kleinere Losgrößen gefertigt werden. Gleichzeitig erhöht sich die Komplexität in den Stücklistenstrukturen, die häufig mehrere hundert Teile um­ fassen (vgl. z. B. Chatras/Giard/Sali 2016). Grundsätzlich gilt, dass sich die Skalen­ vorteile der Massenfertigung umso weniger nutzen lassen, je differenzierter das Pro­ duktionsprogramm eines Unternehmens ist. Um gleichzeitig die Produktivität und damit die geringen Kosten der Massenfertigung sowie die Flexibilität bezüglich der Produktarten, wie sie die Werkstattfertigung aufweist, zu erreichen, wurde das stra­ tegische Produktionskonzept der kundenindividuellen Massenfertigung beziehungs­ weise Mass Customization entwickelt. Die Mass Customization basiert auf der Idee, den Order Penetration Point, d. h. den Zeitpunkt, ab dem ein Bauteil einem bestimmten Kundenauftrag zugeordnet wird, in der Wertschöpfungskette möglichst weit in Richtung Endprodukt zu verlagern. Alle dem Order Penetration Point vorgelagerten Aktivitäten, wie der Materialeinkauf, die Teilefertigung und die Vormontage von Komponenten, können dann prognosegetrie­ ben nach dem Konzept der Massenfertigung erfolgen. Erst bei den nach dem Order Penetration Point angesiedelten Aktivitäten, also bei der Zusammenstellung und End­ montage der Bauteile, werden dann die kundenindividuellen Spezifikationen berück­ sichtigt (vgl. z. B. Steven 2015, S. 82 f.). Durch eine alle Fertigungsstufen umfassende Versorgung des Fertigungsprozesses mit kundenbezogenen Daten können die für ei­ nen Auftrag benötigten Teile und Komponenten frühzeitig reserviert werden. Dadurch verkürzt sich gegenüber einer vollständig individuellen Produktion die Lieferzeit, so­ dass der Kundenservice als besser wahrgenommen wird.

3.2 Grundmodell der Produktionsprogrammplanung Zunächst wird anhand des Grundmodells der Produktionsprogrammplanung (vgl. z. B. Dinkelbach 1964; Dinkelbach/Rosenberg 2004) die grundlegende Problemstruk­ tur aufgezeigt. Das Grundmodell ist in seiner einfachsten Version für eine einzelne Planungsperiode konzipiert. Zur Durchführung der Produktionsprogrammplanung ist eine Reihe von externen und internen Informationen erforderlich: – Die wichtigsten externen Informationen sind neben den Nachfragemengen der ein­ zelnen Produkte in jeder Planungsperiode die am Markt erzielbaren Preise.

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Als interne Informationen werden für das Grundmodell der Produktionspro­ grammplanung die in den einzelnen Teilperioden des Planungshorizonts zur Verfügung stehenden Kapazitäten der Fertigungsanlagen, die Produktionsko­ effizienten, d. h. die Kapazitätsinanspruchnahme je Produkteinheit, sowie die variablen Stückkosten benötigt.

Die Differenz aus dem Verkaufspreis und den variablen Stückkosten einer Produktein­ heit ergibt den Stückdeckungsbeitrag, der in die Zielfunktion des Grundmodells ein­ geht. Im Normalfall sieht sich ein Unternehmen mehreren, häufig sogar im Zeitverlauf wechselnden Kapazitätsengpässen gegenüber. Während bei einer einzigen knappen Kapazität das Produktionsprogramm mithilfe einer Reihung der Produkte nach ihren relativen Deckungsbeiträgen ermittelt werden kann (vgl. z. B. Steven 2013, S. 167 ff.), liefern diese bei mehreren Engpässen keine eindeutige Rangfolge der Produkte. Viel­ mehr ist der Fall typisch, dass das Produkt, das auf einer Maschine den höchsten re­ lativen Deckungsbeitrag generiert, auf einer anderen Maschine einen hinteren Rang­ platz belegt. Daher wird für die Produktionsprogrammplanung die lineare Programmierung eingesetzt (vgl. z. B. Werners 2013), durch die sich sämtliche Engpässe simultan be­ rücksichtigen lassen. Das Grundmodell der linearen Programmierung für die Produkti­ onsprogrammplanung lautet wie folgt: i = 1, . . . , n Laufindex für die im Unternehmen vorhandenen Anlagen j = 1, . . . , m Laufindex für die zu planenden Produkte DBj Deckungsbeitrag je Einheit von Produkt j bi Kapazität von Anlage i a ij Produktionskoeffizient von Produkt j auf Anlage i, der die Kapazitätsinanspruch­ nahme von Anlage i je hergestellter Einheit von Produkt j angibt xj Produktionsmenge von Produkt j (Entscheidungsvariable) m

max DB = ∑ DBj ⋅ x j

(2)

j=1

u. d. N.: m

∑ a ij ⋅ x j ≤ b i

∀ i = 1, . . . , n

(3)

∀ j = 1, . . . , m

(4)

j=1

xj ≥ 0

Die Zielfunktion (2) strebt die Maximierung des mit dem Produktionsprogramm er­ zielten Deckungsbeitrags an, der sich additiv aus den Deckungsbeiträgen sämtlicher hergestellter Produkte zusammensetzt. Dabei sind die Produktionsmengen x j die Ent­ scheidungsvariablen, deren Werte bei der Lösung des linearen Programms bestimmt werden.

Produktions- und Absatzprogrammplanung in Wertschöpfungsnetzwerken | 175

Die Nebenbedingungen (3) stellen sicher, dass die Kapazitätsnachfrage, die aus den eingeplanten Produktionsmengen x j resultiert, das vorhandene Kapazitätsangebot b i an jeder einzelnen Anlage nicht übersteigt. Die auf der linken Seite der Ungleichun­ gen angegebene Kapazitätsnachfrage ergibt sich, indem man für jedes Produkt j den durch die geplante Produktion verursachten Kapazitätsbedarf auf einer Anlage durch Multiplikation des Produktionskoeffizienten a ij , d. h. des Kapazitätsbedarfs je Stück, mit der geplanten Produktionsmenge x j berechnet und diese Mengen über alle Pro­ dukte aufaddiert. Um zu gewährleisten, dass nur ökonomisch sinnvolle Lösungen generiert wer­ den, fordern die Nicht-Negativitätsbedingungen (4), dass die Produktionsmenge x j je­ des Produkts mindestens den Wert Null annimmt. Aus der optimalen Lösung dieses linearen Programms lassen sich nicht nur die zu fertigenden Produktionsmengen und der zugehörige Gesamtdeckungsbeitrag ab­ leiten, sondern auch Informationen über den Umfang nicht genutzter Kapazitäten, die den Werten der Schlupfvariablen entsprechen, sowie über die Opportunitätskos­ ten beziehungsweise Schattenpreise der genutzten Kapazitäten, die als Dualvariablen vorliegen. Diese geben an, um welchen Betrag sich der Gesamtdeckungsbeitrag erhö­ hen beziehungsweise reduzieren würde, wenn die Kapazität um eine zusätzliche (mar­ ginale) Einheit erhöht beziehungsweise reduziert würde. Mithilfe von Sensitivitäts­ analysen lassen sich aus dem Schlusstableau des linearen Programms die Bereiche ermitteln, innerhalb derer die ermittelte Lösung auch bei Parameterschwankungen stabil bleibt; eine postoptimale parametrische Programmierung zeigt, wie sich die Lö­ sung bei abweichenden Parameterkonstellationen verändern würde.

3.3 Erweiterungen des Grundmodells Das in Abschnitt 3.2 angegebene Grundmodell der Produktionsprogrammplanung zeigt zwar die wesentlichen Zusammenhänge auf, bildet aber bei weitem nicht die in der Realität vorliegende Situation ab. Für eine realistischere Modellierung der Pro­ duktionsprogrammplanung sind unter anderem die nachfolgenden Erweiterungen des Grundmodells erforderlich, durch die jedoch sowohl die Komplexität der Problem­ stellung als auch der daraus resultierende Aufwand bei der Lösung der resultierenden Planungsaufgabe zum Teil erheblich ansteigen (vgl. Hahn/Laßmann 1999, S. 304 ff.; Kistner/Steven 2001, S. 194 ff.): – Um tatsächlich eine Produktionsprogrammplanung für einen mittelfristigen Pla­ nungshorizont vornehmen zu können, muss das für einen Zeitpunkt formulierte Grundmodell um einen Periodenindex erweitert werden. – Das Grundmodell geht implizit davon aus, dass sich die als optimal bestimmte Produktionsmenge auch am Markt absetzen lässt. Um den Einfluss des Marktes auf die Produktion besser abzubilden, sind zusätzliche Restriktionen für Mindestund Höchstabsatzmengen in den einzelnen Perioden einzuführen.

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– –











Um eine Emanzipation der Produktion von der Nachfrage zu ermöglichen, muss die Einplanung von Lagerbeständen möglich sein, durch die sich Produktions­ mengen in andere Perioden übertragen lassen. Dadurch lässt sich auch die Stra­ tegie der Produktionsglättung abbilden, d. h. eine Vorausproduktion in Zeiten ge­ ringer Nachfrage und die spätere Auflösung dieser Lagerbestände in Zeiten mit höherer Nachfrage. Da die Lagerhaltung in der Regel nicht in beliebigem Umfang in Anspruch genom­ men werden kann, sind ergänzend Lagerkapazitätsrestriktionen einzuführen. Falls der Lagerbestand in einer Periode nicht ausreicht, um die Nachfrage zu be­ friedigen, treten Fehlmengen auf, die dem Unternehmen entweder endgültig ver­ loren gehen (Lost Sales) oder in der nächsten Periode nachgeliefert werden müs­ sen (Back Orders). Auch das Auftreten und der jeweilige Umgang mit Fehlmengen sind im Modell abzubilden. Das Grundmodell betrachtet lediglich die einstufige Produktion. In der Realität herrschen jedoch mehrstufige Produktionssituationen vor, in denen die Endpro­ dukte über mehrere Verfahrensstufen hinweg aus Rohmaterial, Einzelteilen und Baugruppen zusammengesetzt werden. Um diese Situation zu erfassen, ist nicht nur die Erweiterung des Modells um die zusätzlichen Produkte erforderlich, son­ dern es müssen auch Stücklistenbeziehungen eingeführt werden, die angeben, in welchen Mengen die verschiedenen Teile in die Produkte der jeweils nächsten Fertigungsstufe eingehen. Zusätzlich ist bei der mehrstufigen Produktion eine Vorlaufverschiebung vorzu­ nehmen. Diese stellt sicher, dass mit der Produktion von Vorprodukten rechtzei­ tig begonnen wird, um die termingerechte Fertigstellung der Endprodukte zu ge­ währleisten. Die Bedarfsmengen müssen auf jeder Produktionsstufe zu optimalen Losgrößen zusammengefasst werden. Die dabei auftretenden Rüstvorgänge erfordern die Einführung von Binärvariablen, durch die jedoch die lineare Struktur des Grund­ modells verloren geht. Das Modell geht in ein gemischt-ganzzahliges Programm über, dessen Lösung aufgrund der höheren Komplexität wesentlich aufwändiger ist. Bei den nicht selbst hergestellten Vorprodukten müssen rechtzeitige Zulieferun­ gen erfolgen, d. h. es sind entsprechende Bestellmengen zu planen. Weiter ist der Ansatz von Materialkosten erforderlich, die z. B. im Fall von Mengenrabatten nicht notwendigerweise konstant sind. Auch die zu diskreten Zeitpunkten erfolgenden Zulieferungen werden durch Binärvariablen abgebildet. Bei einigen Zwischenprodukten kann alternativ zur Eigenfertigung auch der Fremdbezug gewählt werden, um z. B. Kapazitätsengpässe zu überbrücken. Diese Alternativen sind mit ihren jeweiligen Kosten- und Kapazitätswirkungen in das Modell zu integrieren.

Produktions- und Absatzprogrammplanung in Wertschöpfungsnetzwerken | 177













Im Grundmodell werden die Kapazitäten als konstant vorausgesetzt. Realitätsnä­ her ist es jedoch, auch Maßnahmen zur Kapazitätsanpassung wie Überstunden oder Kurzarbeit in der Produktionsprogrammplanung zu berücksichtigen. Falls auf einer Anlage in einer Periode mehr als eine Produktart bearbeitet wird, tritt zusätzlich die Problemstellung der Maschinenbelegungsplanung auf, die – wie die Losgrößenplanung – nur durch den Einsatz von Binärvariablen model­ lierbar ist. Umgekehrt lässt sich ein Produkt häufig auf mehr als eine Weise herstellen, z. B. wenn mehrere Universalmaschinen für die Durchführung einer Bearbeitung in Betracht kommen. Um dies zu erfassen, müssen die Möglichkeiten der Verfahrens­ wahl durch entsprechende Restriktionen abgebildet werden. Da es sich hierbei um ein kombinatorisches Problem handelt, ist ebenfalls die Einführung von Binärva­ riablen erforderlich. In der Realität sind die Deckungsbeiträge der Produkte nicht als konstante Wer­ te gegeben, sondern hängen auf der Produktionsseite von der Kostensituation und auf der Marktseite vom Verlauf der Preis-Absatz-Funktionen ab. Dementspre­ chend sind die Zielfunktionskoeffizienten des Grundmodells zu modifizieren. Da­ bei kann ebenfalls die lineare Struktur des Grundmodells verloren gehen, wenn die Zielfunktion nunmehr konvex wird oder abschnittsweise definiert ist. Auch die restlichen Koeffizienten des Programms sind in der Regel nicht konstant und deterministisch gegeben, sondern können Schwankungen unterliegen, die im Planungszeitpunkt nicht bekannt sind. So können die Produktionskoeffizien­ ten in Abhängigkeit von der Fahrweise der Maschinen schwanken und die tatsäch­ lich nutzbaren Kapazitäten können von an anderen Stellen getroffenen Entschei­ dungen abhängig sein. Stochastische Schwankungen von Koeffizienten lassen sich mithilfe des Chance Constrained Programming berücksichtigen. Weiter muss die Zielfunktion um die Kostenwirkungen sämtlicher zuvor genann­ ter Erweiterungen ergänzt werden, z. B. Bestellkosten, Lieferkosten, Rüstkosten, Lagerhaltungskosten und Fehlmengenkosten.

Führt man alle diese Erweiterungen in das Modell ein, so ist es zwar wesentlich reali­ tätsnäher, aber aufgrund seiner Komplexität in der Regel nicht mehr in akzeptabler Re­ chenzeit lösbar. Ein zusätzliches Problem besteht darin, dass sich die zahlreichen, für eine realistische Abbildung des Planungsproblems erforderlichen Daten häufig nicht vollständig und mit hinreichender Genauigkeit bereitstellen lassen. Durch fehlspezi­ fizierte Parameter verschlechtert sich jedoch auch die Qualität der ermittelten Lösung. Ein Ausweg ist der Ansatz der robusten Optimierung, der die Unsicherheit bei den Pa­ rametern explizit berücksichtigt und das dadurch entstehende stochastische Optimie­ rungsproblem in ein deterministisches Ersatzmodell überführt (vgl. z. B. Herrmann/ Englberger 2015). Die Entwicklung immer umfassenderer, sogenannter monolithischer Totalmodelle für die Produktionsprogrammplanung wurde in den 1960er und 1970er Jahren immer

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weiter vorangetrieben. Schließlich wurde erkannt, dass ihre Anwendung in der Praxis nicht nur an rechentechnischen Problemen wie dem Modellumfang, der Komplexi­ tät und der Datenversorgung scheitert, sondern in erster Linie an organisatorischen Aspekten, denn ihr Anspruch besteht darin, sämtliche für die Produktion relevan­ ten Entscheidungen gleichzeitig in einem zentralen Planungsmodell zu treffen (vgl. Küpper 1980). Dies führt zu einem Kompetenzverlust der in der Realität vorhande­ nen, hierarchisch gegliederten organisatorischen Instanzen mit der Folge, dass viel­ fach Entscheidungen außerhalb des Planungssystems getroffen werden. Daher haben sich für Produktionsentscheidungen mehrstufige, dezentralisierte Entscheidungssys­ teme durchgesetzt, bei denen allenfalls eine aggregierte Produktionsprogrammpla­ nung zentral durchgeführt wird.

3.4 Produktionsprogrammplanung in PPS-Systemen In der Praxis wird die Produktionsplanung und -steuerung üblicherweise mithilfe von PPS- beziehungsweise ERP-Systemen durchgeführt, die als Standard-Software ange­ boten werden und bei Bedarf an die Bedürfnisse des einzelnen Unternehmens ange­ passt werden können. Der Markt für PPS-Systeme weist sowohl kleine Anbieter als auch große Softwarehäuser auf; über lange Zeit galt das von der SAP AG entwickelte System als Industriestandard. PPS-Systeme basieren auf dem sukzessiven, modularen Planungskonzept des Manufacturing Resource Planning (MRP II), dessen Grundstruk­ tur in Abbildung 1 dargestellt ist (vgl. Hoitsch 1993, S. 176 ff.; Steven 2014, S. 192 ff.).

Programmplanung • Prognoserechnung • Grobplanung

Produktionsplanung

Materialwirtschaft • Stücklistenauflösung • Losbildung

GrunddatenVerwaltung

• Strukturdaten

Produktionssteuerung

Zeitwirtschaft

• Bestandsdaten

• Terminplanung • Kapazitätsplanung

• Bewegungsdaten

Ablaufplanung • Auftragsfreigabe • Auftragsüberwachung

Abb. 1: Grundstruktur eines PPS-Systems (in Anlehnung an: Steven 2014, S. 193).

Produktions- und Absatzprogrammplanung in Wertschöpfungsnetzwerken |

179

Die Module werden im Wesentlichen Top-Down abgearbeitet, wobei die Lösung eines Teilproblems jeweils als Vorgabe für das nachfolgende Modul dient. Das oberste Mo­ dul umfasst die Produktionsprogrammplanung, die ausgehend von den Aufträgen be­ ziehungsweise prognostizierten Nachfragemengen eine aggregierte Grobplanung der Produktionsmengen anhand der verfügbaren Kapazitäten vornimmt. Da die Nachfrageprognosen umso weniger verlässlich sind, je weiter eine Peri­ ode in der Zukunft liegt, wird hier üblicherweise mit einem rollierenden Planungshori­ zont gearbeitet: Die für die erste(n) Periode(n) geplanten Produktionsmengen werden in operative Planungsentscheidungen umgesetzt, während die Ergebnisse der weiter entfernten Perioden lediglich als Eventualentscheidungen dienen. Nachdem die erste Planperiode abgearbeitet ist, werden sowohl die Nachfrageprognosen als auch die in­ ternen Daten aktualisiert und ein erneuter Planungsdurchlauf wird angestoßen (vgl. Vargas/Metters 2011). Die Ergebnisse der Produktionsprogrammplanung werden auf den nachfolgen­ den Planungsebenen – der Materialwirtschaft und der Zeitwirtschaft – immer weiter detailliert, bis sie schließlich als terminierte Fertigungsaufträge auf die Anlagen ein­ gelastet werden können. Von oben nach unten nimmt der Detaillierungsgrad der Planungsaufgaben zu und der Planungshorizont ab. Während die Produktionspro­ grammplanung zentral durchgeführt wird, erfolgt auf den unteren Planungsebenen eine immer weitere Dekomposition in weitgehend unabhängig voneinander lösba­ re Teilprobleme. Dadurch lassen sich im Gegensatz zu einer vollständig zentralen Planung die im Unternehmen vorhandenen organisatorischen Zuständigkeiten ange­ messen berücksichtigen. Zur Lösung der einzelnen Teilprobleme werden vereinzelt optimierende Verfahren des Operations Research eingesetzt; überwiegend wird mit einfachen oder mit speziell für die jeweilige Problemstellung entwickelten Heuristi­ ken gearbeitet. Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Modulen findet im Wesentli­ chen als Informationsaustausch mithilfe einer gemeinsamen Datenbank statt, die die relevanten Struktur-, Bestand- und Bewegungsdaten umfasst. Durch Rückkopplungs­ informationen hinsichtlich der aufgrund der Planung erzielten Produktionsergebnis­ se werden die Daten für den nächsten Planungslauf im Rahmen der rollierenden Pla­ nung aktualisiert.

4 Produktionsprogrammplanung in Wertschöpfungsnetzwerken Aufgrund der Tendenz zu immer kundenindividuelleren Produkten erhöht sich die Anzahl der bei der Produktionsprogrammplanung zu berücksichtigenden Endpro­ dukte, während sich die jeweils nachgefragten Mengen reduzieren. Dadurch werden Unternehmen, die bislang aufgrund von Nachfrageprognosen für anonyme Märkte

180 | Marion Steven

gefertigt haben, mit den Anforderungen der kundenorientierten Einzel- beziehungs­ weise Serienfertigung konfrontiert. Gleichzeitig reduzieren die Unternehmen ihre Fertigungstiefe, indem sie die Teile der Wertschöpfung, die nicht zu ihren Kernkom­ petenzen zählen, auf spezialisierte Zulieferer auslagern. Durch dieses Outsourcing der Fertigung von Einzelteilen, Bauteilen, Baugruppen und Modulen entstehen im­ mer komplexere Supply Chains, in denen die Produktionsprogrammplanung der beteiligten Unternehmen aufeinander abgestimmt werden muss.

4.1 Supply Chain Management Unter einer Supply Chain versteht man den langfristig angelegten Zusammenschluss von rechtlich und wirtschaftlich selbstständigen Unternehmen, deren Tätigkeits­ felder auf unterschiedlichen Wertschöpfungsstufen liegen. Im Rahmen des Supply Chain Managements soll durch Koordination der unternehmensübergreifenden Ma­ terial-, Informations- und Finanzflüsse eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten Unternehmen erreicht werden. Auch wenn der Begriff Supply Chain einen linearen Aufbau der Wertschöpfungskette suggeriert, herrschen üblicherwei­ se netzwerkartige Strukturen vor, durch die die Beschaffungs-, Produktions- und Absatzaktivitäten eines Unternehmens mit denen auf den vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsstufen verknüpft werden. Ein gutes Beispiel sind die umfangreichen Zulieferernetzwerke in der Automobilindustrie (vgl. z. B. Sydow/Möllering 2015). Im Mittelpunkt einer Supply Chain steht in der Regel das fokale Unternehmen, das die Aktivitäten der verschiedenen Partner koordiniert. In der Automobilindustrie ist dies der als OEM bezeichnete Automobilhersteller, der seine Produktionsprogramm­ planung autonom durchführen kann. Die Produktionsprogrammplanung des fokalen Unternehmens dient als Ausgangspunkt nicht nur für die Bestimmung der Bedarfs­ mengen an Bauteilen auf vorgelagerten Stufen in der eigenen Fertigung, sondern sie liefert auch die Nachfrageprognosen für die Zulieferer in der Supply Chain, die diese für ihre eigene Produktionsprogrammplanung benötigen. Die Kommunikation und Abstimmung hinsichtlich dieser Bedarfsmengen führt zu zeitlichen Verzögerungen bei den Material- und Informationsflüssen in einer Sup­ ply Chain. Diese wiederum bewirken den Bullwhip-Effekt (vgl. Forrester 1969), der darin zum Ausdruck kommt, dass bereits kleine Schwankungen bei der Nachfrage nach Endprodukten zu deutlichen Bedarfsschwankungen auf den vorgelagerten Wert­ schöpfungsstufen führen können, wobei diese Schwankungen von Stufe zu Stufe ten­ denziell zunehmen. Je mehr Glieder eine Wertschöpfungskette hat, je weniger die Be­ stellintervalle aufeinander folgender Stufen übereinstimmen und je intransparenter die Informationslage ist, desto stärker ist der Bullwhip-Effekt ausgeprägt. Das Supply Chain Management soll vor allem durch eine bessere Abstimmung zwischen den Beteiligten dazu beitragen, dass diese Bedarfsschwankungen inner­ halb der Supply Chain reduziert werden. Geeignete Maßnahmen sind der Zugriff aller

Produktions- und Absatzprogrammplanung in Wertschöpfungsnetzwerken | 181

Beteiligten auf gemeinsame, jederzeit aktuelle Datenbestände, die möglichst exak­ te Abstimmung von Anlieferungsterminen auf die Produktionsanforderungen des jeweiligen Abnehmers sowie die partnerschaftliche Kooperation bei Produktionsent­ scheidungen. Vor allem die Implementierung des Just-in-Time-Prinzips bietet große Unterstützung dabei, die Bereitstellung der großen Anzahl an Materialien, die in ei­ ner Supply Chain auftreten, effizient zu planen und zu steuern, um die zugehörigen Prozesse und Aktivitäten zeitlich möglichst eng zu koppeln.

4.2 Advanced Planning Systems Da in vielen Branchen die verteilte Leistungserstellung innerhalb von Zuliefernetz­ werken eine immer größere Bedeutung einnimmt, richtet sich auch die Entwick­ lung von Software zur Produktionsplanung und -steuerung im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts an den Bedürfnissen des Supply Chain Managements aus. Soft­ waresysteme zur Unterstützung und Koordination von über mehrere Partnerunter­ nehmen verteilten Planungs- und Steuerungsaufgaben werden als Supply Chain Ma­ nagement Systems beziehungsweise als Advanced Planning Systems (APS) bezeichnet (vgl. Stadtler/Kilger/Meyr 2015). Den APS liegt ähnlich wie den PPS- beziehungsweise ERP-Systemen eine modula­ re Struktur zugrunde. Die Anwender können diejenigen Module auswählen, die für die bei ihnen vorliegenden Problemstellungen benötigt werden. Die Supply Chain-Plan­ ning-Matrix in Abbildung 2 zeigt den typischen Aufbau eines APS, bei dem die einzel­

Beschaffung

langfristige Planung

BeschaffungsStandortwahl programm Layoutplanung Lieferantenwahl

Material mittelfristige Requirements Planung Planning

kurzfristige Planung

Produktion

Bestellmengenplanung

Materialfluss

Distribution

Distributionsstruktur

Absatz

Produktionsprogramm

Master Production Scheduling

Logistikplanung

mittelfristige Absatzplanung

Losgrößenplanung Reihenfolgeplanung

Lagerhausplanung Transportplanung

kurzfristige Absatzplanung

vertikaler Informationsfluss horizontaler Informationsfluss

Abb. 2: Supply Chain-Planning-Matrix (in Anlehnung an Steven 2015, S. 205).

182 | Marion Steven

nen Module nach ihrem Bezug zu den aufeinanderfolgenden Wertschöpfungsstufen sowie nach der Fristigkeit des Planungshorizonts angeordnet sind (vgl. Fleischmann/ Meyr/Wagner 2000, S. 63). Die beim Supply Chain Management auftretenden Planungsaufgaben lassen sich im Wesentlichen drei hierarchisch angeordneten, aufeinander folgenden Planungs­ ebenen zuweisen: – Die langfristige Planung umfasst die als Supply Chain Configuration bezeichnete, strategisch ausgerichtete Planung und Konfiguration der dem Materialfluss zu­ grunde liegenden Netzwerkstruktur. – Gegenstand des auf der taktischen Ebene angesiedelten Supply Chain Planning ist die mittelfristige Planung der Material- und Informationsflüsse. Hier erfolgt die Abstimmung der Produktionsprogrammplanung (hier als Master Production Scheduling bezeichnet) mit der Materialbedarfsplanung, der Logistikplanung und der mittelfristigen Absatzplanung. – Die kurzfristige Planung und Überwachung der Abläufe auf der operativen Ebene wird als Supply Chain Execution bezeichnet. Während der Materialfluss in einer Supply Chain stets in Richtung der Wertschöpfung verläuft, liegt ein intensiver gegenseitiger Informationsaustausch zwischen den ein­ zelnen Planungsmodulen sowohl in horizontaler, d. h. zwischen den auf einer Pla­ nungsebene angesiedelten Problemstellungen, als auch in vertikaler Richtung vor. Entsprechend der Vielfältigkeit der Ausprägungen von Supply Chains und der zugehörigen Planungsaufgaben kommen unterschiedliche Methoden und Informati­ onssysteme zum Einsatz. Der Schwerpunkt der APS liegt auf der Entscheidungsunter­ stützung. Sie bieten nicht nur anspruchsvolle mathematische Lösungsalgorithmen, sondern auch eine restriktions- und engpassorientierte Planung sowie eine simultane Überprüfung, ob die vorhandenen Restriktionen eingehalten und inwieweit die vor­ handenen Kapazitäten genutzt werden. Zur Abstimmung der Material- und Informationsflüsse innerhalb einer Supply Chain ist es vorteilhaft, wenn die Mitglieder über ein einheitliches Softwaresystem verfügen und über genau definierte Schnittstellen die für die Planung erforderlichen Daten jederzeit einsehen beziehungsweise abrufen können. Für die Produktionspro­ grammplanung der Zulieferunternehmen bedeutet dies, dass sie zeitgleich mit ihrem Abnehmer die Informationen über dessen Nachfragemengen erhalten und in ihre Planung einfließen lassen können. Im Rahmen des Just-in-Time-Konzepts werden zwischen Abnehmer und Lieferant Rahmenvereinbarungen hinsichtlich der mittel­ fristigen Liefermengen geschlossen, die regelmäßig in Form von Vorschaurechnun­ gen aktualisiert und schließlich in Form von Lieferabrufen konkretisiert werden. Wird auch noch die dem OEM nachgelagerte Wertschöpfungsstufe des Handels in das System integriert, so lassen sich im Rahmen des Efficient Consumer Response die Bedarfsmengen direkt aus den von den Scanner-Kassen erfassten Verkäufen ableiten.

Produktions- und Absatzprogrammplanung in Wertschöpfungsnetzwerken | 183

4.3 Produktionsprogrammplanung bei Industrie 4.0 Mit dem Stichwort Industrie 4.0 wird die zunehmende Automatisierung von industri­ ellen Produktionsprozessen bezeichnet, die mithilfe von hochentwickelten Informa­ tions- und Kommunikationstechnologien erfolgt und auf eine durchgängige Digitali­ sierung der an der Leistungserstellung beteiligten Objekte – Maschinen, Werkzeuge, Werkstücke, Fahrzeuge usw. – sowie sämtlicher Prozessschritte abzielt. Die wichtigs­ ten Kennzeichen von Industrie 4.0-Anwendungen sind eine konsequente Ausrichtung an individuellen Kundenwünschen, die intensive Zusammenarbeit von Unternehmen in Wertschöpfungsnetzwerken, eine umfassende unternehmensinterne und -externe Vernetzung, eine starke Modularisierung und Dezentralisierung sowohl von Pla­ nungs- als auch von Produktionsprozessen, der Einsatz cyberphysischer Systeme sowie die Kommunikation und der Datenaustausch in Echtzeit über das Internet der Dinge und Dienste. Ein Kernelement von Industrie 4.0 ist der zunehmende Einsatz cyberphysischer Systeme (CPS) in der Fertigung. Unter einem CPS versteht man ein um Sensoren, einge­ bettete Systeme und Aktoren erweitertes physisches System, das teilautonom agieren kann. Beispiele sind Fertigungsroboter, fahrerlose Transportsysteme, die den besten Weg für einen Transportauftrag finden, oder auch ein Kleinteilebehälter, der seinen Füllstand selbstständig ermittelt und bei Bedarf eine Nachbestellung auflöst. CPS sind über digitale Netze sowohl unternehmensintern als auch über die Unternehmensgren­ zen hinaus mit anderen Akteuren im Wertschöpfungsprozess verbunden und können z. B. über das Internet der Dinge und Dienste miteinander kommunizieren (vgl. aca­ tech 2011). Durch Vernetzung von CPS entstehen cyberphysische Produktionssysteme (CPPS), die auch als Smart Factory bezeichnet werden (vgl. Kuprat/Mayer/Nyhuis 2015, S. 11). Diese erfordern eine durchgängige Steuerung der Produktions- und Logistikprozesse, um die kundenindividuellen Produkte termingerecht fertigzustellen. Aufgrund der systemimmanenten großen Flexibilität können kurzfristig auftretende Störungen kompensiert werden, indem z. B. Aufträge durch direkte Kommunikation auf andere CPS mit freien Kapazitäten umgeleitet werden. Da die Datenbasis durch echtzeitnahe Rückmeldungen und Aktualisierungen selbstständig an die in der Fertigung auftretenden Ereignisse angepasst wird, nimmt die Verfügbarkeit und die Qualität der Daten entlang der Lieferkette sowohl unterneh­ mensintern als auch extern erheblich zu. Dies reduziert die negativen Auswirkungen des Bullwhip-Effekts deutlich (vgl. Kuprat/Mayer/Nyhuis 2015, S. 14). Angesichts der selbstständigen Koordination von autonomen CPS stellt sich die Frage, welche Rolle eine (zentrale) Produktionsprogrammplanung bei Industrie 4.0 noch spielen kann. Da CPS auf der operativen Ebene angesiedelt sind und mit ihren Entscheidungen jeweils auf eine aktuelle Situation in der Fertigung reagieren müssen, sind sie nicht in der Lage, das Gesamtsystem und die Auswirkungen einer bestimm­ ten Aktion vollständig zu überblicken. Um Bedarfsmengen, Auftragstermine und die

184 | Marion Steven

erforderlichen Kapazitäten nicht nur aufeinander abzustimmen, sondern dabei auch die unternehmerischen Zielsetzungen zu berücksichtigen, ist es nach wie vor erfor­ derlich, das Produktionsprogramm vorzugeben. Anschließend kann auf Basis dieser Planung eine dezentrale Steuerung der Produktion durch CPS erfolgen (vgl. Kuprat/ Mayer/Nyhuis 2015, S. 13).

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Rainer Souren

Umweltorientierte Gestaltung des Leistungsprogramms 1 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 4 4.1 4.2 5

Einleitung | 186 Einordnung der umweltorientierten Leistungsprogrammplanung | 187 Das Leistungsprogramm als Bindeglied zwischen Produktions- und Absatzplanung | 187 Planungsrelevante Gegenstände der umweltorientierten Produktionswirtschaft | 191 Umweltorientierte Gestaltung des Leistungsspektrums | 192 Design der Leistungsarten und -varianten | 192 Zusammenstellung der Leistungsarten zu Leistungsprogrammen und Produktfamilien | 194 Umweltorientierte Gestaltung des kurzfristigen Leistungsprogramms | 196 Integration umweltrelevanter Aspekte in ökonomische Optimierungsmodelle | 197 Exemplarische Veranschaulichung der Wirkung umweltrelevanter Maßnahmen | 201 Resümee | 207 Literatur | 208

Zusammenfassung. Der Beitrag macht deutlich, wie sich der Umweltschutz in die Leistungsprogrammplanung integrieren lässt, die eine Kernaufgabe des Wertschöp­ fungsmanagements bildet. Auf der strategischen und taktischen Ebene müssen nach­ haltige Konsumtrends berücksichtigt werden, die neben einer kreislaufgerechten Produktentwicklung auch eine stärkere Funktionsorientierung des Leistungsange­ bots erfordern. Bei der operativen Leistungsprogrammplanung, in der die konkreten Leistungsquantitäten ermittelt werden, ergeben sich durch die Berücksichtigung von Schadstoffen Änderungen in der Zielfunktion und den Restriktionen von Optimie­ rungsmodellen. Anhand einfacher Beispielrechnungen wird deutlich, dass dadurch der Leistungsmix variieren kann und Unternehmen unter Umständen sogar völlig auf umweltschädliche Leistungsarten verzichten sollten.

https://doi.org/10.1515/9783110473803-011

186 | Rainer Souren

1 Einleitung Der Erfolg eines Unternehmens ist in hohem Maß von seinen angebotenen Leistungen abhängig. Nur wenn sie auf dem Absatzmarkt von den Konsumenten nachgefragt und in internen Prozessen kosteneffizient erstellt werden, erlangt das Unternehmen eine starke Wettbewerbsposition. Strategisch-taktische Entscheidungen zur Leistungsge­ staltung sind daher Kernaufgaben des Managements und wichtiger Gegenstand der betrieblichen Produktentwicklung sowie Produktions- und Absatzwirtschaft. In der operativen Produktionsplanung bildet die Leistungsprogrammplanung zudem den Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen (unter anderem Kapazitäts-, Material­ bedarfs-, Losgrößen- und Maschinenbelegungsplanung). Auf allen Planungsebenen müssen Unternehmen stets das gesamte Gefüge des Leistungsprogramms im Auge haben, denn Synergieeffekte in Produktion und Absatz können dazu führen, dass auch Leistungen in das Programm aufgenommen werden, die für sich alleine nicht ausreichend Erfolg versprechen. Interne und externe Konkurrenz (z. B. bezüglich der Ressourcennutzung oder der Kannibalisierung auf Absatzmärkten) bedingen dage­ gen häufig, dass sich Unternehmen zwischen anzubietenden Leistungen entscheiden müssen. Für eine nachhaltige Gestaltung des Leistungsprogramms müssen nicht nur öko­ nomische, sondern auch ökologische und soziale Aspekte berücksichtigt werden. Geänderte Lebensstile, wie sie etwa das Akronym LOHAS (Lifestyles of Health and Sustainability) bezeichnet, gehen einher mit Konsumententypen, die spezielle Leis­ tungsarten (z. B. vegetarische Lebensmittel, Fairtrade-Produkte, Sharing-Angebote) präferieren. Gleichermaßen führt auch eine Vielzahl umweltrechtlicher Regelungen zu Restriktionen, die bei der Optimierung des Leistungsprogramms zu berücksichti­ gen sind. In der Literatur zum Umwelt- beziehungsweise Nachhaltigkeitsmanagement fin­ det sich eine große Zahl an Beiträgen, die einzelne Themenfelder der Leistungs­ gestaltung (z. B. Eco-Design, nachhaltiges Konsumentenverhalten, umweltgerechte Produktionsplanung) adressieren. Diese verschiedenen Aspekte des nachhaltigen Produkt(ions)managements sollen in diesem Beitrag nicht vollumfänglich darge­ stellt werden. Ziel ist es vielmehr, die vielschichtigen Aufgaben bei der Planung des Leistungsprogramms zu ordnen und die Relevanz umweltorientierter Aspekte zu ver­ deutlichen. Der Ausrichtung des Handbuchs folgend, rücken dabei produktionswirt­ schaftliche Überlegungen in den Fokus. Sie werden, wo dies zweckmäßig erscheint, um absatzwirtschaftliche und produktgestalterische Aspekte ergänzt, da nur so ein aussagekräftiges Bild der Leistungsprogrammplanung entsteht. In Abschnitt 2 wird zunächst der Untersuchungsgegenstand Leistungsprogramm charakterisiert, indem der Leistungsbegriff sowie seine produktions- und absatzwirt­ schaftlichen Facetten beschrieben werden. Anschließend werden die verschiedenen Ebenen der Programmplanung näher gekennzeichnet und die Leistungsprogramm­

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planung in die umweltorientierte Produktionswirtschaft eingeordnet. Abschnitt 3 wid­ met sich der umweltorientierten Gestaltung des Leistungsprogramms, geht also der grundsätzlichen Frage nach, welche Leistungsarten und -varianten in das Portfolio aufgenommen werden sollen. Bei den Überlegungen zu einzelnen Leistungen werden neben der ökologischen Gestaltung materieller Güter auch die ökologischen Auswir­ kungen neuartiger Konsumtrends (vermeidungsorientierte Nutzungskonzepte, Indi­ vidualisierung der Produkte) analysiert. Anschließend wird erläutert, welche Ände­ rungen sich bei der Zusammenstellung einzelner Leistungen zum Leistungsspektrum ergeben können und inwieweit hiervon auch die „ökologische Produktfamilienpla­ nung“ betroffen ist. Abschnitt 4 behandelt mit der kurzfristigen Leistungsprogramm­ gestaltung einen ureigenen Gegenstandsbereich des Produktionsmanagements. Aus­ gehend vom Grundmodell der Leistungsprogrammplanung wird zunächst erläutert, wie umweltorientierte staatliche Maßnahmen (Öko-Steuer, Schadstoffgrenzwerte) in das Modell integriert werden können. Anschließend wird betrachtet, wie sich solche Maßnahmen auf das Leistungsprogramm auswirken und inwiefern Eigen- und Fremd­ entsorgungsmaßnahmen die Programmgestaltung mittelbar beeinflussen. Abschlie­ ßend fasst Abschnitt 5 die wesentlichen Erkenntnisse zusammen.

2 Einordnung der umweltorientierten Leistungsprogrammplanung 2.1 Das Leistungsprogramm als Bindeglied zwischen Produktions- und Absatzplanung Als unternehmerische Leistung wird in diesem Beitrag der materielle und/oder imma­ terielle Gegenstand einer Transaktion zwischen einem Unternehmen (Anbieter) und seinem Kunden (Nachfrager) verstanden. Solche Leistungen bestehen in der Regel aus mehreren Teilleistungen und lassen sich insofern auch als Leistungsbündel zur Problemlösung kennzeichnen (vgl. Corsten/Gössinger 2016, S. 169). Sie werden je­ doch hier nicht weiter untergliedert und stellen nachfolgend die (atomaren) Analy­ seeinheiten dar. Von Unternehmen angebotene Leistungen können auf unterschied­ liche Weise die Bedürfnisse der Konsumenten befriedigen. Manche (Dienst-)Leistun­ gen führen unmittelbar zu einer Bedürfnisbefriedigung beim Konsumenten (Leistung beziehungsweise das Leisten als Prozess), während sich andere unternehmerische Leistungen in oder an einem Sachgut (Leistung beziehungsweise das Geleistete als Ergebnis) offenbaren (vgl. Kern 1996, Sp. 1630), das erst in nachgelagerten Konsum­ prozessen seinen Nutzen stiftet. Ein wesentlicher Faktor, der die Leistungsausgestaltung determiniert, ist der Grad der Konsumentenbeteiligung. So unterscheiden sich unternehmerische Leistungen erheblich danach, ob das Unternehmen Sachgüter für einen anonymen Markt fertigt,

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individuelle Kundenwünsche berücksichtigt, der Kunde sich oder eigene Objekte in die Leistungsprozesse einbringt oder er sogar bestimmte Teilprozesse der Leistungser­ stellung selbst durchführt (zum Ausmaß der Beteiligung von Kunden an der Erstellung unterschiedlicher Mobilitätsleistungen vgl. Souren/Witschel 2016). Je stärker auf die individuellen Wünsche der Kunden eingegangen wird beziehungsweise die Kunden sich einbringen, desto weniger sind die Leistungen vorab determiniert. Dann besteht das Leistungsangebot des Unternehmens in einer Leistungsbereitschaft, die erst in der Leistungserstellung kundenspezifisch ausgeformt wird (vgl. Kern 1979, Sp. 1568 ff.). Das Leistungsprogramm umfasst die Gesamtheit aller Leistungen, die vom Un­ ternehmen erstellt (Produktionsprogramm) und den Konsumenten angeboten (An­ gebotsprogramm) werden (können); es bildet demgemäß „die Nahtstelle zwischen Produktion und Absatz“ (Kern 1979, Sp. 1565)¹. Die Planung des Leistungsprogramms stellt sowohl für die Produktion als auch das Marketing eine Kernaufgabe dar, die mit zahlreichen weiteren Planungsgegenständen verbunden ist beziehungsweise diese je nach Abgrenzung mit einschließt. In der Produktionsplanung bestehen z. B. Wechsel­ wirkungen zu Investitionsentscheidungen in den Produktionsapparat oder der Aus­ wahl der verwendeten Produktionsverfahren. Die Programmplanung ist in der Regel derart komplex, dass eine hierarchische Untergliederung in eine strategische, taktische und operative Planung angeraten erscheint (vgl. Corsten/Gössinger 2016, S. 255 f.; Jacob 1990, S. 406 ff.; Jacob 1996, Sp. 1469). Auf der strategischen Ebene legt das Unternehmen seinen Betriebszweck fest, indem es entscheidet, in welchen Produktfeldern es tätig wird und auf wel­ chen Märkten es seine Produkte anbietet (langfristiges Leistungsprogramm). Diese Entscheidung erfolgt erstmals vor der Unternehmensgründung und wird angepasst, wenn sich Umfeldbedingungen durch z. B. technologischen Wandel oder neuartige Konsumentenbedürfnisse erheblich verändern. Auf der taktischen Ebene werden innerhalb der einzelnen Produktfelder die anzubietenden Leistungsarten sowie deren Varianten spezifiziert (Breite des mit­ telfristigen Leistungsprogramms) und es wird entschieden, in welchem Umfang das Unternehmen die Leistungserstellung selbst durchführt (Tiefe des mittelfristigen Leis­ tungsprogramms). Die Gestaltung einzelner Leistungsarten ist eng mit der Produktent­ wicklung abzustimmen, und die Definition des mittelfristigen Leistungsprogramms (Leistungsspektrums) steht in Wechselwirkung zur Kapazitätsplanung des Produkti­ onsapparats (Betriebsmittel, Personal etc.). Während die qualitative Kapazität (Flexi­

1 Unterschiede zwischen Produktions- und Absatzprogramm können sich einerseits dadurch erge­ ben, dass bestimmte Leistungen vom Unternehmen nicht selbst erstellt, sondern hinzugekauft wer­ den. Andererseits unterscheiden sich die beiden Programme in einer mehrperiodigen Betrachtung – zumindest bei Sachleistungen – bezüglich der Leistungsquantitäten, die in verschiedenen Perioden erstellt und angeboten werden. Vgl. zu solchen „zeitlichen Verwerfungen“ aufgrund der Emanzipation von Produktion und Absatz sowie zu weiteren Gründen für Unterschiede zwischen Produktions- und Absatzprogramm Corsten/Gössinger (2016, S. 256); Jacob (1996, Sp. 1482); Kern (1979, Sp. 1565 f.).

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bilität) die technologisch möglichen Leistungsarten und -varianten determiniert, gibt die quantitative Kapazität das Leistungsvolumen vor, das mit dem Produktionsappa­ rat maximal erstellt werden kann. „Sowohl der langfristige als auch der mittelfristige Programmplan stellen Rahmen­ pläne dar, in denen die Bedingungen festgelegt werden, die für die kurzfristige Pro­ grammplanung bindend sind“ (Jacob 1990, S. 407 f.). Wie Abbildung 1 verdeutlicht, grenzen sie den Umfang der vom Unternehmen angebotenen Leistungen (das Leis­ tungsspektrum) ein. Hierbei berücksichtigen sie die internen Rahmenbedingungen des Produktionssystems und passen sie gegebenenfalls an. Überdies müssen auch die externen Gegebenheiten ausreichend beachtet werden, zu denen neben den Kunden­ präferenzen auf den Absatzmärkten auch weitere Umfeldbedingungen, wie technolo­ gische Entwicklungen oder gesetzliche Regelungen, zählen. Bei der Auswahl der Leis­ tungsarten und -varianten gilt es, positive Verbund- beziehungsweise Synergieeffekte zu realisieren, die unter anderem in der Komplementarität der Leistungen auf dem Ab­ satzmarkt, gemeinsamen Einsatzfaktoren und Herstellverfahren, aber z. B. auch in der gemeinsamen Entsorgung von Abfallstoffen begründet sind (vgl. Jacob 1990, S. 418 f.; ergänzend Corsten/Gössinger 2016, S. 170 f.; Zäpfel 1979, Sp. 1704 f.). Auf der operativen Ebene konkretisiert das kurzfristige Leistungsprogramm die Rahmenpläne der beiden übergeordneten Ebenen dahingehend, dass es für eine oder mehrere Planungsperioden die Quantitäten der einzelnen Leistungsarten und -varianten bestimmt und dabei die bestehenden Produktionskapazitäten möglichst erfolgreich auslastet². Das Planungsproblem zur Ermittlung des Leistungsprogramms (synonym: Produktions- oder Erzeugnisprogramm) lässt sich als OR-Modell formulie­ ren (vgl. z. B. Jacob 1996, Sp. 1478 f.) und mittels optimierender Verfahren lösen. Als Basismodell dient dabei der Standardansatz der Erzeugnisprogrammplanung (vgl. Dyckhoff 2006, S. 226 ff. sowie Abschnitt 4.1.1), der sich auf vielfältige Weise erwei­ tern lässt (vgl. Corsten/Gössinger 2016, S. 280 ff.; Jacob 1996, Sp. 1478 ff.; Sabel 1979, Sp. 1688 ff.), um reale Planungsgegenstände zu integrieren. Hierzu zählen etwa An­ sätze zur Programmplanung bei auftragsorientierter Fertigung, bei Kuppelproduktion oder unter Berücksichtigung verschiedener Produktionsverfahren³.

2 In welchem Umfang die Kapazitäten tatsächlich ausgelastet werden, lässt sich bei kundenindivi­ duell erstellten (Dienst-)Leistungen aufgrund der unbekannten Auftragslage nur schwer vorhersagen. Die operative Programmplanung legt demgemäß nur eine generelle kurzfristige Leistungsbereitschaft fest (vgl. Kern 1979, Sp. 1569 f.), etwa bei der Taxieinsatzplanung die Anzahl während einer Tages- oder Nachtschicht eingesetzter Fahrzeuge (vgl. Souren/Witschel 2017, S. 866 f.). 3 Letzteres verdeutlicht, dass auch die Verfahrenswahl bei der Leistungserstellung enge Verbindun­ gen zur Programmplanung aufweist, wenn sie auch meist nicht als einer ihrer integralen Bestandteile verstanden wird (vgl. Kern 1979, Sp. 1564). Dies gilt in noch verstärktem Maß für prozessorientierte Dienstleistungen, deren Qualität sich in der genauen Verfahrensweise offenbart.

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Produktfeld

Produktfeld LA

LA V

V

LA

V

V

V

V

V

LA LA

LA V

V

V

LA V

V

V

Produktfeld

V V

Produktfeld LA

LA V

LA

V

V

V

V

V

V

V

V

V

LA V

LA V V

V

Leistungsspektrum (mittelfristiges Leistungsprogramm) Produktionsprogramm

Produktionssystem (Verfahren, Kapazitäten etc.)

Absatzprogramm

Absatzsystem (Märkte, Kundenpräferenzen etc.)

sonstige Umfeldbedingungen (Technologien, Gesetze etc.)

Legende:

LA V

Leistungsart Variante

im System enthaltene nicht enthaltene Leistungsart/Variante

Synergien

Abb. 1: Festlegung des Leistungsspektrums im Rahmen der strategisch-taktischen Programmpla­ nung.

Umweltorientierte Gestaltung des Leistungsprogramms |

191

2.2 Planungsrelevante Gegenstände der umweltorientierten Produktionswirtschaft Produktionstheorie und -management haben in den vergangenen drei Jahrzehnten eine Reihe umweltorientierter Erweiterungen erfahren, von denen hier nur solche angesprochen werden sollen, die zu wichtigen Änderungen der Leistungsprogramm­ planung führen. Insbesondere produktionstheoretische Arbeiten sind seit Mitte der 1980er Jahre bemüht, negativ beurteilte Objektarten (Übel) organisch in die (aktivi­ tätsanalytische oder funktionale) Produktionsmodellierung zu integrieren (vgl. z. B. Dinkelbach/Rosenberg 2004; Dyckhoff 1994). Dies führt neben geänderten Effizienz­ konzepten vor allem zu einer Fokussierung auf Kuppelproduktions- und Reduktions­ prozesse. Kuppelproduktion wird zum Regelfall umweltorientierter betrieblicher Produkti­ on, da bis dato unbeachtete (Abfall-)Outputs planungsrelevant werden. Solche Ab­ fälle beziehungsweise Schadstoffe erweitern zwar zumeist nicht das Leistungspro­ gramm – obwohl auch dies möglich ist, wenn Vermarktungsmöglichkeiten entdeckt werden –, aber aufgrund der technologischen Kopplung zwischen Produkterzeugung und Abfallentstehung können sich Änderungen des Leistungsprogramms ergeben (Abschnitt 4). Die Theorie betrieblicher Reduktion (vgl. Souren 1996) beschäftigt sich mit der Modellierung und Planung materieller Entsorgungsprozesse, bei denen eingesetzte Abfälle die Hauptobjektart darstellen. Dies bedingt eine Umkehr der Planungsrich­ tung und führt dazu, dass die betriebliche (Dienst-)Leistung in der Inputvernichtung beziehungsweise -verarbeitung besteht (zur Charakterisierung von Entsorgungspro­ zessen als Dienstleistungen vgl. Richter/Souren 2013). Die Abfallentsorgung ist ein Produktfeld, das meist das Leistungsspektrum eigenständiger Entsorgungsunterneh­ men bildet. Produktionsunternehmen ergänzen ihr Leistungsspektrum dagegen nur dann um Entsorgungsleistungen, wenn sich Synergien zu Herstellprozessen oder auf­ grund des (Alt-)Produkt-Knowhows ergeben. Gleichwohl spielt die Reduktion auch für die strategische und taktische Leis­ tungsprogrammplanung von Sachgüterproduzenten eine wichtige Rolle, denn ein umweltorientiertes Produkt(ions)management sollte den gesamten Produktlebensweg berücksichtigen. Hierbei ist zum einen eine kreislaufgerechte Gestaltung materieller Leistungen von Bedeutung, durch die wichtige Aspekte von Entsorgungsprozessen bereits in der Phase der Produktentwicklung beachtet werden. Zum anderen bedarf die umweltgerechte Leistungsgestaltung und Programmplanung eines anderen Ver­ ständnisses von Konsum, das die konkrete Produktnutzung in den Fokus rückt. Das Nutzungsverhalten der Konsumenten bedingt andere Leistungsarten, die auf eine umweltgerechte Kreislaufschließung sowie Abfallvermeidung ausgerichtet sind. Ne­ ben kreislaufgerechte Sachleistungen treten dann auch Dienstleistungsangebote, die vermeidungsorientierte Produktnutzungskonzepte fördern (Abschnitt 3).

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3 Umweltorientierte Gestaltung des Leistungsspektrums In diesem Abschnitt wird die Berücksichtigung umweltrelevanter Aspekte bei der Festlegung des mittelfristigen Leistungsprogramms (Leistungsspektrums) thema­ tisiert. Dabei wird eine systemtheoretische Perspektive eingenommen, bei der im ersten Abschnitt zunächst die umweltorientierte Gestaltung einzelner Leistungsarten und -varianten (Systemelemente) betrachtet wird, bevor im zweiten Abschnitt dann Überlegungen zur Gestaltung des gesamten Spektrums (Gesamtsystem) präsentiert werden.

3.1 Design der Leistungsarten und -varianten Die vom Unternehmen angebotenen Leistungen führen zu unmittelbaren und mit­ telbaren Umweltschäden. Unmittelbare Umweltschäden gehen von der Leistung an sich aus und offenbaren sich ausschließlich an ihren materiellen Leistungskompo­ nenten. Sie ergeben sich einerseits aus dem Rohstoffverbrauch (Entnahme aus der Natur, z. B. Kautschuk zur Herstellung eines Autoreifens) und führen andererseits zu Schadstoffemissionen (Abgabe an die Natur, z. B. Altreifen, die im Wald entsorgt wer­ den). Mittelbare Umweltschädigungen ergeben sich darüber hinaus dadurch, dass die Leistungserstellung und -nutzung mit einer Vielzahl weiterer materieller Objektarten verbunden ist, z. B. Benzinverbrauch und CO2 -Emissionen bei der PKW-Nutzung. Besteht eine (Dienst-)Leistung lediglich aus immateriellen Leistungskomponen­ ten, so weist sie im Prinzip nur mittelbare Umweltschäden auf. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Dienstleistungen per se umweltfreundlicher sind, denn ihre Erstellung be­ darf des Einsatzes materieller Objekte. So hängt die Umweltbelastung einer Trans­ portdienstleistung insbesondere von den eingesetzten Transportmitteln ab, die mit ganz unterschiedlichen Rohstoffverbräuchen und Emissionen verbunden sind (vgl. z. B. Souren 2012, S. 138 f.). Die Planung der angebotenen Leistungen einer Spediti­ on muss somit neben ökonomischen Faktoren, wie Transportkosten und verschiede­ nen Lieferservicekomponenten, auch ökologische Faktoren berücksichtigen. Hierun­ ter fallen auch umweltorientierte „Leerkosten“, d. h. Umweltschäden, die aufgrund einer nicht abgeforderten Leistungsbereitschaft entstehen (etwa die CO2 -Emissionen eines LKW, der auf der Rückfahrt zum Depot keine Güter transportiert). Insbesondere für materielle (Sach-)Leistungen lässt sich vermuten, dass der aus der Kostenrechnung bekannte Zusammenhang, wonach die Produktentwicklung für einen Großteil der Kosten verantwortlich ist, auch wenn die Kosten überwiegend in nachgelagerten Wertschöpfungsstufen entstehen, ähnlich auch für die Umweltaus­ wirkungen gilt. Der umweltorientierten Produktentwicklung kommt deshalb bei der Leistungsgestaltung eine zentrale Rolle zu. Unter dem Stichwort „Eco-Design“ findet

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sich eine Vielzahl an Konzepten beziehungsweise Strategien, die entweder einzelne Phasen des Produktkreislaufs in den Fokus rücken oder den gesamten Produktlebens­ zyklus betreffen (vgl. Abele et al. 2008; Tischner/Moser 2015 sowie für ein geordne­ tes Glossar praktischer Konzepte Fuad-Luke 2009, S. 324 ff.). Zu nennen sind hier un­ ter anderem Design-Konzepte (DfX-Konzepte; Fuad-Luke 2009, S. 11), zu denen etwa das Design for Disassembly (DfD), das Design for Recycling (DfR) oder das Design for Environment (DfE) gehören, aber auch das Cradle-to-Cradle-Konzept (vgl. Braun­ gart/McDonough 2009), das vorrangig eine konsistente Verknüpfung mit natürlichen Kreisläufen anstrebt. Die umweltorientierte Leistungsgestaltung erfolgt im Rahmen der Produktent­ wicklung sowohl aus der Notwendigkeit der Einhaltung umweltgesetzlicher Regelun­ gen heraus als auch, weil Kunden spezifische Leistungen verlangen, die bestimmten Konsumtrends entsprechen. Einen solchen Konsumtrend stellt die Individualisierung der Leistungen dar, die die Anzahl angebotener Leistungsvarianten stark ansteigen lässt. Sie erfordert nicht nur intelligente Produktionskonzepte (Stichwort: Mass Cus­ tomization), sondern wirkt sich auch auf die Kreislaufschließung aus. So erschwert die Inhomogenität verschiedener Altproduktvarianten ein effizientes, hochwertiges Recycling und verengt die Möglichkeit, Produkte durch andere Konsumenten weiter­ zuverwenden. Ökologisch positiv ist die Individualisierung hingegen dadurch, dass Kunden die Produkte länger nutzen und sich durch die engere Kundenbindung auch kostengünstigere Rückführkanäle ergeben (zu den Auswirkungen der Mass Custom­ ization auf die Kreislaufwirtschaft vgl. Souren 2003). Außer der Individualisierung gibt es noch zahlreiche weitere Konsumtrends, die es bei der umweltgerechten Gestaltung der Leistungen zu berücksichtigen gilt. Neben ökologisch eher nachteiligen Trends, wie der stärkeren Hinwendung zu ConvenienceProdukten, sind hier auch einige ökologisch vorteilhafte Entwicklungen, wie etwa die Ausrichtung einer immer größeren Bevölkerungsgruppe auf eine nachhaltige Lebens­ weise, zu beobachten. Einen großen Einfluss auf die Leistungsgestaltung besitzen in diesem Zusammenhang die sogenannten vermeidungsorientierten Produktnutzungs­ konzepte, die im deutschsprachigen Raum auch als LPNI-Konzepte bekannt sind (vgl. Ahn/Meyer 1999; Souren/Dyckhoff/Ahn 2002; Stahel 1991; zu ähnlich ausgerichteten Konzepten im englischen Sprachraum vgl. Fuad-Luke 2009, S. 324 ff.): – Lebensdauerausweitung (L): Produkte sollten so gestaltet sein, dass sie länger funktionstüchtig sind (Beispiele: langlebige Glühlampen, Handys mit leicht aus­ wechselbaren Akkus). – Produktnutzungsdauerausweitung (P): Produkte sollten so gestaltet sein, dass sie länger genutzt werden, also weniger schnell veralten beziehungsweise aus mo­ dischen Gründen nicht mehr verwendet werden (Beispiele: Möbel mit zeitlosem Design oder Handys mit auswechselbaren Bodypanels). – Nutzungsintervallsteigerung (N): Produkte sollten häufiger genutzt werden (kön­ nen) und damit die Herstellmenge der Produktart beziehungsweise anderer Pro­ duktarten gesenkt werden (Beispiel: Multifunktionsgeräte).

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Nutzungsintensitätssteigerung (I): Produkte sollten zeitgleich intensiver genutzt werden (Beispiel: Großraum-PKW).

Die Leistungsgestaltung gemäß der L- und P-Konzepte steht in Konflikt zu verkürzten Innovationszyklen, wie sie für viele Leistungsarten zu beobachten sind. Aus ökologi­ scher Perspektive müssen die Vorteile aufgrund des verzögerten Produktersatzes bei länger genutzten Produkten gegen die meist höheren Betriebsmittelverbräuche älterer Produkte (z. B. erhöhter Benzinverbrauch älterer Fahrzeuge) abgewogen werden. Für die N- und I-Konzepte besteht die wesentliche ökologische Herausforderung darin, dass die gemäß der Konzepte entwickelten Sachgüter auch tatsächlich von den Kunden zeitlich und intensitätsmäßig ausgelastet werden. Fördern lässt sich die in­ tensivere Auslastung materieller Objekte, wenn beim Leistungsangebot die ureigene Funktion stärker in den Fokus rückt und das materielle Leistungsobjekt weniger wich­ tig wird. Beispiele hierfür sind Carsharing-Plattformen (N-Konzept) oder Mitfahrzen­ tralen (I-Konzept), die die Leistung Personentransport vom Eigentum des materiellen Leistungsobjekts PKW entkoppeln. Die Leistungsgestaltung erfährt dadurch eine stär­ kere Funktions- beziehungsweise Resultatsorientierung, und die bessere Auslastung der materiellen Leistungsobjekte ist dann in der Regel mit einer deutlichen Reduzie­ rung der Umweltschäden verbunden⁴. Ob solche Leistungen dann nur von Dienstleis­ tungsunternehmen angeboten werden, die sich auf sie spezialisieren, oder auch von Unternehmen, die bisher ausschließlich Sachgüter produziert haben, wird im nach­ folgenden Abschnitt kurz diskutiert.

3.2 Zusammenstellung der Leistungsarten zu Leistungsprogrammen und Produktfamilien Der Umweltschutz hat nicht nur Auswirkungen auf die Gestaltung einzelner Leis­ tungen, sondern auch auf die Zusammenstellung des gesamten Leistungsspektrums. Sowohl die in der strategischen Planung angesiedelte Auswahl zu bearbeitender Pro­ duktfelder als auch die Konkretisierung der Leistungsarten und -varianten in der taktischen Programmplanung kann sich durch die Umweltorientierung ändern. So bilden Umweltschutzgüter und -dienstleistungen eigene Produktfelder, in denen im­ mer mehr Technologieunternehmen tätig werden. Energieunternehmen erweitern ihr Leistungsprogramm, indem sie Öko-Strom aus erneuerbaren Energien (Windkraft,

4 Aufgrund der fehlenden Notwendigkeit des Eigentumserwerbs an materiellen Leistungsobjekten entstehen allerdings oft auch zusätzliche Nutzungswünsche, die es ohne das alleine auf die Funktion ausgerichtete Leistungsangebot nicht gäbe. Vgl. zu dem dadurch entstehenden Rebound-Effekt Haan et al. (2015).

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Solarenergie, Geothermie etc.) anbieten⁵. Überdies enthalten die Leistungsspektren nahezu aller PKW-Hersteller heutzutage neben herkömmlichen Fahrzeugen auch besonders umweltfreundliche Varianten (Elektro-Automobile, PKW mit Eco-EffizienzAntrieb). Ökologische (und soziale) Kriterien, die nicht zu neuen Produktfeldern, sondern zum Verzicht auf die Bearbeitung eines Produktfelds oder das Angebot bestimmter Leistungsarten führen, sind unter anderem Gesundheitsaspekte (z. B. Tabak, Alkohol, Spielautomaten), der Artenschutz (Pelze, Elfenbein etc.) oder bestimmte umweltge­ fährdende Inhaltsstoffe (z. B. FCKW-haltige Kühlschränke). Falls nicht schon gesetz­ liche Regelungen die Leistungen verbieten, sprechen oft moralische Aspekte gegen ihre Aufnahme ins Leistungsspektrum. Dabei müssen Unternehmen beachten, dass ihre Glaubwürdigkeit immer dann gefährdet ist, wenn das Leistungsspektrum neben umweltfreundlichen auch besonders umweltschädliche Leistungen enthält. Umweltfreundlichkeit (und soziale Verantwortung) besitzt demgemäß als Teil des Unternehmensimages ein Synergiepotenzial auf Absatzmärkten. Die Umweltkom­ petenz des eigenen Unternehmens zu betonen, kann, wie im vorherigen Abschnitt bereits angedeutet, PKW-Herstellern z. B. dadurch gelingen, dass sie die Mobilität ihrer Kunden stärker in den Fokus rücken und Leistungen wie Sharing-Angebote und Mitfahrzentralen ins eigene Leistungsspektrum aufnehmen. Ob solche Erweite­ rungen des Leistungsspektrums erfolgreich sind, hängt allerdings nicht nur von der Imagewirkung ab, sondern auch von anderen Synergieeffekten bei der Erstellung und dem Absatz der Leistungen. Während interne Synergieeffekte wegen der recht unter­ schiedlichen Leistungscharakteristika von Sachgütern (PKW) und Dienstleistungen (Sharing-Angebote) eher gering sind, lassen sich Verbundeffekte beim Absatz erken­ nen. So strahlen Sharing-Angebote nicht nur durch ihr Image ab, sondern sie besitzen häufig den positiven Absatzeffekt, dass die Unternehmen ihre PKW als Potenzialfak­ toren des Sharing-Systems zur Verfügung stellen (z. B. Smart-Modelle bei dem von Mercedes mitbetriebenen System Car2go). Dadurch sprechen die Unternehmen die Mitglieder des Sharing-Systems auch als potenzielle Käufer ihrer PKW an (vgl. Bert et al. 2016, S. 3 f.). Synergieeffekte, die bei der umweltorientierten Programmplanung zu berücksich­ tigen sind, können auch technologisch begründet sein. Zum einen besteht die Mög­ lichkeit, dass verschiedene Leistungsarten umweltschädigende Kuppelprodukte be­ dingen, die sich durch das gleiche Recyclingsystem entsorgen lassen. Zum anderen kann die Suche nach einer sinnvollen Verwertung der Kuppelprodukte zuweilen auch dazu führen, dass sie ein eigenes Marktpotenzial erhalten und somit ins Leistungs­ spektrum aufgenommen werden (z. B. Schlacken aus dem Hochofenprozess als Dün­ gemittel, vgl. Jacob 1990, S. 419, oder Kohlendioxid als Grundstoff für die Methangas­

5 Insbesondere dieses Beispiel verdeutlicht erneut, dass beim umweltorientierten Leistungspro­ gramm nicht nur das fertige Produkt, sondern auch das Herstellverfahren eine zentrale Rolle spielt.

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herstellung; allgemein zur planmäßigen Verwertung von Abfällen vgl. Riebel 1996, Sp. 994). Auch der Einsatz umweltfreundlicher Herstellverfahren oder der Einsatz glei­ cher Rohstoffe kann Synergien mit sich bringen, die es zweckmäßig erscheinen lassen, neuartige Produkte in das Leistungsspektrum aufzunehmen. Ein weiteres Synergiepotenzial lässt sich durch die Verwendung gleicher Bauteile in unterschiedlichen Leistungsvarianten und sogar verschiedenen Leistungsarten er­ schließen. Hierdurch sind nicht nur ökonomische Größenvorteile zu erzielen, sondern auch ökologische Vorteile. So können z. B. aus Altprodukten entnommene Ersatzteile in ein größeres Leistungsspektrum eingebaut werden, was eine qualitativ hochwertige Wieder- oder Weiterverwendung ermöglicht. Eine umweltorientierte Produktfamilien­ planung muss dabei nicht nur innerhalb einer Generation („Geschwister“) erfolgen, sondern auch die Auswirkungen auf nachgelagerte Produktgenerationen („Kinder“) berücksichtigen. Insbesondere solche materiellen Leistungsbestandteile, die aus Kun­ densicht keine wesentlichen Leistungskriterien bilden (z. B. das Gehäuse eines Dru­ ckers oder ein gegebenenfalls aufbereiteter Starter im PKW) können dann in nach­ folgende Produktgenerationen eingebaut werden – vorausgesetzt, sie sind langlebig konstruiert.

4 Umweltorientierte Gestaltung des kurzfristigen Leistungsprogramms Umweltschutzaspekte lassen sich sowohl in die Zielfunktion als auch in die Nebenbe­ dingungen der Optimierungsmodelle zur kurzfristigen Programmplanung integrieren (Abschnitt 4.1). Beides hat Auswirkungen auf die Bestimmung des optimalen Leis­ tungsprogramms (Abschnitt 4.2). Nachfolgende Überlegungen erfolgen aus einem ökonomischen Fokus heraus und unterstellen ohne Beschränkung der Allgemein­ gültigkeit Sachgüter als Leistungen (nachfolgend zur sprachlichen Vereinfachung als Produkte bezeichnet). Die Analyse geht stets von einer linearen Deckungsbeitrags­ funktion als Zielfunktion aus; Umweltschutzaspekte fließen über Kostenterme sowie Schadstoffrestriktionen in die Modelle ein (zu einem Optimierungsmodell, das direkt den Schadstoffausstoß minimiert, vgl. Dinkelbach/Rosenberg 2004, S. 152 ff.).

Umweltorientierte Gestaltung des Leistungsprogramms |

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4.1 Integration umweltrelevanter Aspekte in ökonomische Optimierungsmodelle 4.1.1 Ausgangspunkt: Der Standardansatz der operativen Leistungsprogrammplanung Die Grundstruktur der operativen Leistungsprogrammplanung lässt sich durch fol­ genden (linearen und statischen) Standardansatz modellieren (vgl. Dyckhoff 2006, S. 226 f.; Jacob 1996, Sp. 1479): J

max! DB = ∑ (e j − k j ) ⋅ y j

(1)

j=1

u. B. d. R. J

∑ a ij ⋅ y j ≤ R i

∀ i = 1, . . . , I

(2)

∀ j = 1, . . . , J

(3)

j=1

0 ≤ yj ≤ Nj

Die optimalen Quantitäten y j der Leistungs- beziehungsweise Produktarten j (j = 1, . . . , J) werden ermittelt, indem der Gesamtdeckungsbeitrag DB maximiert wird. Er er­ gibt sich gemäß (1) durch Multiplikation der Produktquantitäten mit ihren Stückde­ ckungsbeiträgen (Differenz aus Stückerlös und -kosten: e j − k j ) und anschließender Summation über alle Produktarten. Zu berücksichtigen sind dabei zwei Restriktions­ typen: einerseits bedarf die Herstellung der Produkte verschiedener Einsatzfaktoren i (i = 1, . . ., I), die nur in einer bestimmten Quantität R i zur Verfügung stehen (2). Pro Einheit des Produkts j werden jeweils a ij Einheiten des Faktors i benötigt. Andererseits dürfen die Produktquantitäten die Nachfrage N j nicht übersteigen (3). Dieses grund­ legende Optimierungsmodell unterstellt, dass zwischen den verschiedenen Produkt­ arten lediglich eine mittelbare Kopplung über den Verbrauch gleicher Ressourcen be­ steht (Ressourceninterdependenz). Eine unmittelbare prozessuale Kopplung, wonach in einem Prozess mehrere (Haupt)Produkte gleichzeitig entstehen (Kuppelprodukti­ on), ist dagegen nicht gegeben. Die in der Zielfunktion enthaltenen Kosten k j zur Herstellung einer Quantitäts­ einheit der Produktart j ergeben sich gemäß nachfolgender Gleichung als Summe der indirekten, durch die Einsatzfaktoren verursachten Produktkosten (c i ⋅ a ij , mit c i : Fak­ torstückkosten) zuzüglich eventuell anfallender direkter, produktspezifischer Stück­ kosten (c j ), zu denen z. B. Vertriebskosten zählen: I

k j = ∑ (c i ⋅ a ij ) + c j

∀ j = 1, . . . , J

(4)

i=1

Tabelle 1 enthält die Daten eines fiktiven Zahlenbeispiels mit vier Produktarten und einem einzigen Faktor, das nachfolgend zur besseren Veranschaulichung der Zusam­ menhänge verwendet wird.

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Tab. 1: Ausgangsbeispiel zur Leistungsprogrammplanung. Produktart

P1 ( j = 1)

P2 ( j = 2)

P3 ( j = 3)

P4 ( j = 4)

160

120

90

60

Direkte produktspezifische Stückkosten c j

10

10

10

10

Produktionskoeffizient a F1,j

50

40

30

25

100

70

50

25

Parameter Stückerlös e j

Stückdeckungsbeitrag d j = e j − k j Engpassspezifischer Stück­ deckungsbeitrag δ j = d j /a F1,j Absatzgrenze N j

2 100

1,75 100

1,67 100

Faktorstückkosten: c F1 = 1 Faktorrestriktion: R F1 = 10.000

1 100

Da in diesem Beispiel nur ein Faktor (i = F1)⁶ betrachtet wird und einer Beschrän­ kung (R F1 = 10.000) unterliegt, lässt sich das optimale Leistungsprogramm auf Ba­ sis der engpassspezifischen Stückdeckungsbeiträge δ j der vier Produktarten P1 bis P4 bestimmen. Sie ergeben sich als Quotient aus Stückdeckungsbeitrag d j und Produk­ tionskoeffizient a F1,j . Der Produzent sollte die Produkte unter Berücksichtigung der Absatzgrenzen N j in der Reihenfolge ihrer engpassspezifischen Stückdeckungsbeiträ­ ge produzieren, bis die Faktorrestriktion R1 erreicht ist: δ1 > δ2 > δ3 > δ4 . Das opti­ male Leistungsprogramm ergibt sich somit zu LPopt (y1 = 100; y2 = 100; y3 = 33,33; y4 = 0). Der maximal zu erzielende Deckungsbeitrag beträgt aufgerundet 18.667 Geld­ einheiten.

4.1.2 Umweltorientierte Erweiterung und Interpretation Bei der Herstellung physischer Produkte (wie auch bei der Dienstleistungserstellung) fallen oft Abfall- beziehungsweise Schadstoffe als Kuppelprodukte an. Auch wenn sie als Nebenprodukte einen Output der Produktion darstellen, können sie analog zu den Einsatzfaktoren im Standardansatz berücksichtigt werden. Restriktion (2) wird dem­

6 Zur besseren formalen Abgrenzung von der Produktart 1 wird der Faktor 1 hier mit dem zusätzlichen Benennungsindex F versehen. Gleiches gilt nachfolgend für den Schadstoff 1, der mit dem Index S1 versehen wird.

Umweltorientierte Gestaltung des Leistungsprogramms

| 199

gemäß in zwei verschiedene Restriktionen (2a) und (2b) aufgespalten: J

∑ a ij ⋅ y j ≤ R i

∀ i = 1, . . . , I

(2a)

∀ k = 1, . . . , K

(2b)

j=1 J

∑ b kj ⋅ y j ≤ E k j=1

Die Restriktion (2a) entspricht derjenigen des Ausgangsmodells (2). Durch den Un­ gleichungstyp (2b) wird das Leistungsprogramm zusätzlich eingeschränkt, da jetzt auch die Quantitäten der Schadstoffe k (k = 1, . . . , K) einen bestimmten Wert E k nicht überschreiten dürfen und bei der Herstellung jeder Produkteinheit zwangsläufig b kj Einheiten des Schadstoffs entstehen. Das um Schadstoffe erweiterte Modell unter­ stellt, dass die entstehenden Schadstoffquantitäten einerseits in einer festen Bezie­ hung zu den Hauptproduktquantitäten stehen und andererseits nicht selbst zu einem Teil des Leistungsprogramms werden (k ≠ j). Die Berücksichtigung der Schadstoffe spiegelt sich auch in einer erweiterten Produktkostenfunktion (4E) wider, in die nun auch Schadstoffkosten eingehen: I

K

k j = ∑ (c i ⋅ a ij ) + ∑ (c k ⋅ b kj ) + c j i=1

∀ j = 1, . . . , J

(4E)

k=1

Die produktspezifischen Schadstoffkosten bestimmen sich durch Multiplikation des Kostensatzes pro Schadstoffeinheit c k mit den Kopplungskoeffizienten b kj und an­ schließender Summation über alle Schadstoffarten. Anhand der einzelnen Terme des erweiterten Ansatzes werden nachfolgend ver­ schiedene Ansatzpunkte einer umweltorientierten Leistungsprogrammplanung auf­ gelistet, deren Wirkung auf die Zusammenstellung des kurzfristigen Leistungspro­ gramms zunächst nur angesprochen und dann im nachfolgenden Abschnitt 4.2 ex­ emplarisch verdeutlicht wird. Variationen des Leistungsprogramms können sich immer dann ergeben, wenn sich die Kostenbewertung der einzelnen Produktarten gemäß (4E) und damit die Ziel­ funktion (1) ändern. Solche Variationen können unmittelbar am Produkt selbst an­ setzen, wenn sich die direkten produktspezifischen Stückkosten c j durch staatliche monetäre Maßnahmen wie z. B. Öko-Steuern erhöhen. Änderungen der produktspe­ zifischen Stückkosten k j ergeben sich zudem, wenn die in das Produkt einfließen­ den Faktoren i verteuert werden (Erhöhung der c i ), etwa wenn eine Steuer auf einen knappen Rohstoff erhoben wird. Analoge Auswirkungen haben (erhöhte) Kosten der Schadstoffe, die ebenfalls von Seiten des Staats mit einer Öko-Steuer belegt sein kön­ nen. Darüber hinaus bestimmen aber vor allem die Entsorgungskosten der Schadstof­ fe den Kostenterm c k . Änderungen der Produktstückkosten k j , unabhängig ob sie un­ mittelbar durch umweltrelevante Kostenänderungen des Produkts oder mittelbar über Verteuerungen der verbundenen Schadstoffe und Faktoreinsätze verbunden sind, be­ sitzen immer dann eine leistungseliminierende Wirkung, wenn die Stückkosten den

200 | Rainer Souren

Stückerlös übersteigen (k j > e j ). Anderenfalls führen umweltbedingte Verteuerungen der Schadstoffe oder Einsatzfaktoren häufig zu einem anderen Mix im Leistungspro­ gramm. Schadstoff- beziehungsweise ressourcenintensive Produkte (mit relativ hohen Werten für b kj oder a ij ) werden aufgrund der stärker gesenkten Stückdeckungsbei­ träge tendenziell in geringerem Umfang produziert als schadstoff- beziehungsweise ressourcenarme Produkte. Neben der Verteuerung bestimmter Objektarten mittels Öko-Steuern oder anderer monetärer Instrumente können sich staatliche Umweltschutzmaßnahmen auch un­ mittelbar auf die Produktquantitäten beziehen. So wird die Herstellung der Produkte im Extremfall gänzlich verboten (N j = 0). Solche Verbote, wie sie in der Vergangenheit z. B. für FCKW-haltige Kühlschränke ausgesprochen wurden, führen unmittelbar zur Eliminierung des Produkts (zumindest einzelner Leistungsvarianten) aus dem Leis­ tungsprogramm. Eine Einschränkung der Nachfrage N j bis hin zum völligen Verzicht auf das Produkt kann sich darüber hinaus auch durch geänderte Kundenpräferenzen ergeben. Eine Subventionierung von Produkten, wie sie etwa im Jahr 2009 durch die Abwrackprämie für Altautos beim Kauf neuer PKW vorkam, bringt hingegen meist ei­ ne Steigerung der Nachfragemenge N j mit sich, so dass sich das Leistungsprogramm in Richtung derart geförderter Produkte verschieben kann. Die konkreten Produktquantitäten im Leistungsprogramm hängen überdies von der Wirksamkeit und konkreten Ausgestaltung möglicher Schadstoffrestriktionen (Grenzwerte) ab. In umweltgesetzlichen Regelungen finden sich neben absoluten Beschränkungen (E k ) zuweilen auch relative Grenzwerte. Dabei werden z. B. in Ab­ schnitt 2.5 der Technischen Anleitung (TA) Luft folgende Emissionsgrenzwerttypen unterschieden, für die in Bundesimmissionsschutzverordnungen (BImSchV) diverse Beispiele zu finden sind: – Massenstromgrenzwert: Beschränkt wird die Emission eines Schadstoffs in einem bestimmten Zeitraum, was prinzipiell einer absoluten Vorgabe des Werts E k ent­ spricht. Allerdings bezieht sich die Emissionsquantität meist nicht auf die Pla­ nungsperiode, sondern einen deutlich kürzeren Zeitraum. Eine entsprechende Hochrechnung des im Modell anzusetzenden Grenzwerts ist in der Regel nicht erlaubt, so dass es nicht reicht, wenn der Grenzwert im Durchschnitt über die ge­ samte Planungsperiode eingehalten wird. Stattdessen müssen alle Produktarten aus dem Leistungsprogramm ausgeschlossen werden, bei deren Produktion in­ nerhalb des gesetzlich beschränkten Zeitraums mehr Schadstoffe als erlaubt an­ fallen. – Massenverhältnisgrenzwert: Beschränkt wird die Emission eines Schadstoffs pro Produkteinheit. Dies entspricht einer direkten Beschränkung der Kopplungskoef­ fizienten b kj . Alle Produkte j, deren Koeffizient größer als der Grenzwert ist, fallen aus dem Leistungsprogramm heraus. – Massenkonzentrationsgrenzwert: Beschränkt wird die Emission eines Schadstoffs bezogen auf die Quantität eines Trägerstoffs, z. B. eines bestimmten Stoffs in ei­ nem Abgasgemisch. Eine eindeutige Verortung im Optimierungsmodell der Leis­

Umweltorientierte Gestaltung des Leistungsprogramms

| 201

tungsprogrammplanung ist hier schwierig, da Inhaltsstoffe des Kuppelprodukts Abgas beschränkt sind. Für den Fall, dass feste Verhältnisse zwischen Abgas und Produkt (b Aj ) einerseits sowie zwischen Schadstoff und Produkt (b kj ) andererseits gegeben sind, lässt sich der Massenkonzentrationsgrenzwert (b kA ) jedoch in ei­ nen Massenverhältnisgrenzwert umrechnen (b kj = b kA ⋅ b Aj ); er führt dann zu analogen Einschränkungen des Leistungsprogramms. Die genannten Grenzwerte beziehen sich in der Regel auf die Schadstoffabgabe an die Natur. Für das Unternehmen besteht deshalb die Möglichkeit, durch Eigen- und/oder Fremdentsorgungsmaßnahmen eine Absenkung des Schadstoffausstoßes zu errei­ chen. Diese Maßnahmen wirken sich dann, zumindest indirekt, auf die Gestaltung des Leistungsprogramms aus, was im Abschnitt 4.2.2 noch näher thematisiert wird. Die Kapazität solcher Entsorgungsprozesse führt ihrerseits in der betrieblichen Praxis zu einer Beschränkung der maximal erlaubten Schadstoffquantitäten und kann somit ebenfalls den (absoluten) Wert E k determinieren⁷. Unabhängig von der praktischen Begründung der Schadstoffrestriktion hat sie immer nur dann eine Auswirkung auf das Leistungsprogramm, wenn sie voll ausge­ schöpft wird und demgemäß bindend ist. Dann schränkt sie die absetzbaren Produkt­ quantitäten ein (zu einem entsprechenden Zahlenbeispiel vgl. Dyckhoff/Souren 1994, S. 83 f.) oder führt zu Änderungen in der Zusammensetzung des Leistungsprogramms. Diese Wirkungen sollen in nachfolgendem Abschnitt 4.2 näher erläutert werden, in­ dem das Ausgangsbeispiel aus Abschnitt 4.1.1 aufgenommen und erweitert wird.

4.2 Exemplarische Veranschaulichung der Wirkung umweltrelevanter Maßnahmen 4.2.1 Veränderungen der Erfolgsgrößen Für das Ausgangsbeispiel aus Abschnitt 4.1.1 wird zunächst angenommen, dass die Produktart P1 besonders umweltschädlich ist und deshalb vom Staat mit einer ÖkoSteuer belegt wird. Die anderen Produktarten sind von dieser staatlichen Umwelt­ schutzmaßnahme dagegen nicht betroffen. Ob und wenn ja, wie stark die Öko-Steuer zu einer Veränderung des Leistungsprogramms führt, hängt von ihrer Höhe und damit von der durch sie verursachten Steigerung der direkten produktspezifischen Stückkos­ ten c1 ab. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Auswirkungen einer entsprechenden Kostenerhöhung ∆c1 . 7 Denkbar ist auch der Fall, dass mehrere Schadstoffe den gleichen Entsorgungsprozess durchlau­ fen, so dass sich dessen Kapazitätsauslastung auf verschiedene Schadstoffe k aufspaltet. Demgemäß muss dann eine gemeinsame (Entsorgungs-)Restriktion für mehrere Schadstoffe im Optimierungsmo­ dell aufgestellt werden. Von diesem Fall sei nachfolgend jedoch abstrahiert.

202 | Rainer Souren

Tab. 2: Auswirkungen einer Öko-Steuer für Produktart 1 auf das Leistungsprogramm. Höhe der Öko-Steuer ∆c 1

Engpassspezifischer Stückdeckungs­ beitrag δ1

Optimales Leistungsprogramm ( y1 ; y2 ; y3 ; y4 )

Deckungsbeitrag (bei exem­ plarischer Öko-Steuer ∆c 1 )

0 < ∆c 1 ≤ 16,67 16,67 < ∆c 1 ≤ 50 50 < ∆c 1 ≤ 100 ∆c 1 > 100

2 > δ 1 ≥ 1,67 1,67 > δ 1 ≥ 1 1 > δ1 ≥ 0 δ1 < 0

(100; 100; 33,33; 0) (60; 100; 100; 0) (10; 100; 100; 100) (0; 100; 100; 100)

∆c 1 ∆c 1 ∆c 1 ∆c 1

= 10 ⇒ DB = 17.667 = 30 ⇒ DB = 16.200 = 70 ⇒ DB = 14.800 = 100 ⇒ DB = 14.500

Die Zusammensetzung des Leistungsprogramms ändert sich in diesem Beispiel im­ mer dann, wenn durch eine Erhöhung der Öko-Steuer der engpassspezifische Stück­ deckungsbeitrag von Produktart 1 unter den einer anderen Produktart fällt und diese dann in größerer Quantität in das Programm aufgenommen wird – allerdings noch nicht bei δ1 < δ2 , da beide Produktarten P1 und P2 bis zu ihrer Absatzgrenze er­ zeugt werden. Ab einer Öko-Steuer von 16,67 Geldeinheiten wird P3 (δ3 = 1,67) at­ traktiver als P1 und dann bis zur Absatzgrenze von 100 Stück hergestellt, wohingegen die Quantität von P1 auf 60 zurückgeht. Ein weiterer Produkttausch erfolgt, wenn die Öko-Steuer auf mehr als 50 Geldeinheiten steigt und der engpassspezifische Stück­ deckungsbeitrag von Produktart 1 unter den von Produktart 4 (δ4 = 1) fällt. Pro­ duktart 1 bleibt dann nur deswegen noch im Leistungsprogramm, weil auch bei voll­ ständiger Produktion der anderen drei Produktarten noch 500 Einheiten des Faktors (= 10.000 − 100 ⋅ (40 + 30 + 25)) übrig bleiben und somit 10 Einheiten der Pro­ duktart 1 hergestellt werden. Darauf verzichtet das Unternehmen schließlich, wenn der Deckungsbeitrag von Produktart 1 negativ wird, also ab einer Öko-Steuer von 100 Geldeinheiten. Wie die letzte Spalte der Tabelle 2 exemplarisch verdeutlicht, sinkt der insgesamt erzielbare Deckungsbeitrag stetig ab, wobei die Absenkung auf zwei Aspek­ te zurückzuführen ist: Erstens erhöht sich die gesamte Steuerlast mit jeder Steigerung der Öko-Steuer, d. h. jede Einheit von Produktart P1 erzielt einen geringeren Stück­ deckungsbeitrag d1 . Zweitens führt die Absenkung der Produktquantitäten von P1 zu einem Absinken des Deckungsbeitrags. Letzter Aspekt wird bis zu einer Öko-Steuer von 50 Geldeinheiten zumindest teilweise durch das Hinzufügen weiterer Einheiten der Produktarten 3 beziehungsweise 4 und die durch sie erzielbaren Deckungsbeiträ­ ge abgemildert. Eine weitere monetäre staatliche Umweltschutzmaßnahme besteht in der Ver­ teuerung der Einsatzfaktoren. Im Beispiel ist etwa eine Öko-Steuer ∆c F1 auf den Fak­ tor (i = F1) bei der Bestimmung der engpassspezifischen Stückdeckungsbeiträge δ j der vier Produktarten wie folgt zu berücksichtigen: δj =

(e j − c j ) − (c F1 + ∆c F1 ) ⋅ a F1,j (e j − c j ) = − c F1 − ∆c F1 a F1,j a F1,j

(5)

Umweltorientierte Gestaltung des Leistungsprogramms |

203

Da die Öko-Steuer proportional zur eingesetzten Quantität des Engpassfaktors ist und dessen Produktionskoeffizient den Divisor des engpassspezifischen Stückdeckungs­ beitrags der Produkte bildet, hat sie eine gleichartige Wirkung auf alle Produktarten, was auch durch Einsetzen der konkreten Werte in die Gleichungen der vier Produkt­ arten deutlich wird: δ1 = 2 − ∆c F1 ;

δ2 = 1,75 − ∆c F1 ;

δ3 = 1,67 − ∆c F1 ;

δ4 = 1 − ∆c F1

(6)

Die Öko-Steuer auf den Engpassfaktor bewirkt also hier keine Verschiebungen im Leis­ tungsprogramm, sondern führt lediglich zur Eliminierung bestimmter Produktarten, wenn sie eine gewisse Höhe erreicht. Konkret bedeutet dies, dass die 33,33 Quanti­ tätseinheiten von Produktart P3 dann aus dem ursprünglichen Leistungsprogramm entfallen, wenn die Öko-Steuer über 1,67 Geldeinheiten pro Faktoreinheit beträgt. Auf die Herstellung der 100 Quantitätseinheiten der Produktarten P2 beziehungsweise P1 wird zusätzlich verzichtet, wenn die Öko-Steuer mehr als 1,75 beziehungsweise 2 Geld­ einheiten beträgt. Dass es bei der Erhebung der Öko-Steuer auf einen Einsatzfaktor lediglich zu Ein­ schränkungen der Produktionsquantitäten, aber nicht zu einem sich ändernden Pro­ duktmix kommt, folgt aus der oben dargelegten Tatsache, dass der (einzige) Engpass­ faktor hier gleichzeitig eine Wertänderung erfährt. Wird die Öko-Steuer hingegen auf einen nicht-bindenden Einsatzfaktor bezogen oder sind mehrere Einsatzfaktoren be­ schränkt, so kann sich auch die Zusammensetzung des Leistungsprogramms durch die Erhebung von Öko-Steuern ändern. Gleiches gilt, wie nachfolgend gezeigt wird, wenn ein Schadstoff mit einer Öko-Steuer oder Entsorgungskosten bewertet wird, des­ sen Kopplungskoeffizienten b kj bei der Herstellung der einzelnen Produkte j eine an­ dere Reihenfolge nahelegen als die Produktionskoeffizienten a ij der Einsatzfaktoren⁸. Nachfolgend wird das Ausgangsbeispiel dahingehend erweitert, dass jetzt auch ein Schadstoff (k = S1) berücksichtigt wird, der bei der Produktion der vier Produktar­ ten mit anfällt. Die Kopplungskoeffizienten seien hier b S1,1 = 5, b S1,2 = 20, b S1,3 = 4, b S1,4 = 1,5. Die engpassspezifischen Stückdeckungsbeiträge errechnen sich dann all­ gemein mittels folgender Formel: δj =

(e j − c j ) − (c F1 ⋅ a F1,j ) − (c S1 ⋅ b S1,j ) (e j − c j ) c S1 ⋅ b S1,j = − c F1 − a F1,j a F1,j a F1,j

(7)

Für die vier Produktarten ergeben sich nach Einsetzen der konkreten Werte folgende lineare Funktionen der engpassspezifischen Stückdeckungsbeiträge in Abhängigkeit

8 Stehen der einzige beschränkte Einsatzfaktor und ein Schadstoff hingegen in einer naturwissen­ schaftlich begründeten proportionalen Beziehung, wie es etwa bei Verbrennungsmotoren zwischen dem Benzinverbrauch und der CO2 -Emission der Fall ist, so führen Wertänderungen der Emissionen ebenfalls zu keinen Verschiebungen im Produktmix, sondern lediglich ab bestimmten Werten zur Pro­ dukteliminierung.

204 | Rainer Souren

δj 2,0

1,5

1,0

δ3

0,5 δ2

0,227

1

δ4

5 1,705 3,5

10 9,091

12,5

15

δ1 16,667

20

cS1

Abb. 2: Funktionaler Zusammenhang zwischen Schadstoffkosten und engpassspezifischen Stückde­ ckungsbeiträgen.

von den Schadstoffkosten c S1 : δ1 = 2 − 0,1c S1 ; δ2 = 1,75 − 0,5c S1 ; δ3 = 1,67 − 0,133c S1 ; δ4 = 1 − 0,067c S1 (8) Abhängig von der Höhe der Schadstoffkosten werden die Produktarten nun unter­ schiedlich stark präferiert. In Abbildung 2 sind die entsprechenden Funktionen und deren Schnittpunkte untereinander sowie mit der Abszisse eingezeichnet. In Tabelle 3 sind die Auswirkungen unterschiedlich hoher Schadstoffkosten auf das Leistungspro­ gramm entsprechend dargestellt. Die Änderungen im optimalen Leistungsprogramm (siehe die fett markierten Wer­ te in Spalte 3 von Tabelle 3) ergeben sich daraus, dass ab bestimmten Schadstoffkos­ Tab. 3: Auswirkungen der Schadstoffkosten auf das Leistungsprogramm. Höhe der Schadstoffkosten c S1

Produktreihenfolge gemäß engpassspez. Stückdeckungsbei­ träge δ i (falls ≥ 0)

Optimales Leistungsprogramm ( y1 ; y2 ; y3 ; y4 )

Deckungsbeitrag (bei exemplarischen Schadstoffkosten c S1 )

0 < c S1 ≤ 0,227

δ1 > δ2 > δ3 > δ4

(100; 100; 33,33; 0)

c S1 = 0,2 ⇒ DB = 18.140

0,227 < c S1 ≤ 1,705

δ1 > δ3 > δ2 > δ4

(100; 50; 100; 0)

c S1 = 1 ⇒ DB = 16.600

1,705 < c S1 ≤ 3,5

δ1 > δ3 > δ4 > δ2

(100; 0; 100; 80)

c S1 = 3 ⇒ DB = 13.940

3,5 < c S1 ≤ 9,091

δ1 > δ3 > δ4

(100; 0; 100; 80)

c S1 = 5 ⇒ DB = 11.900

9,091 < c S1 ≤ 12,5

δ1 > δ4 > δ3

(100; 0; 83,33; 100)

c S1 = 10 ⇒ DB = 6.833

12,5 < c S1 ≤ 16,667

δ1 > δ4

(100; 0; 0; 100)

c S1 = 15 ⇒ DB = 2.750

16,667 < c S1 ≤ 20

δ1

(100; 0; 0; 0)

c S1 = 18 ⇒ DB = 1.000

Umweltorientierte Gestaltung des Leistungsprogramms

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tenhöhen die Vorteilhaftigkeit der verschiedenen Produktarten wechselt und dadurch zunächst Produktart 2 weniger produziert wird. Zusätzlich führen die Schadstoffkos­ ten auch dazu, dass gänzlich auf die Herstellung bestimmter Produktarten verzichtet wird, nämlich bei c S1 = 12,5 auf Produktart P3 und bei c S1 = 16,667 auf Produktart 4. Der engpassspezifische Stückdeckungsbeitrag von Produktart P2 wird sogar schon bei c S1 = 3,5 negativ. Dies führt allerdings nicht zu einer Änderung des Leistungspro­ gramms, da Produktart P2 schon vorher (bei Schadstoffkosten c S1 = 1,705) gegenüber Produktart P4 unrentabel und deshalb nicht mehr produziert wird. Das Beispiel macht demgemäß deutlich, dass Schadstoffkosten sowohl zu Änderungen im Produktmix als auch zur Eliminierung solcher Produktarten führen können, deren Produktion mit ei­ nem hohen Schadstoffausstoß verbunden ist.

4.2.2 Beschränkungen der Objektartquantitäten Umweltorientierte Maßnahmen können nicht nur die Bewertung bestimmter Objekt­ arten verändern, sondern auch direkt zu Einschränkungen ihrer Quantitäten führen, z. B. wenn vom Staat Grenzwerte vorgegeben oder sogar Verbote ausgesprochen wer­ den. Dies kann direkt Produktarten betreffen, die bei einem Verbot (N j = 0) aus dem Leistungsprogramm eliminiert oder deren Produktion durch einen eingeschränkten Absatz (Senkung von N j ) verringert wird. Daneben können auch die Einsatzfakto­ ren oder Schadstoffe einer Beschränkung unterliegen. Letzteres wird nachfolgend für das in Abschnitt 4.2.1 erweiterte Ausgangsbeispiel näher analysiert. An die Stelle der Schadstoffkosten für den Schadstoff S1 (nachfolgend gilt somit: c S1 = 0) treten (absolute) Grenzwerte seiner Abgabe an die Natur (E S1 ). Sie wirken prinzipiell analog zu den Faktorrestriktionen (R F1 ), die bereits in Abschnitt 4.1.1 thematisiert wurden. Die Reihenfolge der Aufnahme der vier Produktarten in das Leistungsprogramm än­ dert sich – wenn ausschließlich die Schadstoffbeschränkung betrachtet wird und demgemäß schadstoffspezifische Stückdeckungsbeiträge σ j ermittelt werden – wie folgt: d1 100 d2 70 σ1 = = = = 20 ; σ2 = = 3,5 ; b S1,1 5 b S1,2 20 d3 50 d4 25 (9) σ3 = = = = 12,5 ; σ4 = = 16,67 b S1,3 4 b S1,4 1,5 σ1 > σ4 > σ3 > σ2 Bei ausschließlicher Beachtung der Schadstoffrestriktion sollten somit die Produkt­ arten in der Reihenfolge P1 vor P4 vor P3 und erst zum Schluss P2 in das Leistungs­ programm aufgenommen werden. Ist die Schadstoffabgabe z. B. auf 1.000 Einheiten beschränkt, so lautet das optimale Leistungsprogramm LPopt (y1 = 100; y2 = 0; y3 = 87,5; y4 = 100) mit DB = 16.875.

206 | Rainer Souren

Besteht hingegen die Faktorrestriktion aus dem Ausgangsbeispiel weiterhin, so beschränken nun beide Restriktionen das Leistungsprogramm, und das optimale Ergebnis kann nur noch mittels Lösung des linearen Optimierungsproblems (z. B. mit Hilfe der Simplex-Methode und Rechnerunterstützung) ermittelt werden. Dies soll hier nicht ausführlich dargestellt werden. Stattdessen soll die Frage beantwortet werden, ob die Schadstoffrestriktion das Ergebnis der Programmplanung überhaupt tangiert und wenn ja, in welchem Ausmaß. Diesbezüglich lassen sich drei Bereiche unterscheiden: – E S1 ≤ 500: Ist der Schadstoffausstoß derart stark eingeschränkt, so kann aus­ schließlich die Produktart P1 hergestellt werden (b S1,1 = 5; N1 = 100). Sie weist sowohl bezüglich des Schadstoffs als auch des Einsatzfaktors den höchsten eng­ passspezifischen Stückdeckungsbeitrag auf, so dass sie in jedem Fall zunächst ins Leistungsprogramm aufgenommen wird. – E S1 > 3.050: Ab diesem Wert ist der Schadstoffgrenzwert nicht mehr bindend, da sämtliche maximalen Absatzquantitäten der vier Produktarten (y j = 100 für alle j) produziert werden können. Das Leistungsprogramm wird dann lediglich durch die Faktorrestriktion eingeschränkt und entspricht dem des Ausgangsfalls: LPopt (y1 = 100; y2 = 100; y3 = 33,33; y4 = 0) mit DB = 18.667. – 500 < E S1 ≤ 3.050: Liegt die Schadstoffrestriktion zwischen diesen Werten, so müssen die Auswirkungen beider Restriktionen gegeneinander abgewogen wer­ den. Da die jeweiligen engpassspezifischen Stückdeckungsbeiträge der Produkt­ arten P2, P3 und P4 eine unterschiedliche Reihenfolge bedingen (δ2 > δ3 > δ4 ; σ4 > σ3 > σ2 ), kann erst nach Lösung des linearen Optimierungsproblems das genaue Leistungsprogramm angegeben werden. Exemplarisch ergibt die Lösung mittels Simplex-Methode (Excel Solver) für E S1 = 1.000: LPopt (y1 = 100; y2 = 0; y3 = 90,91; y4 = 90,91) mit DB = 16.818; für E S1 = 2.000: LPopt (y1 = 100; y2 = 56,82; y3 = 90,91; y4 = 0) mit DB = 18.523. Falls der Grenzwert die Abgabe des Schadstoffs an die Natur beschränkt, besitzen Unternehmen die Möglichkeit, ihr Leistungsprogramm auszudehnen, wenn die im Produktionsprozess entstandenen Schadstoffe eingedämmt werden können. Dies ist einerseits durch die Umstellung auf andere Produktionsverfahren möglich, die die Produkte mit weniger Schadstoffen, aber unter Umständen mehr Faktoreinsatz erzeu­ gen. Das Unternehmen muss dann bei der Leistungsprogrammplanung integrativ ein Verfahrenswahlproblem lösen (zur Berücksichtigung von Schadstoffen in der Verfah­ renswahl bei der Herstellung einer einzigen Produktart vgl. Dyckhoff/Souren 1994, S. 88 ff.). Alternativ oder ergänzend besteht die Möglichkeit, die an die Natur abge­ gebene Schadstoffquantität einem internen oder externen Entsorgungsverfahren zu­ zuführen und damit die Quantitäten im Leistungsprogramm auszudehnen (vgl. Dyck­ hoff/Souren 1994, S. 85 ff.). Ob dies wirtschaftlich sinnvoll ist, hängt in erster Linie von den Entsorgungskosten ab. Für den oben aufgelisteten Fall eines Schadstoffgrenz­ werts E S1 in Höhe von 1.000 Einheiten würde eine Entsorgung von 200 Einheiten (d. h.

Umweltorientierte Gestaltung des Leistungsprogramms

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für das interne Produktionsmodell: E S1 = 1.200) zu einem optimalen Leistungspro­ gramm LPopt (y1 = 100; y2 = 10,23; y3 = 100; y4 = 63,64) und einem Deckungsbei­ trag DB = 17.307 führen. Die Entsorgung dürfte somit nicht mehr als 489 Geldeinhei­ ten (17.307 − 16.818), also ca. 2,45 Geldeinheiten pro Schadstoffeinheit kosten. Kom­ plexere Überlegungen sind erforderlich, wenn die (Eigen-)Entsorgung Quantitäten der beschränkten Faktorart verbraucht. Sei exemplarisch unterstellt, dass bei der Entsor­ gung einer Schadstoffeinheit 0,5 Faktoreinheiten benötigt werden, so ergibt sich als optimales Leistungsprogramm LPopt (y1 = 100; y2 = 41; y3 = 100; y4 = 0) mit einem Deckungsbeitrag DB = 17.510. Dabei werden 720 Einheiten des Schadstoffs entsorgt, was einen zusätzlichen Faktoreinsatz von 360 Einheiten und Entsorgungskosten in gleicher Höhe (wegen c F1 = 1) bedingt. Der Deckungsbeitrag lässt sich in diesem Fall um 692 Geldeinheiten (= 17.510 − 16.818) steigern.

5 Resümee In der heutigen Zeit, in der Nachhaltigkeit nicht nur eine politische Zielsetzung ist, sondern auch von zahlreichen Konsumenten gefordert wird, können Unternehmen nur dann erfolgreich im Wettbewerb bestehen, wenn sie den Umweltschutz (und so­ ziale Belange) in ihre Planungen integrieren. Dies gilt im besonderen Maß für die Gestaltung des Leistungsprogramms als Kernaufgabe des betrieblichen Wertschöp­ fungsmanagements. Der Beitrag zeigt auf, inwiefern sich Umweltschutzbelange auf den verschiedenen Ebenen der Programmplanung berücksichtigen lassen. Auf der strategisch-taktischen Ebene muss sich ein Unternehmen grundsätzlich fragen, wo­ rin sein Leistungsangebot an die Konsumenten bestehen soll. Die Entwicklung hin zur Dematerialisierung der Leistungen, die mit neueren Konsumtrends und Leistungsar­ ten wie etwa Sharing-Angeboten einhergeht, könnte sich positiv auf die Umwelt aus­ wirken. Allerdings bedarf es hier nicht nur umfangreicher wissenschaftlicher Studien zur Umweltwirkung solcher Konzepte, sondern auch eines deutlichen Umdenkens in der Unternehmensphilosophie. Innovative Unternehmen kommen dabei nicht umhin, Risiken einzugehen, wenn sie sich frühzeitig – d. h. eher als ihre Konkurrenten – von herkömmlichen Leistungsarten abwenden, um neue, umweltfreundliche Produktfel­ der und Leistungsarten in ihr Leistungsspektrum aufzunehmen. Dieses Risiko ist um­ so größer, wenn andere Trends, wie etwa eine stetig erhöhte Innovationsdynamik, eher gegen eine umweltfreundliche Produktnutzung (Langlebigkeit, zeitloses Design) sprechen. Der Beitrag hat zudem verdeutlicht, dass umweltrelevante Aspekte die Leistungs­ gestaltung komplexer machen. Einerseits sind Unternehmen vieler Branchen für die Kreislaufführung ihrer materiellen Produkte beziehungsweise Produktbestandteile verantwortlich. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Produktentwicklung sowie die langfristige Gestaltung des Leistungsprogramms, was auch eine generationen­

208 | Rainer Souren

übergreifende Produktfamilienplanung sinnvoll erscheinen lässt. Andererseits bedarf es einer umfänglichen Berücksichtigung von in der Produktion entstehenden schäd­ lichen Kuppelprodukten. Diese führen bei ihrer Entsorgung zu neuartigen Synergien zwischen verschiedenen Leistungsarten – und damit zu einer geänderten strategischtaktischen Leistungsprogrammgestaltung. Überdies ergeben sich durch staatliche Umweltschutzmaßnahmen neuartige Restriktionen und Objektbewertungen in der kurzfristigen Programmplanung, die zu geänderten Leistungsprogrammen führen können. Wie die Analysen in Abschnitt 4.2 exemplarisch verdeutlicht haben, sind hier sowohl Änderungen des Leistungsmix als auch eine vollkommene Eliminierung bestimmter Leistungsarten mögliche Ergebnisse. Durch Eigen- oder Fremdentsor­ gungsmaßnahmen, die in die Leistungsprogrammplanung integriert werden können, besitzen Unternehmen allerdings die Chance, ihr Leistungsprogramm auszudehnen. Der Beitrag konnte lediglich einige Schlaglichter auf die umfangreiche Thematik werfen und hat aufgezeigt, dass nur ein abgestimmtes Vorgehen zwischen verschie­ denen Unternehmensbereichen (Produktentwicklung, Produktion, Absatz) zu einer erfolgreichen Lösung des Gestaltungsproblems führen kann. Gleichsam bedarf auch die wissenschaftliche Forschung einer interdisziplinären Ausrichtung, wie sie in die­ sem Beitrag, der produktionswirtschaftliche Fragen in den Vordergrund rückt, nur ansatzweise möglich war. So wäre etwa zu klären, wie sich formale Modelle der ope­ rativen Produktions- und Absatzplanung umweltorientiert erweitert lassen (zu einem ersten integrativen Modellansatz, der auch absatzfördernde Maßnahmen berücksich­ tigt, vgl. Jacob 1996, Sp. 1481). Überdies bedarf die strategisch-taktische Leistungs­ programmplanung nicht nur einer umfassenden Integration ökologischer Produktbe­ wertungsverfahren, wie etwa des Life Cycle Assessments, sondern auch belastbarer Szenarioanalysen über die Entwicklung nachhaltiger Konsumtrends beziehungsweise gesetzlicher Vorgaben, z. B. bezüglich der Fahrzeugantriebstechnik (Stichworte: Die­ selfahrverbote in deutschen Innenstädten, vollkommener Verzicht auf Verbrennungs­ motoren in Großbritannien bis zum Jahr 2040). Die umweltorientierte Gestaltung des Leistungsprogramms wird insofern sowohl in der Wissenschaft als auch in der betrieb­ lichen Praxis in Zukunft an Relevanz gewinnen.

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Umweltorientierte Gestaltung des Leistungsprogramms |

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210 | Rainer Souren

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Hans Corsten und Benedikt Kasper

Sortimentsplanung in filialisierten Handelsunternehmungen 1 1.1 1.2 2 2.1 2.2 3 4

Grundlegungen | 211 Problemstellung | 211 Ausgangssituation | 213 Modellierung | 216 Grundmodell der Regionalisierung | 216 Substitution | 219 Lösungsmöglichkeiten und experimentelle Untersuchungen | 224 Ausblick | 227 Literatur | 228

Zusammenfassung. Bei der Sortimentsplanung in Handelsunternehmungen geht es um die Auswahl der Produkte, die angeboten werden sollen, so dass der Gewinn maxi­ miert wird. Liegt eine Filialstruktur vor, kann das Sortiment entweder für alle Filialen gleich sein oder für jede Filiale individuell bestimmt werden. Im ersten Fall lassen sich Skaleneffekte generieren, während im zweiten Fall durch die Berücksichtigung regionaler Nachfrageunterschiede höhere Gewinne realisierbar sind. Der vorliegen­ de Beitrag beschreibt einen kombinierten Ansatz zur Nutzung der positiven Effekte, d. h., ein zu fixierendes Grundsortiment (Kernsortiment) wird um regionale Produkte erweitert.

1 Grundlegungen 1.1 Problemstellung In einer funktionalen Interpretation können unter Handel die Organisationen subsu­ miert werden, die Produkte (Güter) von anderen Marktteilnehmern beschaffen, um diese, ohne substantielle Veränderungen, an Dritte zu veräußern. Dem Handel obliegt damit die Aufgabe, auftretende Spannungen zwischen den Vorgängen der Produkti­ on und der Konsumtion auszugleichen. Handelsunternehmungen können an jeder Stelle des Distributionssystems als Verbindung zwischen Wirtschaftssubjekten auf­ treten, d. h., sie können als Bindeglied zwischen verschiedenen Verarbeitungsstufen der Produktion (z. B. Werkstoffhandel) und zwischen Produzenten und Handelsun­ ternehmungen (z. B. Großhandel) oder Endverbrauchern (z. B. Einzelhandel) agieren (vgl. Barth/Hartmann/Schröder 2015, S. 1 f.). https://doi.org/10.1515/9783110473803-012

212 | Hans Corsten und Benedikt Kasper

In Anlehnung an Buddeberg (1959) übernehmen Handelsunternehmungen vier Funktionen, wobei eine Unternehmung nicht alle Funktionen erfüllen muss (vgl. Mül­ ler-Hagedorn/Toporowski/Zielke 2012, S. 99 ff.): – Kontaktfunktion: Herstellung und Erhaltung der Kontakte zwischen vor- und nachgelagerten Wirtschaftssubjekten (Markterschließung). – Informations- und Beratungsfunktion: Bereitstellung des Wissens über Produkte (z. B. durch Werbung, Verkaufsgespräche etc.), sowie Beratung der Lieferanten und Nachfrager (z. B. Schulung des Personals, Werbehilfen und ähnliche Dienst­ leistungen eines Großhändlers für Einzelhändler). – Sortimentsgestaltungsfunktion: Sortimentszusammenstellung, die entweder be­ schaffungsorientiert (z. B. Holzgroßhandel) oder bedarfsorientiert (z. B. Bau­ markt) erfolgen kann. Dabei kann unterschieden werden zwischen der Verteilung der Produkte eines Anbieters auf viele Nachfrager (z. B. Einzelhandel) und der Sammlung der Produkte bei vielen Anbietern für einen Nachfrager (z. B. Altme­ tall) oder eine Kombination dieser reinen Formen. – Ausgleichs- oder Koordinationsfunktion: Diese ist in zeitlicher, räumlicher, men­ genmäßiger und sachlicher Hinsicht zu konkretisieren: Zeitlich: Überwindung auftretender Verwerfungen bedingt durch unterschiedli­ che Erzeugungs- und Verwendungszeitpunkte (z. B. Lagerung bei saisonalen Nachfrageverläufen, aber kontinuierlicher Produktion). Räumlich: Überbrückung der zwischen Anbieter und Nachfrager liegenden Ent­ fernung (Transport). Mengenmäßig: durch asynchrone Mengenbeziehungen, d. h., zu einem bestimm­ ten Zeitpunkt sind die kumulierten Zugänge größer als die kumulierten Ab­ gänge. Sachlich: Veränderung der angebotenen Produkte (z. B. Reifungsprozesse). Schwerpunkt der weiteren Überlegungen soll die Sortimentsgestaltungsfunktion der Handelsunternehmungen sein. Unter einem Sortiment wird die nachfragegerechte Zusammenstellung der angebotenen Produkte einer Unternehmung verstanden. Es ist hinsichtlich Breite und Tiefe zu spezifizieren. Während die Sortimentsbreite be­ schreibt, welche additiven Kaufmöglichkeiten zur Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse angeboten werden (Produktgruppen), erfasst die Sortimentstiefe die alternativen Kaufmöglichkeiten zur Befriedigung eines Bedürfnisses (Anzahl der Pro­ dukte in einer Produktgruppe, vgl. Müller-Hagedorn/Toporowski/Zielke 2012, S. 545; Zielke 2012, S. 512). Analog zum materialwirtschaftlichen Optimum (vgl. Grochla 1978, S. 18) ist es dann die Aufgabe der Sortimentsplanung (Assortment Planning) – die richtigen Produkte, – zum richtigen Zeitpunkt, – in ausreichender Menge, – der geforderten Qualität zu – einem marktgerechten Preis

Sortimentsplanung in filialisierten Handelsunternehmungen | 213

zur Verfügung zu stellen. Letztlich geht es um die Abstimmung der Produktangebote auf die jeweilige Zielgruppe. Diese Sortimentsplanung kann für eine einzelne Unternehmung oder eine Unter­ nehmung, die eine Vielzahl an Filialen betreibt, durchgeführt werden. Den weiteren Überlegungen liegt eine Unternehmung zugrunde, die in unterschiedlichen Regionen ihre Filialen mit einem nachfragegerechten Sortiment ausstatten möchte. Unter dieser Voraussetzung ist zwischen dem Sortiment – der gesamten Unternehmung und – der einzelnen Filialen zu unterscheiden. Dabei sind die beiden folgenden Extrempositionen denkbar (vgl. Grewal et al. 1999, S. 407 f.; Mantrala et al. 2009, S. 71; Möhlenbruch 2012, S. 135 f.): – Für jede Filiale wird ein spezifisches Sortiment konfiguriert oder – das Sortiment ist in jeder Filiale gleich. In diesem Kontext ergeben sich die folgenden Fragestellungen (vgl. Hübner/Kuhn/ Kühn 2016, S. 505 f.): 1. Welche Produkte sollen in den einzelnen Filialen angeboten werden? 2. In welchen Mengen sollen diese Produkte vorgehalten werden? 3. Wieviel Ausstellungsfläche soll für die Produktarten reserviert werden? Es ist selbstevident, dass diese Fragen im Rahmen der Sortimentsgestaltung einen un­ mittelbaren Einfluss auf die Absatzmengen haben und deshalb für die Unternehmung relevant sind.

1.2 Ausgangssituation In der betriebswirtschaftlichen Literatur (vgl. z. B. Möhlenbruch 2012, S. 130; MüllerHagedorn/Toporowski/Zielke 2012, S. 85)¹ wird dabei in der Regel unterstellt, dass ei­ ne zentrale Planungsstelle der Unternehmung ein Sortiment bestimmt, das in allen Fi­ lialen angeboten wird. Die Unternehmung stellt somit auf der Grundlage historischer Absatzmengen sowie daraus abgeleiteter Absatzprognosen ein Sortiment für alle Fi­ lialen so zusammen, dass der Gewinn maximiert wird. Dabei werden üblicherweise aggregierte Absatzzahlen der gesamten Unternehmung als Basis für die Sortiments­ zusammenstellung herangezogen. Durch die Verwendung dieser aggregierten Daten bleiben lokale Nachfrageunterschiede unberücksichtigt². Für diese vereinfachte Fra­

1 Hertel/Zentes/Schramm-Klein (2005, S. 279 f.) skizzieren eine dezentrale Netzwerkstruktur, wobei jede Filiale ihr Sortiment selbst definieren kann. 2 Letztlich liegt dieser Vorgehensweise die Annahme eines fiktiven „durchschnittlichen“ Nachfragers zugrunde.

214 | Hans Corsten und Benedikt Kasper

gestellung wird in der Literatur das folgende Modell formuliert (in Anlehnung an Kök/ Fisher 2007, S. 1002; Müller-Hagedorn/Toporowski/Zielke 2012, S. 550 f.): Zielfunktion: max ∑ ĝ n ⋅ x n (1) n

Nebenbedingung: ∑ xn ≤ K

∀n ∈ N

(2)

∀n ∈ N

(3)

n

x n ∈ {0, 1} Mit: ĝ n Geschätzter Gewinn des Produktes n K Kapazität der Filiale {1, xn { 0, {

wenn Produkt n zum Sortiment gehört sonst

Die Gewinne der Produkte n werden in diesem Modell über alle Filialen summiert, d. h., es wird nur ein Sortiment für alle Filialen der Unternehmung bestimmt. Die Ne­ benbedingung besagt, dass maximal so viele Produkte zum Sortiment gehören dürfen, wie in den Filialen ausgestellt werden können, d. h., die Kapazitäten der Filialen sind einzuhalten. Dieses Ausgangsmodell berücksichtigt nicht die unterschiedlichen Nachfragesi­ tuationen in den Filialen. Weichen die Nachfragen in den Filialen von einer unterstell­ ten fiktiven „Durchschnittsnachfrage“ ab, dann ist das ermittelte Sortiment für diese Filiale nicht optimal. Ziel der weiteren Ausführungen soll es sein, die Sortimentsplanung an regionale Unterschiede anzupassen. Damit stellt sich die folgende Forschungsfrage: Wie sollen regionalisierte Sortimente, unter Berücksichtigung der damit einhergehenden Kosten, gestaltet werden? Wird in der Sortimentszusammenstellung das Ziel verfolgt, für die Filialen ein re­ gionalisiertes Sortiment zu bestimmen, dann ist dies mit den bestehenden Verfahren für das Assortment-Planning-Problem möglich. In diesem Fall werden die Absatzzah­ len nicht aggregiert, sondern das Planungsproblem wird für jede Filiale einzeln ge­ löst. Dies geht mit der Konsequenz einher, dass die Sortimente der einzelnen Filialen unabhängig voneinander sind. Folglich kann der Fall auftreten, dass es geringe oder keine Überschneidungen der Sortimente in den unterschiedlichen Filialen gibt. Aus Unternehmungssicht wäre es aber wünschenswert, wenn in allen Filialen ein Grund­ stock an gleichen Produkten angeboten würde, so dass sich Skaleneffekte generieren lassen und ein Wiedererkennungswert der Filialen erreicht werden kann.³ 3 Fisher/Vaidyanathan (2014, S. 2406) skizzieren einen Algorithmus zur Lösung des Sortimentspla­ nungsproblems, der eine maximale Anzahl unterschiedlicher Sortimente zulässt. Die maximale An­

Sortimentsplanung in filialisierten Handelsunternehmungen | 215

Regionalisiertes Sortiment 1

Regionalisiertes Sortiment 2

Regionalisiertes Sortiment 4

Kernsortiment (Common Assortment)

Regionalisiertes Sortiment 3

Regionalisiertes Sortiment I

Abb. 1: Regionalisierte Sortimente.

Vor dem Hintergrund einer nachfrageorientierten Sortimentsgestaltung stellt sich dann die Frage, ob es für eine filialisierte Unternehmung vorteilhaft ist, ein Common Assortment, d. h. ein Kernsortiment zu bilden, das dann um regionalisierte Kompo­ nenten ergänzt werden kann⁴ (vgl. Abbildung 1). Damit ergibt sich ein zweistufiges Sortimentsplanungsproblem, das in Abbildung 2 veranschaulicht wird. Während auf der ersten Stufe diejenigen Produkte zu einem Sortiment zusammen­ gefasst werden, die in allen Filialen angeboten werden sollen, folgt die Zusammenfas­ sung lokal angepasster Produkte für jede einzelne Filiale auf einer weiteren Stufe. In

Produktportfolio Kernsortiment (Common Assortment)

Lokales Sort. 1

Lokales Sort. 2

Lokales Sort. 3

Lokales Sort. 4

...

Lokales Sort. I

Abb. 2: Struktur der zweistufigen Sortimentsplanung.

zahl L der Sortimente liegt zwischen 1 und der Anzahl der Filialen (1 ≤ L ≤ I).Dabei werden jeweils einige Filialen gruppiert und für jede Filialgruppe das optimale Sortiment bestimmt. Das Problem überschneidungsfreier Sortimente der Filialgruppen besteht weiterhin. Syring (2004, S. 211 ff.) ordnet Produkte Sortimentsmodulen zu, die dann Filialen zugeordnet werden. Hierdurch kann ein Kompro­ miss zwischen standardisierten und individualisierten Sortimenten geschaffen werden, jedoch lassen sich keine Aussagen über ähnliche Nachfragerregionen ableiten. Skaleneffekte und ein Wiedererken­ nungswert der Filialen können nicht generiert werden. 4 Die Fragestellung weist folglich eine Ähnlichkeit mit dem aus der Industrie bekannten Plattform­ konzept auf. Vgl. z. B. Hofer (2001, S. 39 f.); Muffato/Roveda (2000, S. 618 f.).

216 | Hans Corsten und Benedikt Kasper

den weiteren Überlegungen wird unterstellt, dass für jedes Produkt und für jede Filiale die Nachfrage geschätzt werden kann und diese Schätzungen vorliegen. Darauf auf­ bauend wird die kundenseitige Substitution einbezogen, die dann Relevanz erlangt, wenn das präferierte Produkt aktuell nicht angeboten wird.

2 Modellierung Der Modellierung des mehrstufigen Sortimentsplanungsproblems liegen die folgen­ den Annahmen zugrunde (vgl. auch Corsten/Kasper 2016): – Das Angebot besteht aus Einheitsprodukten, d. h., es wird aus Vereinfachungs­ gründen unterstellt, dass alle Produkte die gleiche Größe haben. – Ausgestellt werden diese Einheitsprodukte auf Einheitsplätzen. Jede Filiale hat eine gegebene Kapazität, d. h., die Anzahl an Einheitsplätzen pro Filiale ist gege­ ben. Wäre dies nicht der Fall, dann könnte das gesamte Produktportfolio angebo­ ten werden und die Sortimentszusammenstellung wäre trivial. – Des Weiteren wird unterstellt, dass die gesamte Ausstellfläche genutzt wird, wobei diese in Einheitsplätzen, Regalmeter oder Quadratmeter quantifiziert wird. – Die Produkte, die dem Kernsortiment (Common Assortment) zugeordnet werden, sollen in allen Filialen angeboten werden, während die Produkte der lokalen Sor­ timente nur in der jeweiligen Filiale angeboten werden. – Schließlich erfolgt eine sofortige Regalauffüllung, alle im Sortiment angebotenen Produkte sind für jeden Nachfrager verfügbar. Diese Annahmen ermöglichen es, ein einfaches mehrstufiges Assortment-PlanningModell aufzustellen.

2.1 Grundmodell der Regionalisierung Als Ausgangspunkt wird das in Abschnitt 1 beschriebene Grundmodell herangezogen, wobei die folgenden Änderungen und Ergänzungen zu betrachten sind. Es sei: N Menge der Produkte n = {1, . . . , N} I Menge der Filialen i = {1, . . . , I} ̂e ni Geschätzter Erlös des Produktes n in Filiale i k dni Kosten (z. B. für Beschaffung, Transport, Lagerung) kc Zuordnungskostensatz für das Common Assortment l Zuordnungskostensatz für das lokale Sortiment der Filiale i ki K i Kapazität der Filiale i

Sortimentsplanung in filialisierten Handelsunternehmungen | 217

cn

l ni

{1, wenn Produkt n zum Common Assortment gehört { 0, sonst { {1, wenn Produkt n zum lokalen Sortiment der Filiale i gehört { 0, sonst {

Zielfunktion: max ∑ ∑ ̂e ni ⋅ (c n + l ni ) − ∑ ∑ ∑ k dni ⋅ (c n + l ni ) − ∑ ∑ (k c ⋅ c n + k li ⋅ l ni ) n

n

i

i

d

n

(4)

i

Durch Umformulieren ergibt sich: max ∑ c n ⋅ (∑ ( ̂e ni − ∑ k dni − k c )) + ∑ ∑ l ni ⋅ (̂e ni − ∑ k dni − k li ) n n i i d d ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ ⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟⏟ wn

(5)

v ni

Nebenbedingungen: ∑ c n ≤ min K i

(6)

i

n

∑ l ni = K i − ∑ c n n

∀i ∈ I

(7)

n

c n + l ni ≤ 1

∀n ∈ N ,

i∈I

(8)

c n , l ni , z nmi ∈ {0, 1}

∀n ∈ N ,

i∈I

(9)

k ≤ c

k li

∀i ∈ I

(10)

Mit: w n = ∑ (̂e ni − ∑ k dni − k c ) i

∀n ∈ N

(11)

d

v ni = ̂e ni − ∑ k dni − k li

∀n ∈ N ,

i∈I

(12)

d

Ziel der Unternehmung ist die Gewinnmaximierung. Der Erlös ̂e ni des Produktes n in Filiale i wird dann realisiert, wenn das Produkt n entweder zum Common Assortment oder zum lokalen Sortiment der Filiale i gehört. Gleiches gilt für die Kosten k dni für Beschaffung, Transport, Lagerung etc. Die Zuordnungskosten k c für das Common As­ sortment fallen dann an, wenn Produkt n diesem Common Assortment zugeordnet wird. Analoges gilt für die lokalen Zuordnungskosten k li . Die Zuordnungskosten stellen hypothetische Kosten dar, die für die Modellierung benötigt werden. Hierdurch bedingt können Produkte sowohl dem Common Assort­ ment als auch den lokalen Sortimenten der Filialen zugeordnet werden. Ohne diese Zuordnungskosten wäre es optimal, die Produkte mit der höchsten Nachfragemen­ ge in der jeweiligen Filiale dem lokalen Sortiment dieser Filiale zuzuordnen. Hieraus

218 | Hans Corsten und Benedikt Kasper

lässt sich folgern, dass der Gewinn dann sein Maximum erreicht, wenn ein vollständig individualisiertes Sortiment für jede Filiale bestimmt würde, so dass alle regionalen Nachfrageunterschiede vollständig abgedeckt würden. Eine Zuordnung einzelner Pro­ dukte zum Common Assortment ohne Berücksichtigung der Zuordnungskosten fände nur dann statt, wenn zufällig ein Produkt in jeder Filiale zum Sortiment gehörte. Ökonomisch lassen sich die Zuordnungskosten wie folgt interpretieren: Dadurch, dass die Produkte im Common Assortment in allen Filialen angeboten werden, lassen sich Skaleneffekte generieren. So können diese Produkte bedingt durch höhere Stück­ zahlen zu geringeren Kosten beschafft werden. Ferner ist davon auszugehen, dass die Transportkosten zu Distributionszentren und Zwischenlagern für große Lose niedriger sind als in dem Fall, in dem für jede Filiale individuelle Lose zusammengestellt wer­ den. Aber auch die Schaffung eines Wiedererkennungswertes mittels eines teilstan­ dardisierten Sortimentes und damit einhergehende höhere Kundenloyalität sowie bei­ spielsweise koordinierte Werbemaßnahmen lassen sich durch die Zuordnungskosten abbilden. Durch die Nutzung der Skaleneffekte, die mit der Bedingung k c ≤ k li der Zuordnungskosten modellierbar sind, ist eine Sortimentsplanung mit Produkten im Common Assortment vorteilhafter als eine rein individualisierte Sortimentsplanung. Das Common Assortment umfasst maximal so viele Produkte wie die kleinste Fi­ liale, d. h., in der kleinsten Filiale werden ausschließlich Produkte des Common As­ sortments vorgehalten. Die zweite Nebenbedingung besagt, dass die Kapazität der einzelnen Filialen i minus der Produktmenge, die bereits dem Common Assortment zugeordnet wurden, die Menge der Produkte in den lokalen Sortimenten beschränkt. Die Ungleichung c n + l ni ≤ 1 verhindert, dass Produkte sowohl dem Common Assort­ ment als auch lokalen Sortimenten zugeordnet werden; entweder ist ein Produkt n im Common Assortment oder im lokalen Sortiment einer Filiale i oder es wird nicht angeboten. Ferner ist der Zuordnungskostensatz für das unternehmungsweite Com­ mon Assortment kleiner als der Zuordnungskostensatz für die lokalen Sortimente der Filialen i. Eine Erweiterung der zweistufigen Regionalisierung auf drei Stufen zeigt Abbil­ dung 3. Ausgangspunkt bildet wiederum ein Common Assortment für alle Filialen der Unternehmung. Zusätzlich wird eine Stufe mit regionalen Sortimenten eingeführt. Diese Regionen umfassen die Filialen mit ähnlicher Nachfragestruktur. Die Regionen werden als fest gegeben angenommen, d. h., die Zuordnung der Filialen zu Regionen stellt zunächst keine Entscheidungsvariable dar. Beispielsweise kann die Regionen­ zuordnung aufgrund geographischer Einflussfaktoren (z. B. Ländergrenzen) oder de­ mographischer Gesichtspunkte erfolgen oder innerhalb der Unternehmung historisch gewachsen sein. Die Modellierung einer n-stufigen Sortimentsplanung ist leicht realisierbar, in­ dem zusätzliche Binärvariablen für weitere Stufen hinzugefügt werden. Durch die vereinfachenden Annahmen, insbesondere, dass der geschätzte Erlös der folgenden Periode für alle Produkte und alle Filialen bekannt ist, lässt sich das entwickelte mehrstufige Sortimentsplanungsmodell problemlos lösen.

Sortimentsplanung in filialisierten Handelsunternehmungen | 219

Produktportfolio Common Assortment

Regionales Sortiment 1

Lokales Sort. 1

Lokales Sort. 2

Lokales Sort. 3

... ...

Regionales Sortiment r Lokales Sort. Ix

...

Lokales Sort. I

Abb. 3: Struktur der dreistufigen Sortimentsplanung.

2.2 Substitution Bisher unberücksichtigt blieben nachfragerseitige Substitutionen innerhalb einer Produktgruppe. Wird diese berücksichtigt, dann werden Entscheidungen über die Sortimentstiefe getroffen (vgl. Kök/Fisher 2007). Konkret bedeutet dies: Ein ankom­ mender Nachfrager präferiert ein Produkt n ∈ N aus der Menge aller möglichen Produkte N einer Gruppe. Ist dieses in der Filiale nicht verfügbar, dann kauft er mit ei­ ner bestimmten Wahrscheinlichkeit entweder ein anderes, verfügbares Produkt oder entscheidet sich dafür, kein Produkt zu kaufen. Dabei kann zwischen einer temporä­ ren Nichtverfügbarkeit (Out-of-Stock beziehungsweise Stockout-Based-Substitution) und einer permanenten Nichtverfügbarkeit (Out-of-Assortment- beziehungsweise As­ sortment-Based-Substitution) unterschieden werden. Bei einer permanenten Nichtverfügbarkeit existiert im Vergleich zur temporären Nichtverfügbarkeit die Möglichkeit einer Kaufaufschiebung nicht. Die Reaktionsmög­ lichkeiten der Nachfrager (d. h. Substitution oder Nichtkauf) gleichen sich jedoch. Assortment-Based- und Stockout-Based-Substitution sind nicht immer trenn­ scharf voneinander abzugrenzen. Je länger die Stockout-Situation dauert, desto eher passt sich das Verhalten der Nachfrager dem Verhalten im Falle einer permanenten Sortimentsreduktion an. Auch können Nachfrager beide Situationen oft nicht un­ terscheiden, insbesondere, wenn der Händler durch einen Stockout freigewordenen Regalplatz (temporär) mit anderen Produkten auffüllt (vgl. Campo/Gijsbrechts/Nisol 2004, S. 834 f.) Im Allgemeinen wird deshalb in der Literatur unterstellt, dass sich die Substitutionswahrscheinlichkeiten in den beiden Fällen Stockout und Sortiments­ reduktion nicht unterscheiden (vgl. z. B. Hübner/Kuhn/Kühn 2016, S. 508; ferner Campo/Gijsbrechts/Nisol 2004, S. 836 ff., die eine empirische Untersuchung zum Un­ terschied zwischen temporärer und permanenter Nichtverfügbarkeit präsentieren). Einen weiteren Fall stellt der sogenannte Spontankauf dar: ein Nachfrager wählt ein präferiertes Produktes aus einem angebotenen Sortiment aus und kauft dieses, sofern der Nutzen des Produktes höher als die Nichtkaufoption ist.

220 | Hans Corsten und Benedikt Kasper

2.2.1 Ansätze zur Erfassung der Substitution Bei der Betrachtung der Substitution in der Sortimentsplanung wird davon ausgegan­ gen, dass sich der Nachfrager selbstständig für ein Substitutionsprodukt entscheidet, folglich einer der beiden erstgenannten Fälle vorliegt (vgl. Kök/Fisher/Vaidyanathan 2009, S. 106 f.). Zur Erfassung der Substitution werden in der Literatur unterschiedli­ che Ansätze vorgeschlagen (vgl. Tabelle 1). Aufgrund seiner einfachen Struktur und gleichzeitigen Flexibilität wird im Fol­ genden das Exogenous Demand Model verwendet, das häufig zur Modellierung des Nachfragerverhaltens unter Berücksichtigung der Substitution im Lagerbestandsma­ nagement eingesetzt, aber auch in der Sortimentsplanung angewendet wird (vgl. z. B. Kök/Fisher/Vaidyanathan 2009, S. 111; Netessine/Rudi 2003, S. 330). Bei der Modellierung des Nachfragerverhaltens auf der Basis des Exogenous De­ mand Models wird davon ausgegangen, dass jeder Nachfrager ein präferiertes Produkt n hat. Wenn dieses im Sortiment S i ⊂ N angeboten wird, dann kauft der Nachfrager dieses. Wird es nicht angeboten, dann erfolgt eine Substitution mit der Wahrschein­ lichkeit δ i durch ein anderes Produkt m ∈ N oder es wird mit der Wahrscheinlichkeit (1 − δ i ) kein Produkt gekauft. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Nachfrager in Filiale i das Produkt n ∉ S i durch m ∈ N substituiert, sei α nmi . Weiter sei D ni der Anteil der Nachfrager, der Produkt n in Filiale i präferiert. Mit P mi (S i ) = D mi + ∑ α nmi ⋅ D ni

(13)

n∉S i

werden die Nachfrage nach Produkt m in Filiale i unter Berücksichtigung der Substi­ tution erfasst (vgl. Kök/Fisher/Vaidyanathan 2009, S. 110 ff.; Vaidyanathan 2011, S. 6). Über den Parameter α nmi kann das Substitutionsverhalten unter dem Exogenous Demand Model beeinflusst werden. Wird beispielsweise α nmi = δ i ⋅

D mi ∑l∈N\{n} D li

(14)

gewählt, dann entspricht dies einem proportionalen Substitutionsverhalten, ähn­ lich dem MNL-Modell. In diesem wird die Nachfrage nach einem nicht angebotenen Produkt auf die angebotenen Produkte aufgeteilt, und zwar proportional zu ihrem Marktanteil. Bereits bei der Einführung des Exogenous Demand Models in die Sorti­ mentsplanung fand dieser Ansatz Anwendung (vgl. Smith/Agrawal 2000, S. 52) und wurde seitdem in der Literatur häufig verwendet (vgl. z. B. Hübner/Kuhn/Kühn 2016, S. 508; Irion et. al. 2012, S. 132; Kök/Fisher 2007, S. 1007; Yücel et al. 2009, S. 761 ff.). Er eignet sich insbesondere dann, wenn keine weiteren Informationen über die Sub­ stitutionswahrscheinlichkeiten vorliegen. In diesem Fall wird somit unterstellt, dass der Marktanteil eines Produktes einen guten Indikator für die Auswahl des Substitu­ tionsproduktes darstellt: Produkte mit hohem Marktanteil werden demnach wie im MNL-Modell häufiger als Substitut ausgewählt als Produkte mit geringem Marktanteil.

Nutzenbasiert

Nutzenbasiert

Nested Logit Model

Locational Choice Model

m∈S mi

li

v nli ∑m∈S v mli

⋅ li

ki

v mki )

∑m∈S v mli

v0i +∑k (∑m∈S

– Eine Substitution findet nur zwischen nahe beieinander liegenden Produkten statt. – Die Substitutionsrate lässt sich durch den Händler durch eine geeignete Sortimentsauswahl beeinflussen.

– Für Produkte in verschiedenen Nestern lässt sich die IIA-Bedingung überwinden. – Durch Nestzuweisung und Parameterwahl kann der Händler die Substitutionsraten beeinflussen/verfälschen.

– Es handelt sich um eine einfache Form, die die Substitution bereits integriert. – Die Substitutionsrate ist nicht individuell festlegbar. – Der Ansatz unterliegt der „Unabhängigkeit der irrelevanten Alternativen (IIA)“-Bedingung.

Beurteilung

Exogenous Demand Model Keine Annahme Entspricht der exogen gegebenen Grundnachfrage – Dieser Ansatz weist die höchste Flexibilität bei der nach einem Produkt sowie der Substitutionsnachfrage: Abbildung des Nachfragerverhaltens auf. D mi + ∑n∉S i α nmi ⋅ D ni – Es lassen sich unterschiedliche Substitutionsraten in einzelnen Kategorien abbilden.

Entspricht einer Bewertung des Preises sowie des gewichteten Abstandes der Produktattribute von einer Idealvorstellung: Pr {U ni = maxk∈S i ∪{0} (k i − p ki − g(y, z k ))}

Hilfe des MNL-Ansatzes:

Entspricht der Auswahlwahrscheinlichkeit eines „Produktnestes“ und der anschließenden Auswahl eines Produktes dieses Nestes, jeweils modelliert mit

0i

Nutzenbasiert

Multinomial Logit Model

Entspricht der aus individuellen Nutzenbewertungen berechneten Präferenzen v ni im Vergleich zum sonstigen Produktangebot: v +∑vni v

Käuferverhalten Kaufwahrscheinlichkeit P ni (S i )

Ansatz

Tab. 1: Ansätze zur Modellierung des Nachfragerverhaltens.

Sortimentsplanung in filialisierten Handelsunternehmungen | 221

222 | Hans Corsten und Benedikt Kasper

Es ergeben sich bei dieser approximativen Annahme die gleichen Vorteile wie bei der Verwendung des MNL-Modells. Insbesondere wird für die Bestimmung der Substi­ tutionswahrscheinlichkeiten lediglich ein Wissen über die Marktanteile sowie die Wahrscheinlichkeit eines Nichtkaufes, wenn das präferierte Produkt nicht angeboten wird, vorausgesetzt (vgl. auch Smith/Agrawal 2000, S. 52). Liegen detailliertere Informationen zu den Produkten vor, dann lassen sich mit dem Exogenous Demand Model weitere Substitutionsverhaltensweisen durch die Wahl des Parameters α nmi darstellen: Je nach Produktbeschaffenheit können z. B. ver­ stärkt Substitutionsbeziehungen innerhalb des gleichen Preissegmentes (vgl. hierzu Emmelhainz/Stock/Emmelhainz 1991, S. 141; Walter/Grabner 1975, S. 58), zwischen Produkten mit gleichen oder ähnlichen Eigenschaften⁵ (vgl. hierzu z. B. Kök/Fisher/ Vaidyanathan 2009, S. 112; Smith/Agrawal 2000, S. 52) oder beliebig zwischen allen Produkten der Kategorie stattfinden. Dabei kann über den Parameter δ i zwischen Pro­ duktkategorien mit hohen und niedrigen Substitutionsraten unterschieden werden (vgl. Kök 2003, S. 54 ff.; Kök/Fisher/Vaidyanathan 2009, S. 111 f.). Generell wird bei der Verwendung des Exogenous Demand Models in der Sorti­ mentsplanung lediglich ein einziger Versuch der Substitution unterstellt: wenn so­ wohl das gewünschte Produkt als auch das erste Substitutionsprodukt nicht verfügbar sind, dann entscheidet sich der Nachfrager dafür, kein Produkt zu kaufen⁶. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Exogenous Demand Model im Vergleich zum MNL-Modell kein Nutzenmodell unterstellt, sondern das Substitutions­ verhalten eines Individuums unmittelbar wiedergibt. Es wird dann eingesetzt, wenn Entscheidungen über den Lagerbestand unter Substitution getroffen werden sollen. Das Exogenous Demand Model erlaubt dabei größere Freiheiten bei der Gestaltung des Substitutionsverhaltens als das MNL-Modell und kann auch unterschiedliche Sub­ stitutionsraten für verschiedene Kategorien abbilden. Die Berücksichtigung anderer Effekte wie Verkaufspreisänderungen oder zeitlich begrenzte Werbemaßnahmen für einzelne Produkte lassen sich aber in das MNL-Modell einfacher einbinden als in das Exogenous Demand Model (vgl. Kök/Fisher/Vaidyanathan 2009, S. 110 ff.).

5 Etwa der gleichen Konfektionsgröße bei Kleidungsstücken, aber auch zwischen „benachbarten“ Produkten. So werden Nachfrager nach Vollmilch möglicherweise fettarme Milch als Substitut akzep­ tieren, nicht jedoch Magermilch, während Nachfrager nach fettarmer Milch beide Alternativen akzep­ tieren könnten. 6 Dass diese Annahme in bestimmten Fällen nicht zu restriktiv ist, zeigen z. B. Smith und Agrawal (2000, S. 53), die herausstellen, dass die Anzahl der Substitutionsversuche bei größeren Sortimenten unerheblich ist, sowie Kök (2003, S. 56), der einen dreifachen Substitutionsversuch durch einen ein­ fachen Versuch mit erhöhter Substitutionswahrscheinlichkeit approximiert. Die Annahme gilt somit dann, wenn vergleichsweise viele Produkte zum Sortiment gehören oder die Substitutionswahrschein­ lichkeit nicht sehr hoch ist.

Sortimentsplanung in filialisierten Handelsunternehmungen |

223

2.2.2 Regionalisierung unter Berücksichtigung des Exogenous Demand Models Nur wenige Autoren betrachten sowohl die Stockout-Based- als auch die AssortmentBased-Substitution unter dem Exogenous Demand Model. Hübner, Kuhn und Kühn (2016, S. 508) berücksichtigen in ihrer Modellierung des Nachfragerverhaltens beide Arten: Die Nachfrage nach einem Produkt setzt sich aus der originären Nachfrage als erster Wahl sowie der einmaligen Nachfrage nach einem Substitutionsprodukt, wenn die erste Wahl nicht verfügbar ist, zusammen. Letztere lässt sich unterschei­ den in Assortment-Based-Substitution, die immer dann vorliegt, wenn ein Produkt nicht zum Sortiment gehört und Stockout-Based-Substitution, die bei einer den La­ gerbestand übersteigenden Nachfrage auftritt. Zur Modellierung des Substitutions­ verhaltens im Falle eines Stockouts ist es somit notwendig, neben der Substitutions­ wahrscheinlichkeit auch Lagerbestände zu modellieren, während dieses im Falle der Assortment-Based-Substitution durch lediglich eine Wahrscheinlichkeitsverteilung darstellbar ist. Für die in diesem Aufsatz betrachtete Sortimentsplanung, bei der ausschließlich eine Entscheidung über die Aufnahme eines Produktes in das Sortiment getroffen wird (und nicht etwa über die Anzahl an auszustellenden Produkten) ist die Assort­ ment-Based-Substitution relevant. Bei der Stockout-Based-Substitution sind Produkte kurzfristig nicht verfügbar, was der Annahme einer sofortigen Regalauffüllung wider­ spricht. Das Sortimentsplanungsproblem unter Berücksichtigung der (AssortmentBased-) Substitution lässt sich dann wie folgt formulieren: Zielfunktion: max ∑ ∑ e ni ⋅ (c n + l ni ) + ∑ ∑ ∑ α nmi ⋅ e mi ⋅ z nmi n

n

i

m

i

− ∑ ∑ ∑ k dni ⋅ (c n + l ni ) − ∑ ∑ (k c ⋅ c n + k li ⋅ l ni ) n

i

n

d

(15)

i

Beziehungsweise: max ∑ c n ⋅ w n + ∑ ∑ l ni ⋅ v ni + ∑ ∑ ∑ z nmi ⋅ subnmi n

n

i

n

i

(16)

m

Nebenbedingungen: ∑ c n ≤ min K i n

∑ l ni = K i − ∑ c n n

(17)

i

∀i ∈ I

(18)

∀n ∈ N, i ∈ I

(19)

∀n, m ∈ N, i ∈ I

(20)

n

c n + l ni ≤ 1 z nmi ≤ c m + l mi

224 | Hans Corsten und Benedikt Kasper z nmi ≤ 1 − (c n + l ni ) c n , l ni , z nmi ∈ {0, 1} c

k ≤ Mit: subnmi := α nmi ⋅ e mi

k li

∀n, m ∈ N, i ∈ I

(21)

∀n ∈ N, i ∈ I

(22)

∀i ∈ I

(23)

∀n, m ∈ N , i ∈ I

(24)

α nmi

Wahrscheinlichkeit, Produkt n in Filiale i durch Produkt m zu substituieren

z nmi

{1, wenn Produkt m zum Sortiment in Filiale i gehört, Produkt n aber nicht { 0, sonst {

Ziel ist es wiederum, den Gewinn zu maximieren. Dieser ergibt sich aus den Erlösen, die dann realisiert werden, wenn ein Produkt im Common Assortment, in den lokalen Sortimenten oder aber nicht angebotenen wird, sofern sich die Nachfrager im letzten Fall dafür entscheiden, ein verfügbares Substitutionsprodukt zu kaufen, minus der bereits bekannten Kosten und Zuordnungskosten.

3 Lösungsmöglichkeiten und experimentelle Untersuchungen Zur Beurteilung der Vorteilhaftigkeit des vorgestellten regionalen Sortimentspla­ nungsansatzes ist insbesondere der Gewinnzuwachs b durch die Platzierung eines Produktes im Common Assortment relevant. Er lässt sich durch Skaleneffekte sowie ei­ ner höheren Kundenloyalität, Schaffung eines Wiedererkennungswertes, koordinierte Werbemaßnahmen etc. erklären (vgl. Abschnitt 2.1). Wird dieser Gewinnzuwachs für Produkte des Common Assortments sehr klein gewählt, dann sind individuelle Sorti­ mente für alle Filialen zu bevorzugen; wird er hingegen zu groß gewählt, dann liefert ein standardisiertes Sortiment für alle Filialen den höchsten Gewinn. Schätzt das Management die Vorteile eines Common Assortments als sehr klein oder sehr groß ein, dann kann es die trivialen Strategien Individualisierung oder Standardisierung einsetzen. Folglich wird der Gewinnzuwachs in den folgenden experimentellen Untersu­ chungen weder zu groß noch zu klein gewählt, so dass es für einige (jedoch nicht für alle) Produkte vorteilhaft ist, diese dem Common Assortment zuzuordnen⁷. Schätzt das Management diesen ähnlich zu den betrachteten Intervallen ein, dann eignet sich insbesondere der vorgestellte Ansatz einer mehrstufigen Sortimentsplanung. Dabei 7 Der Gewinnzuwachs wird dabei so gewählt, dass er einer Common-Assortment-Größe von 50–80 % der Filialkapazität entspricht, wobei dieses Intervall dem Ergebnis empirischer Studien entspricht (vgl. z. B. Hwang/Bronnenberg/Thomadsen 2010, S. 873).

Sortimentsplanung in filialisierten Handelsunternehmungen |

225

ist zu beachten, dass dieser Ansatz in allen Fällen die optimale Lösung liefert, da er beide trivialen Strategien beinhaltet. Im Folgenden werden vier Szenarien betrachtet, wobei die Abhängigkeit der loka­ len Gewinne v ni zwischen den einzelnen Filialen sowie der Gewinnzuwachs b variiert werden: – Szenario 1: Die erzielbaren Gewinne v ni sind für alle Filialen gleich (vollständi­ ge Abhängigkeit), d. h., es gilt v ni = v n ∀i. Durch ein Angebot des Produktes im Common Assortment lässt sich ein Gewinnzuwachs b = 1, 05 erzielen, wobei w n = b ⋅ ∑i v ni gilt. – Szenario 2: Die erzielbaren Gewinne v ni sind abhängig voneinander und schwan­ ken für ein Produkt n in einer Filiale i im Intervall r ni = [−0,3; 0,3] um einen Wert v n . Der Gewinnzuwachs für ein Produkt im Common Assortment entspricht wie in Szenario 1 einem Wert b = 1,05. – Szenario 3: Wie in Szenario drei besteht eine Abhängigkeit zwischen den lokalen Gewinnen v ni . Diese schwanken im Intervall r ni = [−0,5; 0,5] um den Wert v n . Für b gilt b = 1,125. – Szenario 4: Die lokalen Gewinne v ni sind unabhängig voneinander. Der Gewinn­ zuwachs beträgt b = 1,35. Ferner werden zwei Fälle einer niedrigeren und höheren Substitutionswahrschein­ lichkeit betrachtet. Im ersten Fall beträgt die Wahrscheinlichkeit, bei Nichtverfügbar­ keit eines Produktes n ein Substitut zu kaufen, ca. 80 % und im zweiten Fall ca. 40 % (sofern dieses im Sortiment verfügbar ist), wobei die Summe über alle Substitutions­ raten α nmi inklusive Nichtkaufoption gleich 1 ergibt. Diese Substitutionswahrschein­ lichkeiten entsprechen dem in empirischen Studien identifizierten Intervall (vgl. zu einem Überblick Kök/Fisher/Vaidyanathan 2009, S. 107 f.). Zur Beurteilung der Vorteilhaftigkeit des Planungsansatzes mit Common Assort­ ment und lokalen Sortimenten wird die Optimallösung mit den beiden trivialen Stra­ tegien eines Sortimentes für alle Filialen und individuelle Sortimente für jede Filiale verglichen. Betrachtet werden je 100 Testinstanzen mit 50 möglichen Produkten, für die in 20 Filialen jeweils 25 Plätze zur Verfügung stehen. Tabelle 2 gibt das Verhält­ nis des Optimums zu der besseren der zwei trivialen Strategien Standardisierung und Individualisierung wieder.

Tab. 2: Vergleichende Gegenüberstellung:

Höhere Substitutionsws. Niedrigere Substitutionsws.

OPTIMAL . max{STANDARD; INDIVIDUELL}

Szenario 1

Szenario 2

Szenario 3

Szenario 4

1,000 1,000

1,021 1,023

1,040 1,045

1,029 1,041

226 | Hans Corsten und Benedikt Kasper

Es zeigt sich, dass der regionalisierte Sortimentsplanungsansatz bessere Ergebnisse liefert. Der Gewinn kann im Vergleich zu den bisherigen Planungsansätzen um bis zu 4,5 % gesteigert werden. Das Sortimentsplanungsproblem unter Berücksichtigung der Assortment-BasedSubstitution lässt sich für kleine Instanzen optimal lösen. Bereits für die betrachte­ ten Testinstanzen mit 50 möglichen Produkten und 20 Filialen benötigen kommerzi­ elle Solver etwa 45 Minuten zur Bestimmung der optimalen Lösung⁸. Da in der Pra­ xis das Sortiment häufig aus einigen hundert Produkten zusammengestellt werden kann, ist es notwendig, heuristische Verfahren zur Lösung realer Problemgrößen zu entwickeln. Für die betrachtete Problemstellung eignen sich insbesondere Greedy-Algorith­ men. Talluri und van Ryzin (2004, S. 24 f.) und Liu und van Ryzin (2008, S. 300) zei­ gen, dass bei einem mit Hilfe des MNL-Ansatzes modellierten, unbeschränkten Pla­ nungsproblem (d. h. ohne Kapazitätsrestriktion) eine Auswahl der Produkte mit dem höchsten Erlös optimal ist. Rusmevichientong, Shen und Shmoys (2010, S. 1669) zei­ gen, dass der Greedy-Algorithmus suboptimale Lösung liefern kann, wenn Kapazitäts­ restriktionen bestehen. Da dieser auch für das in diesem Aufsatz betrachtete mehrstu­ fige Sortimentsplanungsproblem sehr gute, wenn auch keine optimalen, Ergebnisse liefert (vgl. Corsten et al. 2018, S. 454 ff.), findet ein Greedy-Ansatz ebenfalls Anwen­ dung. Der Algorithmus geht in zwei Schritten vor: – In einem ersten Schritt wird für jede Filiale ein individuelles, lokales Sortiment bestimmt, ohne zusätzliche Erlöse durch die Platzierung eines Produktes im Com­ mon Assortment zu berücksichtigen. Dabei werden die Produkte, die den höchs­ ten Gewinn (bestehend aus originärer Nachfrage und Substitution) erwarten las­ sen, so lange der Reihe nach dem lokalen Sortiment hinzugefügt, bis die Kapazität der Filiale vollständig genutzt ist. – In einem zweiten Schritt wird jeweils das Produkt, welches den größten Gewinn­ zuwachs durch eine Platzierung im Common Assortment ermöglicht, diesem hin­ zugefügt, d. h. in jeder Filiale angeboten. Für Filialen, in denen das Produkt bis­ her nicht angeboten wurde, wird das unprofitabelste Produkt aus dem lokalen Sortiment genommen, um Platz für das neue Produkt im Common Assortment zu schaffen. Bei der Berechnung des Erlöszuwachses sind – der Gewinn w n , der durch ein Angebot des Produktes n im Common Assort­ ment erzielt wird, – die Gewinnminderung, die durch Entfernen des unprofitabelsten Produktes aus Filialen entsteht, in denen das Produkt n nicht zum Sortiment gehört, sowie – die Substitutionsgewinne, die durch eine Veränderung der Sortimentszusam­ menstellung beeinflusst werden zu berücksichtigen. 8 Für alle Berechnungen wurde ein Desktop-Computer mit Intel Core i7-3770 und 16GB RAM sowie GUROBI 6.5 eingesetzt.

Sortimentsplanung in filialisierten Handelsunternehmungen |

227

Der Algorithmus endet, wenn durch das Hinzufügen eines Produktes zum Common Assortment kein Gewinnzuwachs mehr erzielt werden kann oder wenn die Anzahl der Produkte im Common Assortment die Kapazität der kleinsten Filiale erreicht hat. Der Greedy-Algorithmus liefert in allen Szenarien und Parameterkonstellationen gute Ergebnisse, die durchschnittlich nicht mehr als 3 % vom Optimum abweichen. Tabelle 3 gibt dies für das Verhältnis der Optimallösung zu der Lösung des GreedyAlgorithmus wieder. Tab. 3: Vergleich der Optimallösung mit dem Greedy-Algorithmus (gerundet auf zwei OPTIMAL Nachkommastellen): . GREEDY

Höhere Substitutionsrate Niedrigere Substitutionsrate

Szenario 1

Szenario 2

Szenario 3

Szenario 4

1,01 1,03

1,00 1,01

1,00 1,01

1,00 1,00

4 Ausblick Gegenstand des vorliegenden Beitrags war die Sortimentsgestaltung in regionalisier­ ten Handelsunternehmungen. Im vorgestellten Modell werden die Vorteile – standardisierter Sortimente, etwa die Nutzung der Skaleneffekte, die Schaffung eines Wiedererkennungswertes, Generierung einer Nachfragerloyalität, koordi­ nierte Werbemaßnahmen etc. sowie – individueller Sortimente, insbesondere die Anpassung des Angebots an die loka­ len Kundenwünsche kombiniert. Die daraus resultierende Lösung des Planungsproblems umfasst ein Com­ mon Assortment, ergänzt um lokale Sortimente für jede Filiale. Die Vorteilhaftigkeit des kombinierten Ansatzes wird durch die durchgeführten Experimente bestätigt. In den weiteren Forschungen soll unter anderem den folgenden Fragestellungen nachgegangen werden: – Wie lassen sich unterschiedliche Packungsgrößen sowie die Möglichkeit, mehrere Regalplätze mit demselben Produkt zu belegen, integrieren? – Wie viele Einheiten eines Produktes sollten in den Filialen zur Verfügung stehen (etwa um die Nachfrage eines Tages zu befriedigen)? – Wie lassen sich die obigen Fragestellungen der Shelf-Space-Planung und des La­ gerbestandsmanagements in die regionalisierte Sortimentsplanung integrieren und simultan lösen?

228 | Hans Corsten und Benedikt Kasper

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Hagen Salewski

Auftragsorientierte Produktionsprogrammplanung 1 2 3 3.1 3.2 4

Einführung | 230 Auftragsannahmeentscheidungen | 232 Ausgewählte Modelle der Auftragsselektion | 236 Zeitraumbezogenes Modell nach Jacob | 236 Zeitpunktbezogenes Modell nach Laux | 239 Zusammenfassung | 242 Literatur | 244

Zusammenfassung. Die auftragsorientierte Produktionsprogrammplanung ist von der Annahme von Kundenaufträgen abhängig, die sich durch Unsicherheiten be­ züglich ihrer Ankünfte und ihrer Konditionen auszeichnen. Hierdurch wird die Ent­ scheidung über die Annahme oder Ablehnung von Kundenaufträgen ein wichtiges Teilproblem der Produktionsprogrammplanung, die durch eine technische und eine ökonomische Prüfung unterstützt wird. Neben zwei klassischen Ansätzen zur Ent­ scheidung darüber, welche Aufträge Bestandteil des Produktionsprogramms werden sollen, werden knapp die aktuellen Entwicklungslinien der Available- und Capa­ ble-to-Promise-Ansätze vorgestellt und auch andere Alternativen benannt.

1 Einführung Die auftragsorientierten Produktionsprogrammplanung bezeichnet die operative Pro­ grammplanung bei kundenorientierter Produktion auf der Grundlage individueller Kundenaufträge. Da die zu erstellenden Produkte größtenteils durch den Nachfrager spezifiziert werden (vgl. Seitz/Grunow 2017, S. 658), spielt hierbei vor allem die Ent­ scheidung über die Annahme oder Ablehnung von Kundenaufträgen eine zentrale Rolle (vgl. z. B. Czeranowsky 1974, S. 5). Abhängig vom Markt, kann dies durch eine einfache Bestellung einer (Katalog-)Variante oder auch durch (wiederholte) interakti­ ve Verhandlungen zwischen Produzenten, Nachfragern und gegebenenfalls zusätzli­ chen Dienstleistern (vgl. z. B. Mansouri/Gallear/Askariazad 2012, S. 25 ff.) geschehen. Hierzu im Gegensatz steht die Programmplanung bei marktorientierter Produk­ tion, die weitestgehend auf Nachfrageprognosen basiert und somit unabhängig von konkreten Kundenanfragen ist. Beide Ansätze stellen jedoch keine exklusiven Alter­ nativen dar, sondern werden oftmals nebeneinander eingesetzt. So werden bei kun­ denorientierter Produktion in der Regel nicht nur (Vor-)Produkte, die vollkommen neu https://doi.org/10.1515/9783110473803-013

Auftragsorientierte Produktionsprogrammplanung | 231

und einmalig sind, erstellt und genutzt, sondern auch Produkte, die sich aus teils be­ reits bekannten Komponenten zusammensetzen. Werden einzelne, selbstproduzierte Komponenten hinreichend oft benötigt, dann kann es günstig sein, diese Produkte auf der Grundlage ihrer prognostizierten Bedarfe in der Produktionsprogrammplanung zu berücksichtigen und hierzu den Standardansatz der Produktionsprogrammplanung zu nutzen (vgl. z. B. Zäpfel 1982, S. 92 f. oder vgl. den Beitrag von Steven in diesem Handbuch). Bei der auftragsorientierten Produktion liegt ein zeitlich offenes Entscheidungs­ feld vor, d. h., das Entscheidungsfeld ändert sich im Zeitablauf. Diese Veränderun­ gen verursachen Unsicherheiten (vgl. Corsten/Gössinger 1997, S. 1 ff.; Choi/Wang/Yue 2016, S. 382; Vilko/Ritala/Edelmann 2014, S. 4) bezüglich der: – Kundenaufträge: Während der Dauer der Planrealisation können neue Kunden­ aufträge oder zumindest Kundenanfragen eintreffen, deren zeitliche Ankunft und Konditionen bezüglich Produktart, -menge, -qualität, Lieferzeit und Preis nicht bekannt sind. Nur über zum Planungszeitpunkt vertraglich vereinbarte Kunden­ aufträge besteht eine geringere Unsicherheit. Auch bei ihnen können jedoch auf­ tragsseitige Störungen auftreten, die zu mengenmäßigen, inhaltlichen oder ter­ minlich veränderten Anforderungen führen. – Ressourcenverfügbarkeit: Es kann zu Ausfällen von Anlagen, Personal oder rele­ vanten externen Dienstleistern kommen, wodurch die verfügbare Kapazität zur Auftragserfüllung reduziert wird. Umgekehrt kann es auch passieren, dass Res­ sourcen während der Planrealisation ungeplant verfügbar werden und genutzt werden können. Planansätze, welche die auftragsorientierte Produktionsprogrammplanung unter­ stützen sollen, müssen einen Umgang mit diesen Unsicherheiten finden. Besonders aufgrund der im Vergleich zur Produktion für den anonymen Markt größeren Unsi­ cherheit, die sich aus der Abhängigkeit von konkreten Kundenaufträgen und den in ihnen vereinbarten Mengen und anderer Konditionen ergibt, eignet sich der Stan­ dardansatz der Programmplanung in vielen Fällen nicht für die auftragsorientierte Produktion, und es müssen alternative Verfahren genutzt werden. Eine Möglichkeit besteht darin, das Entscheidungsfeld zu schließen. Hierbei wird ein zeitlicher Pla­ nungshorizont festgelegt, innerhalb dessen das Problem (optimal) gelöst werden kann. In diesem Beitrag sollen diese Ansätze im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Hängt das Planungsergebnis jedoch zu stark von Informationen und Handlungsal­ ternativen außerhalb des so abgesteckten Rahmens ab, dann können diese Modelle eine schlechte Ergebnisqualität aufweisen (vgl. Schlüchtermann 1996, S. 2 ff.) und der Einsatz anderer Planungsansätze (vgl. Abschnitt 4 dieses Beitrages) kann notwendig werden.

232 | Hagen Salewski

2 Auftragsannahmeentscheidungen Eine zentrale Aufgabenstellung, die mit der auftragsorientierten Produktionspro­ grammplanung verbunden ist, ist die Auftragsannahme. Diese hängt entscheidend von den mit einem Auftrag verbundenen Konditionen ab, deren wichtigste Kategorien die zu produzierenden Produktmengen und -qualitäten, Lieferzeiten sowie die Ver­ gütung bei Auftragserfüllung sind. Diese Konditionen werden häufig in interaktiven, manchmal mehrrundigen Verhandlungen festgelegt. In Abbildung 1 ist prototypisch der Ablaufplan so einer Verhandlung dargestellt¹. Auch wenn dieser Ablaufplan nicht alle möglichen Annahmeprozesse adäquat widerzuspiegeln vermag, so lassen sich jedoch einige wichtige Entscheidungen mit seiner Hilfe aufzeigen. Die Annahme eines Auftrages hängt schließlich davon ab, ob – die technische Realisierbarkeit einer Anfrage und – die ökonomische Vorteilhaftigkeit der Anfrage für die Unternehmung positiv beschieden werden können. Dieser Prozess wird in der englischsprachigen Literatur auch als Order Capturing oder Customer Enquiry Stage bezeichnet (vgl. Framinan/Leisten 2010, S. 3081; Kingsman et al. 1996, S. 219 ff.; Xi­ ong et al. 2006, S. 332 ff.). Es sei angemerkt, dass diese Prüfungen für den gleichen Nachfrager auch mehrfach und in mehreren Runden durchgeführt werden können, und zwar solange, bis sich beide Parteien auf ein für sie akzeptables Angebot geeinigt haben oder der Auftrag endgültig abgelehnt wird. Im Rahmen der Überprüfung der technischen Realisierbarkeit wird einerseits über die physikalisch-technische Machbarkeit des Kundenauftrags entschieden, und an­ dererseits kann es dazu kommen, dass die Verfügbarkeit von Produktionskapazität und Materialien untersucht wird (Verfügbarkeitsprüfung), um Aussagen über mög­ liche Liefertermine und -mengen treffen zu können. Abhängig von der technischen Komplexität der Produkte, dem Individualisierungsgrad der im Auftrag angefragten Produkte, der Lage des Kundenauftragsentkopplungspunktes, des Integrationsgra­ des des verwendeten Informationssystems des Anbieters und seiner Lieferanten oder anderen Faktoren kann die Prüfung der physikalisch-technischen Machbarkeit in einem Bruchteil einer Sekunde abgeschlossen sein (z. B. bei einem Make- oder As­ semble-to-order System für relativ einfache Produkte oder im Falle der Individuali­ sierungen im Rahmen des sogenannten Mass Customization) oder mehrere Wochen (beim Engineer-to-order, beispielsweise im Sondermaschinenbau) dauern. Die physi­ kalisch-technische Überprüfung ist eine Aufgabe, die in der Regel den Entwicklungsoder Konstruktionsabteilungen einer Unternehmung zugeordnet wird.

1 Dieser Ablaufplan wurde aufgrund seiner hohen Anschaulichkeit gewählt. Einen umfassenderer und wesentlich detaillierterer Ablaufplan wird beispielsweise von Kingsman et al. (1996, S. 220 ff.) beschrieben.

Auftragsorientierte Produktionsprogrammplanung | 233

Start

Kundenanfrage Mit Spezifikationen der Produktart, -menge, -qualität, des Liefertermins und Preises

Überprüfung der technischen Realisierbarkeit

Technisch machbar?

Nein

Ja Überprüfung der ökonomischen Vorteilhaftigkeit

Ökonomisch vorteilhaft?

Nein

Verzicht auf Angebotsabgabe / Bitte um korrigiertes Angebot

Ja Abgabe eines Angebotes an den Nachfrager

Für Nachfrager ökonomisch akzeptabel? Ja Auftragserteilung

Mit Spezifikationen der Produktart, -menge, -qualität, des Liefertermins und Preises

Nein

Soll ein neues Angebot eingereicht werden?

Ja

Nein Nichterteilung des Auftrags

Ende Abb. 1: Ablaufplan der Prüfung eines Kundenauftrags nach Buzacott et al. (2010, S. 61).

234 | Hagen Salewski

Im Rahmen der technischen Prüfung kann auch eine Verfügbarkeitsprüfung vorge­ nommen werden, wobei eine generelle Zuordnung der Verfügbarkeitsprüfung zum Aufgabenumfang der technischen Überprüfung nicht möglich ist. Einerseits zielt die Verfügbarkeitsprüfung (von Materialen und Kapazitäten) auf die Feststellung der prin­ zipiellen Erfüllbarkeit der Formalziele, die sich aus einem Produktionsprogramm er­ gäbe, wenn die Unternehmung den betrachteten Kundenauftrag annähme. In diesem Fall wäre eine Zuordnung zur technischen Prüfung möglich. Andererseits modellieren viele Ansätze der Verfügbarkeitsprüfung bereits Entscheidungen über die Auftragsan­ nahme oder -ablehnung in die Prüfmodelle. Hierdurch wird dann das (ökonomische) Sachziel, in Form des Produktionsprogrammes, determiniert, und somit ist die Ver­ fügbarkeitsprüfung der Prüfung der ökonomischen Vorteilhaftigkeit zuzuordnen. Für die Verfügbarkeitsprüfung wurden verschiedene Ansätze entworfen. Einen umfassenden Überblick hierzu bietet Volling (2009, S. 127 ff.). Eine erste Klassifika­ tion geht auf Pibernik (2002, S. 349 ff.) zurück, der als Unterscheidungskriterium das Objekt der Verfügbarkeitsprüfung heranzieht: – Ansätze, welche die Verfügbarkeit auf der Ebene der zur Produktion und Aus­ lieferung des Kundenauftrags notwendigen Ressourcen (wie beispielsweise Ma­ schinen, Personal, Materialien) unterstützen, werden als kapazitätsbasierte Ver­ fügbarkeitsprüfung oder Available-to-Promise-Ansätze (ATP) bezeichnet (vgl. Schwedinger 1979; Guerrero/Kern 1988, S. 59 ff.). – Auf der Ebene der Endprodukte wird geprüft, ob die geforderten Mengen unter Be­ rücksichtigung aktueller Lagerbestände, geplanter Zugänge und bestehender an­ derer Lieferverpflichtungen an den Auftraggeber geliefert werden können. Diese Ansätze werden Capable-to-Promise-Ansätze (CTP) oder mengenmäßige Verfüg­ barkeitsprüfung genannt. CTP wird von vielen Autoren als Verallgemeinerung des ATP angesehen, da die für die Produktion der Endprodukte notwendigen, zusätz­ lichen Informationen über Kapazitäten und Bestände in Zwischenproduktlagern, ergänzt werden. Begrifflich werden die CTP-Ansätze dann den ATP-Ansätzen zu­ geordnet (vgl. Kilger/Schneeweiss 2000, S. 136 ff.). Nach dem Kriterium der Reaktionszeit auf Kundenanfragen werden die Ansätze in – zeitpunktbezogene (Real-Time), bei denen unmittelbar eine Information über die Verfügbarkeit und den Liefertermin erzeugt wird, und – zeitraumbezogene (Batch) Ansätze, bei denen diese Prüfung in bestimmten Zeit­ intervallen oder nach einer definierten Auftragseingangsmenge durchgeführt wird, unterteilt. Nach dem Kriterium der Interaktion des ATP-Systems mit dem ihm umge­ benen Enterprise Resource Planning beziehungsweise Advanced Planning System un­ terscheidet Pibernik (2002, S. 350 f.) schließlich zwischen – passiven ATP, welche mögliche Liefertermine der Aufträge bestimmen und somit Hinweise liefern, zu welchen Konditionen ein Angebot für den Nachfrager erstellt

Auftragsorientierte Produktionsprogrammplanung | 235



werden sollte oder ob die vom Nachfrager vorgeschlagenen Konditionen aus Sicht der Unternehmung technisch akzeptabel sind, und aktiven ATP, die durch die (automatisierte) Auftragsannahme das Produktions­ programm modifizieren oder Aufträge ablehnen beziehungsweise deren Konditio­ nen sogar anpassen. In diesen Fällen sind die Ansätze der aktiven Verfügbarkeits­ prüfung nicht der technischen Prüfung zuzuordnen, sondern der ökonomischen Prüfung.

Wurde der Auftrag im Falle von passiven ATP nicht bereits aus physikalisch-techni­ schen oder aus Gründen der materiellen Verfügbarkeit abgelehnt, erfolgt die ökono­ mische Prüfung des Angebotes, an dessen Ende dann die Ablehnung oder die Bestäti­ gung des Kundenauftrags steht beziehungsweise die Erstellung eines Angebotes, das durch den Nachfrager bestätigt werden kann. In vielen Situationen ist eine modellgestützte, automatisierte Entscheidung über Annahme oder Ablehnung von Kundenaufträgen durch aktive ATP sicherlich mög­ lich, beispielsweise bei weitestgehend standardisierten Produkten in B2B-Märkten mit einem relativ großen Kundenkreis oder in B2C-Gebrauchsgütermärkten. In an­ deren Situationen möchten Unternehmungen jedoch, neben den in den operativen Modellen abbildbaren Erfolgskriterien, weitere Kriterien berücksichtigen. So ist es beispielsweise schwierig, in den Modellen die Effekte der Entscheidung auf die Kun­ denbindung oder die mit der Auftragsannahme verbundenen Konsequenzen für den Aftersales-(Dienstleistungs-)markt abzuschätzen. Die Annahme kurzfristig unrenta­ bler Aufträge kann auch anderen, strategischen Zielen der Unternehmung dienen, deren Abbildung in den (operativen) Entscheidungsmodellen nur schwer möglich ist. Deshalb kann in diesen Fällen die Prüfung der ökonomischen Vorteilhaftigkeit nicht automatisiert durch Entscheidungsmodelle erfolgen, sie können lediglich Hinweise für die Vorteilhaftigkeit einer Annahmeentscheidung liefern. Für komplexere ATP/CTP-Ansätze sei auf die Literatur verweisen: einen sehr um­ fassenden Überblick bieten Framinan und Leisten (2010, S. 3080 ff.). Gössinger und Kalkowski (2015, S. 529 ff.) fassen die aktuellere Literatur zu aktiven CTP-Ansätzen zu­ sammen. Die konzeptionelle Basis der meisten Ansätze wurde in den 1970er Jahren ge­ legt. Exemplarisch für zwei grundsätzliche Entwicklungen und grundlegend in der deutschsprachigen Literatur, sind der zeitraumbezogene Ansatz von Jacob (1971) und die Überlegungen zu zeitpunktbezogenen Modellen durch Laux (1971), auf die deshalb im Folgenden detaillierter eingegangen werden soll.

236 | Hagen Salewski

3 Ausgewählte Modelle der Auftragsselektion 3.1 Zeitraumbezogenes Modell nach Jacob Den Ausgangspunkt der zeitraumbezogenen Ansätze bildet ein abgeschlossener Pla­ nungshorizont, für den alle Kundenaufträge mit vollständig bekannten Konditionen vorliegen. Aus dieser Auftragsmenge sollen dann durch das Planungsverfahren dieje­ nigen Aufträge ausgewählt werden, deren Kombination für die Unternehmung am vor­ teilhaftesten ist. Sollte die Kapazität ausreichend sein, um alle Aufträge auszuführen, dann ist die Kombination aller Aufträge, die einen positiven Deckungsbeitrag haben, optimal. Gibt es Kapazitätsengpässe, dann kann grundsätzlich auch der Ansatz für die marktorientierte Produktion genutzt werden, wie auch Steven es in diesem Handbuch vorschlägt. Nachteil dieser Vorgehensweise ist die Vernachlässigung der Möglichkeit, dass in der Planungsperiode zusätzliche Kundenaufträge relevant werden können, weil beispielsweise Verhandlungen über bestehende Anfragen abgeschlossen werden, Liefertermine späterer Aufträge sich verändern oder neue Kundenanfragen eintref­ fen. Um diese Möglichkeiten besser zu berücksichtigen, teilt Jacob (1971, S. 499 ff.) die im Planungszeitraum zur Verfügung stehende Gesamtkapazität jeder Anlage in die Teilklassen der freien und reservierten Kapazität auf und führt Quasikosten für die Nutzung der reservierten Kapazität ein. Dadurch wird ein Auftrag nur dann an­ genommen, wenn er trotz der eventuell auftretenden Quasikosten noch lohnend erscheint. Hierdurch kann es passieren, dass aus der Menge der vorliegenden Auf­ träge weniger Aufträge ausgewählt werden als die verfügbare Kapazität es zulässt. Die Reservekapazität steht dann für die Erfüllung besonders lukrativer, während der Planrealisation neu eingetroffener Kundenaufträge zur Verfügung. Offen bleibt hierbei jedoch die konkrete Festlegung der Quasikosten und des Anteils der freien Kapazität jedes relevanten Aggregates. Diese Planungsparameter müssen auf der Grundlage von Erfahrungen und Vorhersagen vom Management festgelegt werden. Im Folgenden soll das Modell von Jacob in einer leicht modifizierten Form dar­ gestellt werden. Der Produzent hat ein Portfolio standardisierter Produkte und eine Menge Kundenaufträge, über deren Annahme er entscheiden möchte. Für jeden Kun­ denauftrag, der angenommen wird, muss der Produzent eines der standardisierten Produkte auswählen, mit dem er einen Kundenauftrag erfüllen möchte. Hierzu erzeugt er einen Produktionsauftrag für ein standardisiertes Produkt. Für jeden angenomme­ nen Kundenauftrag wird ein Produktionsauftrag erzeugt. Zusätzlich muss er für jeden Kundenauftrag festlegen, ob das standardisierte Produkt individualisiert werden soll, um dem Kundenauftrag noch besser zu entsprechen. Abhängig vom gewählten Pro­ dukt werden dann zusätzliche Kapazitäten für die Individualisierung benötigt. Wenn das gewählte Produkt dem Kundenauftrag nicht komplett genügt, weil keine Indivi­

Auftragsorientierte Produktionsprogrammplanung | 237

dualisierung stattfindet, wird der erreichbare Deckungsbeitrag für diesen Kundenauf­ trag reduziert. Das Modell benutzt die folgenden Symbole: Indizes und Mengen i Index der Anlagen I Menge aller betrachteten Anlagen m Index der Kundenaufträge M Menge aller vorliegenden Kundenaufträge μ Index möglicher Produktionsaufträge Teilmenge aller möglichen Produktionsaufträge, die den Kundenauftrag m er­ Γm füllen können Modellparameter bi Anteil freier Kapazität der Anlage i D m Deckungsbeitrag des Kundenauftrags m D−mμ Deckungsbeitrag des Kundenauftrags m, der verloren geht, wenn der Produkti­ onsauftrag μ nicht individualisiert wird Quasi-Kosten der Nutzung der Anlage i qi R iμ Kapazitätsbedarf der Anlage i zur Produktion des Produktionsauftrags μ R+imμ Zusätzlicher Kapazitätsbedarf der Anlage i des Kundenauftrags m, bei Indivi­ dualisierung des Produktionsauftrags μ verfügbare Kapazität der Anlage i in der Planungsperiode Ti Entscheidungsvariablen G Bruttogewinn der gesamten Planungsperiode t im genutzte freie Kapazität der Anlage i zur Erfüllung des Kundenauftrags m t∗im genutzte reservierte Kapazität der Anlage i zur Erfüllung des Kundenauftrags m u mμ binäre Variable; Produktionsauftrag μ wird in der Planungsperiode ausgewählt, um Kundenauftrags m zu bedienen binäre Variable; es erfolgt keine Individualisierung des gewählten Standardpro­ vm duktes, um Kundenauftrag m zu erfüllen Erweitertes Jacob-Modell Zielfunktion: max! G = ∑ ∑ u mμ (D m − v m D−mμ ) − ∑ ∑ q i t∗im m∈M μ∈Γ

(1)

i∈I m∈M

Nebenbedingung: ∑ (t im + t∗im ) ≥ ∑ u mμ (∑ R iμ + (1 − v m ) ∑ R+imμ ) i∈I

μ∈Γ m

∑ t im ≤ b i T i m∈M

i∈I

∀m ∈ M

(2)

∀i ∈ I

(3)

i∈I

238 | Hagen Salewski ∑ t∗im ≤ (1 − b i ) T i

∀i ∈ I

(4)

∀i ∈ I; m ∈ M; μ ∈ Γ m

(5)

∀m ∈ M

(6)

t im ≥ 0

∀i ∈ I; m ∈ M

(7)

t∗im

∀i ∈ I; m ∈ M

(8)

∀m ∈ M; μ ∈ Γ m

(9)

m∈M

t im + t∗im ≤ u mμ (R iμ + (1 − v m ) R+imμ ) ∑ u mμ ≤ 1 μ∈Γ m

≥0

u mμ ∈ {0; 1} v m ∈ {0; 1}

∀m ∈ M

(10)

Zielsetzung des Modells ist eine Maximierung des Bruttogewinnes (1). Hierfür werden die mit den ausgewählten Aufträgen erreichbaren Deckungsbeiträge summiert, und die Summe der auftrags- und anlagenbezogenen Quasikosten wird subtrahiert. Die Höhe des erreichbaren Deckungsbeitrages jedes Kundenauftrags hängt davon ab, ob der individualisierte Kundenauftrag erfüllt wird (Deckungsbeitrag = D m ) oder ob der Kundenauftrag m durch ein standardisiertes Produkt μ (Deckungsbeitrag = D m − D−mμ ) bedient wird. Ein Kundenauftrag wird dann angenommen, wenn er durch genau einen Produktionsauftrag ausgeführt wird. Die Entscheidungsvariable v m zeigt an, ob ein Standardprodukt (v m = 1) oder ein nachbearbeitetes Standardprodukt (v m = 0) pro­ duziert wird. Quasikosten entstehen für jeden Auftrag m, bei dessen Produktion ein Teil der reservierten Kapazität (t∗im > 0) einer Anlage i für die Produktion genutzt wird. Die Vollständigkeitsbedingung (2) stellt sicher, dass für jeden Auftrag m die von je­ der Anlage i zur Produktion des Auftrags benötigte Kapazität auch bereitgestellt wer­ den kann, unabhängig davon, ob sie aus dem Pool der reservierten Kapazität t∗im oder der freien Kapazität t im stammt. Die benötigte Kapazität des Auftrags hängt davon ab, welches Standardprodukt μ für den Kundenauftrag genutzt wird und ob eine Indivi­ dualisierung des Produktes (v m = 0) stattfindet. Die Kapazitätsbedingungen (3 und 4) teilen die gesamte verfügbare Kapazität der betrachteten Planungsperiode T i in die freie Kapazität (3) und die reservierte Kapazität (4) auf. Der Quotient b i bestimmt hier­ bei für jede Anlage den Anteil freier Kapazität. Die sogenannte Einsatzbedingung (5) stellt sicher, dass maximal so viel Produktionskapazität eingeplant wird, wie für die Produktion tatsächlich benötigt wird. Sie ist notwendig, damit keine Kapazitätsarten substituiert werden. Die Nebenbedingungen (6) wählen das Standardprodukt aus, mit dem der Kundenauftrag erfüllt werden soll. Hierbei wird für jeden Kundenauftrag ma­ ximal ein Produktionsauftrag für ein Standardprodukt gewählt. Die Nebenbedingun­ gen (7) bis (10) sind die Nichtnegativitätsbedingungen. Die Summe aller zu produzierenden Standardprodukte kann aus der Lösung des Optimierungsproblems entnommen werden. Sie beträgt für einen beliebigen Produkt­ typ μ : X μ = ∑ u mμ . Das dargestellte Modell erweitert Jacobs’ Modell um die Betrach­ tung standardisierter Produkte. Werden die Produktionsaufträge und die Individua­ lisierungsmöglichkeiten als unterschiedliche Verfahren interpretiert, mit denen ein

Auftragsorientierte Produktionsprogrammplanung |

239

Kundenauftrag erfüllt werden kann, dann bildet das Modell auch eine Verfahrenswahl ab (vgl. Jacob 1962, S. 249 ff.; Czeranowsky 1974, S. 53 ff.). Andere von Jacob vorgeschla­ gene Erweiterungen umfassen Überstunden und intensitätsmäßige Anpassung (vgl. Jacob 1971, S. 510 ff.) oder die gemeinsame Berücksichtigung individueller Kundenauf­ träge sowie der Produktion für den anonymen Markt (vgl. z. B. Jacob 1971, S. 514 ff.). Eine Erweiterung auf mehrperiodisches Entscheidungen schlägt etwa Czeranowski (1974, S. 30 ff.) vor. In der vorgestellten Form lässt sich das Modell auch begrenzt für eine unterneh­ mungsübergreifende Steuerung in Netzwerken nutzen: Die Entscheidung über die Auf­ tragsannahme fällt die fokale Unternehmung im Netzwerk oder eine Organisation, die mit der Netzwerkkoordination betraut wird. Die freien Anlagenkapazitäten des vorge­ stellten Modells stellen in diesem Fall die von den Netzwerkteilnehmern zur Aufga­ benerfüllung bereitgestellten Kapazitäten dar. Die Netzwerkpartner sind bereit, zu­ sätzliche Kapazitäten bereitzustellen, wenn deren Nutzung höher vom Netzwerk ver­ gütet wird; dies entspricht der reservierten Kapazität des Modells. Wären zur Erfüllung einzelner Aufgaben unterschiedliche Netzwerkteilnehmer verfügbar, dann ließe sich das durch unterschiedliche Produktionsaufträge darstellen. Das Modell wählt dann immer die Kombination von Netzwerkpartnern aus, mit denen der Deckungsbeitrag des Netzwerkes maximiert wird. Außer acht gelassen wird dabei, dass die Abhängigkeiten zwischen unabhängi­ gen Unternehmungen oftmals vielfältiger und komplexer sind als die Abhängigkeiten zwischen einzelnen Anlagen und Aggregaten einer einzelnen Unternehmung. Insbe­ sondere die Aufgabenverteilung sowie die vorgelagerte Termin- und Verfügbarkeits­ planung können in Unternehmungsnetzwerken wesentlich komplexer werden.

3.2 Zeitpunktbezogenes Modell nach Laux Im Gegensatz zur zeitraumbezogenen Planung, bei der zu Beginn über alle vorlie­ genden Aufträge über den gesamten Planungshorizont entschieden wird, geht die zeitpunktbezogene Planung von einer anderen Entscheidungssituation aus (vgl. Laux 1971, S. 165 f.): Der Planungshorizont ist in T Perioden aufgeteilt, und zu Beginn je­ der Periode muss entschieden werden, welche der zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Aufträge angenommen werden und welche abgelehnt werden sollen. Entscheidungen können nicht verschoben und müssen zu diesem Zeitpunkt getroffen werden. Die Pro­ duktion der angenommenen Aufträge muss erst nach Ablauf der letzten Periode ab­ geschlossen sein. So ist es beispielsweise zulässig, zum ersten Entscheidungspunkt mehr Aufträge anzunehmen, als bis zum zweiten Entscheidungszeitpunkt fertigge­ stellt werden können. Die Konditionen (Kapazitätsbedarf, Deckungsbeiträge etc.) der Aufträge sind grundsätzlich bekannt und sicher. Es besteht jedoch Unsicherheit dar­ über, zu welchem Zeitpunkt ein Auftrag genau eintrifft. Das Modell von Laux geht wei­

240 | Hagen Salewski

ter davon aus, dass Wahrscheinlichkeiten für das Eintreffen eines Auftrags für jeden Zeitpunkt bestimmt werden können. Auf dieser Basis kann dann ein Zustandsbaum generiert werden, der alle Auf­ tragskombinationen zu den verschiedenen Zeitpunkten abbildet (vgl. auch Goodman/ Baurmeister 1976, S. 790 f.; Stark/Mayer 1971, S. 469 ff.). Eine Kombination vorliegen­ der Aufträge zu einem bestimmten Zeitpunkt wird als Umweltzustand bezeichnet. Die Übergangswahrscheinlichkeiten von einem Zustand zu allen möglichen nachfolgen­ den Zuständen kann ebenfalls aus den vorliegenden Informationen ermittelt werden. Abbildung 2 zeigt exemplarisch einen Entscheidungsbaum. Die Knoten nummerieren die Zustände, und auf den Kanten sind die Eintrittswahrscheinlichkeiten der nach­ folgenden Zustände angegeben. Zum Zeitpunkt 1 liegt mit Sicherheit der Zustand 1 vor, also eine Reihe von Aufträgen, die angenommen werden können. Mit einer Wahr­ scheinlichkeit von 0,3 kommt es anschließend zum Eintreffen von Aufträgen, die den Zustand 2 beschreiben und mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,7 zum Zustand 3. Diese Zustände selbst haben dann im Beispiel zwei beziehungsweise drei mögliche nachfol­ gende Zustände. Ziel des Entscheiders ist es, die erwarteten Deckungsbeiträge der angenomme­ nen Aufträge über den gesamten Planungshorizont zu maximieren. Hierzu nutzt er eine flexible Planung und entscheidet zu jedem Zeitpunkt auf Grundlage des vor­ liegenden Umweltzustandes und der möglichen nachfolgenden Zustände und ihrer Eintrittswahrscheinlichkeiten über Annahme oder Ablehnung der dann vorliegenden Aufträge. Im Folgenden soll das Modell von Laux bei unsicheren Erwartungen (vgl. Laux 1971, S. 171 ff.) skizziert werden. Er geht nicht explizit von unterschiedlichen Aggregaten aus und unterstellt zudem, dass alle Aufträge die gleichen Kapazitätsan­ forderungen haben. Hierdurch genügt es, die Anzahl der angenommenen Aufträge zu betrachten und in jeder Periode darauf zu achten, dass sie nicht größer ist als die Anzahl der Aufträge, die maximal erbracht werden kann. Je nachdem, in welcher Periode (zu welchem Umweltzustand) ein Auftrag auftritt, bekommt er einen anderen Index. Mehrere Indices können somit den gleichen Kundenauftrag abbilden. Da die Zeitpunkt 1

1 0,3

Zeitpunkt 2

2

0,5 Zeitpunkt 3

0,7

4

3

0,5 5

Abb. 2: Beispiel eines Zustandsbaumes.

0,1 6

0,3

0,6 7

8

Auftragsorientierte Produktionsprogrammplanung | 241

vorliegenden Aufträge einen (Umwelt-)Zustand beschreiben und zu jedem realisier­ ten Zustand final die Auftragsannahmen entschieden werden, ist es unmöglich, den gleichen Auftrag mehr als einmal anzunehmen. Das Modell verwendet die folgenden Symbole: Indizes und Mengen n Index der Aufträge Nz Teilmenge aller Aufträge eines Zustandes z 󸀠󸀠 󸀠󸀠 N zz󸀠 Teilmenge aller Aufträge in den Zuständen z ∈ Z zz󸀠 (siehe unten) t Index der Zeitpunkte T Menge betrachteter (zukünftiger) Zeitpunkte z Index möglicher Zustände z∗ Index des Zustandes, der dem Zustand z unmittelbar vorausgeht Zt Teilmenge möglicher Zustände zum Zeitpunkt t z󸀠󸀠 Teilmenge der nachfolgenden Zustände, die, beginnend bei Zustand z󸀠 , auf ei­ Z z󸀠 ner Kantenfolge bis einschließlich des Zustand z󸀠󸀠 liegen; Für das Beispiel in Abbildung 2: Z16 = {1, 3, 6}, Z25 = {2, 5} Modellparameter dn Deckungsbeitrag des Auftrags n κ Höchstzahl der Aufträge, die in einer Periode abgewickelt werden können Eintrittswahrscheinlichkeit des Zustandes z wz Entscheidungsvariablen G Gesamtdeckungsbeitrag über alle betrachteten Zeitpunkte M z ganze Zahl; Anzahl der Aufträge, die in einem Zustand z angenommen werden ganze Zahl; Anzahl der Aufträge, die in der auf den Zustand z folgenden Periode Pz abgewickelt werden xn binäre Variable; Auftrag n wird angenommen Stochastisches Modell von Laux Zielfunktion: max! G = ∑ ( ∑ w z ∑ d n x n ) t∈T

z∈Z T

(11)

n∈N 1z

Nebenbedingung: Mz = ∑ xn

∀z ∈ Z

(12)

∀z ∈ Z

(13)

n∈N z

Pz ≤ κ P1 ≤ M1

(14)

Pz ≤ ∑ M − ∑ P z󸀠

z󸀠 ∈Z1z

z󸀠 ∈Z1z∗

z󸀠

∀z ∈

∪ Zt

t∈T|t>2

(15)

242 | Hagen Salewski Mz ∈ ℕ

∀z ∈ Z

(16)

Pz ∈ ℕ

∀z ∈ Z

(17)

x n ∈ {0; 1}

∀n ∈ N Z ; z ∈ Z

(18)

Ziel des Modells ist die risikoneutrale Maximierung des erwarteten Gesamtdeckungs­ beitrages (11). Hierzu werden für alle erreichbaren Zustände die Deckungsbeiträge er­ mittelt und mit der Eintrittswahrscheinlichkeit des Zustandes gewichtet. Die Neben­ bedingungen (12) berechnen die Anzahl und damit auch den Kapazitätsbedarf der im Zustand z angenommenen Aufträge. Die Anzahl fertiggestellter Aufträge in jeder auf einem Entscheidungszeitpunkt folgenden Periode darf die Anzahl maximal in einer Periode fertigstellbarer Aufträge κ nicht übersteigen (13). In der ersten Periode können auch nicht mehr Aufträge fertiggestellt werden, als in der ersten Entscheidungssitua­ tion angenommen wurden (14). Es können aber mehr Aufträge angenommen werden, als in der folgenden Periode fertigstellt werden können. Für alle Perioden, die nach einer Entscheidungssituation folgen, die nicht die erste Entscheidungssituation ist, darf die Anzahl fertiggestellter Aufträge nicht größer sein als die Differenz aus der An­ zahl der bis dahin insgesamt angenommenen Aufträge und der Anzahl der bis zur Vor­ gängerperiode fertiggestellten Aufträge (15). Die Nichtnegativitätsbedingungen finden sich in den Nebenbedingungen (16) bis (18). Gerade die Annahmen, dass alle Aufträge den gleichen Kapazitätsbedarf haben und keine Differenzierung von Kapazitätsarten erfolgt, schränken die praktische Ein­ setzbarkeit des Modells deutlich ein. Das Modell lässt sich aber vergleichsweise ein­ fach um auftragsspezifische Kapazitätsbedarfe und die explizite Berücksichtigung un­ terschiedlicher Aggregate mit unterschiedlicher Kapazität erweitern. Problematisch bleibt jedoch die genaue Schätzung der Ankunftszeiten der Aufträge und die Annah­ me, dass vor dem Eintreffen alle anderen Konditionen mit Sicherheit bekannt sein. Da jeder Zustand im Entscheidungsbaum durch den Entscheidungszeitpunkt und die vorliegenden Aufträgen charakterisiert ist, wächst aufgrund der Kombinatorik der Zu­ standsbaum mit steigender Anzahl berücksichtigter Aufträge überproportional und kann unter Umständen nicht mehr vollständig berücksichtigt werden.

4 Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag grenzt zunächst das Thema der kundenauftragsorientierten Produktion von der Produktion für den anonymen Markt ab. Die Annahme von Kun­ denaufträgen gestaltet sich meist als interaktiver Prozess zwischen Nachfragern und Anbietern. Je nach Produkt kann nach einer Kundenanfrage auf der Anbieterseite eine technische Prüfung der Anfrage erfolgen. Im Rahmen dieser Prüfung, kann es zur Ver­ fügbarkeitsprüfung kommen, in der kontrolliert wird, ob die Konditionen des Auftrags durch das Produktionssystem des Anbieters erfüllt werden können. Schließlich wird

Auftragsorientierte Produktionsprogrammplanung | 243

eine Entscheidung über die Annahme auf der Grundlage einer Prüfung auf ökonomi­ sche Vorteilhaftigkeit des Auftrags getroffen. Bei Ablehnung eines vorliegenden Kun­ denauftrags kann der Produzent gegebenfalls dem Kunden ein für ihn ökonomisch vorteilhafteres Angebot vorlegen oder den Kunden um eine neue Anfrage bitten. Zur Unterstützung der Überprüfung der ökonomischen Vorteilhaftigkeit wurden in der Vergangenheit verschiedene Ansätze entwickelt. Durch die Abhängigkeit von konkreten Kundenaufträgen ergeben sich zeitliche und inhaltliche Unsicherheiten bezüglich der Aufträge, die in den entsprechenden Ansätzen berücksichtigt werden sollen. Es wurden zwei klassische Ansätze vorgestellt: Der zeitraumbezogene Ansatz von Jacob und der zeitpunktbezogene Ansatz von Laux. Beide Ansätze lassen vie­ le praktisch relevante Aspekte, wie beispielsweise die Losbildung (vgl. Adam 1969, S. 62 f.) oder stochastische Arbeitsgangfolgen (vgl. Czeranowsky 1974, S. 115 ff.), außer Betracht. Als Alternativen zu den beiden vorgestellten klassischen Ansätzen bieten sich die neueren aktiven (advanced) Available-to-Promise- beziehungsweise Capable-to-Pro­ mise-Ansätze (vgl. Volling 2009, S. 127 ff. für einen Überblick) an. Sie unterstützen – je nach vorliegendem Ansatz – nicht nur die Verfügbarkeitsprüfung, sondern auch die Aufgabe der Auftragsselektion sowie der Auswahl von Anpassungsmaßnahmen (vgl. Kalkowski 2017, S. 9 ff.) bei Störungen. Das ursprünglich aus dem Dienstleis­ tungsbereich stammende Revenue Management kann ebenfalls Anwendung finden. Hierbei werden die Opportunitätskosten eines Auftrages, dessen Bearbeitung zu­ künftige Aufträge verdrängt, berücksichtigt (vgl. Spengler/Volling/Hintsches 2008, S. 125 ff.; Quante/Meyr/Fleischmann 2009, S. 31 ff.)². Allen genannten Ansätzen ist gemeinsam, dass sie das offene Entscheidungsfeld schließen. Alternative Vorgehensweisen versuchen, die Offenheit des Entscheidungs­ feldes beizubehalten. Ein beispielhaftes Modell für ein flexibilitätsorientiertes Modell zur Auftragsannahme auf Basis der opportunistischen Koordination (vgl. Fox/Kempf 1985, S. 487) stellen beispielsweise Buzacott et al. (2010, S. 197 ff.), Corsten, Gössinger und Schneiker (2001, S. 307 ff.) sowie Gössinger (2000) vor. In dem Modell werden ne­ ben vollständig definierten Kundenaufträgen auch solche Aufträge beachtet, die sich im fortgeschrittenen Verhandlungsstadium befinden. Die Optimierung zweier gegen­ läufiger Flexibilitätsindikatoren erfolgt dann mittels rollierender Planung und einem situationsspezifischen Planungshorizont für jeden Auftrag sequentiell und ohne ex­ plizite Reservierung von Kapazitätsanteilen. Das Ziel der Deckungsbeitrags- oder Ge­ winnmaximierung wird hierbei als Nebenziel in den Restriktionen modelliert.

2 Vgl. hierzu auch den Beitrag zum Revenue Management von Gönsch im vorliegenden Handbuch.

244 | Hagen Salewski

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Auftragsorientierte Produktionsprogrammplanung |

245

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Jochen Gönsch

Revenue Management mit flexiblen Produkten 1 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 4 4.1 4.2 4.3 5 6

Einleitung | 246 Revenue Management | 248 Grundmodell der Kapazitätssteuerung | 248 Grundmodell des Dynamic Pricing | 250 Flexible Produkte | 250 Opake Produkte | 252 Flexible Produkte im eigentlichen Sinne | 255 Kapazitätssteuerung mit flexiblen Produkten | 257 Opake Produkte | 257 Flexible Produkte im eigentlichen Sinne | 259 Upgrades | 263 Dynamic Pricing mit flexiblen Produkten | 265 Design und Bepreisung flexibler Produkte | 266 Literatur | 268

Zusammenfassung. Revenue Management umfasst eine Reihe quantitativer Metho­ den zur gewinnmaximalen Ausgestaltung von Absatzprozessen bei stochastischer Nachfrage und gemeinsam genutzten, kurzfristig nicht anpassbaren Kapazitäten. Der vorliegende Beitrag führt in das Revenue Management ein, welches seit etwa drei Jahrzehnten in immer mehr Branchen erfolgreich eingesetzt wird. Anschließend konzentriert er sich auf die Vorstellung aktueller Forschung zu sogenannten flexi­ blen Produkten, die infolge neuer Vertriebswege wie des Internets in den letzten Jahren vermehrt angeboten werden. Ihr Kennzeichen ist, dass die zu ihrer Erstellung notwendigen Ressourcen zum Zeitpunkt ihres Verkaufes noch nicht festgelegt sind. Somit ermöglichen diese Produkte dem Anbieter eine größere Flexibilität, um bei­ spielsweise auf unvorhergesehene Nachfrageschwankungen zu reagieren. Darüber hinaus werden sie erfolgreich zur Marktsegmentierung eingesetzt.

1 Einleitung In Folge der Deregulierung der Passagierluftfahrt in den USA Ende der 1970er Jahre drängten zahlreiche neue Wettbewerber mit verlockend günstigen Flugangeboten auf den Markt. Während viele Geschäftsreisende den bereits etablierten Fluglinien auf­ grund der häufigeren Frequenzen und der gut abgestimmten Umsteigeverbindungen treu blieben, entschieden sich Privatreisende zunehmend für die neu angebotenen Punkt-zu-Punkt Verbindungen. Die traditionellen Gesellschaften steckten folglich in https://doi.org/10.1515/9783110473803-014

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einem Dilemma: Um weiterhin profitabel arbeiten zu können, mussten sie Privatkun­ den zurückgewinnen, aber aufgrund der netzbedingt höheren Kosten konnten sie ih­ re Preise nicht generell auf das Niveau der Wettbewerber senken. Als Erste reagierte die Fluggesellschaft American Airlines mit der zusätzlichen Einführung eines speziell an Privatreisende gerichteten, wettbewerbsfähigen Tarifs. Das Angebot dieses neuen „Super Saver Fare“ konfrontierte die Fluggesellschaft mit völlig neuartigen, erfolgskri­ tischen Fragestellungen: Wie viele der günstigen Tickets sollten verkauft werden, oh­ ne dass für die wesentlich lukrativeren und in der Regel später buchenden Geschäfts­ kunden Plätze verloren gingen? Und wie konnte überhaupt verhindert werden, dass diese „abwandern“ und Tickets des neuen Tarifs erwerben? Die Beantwortung dieser Fragen stellte den Startschuss zur rapiden Entwicklung des Revenue Management dar, das heute in den verschiedensten Industriezweigen erfolgreich angewendet wird. Es umfasst eine Reihe quantitativer Methoden zur Ab­ satzsteuerung angesichts zeitlich verteilt eintreffender Nachfrage unterschiedlicher Wertigkeit. Dabei wird das Ziel verfolgt, die in einem begrenzten Zeitraum verfügbare, unflexible Kapazität möglichst effizient zu nutzen. Gegenstand des vorliegenden Beitrages ist ein vergleichsweise neuer Aspekt des Revenue Management, der durch den Verkauf von Produkten oder Dienstleistungen über das Internet entscheidend vereinfacht wird. Die betrachteten flexiblen Produkte räumen dem Anbieter auch nach dem Verkauf noch einen zuvor festgelegten Gestal­ tungsspielraum ein. Häufig kauft der Kunde anstelle eines vollständig definierten Pro­ duktes ein Produktbündel, aus dem der Anbieter eine Alternative auswählt. Populär wurde das Konzept durch die Online-Flug- und Hotelbuchungsseite priceline.com. Hier verschweigt der Anbieter zunächst die genaue Abflug- und Ankunftszeit eines Fluges oder Marke und exakten Standort eines Hotels. Erst nach der verbindlichen Buchung erfährt der Kunde diese Details. Allerdings verwendete Priceline anfangs ausschließlich ein spezielles Preismodell, bei dem der Kunde Gebote abgibt (NYOP; Name-Your-Own-Price). Dieses erfuhr schnell in der Forschung eine große Aufmerk­ samkeit (vgl. z. B. Fay 2004; Hann/Terwiesch 2003; Spann/Skiera/Schäfers 2004) und rückte das spezielle Design der Produkte in den Hintergrund. Forschung und Praxis zeigten jedoch schnell, dass die Vorteile flexibler Produkte unabhängig von der Tourismusindustrie oder dem NYOP-Verkaufsformat sind. So wird das Konzept beispielsweise von Online-Einzelhändlern angewandt („Sie wählen die Größe, wir die Farbe Ihres T-Shirts“). Die aus Kundensicht flexiblen Produkten inhä­ rente Unsicherheit eröffnet die Möglichkeit zur Marktsegmentierung nach der Stärke der Präferenz für einzelne Alternativen des flexiblen Produktes (vgl. Fay/Xie 2008). So möchte vielleicht ein Geschäftsreisender mit hoher Zahlungsbereitschaft in seinem Konferenzhotel schlafen, wohingegen dem Touristen jedes Innenstadthotel einer be­ stimmten Kategorie recht ist und er sich vielleicht nur das günstigere flexible Produkt leisten kann oder will. Außerdem können flexible Produkte aufgrund der verzögerten Entscheidung des Anbieters diesem eine bessere Auslastung knapper Kapazitäten er­ möglichen (vgl. Petrick et al. 2012).

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2 Revenue Management Historisch – wie auch methodisch – lassen sich im Revenue Management zwei grund­ sätzliche Ansätze unterscheiden. In der Kapazitätssteuerung (engl. Capacity Control) wird über das Angebot von Produkten mit vorgegebenen Preisen entschieden. In der Passagierluftfahrt sind dies etwa die verschiedenen Buchungsklassen, welche eine identische Kernleistung (z. B. ein Sitzplatz auf einem Flug von A nach B in Beförde­ rungsklasse Economy) zu unterschiedlichen Konditionen (Umbuchbarkeit, Stornie­ rungsmöglichkeiten, Preis etc.) beinhalten. Ebenfalls bekannt sind die Sparpreise der Deutschen Bahn (19 €, 29 € etc.). Im Gegensatz dazu hat das Dynamic Pricing die Steuerung der Nachfrage durch Anpassung der Preise im Zeitablauf zum Gegen­ stand. Meist handelt es sich dabei um eine rein anbieterseitige, nicht verhandelbare Preisvorgabe.

2.1 Grundmodell der Kapazitätssteuerung Im Folgenden stellen wir knapp das stochastische, dynamische Grundmodell der Kapazitätssteuerung vor, dabei beschränken wir uns zur Vereinfachung auf Indepen­ dent Demand, welcher unterstellt, dass die Produkte sich jeweils an klar getrennte Kundensegmente richten. Für eine ausführliche Darstellung der Grundlagen und die Berücksichtigung von Kundenwahlverhalten wird auf die Lehrbücher von Klein und Steinhardt (2008) sowie Talluri und van Ryzin (2004) und die aktuelle Überblicksar­ beit von Straus, Klein und Steinhardt (2018) verwiesen. Das betrachtete Unternehmen vermarkte Ressourcen h ∈ H = {1, . . . , m} mit ei­ ner Anfangskapazität von C h Einheiten. Die regulären Produkte i ∈ I = {1, . . . , n} werden jeweils zum Preis von r i Geldeinheiten angeboten und benötigen je abgesetz­ ter Mengeneinheit a hi Kapazitätseinheiten der Ressource h. Der Vektor ai gibt den Kapazitätsverbrauch von Produkt i an. Der Verkauf erfolgt ausschließlich während ei­ nes definierten Verkaufszeitraumes. Dieser umfasst T absteigend nummerierte Mikro­ perioden, deren Länge so gewählt ist, dass in einer Mikroperiode t = T, . . . , 1 höchs­ tens eine Anfrage nach einem Produkt eintrifft. Die entsprechende Wahrscheinlich­ keit einer Anfrage nach Produkt i in Periode t werde mit p i (t) bezeichnet. Somit trifft mit der Wahrscheinlichkeit p0 (t) = 1 − ∑i∈I p i (t) in der Periode t keine Anfrage nach einem Produkt ein. Die Maximierung des erwarteten Erlöses wird üblicherweise als stochastisches, dynamisches Optimierungsproblem (dynamisches Programm, DP) un­ ter Verwendung der folgenden Bellman’schen Funktionalgleichung formuliert: V(c, t) = ∑ p i (t) ⋅ max {V (c, t − 1) , r i + V (c − ai , t − 1)} + p0 (t) ⋅ V(c, t − 1)

(1)

i∈I

für alle 0 ≤ c ≤ C und t = T, . . . , 1. Die Wertfunktion V(c, t) gibt den maximalen zu erwartenden Resterlös ab Periode t bei einer verfügbaren Restkapazität von c Kapazi­

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tätseinheiten an. Da die Wertfunktion rekursiv definiert ist, sind folgende Randbedin­ gungen notwendig: V(c, t) = −∞, falls ein c h < 0 sowie V (c, 0) = 0, falls c ≥ 0. In jeder Periode wird für eine eintreffende Anfrage eine Entscheidung über An­ nahme oder Ablehnung getroffen, in der Regel ist dies als Entscheidung über die an­ zubietenden Produkte zu interpretieren. Die Anfrage wird genau dann angenommen, falls gilt r i + V (c − ai , t − 1) ≥ V(c, t − 1), d. h. r i ≥ V (c, t − 1) − V(c − ai , t − 1). Der Term auf der rechten Seite gibt die Opportunitätskosten von Produkt i in Periode t an. Diese werden aus der Differenz des zu erwartenden Erlöses ab Periode t − 1 jeweils bei einer Restkapazität von c beziehungsweise c − ai Kapazitätseinheiten ermittelt. Dies bedeutet anschaulich, dass die Anfrage genau dann abgelehnt wird, wenn zu erwar­ ten ist, dass die benötigten Kapazitätseinheiten später zu einem höheren Preis (als Bestandteil eines anderen Produktes) verkauft werden können. Wir erhalten somit ei­ ne Entscheidungsregel oder Politik, die in jedem Zustand (c, t) des Systems angibt, welche Produkte anzubieten sind. Mit steigender Ressourcenzahl m wird die rekursive Berechnung von (1) schnell extrem aufwändig, da in jeder Periode alle möglichen Kombinationen von Restkapa­ zitäten betrachtet werden müssen. Daher wurden verschiedene Ersatzmodelle ent­ wickelt, von denen im Folgenden mit dem intuitiven Deterministic Linear Programm (DLP) das verbreitetste vorgestellt wird. Formal entsteht dieses lineare Programm durch die Substitution der Erwartungswerte für die stochastischen Verkäufe in (1). Sein Zielfunktionswert stellt eine obere Schranke für V(c, t) dar: V DLP (c, t) = max ∑ r i ⋅ x i

(2)

i∈I

unter den Nebenbedingungen ∑ a hi ⋅ x i ≤ c h

∀h ∈ H

(3)

xi ≤ Di

∀i ∈ I

(4)

xi ≥ 0

∀i ∈ I

(5)

i∈I

Dabei bezeichnet x i das zum Verkauf vorgesehene Kontingent von Produkt i, seine erwartete (Rest-)Nachfrage ist D i = ∑tt 󸀠 =1 p i (t󸀠 ). Die Zielfunktion (2) maximiert den Er­ lös. Nebenbedingungen (3) stellen die Einhaltung der Kapazitätsrestriktionen sicher, Nebenbedingungen (4) beschränken die Kontingente auf die erwartete Nachfrage. Ne­ benbedingungen (5) ersetzen bewusst intuitiv zu erwartende Ganzzahligkeitsbedin­ gungen, um eine einfache Lösbarkeit und die Gewinnung von Schattenpreisen π h aus den Dualvariablen der Kapazitätsrestriktionen (3) zu ermöglichen. Diese werden als Wert der entsprechenden Ressourcen interpretiert und die Summe der Schattenpreise der von einem Produkt i genutzten Ressourcen ∑h∈H a hi ⋅ π h wird oftmals als Approxi­ mation der oben genannten Opportunitätskosten in Entscheidungsregeln verwendet (sogenannte Bid-Preis-Steuerung).

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2.2 Grundmodell des Dynamic Pricing Die Grundlagen des Dynamic Pricing werden in den Lehrbüchern von Talluri und van Ryzin (2004) sowie Klein und Steinhardt (2008) ausführlich dargestellt. Zahlrei­ che Überblicksartikel ordnen existierende Veröffentlichungen. Klassische Literatur­ überblicke zum Dynamic Pricing im Allgemeinen sind Bitran und Caldentey (2003), Chiang et al. (2007) sowie Gönsch, Klein und Steinhardt (2009). Neuere Überblicks­ arbeiten fokussieren gegenwärtig besonders intensiv beforschte Aspekte. So geben Gönsch et al. (2013a) einen Überblick über Dynamic Pricing mit strategischen Kunden, welche Preissenkungen des Anbieters antizipieren und durch Wahl ihres Kaufzeit­ punktes ihren intertemporalen Nutzen maximieren. Den Boer (2015) fasst den aktuel­ len Forschungsstand zum Dynamic Pricing mit anbieterseitigem Lernen zusammen. Gönsch (2017a) sammelt aktuelle Arbeiten zu Risikoaversion und Robustheit in Dyna­ mic Pricing und Kapazitätssteuerung. Das grundlegende Modell (wir stellen hier nur den Fall eines Produktes dar) weist große Ähnlichkeiten zur Kapazitätssteuerung auf. Das betrachtete Unternehmen ver­ marktet einen vorgegebenen Lagerbestand C eines einzigen Produktes in einem Ver­ kaufszeitraum der Länge T. Der Angebotspreis r t kann zu Beginn jeder Mikroperiode t = T, . . . , 1 in Abhängigkeit von der aktuellen Restkapazität 0 ≤ c ≤ C angepasst werden. Mit Wahrscheinlichkeit p(r t ) findet ein Verkauf statt. Die Maximierung des erwarteten Erlöses wird als stochastisches, dynamisches Optimierungsproblem unter Verwendung der Bellmanschen Funktionalgleichung formuliert: V(c, t) = max (p (r t ) ⋅ (r t + V (c − 1, t − 1)) + (1 − p (r t )) ⋅ V (c, t − 1)) rt

(6)

für alle 0 ≤ c ≤ C und t = T, . . . , 1. Die Wertfunktion V(c, t) gibt wiederum den maximalen zu erwartenden Resterlös ab Periode t bei einer verfügbaren Restkapazität von c Einheiten an. Erneut sind folgende Randbedingungen notwendig: V(c, t) = −∞, falls c < 0 sowie V (c, 0) = 0, falls c ≥ 0. Dabei kann der Preis r t aus einer diskreten oder kontinuierlichen Menge möglicher Preise gewählt werden.

3 Flexible Produkte Der rasante technische Fortschritt im Bereich der Informations- und Kommunikati­ onstechnologie ermöglicht Anbietern heute Verkaufsstrategien, die noch vor wenigen Jahren undenkbar erschienen. Insbesondere das Angebot unvollständig spezifizierter Produkte, deren genaue Ausgestaltung dem Kunden erst nach dem Kauf bekannt ge­ geben wird, erfreut sich wachsender Beliebtheit, wie die folgenden Beispiele aus dem Tourismusbereich zeigen:

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251

Fluggesellschaften¹ und Intermediäre wie Priceline und Hotwire verkaufen unter anderem Flüge und Hotels, wobei sie dem Kunden jedoch erst nach der verbindli­ chen Buchung Details wie Zielort und/oder die genaue Abflug- und Ankunftszeit mitteilen. Das Unternehmen AIDA Cruises bietet unter dem Namen JUST AIDA Kreuzfahrten an, ohne Route oder Reisezeitraum genau festzulegen. Diese Daten erfährt der Kunde 7 Tage vor Abreise. In den Katalogen zahlreicher Reiseveranstalter wie z. B. TUI oder Thomas Cook sind sogenannte Glücksreisen zu finden. Bei diesen ist dem Kunden das exakte Hotel unbekannt, er bestimmt lediglich Zeitraum, Zielgebiet und Sternekategorie seiner Urlaubsreise.

Aber auch Internet-Händler physischer Produkte bieten flexible Produkte an, so bei­ spielsweise swimoutlet.com mit dem „TYR Men’s Swimsuit Grab Bag Jammer“.² Wie in den genannten Beispielen besteht ein solches unvollständig spezifiziertes Produkt meist aus einem – dem Kunden bekannten – Bündel regulärer Produkte (Al­ ternativen), aus dem der Anbieter nach dem Verkauf eine Alternative auswählen kann. Einerseits machen solche zum Zeitpunkt des Verkaufes unvollständig spezifizierten Produkte eine Anpassung der etablierten Revenue-Management-Verfahren nötig, an­ dererseits bieten diese innovativen Produkte dem Anbieter zwei wesentliche Vorteile: – Bedingt durch die zum Kaufzeitpunkt bestehende Unsicherheit unterscheidet sich das flexible Produkt grundlegend von regulären Produkten. Damit steht mit der Stärke der Präferenz für die einzelnen Alternativen ein zusätzliches Seg­ mentierungskriterium zur Verfügung, das dem Anbieter die Bereitstellung eines günstigeren, inferioren Produkts ermöglicht, welches sich an Kunden mit gerin­ gerer Zahlungsbereitschaft richtet (Marketingeffekt). Um die gewünschte Nach­ frageinduktion zu erreichen, müssen Preisabschlag und Unsicherheit sorgfältig austariert werden, so dass das Produkt einerseits noch attraktiv ist, andererseits aber nicht zu viel Nachfrage nach regulären, höherwertigeren Produkten kanni­ balisiert. – Sofern der Anbieter sich erst eine gewisse Zeit nach dem Verkauf auf die genaue Ausgestaltung des Produkts festlegt, kann er von erweiterten Steuerungsmöglich­ keiten profitieren (Steuerungseffekt). Zum Zeitpunkt dieser Zuordnung der ver­ kauften flexiblen Produkte zu Alternativen ist bereits weitere Nachfrage eingetrof­ fen und der noch verbleibende Verkaufszeitraum kürzer, so dass die Unsicherheit bezüglich der noch eintreffenden Nachfrage geringer ausfällt als zum Zeitpunkt des Verkaufs. Daher kann insbesondere bei einer schwer zu prognostizierenden Nachfrage die Kapazitätsauslastung verbessert werden. 1 Zum Beispiel Eurowings: http://www.eurowings.com/blindbooking, Lufthansa: http://www.lufthansa-surprise.com 2 www.swimoutlet.com/product_p/2046.htm

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Flexible Produkte im weiteren Sinne Zeitpunkt der Festlegung:

ad hoc

verzögert

Produkttyp:

opake Produkte

flexible Produkte im eigentlichen Sinne Upgrades

Abb. 1: Systematik flexibler Produkte im weiteren Sinne.

Der Zeitpunkt der Festlegung der Zuordnung durch den Anbieter wird zur weiteren Un­ terteilung flexibler Produkte im weiteren Sinne genutzt (vgl. Abbildung 1). Erfolgt die­ se Festlegung unmittelbar nach dem Verkauf (ad-hoc), handelt es sich um opake Pro­ dukte. Dagegen werden flexible Produkte im eigentlichen Sinne verzögert, also zu einem echt späteren Zeitpunkt zugeteilt (postponed). Bei beiden Typen kann die Flexibilität implizit oder explizit sein. So werden mögliche Transportwege von Fracht dem Kun­ den meist nicht mitgeteilt (implizit), obige Beispiele dagegen setzen die Information des Kunden voraus (explizit). In der Literatur werden die Begriffe opakes und flexibles Produkt jedoch zum Teil synonym gebraucht. Der älteste, bekannteste und am weitesten verbreitete Typ flexibler Produkte im weiteren Sinne sind jedoch Upgrades. Diese sind implizit, da der Kunde zum ursprüng­ lichen Preis eine höherwertigere Leistung erhält und diese annahmegemäß immer ak­ zeptiert. Formal handelt es sich bei Upgrades je nach Festlegungszeitpunkt um einen Spezialfall opaker oder flexibler Produkte im eigentlichen Sinne. Im Gegensatz zum Marketing vieler Unternehmen spricht die Literatur von einem Upsell (hier nicht be­ trachtet), falls der Kunde einen Aufpreis für die höherwertigere Leistung zahlen soll. Für Forschung zu Upsells siehe beispielsweise Gallego und Stefanescu (2009) sowie die darin angegebenen Quellen. Verwandt ist auch der Verkauf sogenannter bedingter Upgrades beziehungsweise Standby Upgrades (eigentlich Upsells) wie etwa von Cui, Duenyas und Sahin (2017) oder Yilmaz, Pekün und Ferguson (2017) betrachtet.

3.1 Opake Produkte 3.1.1 Vorteile Insbesondere im Bereich des Personentransports und der Touristik zeigen zahlreiche Beispiele den erfolgreichen Einsatz dieser Produkte (vgl. auch Xie/Fay 2014, S. 318 ff.). Da Geschäftsreisende mit hoher Zahlungsbereitschaft häufig relativ spät buchen, grei­ fen die Anbieter in zahlreichen Märkten auf eine zeitliche Preisdifferenzierung durch

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Vorausbuchungsfristen zurück. Hier können opake Produkte auch gegen Ende des Verkaufszeitraumes noch eine effektive Segmentierung ermöglichen, da Geschäftsrei­ sende die diesen Produkten inhärente Unsicherheit kaum in Kauf nehmen wollen. Darüber hinaus ergänzen opake Produkte die gegenwärtigen Bestrebungen zahl­ reicher Anbieter, insbesondere ihre höherwertigen Produkte verstärkt über eigene Absatzkanäle zu vertreiben. Ein Intermediär (z. B. Hotwire, Priceline), der die Produk­ te verschiedener Unternehmen kombiniert und zunächst auch die Identität des An­ bieters verschweigt, schafft einen neuen, anonymen Absatzkanal neben dem Vertrieb unter dem eigenen Markennamen und ermöglicht so, effektiv eine im Kern identische Leistung gleichzeitig zu verschiedenen Preisen anzubieten und dabei die volle Kon­ trolle über den Absatzprozess der höherwertigeren, regulären Produkte zu behalten. Opake Produkte sind aus Kundensicht in der Regel dann attraktiv, wenn die Alterna­ tiven, aus denen der Anbieter wählen kann, hinreichend ähnlich sind. Daher kann ein Anbieter sogar auf einen Intermediär angewiesen sein, um überhaupt derartige Produkte anbieten zu können. Zahlreiche aktuelle Forschungsarbeiten zeigen den Marketingeffekt opaker Pro­ dukte, meist mit Hilfe statischer Modelle unter Annahme unbeschränkter Kapazität. Jiang (2007) betrachtet für einen Monopolisten die Strategien, ausschließlich regulä­ re Produkte, ausschließlich opake Produkte oder beide Arten gleichzeitig anzubieten. Er stellt fest, dass Kunden und Anbieter gleichermaßen von opaken Produkten profi­ tieren, sofern sich die Kunden hinsichtlich des Nutzens, den sie den Produkten bei­ messen, hinreichend unterscheiden. Diese Untersuchung dehnen Fay und Xie (2008) auf Kapazitätsbeschränkungen und stochastische Nachfrage aus. Fay und Xie (2010) vergleichen mit Frühbucherrabatten. Andere Autoren untersuchen den Einfluss eines gemeinsamen Intermediärs in Märkten mit mehreren Anbietern, die zueinander im Wettbewerb stehen. Während Fay (2008) sich auf zwei Anbieter beschränkt, erlau­ ben Shapiro und Shi (2008) beliebig viele Konkurrenten. Sie zeigen, dass durch die­ se Produkte zwar der Wettbewerb im Niedrigpreissegment steigt, gleichzeitig aber im lukrativeren Segment der regulären Produkte abnimmt. In einem ähnlichen Kontext stellen Jerath, Netessine und Veeraraghavan (2010) mit Hilfe zweier Perioden den Ver­ trieb über einen Intermediär dem Last-Minute-Verkauf gegenüber. Eine ausführliche Einführung und eine Illustration der Wirkungszusammenhänge mit Zahlenbeispielen geben Xie und Fay (2014) in einem Buchkapitel auf der Basis von Fay (2008) sowie Fay und Xie (2008, 2010). Eine Zusammenfassung aktueller Literatur gibt Gönsch (2017b).

3.1.2 Modelle zur Kapazitätssteuerung Vom Steuerungseffekt kann der Anbieter eines opaken Produktes dagegen nicht pro­ fitieren, da er dem Kunden die genaue Spezifikation unmittelbar nach dem Kauf mit­ teilt. Dennoch ist beim Einsatz einer Kapazitätssteuerung eine Anpassung der ver­ wendeten Verfahren nötig, um die Entscheidung des Anbieters für eine Alternative

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beziehungsweise Spezifikation abzubilden. Wir stellen diese am Beispiel der beiden in Abschnitt 2.1 eingeführten Modelle zur Kapazitätssteuerung dar. Das betrachtete Unternehmen bietet zusätzlich zu den regulären Produkten i opa­ ke Produkte j ∈ J an. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit erhält der Kunde des opaken Produktes j ein reguläres Produkt aus der Alternativenmenge M j zugeteilt. Mit entsprechend definierten Anfragewahrscheinlichkeiten lautet die Bellmansche Funk­ tionalgleichung mit opaken Produkten: Vop (c, t) = ∑ p i (t) ⋅ max {V(c, t − 1), r i + V(c − ai , t − 1)} i∈I

+ ∑ p j (t) ⋅ max {V(c, t − 1), max {r i + V(c − ai , t − 1)}}

(7)

i∈M j

j∈J

+ p0 (t) ⋅ V(c, t − 1) für alle 0 ≤ c ≤ C und t = T, . . . , 1. Dabei steht die zweite Summe für die opaken Produkte. Im Unterschied zu regulären Produkten wird dem Kunden durch das innere Maximum die für den Anbieter beste Alternative zugeteilt. Da durch die ad hoc-Zutei­ lung unmittelbar Restkapazitäten verringert werden können, ist die Steuerung opaker Produkte vergleichsweise einfach und auch leicht über Intermediäre möglich. Zur Formulierung des DLP werden zusätzlich der Erwartungswert D j der Nach­ frage des opaken Produktes j und die Entscheidungsvariablen y ji benötigt. Letztere bilden die Kontingente der zukünftigen Verkäufe von Produkt j ab, denen Alternative i ∈ M j zugeteilt wird: DLP Vop (c, t) = max ∑ r i ⋅ x i + ∑ ∑ r i ⋅ y ji i∈I

(8)

j∈J i∈M j

unter den Nebenbedingungen ∑ a hi ⋅ x i + ∑ ∑ a hi ⋅ y ji ≤ c h i∈I

∀h ∈ H

(9)

∀h ∈ H

(10)

∀j ∈ J

(11)

xi ≥ 0

∀i ∈ I

(12)

y ji ≥ 0

∀j ∈ M j

(13)

j∈J i∈M j

xi ≤ Di ∑ y ji ≤ D j i∈M j

Auch hier lassen sich wieder Opportunitätskosten über Schattenpreise approximie­ ren, der Kunde erhält üblicherweise die verfügbare Alternative mit den niedrigsten Opportunitätskosten (vgl. Petrick et al. 2012).

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3.2 Flexible Produkte im eigentlichen Sinne Der Begriff flexibles Produkt im eigentlichen Sinne nimmt Bezug auf die – gegen­ über einem herkömmlichen (regulären) Produkt – erweiterten Handlungsoptionen des Anbieters. Flexibilität bedeutet hier also, dass sich der Anbieter erfolgreich auf neue Umweltsituationen einstellen kann, die beispielsweise durch Informationsde­ fizite hinsichtlich der zukünftigen Nachfrage auftreten (vgl. Meffert 1969, S. 784). Sie besteht also auf Seiten des Anbieters und nicht etwa des Kunden, was unter der Bezeichnung ebenfalls verstanden werden könnte. Um diese Fehlinterpretation zu vermeiden, verwendet Petrick (2009, S. 84 f.) einen eigenen Begriff und spricht von „multimodalen Produkten“, um sich so explizit auf die Wahlmöglichkeit des Anbieters angesichts mehrerer Alternativen zu beziehen. Die englischsprachige ökonomische Literatur spricht dagegen aus Kundensicht von einem „zufälligen Produkt“ (probabi­ listic product).

3.2.1 Vorteile Hinsichtlich der in Abschnitt 3 diskutierten Vorteile flexibler Produkte im weiteren Sinne ist zunächst festzustellen, dass flexible Produkte im eigentlichen Sinne eben­ so wie opake Produkte den Marketingeffekt besitzen und zur Segmentierung dienen können. Die Unsicherheit kann dabei nicht nur über die Zusammenstellung des Pro­ dukts, d. h. die Alternativen, aus denen der Anbieter wählt, beeinflusst werden, son­ dern auch über den Zeitpunkt, zu dem die Unsicherheit beendet und der Kunde über diese Wahl benachrichtigt wird. Je später der Anbieter sich festlegt, desto mehr soll­ te er darüber hinaus auch von dem genannten Steuerungseffekt profitieren können. Im besten Fall sind die Kunden so indifferent gegenüber der genauen Spezifikation, so dass die Festlegung erst kurz vor der Leistungserbringung getroffen werden muss. Dies gilt beispielsweise für die exakte Route von Luftfracht.

3.2.2 Modelle zur Kapazitätssteuerung Die Integration flexibler Produkte im eigentlichen Sinne in Modelle der Kapazitäts­ steuerung ist deutlich komplexer als bei opaken Produkten, da es zur Erhaltung des Steuerungseffektes nicht möglich ist, nach jedem Verkauf unmittelbar Kapazitäten zu reduzieren. Gleichzeitig muss jedoch jederzeit sichergestellt sein, dass die verfügba­ ren Restkapazitäten c ausreichen, um die bereits angenommenen Anfragen y j des fle­ xiblen Produktes j ∈ J zu bedienen. Die Bellmansche Funktionalgleichung mit flexi­

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blen Produkten lautet: Vfl (c, t) = ∑ p i (t) ⋅ max {V(c, ya , t − 1), r i + V(c − ai , ya , t − 1)} i∈I

+ ∑ p j (t) ⋅ max {V(c, ya , t − 1), r i + V(c, ya + ei , t − 1)}

(14)

j∈J

+ p0 (t) ⋅ V(c, ya , t − 1) für alle 0 ≤ c ≤ C und t = T, . . . , 1., dabei steht ya = (y aj ) für die bereits angenom­ menen flexiblen Anfragen (Commitments). Die Randbedingungen sind nun deutlich komplexer, (14) gilt für alle 0 ≤ c ≤ C, t = T, . . . , 1 für die es Zuteilungen y aj = ∑i∈M j y aji gibt, so dass ∑j∈J ∑i∈M j a hi ⋅ y aji ≤ c h ∀h ∈ H mit y aji ≥ 0 erfüllt ist. Sind diese Bedingun­ gen für t = 0 erfüllt, so gilt Vfl (c, ya , 0) = 0. Sind sie für eine Kombination (c, ya , t) nicht erfüllt, gilt Vfl (c, ya , t) = −∞. In (14) steht die zweite Summe für die flexiblen Produkte. Im Unterschied zu regulären Produkten kann keine unmittelbare Redukti­ on der Restkapazität erfolgen, stattdessen wird die Zahl der bereits angenommenen Anfragen nach flexiblen Produkten erhöht. Diese Nachverfolgung der Verkäufe erhöht die Komplexität im Vergleich zu regulären und opaken Produkten deutlich. Zur Formulierung des DLP werden im Vergleich zu opaken Produkten anstelle der Nachfragerestriktion (11) die modifizierten Nebenbedingungen (18) und (19) benötigt. Diese stellen sicher, dass zumindest alle bereits angenommenen Anfragen nach fle­ xiblen Produkten verteilt werden (19), gleichzeitig jedoch nicht mehr als die bereits angenommenen plus die noch erwarteten (18): VflDLP (c, ya , t) = max ∑ r i ⋅ x i + ∑ ∑ r i ⋅ y ji i∈I

(15)

j∈J i∈M j

unter den Nebenbedingungen ∑ a hi ⋅ x i + ∑ ∑ a hi ⋅ y ji ≤ c h i∈I

∀h ∈ H

(16)

j∈J i∈M j

xi ≤ Di

∀h ∈ H

(17)

y aj

∀j ∈ J

(18)

y aj ≤ ∑ y ji

∀j ∈ J

(19)

∑ y ji ≤ D j + i∈M j

i∈M j

y ji ≥ 0

∀j ∈ J ,

∀i ∈ M j

(20)

Auch hier lassen sich wieder Opportunitätskosten über Schattenpreise approximie­ ren, zur effizienten Sicherstellung der Zulässigkeit im Zeitablauf existieren zahlreiche Möglichkeiten (vgl. Petrick et al. 2012 sowie Abschnitt 4.2).

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4 Kapazitätssteuerung mit flexiblen Produkten Im Folgenden stellen wir die Literatur zur Integration flexibler Produkte in die Kapa­ zitätssteuerung dar. Dabei hat, wie bereits in Abschnitt 3 skizziert, der Zeitpunkt der Festlegung des Anbieters auf die Alternativen große Bedeutung für die Modellierung. Die explizite oder implizite Ausgestaltung der Flexibilität ist dagegen aus Sicht der Kapazitätssteuerung bedeutungslos.

4.1 Opake Produkte Talluri (2001) untersucht eine Fluggesellschaft, deren Kunden in Bezug auf verschie­ dene Routen, die den gleichen Markt bedienen, indifferent sind, solange sie ähnliche Abflug-/Ankunftszeiten und Preise besitzen (Routenflexibilität). Der Autor schlägt ein deterministisches Modell vor und leitet eine Bid-Preis-Politik ab. Chen, Günther und Johnson (2003) untersuchen verschiedene Ansätze, um Bid-Preise im Revenue Management für Luftfracht zu bestimmen, wobei wiederum Routenflexibilität unterstellt wird. Insbesondere entwickeln sie Anpassungen des DLP und eines stochastischen Netzwerkmodells. Besondere Aufmerksamkeit wur­ de der Anpassung von Bid-Preis-Steuerungsansätzen an opake Produkte geschenkt. Ein weiterer Ansatz basiert auf einem DP, das jedoch nicht angegeben wird, da es aufgrund seiner Komplexität unlösbar ist. Stattdessen erweitern die Autoren den bekannten „Certainty Equivalent Control“ (CEC) Ansatz, der die Zielfunktionswer­ te zweier DLP-Modellinstanzen miteinander vergleicht (mit und ohne Annahme) um Opportunitätskosten zu erhalten. Genauer gesagt, berechnen sie den erwarteten Rest­ erlös an mehreren Gitterpunkten des Zustandsraumes und fitten anschließend Basis­ funktionen durch Regression. Dies ermöglicht die Berechnung eines approximativen Resterlöses in jedem beliebigen Zustand. Trifft eine Anfrage ein, werden Opportuni­ tätskosten approximiert durch die Berechnung des Erlöses mit und ohne Annahme unter Verwendung der gefitteten Basisfunktionen. Darüber hinaus entwickeln sie ei­ nen Multi-Labeling-Routing-Algorithmus welcher auf einer bidirektionalen Variante des Dijkstra-Algorithmus basiert und unter Verwendung von Opportunitätskosten dynamisch Routen erzeugt. Kimms und Klein (2005) geben einen Überblick über DLP-Formulierungen für Passagierluftfahrt/Luftfracht, Hotels, Restaurants, Autovermietung und Sachgüter­ produktion. Aufgrund der statischen Natur des DLP können flexible und opake Pro­ dukte nicht unterschieden werden. Die Modelle können direkt zur Steuerung mit opaken Produkten im Zeitablauf angewendet werden. Zur Verwendung mit flexiblen Produkten sind einfachere Anpassungen nötig. Büke, Yildirim und Kuyumucu (2008) stellen drei stochastische lineare Modell­ formulierungen für Passagierluftfahrt mit Routenflexibilität vor. Sie betrachten auch

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sogenannte Buy-ups, d. h. der Kunde kauft ein teureres Produkt, wenn das ursprüng­ lich gewünschte nicht verfügbar ist. Während der Schwerpunkt der vorgenannten Arbeiten auf statischen DLP-Formu­ lierungen liegt, analysieren andere Arbeiten direkt das zugrundliegende, dynamische Problem der Kapazitätssteuerung und erweitern das DP. Chen et al. (2010) untersu­ chen zwei parallele Flüge, die jeweils über mehrere reguläre Produkte zu unterschied­ lichen Preisen (Tarifklassen) vermarktet werden. Kunden des opaken Produktes geben nur die Tarifklasse an. Das Unternehmen teilt sie sofort nach Kauf einem der beiden Flüge zu und sie zahlen den entsprechenden (regulären) Preis. Die Autoren geben die Bellmansche Funktionalgleichung an und konzentrierten sich auf die Charakterisie­ rung der Struktur der optimalen Politik durch vier monotone Switching Curves. Gönsch und Steinhardt (2013) betrachten das Grundmodell der Kapazitätssteue­ rung mit beliebigen opaken Produkten und passen die allgemeine Idee der Dekom­ position dynamischer Programme (Dynamic Programming Decomposition, vgl. z. B. Liu/van Ryzin 2008) an. Sie zeigen numerisch, dass dieser Ansatz deutlich bessere Ergebnisse liefert als die Anpassung anderer bekannter Kapazitätssteuerungsansätze an opake Produkte (z. B. CEC, DLP). Beispiele zeigen, wie der Anteil opaker Produkte und der Grad der Opazität (Anzahl der Alternativen) die Ergebnisse beeinflussen. Xiao und Chen (2014) verwenden einen kontinuierlichen Markov-Entscheidungs­ prozess (MDP) und betrachten einen Einzelhändler, der zwei ähnliche Produkte zu Beginn des Verkaufszeitraums einkauft. Diese sind als reguläre sowie als opakes Pro­ dukt mit statischen Preisen erhältlich. Der Einzelhändler bestimmt dynamisch die Verfügbarkeit des opaken Produktes und die Zuordnung eines Käufers zu einer Al­ ternative. Die Kunden besitzen unabhängig, identisch verteilte Zahlungsbereitschaf­ ten für die drei Produkte und richten ihre Kaufentscheidung an der Maximierung der Konsumentenrente aus. Die Autoren charakterisieren die optimale Politik und zeigen, dass sie nicht durch Schwellenwerte strukturiert werden kann. Wenn das Unterneh­ men wüsste, ob ein Kunde einen Buy-down tätigen, d. h. anstatt eines regulären Pro­ dukts ein billigeres opakes kaufen würde, sofern es ihm angeboten würde (was es normalerweise nicht weiß), könnte die optimale Politik leicht umgesetzt werden, da sie durch Schwellenwerte charakterisiert werden kann. Gegebene, feste Zuordnungs­ wahrscheinlichkeiten von opaken Käufern zu den Alternativen führen zu einem Um­ satzrückgang. Sayah und Irnich (2016) betrachten ebenfalls das Problem von Chen et al. (2010) und bieten alternative Beweise für die dort gezeigten strukturellen Eigenschaften. Dar­ über hinaus entwickeln sie einen Buchungpfadansatz, der die Steuerung in einem statischen Problem mit Batch-Ankünften, die teilweise angenommen werden können, vereinfacht. Sie zeigen, dass sowohl Buchungspfade wie auch Switching Curves äqui­ valente Politiken beschreiben. Kürzlich untersuchten Autoren wie Vossen und Zhang (2015) oder Tong und To­ paloglu (2014) kompakte Reduktionen im Revenue Management. Eine Reduktion ist eine Neuformulierung einer Approximation der linearen Formulierung (Approximate

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Linear Program, ALP) des DP. Eine kompakte Reduktion wächst linear in bestimmten Problemparametern. Sayah (2015) präsentiert eine Reduktion für das um opake Pro­ dukte erweiterte Grundmodell der Kapazitätssteuerung. Er zeigt, dass opake Produk­ te zu einer Lücke zwischen dem ALP und der Reduktion führen, aber diese Lücke nie schlechter ist als die obere Schranke des DLP. Er postuliert, dass diese Lücke in Proble­ men mit einer speziellen Struktur Null ist, d. h. dort wo alle Alternativen opaker Pro­ dukte reguläre Produkte sind und sich der Preis eines opaken Produktes aus dem Preis der billigsten Alternative abzüglich eines Rabattes bestimmt. Allerdings scheint es, dass jedes Problem mit opaken Produkten durch Hinzufügen von regulären „dummy“ Produkten, die keine Nachfrage haben, diese Anforderung erfüllen kann. Leider wird nicht diskutiert, ob diese einfache Problemerweiterung ein effizienter Weg ist, um eine Reduktion ohne Lücke zu erhalten.

4.2 Flexible Produkte im eigentlichen Sinne Da flexible Produkte erst einige Zeit nach dem Verkauf einer Alternative zugeordnet werden, muss das Unternehmen dies bei der Verwaltung der Restkapazitäten berück­ sichtigen. Hier haben sich im Wesentlichen zwei Wege herausgebildet, um zu gewähr­ leisten, dass für bereits verkaufte flexible Produkte noch genügend Ressourcen zur Verfügung stehen und damit unbeabsichtigtes „Overselling“ zu vermeiden: – Im traditionellen Ansatz führt das Unternehmen Buch über Verkäufe der flexiblen Produkte (Commitments, vgl. Abschnitt 3.2.2) und überprüft mögliche Zuordnun­ gen von Commitments zu Alternativen bevor ein Produkt verkauft wird. – Der Surrogate-Ansatz ist ebenfalls – zumindest für für kleine Problemstellungen – intuitiv. Beispielsweise sieht er in einem Problem mit zwei Ressourcen, zwei regu­ lären Produkten und einem flexiblen Produkt die Erstellung einer dritten, virtuel­ len (sogenannte Surrogate-) Ressource vor, deren anfängliche Kapazität die Sum­ me beider Ressourcen ist. Nun benötigt ein reguläres Produkt je eine Kapazitäts­ einheit seiner eigenen und der Surrogate-Ressource, während das flexible Pro­ dukt nur die Surrogate-Ressource verbraucht. Der Vorteil ist, dass das resultieren­ de Surrogate-Problem formal ein Standard-Kapazitätssteuerungsproblem ist und somit alle vorhandenen Ansätze verwendet werden können. Gallego und Phillips (2004) betrachten erstmals flexible Produkte in der Kapazi­ tätssteuerung, obwohl die Arbeit an der Schnittstelle zwischen Mikroökonomie und Operations angesiedelt ist. Sie nutzen ein stilisiertes Modell mit zwei Flügen, zwei Zeitperioden, zwei regulären und einem flexiblen Produkt. In der ersten Periode kann das Unternehmen die beiden regulären Produkte und das flexible Produkt verkaufen. In der zweiten Periode werden nur reguläre Produkte verkauft. Die Autoren analy­ sieren das Problem analytisch und leiten einfache Algorithmen zur Berechnung von Buchungslimits, sowie die Bellmansche Funktionalgleichung ab. Die Vorteile durch

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Marketing- (Nachfrageinduktion) und Steuerungseffekt (Risikopooling) werden durch Simulationen verdeutlicht. Gallego et al. (2004) machten mehrere bahnbrechende Beiträge. Unter anderem präsentieren sie eine allgemeine DP-Formulierung für flexible Produkte in beliebi­ gen Ressourcennetzen, die heute Standard für die Kapazitätssteuerung mit flexiblen Produkten ist. Diese Formulierung erweitert den traditionellen, ressourcenbasierten Zustandsraum des DP (vgl. Abschnitt 2.1) um die Anzahl verkaufter flexibler Pro­ dukte (Commitments), die später einer Alternative zugeordnet werden müssen (vgl. Abschnitt 3.2.2). Es ist notwendig, diese Commitments zu kennen, um zu garantie­ ren, dass die zur Verfügung stehenden Ressourcen jederzeit ausreichen, um alle verkauften flexiblen Produkte auch tatsächlich einer Alternativen zuzuordnen. Die Autoren lösen sich auch von der traditionellen Annahme des Independent Demand und erlauben die Berücksichtigung von Kundenwahlverhalten. Sie formulierten das mittlerweile allgemein bekannte Choice-based DLP (CDLP) als Approximation des zugrundeliegenden DP, welches für mehrere Ressourcen sehr schnell zu rechenauf­ wändig wird. Petrick et al. (2012) fokussieren wie flexible Produkte in bestehende Kapazitäts­ steuerungsmodelle (z. B. DLP, Randomized Linear Program (RLP)) und Steuerungsver­ fahren integriert werden können. Eine umfangreiche numerische Studie zeigt, wie die­ se Ansätze die negativen Auswirkungen ungenauer Prognosen minimieren können. In einer nachfolgenden Arbeit untersuchen Petrick et al. (2010), wie mathema­ tische Modelle zur Kapazitätssteuerung mit flexiblen Produkten im Zeitablauf ein­ gesetzt werden können, um optimal vom Steuerungseffekt zu profitieren. Sie schlagen mehrere Steuerungsverfahren vor, die sich in ihrer Komplexität und in dem Umfang in dem sie die Flexibilität nutzen unterscheiden. Die einfachste Variante ist, flexible Produkte sofort zuzuordnen (wie opake Produkte). Andere Varianten beinhalten ei­ nen Surrogate-Ansatz in einer speziellen Problemstruktur und eine dynamische Neu­ zuordnung flexibler Produkte. Gönsch, Koch und Steinhardt (2014) zeigen, dass flexible Produkte einen zusätz­ lichen „Wert der Flexibilität“ besitzen. Dieser wird von DLP-basierten Modelle nicht berücksichtigt und die flexiblen Produkte werden im Wesentlichen wie opake Pro­ dukte bewertet. Daher unterschätzen diese Modelle systematisch den Wert flexibler Produkte, was zu einem niedrigeren Gesamterlös führt. Der Wert der Flexibilität wird quantifiziert, und die Autoren schlagen simulationsbasierte Optimierung vor, um sys­ tematisch den Wert der flexiblen Produkte im DLP zu erhöhen. Koch, Gönsch und Steinhardt (2017) präsentieren einen algorithmischen Ansatz basierend auf der Fourier-Motzkin-Elimination, der das Surrogate-Problem für be­ liebige Kapazitätssteuerungsprobleme mit flexiblen Produkten konstruiert. Da somit eine Transformation in äquivalente Standardkapazitätssteuerungsprobleme ohne fle­ xible Produkte ermöglicht wird, können alle bisherigen Ansätze angewendet werden, während gleichzeitig die Flexibilität der flexiblen Produkte in vollem Umfang bewahrt wird. Allerdings kann das Vorgehen zu einer Explosion der Problemgröße führen: Mit

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m Ressourcen, können bis zu 2m Surrogate-Ressourcen erstellt werden. Die Autoren zeigen jedoch, dass die Zahl der künstlichen Ressourcen für mehrere in der Praxis häufig auftretende Netzwerkstrukturen deutlich kleiner ist. Cheung und Simchi-Levi (2016) betrachten das CDLP mit flexiblen Produkten. Sie entwickeln mehrere approximative Lösungsmethoden, darunter einen Polynomial­ zeit-Algorithmus, der einen sublinearen Regret erreicht. In seiner Dissertation untersucht Vock (2015) wie eine Fluggesellschaft Kunden­ präferenzen in Bezug auf die Alternativen eines flexiblen Produkts berücksichtigen kann. Dabei konzentriert er sich auf die Integration der Präferenzen in DLP-basierte Modelle und Steuerungsverfahren. Kapazitätssteuerung mit flexiblen Produkten wurde darüber hinaus spezifisch für eine Reihe von Anwendungen diskutiert. Im Folgenden nennen wir einige Beispiele. Ähnlich wie Talluri (2001) und Büke, Yildirim und Kuyumcu (2008) betrachten Bartodziej und Derigs (2004) Luftfracht mit Routenflexibilität und Volumen- sowie Ge­ wichtsbeschränkungen. Allerdings betrachten sie flexible Produkte, präsentieren li­ neare Modelle und entwickeln Lösungsalgorithmen. Bartodziej, Derigs und Zils (2007) entwickeln den Ansatz weiter und bauen die numerische Studie aus. Kimms und Müller-Bungart (2007) betrachten Auswahl und Scheduling von Werbespots in der Rundfunkindustrie. Sie präsentieren ein lineares Modell mit fünf Lösungsheuristiken und testen dieses in einer Rechenstudie mit spanischen Fernseh­ daten. Die Annahme von Aufträgen und deren Einplanung wurde ausführlich in der Sachgüterproduktion betrachtet. In der Regel gibt es eine gewisse Flexibilität in Be­ zug auf Zeit und Art der Produktion eines Auftrags. Im Vergleich zu anderen Branchen ist hier die Produktvielfalt deutlich größer und die Flexibilität so groß, dass es oft un­ möglich ist, jede Alternative explizit zu modellieren. Spengler, Rehkopf und Volling (2007) betrachten die Kapazitätssteuerung in der Auftragsfertigung (Make-to-Order). Bestellungen sind einzigartig aufgrund ihres individuellen, kontinuierlichen Kapa­ zitätsverbrauchs und die Autoren fokussieren die Bestimmung von Bid-Preisen vor Beginn des Verkaufszeitraums. Sie geben nicht genau an wie die Kapazität während des Verkaufszeitraums verwaltet wird und verwenden vermutlich sofortige Zuord­ nung (opakes Produkt). Sie erweitern eine Heuristik für das mehrdimensionale Ruck­ sackproblem um Bid-Preise aus der DLP Formulierung ableiten zu können. In einer numerischen Studie mit Daten aus der Eisen- und Stahlindustrie erhöhte der entwi­ ckelte Ansatz den Deckungsbeitrag um bis zu 5 % im Vergleich zu Standardansätzen wie einer randomisierten DLP-Variante (RLP). Guhlich, Fleischmann und Stolletz (2015a) betrachten das Anbieten von Lieferter­ minen und das Scheduling im sogenannten Assemble-to-Order (einer Mischform aus Auftrags- und Lagerfertigung) und geben einen umfangreichen Literaturüberblick. Die Verfügbarkeit von Zwischenprodukten und Montagekapazitäten ist begrenzt. Für jede eingehende Bestellung entscheidet der Hersteller, ob er sie annimmt und nennt gegebenenfalls einen Liefertermin. Die eigentlichen Montagetermine sind noch unter

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Vorbehalt und können sich noch ändern bis die Produktion beginnt. Bid-Preise wer­ den aus einer RLP Formulierung gewonnen und für Auftragsannahme sowie für die Festlegung des Liefertermins verwendet. Zu Beginn jeder Planungsperiode wird ein neuer vorläufiger Zeitplan durch ein lineares Programm unter Beachtung aller bereits angenommenen Aufträge berechnet. Dabei wird die freie Kapazität mit Bid-Preisen bewertet. Guhlich et al. (2015b) erweitern diesen Ansatz auf ein mehrstufiges Produk­ tionssystem. Die Literaturübersicht über resilientes Revenue Management von Cleophas, Ka­ datz und Vock (2017) betont, dass mit opaken und flexiblen Produkten die Flexibilität des Revenue Management erhöht wird. Während die übrigen Arbeiten von einer gemeinsam genutzten, fixen Kapazität ausgehen, entstehen im Modell von Elmachtoub und Levi (2015, 2016) die Abhängig­ keiten zwischen den Verkäufen durch Produktionskosten, die von allen Verkäufen ab­ hängen. In Elmachtoub und Levi (2016) treffen die Kundenaufträge nacheinander ein, beziehen sich jeweils auf ein heterogenes Produkt und werden sofort angenommen oder abgelehnt. Im Falle einer Ablehnung entstehen Kosten (z. B. entgangene Ein­ nahmen). Alle angenommenen Kundenaufträge werden gespeichert und nach dem Verkaufszeitraum erfüllt. Dabei wählt das Unternehmen die günstigsten Möglichkei­ ten der Leistungserbringung, muss jedoch alle angenommenen Aufträge erfüllen. Die Stückkosten sind nichtsteigend in der Zahl der angenommenen Aufträge. Die Autoren verwenden einen robusten Ansatz und bewerten die entwickelten Algorithmen mit der Competitive Ratio, einem Ansatz aus der Analyse von Online-Algorithmen (vgl. z. B. Albers 2003). Diese ist das schlechteste (im Hinblick auf den Kundenstrom) Verhält­ nis des Gewinns eines sogenannten Online-Algorithmus im Vergleich zum optimalen Gewinn wie er mit vollständiger Information im Nachhinein (offline) erzielt werden kann. Die Autoren entwickeln zwei neuartige Online-Algorithmen, die im Nachhinein mit vollständiger Information unter Nichtbeachtung zuvor getroffener Entscheidun­ gen optimale Lösungen für Teilprobleme finden. Der erste, Copycat, löst ein Teilpro­ blem für jeden ankommenden Kunden, das den aktuellen und alle bisher beobach­ teten Kunden (einschließlich der abgelehnten) betrachtet und nimmt den aktuellen Kunden genau dann an, wenn er in der Lösung des Teilproblems akzeptiert wurde. Für das Economic Lot Sizing Problem, das Joint Replenishment Problem und das Facility Lo­ cation Problem (alle mit konstanten Ablehnungskosten pro Nachfrageeinheit) erreicht Copycat eine Competitive Ratio von jeweils 1/3, 1/4 und 1⁄4. Allerdings ist Copycat NPschwer für die beiden letztgenannten Probleme. Daher wurde dieser angepasst um einen zweiten Algorithmus zu erhalten, StablePair, der in Polynomialzeit abläuft und nicht mehr vor jeder Entscheidung das vollständige Offline-Problem zu lösen braucht. Er akzeptiert einen Kunden genau dann, wenn ein sogenannter stable pair existiert. Dies ist eine optimale Lösung auf einer Teilmenge der Produktionsmöglichkeiten und einer Teilmenge aller bisherigen Kunden, die die Akzeptanz des aktuellen Kunden be­ inhaltet. Der Name rührt daher, dass ein von StablePair angenommner Kunde auch dann angenommen würde, wenn er später einträfe (was für Copycat nicht gilt). Offen­

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sichtlich werden alle Kunden, die von Copycat akzeptiert werden auch von StablePair akzeptiert. Der Algorithmus ist effizient für Probleme, in denen die Existenz eines sta­ ble pairs effizient überprüft werden kann und garantiert eine Competitive Ratio von 1/3 für alle oben genannten Probleme. Darüber hinaus können beide Algorithmen auf jedes Problem angewendet werden, in dem die Produktionskosten nichtnegativ, nicht­ fallend und submodular in Bezug auf die Menge der angenommenen Kunden sind und die beliebige, nichtnegative Ablehnungskosten beinhalten. Diese Probleme ergeben sich durch Economies of Scale und haben eine Competitive Ratio von 1⁄2. Dies ist auch die universelle Obergrenze für die Competitive Ratio eines deterministischen Algorith­ mus für die oben genannten Problemklassen. In einer Folgearbeit präsentieren Elmachtoub und Levi (2015) ein allgemeines Framework für die Entwicklung von Algorithmen für diese Problemklasse. Sie ermög­ lichen, dass beispielsweise Preisänderungen im Zeitablauf und kundenspezifische Preise durch beliebige Ablehnungskosten abgebildet werden. Jedoch existieren nun keine konstanten Obergrenzen für die Competitive Ratio in den betrachteten Pro­ blemen mehr. Die Autoren schlagen einen FairShare Algorithmus vor, der auf einem simulierten Mechanismus zur Kostenteilung basiert, welcher jeweils spezifisch auf die Produktionskostenfunktion abgestimmt ist. Ein sogenannter Moulin Mechanis­ mus sammelt zunächst Gebote von allen Spielern (die bisher beobachteten Kunden) und ordnet jedem Spieler einen Kostenanteil zu – unabhängig von den Geboten. So­ lange der Kostenanteil von Spielern deren mit einem konstanten Wert skalierte Gebote überschreitet, werden diese Spieler iterativ entfernt und die Kosten werden unter den übrigen Spielern aufgeteilt. FairShare akzeptiert einen Kunden genau dann, wenn der Moulin Mechanismus ihn akzeptiert. Somit können vorhandene Kostenteilungs­ mechanismen mit eher allgemeinen Eigenschaften für das Offline-Problem mit voll­ ständiger Information online zur Lösung des sequentiellen Entscheidungsproblems genutzt werden. Beispielsweise verwenden die Autoren einen Kostenteilungsmecha­ nismus von Pál und Tardos (2003) für das Facility Location Problem mit vollständiger Information (offline), um ein Algorithmus für das sequentielle Entscheidungsproblem (online) zu erhalten. Ähnliche Probleme treten beispielsweise in der dynamischen Tourenplanung auf (vgl. z. B. Larsen 2000 sowie Thomas/White 2004 und die Referenzen darin). Das The­ ma ist eng verwandt mit Problemstellungen im Attended Home Delivery, welches ak­ tuell starke Aufmerksamkeit erfährt (vgl. z. B. Klein et al. 2017).

4.3 Upgrades Als eine der ersten präsentieren Alstrup et al. (1986) ein DP für ein Überbuchungs­ problem mit zwei Ressourcen sowie Up- und Downgrades, bei denen Kunden eine schlechtere als die gekaufte Leistung erhalten.

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Karaesmen und van Ryzin (2004) betrachten ebenfalls Überbuchung, schlagen je­ doch ein zweistufiges Modell vor: In der ersten Stufe werden optimale Buchungslimits bestimmt und zur Kapazitätssteuerung verwendet. In der zweiten Stufe, kurz vor der Leistungserbringung, werden die angenommenen Kunden Alternativen (beziehungs­ weise Ressourcentypen) so zugeordnet, dass der Nettonutzen maximiert wird. Dieser Schritt wird durch ein Transportproblem durchgeführt, das Up- und Downgrades er­ laubt. Shumsky und Zhang (2009) präsentieren ein DP mit Upgrades zum nächsthö­ heren Produkt (einstufiges Upgrade). Sie weichen vom Grundmodell der NetzwerkKapazitätssteuerung ab und betrachten eine spezielle Single-leg Problemstruktur mit hierarchisch geordnete Ressourcen und einer Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen Res­ sourcen und Produkten sowie einer speziellen Kostenstruktur. Gallego und Stefanescu (2009) integrieren als erste Upgrades in die traditionelle DP-Formulierung des Grundmodells der Kapazitätssteuerung in Ressourcennetzen mit Independent Demand. Der Rechenaufwand des resultierenden DP ist jedoch bereits im Single-leg Fall nicht mehr beherrschbar, da hier unterschiedliche Ressour­ centypen gleichzeitig berücksichtigt werden müssen. Daher sind Approximationen notwendig und die Autoren konzentrieren sich auf eine Erweiterung des DLP. Steinhardt und Gönsch (2012) bauen auf die DP-Formulierung von Gallego und Stefanescu (2009) auf. Sie untersuchen verschiedene strukturelle Eigenschaften wie die Bedingungen für die Äquivalenz von ad-hoc und postponed Upgrading und ent­ wickeln DP Dekompositionsansätze. Gönsch, Koch und Steinhardt (2013b) erweitern die Standard EMSR-Heuristik von Belobaba (1987, 1989) für den Single-leg Fall um Upgrades. Eine numerische Studie zeigt eine gute Performance, besser als DP Dekompositionsansätze aus der Literatur oder die in der Praxis häufig angewandte Sukzessivplanung. Gönsch und Steinhardt (2015) betrachten beliebige Problemstellungen, in denen wie beispielsweise in der Passagierluftfahrt üblich, Produkte mit mehreren Ressour­ cen (Umsteigeverbindungen) auf jeder Ressource (Flugstrecke) unabhängig upgegra­ ded werden können. In diesem Fall hat eine Verzögerung der Upgradeentscheidung keinen Vorteil: Die ad hoc-Festlegung ist äquivalent zum Postponement und damit existieren äquivalente DP Formulierungen mit Commitments sowie nur mit Ressour­ cen im Zustandsraum. Darüber hinaus zeigen die Autoren eine sogenannte SurrogateReformulierung auf, die das Problem in ein äquivalentes Standard-Kapazitätssteue­ rungsproblem ohne Upgrades verwandelt. Diese wird ebenfalls von Koch, Gönsch und Steinhardt (2017) als Sonderfall (vgl. Abschnitt 4.2) angeführt. Guerriero und Olivito (2014) untersuchen Automobilvermietungen mit mehreren Stationen und einstufigen Upgrades. Sie präsentieren eine DP-Formulierung (offenbar mit ad hoc-Upgrading) und ein entsprechendes DLP-Modell. Andere Forschung konzentriert sich auf die Sachgüterproduktion. Unabhängig von der Literatur, die in der Revenue-Management-Community entwickelt wurde, be­ trachten Wu, Wu und Lin (2011) einen Verkäufer, der über einen Lagerbestand von

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Produkten verschiedener Qualitätsstufen verfügt und die Nachfrage nach Produkten mit niedrigerer Qualität alternativ mit Produkten höherer Qualität befriedigen kann. Dies ist optimal, wenn keine niederwertigen Produkte mehr auf Lager sind und der Bestand der höherwertigeren Produkte einen bestimmten Schwellenwert überschrei­ tet. Ebenfalls weitgehend unabhängig von der Revenue-Management-Community be­ trachten Yu, Chen und Zhang (2015) eine ähnliche Problemstellung, in der ein (Einzel-) Händler über den initialen Lagerbestand entscheidet. Sie präsentieren eine DP-For­ mulierung, beschreiben die Struktur der optimalen Politik und schlagen eine Heu­ ristik vor. Intuitiv wird zunächst ebenfalls der Bestand einer Qualitätsstufe erschöpft bevor es zu Upgrades kommt. Zusätzlich werden Nachbestellungen untersucht.

5 Dynamic Pricing mit flexiblen Produkten Dynamic Pricing mit flexiblen Produkten im weiteren Sinne ist im Vergleich zur Kapa­ zitätssteuerung deutlich weniger beforscht. Anderson und Xie (2012) präsentieren einen differenzierten Ansatz zur Preis­ setzung opaker Produkte auf Hotwire. Mit Hilfe von Daten aller Hotelbuchungen in Washington, DC, über Hotwire während sechs Wochen wird ein Nested Logit Modell geschätzt, um das Kundenwahlverhalten zu erfassen. Ein dynamisches Programm ermöglicht dann die Charakterisierung der optimalen Preis- und Bestandsfreigabe­ politik als Funktion des verbliebenen Bestands und der verbliebenen Zeit. Die Autoren entwickeln insbesondere zwei DP-Formulierungen: eine mit jeweils für die Dauer ei­ nes Tages konstanten Preisen und eine mit voll dynamischen Preisen. Die Arbeit bietet eine vollständige Charakterisierung der optimalen dynamischen Preise und eine partielle Charakterisierung der optimalen Tagespreise sowie eine Illustration der Auswirkung auf den Erlös. Eine wichtige Einschränkung ist, dass ihre Formulierung nur Verkäufe über einem opaken Intermediär betrachtet und andere opake und vor allem reguläre Kanäle ignoriert. Sierag (2017) erweitert Teile der bekannten Arbeit von Gallego und van Ryzin (1997) zum Multi-Produkt Dynamic Pricing um flexible Produkte. Er stellt eine ein­ fache DP-Formulierung vor, fokussiert aber ein deterministisches Modell. Analog zu dem DLP in der Kapazitätssteuerung wird das Modell abgeleitet indem die stochas­ tische Nachfrage durch ihren Erwartungswert ersetzt wird. Integralitätsbedingungen werden vernachlässigt und die Lösung stellt eine obere Schranke für die Lösung des ursprünglichen stochastischen Problems dar. Die deterministische Lösung wird dann in zwei Heuristiken verwendet. In der Make-to-Stock-Heuristik (Lagerfertigung) setzt das Unternehmen die deterministischen Preise und stoppt den Verkauf eines Pro­ dukts, wenn seine Verkäufe die in der deterministischen Lösung vorgesehene Anzahl erreichen. In der Make-to-Order-Heuristik (Auftragsfertigung) verwendet das Unter­

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nehmen ebenfalls die deterministischen Preise, verkauft aber alle Produkte solange die Kapazität ausreicht. Gallego und van Ryzin (1997) erklären die Namen der Heuris­ tiken mit dem Bild eines Unternehmens, das Waren jeweils vor dem Verkaufszeitraum beziehungsweise auf Nachfrage produziert. Beide Heuristiken sind asymptotisch op­ timal wenn das Problem skaliert wird und Nachfrage und Kapazität gegen Unendlich gehen. Eine numerische Studie bestätigt unter anderem die intuitiven Erwartungen an die Ergebnisse der Heuristiken. Die Ergebnisse verbessen sich mit der Problemgrö­ ße, die Make-to-Order-Heuristik ist oft besser, da sie nicht unter einer Partitionierung der Kapazität leidet, und ceteris paribus keine flexiblen Produkte anzubieten führt zu enormen Erlöseinbußen. Huang, Sošić und Kersten (2017) betrachten zwei konkurrierende Verkäufer, die je über ein Produkt verfügen. Diese Produkte können entweder direkt als reguläre Produkte verkauft werden, oder über einen Intermediär unter Verwendung des NameYour-Own-Preis (NYOP) Mechanismus als opakes Produkt. Unter anderem zeigen sie, dass die erwarteten Gewinne der Verkäufer im Allgemeinen niedriger sind, wenn sie den NYOP Kanal nutzen, und der erwartete Gewinn kann sogar im Lagerbestand sinken, was nie passiert, wenn mindestens ein Verkäufer nicht vom Intermediär Ge­ brauch macht. Obwohl die Verkäufer nicht immer von der Existenz des NYOP Kanals profitieren, kann es vorkommen, dass im Gleichgewicht beide Verkäufer diesen Kanal simultan nutzen. Für jede Kombination von Verkaufskanälen bestimmen die Auto­ ren Parameterbereiche, in denen diese im Gleichgewicht genutzt wird. Schließlich bestätigt ein kleiner empirischer Teil bestimmte Marktannahmen.

6 Design und Bepreisung flexibler Produkte Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage, wie flexible Produkte im weiteren Sin­ ne angeboten und bepreist werden sollten. Die Literatur konzentriert sich auf opake Produkte und die empirische Auswertung von Daten aus der Reisebranche. Granados, Han und Zhang (2008) analysieren die veröffentlichten Preise für regu­ läre und opake Flugtickets. Sie beobachten Durchschnittspreise von ungefähr 100 $ und 160 $ für opake und reguläre Tickets, dieses ergibt einen Rabatt von 38 % für opa­ ke Tickets. Auf der Grundlage ihrer geschätzten Elastizität und dem geschätzten Ein­ fluss der Transparenz (der aus Kundensicht opaken Produkten inhärenten Unsicher­ heit) auf die Nachfrage weisen die Autoren jedoch auf einen optimalen Rabatt von 81 % hin. Manager sollten sich daher überlegen, entweder die Transparenz der opa­ ken Produkte zu erhöhen oder Preiserhöhungen der regulären Produkte zu testen. Granados, Han und Zhang (2017) analysieren Economy-Class-Buchungen einer in­ ternationalen Fluggesellschaft. Sie ermitteln unter anderem, dass online vertriebene opake Produkte Offline-Kanäle in kompetitiven Märkten nicht kannibalisieren, in we­ niger kompetitiven Märkten dagegen schon.

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Xie, Anderson und Verma (2017) verwenden Befragungen um ein multinomiales Logit-Modell für die Nachfrage nach amerikanischen Hotelzimmern auf drei OnlineKanälen zu schätzen: reguläre, opake Produkte und via NYOP verkaufte opake Pro­ dukte. Dabei steigt die Preissensitivität mit sinkender Transparenz. Rechnet man den Preis heraus, sind Hotels mit weniger Sternen attraktiver für Kunden regulärer Pro­ dukte, während Hotels mit vielen Sternen in opaken Produkten attraktiver sind. Der Einfluss von Gästebewertungen ist bei opaken Produkten größer, für die die Autoren Preisnachlässe von 30 %–40 % empfehlen. Eine Schlüsselfigur bei der Einführung flexibler Produkte in der Praxis ist Da­ vid Post, der auch in ihrer Erforschung sehr aktiv ist. So analysieren Mang, Post und Spann (2012) Daten von Freedom Air, einer Billigfluglinie und Tochtergesellschaft der Air New Zealand. Dort hat David Post geholfen, sogenannte variable flexible Produkte von 2003 bis 2006 einzuführen. Kunden wählen ihr Ziel, Aufenthaltsdauer, Zeitfenster für die Reise und wann sie benachrichtigt werden möchten. Die Autoren unterstrei­ chen, dass die Konfiguration der Produkte durch den Kunden selbst der Fluggesell­ schaft das effiziente Angebot einer extrem breiten, von der Konkurrenz mit konventio­ nellen Mitteln nicht kopierbaren Produktpalette ermöglicht. Post und Spann (2012) nutzen hauptsächlich deskriptive Statistiken um die Ver­ wendung variabler flexibler Produkte bei Germanwings (jetzt Eurowings), einer Billig­ fluglinie und Tochtergesellschaft der Deutschen Lufthansa, zu analysieren. Das Pro­ dukt ermöglicht es den Kunden, Reisedaten und ein Thema wie Party, Kultur, usw. zu wählen. Jedes Thema umfasst mehrere Ziele, aber Kunden können eine begrenzte Anzahl von Zielen ausschließen indem sie je 5 € zahlen. Die Autoren beschreiben im Wesentlichen, wie das Produkt in die IT-Landschaft integriert wurde, und berichten von einem Gewinnbeitrag von etwa 4 %. Darüber hinaus löste das Produkt keine Re­ aktionen der Wettbewerber aus und benötigte keine Werbung. Lee et al. (2012) verwenden Daten einer nicht genannten europäischen Fluggesell­ schaft, um ein binäres Logit-Modell zu schätzen. Unter anderem zeigen die Ergebnis­ se, dass Kunden eher Ziele in der Nähe ihres Abflughafens und Ziele, an denen die gleiche Sprache gesprochen wird, ausschließen. Andere Autoren untersuchen Optimierungsmodelle und Heuristiken für die Ge­ staltung und Bepreisung flexibler Produkte. Im Folgenden nennen wir statische An­ sätze zur Ermittlung konstanter Preise auf taktischer Ebene, zum Beispiel durch die Berücksichtigung von Elastizitäten und Preisen der regulären Produkte. Dynamische Ansätze (Dynamic Pricing), die die aktuelle Nachfrage und Kapazitätssituation auf operativer Ebene berücksichtigen wurden in Abschnitt 5 dargestellt. Zouaoui und Rao (2009) gehen davon aus, dass die Basiskosten eines opaken Pro­ duktes geringer sind als der Preis seiner günstigsten Alternative. Ihr Markup-Ansatz berücksichtigt die prozentuale Differenz beider Werte und ein Logitmodell erfasst das Kundenwahlverhalten. Die Autoren kalibrieren das Modell mit Daten über drei Mo­ nate von Travelocity.com und testen die optimierten Preise mit Daten eines weiteren Monats. Dies zeigt eine Erlössteigerung von 48 %.

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Unabhängig davon präsentiert Post (2010) eine Heuristik, die den zusätzlichen Erlös variabler flexibler Produkte maximiert. Der Ansatz weicht von der traditionellen Prognose aggregierter Nachfrage ab und konzentriert sich stattdessen auf die Wahr­ scheinlichkeiten, dass ein Kunde ein reguläres beziehungsweise ein opakes Produkt kauft. Bai, Yan und Liu (2015) betrachten ebenfalls das Beispiel Germanwings mit seinen variablen flexiblen Produkten. Ihr Schwerpunkt liegt auf der optimalen Gestaltung des Produkts, einschließlich Preis, Opazität und Kundenauswahl, und sie präsentieren ein eher praxisorientiertes Modell. Elmachtoub und Wei (2016) analysieren die optimale Politik eines Online-Einzel­ händlers mit regulären und opaken Produkten. Darüber hinaus entwickeln sie einen Rahmen für die Schätzung der Kaufwahrscheinlichkeit eines opaken Produkts. Sie diskutieren, wie Kunden das opake Produkt bewerten und weisen darauf hin, dass ri­ sikoneutrale Kunden ohne jegliche Information gleiche Wahrscheinlichkeiten für die Alternativen annehmen. Diese Standardannahme in der Literatur kompliziert die Be­ rechnung von Wahrscheinlichkeiten und erfordert daher stilisierte Ansätze wie das „Hoteling“ Modell mit seiner perfekt negativen Korrelation von Kundenpräferenzen für die Alternativen. Interessant ist, dass die Annahme risikoscheuer Kunden, die die weniger bevorzugte Alternative erwarten, sich mathematisch deutlich einfacher hand­ haben lässt. Die Autoren betrachten das multinomiale Logit-Modell, gleichverteilte Zahlungsbereitschaften, und das Standard-Hoteling-Modell.

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Christian Stauf und Michael Hassemer

Produktverantwortlichkeit in Wertschöpfungsnetzwerken 1 2 3 4 4.1 4.2 5 6

Einleitung | 273 Rechtsquellen der Produkthaftung | 274 Vertragliche Haftung | 275 Gesetzliche Haftung | 277 Deliktische Produzentenhaftung | 279 Produkthaftung nach dem ProdHaftG | 285 Produktverantwortung im Kontext des autonomen Fahrens | 289 Fazit | 292 Literatur | 293

Zusammenfassung. Produzierende Unternehmen tragen die Verantwortung für die von ihnen hergestellten Produkte. Sie müssen sicherstellen, dass bei der Herstellung und Inverkehrgabe keinerlei Rechtsgüter Dritter verletzt werden. Neben der vertragli­ chen Gewährleistung gilt es diesbezüglich insbesondere die deliktsrechtliche Produ­ zentenhaftung nach § 823 Abs. 1 BGB sowie das ProdHaftG zu beachten. Vor dem Hin­ tergrund des Strebens der Automobilbranche nach autonom agierenden Fahrzeugen im Straßenverkehr ist die bestehende Haftungssystematik kritisch zu hinterfragen. Dabei zeigt sich, dass die deutsche Gesetzgebung grundsätzlich zur Lösung der zu­ künftig zu erwartenden Konflikte im Bereich der Haftung in der Lage ist.

1 Einleitung Die Anforderungen der Verbraucher an die Qualität und Sicherheit von Produkten sind hoch und in den letzten Jahren stetig gestiegen. Gleichzeitig werden Produkte und die Prozesse zu deren Herstellung immer komplexer, während die Fertigungs­ tiefe mehr und mehr abnimmt. An der Herstellung selbst sind heute in der Regel ei­ ne Vielzahl unterschiedlicher Personen, Unternehmen oder Institutionen beteiligt. Hersteller, Zulieferer, Dienstleister und Vertriebsunternehmen bilden zusammen ein Wertschöpfungsnetzwerk, in dem rechtlich selbständige Unternehmen aus aufeinan­ der folgenden Stufen der Wertschöpfungskette miteinander kooperieren (vgl. Franz/ Wipprich 2006, S. 6). Dass hierbei mitunter auch fehlerbehaftete Produkte auf den Markt gelangen, kann selbst ein noch so gewissenhaftes Qualitätsmanagement nie­ mals vollständig verhindern. Vor diesem Hintergrund gilt es, die Verantwortlichkeit der einzelnen Akteure innerhalb von Wertschöpfungsnetzwerken für Schäden durch https://doi.org/10.1515/9783110473803-015

274 | Christian Stauf und Michael Hassemer

die im Netzwerk geschaffenen und in Umlauf gebrachten Produkte zu hinterfragen. Besondere Brisanz erfährt diese Thematik im Bereich des autonomen Fahrens. Hier zeigt sich, dass die Frage der Haftung für fehlerhafte Produkte auch in Zukunftsin­ dustrien von hoher Relevanz sein und die dort agierenden Unternehmen vor neue Herausforderungen stellen wird.

2 Rechtsquellen der Produkthaftung Die Haftung des Herstellers für Produktfehler beruht nicht auf einem in sich geschlos­ senen systematischen Ansatz, der auf einer das gesamte Rechtsgebiet tragenden Be­ gründung basiert. Vielmehr sind die heutigen Regelungen Resultat einer schrittwei­ sen und durch Richterrecht geprägten Entwicklung verschiedener Haftungsmodelle. Versteht man – wie im vorliegenden Beitrag – unter Produkthaftung nicht nur die au­ ßervertragliche Haftung, sondern die gesamte Verantwortlichkeit des Herstellers für fehlerhafte Produkte, so finden sich relevante Rechtsquellen an vielen unterschied­ lichen Stellen unserer Rechtsordnung (vgl. Eisenberg et al. 2014, S. 3 ff.). Neben der vertraglichen Gewährleistung sind insbesondere die deliktsrechtliche Produzenten­ haftung nach § 823 Abs. 1 BGB sowie das Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG) als Säu­ len der Produktverantwortlichkeit anzusehen, die im Wege der Anspruchskonkurrenz nebeneinanderstehen (vgl. Abbildung 1).¹

Säulen der Produkthaftung

Vertragliche Haftung

Gewährleistung §§ 433 ff. BGB

Gesetzliche Haftung

Produzentenhaftung §§ 823 ff. BGB

Produkthaftung §§ 1 ff. ProdHaftG

Abb. 1: Säulen der Produkthaftung.

1 Praktisch weniger bedeutsam ist die Haftung für fehlerhafte Produkte aus § 823 Abs. 2 BGB (Verlet­ zung eines Schutzgesetzes) oder § 826 BGB (vorsätzliche sittenwidrige Schädigung). Auf ihre Darstel­ lung wird daher im Folgenden verzichtet.

Produktverantwortlichkeit in Wertschöpfungsnetzwerken | 275

Daneben wird dem Ziel, Hersteller für die gegebenenfalls aus ihren Produkten und deren Verwendung entstehenden Schäden haftbar zu machen, auch präventiv durch das Produktsicherheitsrecht (ProduktSG) Rechnung getragen. Letzteres ist von großer Relevanz, handelt es sich doch um Aufsichtsrecht, das Herstellern, Importeuren und Händlern weitreichende Pflichten auferlegt, die Grundstruktur für eine Überwachung der Märkte durch die Aufsichtsbehörden schafft und diese bei Verstößen ermächtigt, Maßnahmen zu ergreifen, um Produktrisiken zu vermeiden. Seine Bedeutung für die Produzenten- und Produkthaftung besteht dabei vor allem darin, dass es die dort eher allgemein gehaltene Pflicht des Herstellers, nur sichere Produkte in den Markt zu brin­ gen, konkretisiert (vgl. Eisenberg et al. 2014, S. 121.). Daneben existieren noch weitere spezialgesetzliche Regelungen der Produkthaftung wie das Arzneimittel-, das Atomoder das Gentechnikgesetz, auf die in diesem Beitrag jedoch nicht weiter eingegangen werden soll.

3 Vertragliche Haftung Gegenstand des vertraglichen Gewährleistungsrechts sind Mängel am Produkt selbst (vgl. Reuter 2012, S. 122). Ein Sachmangel im Sinne des § 434 Abs. 1 BGB liegt in ers­ ter Linie dann vor, wenn bei Gefahrübergang die Ist-Beschaffenheit von der vertrag­ lich vereinbarten Soll-Beschaffenheit der Sache abweicht. Sofern diesbezüglich keine konkrete Vereinbarung zwischen den Vertragsparteien getroffen wurde, muss sich die Sache für die im Vertrag vorausgesetzte Verwendung (§ 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 BGB) oder zumindest für die gewöhnliche Verwendung eignen und die für die Sache übliche Be­ schaffenheit aufweisen (§ 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB). Ist das Produkt mangelhaft, hat der Käufer gegen den Verkäufer zunächst nach seiner Wahl einen Anspruch auf Nacherfüllung in Form von Mängelbeseitigung oder Nachlieferung (§§ 433 Abs. 1 S. 2, 434, 437 Nr. 1, 439 Abs. 1 BGB). Scheitert diese, kann unter bestimmten Voraussetzungen der Kaufpreis gemindert (§§ 433 Abs. 1 S. 2, 434, 437 Nr. 2 Alt. 2, 441 Abs. 1 S. 1 BGB) oder vom Kaufvertrag zurückgetreten (§§ 433 Abs. 1 S. 2, 434, 437 Nr. 2 Alt. 1, 323 Abs. 1 BGB) und gegebenenfalls zusätzlich Schadenser­ satz (§§ 433 Abs. 1 S. 2, 434, 437 Nr. 3, 280 BGB) verlangt werden. Unbeteiligten Dritten stehen die genannten Mängelhaftungsansprüche aufgrund der fehlenden vertragli­ chen Beziehung hingegen nicht zu. Zudem unterliegen sie einer kurzen Verjährung von zwei Jahren ab Übergabe der Kaufsache (§ 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB). Anders als bei den gesetzlichen Haftungssystemen der Produkt- und Produzen­ tenhaftung richtet sich die Mängelhaftung als vertraglicher Anspruch somit aus­ schließlich gegen den Verkäufer eines mangelhaften, jedoch nicht notwendigerweise gefährlichen Produkts (vgl. Abbildung 2). Aus Sicht der innerhalb eines Wertschöpfungsnetzwerkes agierenden Unterneh­ men bedeutet dies, dass der Hersteller selbst gegenüber dem Käufer nur dann haf­

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Gewährleistung §§ 433 ff. BGB Kaufvertrag § 433 BGB Garantie § 443 BGB

Verkäufer

Kaufvertrag § 433 BGB

Rückgriff § 478 BGB

Kunde

Kaufvertrag § 433 BGB

Rückgriff §§ 840 I BGB iVm § 5 ProdHaftG

Hersteller

Zulieferer

Abb. 2: Vertragliche Gewährleistung (in Anlehnung an Eisenberg et al 2014, S. 17).

tet, wenn er diesem gegenüber eine eigene vertragliche Verpflichtung in Form einer Garantie (§ 443 BGB) übernommen hat. Die Verantwortung für Mängel liegt jedoch im Zweifel nicht beim (oftmals wirtschaftlich schwächeren) Letztverkäufer, der inner­ halb der Vertriebskette in aller Regel nur begrenzten Einfluss auf die Qualität der ihm gelieferten Ware hat. Aus diesem Grund gewährt der Gesetzgeber ihm unter bestimm­ ten Voraussetzungen einen Rückgriff auf seine Lieferanten; im Normalfall wird dies der Hersteller sein. Sofern es sich um Neuware handelt, der Verkäufer Unternehmer und der Käufer Verbraucher ist, kann der Verkäufer seinen Hintermann in der Liefer­ kette gemäß § 478 Abs. 1 BGB ohne Nachfristsetzung in Regress nehmen. Für die im Zusammenhang mit der Nacherfüllung auf Seiten des Verkäufers angefallenen Auf­ wendungen kann vom Lieferanten Ersatz verlangt werden (§ 478 Abs. 2 BGB). Auch die Beweislastumkehr – eigentlich ein verbraucherschutzrechtliches Institut – gilt gegen­ über dem Vorverkäufer und ist sogar noch verlängert: die Frist beginnt erst mit dem Verkauf an den Verbraucher (§ 478 Abs. 3 BGB). Zudem kann § 479 Abs. 2 BGB dazu führen, dass der Rückgriffsanspruch des Verkäufers gegen den Lieferanten erst nach Ablauf von fünf Jahren verjährt (vgl. Eisenberg et al. 2014, S. 37). Ist ein Produkt fehlerhaft, so muss dieser Fehler nicht zwingend vom Endherstel­ ler verursacht worden sein, sondern kann seinen Ursprung durchaus auch bei einem oder mehreren Zulieferern haben. Dem Hersteller können insoweit ebenfalls Rück­ griffsansprüche aus den zwischen den Akteuren der Wertschöpfungskette geschlosse­ nen Verträgen zustehen (vgl. Eisenberg et al. 2014, S. 129). Hat ein fehlerhaftes Produkt

Produktverantwortlichkeit in Wertschöpfungsnetzwerken | 277

bereits zu einer Rechtsgutsverletzung beim Kunden oder Dritten geführt, so kann der Hersteller seine Rückgriffsansprüche gegen den Zulieferer nicht nur auf das Gewähr­ leistungsrecht stützen, sondern es bestehen meist ohne weiteres Rückgriffsansprüche in der Lieferkette aus § 840 Abs. 1 BGB i. V. m. § 5 ProdHaftG. Hersteller und Zulieferer haften dem Geschädigten für Produktfehler, die zu Körper- oder Sachschäden geführt haben, damit regelmäßig als Gesamtschuldner. Im Innenverhältnis wird der Scha­ den unter den Beteiligten nach Verursachungs- und Verschuldensbeiträgen verteilt. Bei Rückrufaktionen ohne bisherige Rechtsgutsverletzung bei Kunden oder Dritten ist der Schadensausgleich zwischen den Beteiligten hingegen oftmals schwierig, da hier eine Gesamtschuldnerhaftung von Hersteller und Zulieferern aus den §§ 823 Abs. 1, 840 BGB ausscheidet. Eine Haftung aus §§ 1, 5 ProdHaftG kommt ohnehin nicht in Betracht, da Produktbeobachtungs- und Rückruffehler nicht vom Produkthaftungsge­ setz erfasst sind (vgl. Abschnitt 4.2). Zwar können sich in seltenen Fällen Rückgriffsan­ sprüche aus § 823 Abs. 1 BGB („Weiterfresserschäden“) oder §§ 677, 683, 670 BGB (Rück­ griff nach den Grundsätzen der Geschäftsführung ohne Auftrag) ergeben. In der Praxis bilden allerdings in der Regel vertragliche Vereinbarungen die Rechtsgrundlage für Rückgriffsansprüche gegen den Zulieferer beim Produktrückruf. Diese finden sich oft­ mals in Individualvereinbarungen oder Allgemeinen Geschäftsbedingungen und se­ hen regelmäßig vor, dass die Kosten des Produktrückrufs danach verteilt werden, aus wessen Sphäre die Ursache für den Rückruf stammt. Vielfach ist dabei strittig, welcher Akteur einen Fehler verursacht oder verschuldet hat. In vielen Fällen sind die genauen Ursachen für den Fehler nicht zu ermitteln oder gleich mehreren Beteiligten zurechen­ bar. Rückgriffsansprüche lassen sich dann meist nur schwer beziffern. Häufig sind die beteiligten Hersteller, Zulieferer und Versicherungen in solchen Fällen dazu aufgeru­ fen, unter Berücksichtigung betriebswirtschaftlicher und marktmachtpolitischer Er­ wägungen einen Schadensausgleich zu finden (vgl. Eisenberg et al. 2014, S. 129 ff.).

4 Gesetzliche Haftung Aus finanzieller und unternehmensstrategischer Sicht schwerwiegender als die Stö­ rung des Äquivalenzinteresses sind in der Regel Schäden, die ein Produkt an anderen Rechtsgütern des Produktbenutzers oder Dritten (sogenannte innocent bystanders) verursacht beziehungsweise zu verursachen droht. Solche Schäden zu kompensieren ist Aufgabe der deliktsrechtlichen Produzentenhaftung und der Produkthaftung nach dem ProdHaftG. Von der Haftung für Sachmängel unterscheiden sich die beiden ge­ setzlichen Haftungssysteme insbesondere dadurch, dass sie die Verletzung absoluter Rechte sanktionieren. Der Hersteller haftet also, anders als der Verkäufer, nicht nur gegenüber seinem Vertragspartner, sondern gegenüber jedermann (vgl. Pontinecke 2016, S. 213). Anspruchsteller kann demnach jeder sein, der – unabhängig von etwai­ gen vertraglichen Beziehungen – durch einen Produktfehler einen Schaden an einem Rechtsgut erlitten hat (vgl. Abbildung 3).

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Kunde

Kaufvertrag § 433 BGB

Verkäufer

Kaufvertrag § 433 BGB

Produkt- und Produzentenhaftung §§ 1 ff. ProdHaftG §§ 823 ff. BGB

Hersteller

Kaufvertrag § 433 BGB

Unbeteiligte Dritte

Zulieferer

Abb. 3: Produkt- und Produzentenhaftung (in Anlehnung an Eisenberg et al. 2014, S. 2).

Anders als im Gewährleistungsrecht steht somit nicht das Äquivalenzinteresse, also die Sicherstellung des vertraglich vereinbarten Gleichgewichts zwischen Leistung und Gegenleistung, im Zentrum des Interesses, sondern das sogenannte Integritätsinter­ esse (vgl. Steimle/Dornieden 2008, S. 66). Auf die Gebrauchstauglichkeit der Sache kommt es dabei gerade nicht an. Fehler an dem vom Hersteller gelieferten Produkt selbst sind nicht Gegenstand der Produkt- und Produzentenhaftung. Ein im Sinne der Produkt- und/oder Produzentenhaftung gefährliches Produkt kann grundsätzlich mangelfrei sein. Umgekehrt muss eine mangelbehaftete Sache nicht notwendigerwei­ se auch eine Gefahr für die Rechtsgüter des Produktbenutzers begründen. Die Produ­ zenten- und Produkthaftung unterscheiden sich dabei insbesondere dadurch vonein­ ander, dass den Hersteller für eine Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB ein Verschulden im Sinne einer mangelnden Beachtung von Verkehrssicherungspflichten treffen muss. Die Haftung nach dem ProdHaftG setzt hingegen lediglich das Vorliegen eines „Feh­ lers“ im Sinne des § 3 ProdHaftG voraus; sie ist verschuldensunabhängig (vgl. Wendt/ Oberländer 2016, S. 59; Pontinecke 2016, S. 216). Trotz der unterschiedlichen Voraussetzungen bezwecken beide Haftungssysteme, den Hersteller für Schäden durch fehlerhafte Produkte zivilrechtlich zur Verantwor­ tung zu ziehen. Im Folgenden sollen diese beiden parallel anwendbaren Haftungs­ normen vorgestellt und deren Bedeutung für Wertschöpfungsnetzwerke verdeutlicht werden.

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4.1 Deliktische Produzentenhaftung Als Produzentenhaftung wird die außervertragliche, deliktische Verschuldenshaftung bezeichnet. Die Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB (Schadensersatz) ist dabei die praktisch bedeutsamste Anspruchsgrundlage. Gemäß § 823 Abs. 1 BGB ist zum Schadensersatz verpflichtet, „wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich ver­ letzt“. Voraussetzung der deliktischen Produzentenhaftung ist somit ein schuldhaf­ tes und widerrechtliches Handeln oder Unterlassen, das zu einer Verletzung der in § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsgüter führt. Haftungsadressat ist daher stets der­ jenige, der handelt beziehungsweise eine der ihm obliegenden Handlungspflichten schuldhaft durch Unterlassen verletzt. Ein widerrechtliches Verhalten des Herstellers liegt insbesondere dann vor, wenn er eine oder mehrere seiner sogenannten Verkehrs­ sicherungspflichten verletzt. Gemeint sind die Sorgfaltsanforderungen, die der Her­ steller im Rahmen der Herstellung und Inverkehrgabe seiner Produkte zu beachten hat. Eine solche Verkehrssicherungspflicht entsteht immer dann, wenn durch ein feh­ lerhaftes Produkt eine Gefahrenquelle für den Produktbenutzer oder Dritte geschaffen wird (vgl. Wendt/Oberländer 2016, S. 60). Das Hauptaugenmerk soll im Folgenden darauf liegen, zunächst den allgemeinen Sorgfaltsmaßstab und anschließend die von Herstellerseite zu beachtenden Verkehrspflichten im Rahmen der Herstellung und der Inverkehrgabe von Produkten herauszuarbeiten.

4.1.1 Allgemeiner Sorgfaltsmaßstab Produkthersteller müssen grundsätzlich alle objektiv erforderlichen und objektiv zu­ mutbaren Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass die von ihnen auf den Markt gebrachten Produkte keine Rechtsgüter Dritter verletzen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang häufig die Bestimmung des gebotenen Mindestsicherheitsniveaus. Dieses ergibt sich aus der Art und Schwere der von dem betreffenden Produkt aus­ gehenden Gefahren, den berechtigten Sicherheitserwartungen der angesprochenen Verkehrskreise, der Wahrscheinlichkeit einer Verletzung und der nach dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik zu beurteilenden Möglichkeit von Sicherungs­ maßnahmen sowie deren Zumutbarkeit (vgl. Wendt/Oberländer 2016, S. 60). Aufgabe des Herstellers ist es insoweit, das Risikopotenzial seines Produkts und die berech­ tigten Sicherheitserwartungen des Verwenderkreises zu ermitteln. Als Maßstab dient dabei der verständige, umsichtige, vorsichtige und gewissenhafte Angehörige des jeweils angesprochenen Verkehrskreises (vgl. BGH NJW 2010, S. 1967). Die eigenen Produkte sind sowohl an den bestehenden gesetzlichen Regelungen auszurichten als auch an denjenigen Sicherungsmaßnahmen, die nach dem im Zeitpunkt des In­ verkehrbringens vorhandenen neuesten Stand von Wissenschaft und Technik (zum Begriff und dessen Abgrenzung vgl. Wagner 2017, § 823 Rn. 810) konstruktiv mög­

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lich und serienreif verfügbar sind (vgl. BGH NJW 2009, S. 2952 –Airbag). Welche der hiernach möglichen Maßnahmen dem Hersteller zumutbar sind, wird maßgeblich durch die vom Produkt ausgehende Gefahr bestimmt. Drohen erhebliche Gefahren für Leib und Leben, so sind weitergehende Sicherungsmaßnahmen zumutbar als beispielsweise bei potenziellen Sachschäden. Gleichzeitig darf der Hersteller die Kos­ ten der zusätzlichen Maßnahmen und deren Nutzen (Kosten-Nutzen-Relation) sowie allgemeine Wirtschaftlichkeitsabwägungen (z. B. Auswirkungen zusätzlicher Siche­ rungsmaßnahmen auf die Absatzchancen) in die Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalls einbeziehen (vgl. Wagner 2017, § 823 Rn. 424 f.). Wenngleich der Gesetz­ geber damit letztendlich hohe Anforderungen an die Verkehrssicherungspflichten des Herstellers stellt, so kann und muss eine absolute Produktsicherheit nicht gewähr­ leistet werden (vgl. BGH NJW 2009, S. 1669 – Kirschtaler). Denn dies wäre nur dann zu erreichen, wenn alle potenziell gefährlichen Produkte vom Markt genommen wür­ den. Zuletzt hat der Europäische Gerichtshof jedoch in Bezug auf Herzschrittmacher und Defibrillatoren entschieden, dass an Produkte mit lebenserhaltender Funktion eine „Null-Fehler-Erwartung“ gestellt werden kann (vgl. EuGH, Urteil vom 5.3.2015, C-503/13 und C-504/13). Ein Produktfehler kann insoweit bereits dann vorliegen, wenn ein einzelnes Produkt einer Modellreihe versagt. Inwieweit diese Rechtsprechung auch auf andere Produktkategorien übertragen werden kann, bleibt abzuwarten (vgl. Wendt/Oberländer 2016, S. 60).

4.1.2 Verkehrssicherungspflichten Die Produzentenhaftung ist wesentlich durch die hierzu ergangene Rechtsprechung geprägt, die einen umfassenden Kanon herstellerspezifischer Verkehrssicherungs­ pflichten hervorgebracht hat. Diese erfassen den gesamten Herstellungs- und Ver­ triebsbereich und werden gemeinhin in vier Pflichtenbereiche unterteilt: 1. Konstruktionspflicht: Der Hersteller hat bereits im frühen Stadium der Planung und Entwicklung dafür Sorge zu tragen, dass das von ihm in Verkehr gebrach­ te Produkt hinsichtlich seiner konstruktiven Gestaltung (z. B. Materialauswahl, Bauteilauslegung etc.) das gebotene Sicherheitsniveau aufweist. Dies gilt umso mehr, da Konstruktionsfehler sich bei Massengütern in der Folge auf die gesam­ te Produktserie auswirken (vgl. BGH NJW 2009, S. 2952 –Airbag). Eine Haftung greift dann, wenn der Entwicklungsfehler für den Hersteller bei Inverkehrgabe des Produkts bereits objektiv erkennbar war. Die Feststellung desselben setzt voraus, dass im Zeitpunkt der Entwicklung und Herstellung des Produkts ein si­ cherheitstechnisch überlegenes Alternativdesign verfügbar gewesen wäre, wobei es bei der Beurteilung auf eine Gesamtbetrachtung der Sicherheitseigenschaften der Alternativkonstruktion ankommt. Soweit ein überlegenes Alternativdesign, welches die erhöhten Herstellungskosten durch entsprechend niedrigere Scha­ denskosten aufwiegt, möglich und zumutbar ist, muss der Hersteller die sicherere

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2.

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Konstruktion verwenden und ist nicht berechtigt, die Gefahrsteuerungslast bei­ spielsweise im Wege der Instruktion auf den Produktnutzer zu verlagern (vgl. Wagner 2017, § 823 Rn. 818 ff.). Die Konstruktionspflichten des Endprodukther­ stellers erstrecken sich hierbei nicht nur auf die konstruktive Sicherheit des End­ produkts, sondern in gewissem Umfang auch auf die Sicherheit der verwendeten Zulieferteile. Insbesondere muss sichergestellt werden, dass diese nach dem Einbau beziehungsweise im Zusammenwirken mit dem Endprodukt nicht zu ver­ meidbaren Gefahren führen. Dabei treffen den Hersteller regelmäßig intensivere Kontrollpflichten hinsichtlich des Sicherheitsniveaus, wenn die Zulieferprodukte nach dessen Zielvorgaben entwickelt und hergestellt wurden (vgl. Eisenberg et al. 2014, S. 69 f.). Fabrikationspflicht: Ein ordnungsgemäß entwickeltes Produkt muss anschlie­ ßend ohne haftungsrelevante Fehler produziert werden. Dabei gilt es sicher­ zustellen, dass es während des Fertigungsprozesses nicht zu unplanmäßigen Abweichungen von der vom Hersteller angestrebten Sollbeschaffenheit der Ware, sogenannte Fabrikationsfehlern, kommt. Diese betreffen typischerweise einzelne Produkte einer Serie und entstehen durch menschliches oder technisches Versa­ gen. Für den Hersteller bedeutet dies, dass der Fertigungsprozess derart gestaltet werden muss, dass Fehler bei der Herstellung weitestgehend ausgeschlossen sind und das Produkt den Sicherheitserwartungen entspricht. Dies kann beispielswei­ se durch Qualitätskontrollen, Stichproben oder die Einhaltung von Vorschriften zur Wartung von Maschinen und Anlagen geschehen. Für die Gestaltung der Qua­ litätskontrolle im Fabrikationsprozess existieren keine zwingenden gesetzlichen Vorgaben. Von Seiten unterschiedlicher Normungsinstitutionen, Verbände und Vereinigungen haben sich jedoch eine Vielzahl verschiedener branchen- und produktspezifischer Ansätze herausgebildet. Auf welche Weise beziehungswei­ se mit welcher Art von Qualitätskontrolle der gebotene Sicherheitsstandard der Produkte erreicht wird, ist Sache der betriebswirtschaftlichen Entscheidung des Herstellers (vgl. Wagner 2017, § 823 Rn. 822; Pontinecke 2016, S. 217). Im Rahmen der Fabrikation kann es allerdings auch bei noch so gewissenhafter Produktion durchaus zu einzelnen fehlerhaften Produkten kommen. Sofern der Hersteller seine herstellerspezifischen Verkehrssicherungspflichten beachtet und seine Produktion derart organisiert hat, dass Schäden für den Produktbenutzer und Dritte durch fehlerhafte Produkte soweit als möglich und zumutbar ausge­ schlossen sind, haftet er allerdings nicht für Ausreißer. Zurückzuführen ist diese Regelung auf den Grundgedanken, dass der Hersteller nicht verpflichtet ist, eine völlige Gefahrlosigkeit der von ihm vertriebenen Produkte zu gewährleisten (vgl. Wagner 2017, § 823 Rn. 824 f.; Wendt/Oberländer 2016, S. 61).²

2 Davon unberührt bleibt die verschuldensunabhängige Produkthaftung, die in Abschnitt 4.2 be­ trachtet wird.

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3.

Instruktionspflicht: Teil der Produktverantwortung des Herstellers ist auch des­ sen Pflicht, den Produktbenutzer über die gefahrlose, sach- und fachgerechte Verwendung des Produktes und vor möglichen Gefahren, die vom Produkt aus­ gehen können, zu informieren. Hiervon erfasst sind sämtliche Aussagen, die in Bezug auf das Produkt erfolgen (z. B. Bedienungsanleitung, Warnhinweise, Werbeversprechen, Produktkennzeichnungen etc.). Die Instruktionspflichten be­ schränken sich dabei nicht nur auf die bestimmungsgemäße Anwendung, son­ dern erstrecken sich auch auf den vorhersehbaren Fehlgebrauch des Produkts, beispielsweise der Griff in eine Abschälmaschine (vgl. LG Düsseldorf NJW-RR 2006, S. 1033 f. = VersR 2006, S. 1650), die Überdosierung eines Medikaments (vgl. BGHZ 106, 273 (283) = NJW 1989, S. 1542 (S. 1544 f.) – Asthma-Spray) oder seine in­ traarterielle statt intravenöse Injektion (vgl. BGH NJW 1972, S. 2220 –ESTIL). Eine Hinweispflicht kommt sogar im Falle eines vorhersehbaren Produktmissbrauchs durch Zweckentfremdung, etwa den Einsatz von Trinkflaschen als Dauernuckel für Kleinkinder (vgl. BGHZ 116, 60 (65) = NJW 1992, S. 560 –Kindertee I), in Be­ tracht, sofern hiermit schwerwiegende Gefahren einhergehen. Entscheidend für den Umfang der Instruktionspflicht ist der Adressatenkreis des Produkts. Von einem Fachpublikum kann ein größeres Gefahrenbewusstsein erwartet werden als vom Durchschnittsverbraucher (vgl. Wagner 2017, § 823 Rn. 826 ff.; Eisenberg et al. 2014, S. 82). Weitreichend aus Sicht der Hersteller ist der Umstand, dass die Instruktionsver­ antwortung nicht beim eigenen Produkt endet, sondern sich auch auf Zubehör­ teile anderer Hersteller erstrecken kann, sofern diese für die Inbetriebnahme des eigenen Produkts notwendig sind, der Hersteller diese selbst empfohlen hat, die Verwendung durch entsprechende Anbauvorrichtungen seitens des Herstellers ermöglicht wird oder die Nutzung aufgrund entsprechender Verbrauchergewohn­ heiten allgemein gebräuchlich ist, auch ohne dass der Hersteller irgendeinen kon­ kreten Anlass zum Einsatz des Zubehörteils gegeben hätte. So muss beispiels­ weise ein Hersteller von Motorrädern seine Kunden darüber informieren, wenn die eigene Maschine mit Zubehörteilen anderer Hersteller nicht kompatibel ist (vgl. BGHZ 99, 167 (172 ff.) = NJW 1987, S. 1009 (S. 1010 f.) – Lenkerverkleidung). Die Verantwortlichkeit des Herstellers des Hauptprodukts ist dabei jedoch stets auf solche Gefahren begrenzt, die sich aus der Kombination des Zubehörteils mit dem eigenen Produkt ergeben und erstreckt sich nicht auf Mängel, die allein dem Zubehörteil anhaften (vgl. Wagner 2017, § 823 Rn. 827). Die Instruktionspflichten sind den vorgenannten Verkehrssicherungspflichten nachgeordnet. Sie zielen auf die Minimierung von Restrisiken, die verbleiben, ob­ wohl das Produkt sicher konstruiert und fabriziert worden ist. Dementsprechend kann sich ein Hersteller also nicht durch Warnungen von seinen Versäumnissen im Bereich der Konstruktion und Fabrikation befreien (vgl. Wagner 2017, § 823 Rn. 829).

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4.

Produktbeobachtungspflicht: Auch nach der Inverkehrgabe des Produkts enden die Verkehrssicherungspflichten des Herstellers nicht. Vielmehr hat dieser eine fortdauernde potenzielle Gefahrenquelle geschaffen und ist daher verpflichtet, seine Produkte weiterhin auf bislang unbekannt gebliebene schädliche Eigen­ schaften hin zu beobachten, sich über sonstige, eine Gefahrenlage schaffende Fol­ gen ihres Gebrauchs zu informieren und gegebenenfalls hierauf zu reagieren. Die sogenannte Produktbeobachtungspflicht perpetuiert somit die Verantwortung des Herstellers für seine Produkte über den Zeitpunkt des Inverkehrbringens und den damaligen Stand der Kenntnisse und Möglichkeiten hinaus (vgl. Wagner 2017, § 823 Rn. 837). Analog zur Instruktionspflicht ist die Produktbeobachtungspflicht dabei nicht auf das eigene Produkt begrenzt, sondern erstreckt sich insbesondere auch auf Zubehörteile. Der Umfang der Produktbeobachtungspflicht orientiert sich an dem in Abschnitt 4.1.1 erörterten allgemeinen Sorgfaltsmaßstab: Er hängt also sowohl vom Ausmaß des drohenden Schadens als auch von der Möglich­ keit und wirtschaftlichen Zumutbarkeit der Beobachtungsmaßnahmen ab (vgl. Wendt/Oberländer 2016, S. 62). Was die konkreten Beobachtungsmaßnahmen anbelangt, so kann zwischen ak­ tiven und passiven Pflichten des Herstellers differenziert werden: Während sich die passive Produktbeobachtungspflicht auf die Sammlung und Auswertung von Kundenbeschwerden über Schadensfälle und Sicherheitsmängel beschränkt, ist unter der aktiven Beobachtungspflicht die eigenständige Generierung von Informationen über die Bewährung des Produkts in der Praxis gemeint (vgl. Wagner 2017, § 823 Rn. 838 f.; Eisenberg et al. 2014, S. 86). Vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung sozialer Netzwerke wird künftig zu klären sein, ob ein Hersteller im Rahmen seiner passiven Beobachtungspflicht womöglich auch Schadensanzeigen via Hashtag (#productrecall, #productdefect) berücksichtigen muss (vgl. Klindt 2015b, S. 37). Offenbaren sich nach der Inverkehrgabe eines Produkts Gefahren, so ergeben sich hieraus gegebenenfalls weitergehende Handlungspflichten für den Hersteller. Das Produktsicherheitsgesetz enthält selbst keine Regelungen, wie eine Reaktion auszusehen hat, verlangt jedoch vom Hersteller das Vorhalten einer geeigne­ ten Organisation zur angemessenen Reaktion auf Produktgefahren (vgl. § 6 Abs. 2 ProdSG). Der Hersteller muss grundsätzlich alle möglichen und zumutbaren Maß­ nahmen ergreifen, um den Produktnutzer oder Dritte vor Schäden zu bewahren. Die konkret zu treffenden Maßnahmen sind dabei unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu bestimmen. Zur Gefahrenabwehr kann der Hersteller seine Instruktion erweitern, den Konstruktions- und Fertigungsprozess anpas­ sen oder öffentliche Warnhinweise verbreiten. Unter Umständen kann sogar die Pflicht zum Rückruf des Produkts bestehen. Letztere ist im Kontext der zivilrecht­ lichen Haftung zwar umstritten, die herrschende Meinung geht jedoch davon aus, dass jedenfalls dann eine Rückrufpflicht besteht, wenn hochrangige Rechtsgüter wie Leib und Leben gefährdet sind (vgl. Wendt/Oberländer 2016, S. 62).

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4.1.3 Verschulden und Beweislast Die deliktische Produzentenhaftung setzt voraus, dass der Hersteller die ihm ob­ liegenden Verkehrssicherungspflichten vorsätzlich oder fahrlässig verletzt hat. Von praktischer Bedeutung sind dabei in erster Linie Fälle fahrlässigen Handelns oder Unterlassens. Gemäß § 276 Abs. 2 BGB handelt derjenige fahrlässig, der die im Ver­ kehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Von zentraler Bedeutung ist die Frage, ob der Hersteller seine Verkehrssicherungspflichten hätte erkennen und dementspre­ chend handeln können, die Rechtsgutsverletzung also vorhersehbar und vermeidbar gewesen ist. Nach ständiger Rechtsprechung wird das Verschulden des Herstellers dabei vermutet und es gilt Beweislastumkehr: Sofern der Geschädigte also sowohl die Verletzung seines Rechtsgutes durch ein fehlerhaftes Produkt als auch den Kausalzu­ sammenhang zwischen Fehler und Produkt dargelegt hat, muss der Hersteller sich entlasten und beweisen, dass er seine Konstruktions-, Fabrikations- und Instruktions­ pflichten erfüllt hat. Für die Produktbeobachtungspflicht gilt dies hingegen nicht; der Geschädigte bleibt hier vollumfänglich beweispflichtig. Mit dieser von den allgemei­ nen Beweisregeln abweichenden Regelung will der Gesetzgeber dem Geschädigten entgegenkommen, da dieser zumeist keine Einsicht in die Sphäre des Herstellers hat und eine Beweisführung somit vielfach unmöglich wäre (vgl. Eisenberg et al. 2014, S. 91 ff.; Pontinecke 2016, S. 219).

4.1.4 Pflichtenträger Verantwortlich für die Sicherheit des Produkts ist in erster Linie der Endhersteller, also derjenige, der Konstruktion und Fabrikation steuert und das Produkt schließlich in den Markt bringt. Das bedeutet nicht, dass die in der Wertschöpfungskette vor- und nachgelagerten Unternehmen von jeglicher Verantwortung befreit sind. Sie sind al­ lerdings nur im Rahmen ihres jeweiligen Aufgabenbereichs zur Sorgfalt verpflichtet. Den sogenannten Quasi-Hersteller, also denjenigen, der ein fremdes Produkt ledig­ lich unter eigenen Marken oder Unternehmenskennzeichen vertreibt, es jedoch nicht selbst produziert, treffen grundsätzlich keine Konstruktions- und Fabrikationspflich­ ten. Der Begriff ist insoweit irreführend, da der Quasi-Hersteller dem Endhersteller deliktsrechtlich nicht gleichgestellt wird; laut BGH besteht eine Pflicht zur Gefahren­ abwendung nicht schon aufgrund des Anbringens der eigenen Marke auf dem Produkt (vgl. BGH NJW 1994, S. 519 – Gewindeschneidemittel I). Etwas anderes gilt nur dann, wenn er auch tatsächlich auf den Konstruktions- und Fabrikationsprozess einwirkt, beispielsweise durch konstruktive Vorgaben. In diesem Fall trifft den Quasi-Hersteller entsprechend dem Maße seiner Einflussnahme eine Mitverantwortung. Von Instruk­ tions- und Produktbeobachtungspflichten kann er sich hingegen nicht befreien. Auch den Zulieferer entlasten die weitreichenden Verantwortlichkeiten des End­ herstellers nicht. Dieser haftet grundsätzlich ebenfalls, wobei seine Haftung auf Feh­

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ler am eigenen Zulieferungsprodukt beschränkt ist. Etwas anderes gilt nur, wenn er das Zulieferteil im Rahmen einer Auftragsfertigung nach Spezifikationen des Endher­ stellers gefertigt hat. In diesem Fall hat er nur insoweit für die Sicherheit des Bauteils einzustehen, als Risiken für ihn ohne Weiteres erkennbar sind. Instruktionspflichten bestehen für den Zulieferer regelmäßig nur gegenüber dem Endhersteller als unmit­ telbaren Verwender seines Zulieferteils. Auch seine Produktbeobachtungspflicht er­ streckt sich lediglich auf die von ihm hergestellten Komponenten (vgl. Wagner 2017, § 823 Rn. 786 ff.; Eisenberg et al. 2014, S. 94 f.). In der Praxis besteht häufig das Bedürfnis, bestimmte Prüf- und Kontrollpflichten auf den Zulieferer zu verlagern, der die ihm übertragenen Aufgaben meist wirtschaft­ lich günstiger und aufgrund seiner Expertise vielfach auch zuverlässiger durchfüh­ ren kann als der Endhersteller. Entsprechende Qualitätssicherungsvereinbarungen ermöglichen es, die durch die teils parallelen Verkehrspflichten von Endhersteller und Zulieferer resultierende Kumulation von Haftungssubjekten, Sicherheitsmaß­ nahmen und damit verbundenen Kosten zu reduzieren (vgl. Wagner 2017, § 823 Rn. 789 f.). Eine Delegation von Verkehrssicherungspflichten mit haftungsbefreien­ der Wirkung im Außenverhältnis ist somit also im Bereich der deliktischen Haftung – anders als bei der verschuldensunabhängigen Produkthaftung nach dem ProdHaftG (vgl. § 14 ProdHaftG, Abschnitt 4.2) – grundsätzlich in gewissem Umfang möglich und kann das Haftungsrisiko des Endherstellers senken. Vollumfänglich befreien Qualitätssicherungsvereinbarungen den Endhersteller indes nicht von seinen Ver­ kehrspflichten; sie sind allerdings auf Auswahl-, Instruktions- und Überwachungs­ pflichten in Bezug auf den Zulieferer beschränkt (vgl. Bodungen/Hoffmann 2016, S. 507 f.). Die für den Vertrieb zuständigen Händler und Importeure treffen grundsätzlich keine Konstruktions- und Fabrikationspflichten. Sie müssen jedoch dafür Sorge tra­ gen, dass die Herstellerinstruktionen den Produktnutzer auch tatsächlich erreichen. Für den Händler ergeben sich außerdem weitere passive Produktbeobachtungspflich­ ten aus § 6 Abs. 5 ProdSG. Der Importeur ist zudem verpflichtet, aus dem EU-Ausland importierte Waren auf deren Konformität mit den deutschen Sicherheitsstandards hin zu überprüfen (vgl. Eisenberg et al. 2014, S. 95 f.).

4.2 Produkthaftung nach dem ProdHaftG Nachdem zuvor das Gewährleistungsrecht und die deliktische Produzentenhaftung nach § 823 Abs. 1 BGB erläutert worden sind, soll im Folgenden auf die Produkthaftung nach dem Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG) eingegangen werden.

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4.2.1 Haftungsgrundsätze Die Produkthaftung ist als Gefährdungshaftung konzipiert. Das bedeutet, der Herstel­ ler haftet hier bereits deshalb, weil er ein unsicheres Produkt in Verkehr bringt, und zwar ohne dass es auf ein Verschulden im Sinne einer persönlichen Vorwerfbarkeit ankäme. Gemäß § 1 ProdHaftG ist der Hersteller schadensersatzpflichtig, wenn durch den Fehler eines Produkts jemand getötet, sein Körper oder seine Gesundheit verletzt oder eine andere Sache als das fehlerhafte Produkt beschädigt wird. Der Fehler muss da­ bei ursächlich für die Rechtsgutsverletzung sein. Ein Produkt im Sinne des § 2 Prod­ HaftG ist jeder körperliche Gegenstand. Der Produktbegriff erfasst sowohl bewegliche Sachen als auch Teile einer beweglichen oder unbeweglichen Sache. Es spielt dabei keine Rolle, ob es sich Neuware oder um gebrauchte oder bearbeitete Sachen handelt. Dienstleistungen klammert das Produkthaftungsrecht mangels Körperlichkeit hinge­ gen aus. Im Ergebnis fallen damit alle in der modernen Industriegesellschaft produ­ zierten und vertriebenen Gegenstände unter den Produktbegriff (vgl. Pontinecke 2016, S. 213 f.; Eisenberg et al. 2014, S. 108). Das ProdHaftG knüpft die Verantwortlichkeit des Herstellers an den in § 3 Prod­ HaftG definierten Fehlerbegriff. Fehlerhaft ist ein Produkt demnach dann, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände berechtig­ terweise erwartet werden kann. Dabei sind insbesondere seine Darbietung, der Ge­ brauch, mit dem billigerweise gerechnet werden kann und der Zeitpunkt, in dem das Produkt in den Verkehr gebracht wurde zu berücksichtigen (vgl. Wagner 2017, § 3 Rn. 1). Auch der im ProdHaftG verwendete Fehlerbegriff orientiert sich somit weit­ gehend an den im Rahmen der deliktischen Produzentenhaftung bereits dargestellten verhaltensbezogenen Sorgfaltspflichten. Entscheidend sind jeweils die berechtigten Sicherheitserwartungen an das Produkt. Hinsichtlich der Fabrikationspflicht geht der Fehlerbegriff des ProdHaftG allerdings über die Verkehrspflichten des § 823 Abs. 1 BGB hinaus. Denn für das Vorliegen eines Fabrikationsfehlers ist nicht entscheidend, wie dieser zustande kommt, ob er also auf unsorgfältigem Verhalten beruht oder als Ausreißer zu betrachten ist. Auch der Nachweis, dass der Fehler im Einzelfall nicht er­ kennbar war, befreit den Hersteller nicht von der Haftung, so dass dieser in gewissem Umfang auch das Ausreißerrisiko trägt (vgl. Eisenberg et al. 2014, S. 108 f.; Wagner 2017, § 3 Rn. 37 f. m. w. N.). Auf diesen Unterschied wurde bereits in Abschnitt 4.1.2 hingewiesen. Weiterhin stellt der Produktbegriff des § 3 ProdHaftG explizit auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens ab, woraus sich ergibt, dass das ProdHaftG – anders als die deliktische Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB – eine Produktbeobachtungspflicht nicht kennt (vgl. Wagner 2017, § 1 Rn. 45 ff.).

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4.2.2 Haftungsadressaten Eine Besonderheit der verschuldensunabhängigen Haftung im Vergleich zur delikti­ schen Produzentenhaftung besteht auch in dem ihr zugrundeliegenden weiten Her­ stellerbegriff des § 4 ProdHaftG. Zum Kreise der potenziellen Haftungsadressaten zählen demnach neben dem Endhersteller auch sämtliche Zulieferer und Hersteller von Grundstoffen. Durch die ausdrückliche Einbeziehung von Teileherstellern wird die gesamte Zulieferindustrie der Verantwortlichkeit nach dem ProdHaftG unterwor­ fen. Hersteller ist daneben auch der sogenannte Quasi-Hersteller, also derjenige, der sich durch das Anbringen seines Namens oder eines anderen entsprechenden Kenn­ zeichens als Hersteller des Produkts ausgibt (vgl. Fuchs/Pauker/Baumgärtner 2017, S. 225). Zum Schutz der Verbraucher verpflichtet § 4 Abs. 2 ProdHaftG des Weiteren den ersten Importeur in den europäischen Wirtschaftsraum. Ähnliches gilt für jeden Lieferanten. Sofern der tatsächliche Hersteller des Produkts nicht festgestellt werden kann und der Händler diesen oder seinen eigenen Lieferanten nicht binnen angemes­ sener Frist benennt, werden die Herstellerpflichten auf den Händler selbst bezogen und dieser als Produzent fingiert (§ 4 Abs. 3 ProdHaftG). Hersteller ist somit jedes Unternehmen, in dessen Organisationsbereich eine be­ wegliche Sache entstanden ist, eingeführt oder modifiziert wurde. Solche Akteure, die lediglich Dienstleistungen in Bezug auf ein Produkt erbracht haben, sind dementspre­ chend keine Hersteller. Der Anwendungsbereich des § 4 Abs. 1 S. 1 ProdHaftG wird ver­ lassen, sofern ein beteiligtes Unternehmen kein stofflich greifbares Produkt beisteu­ ert, sondern beispielsweise lediglich beratend tätig wird. Als schwierigen Grenzfall bezeichnet Wagner (2017) die Situation, in denen Prüfungen und Qualitätskontrol­ len an selbstständige Unternehmen ausgelagert werden. Im Rahmen des sogenann­ ten PIP-Skandals sieht der EuGH (vgl. EuGH, Urteil vom 16.2.2017, C-219/15) die erheb­ liche Bedeutung solcher Kontrollmaßnahmen für die Produktsicherheit jedoch nicht als hinreichendes Argument dafür, solchen Dienstleistern die Herstellereigenschaft und damit eine Haftungsverantwortung für Produktfehler zuzusprechen.³ Die Begrün­ dung einer umfassenden Produktverantwortung zulasten des Prüfunternehmens wür­ de zudem weder dessen Handlungspotential noch der Höhe der erzielten Vergütung entsprechen (vgl. Wagner 2017, § 4 Rn. 9 ff.). Die durch § 4 ProdHaftG bewirkte Häufung potentieller Anspruchsgegner dient dem Schutz des Geschädigten, indem sie eine Gesamtverantwortung sämtlicher Un­ ternehmen innerhalb der Wertschöpfungskette begründet. Bei einer Mehrheit von

3 In dem Brustimplantate-Fall hatte der TÜV Rheinland den französischen Hersteller „Poly Implant Prothèse“ (kurz: PIP) von Brustimplantaten zertifiziert. Dieser hatte die Implantate möglicherweise mit gesundheitsschädlichem Industriesilikon gefüllt. Da das Unternehmen in der Zwischenzeit infol­ ge seiner Insolvenz nicht mehr in der Lage war, die Schadensersatzansprüche der geschädigten Pa­ tientinnen zu erfüllen, verklagten diese daraufhin den TÜV Rheinland als Zertifizierungsstelle (vgl. Wagner 2017, § 823 Rn. 803 ff.).

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Herstellern haften diese gemäß § 5 ProdHaftG als Gesamtschuldner. Dem Geschä­ digten wird hierdurch das Risiko abgenommen, den wahren Hersteller des Produkts nicht identifizieren zu können oder sein Recht in fernen Ländern durchsetzen zu müssen. Auch wird die Geltendmachung von Ersatzansprüchen erleichtert, indem die mitunter schwierige Identifikation des materiell Verantwortlichen innerhalb des Geflechts interagierender Hersteller-, Zulieferer- und Vertriebsunternehmen teilweise überflüssig gemacht wird (vgl. Wagner 2017, § 4 Rn. 1). In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Produkthaftung nicht im Voraus ausgeschlossen werden kann (§ 14 ProdHaftG). Dem Hersteller ist es – anders als im Bereich der deliktischen Produzentenhaftung – nicht möglich, die Haftung für Schä­ den durch sicherheitsrelevante Fehler im Außenverhältnis gegenüber geschädigten Dritten durch entsprechende privatautonome Vereinbarungen (vgl. Abschnitt 4.1.4) zu umgehen oder auf seine Mithersteller zu verlagern (vgl. Wagner 2017, § 14 Rn. 1 f.; Ei­ senberg et al. 2014, S. 116).

4.2.3 Haftungsausschlüsse Auch wenn die Voraussetzungen für eine Haftung nach § 1 Abs. 1 ProdHaftG grund­ sätzlich erfüllt sind, so haftet der Hersteller im Falle einer Sachbeschädigung nicht, wenn nur das fehlerhafte Produkt, nicht jedoch eine andere Sache beschädigt wur­ de. Zudem sind von der Produkthaftung nur Sachschäden im Privatbereich erfasst (vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 ProdHaftG), worin sich ihre Konzeption als Verbraucherschutzge­ setz offenbart (vgl. Bodungen/Hoffmann 2016, S. 504). Eine Haftung ist zudem ausge­ schlossen, sofern einer der in § 1 Abs. 2 und 3 ProdHaftG aufgeführten Haftungsaus­ schlusstatbestände greift. Also beispielsweise dann, wenn der Hersteller das Produkt nicht in Verkehr gebracht hat (Nr. 1), es bei Inverkehrbringen noch keinen Fehler auf­ gewiesen hat (Nr. 2) oder er das Produkt nicht kommerziell hergestellt oder vertrie­ ben hat (Nr. 3). Praktisch eher unbedeutend ist der Haftungsausschlussgrund Nr. 4, wonach der Hersteller nicht haftet, wenn die Entstehung des Produktfehlers auf die Anwendung zwingender gesetzlicher Vorschriften (z. B. DIN-Normen, VDE-Vorschrif­ ten, Unfallverhütungsvorschriften etc.) zurückzuführen ist. Dies gilt auch für Entwick­ lungsfehler, also Fehler, die nach dem Stand der Wissenschaft und Technik in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller das Produkt in den Verkehr gebracht hat, nicht er­ kennbar waren (Nr. 5). Von großer praktischer Relevanz ist hingegen der Haftungsaus­ schluss des § 1 Abs. 3 ProdHaftG zugunsten von Teil- und Grundstoffherstellern. Deren Einstandspflicht für Produktfehler ist ausgeschlossen, wenn der Fehler durch die Kon­ struktion des Endprodukts, in welches das für sich einwandfreie Zubehörteil einge­ baut wurde, oder durch fehlerhafte Anleitung des Endherstellers verursacht worden ist (vgl. Pontinecke 2016, S. 215 f.; Wagner 2017, § 1 Rn. 69). Die genannten Haftungsausschlusstatbestände sind objektiver Natur und erlau­ ben in gewissem Umfang eine Entlastung des Herstellers bei sorgfaltsgemäßem Ver­

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halten. Für das Vorliegen dieser grundsätzlich eng auszulegenden Entlastungstatbe­ stände trägt er jedoch selbst die Darlegungs- und Beweislast (vgl. Eisenberg et al. 2014, S. 112 ff.).

4.2.4 Umfang des zu ersetzenden Schadens und Verjährung Im Schadensfall hat der Hersteller gemäß § 1 ProdHaftG den Schaden zu ersetzen. Für Personenschäden ist die Haftung auf 85 Mio. Euro begrenzt (§ 10 Abs. 1 ProdHaftG). Bei Sachbeschädigungen gilt keine Haftungshöchstgrenze, jedoch eine Selbstbeteili­ gung des Geschädigten in Höhe von 500 Euro. Produkthaftungsansprüche verjähren frühestens drei Jahre ab Schadenseintritt und Kenntnis der wesentlichen Umstände (§ 12 ProdHaftG), spätestens jedoch zehn Jahre ab Inverkehrgabe (§ 13 ProdHaftG).

5 Produktverantwortung im Kontext des autonomen Fahrens Unter dem Stichwort „Industrie 4.0“ hält die digitale Revolution inzwischen in viele Lebensbereiche Einzug und verändert die industrielle Entwicklung und Fertigung grundlegend. Massiv hiervon beeinflusst wird nicht zuletzt die Automobilindustrie, die ihre Zukunft in der zunehmenden Automatisierung des Fahrzeugs sieht. Als ein Meilenstein dieser Entwicklung wird das autonome Fahren prognostiziert. Fahrzeu­ ge sollen künftig mit Hilfe technischer Systeme eigenständig auf unterschiedliche Verkehrssituationen reagieren können und damit der „Fehlerfaktor Mensch“ aus­ geschaltet werden (vgl. König 2017, S. 123; Ortner/Daubenbüchel 2016, S. 2918). Mit dem Einzug von Automationsprodukten in den modernen Straßenverkehr sind jedoch zugleich neue Gefahrenpotenziale und Haftungsfragen verbunden. Standen hierbei bislang vornehmlich Halter und Fahrzeugführer im Fokus (§§ 7, 18 StVG), stellt sich nunmehr insbesondere für die Hersteller der Automationsprodukte und deren Zu­ lieferer die Frage nach der Verantwortlichkeit für die Unfallfolgen automatisierter Fahrten, bei denen der menschliche Fahrer mangels Einfluss auf das Geschehen in vielen Fällen – erkennbar – aus der etwaigen Fehlerverantwortlichkeit herausfal­ len wird. Denn es liegt auf der Hand, dass mit zunehmender Automatisierung der Fahrzeuge die Ursachen für Schäden künftig vermehrt in Systemfehlern zu suchen sein werden, wodurch eine Verschiebung der Verantwortlichkeit und damit auch der Haftung innerhalb der Wertschöpfungskette zulasten von Herstellern und Zulieferern zu erwarten ist (vgl. Klindt 2015a, S. 63; Hans 2016, S. 393; Kütük-Markendorf/Essers 2016, S. 24 f.). Ist der eingetretene Schaden auf einen Fehler des Produkts, sprich des Fahrzeugs oder seiner einzelnen Teile, zurückzuführen, so kommt auch hier grundsätzlich ei­

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ne Haftung des Herstellers und seiner Zulieferer nach den Grundsätzen der zuvor erläuterten Produkt- beziehungsweise der Produzentenhaftung in Betracht. Wie gese­ hen weisen beide Haftungssysteme trotz einiger Unterschiede zahlreiche Parallelen auf. Dabei zeigt sich ein weitreichender Gleichlauf hinsichtlich der Maßstäbe, die an den Fehlerbegriff in der Produkthaftung nach dem ProdHaftG und an die Verkehrssi­ cherungspflichten im Rahmen der deliktischen Produzentenhaftung gestellt werden. Der Sorgfaltsmaßstab, dem der Hersteller bei Inverkehrgabe eines automatisierten Fahrzeugs genügen muss, ist an jenem auszurichten, der auch an den menschlichen Fahrzeugführer angelegt wird. Angesichts der Überlegenheit der neuen Automati­ onssysteme (früheres Erkennen von Gefahrensituationen, geringere Reaktionszeiten usw.) sowie der Hochrangigkeit der gefährdeten Rechtsgüter (Leben und Gesundheit) ist davon auszugehen, dass die menschliche Leistungsfähigkeit dabei allerdings ledig­ lich die Untergrenze der berechtigen Sicherheitserwartungen determiniert. Insofern werden Hersteller und Zulieferer sich dem Vorwurf einer Sorgfaltspflichtverletzung künftig wohl nicht in jedem Fall mit dem Verweis auf den menschlichen Vergleichsfah­ rer entziehen können. Die Haftung für Konstruktions- und Fabrikationsfehler orien­ tiert sich an den bekannten Kriterien, wobei natürlich die Spezifika softwarebezogener Fehlfunktionen zu berücksichtigen sind. So wird auch im Falle von Sabotagehandlun­ gen durch Cyberattacken Dritter von einem haftungsrelevanten Konstruktionsfehler des Fahrzeugherstellers auszugehen sein, wenn dieser nur unzureichende Siche­ rungsvorkehrungen getroffen hat (dies bejahend Bodungen/Hoffmann, S. 505; ande­ rer Ansicht dagegen Hilgendorf 2015, S. 27 f.). Auch auf den Umfang der Instruktions­ pflichten werden Hersteller und Zulieferer automatisierter Systeme künftig verstärkt ihre Aufmerksamkeit zu richten haben. Damit der Produktnutzer beim bestimmungs­ gemäßen Gebrauch beziehungsweise vorhersehbaren Fehlgebrauch einer automati­ sierten Fahrfunktion die Verkehrssicherheit nicht gefährdet, muss er genauestens und verständlich über die Wirkungsweise und die Grenzen des Systems instruiert werden. Dies könnte beispielsweise über situationsbezogene Nutzungshinweise und Warnun­ gen über das Bordsystem des Fahrzeugs geschehen oder indem der Erwerb eines sol­ chen Fahrzeugs mit Automatisierungsfunktionen mit einem speziellen Fahrtraining verknüpft wird. Unzureichende Gefahrenwarnungen oder fehlerhafte Gebrauchsan­ weisungen könnten dagegen auch hier durchaus eine Haftung des Herstellers auf­ grund eines Instruktionsfehlers begründen. Vor dem Hintergrund der Neuartigkeit von Automatisierungsfunktionen für die Nutzer trifft den Hersteller automatisierter Fahrzeuge nach der Inverkehrgabe außerdem eine umfassende (deliktische) Produkt­ beobachtungspflicht. Diese schließt insbesondere die Überwachung der Systemsoft­ ware autonomer Fahrzeuge ein. Wie weit die Beobachtungs- und die gegebenenfalls hieraus abzuleitenden Handlungspflichten des Herstellers gehen, ist bislang umstrit­ ten. In Anbetracht der zunehmenden Vernetzung und der dadurch ermöglichten Be­ reitstellung von Fahrzeugdaten in Echtzeit, ist allerdings davon auszugehen, dass sich Umfang und Reichweite der für Hersteller und Zulieferer zumutbaren Produktbeob­ achtung merklich ausweiten werden. Bei Produktfehlern ist herstellerseitig neben ent­

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sprechenden Produktwarnungen vor allem an die Abschaltung der betroffenen Fahr­ funktionen sowie die Bereitstellung von Softwareupdates und Patches zu denken. Zu­ letzt kann auch ein Rückruf in Betracht kommen. Die Reparatur oder Nachrüstung des Fahrzeuges auf Verkäuferkosten bleibt dagegen auch weiterhin dem Gewährleistungs­ recht vorbehalten (vgl. Bodungen/Hoffmann 2016, S. 504 ff.; Schrader 2016, S. 242 ff.). Wird durch einen Produktfehler ein Schaden verursacht, so trifft nach den voran­ gegangenen Ausführungen bei arbeitsteiliger Produktion sowohl den Endhersteller als auch die übrigen Unternehmen innerhalb der Wertschöpfungskette – insbesonde­ re die beteiligten Zulieferer – die Produkthaftung. Denkbar ist auch eine gemeinsame deliktsrechtliche Produzentenhaftung von Hersteller und Zulieferer, beispielsweise dann, wenn Letztgenannter vom Hersteller nur unzureichend überwacht wurde und es so bei den schadensursächlichen Zuliefererteilen zu Versäumnissen bei der Qua­ litätskontrolle kommen konnte. In diesen Fällen haften Endhersteller und Zulieferer gemäß § 5 S. 1 ProdHaftG beziehungsweise § 840 Abs. 1 BGB als Gesamtschuldner. Der Innenregress zwischen Endhersteller und Zulieferer richtet sich sodann in der Regel nach den im Vorfeld getroffenen Qualitätssicherungsvereinbarungen, in de­ nen die Verantwortungsbereiche und -anteile festgelegt, entsprechende Haftungs­ quoten vereinbart und gegebenenfalls sogar verschuldensunabhängige Garantien des Zulieferers für Mangelfolgeschäden definiert sind. Die Verantwortlichkeit für fehlerhafte Zulieferteile kann der Endhersteller auf diese Weise entlang der Wert­ schöpfungskette an seine Zulieferer weiterreichen (vgl. Bodungen/Hoffmann 2016, S. 508). Weiterhin kommt auch im Bereich des autonomen Fahrens ein Haftungsaus­ schluss des Herstellers für Entwicklungsfehler (vgl. Abschnitt 4.2.3) grundsätzlich in Betracht. Der Hersteller hat in diesem Fall seine Verkehrssicherungspflichten im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB nicht verletzt (vgl. Abschnitt 4.1.2). Das Produkthaftungs­ gesetz definiert in § 1 Abs. 2 Nr. 5 ProdHaftG sogar einen ausdrücklichen Haftungs­ ausschlusstatbestand (vgl. Abschnitt 4.2.3). Allerdings existiert derzeit kein standar­ disiertes Verfahren, das – analog zur ISO 26262, welche für die funktionale Sicherheit sicherheitsrelevanter Systeme in von Menschen geführten Kraftfahrzeugen gilt – den Sicherheitsnachweis für autonome Fahrzeuge ermöglicht (vgl. Deutsches Institut für Normung 2011). Ohne eine derartige Normierung seitens Industrie und Wissenschaft dürfte den Herstellern der Nachweis eines Entwicklungsfehlers indes schwerfallen. Auch eine umfassende Instruktion des Nutzers über die Funktionsweise und die Gren­ zen einer Automatisierungsfunktion wird im Normalfall nicht ausreichend sein für eine Enthaftung, da Versäumnisse im Bereich der Konstruktion nicht durch entspre­ chende Warnungen kompensiert werden können. Die Konstruktion muss für sich genommen bereits den berechtigten Sicherheitserwartungen der Produktbenutzer entsprechen, die für automatisierte Systeme – nicht zuletzt aufgrund des von Herstel­ lerseite angepriesenen Plus an Verkehrssicherheit – regelmäßig deutlich höher sein werden als bei von Menschen geführten Fahrzeugen (vgl. Bodungen/Hoffmann 2016, S. 504; Wagner 2017, § 823 Rn. 829).

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6 Fazit Eine zentrale Aufgabe produzierender Unternehmen besteht darin sicherzustellen, dass durch die eigenen Produkte, deren Herstellung und Inverkehrbringen keinerlei Vorschriften zum Schutz von Rechtsgütern Dritter verletzt werden. Die Verantwortlich­ keit für die eigenen Produkte umfasst deshalb neben der vertraglichen Gewährleis­ tung insbesondere die deliktsrechtliche Produzentenhaftung nach § 823 Abs. 1 BGB sowie das ProdHaftG. Die Systematik aus vertraglicher und gesetzlicher Haftung hat ihre Berechtigung. Denn während das Gewährleistungsrecht nur im Verhältnis zwi­ schen Käufer und Verkäufer Ansprüche begründen kann, wenn die Kaufsache man­ gelhaft ist, kann ein unbeteiligter Dritter, der durch das Produkt geschädigt wurde, aus dem Kaufvertrag keinerlei Rechte für sich herleiten. Tatsächlich sind jedoch ne­ ben dem Käufer des Produkts in aller Regel auch Dritte den Gefahren ausgesetzt, die gegebenenfalls bei dessen Nutzung entstehen. Diesen Geschädigten ebenfalls einen Anspruch auf Schadenersatz zu gewähren ist Anliegen der Produkthaftung nach dem ProdHaftG sowie der deliktischen Produzentenhaftung. Vor dem Hintergrund der mannigfaltigen und rasanten technologischen Entwick­ lungen, insbesondere im Bereich Industrie 4.0, ist die bestehende Haftungssystematik fortwährend kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls anzupassen. Dies gilt auch für die Einführung autonom agierender Fahrzeuge im Straßenverkehr. Dort deutet sich an, dass die deutsche Gesetzgebung auch auf die im Zusammenhang mit dem steigen­ den Automatisierungsgrad von Fahrzeugen neu auftretenden Haftungsfragen grund­ sätzlich vorbereitet und in der Lage ist, diese zu begreifen und einer sachgerechten Lösung zuzuführen. Denn auch dort geht es – unabhängig von einer etwaigen Verant­ wortung des Fahrers durch Übersteuerung des Systems – im Kern um die Problematik, ob ein Fehler am System vorlag (vgl. Kütük-Markendorf/Essers 2016, S. 25). Sowohl die Produzenten- als auch die Produkthaftung hängen hiervon ab. Besondere Anforde­ rungen sind diesbezüglich an die berechtigten Sicherheitserwartungen im Sinne des ProdHaftG zu stellen, welche die Hersteller durch die mit dem autonomen Fahren be­ zweckte Risikoreduktion selbst determinieren. Ein Fehler wird zumindest immer dann vorliegen, wenn das automatisierte System nicht das Sicherheitsniveau bietet, das ein menschlicher Fahrer in derselben Situation zu erfüllen in der Lage ist (vgl. Schrader 2016, S. 246). Wie gesehen könnte es dabei innerhalb des bestehenden Haftungssys­ tems im Ergebnis zu einer signifikanten Verschiebung der Verantwortlichkeiten (Risi­ kotransfer) entlang der Wertschöpfungskette vom Endkunden zum Endhersteller und zu dessen Zulieferern kommen. Insbesondere die hochspezialisierten Systemzuliefe­ rer von Softwarekomponenten werden dabei angesichts ihrer Sachkunde wohl ver­ stärkt deliktische Verkehrssicherungspflichten (auch mit Außenwirkung gegenüber Dritten) übernehmen und sich auf entsprechende Qualitätssicherungsvereinbarun­ gen zum Schadensausgleich im Innenverhältnis der Hersteller einstellen (müssen).

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Literatur Bodungen, B. von; Hoffmann, M.: Autonomes Fahren. Haftungsverschiebung entlang der Supply Chain? (2. Teil), in: Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht, 29. Jg. (2016), S. 503–509. Deutsches Institut für Normung (Hrsg.): ISO 26262: Straßenfahrzeuge – Funktionale Sicherheit, Berlin 2011. Eisenberg, C. et al.: Produkthaftung, 2. Aufl., München 2014. Franz, S.; Wipprich, M.: Optimale Arbeitsteilung in Wertschöpfungsnetzwerken, Münster 2006. Fuchs, M.; Pauker, W.; Baumgärtner, A.: Delikts- und Schadensersatzrecht, 9. Aufl., Berlin 2017. Hans, A.: Automotive Software 2.0. Risiken und Haftungsfragen, in: Gesellschafts- und Wirtschafts­ recht, 8. Jg. (2016), S. 393–396. Hilgendorf, E.: Teilautonome Fahrzeuge. Verfassungsrechtliche Vorgaben und rechtspolitische Her­ ausforderungen, in: Hilgendorf, E.; Hötitzsch, S.; Lutz, L. (Hrsg.): Rechtliche Aspekte automati­ sierter Fahrzeuge, Baden Baden 2015, S. 15–32. Klindt, T.: Fahrzeugautomatisierung unter dem Blickwinkel des Produktsicherheits- und Produkthaf­ tungsrechts, in: Hilgendorf, E.; Hötitzsch, S.; Lutz, L. (Hrsg.): Rechtliche Aspekte automatisier­ ter Fahrzeuge, Baden Baden 2015a, S. 61–65. Klindt, T.: Produktsicherheit, quo vadis?, in: Zeitschrift zum Innovations- und Technikrecht, o. Jg. (2015b), S. 37–38. König, C.: Die gesetzlichen Neuregelungen zum automatisierten Fahren, in: Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht, 30. Jg. (2017), S. 123–128. Kütük-Markendorf, M.E.; Essers, D.: Zivilrechtliche Haftung des Herstellers beim autonomen Fah­ ren. Haftungsfragen bei einem durch ein autonomes System verursachten Verkehrsunfall, in: MultiMedia und Recht, 19. Jg. (2016), S. 22–26. Ortner, R.; Daubenbüchel, F.: Medizinprodukte 4.0. Haftung, Datenschutz, IT-Sicherheit, in: Neue juristische Wochenschrift, 69. Jg. (2016), S. 2918–2924. Potinecke, H.: Compliance in der Produkthaftung, in: Behringer, S. (Hrsg.): Compliance für KMU. Praxisleitfaden für den Mittelstand, Berlin 2016, S. 211–227. Reuter, A.: Produkthaftung in Deutschland, in: Werdich, M. (Hrsg.): FMEA. Einführung und Moderati­ on. Durch systematische Entwicklung zur übersichtlichen Risikominimierung, 2. Aufl., Wiesba­ den 2012, S. 121–137. Wagner, G.: Unerlaubte Handlungen, in: Säcker, F. et al. (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürger­ lichen Gesetzbuch, Bd. 6. Schuldrecht. Besonderer Teil IV (§§ 705–853, PartGG, ProdHaftG), Buch 2, Abschnitt 8, Titel 27, 7. Aufl., München 2017. Schrader, P.: Haftungsfragen für Schäden beim Einsatz automatisierter Fahrzeuge im Straßenver­ kehr, in: Deutsches Autorecht, 86. Jg. (2016), S. 242–246. Steimle, V.; Dornieden, G.: Praxistipps Produkthaftung, in: Wecker, G.; Laak, H. (Hrsg.), Compli­ ance in der Unternehmenspraxis. Grundlagen, Organisation und Umsetzung, Wiesbaden 2008, S. 65–76. Wendt, J.; Oberländer, M.: Produkt- und Produzentenhaftung bei selbstständig veränderlichen Sys­ temen, in: Zeitschrift zum Innovations- und Technikrecht, o. Jg. (2016), S. 58–65.

Björn Asdecker und Eric Sucky

Das Retourenmanagement im interaktiven Handel Die Rückwärtslogistik im digitalen Zeitalter 1 2 2.1 2.2 2.3 3 4

Einleitung | 294 Theoretische Grundlagen des Retourenmanagements | 296 Der Retouren-Begriff | 296 Ableitung einer Retourenmanagement-Definition und Konkretisierung der Aufgaben | 298 Die Retourenquote als zentrale Kennzahl | 301 Das Retourenmanagement als mathematisches Optimierungsproblem | 303 Schlussbetrachtung | 305 Literatur | 306

Zusammenfassung. Der interaktive Handel hat in den vergangenen Jahren konti­ nuierlich an Bedeutung gewonnen. Ein Ende dieses Trends ist nicht absehbar. Ein Grund für die von der Digitalisierung getriebene Entwicklung ist die Gewährung um­ fangreicher Rückgaberechte, die einerseits das Vertrauen in den Absatzkanal und die Anbieter stärken, andererseits jedoch Kosten verursachen. Dieser Beitrag schafft eine theoretische Grundlage und strukturiert die Aktivitäten des Retourenmanagements als Optimierungsproblem.

1 Einleitung Von 2006 bis 2016 stieg der im interaktiven Handel (Katalog, Internet, Teleshopping) realisierte Umsatz von 26,3 Mrd. € auf 72,4 Mrd. € (vgl. bevh 2017). Dabei geht das Wachstum auf die zunehmende Akzeptanz des Internets zurück. In diesem speziel­ len Distributionskanal konnte der Umsatz im gleichen Zeitraum von 10,0 Mrd. € auf 66,9 Mrd. € mehr als versechsfacht werden (vgl. bevh 2017). Die Zahlen belegen, dass der E-Commerce einerseits neue, für den Versandhandel bisher unerreichbare Kun­ dengruppen aus dem stationären Handel erschließt, andererseits den Absatz über die traditionellen Versandhandelskanäle Katalog und Teleshopping kannibalisiert. Es ist davon auszugehen, dass diese Entwicklung anhält. Immerhin beträgt der Anteil des Versandhandels am Bruttoumsatz des deutschen Handels (in 2016: 482,2 Mrd. €) trotz des aktuellen Booms erst 12,7 % (vgl. bevh 2017). https://doi.org/10.1515/9783110473803-016

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Um das vorhandene Wachstumspotenzial auszuschöpfen, müssen Händler die kundenseitig wahrgenommenen Transaktionsrisiken und die Vorbehalte gegenüber einer Bestellung im interaktiven Handel reduzieren. Eine Möglichkeit besteht darin, Vertrauen durch umfangreiche Rückgaberechte zu schaffen. Dies erkannten schon die Versandhandelspioniere am Ende des 19. Jahrhunderts, wie ein Blick auf eine Mey&Edlich-Anzeige (abgebildet in Spiekermann 1999, S. 303) belegt. Dort heißt es: „Nicht gefallene Waaren werden bereitwilligst zurückgenommen und umgetauscht.“ Das damals freiwillig auf Kulanz gewährte Widerrufsrecht ist heute fester Bestandteil des Bürgerlichen Gesetzbuches, wonach Verbraucher – bis auf wenige Ausnahmen – jeden im interaktiven Handel geschlossenen Kaufvertrag innerhalb von 14 Tagen wi­ derrufen können. Während dieser Frist dürfen sie die Produktbeschaffenheit und -funktionalität testen. Zahlreiche Versender gehen sogar freiwillig über das gesetzli­ che Mindestmaß hinaus. Dazu zählen zum Beispiel die Modehändler PlanetSports, Zalando, Titus oder Lands’ End, die mit einer 30-, 100-, 365-tägigen beziehungsweise sogar unbegrenzten Rückgabefrist werben. Neben der absatzfördernden Wirkung verursachen Retouren jedoch Kosten, bei­ spielsweise für den Transport, die Bearbeitung oder den Wertverlust durch eine Ver­ schlechterung des Warenzustands (vgl. Asdecker 2015). Nach der aktuellen Rechtslage dürfen Händler Rücksendekosten an Verbraucher weitergeben, sofern sie die Kunden vor der Bestellung darauf hinweisen. Dies ist in der Praxis aufgrund des intensiven Wettbewerbs jedoch – wenn überhaupt – nur in Nischenmärkten verbreitet. Analog verhält es sich mit der Einforderung eines Wertersatzes für eine Nutzung, die über das reguläre zur Warenprüfung erforderliche Maß hinausgeht. Obwohl der Gesetzgeber entsprechende Regeln vorhält, schrecken insbesondere die großen Händler aufgrund des intensiven Wettbewerbs vor der Durchsetzung ihrer Rechte zurück. Eine verursa­ chungsgerechte Kostenweitergabe erfolgt nicht. Stattdessen propagieren sie die Re­ toure als kostenlose Serviceleistung, die sie über die am Markt erzielten Preise an die Kunden weitergeben. Nach diesem Modell finanzieren die Kunden, die wenig zurück­ senden, jene mit vielen Retouren. Bereits diese einleitenden Ausführungen machen deutlich, in welchem Span­ nungsfeld sich das Retourenmanagement im interaktiven Handel aus betriebswirt­ schaftlicher Sicht bewegt. Der folgende Abschnitt thematisiert die theoretischen Grundlagen, um ein einheitliches Begriffsverständnis zu schaffen und die Aktivi­ täten des Retourenmanagements zu konkretisieren. Darauf aufbauend werden die Aktivitäten des Retourenmanagements als mathematisches Optimierungsproblem skizziert. Der Beitrag endet mit einer kurzen Schlussbetrachtung.

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2 Theoretische Grundlagen des Retourenmanagements Das Retourenmanagement setzt sich aus den beiden Wortteilen „Retouren“ und „Ma­ nagement“ zusammen. Um eine für den Handlungskontext des interaktiven Handels passende Nominaldefinition abzuleiten, wird zunächst der Terminus „Retoure“ be­ trachtet. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse fließen in die Begriffsbestimmung für das Retourenmanagement ein. Darüber hinaus fokussieren die Ausführungen auf die Aufgaben des Retourenmanagements, deren Erfolg die zentrale Kennzahl – die Retourenquote – misst.

2.1 Der Retouren-Begriff Allgemein umfassen Retouren sämtliche gebrauchten und ungebrauchten materiellen Güter, die an Institutionen des vorwärts gerichteten Wertschöpfungsprozesses oder an von diesen beauftragte Dienstleister zurückgehen (vgl. Asdecker 2014, S. 16). Im spe­ ziellen Fall des interaktiven Handels liegt jedoch ein deutlich enger gefasstes Begriffs­ verständnis vor. Einerseits handelt es sich hierbei stets um Rücksendungen, die der Endverbraucher im Rahmen des ihm entweder gesetzlich oder freiwillig auf Kulanz gewährten Widerrufsrechts initiiert. Ferner beschränken sie sich auf den durch die Widerrufsfrist klar definierten Zeitraum nach der Zustellung. Spätere Rücksendungen zur Reparatur oder zum Ende der Produktlebens- beziehungsweise Nutzungsdauer durchlaufen im interaktiven Handel einen eigenständigen Reparatur- beziehungswei­ se Entsorgungsprozess und sind deshalb nicht Teil des Retourenmanagements. Aus diesen Gründen dient nachfolgende Definition als Grundlage für die weiteren Aus­ führungen: Retouren umfassen sämtliche materiellen Güter, die Kunden innerhalb der ihnen gewährten Wider­ rufsfrist an interaktive Händler oder an von diesen beauftragte Dienstleister zurücksenden.

Entscheiden sich Kunden für eine Rücksendung, bewerten sie den zu entrichtenden Kaufpreis abzüglich der für die Retoure anfallenden Transaktionskosten höher als den nach Ende der Widerrufsfrist verbleibenden Produktnutzen (vgl. Davis/Gerstner/ Hagerty 1995, S. 12). Die Transaktionskosten beinhalten den entstehenden zeitlichen, finanziellen und/oder emotionalen Aufwand einer Rücksendung. Dieser besteht in Abhängigkeit von der Ausgestaltung des Retourenprozesses zum Beispiel aus: – Der Anforderung oder dem Abruf des Retourenscheins – Dem Ausfüllen des Retourenscheins – Der Wiederverpackung der zu retournierenden Ware – Der Übergabe der Retoure an den Logistikdienstleister – Den anfallenden Rücksendekosten

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Es kommen diverse Gründe dafür in Betracht, dass der nach Ablauf der Widerrufsfrist verbleibende Produktnutzen nicht ausreicht, um einen Kauf zu rechtfertigen. Nach der ökonomischen Theorie bestimmt sich der Nutzen eines Guts aus dessen Poten­ zial zur Bedürfnisbefriedigung (vgl. Harbrecht 1993, S. 271). Jedoch können Kunden aufgrund der räumlichen Trennung von Angebot und Nachfrage jenes Potenzial nicht abschließend beurteilen. Zwar bestehen auch in den Angebotsträgern des interakti­ ven Handels vielfältige Präsentationsmöglichkeiten, jedoch reichen diese nicht an ei­ ne Inaugenscheinnahme vor Ort heran. Folglich entspricht die bestellte Ware in Bezug auf die Produktbeschaffenheit (beispielsweise Größe, Form, Farbe) oftmals nicht den vorab entwickelten Erwartungen. Außerdem verhalten sich viele Kunden aufgrund ihrer eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten begrenzt rational, d. h. sie nutzen auf der Suche nach der optimalen Entscheidungsalternative nicht alle zur Verfügung ste­ henden Informationsquellen, sondern geben sich nach einer gewissen Recherchezeit mit einer vermeintlich akzeptablen Option zufrieden (vgl. Simon 1979, S. 496). Eine Situation, in der Kunden Rücksendungen bewusst in Kauf nehmen, sind Auswahl­ bestellungen. Hierbei versuchen sie, ihre Bedürfnisse möglichst schnell zu befriedi­ gen und ihren Bestell- und Rücksendeaufwand zu minimieren (vgl. Asdecker/Karl/ Sucky 2017b, S. 4193). Aufgrund der unvollständigen Information bestellen sie neben der vermeintlich besten Alternative weitere Varianten (beispielsweise Größe, Typ, Far­ be). Typische Auswahlbestellungen enthalten deshalb zum Beispiel den gleichen Ar­ tikel in verschiedenen Größen. Da sich die Ware im Hinblick auf diesen Parameter unterscheidet, eignet sie sich unterschiedlich gut zur Bedürfnisbefriedigung. Folglich kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Retoure. Neben den Kunden, die eine Rücksendung bewusst in Kauf nehmen, gibt es Kunden, die eine Rücksendung be­ reits bei der Bestellung zielgerichtet planen. Sie haben keine Kaufabsicht, sondern möchten die Ware ausschließlich während der Widerrufsfrist nutzen. Ein solches Ver­ halten zeigt sich bei Produkten, deren Nutzen sich lediglich auf einen kurzen Zeit­ raum beschränkt. Als Beispiel sei die Bestellung von Trachtenmode für einen einma­ ligen Oktoberfest-Besuch genannt. Da die Besteller den interaktiven Händler über ihre Kaufabsicht täuschen, sind derartige Rücksendungen auch als opportunistische oder unethische Retouren bekannt (vgl. Reynolds/Harris 2005, S. 328). Des Weiteren kann das fehlende Potenzial zur Bedürfnisbefriedigung auf Fehler der Produzenten, der Händler oder der beauftragten Transportdienstleister zurückge­ hen. Versagt in der Supply Chain beispielsweise die Qualitätssicherung, erreichen den Kunden defekte Produkte, die ebenfalls in Rücksendungen münden. Analog verhält es sich bei auf dem Transportweg beschädigter Ware, fehlerhafter Kommissionierung, oder zu langer Lieferzeit. Die Heterogenität der voranstehend erläuterten Retouren­ gründe spiegelt sich in deren Zustand bei Eintreffen am Bearbeitungsstandort wider. Daraus folgen einige Besonderheiten gegenüber den vorwärts gerichteten Warenströ­ men, die Tabelle 1 zusammenfasst. Mit einer Retoure gehen Informations- und Finanzflüsse einher, die unterschied­ liche Richtungen aufweisen. Während sich die Rücksendung flussaufwärts vom Kun­

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Tab. 1: Unterschiede zwischen vorwärts gerichteten Güterflüssen und Retouren. Kriterium

Vorwärts gerichtete Güterflüsse

Zustand Homogen Bearbeitungsprozesse Homogen

Skaleneffekte Methoden der Absatzförderung

Die Homogenität ermöglicht das Ausnutzen von Skaleneffekten Traditionelle Marketinginstrumente einsetzbar

Retouren im interaktiven Handel Heterogen, da abnutzungsabhängig Heterogen, da stark abhängig von der gewählten Verwertungsoption einer Retoure Die Heterogenität erschwert die Ausnutzung von Skaleneffekten Berücksichtigung von Kannibalisierungseffekten bei einer erneuten Vermarktung

den zum Händler bewegt, können Finanzflüsse in beide Richtungen auftreten. Zum Beispiel initiiert die Mitteilung des Retourengrundes einen flussaufwärts, die Bestä­ tigung des Retoureneingangs hingegen einen flussabwärts gerichteten Informations­ strom. Analog dazu stellen Kaufpreiserstattungen einen flussabwärts, die Entrichtung von Rücksendekosten jedoch einen flussaufwärts gerichteten Finanzstrom dar. Im interaktiven Handel stellen Retouren aufgrund der charakteristischen räum­ lichen Trennung von Angebot und Nachfrage einen elementaren Bestandteil des Ge­ schäftsmodells dar. Es gilt daher, die Retourenströme aktiv zu managen.

2.2 Ableitung einer Retourenmanagement-Definition und Konkretisierung der Aufgaben Die etymologische Herkunft des Managementbegriffs ist nicht abschließend geklärt. Als potenzielle Wurzeln gelten das lateinische „manus agere“ (an der Hand führen) oder „mansionem agere“ (das Haus bestellen) (vgl. Staehle 1999, S. 71). In der betriebs­ wirtschaftlichen Literatur wird der Terminus mit der zielgerichteten Führung eines Wertschöpfungssystems verbunden. Dabei haben sich zwei Sichtweisen etabliert. Die Vertreter der institutionellen Perspektive betonen die Träger, das heißt die Personen beziehungsweise Organe, die Führungsaufgaben wahrnehmen. Demgegen­ über steht die funktionale Sichtweise, die auf den Führungsprozess, also auf die zur Zielerreichung notwendigen dispositiven Aufgaben, fokussiert. In Anlehnung an das Phasentheorem der Entscheidungsfindung wird häufig zwischen den drei Phasen der Planung, der Steuerung und der nachgelagerten Kontrolle unterschieden (vgl. Welge/ Al-Laham 2008, S. 186). Hierbei handelt es sich um einen sequentiellen, iterativen, rückgekoppelten Prozess. Auf diese Weise entsteht ein Regelkreis, der die Evolutions­ fähigkeit des Managementsystems sicherstellt. Das Ergebnis des Planungsprozesses bildet ein konkreter, detailliert formulierter Maßnahmenkatalog, der anschließend unter aktiver Supervision in die Praxis umgesetzt und im Nachgang kontrolliert wird.

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Diesem Beitrag liegt das funktionale Managementverständnis zugrunde, weil hier die Prozesse und Instrumente des Retourenmanagements im Fokus stehen. Die begriffliche Synthese von „Retoure“ und „Management“ führt zu folgender Definition: Das Retourenmanagement im interaktiven Handel umfasst die Planung, Steuerung und Kontrolle der während der gewährten Widerrufsfrist initiierten Rücksendungen sowie der damit assoziierten Infor­ mations- und Finanzflüsse, um die Unternehmensziele des interaktiven Händlers zu unterstützen.

Das Aufgabenspektrum des Retourenmanagement beinhaltet einerseits eine kurative, andererseits eine präventive Komponente (vgl. Asdecker 2014, S. 22–26). Das kurative Retourenmanagement umfasst alle Maßnahmen, die auf eine Rückabwicklung wider­ rufener Kaufverträge abzielen. Hierfür sind die Warenrücknahme und eine Erstattung erhaltener Zahlungen zu organisieren, was die Retourenbearbeitung subsumiert. In der Regel fallen darunter folgende Arbeitsschritte: – Die Erteilung einer Rücksendeautorisation, beispielsweise durch die Bereitstel­ lung eines Retourenscheins. – Die Organisation und/oder Durchführung des Rücktransports. – Die Vereinnahmung der Ware. Dazu sind die erhaltenen Sendungen zu öffnen, deren Inhalt zu kontrollieren und die Datenerfassung durchzuführen. Ziel der Vereinnahmung ist die Beurteilung des Warenzustands, um den weitergehenden Bearbeitungsprozess festzulegen. Hierbei kommt oftmals die Einteilung in A-, B-, C- und D-Retouren zum Einsatz. A-Retouren weisen keinerlei Zustandsverschlech­ terung auf. Bei B-Retouren sind vor dem erneuten Verkauf des Produkts kleinere Arbeitsschritte (beispielsweise Austausch der Verpackung oder geringfügige Rei­ nigungsschritte) notwendig, um die Ware in einen neuwertigen Zustand zurück­ zuversetzen. C-Retouren weisen deutliche Gebrauchsspuren auf und lassen sich nicht mehr mit einem vertretbaren Aufwand in einen für den primären Distri­ butionskanal akzeptablen Zustand versetzen. D-Retouren sind in einem derart schlechten Zustand, dass selbst der Absatz auf einem Sekundärmarkt ausschei­ det. – Die Verwertung der Retouren. Während A- und B-Retouren erneut in den primären Warenkreislauf eingeführt werden, gehen C-Retouren einem sekundären Kanal zu. Beispiele hierfür sind der eigenverantwortliche Verkauf über Outlets, auslän­ dische Märkte und Abverkaufsplattformen/Shoppingclubs, die Zusammenarbeit mit industriellen Verwertern oder Spenden an gemeinnützige Organisationen. D-Retouren gehen der Entsorgung zu. – Die Administration der Retourenfolgen. Dazu zählen beispielsweise die Erstat­ tung bereits geleisteter Zahlungen oder die Einleitung einer Ersatzlieferung. Demgegenüber steht das präventive Retourenmanagement, das alle Maßnahmen zur Einflussnahme auf die Rücksendewahrscheinlichkeit umfasst. Es setzt sich aus drei

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Komponenten zusammen: (1) Retourenvermeidung, (2) Retourenverhinderung sowie (3) Retourenförderung. Sowohl die Verhinderung als auch die Vermeidung reduzie­ ren im Ergebnis die Anzahl der von einem Unternehmen zu bearbeitenden Rücksen­ dungen, unterscheiden sich aber grundlegend in der Herangehensweise. Die Retou­ renvermeidung (Avoidance) fasst alle Aktivitäten zusammen, die zur Beseitigung der verursachenden Retourengründe durch eine Verbesserung der vorwärts gerichteten Wertschöpfungsaktivitäten beitragen. Da Rücksendungen für Kunden einen Aufwand darstellen, wirkt die Retourenvermeidung positiv auf die Kundenzufriedenheit. Im Ge­ gensatz dazu erschweren Verhinderungsmaßnahmen (Gatekeeping) Rücksendungen. Es wird zwischen Maßnahmen mit und ohne Kompensationsleistung differenziert. Bei der erstgenannten Alternative entrichten Händler eine finanzielle Gegenleistung, um Kunden von einer Rücksendung abzuhalten. Auf dieses Instrument greift beispiels­ weise Amazon zurück. Wenn die Kosten für die Bearbeitung der Retoure die Wieder­ beschaffungskosten überschreiten, erstattet Amazon den Warenwert und fordert den Kunden auf, selbst eine Entsorgung vorzunehmen. Ebenso können Versandhändler auf Retouren, die Kunden während der Rücksendeautorisation mit einem günstigeren alternativen Angebot begründen, mit einer Erstattung des Differenzbetrages reagie­ ren. Die Verhinderung ohne Kompensation versucht hingegen den zeitlichen, finanzi­ ellen und/oder emotionalen Aufwand des Bestellers zu erhöhen. Solche reaktiven Re­ striktionen ohne Kompensationsleistung verärgern die Verbraucher und wirken sich negativ auf die Kundenzufriedenheit aus (vgl. Asdecker/Sucky 2016, S. 644–647). In der Praxis erhöhen nachfolgende Maßnahmen den Aufwand für die Kunden: – Hinweise auf die ökologischen und sozialen Folgen von Retouren – Komplizierter Rückgabeprozess – Fehlende Informationen über den Ablauf einer Retoure – Keine oder kostenpflichtige Kommunikationskanäle – Keine Bereitstellung eines vorfrankierten Rücksendescheins – Rückgriff auf Logistikdienstleister mit wenig Annahmestellen – Erhebung von Rücksendekosten – Annahmeverweigerung ungerechtfertigter Retouren (beispielsweise nach Ablauf der Widerrufsfrist) Demgegenüber versuchen interaktive Händler mit der Retourenförderung ihre Absatz­ chancen zu erhöhen, indem sie bewusst eine höhere Rücksendewahrscheinlichkeit in Kauf nehmen. Derartige Maßnahmen sind betriebswirtschaftlich sinnvoll, wenn das zusätzliche Ertragspotenzial die dazugehörigen Kostenrisiken überschreitet. Mit be­ sonders kundenfreundlichen Rücksenderegeln zielen die Maßnahmen auf eine Sti­ mulierung der Impulskaufneigung und eine langfristige Kundenbindung ab. Dazu ge­ hören speziell: – Offensive Kommunikation der Rückgabemöglichkeit im Angebotsträger – Über das gesetzliche Mindestmaß hinausgehende Widerrufsfrist – Einfacher und kulanter Rücksendeprozess

Das Retourenmanagement im interaktiven Handel |

– –

301

Rückgriff auf führende Logistikdienstleister mit vielen Annahmestellen oder Pick-up-Service Kostenlose Rücksendungen

Bei einem erfolgreichen Einsatz wirken die präventiven Aufgaben auf die Rücksende­ wahrscheinlichkeit, die ex post in der zentralen Kennzahl des Retourenmanagements gemessen wird: die Retourenquote.

2.3 Die Retourenquote als zentrale Kennzahl Trotz großem Verbreitungsgrad ist die Retourenquote in der betrieblichen Praxis nicht einheitlich definiert. In Abhängigkeit vom Anwendungszweck existieren verschiede­ ne Berechnungsformen (vgl. Asdecker 2014, S. 227–229). In Anlehnung an den aus der Logistik bekannten Servicegrad lässt sich zwischen einer ereignis-, einer mengenund einer wertbezogenen Betrachtung differenzieren. Für eine bessere Vergleichbar­ keit werden im Folgenden die Begriffe der Alpha-, Beta- und Gamma-Retourenquote eingeführt. In Bezug auf die Alpha-Retourenquote gibt es zwei Unterausprägungen, da sich das Rücksendeereignis entweder auf das Sendungsobjekt oder die Bestellung bezie­ hen kann. Eine Bestellung führt zum Beispiel zu mehreren Sendungsteilen, wenn die maximale Paketgröße nicht ausreicht oder wenn der Händler aufgrund unterschiedli­ cher Warenverfügbarkeit mehrere Teillieferungen auslöst. Umgekehrt können Händ­ ler mehrere Bestellungen zu einer Sendung bündeln. Daraus folgen die Alpha1 - und Alpha2 -Retourenquote: α1 =

Anzahl retournierter Pakete ⋅ 100 % Anzahl versendeter Pakete

(1)

α2 =

Anzahl der anteilig oder voll retournierten Bestellungen ⋅ 100 % Anzahl der Bestellungen

(2)

Die beiden Alpha-Retourenquoten spiegeln die logistische Perspektive wider und er­ möglichen eine bessere Planbarkeit des kurativen Retourenmanagements. Sie unter­ stützen somit eine effiziente Bearbeitung. Demgegenüber verfügt die Beta-Retouren­ quote über einen Mengenbezug und stützt sich auf die retournierten Artikelpositio­ nen: Anzahl retournierter Artikel β= ⋅ 100 % (3) Anzahl versendeter Artikel Die Gamma-Retourenquote nimmt ergänzend eine Wertbetrachtung vor: γ=

Wert der retournierten Ware ⋅ 100 % Wert der versendeten Ware

(4)

Sowohl die Beta- als auch die Gamma-Retourenquote sind für das präventive Retou­ renmanagement von Interesse, da sie wertvolle Hinweise für die Ausgestaltung der

302 | Björn Asdecker und Eric Sucky

Retourenverhinderung, -vermeidung und -förderung geben. Dazu sind die Kennzah­ len auf die entsprechende Waren- und Kundengruppe oder den einzelnen Artikel beziehungsweise einzelnen Kunden zu beziehen. Wenn zum Beispiel einzelne Artikel deutlich erhöhte Retourenquoten aufweisen, sind die dazugehörigen Retourengründe genauer zu analysieren. Eine Kombination der Beta-Retourenquote mit der GammaRetourenquote erlaubt eine Aussage darüber, ob in einem heterogenen Sortiment hochpreisige Artikel mit einer größeren Wahrscheinlichkeit retourniert werden als niedrigpreisige Artikel. Das folgende hypothetische Beispiel soll die Unterschiede verdeutlichen: Ein Kunde bestellt drei Artikel im Wert von je 100 Euro, die der Händler in zwei Paketen versendet, und retourniert davon einen in einem Paket. Ein zweiter Kunde bestellt zwei Artikel im Wert von jeweils 150 Euro, die in einem Paket versendet werden, wovon einer in einem Paket zurückgeht. Ein dritter Kunde bestellt einen Artikel im Wert von 75 Euro, den der Händler in einem Paket verschickt, und behält diesen. Die Alpha1 -Retourenquote beträgt in diesem Fall 50 %, weil von den vier versendeten Paketen zwei zurückgehen. Die Alpha2 -Retourenquote beläuft sich auf 66,6 %, da zwei von drei Bestellungen in eine Rücksendung münden. Die Beta-Retourenquote beziffert sich im Beispiel auf 33,3 %, weil von den sechs versendeten Artikeln zwei re­ tourniert werden. Für die Gamma-Retourenquote ist der zurückgehende Warenwert in Höhe von 250 Euro mit dem versendeten Warenwert in Höhe von 675 Euro in Relation zu setzen. Es ergibt sich ein Wert von 37 %. Für die Alpha1 - und die Beta-Retourenquote als Messgrößen für das kurative und präventive Aufgabenspektrum hat die an der Universität Bamberg ansässige Forschungsgruppe Retourenmanagement (www.retourenforschung.de) Ende 2014 Zahlen erhoben, die Tabelle 2 zusammenfasst. Die Retourenquote ist nicht nur als zentrale Kennzahl des Controlling von Interes­ se, sondern darüber hinaus elementar für die Darstellung des Retourenmanagements als Optimierungsproblem, was der folgende Abschnitt bezweckt. Tab. 2: Warengruppenbezogene Retourenquoten aus dem „Retourentacho“ (vgl. Asdecker et al. 2017a, S. 605). Produktgruppe (n)

Ø Alpha1 Retourenquote

Ø BetaRetourenquote

Ø Artikelpositionen pro Retourenpaket

Bekleidung (n = 45) Hobby/Freizeit (n = 17) Unterhaltungselektronik (n = 10) DIY/Blumen (n = 10) Schuhe (n = 9) Möbel (n = 8) Schmuck (n = 8) Haushaltswaren (n = 5) Sonstiges (n = 31)

47,1 % 14,2 % 6,8 % 4,8 % 49,6 % 5,8 % 5,6 % 5,5 % 8,9 %

31,8 % 9,5 % 4,6 % 2,6 % 36,7 % 4,0 % 5,2 % 5,0 % 6,3 %

2,1 1,5 1,2 1,3 1,8 1,0 1,0 1,1 1,3

Das Retourenmanagement im interaktiven Handel | 303

3 Das Retourenmanagement als mathematisches Optimierungsproblem Nach den qualitativen Ausführungen im voranstehenden Abschnitt nimmt dieses Ka­ pitel eine ergänzende, mathematisch-quantitative Perspektive ein, indem es das Re­ tourenmanagement als Optimierungsproblem formuliert. Wie bereits ausgeführt, sti­ mulieren umfangreiche Rückgaberechte einerseits die Nachfrage, führen gleichzeitig aber zu höheren Kosten. Dieses Optimierungsproblem wird im Folgenden beschrie­ ben. Zur Verständnisförderung und besseren Nachvollziehbarkeit werden ausschließ­ lich lineare Zusammenhänge unterstellt. Ausgangspunkt sind die durch den interaktiven Händler für einen Artikel rea­ lisierten Bestellungen B, die sich aus zwei Komponenten zusammensetzen: erstens einer fixen, von der kommunizierten Retourenpolitik unabhängigen Anzahl FB und zweitens einer variablen, von der kommunizierten Retourenpolitik abhängigen Kom­ ponente VB. Die verschiedenen Ausprägungsformen der Retourenpolitik bildet die von 0 bis 1 reichende Variable RP ab. Ein Wert von RP = 0 entspricht einem äußerst restriktiven Umgang, d. h. ein solcher Händler setzt verstärkt Maßnahmen der Retou­ renverhinderung ohne Kompensation ein. Das andere Extrem, RP = 1, symbolisiert eine sehr liberale Retourenpolitik. Durch die kundenfreundliche, kulante Gestaltung kann der Händler die volle variable Zusatznachfrage realisieren. Es gilt demnach: B = FB + VB ⋅ RP

(5)

Die Retourenpolitik beeinflusst ferner die Rücksendewahrscheinlichkeit eines bestell­ ten Artikels, die in Anlehnung an die ex post bestimmte Retourenquote als von 0 bis 1 reichendes β Eingang in das Modell findet. Für die Rücksendewahrscheinlichkeit wird analog zur Nachfrage davon ausgegangen, dass jeder Artikel eine fixe Basisretouren­ quote BRQ aufweist sowie einen von der Retourenpolitik abhängigen variablen Teil VRQ: β = BRQ + VRQ ⋅ RP (6) Bei der Bestellung des Artikels erwartet den Händler ein Deckungsbeitrag DBBestellung , der sich im interaktiven Handel aus zwei Komponenten zusammensetzt: einerseits den Erlösen, wenn der Kunde die bestellte Ware nach Ablauf der Widerrufsfrist be­ hält, andererseits den Kosten im Rücksendefall. Der Erwartungswert der Erlöse be­ rechnet sich als Verkaufspreis P abzüglich des Einkaufspreises C und der Absatzkos­ ten AK. Die Absatzkosten beinhalten sämtliche Aufwendungen, die zur Anbahnung und Durchführung der Bestellung notwendig sind, also zum Beispiel den Cost-perClick und die Versandkosten, sofern diese der Händler übernimmt. Im Rücksendefall trägt der Händler zusätzlich zu den entrichteten Absatzkosten die Retourenbearbei­ tungskosten RBK. Des Weiteren testen und prüfen manche Kunden die Produktbe­ schaffenheit und -funktionalität so, dass sich der Zustand des Artikels verschlechtert.

304 | Björn Asdecker und Eric Sucky

Für diesen Rücksendeanteil Z ist deshalb ein Wertverlust WV zu berücksichtigen. Die Multiplikation der Erwartungswerte mit den Eintrittswahrscheinlichkeiten ergibt: DBBestellung = (1 − β) ⋅ (P − C − AK) − β ⋅ (AK + RBK + Z ⋅ WV)

(7)

Der gesamte durch den Händler erwartete Deckungsbeitrag DB entspricht demnach: DB = B ⋅ DBBestellung

(8)

Durch Einsetzen von (5), (6) und (7) in (8) ergibt sich eine quadratische Gleichung, was für den zulässigen, für die Praxisanwendung realistischen Wertebereich der Para­ meter eine Bestimmung der gesamtdeckungsbeitragsmaximalen Retourenpolitik RP∗ nach folgender Gleichung erlaubt: RP∗ =

1 BRQ 1 P − C − AK − ( VB − 1) − ⋅( ) 2 VRQ ⋅ (P − C + RBK + Z ⋅ WV) VRQ VB+FB

(9)

Das Ergebnis für die optimale Retourenpolitik erlaubt aufschlussreiche Ceteris-Pari­ bus-Betrachtungen. Konkret zeigt das einfache Modell: – Je niedriger/höher die mit den Rücksendungen direkt assoziierten Kosten, des­ to liberaler/restriktiver ist die optimale Retourenpolitik. Mit den Retouren gehen unmittelbar die Bearbeitungskosten RBK und der anteilige realisierte Wertverlust Z ∗ WV einher. Je geringer die anfallenden Kosten für die Organisation und/oder die Durchführung des Rücktransports, die Vereinnahmung der zurückgesendeten Ware, die Bereitstellung für die Re-Distribution und die Administration der Re­ tourenfolgen, desto liberaler sollte der interaktive Handel seine Retourenpolitik gestalten. Dies ist ein plausibles Ergebnis, das gleichzeitig nahelegt, dass die Re­ tourenpolitik kein starres Konstrukt, sondern ein auf die jeweiligen Gegebenhei­ ten anzupassendes Instrument des Retourenmanagements ist. Führen beispiels­ weise dauerhafte Effizienzsteigerungen bei der Retourenbearbeitung zu niedrige­ ren Kosten oder führen neue Verwertungskanäle zu einem geringeren Wertver­ lust, sind diese Umstände in einer kulanteren Rücksendepolitik widerzuspiegeln, da das Absatzpotenzial kundenfreundlicher Regelungen die zusätzlichen Kosten nun tendenziell überwiegt. – Je niedriger/höher die Absatzkosten AK, desto liberaler/restriktiver ist die optima­ le Retourenpolitik. Neben den direkt zurechenbaren Kosten haben Händler bei ei­ ner Rücksendung weiterhin die Kosten für die Anbahnung und Abwicklung einer Bestellung zu tragen. Es wird ersichtlich, dass die Kosten der vorwärts gerichteten Distribution auch für die Entscheidungen im Retourenmanagement von großer Relevanz sind. Je niedriger der finanzielle Aufwand, um eine Bestellung zu ge­ nerieren und abzuwickeln, desto stärker sollten Entscheidungsträger einen mög­ lichst kulanten und kundenfreundlichen Umgang mit Retouren pflegen. Steigen die Absatzkosten an, rückt das zusätzliche Verkaufspotenzial in den Hintergrund. Stattdessen fallen die Kosten stärker ins Gewicht. Es empfehlen sich demnach ein strengerer Umgang mit Retouren und ein Fokus auf Verhinderungsmaßnahmen.

Das Retourenmanagement im interaktiven Handel |





305

Je geringer/stärker sich die Retourenpolitik auf die Bestellneigung auswirkt, desto restriktiver/liberaler ist die optimale Retourenpolitik. Den Einfluss auf die Bestell­ neigung drückt der Anteil der variablen Nachfrage an der Gesamtnachfrage – also der Faktor VB/(VB + FB) – aus. Je geringer dieser Anteil, desto kleiner RP∗ . Ergo ist die Retourenpolitik restriktiver zu gestalten. Auch dieses Modellergebnis ist nach­ vollziehbar. Stimuliert die Retourenpolitik nur einen kleinen Nachfrageanteil, ist es aus Sicht des interaktiven Händlers nicht lohnenswert, zusätzliche Rücksen­ dungen durch liberale Regelungen in Kauf zu nehmen. Umgekehrt verhält es sich bei einem großen Einfluss auf die Nachfrage. Das Ergebnis erklärt, warum inter­ aktive Händler in kleineren Nischenmärkten häufig Rücksendegebühren erheben. Aufgrund der fehlenden Alternativen kann der Kunde nicht auf andere Anbieter ausweichen. Je geringer/größer die realisierbare absolute Handelsspanne P − C, desto restrikti­ ver/liberaler die optimale Retourenpolitik. Mit der Handelsspanne P−C verändert sich der erste Teil von Gleichung (5), wodurch RP∗ ceteris paribus ab- beziehungs­ weise zunimmt. Demnach sollten Premiumanbieter, die in ihren Geschäftsfeldern hohe absolute Handelsspannen vorfinden, liberaler agieren als jene, die mit ge­ ringen Spannen konfrontiert sind. Gleichzeitig legt diese Beobachtung nahe, dass interaktive Händler bei Sonderaktionen mit hohen Preisnachlässen andere Rück­ senderichtlinien anwenden sollten, als in ihrem regulären Geschäft. Um die Be­ standskunden nicht durch unterschiedliche Regelungen zu verwirren oder im Ex­ tremfall gar zu verärgern, ist es aus Händlersicht sinnvoll, derartige Abverkäufe auf externen Plattformen zu organisieren. In Betracht kommen hierfür beispiels­ weise geschlossene Shopping-Clubs wie Vente Privee.

In der Gesamtschau verdeutlicht das Modell das permanente Spannungsfeld, in dem sich das Retourenmanagement bewegt. Zum einen stimuliert die Inkaufnahme ei­ ner höheren Rücksendewahrscheinlichkeit durch eine liberalere Retourenpolitik die Nachfrage, andererseits verringern Retouren die Deckungsbeiträge einer Bestellung. Die Frage nach der optimalen Retourenpolitik hängt deshalb von den konkreten Rah­ menbedingungen ab und ist laufend zu überprüfen beziehungsweise zu hinterfragen.

4 Schlussbetrachtung Allein im deutschen interaktiven Handel wurden im Jahr 2013 schätzungsweise 250 Mio. Rücksendungen bearbeitet (vgl. Asdecker/Karl/Sucky 2017a, S. 601). Unter Berücksichtigung der starken Wachstumsraten erscheint für das Jahr 2017 eine Zahl von über 300 Mio. Retouren als durchaus realistisch. Selbst wenn keine exakte Anga­ be möglich ist, verdeutlicht die enorme Anzahl der Rücksendungen die Bedeutung eines zielgerichteten Retourenmanagements. Besonders relevant ist das Retourenma­

306 | Björn Asdecker und Eric Sucky

nagement bei Warengruppen mit traditionell hohen Rücksendewahrscheinlichkei­ ten, beispielsweise Bekleidung oder Schuhen, und Warengruppen mit extrem hohen Transport-, Bearbeitungs- und Wertverlusten, beispielsweise Unterhaltungselektro­ nik oder Möbel. Bei derartigen Konstellationen kommt dem Retourenmanagement eine maßgebliche Hebelwirkung auf den Unternehmenserfolg zu (vgl. Asdecker 2015, S. 11). Hierbei ist – wie in den voranstehenden Abschnitten erläutert – zwischen ku­ rativem und präventivem Retourenmanagement zu unterscheiden. Für das kurative Retourenmanagement sind die notwendigen Prozesse kosteneffizient zu gestalten, um Einsparpotenziale auszuschöpfen. Im Rahmen des präventiven Retourenmanage­ ments sind Maßnahmen zur Retourenvermeidung zu identifizieren und zu realisieren, was sogar der Kundenzufriedenheit zuträglich ist, da Rücksendungen aus Kunden­ sicht einen Aufwand darstellen. Die Ursachenbeseitigung als Teil eines kontinuierli­ chen Verbesserungsprozesses sollte hierfür sechs Handlungsfelder berücksichtigen: (1) den Kunden, (2) das Produkt, (3) den Absatzprozess, (4) die Warenkorbzusammen­ setzung, (5) die Angebotsträger und (6) die Logistik (vgl. Asdecker/Karl/Sucky 2017b, S. 4199). So können im Hinblick auf den Angebotsträger beispielsweise ausführli­ che, ehrliche Kundenrezensionen Falschbestellungen und die damit zwingend ver­ bundenen Rücksendungen vermeiden. Bei den Maßnahmen zur Verhinderung ohne Kompensation und der Förderung ist das Spannungsfeld zwischen dem Absatzstei­ gerungspotenzial einer liberalen Retourenpolitik und dem Kostensenkungspotenzial einer restriktiven Retourenpolitik zu beachten. Der vorliegende Beitrag zeigt, aufbau­ end auf den theoretischen Grundlagen des Retourenmanagements, wie Unternehmen bei der Gewichtung der Retourenmanagement-Aufgaben und der Ableitung spezieller Maßnahmen unterstützt werden können. Ferner existiert mit den definierten Retou­ renquoten ein zentrales Controlling-Instrument zur laufenden Kontrolle der jeweils gewählten Retourenpolitik.

Literatur Asdecker, B.: Retourenmanagement im Versandhandel – Theoretische und empirisch fundierte Ge­ staltungsalternativen für das Management von Retouren, Bamberg 2014. Asdecker, B.: Returning Mail-order Goods: Analyzing the Relationship between the Rate of Returns and the Associated Costs, in: Logistics Research, Vol. 8 (2015), No. 3, pp. 1–12. Asdecker, B.; Karl, D.; Sucky, E.: Retourenmanagement als Erfolgsfaktor des Handels, in: Schallmo, D. et al. (Hrsg.): Digitale Transformation von Geschäftsmodellen – Grundlagen, Instrumente und Best Practices, Wiesbaden 2017a, S. 595–612. Asdecker, B.; Karl, D.; Sucky, E.: Examining Drivers of Consumer Returns in E-Tailing with Real Shop Data, in: Proceedings of the 50th Annual Hawaii International Conference on System Sciences (HICSS), Hawaii 2017b, pp. 4192–4201.

Das Retourenmanagement im interaktiven Handel | 307

Asdecker, B.; Sucky, E.: Retourenmanagement im Online-Handel – Eine Untersuchung der Kunden­ erwartungen, in: Binckebanck, L.; Elste, R. (Hrsg.): Digitalisierung im Vertrieb – Strategien zum Einsatz neuer Technologien in Vertriebsorganisationen, Wiesbaden 2016, S. 633–649. bevh: Aktuelle Zahlen zum Interaktiven Handel, Erstveröffentlichung: o. J., online verfügbar: https: //www.bevh.org/markt-statistik/zahlen-fakten/ (zuletzt geprüft am: 31.08.2017). Davis, S.; Gerstner, E.; Hagerty, M.: Money Back Guarantees in Retailing: Matching Products to Con­ sumer Tastes, in: Journal of Retailing, Vol. 71 (1995), No. 1, pp. 7–22. Harbrecht, W.: Bedürfnis, Bedarf, Gut, Nutzen, in: Wittmann, W. et al. (Hrsg.): Handwörterbuch der Betriebswirtschaft, 5. Aufl., Stuttgart 1993, Sp. 266–280. Reynolds, K.L.; Harris, L.C.: When Service Failure Is Not Service Failure: An Exploration of the Forms and Motives of Illegitimate Customer Complaining, in: Journal of Services Marketing, Vol. 15 (2005), pp. 321–335. Simon, H.A.: Rational Decision Making in Business Organizations, in: The American Economic Re­ view, Vol. 69 (1979), pp. 493–513. Spiekermann, U.: Basis der Konsumgesellschaft: Entstehung und Entwicklung des modernen Klein­ handels in Deutschland 1850–1914, München 1999. Staehle, W.H.: Management – Eine verhaltenswissenschaftliche Perspektive, 8. Aufl., Mün­ chen 1999. Welge, M.K.; Al-Laham, A.: Strategisches Management – Grundlagen – Prozess – Implementierung, 5. Aufl., Wiesbaden 2008.

| Teil C: Systemgestaltung

Stefan Minner

Kapazitätsdimensionierung von Produktionssystemen 1 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 3.3 3.4 4

Problemstellung und Überblick | 311 Deterministische Kapazitätsplanung | 312 Kapazitätserweiterungsstrategien | 312 Gemischt-ganzzahlige Optimierungsmodelle | 313 Stochastische Kapazitätsplanung | 315 Statische Einperiodenmodelle | 315 Dynamische Modelle | 316 Netzwerkmodelle | 319 Flexibilität durch Wahl des Kapazitätstyps | 319 Erweiterungen | 320 Literatur | 321

Zusammenfassung. Kapazitäten definieren wesentlich die Rahmenbedingungen der Produktion. Die strategisch-taktische Dimensionierung von Kapazitäten ist daher mit entscheidend für den Unternehmenserfolg. Der Beitrag stellt die grundlegenden Planungsansätze der Kapazitätsdimensionierung sowie Modelle zur Entscheidungs­ unterstützung vor. Deterministische und stochastische Kalküle und einfache Grund­ modelle sowie mögliche Erweiterungen werden präsentiert und thematisiert.

1 Problemstellung und Überblick Kapazitäten bestimmen neben Standorten und Technologien wesentlich die Ressour­ cen eines Unternehmens (vgl. Allon/van Mieghem 2015; Slack/Lewis 2015). Unter Kapazität versteht man dabei die maximale Leistung eines Systems, hier eines Pro­ duktionssystems. Die Kapazität ist somit gegeben durch die Menge von Produk­ ten und Teilen, die in einer Zeitperiode maximal produziert werden kann. Die Pla­ nung der Kapazität ist typischerweise lang- bis mittelfristig ausgerichtet und Teil der unternehmerischen Infrastrukturplanung (vgl. Günther/Tempelmeier 2011). Deshalb ist die Kapazitätsplanung im Rahmen der Planungstypologie (vgl. Schneeweiß 2002) als strategisch-taktische Planungsaufgabe anzusehen. Die verfügbare Kapazität be­ stimmt wesentlich die Rahmenbedingungen und Beschränkungen für die kurzfristige Produktionsplanung und -steuerung (vgl. Schneeweiß 2003). Bei der Festlegung der richtigen Supply-Chain-Strategie (vgl. Fisher 1997) hinsichtlich Effizienz und Reak­ tionsschnelligkeit spielt die Kapazität des Produktionssystems eine zentrale Rolle. https://doi.org/10.1515/9783110473803-017

312 | Stefan Minner

Die Kapazität eines Produktionssystems determiniert die kurzfristige Reaktionsfä­ higkeit und bestimmt aufgrund des Fixkostencharakters sowie der schwierigen oder unmöglichen Reversibilität von Kapazitätsentscheidungen in erheblichem Umfang die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens. Die Kapazitätsplanung wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Je nach In­ formationsstand bei der Festlegung wird zwischen Planung unter Sicherheit oder Unsi­ cherheit unterschieden. Abhängig von der Berücksichtigung der Zeit und Veränderung der Kapazität werden daher statische und dynamische Kapazitätsplanungsmodelle ver­ wendet. Zu berücksichtigende dynamische Aspekte sind dabei z. B. Lebenszyklen von Produkten (vgl. Francas et al. 2009), Saisonalitäten in der Produktnachfrage und Res­ sourcenverfügbarkeit oder Änderungen in der Marktstruktur durch neue Wettbewer­ ber. Unsicherheit kann sowohl versorgungsseitig als auch nachfrageseitig vorliegen, z. B. durch temporäre Nichtverfügbarkeit von Anlagen oder Lieferanten, unbekann­ tes Marktwachstum oder Wechselkursschwankungen. Die Antizipation zukünftiger bekannter oder unbekannter Änderungen der Rahmenbedingungen und potenzieller (bedingter) Handlungsalternativen stellt ein wesentliches Merkmal der Planung und eines effektiven Risikomanagements mit proaktiven und reaktiven Maßnahmen dar. Die grundlegenden Planungskalküle der Kapazitätsdimensionierung sowie Mo­ delle zur Entscheidungsunterstützung werden im Folgenden vorgestellt. Abschnitt 2 stellt deterministische Kalküle zur Kapazitätsfestlegung und -erweiterung vor und präsentiert exemplarisch einen häufig vorzufindenden Ansatz der gemischt-ganz­ zahligen linearen Optimierung. Abschnitt 3 beschäftigt sich mit der Planung von Kapazität unter Unsicherheit. Der abschließende Abschnitt 4 thematisiert zusätzliche Aspekte der Kapazitätsdimensionierung.

2 Deterministische Kapazitätsplanung Wesentliche Planungsaufgabe ist die Bereitstellung der zur Produktion benötigten Ka­ pazität. Neben der Betrachtung zu jedem Zeitpunkt ist insbesondere die Entwicklung über die Zeit von besonderer Bedeutung.

2.1 Kapazitätserweiterungsstrategien In dynamischen Modellen wird explizit die Entwicklung der Kapazität über die Zeit mit Erweiterungen, Verlagerungen und Stilllegungen abgebildet. Insbesonde­ re dynamische Nachfragen durch Saisonalitäten, Lebenszyklen oder Marktwachs­ tum beziehungsweise Schrumpfung erfordern eine dynamische, proaktive oder re­ aktive Anpassung der Kapazitäten. Dabei ergeben sich die Planungsprobleme der zeitlichen Verteilung sowie der Dimensionierung der Kapazitätsanpassungen (vgl.

Kapazitätsdimensionierung von Produktionssystemen |

313

Volumen

Volumen

Große vs. kleine Erweiterung

Zeit

Zeit

Volumen

Volumen

Lead- vs. Lag-Strategie

Zeit

Zeit

Abb. 1: Kapazitätserweiterungsstrategien.

Abbildung 1). Die Entscheidung zwischen wenigen großen und mehreren kleinen Kapazitätsanpassungen wird maßgeblich von Skaleneffekten der Dimensionierungs­ kosten einerseits und Leerkosten nicht genutzter Kapazität andererseits beeinflusst. Die strategische Festlegung einer proaktiven (Lead-) ist von einer reaktiven (Lag-) Strategie (oder hybriden Strategien) im Falle von Nachfrageveränderungen zu unter­ scheiden (vgl. Slack/Lewis 2015). Der Vorteil einer proaktiven Leadstrategie liegt in der stets ausreichend vorhan­ denen (Normal-)Kapazität, die somit zur Umsatzmaximierung beiträgt. Weiterhin er­ gibt sich durch die vorzeitige Bereitstellung der Kapazitätserweiterungen ein Sicher­ heitspuffer. Die Nachteile der Leadstrategie liegen in der früheren Kapitalbindung und dem Investitionsrisiko, wenn erwartete Nachfrageentwicklungen sich nicht wie ge­ plant oder prognostiziert einstellen. Der Vorteil einer reaktiven Lag-Strategie liegt in der hohen Kapazitätsauslastung und dem geringeren Kapitalbedarf, der wesentliche Nachteil ist die eingeschränkte Flexibilität.

2.2 Gemischt-ganzzahlige Optimierungsmodelle Ein in der Kapazitätsplanung häufig eingesetzter Ansatz zur Entscheidungsunterstüt­ zung sind gemischt-ganzzahlige Optimierungsmodelle (vgl. z. B. Mariel/Minner 2015; Tavaghof-Gigloo/Minner/Silbermayr 2016; Volling et al. 2013). In ihrer Grundstruktur bilden diese Modelle auf strategischer Ebene die Wahl von kontinuierlichen oder dis­ kreten Kapazitätsstufen an verschiedenen Standorten ab, während auf operativer Pla­ nungsebene Produktionsprogrammentscheidungen für typischerweise mehrere Pro­ dukte und mehrere Perioden unter Berücksichtigung der gegebenen Kapazitäten ge­

314 | Stefan Minner

troffen werden (vgl. Schneeweiß 2003). Nachfolgend soll ein solches Planungsmodell prototypisch vorgestellt werden. Dabei werden über die Zeit (Perioden) mehrere Pro­ dukte und Ressourcen abgebildet. Indizes: n Ressourcen (n = 1, . . . , N) m Produkte (m = 1, . . . , M) t Perioden (t = 1, . . . , T) Parameter: d mt Maximale Produktnachfrage für Produkt m in Periode t a nm Kapazitätsbedarf von Ressource n für eine Einheit von Produkt m (Produktions­ koeffizient) c n Kapazitätskosten für die Bereitstellung je Einheit der Ressource n b m Deckungsbeitrag je Einheit von Produkt m Entscheidungsvariablen: K n Kapazität von Ressource n (über den gesamten Planungshorizont) q mt Produktionsmenge von Produkt m in Periode t Die Zielfunktion maximiert über den Planungshorizont den Gewinn, der sich aus der Differenz der erzielten Deckungsbeiträge der Produkte abzüglich der Kapazitätskosten ergibt. T

M

N

max Z = ∑ ∑ b m q mt − ∑ c n K n t=1 m=1

(1)

n=1

Die Nebenbedingungen stellen in jeder Periode und für jede Ressource die Einhaltung der Kapazität, die Beachtung von Maximalnachfragen sowie Nichtnegativitätsbedin­ gungen sicher. M

∑ a mn q mt ≤ K n

∀n = 1, . . . , N ;

t = 1, . . . , T

(2)

m=1

q mt ≤ d mt q mt , K n ≥ 0

∀m = 1, . . . , M ;

t = 1, . . . , T

∀m = 1, . . . , M ;

t = 1, . . . , T ;

(3) n = 1, . . . , N

(4)

Bei diesem Grundmodell handelt es sich um ein Lineares Programm, welches mittels Standardverfahren und Solvern auch für große praktische Anwendungen lösbar ist. Das Grundmodell lässt sich in verschiedene Richtungen erweitern, z. B. für mehre­ re Produktionsstandorte oder mehrere Produktionsstufen. Weiterhin ist die Abbildung weiterer realer Restriktionen wie Mindest- oder Maximalproduktionsmengen, die Be­ rücksichtigung von Flexibilitätspotenzialen durch verschiedene Arbeitszeitmodelle (vgl. Tavaghof-Gigloo/Minner/Silbermayr 2016), Ganzzahligkeit von Kapazitätsstufen (vgl. Mariel/Minner 2017), oder die Erfüllung von Local-Content und Zollvorschriften (vgl. Mariel/Minner 2015) möglich.

Kapazitätsdimensionierung von Produktionssystemen | 315

3 Stochastische Kapazitätsplanung 3.1 Statische Einperiodenmodelle Prominenteste Quelle von Unsicherheit ist die Kapazitätsnachfrage. In der statischen Kapazitätsplanung unter Berücksichtigung von unsicherer Nachfrage handelt es sich modelltypisch um ein klassisches Lagerhaltungsmodell, das sogenannte Zeitungsver­ käuferproblem (Newsvendor-Problem). Die Kapazität ist (einmalig) festzulegen, bevor die Nachfrage bekannt ist. Dabei wird angenommen, dass die unbekannte Nachfrage D einer Wahrscheinlichkeitsverteilung mit Dichte f , Verteilung F sowie Mittelwert μ und Standardabweichung σ folgt. Die Bereitstellung einer Einheit der Kapazität ver­ ursacht Kosten in Höhe von c. Fehlende Kapazität nach Realisierung der ex ante un­ bekannten Nachfrage verursacht Kosten pro Einheit von v>c, wobei es sich hierbei um Deckungsbeiträge entgangener Nachfrage oder Kosten des Fremdbezugs handeln kann. Vereinfachend sei unterstellt, dass nicht genutzte Überkapazität verloren geht. Die zu minimierende Zielfunktion der erwarteten Kosten C mit Kapazitätsentschei­ dung K ergibt sich wie folgt: ∞

K

min C = cK + v ∫ (d − K) f(d)dd = vμ − (v − c) K + v ∫ F(d)dd

(5)

0

K

Kapazitätskosten fallen ex ante und unabhängig von der realisierten Nachfrage an. Im Falle eines über die Kapazität K hinausgehenden Bedarfs fallen Strafkosten für die Dif­ ferenz d − K an, die mit der entsprechenden Eintrittswahrscheinlichkeit f(d) gewichtet wird. Die notwendige (und aufgrund der Konvexität der Zielfunktion auch hinreichen­ de) Optimalitätsbedingung und die daraus abgeleitete optimale Lösung lauten (vgl. auch Ewert/Wagenhofer 2014): dC = − (v − c) + vF(K) = 0 dK



F(K) =

v−c cu = cu + co v

(6)

Das optimale Kapazitätsniveau wird so dimensioniert, dass die Wahrscheinlichkeit da­ für, dass ausreichend Kapazität vorhanden ist (D ≤ K; Wahrscheinlichkeit F(K)), d. h. die unsichere Kapazitätsnachfrage übersteigt die vorhandene Kapazität nicht, dem Verhältnis von Kosten c u = v − c für zu wenig Kapazität und der Summe von c u und c o , den Kosten für zuviel bereitgestellte Kapazität c o = c, entsprechen. Unter der Annahme eines normalverteilten Kapazitätsbedarfs ergibt sich unter −1 der folgende äquivalen­ Verwendung der Inversen der Standardnormalverteilung F0,1 te Zusammenhang: v−c −1 ( K = μ + F0,1 )σ (7) v d. h. die optimale Kapazität ergibt sich aus der Summe des erwarteten Kapazitätsbe­ darfs μ plus einer Sicherheitskapazität. Die Sicherheitskapazität steigt mit der Stan­

316 | Stefan Minner

dardabweichung (Volatilität) des Kapazitätsbedarfs sowie dem notwendigen Service­ grad (Verhältnis von c u und c u + c o ), sofern v > 2c. Andernfalls wird aufgrund des hohen Überkapazitätsrisikos und der vorteilhaften Fremdbezugsmöglichkeit ein Si­ cherheitsabschlag vorgenommen. Zum Grundmodell existiert eine Vielzahl von Erweiterungen. Für eine ausführ­ liche Darstellung sei auf Choi (2012) verwiesen. Gallego und Moon (1993) stellen verteilungsfreie robuste (Worst-case) Ansätze vor; Petrović, Petrović und Vujošević (1996) präsentieren einen alternativen Unsicherheitsmodellierungsansatz auf Basis der Theorie unscharfer Mengen; Eeckhoudt, Gollier und Schlesinger (1995) berück­ sichtigen einen risikoaversen Entscheider und Beutel und Minner (2012) stellen einen datengetriebenen Ansatz vor, welcher das Prognose- und Optimierungsproblem auf Basis historischer Daten integriert und die Berücksichtigung verschiedener externer Kausalfaktoren ermöglicht.

3.2 Dynamische Modelle Zur Unterstützung von Kapazitätsentscheidungen unter Dynamik und Unsicherheit sollen zunächst der allgemeine Ansatz der Stochastischen Dynamischen Programmie­ rung erwähnt und dann einfache Warteschlangenmodelle vorgestellt werden.

3.2.1 Stochastische Dynamische Programmierung In der dynamischen Programmierung werden intertemporale Aspekte von Kapazitäts­ entscheidungen berücksichtigt. Die vorhandene Kapazität stellt eine Zustandsvaria­ ble dar, während Kapazitätserweiterungen, Verschiebungen oder Stilllegungen hier Anpassungsentscheidungen charakterisieren. Für gegebene Kapazität wird operativ, wie im deterministischen Fall, in jeder Periode das Produktionsprogramm optimiert. In Erweiterung des in Abschnitt 2.2 für die deterministische Kapazitätsplanung vorgestellten Modells sei nun angenommen, dass Kapazitäten (dynamisch) in jeder Periode angepasst werden können. Zur Vereinfachung wird nachfolgend von einer Ressource N = 1 ausgegangen. Eine Erweiterung der Kapazität verursacht Kosten je Einheit von c+ , eine Verringerung Kosten in Höhe von c− je Einheit, während vorhan­ dene Kapazität in jeder Periode Bereitschaftskosten von h verursacht. Die Zustandsvariable x beschreibt die aktuell vorhandene Kapazität. D ist der Vek­ tor der (für die Zukunft unsicheren) maximalen Nachfragen für die M Produkte. Ver­ einfachend wird im Folgenden angenommen, dass diese Marktpotenziale zu Beginn einer Periode bekannt, zwischen Perioden und Produkten unabhängig sowie über die Zeit identisch verteilt sind. In jeder Periode sind positive (u + ) und negative (u − ) Ka­ pazitätsanpassungen möglich und es wird unter gegebener Kapazität das Produkti­ onsprogramm mit Produktionsmengen q m bestimmt. In jeder Periode wird nun der

Kapazitätsdimensionierung von Produktionssystemen

| 317

erwartete gesamte Deckungsbeitrag abzüglich der Kapazitäts- und Anpassungskos­ ten maximiert. Die Wertfunktion V t (x, d) der optimalen Entscheidung in Periode t in Abhängigkeit von der vorhandenen Kapazität x und der aktuellen maximalen Nach­ fragen d m aller Produkte ergibt sich für alle Perioden t = 1, . . . , T aus der BellmanGleichung: M

V t (x, d) = max { ∑ b m q m − hx − c+ u + − c− u − m=1

+ ∫ V t+1 (x + u + − u − , D) f(D)dD} M

∑ am qm ≤ x ;

qm ≤ dm

∀m = 1, . . . , M ;

u− ≤ x ;

(8) q m , u+ , u− ≥ 0

(9)

m=1

Direkt für jede Periode t werden die Deckungsbeiträge sowie die Kapazitätsbereit­ schafts- und Anpassungskosten verrechnet. Zusätzlich werden über alle möglichen Nachfragerealisierungen der nächsten Periode die Werte der optimalen Folgeent­ scheidungen in Abhängigkeit des sich aus den Kapazitätsentscheidungen ergebenden neuen Zustands berücksichtigt. Als Nebenbedingung wird die Produktionsprogramm­ entscheidung abgebildet. Die Funktionalgleichungen können mittels Rückwärtsre­ kursion beginnend mit Periode T hin zur ersten Planungsperiode für alle Zustände ausgewertet werden. Dabei wird üblicherweise V T+1 = 0 angenommen, die initiale Kapazität zu Beginn der Planung ist x = x0 . Die optimale Strategie kann dann mittels Vorwärtsrechnung bestimmt werden. Stephan, Gschwind und Minner (2010) präsentieren ein um Nachfrageabhängig­ keiten erweitertes Markov-Modell mit eingeschränkten Zustandsbäumen und analy­ sieren der Wert der stochastischen Planung gegenüber einer auf Erwartungswerten basierenden Optimierung für eine Anwendung in der Automobilindustrie mit spezifi­ schen Produktlebenszyklen. Für reale Anwendungen mit vielen Zustandsvariablen und vielen möglichen Wer­ ten für jede Variable erweist sich dieser Ansatz allerdings häufig aufgrund seiner ho­ hen Dimensionalität in Zuständen und Entscheidungen (Curses of Dimensionality) als nicht durchführbar. Approximative Dynamische Programmierung (vgl. Powell 2011) stellt in diesen Fällen eine methodische Lösungsalternative dar.

3.2.2 Warteschlangenmodelle Insbesondere zur Analyse von Produktionssystemen werden häufig Warteschlan­ genmodelle verwendet. Das grundlegende Modell der Warteschlangentheorie ist das M/M/1 Modell. Hierbei wird unterstellt, dass Aufträge zufällig einem Poissonprozess folgend das System betreten. Die Zeiten zwischen der Ankunft zweier aufeinander­ folgender Aufträge ist somit exponentialverteilt mit Parameter 1/λ, d. h. im Mittel erreichen λ Aufträge pro Zeiteinheit das System. Zur Bearbeitung der Aufträge steht

318 | Stefan Minner

eine Bedieneinheit (Server) zur Verfügung, deren mittlere Bedienzeit je Auftrag expo­ nentialverteilt mit Parameter 1/μ ist, d. h. im Mittel können μ Aufträge pro Zeiteinheit bedient werden. Im Grundmodell wird unterstellt, dass ankommende Aufträge das System betreten und auf Service warten. Dies impliziert, dass der Warteraum unend­ lich ist. Das Problem der Kapazitätsplanung kann sowohl die Gestaltung der Anzahl der Server als auch die Wahl der Bedienrate betreffen (vgl. Altendorfer/Minner 2012). Un­ terstellt man Kosten je Server von c sowie Wartekosten von v pro Kunde und Zeitein­ heit, so ergibt sich das folgende Kostenminimierungsproblem (vgl. Neumann/Morlock 1993). Dabei stellt W die Verweilzeit eines Kunden im System (Wartezeit in der Schlage zuzüglich Bearbeitungszeit) dar, die sich im M/M/1 Modell mit einem Server wie folgt ergibt (vgl. z. B. Medhi 2003): 1 E(W) = (10) μ−λ Daraus ergibt sich das folgende Optimierungsmodell zur Minimierung der Kapazi­ täts- und Wartekosten unter der Nebendingung eines stabilen Warteschlangensystems (d. h. die Bedienrate muss größer als die Ankunftsrate der Aufträge sein): min C = cμ + vλE(W)

(11)

Die optimale Lösung ergibt sich dann für das M/M/1 Modell mit variabler Produkti­ onsrate in geschlossener Form (vgl. Neumann/Morlock 1993): μ∗ = λ + √

vλ c

(12)

Ein alternativer Ansatz ist die Optimierung der Anzahl der Bedienstationen n in einem M/M/n System. In diesem Fall ergibt sich die erwartete Wartezeit eines Auftrags im System zu (vgl. z. B. Medhi 2003): n

λ 1 P0 ( μ ) p E(W) = + μ n! (1 − p)2

(13)

Mit: p=

λ und nμ

(14) s

n

n−1 ( λ ) ( μλ ) 1 μ ] +( P0 = [ ∑ ) s! 1−p n! s=0 [ ]

−1

(15)

und (diskret) konvexem Optimierungsproblem min C = cnμ + vλE(W)

(16)

Zur Bestimmung der optimalen Anzahl von Stationen wird n solange erhöht, bis die Zielfunktion ihr Minimum erreicht hat. Diese Greedy-Vorgehensweise ist aufgrund der Konvexität der Zielfunktion optimal.

Kapazitätsdimensionierung von Produktionssystemen | 319

3.3 Netzwerkmodelle Beide dynamischen Modelltypen lassen sich für eine Kapazitätsplanung in Netz­ werken und mehrstufigen Produktionssystemen nutzen. Während bei der Stochas­ tischen Dynamischen Programmierung die Mehrstufigkeit beziehungsweise Vernet­ zung im Zustandsraum abgebildet wird, erlauben sogenannte Newsvendornetzwerke (van Mieghem/Rudi 2001) die gemeinsame Betrachtung von Ressourcen und Produk­ ten mit partieller oder vollständiger Substitutionsmöglichkeit. Dadurch lassen sich ebenfalls verschiedene Flexibilitätsstrategien evaluieren und benötigte Kapazitäten festlegen (vgl. Francas et al. 2009; Stephan/Gschwind/Minner 2010). Warteschlangen­ netzwerke (vgl. Altendorfer/Minner 2011; Medhi 2003) ermöglichen Erweiterungen der vorgestellten einstufigen Modelle, bei denen die Kapazitäten aufeinanderfolgender Fertigungsstufen gemeinsam festgelegt werden und somit deren Interaktion berück­ sichtigt wird.

3.4 Flexibilität durch Wahl des Kapazitätstyps Ein weiteres Entscheidungsproblem der Kapazitätsbestimmung ist die Wahl des Ka­ pazitätstyps. Hier ist zwischen flexibler und spezialisierter Kapazität zu entscheiden. Flexible Kapazitäten erfordern üblicherweise eine höhere Investition, sind dafür aber für die Herstellung mehrerer Produkte verwendbar. Spezialisierte Kapazitäten hinge­ gen sind in der Beschaffung günstiger, dafür aber eingeschränkter einsetzbar. Bei un­ bekannter zukünftiger (stochastischer) Nachfrage ergeben sich durch flexible Kapazi­ täten sogenannte Poolingvorteile, d. h. Restkapazitäten einiger Produkte können flexi­ bel für andere Produkte mit Restnachfragen genutzt werden. Neben Poolingvorteilen der gemeinsamen Nutzung maschineller Kapazitäten berücksichtigen Francas, Löhn­ dorf und Minner (2011) die Flexibilität der Personalkapazität. Francas und Minner (2009) übertragen den Ansatz auf die Kapazitätsbestimmung für Produktionssyste­ me mit Kreislaufwirtschaftsprozessen. Dabei ist zu entscheiden, wie viele und welche Kapazitäten für die Neuproduktion sowie für die Aufarbeitung von zurückgenomme­ nen Altprodukten vorgesehen werden sollen. Dabei kann einerseits Produktion und Aufarbeitung für ein Produkt zentralisiert werden, andererseits können alle Aufar­ beitungsprozesse in einer Kapazität zusammengefasst werden. Francas und Minner (2009) stellen dazu einen zweistufigen stochastischen Programmierungsansatz vor, der mit Sample-Average-Approximation gelöst wird.

320 | Stefan Minner

4 Erweiterungen Neben den in den vorherigen Kapiteln vorgestellten Kalkülen und Planungsmodel­ len existiert eine Vielfalt von Modellerweiterungen zur Berücksichtigung weiterer Pla­ nungsaspekte, von denen nachfolgend eine Auswahl kurz vorgestellt werden soll. Kapazitätswettbewerb Während die vorgestellten Grundmodelle von einer monopolistischen Marktsituation ausgehen, unterstellen weitergehende industrieökonomische Ansätze Entscheidun­ gen im Wettbewerb (vgl. z. B. Pfähler/Wiese 2008). Die strategische Option, Kapazitä­ ten frühzeitig festzulegen, erlaubt den Aufbau einer Stackelbergführerposition und da­ mit einen Wettbewerbsvorteil. Der Treiber für diesen Vorteil ist die Möglichkeit, durch Kapazitätsaufbau und eingeschränkter Reversibilität dieser Entscheidung das Com­ mitment einzugehen, im nachfolgenden Mengen- beziehungsweise Preiswettbewerb aggressivere Entscheidungen aufgrund der „versunkenen“ Kosten für die Kapazitäten zu treffen. Kontrakte und Kapazitäten Die Flexibilität einer Kapazitätsanpassungsmöglichkeit ermöglicht die Koordination von Kapazitätsentscheidungen in einer Lieferkette (vgl. z. B. Chopra/Meindl, 2015). Während reine Preiskontrakte zwischen Hersteller und Abnehmer typischerweise durch beiderseitige Marginalisierung zu einer Unterinvestition in Kapazität führen, ermöglicht die zusätzliche Berücksichtigung einer Anpassung der Kapazität eine vollständige Koordination, d. h. die gewählte Kapazität entspricht der einer zentralen Optimierung unter vollständiger Information. Araneda-Fuentes, Lustosa und Minner (2015) bestimmen optimale Produktionskapazitäten in einer zweistufigen Lieferkette mit quadratischen Kapazitätskosten und nachgelagerten Lieferkontrakten und zei­ gen, dass ein Vertrag mit drei Parametern in der Lage ist, die Lieferkette und die dezentralen Kapazitätsentscheidungen zu koordinieren, d. h. die Lösung eines zen­ tralen Planers abzubilden. Berücksichtigung von Verhaltensannahmen In neueren verhaltensorientierten Arbeiten des Produktionsmanagements werden überwiegend technokratische Annahmen der Grundmodelle verfeinert, indem zu­ standsabhängiges menschliches Arbeitsverhalten berücksichtigt wird. In mehrstufi­ gen Produktionssystemen ist z. B. zu beobachten, dass Bearbeitungszeiten nicht un­ abhängig vom Arbeitszustand der Vorgänger- und/oder Nachfolgerstufe sind. Ist der Puffer zwischen zwei Bearbeitungsstationen gefüllt und wird somit die Produktivität der Vorstufe behindert, so sind schnellere Bearbeitungszeiten als im Durchschnitt zu beobachten. Geht der nachfolgenden Stufe das Material zu Bearbeitung aus, sind

Kapazitätsdimensionierung von Produktionssystemen | 321

ebenfalls schnellere Bearbeitungszeiten zu beobachten. Während in klassischen Modellen die Zwischenstufen eines Produktionssystems eine geringere Arbeitslast zugewiesen bekommen (Bowl-Effekt), relativieren verhaltensorientierte Modelle die­ se Empfehlung zur Allokation von Kapazitäten und Zuweisung von Arbeitsinhalten in mehrstufigen Produktionssystemen (vgl. Heimbach/Grahl/Rothlauf 2012; ÖnerKözen/Minner/Steinthaler 2017).

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322 | Stefan Minner

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Michael Manitz

Konfigurierung von Montagelinien Die Produktivität von Fließproduktionssystemen 1 2 3 3.1 3.2

Flexible Montagelinien | 323 Eine modellbezogene Beschreibung von Montagelinien | 327 Konfigurationsplanung für Montagelinien | 333 Das Optimierungsproblem: Leistungsabstimmung und Pufferallokation | 333 Das Evaluationsmodell: Leistungsanalyse („Performance Evaluation“) | 336 Literatur | 339

Zusammenfassung. Im vorliegenden Beitrag werden Verfahren vorgestellt, mit denen bestimmte Leistungskenngrößen („Performance-Maße“) von Fließproduktionssyste­ men evaluiert werden können. Solche Systeme – auch Montagelinien genannt – werden für Erzeugnisse eingerichtet, die in hohen Stückzahlen gefertigt werden sol­ len. Um den modernen Anforderungen der kundenindividuellen Massenproduktion zu entsprechen, benötigt man flexible Fließproduktionssysteme, d. h., es werden verschiedene Varianten eines Grundprodukts beziehungsweise einer Produktfamilie gefertigt. Die Variantenvielfalt sorgt für einige im folgenden Beitrag zu betrachtende Planungsaufgaben, weil die konkrete Bearbeitungszeit an einer Bearbeitungsstation variantenabhängig unterschiedlich ausfällt und dadurch – und aus verschiedenen an­ deren Gründen (manuelle Tätigkeiten, die form-, tageszeit- oder mitarbeiterabhängig sind, Maschinenausfälle etc.) – nicht genau vorhersagbar ist. Die Bearbeitungszeiten sind somit stochastisch.

1 Flexible Montagelinien Die stationsbezogenen Bearbeitungszeiten sind als stochastisch anzusehen, wenn (1) z. B. viele manuelle Tätigkeiten ausgeführt werden. Hopp und Spearman (2000) be­ zeichnen das als natürliche Variabilität. Untersuchungen ergeben, dass Verteilungen der Bearbeitungszeiten linkssteil und rechtsschief verlaufen (vgl. Lau/Martin 1987). Auch (2) Störungen der Arbeitsausführung an den Arbeitssystemen treten stochastisch auf und erhöhen das Ausmaß an Variabilität der Verweilzeit von Werkstücken an einer Station. Darüber hinaus können zwei weitere Gründe angeführt werden, die eine sto­ chastische Betrachtung der Bearbeitungszeit an einer Station nahelegen. Zum einen kann (3) die Bearbeitungszeit aus der Sicht einer Station schwanken, wenn verschie­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-018

324 | Michael Manitz

dene Varianten eines Grundprodukts mit spezifischen Bearbeitungszeiten gefertigt werden. Und schließlich kann (4) eine Station einen ganzen Abschnitt („Produktions­ anlage“, z. B. eine Roboterzelle) eines tatsächlichen Systems mit verschiedenen, nicht explizit beschriebenen oder nur schwer erfassbaren Einflüssen repräsentieren. Die Be­ arbeitungszeit dieser aggregiert betrachteten Station („Black Box“) entspricht dann der Zeit zwischen zwei Fertigbearbeitungen im repräsentierten Abschnitt. Diese Zwischen­ abgangszeit ist aus der Sicht des Planers dann ebenso als stochastisch anzusehen. Die Bearbeitungsgeschwindigkeit eines Teilsystems, d. h. die Bearbeitungsrate einer (ag­ gregiert betrachteten) Station, aber auch das Ausmaß an Variabilität, haben nämlich einen Einfluss darauf, wie viel Puffer dann noch zum Abfangen stochastischer Effek­ te benötigt werden (vgl. auch Tempelmeier 2003b). Die Auslegung einer Anlage und eventuell das Vorsehen von Pufferplätzen auch innerhalb einer Anlage, aus der eine bestimmte Leistungsfähigkeit resultiert, sind Gegenstand eines anderen Planungs­ schritts, der sogenannten Anlagenplanung. Dabei geht es um die Festlegung der An­ zahl und der Anordnung von Fertigungseinrichtungen und entkoppelnder Warteplätze unter Berücksichtigung produktionstechnologischer Bedingungen. Die Unterschei­ dung zwischen einer detaillierten Anlagenplanung und einer aggregierten Analyse des Montagesystems (Fabrikplanung) ergibt sich aus der Zugehörigkeit zu verschiedenen Planungsebenen. Welcher Puffer jeweils zu betrachten ist, dient dabei als Unterschei­ dungskriterium. Die in der aggregierten Betrachtung zu berücksichtigenden Puffer dienen der Entkopplung der Anlagen untereinander. Eventuelle Puffer innerhalb der Anlagen werden im Rahmen der Anlagenplanung festgelegt und bei einer aggregierten Leistungsanalyse des gesamten Montagesystems nicht mehr explizit berücksichtigt. Um maximale Produktivität für auf Massenproduktion ausgerichtete Fertigungs­ systeme zu erreichen, richtet man Fließproduktionssysteme ein. Das Flussprinzip zu realisieren bedeutet: Die Arbeitssysteme werden räumlich so angeordnet, dass ein einheitlicher Materialfluss entsprechend der Reihenfolge der Arbeitsgänge im Arbeits­ plan entsteht (Fließproduktion; vgl. Corsten/Gössinger 2016; Günther/Tempelmeier 2016). Das heißt, dass alle an einer konkreten Station eintreffenden Werkstücke fortan den gleichen Weg durch das System nehmen, egal, aus welcher von gegebenenfalls mehreren Zulieferlinien Werkstückkomponenten an einer Montagestation ankom­ men. Der Materialfluss ist insofern für alle diese Werkstücke einheitlich. Dabei kann es in Montagesystemen mit gegebenenfalls mehreren Eintrittsstationen für Kompo­ nenten mehrere arbeitsplangemäße Wege für Werkstücke durch das Fließprodukti­ onssystem geben, die sich aber alle eindeutig aus dem Arbeitsplan ergeben. Die Variantenvielfalt erfordert Flexibilität. Flexible Fließproduktionssysteme sind in der Lage, jeweils eine gewisse Menge von ähnlichen Arbeitsverrichtungen an den Werkstücken durchzuführen (Maschinenflexibilität; vgl. Tempelmeier/Kuhn 1993, S. 19), ohne dass dabei aufwendige Umrüstvorgänge erforderlich werden (Produkt­ mixflexibilität; vgl. Tempelmeier/Kuhn 1993, S. 20 f.). Diese Flexibilität der Arbeitssys­ teme ermöglicht die Bearbeitung eines begrenzten Spektrums an unterschiedlichen Werkstückarten, d. h. Produktvarianten, in beliebiger Reihenfolge (vgl. Tempelmei­ er 1996, Sp. 508).

Konfigurierung von Montagelinien

| 325

Für die Konfigurierung von flexiblen Fließproduktionssystemen ist es von Bedeu­ tung, wie viele Endprodukte pro Zeiteinheit das Produktionssystem verlassen können (Produktionsrate). Bei den Konfigurationsentscheidungen soll sichergestellt werden, dass die gewünschte Produktionsrate erreicht wird. Aus Sicht einer Arbeitsstation ist aufgrund der geforderten Flexibilität aus verschiedenen Gründen die Bearbeitungs­ zeit in der Regel nicht deterministisch, sondern stochastisch, was die Bestimmung der Produktionsrate für Montagelinien mit verketteten Stationen nicht unbedingt ver­ einfacht. Für Systeme mit stochastischen Bearbeitungszeiten sind in den vergangenen Jahrzehnten dennoch eine Reihe von Analyseverfahren für solche Systeme entwickelt worden. Verzichtet man zur Beschreibung der stochastischen Bearbeitungszeiten auf spezielle Annahmen in Bezug auf deren Wahrscheinlichkeitsverteilung, so haben Bu­ zacott, Liu und Shanthikumar (1995) sowie Tempelmeier und Bürger (2001) geeignete Verfahren zur Bestimmung der Produktionsrate entwickelt – jenseits der Simulations­ modelle, die natürlich zur Abschätzung der Leistungskenngrößen eines Fließproduk­ tionssystems ebenfalls einsetzbar sind, die aber im Gegensatz zu analytischen Ansät­ zen nicht „auf Knopfdruck“, sondern erst nach längeren Laufzeiten und erst mit vielen Replikationen (und auch erst nach dem Durchtesten mehrerer Konfigurationsalterna­ tiven) statistisch signifikante Aussagen treffen können. Für spezielle Verteilungsannahmen in Bezug auf die Bearbeitungszeiten (und auch bezüglich anderer Konfigurationsparameter) ist bereits viel früher eine Rei­ he von Verfahren zur Leistungsanalyse entwickelt worden (für einen Überblick vgl. Altiok 1997; Buzacott/Shanthikumar 1993; Dallery/Gershwin 1992; Gershwin 1994; Helber 1999; Papadopoulos/Heavey/Browne 1993). Neuere Überblicke liefern Li und Meerkov (2007) und Li et al. (2009). Sind trotz deterministischer Bearbeitungszeiten stochastische Stationsausfälle zu berücksichtigen, dann eignet sich das ADDX-Ver­ fahren von Burman (1995). Die meisten Verfahren gehen von einer linearen Material­ flussstruktur aus, d. h., es gibt nur eine Eintrittstation, keine Montagestationen. In der betrieblichen Praxis, z. B. im Karosserierohbau (vgl. z. B. Fallstudien von Buzacott/Shanthikumar 1993; Liu 1990; Spieckermann 2002; Spieckermann et al. 2000), gibt es nicht nur Fließlinien mit hintereinander angeordneten Stationen. Für Erzeugnisse mit konvergierender Erzeugnisstruktur werden Montagelinien einge­ richtet. Der wesentliche Unterschied zu Systemen mit linearem Materialfluss besteht darin, dass es sogenannte Montagestationen (assembly stations) gibt, an denen Werk­ stücke als Komponenten, Baugruppen oder Einzelteile zu einem neuen Werkstück zusammengefügt werden. Aufeinanderfolgende Stationen sind in der Regel durch Puffer miteinander ver­ bunden. Puffer dienen der (partiellen) Entkopplung von Stationen. Unter determinis­ tischen Bedingungen (z. B. bei hohem Automatisierungsgrad und dem Ausbleiben von Störungen und Ausfällen) bräuchte man keine Puffer. In diesem Fall könnte man ei­ ne Bandgeschwindigkeit gemäß der festgelegten Taktzeit realisieren. Zum Abfangen der stochastisch auftretenden Abweichungen von der Taktzeit sind Puffer jedoch not­ wendig. Die technische Umsetzung dieses Puffermechanismus setzt dann aber voraus,

326 | Michael Manitz

dass die Werkstücke unabhängig voneinander bewegt werden können (asynchroner Materialfluss). Nur bei synchronem Materialfluss ergeben Puffer keinen Sinn. Die letzt­ lich doch hin und wieder auftretenden Störungen werden im Rahmen der operativen Produktionsplanung und -steuerung durch Zeitpuffer bei der Reihenfolgeplanung be­ rücksichtigt. Stationen mit mehr als einem Eingangspuffer sind Montagestationen. Sie sind charakterisiert durch eine Synchronisationsbedingung (timing constraint, synchroni­ zation constraint), die in Abbildung 1 durch einen fetten senkrechten Strich illustriert wird. Hier treffen Werkstücke von mehreren Zulieferstationen ein. An der Montage­ station werden die Werkstücke zusammengefügt, -montiert; sie verlassen gemein­ sam als neues, einheitliches Werkstück die Montagestation. Unter Synchronisation (matching) versteht man in diesem Zusammenhang, dass sich die jeweiligen Werk­ stücke an einer bestimmten Position in den Warteschlangen der Eingangspuffer von einem bestimmten Zeitpunkt an synchron durch das System bewegen. Gegebenenfalls können Direktbedarfskoeffizienten von größer als Eins berücksichtigt werden, indem eine Werkstückankunft erst dann registriert wird, wenn insgesamt entsprechend viele Werkstücke von einer Zulieferstation geliefert worden sind. Nur zuvor synchronisier­ te Werkstücke können durch einen Bearbeitungsvorgang physisch zusammengefügt werden. Ein solcher Bearbeitungsvorgang wird im folgenden Montage (assembly) ge­ nannt. Die Synchronisationsbedingung besagt nun, dass der Montagevorgang erst dann beginnen kann, wenn in jedem Eingangspuffer Werkstücke verfügbar sind. In gleicher Weise können auch Demontagevorgänge berücksichtigt werden. Un­ abhängig von den technischen Gegebenheiten und dem Zeitpunkt ihres Eintritts führt eine Blockierung durch einen vollen Ausgangspuffer zu einer Verzögerung beim Ma­ terialfluss (vgl. hierzu Ansätze zur Produktivitätsanalyse von Ammar/Gershwin 1989; Gershwin 1991; Gershwin/Burman 2000; Helber 1998; Jeong/Kim 1998). Eine theore­ tische Analyse von möglichen Äquivalenzbeziehungen, die für Analysezwecke ausge­ nutzt werden kann, liefern Dallery, Liu und Towsley (1994). Die Präsenz von Montage-/Demontagestationen erhöht die Komplexität der diesbezüglichen Beschreibungs-, Evaluations- und Optimierungsmodelle (vgl. das betriebswirtschaftliche Planungsschema nach Adam 2001). Verfahren zur Abschät­ zung der Leistung von solchen Montage/Demontage-Systemen (auch als Assembly/ Disassembly(A/D)-Systeme oder Fork/Join-Netze oder im Folgenden kurz als Mon­ tagesysteme oder -linien bezeichnet) müssen die Synchronisationsbedingungen berücksichtigen und abbilden. Für solche Systeme mit deterministischen Bearbei­ tungszeiten und operationszeitabhängigen Störungen haben di Mascolo, David und Dallery (1991), Gershwin (1991) sowie Gershwin und Burman (2000) Leistungsanaly­ severfahren präsentiert. Gershwin (1991) erweitert das Dekompositionsverfahren von Dallery, David und Xie (1989), das nach den Autoren benannte DDX-Verfahren, für die Anwendung auf Montagesysteme. Dabei wird von identischen, deterministischen Bearbeitungszeiten an allen Stationen ausgegangen. Dieser generische Ansatz wird von di Mascolo, David und Dallery (1991) für die Anwendung auf Systeme mit konti­

Konfigurierung von Montagelinien

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nuierlichem Material erweitert, der zudem die Anwendung des DDX-Verfahrens von Dallery, David und Xie (1989) für Systeme mit linearem Materialfluss in Bezug auf die Betrachtung von unterschiedlichen Arbeitsbelastungen an den Bearbeitungsstatio­ nen ermöglicht. Modelle mit kontinuierlichem Material, d. h. mit reellwertigen (nicht zwingend ganzzahligen) Pufferbeständen, passen zu Montagesystemen mit echten Fließgütern oder dienen als Approximation von häufig anzutreffenden Systemen mit Stückgütern. Gershwin und Burman (2000) schlagen ein auf dem ADDX-Verfahren von Burman (1995) basierendes Dekompositionsverfahren vor, und zwar für Montage­ systeme mit kontinuierlichem Material und stationsspezifischen Bearbeitungszeiten. Helber (1999) sowie Jeong und Kim (1998) betrachten exponentialverteilte Bearbei­ tungszeiten an den Bearbeitungsstationen. Die Modellierungsweise der Montagevor­ gänge wird in den genannten Verfahren jeweils analog auch auf Demontagevorgänge übertragen. Im vorliegenden Beitrag sollen Montagesysteme mit beliebig verteilten Bearbeitungszeiten betrachtet werden. Auch hier wird eine gewisse Äquivalenz zwi­ schen Montage und Demontage ausgenutzt. Die Leistung eines Montagesystems wird von zahlreichen Einflussgrößen be­ stimmt, von den Systemeigenschaften einer Konfigurationsalternative, beschrieben durch die Systemstruktur, die einzelnen Stationen, die Arbeitsobjekte, das Instand­ haltungskonzept, das Steuerungskonzept, und von stochastisch auftretenden Er­ eignissen, wie z. B. schwankende Bearbeitungszeiten an den einzelnen Stationen, Stationsausfälle, Ausschuss oder variantenabhängig schwankende Arbeitsinhalte an einer Station. Die unter der Annahme deterministischer Bedingungen erwartete Produktionsleistung kann dann in der Regel nicht erreicht werden. Zwischen den leistungsbeeinflussenden Faktoren bestehen erhebliche, zum Teil nichtlineare Ab­ hängigkeiten (vgl. Kuhn/Tempelmeier 1997).

2 Eine modellbezogene Beschreibung von Montagelinien Ein Montagesystem kann ganz allgemein wie folgt beschrieben werden: Es besteht aus mehr oder weniger verketteten Arbeitssystemen (gemäß Fließproduktionsprinzip „Stationen“ genannt), die durch Materialflusseinrichtungen miteinander verbunden sind (Handhabungs-, Transport- und Lagereinrichtungen für Werkstücke (sogenannte Puffer)). Sie erbringen jeweils bestimmte Verrichtungen, deren Dauer im Allgemeinen durch den Erwartungswert der Verweilzeit von Werkstücken an einer Station, E{T S }, und den Variationskoeffizienten CV{T S } beschrieben wird. Da aus den verschiedens­ ten Gründen von stochastischen Bedingungen auszugehen ist, braucht man ein Mo­ dell für die Beschreibung der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Zufallsvariablen T S . Hierfür beschränkt man sich – immerhin – auf zwei Momente (vgl. Muth 1973). Es gibt Diskussionen, wie viele Momente angemessen sind beziehungsweise sein sollten –

328 | Michael Manitz

Abb. 1: Ein Montagesystem.

was vielfach in der industriellen Praxis aber erkenntnislos auf den Mittelwert („Durch­ schnitt“) reduziert wird – (vgl. Knott/Sury 1987; Powell/Pyke 1994). Von daher ist die Zwei-Momenten-Approximation der Wahrscheinlichkeitsverteilung bereits ein großer Fortschritt. Zur Abkürzung der Schreibweise verwendet man dann Raten, so dass gilt: S E {T m } =:

S CV {T m }=

1 μm

S √Var{T m } S E{T m }

= : ςm

m = 1, 2, . . . , M

(1)

m = 1, 2, . . . , M

(2)

Ein solches Montagesystem ist in Abbildung 1 dargestellt – beispielhaft inspiriert durch ein konkretes Montagesystem aus der betrieblichen Praxis, in diesem Fall aus dem Karosserierohbau (vgl. Buzacott/Shanthikumar 1993; Jeong/Kim 1998; Spiecker­ mann 2002; Spieckermann et al. 2000). Ein Montagesystem besteht aus den Stationen 1, 2, . . . , M mit jeweils genau einer Bearbeitungseinrichtung (server). Die Numerierung der Stationen möge topologisch sortiert erfolgen, d. h., eine Station mit höherer Stationsnummer als m kann kein Vorgänger der Station m sein, während eine Station mit kleinerer Stationsnummer als m kein Nachfolger der Station m sein kann. Es ist möglich, dass eine Station meh­ rere direkte Vorgängerstationen hat. Mit V m sei die Menge aller direkten Vorgänger der Station m bezeichnet, die jte Vorgängerstation von m mit v mj , m = 1, 2, . . . M, j = 1, . . . , |V m |. Ebenso wird mit N m die Menge aller der Station m direkt nach­ folgenden Stationen und mit n mj eine Nachfolgerstation der Station m bezeichnet, m = 1, 2, . . . , M, j = 1, . . . , |N m |. Stationen ohne Vorgänger werden im Folgenden kurz als Inputstationen bezeichnet. An ihnen betreten Werkstücke das Montagesys­ tem. Stationen ohne Nachfolger werden als Outputstationen bezeichnet. Werkstücke, die an einer Outputstation fertig bearbeitet sind, verlassen das System. Es werden im vorliegenden Beitrag nur sogenannte offene Montagesysteme be­ handelt. Das heißt, die Anzahl der Werkstücke im Montagesystem ist nicht – wie bei geschlossenen Systemen (vgl. z. B. Lagershausen/Manitz/Tempelmeier 2013) –

Konfigurierung von Montagelinien

|

329

durch eine feste Anzahl verfügbarer Werkstückträger oder vergleichbare belastungsbeziehungsweise bestandskontrollierende Einlastungsmechanismen beschränkt. Ein geschlossenes System ist einem offenen äquivalent, wenn die feste Anzahl der Werk­ stückträger die Aufnahmekapazität des Montagesystems übersteigt. Ein solches Mon­ tagesystem verhält sich dann so wie ein offenes System, das an den Inputstationen immer Material in unbeschränkten Eingangspuffern zur Verfügung hat und an Out­ putstationen immer fertig bearbeitete Werkstücke abgeben kann. Zwischen den Stationen liegen Puffer. Mit der Einfügung von Puffern wird ver­ sucht, die leistungsmindernde Wirkung von stochastischen Einflüssen durch eine (partielle) Entkopplung der Stationen einzugrenzen. Die Puffer haben jedoch in der Regel eine beschränkte Aufnahmekapazität. Im Puffer zwischen den Stationen m und j befinden sich insgesamt C m,j Pufferplätze, m = 1, 2, . . . , M, j ∈ N m ≠ 0. Eventuelle Transportzeiten der Werkstücke im Puffer werden hier vernachlässigt. Einen Ansatz, Transportzeiten doch zu berücksichtigen, etwa dann wenn die Pufferkapazitäten sehr groß sind und/oder die Transportgeschwindigkeit klein ist, wird von Commault und Semery (1990) vorgestellt. Die Pufferplätze müssen zudem so skaliert sein, dass der Inhalt jeweils eines Pufferplatzes für die Bearbeitung an einer Station benötigt wird. Der Bearbeitungsbeginn an jeder Station erfolgt asynchron. Sobald eine Station Material zur Verfügung hat, beginnt sie mit der Bearbeitung. Die Asynchronität des Materialflusses wird durch die Pufferbereiche ermöglicht. Dies entkoppelt die Statio­ nen in einem gewissen Ausmaß. Das Gegenteil ist der Fall, wenn die Werkstücke immer nur gleichzeitig, mögli­ cherweise sogar nur in einem festen Rhythmus oder Abstand miteinander gekoppelt bewegt werden, d. h., wenn ein fest verketteter, synchronisierter Materialtransport stattfindet. In asynchronen Montagesystemen mit synchronisiertem Materialtrans­ port können nur zeitliche Puffer eingerichtet werden, d. h., die Bearbeitungszeit kann ausgedehnt werden, indem Werker oder – allgemein ausgedrückt – Server mit einzel­ nen Werkstücken bei außergewöhnlichen Arbeitsbelastungen abschwimmen können. Sie können dies in gut eingestellten Montagelinien nach Beendigung eines Bearbei­ tungsvorgangs aber wieder aufholen, wenn sie unabhängig von anderen Werkstücken entsprechend früher mit der Bearbeitung des nachfolgenden Werkstücks fertig wer­ den. Ob das gelingt, also ob eine auslastungsglättende und darüber hinaus gewisse Kapazitätsrestriktionen in Bezug auf einzelne Arbeitselemente berücksichtigende Einlastungsreihenfolge für die einzelnen Werkstücke gefunden wird, ist eine opera­ tive Planungsaufgabe („Car Sequencing“; vgl. Drexl/Jordan 1995; Parello/Kabat/Wos 1986). Die Reihenfolgeplanung mit dem Ziel einer gleichmäßigen Verteilung der Arbeits­ belastung auf die Stationen wird als „Level Scheduling“ bezeichnet (für Modellierun­ gen und Lösungsansätze vgl. Inman/Bulfin 1991; Kubiak/Sethi 1991; Miltenburg 1989; Steiner/Yeomans 1993; für einen Überblick vgl. Kubiak 1993). Beim „Level Schedu­ ling“ wird versucht, die durchschnittliche Auslastung der Stationen anzugleichen. Beim „Car Sequencing“ betrachtet man die von der Einlastungsreihenfolge der Pro­

330 | Michael Manitz

duktvarianten abhängige, tatsächliche Auslastung der Stationen. Einen beides inte­ griert berücksichtigenden Ansatz präsentieren Drexl und Kimms (2001). In jüngerer Zeit versucht man etwas flexibler den Herausforderungen der Variantenvielfalt einer­ seits und der Auslastungsglättung andererseits durch Ansätze des sogenannten „Mi­ xed-Model Scheduling“ gerecht zu werden; einen Ansatz dazu liefern Gujjula, Werk und Günther (2011). In synchronisierten Montagesystemen starten alle technisch einsatzbereiten, we­ der blockierten noch leeren Stationen die Bearbeitungsvorgänge gleichzeitig. Puffer sind dann nur noch sinnvoll, wenn der Transport der Werkstücke unabhängig von­ einander erfolgt. Dallery, David und Xie (1988), Gershwin (1987 und 1991) und Helber (1998) untersuchen solche Systeme mit deterministischen Bearbeitungszeiten, in de­ nen die Werkstücke über Leerabschnitte im Transportsystem hinweg unabhängig von den durch Stationsausfälle oder Blockierungen festgehaltenen Werkstücken bewegt werden können, d. h., sie untersuchen synchrone Systeme mit nichtsynchronisiertem Materialfluss. Die Anzahl der Pufferplätze in einem Montagesystem ist beschränkt. Aus diesem Grund sind die Stationen nicht vollständig entkoppelt. Es kommt zu Blockierungen, wenn die aktuelle Bearbeitungszeit an einer nachfolgenden Station lang oder eine nachfolgende Station ganz ausgefallen ist und wenn in diesen Fällen nach einer ge­ wissen Zeit der unmittelbar nachfolgende Puffer einschließlich benachbarter Bearbei­ tungsplätze vollständig belegt ist. Wie viel Pufferplatz effektiv zur Verfügung steht, ist abhängig vom Blockier- und Bestückungsmechanismus im Montagesystem; einen systematischen Überblick über solche Mechanismen und damit zusammenhängende Äquivalenz- und Monotonieeigenschaften geben Dallery, Liu und Towsley (1997). Für lineare Systeme, in denen nur der Blockierungsmechanismus relevant ist, geben On­ vural und Perros (1986) einen Überblick. Eine Station ist blockiert, wenn nach Abschluss einer Bearbeitung der Puffer zwi­ schen einer Station und ihrer direkten Nachfolgerstation voll ist. Das bedeutet, solan­ ge sich am Bearbeitungsplatz dieser Station Werkstücke befinden, die von ihr noch bearbeitet werden müssen und in den nachfolgenden Puffer transportiert werden kön­ nen, setzt jene Station die Arbeit fort. Erst wenn auch der Bearbeitungsplatz der Sta­ tion m mit einem fertig bearbeiteten Werkstück belegt ist, das mangels Pufferplatz nicht weitertransferiert werden kann, muss die Station ihre Tätigkeit aussetzen und ist blockiert, sogenannte Blockierung nach Bearbeitung (blocking after service). Die Blockierung tritt nicht sofort ein (non-immediate blocking; vgl. Guen/Makowski 1989), sondern erst dann, wenn die Bearbeitung beendet ist. Das blockierende Werkstück ist nicht an der Bearbeitung, sondern am Transfer in den nachfolgenden Puffer ge­ hindert. Man bezeichnet diese Blockierungsform daher auch als Transferblockierung (transfer blocking; vgl. Bolch et al. 2006). Das blockierende Werkstück verweilt am Server der blockierten Station, bis an der nachfolgenden Station das nächste Werk­ stück fertig bearbeitet weitertransportiert werden kann und durch Vorrücken eines neuen Werkstücks in die Bearbeitungseinrichtung ein Pufferplatz frei wird. Der Bear­

Konfigurierung von Montagelinien

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331

beitungsplatz an einer Station kann bei diesem Blockierungsmechanismus als zusätz­ licher Pufferplatz zwischen den Stationen angesehen werden. Andere Mechanismen sind möglich, aber für industrielle Montagelinien nicht relevant. An Montagestationen ist zusätzlich der Mechanismus der Serverbestückung von Bedeutung. Damit verbunden ist die Frage, an welcher Stelle die Synchronisation der Komponentenwerkstücke stattfindet. Findet diese Synchronisation nicht in der Bear­ beitungseinrichtung statt, sondern noch in den Warteschlangen davor, reduziert sich die effektiv nutzbare Pufferkapazität. Dies wiederum mindert die Leistungsfähigkeit des gesamten Montagesystems (vgl. Dallery/Liu/Towsley 1997). Im Einklang mit den technischen Möglichkeiten der industriellen Praxis gehen wir hier von einer Serverbe­ stückung aus, die komponentenweise erfolgt. Das bedeutet, dass jeweils das nächste zu montierende Werkstück am Bearbeitungsplatz auf benötigte Komponenten wartet, so dass auch dieser Platz eine Pufferfunktion übernehmen kann. Um aus Vergleichsgründen die Leistung des Produktionssystems unabhängig von der konkreten Versorgung mit Material zu analysieren, werden sogenannte saturierte Montagesysteme unterstellt. In einem solchen System gelten die Eingangspuffer als unbeschränkt. Die Inputstationen haben immer Werkstücke zur Verfügung, d. h., sie leiden niemals unter Nachschubmangel („never starved“) und seien immer versorgt. Auf der anderen Seite: Das Lager für fertige Werkstücke, der Ausgangspuffer, habe ebenfalls eine unbegrenzte Aufnahmekapazität oder verzeichne annahmegemäß ei­ ne so hohe Nachfragerate, dass das Ausgangslager niemals vollständig gefüllt ist. Die Outputstation gilt deshalb als niemals blockiert („never blocked“). Ansonsten wür­ de man nicht die Produktivität des betrachteten Montagesystems beziehungsweise des Ausschnitts aus einem Teilbereich einer Supply Chain analysieren, sondern ge­ gebenenfalls produktivitätsmindernde Effekte, deren Ursache anderswo liegt, fälsch­ licherweise dem betrachteten (Teil-)System zuschreiben. Die Stationen eines Montagesystems arbeiten nicht immer zuverlässig; sie kön­ nen auch ausfallen beziehungsweise gestört sein. Es ist in diesem Fall ein Eingriff des Bedienpersonals zur Entstörung, Reparatur beziehungsweise Instandsetzung erfor­ derlich. Während dieser Zeit sind die betroffenen Bearbeitungsstationen nicht für die Bearbeitung von Werkstücken einsatzbereit. Man sagt, sie sind nicht verfügbar. Als Störungen werden in diesem Zusammenhang solche Ereignisse bezeichnet, die zwar die prinzipielle Verfügbarkeit einer Anlage nicht gefährden, die jedoch wie ein Anla­ genausfall den Betriebsablauf an einer Station unterbrechen und eine mit Instand­ setzungsaufwand verbundene Instandhaltungsmaßnahme – und sei es auch nur ein kleiner Handgriff zur Entstörung – erforderlich machen (vgl. Kuhn 1998). Sie bezie­ hen sich alle auf eine Unterbrechung des Betriebsablaufs an einer Station, die einen (mehr oder weniger) zeitaufwendigen Eingriff des Bedien- oder Instandhaltungsper­ sonals erforderlich macht. Betriebsbedingte Maschinenausfälle betreffen hingegen zumeist nur einzelne Sta­ tionen. Sie treten während oder unmittelbar nach der Bearbeitung eines Werkstücks auf. Die Behebung einer solchen Störung erfordert häufig lediglich einen Handgriff

332 | Michael Manitz

durch das Bedien- oder Entstörpersonal, so dass die Entstörzeiten im Allgemeinen kurz sind (vgl. Buzacott/Hanifin 1978). Gaver (1962) unterbreitet einen Vorschlag, wie diese betriebsbedingten Ausfallzeiten in die Wahrscheinlichkeitsverteilung der sto­ chastischen Verweilzeiten von Werkstücken an einer Bearbeitungsstation einberech­ net werden können. Und zwar möge gelten, dass die Bearbeitungszeit an der Stati­ S , jetzt als Belegungsdauer aufgefasst wird. Sie umfasst nach dem Konzept on m, T m von Gaver (1962) die tatsächliche Bearbeitungszeit eines Werkstücks, hier nun mit S∗ bezeichnet, sowie – wenn es insgesamt N Unterbrechungen während des Bear­ Tm R . Es ist: beitungsvorgangs gibt – die Summe der Reparaturdauern T m N S S∗ R = Tm + ∑ Tm Tm

m = 1, 2, . . . , M

(3)

n=1

Die (technische) Verfügbarkeit einer Anlage beziehungsweise der Station m sei mit der Quote e m beschrieben. Diese Größe gibt den Anteil der mittleren ausfallfreien Zeit, MTTFm , an der gesamten Betriebszeit einer Station an. Es wird demnach definiert: e m :=

MTTFm MTTFm + MTTRm

m = 1, 2, . . . , M

(4)

mit N R } MTTRm = E { ∑ T m

m = 1, 2, . . . , M

(5)

n=1

Für die an einer Station m dann geltende Bearbeitungsrate im Vergleich zur OriginalBearbeitungsrate lässt sich unter Verwendung der Größe Verfügbarkeit die folgende Beziehung erkennen: μm =

1 = μ ∗m ⋅ e m MTTF m + MTTRm S∗ E {T m } ⋅ MTTFm

m = 1, 2, . . . , M

(6)

Für den (quadrierten) Variationskoeffizienten gilt dann bei Umlegung der Ausfallzei­ ten auf die Verweildauern der Werkstücke an einer Bearbeitungsstation (vgl. auch Kistner 1974; Manitz 2005): 2

ς2m

=

R } + 1) MTTFm ⋅ (CV {T m S∗ E {T m } ⋅ (1 +

MTTFm 2 MTTRm )

m = 1, 2, . . . , M

(7)

Für die Quantifizierung der Parameter der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Stati­ onsbelegungszeiten durch Werkstücke (die effektiven Bearbeitungszeiten) kann man auch berücksichtigen, dass die Bearbeitungszeiten variantenabhängig schwanken. Hierfür sind dann möglicherweise die Marktforschungsdaten und Kaufwahrschein­ lichkeiten ausschlaggebend. In einem hierarchischen Vorgehen ergeben sich schritt­ weise die Parameterwerte aber auch aus den technischen Spezifikationen, die in einem vorgelagerten Planungsschritt festgelegt werden (Anlagenplanung).

Konfigurierung von Montagelinien

| 333

3 Konfigurationsplanung für Montagelinien Voraussagen über die Leistung eines Montagesystems werden benötigt, wenn Ent­ scheidungen über eine konkrete Konfiguration getroffen werden sollen. Solche Ent­ scheidungen fallen in der Regel mit der Erweiterung oder Umgestaltung des Produkt­ portfolios und – als Konsequenz daraus – der Infrastruktur des Produktionssystems einer Unternehmung an. Eine häufige Entscheidungssituation ist die Einführung eines neuen Produkts beziehungsweise Grundmodells im Erzeugnisspektrum und die Errichtung eines neuen Werkes (Fabrikplanung). Die gegebenenfalls zu instal­ lierenden Montagesysteme müssen so dimensioniert werden, dass die gewünschten Stückzahlen produziert werden können. Wegen der damit verbundenen Ausgaben für neue Maschinen und Fördereinrichtungen und dem zu erwartenden Bestand an halb­ fertigen Erzeugnissen (work in process, WIP) ergibt sich ein Optimierungsproblem (vgl. Spieckermann 2002; Spieckermann et al. 2000; Tempelmeier 2003a; Tempelmei­ er 2003b). Den Investitionsausgaben und Lagerkosten stehen Einnahmen aus dem Verkauf der hergestellten Erzeugnisse gegenüber; es geht also wieder einmal um die Realisierung von Wertschöpfung. Die Leistung einer konkreten Konfiguration eines Montagesystems manifestiert sich in diesem Zusammenhang durch die Produktions­ rate und gegebenenfalls andere Leistungskenngrößen.

3.1 Das Optimierungsproblem: Leistungsabstimmung und Pufferallokation Die Produktionsrate eines Montagesystems ergibt sich aus den Eigenschaften des Ma­ terialflusses, den Bearbeitungsraten und Variationskoeffizienten der Bearbeitungszeit beziehungsweise Belegungsdauer an den Stationen sowie den Puffergrößen zwischen den Stationen. Für die Konfigurierung des Montagesystems als Ganzes ist die Auftei­ lung der Arbeitsaufgaben auf die Stationen und damit die Struktur des Materialflusses weitgehend vorgegeben. Dies ergibt sich auch aus den Ergebnissen der vorgelagerten Leistungsabstimmung in Bezug auf mittlere Stationsbelegungszeiten beziehungswei­ se -bearbeitungszeiten (unter der Annahme deterministischer Bedingungen), in ei­ ner grundlegenden Version auch als „Klassische Fließbandabstimmung“ bezeichnet (für einen Überblick über die Aufgaben der Leistungsabstimmung vgl. z. B. Boysen/ Fliedner/Scholl 2009; Scholl 1999; Scholl/Fliedner/Boysen 2010). Gegenstand der Optimierung der Systemkonfiguration können dann noch die Puffergrößen und die Bearbeitungszeiten sein, wobei sich die Optimierung der Be­ arbeitungszeit an einer Station nicht auf eine Veränderung der Arbeitsaufgaben be­ zieht, sondern auf die Festlegung, wie schnell der Durchlauf durch einen der be­ trachteten Station zugeordneten Fertigungsschritt erfolgen soll. Möglicherweise ist damit eine Anpassung der Bearbeitungsgeschwindigkeit, der Anzahl (paralleler)

334 | Michael Manitz

Server oder der Anzahl (seriell anzuordnender) Arbeitssysteme innerhalb der be­ trachteten Anlage verbunden. Das Problem der Konfigurierung des Montagesystems reduziert sich daher im Wesentlichen auf die Auslegung der eine Pufferfunktion über­ nehmenden Förder- und Werkstücktransporteinrichtungen zwischen den Stationen beziehungsweise Anlagen (Fördertechnikplanung) sowie auf die Festlegung der Be­ arbeitungs(vorgabe)zeit für die einzelnen Stationen beziehungsweise Anlagen. Das Konfigurationsplanungsproblem wird als Puffer- und Taktzeitauslegungsproblem (buffer and workload allocation problem, BWAP) bezeichnet (vgl. Spieckermann 2002; Tempelmeier 2003b). Planungsziele bei der Konfigurierung von Montagesystemen sind (1) die Minimie­ rung der Anzahl der Pufferplätze im System und (2) die Maximierung der Bearbei­ tungszeiten an den Stationen. Aber auch (3) die Minimierung der Streuung der Be­ arbeitungszeiten an den Stationen mag im Hinblick auf eine Leistungsabstimmung zwischen den Stationen innerhalb eines Montagesystems ein mögliches Ziel der Kon­ figurationsplanung sein (vgl. Spieckermann 2002; Spieckermann et al. 2000; Tempel­ meier 2003b). Ob Letzteres bei nicht perfekt ausbalancierbaren Systemen sinnvoll ist, das ist fraglich und widerspricht theoretischen Überlegungen wie dem Bowl-Phäno­ men, wonach in der Mitte liegende Stationen wegen der Kulmination der stochasti­ schen Effekte eine leicht geringere Arbeitsbelastung und/oder größere Pufferbereiche haben sollten (vgl. für serielle Systeme Hillier/So 1993). Wegen der mit einer Vergrößerung der Puffer verbundenen höheren Investitions­ ausgaben und Bestände an halbfertigen Erzeugnissen im System sollten die Puffer so klein wie möglich gewählt werden. Die Bearbeitungszeiten, die den einzelnen Statio­ nen bei der Anlagenplanung als Taktzeitvorgabe dienen, sollten dagegen so groß wie möglich festgelegt werden. Denn mit größeren Taktzeiten ist die erforderliche Anzahl an Maschinen innerhalb der Anlage kleiner, was wiederum Investitionsausgaben für die benötigte Technik senkt und die Möglichkeit des Auftretens von Blockierungen einerseits und Nachschubmangel andererseits innerhalb einer Anlage reduziert. Au­ ßerdem ergeben sich größere Freiheitsgrade bei der Zuordnung von Arbeitselementen auf die Arbeitssysteme einer Anlage. Um das Maximierungsziel in Bezug auf die Bear­ beitungszeiten mit dem Minimierungsziel in Bezug auf die Puffergrößen in Einklang zu bringen, minimiert man die Abweichung der Bearbeitungszeiten von ihrer oberen Grenze. Aufgrund der unterschiedlichen Dimensionen bewertet man eine Zeiteinheit dieser Abweichung mit dem Faktor ϕ2 ; ein Pufferplatz erhält in der Zielfunktion das S Gewicht ϕ1 . Sei mit t mmax die obere Grenze für die Bearbeitungszeit an der Station m gegeben und sei zur Abkürzung der Schreibweise mit T

b = (C1,n1 , . . . , C V m ,|V m |,M ) der Vektor der Puffergrößen und mit T

S TS = (T1S , . . . , T M )

Konfigurierung von Montagelinien

| 335

der Vektor der Bearbeitungszeiten beschrieben, dann kann man folgende Zielfunktion für das BWAP formulieren: M

M

S

S ) Minimiere Z (b, TS ) = ϕ1 ⋅ ∑ ∑ C i,m + ϕ2 ⋅ ∑ (t mmax − T m m=1 i∈V m

(8)

m=1

Als Nebenbedingung ist zu beachten, dass die aus den Puffergrößen und Bearbei­ tungszeiten resultierende Produktionsrate einer konkreten Konfigurationsalternative des Montagesystems die vorgegebene Mindestmenge pro Zeiteinheit, X min , erreicht: X (b, TS ) ≥ X min

(9)

Die Vorgabe einer Mindestproduktionsrate entspricht der Planungspraxis. Die Ma­ ximierung der Produktionsrate eines Systems mit gegebener Ausstattung an Puf­ ferplätzen etc. ist zwar auch eine mögliche Problemformulierung, jedoch eine eher unübliche Vorgehensweise. Gleichwohl stellt z. B. besagtes Problem der Puffervertei­ lung ein wichtiges Teilproblem der Konfigurationsplanung dar. Hillier und So (1995) beziehungsweise Spinellis, Papadopoulos und MacGregor Smith (2000) beschreiben in allgemeiner Form ein Optimierungsproblem, bei dem die Produktionsrate einer Fließproduktionslinie zu maximieren ist und dabei ein gegebener workload sowie ei­ ne vorgegebene Anzahl an Pufferplätzen und Servern auf die Stationen verteilt werden soll. Bei einer Analyse der Bewertungsfunktion X für die durch (b, TS ) beschriebenen Konfigurationsalternativen fällt auf, dass die Zuordnung eines konkreten Wertes für die Produktionsrate zu einer konkreten Gesamtanzahl an Pufferplätzen im Montage­ system nicht eindeutig ist. Denn man kann eine gegebene Anzahl der Pufferplätze gut oder auch schlecht auf die einzelnen Puffer verteilen, d. h., es gibt mehrere Puffer­ vektoren b, die zur gleichen Gesamtzahl an Pufferplätzen, aber zu unterschiedlichen Ergebnissen für die Produktionsrate führen. Das Puffer- und Taktzeitauslegungspro­ blem BWAP umfasst daher auch das Teilproblem der Pufferallokation. Eine gewis­ se Anzahl von Pufferplätzen sollte so auf die einzelnen Puffer verteilt werden, dass die damit größtmögliche Produktionsrate erreicht wird. Denn es ist davon auszuge­ hen, dass bei nichtoptimaler Pufferplatzverteilung die gleiche Produktionsrate auch mit einer geringeren Gesamtzahl von Pufferplätzen, dann allerdings optimal verteilt, erreicht werden kann. Das Problem, für eine gegebene Gesamtanzahl an Pufferplät­ zen die maximale Produktionsrate zu finden, ist in gewisser Weise – bei Ausblen­ dung der anderen Teilprobleme – dual zur Ausgangsproblemstellung, mit minima­ ler Gesamtzahl an Pufferplätzen eine vorgegebene Produktionsrate zu erreichen. Das (Teil-)Problem der Pufferallokation zur Maximierung der Produktionsrate wird in der Literatur daher häufig auch als Dualproblem bezeichnet (vgl. Gershwin/Schor 2000; Schor 1995; Tempelmeier 2003a). Smax Smin max seien mögliche Unter- und Obergrenzen Mit Cmin i,m und C i,m sowie t m und t m für die Puffergrößen und die Bearbeitungszeiten beschrieben, i ∈ V m , m = 1, . . . , M.

336 | Michael Manitz

Für das Optimierungsmodell zur Konfigurierung von Montagelinien ergibt sich: M

M

S

S Minimiere Z(b, TS ) = ϕ1 ⋅ ∑ ∑ C i,m + ϕ2 ⋅ ∑ (t mmax − E {T m }) m=1 i∈V m

(10)

m=1

unter Beachtung der folgenden Nebenbedingungen: X (b, TS ) ≥ X min Cmin i,m Smin tm

≤ ≤

C i,m ≤ Cmax i,m S S E {T m } ≤ t mmax

C i,m ∈ ℕ ∪ {0} S E {T m }

≥0

(11) i ∈ V m ∨ m = 1, . . . , M

(12)

m = 1, . . . , M

(13)

i ∈ V m ∨ m = 1, . . . , M

(14)

m = 1, . . . , M

(15)

Ein ähnliches Optimierungsproblem beschreiben Jeong und Kim (2000). Statt aber die Bearbeitungszeiten kontinuierlich zu variieren, werden Maschinen ausgewählt. Da aber mit jeder Maschinenalternative eine spezifische Bearbeitungsgeschwindigkeit verbunden ist, entspricht dieses Planungsproblem dem in diesem Beitrag beschrie­ benen, allerdings mit der zusätzlichen Nebenbedingung, dass die mittleren Bearbei­ tungszeiten nur in diskreten Abständen variierbar sind. Für die Lösung des Puffer- und Taktzeitauslegungsproblems (BWAP) gibt es bis­ lang in der Literatur nur wenige Vorschläge. Jeong und Kim (2000) sowie Tempelmeier (2003) zerlegen das Planungsproblem in zwei Teilprobleme und greifen auf bekannte Lösungsverfahren zur Bestimmung der minimalen Gesamtzahl von Pufferplätzen und ihrer optimalen Verteilung zurück. Spieckermann et al. (2000) verwenden Kombina­ tionen von Metaheuristiken wie Genetische Algorithmen und Simulated Annealing.

3.2 Das Evaluationsmodell: Leistungsanalyse („Performance Evaluation“) Alle Lösungsverfahren zum Puffer- und Taktzeitauslegungsproblem (BWAP) setzen voraus, dass für eine gegebene Konfigurationsalternative die zugehörige Produktions­ rate X (vorzugsweise analytisch) bestimmt werden kann. Die Ermittlung der Bewer­ tungsfunktion X für Montagesysteme mit beschränkten Puffern und beliebig verteil­ ten Bearbeitungszeiten bleibt damit eine noch zu lösende Planungsaufgabe. Hierfür werden regelmäßig sogenannte Dekompositionsansätze herangezogen, die gut funktionieren, da auch im betrachteten realen Montagesystem die Puffer ei­ ne ähnliche Funktion ausüben. Diese Erkenntnis geht zurück auf Gershwin 1987. Demnach ist die Produktionsrate eines Montagesystems mit der Rate, dass eine Outputstation M produktiv ist, abschätzbar, und zwar wie folgt: X = μ d (i, M) ⋅ (1 − p S (i, M))

i ∈ Vm

(16)

Konfigurierung von Montagelinien

|

337

Die Produktionsrate des Gesamtsystems entspricht der effektiven Bearbeitungsrate der Outputstation im Montagesystem, μ d (i, M), wenn diese letzte Station produktiv ist – also nicht unter Materialnachschubmangel leidet (mit Starving-Wahrscheinlich­ keit p S (i, M)). Diese Rate kann man mit einem Dekompositionsansatz bestimmen. Sie wird im Zwei-Stationen-Subsystem, das den Puffer B i,M und die benachbarten Sta­ tionen i und M umfasst, materialflussabwärtsseitig (downstream, d) registriert. Ganz allgemein sei mit (i, j) dasjenige Subsystem bezeichnet, das aus den benachbarten Stationen i und j und dem dazwischenliegenden Puffer besteht. Die materialflussauf­ wärts gelegene Station gehört zu einem äquivalenten Warteschlangensystem, da sie im Fall von Blockierungen nach Bearbeitung (sogenanntes production blocking) einen zusätzlichen Pufferplatz bereitstellt. Legt man sich auf keine Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Bearbeitungszeiten beziehungsweise Belegungsdauern an der materialflussabwärtsseitig gelegenen Stati­ on fest, sondern beschreibt man diese Verteilung mit zwei Momenten, dann entspricht das Verhalten der Outputstation dem eines G/G/1/N-Warteschlangensystems (mit stopped arrivals), wie es mit Warteschlangenmodellen nach Buzacott, Liu und Shan­ thikumar (1995) abgebildet werden kann. Der Ankunftsprozess kann bei beschränkten Puffern ohnehin nur allgemein ohne Bezug auf eine konkrete Verteilungsannahme be­ schrieben werden. Die Frage ist dann aber, wie groß die Ankunfts- und Bearbeitungs­ raten in solchen Warteschlangensystemen sind. Davon sind auch die stationären Zu­ standswahrscheinlichkeiten in solchen stationsbezogenen Warteschlangensystemen abhängig. Für beliebige Wahrscheinlichkeitsverteilungen ergeben sich die folgenden Raten für die Ankunft von Werkstücken an einer Station m (upstream-seitig) einer­ seits und für die Abfertigung (downstream-seitig aus Sicht des dazwischenliegenden Puffers) andererseits (vgl. Manitz 2008; Manitz 2015): 1 1 1 + p∗S (i, m) ⋅ = μ u (m, j) μ m μ u (i, m) 1 + P∗ { ∪ {(k, m) leer}} ⋅ max { } μ u (k, m) k∈V m \{i} k=i̸ 1 + P∗ { ∪ {(m, k) voll}} ⋅ max { } (17) μ d (m, k) k∈N m \{j} k=j̸ m = 1, . . . , M; j ∈ N m ; N m ≠ 0 1 1 1 + p∗B (m, j) ⋅ = μ d (i, m) μ m μ d (m, j) 1 } μ u (k, m) k∈V m \{i} k=i̸ 1 + P∗ { ∪ {(k, m) voll}} ⋅ max { } μ d (m, k) k∈N m \{j} k=j̸

+ P∗ {



{(k, m) leer}} ⋅ max {

(18)

m = 1, . . . , M; i ∈ V m ; V m ≠ 0 Hierbei sind die mit * gekennzeichneten Wahrscheinlichkeiten zeitpunktbezogene, während alle anderen Wahrscheinlichkeiten zeitraumbezogene (zeitanteilsbezoge­

338 | Michael Manitz

ne), sogenannte stationäre Zustandswahrscheinlichkeiten sind. Anmerkung: Das sind nur Abschätzungsformeln. Sie unterstellen gewisse mathematisch elegante Ei­ genschaften, die nicht unbedingt als gegeben unterstellt werden können. Die Abschät­ zungsstrategie an sich und das durchaus nicht praxisfremde Dekompositionskonzept lassen die Abschätzungsfehler aber auf einem Niveau verharren, das für praktische Planungsaufgaben keine gravierenden Schwierigkeiten mit sich bringt. In gleicher Weise – passend zur Zwei-Momenten-Sicht – lassen sich auch Streu­ ungsmaße angeben: ς2d (i, m) = μ 2d (i, m) ⋅ ( + P∗ { + P∗ {

ς2m + 1 μ 2m

+ p∗B (m, j) ⋅ (

ς2d (m, j) + 1



{(m, k) voll}}⋅(max {



{(i, m) leer}} ⋅ (max {

k∈N m \{j}

k∈V m \{i}

+ 2 ⋅ P∗ {

k=j̸

k=i̸



k∈V m \{i}

⋅ max { k=i̸

{(k, m) leer}} ⋅ P∗ {

+

μ 2d (m, j)

ς2d (m, k) + 1 μ 2d (m, k)

2 ) μ m ⋅ μ d (m, j) } + max { k=j̸

2 }) μ m ⋅ μ d (m, k)

ς2u (k, m) + 1 2 }) } + max { 2 μ ⋅ μ k =i ̸ μ u (k, m) m u (k, m) ∪

k∈N m \{j}

{(m, k) voll}}

1 1 } ⋅ max { } μ u (k, m) μ d (m, k) k=j̸

1 1 ⋅ max { } μ d (m, j) k=i̸ μ u (k, m) 1 1 +2 ⋅ p∗B (m, j) ⋅ P∗ { ∪ {(m, k) voll}} ⋅ ⋅ max { }) − 1 μ d (m, j) k=j̸ μ d (m, k) k∈N m \{j} (19)

+ 2 ⋅ p∗B (m, j) ⋅ P∗ {



k∈V m \{i}

m = 1, . . . , M ;

ς2u (m, j) = μ 2u (m, j) ⋅ ( + P∗ { + P∗ {

ς2m + 1 μ 2m



{(k, m)



{(m, k)

k∈V m \{i}

k∈N m \{j}

+ 2 ⋅ P∗ {

⋅ max { k=i̸



k∈V m \{i}

{(k, m) leer}} ⋅

i ∈ V m ; V m ≠ 0

+ p∗S (i, m) ⋅ (

ς2u (i, m) + 1

+

2

)

μ m ⋅ μ u (i, m) μ 2u (i, m) ς2u (k, m) + 1 2 leer}} ⋅ (max { 2 }) } + max { μ m ⋅ μ u (k, m) k=i̸ k=i̸ μ u (k, m) ς2 (m, k) + 1 2 voll}}⋅(max { d 2 }) } + max { μ m ⋅ μ d (m, k) k=j̸ k=j̸ μ d (m, k)

{(k, m) leer}} ⋅ P∗ {



k∈N m \{j}

1 1 } ⋅ max { } μ u (k, m) μ d (m, k) k=j̸

{(m, k) voll}}

Konfigurierung von Montagelinien

| 339

1 1 ⋅ max { } μ u (i, m) k=i̸ μ u (k, m) 1 1 +2 ⋅ p∗S (i, m) ⋅ P∗ { ∪ {(m, k) voll}} ⋅ ⋅ max { }) − 1 μ u (i, m) k=j̸ μ d (m, k) k∈N m \{j} (20)

+ 2 ⋅ p∗S (i, m) ⋅ P∗ {



k∈V m \{i}

m = 1, . . . , M ;

{(k, m) leer}} ⋅

j ∈ N m ; N m ≠ 0

Diese können auch wichtig sein, um an verschiedenen Stellen in einer Supply Chain angesichts stochastischer Bedarfsmengen die jeweils notwendige Höhe der Puffer- be­ ziehungsweise der evtl. notwendigen Sicherheitsbestände zu bestimmen. Abschließend ist zu bemerken, dass die oben angegebene Abschätzung der Leis­ tungskenngrößen einen sogenannten stationären („eingespielten“) Systemzustand unterstellt. Künftige Forschungsarbeiten werden sich auf dynamische Schwankungen beim Workload ausrichten müssen. Erste Ansätze bilden die Überblicke von Schwarz, Selinka und Stolletz (2016) für nichtstationäre Warteschlangensysteme sowie Askin und Jampani (2017) für entsprechende Warteschlangennetze, die als Modelle für reale Produktionssysteme dienen.

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Konfigurierung von Montagelinien

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Ralf Elbert und Jan Philipp Müller

Planung von Kommissioniersystemen: Von der manuellenPerson-zur-Ware-Kommissionierung bis zu autonomen Transportsystemen im Rahmen von Industrie 4.0 1 2 3 4 5 6

Bedeutung der Kommissionierung für eine leistungsfähige Logistik in Wertschöpfungsnetzwerken | 343 Systematische Planung von Kommissioniersystemen | 345 Verbreitung verschiedener Kommissioniersysteme | 348 Person-zur-Ware-Systeme: von der Wegstreckenminimierung zur Berücksichtigung des „Faktor Mensch“ | 349 Ware-zur-Person-Systeme: neue autonome Transportsysteme im Rahmen von Industrie 4.0 | 353 Fazit und Ausblick | 356 Literatur | 356

Zusammenfassung. Der Beitrag gibt ausgehend von der Bedeutung der Kommissio­ nierung für eine leistungsfähige Logistik zunächst einen Überblick über verschiedene Varianten von Kommissioniersystemen sowie den unterschiedlichen Planungsansät­ zen zur Systemauswahl und -gestaltung. Anschließend werden die weit verbreiteten Person-zur-Ware-Systeme erläutert und dabei die Relevanz des „Faktor Mensch“ ver­ deutlicht. Abschließend werden die neuesten technologischen Entwicklungen im Be­ reich autonomer Transportsysteme beziehungsweise mobiler Kommissionierroboter bei Ware-zur-Person-Systemen ausgeführt.

1 Bedeutung der Kommissionierung für eine leistungsfähige Logistik in Wertschöpfungsnetzwerken Die Bedeutung der Kommissionierung hat für das Logistikmanagement in Wertschöp­ fungsketten beziehungsweise -netzwerken in den letzten Jahren stetig zugenommen. Im Produktionsbereich führen sinkende Fertigungstiefen zu einer steigenden Zahl an Vorkomponenten, welche extern beschafft und anschließend für die internen Mon­ tageprozesse rechtzeitig und fehlerfrei bereitgestellt werden müssen (vgl. Deutsche Bundesbank 2016). Im Konsumentenbereich hat der Onlinehandel in den letzten Jah­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-019

344 | Ralf Elbert und Jan Philipp Müller

ren anhaltend zweistellige Wachstumsraten erfahren, welche sich in einer hohen Zahl an Neubauten für entsprechende Distributionslager niederschlagen (vgl. BNP Paribas Real Estate 2017). Es ist davon auszugehen, dass sich diese Trends auch in den nächsten Jahren fort­ entwickeln werden. Die effiziente Gestaltung von Kommissioniersystemen und -pro­ zessen ist daher essentiell für Lieferservice und Logistikkosten eines Wertschöpfungs­ netzwerks insgesamt. Schon jetzt haben Lagerhaltung und Umschlag einen Anteil von ca. 24 % an so­ genannten erweiterten Logistikkosten, welche neben den operativen Logistikkosten auch administrative Kosten und Bestandskosten umfassen (vgl. DSLV 2015). Berück­ sichtigt man zudem den Anteil der Bestandskosten von 25 %, können bis zu 50 % der gesamten Logistikkosten der Lagerhaltung zugeordnet werden. Diese Kosten für die Lagerhaltung werden wiederum entscheidend von der Kommissionierung bestimmt. So werden im Mittel 55 % der operativen Lagerhaltungskosten durch die Kommissio­ nierung verursacht (vgl. Bartholdi/Hackman 2016). Eine Reduzierung der Kommis­ sionierzeiten (Dauer für die Fertigstellung der Kommissionieraufträge zu transport­ fertigen Einheiten) wiederum trägt zur Senkung der Durchlaufzeiten im Lager bei. Hierdurch können Lieferservice verbessert und Lagerbestandskosten reduziert wer­ den. Aufgrund der Bedeutung der Kommissionierung für leistungsfähige Wertschöp­ fungsketten und -netzwerke gibt der Beitrag einen Überblick zu verschiedenen Va­ rianten von Kommissioniersystemen, Planungsansätzen zur Systemauswahl und -gestaltung sowie neuesten Entwicklungen in diesem Bereich. In Abschnitt 2 wird zunächst erläutert, welche grundsätzlichen Ausgestaltungsmöglichkeiten bezüglich Kommissioniersystemen existieren (unter anderem Unterscheidung nach Person-zurWare- und Ware-zur-Person-Systemen) und wie eine systematische Planung von Kom­ missioniersystemen in drei Phasen erfolgen kann. Abschnitt 3 stellt die Verbreitung verschiedener Systemvarianten dar, wobei verdeutlicht wird, dass die Kommissionie­ rung nach wie vor oftmals hochgradig manuell mittels des Person-zur-Ware-Prinzips erfolgt. In Abschnitt 4 wird näher auf diese Person-zur-Ware-Systeme eingegangen und die Relevanz des „Faktor Mensch“ bei der Planung solcher Systeme verdeutlicht. Den Ware-zur-Person-Systemen und neuesten technologischen Entwicklungen im Bereich autonomer Transportsysteme/mobiler Kommissionierroboter ist Abschnitt 5 gewidmet. Abschließend wird in Abschnitt 6 ein kurzes Fazit gezogen und ein Aus­ blick in die weitere Entwicklung gegeben.

Planung von Kommissioniersystemen

| 345

2 Systematische Planung von Kommissioniersystemen Aufgrund des Einflusses der Kommissionierung auf Lieferservice und Logistikkosten ist eine systematische Planung und Gestaltung von Kommissioniersystemen, welche sich an den spezifischen Anforderungen und Rahmenbedingungen des jeweiligen La­ gers orientiert, von großer Wichtigkeit. Unter Kommissionierung wird allgemein das Zusammenstellen von Artikeln aus einer Gesamtmenge an Gütern (Sortiment) auf Ba­ sis von Aufträgen verstanden (vgl. VDI-Richtlinie 3590, Blatt 1). Weiterhin definiert die VDI-Richtlinie die drei Bestandteile eines Kommissioniersystems: Informationssys­ tem, Materialflusssystem und Organisationssystem. In einer systematischen Planung ist die Konfiguration dieser drei Systembestandteile festzulegen. Dallari, Marchet und Melacini (2009) stellen hierfür ein Vorgehen in drei Phasen vor. In Phase 1 erfolgt die Analyse der exogen gegebenen Basisdaten, welche nach VDIRichtlinie 3590 das Artikelsortiment und die Kommissionieraufträge charakterisieren. Neben den physischen Eigenschaften der Artikel werden auch Absatzdaten berück­ sichtigt, sodass die Anforderungen an das Kommissioniersystem (z. B. Soll-Durchlauf­ zeiten, technische Anforderungen) spezifiziert werden können. Den Abschluss der Phase 1 bildet die Festlegung der grundsätzlichen Gestaltungsentscheidungen, wie sie in Abbildung 1 hinsichtlich der Bestandteile von Kommissioniersystemen darge­ stellt sind. Zunächst ist hinsichtlich des Materialflusssystems das Kommissionierprinzip festzulegen. Beim Person-zur-Ware-Prinzip bewegt sich der Kommissionierer durch das Lager, um die Artikel für die einzelnen Aufträge zu entnehmen. Beim Ware-zurPerson-Prinzip werden die Artikel hingegen automatisiert an stationäre Kommis­ sionierstationen transportiert und dort vom Kommissionierer zu transportfähigen Einheiten zusammengestellt (vgl. Koster/Le-Duc/Roodbergen 2007). Hinsichtlich des Organisationssystems sind die zwei weiteren, grundsätzlichen Gestaltungsentschei­ dungen zu treffen: die Festlegung des Entnahmeprinzips und die Entscheidung, ob der Lagerbereich in Zonen aufgeteilt werden soll. Das Entnahmeprinzip beschreibt, wie für eine Tour des Kommissionierers durch das Lager (oder bei Ware-zur-Per­ son-Systemen z. B. für einen Verfahrweg des Regalbediengeräts) mehrere Artikel gebündelt werden, um eine möglichst hohe Zahl an Artikeln je Wegstrecke zu entneh­ men. Diese Bündelung kann auftragsbasiert erfolgen, sodass mehrere vollständige Kommissionieraufträge (z. B. für einzelne Kunden) in einer Tour zusammengefasst werden. Wird hingegen artikelbasiert gebündelt, werden in einer Tour Artikel für ver­ schiedene Kommissionieraufträge entnommen. Dadurch kann die Anzahl der Arti­ kelentnahmen je Wegstrecke erhöht werden. Jedoch ist im Anschluss eine zusätzliche Sortierzeit nötig. Bei der Einteilung der Lagerbereiche (nur bei Person-zur-Ware-Syste­ men) ist eine sogenannte Zonierung möglich, sodass ein Kommissionierer nur jeweils in seinem Bereich Artikel entnimmt. Auch dadurch kann die die Entnahmeanzahl an

346 | Ralf Elbert und Jan Philipp Müller

Gestaltungsentscheidungen bei Kommissioniersystemen Materialflusssystem Kommissionierprinzip

Person-zur-Ware

Ware-zur-Person

Organisationssystem

Entnahmeprinzip

Auftragsbasiert

Artikelbasiert

Einteilung in Lagerbereiche

Zonierung

keine Zonierung

Abb. 1: Gestaltungsdimensionen von Kommissioniersystemen (in Anlehnung an Koster/Le-Duc/ Roodbergen 2007 und VDI-Richtlinie 3590, Blatt 1).

Artikeln erhöht werden, jedoch auf Kosten einer zusätzlichen Zusammenführungszeit der Kommissionieraufträge. In Phase 2 erfolgt nach Festlegung dieser grundsätzlichen Gestaltungsentschei­ dungen, die detaillierte Spezifizierung des Informationssystems, Materialflusssys­ tems und Organisationssystems. Hinsichtlich des Materialflusssystems sind Layout sowie Kommissioniertechnik festzulegen. Als technische Hilfsmittel bei der Personzur-Ware-Kommissionierung kommen für den Materialtransport häufig motorisierte Kommissionierfahrzeuge (zur Sammlung der kommissionierten Artikel während einer Tour durch das Lager) oder Förderbänder (zum Transport zwischen einzelnen Lager­ bereichen, z. B. vom Kommissionierbereich zum Warenausgang) zum Einsatz (vgl. ten Hompel/Sadowsky/Beck 2011). Weiterhin kann zwischen Schmal- und Breitganglager unterschieden werden, wobei jeweils verschiedene Flurförderzeuge für Vertikalbewe­ gungen zum Erreichen höher gelegener Regalplätze genutzt werden können (z. B. Schubmaststapler, Schmalgangstapler, Dreiseitenstapler). Beim Ware-zur-PersonPrinzip können zahlreiche Systemtypen unterschieden werden: vom automatisierten Hochregallager über Shuttle-Systeme bis hin zu Vertikal-Umlaufregalen. Für eine aus­ führliche Darstellung sei an dieser Stelle auf weiterführende Literatur (vgl. z. B. ten Hompel/Sadowsky/Beck 2011) verwiesen.

Planung von Kommissioniersystemen

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Bezüglich des Informationssystems muss entschieden werden, ob beziehungs­ weise welches Lagerverwaltungssystem genutzt wird und wie die Informations­ verarbeitung während des Kommissioniervorgangs (Darstellung der Kommissio­ nierlisten, Erfassung der entnommenen Artikel) erfolgen soll. Zur Reduzierung der Kommissionierzeiten ist besonders die Gestaltung der Mensch-Maschine-Interaktion des Kommissionierers mit den informationstechnischen Geräten von Bedeutung. Insbesondere bei Lagern mit großem Artikelsortiment werden oftmals mobile Daten­ erfassung (MDE) und Barcodescanner genutzt. Neuere Verfahren zur Informations­ darstellung sind Pick-by-Light (Anzeige der zu kommissionierenden Artikel durch Signallampen unmittelbar an den Regalplätzen), Pick-by-Voice (Ansage und Bestäti­ gung der zu kommissionierenden Artikel über Headset) und Pick-by-Vision (Nutzung von Augmented Reality in Form von Datenbrillen, welche die relevanten Informatio­ nen im Sichtfeld des Kommissionierers einblenden). Alle Verfahren zielen darauf ab, dass der Kommissionierer die benötigten Artikel schneller auffindet (Reduzierung der Suchzeit) und beide Hände zur Artikelentnahme nutzen kann, ohne den Bar­ codescanner vorher ablegen zu müssen (Reduzierung der Greifzeit). Zudem kann die Fehlerquote reduziert werden (vgl. Günthner/Rammelmeier 2012). Im Bereich des Organisationssystems ist die Kommissionierstrategie festzulegen, welche die Grundlage für die operative Ausführung der Kommissionierung legt. Diese umfasst Verfahren zur Lagerplatzvergabe (z. B. zufällige Lagerplatzvergabe, Lager­ platzvergabe nach Entnahmehäufigkeit der Artikel), Auftragsaggregation (Zusammen­ stellung der Kommissionieraufträge für die Touren) und Wegeführung (Person-zurWare: Bestimmung von wegstreckenminimalen Touren der Kommissionierer durch das Lager, Ware-zur-Person: Bestimmung von wegstreckenminimalen Verfahrwegen, z. B. für Regalbediengeräte). Phase 3 umfasst schließlich die Evaluation des Kommissioniersystems, bei wel­ cher Leistungs- und Kostenkennzahlen (Kommissionierzeiten, Lagerdurchsatz, In­ vestitionskosten, Personalkosten) berechnet werden. Aufgrund der Komplexität der Kommissionierprozesse, besonders bei Lagern mit großem Artikelsortiment, kann die Simulation eine geeignete Methode darstellen, möglichst realitätsnahe Kennzahlen zu berechnen. In der Regel sind die drei Planungsphasen iterativ zu durchlaufen. Auf Basis der Evaluationsergebnisse in Phase 3 erfolgt eine Anpassung der Systemgestal­ tung, um festgestellte Schwachstellen (z. B. Kapazitätsengpässe) zu beheben. Ein systematisches Durchlaufen der beschriebenen Planungsphasen stellt sicher, dass das Kommissioniersystem die Anforderungen an Lieferservice und Logistik­ kosten im Betrieb auch tatsächlich einhalten kann. Da jedes Kommissioniersystem individuell auf die jeweiligen Anforderungen zugeschnitten werden muss, ergibt sich prinzipiell eine große Variantenvielfalt in der konkreten Ausgestaltung. Dennoch lassen sich einige besonders verbreitete Systemvarianten identifizieren, welche im nachfolgenden Abschnitt dargestellt werden.

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3 Verbreitung verschiedener Kommissioniersysteme Trotz technologischer Weiterentwicklungen bei Automatisierungslösungen erfolgt die Kommissionierung nach wie vor oftmals hochgradig manuell. Der Materialfluss wird überwiegend nach dem Person-zur-Ware-Prinzip organisiert. Aktuelle Studien aus den USA zeigen, dass lediglich 10 % der Lagerhäuser nach dem Ware-zur-Person-Prin­ zip kommissionieren. In lediglich 3 % der Lagerhäuser wird die Kommissionierung vollautomatisiert durchgeführt, d. h. ohne jede Beteiligung menschlicher Arbeits­ kraft (vgl. Michel 2016). Hauptgründe sind sich häufig ändernde beziehungsweise stetig verbreiternde Artikelsortimente, für welche eine Automatisierung der Kom­ missionierung oftmals nicht wirtschaftlich realisierbar ist. Aufgrund der Flexibilität des Menschen (kognitiv und motorisch, z. B. in der Handhabung unterschiedlichs­ ter Produktverpackungen) ist in manuellen Kommissioniersystemen eine schnelle Anpassung an Sortimentsänderungen möglich. Hohe Investitionskosten in Automa­ tisierungen rentieren sich erst bei langfristig stabilen Entnahmezahlen für bestimmte Artikelgruppen beziehungsweise das ganze Sortiment (vgl. Elbert et al. 2016). Diese Bedingungen liegen jedoch häufig auch aufgrund von (saisonalen) Nachfrageschwan­ kungen nicht vor. Person-zur-Ware-Systeme können demgegenüber weitere Vorteile hinsichtlich der Skalierbarkeit ausspielen. Auf verändernde Nachfrage kann unmit­ telbar durch Anpassung des Personalbestands (durch Zeitarbeiter) reagiert werden (vgl. Boysen/Briskorn/Emde 2017). Eine Studie zu Kommissionierlagern in Italien verdeutlicht die Einsatzbereiche von Person-zur-Ware- beziehungsweise Ware-zu-Person-Systemen. Dallari, Marchet und Melacini (2009) analysierten dafür branchenübergreifend Lagerneubauten in Ita­ lien im Zeitraum 2002 bis 2006 bei Unternehmen mit einem Jahresumsatz von mindes­ tens 10 Mio. Euro. Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen, welche konkreten Varianten von Kom­ missioniersystemen von Lagerbetreibern genutzt werden und welche Einsatzbereiche in Abhängigkeit der Basisdaten sich für diese ergeben. Insgesamt können vier Varian­ ten von Kommissioniersystemen unterschieden werden (drei Untervarianten der Per­ son-zur-Ware-Systeme und die Gruppe der Ware-zur-Person-Systeme): – Einfache Person-zur-Ware-Systeme ohne Kommissioniertechnik zum Material­ transport. – Pick-to-Box-Systeme, bei welchen auftragsbasiert in Zonen kommissioniert wird. Die Versandkartons für die einzelnen Aufträge werden mittels Förderbändern zwi­ schen den Zonen transportiert. – Pick-and-Sort-Systeme, bei welchen artikelbasiert in Zonen kommissioniert wird und die Artikel per Förderband zum Sortierbereich transportiert werden. – Ware-zur-Person-Systeme mit verschiedenster Kommissioniertechnik.

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In Abhängigkeit der Sortimentsbreite (Anzahl Artikel im Sortiment) und des Lager­ durchsatzes (Auftragszeilen/Tag) können die Einsatzbereiche für die Systemvarian­ ten abgegrenzt werden. Einfache Person-zur-Ware-Systeme werden bei vergleichswei­ se geringen Sortimentsbreiten bis knapp über 2000 Artikeln eingesetzt. Bei höheren Sortimentsbreiten werden Ware-zur-Person-Systeme nur für geringere Lagerdurchsät­ ze, überwiegend bis ca. 1000 Auftragszeilen/Tag, genutzt. Für hohe Lagerdurchsätze bei hoher Sortimentsbreite wird auf Pick-to-Box oder Pick-and-Sort-Systeme zurück­ gegriffen. Die Einsatzbereiche illustrieren, welche Systemvarianten bei welchen Anforde­ rungen geeignet sein können. Zu beachten ist allerdings, dass getroffener Gestal­ tungsentscheidungen von Lagerbetreibern ausgewertet wurden. Dadurch ist nicht zwangsläufig sichergestellt, dass ein bestimmtes System bei gegebenen Rahmen­ bedingungen auch die objektiv beste Gestaltungsalternative darstellt (gegebenenfalls wäre eine andere Systemvariante überlegen gewesen, welche aber z. B. in der Planung nicht untersucht wurde). Nach dem allgemeinen Überblick zur systematischen Planung von Kommissio­ niersystemen wird in den zwei nächsten Abschnitten spezifischer auf aktuelle Her­ ausforderungen bei der Gestaltung von Person-zur-Ware- beziehungsweise Ware-zurPerson-Systemen eingegangen.

4 Person-zur-Ware-Systeme: von der Wegstreckenminimierung zur Berücksichtigung des „Faktor Mensch“ Den zentralen Vorteilen der Person-zur-Ware-Systeme von hoher Flexibilität und ge­ ringen Investitionskosten steht ein zentraler Nachteil gegenüber: Ca. 50 % der Kom­ missionierzeit entfallen auf die Wegzeit der Kommissionierer zur Bewegung zwischen den Regalplätzen oder zwischen Depot und Lagerbereich (vgl. Abbildung 2). In dieser Zeit werden keine wertschöpfenden Tätigkeiten erbracht (wertschöpfend im eigentli­ chen Sinne ist nur die Entnahme der Artikel aus den Regalen). Die Folge ist ein ver­ gleichsweise hoher Personalbedarf zur Erzielung eines vorgegebenen Lagerdurchsat­ zes. Wegzeit

50%

Suchzeit

20%

Greifzeit

15%

Basiszeit Sonstiges

10% 5%

Abb. 2: Zeitanteile für einzelne Tätigkeiten in Person-zur-Ware-Kommissioniersystemen (vgl. Tomp­ kins et al. 2010).

350 | Ralf Elbert und Jan Philipp Müller

Für die Kommissionierstrategie als Teil des Organisationssystems wurden folglich leistungsfähige Planungsverfahren entwickelt, welche die Wegstrecke (und folglich auch die Wegzeit) für den Kommissionierer reduzieren. In Fallstudien konnten durch systematische Analyse und Auswahl geeigneter Verfahren für Lagerplatzvergabe, Auf­ tragsaggregation und Wegeführung die Kommissionierzeiten um bis zu 30 % reduziert werden (vgl. Petersen/Aase 2004). Eine signifikante Senkung der Kommissionierzei­ ten lässt sich in vielen Fällen bereits mit der Umstellung von zufälliger Lagerplatz­ vergabe zu einer klassenbasierten Lagerplatzvergabe erreichen. Hierfür werden die Artikel auf Basis einer ABC-Analyse in Absatzklassen eingeteilt und absatzstarke Artikel (Klasse A) möglichst nahe am Depot platziert. Weitere Verbesserungen sind durch den Einsatz von Algorithmen im Rahmen der Auftragsaggregation möglich, welche Kommissionieraufträge gezielt zur Minimierung der Wegstrecke zu Touren zu­ sammenstellen (Bündelung von Aufträgen in einer Tour, für welche die Regalplätze der Artikel möglichst nahe beieinander liegen). In der Praxis werden die Aufträge oftmals hingegen nur nach dem First-Come-First-Serve-Prinzip oder unter alleiniger Berücksichtigung des Liefertermins/der Auftragspriorität aggregiert. Als dritter Hebel zur Wegzeitreduzierung sollte die Wegeführung im Lager ge­ nau analysiert werden. Lagerbetreiber nutzen in vielen Fällen einfache, heuristische Wegeführungen wie die Stichgangs- oder Schleifengangstrategie. Bei erst genannter Strategie durchquert der Kommissionierer eine Regalreihe stets bis zum hintersten zu kommissionierenden Artikel, um anschließend umzukehren und zum Verlassen die Regalreihe nochmals durchquert. Bei der Schleifengangstrategie wird die Regalreihe stets komplett durchquert und die Tour am Anfang der nächsten Regalreihe fortge­ setzt. Insbesondere für Lagerbereiche mit rechteckigem Layout (parallele Anordnung der Regalreihen nebeneinander) existieren weitere Strategien, welche für eine gegebe­ ne Tour die Wegstrecken nochmals deutlich reduzieren können. Bei der sogenannten „Zusammengesetzt“- oder „Kombiniert-Heuristik“ wird für jede Regalreihe geprüft, welche Alternative (komplettes Durchqueren der Regalreihe oder Verlassen der Re­ galreihe an der gleichen Seite wie Betreten) jeweils zur kürzesten Wegstrecke führt. Schließlich kann für jede Tour auch eine wegstreckenminimale Route durch Lösung eines modifizierten Traveling-Salesman-Problems berechnet werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass durch eine geeignete Kommis­ sionierstrategie auch für gegebene Kommissioniersysteme (hinsichtlich Materialfluss und Layout) noch erhebliche Reduzierungen der Wegzeit möglich sind. Die Bestim­ mung der Kommissionierstrategie muss jedoch für jedes Lager individuell erfolgen. Zudem müssen in einer ganzheitlichen Betrachtung mögliche Folgekosten in anderen Bereichen (z. B. höhere Zahl an Regalplätzen bei Einführung einer klassenbasierten Lagerplatzvergabe, Kosten für Anpassung des Lagerverwaltungssystems) Berücksich­ tigung finden. Während auf die Wegstrecken- beziehungsweise Wegzeitreduzierung viel Auf­ merksamkeit gelegt wurde, ist ein weiterer, wesentlicher Faktor zur Reduzierung von Kommissionierzeiten bislang wenig beachtet worden: die Arbeitsbedingungen für

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die Kommissionierer und deren Auswirkungen auf ihre Leistungsfähigkeit (kurz: der „Faktor Mensch“). Im Einzelnen können darunter die physischen, mentalen und psy­ chosozialen Arbeitsbedingungen zusammengefasst werden, welche die Produktivität der Kommissionierer und somit auch Kommissionierzeiten, -fehler und die Gesund­ heit der Kommissionierer bestimmen (vgl Grosse et al. 2015). Insbesondere die (physische) Gesundheit nimmt aufgrund des fortschreitenden demographischen Wandels einen zunehmenden Stellenwert ein. Durch die Alterung der Bevölkerung sinkt die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt (von aktuell ca. 51 Mio. auf 44,7 Mio. in 2030, vgl. Statistisches Bundesamt 2015). Unter den verbleibenden Erwerbstätigen steigt zudem der Anteil der Beschäftigten ab 55 Jahren oder älter von aktuell 26,2 % auf 30,4 % in 2030 (vgl. Statistisches Bundesamt 2015). Für die Kommis­ sionierung als Beruf mit hoher physischer Beanspruchung (Kommissionierer absol­ vieren Wegstrecken bis zu 20 km pro Arbeitstag, vgl. Witron GmbH 2016) müssen die Arbeitsbedingungen folglich so gestaltet sein, dass auch ältere Arbeitnehmer langfris­ tig und möglichst vollumfänglich ihrer Tätigkeit nachgehen können. Aktuelle Zahlen zum Krankenstand verdeutlichen jedoch den Handlungsbedarf in diesem Bereich. Im Schnitt sind über 50jährige allein aufgrund von Muskel-/Skeletterkrankungen an acht Tagen pro Jahr arbeitsunfähig, womit diese die mit Abstand häufigste Ursache krankheitsbedingter Arbeitsausfälle bei den älteren Beschäftigten darstellen (vgl. BKK Dachverband e. V. 2013). Lagerbetreiber sollten folglich die physischen Arbeitsbedingungen viel stärker unter der Prämisse einer integrierten Gesamtbetrachtung von ökonomischen und arbeitsergonomischen Aspekten analysieren und gestalten. Hierfür sind Planungs­ ansätze erforderlich, welche Systemalternativen hinsichtlich beider Kriterien evalu­ ieren, um eine ganzheitlich zufriedenstellende Lösung bestimmen zu können. Die Arbeitsergonomie hat sich bislang stark auf Bewertungsmethoden zur Bestimmung gesundheitlicher Risiken konzentriert. Durch Erfassung der Körperhaltungen inklusi­ ve deren Andauern beziehungsweise Häufigkeit und der zu bewegenden Lasten wird ein Bewertungsindex bestimmt, welcher wiederum eine Abschätzung des Risikos für Muskel-Skelett-Erkrankungen ermöglicht. Beispiele hierfür sind Beobachtungsme­ thoden wie OWAS oder das NIOSH-Verfahren (vgl. David 2005). Lagerbetreiber müssen bei vielen Gestaltungsentscheidungen jedoch einen Tradeoff zwischen ökonomischen und arbeitsergonomischen Zielstellungen treffen. Ein konkretes Beispiel ist die Lagerplatzvergabe. Zwar können ergonomische Verbesse­ rungen teilweise auch mit Reduzierung der Kommissionierzeiten einhergehen, z. B. beim sogenannten Ansatz der „Goldenen Zone“. Hierbei werden Artikel mit hohen Absatzzahlen auf Regalplätze in mittlerer Höhe (vertikal) verteilt, welche für den Kommissionierer leicht zugänglich sind. Dadurch reduziert sich die Greifzeit und gleichzeitig die ergonomische Belastung durch Vermeiden von Bücken oder Stre­ cken (vgl. Petersen/Aase 2005). Im Allgemeinen kann durch eine Lagerplatzvergabe mit Ziel der Minimierung der Kommissionierzeiten nicht auch die arbeitsergonomi­ sche Belastung minimiert werden (vgl. Larco et al. 2016). So müssten z. B. Artikel mit

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hohem Gewicht unter ergonomischen Kriterien ebenfalls in leicht erreichbaren Re­ galplätzen eingelagert werden, was aber aufgrund von gegebenenfalls nur geringen Absatzzahlen nicht zu kürzesten Kommissionierzeiten führt. Anhand dieses Beispiels lassen sich hinsichtlich der physischen Arbeitsbedin­ gungen drei Forschungsfelder ableiten, welche zu einer Weiterentwicklung der Pla­ nungsverfahren im Sinne einer integrierten Betrachtung ökonomischer und arbeits­ ergonomischer Aspekte weiter verfolgt werden sollten: 1. Die Auswirkungen der physischen Arbeitsbedingungen auf Kommissionierzeiten müssen durch quantitative Modelle abgebildet werden, um eine möglichst reali­ tätsnahe Bestimmung von Kommissionierzeiten in der Planung zu erreichen. Ein Beispiel in diesem Bereich ist die Bestimmung von sogenannten Gehgeschwin­ digkeitsfunktionen. Aktuell nehmen Planungsmodelle eine konstante Gehge­ schwindigkeit von Kommissionierern an, wodurch sich die Kommissionierstra­ tegie auf eine Reduzierung der Wegstrecke konzentriert (vgl. oben). Die Wegzeit kann jedoch ebenfalls durch Fahrmanöver (z. B. erhöhter Zeitbedarf für Kurven, vgl. Elber/Müller 2017a) sowie Gewicht der im Kommissionierwagen befindlichen Artikel (vgl. Elbert/Müller 2017b) beeinflusst werden. Eine Gehgeschwindigkeits­ funktion bestimmt entsprechend die Geschwindigkeit des Kommissionierers in Abhängigkeit von Fahrmanöver (Beschleunigen, Bremsen, Geradeausfahrt, Kur­ venfahrt, Wenden) und kumulierten Artikelgewicht. 2. Umgekehrt müssen die ökonomischen Auswirkungen gesundheitlicher Beein­ trächtigungen auf das Kommissioniersystem quantifiziert werden. Battini et al. (2015) berücksichtigen in diesem Kontext z. B. die Ausfallrate von Kommissio­ nieren aufgrund von Muskel-Skelett-Erkrankungen. Durch überhöhte Belastung kann zwar kurzfristig die Produktivität gesteigert werden. Langfristig führt die Überlastung allerdings in Form höherer Ausfallraten zu Folgekosten. Als Kon­ sequenz kann es in einer Gesamtbetrachtung beispielsweise ökonomisch vor­ teilhafter sein, Kommissionierwagen nicht bis zur technisch maximalen Last zu beladen, sondern eine „ergonomische“ Maximallast zu definieren. 3. Für die Kommissionierstrategie müssen auf Basis der ersten beiden Forschungs­ felder neuartige Planungsverfahren entwickelt werden. Ein Beispiel hierfür sind neue Strategien zur Wegeführung, welche die Gehgeschwindigkeit mit berück­ sichtigen. So müssten Touren mit einer hohen Anzahl an Kurven oder Wen­ demanövern vermieden werden, da sie in höheren Wegzeiten und höheren ergonomischen Belastungen resultieren können. Ein weiterer Ansatz ist die Be­ rücksichtigung des Artikelgewichts bei der Lagerplatzvergabe. Elbert und Müller (2017b) konnten zeigen, dass eine klassenbasierte Lagerplatzvergabe, welche ne­ ben den Absatzzahlen auch das Artikelgewicht berücksichtigt, die Wegzeiten um bis zu 8 % reduzieren kann. Hierfür werden schwere Artikel solchen Lagerberei­ chen zugeordnet, welche die Kommissionierer in ihren Touren zum Schluss errei­ chen. In der Folge werden hohe Artikelgewichte über kürzere Distanzen bewegt mit entsprechend positiven Auswirkungen auf Wegzeit und Arbeitsergonomie.

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Die erläuterten Ansätze zeigen, dass für Person-zur-Ware-Kommissioniersysteme das Optimierungspotenzial noch längst nicht ausgeschöpft ist, sondern durch Berück­ sichtigung des „Faktor Mensch“ besonders hinsichtlich der physischen Arbeitsbe­ dingungen eine Vielzahl an Verbesserungen möglich sind. Trotz der fortschreitenden technologischen Entwicklung ist davon auszugehen, dass zumindest mittelfristig Person-zur-Ware-Systeme weiterhin eine wichtige Rolle in der Kommissionierung einnehmen. Im Zuge von Industrie 4.0 findet jedoch auch eine Weiterentwicklung der Ware-zur-Person-Systeme statt, auf welche im nächsten Abschnitt näher eingegangen werden soll.

5 Ware-zur-Person-Systeme: neue autonome Transportsysteme im Rahmen von Industrie 4.0 Durch Nutzung modernster Informations- und Kommunikationstechnik sollen im Rahmen der vierten industriellen Revolution, kurz Industrie 4.0, intelligente, sich selbst organisierende Produktions- und Logistiknetzwerke entstehen. Dadurch wird eine flexible, kundenindividuelle Produktion auch in der Großserie ermöglicht (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2017). Im Bereich der Kommissionie­ rung werden daher aktuell neuartige Ware-zur-Person-Systeme entwickelt, welche nicht mehr die Nachteile „klassischer“ Automatisierungslösungen hinsichtlich Fle­ xibilität und Skalierbarkeit aufweisen sollen. Ein Ansatz sind autonome Transport­ systeme verschiedenster Art (auch zellulare Transportsysteme genannt, vgl. Kirks et al. 2012). Diese zielen auf die Teilautomatisierung von manuellen Kommissionier­ systemen ab, indem der Materialtransport zu stationären Kommissionierstationen durch autonom fahrende Einheiten erfolgt und die Wegzeit für Kommissionierer da­ durch eliminiert wird. Eine Variante, welche bereits im Regelbetrieb unter anderem bei Amazon einge­ setzt wird, sind mobile Kommissionierroboter (vgl. Abbildung 3). In diesem System bringen kleine, autonome Roboter die Regale zu den Kommissionierstationen. Dort entnimmt der Kommissionierer die benötigten Artikel. Die Regale werden anschlie­ ßend wieder in den Lagerbereich zurück transportiert. Roboter und Regale sind nicht fest aneinander gekoppelt, sodass Roboter immer nur zu aktuell benötigten Regalen fahren und diese bewegen. Die Roboter navigieren gitterbasiert und erfassen ihre Po­ sition über QR-Codes am Boden. Die Kommunikation zwischen Kommissionierstatio­ nen, Roboter und dem sogenannten Flottenmanager erfolgt über Funksignale (vgl. Wurll 2014). Die mobilen Kommissionierroboter stellen folglich eine neuartige Realisierung des Ware-zur-Person-Prinzips dar, indem nicht einzelne Artikel, sondern ganze Re­ gale automatisiert durch das Lager bewegt werden. Eine Produktivitätssteigerung im Vergleich zu Person-zur-Ware-Systemen erfolgt durch die Eliminierung der Wegzeit

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Kommissionierer

Bereich mit Lagerregalen

Abfahrende LKW

Regalbeladung

Ankommende LKW

Kommissionierstation

Förderband für fertige Aufträge

Kartons

Regal Förderband

Schlange von mobilen Regalen

Abb. 3: Kommissionierung mit mobilen Robotern und Regalen (vgl. Boysen/Briskorn/Emde 2017).

für den Kommissionierer, dessen Tätigkeit sich nur noch auf das Entnehmen der Ar­ tikel beschränkt. Laut Herstellerangaben wechselt im Mittel alle 6 Sekunden das Re­ gal an der Kommissionierstation, sodass Entnahmeraten von bis zu 600 Auftragszei­ len/Stunde je Station möglich sind (vgl. Wurman/D’Andrea/Mountz 2008). Dadurch stehen den höheren Investitionskosten im Vergleich zu Person-zur-Ware-Systemen Re­ duzierungen bei Personalkosten durch eine geringere Anzahl an Kommissionierern gegenüber. Durch An- beziehungsweise Abschalten der Roboter soll die Skalierbar­ keit hinsichtlich Nachfrageschwankungen erreicht werden. Zudem soll das System vergleichsweise einfach in bestehende Lagergebäude integriert werden können, so­ dass eine Umstellung von einem bestehenden Person-zur-Ware-System mit geringeren Kosten und Zeitbedarf möglich ist (vgl. Wurll 2014; für Installation eines automatisier­ ten Hochregals ist hingegen in der Regel mindestens eine umfassende Anpassung des Lagergebäudes bis hin zu einem Neubau erforderlich). Trotz der genannten Vorteile und verminderten Investitionskosten sind auch mo­ bile Kommissionierroboter nicht zwangsläufig wirtschaftlicher als Person-zur-WareSysteme. Lagerbetreiber sollten sie als eine weitere Alternative betrachten, welche bei der systematischen Planung von Kommissioniersystemen (vgl. Abschnitt 2) berück­ sichtigt werden kann. Darüber hinaus eröffnen sich durch die neuartige Realisierung des Ware-zur-Person-Prinzips auch folgende neuartige Planungsprobleme im Rahmen der Kommissionierstrategie: – Lagerplatzvergabe: Wie soll eingegangene Ware auf die Regale verteilen werden? – Lagerstandorte der Regale: Wo sollen bestimmte Regale im Lagerbereich stehen? – Zuordnung von Aufträgen zu Kommissionierstationen: Welche Kommissionier­ station soll welchen Kommissionierauftrag bearbeiten? – Reihenfolgeplanung: In welcher Reihenfolge sind die Kundenaufträge abzuarbei­ ten und die Regale durch die Roboter an die stationären Kommissionierer zu lie­ fern? – Fahrwegesteuerung: Wie steuert man die Fahrtwege der Roboter, ohne dass es zu Kollisionen oder Blockierungen kommt?

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Für die Lagerplatzvergabe auf den Regalen ist vor allem entscheidend, dass häufig zusammen bestellte Artikel möglichst in denselben Regalen gelagert werden, um sie gemeinsam an den Kommissionierstationen entnehmen zu können. Ferner sollten Re­ gale, welche häufig nachgefragte Artikel beinhalten, möglichst in geringerer Distanz zu den Kommissionierstationen platziert werden. Bei der Zuordnung der Aufträge zu Kommissionierstationen und der Reihenfolgeplanung werden Kundenaufträge und verfügbare Regale an den Kommissionierstationen so aufeinander abgestimmt, dass möglichst viele Artikel aus den Regalen entnommen werden können und dadurch Kommissionieraufträge schnell fertiggestellt werden können. Für die Fahrwegesteue­ rung sind, neben der Zuordnung von Robotern zu Regalen und der Bestimmung von minimalen Wegstrecken, auch mögliche Blockiervorgänge bei Routenüberschneidun­ gen zu beachten, welche die Wegzeiten erhöhen können. Erste Ansätze zur Entwicklung entsprechender Planungsverfahren zeigen, dass diese entscheidend die Wirtschaftlichkeit des gesamten Systems beeinflussen kön­ nen. Boysen, Briskorn und Ende (2017) weisen nach, dass durch Nutzung von Optimie­ rungsalgorithmen bei der Reihenfolgeplanung die Anzahl benötigter Roboter mehr als halbiert werden kann (bei gleichem Lagerdurchsatz). Da die Roboter im erhebli­ chen Ausmaß die gesamten Investitionskosten bestimmen, muss beim Vergleich mit anderen Systemen folglich auch die Kommissionierstrategie berücksichtigt werden. Gleichzeitig kann der Einsatzbereich mobiler Kommissionierroboter durch (Weiter-) Entwicklung der Planungsverfahren substantiell vergrößert werden. Mobile Kommissionierroboter sind eine erste Variante autonomer Transportsys­ teme bei der Ware-zur-Person-Kommissionierung. Bereits jetzt sind weitergehende Entwicklungen abzusehen, welche zunehmend auf den Markt drängen. Ziel dieser Weiterentwicklungen ist eine möglichst ungehinderte und flexible „Kooperation“ von Kommissionierern und Transporteinheiten. Bewegen sich bei der vorgestellten Va­ riante mobiler Kommissionierroboter die Regale noch in einem strikt abgetrennten Bereich, können bei neueren Versionen Kommissionierer und Roboter Lagerbereiche parallel nutzen und miteinander interagieren (vgl. Kirks et al. 2012). Dadurch erge­ ben sich vielfältige, weitere Anwendungsmöglichkeiten für den innerbetrieblichen Transport (z. B. autonomer Transport von Paletten, von welchen der Kommissionierer benötigte Artikel direkt entnimmt). Des Weiteren steigen die Spielräume für die Ge­ staltung des Kommissioniersystems nochmals an, da Materialfluss beziehungsweise Layout frei festgelegt und auch flexibel verändert werden können. Durch weitere Kos­ tenreduzierungen für die Transporteinheiten soll es zudem ermöglicht werden, auch kleinere Behälter, wie einzelne Kartons oder Boxen, wirtschaftlich autonom zu beför­ dern und somit die durch Industrie 4.0 anvisierte kundenindividuelle Produktion und Distribution („Losgröße eins“) Realität werden zu lassen.

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6 Fazit und Ausblick Aufgrund ihrer entscheidenden Bedeutung für Lieferzeiten und Logistikkosten erfährt die Kommissionierung bei der Planung und Gestaltung von Wertschöpfungsnetzwer­ ken eine zunehmende Aufmerksamkeit. Durch die Vielzahl an Einflussgrößen, wel­ che Leistungs- und Kostenkennzahlen von Kommissioniersystemen bestimmen, ist ein systematisches Vorgehen in deren Planung unerlässliche Voraussetzung, um Ziel­ vorgaben im operativen Betrieb tatsächlich erfüllen zu können. Auch bei historisch gewachsenen Kommissioniersystemen sollte eine regelmäßige Prüfung erfolgen, ob deren Ausgestaltung die aktuellen Anforderungen noch erfüllen kann – besonders angesichts sich stetig verbreiternder Sortimente bei gleichzeitig verringerten Losgrö­ ßen. Auch wenn im Rahmen von Industrie 4.0 neuartige autonome Transportsysteme entwickelt beziehungsweise teilweise schon im Praxisbetrieb eingesetzt werden, ist ei­ ne vollständige Ersetzung der menschlichen Arbeitskraft, zumindest nach aktuellem Stand, mittelfristig nicht abzusehen. Die nach wie vor hohe Verbreitung manueller Person-zur-Ware-Systeme lässt ebenfalls darauf schließen, dass der „Faktor Mensch“ in der Kommissionierung auch in den nächsten Jahren eine wichtige Rolle spielen und bei der Systemgestaltung in den Mittelpunkt rücken wird. Ein mögliches Szenario für die nahe Zukunft ist daher, dass sich einerseits neuartige Ware-zur-Person-Systeme in Marktsegmenten mit besonders hohen Anforderungen an die Kommissionierung (ho­ he Lagerdurchsätze bei hoher Sortimentsbreite, wie im E-Commerce) zunehmend ver­ breiten. Andererseits können für die Vielzahl der Person-zur-Ware-Systeme vorhande­ ne Optimierungspotenziale ausgeschöpft werden, wofür insbesondere eine integrierte Betrachtung von ökonomischen und arbeitsergonomischen Kriterien erforderlich ist.

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Sebastian Kummer

Transportsysteme und Infrastruktur 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3

Einführung | 358 Grundlagen zu Transportsystemen | 359 Verkehrsinfrastruktur und Verkehrsinfrastrukturpolitik | 359 Transport- und Verkehrsarten | 360 Transportleistung und -prozesse | 362 Messgrößen für Transportsysteme und Infrastruktur | 362 Analyse und Prognose der Entwicklung der Transportkosten | 364 Nachhaltigkeit als strategisches Ziel | 365 Analyse, Modellierung und Gestaltung von Transporten für Industrieund Handelsunternehmen | 365 Literatur | 368

Zusammenfassung. Ausgehend von der Darstellung der Bedeutung von Transport­ systemen und Infrastruktur sowohl für die Volkswirtschaft als auch für die Unter­ nehmen werden wesentliche Grundlagen der Verkehrsinfrastruktur und -politik behandelt. Transportketten, insbesondere unter Verwendung multimodaler und kom­ binierter Verkehre werden ebenso diskutiert wie Transportleistungen, -prozesse und wichtige Messgrößen. Abschließend wird eine Methode zur Analyse, Modellierung und Gestaltung von Transporten für Industrie- und Handelsunternehmen vorgestellt.

1 Einführung Die Bedeutung der Transportsysteme und der Infrastruktur sowohl für die Volkswirt­ schaft als auch für die Unternehmen ist evident. Staaten verwenden Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur als wichtigen Entwicklungsmotor, und so ist es kein Zufall, dass die Volkswirtschaft, die sich in den vergangenen Jahrzehnten am stärksten ent­ wickelt hat, China ist. China hat diese Entwicklung durch große Investitionsprogram­ me in alle Verkehrsträger begleitet und jetzt mit der Seidenstraßeninitiative massiv in internationale Infrastruktur auch außerhalb seines Territoriums investiert (vgl. Kum­ mer/Schramm/Sudy 2010, S. 20 ff.). Für die Wettbewerbsfähigkeit von Industrie- und Handels- sowie Dienstleistungs­ unternehmen wird die Bedeutung von Transportsystemen zwar häufig unterschätzt oder gar als notwendiges Übel angesehen, nicht zuletzt aber aufgrund der gestiege­ nen Kundenanforderungen wird die Bedeutung von Transportsysteme jedoch wieder verstärkt erkannt. Doch nicht nur die downstream Transportsysteme spielen für die Wettbewerbsfähigkeit eine wichtige Rolle, sondern auch die Transporte von Roh- und https://doi.org/10.1515/9783110473803-020

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Zwischenprodukten sind für die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Wert­ schöpfungskette sowie deren Effizienz von entscheidender Bedeutung. Dieser Beitrag führt zunächst in die Grundlagen der unternehmensübergreifen­ den und unternehmensbezogenen Transportsysteme und Infrastruktur ein, erläutert diese und geht dann zum betrieblichen Transportmanagement über.

2 Grundlagen zu Transportsystemen Unter Transportsystemen werden alle Elemente (technische und organisatorische Einrichtungen), die für die Durchführung von Ortsveränderungen von Objekten, Per­ sonen und Lebewesen notwendig sind, und deren Zusammenwirken verstanden. Die Infrastruktur umfasst die ortsfesten Bestandteile eines Transportsystems, in erster Linie die Verkehrswege und Stationen (Verkehrsknotenpunkte). Unter Transport­ management wird die geplante, systematische Konzeptionierung, Positionierung, Ausgestaltung, Steuerung und Kontrolle der Transporte eines Industrie-, Handelsoder Dienstleistungsunternehmens verstanden.

2.1 Verkehrsinfrastruktur und Verkehrsinfrastrukturpolitik Die Entwicklung der Menschheit ist eng mit der Verkehrsinfrastruktur verbunden, so entstanden erste Hochkulturen an den Küsten, Flüssen oder Handelswegen (z. B. Mek­ ka oder Saba). Verkehrsinfrastruktur war neben der Basis für den wirtschaftlichen Wohlstand auch häufig Voraussetzung für militärische Macht. Die Eisenbahn ermög­ lichte die Erschließung der Westküste der USA, und die industrielle Entwicklung ist ohne leistungsfähige Schieneninfrastruktur kaum denkbar. Die Europäische Verkehrsinfrastrukturpolitik hat die Bedeutung der Verkehrsin­ frastruktur für die Transportlogistik und den Personenverkehr schon lange erkannt und hat im Rahmen von Verkehrsinfrastrukturprogrammen die europäischen Ver­ kehrsachsen definiert. Allerdings kann sie aufgrund der zeitraubenden Abstimmungs­ notwendigkeiten innerhalb der EU sowie aufgrund der geringen finanziellen Mittel der EU für die Verkehrsinfrastruktur – die Mittelbereitstellung erfolgt großteils direkt durch die Mitgliedsstaaten – nur sehr langsam reagieren. In der Vergangenheit war der ordnungspolitische Rahmen im Verkehrsbereich – verglichen mit den Regelungen für die Mehrzahl der anderen Sektoren der Volks­ wirtschaft – relativ restriktiv angelegt. In vielen Ländern sind heute noch staatliche Interventionen an der Tagesordnung. Die EU hat für den Straßengüterverkehrsbereich und im Luftverkehr erfolgreich die Liberalisierung vorangetrieben, die zu erheblichen Leistungssteigerungen bei sinkenden Transportkosten geführt haben. Auch im Eisen­ bahnbereich wurden starke Deregulierungsbemühungen unternommen. Aufgrund

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der unterschiedlichen Interessen der Länder und der ehemaligen Staatsbahnen wa­ ren diese jedoch nicht überall erfolgreich.

2.2 Transport- und Verkehrsarten Transporte können nach unterschiedlichen komplementären Dimensionen beschrie­ ben werden. Nach dem Transportobjekt unterscheidet man Gütertransport und Perso­ nentransport. Im Folgenden werden nur Gütertransporte betrachtet. Grundsätzlich können eingliedrige und mehrgliedrige Verkehre beobachtet wer­ den. Wird nur ein Verkehrsmittel benutzt und der Transport nicht durch einen Um­ schlag unterbrochen, so wird dies als eingliedriger oder ungebrochener Verkehr bezeichnet. Aufgrund differenzierter Nachfrageanforderungen und zunehmender Transportweiten gewinnen mehrgliedrige Transportprozesse immer mehr an Bedeu­ tung. Hier erfolgt also durch Umschlagsprozesse eine Unterbrechung des Verkehrs. Mehrgliedrige Verkehre werden auch als Transportketten bezeichnet. Transportketten sind definiert als die Folge von technischen und organisatorisch miteinander verknüpften Transporten, bei denen Personen oder Güter von einer Quel­ le zu einem Ziel bewegt werden. Wird ein Transport nur durch einen Verkehrsträger durchgeführt, so wird die­ ser Verkehr als unimodaler Verkehr bezeichnet, wobei ungebrochene Verkehre immer unimodal sind. Wird der Verkehr durch zwei oder mehrere verschiedene Verkehrsträ­ ger durchgeführt, so handelt es sich um einen multimodalen Verkehr. Von einem inter­ modalen Verkehr spricht man dann, wenn ein Transport von Gütern in ein und dersel­ ben Transporteinheit mit verschiedenen Verkehrsträgern erfolgt, wobei stets nur die Transporteinheit (z. B. Container) umgeschlagen wird, so dass die darin enthaltenen Transportgüter nicht separat umgeschlagen werden müssen. Entsprechend stellt der intermodale Verkehr eine Untergruppe des multimodalen Verkehrs dar. Einen Son­ derfall stellen hierbei Roll-On/Roll-Off-Verkehre dar (z. B. die Rollende Landstraße, bei der das ganze Verkehrsmittel – in diesem Fall der LKW – auf Schienenfahrzeuge verladen wird). Ein intermodaler Verkehr, bei dem der überwiegende Teil der zurückgelegten Stre­ cke mit der Eisenbahn, mit dem Binnen- oder dem Seeschiff bewältigt wird und der Vor- und Nachlauf auf der Straße so kurz wie möglich gehalten werden, wird als kom­ binierter Verkehr (KV) oder kombinierter Ladungsverkehr (KLV) bezeichnet. Während es sich beim intermodalen Verkehr um einen durchorganisierten gebro­ chenen Verkehr ohne Auflösung der Transporteinheiten bei Wechsel des Verkehrs­ mittels handelt und nur ein Transportdokument existiert, ist dies beim „klassischen“ gebrochenen Verkehr nicht der Fall. Entsprechend wird z. B. bei Sendungen im Con­ tainerseeverkehr zwischen FCL (Full Container Load) und LCL (Less than Container Load) unterschieden, wobei FCL ein intermodaler Transport ist, da die Sendung auf der ganzen Transportstrecke vom Versender bis Empfänger im Container verbleibt

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Verkehrsarten

Mehrgliedrige Verkehre (Transportketten)

Eingliedrige Verkehre

Ungebrochene Verkehre

Direktverkehre • Komplettladungsverkehr LKW • Ganzzugverkehre (Bahn) • Direkte Schiffsverkehre

Teilladungsverkehre

Unimodal

Gebrochener Verkehr • Massengutverkehr • Stückgutverkehr

Verkehre mit Umschlag der Transporteinheit • Transport von Transporteinheiten (z. B. Wechselaufbauten oder Sattelaufliegern) mit unterschiedlichen Fahrzeugen • Begegnungsverkehre (Spezialform bei der die Transporteinheit an ein entgegenkommendes Fahrzeug übergeben wird)

Multimodal

Gebrochener Verkehr • Massengutverkehr • Stückgutverkehr (z. B. Sea-AirVerkehre)

Indermodaler Verkehr (Kombinierter Verkehr) • Huckepackverkehr (RoLa, Rollon/Roll-off-Verkehr) • Behälterverkehr (Container, Wechselaufbauten)

Abb. 1: Verkehrsarten (vgl. Kummer 2010, S. 57).

während LCL einen gebrochener Transport darstellt, da hier die Sendung (möglicher­ weise zusammen mit anderen Sendungen) nur für den Seetransport in einen Contai­ ner geladen wird. Der Kombinierte Verkehr (KV) mit selbstständigen Transporteinheiten wird als begleiteter KV bezeichnet (wenn die Fahrer die Transporteinheiten begleiten), wäh­ rend man beim Einsatz von Containern, Sattelaufliegern (z. B. mit Taschenwagen oder Modalohr-Technologie) und Wechselaufbauten (WAB) von unbegleitetem KV spricht. Beim Roll-on/Roll-off-Verkehr werden Straßen- oder Eisenbahnfahrzeuge auf Schif­ fe verladen. Bei Swim-in/Swim-out- beziehungsweise LASH- (Lighter Aboard Ship) Verkehren werden Schubleichter von größeren (Hochsee-) Schiffen aufgenommen und dann über größere Distanzen transportiert. Huckepackverkehre kennzeichnen die Verladung von Straßenkraftfahrzeugen (LKW-Züge, PKW) auf Eisenbahnwaggons. Der KV versucht, die spezifischen Systemvorteile der einzelnen Verkehrsträger mit­ einander zu verbinden. Die Technologie des kombinierten Verkehrs wird ständig weiterentwickelt, um dessen Effizienz weiter zu steigern. Die Einigung auf eine genormte Transporteinheit und entsprechende Verkehrsmittel reicht jedoch nicht aus. Darüber hinaus müssen or­ ganisatorische Fragen geklärt werden. So ergeben sich häufig Abstimmungsprobleme zwischen den am KV beteiligten Partnern. Außerdem muss ein durchgängiges Infor­ mations- und Kommunikationssystem geschaffen werden.

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2.3 Transportleistung und -prozesse Transportleistungen umfassen ein breites Spektrum von Funktionen: – Beförderungs-/Transportfunktion, – Abfertigungsfunktion, – Wegesicherungsfunktion, – Vorhaltungsfunktionen für Fahrzeuge, Wege und Stationen sowie – die Dispositionsfunktion. Bei der Organisation des Transportes müssen Verkehrs­ betriebe z. B. Transportmittel auswählen, Wege bestimmen, Beladepläne erstellen und die günstigsten Tarife ermitteln. Im Zusammenhang mit der eigentlichen Transportleistung gibt es eine Reihe von Hilfsfunktionen. Zu nennen sind: – (Zwischen-) Lagerfunktion, – sendungsbezogene Umschlagsfunktion, – sendungsbezogene Manipulationen (z. B. Stauung und Markierung) und waren­ bezogene Manipulationen (z. B. Auszeichnung der Ware), – Transportsicherungsfunktion, – Verpackungsfunktion, – Transportversicherungsfunktion, – Informationsfunktion und – Finanzierungs- oder Kreditfunktion. Bei einigen Transporten fallen eine Reihe von Zahlungen für Gebühren, Zölle und damit verwandte Dienstleistungen an. Neben diesen Funktionen, die in einem mehr oder weniger komplementären Ver­ hältnis zur Transportleistung stehen, führen Verkehrsbetriebe Funktionen aus, die ihnen aufgrund des Prozessablaufs oder aus wirtschaftlichen Gründen von den Ver­ ladern übertragen werden (z. B. Montageaktivitäten oder Qualitätssicherungsaufga­ ben). Wenn ein Industrie- oder Handelsunternehmen Personen- oder Güterverkehre mit eigenen Verkehrsmitteln für eigene Zwecke durchführt, so wird dies als Werkverkehr bezeichnet.

2.4 Messgrößen für Transportsysteme und Infrastruktur Grundsätzlich kann die Verkehrsinfrastrukturausstattung eines Landes, die den vor­ handenen Bestand an Verkehrsinfrastruktur eines Verkehrssystems kennzeichnet, anhand von Indikatoren bewertet werden. Dazu zählen: – die Netzlänge (in Kilometern), – die Anzahl der Zugangsstationen,

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Dichtekennziffern (Verhältnis der Gesamtlänge der Wege zu Flächen eines Gebie­ tes – beinhaltet damit indirekt auch Konnektivität) sowie Ausstattungsindizes oder Umwegfaktoren (zu fahrende Wegstrecke im Verhältnis zur Luftlinienentfernung zwischen zwei Raumpunkten).

Neben diesen originären Faktoren sind auch die derivativen (abgeleiteten) Indikato­ ren nicht zu vernachlässigen, da durch sie die Nutzungsintensität der Infrastruktur wesentlich mitbestimmt wird. Die folgenden Faktoren erscheinen diesbezüglich als besonders wichtig: – Kosten der Raumüberwindung, – Leistungsfähigkeit der Infrastruktur (Durchsatz etc.), – Unfallsicherheit oder – Umweltverträglichkeit. Statistisch lässt sich die Qualität der Infrastruktur einer Volkswirtschaft anhand des Modernitätsgrades messen. Dieser stellt das Nettoanlagevermögen (Wert von Ausrüs­ tungen und sonstigen Anlagen zu aktuellen Preisen) in Prozent des Bruttoanlagever­ mögens (Wert aller in der Vergangenheit angeschafften und derzeit noch genutzten Güter ohne Berücksichtigung des Wertverlustes) dar. Erreichbarkeitsindizes geben die Anzahl der vom Ausgangspunkt erreichbaren Zielorte innerhalb einer bestimm­ ten Zeiteinheit an. Die Verkehrsmenge ist die Anzahl der Fahrzeug- beziehungsweise Fußgängerbe­ wegungen in einem Zeitintervall (z. B. pro Stunde, Tag, Jahr) in einem Gebiet (z. B. Land) oder einer Verkehrsinfrastruktur (dann wird in der Regel von Verkehrsstärke beziehungsweise Verkehrsfluss gesprochen). Die Verkehrsmengen beziehungsweise Verkehrsstärken können durch Verkehrszählungen oder feste Zählstellen erhoben werden. Verkehrsdichte (D) ist die Anzahl der Verkehrsmittel (Fahrzeuge beziehungsweise Fußgänger), die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt auf einem definierten Strecken­ abschnitt (Fahrzeuge/km) beziehungsweise einer definierten Verkehrsfläche (z. B. Personen/m2 ) befinden. Der Begriff Kapazität bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch das Fassungsoder Speicherungsvermögen eines technischen Geräts oder Bauteils oder das Produk­ tions- und Leistungsvermögen einer technischen Einrichtung und Ähnlichem. In der Verkehrswirtschaft sind zwei Dimensionen der Kapazität von Bedeutung. Die Kapazi­ tät der Verkehrsmittel sowie die Kapazität der Verkehrsinfrastruktur. Die Verkehrsfrequenz ist die Anzahl der Verkehrsvorgänge in einem definierten Zeitraum. Diese Messgröße wird z. B. verwendet um die Verbindungsqualität zu be­ schreiben, z. B. drei Schiffe pro Woche zwischen Shanghai und Hamburg oder 10 Züge pro Tag zwischen Wien und Klagenfurt. Neben der Anzahl ist aber auch die (regelmäßige) Verteilung der Verkehrsvorgänge wichtig, auf diese zielt der Begriff „Takt(verkehr)“ ab.

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Die Fahrleistung misst die zurückgelegte Entfernung der Verkehrsmittel. Die Di­ mension wird in Fahrzeugkilometern ausgedrückt. Die Transport(verkehrs)leistung wird durch Multiplikation des Verkehrsaufkom­ mens (z. B. t) mit der Verkehrsweite (km) errechnet (z. B. tkm). Aufgrund des hohen Fixkostenanteils in Zusammenhang mit den teilweise hohen Sunk Costs für die Investition in Verkehrsmittel und Infrastruktur weist das Angebot für viele Verkehrsleistungen eine sehr geringe Angebotselastizität auf. Bei vielen verkehrsbetrieblichen Leistungen handelt es sich um eine Verbundpro­ duktion. Leistungen verschiedener Art werden mit Hilfe eines gemeinsamen Produkti­ onsfaktors gleichzeitig oder sukzessive erstellt (Beispiel: Transport mehrerer Sendun­ gen mit nur einem LKW). Nicht nur im internationalen Verkehr, z. B. China-USA oder China-Europa sondern auch bei nationalen Verkehren ist das Verkehrsaufkommen ungleichmäßig verteilt. Diese Unpaarigkeit der Verkehrsströme führt zum Teil dazu, dass keine Anschluss­ fahrten oder Rückfrachten gefunden werden und das Preisniveau je nach Richtung sehr unterschiedlich ausfallen kann.

2.5 Analyse und Prognose der Entwicklung der Transportkosten Nahezu alle Prognosen gehen davon aus, dass sich die Transportkosten mittelfristig überproportional zu den Produktionskosten entwickeln werden. Auch kann man da­ von ausgehen, dass im Zuge der Einführung von Mautsystemen und der finanziellen Berücksichtigung von CO2 -Emissionen im Transport die Kosten stärker steigen wer­ den als es bisher der Fall ist. Die Analyse und Prognose der Transportkosten kann dabei auf zwei Komponenten beruhen: 1. Kostenschätzung auf Basis strategischer Analysen: Diese besteht aus einer Markt­ strukturanalyse, die eine strategische Einschätzung der Marktentwicklungen ermöglicht, einer mittel- und langfristigen Abschätzung der technischen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Verkehrsträger sowie einer strategischen Schätzung der Kostenentwicklungen. 2. Kostenschätzung auf Basis einer Kostenartenanalyse. Aus einer typischen Kosten­ artenrechnung für die Verkehrsträger Bahn und LKW werden die bedeutendsten Kostenarten bei den Transportkosten ermittelt. Um die Kosten abzuschätzen, muss man folgende Faktoren berücksichtigen: (a) die Energie und Treibstoffkosten, (b) Kosten der Transportmittel, (c) Kosten der Benutzung der Verkehrsinfrastruktur, (d) Personalkosten und (e) gegebenenfalls Steuern und Abgaben (CO2 ).

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Für jede identifizierte Kostenart werden die wesentlichen Kosteneinflussfaktoren er­ mittelt, analysiert und deren Entwicklung prognostiziert. Dadurch kann die Verände­ rung jeder einzelnen Kostenart für die nächsten Jahre prognostiziert werden. Aus der Summation der einzelnen Kostenarten pro Verkehrsträger ergeben sich die (prognos­ tizierten) Transportkosten. Beide Analysen können unter Anwendung der Szenario­ technik zusammengeführt werden.

2.6 Nachhaltigkeit als strategisches Ziel Das aus Sicht des normativen Transportmanagements bisher größte Problem im Bereich von Transportwirtschaft und Logistik sind die negativen ökologischen Aus­ wirkungen von Verkehren. Wenn man allerdings, wie viele Unternehmen der Trans­ portwirtschaft, ums Überleben kämpft, so gelten die Sorgen vorrangig dem wirtschaft­ lichen Teil der Nachhaltigkeit. Eine der größten Herausforderungen für die kommenden Jahre stellt die Weiter­ entwicklung umweltfreundlicher Antriebssysteme für PKW, Kleintransporter und alsbald auch für den gesamten Straßengüterverkehr dar. Dadurch wird für die Zu­ kunft eine deutliche Verbesserung der Umweltbilanzen erwartet. Insgesamt wird sich der Betrachtungsfokus ändern. Während heute noch viele Umweltauflagen als Last empfunden werden, wird die Transportbranche schnell er­ kennen, dass umweltfreundliche Lösungen zum einen eine Chance darstellen, um das Image zu verbessern und zum anderen der Unternehmenswert gesteigert werden kann, indem man von einer quartalsgetriebenen Gewinnsucht abkehrt und nachhal­ tiges Denken in den Vordergrund stellt. Leider zeigen sich auch im Bereich der sozialen Nachhaltigkeit bei vielen Trans­ portunternehmen, beziehungsweise deren Subunternehmern erhebliche Mängel, so­ wohl die EU als auch die Nationalstaaten versuchen durch politische Maßnahmen Herausforderungen wie dem Lohndumping und den inhumanen Arbeitsbedingungen und -zeiten zu begegnen. Unternehmen, die sich zur Nachhaltigkeit bekennen, müs­ sen auch hier verstärkte Maßnahmen setzen.

3 Analyse, Modellierung und Gestaltung von Transporten für Industrie- und Handelsunternehmen Bei der Modellierung von Transporten in Supply Chains hat sich folgende Vorgehens­ weise bewährt: 1. Erfassung der Supply-Chain-Strukturen, 2. Erfassung und Prognose der Transportströme,

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3. 4. 5. 6.

Graphische Darstellung der Transportströme und Bestimmung von Clustern, Formulierung von Szenarien, Machbarkeitsüberprüfung gegebenenfalls Mikromodellierung der Prozesse und Modellierung der Supply Chain und Berechnung der Supply-Chain-Kosten der Szenarien.

Zur Erfassung der Supply-Chain-Strukturen ist eine Reihe von Ansätzen entwickelt worden. In der Regel werden diese mit Hilfe von Netzwerkdiagrammen dargestellt. Die Erfassung des Istzustands der Transportströme kann in der Regel durch die vorhandenen Sendungsdaten erfolgen. Mit Hilfe von Geoinformationssystemen (GIS) können die Daten dann abgebildet werden. Allerdings liegen häufig nicht genügend Informationen über die Transportmittel und Transportwege vor. Werden z. B. die Sendungen einem Logistikdienstleister übergeben, so sind zwar Quelle und Senke bekannt, oft aber nicht die tatsächliche Leistungserstellung. Zielt die Supply-ChainGestaltung beziehungsweise -Optimierung auf einen längeren Zeitraum ab, so muss für den Untersuchungszeitraum eine Prognose der Sendungen und der entsprechen­ den Transportströme erstellt werden. Je nach Untersuchungszweck müssen dabei unterschiedliche Kriterien erhoben werden. Oft wird behauptet, die graphische Darstellung der Transportströme sei etwas für Kinder und Vorstände. Doch die graphische Darstellung enthält oft Informationen, die sich in Modellen nur schwer abbilden lassen. Lässt sich das Beispiel auf der lin­ ken Seite der Abbildung 2 gegebenenfalls noch durch Postleitzahlanalysen lösen, so fällt es bei grenzüberschreitenden Sendungen (rechte Seite) schon schwerer. Gegebe­ nenfalls hätte man den Cluster und die sich ergebenden Bündelungsmöglichkeiten durch eine aufwändige GIS-Anwendung in den Griff bekommen.

Abb. 2: Beispiele für die graphische Darstellung von Transportströmen.

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Mit Hilfe einer Clusterung von Quellen beziehungsweise Senken lassen sich die men­ genmäßig relevanten Gebiete beziehungsweise Transportachsen ermitteln. Der Pro­ zess dieser Clusteridentifizierung kann in unterschiedliche Schritte unterteilt werden: – Stufe 1: Grobclusterung des Untersuchungsgebietes, – Stufe 2: Detailclusterung innerhalb der Großregionen nach den Kriterien: Entfer­ nung, regionale Struktur (Stadtgrenzen, Wirtschaftsgebiete etc.), verfügbare In­ frastruktur (Hauptverkehrslinien Straße und Bahn). In einem nächsten Schritt können dann Szenarien zur Verbesserung beziehungsweise zur alternativen Gestaltung der Transporte formuliert werden. Ein typischer Ansatz­ punkt ist die Bündelung, um aus Stückgutsendungen Teilladungen, aus Teilladungen Komplettladungen oder aus LKW-Ladungen Eisenbahnganzzüge oder Wagengruppen zu machen. Die Darstellung in Abbildung 3 zeigt das Transportaufkommen in Mega­ trailern pro Woche für ein Werk in Graz und bezieht sich bereits auf potenzielle Ver­ kehrsachsen und Konsolidierungspunkte.

LEGENDE:


0.5) womit die Bestell­ menge q∗ oberhalb der erwarteten Nachfrage liegt. In der Treatmentgruppe haben die Produkte eine niedrige Gewinnmarge (kritisches Fraktil < 0.5) womit die Bestellmenge q∗ unterhalb der erwarteten Nachfrage liegt. Sind die Entscheider beispielsweise risi­ koavers, würden in beiden Treatments Bestellmengen kleiner als q∗ gewählt werden. Eines der robustesten Ergebnisse im BOM ist, dass für Produkte mit hohen (nied­ rigen) Gewinnspannen weniger (mehr) als q∗ bestellt. Diese Beobachtung wird auch als „Pull-to-Center“-Effekt bezeichnet, da die Versuchsteilnehmer die Tendenz aufzei­ gen, eine Bestellmenge zu wählen, die zwischen der erwarteten Nachfrage („center“) und q∗ liegt. Diese Beobachtung ist jedoch nicht allein durch Risikoaversion oder Risikofreu­ de zu erklären, da die Versuchsteilnehmer in diesem Fall, unabhängig vom kritischen Fraktil (beziehungsweise unabhängig, ob in Kontroll- oder Treatmentgruppe), entwe­ der mehr oder weniger als q∗ bestellen würden. Durch die randomisierte Zuordnung von Teilnehmern zu Treatments, lässt sich der alternative Erklärungsansatz, dass eine zufällige Häufung von risikofreudigen (risikoaversen) Versuchsteilnehmern im Treat­ ment mit niedrigen (hohen) kritischen Fraktilen das Ergebnis treibt, zumindest mittels statistischer Inferenz verwerfen. Mit anderen Worten zeigen Schweitzer und Cachon (2000) in einem intern validen Vergleich von Treatment- und Kontrollgruppe, dass Risikoaversion beziehungsweise -freude zumindest nicht isoliert die Ursache für das beobachtete Bestellverhalten (Wirkung) ist. Eine Reihe von Forschungsarbeiten untersucht, ob das beobachtbare Verhal­ ten durch alternative Nutzenfunktionen (vgl. Schweitzer/Cachon 2000; Nagarajan/ Shechter 2013), die begrenzte Rationalität (d. h. Versuchsteilnehmer wollen erwarte­ te Gewinne maximieren, das Problem ist jedoch zu komplex (vgl. Su 2008; Kremer/ Minner/Waserhove 2010) oder eine Kombination dieser Ansätze erklärt werden kann (vgl. Wu/Chen 2014, zu einem aktuellen Literaturüberblick vgl. Köster 2015).

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Laborexperimente lassen sich in diesem Kontext nutzen, um Alternativen zur Entscheidungsunterstützung zu evaluieren. Beispielsweise zeigen Bolton, Ockenfels und Thonemann (2012), dass Training zum Zeitungsverkäufermodell und/oder die Bekanntgabe der gewinnmaximierenden Bestellmenge q∗ den Pull-to-Center-Effekt reduziert. Des Weiteren können die entwickelten Verhaltensmodelle genutzt werden, um die Reaktionsfunktion von Zeitungsverkäufern zu modellieren, wie im Folgenden anhand der Vertragsgestaltung in einer Supply Chain, bestehend aus Lieferant und Abnehmer (= Zeitungsverkäufer), verdeutlicht werden soll. Die eben genannten Untersuchun­ gen nehmen an, dass der Zeitungsverkäufer die Zeitungen zu einem konstanten Preis von seinem Lieferanten einkauft (= Großhandelspreis) und diese zu einem konstanten Endkundenpreis an den Konsumenten verkauft. Eine Reihe theoretischer Analysen zeigt, dass eine solche Situation zu Effizienzverlusten führt, da der Zeitungsverkäufer weniger Zeitungen kauft, als dies aus Sicht der Supply Chain (= Gewinne von Lieferant + Zeitungsverkäufer) effizient ist. Hintergrund ist die doppelte Marginalisierung (vgl. Spengler 1950). Der Lieferant setzt einen Großhandelspreis, der über seinen Grenzkos­ ten liegt. Die Profitmarge des Zeitungsverkäufers ist daher geringer als die der gesam­ ten Supply Chain und niedrigere Margen führen zu niedrigeren Bestellmengen. In der Literatur werden regelmäßig zwei koordinierende Vertragstypen genannt, die theoretisch ein Supply Chain optimales Bestellverhalten beim Zeitungsverkäu­ fer induzieren: ein Rückkaufvertrag (englisch: Buy-Back) sowie der Umsatzbetei­ ligungsvertrag (englisch: Revenue Sharing). Beide Verträge führen bei rationalem Bestellverhalten, mit dem Ziel der erwarteten Gewinnmaximierung, zu äquivalenten Ergebnissen. Mit anderen Worten: Es resultieren für jede Bestellmenge identische, erwarte Gewinne sowohl für den Lieferanten als auch für den Zeitungsverkäufer (vgl. Cachon 2003). Katok und Wu (2009) untersuchen das Bestellverhalten von „Zeitungsverkäu­ fern“ unter sonst identischen Versuchsbedingungen beim Vorliegen dieser beiden Vertragstypen (Institutionentest). Obwohl theoretisch („mathematisch“) äquivalent, ist das beobachte Bestellverhalten unterschiedlich. Becker-Peth, Katok und Thone­ mann (2013) zeigen, dass dieses beobachtbare Bestellverhalten beziehungsweise die Reaktionsfunktion des Zeitungsverkäufers mit einem formalisierten Verhaltensmo­ dell beschrieben werden kann. Dieses Modell kombiniert die Prospekt-Theorie (vgl. Kahneman /Tversky 1979), mentale Buchführung (englisch: Mental Accounting; vgl. Thaler 1985) sowie den Pull-to-Center-Effekt der bereits diskutierten Zeitungsver­ käuferstudien. Becker-Peth, Katok und Thonemann (2013) zeigen dann, dass dieses Verhaltensmodell effizienzsteigernd zur Entscheidungsunterstützung beim Vertrags­ design des Lieferanten eingesetzt werden kann. Hierzu nutzt der Lieferant bei der Vertragsgestaltung die empirisch und verhaltenswissenschaftlich fundierte Reakti­ onsfunktion des Abnehmers anstelle einer Reaktionsfunktion, die auf Rationalität und erwarteter Gewinnmaximierung basiert.

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Die Kombination der oben genannten Studien verdeutlicht, dass für die Entschei­ dungsunterstützung (hier: Vertragsdesign des Zeitungslieferanten) das beobachtba­ re Verhalten des Zeitungsverkäufers je nach Situation sowohl mit als auch ohne Ent­ scheidungsunterstützung informativ und relevant sein kann. Die Bewertung, ob beob­ achtbares Verhalten mit oder ohne Entscheidungsunterstützung im Fokus der Analyse liegt, sollte daher davon abhängig sein, für welchen Akteur die Entscheidungsunter­ stützung konzipiert wird.

6 Fazit: Laborexperimente und Operations Research Die Ansätze zur rein modelltheoretischen Analyse („traditionelles Operations Re­ search“) und die verhaltenswissenschaftlichen Analysen in Experimenten ergänzen sich im Idealfall gegenseitig. Die Stärken und Schwächen der jeweiligen methodi­ schen Ansätze werden vor diesem Hintergrund in diesem Abschnitt gegenübergestellt und zusammengefasst. Entscheidungsunterstützung durch quantitative Methoden setzt Annahmen be­ züglich der Ursache-Wirkungszusammenhänge beziehungsweise Reaktionsfunktio­ nen voraus. Im Idealfall werden diese zentralen Zusammenhänge nicht nur durch analytische Modelltheorie, sondern auch durch empirische Befunde mit hoher inter­ ner Validität gestützt. Laborexperimente sind zur intern validen Etablierung von Ursache-Wirkungszu­ sammenhängen geeignet, die in einem erheblichen Maße vom menschlichen Verhal­ ten abhängen. Die Prämissen von modelltheoretischen Modellen können weitestge­ hend kontrolliert werden. Treatment- und Kontrollgruppen lassen sich relativ leicht erzeugen und die randomisierte Zuordnung von Versuchspersonen zu den jeweiligen Gruppen ist unproblematisch. Häufig ist jedoch nur ein begrenzter Stichprobenum­ fang aufgrund von Budgetrestriktionen (Teilnehmer enthalten monetäre Entlohnung) möglich. Bei geringen Effektstärken von Ursachen-Wirkungszusammenhängen sind somit statistische Fehler 2. Art wahrscheinlicher als beispielsweise bei reinen Simu­ lationsstudien, in denen modellendogene Daten relativ kostengünstig am Computer erzeugt werden können (vgl. Thomas 2005; Katok/Thomas/Davis 2008 zum Vergleich einer theoretischen Simulationsstudie und der Überprüfung im Laborexperiment). Die traditionellen Planungsmodelle des OR können in der Regel eine Vielzahl praktisch relevanter Rahmenbedingungen abbilden und weisen in diesem Aspekt oft eine hohe externe Validität auf. In der Regel wird jedoch eher normatives mensch­ liches Verhalten als tatsächlich menschliches Verhalten abgebildet beziehungsweise Verhaltensaspekte gar nicht berücksichtigt, was wiederum die externe Validität ein­ schränken kann. Eine besondere Aufmerksamkeit im BOM liegt gerade auf diesen Verhaltensan­ nahmen. Es gibt eine Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten die belegen, dass die

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vereinfachte homogene Beschreibung von Entscheidungsverhalten die Realität nur ungenügend abbildet. Entscheidungsmodelle beziehungsweise Ursache-Wirkungszu­ sammenhänge, die auf diesen einschränkenden Verhaltensannahmen basieren, wei­ sen daher zumindest in diesem Aspekt eine begrenzte externe Validität auf. Genau an dieser Stelle setzen Laborexperimente an. Sie „geben“ die strikten Ver­ haltensannahmen der normativen Analyse auf, indem das Verhalten realer Versuchs­ personen beobachtet wird. Sie können somit dazu beitragen, die externe Validität von Ursache-Wirkungszusammenhängen insbesondere mit Blick auf Verhaltenskom­ ponenten zu erhöhen und somit die Effektivität von Entscheidungsunterstützung zu steigern (vgl. Becker-Peth/Katok/Thomemann 2013). Experimente können in der Regel jedoch nur vergleichsweise einfache Planungs­ situationen abbilden, da eine natürliche Zeitgrenze existiert (in der Regel bis zu zwei Stunden) und die Regeln sowie Planungsaufgaben in diesem Zeitraum für die Teil­ nehmer greifbar sein sollten. Die hohe externe Validität (reale Personen treffen reale Entscheidungen mit realen Konsequenzen) wird daher andererseits durch den relativ hohen Abstraktionsgrad des eigentlichen Planungsproblems reduziert. Des Weiteren wird regelmäßig kritisch angemerkt, dass Studierende als Versuchspersonen keine ex­ tern validen Schlüsse zulassen.¹ Das Laborexperiment nimmt somit eine intern valide Brückenfunktion zwischen der reinen Modelltheorie und der realen Umwelt ein. Der Labortest einer Modell­ theorie ist immer mindestens extern so valide wie das Modell selbst (es wurde mit all seinen Annahmen bis auf den Verhaltensannahmen kontrolliert als Experiment implementiert). Im direkten Vergleich des theoretischen Modells (z. B. Zeitungsver­ käufermodell) mit einer Laborstudie in diesem Modellrahmen, ist daher eine höhere externe Validität für die Laborstudie zu konstatieren. Kritik an der Einfachheit der nachgestellten Entscheidungssituation im Laborexperiment richtet sich somit eben­ falls direkt an die Einfachheit der entsprechenden Modelltheorie. Allerdings sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass z. B. das Zeitungsver­ käufermodell eines der elementaren Bestandsmodelle im OSCM ist und es sehr viele (mutmaßlich extern validere) Bestandsmodelle gibt, die sich kaum für eine experi­ mentelle Laborstudie eignen. Gleichwohl können die Erkenntnisse aus Laborstudien wertvolle Hinweise für die Weiterentwicklung extern validerer Entscheidungsmodelle liefern. Tabelle 2 fasst die Vor- und Nachteile von rein theoretischen Planungsmodel­ len und Laborexperiment zusammen.

1 In diesem Kontext zeigen Bolton, Ockenfels und Thonemann (2012), dass Manager mit relevanter Einkaufserfahrung qualitativ ähnliche Entscheidungen treffen und der „Pull-to-Center“-Effekt (vgl. Abschnitt 5) zu beobachten ist.

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Tab. 2: Interne und externe Validität im Vergleich. Kriterium/ Laborexperimente Methode

Modelltheoretische Entscheidungsunterstützung

Interne Validität

+ Annahmen der Theorie können kontrolliert werden. + Treatment- und Kontrollgruppen leicht zu erzeugen. + Randomisierte Zuordnung zu Treatments unproblematisch. − In der Regel „nur“ statistische Inferenz mit relativ geringem Stichprobenumfang möglich. Statistische Fehler 2. Art bei geringer Effektgröße wahrscheinlicher.

+ Annahmen werden vorgegeben. + Ursache-Wirkungszusammenhänge einfach durch ceteris paribus-Analysen nachzuweisen. + Große Stichproben in Simulationsstudien erlauben statistische Inferenz bei vergleichsweise geringem Fehler 2. Art.

Externe Validität

+ Verhaltensannahmen werden „aufgegeben“. + Reale Personen treffen Entscheidungen in realen Situationen mit realen Konsequenzen. − Nur relativ einfache Aufgaben eignen sich zur experimentellen Untersuchung mit Studierenden.

+ Geringerer Abstraktionsgrad als bei Laborexperimenten möglich. − Verhaltensannahmen oft normativ oder Verhaltensaspekte nicht berücksichtigt.

7 Zusammenfassung Das Forschungsgebiet des BOM beschreibt, erklärt und formalisiert das tatsächlich (beobachtete) Verhalten von Akteuren im Kontext des OSCM. Dazu wird das Verhal­ ten zu klassischen Annahmen, wie der vollständigen Rationalität oder dem Ziel der Gewinnmaximierung, kontrastiert. Eine hohe interne Validität der Erklärungsansät­ ze und Ursache-Wirkungszusammenhänge wird angestrebt. Laborexperimente neh­ men dabei eine Brückenfunktion zwischen Modelltheorie und praxisnahen Entschei­ dungssituationen ein. Die Erkenntnisse können genutzt werden, um (a) die Potenziale der Entscheidungsunterstützung zu quantifizieren, (b) Ansatzpunkte für eine effek­ tivere Ausgestaltung der Entscheidungsunterstützung zu identifizieren und zu tes­ ten und (c) Ursache-Wirkungszusammenhänge und/oder Reaktionsfunktionen ver­ haltenswissenschaftlich zu stützen.

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Ronald Bogaschewsky

Strategisches Beschaffungsmanagement 1 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 3.3 4

Zur Rolle des Beschaffungsmanagements im Unternehmen | 469 Arten und Entwicklung von Beschaffungsstrategien | 472 Rahmenbedingungen | 472 Portfoliobasierte Ansätze | 475 Beschaffungsmarkt-, Lieferanten- und Risikomanagement | 478 Systematische Auswahl von Beschaffungsmärkten | 478 Lieferantenauswahl und -management | 480 Risikomanagement | 481 Fazit | 484 Literatur | 485

Zusammenfassung. Während das operative Beschaffungsmanagement in Zukunft weitestgehend automatisiert abgewickelt werden wird, kommt dem strategischen Beschaffungsmanagement eine steigende und wettbewerbsrelevante Bedeutung zu. Eine systematische Entwicklung der Beschaffungsstrategien unter Beachtung aller re­ levanten Rahmenbedingungen ist daher Voraussetzung für nachhaltig wertsteigern­ de Aktivitäten im Einkaufs- und Supply- Chain-Bereich. Besonderes Augenmerk ist in diesem Zusammenhang auf die Auswahl von Beschaffungsmärkten und Lieferanten zu legen sowie auf das Beziehungsmanagement zu letzteren. Letztlich kommt einem differenzierten Risikomanagement vor dem Hintergrund globaler Beschaffungsakti­ vitäten sowie einer zunehmenden Risikoexposition besondere Bedeutung zu.

1 Zur Rolle des Beschaffungsmanagements im Unternehmen In den letzten Jahrzehnten hat sich die Beschaffung in vielen Unternehmen zu ei­ nem Bereich von strategischer Bedeutung entwickelt. Eine Ursache hierfür ist die vie­ lerorts sehr geringe eigene Wertschöpfungstiefe, so dass die Beschaffungsvolumina häufig 60 % des Umsatzes ausmachen und teilweise sogar deutlich darüber liegen. Zudem standen und stehen Unternehmen im Zuge der Globalisierung vor der Her­ ausforderung, nicht mehr nur, wie in der Vergangenheit, heimisch produzierte Gü­ ter in zahlreichen anderen Ländern zu vertreiben, sondern aus vielfältigen Gründen diese zumindest in den Hauptzielregionen selbst zu produzieren und die Versorgung mit fremdbezogenem Material umfänglich zu lokalisieren. In diesem Zusammenhang entstanden Einkaufsorganisationen, die die Beschaffung weltweit und unter Beach­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-026

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tung lokaler Anforderungen in meist hybriden Organisationsstrukturen realisiert ha­ ben. Gleichsam war und ist das globale Wertschöpfungsnetzwerk im Rahmen eines komplexen Supply Chain Managements zu optimieren. Diese Anforderungen können nur erfüllt werden, wenn ein moderner Einkauf gemeinsam mit einem professionellen Supply Chain Management (SCM)¹ in integrierter Weise den Beschaffungsbereich des Unternehmens verantwortet. In diesem Sinne sind heute Einkauf und SCM nicht nur unverzichtbare Organisationseinheiten des Unternehmens, sondern auch aufgrund ihres Einflusses auf den nachhaltigen Unternehmenserfolg sowie auf die realisierte Wertschöpfungsstruktur und deren dynamischer Anpassung von wettbewerbsstrate­ gischer Bedeutung. Bei dieser Betrachtungsweise wird davon ausgegangen, dass die Verantwortli­ chen in Einkauf und SCM über wesentliche Entscheidungsbefugnisse in den jewei­ ligen Bereichen verfügen, zumindest aber maßgeblich zur Entscheidungsfindung beitragen. Insbesondere bei der Strukturierung und Anpassung des Wertschöpfungs­ netzwerks beziehungsweise der Wertketten sowie zu Make-or-Buy-Fragestellungen ist im Falle bedeutender Entscheidungen eine alleinige Verantwortung dieser Bereiche eher selten anzutreffen, da hiermit oftmals nicht unerhebliche Des-/Investitionen, Abhängigkeitsverhältnisse, Know-how-Verluste und Risiken verbunden sind. Bis zu welchem Grade hier ein strategisches Beschaffungsmanagement frei agieren kann beziehungsweise ab wann die obere Leitungsebene des Unternehmens sich vorbe­ hält, die entsprechenden Entscheidungen zu treffen, ist individuell auszugestalten und hängt nicht zuletzt auch von der Professionalität des jeweiligen Einkaufs- und SCM-Bereichs und der diesem zuerkannten Rolle im Unternehmen ab. Auch hinsichtlich des Eingehens neuer und des Wechsels bestehender Lieferbe­ ziehungen agiert die Beschaffung in der Regel nicht losgelöst von den Funktionsbe­ reichen, die von den entsprechenden Lieferungen betroffen sind. So ist zumeist eine Abstimmung mit den Bedarfsträgern erforderlich, insbesondere wenn es sich um (di­ rektes) Produktionsmaterial oder Investitionsgüter handelt, aber nicht selten auch bei (indirektem) Verbrauchsmaterial, wie beispielsweise für Labor- und Instandhaltungs­ bedarfe, wohingegen selbiges für die Bereiche Büro oder Hygiene weniger von exak­ ten Bedarfsspezifikationen seitens der Nutzer abhängig gemacht wird. In jedem Fall ist für in der Fertigung einzusetzende, fremdbezogene Güter das Qualitätsmanage­ ment einzubeziehen, eine Funktion, die nicht selten auch zwischen den technischen Bedarfsträgern in der Produktion und dem Einkauf vermittelt. Allerdings verschwimmen diese Bereichsgrenzen zunehmend, da immer häufiger Mitarbeiter aus dem Einkauf bei der Produktneuentwicklung und bei Wertanalysepro­

1 Auf eine Abgrenzung der Begriffe Einkauf und SCM – auch hinsichtlich der Begriffe Materialwirt­ schaft und Beschaffungslogistik – soll hier verzichtet werden, zumal die wissenschaftlichen Definitio­ nen nicht einheitlich sind und die Zuschnitte der Aufgabenbereiche in der Praxis hiervon abweichen und sehr heterogen ausfallen. Zu einer strukturierten Differenzierung beschaffungsbezogener Begriffe vgl. Bogaschewsky (2003, S. 26 ff.).

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jekten, sowohl für bestehende als auch für neue Produkte, einbezogen werden, um nicht nur die Kosteneffizienz hinsichtlich der eingesetzten Fremdmaterialien sicher­ zustellen, sondern auch bei Bedarf das Know-how des Anbietermarktes in die Pro­ jekte einzubringen. Konkret werden sogenannte Procurement Engineers, die neben Einkaufskompetenzen auch über technisches Wissen verfügen, in dem jeweils ver­ antwortlichen Team eingesetzt. Diese bereichsübergreifend agierenden Mitarbeiter haben die Aufgabe, unter Kosten- und Leistungsgesichtspunkten an der Konstruktion beziehungsweise der Produktanalyse aktiv mitzuwirken. Als Bindeglied zum Beschaf­ fungsmarkt und den dort vorhandenen Anbietern haben sie zudem dafür zu sorgen, dass die den Anforderungen des Projekts und des Unternehmens am besten genügen­ den Anbieter identifiziert und deren Leistungspotential bestmöglich ausgeschöpft wird. Dies kann von einer rein preisorientierten Beschaffung von Standardgütern, für die ein intensiver Wettbewerb auf Anbieterseite vorliegt, bis hin zur Gewinnung eines ausgesuchten, besonders innovativen Anbieters reichen, so dass die einkaufsbezo­ genen Aufgabenstellungen, je nach zu beschaffendem Gut, sehr unterschiedlich sein können. Besonders in jüngster Zeit wird der Beschaffung von Innovationen angesichts der schon als Standardkompetenz zu bezeichnenden Kostensenkungsaufgabe des Einkaufs besondere Bedeutung beigemessen, da auf diese Weise das Erreichen von Wettbewerbsvorteilen gegenüber der Konkurrenz besonders unterstützt werden kann. Diese Aufgaben, aber auch solche im Rahmen der Standardanforderungen, kön­ nen nur dann angemessen erfüllt werden, wenn es gelingt, jederzeit ein hohes Maß an Transparenz über die relevanten Beschaffungsmärkte zu gewährleisten. Ange­ sichts der prinzipiell globalen Märkte bedarf es einer dezidierten und wohlüberlegten Beschaffungsstrategie einerseits und eines ausgefeilten Informationssystems über die weltweiten Angebote und den damit verbundenen Konditionen sowie den be­ stehenden Limitationen andererseits. Ein entsprechendes Global Sourcing (vgl. Bo­ gaschewsky 2005 und 2007) bringt daher sowohl betriebswirtschaftliche als auch volkswirtschaftliche, politische, kulturelle, geographische und sicherheitsbezogene Fragestellungen mit sich, die vielfältige Anforderungen an das Beschaffungsmanage­ ment stellen. Angesichts der Komplexität der oben skizzierten Aufgaben sowie dem Zwang zur kosteneffizienten Durchführung der operativen sowie strategischen Beschaffungspro­ zesse, ist der Einsatz adäquater IT-Systeme unverzichtbar. Fortschrittliche Unterneh­ men setzen daher für die Unterstützung operativ-administrativer Beschaffungspro­ zesse E-Procurement-Systeme ein. Für standardisiertes Verbrauchsmaterial sind dies E-Katalog-basierte Beschaffungssysteme, die im Falle der Integration von Rechnungsund Zahlungsabwicklungsfunktionen als Purchase- oder Order-to-Pay-Systeme be­ zeichnet werden. E-SCM-Systeme decken primär operativ-taktische Aufgaben ab. Bei der Unterstützung strategischer Aufgaben werden IT-basierte Ausschreibungssysteme, E-Auktions-Tools, Lieferantenmanagementsysteme sowie E-Tools für Kollaborations­ aufgaben eingesetzt. Die Systeme dienen der Sicherstellung der (internen und preis­ bezogenen) Kosteneffizienz, der Transparenz, der Regelkonformität (Compliance),

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der Zeiteffizienz, der Verlässlichkeit (Effektivität) und der Kontrollierbarkeit, werden jedoch in der Praxis teilweise noch nicht umfänglich genutzt (vgl. Bogaschewsky 2017). Die Vielfalt der eingesetzten IT-Systeme im Bereich Einkauf und SCM erfordert ein hohes Maß an Kompetenz hinsichtlich des Entwurfs und der Realisierung geeigneter Prozesse mithilfe dieser Systeme sowie deren Integration. Zudem ist bei der Einfüh­ rung und der Weiterentwicklung der Systemwelt ein ausgeprägtes Change Manage­ ment erforderlich, um die notwenige Akzeptanz bei den Nutzern sicherzustellen und somit die Potentiale dieser Lösungen umfassend realisieren zu können. Allerdings kann heute auf recht weit entwickelte Standardlösungen zurückgegriffen werden, so dass die erwähnte Prozesskompetenz lediglich hinsichtlich des verantwortlichen Teams für „Prozesse und Systeme“ in hohem Maße gefordert ist. In den anderen Auf­ gabenbereichen erhält dagegen die Kommunikations- und Kollaborationskompetenz eine immer höhere Bedeutung, zumal auch klassische strategische Einkaufsaufga­ ben, wie Beschaffungsmarktforschung oder Vertragsverhandlungen, immer weiter durch Softwarelösungen mehr oder weniger autonom wahrgenommen werden. In­ sofern erhält die Koordinationsrolle in Einkauf und SCM zunehmende – und auch strategische – Bedeutung, wohingegen traditionelle operative Aufgaben nicht mehr als Kernkompetenz anzusehen sind und entweder vollständig automatisiert oder, wo dies nicht möglich ist, ausgelagert werden (vgl. Bogaschewsky/Müller 2017). Der strategische Prozess im Beschaffungsmanagement kann in die folgenden Komponenten zerlegt werden (vgl. van Weele 2014, S. 158): Insourcing/OutsourcingEntscheidungen, Entwicklung von Material(gruppen)strategien, Etablierung und Nut­ zung einer (exzellenten) Lieferantenbasis, Entwicklung und Management von Liefe­ rantenbeziehungen, Integration von Lieferanten in den Produktentwicklungsprozess, Nutzung von Lieferanten im Auftragsabwicklungsprozess, Lieferantenentwicklung und Qualitätsmanagement sowie strategisches Kostenmanagement über die Supply Chain.

2 Arten und Entwicklung von Beschaffungsstrategien 2.1 Rahmenbedingungen Kern und gleichsam Fundament beschaffungsbezogener Aktivitäten ist die Entwick­ lung von Beschaffungsstrategien und deren Umsetzung. Bei weiter Auslegung kann auch die Entscheidung über Eigenfertigung oder Fremdbezug hierzu gezählt werden. Für Produkte von weniger wettbewerbsrelevanter Bedeutung kann die Make-or-BuyEntscheidung eigenständig vom Einkauf getroffen werden. Die Entscheidung über die Bezugsquelle(n) für bestimmte Bedarfe hängt von zahlreichen Parametern und Nebenbedingungen ab. Voraussetzung für eine effektive Einkaufspolitik ist dabei die

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Herstellung eines hohen Maßes an Transparenz über Bedarfsarten, -mengen, Liefer­ quellen, Preise und weitere Konditionen sowie Qualitäten. Ohne eine solche Spend Analysis sind nicht nur bei geographisch weit verteilten Bedarfsorten kaum Nachfra­ gebündelungen und Standardisierungen oder auch nur die Ausnutzung der insgesamt vorteilhaftesten Kontraktbedingungen mit den jeweiligen Lieferanten möglich. Eine wesentliche Frage ist hierbei auch, welche Materialien jeweils in einer Materialgruppe zusammengefasst werden sollen. Dies erfolgt in der Praxis zumeist aufgrund mate­ rial- oder produktionsbezogener Ähnlichkeiten. Dabei wird einerseits angenommen, dass mögliche Anbieter größere Umfänge dieser Materialgruppen abdecken können. Andererseits müssen die jeweiligen Einkäufer nur für einen begrenzten Bereich über das erforderliche technische Verständnis verfügen. Für die Entwicklung und Umset­ zung von konkreten Beschaffungsstrategien muss eine Klassifizierung nach diesen Aspekten allerdings nicht zwangsläufig immer vorteilhaft sein. Der Orientierungsrahmen der Beschaffungsstrategieentwicklung wird durch die Unternehmens- beziehungsweise die Geschäftsbereichsstrategie definiert. Die­ se selbstverständlich anmutende Feststellung wird allerdings allzu oft in der Praxis weitgehend ignoriert, insbesondere, wenn traditionelle Kostensenkungsziele domi­ nieren, das Unternehmen sich jedoch zum Beispiel primär in einem Zeit- oder In­ novationswettbewerb befindet. In solchen Fällen spiegelt die Beschaffungsstrategie nicht in adäquater Weise die Wettbewerbsstrategie wider und der Einkauf kann somit auch nicht in bestmöglicher Weise die Unternehmensziele unterstützen. In solchen Situationen ist von einer nachrangigen Beschaffungsfunktion auszugehen, deren Auf­ gaben darauf beschränkt sind, komplett oder weitestgehend spezifizierte Güter am Markt möglichst kostengünstig zu beschaffen und für eine zuverlässige Versorgung zu sorgen. Dabei soll die Bedeutung einer solchen Supportfunktion für reibungslose materialwirtschaftliche Prozesse sowie zur Sicherstellung von Kosteneffizienz auf der Versorgungsseite unter vorgegebenen Rahmenbedingungen nicht in Frage gestellt werden. Die moderne Diktion einer wertsteigernden Funktion erfüllen dahingegen solche Beschaffungsorganisationen, die im Sinne der gewichteten Ziele und Strategi­ en des Unternehmens eigenständig agieren und beispielsweise in enger Abstimmung mit internen Bereichen wie Forschung und Entwicklung die leistungsfähigsten An­ bieter identifizieren und an das Unternehmen binden. Die weiteren, hier relevanten Parameter und Nebenbedingungen hängen vom Be­ schaffungsmarkt und den internen Ressourcen ab. Den „realen“ Beschaffungsmarkt definieren sämtliche Anbieter benötigter Produkte und Dienstleistungen. Nimmt man die – aufgrund ihrer technischen Möglichkeiten und Ressourcen – potentiellen Her­ steller hinzu, kann hieraus ein größerer, „potentieller“ Beschaffungsmarkt resultie­ ren. Der individuell wahrgenommene Beschaffungsmarkt umfasst dagegen nur die Anbieter, die bisher vom Unternehmen recherchiert wurden und über die ausreichen­ de Informationen vorliegen, um deren Angebote zumindest in genereller Weise beur­ teilen zu können. Insofern wird das vom Unternehmen adressierte Angebot am Markt von den eingesetzten Ressourcen für die Beschaffungsmarktforschung beeinflusst.

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Dabei ist zu beachten, dass neben eigenen diesbezüglichen Aktivitäten auch Dienst­ leister für die Anbieterrecherche und weitere Beschaffungsprozessschritte zum Ein­ satz kommen können. Die Option des Warenbezugs von Händlern vereinfacht den Be­ schaffungsprozess in der Regel stark, womit eine Abwägung der daraus resultierenden Senkung der Transaktionskosten, aber auch die Akzeptanz einer Marge für den Inter­ mediär verbunden ist. Insbesondere beim Sourcing aus entlegenen geographischen Regionen spielt diese Entscheidung eine bedeutende Rolle, da der Aufbau der erfor­ derlichen Kompetenzen und Netzwerke einen erheblichen Einsatz von Ressourcen er­ fordern kann. Dies bezieht sich nicht nur auf Kenntnisse eines lokalen Marktes, son­ dern auch auf die dortigen Geschäftsgepflogenheiten, auf rechtliche und kulturelle Aspekte, Import-Export-Regelungen, logistische Gegebenheiten u. v. a. m. Der Aufbau einer leistungsfähigen Lieferantenbasis kann somit in unterschiedlichen Ausprägun­ gen erfolgen, womit auch die Tiefe der vom Unternehmen direkt beeinflussbaren Sup­ ply Chain sehr unterschiedlich sein kann. Es ist zu beachten, dass dies bis auf spezi­ fische Ausnahmen eine aktive strategische Entscheidung des Unternehmens darstellt und nicht extern vorgegeben ist. Die Komplexität der Entwicklung von Beschaffungsstrategien liegt einerseits in der Heterogenität der zu analysierenden Materialien und den Umfeldbedingungen begründet und zum anderen in den vielfältigen Strategieaspekten, die strukturiert werden können nach dem Bedarfsprogramm, Aspekten des Beschaffungsmarktes, An­ forderungen seitens der Entwicklung, der Qualität, der Logistik und der Bevorratung sowie hinsichtlich Chancen-Risiken-Abwägungen, ökologischen und sozialen Kriteri­ en. Hinsichtlich der relevanten Entscheidungsparameter macht es mithin einen Un­ terschied, ob Teile, Module oder komplette Systeme zu beschaffen sind, ob am Markt viele oder wenige Anbieter in starker oder schwacher Konkurrenz zueinander agieren, wie weit der Markt geographisch bereits erschlossen wurde oder werden soll, wie die relative Machtposition auf diesem ist, ob man eine einfache Markttransaktion durch­ führen will oder einer Partner sucht, der womöglich die eigene Produktentwicklung maßgeblich unterstützen soll, welche Rolle Qualitätsaspekte spielen, wie die Güter an die Bedarfsorte zu verbringen sind und ob die Lieferungen mehr oder weniger be­ darfssynchron erfolgen sollen oder eine konventionelle Lagerhaltung angestrebt wird, welche Risiken man bereits ist einzugehen hinsichtlich der Qualität und Quantität der Partner und welche ökologischen und sozialen Standards man dabei sichergestellt wissen möchte. Die Vielzahl der Kombinationsmöglichkeiten und Varianten ist hier sehr hoch, umso mehr bedarf es Klarheit über das Wollen des Unternehmens im Sinne einer klar definierten Strategie. Letztere stellt damit auch kein triviales Zuordnungs­ problem dar, wie es mitunter weniger anspruchsvolle Ansätze über die Darstellung von „Schubladensystemen“ suggerieren mögen, sondern kann nur in einem struktu­ rierten, reflektierenden Prozess erarbeitet werden, innerhalb dessen die relevanten Rahmenbedingungen zu berücksichtigen sind und eine eingehende Analyse der in der Regel komplexen Situation vorzunehmen ist. Eine Möglichkeit der Unterstützung dieses Prozesses bieten spezifische portfoliobasierte Ansätze.

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2.2 Portfoliobasierte Ansätze In Theorie und Praxis erfolgt zumeist eine enge Anlehnung an die von Kraljic (1983) publizierte Vorgehensweise. Die Portfolio-Methodik wird dabei als „Powerful Manage­ ment Tool“ (vgl. Turnbull 1990) sowie als wichtigstes strategisches Tool im Einkauf (vgl. Syson 1992) bezeichnet und deren Einsatz als operationale Professionalität (vgl. Cox 1997), die auch mit einer gehobenen Position in der Organisationshierarchie ein­ hergehe (vgl. Gelderman/van Weele 2005). Nahezu alle für den Einkaufsbereich entwi­ ckelten Portfoliomodelle basieren auf diesem Grundansatz, der laut Kraljic (1983, S. 5) ein einfaches, aber zielführendes Rahmenmodell darstellen soll, um relevante interne Daten sowie solche zum Beschaffungsmarkt zu sammeln, zukünftige Versorgungssze­ narien zu konstruieren und die relevanten Optionen des Einkaufs zu identifizieren, um schließlich spezifische Einkaufsstrategien für „kritische“ beziehungsweise „stra­ tegische“ Teile und Materialien abzuleiten. Die Beschränkung auf ein „einfaches“ Mo­ dell sowie auf „kritische“ Teile schränken das Einsatzgebiet dieses Ansatzes von vorn­ herein bewusst ein. Nichtsdestotrotz entfaltete das Modell große Wirkung in Theorie und Praxis. Gegenstand der meisten Abhandlungen ist primär die Klassifikation der betrachteten Güter nach deren monetären Ergebniseinfluss einerseits und dem Ver­ sorgungsrisiko andererseits in die Kategorien „strategisch“, „Engpass“, „Hebel“ und „unkritisch“. Die folgenden Schritte des Strategieentwicklungsprozesses sind die Be­ schaffungsmarktanalyse für die strategischen Teile, die strategische Positionierung unter Abwägung der Verhandlungsmacht der Parteien sowie schließlich die Entwick­ lung von Aktionsplänen gemäß alternativer Versorgungsszenarien. Aus theoretischer Sicht kann der Ansatz von Kraljic unter anderem hinsicht­ lich der nicht näher begründeten Wahl der Analysedimensionen oder der sehr frag­ würdigen Art der Differenzierung in Purchasing, Materials, Sourcing sowie Supply Management kritisiert werden. Schwerer wiegt jedoch die Einschränkung auf strate­ gisches Material. Dies ist der Sichtweise geschuldet, dass durch Bündelungen generell eine stärkere Marktposition erreicht werden können soll, die wiederum zu günstige­ ren Beschaffungskonditionen führe. Zwar ist dies nicht grundsätzlich eine falsche Annahme, jedoch reagieren Anbieter mitunter auch abwehrend auf höhere Nach­ fragemengen, so dass hier kein normativer Zusammenhang besteht. Zudem kann insbesondere vor dem oben skizzierten Hintergrund eines „modernen“ Einkaufs mit Wertbeitragsfunktion die Nachfragebündelung, um Marktmacht aufzubauen, nicht mehr als alleinige Handlungsmaxime aufrechterhalten werden. Heutige unterneh­ mensübergreifende Wertschöpfungsstrukturen sind durch ein hohes Maß an Arbeits­ teilung, Vernetzung sowie enger Kooperation und damit (gegenseitiger) Abhängigkeit geprägt. Damit sind häufig insbesondere für strategisch bedeutende Fremdbezüge die Lieferantenbeziehungen eher partnerschaftlich als streng wettbewerbsorientiert geprägt und der reine, kurzfristig orientierte Preiswettbewerb wird durch eine Stra­ tegie mittel- bis langfristiger Optimierung von Preis und Leistung substituiert. In diesem Sinne sind die von Kraljic als strategisch identifizierten Güter in gewissem

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Maße hinsichtlich der Beschaffungsstrategie prädeterminiert, da man sich hier oft­ mals zwangsläufig auf einen oder einige wenige Partner beschränken muss. Die re­ sultierenden gegenseitigen Abhängigkeiten aufgrund spezifischer, partnerbezogener Investitionen, die bis hin zu bilateralen Monopolen führen können, sind auf Basis der Transaktionskostentheorie gut nachvollziehbar (vgl. Williamson 1990). Gelebte Praxis ist dies unter anderem in der Automobilindustrie, wo in der Regel mehrjährige Verträge mit Lieferanten geschlossen werden, die die Laufzeit einer Modellserie abde­ cken. Für die Lieferanten bringt dies zumeist nicht unerhebliche Investitionen nur für diese spezifische Fertigung mit sich und die Hersteller beschränken sich im Regelfall auf nur diesen einen Zulieferer, was bekanntlich immer wieder zu Lieferausfällen und daraus resultierenden Produktionsstillständen führt. Wenn aber in nicht wenigen Fällen gerade für die besonders werthaltigen und bedeutenden Beschaffungsobjekte keine dezidierte Strategieentwicklung im eigentli­ chen Sinne mehr erfolgt, wäre der Ansatz von Kraljic wenig nutzbringend. Allerdings macht dieser in leicht abgewandelter Form weiterhin Sinn. So kann es hilfreich sein, für die wesentlichen – nicht zwangsläufig im engeren Sinne „strategischen“ – fremd zu beziehenden Güter eine Portfolioanalyse durchzuführen, die beispielsweise die beiden Dimensionen „Ergebnisbeitrag“ sowie „Auswirkungen der Nichtverfügbar­ keit“ unterstellt und die aktuelle und erwartete zukünftige Situation für relevante Materialien abbildet. Über die Bildung von Szenarien und die Generierung alternati­ ver Entwicklungspfade können übergeordnete Strategierichtlinien abgeleitet werden. Beispiele hierfür sind die Vordefinition risikobezogener Strategieaspekte, wie zum Beispiel die Abwägung zwischen Single, Dual und Multiple Sourcing in Verbindung mit Überlegungen zur Absicherung über eine etwaige Lagerhaltung. In entsprechen­ der Weise können Entscheidungen hinsichtlich des Arealkonzepts, also einer eher lokalen oder tendenziell global ausgerichteten Beschaffung ebenso in genereller Wei­ se analysiert werden, wie ein möglicher Einsatz stark wettbewerblich orientierter Verhandlungsmechanismen (E-Auktionen). Da der tatsächliche Ergebnisbeitrag so­ wie die potentiellen Auswirkungen einer (temporären) Nichtverfügbarkeit benötigter Güter kaum von den zuständigen Materialgruppenmanagern allein übersehen wer­ den können, obliegt diese Analyse eher der Leitungsebene. Das resultierende Grob­ konzept sollte Basis für die Abstimmung mit der Geschäftsleitung hinsichtlich der Versorgungs- und Risikostrategie sein. Aus dieser wiederum ist der entsprechende Ressourcenbedarf abzuleiten, so dass zum Beispiel eine chancenorientierte Entwick­ lungsstrategie, die eine Erschließung geographisch entfernter Märkte impliziert, auf diese Weise fundiert und damit der entsprechende Ressourcenbedarf begründet wer­ den kann. Zudem sollte die Entwicklung von Beschaffungsstrategien auf alle Güterkatego­ rien ausgeweitet werden, da es nicht begründbar erscheint, dass einige Materialien unreflektiert, ohne zumindest strategische Grundüberlegungen angestellt zu haben, eingekauft werden. Auch liegt ein signifikantes Kostensenkungspotential in Waren­ gruppen, die in relativ hohem Maße standardisiert und für die am Markt eine große Anzahl in intensivem Wettbewerb zueinander stehender Anbieter verfügbar ist. Bün­

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delungen in Verbindung mit einem Single Sourcing können zwar potentiell den Ein­ standspreis senken, allerdings erhöht sich mit dieser Strategie in der Regel das Ver­ sorgungsrisiko im Vergleich zur Mehrbezugsquellenpolitik. Insofern sind bei dieser marktbezogenen Analyse immer das Risiko, aufgrund unterlassener Bündelung nicht die hinsichtlich der Beschaffungskosten günstigsten Verträge schließen zu können, und das Risiko, aufgrund freiwilliger Reduzierung der Quellen Lieferengpässe zu er­ leiden, gegeneinander abzuwägen. In jedem Fall sollten strategische Überlegungen, die zu einer Performanceverbesserung führen, nicht unterbleiben, wenn diese den Aufwand für die Strategieentwicklung und -umsetzung übersteigen. Ein „Fit“ von Strategie und Struktur ist unabdingbar für die erfolgreiche Um­ setzung von Strategien. Die Wettbewerbsstrategie ist entsprechend der sich wan­ delnden Markt- und Umfeldbedingungen dynamisch weiterzuentwickeln; gleichsam determinieren die strukturellen Bedingungen im Unternehmen und damit die Organi­ sationsdesigns (vgl. Bogaschewsky 2010; Glock 2009) die strategischen Handlungs­ möglichkeiten, so dass diese sich mitentwickeln müssen. Dies ist im Beschaffungsbe­ reich ebenso von hoher Bedeutung. Beispielsweise kann eine globale Arealstrategie nur mit einem global agierenden und strukturell entsprechend ausgerichteten Einkauf umgesetzt werden. Zudem ist sicherzustellen, dass die Beschaffungsprozesse und die unterstützenden administrativen Aufgaben strategiegerecht in der jeweiligen Struktur sicher und effizient abgewickelt werden können, so dass ein Strategie-Struktur-Pro­ zess-Fit herzustellen ist. Dies gilt auch für das Einhalten von Regeln, den Einsatz von Softwaretools, das Erstellen von Berichten etc.; Sprachgrenzen, unterschiedliche Normen und Werte bereiten diesbezüglich weitere Hürden. Für eine geeignete Port­ folioanalyse bieten sich die Dimensionen „Komplexität“ und „Änderungshäufigkeit“ an, wobei in beiden Aspekten der Grad der Erklärungsbedürftigkeit für die Beteiligten von Relevanz ist. Die Frage, ob für die Beschaffung der jeweiligen Teile eine Bestellung per Internet genügt oder mit dem lokalen Bedarfsträger und/oder dem Lieferanten ei­ ne eingehendere Abstimmung erforderlich ist, determiniert damit zu einem gewissen Grad die Freiheitsgrade bei der Festlegung der Beschaffungsstrategie. Werden die oben beschriebenen drei „Sichten“ in die drei Dimensionen „Un­ ternehmensrelevanz“, „Marktrelevanz“ sowie „Prozessrelevanz“ konsolidiert, erhält man einen aus acht Unterbereichen bestehenden Strategiewürfel, den Purchasing Portfolio Cube (PPC) (vgl. Bogaschewsky 2010). Jedes Gut kann so einer der acht generischen Materialklassen zugeordnet werden. Diese geben Aufschluss über gene­ relle betriebswirtschaftliche, betriebliche und marktbezogene Eigenschaften, die die Entwicklung einer adäquaten Beschaffungsstrategie ermöglichen. Aufgrund der Zu­ weisung von Relevanzmaßen für die drei Basisdimensionen werden die beschaffungs­ bezogenen Kerncharakteristika der analysierten Güter deutlich und damit auch deren Unterschiedlichkeit, selbst wenn diese beispielsweise aus produktionstechnischen Gründen einer gemeinsamen Materialgruppe zugeordnet wurden. Diese Relevanz­ maße können als beschaffungsinduzierte Attribute interpretiert werden, die leitend bei der Entwicklung der konkreten jeweiligen Beschaffungsstrategie sind, ohne dass diesbezüglich eine normative Strategiezuordnung erfolgt.

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3 Beschaffungsmarkt-, Lieferanten- und Risikomanagement 3.1 Systematische Auswahl von Beschaffungsmärkten Der Zugang zu Anbietern, die die Beschaffungsstrategie des Unternehmens bestmög­ lich unterstützen, und deren Nutzung im Rahmen von Liefer- und Leistungsverträ­ gen ist Kernaufgabe des strategischen Beschaffungsmanagements. Dabei müssen Ent­ scheidungen über die Erschließung von Märkten beziehungsweise das Suchen und Einbinden neuer Lieferanten dem Kriterium der Kosteneffizienz genügen, so dass ein größerer Anbieterpool nicht zwangsläufig die Performance des Beschaffungsbereichs verbessert. In der Praxis scheint dies allerdings eher eine akademische Überlegung darzustellen, da in der Regel knappe Ressourcen dafür sorgen, dass die Potentiale der Beschaffungsmärkte von vielen Unternehmen bei weitem nicht ausgeschöpft wer­ den. Viele Unternehmen folgen einem problembasierten Ansatz, bei dem aufgrund einer konkreten internen Herausforderung, wie der Einführung neuer Produkte, nach neuen Lieferquellen gesucht wird. Professionell geführte Einkaufsabteilungen führen dagegen Marktanalysen und Anbieterrecherchen proaktiv durch, um möglichst per­ manent die Verfügbarkeit einer „World Class Supply Base“ sicherzustellen, müssen aber im Bedarfsfall ebenfalls auf ad hoc-Recherchen zurückgreifen. Für eine unvoreingenommene Auswahl von Beschaffungsmärkten ist es bedeut­ sam, die Analyse nicht von vornherein mit einer durch Positivselektion zustande gekommenen Kandidatenliste zu starten. Vielmehr sollten anhand klar strukturier­ ter Kriterien und unter Definition von Mindestanforderungen solche geographischen Märkte ausgesondert werden, die diesen nicht genügen. In der Regel dürfte es sinnvoll sein, mit länderspezifischen Analysen zu beginnen, da hierzu am einfachsten relevan­ te Informationen gewonnen werden können. So existiert eine Vielzahl unterschiedli­ cher Länderbewertungen und -rankings, auf die zumeist auch kostenlos im Internet zugegriffen werden kann und die Aufschluss über die absolute und relative Bewertung des jeweiligen Landes geben. Dies befreit das Unternehmen nicht von der Aufgabe, sich selbst über die für sich relevanten Kriterien und deren relative Gewichtung un­ tereinander klar zu werden und dies in einer Entscheidungsmethodik eindeutig zu definieren. Auf diese Weise können Länder, die gewisse Mindeststandards hinsicht­ lich demokratischem System, Infrastruktur, Wertschöpfungsstärke (beispielsweise gemessen über das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sowie das BIP pro Beschäftigtem) etc. nicht erfüllen, ausgeschlossen oder vorerst zurückgestellt werden. Dass diese Vorge­ hensweise mehr Aufwand als eine „intuitive“ Positivselektion mit sich bringt, liegt auf der Hand. Betrachtet man Länderrankings wie den Global Competitiveness Index (vgl. World Economic Forum), so wird direkt ersichtlich, wie stark eine eingeschränk­ te, durch anekdotische Erfahrungen und selektive Informationsaufnahme geprägte

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Sicht einen ungerechtfertigten Ausschluss sehr wettbewerbsfähiger Länder mit sich bringen kann. Für eine systematische und strukturierte Bewertung der Attraktivität alternati­ ver Beschaffungsregionen bietet sich unter anderem der Einsatz der Nutzwertanaly­ se an (vgl. Bogaschewsky 2004). Wichtig ist hier eine Überschneidung von Kriterien so weit wie möglich zu vermeiden und aufgrund der Möglichkeit unterschiedlicher Gewichtungen der Teilkriterien monetäre Größen nach Möglichkeit gesondert oder aber gesammelt in einer Kategorie, deren Gewichtung die Bedeutung des monetären Ziels abbildet, zusammenzufassen. Auch muss sich der Entscheidungsträger darüber im Klaren sein, dass qualitative Kriterien wie etwa die Qualifikation von Arbeitneh­ mern nicht unabhängig vom Gehaltsniveau sind. Zudem ist eine aggregierte Größe „Arbeitnehmer“ unter Umständen nicht aufschlussreich für eine konkrete Analyse, wenn sowohl einfache Arbeiter als auch Facharbeiter, Ingenieure und Manager für die Fertigung benötigt werden. Liegen konkrete monetäre Werte zur Bewertung von Kriterien vor, so sollten diese in eine getrennt durchzuführende Kostenanalyse ein­ gehen, die möglichst alle relevanten Kosten im Sinne einer Total Cost of Ownership (TCO)-Kalkulation (vgl. Ellram 2002) erfasst. Die Reihung der Länder gemäß ihres Nutzwerts erlaubt eine Klassifizierung in Länder unterschiedlicher Attraktivitätsgrade. Ganz offensichtlich hängt dies mehr oder weniger stark von den angesetzten Kriterien und deren Gewichtung ab, so dass für unterschiedliche Unternehmen, Branchen oder Gütergruppen voneinander abwei­ chende diesbezügliche Attraktivitätsbilder resultieren können. Es ist mithin ebenfalls zu beachten, ob eine Analyse für ein Unternehmen als Ganzes oder für bestimmte Sparten, Produktgruppen oder Bedarfskategorien durchgeführt werden soll. Dabei ist immer zu beachten, dass der Aufwand einer Marktschließung erheblich sein kann, so dass eine gewisse Schwerpunktbildung bei der Auswahl von Beschaffungsregionen ratsam erscheint. Es ist ebenso zu reflektieren, ob eine Länderanalyse den adäquaten Aggregationslevel repräsentiert. Auf der einen Seite ist in bestimmten Entscheidungs­ situationen beispielsweise zunächst von Bedeutung, ob die – den europäischen Her­ stellern näheren – mittel- und osteuropäischen Märkte vorrangig erschlossen werden sollen oder aber die asiatischen. So könnte es sinnvoll sein, diese Analyse der Be­ wertung konkreter Länder voranzustellen. Auf Länderebene macht es dahingegen teilweise weniger Sinn ein Land als Ganzes zu bewerten, da gerade in den Schwellen­ ländern das Entwicklungsniveau von Anbietern, Infrastruktur, Bildung etc. regional extrem unterschiedlich sein kann. In einem finalen Schritt sind die Nutzwerte und die monetären Kostenbewertun­ gen in einer Entscheidungsgrundlage zusammen zu führen, um zu einer Liste zu prio­ risierender Beschaffungsländer beziehungswiese -regionen zu gelangen. Angesichts der dynamischen Änderungen im Zeitablauf, ist nicht nur eine periodisch wiederholte Bewertung anzuraten, sondern auch das Erstellen von Entwicklungsszenarien für die Regionen und deren Berücksichtigung im Rahmen einer sich über mehrere Perioden erstreckenden Analyse.

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Die systematische Auswahl von Beschaffungsmärkten kann als fundamentale Aktivität des strategischen Beschaffungsmanagements angesehen werden. Ein Ma­ nagement von Beschaffungsmärkten geht jedoch darüber hinaus, da hiermit auch die gezielte Entwicklung und Beeinflussung von Märkten angesprochen ist. So zeigt die Entwicklung der letzten Jahre, wie Unternehmen durch die technische und prozess­ bezogene Qualifizierung von Lieferanten in anderen Geographien die Attraktivität ganzer Märkte maßgeblich beeinflusst haben. Naturgemäß werden damit auch die Wettbewerbsbedingungen verändert, in dem die Lieferanten leistungsfähiger und damit auch attraktiver für andere Nachfrager werden. In diesen Zusammenhang sind die Entwicklungs- beziehungsweise Auswahlstrategien der Abnehmer zu reflektie­ ren, die von einer möglichst weitgehenden Geheimhaltung individuell geförderter Geschäftsbeziehungen zu aufstrebenden Lieferanten bis hin zu Praktiken reichen, die es lediglich sehr weit entwickelten Anbietern überhaupt erlauben, sich als Lie­ ferant zu bewerben und eventuell in eine Lieferbeziehung einzutreten. Daher ist die Ausprägung der Vorgehensweisen bei der Lieferantenauswahl und des Managements der Beziehung zu den Lieferanten ebenfalls von hoher Bedeutung.

3.2 Lieferantenauswahl und -management Die Auswahl von Lieferanten ist, wie die von Beschaffungsregionen, zu differenzie­ ren in Situationen, in denen ein Lieferant aus einem bestehenden Lieferantenpool selektiert wird und in Fälle, wo direkt Anbieter am Markt adressiert werden. Letzteres erfolgt zumeist nur für eher unbedeutende Güter, für hochstandardisierte Produkte, für die ein etablierter Wettbewerbsmarkt vorliegt oder in Notfallsituationen. Im ers­ ten Fall haben die Lieferanten des unternehmensspezifischen Pools in der Regel ei­ nen wohldefinierten Auswahl-, Qualifikations- und Einbindungsprozess durchlaufen. Konkret bedeutet dies, dass aus den – gegebenenfalls global verteilten – Anbietern geeignete Kandidaten recherchiert und initial evaluiert wurden. Dies erfolgt zumeist anhand von Kriterien wie Produktportfolio, technische Fähigkeiten und Kapazitäten, Referenzkunden, wirtschaftliche Stabilität, Innovationskraft, Produkt- und Prozess­ qualität sowie logistische, ökologische und soziale Aspekte. Je nach spezifischer An­ forderung werden bestimmte Aspekte stärker gewichtet als andere. Diese Kriterien und Gewichtungen sollten sich im Lieferantenbewertungssystem entsprechend wi­ derspiegeln, was überraschenderweise aber nicht regelmäßig in der Praxis der Fall ist. Der initialen Bewertung der Anbieter (Long List) kann eine eingehendere Evalua­ tion einer ausgewählten Gruppe (Short List) nachfolgen, sofern diese beiden Phasen nicht integriert werden, da nur wenige Anbieter aufgefunden wurden oder adressiert werden sollen. In dieser Phase werden die Anbieter direkt angesprochen und spe­ zifische Informationen sowie bedarfsweise Musterlieferungen angefordert. Je nach Resultat der eingehenderen Bewertung, können Anbieter aus der weiteren Analy­

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se ausgeschlossen werden, wohingegen die verbleibenden unter Umständen einem detaillierten Audit unterzogen werden, bei dem die relevanten Leistungs- und Bewer­ tungskriterien vor Ort durch eigene Mitarbeiter – zumeist aus dem Einkauf sowie dem Qualitätsmanagement – oder durch hierauf spezialisierte Dienstleister untersucht werden. Sofern der Anbieter für das Unternehmen ausreichend interessant ist, jedoch noch nicht alle Kriterien voll erfüllt, wird häufig eine Lieferantenqualifizierungsphase angeschlossen, in der üblicherweise noch keine Lieferungen für Serienbedarfe des Abnehmers erfolgen. Nach einem solchen, erfolgreichen Aufnahmeprozess, wird der Lieferant in den Pool akzeptierter Lieferanten aufgenommen und für die internen Bedarfsträger für Anfragen und Bestellungen freigegeben. Über die initiale und periodische oder sogar permanente Lieferantenbewertung werden die hinsichtlich der Lieferungen sowie anderer Kriterien real gezeigten Leis­ tungen des Lieferanten gemessen, was dessen Einordnung in ein Klassifikationssche­ ma begründet. Neben der Informationsfunktion für Bedarfsträger, ob ein Lieferant lediglich zugelassen beziehungsweise akzeptiert ist oder sich als Vorzugslieferant her­ vorgetan hat, gibt es auch Einordnungen als präferierter Partner oder sogar Top-Liefe­ rant. Ersteres ist für engere Liefer- und Entwicklungspartnerschaften von Bedeutung, wohingegen letzteres gelegentlich als motivatorische Komponente eingesetzt wird, so dass diese „Best-in-Class-Lieferanten“ des Unternehmens auch oftmals auf Lieferan­ tentagen mit entsprechenden Preisen ausgezeichnet werden. Die Logik eines solchen Lieferantenmanagements und dessen starke Verbreitung in der Praxis zeigen deutlich auf, das mikroökonomische Angebots-Nachfrageanalysen für sehr viele Produktkate­ gorien gegenüber einer kooperativen Herangehensweise in der Praxis kaum eine Rolle spielen. Die für konkrete Beschaffungen beziehungsweise Bestellungen ausgewählten Lie­ feranten werden in der Leistungsaustauschphase „genutzt“, die erbrachte Leistung wird kontrolliert, und es werden bei Abweichungen entsprechende Eskalationsrouti­ nen (Reklamation, Rücksendung, Nachforderungen etc.) im Sinne eines Liefercontrol­ lings angestoßen. Die real erbrachten Leistungen determinieren die laufende Bewer­ tung des Lieferanten, aus der sich wiederum die Notwendigkeit von Entwicklungsak­ tivitäten, beispielsweise bei Qualitäts- oder Mengenabweichungen, ergeben kann, die nachfolgend zu initiieren und durchzuführen sind. Bei wiederholt signifikanten Leis­ tungsabweichungen unter das Mindestanforderungsniveau wird gegebenenfalls eine Auflösung der betroffenen Geschäftsbeziehung eingeleitet, wobei dies im Falle länger bestehender Beziehungen oder mangels Lieferalternativen auch im Sinne einer Ab­ wicklung über einen mittleren Zeitraum (Phase-out) bedeuten kann.

3.3 Risikomanagement Ein ausgeprägtes Management der mit der Beschaffung einhergehenden Risiken er­ hält insbesondere vor dem Hintergrund der immer häufiger weltweit verteilten Liefer­

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quellen sowie des hohen Grades der Arbeitsteilung entlang der Wertschöpfungskette stärkere Bedeutung. Aufgrund des letztgenannten Aspekts wird oftmals von Supply Chain Risk Management gesprochen (vgl. Waters 2007), womit die Erkennung und Regelung von Risiken über mehrere Wertschöpfungsstufen hinweg gemeint ist. Die erhöhte Risikoexposition bei weltweiter Beschaffung resultiert aus den Ursachen, dass gegenüber hochindustrialisierten Ländern die Produktions- und Umfeldbedin­ gungen für Lieferanten in Schwellenländern in vielerlei Hinsicht weniger abgesi­ chert sind. Beispiele hierfür sind die anzutreffenden Niveaus hinsichtlich Qualitäts­ management, Arbeitssicherheit, Produktionstechnik, Betriebsfrieden, ökologischer und sozialer Standards, Infrastruktur, Energieversorgung, politische Stabilität, Si­ cherheitsbedingungen, Umweltgefahren etc. Damit ist grundsätzlich häufiger mit Produktionsunterbrechungen, mangelhaften und nicht termingerechten Lieferun­ gen, Streiks, Unruhen, kriminellen Machenschaften oder auch Naturkatastrophen zu rechnen. Viele dieser Risikoaspekte (vgl. Zsidisin 2003) können im Rahmen der Liefe­ rantenbewertung und -qualifizierung beziehungsweise -weiterentwicklung adressiert werden. In den Bereichen Politik und Gesellschaft, Kultur und Natur ist dies jedoch in lediglich sehr begrenztem Ausmaß möglich, so dass hier eine vorausschauende Risikoeinschätzung durch Beobachtung des Umfelds erfolgen sollte. Auf diese Weise kann auf sich abzeichnende negative Entwicklungen frühzeitig reagiert werden, und es können beispielsweise im Falle drohender Streiks oder politischer Unruhen vor­ zeitige Lieferungen initiiert werden, die die Versorgung des Unternehmens absichern helfen. Im Falle plötzlicher Ereignisse, wie etwa Naturkatastrophen oder industri­ eller Unfälle, ist es von Vorteil, umgehend über ein solches Ereignis informiert zu sein, um ohne weitere Verzögerung Maßnahmen ergreifen zu können, die drohende Versorgungsausfälle so weit wie möglich vermeiden helfen. Bei der Betrachtung von Risiken ist es erforderlich, Arten und Häufigkeiten von realen Risiken näher zu betrachten. So führen Betriebsunterbrechungen, unter ande­ rem aufgrund von Lieferkettenstörungen, deutlich die Liste globaler Geschäftsrisiken an. Es folgen Marktrisiken, die beispielsweise durch überraschende Preissteigerun­ gen ihre Wirkung entfalten können, sowie Cyberkriminalität und erst danach Natur­ katastrophen (vgl. Munich Re 2017); Ereignisse wie Feuer und Explosionen, die zu Be­ triebsunterbrechungen führten, und politische Probleme stehen auf hinteren Plätzen (vgl. Dobie et al. 2016). Allerdings ist das Ausmaß der Folgewirkungen unabhängig von den Eintrittswahrscheinlichkeiten, so dass beide Aspekte zu analysieren sind. Gegen unvorhersehbare Ereignisse ist eine geplante Absicherung fragwürdig. Tat­ sächlich lassen sich für Naturereignisse wie Meteoriteneinschläge, Überschwemmun­ gen, extreme Trockenphasen etc. auf der Basis entsprechender Daten geographiebezo­ gene Wahrscheinlichkeiten berechnen. Ein solches vorausschauendes Risikomanage­ ment ist allerdings bisher kaum ausgeprägt. Eine Berücksichtigung bekannter Risiken (Hochwasserbereiche, Erdbebenzonen, Lawinen- und Erdrutschgebiete etc.) sollte zu­ mindest bei der Lieferantenauswahl Berücksichtigung finden.

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Cyberkriminalität, die Unternehmen und deren Lieferketten gefährden können, kann durch eine ausgeprägte Datensicherheitsstrategie, die unter anderem Bestands-, Bewegungs- und Kommunikationsdaten umfasst, begegnet werden. Hinsichtlich be­ schaffungsrelevanter Aspekte ist hier besonders die Speicherung und Übermittlung von Produktdaten und Vertragsdetails kritisch zu sehen, aber auch elektronische An­ gebots- und Verhandlungsprozesse, wohingegen die Daten von Lieferabrufen im Rah­ men bestehender Verträge häufig weniger kritisch gesehen werden. Angesichts immer professioneller durchgeführter Diebstähle und Akten von Piraterie sowie Schmuggel­ aktivitäten sollten diese Aspekte jedoch nicht vernachlässigt werden. Fest dürfte stehen, dass für viele Unternehmen die zuverlässige und in jeder Hinsicht sichere Durchführung IT-basierter Prozesse sowie der Datenspeicherung keine Kernkompe­ tenz darstellt und am Markt in der Regel deutlich professioneller und häufig, im Vergleich zur internen Leistungserbringung, kostengünstiger agierende Dienstleister zur Verfügung stehen. Die Auslagerung der entsprechenden Aufgaben an externe An­ bieter entbindet das Unternehmen jedoch nicht von der Verantwortung, die entspre­ chenden Herausforderungen hinsichtlich der Angreifbarkeit des Datenaustausches über das gesamte Versorgungsnetzwerk anzugehen und entsprechende Vorsorgestra­ tegien und Pläne für den Schadensfall zu entwickeln. Der Hauptgrund für Lieferunterbrechungen liegt zumeist in internen Problemen auf Seiten des Lieferanten (Technik, Personal etc.), wobei diese wiederum auch aus Störungen auf dessen Versorgungsseite resultieren können. Insofern ist großer Wert auf eine permanente Überwachung der Leistungsfähigkeit des direkten Lieferanten zu legen, was durch regelmäßige Audits und intensive Kommunikation, aber auch durch den Aufbau eines ausgeprägten Vertrauensverhältnisses unterstützt werden kann. Bei umfangreichen und weit verzweigten Lieferantennetzwerken und insbesondere bei der Einbeziehung von Unterlieferanten und mehrstufigen Zuliefererstrukturen sind dem jedoch natürliche Grenzen gesetzt. Absicherungsstrategien gegen signifikante Lieferstörungen können dann über zweite – und gegebenenfalls weitere – Lieferquel­ len für besonders „gefährdete“ Produkte oder über Vorratshaltung angestrebt werden, wobei mit beiden Strategien nicht unerhebliche Zusatzkosten verbunden sein kön­ nen. Moderne Möglichkeiten im Rahmen der Auswertung von Internetquellen mit Web Crawlern und Big Data Analytics können drohende Störungen signalisieren, aber auch diese Methoden können sich letztlich nur „veröffentlichten“ Quellen wie Zeitungsbe­ richten oder aber Social-Media-Plattformen bedienen. In der Praxis häufig genutzt, jedoch in kurzfristiger Hinsicht wenig hilfreich, sind Daten zur finanziellen Situation der Lieferanten, sofern diese von Dienstleistern bereit gestellten Datenbanken ent­ nommen werden, da letztere oftmals nicht den aktuellen Status des jeweiligen Unter­ nehmens widerspiegeln. Aufgrund der direkten und indirekten Publikation unterneh­ mensrelevanter Daten im Internet erscheint die Nutzung dieses Medium heute mehr als sinnvoll. Auf länder- und regionenbezogene Risiken wurde bereits im Rahmen der Ausfüh­ rungen zur Beschaffungsmarktanalyse Bezug genommen. Das Risikomanagement be­

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tont deren dynamische Aspekte, das heißt, dass bereits genutzte Märkte hinsichtlich ihrer Kerncharakteristika permanent beobachtet und analysiert werden müssen, um drohende, aus generellen Problemen resultierende Lieferstörungen absehen zu kön­ nen. So zeichnen sich häufig regionale oder flächendeckende Streiks in bestimmten Industrien eine gewisse Zeit vorher ab, so dass unter Umständen kurzfristig Vorkeh­ rungen getroffen werden können, um eine benötigte Lieferung noch rechtzeitig zu in­ itiieren. Aus den Ausführungen wird deutlich, dass Risikomanagement in der Beschaffung mit Vorbeugung beginnt, also der Analyse potentieller Risiken bei der Auswahl von Beschaffungsquellen und zwar hinsichtlich des Anbieters selbst und – soweit mög­ lich – dessen Lieferkette sowie dem Umfeld, in dem der Anbieter und seine Supply Chain agieren. Bereits in dieser Phase werden die Entscheidungen hinsichtlich der generellen Risikoexposition getroffen. Neben dem präventiven ist das reaktive Risi­ komanagement von Bedeutung, das sich um eine Minimierung der negativen Aus­ wirkungen von Störungen nach deren Eintreten bemüht. Zudem lassen sich weitere situative Faktoren wie die Erfahrung mit ähnlichen Situationen und die spezifische Bedeutung des Lieferanten differenzieren, die ein bestmögliches Risikomanagement im Einzelfall beeinflussen (vgl. Guinipero/Eltantawy 2003).

4 Fazit Das strategische Beschaffungsmanagement hat in zahlreichen Unternehmen heute wettbewerbsstrategische Bedeutung erlangt. Die Vernetzung mit den leistungsfähigs­ ten Anbietern auf den Beschaffungsmärkten und die bestmögliche Nutzbarmachung ihrer Potentiale ist von herausragender Bedeutung. Diese Anforderungen können nur durch ein professionelles strategisches Beschaffungsmanagement erfüllt werden, wo­ für adäquat qualifizierte und motivierte Mitarbeiter erforderlich sind. Fortgeschrittene IT-Lösungen bieten weitreichende Möglichkeiten, um die Effektivität und Effizienz der Prozesse sicher zu stellen und dringen in kognitiv anspruchsvollere Bereiche vor. Zentraler Aspekt des strategischen Beschaffungsmanagements ist die Entwick­ lung und Exekution zieladäquater Beschaffungsstrategien, da diese gleichsam Vorga­ ben und Rahmenbedingungen für nahezu alle anderen beschaffungsbezogenen Akti­ vitäten determinieren. Daher ist ein hohes Maß an Professionalität bei der Strategie­ entwicklung gefordert. Portfoliobasierte Ansätze bieten hier eine geeignete Methodik, wobei die ganzheitliche Berücksichtigung von marktbezogenen und organisationsin­ ternen Aspekten im Sinne eines Strategy-Structure-Process-Fit wichtig ist. Ein dezi­ diertes Lieferantenmanagement ermöglicht dem Unternehmen, auf einen optimier­ ten Anbieterpool zurückzugreifen. Der Beschaffungsbereich sollte eigenverantwort­ lich und unter Beachtung der relevanten Risiken seinen Ergebnis- beziehungsweise Wertbeitrag für das Unternehmen maximieren.

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Michael Eßig

Öffentliche Beschaffung 1 1.1 1.2 2 2.1 2.2 3

Öffentliche Beschaffung als multidisziplinäre Herausforderung | 487 Juristische und betriebswirtschaftliche Perspektive: Das Wirtschaftlichkeitspostulat als Verbindung | 487 Systematisierung von Wirtschaftlichkeit: Der „Wirtschaftlichkeitswürfel“ | 490 Wirtschaftlichkeit in der öffentlichen Beschaffung: Erste empirische Befunde | 494 Beschaffungsvolumina und Hebelwirkung | 494 Zur Umsetzung des Wirtschaftlichkeitsanspruches | 496 Ausblick: Zur „Professionalisierung“ der öffentlichen Beschaffung | 498 Literatur | 500

Zusammenfassung. Die öffentliche Beschaffung zeichnet sich dadurch aus, dass die beschaffende Institution dem öffentlichen Sektor im weiteren Sinne angehört und daher bei der Beschaffung zwingend das Vergaberecht als Ord-nungsrahmen zum Einsatz kommt. Das Vergaberecht postuliert Wirtschaftlichkeit als Grundprinzip, d. h. nicht erwerbswirtschaftliche Institutionen sollen zu nicht unwirtschaftlichem Einkauf veranlasst werden. In vorliegendem Beitrag wird diese Kombination aus ju­ ristischer und (betriebs-) wirtschaftlicher Perspektive als zentrale Herausforderung der öffentlichen Beschaffung definiert beziehungsweise herausgearbeitet, bevor im Folgenden erste empirische Befunde zur wirtschaftlichen Bedeutung sowie zur Um­ setzung des Wirtschaftlichkeitsprinzips in Deutschland vorgestellt werden.

1 Öffentliche Beschaffung als multidisziplinäre Herausforderung 1.1 Juristische und betriebswirtschaftliche Perspektive: Das Wirtschaftlichkeitspostulat als Verbindung Wesentlicher Unterschied zwischen der Beschaffung in der Privatwirtschaft und der öffentlichen Beschaffung ist das Maß an Regulierung. Kennzeichnend für die öffentli­ che Beschaffung ist die Anwendung des Vergaberechts. Daher ist es nicht verwunder­ lich, dass sich vor allem die Rechtswissenschaften mit der öffentlichen Beschaffung auseinandersetzen (vgl. z. B. Leinemann 2016). Zentrales Konstrukt im Vergaberecht ist die Wirtschaftlichkeit – sowohl als Grundprinzip (vgl. Burgi 2016, S. 76 f.) als auch als Zuschlagskriterium beziehungsweise als „Oberbegriff“ aller Zuschlagskriterien (vgl. Burgi 2016, S. 193 f.). https://doi.org/10.1515/9783110473803-027

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Das bedeutet, dass die rechtswissenschaftliche durch eine ökonomisch-betriebs­ wirtschaftliche Perspektive ergänzt werden muss, zumal auch juristische Überlegun­ gen auf verhaltensbezogene wie institutionenökonomische Ansätze rekurrieren (vgl. Burgi 2016, S. 4 f. und 68 f.). Hinzu kommt die große (volks-)wirtschaftliche Bedeutung der öffentlichen Beschaffung, welche wir im Folgenden noch aufzeigen werden. Vorliegender Beitrag stellt die öffentliche Beschaffung im Spannungsfeld zwi­ schen juristischer und betriebswirtschaftlicher Teildisziplin dar und ergänzt sie durch empirische Befunde zum Wirtschaftlichkeitsgrundsatz. Ausgangspunkt ist dabei das Wirtschaftlichkeitsverständnis als Erkenntnisobjekt der Betriebswirtschaftslehre. Eichhorn und Merk (2016) unterscheiden dabei zwischen dem Wirtschaftlichkeitspen­ dant „unwirtschaftlich“ und dem Wirtschaftlichkeitspendant „nichtwirtschaftlich“: – Nichtwirtschaftlich grenzt sich dadurch ab, dass in der Regel keiner erwerbswirt­ schaftlichen Tätigkeit nachgegangen wird. Dies ist in der Regel bei Institutionen der Fall, die keine Umsatzerlöse erwirtschaften und/oder keine Gewinnerzie­ lungsabsicht haben. Dazu gehören der öffentlichen Sektor oder Non-Profit-Orga­ nisationen. – Unwirtschaftlich definiert sich über das Verhältnis der eigesetzten Mittel (Gü­ tereinsatz, Kosten) zum Ergebnis (Güterausbringung, Leistung). Sollte ein ge­ wünschtes Ergebnis mit geringerem Mitteleinsatz oder mit einem gegebenen Mitteleinsatz ein besseres Ergebnis möglich sein, wäre dies unwirtschaftlich. „Umgangssprachlich werden die Begriffe nichtwirtschaftlich und unwirtschaftlich gern synonym gebraucht, was fachsprachlich nicht akzeptabel ist. So sind zum Beispiel Amtsgerichte, Hochschulen, Opernhäuser, Sozialämter, Wohlfahrtsdiens­ te nichtwirtschaftlich tätig beziehungsweise nehmen nichtwirtschaftliche Aufgaben wahr, unterliegen bei ihrer Tätigkeit aber gleichwohl dem Prinzip Wirtschaftlich­ keit und können ihre Aufgaben wirtschaftlich oder unwirtschaftlich erfüllen.“ (Eich­ horn/Merk 2016, S. 22 f.) In letztgenanntem Sinne definiert auch der Gesetzgeber im Vergaberecht Wirtschaftlichkeit (§ 127 GWB und § 58 VgV): „Die Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots erfolgt auf der Grundlage des besten Preis-Leistungs-Ver­ hältnisses.“ (§ 58 (2) Satz 1 VgV und weitgehend deckungsgleich § 127 (1) Satz 3 GWB). Im jeweils nachfolgenden Satz ist von Preis „oder“ Kosten die Rede, sie sind juris­ tisch gleichgesetzt. Damit folgt der Gesetzgeber der Unterscheidung pekuniärer und pagatorischer Größen nicht (vgl. Walter/Wünsche, 2013, S. 9; Schildbach/Homburg 2009, S. 30 f.). Pekuniäre Größen würden weitgehend dem kameralistischen Prinzip öffentlicher Haushalte entsprechen (vgl. Schmidt 2006, S. 34/71 f.), kalkulatorische Größen kommen bei öffentlichen Auftraggebern mit Doppik (gemäß § 1a (1) Satz 1 HGrG grundsätzlich zulässig) oder öffentlichen Unternehmen mit handelsrechtlichem Jahresabschluss zum Einsatz (vgl. Homann 2005, S. 30 ff.). Nach Aussage der Bundes­ beauftragten der Bundesregierung für Informationstechnik (2014, S. 13) arbeitet das Haushaltsrecht bei Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen mit einem Kostenbegriff, der betriebswirtschaftlich nicht korrekt ist.

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Mühlenkamp (2015, S. 6 ff.) differenziert das Wirtschaftlichkeitsprinzip im öffent­ lichen Sektor noch weiter auf: Er folgt zwar der obigen Grundsatzdefinition als Ver­ hältnisgröße aus Ergebnis- (Leistung) zu Einsatzgröße (Kosten), ergänzt diese jedoch durch das haushaltsrechtliche Sparsamkeits- beziehungsweise Minimalprinzip, stellt die Qualität abweichend „neben“ die Wirtschaftlichkeit und ergänzt diese Effizienz­ größe durch eine wirksamkeitsbezogene Effektivitätsgröße. Damit ist zwar kein grund­ sätzlicher Widerspruch im betriebswirtschaftlichen und juristischen Verständnis ver­ bunden, gleichwohl sind die Besonderheiten des öffentlichen Sektors wesensbestim­ mend für die öffentliche Beschaffung. Das zeigt sich insbesondere darin, dass auch nichtwirtschaftlich konstituierend für die Kennzeichnung der Beschaffung als „öffentlich“ ist. Bei der beschaffenden In­ stitution handelt es sich um einen öffentlichen Auftraggeber. Seine Bestimmung er­ folgt über den sogenannten „funktionalen Auftraggeberbegriff“ nach § 99 Nr. 2 GWB: Dieser umfasst nicht nur die klassischen Gebietskörperschaften Bund, Länder und Kommunen, sondern ordnet auch staatsnahe Institutionen (öffentliche Unternehmen, Kammern etc.) und Empfänger staatlicher Zuwendungen für diesen Aufgabenzweck entsprechend dem öffentlichen Beschaffungswesen zu. Das Verständnis eines Auf­ traggebers als öffentlich hängt somit von seinem Beitrag zur Erfüllung einer öffent­ lichen Aufgabe und nicht von seiner Rechtsform beziehungsweise Sektorenzugehö­ rigkeit ab. Wenn Beschaffung das Management der externen Ressourcen einer Orga­ nisation ist und dabei das Ziel verfolgt, die Verfügbarkeit aller Güter, Dienstleistungen, Fähigkeiten und Kenntnisse, die zur Durchführung, Aufrechterhaltung und Steuerung der primären und der unterstützenden Tätigkeiten dieser Organisation gebraucht werden, zu den günstigsten Bedingungen sicherzustellen (in enger Anlehnung an van Weele/Eßig 2017, S. 20) – dann ist öffentliche Beschaffung diejenige Sonderform des Managements externer Ressourcen, bei der der nicht(erwerbs)wirtschaftlich handelnde Auftraggeber durch die Anwendung des Vergaberechts zu nicht unwirtschaftlichem Handeln veran­ lasst werden sollen. Zu den Anwendungsvoraussetzungen des Vergaberechts gehören neben dem Auf­ traggeberstatus auch die Zugehörigkeit des Lieferanten zum Kreis der Wirtschafts­ teilnehmer (d. h. in der Regel Unternehmen) und der Beschaffungszweck, also der Abschluss eines entgeltlichen Vertrages mit Lieferanten zur Fremdbedarfsdeckung (vgl. Burgi 2016, S. 103–116). Damit ist das oben genannte Kriterium des Managements externer Ressourcen abgedeckt, gleichzeitig gilt die Aufgabenerfüllung auch als „Ba­ siszweck“ der Vergabe (vgl. Burgi 2016, S. 68). Neben dem Wirtschaftlichkeitsprinzip nennt § 97 GWB als weitere Prinzipien Vergabe im Wettbewerb, Transparenzgebot, Verhältnismäßigkeit sowie Berücksichtigung von Qualitäts-, Innovations-, sozialen, umweltbezogenen Aspekten und mittelständischer Interessen. Zwar wird die Beach­ tung dieser Grundprinzipien beziehungsweise der Vergaberegeln häufig als „lästige Pflicht“ (Burgi 2016, S. 68) angesehen, tatsächlich sind diese Prinzipien mit einem pro­ fessionellen Beschaffungsmanagementansatz (vgl. z. B. van Weele/Eßig 2017, S. 93 ff.) vollumfänglich vereinbar.

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1.2 Systematisierung von Wirtschaftlichkeit: Der „Wirtschaftlichkeitswürfel“ Wenn definitionsgemäß die Integration der betriebswirtschaftlichen und der juristi­ schen Perspektive zentrales konstituierendes Merkmal der öffentlichen Beschaffung ist, dann liegt es nahe, diese genauer zu untersuchen. Dazu haben wir an anderer Stelle (vgl. Eßig 2017) den sogenannten Wirtschaftlichkeitswürfel entwickelt, der hier in einer weiterentwickelten Version zum Einsatz kommen soll. Ziel ist es, das Wirtschaftlichkeitsprinzip der öffentlichen Beschaffung zu systematisieren und so einer abschließenden Bewertung zugänglich zu machen. Das ist von besonderer Be­ deutung, als Wirtschaftlichkeit nicht nur Prinzip, sondern auch Oberbegriff aller Zuschlagskriterien für die Vergabe öffentlicher Aufträge ist (vgl. Burgi 2016, S. 193 f.). Im Rahmen öffentlicher Vergabeverfahren müssen die Zuschlagskriterien bereits zu Beginn in der Auftragsbekanntmachung oder den Vergabeunterlagen bekannt ge­ macht werden, so dass sich Lieferanten zielgerichtet bewerben und bei willkürlicher Nichtberücksichtigung entsprechenden Rechtschutz in Anspruch nehmen können (vgl. Burgi 2016, S. 198). Dazu werden in einem ersten Schritt die Systematisierungsdimensionen be­ stimmt, bevor in einem zweiten Schritt analog obiger Definition die Begriffspaare nichtwirtschaftlich im Sinne des öffentlichen Auftraggeberbegriffs und nicht unwirt­ schaftlich im Sinne des vergaberechtlichen Prinzips beziehungsweise Zuschlagskri­ teriums abgegrenzt werden können. Schritt 1: Bestimmung der Systematisierungsdimensionen Der erste Schritt ist die Bestimmung der Systematisierungsdimensionen auf Basis ver­ gaberechtlicher Regelungen, welche folgende drei wesentliche Aspekte der Operatio­ nalisierung des Wirtschaftlichkeitskriteriums umfasst: – Das Vergaberecht definiert zwar Wirtschaftlichkeit als „bestes Preis-LeistungsVerhältnis“, lässt aber trotzdem zu, das als bewertungsbezogenes Zuschlags­ kriterium nur der Preis beziehungsweise die Einsatzgröße („Nur-Preis- bezie­ hungsweise Nur-Kosten-Vergabe“, Burgi 2016, S. 194) oder nur die Leistung beziehungsweise die Ergebnisgröße („ausschließlich leistungsbezogene [. . . ] Zu­ schlagskriterien“, Burgi 2016, S. 194) zum Einsatz kommen. – Im Vergaberecht findet eine ebenenbezogene Vermischung von pekuniärer und kalkulatorischer Einsatzgröße statt („Preis oder [. . . ] Kosten“ § 127 (1) Satz 3 GWB, § 58 (2) Satz 2 VgV). – Die Einsatzgröße Kosten darf vergaberechtlich zeitbezogen sowohl einperiodig als auch periodenübergreifend beziehungsweise mehrperiodig ermittelt werden (Möglichkeit, dass „das Zuschlagskriterium ‚Kosten‘ auf der Grundlage der Le­ benszykluskosten der Leistung berechnet“ wird gemäß § 59 (1) VgV).

Öffentliche Beschaffung | 491

Mehrperiodenbetrachtung Einperiodenbetrachtung

Zeitbezug

Ebenenbezug Kalkulatorische Größen (Aufwand/Ertrag bzw. Kosten/Leistungen)

Pekuniäre Größen (Ausgaben/Einnahmen bzw. Auszahlungen/Einzahlungen)

Einsatzgröße (Input)

Ergebnisgröße (Output)

Bewertungsbezug

Abb. 1: Wirtschaftlichkeitswürfel der öffentlichen Beschaffung (Quelle: Eßig 2017).

Damit sind die drei Dimensionen des Wirtschaftlichkeitswürfels (vgl. Abbildung 1) vorgegeben. Der Wirtschaftlichkeitswürfel enthält somit im Ergebnis bei drei Dimensionen mit je zwei Ausprägungen insgesamt acht Felder (in Abbildung 1 mit (1) bis (8) gekenn­ zeichnet, wobei Feld (5) verdeckt ist). Mit diesen Feldern lässt sich das Wirtschaftlich­ keitsverständnis der öffentlichen Beschaffung wie folgt einordnen. Stufe 2: Einordnung wirtschaftlichkeitsbezogener Teilkonzepte der öffentlichen Beschaffung Zur Einordnung des Auftraggebers als „nichtwirtschaftlich“: Ausgangspunkt der öffent­ lichen Beschaffung ist der Status des „öffentlichen“ Auftraggebers. Wie bereits oben skizziert, wird dieser funktional über die öffentliche Aufgabe und nicht institutionell über die Zugehörigkeit zum öffentlichen Sektor (Bund, Länder, Kommunen) ermit­ telt. Während Gebietskörperschaften traditionell mit einem kameralistischen Haus­ haltssystem auf Jahresbasis arbeiten (Felder (7) und (8)), zeichnen sich erwerbswirt­ schaftliche Unternehmen durch einen handelsrechtlichen Jahresabschluss (Felder (3) und (4)) aus. Diese Grenzen verschwimmen jedoch, da das Haushaltsrecht Doppik ebenfalls zulässt (§ 1a Abs. 1 i. V. m. § 7a HGrG). Kameralistischer Haushalt wie doppi­ scher Jahresabschluss erfassen Input- wie Outputgrößen (§ 11 (2) BHO) und sind prin­ zipiell einperiodig (§ 11 (1) BHO beziehungsweise § 242 (1), (2) HGB). Die Pflicht zur langfristigen, fünfjährigen Finanzplanung gemäß § 9 (1), § 14 StabG und § 50 HGrG sowie die Investitionsrechnung als privatwirtschaftliches Pendant

492 | Michael Eßig

(teilweise sogar als „Wirtschaftlichkeitsrechnung“ bezeichnet, vgl. Horváth/Gleich/ Seiter 2015, S. 218) erweitern den Zeitbezug und damit die Einordnung um die Fel­ der (1), (2), (5) und (6). Da bedeutet, dass für die Einordnung des Auftraggebers als nicht(erwerbs)wirtschaftliche Institution prinzipiell alle Felder des Wirtschaftlich­ keitswürfels in Frage kommen – statt dessen sind die Prüfkriterien für den funktiona­ len Auftraggeberbegriff wie Gebietskörperschaft, Erfüllung von im Allgemeininteresse liegenden Aufgaben nichtgewerblicher Art, besondere Staatsgebundenheit, Finanzie­ rung über staatliche Mittel ohne spezifische Gegenleistung, staatliche Aufsicht oder Kontrolle abzuprüfen (vgl. Burgi 2016, S. 94–99). Zur Einordnung einer öffentlichen Beschaffung als „nicht unwirtschaftlich“ im Sin­ ne des Vergaberechts: Bereits mehrfach haben wir auf die vergaberechtliche Definiti­ on des wirtschaftlichsten Angebots als das mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis verwiesen, wobei dabei „Preis oder [. . . ] Kosten“ (§ 127 (1) Satz 4 GWB beziehungswei­ se § 58 (2) Satz 2 VgV) zum Einsatz kommen können. Damit wäre das Verhältnis der Felder (4) beziehungsweise (8) zu den Feldern (3) und (7) angesprochen. Die erste Konkretisierung betrifft die Frage, ob tatsächlich nur kalkulatorische Größen zur Ermittlung der Wirtschaftlichkeit herangezogen werden dürfen. Während das Vergaberecht – wie skizziert – hier nicht differenziert, sondern gleichsetzt, gehen betriebswirtschaftliche Standardwerke davon aus, dass nur kalkulatorische Größen in Frage kommen (vgl. z. B. Thommen/Achleitner 2012, S. 120). Die zweite Konkretisierung betrifft die Frage, ob die Einsatzgrößen Preis (7) be­ ziehungsweise Kosten (3) und vor allem Ergebnisgröße Leistung (4) und (8) mone­ tär bewertet sein müssen. Während die betriebswirtschaftliche Standardliteratur dar­ auf verweist, dass auch der Output immer wertmäßig zu erfassen ist (vgl. z. B. Wöhe/ Döring 2013, S. 43), werden vergaberechtlich nur die inputbezogenen Größen finanziell ermittelt, für die outputorientierten Kriterien existiert ein langer, nicht abschließender Katalog¹, welcher in der Regel nicht monetär erfasst ist (so unterscheidet Burgi 2016, S. 194 explizit zwischen „finanzielle[n] und leistungsbezogene[n] Kriterien“). Die mone­ täre Bewertung der Einsatzgröße und nicht monetäre Bewertung der Ergebnisgröße gilt als Sonderform der Wirtschaftlichkeit und wird als Kostenwirtschaftlichkeit de­ finiert (vgl. Zahn/Schmid 1996, S. 73–75). Sie findet im Vergaberecht breite Anwen­

1 „Neben dem Preis oder den Kosten können auch qualitative, umweltbezogene oder soziale Zu­ schlagskriterien berücksichtigt werden, insbesondere: 1. die Qualität, einschließlich des technischen Werts, Ästhetik, Zweckmäßigkeit, Zugänglichkeit der Leistung insbesondere für Menschen mit Behin­ derungen, ihrer Übereinstimmung mit Anforderungen des ‚Designs für Alle‘, soziale, umweltbezogene und innovative Eigenschaften sowie Vertriebs- und Handelsbedingungen, 2. die Organisation, Quali­ fikation und Erfahrung des mit der Ausführung des Auftrags betrauten Personals, wenn die Qualität des eingesetzten Personals erheblichen Einfluss auf das Niveau der Auftragsausführung haben kann, oder 3. die Verfügbarkeit von Kundendienst und technischer Hilfe sowie Lieferbedingungen wie Lie­ fertermin, Lieferverfahren sowie Liefer- oder Ausführungsfristen.“ § 58 (2) Satz 2 ff. VgV.

Öffentliche Beschaffung | 493

dung (vgl. z. B. Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft und Medien, Energie und Technologie 2014, S. 8 f.). Die dritte Konkretisierung betrifft die Frage, ob im Zuge der Vergabe öffentlicher Aufträge nur eine der beiden Verhältnisgrößen variabel gestaltet werden kann. Im Falle einer fixen Leistungsdefinition würde es sich um eine rechtlich zulässig und praktisch weit verbreitete „Nur-Preis- beziehungsweise Nur-Kosten-Vergabe“ (Burgi 2016, S. 194) handeln. Der umgekehrte Fall „ausschließlich leistungsbezogener Zuschlagskriterien“ ist gemäß § 127 Abs. 2 GWB allerdings nur erlaubt, wenn verbindliche Vorschriften zur Preisgestaltung den Preis als Zuschlagskriterium sinnlos machen, wie etwa im Falle der Buchpreisbindung (vgl. Burgi 2016, S. 194). Schließlich existiert der Fall, dass ein Zu­ schlag ausschließlich auf Preis- oder Kostenbasis verboten ist (z. B. Innovationspart­ nerschaft § 19 (7) Satz 2 VgV beziehungsweise wettbewerblicher Dialog § 18 (9) Satz 2 VgV). Die vierte Konkretisierung betrifft die Frage, ob die Größen ein- oder mehrperi­ odig sein dürfen beziehungsweise müssen (Berücksichtigung der Felder (1), (2), (5) und (6)). Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive bezeichnen z. B. Horváth, Gleich und Seiter 2015, S. 218) nur Mehrperiodenbetrachtungen als echte Wirtschaftlich­ keitsrechnungen. Das Vergaberecht räumt explizit die Möglichkeit ein, dass „das Zuschlagskriterium ‚Kosten‘ auf der Grundlage der Lebenszykluskosten der Leistung berechnet wird“ (§ 59 (1) VgV). Somit bleibt festzuhalten, dass auch bei der Bestimmung der öffentlichen Be­ schaffung als nicht unwirtschaftich beziehungsweise bei der Vergabe an das wirt­ schaftlichste Angebot prinzipiell alle Felder des Wirtschaftlichkeitswürfels in Betracht kommen. In der Regel handelt es sich dabei jedoch um einen kostenwirtschaftlichen Zuschlag, der sich aus dem Sparsamkeitsprinzip des Haushaltsrechts ableiten lässt². Die konzeptionelle Herleitung alleine ist jedoch sowohl für die Analyse wie auch für die Ableitung von Handlungsempfehlungen nicht ausreichend. In der Folge wer­ den daher erste empirische Befunde zur Wirtschaftlichkeit dargestellt.

2 § 7 BHO und wortgleich § 6 HGrG weisen allgemein auf „die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit“ bei Erstellung und Vollzug des Haushaltsplans hin, es handelt sich somit um zwei unter­ schiedliche Prinzipien. Die zugehörige Verwaltungsvorschrift VV-BHO konkretisiert, zwar, dass: „nach dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit ist die günstigste Relation zwischen dem verfolgten Zweck und den einzusetzenden Mitteln (Ressourcen) anzustreben“ (VV Nr. 1 zu § 7 BHO) ist. Wirtschaftlichkeit könnte prinzipiell über eine Verbesserung der Ergebnisgröße bei gegebenen Kosten (Maximal- oder Ergiebigkeitsprinzip) oder eine über eine Minimierung der Kosten bei gegebener Leistung realisiert werden (Minimal- oder Sparsamkeitsprinzip) (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2015, S. 10, VV Nr. 1 zu § 7 BHO). Es gilt jedoch der Vorrang des Minimalprinzips (vgl. Matschke/Hering 1998, S. 17 be­ ziehungsweise leicht abweichend Mühlenkamp 2015, S. 7 f.): „Bei der Ausführung des Haushaltsplans, der in aller Regel die Aufgaben (Ergebnis, Ziele) bereits formuliert, steht der Grundsatz der Wirtschaft­ lichkeit in seiner Ausprägung als Sparsamkeitsprinzip im Vordergrund.“ VV-Nr. 1 zu § 7 BHO. Hier existiert ein Widerspruch zwischen Haushalts- und Vergaberecht.

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2 Wirtschaftlichkeit in der öffentlichen Beschaffung: Erste empirische Befunde 2.1 Beschaffungsvolumina und Hebelwirkung Traditionell wird die Bedeutung der Beschaffungsfunktion in Unternehmen über das von ihr verantwortete Beschaffungsvolumen hergeleitet (vgl. z. B. van Weele/Eßig 2017, S. 27–31). Neuere Lehrbücher weisen dabei insbesondere auf das Verhältnis des Beschaffungsvolumens zum Umsatz hin, welche in der Industrie bei weit über 50 % liegt. Large (2013, S. 4. f.) ermittelt einen Anteil von 60,4 % am Bruttoproduktions­ wert des verarbeitenden Gewerbes. Damit liegt das gesamte Beschaffungsvolumen der Industrie bei 1204 Mrd. €. Eine derartige Statistik existiert für den öffentlichen Sektor bislang nicht. Trotzdem ermöglicht eine Analyse des Ausgabeverhaltens im öffentlichen Sektor eine erste Indikation. Methodik zur Ermittlung des öffentlichen Beschaffungsvolumens Der bereits mehrfach angesprochene funktionale Auftraggeberbegriff macht es ex­ trem schwierig, tatsächlich alle öffentliche Beschaffungsvorgänge und die damit ver­ bundenen Volumina zu ermitteln. Gleichzeitig sorgen die Rechtsvorschriften des Vergabe- wie des Haushaltsrechts dafür, dass Beschaffungsvorgänge zu dokumentie­ ren (§ 8 VgV) beziehungsweise Beschaffungsausgaben im Haushaltsplan vollständig aufzuführen sind (§ 11 BHO). Daher eignen sich sekundärstatistische Maßnahmen besonders, da sie objektive Daten enthalten. Wichtig ist die Abgrenzung der beschaf­ fungsrelevanten Ausgabepositionen. In diesem Fall wurden dem Beschaffungsvolu­ men entweder entsprechende Angaben aus Geschäftsberichten oder in den Haus­ haltsplänen die sächlichen Verwaltungsausgaben (Gruppe 51–54), Baumaßnahmen (Gruppe 7), Erwerb von beweglichen Sachen (Gruppe 8.1) sowie Erwerb von unbe­ weglichen Sachen (Gruppe 8.2) zugeordnet. Es ist daher davon auszugehen, dass die Ergebnisse eher konservativ ausfallen, da gegebenenfalls in anderen Haushaltsposi­ tionen ebenfalls beschaffungsrelevante Ausgaben enthalten sind. Kritisch ist die fehlende Urliste der (geschätzt 30.000, vgl. zur Problematik Ram­ boll Management/Institut für Mittelstandsforschung; Leinemann & Partner 2008, S. 34) Vergabestellen in Deutschland. Als Hilfsmittel wurde daher ein institutionel­ ler Ansatz gewählt, der einerseits Gebietskörperschaften und andererseits sonstige öffentliche Auftraggeber erfasst (vgl. Abbildung 2). Die Gebietskörperschaften um­ fassen Bund, Länder und Kommunen. Für den Bund und alle Länder wurde eine Vollerhebung mittels Haushaltsplänen durchgeführt. Sowohl für die Bundesminis­ terien und -einrichtungen als auch für die Landesministerien und -einrichtungen stehen die Einzelpläne inklusive der entsprechenden Ausgabeposten zur Verfügung.

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Vergabe-/ Beschaffungsstellen

Öffentliche Auftraggeber Gebietskörperschaften

Ca. 30.000 Vergabestellen, zentral oder dezentral organisiert

VSt

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Bund

Bundesländer (Flächenländer)

Länder

(Regierungsbezirke)

Stadtstaaten

(Land-)Kreise (Gemeinde verbände)

Kommunen

(Gemeinden)

Kreisfreie Städte

Gemeinden

+ Sonstige (Öffentliche Fonds, Einrichtungen und Unternehmen (FEU), inkl. Sektorauftraggeber und Sozialversicherungen)

Abb. 2: Grundgesamtheit der Vergabestellen.

Diese sind gemäß obiger Methodik auf die beschaffungsspezifischen Ausgabenposten hin durchleuchtet und die entsprechenden Volumina extrahiert worden. Im kommunalen Bereich ist eine Vollerhebung aufgrund der schieren Größe, aber auch der mangelnden Verfügbarkeit von hinreichend detaillierten Haushaltsplänen nicht möglich. Stattdessen kam eine geschichtete Stichprobe zum Einsatz, so wurden insgesamt neun Schichten auf Basis der Einwohnerzahl der Kommunen gebildet. An­ schließend wurden die beschaffungsrelevanten Volumina der jeweiligen Stichprobe von verfügbaren Haushaltsplänen extrahiert und letztendlich auf Basis der Einwoh­ nerzahlen auf die gesamte Schicht hochgerechnet. Sonstige öffentliche Auftraggeber umfassen die öffentlichen Unternehmen und Fonds (FEU), für die Daten des Statistischen Bundesamtes zu Erträgen und Aufwen­ dungen vorhanden sind. Da allerdings unklar ist, welcher Anteil der Aufwendungen letztendlich als Beschaffungsvolumen anfällt, wurde unter den FEUs ebenfalls auf Basis einer Stichprobe der Haushaltspläne beziehungsweise Geschäftsberichte das mittlere Beschaffungsvolumen ermittelt und letztendlich auf die Gesamtheit der FEUs hochgerechnet. Hinzu kommt in diesem Bereich eine relativ große Unschärfe, da bei­ spielsweise Zuwendungsempfänger – wie im Rahmen des funktionalen Auftraggeber­ begriffs diskutiert – gegebenenfalls auch anteilig zu öffentlichen Auftraggebern wer­ den. Um die Reliabilität und Validität dieser Daten zu verbessern, wurden in einem weiteren Analyseschritt die erzielten Ergebnisse im Sinne eines Plausibilitätstests mit vorhandenen Erhebungen beziehungsweise Analysen der Vergangenheit verglichen und geringfügig angepasst. Ebenfalls konnte auf dieser Basis der Bereich der Sozial­ versicherungen noch aus den FEUs herausgerechnet und als separate Gruppe etabliert werden.

496 | Michael Eßig

Ausgaben p.a. in der öffentlichen Beschaffung in Mrd. EUR

Ausgaben p.a. in der öffentlichen Beschaffung in % 350 9%

8%

216 19 %

10

62 %

65 32

3%

27

Gesamtausgaben

(exkl. Sozialversicherungen)

Öffentliche Unternehmen & Fonds

Sozialversicherungen

Mrd. EUR

Kommunen

Länder

Bund

3%

Bund Länder Kommunen Sozialversicherungen Öffentliche Unternehmen & Fonds

Abb. 3: Beschaffungsvolumen des öffentlichen Sektors (Quelle: Eßig/Schaupp 2016a).

Öffentliches Beschaffungsvolumen in Deutschland Das so ermittelte gesamte öffentliche Beschaffungsvolumen in Deutschland beträgt im Jahr 2016 knapp 350 Mrd. € und entspricht damit ca. 10 % des Bruttoinlandsproduk­ tes. Interessanterweise vereinigen die Gebietskörperschaften als „Kernverwaltung“ nur 38 % des Gesamtvolumens auf sich (vgl. Abbildung 3). Die ermittelten Ergebnisse lassen die enorme Größe des öffentlichen Beschaf­ fungsvolumens nur erahnen. Auf Basis einer zugegebenermaßen vereinfachten Rech­ nung, in der alle Teilhaushalte und -volumina zusammengefasst werden, soll die damit einhergehende Hebelwirkung möglicher Effizienzsteigerungen im Bereich der öffentlichen Beschaffung verdeutlicht werden: – Eine Effizienzsteigerung um 2 % würde Einsparungen von knapp 7 Mrd. € mit sich bringen. Dies entspricht in etwa dem Gesamtetat Deutschlands für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Jahr 2016 (7,4 Mrd. €). – Eine Effizienzsteigerung um 5 % würde Einsparungen von ca. 17 Mrd. € mit sich bringen und könnte beispielsweise für eine Abschaffung des Solidaritätszu­ schlags verwendet werden (2015: 15,93 Mrd. €).

2.2 Zur Umsetzung des Wirtschaftlichkeitsanspruches Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass vergaberechtliches und betriebswirtschaft­ liches Wirtschaftlichkeitsverständnis kein Widerspruch sind – mithin „das Vergabe­

Öffentliche Beschaffung | 497

recht einen wesentlichen Innovations- und Unterstützungsfaktor dar(stellt), denn das Vergaberecht enthält bestimmte Vorschriften, die Angebote für betriebswirtschaftlich sinnvolle, innovative und nachhaltige Lösungen durch die Bieter erleichtern.“ (Loh­ mann/Werres 2013, S. 75). Der Gesetzgeber versucht, den Leistungs- zugunsten des reinen Preiswettbewerbs ausdrücklich zu stärken: „Um eine stärkere Ausrichtung der öffentlichen Auftragsvergabe auf die Qualität zu fördern, sollte es den Mitgliedstaaten gestattet sein, die Anwendung des alleinigen Preis- oder Kostenkriteriums zur Bestim­ mung des wirtschaftlich günstigsten Angebots zu untersagen oder einzuschränken, sofern sie dies für zweckmäßig halten.“ (RL 2014/24 EU, Ziff. (90) S. 82). Auch hier­ zu liegen bislang – wenn überhaupt – nur vereinzelte Befunde vor. So hat der Bun­ desbeauftragte für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung (2003, S. 7–9) bereits für das Jahr 2001 nachgewiesen, dass bei rund 95 % der Vergaben im Bereich des Bundes­ fernstraßen- und Bundeshochbaus der Billigstbieter den Zuschlag bekam. Allerdings erteilten die Straßenbauverwaltungen bei Großaufträgen (> 2,5 Mio. € Auftragswert) nur bei rund 29 % der Vergaben den Zuschlag auf das billigste Angebot – wobei diese Großaufträge zwar nur 3,5 % der Vergaben ausmachen, aber mit 49,3 % etwa die Hälfte des Gesamtauftragswertes darstellen. An dieser Stelle soll – ebenfalls indikativ – auf Basis sekundärstatistischer Daten untersucht werden, ob diese ersten Erkenntnisse auch heute noch Gültigkeit haben. Methodik zur Ermittlung von Wirtschaftlichkeit als Zuschlagskriterium Alle dem europäischen Vergaberecht unterliegenden Vergabeverfahren müssen im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht werden. Die Online-Version des „Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union“ für das europäische öffentli­ che Auftragswesen ist als TED (Tenders Electronic Daily) öffentlich zugänglich. Sie umfasst alle öffentlichen Vergaben oberhalb des sogenannten „Schwellenwerts“, der bis Ende 2017 für Bauleistungen bei 5.225.000 €, für Liefer- und Dienstleistungs­ aufträge bei obersten und oberen Bundesbehörden bei 135.000 €, für Liefer- und Dienstleistungsaufträge im Bereich Trinkwasser, Energie, Verkehr sowie Verteidigung und Sicherheit bei 418.000 € und für sonstige Liefer- und Dienstleistungsaufträge bei 209.000 € liegt. Auf Basis der Daten der TED-Datenbank (Sekundärdaten) lässt sich eine Analyse von Verfahrenscharakteristika der publizierten Auftragsbekanntmachungen (Aus­ schreibungen) durchführen, wobei unter anderem auch Daten zum Zuschlagskrite­ rium vollständig vorhanden sind (Vollerhebung). Dabei ist zu beachten, dass nach derzeitiger Rechtslage das wirtschaftlichste Angebot den Oberbegriff darstellt, die oben genannten „Nur-Preis-Vergabe“ eine (zulässige) Sonderform darstellt. In der TED-Datenbank sind diese beiden (Haupt-) Zuschlagskriterien im Prinzip als Alterna­ tiven aufgeführt, was in diesem Fall die Auswertung und Interpretation erleichtert. Diese Daten lassen sich über den integrierten Statistik-Modus der TED-Datenbank für die letzten Jahre und gruppiert nach EU-Ländern ausgeben und analysieren.

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Frankreich Niederlande Vereinigtes Königreich Polen Österreich Italien Deutschland Bugarien

Abb. 4: Entwicklung der Wirtschaftlichkeit als Zuschlagskriterium im Vergleich zu ausgewählten EU-Ländern (Quelle: Schaupp/Eßig/von Deimling 2017).

Der Prozentsatz der Anwendung der Wirtschaftlichkeit als Zuschlagskriterium in aus­ gewählten EU-Ländern ist in Abbildung 4 ersichtlich. Zuschlagskriterium Wirtschaftlichkeit: Deutschland im europäischen Vergleich Während die bisherigen Untersuchungen davon ausgegangen sind, dass mit zuneh­ mendem Vergabevolumen das Nur-Preis-Kriterium zugunsten des umfassenden Wirt­ schaftlichkeitskriteriums und damit zugunsten eines Qualitätswettbewerbs zunimmt, gilt dies zumindest für Deutschland nicht. Die Nur-Preis-Vergabe (47 %) wird bei Ober­ schwellenvergaben (!) im Jahr 2016 in etwa so oft wie das Wirtschaftlichkeitskriterium (49 %; 4 % sonstige) zur Vergabeentscheidung herangezogen. Und dies sogar mit zu­ nehmender Tendenz, so betrug der Anteil der Nur-Preis-Vergaben in 2013 nur 36 %. Andere EU-Länder haben hingegen offensichtlich weitaus stärker auf den Qualitäts­ wettbewerb gesetzt, wie die obigen Zahlen aus Frankreich, den Niederlanden oder das Vereinigte Königreich zeigen. Andere EU-Länder wie Polen und Österreich kön­ nen – vermutlich bedingt durch die Einführung des neuen, wirtschaftlichkeitsgetrie­ benen europäischen Vergaberechtsregimes – signifikante Zuwächse bei der Nutzung des Wirtschaftlichkeitskriteriums verzeichnen.

3 Ausblick: Zur „Professionalisierung“ der öffentlichen Beschaffung So wie sich – wie die empirischen Ergebnisse zeigen – vergaberechtliche Zielsetzun­ gen und Vergabepraxis unterscheiden können, stellt auch „die schlichte Anwendung des Vergaberechts keine hinreichende Voraussetzung für ein modernes öffentliches

Öffentliche Beschaffung | 499

Einkaufsmanagement“ (Lohmann/Werres 2013), S. 75). Öffentliche Beschaffung ist keine „Profession“ im Sinne eines klaren Berufsbildes beziehungsweise einer strin­ genten Ausbildung. Dies wird deutlich, wenn man die Befunde einer Befragung von über 400 öffentlichen Einkäufern im Jahr 2016 heranzieht: Sind die für Ihre Behörde/ Einrichtung zuständigen Mitarbeiter der Vergabestelle explizit für die Beschaffung von Produkten und Dienstleistungen ausgebildet? (401 Angaben)

Welche Ausbildung(en) haben Sie? (453 Angaben, Mehrfachnennung möglich)

Sonstige VerwaltungsBetriebswirtschaftliche (bitte ergänzen) wissenschaftlicher Ausbildung Hochschulabschluss 20 56 Betriebswirt(4 %) (12 %) schaftliches 49 Verwaltungs11 Hochschulstudium (11 %) wirtschaftliche (2 %) Ausbildung 68 (15 %) 42 Technische (9 %) Ausbildung 35 (8 %) 90 (20 %) Technischer Hochschulabschluss

11 (3 %) 22 (5 %) Juristische Ausbildung

49 (11 %)

Kaufmännischer Hochschulabschluss

96 (31 %)

Nein

Ja

212 (69 %)

Kaufmännische Ausbildung

Juristischer Hochschulabschluss

Abb. 5: Empirische Erkenntnisse zum Ausbildungsstand öffentlicher Einkäufer (Quelle: Eßig/ Schaupp 2016b).

Es ist ersichtlich, dass der Großteil der öffentlichen Einkäufer einen Bildungshinter­ grund hat, der letztendlich fern des Kernbereichs der öffentlichen Beschaffung mit ju­ ristischen und betriebswirtschaftlichen Inhalten liegt. Vielmehr kommt ein entschei­ dender Anteil der öffentlichen Einkäufer aus technischen und Verwaltungsbereichen und haben somit kaum Vorkenntnisse im Bereich des Einkaufs und des Vergaberechts. Somit ist auch der folgende Sachverhalt nicht verwunderlich: Knapp 2/3 der Umfrage­ teilnehmer geben an, dass die für den Einkauf zuständigen Mitarbeiter nicht explizit für die Beschaffung von Produkten und Dienstleistungen ausgebildet wurden. Es ist Aufgabe der Rechtswissenschaft wie der Betriebswirtschaftslehre, einen Beitrag zur Schließung dieser Professionalisierungslücke zu leisten. Gemeinsam mit den Verwaltungs- und den Politikwissenschaften bietet sich hier „echtes“ Interdiszi­ plinaritätspotenzial.

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Literatur BHO: Bundeshaushaltsordnung vom 19. August 1969 (BGBl. I S. 1284), geändert durch Artikel 11 des Gesetzes vom 14. August 2017 (BGBl. I S. 3122). Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.): Das System der öffentlichen Haushalte, Berlin 2015. Die Beauftragte der Bundesregierung für die Informationstechnik (Hrsg.): WiBe 5.0. Konzept zur Durchführung von Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen in der Bundesverwaltung, insbesondere beim Einsatz der IT, Berlin 2014. Der Präsident des Bundesrechnungshofes als Bundesbeauftragter für Wirtschaftlichkeit in der Ver­ waltung (Hrsg.): Gutachten des Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung für den Haushaltssauschuss des Deutschen Bundestages zur Wirtschaftlichkeit der Vergabe an Billigstbieter im Bereich des Bundesfernstraßenbaues und der Bundeshochbauten, Bonn 2003. Burgi, M.: Vergaberecht. Systematische Darstellung für Praxis und Ausbildung, München 2016. Eichhorn, P.; Merk, J.: Das Prinzip Wirtschaftlichkeit, 4. Aufl., Wiesbaden 2016. Eßig, M.: Wirtschaftlichkeit in der öffentlichen Beschaffung, in: Gabriel, M. et al. (Hrsg.): Beck Onlinekommentar Vergaberecht mit Kommentierungen zur VgV, UVgO, KonzVgV, München 2017, verfügbar: https://beck-onli-ne.beck.de/?vpath=bibda-ta\T1\textbackslashkomm\ T1\textbackslashBeckOKVergabeR_4\T1\textbackslashGWB\T1\textbackslashcont\T1\ textbackslashBECKOKVERGABER.GWB.WIRTSCHAFTLICHKEIT.htm (zuletzt geprüft am: 06.11.2017). Eßig M.; Schaupp M.: Ermittlung des innovationsrelevanten Beschaffungsvolumens des öffentlichen Sektors als Grundlage für eine innovative öffentliche Beschaffung, Arbeitspapier Universität der Bundeswehr, München 2016a. Eßig M.; Schaupp M.: Erfassung des aktuellen Standes der innovativen öffentlichen Beschaffung in Deutschland. Darstellung der wichtigsten Ergebnisse, Arbeitspapier Universität der Bundes­ wehr, München 2016b. GWB: Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juni 2013 (BGBl. I S.1750, 3245), zuletzt durch Artikel 6 des Gesetzes vom 27. August 2017 (BGBl. I S. 3295) geändert. HGB: Handelsgesetzbuch in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 4100–1, veröf­ fentlichten bereinigten Fassung, zuletzt durch Artikel 11 Absatz 28 des Gesetzes vom 18. Juli 2017 (BGBl. I S. 2745) geändert. HGrG: Haushaltsgrundsätzegesetz vom 19. August 1969 (BGBl. I S. 1273), zuletzt geändert durch Artikel 10 des Gesetzes vom 14. August 2017 (BGBl. I S. 3122). Homann, K.: Kommunales Rechnungswesen. Buchführung, Kostenrechnung und Wirtschaftlichkeits­ rechnung, 6. Aufl., Wiesbaden 2005. Horváth, P.; Gleich, R.; Seiter, M.: Controlling, 13. Aufl., München 2015. Large, R.: Strategisches Beschaffungsmanagement, 5. Aufl., Wiesbaden 2013. Leinemann, R.: Die Vergabe öffentlicher Aufträge. GWB-Vergaberecht, VgV, KonzVgV, SektVO, VSVgV, VOB/A, VOL/A. Erläuterungen aller Vergabeordnungen, Nachprüfung von Vergabeverfahren, Vergabestrafrecht, Compliance, 6. Aufl., Köln 2017. Lohmann, B.; Werres, S.: Strategien im Beschaffungswesen als Erfolgsfaktor öffentlicher Verwal­ tung, in: Eßig, M.; Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e. V. (Hrsg.): Ex­ zellente öffentliche Beschaffung. Ansatzpunkte für einen wirtschaftlichen und transparenten öffentlichen Einkauf, Wiesbaden 2013, S. 69–80. Matschke, M.; Hering, T.: Kommunale Finanzierung, München/Wien 1998. Mühlenkamp, H.: Wirtschaftlichkeit im öffentlichen Sektor. Wirtschaftlichkeitsvergleiche und Wirt­ schaftlichkeitsuntersuchungen, Berlin 2015.

Öffentliche Beschaffung | 501

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Rainer Lasch

Sourcing-Strategien 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 3

Einleitung | 502 Analyse der einzelnen Strategiedimensionen | 503 Lieferantenanzahl | 503 Beschaffungsobjekt | 506 Beschaffungszeit | 508 Beschaffungssubjekt | 510 Beschaffungsareal | 511 Technologie | 513 Ort der Leistungserbringung | 514 Zentralisierungsgrad | 515 Beispiele zur Kombination von Strategiedimensionen | 516 Literatur | 517

Zusammenfassung. Beschaffungsstrategien legen die grundsätzliche Ausrichtung der Beschaffung im Unternehmen fest und werden von den Unternehmen in Ab­ hängigkeit der Wettbewerbssituation und den Eigenschaften der zu beschaffenden Objekte als Kombination von verschiedenen Sourcing-Strategien formuliert. Im Fol­ genden werden mögliche Sourcing-Strategien durch geeignete Ausprägungen von acht verschiedenen Dimensionen inhaltlich beschrieben und deren Vor- und Nach­ teile diskutiert.

1 Einleitung Lange Zeit wurde mit der Bezeichnung Sourcing lediglich ein weiteres Synonym für die Beschaffung assoziiert und auf eine rein materielle, periphere Unternehmensfunkti­ on reduziert (vgl. Gottfredson/Puryear/Phillips 2005, S. 132). Im Kontext der Globali­ sierung sowie beschleunigter Innovationszyklen wird die Konkurrenzfähigkeit einer Unternehmung vor neue Herausforderungen gestellt. Dabei steht nicht mehr das Ei­ gentum von Fähigkeiten und Ressourcen im Vordergrund, sondern vielmehr deren Kontrollmöglichkeiten sowie deren optimale Nutzung, unbeachtet ob diese intern her­ gestellt oder extern bezogen werden. Mit der Festlegung von Beschaffungsstrategien werden die grundsätzliche Ausrichtung der Beschaffung im Unternehmen bestimmt sowie die Unternehmens- und Wettbewerbsstrategie bezüglich des Versorgungspro­ zesses konkretisiert. Zukunftsweisende Unternehmungen gestalten ihre Wertschöp­ fungsketten elastischer und ihre Organisation flexibler, indem ihre Beschaffungsstra­ tegien als Kombination von verschiedenen Sourcing-Strategien festgelegt werden. Ge­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-028

Sourcing-Strategien

Central Decentral

|

503

Local/Regional

Zentralisierungsgrad

Beschaffungsareal

International

Hybrid

Global

Internal

Demand tailored

Stock External

Leistungserbringung Leistungserbringung

Beschaffungszeit

Just-in-Time/ Just-inSequence

Sourcing-Strategien

Unit Manual Electronic

Technologie Technologie

Beschaffungsobjekt

Modular System

Sole Single

Lieferantenanzahl

Individual

Beschaffungssubjekt

Parallel

Cooperative

Double/Dual Multiple

Abb. 1: Dimensionen für Sourcing-Strategien.

genwärtig stellen sich Unternehmungen nicht mehr die Frage, ob eine Aktivität extern vergeben werden sollte oder nicht, vielmehr ist die Frage, wie eine Aktivität innerhalb der Wertschöpfungskette bezogen werden soll, von höchster strategischer Relevanz. Als wesentliche Betrachtungsfelder der Sourcing-Strategien können die in Abbil­ dung 1 dargestellten Dimensionen unterschieden werden. Dabei kann eine Beschaffungsstrategie durch differierende Ausprägungsmöglich­ keiten der einzelnen Dimensionen charakterisiert werden, die sowohl vom Beschaf­ fungsmaterial als auch von der Wettbewerbssituation des betrachteten Unternehmens abhängen. Diesbezüglich weisen die einzelnen Sourcing-Strategien unterschiedliche Potenziale auf, die im Folgenden ausführlich betrachtet werden.

2 Analyse der einzelnen Strategiedimensionen 2.1 Lieferantenanzahl Da Sourcing eine Nutzung von außerhalb des Unternehmens liegender Quellen impli­ ziert, kommt der Lieferantendimension im Sinne der Übertragung der Verantwortung bezüglich der Materialbeschaffung eine hohe Bedeutung zu. Folgt man der Anzahl der Beschaffungsquellen, dann können als Varianten Sole, Single, Parallel, Double/Dual und Multiple Sourcing unterschieden werden (vgl. Konrad 2005, S. 126 ff.): a) Sole Sourcing: Monopolistische Anbietersituationen erfordern ein Sole Sourc­ ing. Bei diesem Einquellenbezug wird der gesamte Bedarf unfreiwillig auf einen Lie­ feranten pro Materialart gebündelt. Folglich handelt es sich hierbei um „erzwungenes Single Sourcing“, welches in der Praxis häufig bei Verknappungen von Ressourcen, im

504 | Rainer Lasch

Zusammenhang mit einem Verdrängungswettbewerb, bei staatlichen Regulierungs­ maßnahmen oder bei exklusiven Nutzungsrechten auftritt. Die mit Sole Sourcing resultierende Abhängigkeit vom monopolistischen Anbieter kann durch den Abschluss langfristiger Rahmenverträge mit einer Preisfestsetzung, durch die Suche nach Substitutionsprodukten oder durch die Entwicklung neuer Lie­ feranten reduziert werden. In Tabelle 1 sind Vor- und Nachteile von Sole Sourcing auf­ geführt. Tab. 1: Vor- und Nachteile von Sole Sourcing. + Senkung der Beschaffungs-/Transaktions-/ Transportkosten + Einfache Beherrschbarkeit der Material­ ströme + Sicherstellung gleichmäßiger Qualität

– Sehr hohe Abhängigkeit von monopolisti­ schem Lieferanten

b) Single Sourcing: Beim Single Sourcing konzentriert sich der Bezug einer Mate­ rialart freiwillig auf eine einzige Bezugsquelle, obwohl mehrere alternative Lieferan­ ten existieren. Single Sourcing zeichnet sich durch eine intensive partnerschaftliche Win-Win-Beziehung, durch ein enges Vertrauensverhältnis sowie durch gemeinsame Investitionen und durch eine aufeinander abgestimmte materialfluss- und datentech­ nische Infrastruktur aus. Die mit Single Sourcing verbundene Reduktion der Anzahl der Lieferanten empfiehlt sich dann, wenn komplexe Produkte mit langen Produkt­ entwicklungszyklen Just-in-Time oder Just-in-Sequence bezogen werden. Die Vor- und Nachteile dieser Beschaffungsstrategie lassen sich folgender Tabelle entnehmen. Tab. 2: Vor- und Nachteile von Single Sourcing. + Senkung der Beschaffungs-/Transaktions-/ Transportkosten + Einfache und transparente Beherrschbarkeit der Materialströme + Sicherstellung gleichmäßiger Qualität + Enge Kooperation

– Streikanfälligkeit – Wegfall des Wettbewerbs unter Zulieferern – Vernachlässigung der technologischen Ent­ wicklung – Schwierigkeiten beim Lieferantenwechsel – Preisgabe von Know-how

c) Parallel Sourcing: Eine Kombination von Kooperations- und Wettbewerbsvor­ teilen stellt das Parallel Sourcing dar. Dabei wird der Bedarf einer Materialart ent­ weder produktionsstandort- oder produktmodellspezifisch von jeweils einer Bezugs­ quelle bezogen, so dass die Abhängigkeit von nur einem Lieferanten reduziert wird. Beispielsweise bezieht ein Unternehmen mit einer Niederlassung in Hamburg und München den Bedarf derselben Materialart jeweils per Single Sourcing. Beim Ausfall eines dieser beiden Lieferanten kann auf den anderen Lieferanten ausgewichen und

Sourcing-Strategien

| 505

somit die Versorgung gewährleistet werden. Ein Nachteil besteht in der nur bedingten Realisierung von mengenbedingten Skaleneffekten. d) Double/Dual Sourcing: Als Double oder Dual Sourcing bezeichnet man einen freiwilligen Zweiquellenbezug pro Materialart, um den Wettbewerb zu fördern. Da­ bei wird zur Streuung von Risiken und somit zur Erhöhung der Versorgungssicherheit der Bedarf einer Materialart von zwei Lieferanten bezogen. Beim Double Sourcing wird das Bestellvolumen in fixe oder variable Anteile zwischen den beiden Lieferanten auf­ geteilt. Dagegen erfolgt beim Dual Sourcing eine anteilige Aufteilung des Bestellvolu­ mens in drei Anteile, wobei zwei Anteile fest und der dritte Anteil wettbewerbsindu­ ziert vergeben werden. Die Abhängigkeit gegenüber dem Single Sourcing wird durch diese Strategie reduziert (vgl. Tabelle 3). Tab. 3: Vor- und Nachteile von Double/Dual Sourcing. + Erhöhung der Versorgungssicherheit + Förderung des Zuliefererwettbewerbs + Senkung der Beschaffungs-/Transaktions-/ Transportkosten + Einfache und transparente Beherrschbarkeit der Materialströme

– Mittlere Flexibilität – Beidseitige Lieferantenabhängigkeit – Know-how-Transfer

e) Multiple Sourcing: Wird der gesamte Bedarf einer Materialart auf mehrere Lie­ feranten aufgeteilt, so spricht man von Order Splitting beziehungsweise Multiple Sourcing. Dabei erfolgt die Lieferantenauswahl auf Basis feststehender Beschaf­ fungsobjektanforderungen in der Regel über den günstigsten Preis. Eine solche Mehr­ quellenversorgung sichert die Versorgung und ermöglicht die Nutzung wechselnder Marktbedingungen. Die Beziehung zwischen Lieferant und abnehmendem Unter­ nehmen ist einmalig und nicht intensiv, so dass sie nach dem Prinzip der Seltenheit (Spotmarktbeziehung) erfolgt. Tab. 4: Vor- und Nachteile von Multiple Sourcing. + + + +

Hohe Lieferantenunabhängigkeit Hohe Versorgungssicherheit Intensiver Wettbewerb Hohe Flexibilität hinsichtlich Beschaffungs­ mengen

– Hohe administrative Kosten – Hohe Beschaffungskosten – Geringe Skaleneffekte wegen fehlender Bündelung

Diese Beschaffungsstrategie eignet sich für standardisierte Produkte mit geringem Er­ klärungsbedarf und geringem Versorgungsrisiko. Eine kritische Betrachtung von Mul­ tiple Sourcing zeigt eine spiegelbildliche Betrachtung der Vor- und Nachteile zum Sin­ gle Sourcing (vgl. Tabelle 4).

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2.2 Beschaffungsobjekt Gegenwärtig werden Unternehmungen mit steigenden Produktkomplexitäten, erhöh­ tem F&E Aufwand sowie mit Forderungen nach kürzeren Entwicklungszeiten sowie schnelleren Produktionseinführungen konfrontiert. Um diesen Anforderungen im in­ ternationalen Wettbewerb gerecht zu werden, tendieren die Unternehmungen zu einer Verringerung der Fertigungstiefe und somit zu einer Konzentration im Entwicklungs­ bereich auf eigene Kernkompetenzen. Dabei werden nicht mehr nur einzelne Teile be­ schafft, vielmehr wird eine Ausbildung von Entwicklungspartnerschaften zu Lieferan­ ten angestrebt, um eine Modul- oder Systembeschaffung zu realisieren. Der Lieferant wird dabei vom Abnehmer gezielt in die eigene Wertschöpfungskurve eingebunden, so dass sich gemäß der Wertschöpfungstiefe die Sourcing Strategien Unit, Modular und System Sourcing unterscheiden lassen (vgl. Arnold 2007, S. 24 f.): a) Unit Sourcing: Im Rahmen von Unit Sourcing werden in der Regel Rohstoffe oder Vorprodukte mit geringer Komplexität beschafft. Das abnehmende Unterneh­ men weist eine hohe Fertigungstiefe und eine hohe Anzahl an Lieferanten auf. Dabei kommt es zu einer separaten Beschaffung von sämtlichen Rohstoffen oder Einzeltei­ len, die anschließend vom Abnehmer zu einem Endprodukt verarbeitet werden. Die mit dieser Strategie verbundenen Vor- und Nachteile können der Tabelle 5 entnom­ men werden: Tab. 5: Vor- und Nachteile von Unit Sourcing. + Sicherstellung relativer Lieferantenunabhän­ gigkeit durch Substituierbarkeit + Vermeidung des Know-how-Transfers + Minimale Abstimmungs-/Integrationskosten + Vereinfachte Leistungsvergleichbarkeit + Hohe Markttransparenz

– – – –

Hoher Koordinationsaufwand Hohe Anzahl von Beschaffungsvorgängen Hohe Beschaffungskosten Hohe Montagekomplexität

b) Modular Sourcing: Zur Reduzierung der Schnittstellenanzahl zwischen Liefe­ rant und Hersteller und zur Integration von Montageleistungen eignet sich das Modu­ lar Sourcing. Die Ausrichtung des Beschaffungsprozesses auf Module, d. h. auf ferti­ gungstechnische Einheiten, reduziert beim Abnehmer sowohl die Beschaffungskom­ plexität als auch die Anzahl der Lieferbeziehungen (vgl. Abbildung 2). Durch Modular Sourcing reduziert sich signifikant der zeitliche und finanzielle Aufwand der Unter­ nehmung für die Disposition sowie den Aufbau, die Pflege und die Koordination der Lieferantenbeziehungen. Dabei erfolgt die Bündelung und Koordination der Materialflüsse selbstständig vom Modullieferanten. Ein enges, partnerschaftliches und längerfristiges Verhältnis zwischen Abnehmer und Lieferant ist hierfür eine notwendige Voraussetzung. Modu­ lar Sourcing ist durch die in Tabelle 6 angegebenen Vor- und Nachteile gekennzeich­ net.

Sourcing-Strategien

| 507

Traditionelle Beschaffungsstruktur Lieferant 1 Hersteller

Lieferant 2 Lieferant 3 Lieferant 4 Lieferant 5

Modular Sourcing Lieferant 1 Lieferant 2 Lieferant 3

Lieferant 5

Hersteller

Modullieferant 4

Abb. 2: Modular Sourcing. Tab. 6: Vor- und Nachteile von Modular Sourcing. + Senkung der Kosten durch Spezialisierungs­ effekte + Reduktion interner Komplexität + Senkung der Administrations-/ Abstimmungskosten + Senkung der Kosten der Qualitätskontrolle + Hohe Qualitätsstandards der Beschaffungs­ objekte + Lieferantenbindung durch Spezifität + Senkung der Entwicklungskosten/-zeiten

– Hohe Lieferantenabhängigkeit – Verlustgefahr von Kernkompetenzen/ Fertigungs-Know-how – Schwierigkeiten beim Lieferantenwechsel

c) System Sourcing: Das Modular Sourcing kann zu einem System Sourcing erwei­ tert werden, wenn die Integration des Lieferanten bereits in der Produktentwicklung erfolgt. Im Gegensatz zum Modul als fertigungstechnische Einheit stellt ein System primär eine funktionale, entwicklungstechnische Einheit dar, wobei mehrere Module zusammen ein System bilden können. Dabei übernimmt der Systemlieferant die Ver­ antwortung für Forschung und Entwicklung, Einkauf, Logistik, Industrial Enginee­ ring oder Qualitätssicherung. Nach Fixierung der Kundenanforderungen im Lastenund Pflichtenheft bündelt dieser eine Vielzahl unterschiedlicher Aktivitäten für die Unternehmung. Somit ergeben sich verschiedene Vor- und Nachteile (vgl. Tabelle 7).

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Tab. 7: Vor- und Nachteile von System Sourcing. + Senkung der Entwicklungskosten + Senkung der Entwicklungszeiten durch Parallelisierung

– Erhöhung von Komplexität und Umfang der Objekte

2.3 Beschaffungszeit Mit der Beschaffungszeit wird bei der Bereitstellung der für die Fertigung bezie­ hungsweise Montage benötigten Materialien auf die Höhe der Lagerbestände Ein­ fluss genommen. Während bei der fallweisen und bei der produktionssynchronen Beschaffung weitgehend keine Lagerhaltung stattfindet, wird bei der Vorratsbeschaf­ fung bewusst eine hohe Versorgungssicherheit durch eine Lagerung verfolgt (vgl. Arnold/Eßig 2000, S. 126 f.). Dabei erfolgt die Auswahl unterschiedlicher Beschaf­ fungszeiten unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Klassifikation der Materialien mit der kombinierten ABC/XYZ-Analyse (vgl. Tabelle 8). Tab. 8: Kombinierte ABC/XYZ-Analyse (vgl. Lasch 2017, S. 78).

X

Y

Z

A – Hoher Wert, stetiger Verbrauch – Programmgesteuerte Disposition – Kein/geringer Sicherheitsbestand – Produktionssynchrone Beschaffung – Hoher Wert, schwankender Verbrauch – Programmgesteuerte Disposition – Geringer Sicherheitsbestand – Produktionssynchrone Beschaffung – Hoher Wert, sporadischer Verbrauch – Personelle Disposition – Mittlerer Sicherheitsbestand – Schnelle Abrufbarkeit beim Lieferanten sichern (z. B. Konsignationslager)

B – Mittlerer Wert, stetiger Verbrauch – Programm-/ verbrauchsgesteuerte Disposition – Geringer Sicherheitsbestand – Produktionssynchrone Beschaffung – Mittlerer Wert, schwankender Verbrauch – Programm-/ verbrauchsgesteuerte Disposition – Mittlerer Sicherheitsbestand – Bestandsbezogene Beschaffung – Mittlerer Wert, sporadischer Verbrauch – Programmgesteuerte/ personelle Disposition – Hoher Sicherheitsbestand – Vorratsbeschaffung

C – Geringer Wert, stetiger Verbrauch – Verbrauchsgesteuerte Disposition – Mittlerer Sicherheitsbestand – Autom. Beschaffung zu festen Zeitpunkten u. Mengen – Geringer Wert, schwankender Verbrauch – Verbrauchsgesteuerte Disposition – Mittlerer/hoher Sicherheitsbestand – Vorratsbeschaffung

– Geringer Wert, sporadischer Verbrauch – Programm-/ verbrauchsgesteuerte Disposition – Hoher Sicherheitsbestand – Vorratsbeschaffung

Sourcing-Strategien

|

509

a) Vorratsbeschaffung (Stock Sourcing): Bei der Vorratsbeschaffung wird die Ver­ sorgung der Produktion mit Hilfe von Lagerbeständen sichergestellt, so dass die Unabhängigkeit der Beschaffung von der Produktion gewährleistet und flexibel auf Bedarfsschwankungen auf Nachfragemärkten reagiert werden kann. Hinsichtlich ho­ her Kapital- und Lagerhaltungskosten eignet sich diese Beschaffungsstrategie nur für Güter mit geringer Wertigkeit (C-Teile) oder für Güter mit einem hohen Versor­ gungsrisiko. Gemäß der Kombination von ABC- und XYZ-Analyse eignet sich die Vor­ ratsbeschaffung für die Kombinationen CZ, CY und BZ, wobei die in der Tabelle 9 angegebenen Vor- und Nachteile zu beachten sind. Tab. 9: Vor- und Nachteile von Stock Sourcing. + Hohe Versorgungssicherheit + Hohe Materialverfügbarkeit + Senkung der Fertigungskosten durch optima­ le Produktionslose + Ausnutzung günstiger Konditionen/Preise/ Kurse

– – – –

Hohe Kapitalbindung Hohe Zins-/Lagerhaltungskosten Hoher Bedarf an Raum/Flächen/Personal Hohe Schwundgefahr

b) Fallweise Beschaffung (Demand Tailored Sourcing): Werden die benötigten Materialien erst dann beschafft, wenn dem Unternehmen ein entsprechender Auf­ trag vorliegt, dann erfolgt eine fallweise Beschaffung. Das von den Lieferanten an­ gelieferte Material wird nach erfolgter Qualitätskontrolle in der Regel sofort in die Fertigung beziehungsweise Montage transportiert. Die fallweise Beschaffung bietet sich für schlecht prognostizierbare Bedarfe (z. B. die Kombination AZ) sowie bei der Leistungserstellung in Einzelfertigung an. Um die Versorgung der Fertigung nicht zu gefährden, sind hohe Anforderungen an die Termin-, Mengen- und Qualitätseinhal­ tung der Lieferanten zu stellen. Mit der fallweisen Beschaffung sind folgende Vor- und Nachteile verbunden: Tab. 10: Vor- und Nachteile von Demand Tailored Sourcing. + Keine Kapitalbindung + Keine Zins-/Lagerhaltungskosten

– Hohes Risiko hinsichtlich Termin-/ Mengentreue und Qualitätseinhaltungen – Hohe Beschaffungskosten – Schlechte Konditionen

c) Produktionssynchrone Beschaffung: Im Rahmen der produktionssynchronen Beschaffung wird mit den Lieferanten eine Vereinbarung über einen längeren Zeit­ raum getroffen. Somit wird ein gut prognostizierbarer Bedarf vorausgesetzt (z. B. die Kombination AX, AY beziehungsweise BX), so dass eine synchron mit der Fertigung abgestimmte Beschaffung an die Produktion erfolgt. Zwischen dem Abnehmer und

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dem Lieferanten wird ein Rahmenvertrag abgeschlossen, der die jährliche Abnah­ memenge über einen längeren Zeitraum fixiert. Des Weiteren erfolgt eine Bedarfs­ vorausschau für die nächsten ein bis zwei Jahre, die im Rahmen einer rollierenden Planung halbjährlich aktualisiert wird. Eine Qualitätskontrolle durch das abnehmen­ de Unternehmen wird nicht vorgenommen und eine Lagerhaltung findet nur in Form von Übergangslagern statt. Notwendige Voraussetzungen der produktionssynchro­ nen Beschaffung sind aufeinander abgestimmte Informations- und Planungssysteme zwischen Abnehmer und Lieferant, intensive Qualitätssicherungsmaßnahmen zur Sicherstellung einwandfreier Qualität, kurze Lieferzeiten und ein hoher Lieferbereit­ schaftsgrad des Lieferanten. Tab. 11: Vor- und Nachteile der produktionssynchronen Beschaffung. + Senkung der Bestands-/Lager-/ Handlingskosten + Geringe Kapitalbindung + Aufbau einer Vertrauensbasis zwischen Lie­ feranten und Abnehmer

– Hohe Lieferantenabhängigkeit – Hohe Transportkosten durch erhöhte Anzahl an Lieferungen – Hohe ökologische Belastungen durch hohe Lieferfrequenz – Hohes Versorgungsrisiko bei mangelnder Qualität, Termin- beziehungsweise Mengen­ treue

Eine produktionssynchrone Beschaffung kann Just-in-Time (JiT) oder Just-in-Sequence (JiS) erfolgen. Bei JiT und JiS erfolgt jeweils eine zeit- und mengengenaue Anlieferung der benötigten Materialien. Als Erweiterung zum JiT erfolgt bei JiS noch zusätzlich eine sequenzgenaue Anlieferung, so dass die Materialien in der Produktionsreihen­ folge des Abnehmers angeliefert werden und zusätzlicher Handlingsaufwand entfällt. Somit ergeben sich mit der produktionssynchronen Beschaffung verschiedene Vorund Nachteile (vgl. Tabelle 11).

2.4 Beschaffungssubjekt Das Merkmal Beschaffungssubjekt gibt Aufschluss über die Struktur der Beschaf­ fungsorganisation beziehungsweise den Kooperationsgrad. Die Organisation der Beschaffung kann entweder individuell an die Anforderungen des Abnehmers (In­ dividual Sourcing) angepasst oder unternehmensübergreifend abgestimmt innerhalb einer Kooperation von Nachfragern (Cooperative Sourcing) organisiert sein (vgl. Ar­ nold/Eßig 2000, S. 127): a) Individual Sourcing: Die individuelle Beschaffung impliziert eine abnehmerori­ entierte Organisation der Beschaffung unabhängig von anderen Unternehmen. Diese Organisationsform stellt in der Praxis den Regelfall dar und ist mit folgenden Vor- und Nachteilen verbunden:

Sourcing-Strategien

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Tab. 12: Vor- und Nachteile von Individual Sourcing. + Hohe Unabhängigkeit + Enger Lieferantenkontakt

– Hohe Kosten durch Verlust von Skaleneffek­ ten – Hoher Beschaffungsaufwand hinsichtlich großer Beschaffungsfrequenz

b) Cooperative Sourcing: Bei der Beschaffungskooperation sind unternehmens­ übergreifende Abstimmungen zwischen den rechtlich selbstständigen Kooperations­ partnern notwendig. Verschiedene Intensitäten einer Zusammenarbeit können über einen losen Zusammenschluss bis hin zur Gründung einer Einkaufsgesellschaft reali­ siert werden. Aus strategischer Sicht ist es wichtig, dass für alle Kooperationspartner langfristige Wettbewerbsvorteile realisiert werden können. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Beschaffungsabteilungen ermöglicht neben Vorteilen hinsichtlich der Preis- und Prozesskosten auch Volumenvorteile durch Beschaffungsbündelung (vgl. Tabelle 13). In der Praxis weisen meist Handelsunternehmen solche Kooperationen auf. Tab. 13: Vor- und Nachteile von Cooperative Sourcing. + + + + +

Kostenvorteile durch Bedarfsbündelung Besserer Zugang zu Beschaffungsmärkten Stärkung der Verhandlungsmacht Schnellere Beschaffung Geringerer Beschaffungsaufwand

– Komplexe Auswahl geeigneter Kooperati­ onspartner mit gemeinsamer Zielsetzung

2.5 Beschaffungsareal Die Planung, Kontrolle und Analyse der auf die potenziellen Beschaffungsmärkte ausgerichteten Unternehmensaktivitäten wird immer bedeutender. Obwohl formale Prinzipen dafür in jedem Land gültig sind, treffen Unternehmen häufig auf verschie­ dene Umwelten hinsichtlich Sprache, Rechtsform, Währung etc., die eine qualitative Anpassung der Beschaffungsmarktkonzeptionen erfordern. Dabei beeinflusst die Ausdehnung des Marktraums weitestgehend die Gestaltung der Transportprozesse, so dass Local/Regional, International und Global Sourcing unterschieden werden können (vgl. Arnold 2007, S. 29 f.; Konrad 2005, S. 128): a) Local/Regional Sourcing: Im Rahmen von Local/Regional Sourcing erfolgt die Beschaffung von Waren und Dienstleistungen bei lokal beziehungsweise regional an­ sässigen Lieferanten des Unternehmens. Diese Beschaffungsstrategie findet verstärkt für hochwertige Beschaffungsobjekte Anwendung, die für die Produktion unentbehr­ lich sind.

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Tab. 14: Vor- und Nachteile von Local/Regional Sourcing. + Hohe Versorgungssicherheit + Senkung der Transportkosten durch räumli­ che Nähe + Senkung der Wiederbeschaffungszeit + Reduktion der Bestands- und Kapitalkosten + Senkung der Administrationskosten durch räumlich-organisatorisch enge Lieferanten­ bindung

– – – –

Fehlender internationaler Marktpreisbezug Hohe Einkaufspreise Schlechte Wettbewerbssituation Eventuell zu geringe Kapazitäten lokaler Lieferanten

Da sich die Lieferanten in lokaler beziehungsweise regionaler Nähe zum Abnehmer befinden, können die Beschaffungsobjekte Just-in-Time oder Just-in-Sequence abgeru­ fen werden. Insgesamt ergeben sich durch Local beziehungsweise Regional Sourcing die Vor- und Nachteile in Tabelle 14. b) International Sourcing: Die Einbeziehung internationaler Beschaffungsmärkte erfordert neben einer Vervielfältigung der im Binnenmarkt realisierten Beschaffungs­ aktivitäten auch eine methodisch umfassende und organisatorisch konsequente Um­ stellung des Beschaffungsprozesses. Dies erfordert eine umfassende Sichtweise, die landesspezifisches und länderübergreifendes Denken und Handeln sowie die Vielfalt von Varianten zur Erschließung von internationalen Beschaffungsmärkten berück­ sichtigen. Beim International Sourcing erfolgt eine Beschränkung der Beschaffungs­ aktivitäten auf einen relativ homogenen Wirtschaftsraum, wie z. B. der Europäische Wirtschaftsraum, so dass folgende Vor- und Nachteile resultieren: Tab. 15: Vor- und Nachteile von International Sourcing. + Senkung der Transportzeiten durch Wegfall der Zollabwicklung + Einheitliche rechtliche Rahmenbedingungen

– Beschränkung der Beschaffungsmarktaktivi­ täten auf einen Wirtschaftsraum

c) Global Sourcing: Bei Global Sourcing erfolgt keine Beschränkung auf einen relativ homogenen Beschaffungsmarkt, sondern eine Ausweitung der strategischen Aufgaben der Beschaffung auf den globalen Beschaffungsmarkt unter strategischer Ausrichtung. Um die Risiken auf den globalen Beschaffungsmärkten zu begrenzen, müssen mikro- und makroökonomische Analysen und Bewertungen durchgeführt werden. Dazu zählen z. B. eine intensive Marktforschung, die Handels- und Rechts­ sicherheit sowie die politische Stabilität des globalen Zuliefererlands, eine gute in­ terkulturelle Kompetenz der Beschaffungsmitarbeiter sowie eine entsprechende da­ tentechnische und logistische Infrastruktur. In der Tabelle 16 werden die Vor- und Nachteile von Global Sourcing zusammengefasst.

Sourcing-Strategien

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Tab. 16: Vor- und Nachteile von Global Sourcing. + Senkung der Beschaffungsobjektkosten durch Preisdifferenzen + Senkung des Versorgungsrisikos + Generierung zusätzlicher Umsätze durch globale Unternehmenspräsenz + Hohe Markttransparenz bezüglich der Tech­ nologiezufuhr + Schaffung neuer Arbeitsmärkte durch Kon­ takte im Rahmen der Beschaffungsaktivitäten + Zugang zu im Inland knappen oder seltenen Gütern + Senkung der Abhängigkeit zu inländischen Lieferanten + Erfüllung von Local-Content-Anforderungen

Transportrisiken Zollprobleme Hohe bürokratische Hürden Hohe Kosten durch Wechselkurs­ schwankungen – Qualitätsprobleme – Anderes Rechtssystem – Politische und wirtschaftliche Instabilität – – – –

2.6 Technologie Im Mittelpunkt des Merkmals Beschaffungstechnologie steht die Frage, ob die Be­ schaffung von Gütern und Dienstleistungen mit Hilfe moderner Informations- und Kommunikationstechnologien erfolgt. Findet eine Nutzung von webbasierten Marktund Austauschsystemen statt, so spricht man von Electronic Sourcing, andernfalls von Manual Sourcing (vgl. Arnold 2007, S. 32 f.). Tab. 17: Vor- und Nachteile von Electronic Sourcing. + Entlastung von operativen/administrativen Aufgaben + Senkung der Prozesskosten + Erhöhung der Prozesstransparenz + Bessere Prozessstabilität + Senkung repetitiver Aufgaben durch Automa­ tisierung + Senkung des Kontrollbedarfs + Reduzierung von Redundanzen + Senkung des Einstandspreises + Konzentration auf strategische Beschaf­ fungsaufgaben

– Hoher Implementierungsaufwand – Hohe Sicherheitsprobleme hinsichtlich Da­ tenschutz – Hohe Kosten für Schulungsmaßnahmen – Organisatorische Probleme

Der Einsatz von Tools zur IT-seitigen Unterstützung von Beschaffungsaufgaben kann z. B. mit Electronic Procurement realisiert werden, d. h. mit dem Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien, die mit dem Internet in Verbin­ dung stehen und die Beziehungen und Prozesse eines Unternehmens zu seinen

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Lieferanten unterstützen. E-Procurement-Systeme lassen sich in E-Katalog-basier­ te Beschaffungssysteme, Order-to-Pay-Systeme, E-Ausschreibungssysteme (E-Tende­ ring), E-Auktionssysteme, E-Supplier-Relationship-Management-Systeme und E-Col­ laboration-Systeme unterteilen. Durch E-Procurement können nicht nur die Lieferan­ tenauswahl beschleunigt, sondern Bestellvorgänge auch vollständig automatisiert werden. Darüber hinaus lassen sich die Prozesszeiten und Transaktionskosten sowie die Personalkapazitäten reduzieren (vgl. Tabelle 17).

2.7 Ort der Leistungserbringung Das Beschaffungsmerkmal Wertschöpfungsort impliziert unterschiedliche Ausprä­ gungen des Integrationsgrades des Lieferanten in die Fertigung des Abnehmers. Dabei kann zwischen dem traditionellen External Sourcing und der beschaffungs­ seitigen Integration des Lieferanten im Rahmen des Internal Sourcing unterschieden werden (vgl. Arnold 2007, S. 30 ff.): a) External Sourcing: Beim External Sourcing wird von der traditionellen Struktur der räumlichen Trennung zwischen Lieferant und Abnehmer ausgegangen, d. h. der Produktionsort des Lieferanten und Bedarfsort des Abnehmers sind nicht identisch. Der Zulieferer beliefert seine Abnehmer vom eigenen Standort und erbringt somit die Wertschöpfung in seinen eigenen Produktionsstätten. Somit ergeben sich die folgen­ den Vor- und Nachteile: Tab. 18: Vor- und Nachteile von External Sourcing. + Hohe Unabhängigkeit

– Hoher Transportaufwand – Hohe Transportkosten und -risiken – Längere Beschaffungszeiten

b) Internal Sourcing: Beim Internal Sourcing wird die Wertschöpfung des Zu­ lieferers auf das Areal des Abnehmers verlagert, so dass eine beschaffungsseitige Integration zwischen Lieferant und Hauptabnehmer erfolgt. Dadurch kann eine op­ timale Abstimmung von Produktions- und Logistikaktivitäten sowie eine sehr enge Kopplung von Material-, Waren- und Informationsflüssen realisiert werden. Internal Sourcing kann durch unterschiedliche Ausprägungsformen realisiert werden. Beim Factory-within-a-factory-Konzept erfolgt eine Verlagerung der Produktionsprozesse des Lieferanten in die Räumlichkeiten des Abnehmers, wobei die für die Leistungs­ erbringung benötigten Mitarbeiter beim Lieferanten angestellt und die benötigten Betriebsmittel Eigentum des Lieferanten sind. Durch diese sehr enge Integration zwi­ schen Lieferant und Abnehmer lassen sich Transaktions-, Transport-, Umschlagsund Lagerkosten deutlich reduzieren. Der höchste Grad der Integration wird erreicht, wenn der Lieferant neben der Fertigung des Bedarfsobjekts auch noch für dessen

Sourcing-Strategien

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Montage in das Endprodukt verantwortlich ist, so dass sich der Abnehmer auf Koor­ dinationsleistungen beschränkt. In der Praxis erfolgt insbesondere in der Automobilindustrie oftmals eine An­ siedlung von Lieferanten in Werksnähe des Abnehmers in Form von sogenannten Industrieparks, um eine hohe Versorgung von besonders hochwertigen Beschaf­ fungsobjekten zu gewährleisten. Industrieparks liefern die Infrastruktur dafür, dass mindestens die Lieferanten der ersten Stufe (First tier supplier) in direkter Umge­ bung eines Abnehmers produzieren können. Um die räumliche Nähe zu Second tier suppliern zu ermöglichen, haben First tier supplier auch eigene Industrieparks für ihre Lieferanten geschaffen. Mit dem Internal Sourcing sind die folgenden Vor- und Nachteile verbunden: Tab. 19: Vor- und Nachteile von Internal Sourcing. + Optimale Abstimmung der Produktions- und Logistikaktivitäten + Hohe Leistungskoordination + Senkung der Transaktions-/Transport-/ Umschlags-/Lagerkosten + Übertragung der Wertschöpfung und der Transaktionskosten auf Lieferanten

– Hohe gegenseitige Abhängigkeit – Keine kurzfristigen Beziehungen möglich

2.8 Zentralisierungsgrad Eine wichtige Gestaltungsdimension der Beschaffungsorganisation im Unternehmen bildet der Zentralisierungsgrad, so dass sich Beschaffungsentscheidungen zentral (Central Sourcing), dezentral (Decentral Sourcing) oder hybrid (Hybrid Sourcing) realisieren lassen (vgl. Large 2013, S. 266 ff.; Leenders et al. 2006, S. 37): a) Central Sourcing: Bei der zentralen Beschaffung existiert im Unternehmen eine Organisationseinheit, die für strategische und operative Beschaffungsaufgaben zu­ ständig ist. Neben der Nutzung von Synergiepotenzialen können Bündelungspoten­ ziale durch eine Beschaffungsmarktorientierung realisiert werden. Insgesamt ergeben sich durch eine zentrale Beschaffung die folgenden Vor- und Nachteile: Tab. 20: Vor- und Nachteile von Central Sourcing. + Klare Verantwortlichkeiten + Einheitliche Beschaffungsprozesse + Bereichs- beziehungsweise standortübergrei­ fende Bündelungseffekte + Standardisierung des Beschaffungsprozesses + Senkung der Personalressourcen + Ausgleich von Bedarfsschwankungen

– Hohe Distanz zwischen Einkäufer und Anwender – Verlangsamung der Entscheidungswege – Senkung der Flexibilität bezüglich individueller, standortbezogener Bedarfe – Zielkonflikte mit dezentralen Einheiten

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b) Decentral Sourcing: Bei einer dezentralen Beschaffung verfügt jeder Geschäfts­ bereich über eine eigene Beschaffungsabteilung und somit über eigene Beschaffungs­ verantwortlichkeiten. Durch eine Dezentralisierung kann eine direkte Kommunikation zwischen Lieferant und Anwender realisiert werden und somit können Beschaffungs­ entscheide durch Nutzung des dezentralen Know-hows flexibler und schneller erfol­ gen. Die folgende Tabelle fasst die Vor- und Nachteile der dezentralen Beschaffung zusammen: Tab. 21: Vor- und Nachteile von Decentral Sourcing. + + + +

Effektive Problemlösung Bessere Know-how-Nutzung Schnellere Entscheidungsprozesse Hohe Flexibilität hinsichtlich Veränderungen

– – – – –

Unklare Verantwortlichkeiten Risiko einer unkoordinierten Beschaffung Hohe Lieferantenanzahl Verlust von Skaleneffekten Hohe Transaktionskosten

c) Hybrid Sourcing: Im Rahmen eines Hybrid Sourcing erfolgt eine Kompensation der Vorteile aus dezentralen und zentralen Beschaffungsorganisationen, um dadurch deren Nachteile größtenteils zu eliminieren. Bei hybriden Strukturen werden Rahmen­ verträge mit einzelnen Lieferanten zentral für das gesamte Unternehmen abgeschlos­ sen. Da die konkreten Beschaffungsmengen jedoch von den jeweiligen Bereichen oder Standorten festgelegt werden, erfolgt eine Kombination von lokaler Kompetenz mit ei­ ner übergeordneten Koordination.

3 Beispiele zur Kombination von Strategiedimensionen Durch die für den jeweiligen Zweck geeignete Kombination der vorgestellten acht Di­ mensionen ergeben sich konkrete Sourcing-Strategien für das Unternehmen. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass sich einige Kombinationsmöglichkeiten wie z. B. Internal und Global Sourcing sofort ausschließen. Eine Geschäftseinheit eines Unternehmens bestellt eine hochwertige, komple­ xe, individuelle und umfangreiche Baugruppe von einem einzigen strategischen Lieferanten aus der Region, die nach der Anlieferung sofort in der Montage wei­ terverarbeitet wird. Somit handelt es sich bei den Dimensionen Beschaffungsareal, Lieferantenanzahl und Ort der Leistungserbringung um Local, Single und External Sourcing. Bezüglich der Dimension Beschaffungsobjekt wird eine komplexe Baugrup­ pe beschafft, so dass System Sourcing vorliegt. Da die hochwertige Baugruppe von einem strategischen Lieferanten bezogen wird, eignet sich bezüglich der Technologie und Beschaffungszeit eine elektronische Beschaffung, die zur Vermeidung von hohen

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Lagerkosten die Beschaffungsobjekte Just-in-Time abruft. Die Geschäftseinheit be­ stellt eine individuelle und komplexe Baugruppe, so dass bezüglich der Dimensionen Zentralisierung und Beschaffungssubjekt die Kombination Decentral und Individual Sourcing vorliegt. Werden dagegen Standardteile bezogen und vom Unternehmen eingebaut, die sich durch einen geringen Wert und eine geringe Komplexität auszeichnen, dann eig­ net sich folgende Sourcing-Strategie: Multiple, Unit, Stock, Cooperative, Electronic, Global, External und Central Sourcing.

Literatur Arnold, U.: Strategisches Beschaffungsmanagement, in: Arnold, U.; Kasulke, G. (Hrsg.): Praxishand­ buch innovative Beschaffung, Weinheim 2007, S. 13–46. Arnold, U.; Eßig, M.: Sourcing-Konzepte als Grundelemente der Beschaffungsstrategie, in: Wirt­ schaftswissenschaftliches Studium, 29. Jg. (2000), S. 122–128. Gottfredson, M.; Puryear, R.; Phillips, S.: Strategic Sourcing from Periphery to the Core, in: Harvard Business Review, Vol. 83 (2005), pp. 132–139. Konrad, G.: Theorie, Anwendbarkeit und strategische Potenziale des Supply Chain Management, Wiesbaden 2005. Large, R.: Strategisches Beschaffungsmanagement. Eine praxisorientierte Einführung mit Fallstudi­ en, 5. Aufl., Wiesbaden 2013. Lasch, R.: Strategisches und operatives Logistikmanagement: Beschaffung, Wiesbaden 2017. Leenders, M.-R. et al.: Purchasing and Supply Management, 13th edn., New York City 2006.

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Lieferantenauswahl 1 2 3 3.1 3.2 3.3 4 5

Bedeutung der Lieferantenauswahl für das strategische Beschaffungsmanagement | 518 Objekte der strategischen Lieferantenauswahl | 520 Handlungen der strategischen Lieferantenauswahl | 524 Handlungen der Informationsversorgung | 524 Handlungen der Entscheidungsfindung | 527 Handlungen des Interessenausgleichs | 530 Handelnde der strategischen Lieferantenauswahl | 532 Ausblick | 534 Literatur | 535

Zusammenfassung. Aus strategischer Perspektive stellt die Lieferantenauswahl eine an den Erfolgspotenzialen orientierte Entscheidung über die Aufnahme und dauer­ hafte Einbindung eines Anbieters in die Lieferantenbasis dar. Entsprechend wird die strategische Lieferantenauswahl durch einen komplexen Prozess realisiert, an dem mehrere Handelnde mitwirken und dabei die einzelnen Handlungen der Informati­ onsversorgung, der Entscheidungsfindung und des Interessenausgleichs vollziehen. Neben den Theorien des organisationalen Beschaffungsverhaltens können sozialpsy­ chologische Theorien, beispielsweise der Reasoned Action Approach, einen Beitrag leisten, die Handlungen der beteiligten Akteure zu erklären.

1 Bedeutung der Lieferantenauswahl für das strategische Beschaffungsmanagement Die Beschaffung erfüllt in arbeitsteiligen Wirtschaften eine unverzichtbare Funktion für Unternehmen, denn ihr „obliegen alle Handlungen des Transfers und der Transak­ tion, um gemeinsam mit den Lieferanten die Verfügbarkeit der Beschaffungsobjekte für das beschaffende Unternehmen zu erreichen“ (Large 2013, S. 22). Entsprechend ist die Beschaffung durch Industrie-, Handels- und Dienstleistungsunternehmen ein allgegenwärtiges Phänomen einer Volkswirtschaft. Beschaffung ist jedoch mehr als nur das ausführende Verfügbarmachen von Sachgütern und Dienstleistungen. „Das Beschaffungsmanagement als spezieller auf die Beschaffung ausgerichteter Managementprozess umfasst alle Handlungen der Informationsversorgung, Planung und Steuerung, die darauf gerichtet sind, einer Unternehmung das benötigte Produktionsmaterial, die Betriebsstoffe, die Investi­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-029

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tionsgüter, die Dienstleistungen und die Handelswaren in geeigneter Form durch Transaktions- und Transferprozesse rechtlich und faktisch verfügbar zu machen“ (Large 2013, S. 28). Durch die strategische Ausrichtung dieser Managementhand­ lungen kann das Beschaffungsmanagement zudem einen strategischen Beitrag zum Aufbau von langfristigen Erfolgspotenzialen leisten. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn es Wissen zur Verfügung stellt, welches die Zukunft der Organisation bestimmt, wenn die Entwicklung von Innovationsfähigkeit auf Basis vorhandener Lieferantennetzwerke gelingt oder wenn einzigartige externe Ressourcen mobilisiert werden können (vgl. Tchokogué/Nollet/Robineau 2017, S. 110). Insbesondere die beiden letzten Punkte weisen auf die externen Erfolgspotentiale der Beschaffung hin (vgl. Large 2013, S. 38 ff.). Externe Erfolgspotenziale resultieren aus den strategischen Ressourcen jener Anbieter auf den Beschaffungsmärkten, die durch das beschaffende Unternehmen dauerhaft in ihr Wertschöpfungsnetzwerk ein­ gebunden werden. Damit erhält die Lieferantenbasis eines Unternehmens und deren Struktur besondere Bedeutung. Die Lieferantenbasis umfasst grundsätzlich alle Un­ ternehmen, von denen das Abnehmerunternehmen aktuell Sachgüter oder Dienstleis­ tungen beschafft (vgl. Large 2013, S. 110). Aus strategischer Sicht fällt dem Beschaffungsmanagement deshalb die Aufgabe zu, insbesondere solche Anbieter in die Lieferantenbasis aufzunehmen und dauer­ haft einzubinden, die über jene Ressourcen verfügen, welche externe Erfolgspoten­ tiale des beschaffenden Unternehmens begründen können. Die Zusammensetzung der Lieferantenbasis eines Unternehmens ist jedoch die Konsequenz von Lieferantenaus­ wahlprozessen in der Vergangenheit. Aus dieser Perspektive bedeutet die Aufgabe der Lieferantenauswahl weitaus mehr als lediglich eine Entscheidung, ein bestimmtes Objekt bei einem bestimm­ ten Lieferanten zu beschaffen. Die rein operative Lieferantenwahl berücksichtigt im Wesentlichen Kriterien des Beschaffungsobjektes, wie beispielsweise den Preis oder die Lieferzeit. Dagegen ist die strategische Lieferantenauswahl durch die bewuss­ te Entscheidung über die Aufnahme einer Geschäftsbeziehung für eine bestimmte Beschaffungsobjektgruppe gekennzeichnet (vgl. Large 2013, S. 163 f.). Als zentrales Entscheidungskriterium dient dabei das durch den Lieferanten zu erzielende externe Erfolgspotential. Das Konzept der strategischen Lieferantenauswahl steht damit im Gegensatz zu der häufig praktizierten und auch in wissenschaftlichen Abhandlungen beschriebe­ nen schrittweisen Einbindung von Lieferanten, die eher erfahrungsgetrieben und oh­ ne strategische Orientierung erfolgt. So unterscheiden Dwyer, Schurr und Oh (1987, S. 15 ff.) fünf Phasen der Zusammenarbeit mit einem Lieferanten. Die erste Phase dient der Informationssammlung über Anbieter (awareness). In der zweiten Phase werden Verhandlungen mit dem potenziellen Lieferanten geführt und erste Bestellungen pro­ beweise vorgenommen (exploration). Sind die dabei gesammelten Erfahrungen po­ sitiv, erfolgt schrittweise ein weiterer Ausbau der Geschäftsbeziehung (expansion). Hierdurch entwickelt sich in der vierten Phase zunehmendes Vertrauen jedoch ebenso

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gegenseitige Abhängigkeit. Diese Effekte stärken den Willen, die Geschäftsbeziehung dauerhaft zu erhalten (commitment). Deshalb bleibt zunächst offen, ob und gegebe­ nenfalls wann die fünfte und letzte Phase, die Auflösung der Geschäftsbeziehung, er­ reicht wird. In dem hier dargelegten Verständnis der strategischen Lieferantenauswahl steht dagegen die klare und langfristige Zielsetzung hinsichtlich einzubindender Lieferan­ ten im Vordergrund. Lieferanten sollen ein definiertes Beschaffungsvolumen inner­ halb einer abgegrenzten Beschaffungsobjektgruppe erreichen und dabei Erfolgspo­ tenziale für das beschaffende Unternehmen generieren. Den Kern der strategischen Lieferantenauswahl bilden deshalb die detaillierte Ermittlung und Bewertung der Er­ folgspotenziale von Anbietern und die darauf basierende Entscheidung über die Auf­ nahme einer langfristigen Geschäftsbeziehung. Vor diesem Hintergrund werden im 2. Abschnitt die Objekte der Lieferantenaus­ wahl aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Der 3. Abschnitt widmet sich dann ausführlich den Handlungen der strategischen Lieferantenauswahl einschließlich der dabei eingesetzten Instrumente. Handlungen sind keine Automatismen, sondern wer­ den von Handelnden aus bestimmten Beweggründen vollzogen. Mit den Akteuren der Lieferantenauswahl beschäftigt sich deshalb der 4. Abschnitt. Ein kurzer Ausblick im 5. Abschnitt schließt die Abhandlung ab.

2 Objekte der strategischen Lieferantenauswahl Die bisherigen Ausführungen haben betont: Bei der strategisch ausgerichteten Lie­ ferantenauswahl wird nicht ein Beschaffungsobjekt ausgewählt, sondern ein Anbie­ ter auf einem bestimmten Beschaffungsmarkt, der sodann die Rolle eines Lieferanten für die betreffende Beschaffungsobjektgruppe übernimmt. Damit rücken Lieferanten und Anbieter als Objekte der Lieferantenauswahl in den Mittelpunkt der Betrachtung. Wesensmerkmal eines Anbieters ist das Anbieten von Beschaffungsobjekten. Im Fal­ le eines Lieferanten ist es das Liefern von Beschaffungsobjekten. Anbieter sind somit potenzielle Lieferanten, die erst durch ihre Auswahl und nachfolgende Beauftragung zu Lieferanten eines Abnehmers werden. Allerdings bleibt auch der Begriff „Lieferant“ innerhalb des Beschaffungsmanage­ ments überraschend unbestimmt. Insbesondere ist offen, ob ein Lieferant lediglich im engeren Sinne Sachgüter (Waren) liefert oder auch Dienstleistungen erstellt. Zu­ dem finden sich insbesondere in der betrieblichen Anwendung verwandte Begriffe, wie z. B. Verkäufer, Zulieferer oder Dienstleister, die zum Teil synonym, zum Teil je­ doch auch mit abweichender Bedeutung verwendet werden. Da die Beschaffung in das Rechtssystem eines Staates eingebettet ist, sollte ein Blick in die einschlägigen Gesetze Abhilfe leisten. Diese Erwartung wird jedoch ent­ täuscht, denn der im Geschäftsleben gängige Begriff „Lieferant“ erscheint im BGB nur

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sehr selten und eher im Kontext spezieller Fragestellungen. In § 478 Abs. 1 BGB zum Verbrauchsgüterkauf wird ein Lieferant als „Unternehmer, der ihm die Sache verkauft hatte“ bezeichnet. Das BGB verwendet üblicherweise den Begriff des Verkäufers im Kaufrecht (§ 433 Abs. 1 BGB) und jenen des Unternehmers im Werkvertragsrecht. Auf­ grund der Vielseitigkeit des Dienstvertrags wird in dessen Kontext allgemein von dem­ jenigen gesprochen, „welcher Dienste zusagt“ (§ 611 Abs. 1 BGB). Der Dienstleister tritt im BGB nur in seiner speziellen Ausprägung als Zahlungsdienstleister im Zusammen­ hang mit der Erbringung von Zahlungsdiensten in Erscheinung (§ 675d Abs. 1 BGB). Dem HGB sind der Lieferant und der Dienstleister sogar gänzlich unbekannt. Selbst der Begriff „Lieferung“ findet sich im BGB vergleichsweise selten. In der Regel wird bei seiner Nennung zwischen der Lieferung einer Ware oder Sache und der Erbrin­ gung einer Dienstleistung unterschieden. Gleiches gilt für das HGB im Rahmen des Bilanzrechts, welches Forderungen beziehungsweise Verbindlichkeiten aus Lieferun­ gen und Leistungen unterscheidet. Es wäre deshalb sicherlich zutreffend, unter einem Lieferanten lediglich ein Un­ ternehmen zu verstehen, welches Sachgüter an Kunden verkauft (§ 433 BGB) oder noch herzustellende oder zu erzeugende bewegliche Sachen an diese liefert (§ 651 BGB). Al­ lerdings würde dieses enge Begriffsverständnis nicht die Herstellung eines verspro­ chenen Werkes (§ 631 BGB) oder die Leistung von Diensten (§ 611 BGB) durch Unter­ nehmen umfassen. Ebenso bliebe unklar, wie Unternehmen einzuordnen wären, die sowohl Sachen verkaufen als auch Dienste leisten. Zweckmäßig erscheint deshalb ein sehr breiter Lieferantenbegriff, der Verkäufer, Hersteller versprochener Werke, Lieferer von herzustellenden oder zu erzeugenden beweglichen Sachen und dienstleistende Unternehmen einschließt. Neben dieser rechtlichen Differenzierung bieten die in einem Unternehmen vor­ handenen Beschaffungsobjektgruppen eine weitere Möglichkeit, das Spektrum der ak­ tuellen und potenziellen Lieferanten hinsichtlich der Art der zu deckenden Bedarfe aufzuzeigen. Zur Bildung von Beschaffungsobjektgruppen können eine Vielzahl von Merkmalen herangezogen werden. Die Auswahl geeigneter Klassifikationsmerkmale ist eine der zentralen Aufgaben der Beschaffungsobjektanalyse und -planung (vgl. Large 2013, S. 71 ff.). Im Hinblick auf die Lieferantenauswahl erscheinen vier Merkma­ le von besonderer Bedeutung: die Stofflichkeit, die Verwendung, die Spezifität und die Häufigkeit. Hinsichtlich der Stofflichkeit lassen sich Sachgüter und Dienstleistungen unter­ scheiden. Sachen sind stofflicher Natur. Dienste sind es dagegen nicht, unabhän­ gig davon, ob sie einen durch Dienstleistung herbeizuführenden Erfolg (Werkver­ trag, § 631 BGB) oder lediglich die Leistung eines versprochenen Dienstes darstellen (Dienstvertrag, § 611 BGB). Nach der Verwendung können Sachgüter in Erzeugnisstoffe (Produktionsmaterial), Betriebsstoffe, Investitionsgüter (Betriebsmittel) und Handels­ waren gegliedert werden. In der industriellen Praxis findet sich deshalb aufbauend auf diesen zwei Merkmalen häufig eine Grobgliederung in fünf Beschaffungsobjekt­ hauptgruppen (vgl. Large 2013, S. 12).

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Die beiden weiteren Klassifikationsmerkmale – Spezifität und Häufigkeit – sind dem Kontext der Transaktionskostentheorie zuzuordnen. Abnehmerspezifische Be­ schaffungsobjekte werden nach Vorgabe des Abnehmers durch einen Lieferanten individuell erstellt (vgl. Large 2013, S. 12 f.). Soll die Erzeugung und Bereitstellung dieser Objekte effizient geschehen, ist in der Regel der Einsatz transaktionsspezifi­ scher Faktoren, z. B. spezieller Werkzeuge, erforderlich (vgl. Williamson 2008, S. 8 f.). Den Gegensatz dazu stellen anbieterspezifische Beschaffungsobjekte dar, welche nur ein bestimmter Lieferant erstellt. Hier sind üblicherweise spezifische Anpassungen der Produkte des Abnehmers erforderlich. Wirken ein Lieferant und ein Abnehmer bei der Produktentwicklung eng zusammen, so entstehen beziehungsspezifische Be­ schaffungsobjekte, die nur von diesem Lieferanten erzeugt und nur durch diesen Ab­ nehmer eingesetzt werden können. Hierbei sind beiderseits transaktionsspezifische Investitionen erforderlich. Den Gegensatz dazu bilden unspezifische Beschaffungsob­ jekte, wie Normteile oder Branchenstandards. Für ihre Erzeugung und ihren Einsatz können unspezifische Faktoren effizient eingesetzt werden. Die Häufigkeit gibt dar­ über Auskunft, wie oft Transaktionen ausgeführt werden, um die Bedarfe innerhalb einer Beschaffungsobjektgruppe zu decken. So werden Produktionsmaterialien in der Regel häufig benötigt, während Bedarfe an Investitionsgütern nur mit größerem zeitlichem Abstand auftreten. Eine besondere Herausforderung stellen solche Beschaffungsobjekte dar, die häu­ fig und regelmäßig benötigt werden und zudem ein hohes Maß an Spezifität aufwei­ sen. Zur gesicherten Bedarfsdeckung, zum Schutz der getätigten spezifischen Inves­ titionen und zur effizienten Abwicklung wiederholter Transaktionen empfehlen sich längerfristige und enge Lieferanten-Abnehmer-Beziehungen. Allerdings wird hierdurch ein schneller Lieferantenwechsel nahezu unmöglich (vgl. Large 2013, S. 163). Deshalb kommt gerade in diesen Fällen der strategischen Lieferantenauswahl eine besondere Bedeutung zu. Entsprechend dem bisher zugrunde gelegten Verständnis bilden Lieferanten pri­ mär Quellen zur Deckung von Bedarfen an Sachen und Dienstleistungen. Abnehmer­ unternehmen brauchen Lieferanten als Quellen, um ihren Bedarf an Vorleistungen zu decken. Das Beschaffungsmanagement wird entsprechend auf die Aufgabe des Sourcings, also des Generierens und Sicherns von Quellen, fokussiert. Breiten Raum nimmt dabei die Anwendung von sogenannten Sourcing-Konzepten ein. Insbesondere die Frage, ob Bedarfe bei einer oder mehreren Quellen gedeckt werden sollen (Sin­ gle Sourcing vs. Multiple Sourcing), steht im Mittelpunkt (vgl. Costantino/Pellegrino 2010, S. 28 f.). Durch das Brauchen von Quellen entstehen Abhängigkeiten, die vor allem dann ein hohes Maß annehmen, wenn die geplanten Wertschöpfungsprozesse ohne die spezifischen Vorleistungen bestimmter Lieferanten nicht oder nicht effizi­ ent durchzuführen sind. Allerdings brauchen auch Lieferanten ihre Abnehmer. Nur durch Abnehmer ist es ihnen möglich, ihre Waren in wieder Geld zu verwandeln (vgl. Marx 2008, S. 162).

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Trotz dieses gegenseitigen Brauchens liegt zwischen Lieferanten und Abnehmern stets auch ein Verteilungsproblem vor (vgl. Large 2013, S. 143). Lieferanten und Ab­ nehmer bilden füreinander potenzielle Quellen zur Aneignung von Geld. Die Preise für die ausgetauschten Sachgüter und Dienstleistungen aber auch die sonstigen Kondi­ tionen stellen Schlüsselgrößen in diesem Verteilungskonflikt dar. Unter kapitalisti­ schen Produktionsverhältnissen ist dieser Verteilungskonflikt besonders stark ausge­ bildet, denn Lieferanten und Abnehmer agieren als kapitalistische Unternehmen für welche die Zirkulation von Geld in Ware und von Ware in Geld der Zweck ihrer Tätig­ keit schlechthin ist. Lieferanten-Abnehmer-Beziehungen sind deshalb durch ein ei­ gentümliches Spannungsverhältnis des gegenseitigen Brauchens und Aneignens ge­ prägt, dessen Beseitigung letztlich nur ein gerechter Preis sicherstellen könnte (Tho­ mas von Aquin 1985, S. 344). Die Agency Theory bezieht in diesem Verteilungskonflikt einseitig Position für den Abnehmer. Ein Lieferant nimmt die Rolle eines Agenten ein, dem der Abnehmer als Prinzipal eine Aufgabe und damit Entscheidungskompetenzen überträgt (vgl. Jensen/ Meckling 1976, S. 308). Lieferanten sind danach lediglich im Auftrag handelnde Agen­ ten. Das Grundproblem besteht in der korrekten Aufgabenerfüllung im Sinne des Prin­ zipals. Aus Sicht der Agency Theory verfügt der Agent jedoch im Verhältnis zu seinem Prinzipal über einen Informationsvorsprung, den er opportunistisch ausnutzen kann. Als Konsequenz dieser einseitigen Betrachtung ergibt sich der Bedarf an einer engen Lieferantenführung in bestehenden Lieferanten-Abnehmer-Beziehungen. Weiterhin entsteht daraus die Notwendigkeit, bereits im Rahmen der Lieferantenauswahl Quali­ tätsunsicherheit zu vermeiden, Informationsasymmetrien aufzudecken (vgl. Steinle/ Schiele/Ernst 2014, S. 124) und vor allem die Auswahl von Lieferanten mit negativen verborgenen Eigenschaften zu umgehen (vgl. Spreemann 1990, S. 567 f.). Die einseitige Position der Agency Theory wird verlassen, wenn die Vertragsbe­ ziehung zischen Lieferant und Abnehmer in den Fokus rückt. Bei dieser Sicht tritt der Lieferant als juristische Person und gleichberechtigter Vertragspartner auf. Die Lösung des Verteilungsproblems erfolgt durch freiwillige Vereinbarungen auf Basis eines rationalen Interessenausgleichs. Inwieweit ein Unternehmen seine Interessen im Rahmen einer Vertragsvereinbarung durchsetzen kann, hängt wesentlich von den vorhandenen Machtbasen und der Machtstärke ab. Grundlegend lässt sich Macht als Möglichkeit verstehen, „den eigenen Willen auch gegenüber Widerstreben durchzu­ setzen“ (Weber 1972, S. 28). Damit steht keineswegs fest, welche der beiden Vertrags­ parteien über die Chance zur Durchsetzung des eigenen Willens verfügt. So sind Situa­ tionen denkbar, in denen ein Lieferant eine monopolartige Stellung einnimmt. Ande­ rerseits ist eine starke Position des Abnehmers plausibel, denn dieser wählt aus und verfügt deshalb generell über die Möglichkeit, einen potenziellen Lieferanten durch Nichtauswahl zu sanktionieren. Lieferanten ausschließlich als vertragsschließende Akteure zu betrachten, wird jedoch ihrem Wesen ebenfalls nicht gerecht. Lieferanten sind in aller Regel keine Ein­ zelpersonen sondern leistungserstellende Kollektive, welche Merkmale von Organisa­

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tionen tragen. Organisationen weisen zwar „eine formale Struktur [auf] . . . , mit deren Hilfe Aktivitäten der Mitglieder auf das verfolgte Ziel ausgerichtet werden sollen“ (Kie­ ser/Walgenbach 2010, S. 4). Sie bestehen jedoch prinzipiell aus einer Vielzahl von ein­ zelnen Akteuren mit eigenen Werten, Einstellungen und Intentionen. Verhandlungen werden von Personen geführt, Personen treffen Entscheidungen und Personen müs­ sen die vereinbarten Zusagen einhalten. Sollen Lieferanten und die Handlungen von Lieferanten erklärt und verstanden werden, ist die Berücksichtigung der individuel­ len Handlungen von Personen innerhalb der Organisation unabdingbar. Gleiches trifft sinngemäß auf Abnehmer zu, welche sich ebenso aus einzelnen Akteuren zusammen­ setzen. Jeder dieser Sichtweisen von Lieferanten – Quelle zur Deckung von Bedarfen, Quelle zur Aneignung von Geld, Agent, gleichberechtigter Vertragspartner, Organi­ sation – kommt im Rahmen der Lieferantenauswahl eigene Bedeutung zu. Dies wird in den beiden nachfolgenden Abschnitten zu den Handlungen und den Handelnden der strategischen Lieferantenauswahl deutlich.

3 Handlungen der strategischen Lieferantenauswahl Die strategische Lieferantenauswahl stellt keine singuläre Handlung dar, sondern wird durch komplexe Handlungsfolgen realisiert. Die einzelnen Handlungen dienen dabei unterschiedlichen Zwecken. Insbesondere können Handlungen der Informati­ onsversorgung, der Entscheidungsfindung und des Interessenausgleichs unterschie­ den werden.

3.1 Handlungen der Informationsversorgung Durch Handlungen der Informationsversorgung generieren Akteure des Beschaf­ fungsmanagements jene Informationen, welche für eine strategische Lieferantenaus­ wahl erforderlich sind. Neben Handlungen der Informationsgewinnung gehören dazu auch Handlungen der Informationsaufbereitung und -dokumentation. Grundlegende Informationen für die Lieferantenauswahl liefert bereits die Be­ schaffungsmarktforschung, welche „alle Handlungen der systematischen Gewinnung und Aufbereitung von relevanten Informationen über Beschaffungsmärkte und über deren Beeinflussbarkeit umfasst“ (Large 2013, S. 96). Gegenüber der zufälligen und fallweisen Markterkundung zeichnet sich die Beschaffungsmarktforschung durch ei­ ne stärkere Ziel- und Zweckorientierung aus. Im engeren Sinne ist diese der Liefe­ rantenauswahl vorgelagert, denn im Mittelpunkt des Interesses stehen nicht einzel­ ne Anbieter sondern zu erwartende Effekte, die von den Beschaffungsmärkten auf die beschaffende Organisation ausgehen.

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Erste Handlungen der Informationsversorgung bezogen auf die Lieferantenaus­ wahl werden deshalb im engeren Sinne erst dann ergriffen, wenn ein konkreter Anlass zur Suche nach neuen Lieferanten besteht (vgl. Large 2013, S. 165 f.). Im günstigsten Fall wird die Notwendigkeit von Neulieferanten frühzeitig im Rahmen einer regelmäßig durchgeführten Analyse der Lieferantenbasis erkannt. Allerdings bilden häufig auch Projekte zur Neuproduktentwicklung, Investitionsvorhaben, das intendierte Outsour­ cing, der plötzliche Anstieg des Geschäftsvolumens, unerwartete Strukturverände­ rungen der Beschaffungsmärkte oder der unvorhergesehene Ausfall eines bisherigen Lieferanten aktuelle Anlässe für die Suche nach neuen Lieferanten. Der Umfang und die Intensität mit der Handlungen der Informationsversorgung dann vollzogen wer­ den müssen, hängen wesentlich von der bisher durchgeführten Beschaffungsmarkt­ forschung und Beschaffungsmarkterkundung ab. Ebenso sollte sorgsam geprüft wer­ den, ob sich prinzipiell geeignete Lieferanten, deren Einkaufsvolumen noch entspre­ chend erweitert werden kann, bereits in der Lieferantenbasis befinden. Ausgangspunkt der Identifikation von Anbietern ist die Abgrenzung der relevan­ ten Beschaffungsmärkte. Neben der sachlichen Abgrenzung kommt insbesondere der räumlichen Marktabgrenzung Bedeutung zu. Gerade für kleinere und mittlere Un­ ternehmen wird dabei die Suche auf den heimischen Märkten zunächst der Normal­ fall sein (domestic sourcing). Unternehmen können sich jedoch auch bewusst dafür entscheiden, die Vorteile der räumlichen Nähe (local sourcing) oder der breiten in­ ternationalen Ausrichtung (global sourcing) zu nutzen. Dabei sollten die jeweiligen Nachteile nicht vergessen werden. So führt die lokale Beschaffung zwangsläufig zu einer Verringerung der Anzahl potenzieller Lieferanten, während die internationale Beschaffung üblicherweise eine höhere Komplexität der Lieferantenauswahl verur­ sacht (vgl. Trent/Monczka 2002, S. 68). Sind die Beschaffungsmärkte abgegrenzt, kann mit der Identifikation von Anbie­ tern begonnen werden. Vollziehen Beschaffungsmanagerinnen und Beschaffungs­ manager Aktivitäten der Beschaffungsmarktforschung oder erkunden sie zumindest regelmäßig die relevanten Märkte, verfügen sie über ein solides Grundwissen über die Anbieter und Marktstrukturen. Besondere Anforderungen stellen deshalb bisher un­ bekannte oder wenig beachtete Beschaffungsmärkte. Insbesondere in diesen Fällen muss eine aktive Identifikation grundsätzlich geeigneter Anbieter erfolgen. Früher wurden dazu vor allem persönliche Kontakte, Fachzeitschriften und gedruckte Han­ delsverzeichnisse genutzt (vgl. Min/Galle 1991, S. 11). Heute bieten die einschlägigen Lieferantendatenbanken einen schnellen und in der Regel für Abnehmer kostenlosen Zugang zu Anbieterinformationen. Beispiele für online verfügbare Datenbanken sind: – Wer liefert was? (https://www.wlw.de/de/home) – Europages (http://www.europages.co.uk/) – Thomas Register (http://www.thomasnet.com) – Alibaba (http://www.alibaba.com)

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Diese Datenbanken weisen unterschiedlichen regionalen Bezug auf. Außerdem sind darin nur solche Unternehmen verzeichnet, die sich bewusst für die in der Regel kostenpflichtige Akquise über diese Kanäle entschieden haben. Schließlich ist zu be­ achten, dass jeder Nachfrager bei Nutzung dieser Datenbanken die gleichen Anbieter identifiziert. Deshalb empfehlen sich durchaus weitere Handlungen der Informati­ onsgewinnung, wie beispielsweise die Kontaktaufnahme mit Branchenverbänden und Industrie- und Handelskammern, die Nutzung von professionellen Netzwerken, die Einbeziehung von spezialisierten Beratern sowie der gezielte Besuch spezieller Messen. Ebenso kann es angebracht sein, eine eher allgemein gehaltene Ausschrei­ bung („request for information“) vorzunehmen, um bisher unbekannte Anbieter zu erreichen. Im Rahmen der Identifikation von Anbietern werden in der Regel neben den Kon­ taktdaten bereits weitere Basisinformationen gewonnen, wie beispielsweise das Leis­ tungsspektrum, die Unternehmensgröße, Standorte und Referenzkunden. In der Re­ gel reichen diese jedoch für die Lieferantenauswahl nicht aus. Deshalb werden im Nachgang weitere Handlungen der Informationsversorgung vollzogen, um detaillierte Information über potenzielle Lieferanten zu gewinnen. In frühen Phasen der Lieferantenauswahl bietet sich vor allem die Befragung von Anbietern an. Neben telefonischen Auskünften und dem persönlichen Gespräch mit Vertretern der Anbieter kann die schriftliche Datenerhebung in Form einer sogenann­ ten Lieferantenselbstauskunft dazu beitragen, wesentliche Informationen in struktu­ rierter Weise zu erfassen und zu dokumentieren (vgl. Large 2013, S. 173 f.). Dabei ist unerheblich, ob der Fragebogen klassisch in Papierform oder online zur Verfügung gestellt wird. Wesentliche Vorteile der Lieferantenselbstauskunft sind die Vergleich­ barkeit der Daten und die geringen Kosten der Erhebung. Probleme verursacht jedoch die Unsicherheit hinsichtlich der Korrektheit der erfassten Daten. So stellt sich zu­ nächst die Frage, ob die bearbeitende Person überhaupt über das notwendige Wissen verfügt, um die Fragen korrekt zu beantworten. Zudem ist die bewusste Falschaus­ kunft nicht auszuschließen. Dies wird insbesondere dann zu befürchten sein, wenn sich ein Anbieter durch korrekte Angaben offensichtlich für das weitere Verfahren dis­ qualifizieren würde. Hat die Vorselektion der Anbieter bereits stattgefunden, d. h. wurde die Anzahl potenzieller Neulieferanten deutlich auf ein überschaubares Maß reduziert, sind auch Besuche von weiter entfernt liegenden Standorten wirtschaftlich vertretbar. Betriebs­ besuche eröffnen die Chance, neben der Befragung auch direkte Beobachtungen vor­ zunehmen. Beispielsweise kann um die Besichtigung von Fertigungs- oder Logistik­ bereichen gebeten werden. Diese ermöglicht oft einen ersten Eindruck vom Stand der eingesetzten Technologien und von den praktizierten Abläufen. Die systematische und detaillierte Evaluation von potenziellen Lieferanten erlau­ ben sogenannte Lieferantenaudits. Nach DIN EN ISO 9000 ist ein Audit ein „syste­ matischer, unabhängiger und dokumentierter Prozess zum Erlangen von objektiven Nachweisen und zu deren objektiver Auswertung, um zu bestimmen, inwieweit Au­

Lieferantenauswahl

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ditkriterien erfüllt sind“ (Deutsches Institut für Normung 2015a, S. 59). Die Beson­ derheit des Lieferantenaudits besteht darin, dass Mitarbeiter eines Abnehmerunter­ nehmens dieses in Betrieben von Lieferanten durchführen. Audits stellen deshalb ein probates Instrument zur systematischen Überprüfung von Aussagen der Lieferanten­ selbstauskunft oder von zufälligen Beobachtungen im Rahmen von Betriebsbesuchen dar. Allerdings erfordern diese die Bereitschaft von Anbietern, dem voraussichtlichen Kunden die eigenen Strukturen und Handlungen offenzulegen. Zudem können die hierfür erforderlichen Handlungen je nach Umfang der durchgeführten Beobachtun­ gen und Befragungen erhebliche Kosten verursachen, insbesondere dann, wenn auf­ wendige Reisetätigkeiten des ausführenden Teams dafür erforderlich sind. Deshalb führen viele Unternehmen Auditierungen von Anbietern erst nach der Finalentschei­ dung mit der Intention durch, diese als Lieferanten endgültig freizugeben. Dieses Vor­ gehen birgt jedoch die Gefahr in sich, Anbieter zunächst auszuwählen, die letztlich nicht als Lieferanten geeignet sind. Ist ein Audit nicht oder noch nicht möglich oder zumindest wirtschaftlich nicht vertretbar, können gegebenenfalls die Ergebnisse von Auditierungen durch andere Kunden als Referenzen eingesehen werden.

3.2 Handlungen der Entscheidungsfindung Eine Auswahl zwischen mehreren Alternativen erfordert stets eine Entscheidung. Die­ se basiert auf der Bewertung der Alternativen. Diese grundlegenden Aussagen treffen natürlich auch auf die Lieferantenauswahl zu. Die Entscheidungsfindung erfordert zu­ nächst Handlungen der Bewertung. Bewertungen im Rahmen der strategischen Liefe­ rantenauswahl resultieren aus dem Vergleich der gewonnenen Anbieterdaten mit den Anforderungen an den Neulieferanten. Bedeutsam sind insbesondere solche Verglei­ che, die eine Abschätzung der Erfolgspotenziale erlauben. Eine Hilfestellung können dabei die folgenden Leitfragen geben (vgl. Large 2013, S. 175; Spekman 1988, S. 80 f.): – Welche einzigartige Ressource bringt der Anbieter in die Beziehung ein? – Stellt der Anbieter Ressourcen bereit, die nicht durch andere Beziehungen erlangt werden könnten? – Ist sich der Anbieter bewusst, dass beide Unternehmen etwas zur Schaffung von Wettbewerbsvorteilen beitragen müssen? – Ist der Anbieter in der Lage, mit dem Abnehmer zu wachsen? Solche Fragenkataloge erlauben insbesondere die qualitative Bewertung und Vorse­ lektion von grundsätzlich geeigneten Kandidaten. Für die angestrebte Auswahl sind deshalb zusätzliche Handlungen der quantitativen oder zumindest quantifizierenden Bewertung erforderlich. Dabei kann auf diverse Verfahren zurückgegriffen werden (vgl. De Boer/Labro/Morlacchi 2001, S. 79 ff.; Ho/Xu/Dey 2010, S. 16 ff.; Janker 2004, S. 101 ff.).

528 | Rudolf O. Large

Hilfreich sind solche Verfahren, welche Handlungen der Rangfolgenbildung un­ terstützen. Ein auf den ersten Blick einfaches und zuverlässiges Hilfsmittel zur Rangfolgenbildung stellen Punktwertverfahren (Scoring-Verfahren) dar. Dazu werden zunächst formative Dimensionen (Kriteriengruppen) gebildet, die wiederum durch mehrere formative Indikatoren (Kriterien) ausgedrückt werden. Zum Zwecke der Lie­ ferantenauswahl können die wahrgenommenen Fähigkeiten der Anbieter, z. B. die Logistikfähigkeiten, die Qualitätsfähigkeiten, die Fähigkeiten der Realisation geringer Kosten und die Innovationsfähigkeiten eines Anbieters als Dimensionen herangezo­ gen werden (vgl. Large 2013, S. 176). Jede dieser vier Größen lässt sich wiederum durch operationale Indikatoren abschätzen. Beispielsweise können die Logistikfähigkeiten mit Hilfe der Ergebnisse der Bewertung durch andere Abnehmer, der erwarteten durchschnittlichen Lieferzeiten, dem Umfang logistischer Steuerungssysteme und der organisatorischen Eingliederung der Logistik beurteilt werden. Zur Aggregation der Ausprägungen der operationalen Indikatoren zu einen globalen Punktwert, sind sodann Gewichtungen der formativen Indikatoren innerhalb einer Dimension sowie der formativen Dimensionen untereinander erforderlich. Diese sollten entsprechend der Anforderungen definiert werden. Erfolgt die Bewertung von mehreren Anbietern einer Beschaffungsobjektgruppe mit den identischen Kriterien und Gewichten, lässt sich mit Hilfe der ermittelten Punktwerte eine Rangfolge festlegen. Allerdings sind einige grundlegende Probleme von Punktwertverfahren zu beach­ ten. Zunächst ist sicherzustellen, dass die gewählten Dimensionen und Indikatoren hinsichtlich der betreffenden Beschaffungsobjektgruppe aussagekräftig sind und tat­ sächlich eine Abschätzung der Erfolgspotenziale eines Anbieters zulassen. Die Ermitt­ lung der Ausprägung der Indikatoren muss zudem auf Basis der verfügbaren Informa­ tionen möglich sein. Auch die Bestimmung der Gewichte ist nicht unkritisch, denn diese sind nicht rein sachlogisch begründet. Die Ermittlung der Gewichte erfordert ebenso wie die Bestimmung der Ausprägungen in der Regel einen Konsens der Betei­ ligten. Die ermittelte Rangfolge sollte deshalb lediglich als Orientierung und Ergän­ zung zu qualitativen Bewertungen gesehen werden. Die Punktbewertung aktiver Lieferanten der Lieferantenbasis mit den identischen Kriterien und Gewichten ermöglicht die Ermittlung von Referenzwerten und zumin­ dest die grobe Einordnung der potenziellen Neulieferanten. Ein ähnlicher Ansatz wird mit der Einordnung von Anbietern in ein bestehendes Lieferanten-ErfolgspotenzialPortfolio (LEP) verfolgt (vgl. Large 2013, S. 123 ff.). Entsprechend der beiden Bestand­ teile des Erfolgspotenzials umfasst dieses die Dimensionen „Kostenpotenzial“ und „Erlöspotenzial“. Der Durchmesser der Kreise zeigt das Einkaufsvolumen der einzel­ nen Lieferanten an (vgl. Abbildung 1). Das Lieferanten-Erfolgspotenzial-Portfolio (LEP) wird jedoch für aktive Liefe­ ranten einer Beschaffungsobjektgruppe im Rahmen der Lieferantenstrukturanalyse erstellt und basiert auf Daten, die aus bereits existierenden Lieferanten-AbnehmerBeziehungen gewonnen werden. Diese Daten stehen jedoch für Anbieter, die noch keine Lieferanten in dieser Beschaffungsobjektgruppe sind, nicht zur Verfügung. Die

Misserfolgslieferanten

Teilerfolgslieferanten

216305

228162

234219

202049

237652

252406 238538

0,0

Kostenpotential

240573

204675 258914

252924 258296 205182 258296 228101 238268 252761 99999 252993 238317 258838

237020

238300

Teilerfolgslieferanten

Erfolgslieferanten

255899

1,0

0,0

1,0

-1,0

Abb. 1: Einordnung des Anbieters mit der Nummer 99999 in ein bestehendes Lieferanten-Erfolgspotenzial-Portfolio (Quelle: Large 2013, S. 179).

-1,0

Lieferantenauswahl |

529

Erlöspotential

530 | Rudolf O. Large

Bestimmung des Kosten- und Erlöspotenzials eines Anbieters muss deshalb mit an­ deren Indikatoren erfolgen, die bereits vor Aufnahme einer Geschäftsbeziehung ver­ fügbar sind. Hieraus resultieren wiederum methodische Probleme. Diese lassen sich jedoch zumindest ansatzweise durch das Kalibrieren der Messverfahren lösen (vgl. Large 2013, S. 179). Weiterhin erfordert die Einordnung die Prognose des zukünftigen Einkaufsvolumens, da in der Phase der Lieferantenauswahl noch keine Bestellungen bei dem betreffenden Anbieter platziert werden. Die ausführliche Darstellung von Methoden der Rangfolgenbildung sollte kei­ neswegs den Eindruck erwecken, eine Lieferantenauswahl wäre quasi automatisiert durch den Rückgriff auf quantitative Methoden zu treffen. Die Bedeutung qualitati­ ver Bewertungen wurde bereits angesprochen. Die strategische Lieferantenauswahl erfordert eine bewusste Entscheidung unter Einbeziehung unterschiedlichster quan­ titativer und qualitativer Sachverhalte. Neben der rationalen Vorgehensweise kann deshalb auch die auf Erfahrungen basierende Intuition der Entscheider wesentlich zu einer guten Entscheidung beitragen (vgl. Kaufmann/Meschnig/Reimann 2014, S. 110). Bevor eine finale Lieferantenauswahl getroffen wird, sollte das beschaffende Un­ ternehmen überprüfen, ob und inwieweit der präferierte Anbieter bereit ist, die er­ warteten Konditionen zu akzeptieren. Denn ohne Einigung auf die Konditionen des Leistungsaustauschs kommt kein Vertrag zustande. Die Überprüfung der Bereitschaft und das gegebenenfalls erforderliche Herbeiführen eines Interessenausgleichs erfolgt im Rahmen von Verhandlungen.

3.3 Handlungen des Interessenausgleichs Eine Verhandlung lässt sich zunächst aus dem Blickwinkel der Informationsversor­ gung betrachten, da diese aus einer Folge von interaktiven Kommunikationshandlun­ gen besteht. Wie im vorangegangenen Abschnitt angesprochen, dienen Verhandlun­ gen vor allem der Ermittlung der Bereitschaft des Lieferanten, die Konditionen des Leistungsaustauschs, insbesondere die Preisvorstellungen des Abnehmers, zu akzep­ tieren. Darüber hinaus können im Gespräch weitere für die Anbieterbewertung noch fehlende Informationen eingeholt werden. Verhandlungen haben jedoch eine weitere essentielle Funktion: Sie ermöglichen den zweckrationalen Interessenausgleich zwischen den Geschäftsparteien und erlau­ ben auf diese Weise die Aufnahme einer von beiden Seiten als angemessen empfunde­ nen Geschäftsbeziehung. Aus soziologischer Sicht bilden sich Lieferanten-AbnehmerBeziehungen deshalb als Vergesellschaftungen heraus (vgl. Weber 1972, S. 21). Trotz­ dem können divergierende Interessen zu Situationen führen, in denen Beziehungen eher den Charakter eines so genannten „friedlichen Kampfs“ (Konkurrenz) annehmen (vgl. Weber 1972, S. 20). Insbesondere ist dies im Rahmen von Preisverhandlungen auf­ grund des bereits angesprochenen Verteilungsproblems der Fall.

Lieferantenauswahl |

531

Verhandlungen setzen sich aus einzelnen Handlungen zusammen, die gemäß ih­ rer zeitlichen Abfolge drei Phasen zugeordnet werden können (vgl. Large 2013, S. 252). Bereits vor Beginn der Interaktion mit einem Anbieter sind Handlungen der Vorbe­ reitung zu verrichten. Den Ausgangspunkt dafür bilden die Ziele der Verhandlung. Grundlegendes Ziel von Verhandlungen im Rahmen der Lieferantenauswahl ist es, zur Deckung der Bedarfe den Interessenausgleich mit potenziellen Lieferanten herbeizu­ führen und dabei die eigenen Interessen angemessen zu wahren. Unter kapitalisti­ schen Produktionsverhältnissen versuchen die verhandelnden Parteien zudem, sich einen möglichst hohen Anteil des Profits der beabsichtigten Geschäftsbeziehung an­ zueignen. Auf den jeweils vorherrschenden Zielsetzungen basiert die sogenannte Ver­ handlungsstrategie der Beschaffungsmanagerinnen und Beschaffungsmanager, also die angestrebte Vorgehensweise, mit welcher die gesetzten Ziele erreicht werden sol­ len. Die Verhandlungsstrategie bestimmt wiederum den Teilnehmerkreis, die Art der Kommunikation (persönliche Verhandlung, Videokonferenz, telefonische Verhand­ lung), den Ort, den Zeitpunkt und die Zeitdauer der Verhandlung. Die Handlungen der Verhandlungsdurchführung orientieren sich an der vorab ge­ wählten Verhandlungsstrategie, werden jedoch auch wesentlich durch die individu­ ellen Verhandlungsstile der Akteure geprägt (vgl. Large 2013, S. 198 f.). Das Spektrum reicht von aggressiven kompetitiven bis zu verständigungsorientierten Stilen. Im Hin­ blick auf den angestrebten zweckrationalen Interessenausgleich sowie aus ethischen Gründen sollte dabei ein Mindestmaß an Höflichkeit eingehalten und gegenseitige Achtung gewahrt werden (vgl. Large 2003, S. 259; Large 2005, S. 35). Prinzipiell ist eine effiziente Verhandlungsführung anzustreben, die von dem Willen bestimmt ist, Anbieter mit hohem Erfolgspotential in die Lieferantenbasis einzubinden. Hilfreich sind dabei Techniken der Zusammenfassung, Visualisierung und Dokumentation. Die letzte Phase einer Verhandlung ist durch Handlungen der Nachbereitung ge­ kennzeichnet. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Handlungen der Doku­ mentation und der Umsetzung der erreichten Einigung. Als Instrumente der Doku­ mentation von Verhandlungen eignen sich Verhandlungsprotokolle, kaufmännische Bestätigungsschreiben und schriftliche Vertragsentwürfe. Wurden die Einigung mit einem Anbieter und die finale Entscheidung für diesen herbeigeführt, steht der Ver­ tragsabschluss an. Im Rahmen der strategischen Lieferantenauswahl handelt es sich dabei zunächst nicht um den Abschluss von konkreten Kauf-, Werk- oder Dienst­ verträgen. Vielmehr werden generelle Vereinbarungen hinsichtlich der zukünftigen Zusammenarbeit getroffen, die häufig als Basisvertrag, zuweilen auch als Rahmen­ vereinbarung oder Rahmenvertrag bezeichnet werden (vgl. Large 2013, S. 201). Ein solcher Vertrag, der rechtlich nicht normiert ist und individuell verhandelt wird, bildet aus strategischer Sicht die Grundlage der rechtlichen Ebene der LieferantenAbnehmer-Beziehung. Er enthält keine Aussagen über konkrete Lieferungen oder Leistungen. Ein Basisvertrag legt beispielsweise die Beschaffungsobjektgruppe fest, entbindet bei zukünftigen Lieferungen von der Untersuchungs- und Rügepflicht (§ 377 HGB), enthält Vereinbarungen über die Anwendung der Allgemeinen Einkaufsbedin­

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gungen des Abnehmers oder alternativ der Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Anbieters und definiert Abläufe der Qualitätssicherung oder der Logistik. Er schafft somit die Grundlage für die nachfolgende Beauftragung des neuen Lieferanten. Mit der Unterzeichnung eines Basisvertrages ist die Lieferantenauswahl abgeschlossen. Eine gute kaufmännische Praxis erfordert zudem die Benachrichtigung der unberück­ sichtigten Anbieter, mit denen bereits engere Kontakte bestanden.

4 Handelnde der strategischen Lieferantenauswahl Im 2. Abschnitt wurde für den Fall von Lieferanten dargelegt: Organisationen bestehen aus einzelnen Akteuren mit eigenen Werten, Einstellungen und Intentionen. Diese Aussage trifft natürlich ebenso für beschaffende Unternehmen zu. Auch diese sind in aller Regel Organisationen. Die Lieferantenauswahl erfolgt deshalb nicht durch ein Unternehmen als Gesamtheit, sondern durch einzelne Handelnde in diesem Unter­ nehmen. Diese vollziehen die komplexe und zuweilen iterative Folge von Handlun­ gen der Informationsversorgung, der Entscheidungsfindung und des Interessenaus­ gleichs und bilden hierdurch den sogenannten Buying Center (vgl. Webster/Wind 1972, S. 14). Webster und Wind (1972, S. 18) betonen: „In the final analysis, all organizational buying behavior is individual behavior. Only the individual as an individual or a mem­ ber of a group can define and analyze buying situations, decide, and act. In this beha­ vior, the individual is motivated by a complex combination of personal and organiza­ tional objectives, constrained by policies and information filtered through the formal organization, and influenced by other members of the buying center“. Im Mittelpunkt dieses Abschnittes steht deshalb die Frage: Welche individuellen Akteure vollziehen die strategische Lieferantenauswahl und welche Faktoren beeinflussen deren Hand­ lungen? Ein Buying Center ist nicht notwendigerweise eine formal zum Zwecke der Liefe­ rantenauswahl eingesetzte Gruppe. Wesentlich für die Mitgliedschaft im Buying Center ist lediglich die faktische Mitwirkung eines Akteurs an der Lieferantenauswahl. Als Beispiele für solche Akteure nennt Sheth (1973, S. 52) Beschäftigte des Einkaufs, des Qualitätsmanagements und der Produktion. Es ist zudem plausibel, dass diese Akteu­ re trotz einer gemeinsamen Zielsetzung im Detail unterschiedliche Interessen verfol­ gen. So können beispielsweise, wie im Rahmen der Betrachtung von Punktwertver­ fahren angesprochen, sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Gewichtung von Fähigkeiten der Anbieter bestehen. Webster und Wind (1972, S. 14) unterscheiden die Mitglieder des Buying Centers nicht nach ihrer Funktion im Unternehmen, sondern nach ihren Rollen im Prozess der Lieferantenauswahl. Während Beschaffungsmanagerinnen und Beschaffungsma­ nager üblicherweise als Einkäufer („buyer“) und die Bedarfsträger als Nutzer („user“) agieren, ist die Besetzung der weiteren Rollen – influencer, decider und gatekeeper – nicht funktional determiniert. Die Finalentscheidung kann beispielsweise bei der Un­

Lieferantenauswahl

| 533

ternehmensleitung, beim Einkaufsleiter oder bei einem Vertreter des Bedarfsträgers liegen. Marketingmanager oder Konstrukteure können versuchen, die Entscheidung zu beeinflussen, und ein Qualitätsmanager, der das Audit bei einem potenziellen Lie­ feranten durchgeführt hat, kann Informationen filtern und deren Weitergabe an an­ dere Mitglieder des Buying Centers beeinflussen. Ebenso können einzelne Personen im Verlauf der Lieferantenauswahl unterschiedliche Rollen besetzen. Wie in Abschnitt 3.2 bereits angedeutet, ist die Lieferantenauswahl keineswegs ein reibungslos ablaufender Vorgang. Probleme können hinsichtlich der unzurei­ chenden und uneinheitlichen Datengrundlage, der fehlenden Systemunterstützung, der unzureichenden Organisation der Entscheidungsabläufe sowie der unklaren Un­ ternehmensstrategie auftreten (vgl. Moses/Åhlström 2008, S. 90 f.). Berücksichtigt man zusätzlich die Multipersonalität der Entscheidungssituation werden weitere Pro­ bleme der Entscheidungsfindung in Buying Centern augenscheinlich. Beispiele sind die uneinheitliche Sicht der Dinge, auf individuellen Erfahrungen basierende Ad-hocEntscheidungen sowie die unterschiedlichen Ziele der Akteure (vgl. Moses/Åhlström 2008, S. 93 ff.). Besondere Bedeutung kommt den divergierenden Erwartungen der Handelnden zu (vgl. Sheth 1973, S. 52 ff.). Diese beruhen beispielsweise auf dem un­ terschiedlichen Hintergrund der Einzelpersonen, den genutzten Informationsquellen und den unterschiedlichen Wahrnehmungen der Akteure. Webster und Wind (1972, S. 13) beschreiben unterschiedliche individuelle, soziale, organisatorische und umweltbezogene Faktoren, welche die Kaufentscheidung in ei­ nem Unternehmen beeinflussen können. Die Frage, welche Größen die individuellen Handlungen der einzelnen Akteure bestimmen, wird jedoch – wie auch von anderen traditionellen Theorien des sogenannten organisationalen Beschaffungsverhaltens – nicht beantwortet. Da Handlungen der Lieferantenauswahl jedoch lediglich Handlun­ gen auf einem speziellen Gebiet darstellen, erfordert die Beantwortung dieser Fra­ ge keine völlig neuen Theorien. Vielmehr kann auf bewährte Theorien zurückgegrif­ fen werden, die Handlungen von Menschen generell erklären. Eine solche Theorie stellt der Reasoned Action Approach (RAA) von Fishbein und Ajzen (2010) dar. Die­ ser sozialpsychologische Ansatz bietet einen allgemeinen konzeptionellen Rahmen für die Vorhersage, Erklärung und die Veränderung von sozialem Verhalten (vgl. Aj­ zen 2012, S. 11) und hat sich bei unzähligen empirischen Überprüfungen auf unter­ schiedlichen Forschungsfeldern bewährt. Im Bereich der Lieferantenauswahl wurde der RAA bisher jedoch nur sehr selten angewendet (vgl. Merminod/Large/Paché 2017; Voss et al. 2006). Grundlage des Reasoned Action Approach ist die Annahme, dass einer konkreten Handlung stets eine Intention zur Durchführung dieser Handlung vorausgeht. Diese Intention kann als Bereitschaft eines Menschen verstanden werden, ein bestimmtes Verhalten im Nachhinein tatsächlich zu zeigen (vgl. Fishbein/Ajzen 2010, S. 39). Die Stärke dieser Bereitschaft dient als Indikator für die Wahrscheinlichkeit des Vollzugs der betreffenden Handlung. Folgt man dem Reasoned Action Approach, bestimmen drei Faktoren den Grad der Bereitschaft eines Individuums, ein bestimmtes Verhal­

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ten zu zeigen: Die eigene Einstellung gegenüber der Handlung, die wahrgenommenen Erwartungen anderer Menschen und die wahrgenommene eigene Handlungskontrolle (vgl. Fishbein/Ajzen 2010, S. 22). Soll der Reasoned Action Approach zur Erklärung von Handlungen im Bereich der Lieferantenauswahl angewendet werden, ist zunächst die genaue Definition des inter­ essierenden Verhaltens erforderlich. Da die Lieferantenauswahl aus einer komplexen Handlungsfolge besteht, bieten sich dazu unterschiedliche Handlungen der beteilig­ ten Akteure an. Naheliegend sind beispielsweise Fragen nach der Anwendung eines bestimmten Bewertungsverfahrens, der Nutzung eines bestimmten Kriteriums oder auch generell nach der Mitwirkung einer Person im Buying Center. In Abhängigkeit davon können die Intention und die drei angeführten Einflussgrößen spezifiziert und mit geeigneten Messmodellen versehen werden. Merminod, Large und Paché (2017) entwerfen beispielsweise ein Modell, mit dessen Hilfe die Intention von Einkäufern zur Teilnahme an der Beschaffung von Kontraktlogistikdienstleistungen erklärt wer­ den soll. Bei Voss et al. (2006) steht die Bereitschaft zur Anwendung bestimmter Aus­ wahlkriterien im Vordergrund.

5 Ausblick Die strategische Lieferantenauswahl stellt eine komplexe Folge professioneller Hand­ lungen der Informationsversorgung, der Entscheidungsfindung und des Interessen­ ausgleichs dar. Im Mittelpunkt steht die Herbeiführung einer fundierten und bewuss­ ten Entscheidung über die Aufnahme einer Geschäftsbeziehung mit einem Anbieter. Dieser sollte hinsichtlich einer Beschaffungsobjektgruppe ein hohes Erfolgspotential aufweisen. Die Lieferantenauswahl ist somit von zentraler Bedeutung für die Qualität und Quantität der Lieferantenbasis eines Unternehmens und deshalb ein wesentlicher Baustein des strategischen Beschaffungsmanagements. Die durchzuführenden Hand­ lungen und deren Koordination erfordern ausgeprägte fachliche und soziale Fähigkei­ ten der Handelnden. Phantastereien unter dem Schlagwort „Einkauf 4.0“, die von einer zukünftigen Automatisierung der Lieferantenauswahl ausgehen, muss deshalb deutlich widersprochen werden. Unternehmensleitungen sollten vielmehr Beschaf­ fungsmanagerinnen und Beschaffungsmanager sowie weitere beteiligte Akteure an­ derer Bereiche qualifizieren und fördern, damit diese dem hohen Anspruch einer strategischen Lieferantenauswahl gerecht werden können. Wissenschaftler auf dem Gebiet des Beschaffungsmanagements sollten die Liefe­ rantenauswahl als herausforderndes und attraktives Forschungsfeld wiederentdecken. Im Zentrum sollte dabei weniger die Entwicklung ausgefeilter Verfahren der Bewer­ tung von Anbietern, sondern das Erklären und Prognostizieren von realen Handlun­ gen im Rahmen der Lieferantenauswahl stehen. Die Wissenschaft kann damit einen wertvollen Beitrag zur Entstehung von Wissen leisten, welches durch praktische An­ wendung nicht zu erlangen ist.

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| Teil D: Prozessgestaltung und -steuerung

Justus A. Schwarz und Raik Stolletz

Management von Produktionsanläufen 1 1.1 1.2 2 2.1 2.2 2.3 3 4 4.1 4.2 4.3

Einleitung | 539 Kennzeichnung des Produktionsanlaufs | 540 Ziele, Kennzahlen und Entscheidungen | 542 Anlaufstrategien | 543 Anläufe einzelner Produkte | 543 Anläufe von Produktvarianten | 545 Anläufe in Produktionsnetzwerken | 546 Bedeutung von funktionalen Schnittstellen für den Anlauf | 548 Industriespezifika bei Produktionsanläufen | 549 Automobilindustrie | 549 Halbleiterindustrie | 550 Pharmaindustrie | 550 Literatur | 551

Zusammenfassung. Der Produktionsanlauf bezeichnet die Phase zwischen dem Ende der Produktentwicklung und dem Erreichen der geplanten Ausbringungsmenge. An­ lass für einen Produktionsanlauf können die Einführung eines neuen Produktes und die Einführung neuer Produktionsprozesse sein. Kennzeichen des Anlaufs sind die durch die Neuartigkeit von Produkten und/oder Prozessen begründeten Unsicherhei­ ten und die Dynamik von produktionswirtschaftlichen Kennzahlen. In diesem Beitrag werden Strategien für den Anlauf von einzelnen Produkten und Produktvarianten so­ wie für Anläufe in Produktionsnetzwerken vorgestellt. Außerdem wird die Bedeutung von funktionalen Schnittstellen zur Produktentwicklung, zum Vertrieb und zum Mar­ keting hervorgehoben. Abschließend werden industriespezifische Besonderheiten thematisiert.

1 Einleitung Der Produktionsanlauf bezeichnet die Phase zwischen dem Ende der Produktentwick­ lung und dem Erreichen der geplanten Ausbringungsmenge (Kammlinie) (vgl. Ter­ wiesch/Bohn 2001). Anlass für einen Produktionsanlauf können die Einführung eines neuen Produktes und die Einführung neuer Produktionsprozesse sein. Der Anlauf bil­ det damit die Schnittstelle zwischen der Produkt- bzw. Prozessentwicklung und der Serienproduktion. Ein Haupttreiber für eine steigende Anzahl von Anläufen ist der in vielen Industri­ en vorherrschende Trend zu kürzer werdenden Produktlebenszyklen und die steigen­ de Anzahl an Produktvarianten, da mit der häufigeren Einführung neuer Produkte am https://doi.org/10.1515/9783110473803-030

540 | Justus A. Schwarz und Raik Stolletz

Markt auch die Zahl der Anläufe steigt (vgl. Laick/Warnecke 2002). Das Management von Produktionsanläufen kann deshalb zur Generierung von Wettbewerbsvorteilen dienen (vgl. Glock/Grosse 2015).

1.1 Kennzeichnung des Produktionsanlaufs Charakteristisch für den Anlauf ist die sogenannte Anlaufkurve. Mit dieser Kurve wer­ den die erzielten Produktionsmengen, z. B. pro Schicht, im Zeitverlauf beschrieben. Abbildung 1 gibt einen idealtypischen Verlauf der Anlaufkurve wieder. Der tatsäch­ liche Verlauf der Anlaufkurve und die Dauer des Anlaufs hängen unter anderem von den technischen Gegebenheiten des Produktionsprozesses und dem industriel­ len Umfeld ab. Die Erhöhung des Produktionsvolumens kann dabei kontinuierlich oder in Stufen erfolgen (vgl. Clark/Fujimoto 1991). Die Dauer kann zwischen wenigen Monaten und mehreren Jahren variieren (vgl. Keil et al. 2008; Wochner et al. 2016). Wichtige Meilensteine während des Produktionsanlaufs sind die Vorserienfreiga­ be, das Erreichen der Produktionsbereitschaft, der Produktionsbeginn (engl. Start of Production, SOP), die Markteinführung und das Erreichen der Kammlinie (vgl. Abbil­ dung 1). Nach der Vorserienfreigabe beginnt der Anlauf mit der Vorserie. Während der Serienproduktion

Produktionsanlauf

Entwicklung

Nullserie

Hochlauf

Produktion pro Schicht

Vorserie

Zeit Freigabe Vorserie

Produktions bereitschaft

Produktions beginn (SOP)

Markteinführung

Erreichen der Kammlinie

Time to production Time to market Time to volume

Abb. 1: Idealtypische Anlaufkurve mit Meilensteinen des Anlaufs (vgl. Fleischer/Lanza/Ender 2005; Surbier/Alpan/Blanco 2014).

Management von Produktionsanläufen | 541

Vorserie werden auf seriennahen Versuchswerkzeugen erste Produkte gefertigt, um Prozessverbesserungen zu erreichen. Außerdem werden gegebenenfalls Zulieferer in die Produktion integriert. Mit Erreichen der Produktionsbereitschaft wird mit der Null­ serie begonnen. Hier werden die endgültigen Serienwerkzeuge verwendet und auch die zugelieferten Teile stammen aus der Produktion mit Serienwerkzeugen des Zulie­ ferers. Der Hochlauf beginnt mit dem SOP und endet mit dem Erreichen der Kammli­ nie. Die Time to Production (TTP) gibt die Zeit vom Start der Entwicklung bis zum SOP an. Mit dem SOP kann grundsätzlich die Markteinführung erfolgen. Der tatsächliche Markteintritt kann aber auch später erfolgen, z. B. wenn für eine Markteinführung eine Mindestverfügbarkeit gewährleistet werden soll oder Vertriebskanäle gefüllt werden müssen (vgl. Hansen/Grunow 2015). Die Zeit bis zur tatsächlichen Markteinführung wird als Time to Market (TTM) bezeichnet. Die Time to Volume (TTV) misst die Zeit bis zum Abschluss des Hochlaufs, also dem Erreichen der Kammlinie. Kennzeichen des Anlaufs sind die durch die Neuartigkeit von Produkten und/oder Prozessen begründeten Unsicherheiten und die Dynamik von Leistungskenngrößen des Produktionssystems. Unsicherheiten existieren während des Anlaufs beispielsweise aufgrund stochas­ tischer Maschinenausfälle und stochastischer Ausbeute an Gutteilen, die alle Spezifi­ kationen erfüllen. Bei der Einführung von neuen Produkten am Markt ist darüber hin­ aus typischerweise auch die Produktnachfrage nicht präzise vorhersagbar. Falls sich auch die Lieferanten in einer Anlaufphase befinden, kann die Verfügbarkeit von Roh­ materialien und Komponenten ebenfalls stochastischen Einflüssen unterliegen (vgl. Almgren 2000). Während diese Unsicherheiten grundsätzlich in geringerem Ausmaß auch wäh­ rend der Serienproduktion auftreten können, ist für den Anlauf charakteristisch, dass sich zusätzlich Eigenschaften des Produktionssystems im Zeitverlauf ändern. Haupt­ ursache dieser Dynamik sind Lerneffekte, die in der wissenschaftlichen Literatur typi­ scherweise mittels Lernkurven beschrieben werden (vgl. Grosse/Glock/Müller 2015). Lerneffekte verkürzen z. B. die Bearbeitungszeiten und damit auch die realisierbaren Taktzeiten. Eine Reduzierung der stochastischen Einflüsse im Zeitverlauf wird bei­ spielsweise durch die Steigerung der erwarteten Ausbeute an Gutteilen und die Re­ duzierung der Ausfallhäufigkeiten der Maschinen erreicht. Im Falle der Einführung von mehreren Produktvarianten können die unterschied­ lichen Entwicklungszeiten der verschiedenen Varianten ein weiterer Grund für sich im Zeitverlauf ändernde Ausbringungsraten sein, da die Produktion der verschie­ denen Varianten erst nacheinander aufgenommen werden kann (vgl. Schuh/Desoi/ Tücks 2005).

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1.2 Ziele, Kennzahlen und Entscheidungen Die betriebswirtschaftliche Relevanz der Anlaufphase führte im letzten Jahrzehnt zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Planung von Produktionsanläufen und der Entwicklung und Lösung von quantitativen Optimierungsmodellen (vgl. Becker/ Schwarz/Stolletz 2018). Überblicke zu quantitativen Modellen für die Entscheidungs­ unterstützung bei der Anlaufplanung finden sich bei Becker, Schwarz und Stolletz (2018) sowie Glock und Grosse (2015). Das übergeordnete Ziel ist die wirtschaftliche Überführung des Produktionssys­ tems von der Entwicklungsphase in die Serienproduktion. Dies bedeutet ein mög­ lichst schnelles Erreichen der Kammlinie unter Berücksichtigung der dadurch ver­ ursachten Kosten und realisierbaren Umsätze (vgl. Wiendahl/Hegenscheidt/Winkler 2002). Zur Planung und Steuerung des Anlaufs lassen sich aus dem obengenannten Ziel sowohl monetäre als auch technische Leistungskennzahlen ableiten (vgl. Möller/ Stirzel 2008). Monetäre Kennzahlen beinhalten die erzielten Umsätze und durch den Produkti­ onsanlauf verursachte direkte und indirekte Kosten. Gängige technische Kennzahlen sind produkt- oder prozessbezogen. Produktbezogene Kennzahlen umfassen die An­ zahl an produzierten Teilen, insbesondere die darin enthaltenen Gutteile. Prozessbe­ zogene Kennzahlen dienen zur Messung der erreichten Prozessstabilität. Dafür wer­ den unter anderem die erwartete Maschinenverfügbarkeit sowie deren Variabilität, die erreichbare Taktzeit, aber auch der Stand der Schulung von Mitarbeitern und die Liefertreue von Lieferanten herangezogen. Im Unterschied zur Serienproduktion wird der Dynamik des Anlaufs in Form von sich im Zeitverlauf ändernden Zielwerten Rech­ nung getragen. Zusätzlich zu den obengenannten Kennzahlen, die auch in der Serien­ produktion herangezogen werden, gibt es die anlaufspezifischen und zeitbezogenen Kenngrößen TTP, TTM und TTV (vgl. Abbildung 1). Eine detaillierte Übersicht zu den in der wissenschaftlichen Literatur verwendeten Kenngrößen sowie ein Abgleich mit der Praxis anhand von Experteninterviews finden sich bei Renner (2012). Die obengenannten Kennzahlen können durch Entscheidungen auf der strate­ gischen, taktischen und operativen Planungsebene beeinflusst werden. Die wissen­ schaftliche Literatur umfasst Optimierungsmodelle auf allen drei Entscheidungsebe­ nen (vgl. Becker/Schwarz/Stolletz 2018): – Auf der strategischen Planungsebene werden Modelle analysiert, mit Hilfe derer entschieden wird, an welchen Standorten, für welche Produkte und in welcher Reihenfolge Anläufe erfolgen sollen. – Die taktische Ebene umfasst Modelle für die Entscheidungsunterstützung bei der Auswahl des Verlaufs der Anlaufkurve. Diese Modelle unterstützen Entscheidun­ gen über die geplante Belegschaft und technische Produktionskapazität im Zeit­ verlauf sowie die damit erreichbare TTM und TTV. – Die operative Planung umfasst Entscheidungen zur Realisierung der geplan­ ten Anlaufkurve. Dies beinhaltet das Änderungsmanagement hinsichtlich der

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Produkteigenschaften und des Produktionsprozesses sowie die Priorisierung zwischen Testläufen zur Prozessverbesserung und der Produktion von Kunden­ aufträgen. Im Folgenden werden in Abschnitt 2 Strategien für den Anlauf an einzelnen Stand­ orten und in Produktionsnetzwerken vorgestellt. In Abschnitt 3 wird auf die funktio­ nalen Schnittstellen zur Produktentwicklung, zum Vertrieb und Marketing eingegan­ gen. Abschließend werden in Abschnitt 4 industriespezifische Besonderheiten thema­ tisiert.

2 Anlaufstrategien In den Abschnitten 2.1 und 2.2 werden Strategien für Anläufe an einem Produkti­ onsstandort vorgestellt. Hierbei wird in Abschnitt 2.1 auf Strategien für den Pro­ duktionsanlauf eines einzelnen Produkts eingegangen. Diese Strategien lassen sich grundsätzlich auch auf Anläufe mit mehreren Produktvarianten übertragen. Zusätz­ lich werden in Abschnitt 2.2 Strategien vorgestellt, die explizit die Besonderheiten von Anläufen mit mehreren Produktvarianten berücksichtigen. Abschließend werden in Abschnitt 2.3 Strategien für Anläufe in Produktionsnetzwerken beschrieben. Eine umfassendere Übersicht zur wissenschaftlichen Literatur hinsichtlich sol­ cher Strategien für das Management von Produktionsanläufen finden sich in Surbier, Alpan und Blanco (2014).

2.1 Anläufe einzelner Produkte Ein zentraler Zielkonflikt besteht während des Produktionsanlaufs zwischen der Ge­ schwindigkeit, mit der Aufträge bearbeitet werden, und der erreichbaren Ausbeute an Gutteilen. Eine langsame Bearbeitung senkt die Zahl der Aufträge, die eingelastet wer­ den können, und damit die Auslastung des Produktionssystems. Kurze Bearbeitungs­ zeiten wirken sich hingegen negativ auf die Ausbeute aus, weil sowohl Maschinen als auch Mitarbeiter anfälliger für Fehler werden. Ziel des Anlaufs ist es durch Prozessverbesserungen eine hohe Auslastung bei ho­ her Ausbeute zu erreichen. Terwiesch und Bohn (2001) unterscheiden zwischen aus­ lastungs- und ausbeutebetonende Anlaufstrategien: – Bei der auslastungsbetonten Anlaufstrategie werden Prozessverbesserungen vor­ rangig genutzt, um die Auslastung zu erhöhen. – Bei der ausbeutebetonten Anlaufstrategie werden Prozessverbesserungen vorran­ gig genutzt, um die Ausbeute zu steigern.

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Die Vorteilhaftigkeit der Strategien wird wesentlich durch das Verhältnis von Ver­ kaufspreisen und den Kosten für das Rohmaterial bestimmt. Das Verschrotten eines großen Anteils der Produktion aufgrund einer geringen Ausbeute ist insbesondere zu vermeiden, wenn die Marge zwischen Verkaufspreis und Rohmaterial klein ist. Eine ausbeutebetonte Anlaufstrategie ist in diesem Fall von Vorteil. Diese findet zum Beispiel bei der Montage von Festplatten Anwendung (vgl. Terwiesch/Bohn 2001). Übersteigt der Verkaufspreis hingegen die Rohmaterialkosten um ein Vielfaches, ist eine auslastungsbetonte Strategie vorteilhaft. So wird beispielsweise in der Halblei­ terindustrie gerade zu Beginn des Hochlaufs eine niedrige Ausbeute akzeptiert (vgl. Terwiesch/Bohn 2001). Prozessverbesserungen können auf drei unterschiedlichen Arten des Lernens be­ ruhen (vgl. Terwiesch/Bohn 2001): – auf Erfahrungen, die während der Produktion selbst gewonnen werden, – auf Experimenten mit dem Produktionssystem, – auf Entwicklungsarbeit. Welche Arten des Lernens während des Anlaufs genutzt werden, ist dabei eine zu tref­ fende Entscheidung. Beispielsweise kann es sinnvoll sein, zu Beginn des Anlaufs in­ tensive Tests mit dem Produktionssystem durchzuführen, um später von den daraus resultierenden Ausbeutesteigerungen zu profitieren. Terwiesch und Bohn (2001) wei­ sen darauf hin, dass dieser Ansatz in der Praxis oft nur schwer durchzusetzen ist, weil knappe Kapazität und hohe Verkaufspreise dazu verleiten, das Nutzen von Produk­ tionskapazität für Tests zur Prozessverbesserung zu verzögern. Bei der Implementie­ rung von Prozessverbesserungen ist außerdem zu beachten, dass zuvor gesammelte Erfahrungen teilweise obsolet werden können (vgl. Terwiesch/Xu 2004). Der unterschiedliche Umgang mit Lerneffekten spiegelt sich auch in verschiede­ nen Strategien für die Belegschaftsanpassung während des Anlaufs wieder. Die Wahl der Strategie zur Belegschaftsanpassung ist insbesondere in personalintensiven Pro­ duktionsschritten entscheidend, beispielsweise in der Endmontage der Automobilin­ dustrie. Hier unterscheiden Clark und Fujimoto (1991) drei Strategien: – Bei der Entlassung/Wiedereinstellung der Belegschaft werden während des Pro­ duktionsanlaufs zunächst nur wenige erfahrene Arbeiter eingesetzt. Dies erleich­ tert die Arbeitsverteilung während des Anlaufs. Es führt jedoch zu einer geringen Stabilität bei den zugeteilten Aufgaben, weil kontinuierlich Aufgaben an die re­ guläre Belegschaft übergeben werden müssen. – Die vorübergehende Erhöhung der Belegschaft setzt hingegen auf Kontinuität bei den Tätigkeiten, um schnelles Lernen zu begünstigen. Die zusätzlichen Arbeits­ kräfte werden hierbei zum Ausgleich der geringeren Produktivität zu Beginn des Anlaufs herangezogen. – Eine gleichbleibende Belegschaft bietet Vorteile in Situationen, in denen sich An­ passungen der Belegschaft aus Kosten- oder regulatorischen Gründen nicht ohne Weiteres realisieren lassen.

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Neue Möglichkeiten zur Qualifizierung von Mitarbeitern entstehen gegenwärtig durch die Weiterentwicklung von Soft- und Hardware zur Darstellung von virtuellen Realitä­ ten. Beispielsweise wird der Einsatz von 3D-Brillen erprobt, um Mitarbeiter hinsicht­ lich neuer Montagetätigkeiten zu schulen, bevor sie diese tatsächlich am Endmonta­ geband ausführen (vgl. Brough et al. 2007).

2.2 Anläufe von Produktvarianten Vor dem Hintergrund heterogener Kundenanforderungen und dem Trend der „Mass Customization“, stehen Produzenten vor der Herausforderung den Anlauf mehrerer Produktvarianten zu koordinieren. Konfliktäre Ziele sind hierbei die schnelle Steige­ rung des Produktionsvolumens, um Kostenreduzierungen zu erreichen, und die Fä­ higkeit schnell eine breite Produktpalette anbieten zu können. Slamanig und Winkler (2011) unterscheiden hier zwischen drei Strategien: High-Volume-Low-Mix (HVLM), Low-Volume-High-Mix (LVHM) und High-Volume-High-Mix (HVHM). Das langfristige Ziel aller Strategien ist die Fähigkeit, eine große Variantenviel­ falt bei großen Produktionsvolumen anbieten zu können. Die Strategien lassen sich danach unterscheiden, welches der beiden Ziele zunächst priorisiert wird. Kriterien für die Auswahl der Strategie können das Preissegment des Produkts, der Innovati­ onsgrad hinsichtlich des Produkts und des Prozesses, die Anzahl an Gleichteilen, die unverändert in verschiedenen Varianten verwendet werden können, und das Wettbe­ werbsumfeld sein. – Die HVLM-Strategie stellt zunächst das schnelle Erhöhen des Produktionsvolu­ mens für eine kleine Anzahl an Varianten in den Vordergrund. Durch die Fo­ kussierung auf wenige Varianten und das Nutzen der für diese realisierbaren Lerneffekte wird schnell eine Prozessstabilisierung erreicht. Die durch das hohe Produktionsvolumen erzielbaren Skaleneffekte reduzieren die Produktionskos­ ten, so dass ein Markteintritt zu niedrigen Verkaufspreisen möglich ist. In der zweiten Phase wird dann die Anzahl der produzierten Varianten vergrößert. Die Einführung von neuen Varianten beinhaltet auch das Potenzial, bei niedrig blei­ benden Produktionskosten die Preise zu stabilisieren. Die HVLM-Strategie eignet sich aufgrund der im Vergleich geringen Herstellkosten für Produkte im mittleren Preissegment, in dem Kunden typischerweise keine großen Innovationen erwar­ ten. Eine große Anzahl an Gleichteilen zwischen den Varianten begünstigt die Ausweitung der Produktion im zweiten Schritt. Um den Absatz der Produktion sicherzustellen, ist eine hohe erwartete Nachfrage zum Zeitpunkt der Marktein­ führung erforderlich. Begünstigt wird dies beispielsweise durch einen großen Marktanteil. Als Beispiel für die Anwendung der HVLM-Strategie nennen Slama­ nig und Winkler (2011) die Einführung des neuen VW Beatles in den 1990iger Jahren in den USA, bei der das Auto zunächst in großen Stückzahlen aber nur in wenigen Ausstattungsvarianten angeboten wurde.

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Die LVHM-Strategie hat das Ziel, schnell eine möglichst breite Variantenauswahl anzubieten. Dabei bleibt das Produktionsvolumen zunächst klein, um die Kom­ plexität beherrschbar zu machen. Die LVHM-Strategie ist insbesondere für Pro­ dukte im Premiumsegment geeignet, in dem Kunden Wert auf eine große Varian­ tenauswahl und Innovationen legen. In diesem Marktsegment ist die erwartete Nachfrage zu Beginn des Produktlebenszyklus typischerweise klein. In der Pra­ xis fand die LVHM-Strategie beispielsweise bei der Einführung des BMW 7er Ende 2009 ihre Anwendung. Schuh, Desoi und Tücks (2005) unterscheiden drei Mög­ lichkeiten, eine LVHM-Strategie zu implementieren: – Die Slow-Motion-Strategie, sieht den parallelen Anlauf aller Varianten vor. Da­ bei bleibt das Produktionsvolumen über eine längere Zeit für alle Varianten niedrig. – Die Dedication-Strategie, ist durch den sequenziellen Anlauf von Varianten charakterisiert. – Die Step-by-Step-Strategie setzt auf eine Entkopplung der Anläufe unter an­ derem durch das Einrichten von Puffern, so wird eine separate Optimierung der Anläufe ermöglicht. Die HVHM-Strategie, die von Beginn an ein großes Produktionsvolumen für viele Varianten vorsieht, lässt sich nur anwenden, wenn sowohl die Produktvarianten als auch die Produktionsprozesse ein sehr geringes Maß an Komplexität aufwei­ sen. Anwendungsfälle sind sogenannte „Facelift Projekte“, die lediglich optische und technische Überarbeitungen eines Fahrzeugmodells beinhalten.

2.3 Anläufe in Produktionsnetzwerken Wenn Produkte an mehreren Standorten in einem Netzwerk hergestellt werden, müs­ sen die Anläufe in diesem Netzwerk koordiniert werden. In der Praxis werden die Anläufe an verschiedenen Standorten typischerweise sequenziell organisiert (vgl. Be­ cker/Stolletz/Stäblein 2017). Die Grundidee hinter diesem Vorgehen ist, dass das an einem Standort gewonnene Prozesswissen für einen besseren Anlauf an den anderen Standorten genutzt werden kann. Es ist deshalb zunächst für jeden Produkttyp zu entscheiden, an welchen Stand­ orten und in welcher Reihenfolge die Anläufe erfolgen sollen. Becker, Stolletz und Stäblein (2017) zeigen, dass ein integrierter Planungsansatz sequenziellen Ansätzen überlegen ist, bei denen Entscheidungen über Produkt-zu-Standort-Allokationen und die Reihenfolge der Anläufe nacheinander getroffen werden. Wenn die Standort- und die Reihenfolgeentscheidungen für die Anläufe festgelegt wurden, muss der Wissenstransfer zwischen den Standorten sichergestellt wer­ den. Die konservativste Strategie für den Wissenstransfer ist die von Intel Anfang der 1990er Jahre entwickelte Copy-Exactly-Strategie (CE-Strategie; vgl. Terwiesch/Xu 2004). Diese Strategie sieht vor, beim Transfer von Produktionsprozessen von einem

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Standort zum nächsten komplett auf Änderungen am Produktionsprozess und den genutzten Produktionsressourcen zu verzichten. Dies bedeutet, dass auf den Einsatz neuer Anlagen verzichtet wird und stattdessen bewusst veraltete Anlagen eingesetzt werden. Abbildung 2(a) stellt qualitativ die erreichbare Ausbeute im Zeitverlauf für einen Transfer mit Wechsel im Prozess dar. Der Einsatz der neuesten Technologie beim Anlauf kann dazu führen, dass die Ausbeute zu Beginn der Produktion deutlich niedriger ist als an Standorten mit der alten Technologie. Die Anwendung der CE-Stra­ tegie ermöglicht es hingegen, an allen Standorten ohne nennenswerte Verluste an die Lernkurve der anderen Standorte anzuknüpfen (Abbildung 2(b)). Terwiesch und Xu (2004) identifizieren eine Reihe von Faktoren, die die Anwen­ dung der CE-Strategie begünstigen. Die CE-Strategie ist insbesondere geeignet für Pro­ duktionsprozesse, bei denen der Kenntnisstand zu Beginn des Anlaufs gering ist, für die es schwierig ist Verbesserungen zu erreichen oder die besonders störanfällig sind. Außerdem erweist sich die CE-Strategie bei kurzen Produktlebenszyklen und einem steilen Anstieg der Nachfrage sowie großen Nachfragespitzen als vorteilhaft. Die Übertragung des Prozesswissens von einem Standort zum nächsten kann au­ ßerdem durch den Austausch von Personal begünstigt werden. Terwiesch, Bohn und Chea (2001) geben ein Beispiel aus der Elektronikindustrie, bei dem zunächst Mitar­ beiter aus Singapur für die Pilotserie in die USA entsandt wurden und anschließend gemeinsam mit Kollegen aus den USA zum Hochlauf der Massenproduktion wieder nach Singapur zurückkehrten. Transfer ohne CE-Strategie

Transfer mit CE-Strategie

Fabrik 1 Ausbeute

Ausbeute

Fabrik 1 Entwicklungsfabrik Fabrik 2

Fabrik 2

Entwicklungsfabrik Ausbeuteverluste

Zeit (a)

Zeit (b)

Abb. 2: Ausbeuteverlauf mit und ohne CE-Strategie (vgl. Terwiesch/Xu 2004).

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3 Bedeutung von funktionalen Schnittstellen für den Anlauf Der Produktionsanlauf folgt im Produktlebenszyklus unmittelbar auf die Produktent­ wicklung. Viele Entscheidungen, die während der Produktentwicklung getroffen wer­ den, haben einen Einfluss auf den Anlauf und die damit erreichbare TTM und TTV. Carrillo und Franza (2006) untersuchen Investitionsstrategien in Produkt- und Prozessfähigkeit während der Entwicklung. Sie können zeigen, dass ausreichend Res­ sourcen vorausgesetzt, deren simultane Allokation auf Prozess- und Produktentwick­ lung (concurrent engineering) optimal ist. Außerdem identifizieren Sie einen engen Zusammenhang zwischen den Entscheidungen über TTM und TTV. Auch die vor- und nachgelagerten Stufen im Produktionsnetzwerk sind während des Anlaufs durch Unsicherheit und Dynamik gekennzeichnet, deshalb sind auch die Schnittstellen zu Lieferanten und Kunden für einen erfolgreichen Anlauf relevant. Zentrale Aufgaben des Einkaufs sind die Lieferantenauswahl und die Lieferan­ tenkoordination während des Anlaufs. Das Auftreten von Lerneffekten bei Zulieferern hat einen direkten Einfluss auf die Lieferantenauswahl. Eine Single-sourcing-Strate­ gie, bei der das Auftragsvolumen auf einen Zulieferer gebündelt wird, führt in vie­ len Fällen zu besseren Ergebnissen als das Aufteilen auf mehrere Lieferanten. Dies ist durch die größere Produktionsmenge bei einem Lieferanten begründet, welche ihm ein schnelleres Voranschreiten entlang der Lernkurve ermöglicht. Die Vorteilhaftig­ keit einer Single-sourcing-Strategie wird noch verstärkt, wenn die Lieferanten unter­ schiedlich steile Lernkurven aufweisen (vgl. Glock 2012). Nugroho (2011) untersucht den Einfluss des Informationsaustauschs und Gleich­ teileanteils in einer Built-to-order-Lieferkette. Der Gleichteileanteil wird als ein Hebel für kürzere Anläufe und flexiblere Wertschöpfungsketten identifiziert. Vertrieb und Marketing generieren durch Marktanalysen Informationen über die Kundenerwartung, die als Entscheidungsgrundlage z. B. bei der Wahl zwischen HVLM oder LVHM-Strategie dienen. Erkenntnisse über die Marktentwicklung sind außerdem entscheidend, um Überproduktion und Überkapazitäten zu Beginn des Produktle­ benszyklus zu vermeiden. Eine weitere Aufgabe ist das Management von Kundenerwartungen über geziel­ te Produktankündigungen. Verfrühte Ankündigungen können auf Kundenseite zum Aufschub von Kaufentscheidungen führen. Um Markteinführungstermine einzuhal­ ten, kann die Produktion gezwungen sein, Tests in der Pilot- und Nullserie auszulas­ sen. Dies wiederum resultiert in Verzögerungen während des Hochlaufs und damit einer längeren TTV (vgl. Simola et al. 1998).

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4 Industriespezifika bei Produktionsanläufen Im Folgenden wird beispielhaft auf industriespezifische Gegebenheiten in der Auto­ mobilindustrie, der Halbleiterindustrie sowie der Pharmaindustrie eingegangen. Em­ pirische Studien zu Anläufen von hier nicht weiter betrachteten Möbel-, Fahrrad- und Festplattenherstellern finden sich bei Hilletofth und Eriksson (2011), Slamanig und Winkler (2011) und Terwiesch, Bohn und Chea (2001). Zentrale Unterscheidungskriterien zwischen den Industrien sind die Neuartigkeit von Produkten und Produktionsprozessen.

4.1 Automobilindustrie Eine Übersicht zu den Spezifika von Planungsproblemen von Anläufen in der Automo­ bilindustrie findet sich bei Becker, Schwarz und Stolletz (2018). In der Automobilin­ dustrie muss dabei zwischen Anlaufprojekten für neue Produkte und dem Anlauf von Varianten und Derivaten unterschieden werden, da sich diese im Änderungsumfang hinsichtlich Produkt und Prozess deutlich unterscheiden. Für das erste Produkt, das basierend auf einem neuen Plattformkonzept gefertigt wurde, berichtet Almgren (2000) von einer Anlaufdauer von 28 Wochen, wobei 5 Wo­ chen auf die Pilotserie und 23 Wochen auf den Hochlauf entfielen. Die Herausforderungen bei der Implementierung neuer Produktionsprozesse in der Automobilindustrie unterscheiden sich im weitgehend automatisierten Rohbau deutlich von der personalintensiven Endmontage. Im Rohbau liegt der Fokus auf der Inbetriebnahme neuer Maschinen und Roboter, während in der Endmontage vorran­ gig Arbeiter geschult werden müssen. Clark und Fujimoto (1991) unterscheiden drei Ansätze, um die zu Anlaufbeginn niedrigen Stückzahlen in der Endmontage zu realisieren: durch Verlangsamung der Bandgeschwindigkeit (Erhöhung der Taktzeit), durch leere Gehänge oder durch Redu­ zierung der Betriebszeit. Beim Einsatz von leeren Gehängen werden bei der Einlastung des Montagebands nicht alle Fördermittel (Gehänge) für die Karosserien belegt. Dies sorgt dafür, dass die Mitarbeiter genügend Zeit zum Fertigstellen neuer Montagetätig­ keiten haben. Dieser Ansatz bietet auch die Möglichkeit, auf einer Produktionslinie das Vorgängermodell und das neue Modell gemeinsam zu montieren. Aufgrund der sich reduzierenden Wertschöpfungstiefe bei den Automobilherstel­ lern und der großen Anzahl von Zulieferern ist das Lieferantenmanagement in dieser Industrie ein entscheidender Erfolgsfaktor für den Anlauf. Praxiskonzepte für das Lie­ ferantenmanagement sowie für Logistik-, Produktions- und Änderungsmanagement während des Anlaufs finden sich bei Schuh, Stölzle und Straube (2008).

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4.2 Halbleiterindustrie Der Zeitraum, in dem sich Halbleiterprodukte am Markt absetzen lassen, beträgt häu­ fig nur wenige Jahre. Keil et al. (2008) beschreiben Anlauflängen von 200 Wochen. Dies bedeutet, dass sich die Produkte fast im gesamten Verkaufszeitraum im Anlauf befinden. Kernaufgabe des Anlaufs in der Halbleiterindustrie ist das Erhöhen der Aus­ beute. Dabei ist das kumulierte Produktionsvolumen der Haupttreiber für die Steige­ rung der Ausbeute. Die Anlaufdauer wird deshalb auch vom Produkttyp getrieben. Kundenorientierte Logikprodukte z. B. für die Automobilindustrie mit kleineren Vo­ lumina gehen mit längeren Anläufen einher als die weitestgehend kundenneutralen Produkte der Großserienfertigung von z. B. DRAMs (vgl. Keil et al. 2008). Eine umfang­ reiche empirische Analyse der Lernkurven in der koreanischen Halbleiterindustrie fin­ det sich bei Chung (2001). Die Produktion neuer Produkte erfordert häufig neue Anlagen mit neuen Pro­ duktionsprozessen. Aus technischen Gründen, und um die kapitalintensiven Anla­ gen besser auszulasten, ergeben sich komplexe Materialflüsse, bei denen Anlagen im Herstellungsprozess mehrfach besucht werden. Außerdem werden in der Regel zahlreiche Produkte mit denselben Anlagen hergestellt. Daraus können Zielkonflik­ te zwischen den verschiedenen Produkten entstehen, die zu Anlaufverzögerungen führen können.

4.3 Pharmaindustrie Die Bedeutung eines schnellen Anlaufs ergibt sich in der Pharmaindustrie aus der begrenzten Zeit, für die ein Wirkstoff durch Patente geschützt werden kann. Hansen und Grunow (2015) beschreiben eine Länge des Anlaufs von 6 Monaten. Für die Her­ stellung neuer Medikamente werden häufig neue Prozesse eingesetzt (vgl. Carrillo/ Franza 2006). Das Herstellen von verschiedenen Medikamenten mit denselben Res­ sourcen kann aber auch aus Gründen der Wirkstoffreinheit unzulässig sein. Die Prozesse für die Neuzulassung von Medikamenten sind oft langwierig und umfassen umfangreiche klinische Studien. Um die Zeit von der Genehmigung eines Medikaments bis zum Markteintritt so kurz wie möglich zu halten, laufen die Entwick­ lung und Erprobung des Produktionsprozesses für die Massenfertigung und das Ge­ nehmigungsverfahren oft parallel. Es ergibt sich hier ein Zielkonflikt zwischen einer kurzen TTM und dem Risiko, Verpackungen tauschen zu müssen oder Medikamente sogar zu entsorgen, falls sich noch Änderungen durch das Genehmigungsverfahren ergeben. Dies ist nicht nur mit Kosten verbunden, sondern verzögert den Marktein­ tritt noch weiter (vgl. Hansen/Grunow 2015).

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552 | Justus A. Schwarz und Raik Stolletz

Slamanig, M.; Winkler, H.: An Exploration of Ramp-Up Strategies in the Area of Mass Customisation, in: International Journal of Mass Customisation, Vol. 4 (2011), pp. 22–43. Surbier, L.; Alpan, G.; Blanco, E.: A Comparative Study on Production Ramp-Up: State-of-the-Art and New Challenges, in: Production Planning & Control, Vol. 25 (2014), pp. 1264–1286. Terwiesch, C.; Bohn, R.E.: Learning and Process Improvement During Production Ramp-Up, in: Inter­ national Journal of Production Economics, Vol. 70 (2001), pp. 1–19. Terwiesch, C.; Bohn, R.E.; Chea, K.S.: International Product Transfer and Production Ramp-Up: A Case Study from the Data Storage Industry, in: R & D Management, Vol. 31 (2001), pp. 435–451. Terwiesch, C.; Xu, Y.: The Copy-Exactly Ramp-Up Strategy: Trading-Off Learning With Process Change, in: IEEE Transactions on Engineering Management, Vol. 51 (2004), pp. 70–84. Wiendahl, H.-P.; Hegenscheidt, M.; Winkler, H.: Anlaufrobuste Produktionssysteme, in: Werk­ stattstechnik online, Vol. 92 (2002), S. 650–655. Wochner, S. et al.: Planning for Ramp-Ups and New Product Introductions in the Automotive Indus­ try: Extending Sales and Operations Planning, in: International Journal of Production Econo­ mics, Vol. 182 (2016), pp. 372–383.

Ralf Gössinger und Bernd Hillebrand

Layoutplanung 1 1.1 1.2 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 4

Grundlegungen | 553 Einordnung in das Produktions- und Logistikmanagement | 553 Planungsprobleme | 554 Modellierung | 561 Diskrete Formulierung | 562 Kontinuierliche Formulierung | 565 Auffinden guter Lösungen | 569 Rein algorithmische Verfahren | 569 Expertengeführt algorithmische Verfahren | 580 Fazit | 582 Literatur | 583

Zusammenfassung. Im vorliegenden Beitrag werden zunächst die Grundstruktur des Layoutplanungsproblems herausgearbeitet sowie Spezialisierungen und realitätsan­ nähernde Erweiterungen des Grundproblems aufgezeigt. Daran anschließend werden alternative Grundformen seiner formalen Modellierung vorgestellt, die die Grundlage für eine algorithmische Suche nach guten Layouts bilden. Die mittlerweile große Viel­ falt an algorithmischen Lösungsverfahren wird systematisierend durchdrungen und es werden die aktuell feststellbaren Tendenzen der Forschung zur Layoutplanung auf­ gezeigt.

1 Grundlegungen 1.1 Einordnung in das Produktions- und Logistikmanagement Aufgabe der Layoutplanung¹ (synonym: innerbetriebliche Standortplanung, facility layout planning) ist die Positionierung von Organisationseinheiten² (z. B. Produkti­ onsanlagen, Abteilungen, Arbeitsplätze) innerhalb des begrenzten geographischen Raumes (z. B. Werkhalle, Bürogebäude, Großraumbüro), für den die Unternehmung ein Verfügungsrecht besitzt (vgl. Anjos/Vieira 2017, S. 1; Domschke/Drexl 1996, S. 2 f.; Singh/Sharma 2006, S. 425; Wäscher 1982, S. 15 ff.). Im funktionalen Kontext der Produktion und Logistik wird sie als eine Aufgabe der Prozessgestaltung bezeichnet (vgl. Kern 1992, S. 265 ff.; Tompkins et al. 2010, S. 30 ff.), weil die Anordnung der 1 Der Begriff Layoutplanung wird im Folgenden mit FLP abgekürzt. 2 Der Begriff Organisationseinheit wird im Folgenden mit OE abgekürzt. https://doi.org/10.1515/9783110473803-031

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Produktionsstellen einen maßgeblichen Einfluss auf die Erfüllung der Formalziele des Wertschöpfungsprozesses ausübt. Aufgrund des relativ hohen Aufwandes der Umsetzung von Layoutplänen wird eine geringe Änderungshäufigkeit angestrebt, so dass ein bestehendes Layout seine Wirkungen auf den Wertschöpfungsprozess im mittelfristigen Horizont entfaltet (vgl. Tompkins et al. 2010, S. 9 ff.). Diese Stärke und Dauer der Wirkungen begründet die Einordnung der FLP als taktische Aufgabe (vgl. Zäpfel 2000, S. 166 ff.). Das bedeutet, die FLP befasst sich mit der Konkretisierung strategischer ablaufstruktureller Grundsatzentscheidungen (z. B. Wahl des Organisa­ tionstyps der Produktion, Wahl der Produktionstechnologie) der Unternehmung und steht dabei in enger Wechselwirkung zu den ebenso bedeutsamen taktischen Auf­ gaben der Produktprogramm- (Produktintroduktion, -modifikation und -elimination sowie Wahl der Fertigungstiefe) und Potentialgestaltung (Kapazitätsdimensionierung und -strukturierung) (vgl. Corsten 1990, S. 27 ff.). So setzt die FLP Informationen über die geplanten Produktmengen, die Produktionsabläufe und die zu verwendenden Transportmittel voraus, beeinflusst aber mit ihrem Ergebnis gleichzeitig die Planung von Produktmengen und Transportmitteln (vgl. Domschke/Drexl 1996, S. 15; Wäscher 1982, S. 20 ff.; Zäpfel 2000, S. 169 ff.).

1.2 Planungsprobleme 1.2.1 Grundproblem Die in der FLP zu berücksichtigenden Aspekte werden in der Literatur nicht einheit­ lich spezifiziert (vgl. Drira/Pierreval/Hajri-Gabouj 2007, S. 256), vielmehr gibt es eine Vielfalt an Problemformulierungen, mit denen unterschiedlichen Gegebenheiten bei der Gestaltung realer Layouts Rechnung getragen werden soll. Als Grundproblem sei im Folgenden diejenige Formulierung bezeichnet, welche die wesentlichen Konstitu­ enten der Entscheidung über Layouts berücksichtigt (vgl. Helber 2014, S. 261; Wäscher 1982, S. 31). Zu diesen Konstituenten zählen: – Planungsrelevante Objekte sind ein Standortträger³ mit mehreren potentiellen Standorten⁴ und mehrere darauf zu positionierende OE. – Zwischen den OE und den potentiellen ST bestehen absolute Anordnungsbezie­ hungen derart, dass die OE Anforderung an die Gegebenheiten der ST haben. – Zwischen den OE bestehen relative Anordnungsbeziehungen, die mit positionsab­ hängigen Konsequenzen einhergehen. – Die Aufgabe besteht in der Positionierung der OE auf dem STT so, dass – alle ST-Anforderungen durch die -Gegebenheiten erfüllt werden und – die positionsabhängigen Konsequenzen mit der höchsten Präferenz einher­ gehen. 3 Der Begriff Standortträger wird im Folgenden mit STT abgekürzt. 4 Der Begriff Standort wird im Folgenden mit ST abgekürzt.

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Im Grundproblem besitzen die Grundflächen der OE dieselben Abmessungen. Die Flä­ che des STT ist begrenzt, aber ausreichend, um den Flächenbedarf der OE zumindest für eine zulässige Anordnung zu erfüllen. Die Positionen von OE können nicht beliebig gewählt werden, sondern es sind die ST-Anforderungen im Hinblick auf die benötigte Fläche (Inhalt, Form) durch die flächenbezogenen Gegebenheiten der gewählten ST zu erfüllen. Die Grundflächen der OE dürfen sich nicht mit den Flächenbegrenzun­ gen des STT (äußerer Rand und Ränder nicht verplanbarer Binnenflächen für Wege etc.) und den Flächenbegrenzungen der für andere OE gewählten ST überschneiden (absolute Anordnungsbeziehungen). Der Güterfluss zwischen den OE bildet die im Grundproblem zu erfassende re­ lative Anordnungsbeziehung und ergibt sich aus den durch die OE an den Bearbei­ tungsobjekten zu vollziehenden Vorgängen. Sind mehrere OE in die Bearbeitung in­ volviert, dann müssen die Entfernungen zwischen diesen OE durch Transporte über­ wunden werden. Die Transportintensität ist dabei durch das im Planungshorizont zu erfüllende Produktionsprogramm und die zu dessen Realisation erforderlichen Abfol­ gen von Bearbeitungsvorgängen (Produktionsverfahren) bestimmt. Zur Messung der Transportentfernung sind geeignete Bezugspunkte an den ST und Transportstrecken­ führungen zwischen den ST festzulegen (vgl. Zäpfel 2000, S. 171 f.). Im Grundproblem werden die ST-Mittelpunkte als Bezugspunkt und in Abhängigkeit vom verfügbaren Transportsystem der euklidische (z. B. bei Hängeförderern) oder der rechtwinklige Ab­ stand (z. B. bei Flurförderern) zur Entfernungsmessung gewählt. Aus dem Produkt aus Transportmenge und -entfernung ergibt sich als positionsabhängige Konsequenz die zu erfüllende Transportleistung. Aus ökonomischer Perspektive ist es erforderlich die positionsabhängigen Konse­ quenzen durch Kosten zu erfassen. Im Allgemeinen werden die Transport-, ST-Wech­ sel- und Lagerhaltungskosten als entscheidungsrelevant erachtet (vgl. Tompkins et al. 2010, S. 5; Wäscher 1982, S. 57 ff.). Die beiden zuletzt genannten Kostenarten kön­ nen dann im Entscheidungskalkül vernachlässigt werden, wenn deren Ausmaß im Vergleich zu den Transportkosten zu klein ist, um auf das Layout Einfluss zu neh­ men. So fallen bei der Erstellung eines Layouts mit ausschließlich neuen OE keine ST-Wechselkosten an (vgl. Kusiak/Heragu 1987, S. 231) beziehungsweise ist bei niedri­ ger Kapitalbindung der zu produzierenden Güter von irrelevanten Lagerhaltungskos­ ten auszugehen. Die Transportkosten werden hingegen in den Lösungsansätzen stets direkt (Transportleistung mal Transportkostensatz oder Transportzeit mal Zeitkosten­ satz mal Transportintensität) oder zumindest indirekt durch geeignete Ersatzgrößen (z. B. Transportleistung, Transportzeitensumme) berücksichtigt (vgl. Fandel/Fistek/ Stütz 2011, S. 39 f.). Bei gegebenen homogenen Transportmitteln lassen sie sich oh­ ne Genauigkeitsverlust durch die zu erbringende Transportleistung messen. Stehen die Transportmittel auch zur Disposition, dann ist der Transportkostensatz von dem jeweiligen Personalbedarf, Energiebedarf und Gebrauchsverschleiß pro Entfernungs­ einheit abhängig.

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– –

– –

Das Grundproblem der FLP lässt sich somit in folgender Weise strukturieren: Entscheidungsfrage: Welche Position nimmt welche OE auf dem STT ein? Entscheidungsschranken: – In Bezug zum STT darf eine OE nur derart positioniert werden, dass ihre Grundfläche vollständig auf der Grundfläche des STT liegt (absolute Anord­ nung). – In Bezug zu den anderen OE darf eine OE nur derart positioniert werden, dass sich die Grundflächen nicht überdecken (relative Anordnung). Entscheidungsziel: Minimiere die Transportkosten! Benötigte Informationen: – Abmessungen der Grundfläche des STT und der Grundflächen der OE, – Transportkostensätze pro Entfernungseinheit zwischen den OE, – Transportintensitäten zwischen den OE und – Koordinaten der beziehungsweise Entfernungen zwischen den möglichen Po­ sitionen der OE.

Trotz der dem Grundproblem zugrundeliegenden restriktiven Annahmen, weist es aufgrund der Interdependenzen zwischen den Positionsentscheidungen zu allen OE eine hohe Komplexität auf. Der Aufwand, der betrieben werden muss, um die opti­ male Lösung zu finden, steigt mit zunehmender Problemgröße (insbesondere Anzahl der OE) überproportional an. Es ist jedoch kein Lösungsverfahren bekannt, bei dem die Lösungszeit mit zunehmender Problemgröße nur polynomiell wächst (vgl. Garey/ Johnson 2000, S. 218).

1.2.2 Modifikationen Das beschriebene Grundproblem ist nicht in allen in der betrieblichen Praxis anzu­ treffenden Situationen der FLP gegeben. Teilweise liegen Spezialfälle des Grundpro­ blems vor, teilweise sind jedoch die Annahmen des Grundmodells nicht erfüllt, so dass Verallgemeinerungen vorzunehmen sind (vgl. Drira/Pierreval/Hajri-Gabouj 2007, S. 255 ff.). Spezialisierungen und Verallgemeinerungen lassen sich durch abweichen­ de Spezifikationen der Problemkonstituenten (vgl. Abbildung 1) herbeiführen. Spezialisierungen des FLP-Problems liegen insbesondere in Form von Einschrän­ kungen der Anordnungsmöglichkeiten vor: – Bei einem Zwang zur reihenförmigen Anordnung der OE (geradlinig, u-förmig, ringförmig) kann die dimensionale Erfassung des Raumes des STT auf eine Di­ mension reduziert werden (vgl. Anjos/Vieira 2017, S. 2 ff.; Hassan 1994, S. 2559 ff.). – Ist genau eine OE in ein bestehendes Layout mit positionsunveränderlichen OE einzufügen, dann sind die im Grundmodell enthaltenen Interdependenzen zwi­ schen den Positionsentscheidungen unterschiedlicher OE irrelevant (vgl. z. B. Bindschedler/Moore 1961, S. 41 ff.; Dickey/Hopkins 1972, S. 60).

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Kriterium

Ausprägungen

Anzahl

Objekte

STT

Erfassung des Raumes

einer eindimensional

Räumliche Begrenzung Form der Grundfläche Anzahl gegebener I/O-Punkte

OE Anordnungsbeziehungen positionsabhängige Konsequenzen

dreidimensional

nicht gegeben

gegeben

Rechteck

allgemeines Polygon einer

mehrere

eine

mehrere

Homogenität der Grundflächen

gegeben

nicht gegeben

Form der Grundfläche

Rechteck

allgemeines Polygon

relativ

absolut

eine

mehrere

Güterfluss

Layout

eine

mehrere

Mittelpunkte

I/O-Punkte

ein

mehrere

Typen

Anzahl der Dimensionen

Bezug

Anzahl der Dimensionen

Bezug der Entfernungsmessung

Anzahl

Ziele

zweidimensional

keiner

Anzahl

Inhalt

Vorschrift

Informationen

mehrere

Veränderungen im Zeitablauf

Vollständigkeit

Kosten

Zeit

Sicherheit

Extremierung nicht gegeben (statisch) gegeben (deterministisch)

Flexibilität

Ergonomie



Satisfizierung gegeben (dynamisch) nicht gegeben stochastisch unscharf

Abb. 1: Semantisches Differential der FLP-Probleme und Einordnung des Grundproblems (grau hin­ terlegt).

Eine weitere Spezialisierung liegt vor, wenn bezüglich der Grundfläche des STT kei­ ne Restriktionen relevant sind (z. B. beim Entwurf neuer Produktionsstätten, deren Gebäude passend zu einem festgelegten Layout errichtet werden sollen). Damit wird die FLP auf die relative Anordnung von OE beschränkt (vgl. Chwif/Pereira Barretto/ Moscato 1998, S. 125 ff.). In diesen Fällen der Spezialisierung sind nicht alle wesent­ lichen Bestandteile des FLP-Problems relevant, so dass das Auffinden nachweislich optimaler Lösungen vereinfacht wird.

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Erweiterungen sind immer dann erforderlich, wenn die dem Grundproblem zu­ grundeliegenden Annahmen realiter nicht erfüllt sind. Würde in dieser Situation die Grundproblemformulierung beibehalten, dann bestünde nicht einmal die Gewähr, dass die dazu gefundenen Lösungen in der Realität umsetzbar sind. Erweiterungen, die in der wissenschaftlichen Literatur intensiver diskutiert werden, beziehen sich auf die in Abbildung 1 rechts von den grau hinterlegten Ausprägungen befindlichen Zel­ len. Ihre unmittelbaren Konsequenzen für das Planungsproblem seien im Folgenden skizziert. Liegen mehrere STT vor (Mehrebenen-FLP; vgl. Ahmadi/Pishvaee/Akbari Jokar 2017, S. 159 ff.), die über Transportmittel (z. B. Lift) miteinander verbunden sind, dann ist durch die FLP die zusätzliche Entscheidungsfrage zu beantworten, welchem STT die einzelnen OE zuzuordnen sind. Damit geht die zusätzliche Entscheidungsschran­ ke einher, dass jede OE auf genau einem STT zu positionieren ist. Kann durch die FLP kein Einfluss auf die Kapazität der Transportverbindungen zwischen den STT genom­ men werden, dann bildet die jeweilige maximale Transportleistung für die Zuordnung der OE zu STT eine zusätzliche Entscheidungsschranke. Die Kosten für Transporte zwischen den STT sind als zusätzliche Komponente des Entscheidungsziels zu berück­ sichtigen. Besitzen der STT und/oder die OE eine unregelmäßige Form (kein Rechteck) oder sind die OE ungleich groß, dann ist zusätzlich zur Positionierung der OE auch über de­ ren Ausrichtung (Drehung) zu befinden. Dies beeinflusst die Möglichkeiten der Raum­ ausnutzung und damit die zwischen den OE zu überbrückenden Entfernungen (vgl. Bazaraa 1975, S. 433; Kusiak/Heragu 1987, S. 232). Für einen STT können zusätzlich zu seiner Begrenzung und Form auch Positio­ nen angegeben sein, an denen der Güterfluss entspringt beziehungsweise mündet (I/O-Punkte; vgl. Kim/Kim 2000, S. 4637 ff.). Hierdurch können bauliche Gegebenhei­ ten wie Zufahrten, Eingangs- oder Ausgangstore, Be- und Entladerampen berücksich­ tigt werden. Für das Planungsproblem ergeben sich zusätzliche positionsabhängige Konsequenzen in Form der Transportleistung, die zwischen OE und I/O-Punkten zu erbringen ist. Somit ist die Transportkostenkomponente in der Zielfunktion zu erwei­ tern. Sind der Zufluss von den I/O-Punkten zu den OE und der Abfluss von den OE zu den I/O-Punkten bereits eindeutig festgelegt (z. B. genau ein I/O-Punkt, genau ein I- und genau ein O-Punkt), dann lassen sich I/O-Punkte analog zu bereits unverän­ derlich positionierten OE im FLP-Problem berücksichtigen. Ist keine Eindeutigkeit gegeben, dann besteht die zusätzliche Entscheidungsfrage nach der Zuordnung von Zu- und Abflüssen einer OE zu den möglichen I/O-Punkten. Gleichzeitig sind dann zusätzliche Zuordnungsrestriktionen (z. B. Vollständigkeit der Zuordnung) zu berück­ sichtigen. Über die Transportintensität zwischen den OE und die Flächenbegrenzungen hinaus, können für die FLP weitere Anordnungsbeziehungen relevant sein (vgl. Zäp­ fel 2000, S. 175). Zusätzliche relative Anordnungsbeziehungen ergeben sich oftmals aus Emissionen und Absorptionen (z. B. mechanische Schwingungen, elektromagne­

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tische Strahlungen, stoffliche Austragungen/Ablagerungen) der OE, die mit positi­ ven/negativen Wirkungen auf die Aufgabenerfüllung anderer OE einhergehen. Ist das Ausmaß der Wirkungen entfernungsabhängig, dann sollten die entsprechen­ den OE möglichst nahe beieinander/weit voneinander entfernt positioniert werden. Darüber hinaus können relative Anordnungsbeziehungen auch durch ästhetische Wirkungen oder kulturell bedingte Anordnungspräferenzen gegeben (insbesondere bei Dienstleistungen, wenn der Kunde im Produktionsprozess mitwirkt) oder recht­ lich vorgeschrieben sein (insbesondere Arbeitsschutz; vgl. Schanze 1996, S. 1779 ff.). Weitere absolute Anordnungsbeziehungen ergeben sich aus den Anforderungen der OE an die potentiellen ST (z. B. Bodentragfähigkeit, Beleuchtungs-, Temperatur- und Be-/Entlüftungsverhältnisse, Energieversorgungsmöglichkeiten) und deren Gegeben­ heiten. Eine adäquate Erfassung der Anordnungsbeziehungen im Planungsmodell erfolgt auf zwei Wegen: – Beziehungen, die ein zulässiges Höchst- oder Mindestmaß der Wirkung definie­ ren, werden als zusätzliche Beschränkung in die Problemformulierung aufge­ nommen. – Beziehungen, die auf Wirkungen basieren, aus denen positionsabhängige Konse­ quenzen erwachsen, bilden eine Komponente der FLP-Zielfunktion. Im Grundproblem wird die Auswirkung des Layouts auf die Transportkosten/-leistung als eine positionsabhängige Konsequenz berücksichtigt, die auf die durch den Gü­ terfluss zurückzulegende Entfernung Bezug nimmt. Neben den im Grundproblem zur Entfernungsmessung herangezogenen Mittelpunkten der OE, werden in erwei­ terten Problemformulierungen I/O-Punkte der OE als Bezugspunkt gewählt, um die Genauigkeit zu erhöhen (vgl. Meller/Gau 1996, S. 352). Hierdurch wird gleichzeitig das Grundproblem dahingehend erweitert, dass für jede OE auch die Position des I/O-Punktes zu wählen ist. Somit steigt jedoch die Problemkomplexität, so dass abzu­ wägen ist, ob der Genauigkeitszuwachs den erhöhten Lösungsaufwand rechtfertigt. Der Genauigkeitszuwachs ist umso größer, je größer die Abmessungen der Grundflä­ chen der OE im Verhältnis zu den Abmessungen des STT und je unregelmäßiger die Formen der Grundflächen sind. Weitere güterflussbezogene Konsequenzen können etwa – Einschränkungen der Synchronisierbarkeit von Produktionsprozessen aufgrund heterogener Transportentfernungen zwischen den OE, – erhöhte Störanfälligkeit des Transports aufgrund der Struktur des Wegenetzes (z. B. enge, unübersichtliche Wege mit vielen Kreuzungen), und die dadurch zusätzlich erforderlichen Zwischenlagerbestände sein. Unter lay­ outbezogenen Konsequenzen werden Wirkungen subsumiert, die aus der Gestalt des Layouts als Ensemble der OE (z. B. Raumausnutzung, -übersichtlichkeit, -anordnung) oder den mit einem Layoutwechsel verbundenen Maßnahmen (z. B. Bauänderung, Repositionierung von OE, Produktionsstillstand während der Layoutumsetzung) re­

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sultieren. Die unterschiedlichen Dimensionen der Konsequenzen sind analog zu den bezüglich der Anordnungsbeziehungen getätigten Aussagen zu handhaben. Da diese zusätzlichen positionsabhängigen Konsequenzen nicht in derselben Di­ mension wie die Transportleistung gemessen werden (vgl. Kumara/Kashyap/Moodie 1988, S. 908), bildet die Addition der einzelnen Zielinhalte keine Grundlage für eine adäquate Zielformulierung. Soll die eindimensionale Zielsetzung des Grundproblems aufrechterhalten werden, dann müssen die Wirkungen in den einzelnen Dimensionen zu einem Präferenzindex aggregiert werden. Als Beispiele hierfür sind aus der Litera­ tur zwei Vorschläge hervorzuheben: – Das Closeness desirability rating (vgl. Lee/Moore 1967, S. 195 ff.) ist ein ordinal ska­ lierter Präferenzindex. Der Entscheidungsträger analysiert jede relative Anord­ nungsbeziehung in allen relevanten Dimensionen und verschafft sich dadurch ei­ nen Gesamteindruck über die jeweiligen positionsabhängigen Konsequenzen der Organisationseinheitenpaare. Dieser Gesamteindruck wird dann einer der folgen­ den Präferenzstufen für die unmittelbar benachbarte Anordnung zugeordnet (vgl. Domschke/Drexl 1996, S. 239; Nahmias 2013, S. 555 f.): A: Absolutely necessary, E: Especially important, I: Important, O: Ordinary important, U: Unimportant, X: Undesirable. – Die Efficiency scores (vgl. Yang/Kuo 2003, S. 130 ff.) werden mit Hilfe der Data En­ velopment Analysis ermittelt. Direkte Nachbarschaften zweier OE, die den maxi­ malen Effizienzwert von eins aufweisen, bilden die Menge der nicht-dominierten Nachbarschaften. Je mehr sich der Effizienzwert an den minimalen Wert annä­ hert, umso weniger wünschenswert ist eine direkte Nachbarschaft. Alternativ ist es möglich für jede positionsabhängige Konsequenz eine eigenständi­ ge Zielsetzung zu formulieren und damit das Grundproblem zu einem Problem bei mehrfacher Zielsetzung zu erweitern (vgl. Wäscher 1982, S. 236 ff.). Den einzelnen Zie­ len kann dann, wie im Grundmodell, eine Extremierungsvorschrift zugrunde liegen (vgl. Aiello/Enea/Galante 2006, S. 448 ff.). Darüber hinaus gelangen Satisfizierungs­ vorschriften zur Anwendung, wenn für positionsabhängige Konsequenzen entweder kein operationaler Extremwert existiert oder bereits die Erfüllung eines Mindest-/ Höchstmaßes ausreichend ist, weil sie Inhalt eines Nebenziels sind. Erweiterungen zum Grundmodell werden auch dann erforderlich, wenn die An­ nahmen des Grundmodells über die Unveränderlichkeit der Rahmenbedingungen und/oder die Informationsvollständigkeit für das zu lösende FLP-Problem nicht er­ füllt sind. Veränderliche Rahmenbedingungen können sich im Zeitablauf aus Verschie­ bungen der Anteile einzelner Produkte am Produktionsprogramm, Weiterentwick­ lungen der Produktionstechnologie, Veränderungen an den Transportmitteln oder Variationen des Zielsystems ergeben (vgl. Rosenblatt 1986, S. 78). Aufgrund des mit­ telfristigen Planungshorizontes sind Angaben zu den Rahmenbedingungen mit Unsi­ cherheit behaftet (d. h. unvollständig). Dadurch kann kein eindeutiger Wert, sondern nur ein Erwartungswert angegeben werden, von dem die Realisationswerte abwei­

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chen können. Mögliche Formen der Modellierung unsicherer Werte sind stochasti­ sche Variablen (vgl. z. B. Kouvelis/Kurawarwala/Gutiérrez 1992, S. 289 ff.; Palekar et al. 1992, S. 349 ff.; Rosenblatt/Lee 1987, S. 480 ff.), deren Streuung einer bestimm­ ten Wahrscheinlichkeitsverteilung folgt, oder Fuzzy-Variablen (vgl. z. B. Dweiri/Meier 1996, S. 3212; Enea/Galante/Panascia 2005, S. 309 ff.; Grobelny 1987, S. 178 ff.), bei denen für die möglichen Ausprägungen die Zugehörigkeit zu einem Wert quantifiziert wird.

2 Modellierung Bei der Modellierung von FLP-Problemen lassen sich grundsätzlich zwei Arten der Formulierung unterscheiden (vgl. Ahmadi/Pishvaee/Akbari Jokar 2017, S. 164 f.; Dri­ ra/Pierreval/Hajri-Gabouj 2007, S. 259 ff.; Tompkins et al. 2010, S. 305 f.). Bei einer dis­ kreten Formulierung wird der STT durch eine endliche Anzahl potentieller ST abge­ bildet. Ein potentieller ST vermag es, die Anforderungen mindestens einer OE zu er­ füllen, und es kann ihm höchstens eine OE zugeordnet werden. Demgegenüber ist in der kontinuierlichen Formulierung die Anzahl der potentiellen ST unendlich, weil die Positionen der OE in der Ebene durch die Koordinaten ihres Mittelpunktes und ihre geometrische Form bestimmt werden. Beide Formulierungsarten sind grundsätzlich dazu geeignet, den Entscheider bei der FLP zu unterstützen. Im Hinblick auf die Möglichkeiten und die Präzision der Erfassung einzelner Problemkonstituenten weisen sie Unterschiede auf. Die Vorzüge und Nachteile sind jedoch nicht einseitig verteilt, so dass keine generelle Dominanz einer Formulierungsart besteht. Deshalb kann die Wahl der Formulierungsart nur situativ, d. h. im Kontext eines konkreten FLP-Problems begründet werden. Relative Stärken der diskreten Formulierung zeigen sich bei der Erfassung unregelmäßiger (nicht-rechteckiger) Grundflächen der OE und des STT sowie mehrerer Dimensionen positionsabhängiger Konsequenzen, die sowohl entfernungs- als auch ST-bezogen sein können. Bei der kontinuierlichen Formulierung liegen die relativen Stärken in der Erfassung ungleich großer rechteckiger Grundflächen der OE und ihren I/O-Punkten und der damit präziseren Berücksichtigung positionsabhängiger, entfernungsbezoge­ ner Konsequenzen (vgl. Ahmadi/Pishvaee/Akbari Jokar 2017, S. 164 f.; Drira/Pierreval/ Hajri-Gabouj 2007, S. 259 f.; Singh/Sharma 2006, S. 426).

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2.1 Diskrete Formulierung Die diskrete Formulierung des FLP-Problems als quadratisches Zuordnungsproblem ist auf Koopmans/Beckmann (1957, S. 64 ff.) zurückzuführen. Dem Modell liegen die fol­ genden Annahmen zugrunde: – Es sind I OE (i, j = 1, . . . , I) auf einem STT mit K potentiellen ST (k, l = 1, . . . , K; K = I) so zu positionieren, dass der Gewinn (Deckungsbeiträge der Zuordnungen minus Transportkosten des Layouts) maximal ist. – Jeder ST erfüllt die Anforderungen jeder OE, d. h. die absoluten Anordnungsbe­ ziehungen werden im Modell implizit berücksichtigt. Die relativen Anordnungs­ beziehungen ergeben sich aus der positionsunabhängigen Transportintensität λ ij zwischen den OE i und j (i ≠ j). – Die für Transporte von ST k nach ST l relevanten Transportkostensätze d kl sind unabhängig von der Zuordnung der OE zu den ST. Die Dreiecksungleichung ist erfüllt. – Die Zuordnungen u ik und u jl einer OE i beziehungsweise j zum ST k beziehungs­ weise l sind eindeutig und gehen mit den Deckungsbeiträgen a ik beziehungswei­ se a jl einher. Die Deckungsbeiträge sind unabhängig von den Zuordnungen der anderen OE zu den anderen ST. Bestehen keine layoutabhängigen Umsatzwirkun­ gen, dann lassen sich die resultierenden negativen Werte für a ik beziehungsweise a jl als Kosten der Layoutumsetzung interpretieren. Die Zielfunktion lautet somit: max ∑ a ik ⋅ u ik − ∑ ∑ λ ij ⋅ d kl ⋅ u ik ⋅ u jl i,k

i,k j,l

Bei layoutunabhängigem Umsatz kann das Ziel der Kostenminimierung verfolgt wer­ den: min ∑ a ik ⋅ u ik + ∑ ∑ λ ij ⋅ d kl ⋅ u ik ⋅ u jl i,k

i,k j,k

Da die Zuordnungen nur derart vorgenommen werden können, dass eine OE genau einen ST belegt und ein ST genau eine OE aufnimmt, sind die Bedingungen der ein­ eindeutigen Zuordnung zu erfüllen: ∑ u ik = 1

∀k

i

∑ u ik = 1

∀i

k

u ik ∈ {0, 1}

∀i, k

Bedingt durch die Annahme, dass jede Zuordnungsmöglichkeit die ST-Anforderun­ gen erfüllt, wird mit dieser Modellformulierung im Minimum das Grundproblem der FLP abgebildet. Zusätzlich ist es möglich, alle Spezialisierungen und Verallge­ meinerungen, die sich auf die OE beziehen, durch das Modell implizit zu erfassen,

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563

indem bei der Identifikation der potentiellen ST die entsprechenden Ausprägungen zugrunde gelegt und abgeglichen werden. Im Hinblick auf die positionsabhängi­ gen Konsequenzen trägt das Modell neben den güterflussbezogenen auch den lay­ outbezogenen Wirkungen Rechnung und geht damit über das Grundproblem hin­ aus. Alternativ können FLP-Probleme in diskreter Weise als quadratisches Mengen­ überdeckungsproblem (quadratic set covering problem) formuliert werden. Dies ist dann vorteilhaft, wenn die OE unterschiedliche Abmessungen und unregelmäßige Formen aufweisen und damit auch in unterschiedlicher Ausrichtung (Drehung) an­ geordnet werden können. In diesem Fall ist es unzweckmäßig anzunehmen, dass jeder ST die Anforderungen (insbesondere der Grundfläche) jeder OE erfüllt, weil dann die Fläche des STT nur unzureichend ausgenutzt werden kann (kleinflächige OE belegen einen ST mit der Fläche, die auch für großflächige OE ausreichend ist). Ein erster Ansatz, der diesen Gegebenheiten Rechnung trägt, wurde von Bazaraa (1975, S. 432 ff.) vorgeschlagen. Dem Modell liegen die folgenden Annahmen zugrun­ de: – Der STT ist so in M Rastereinheiten (m = 1, . . . , M) aufgeteilt, dass deren Grund­ fläche kleiner als die Grundfläche einer OE ist. – Die Position einer OE i (i, j = 1, . . . , I) wird durch die Wahl der ST-Alternative k, l = 1, . . . , K und der zu dieser Alternative gehörenden Rastereinheiten spezifi­ ziert. Für jede OE i ist die Menge S(i) ihrer ST-Alternativen und die Menge N i (k) der bei der Wahl der ST-Alternative k zur Erfüllung der ST-Anforderungen benötigten Rastereinheiten m bekannt. Die Menge N i (k) wird durch den binären Vektor yik [M × 1] repräsentiert, wobei (m ∈ N i (k)) ⇒ y ikm = 1 und (m ∉ N i (k)) ⇒ y ikm = 0 gilt. – Die relativen Anordnungsbeziehungen ergeben sich aus der positionsunabhängi­ gen Transportintensität λ ij zwischen den OE i und j (i ≠ j). Die für Transporte von Alternative k nach Alternative l relevanten Transportkostensätze d(k i , l j ) bezie­ hen sich auf die Zentren der OE i, j. – Die Zuordnungen u ik beziehungsweise u jl einer ST-Alternative k beziehungsweise l zu einer OE i beziehungsweise j sind eindeutig und gehen mit Kosten der Layou­ tumsetzung a ik beziehungsweise a jl einher. – Für die I OE sind die ST-Alternativen so zu wählen, dass die Kosten der Layoutum­ setzung und die Transportkosten des Layouts in Summe minimal sind. Somit erweitert sich die Zielfunktion des quadratischen Zuordnungsproblems zu: min ∑ a ik ⋅ u ik + ∑ i,k∈S(i)

∑ λ ij ⋅ d (k i , l j ) ⋅ u ik ⋅ u jl

i,k∈S(i) j,l∈S(j)

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Die Nebenbedingungen der eineindeutigen Zuordnung sind so zu modifizieren, dass auch ungenutzte Rastereinheiten zulässig sind: ∑ u ik = 1

∀i

k∈S(i)

∑ y ikm ⋅ u ik ≤ 1

∀m

i,k∈S(i)

u ik ∈ {0, 1}

∀i, k ∈ S(i)

Durch die Wahl der „Granularität“ der Rastereinheiten erlaubt das Bazaraa-Modell eine beliebig genaue Annäherung an die unterschiedlichen Abmessungen und un­ regelmäßigen Formen der OE. Eine höchstmögliche Auflösung ist jedoch nicht erstre­ benswert, weil mit jeder zusätzlichen Rastereinheit der Lösungsaufwand (eine der Ne­ benbedingungen ist für jede Rastereinheit m zu prüfen) und der Datenbeschaffungs­ aufwand (die Mengen S(i) und N i (k) wachsen mit zunehmendem M) ansteigen (vgl. Kusiak/Heragu 1987, S. 233; Liggett 2000, S. 206). Die Festlegung der Mengen S(i) und N i (k) erfordert eine intensive Analyse der absoluten Anordnungsbeziehungen. Diese sollten sich nicht nur auf die Grundflächen des STT und der OE, sondern auf alle STAnforderungen und -gegebenheiten beziehen. Dadurch können offensichtlich unge­ eignete Positionierungen bereits vor der Suche nach optimalen Lösungen des Modells aus dem Optimierungsprozess ausgeschlossen werden, so dass überflüssiger Berech­ nungsaufwand vermieden wird. Diskrete Modellformulierungen erfordern somit bei OE mit heterogener Grundfläche stets einen Kompromiss zwischen der Abbildungsge­ nauigkeit der Grundfläche (und damit der Raumausnutzung) und dem mit dem Modell induzierten Datenbeschaffungs- und Lösungsaufwand. Auf diesen grundlegenden diskreten Modellformulierungen aufbauend, brach­ te die Forschung mit der Einbeziehung im Zeitablauf deterministisch schwankender (z. B. dynamisches Produktionsprogramm; vgl. Rosenblatt 1986, S. 78 ff.) oder im Zeit­ ablauf unsicher schwankender Einflussgrößen (z. B. stochastisch schwankende Trans­ portintensität; vgl. Palekar et al. 1992, S. 349 ff.) weitere inhaltliche Erweiterungen her­ vor. Das Hauptaugenmerk der auf diskrete FLP-Modelle bezogenen Forschung ist auf die Verbesserung der Modellformulierung im Hinblick auf die algorithmische Lösbar­ keit gerichtet. Drei nicht ganz voneinander unabhängige Entwicklungslinien sind er­ kennbar (vgl. Burkard 2013, S. 2751 ff.; Loiola et al. 2007, S. 660 ff.): – Linearisierungen der quadratischen Zielfunktion (vgl. Adams/Johnson 1994, S. 50 ff.; Frieze/Yadegar 1983, S. 92 ff.; Kaufman/Broeckx 1978, S. 208 ff., Lawler 1963, S. 589 ff.), – Bestimmung der konvexen Hülle des Lösungsraumes (Polytop; vgl. Jünger/Kaibel 2000, S. 445 ff.; Padberg/Rijal 1996, S. 151 ff.) und – Abschätzung des erreichbaren minimalen Zielfunktionswertes (lower bound) mit Hilfe zulässiger Transformationen, z. B. nach Gilmore-Lawler, durch Redukti­ onsverfahren, LP- und SDP-Relaxationen, Eigenwert-Ermittlungen, Dekomposi­

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565

tionen, Quadratische Programmierung und konische Repräsentation (zu einem Überblick vgl. Burkard 2013, S. 2759 ff.).

2.2 Kontinuierliche Formulierung Für FLP-Probleme mit ungleich großflächigen OE oder mehreren I/O-Punkten haben sich Modellformulierungen als vorteilhaft erwiesen, in denen die Objektdimensionen direkt erfasst werden. Aufgrund der kardinalen Messbarkeit und Modellierbarkeit längenbezogener Dimensionen werden entsprechende FLP-Modelle als kontinuier­ lich bezeichnet (continuous space; vgl. Anjos/Vieira 2017, S. 1 ff.). Eine erste Modellformulierung wurde von Heragu/Kusiak (1991, S. 6 f.) vorge­ schlagen. Sie basiert auf den Annahmen: – Die OE i (i, j = 1, . . . , I) haben eine rechteckige Grundfläche. Die Seitenlängen w i , h i sind bekannt und können sich von OE zu OE unterscheiden. – Die Grundfläche des STT ist rechteckig und hat die Seitenlängen w T , h T . Der Mit­ telpunkt des STT besitzt die Koordinaten x T = w T /2, y T = h T /2. – Zwischen den OE i, j (i ≠ j) bestehen relative Anordnungsbeziehungen in Form der Transportintensität λ ij und des Mindestabstandes s ij . – Die Entfernungen d ij zwischen den OE i, j werden mit Hilfe des rechtwinkligen Abstandes ihrer ST-Mittelpunkte (x i , y i ), (x j , y j ) gemessen und mit den Kosten­ sätzen c ij multipliziert. – Es sollen die ST-Koordinaten x i , y i der OE-Grundflächen so festgelegt werden, dass die Transportkosten minimal sind. Damit gilt die Zielfunktion: min ∑ c ij ⋅ d (x i , y i , x j , y j ) i,j

Es werden drei Arten von Nebenbedingungen berücksichtigt: – Die Grundflächen der OE überlappen sich nicht: 1 󵄨 󵄨󵄨 󵄨󵄨x i − x j 󵄨󵄨󵄨 + M ⋅ z ij ≥ ⋅ (w i + w j ) + d ij 2 1 󵄨 󵄨󵄨 󵄨󵄨y i − y j 󵄨󵄨󵄨 + M ⋅ (1 − z ij ) ≥ ⋅ (h i + h j ) + d ij 2 z ij ⋅ (1 − z ij ) = 0

∀i, j ∀i, j ∀i, j

Der Parameter M ist dabei eine große Zahl (z. B. M > 1/2 ⋅ (max(w i ) + max(w j )) + max(d ij )). Mit der Hilfsvariable z ij ∈ ℝ wird bewirkt, dass diese Restriktion ent­ weder bezüglich der x-Koordinaten (z ij = 0) oder bezüglich der y-Koordinaten (z ij = 1) erfüllt ist, aber auch in beiden Dimensionen erfüllt sein kann.

566 | Ralf Gössinger und Bernd Hillebrand



Die Grundflächen der OE liegen vollständig auf der Grundfläche des STT: 1 ⋅ wi 2 1 yi + ⋅ hi 2 1 xi − ⋅ wi 2 1 yi − ⋅ hi 2 xi +



≤ wT

∀i

≤ hT

∀i

≥0

∀i

≥0

∀i

Diese Restriktionen werden in Heragu/Kusiak (1991, S. 7) lediglich indirekt verbal spezifiziert: „. . . one may add suitable constraints as shown before [Modell für identische Grundflächen, d. V.] and ensure that the facilities are located within the boundaries of the floor plan.“ Die Koordinaten sind positive reelle Zahlen inklusive der Null: x i , yi ∈ ℝ+0 .

Durch die Anwendung von Standard-Linearisierungen für Absolutterme und die Defi­ nition z ij ∈ {0, 1} (bei gleichzeitigem Wegfall der Bedingung z ij ⋅(1 − z ij ) = 0) lässt sich das dargestellte Modell in ein äquivalentes gemischt-ganzzahliges lineares Programm überführen (vgl. Heragu/Kusiak 1991, S. 7). Da in dieser Formulierung die Seitenlängen der OE in beiden Richtungen fest vor­ gegeben sind, sind die bei der FLP üblicherweise bestehenden Freiheitsgrade nicht in vollem Umfang nutzbar. Insbesondere werden die Möglichkeiten, – OE um 90∘ zu drehen, – den Flächenbedarf der OE durch unterschiedliche Abmessungen ihrer Grundflä­ che zu erfüllen oder – das Flächenangebot des STT durch unterschiedliche Abmessungen seiner Grund­ fläche zu generieren durch die Modellformulierung ausgeschlossen. Eine entsprechend erweiterte Modellformulierung wurde von Camp/Carter/Van­ nelli (1991, S. 176 ff.) vorgeschlagen. Folgende Annahmen liegen zugrunde: – Die rechteckige Grundfläche einer OE i (i, j = 1, . . . , I) besitzt einen vorgegebe­ max nen Flächeninhalt a i sowie Mindest- und Höchstmaße lmin für die Länge der i , li kürzesten Seite. – Für den STT gilt analog, dass seine rechteckige Grundfläche den vorgegebenen max Flächeninhalt a T sowie Mindest- und Höchstmaße lmin für die Länge der kür­ T , lT zesten Seite aufweist. Die Koordinaten seines Mittelpunktes sind x T = 0, y T = 0. – Die relativen Anordnungsbeziehungen zwischen den OE i, j (i ≠ j) werden durch die Transportintensität λ ij gemessen. Die Transportintensität λ i zwischen der OE i und dem ihr eindeutig zugeordneten I/O-Punkt bildet eine absolute Anordnungs­ beziehung.

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567

Zur Messung der Entfernung d ij zwischen den OE i, j (i ≠ j) wird der rechtwinklige oder der euklidische Abstand in Bezug auf deren ST-Mittelpunkte herangezogen. Dies gilt analog für die Entfernung d i zwischen der OE i und „ihrem“ I/O-Punkt. Es sollen die ST-Koordinaten x i , y i und die Seitenlängen w i , h i der OE-Grundflä­ chen sowie die Seitenlängen w T , h T der Grundfläche des STT so festgelegt wer­ den, dass die Transportleistung minimal ist.

Die Zielfunktion lautet: min ∑ λ ij ⋅ d(x i , y i , x j , y j ) + ∑ λ i ⋅ d(x i , y i ) i,j

i

Es werden fünf Arten von Nebenbedingungen berücksichtigt: – Die Grundflächen der OE überlappen sich nicht: 󵄨 󵄨 1 󵄨 󵄨󵄨 󵄨󵄨x i − x j 󵄨󵄨󵄨 − ⋅ (w i − w j ) ≥ 0, wenn 󵄨󵄨󵄨y i − y j 󵄨󵄨󵄨 − 2 󵄨 󵄨 1 󵄨 󵄨󵄨 󵄨󵄨y i − y j 󵄨󵄨󵄨 − ⋅ (h i + h j ) ≥ 0, wenn 󵄨󵄨󵄨x i − x j 󵄨󵄨󵄨 − 2 –

1 ⋅ (h i + h j ) < 0 2 1 ⋅ (w i − w j ) < 0 2



∀i, j

Die Grundflächen der OE liegen vollständig auf der Grundfläche des STT: 1 1 ⋅ w T − (x i + ⋅ w i ) ≥ 0 2 2 1 1 ⋅ h T − (y i + ⋅ h i ) ≥ 0 2 2 1 1 (x i − ⋅ w i ) + ⋅ w T ≥ 0 2 2 1 1 (y i − ⋅ h i ) + ⋅ h T ≥ 0 2 2



∀i, j

∀i ∀i ∀i ∀i

Die Seitenlängen der OE-Grundflächen unter-/überschreiten die Mindest- bezie­ hungsweise Höchstmaße nicht: ≥0 min(w i , hi ) − lmin i

∀i

lmax i

− min(w i , h i ) ≥ 0

∀i

wi ⋅ hi = ai

∀i

Die Seitenlängen der STT-Grundfläche unter-/überschreiten die Mindest- bezie­ hungsweise Höchstmaße nicht: min(w T , hT ) − lmin ≥0 T lmax − min(w T , hT ) ≥ 0 T wT ⋅ hT = aT

568 | Ralf Gössinger und Bernd Hillebrand



Die Koordinaten und Seitenlängen sind reelle beziehungsweise positive reelle Zahlen inklusive der Null: xi , yi ∈ ℝ wi , hi ∈ wT , hT ∈

ℝ+0 ℝ+0

∀i ∀i

Diese Modellformulierung ist aufgrund der enthaltenen nichtlinearen Komponenten der Zielfunktion (rechtwinkliges beziehungsweise euklidisches Abstandsmaß) und der Nebenbedingungen (Absolutterme, Multiplikation der Entscheidungsvariablen w i , h i und w T , h T ) einer algorithmischen Lösung schwer zugänglich. Um den Lö­ sungsprozess zu beschleunigen, können Standardlinearisierungen für Absolutterme herangezogen und die multiplikativen Verknüpfungen der Entscheidungsvariablen zur Ermittlung des Flächeninhalts durch additive Verknüpfungen zur Ermittlung des Umfangs der rechtwinkligen Grundfläche herangezogen werden. Ein entsprechendes gemischt-ganzzahliges lineares Modell für den Fall rechtwinkliger Abstandsmessung wird von Montreuil (1991, S. 99 ff.) vorgeschlagen. Mit dem Vorliegen dieser grundlegenden kontinuierlichen Modellformulierungen verlagerte sich der Forschungsfokus von der möglichst genauen Abbildung der Grund­ flächenformen hin zur Verbesserung der Modelle im Hinblick auf ihre algorithmische Lösbarkeit. Als Schwerpunkte sind dabei zu nennen (vgl. Anjos/Vieira 2017, S. 7 ff.): – Linearisierungen des rechtwinkligen Abstandsmaßes (vgl. Sherali/Fraticelli/ Meller 2003, S. 639), – lineare Approximation nichtlinearer Beziehungen (vgl. Sherali/Fraticelli/Meller 2003, S. 632), – Sequenzpaar-Formulierung der relativen Anordnung von OE (vgl. Meller/Chen/ Sherali 2007, S. 652 ff.), – Eliminierung von Layouts aus dem Lösungsraum, die sich ausschließlich durch ihre Drehung (90∘ , 180∘ , 270∘ ) voneinander unterscheiden (vgl. Sherali/Fraticel­ li/Meller 2003, S. 634 ff.), – Einbeziehung redundanter Beschränkungen (valid inequalities), die den Lö­ sungsraum strukturieren (vgl. Castillo/Westerlund 2005, S. 435 ff.; Meller/Na­ rayanan/Vance 1999, S. 120 ff.) und – Modelldekomposition in die Stufen „relative Positionierung“ und „Grundflächen­ formung“ (vgl. Anjos/Vannelli 2002, S. 6 ff.; Anjos/Vannelli 2006, S. 113 ff.; Camp/ Carter/Vannelli 1991, S. 181 ff.; Jankovits et al. 2011, S. 201 ff.; Lacksonen 1994, S. 61 ff.; Tam/Li 1991, S. 169 ff.).

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3 Auffinden guter Lösungen Im Spektrum der bislang vorgeschlagenen Lösungsverfahren zur FLP lassen sich nach dem Kriterium „Art der Algorithmierung“ die Klassen der rein algorithmischen und der expertengeführt algorithmischen Verfahren unterscheiden. Im zuerst genannten Fall wird zu einer in Modellform vorliegenden Problemstellung durch Ausführung ei­ ner endlichen Folge vollständig explizierter Verfahrensschritte eine Lösung gefunden, während im zuletzt genannten Fall in einem Teil der Verfahrensschritte ein Rückgriff auf implizites menschliches Expertenwissen erfolgt.

3.1 Rein algorithmische Verfahren Auf der Grundlage des Kriteriums „verfolgter Optimalitätsanspruch“ werden bei den rein algorithmischen Verfahren die Unterklassen exakte Verfahren und heuristische Verfahren gebildet.

3.1.1 Exakte Verfahren Charakteristikum der exakten Lösungsverfahren ist die Fähigkeit, zu einem durch ein formales Modell ausgedrückten Optimierungsproblem die nachweislich beste Lö­ sung in endlicher Zeit ermitteln zu können. Das Spektrum der zur FLP anwendbaren exakten Lösungsverfahren wird durch die Eigenschaften der Modellformulierung be­ stimmt, insbesondere die Relevanz ganzzahliger Entscheidungsvariablen und das Vorhandensein nichtlinearer Terme: – Während die zur FLP formulierten diskreten Modelle definitionsgemäß ganzzah­ lige (binäre) Entscheidungsvariablen enthalten, werden bei den kontinuierlichen Modellen oftmals zum Zwecke der Linearisierung zusätzlich zu den kontinuierli­ chen Entscheidungsvariablen ganzzahlige (binäre) Entscheidungsvariablen ein­ bezogen. – Die FLP-Modelle weisen Nichtlinearitäten auf, wobei in den diskreten Modellen insbesondere die Zielfunktion (quadratisch) und in den kontinuierlichen Model­ len, insbesondere aufgrund der Entfernungsmessung (Absolutterme, Wurzel aus Quadrattermen) sowohl die Zielfunktion als auch die Nebenbedingungen betrof­ fen sind. Da sich die genannten Nichtlinearitäten oftmals linearisieren lassen (vgl. Abschnitt 2), werden zur Lösung von FLP-Problemen zumeist Ansätze der gemischt-ganzzahligen Optimierung herangezogen. Zu nennen sind dabei die Branch-and-Bound-Verfahren (vgl. Dakin 1965; Land/Doig 1960), das Cutting-Plane-Verfahren (vgl. Gomory 1958)

570 | Ralf Gössinger und Bernd Hillebrand

sowie deren Kombination zu Branch-and-Cut-Verfahren (vgl. Padberg/Rinaldi 1989). Grundidee dieser Verfahren ist es, ausgehend von der Lösung des im Hinblick auf die Ganzzahligkeit relaxierten Problems (LP-Relaxation) den zulässigen Bereich optima­ ler Lösungen sukzessive so lange einzuschränken, bis die optimale ganzzahlige Lö­ sung ermittelt wurde. Tabelle 1 gibt einen exemplarischen Überblick über die Anwen­ dung exakter Verfahren im Kontext der FLP. Die Leistungsfähigkeit der zur Lösung von diskret modellierten FLP-Problemen vorgeschlagenen Branch-and-Bound-Verfahren wird vor allem durch die Abschätzung der Untergrenze (lower bound; vgl. Abschnitt 2.1) und die angewendeten Verzwei­ gungsregeln beeinflusst (vgl. Burkard 2013, S. 2780; Domschke/Drexl 1996, S. 205 f.). Im Kontext der FLP ist im Wesentlichen zwischen binärer und polytomer Verzwei­ gung zu unterscheiden. Im Fall der binären Verzweigung wird die Lösungsmenge in genau zwei disjunkte Teilmengen zerlegt. Bei Einzelzuordnung wird eine OE einem ST zugeordnet (vgl. Gilmore 1962; Lawler 1963); bei Paarzuordnung wird ein OE-Paar einem Paar von ST zugeordnet (vgl. Gavett/Plyter 1966; Land 1963; Pierce/Crowston 1971). Im Fall der polytomen Verzweigung kann die Lösungsmenge in mehr als zwei disjunkte Teilmengen zerlegt werden. Erfolgt dies variationsbasiert, dann wird ent­ weder von einer OE zu allen verfügbaren ST oder von einem ST zu allen verfügbaren OE verzweigt (vgl. Mautor/Roucairol 1994). Bei permutationsbasierter Verzweigung wird zu allen von der aktuellen Lösungsmenge ausgehend erzeugbaren zulässigen OE/ST-Zuordnungen verzweigt (vgl. Roucairol 1987). Bei der Lösung von diskret modellierten FLP-Problemen zeigte sich, dass mit zunehmender Anzahl der anzuordnenden OE die Leistungsfähigkeit des CuttingPlane-Verfahrens hinter der der anderen exakten Verfahren zurückblieb (vgl. Baza­ raa/Sherali 1982, S. 992). Das von Castillo et al. (2005, S. 60 f.) beschriebene Extended Cutting-Plane-Verfahren für kontinuierlich modellierte FLP-Probleme erweitert das klassische Verfahren für den Fall differenzierbarer, pseudo-konvexer Zielfunktionen und Nebenbedingungen und weist im Vergleich zu anderen exakten Lösungsverfah­ ren eine höhere Leistungsfähigkeit auf. Mit der derzeit verfügbaren Rechentechnik ist es für FLP-Probleme aufgrund des mit der Anzahl zu berücksichtigender OE polynomiell wachsenden Lösungsaufwan­ des nicht möglich, das Grundproblem mit mehr als 20 OE in akzeptabler Zeit exakt zu lösen (vgl. Burkard 2013, S. 2782). Für allgemeine FLP-Probleme ist diese Zahl oftmals geringer (vgl. z. B. Ahmadi/Pishvaee/Akbari Jokar 2017, S. 165; Anjos/Vieira 2017, S. 6).

3.1.2 Heuristische Verfahren Heuristiken sind algorithmische Verfahren zum Auffinden tendenziell guter, zulässi­ ger Lösungen für eine Klasse von Problemen. Weil mit ihrem Einsatz kein Optimali­ tätsanspruch verfolgt wird und damit der Nachweis der Optimalität einer gefundenen Lösung nicht erbracht werden muss, können sie die Lösungssuche nach einer kürze­

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Tab. 1: Anwendung exakter Lösungsverfahren auf Probleme der FLP (Beispiele in chronologischer Reihenfolge). Autoren

Verfahren Problem Besonderheit

Gilmore (1962) Land (1963) Lawler (1963) Gavett/Plyter (1966) Simmons (1969)

BB BB BB BB BB

SQAP SQAP SQAP SQAP SMIP

Pierce/Crowston (1971) Bazaraa (1975) Bazaraa/Sherali (1982) Burkard/Bönninger (1983) Roucairol (1987) Kouvelis/Kim (1992) Kiran/Karabati (1993) Lacksonen/Enscore (1993) Lacksonen (1994) Mautor/Roucairol (1994) Lacksonen (1997) Meller/Narayanan/Vance (1999) Lee/Huang/Chiang (2001) Sherali/Fraticelli/Meller (2003) Castillo et al. (2005) Castillo et al. (2005) Castillo/Westerlund (2005) Erdoğan/Tansel (2007) Meller/Chen/Sherali (2007) Amaral (2008)

BB BB CP CP BB BB BB BB BB BB BB BB BB BB BB CP CP BC BB BB

SQAP QSC SQAP SQAP SQAP SQAP SQAP DQAP DMIP SQAP DMIP SMIP SQAP SMIP SMIP SMIP SMIP SQAP SMIP SMIP

Hahn et al. (2008a) Hahn et al. (2008b) Solimanpur/Jafari (2008) Xie/Sahinidis (2008) Hahn/Smith/Zhu (2010) Palubeckis (2012) Klausnitzer/Lasch (2016)

BB BB BB BB BB BB BB

SQAP SQAP SMIP SMIP SQAP SQAP SMIP

– – – – einreihiges Layout, ungleichgroße Grundflächen – ungleichgroße Grundflächen – – – ringförmiges Layout ringförmiges Layout – ungleichgroße Grundflächen – ungleichgroße Grundflächen ungleichgroße Grundflächen ringförmiges Layout ungleichgroße Grundflächen ungleichgroße Grundflächen ungleichgroße Grundflächen ungleichgroße Grundflächen – ungleichgroße Grundflächen einreihiges Layout, ungleichgroße Grundflächen zusätzliche Kostenkomponenten mehrere STT ungleichgroße Grundflächen ungleichgroße Grundflächen mehrere STT, ungleichgroße Grundflächen einreihiges Layout I/O-Punkte, Transportwege, ungleichgroße Grundflächen

Legende Verfahren: BB: Branch-and-Bound CP: Cutting Plane BC: Branch-and-Cut

Probleme: DMIP: Mehrperiodiges kontinuierliches FLP-Problem DQAP: Mehrperiodiges quadratisches Zuordnungsproblem SMIP: Einperiodiges kontinuierliches FLP-Problem SQAP: Einperiodiges quadratisches Zuordnungsproblem QSC: Quadratisches Mengenüberdeckungsproblem

572 | Ralf Gössinger und Bernd Hillebrand

ren Zeit beenden als dies bei exakten Verfahren der Fall ist. Da allerdings bereits das Modell eine vereinfachte Abbildung der Realität darstellt, können dessen Annahmen mit einer Abweichung zwischen Modell- und Realitätsoptimum einhergehen. Deshalb ist der Einsatz von Heuristiken für komplexe Probleme mit großen Abmessungen be­ gründbar, bei denen die Lösungsdauer der exakten Verfahren inakzeptabel lang oder der Ressourceneinsatz, um die optimale Lösung in akzeptabler Zeit zu finden, inak­ zeptabel hoch wäre. Wie weit eine Heuristik regelmäßig von der optimalen Lösung abweicht, wird vor allem durch zwei Aspekte beeinflusst: – „Topographie“ des Lösungsraumes: Anzahl lokaler Optima, Unterschied zwi­ schen den Zielfunktionswerten einer durchschnittlichen und den lokal optimalen Lösungen, Entfernungen zwischen den lokalen Optima etc. – „Orientierungssinn“ der Heuristik: Fähigkeit, die Suche nach dem Auffinden eines lokalen Optimums fortzuführen oder die Lage lokaler Optima zu erahnen etc. In den folgenden Ausführungen liegt der Fokus auf problemspezifischen Heuristiken und Metaheuristiken. Neben diesen beiden Gruppen ist noch die Verfahrensgruppe zu nennen, in der exakte Lösungsverfahren mit den allgemeinen heuristischen Prin­ zipien „Verzicht auf den Optimalitätsnachweis“ und „künstliche Beschränkung des Lösungsraumes“ kombiniert werden. 3.1.2.1 Problemspezifische Heuristiken Problemspezifische Heuristiken nutzen Besonderheiten des FLP-Problems zur Gewin­ nung guter zulässiger Lösungen aus, so dass sie nur mittelbar zur Lösung andersar­ tiger Problemstellungen eingesetzt werden können. Um den Lösungsprozess zu be­ schleunigen, werden Dekompositionen des ursprünglichen Problems vorgenommen, die mit einfacher lösbaren und sukzessive zu lösenden Teilproblemen einhergehen. Es lassen sich zwei grundsätzliche Formen der Dekomposition unterscheiden: (1) Bei einer Dekomposition nach dem Anspruchsniveau der Zielerreichung ergeben sich die Teilprobleme „Erzeugen einer zulässigen Lösung“ und „Annähern an die optimale Lö­ sung“. Die Heuristik führt also zunächst ein Konstruktions- und dann ein Verbesse­ rungsverfahren aus. (2) Wird die Dekomposition nach der Art der zu treffenden Ent­ scheidung vorgenommen, dann sind die Teilprobleme „relative Anordnung“ und „ab­ solute Anordnung“ zu lösen. Durch die Heuristik wird zunächst das Teilproblem mit dem stärkeren und auf dessen Lösung aufbauend das mit dem schwächeren Einfluss auf den Zielfunktionswert gelöst (erst relative, dann absolute Anordnung). 3.1.2.1.1 Dekomposition nach dem Anspruchsniveau der Zielerreichung Für diskret modellierte Probleme ist eine Vielzahl von Heuristiken vorgeschlagen worden, die Konstruktions- oder Verbesserungsverfahren sind (vgl. Domschke/Drexl 1996, S. 207 ff.; Nahmias 2013, S. 569 ff.; Tompkins et al. 2010, S. 307 ff.; Zäpfel 2000, S. 180 ff.). Mit Konstruktionsverfahren wird eine erste zulässige Lösung erzeugt, d. h.

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573

nach Ihrer Ausführung sind alle OE mindestens einem potentiellen ST zugeordnet und allen potentiellen ST ist höchstens eine OE zugeordnet. Ausgehend von dieser Lösung wird dann mit Verbesserungsverfahren versucht, durch Vertauschen der ST der OE einen günstigeren Zielfunktionswert zu erreichen. Die Konstruktionsverfahren sind überwiegend Iterationsverfahren, die mit einem „leeren“ STT und einer Liste aller anzuordnenden OE beginnen und pro Iteration ei­ ne bestimmte Anzahl an OE in das Layout einfügen. Die Auswahl der nächsten anzu­ ordnenden OE und die Auswahl der ihnen zuzuordnenden potentiellen ST erfolgt mit Hilfe von Prioritätsregeln. Die einzelnen Konstruktionsverfahren unterscheiden sich in der Anzahl der für die erste Zuordnung auszuwählenden OE (Mächtigkeit der Start­ menge MS), der Anzahl OA der pro Iteration einzufügenden OE und den Kriterien, die den Prioritätsregeln zugrunde liegen. Erfolgt die Konstruktion auf der Basis der Trans­ portintensität, dann sind die folgenden Kriterien relevant (vgl. Domschke/Drexl 1996, S. 208): – Kriterien zur Auswahl der nächsten beziehungsweise ersten anzuordnenden OE: (A1) Summe der Transportintensitäten zu allen OE, (A2) Transportintensität zur zuletzt eingesetzten OE, (A3) höchste einzelne Transportintensität zu den be­ reits angeordneten beziehungsweise gerade anzuordnenden OE, (A4) Summe der Transportintensitäten zu allen bereits angeordneten OE, (A5) Zufall. – Kriterien zur Auswahl des zuzuordnenden ST: (B1) noch nicht zugeordneter ST mit der geringsten Summe der Entfernungen zu allen ST, (B2) noch nicht zugeordne­ ter ST in der Nachbarschaft zum ST der zuletzt zugeordneten OE, (B3) noch nicht zugeordneter ST mit der, bei Aufrechterhaltung aller bereits getroffenen Zuord­ nungen, geringsten Summe der Transportleistungen zu allen bereits zugeordne­ ten OE, (B4) noch nicht zugeordneter ST mit einem benachbarten zugeordneten ST mit der, auch durch den Wechsel der benachbarten Zuordnungen erzielbaren, geringsten Summe der Transportleistungen zu allen bereits zugeordneten OE, (B5) beliebiger ST mit der, auch durch Verändern einer bereits getroffenen Zuordnung erzielbaren, geringsten Summe der Transportleistungen zu allen bereits zugeord­ neten OE, (B6) Zufall. Beruht die Konstruktion auf einem Closeness desirability rating (vgl. z. B. Lee/Moore 1967; Seehof/Evans 1967), dann wird eine analoge Vorgehensweise gewählt, wobei an­ stelle der Transportintensität das Closeness rating und anstelle der Entfernung (als Komponente der Transportleistung) die Adjazenz (Nachbarschaft) zugrunde liegen (vgl. Tompkins et al. 2010, S. 305). Welche Kriterien in welcher Kombination zur Anwendung gelangen, wird in Ta­ belle 2 für ausgewählte Konstruktionsverfahren aufgezeigt. Als Verbesserungsverfahren gelangen für die FLP überwiegend Austauschverfah­ ren zur Anwendung, bei denen ausgehend von einer zulässigen Lösung in jeder Ite­ ration die Positionen mindestens zweier OE ausgetauscht werden, um den Zielfunk­ tionswert zu verbessern. Die Iterationen werden so lange fortgeführt, bis auf diesem

MS 1 1 1 1 1 3 1 2 I 2 3 1 I S N Index

Verfahren/Autor

G62, Gilmore(1962) HC66, Hillier/Connors (1966) CORELAP, Lee/Moore (1967) ALDEP, Seehof/Evans (1967) Umlaufmethode, Kiehne (1969) MAT, Edwards/Gillet/Hale (1970) Sukzessive Einbeziehung, Müller-Merbach (1970) Dreiecksverfahren, Schmigalla (1970) LSP, Zoller/Adendorff (1972) LPA, Neghabat (1974) FATE, Block (1978) SHAPE, Hassan/Hogg/Smith (1986) DISCON, Drezner (1987)

Legende:

N

N

A4

S S1 , N1 S1 , N1 N1 S1 , N1 N2 S, N

N1

N2

A3

N1

S, N1

N1 N1

A2

S2 , N2 S1

S

S, N S, N S

A1

Kriterien

S, N S3 , N3 S, N

S, N2

A5

S

S

S, N S S S S

B1

Kriterium ist für die Startmenge relevant Kriterium ist für die weiteren anzuordnenden OE relevant Reihenfolge der Kriterienanwendung

1 1 1 1 1 [1, 3] 1 1 – 1 [1, 3] 1 –

OA

Tab. 2: Charakterisierung von Konstruktionsverfahren zur FLP (Beispiele in chronologischer Reihenfolge).

N1 N S, N

S, N

N1

N N

B2

B4

S1 , N1

N N

N1 N2 S1 , N1

B3

N

N

B5

S S

B6

574 | Ralf Gössinger und Bernd Hillebrand

575

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Tab. 3: Charakterisierung von Verbesserungsverfahren zur FLP (Beispiele in chronologischer Reihen­ folge). Kriterien Verfahren/Autoren

MT C1

CRAFT, Armour/Buffa (1963) H63, Hillier (1963) HC63-66, Hillier/Connors (1966) Biased sampling, Nugent/Vollmann/Ruml (1968) COL, Vollmann/Nugent/Zartler (1968) FRAT, Khalil (1973) CRAFT-3D, Cinar (1975) CRAFT-M, Hicks/Cowan (1976) Terminal sampling, Hitchings/Cottam (1976) COFAD, Tompkins/Reed (1976) COFAD-F, Shore/Tompkins (1980) SPACECRAFT, Johnson (1982) RH63, Picone/Wilhelm (1984) MULTIPLE, Bozer/Meller/Erlebacher (1994)

2 2 2 2 2 2 [2, 3] 2 2 2 2 [2, 3] [2, 4] 2

Legende:

X Index

C2

C3

B1

X

X2 X X

X X X1 X X1

X X X X X X

B2 X X X

X2

X X X X X X X X X X X

Kriterium ist relevant Reihenfolge der Kriterienanwendung

Wege keine weitere Verbesserung mehr möglich ist. Da die Anzahl an Tauschmöglich­ keiten mit zunehmender Anzahl an der in den Tausch involvierten OE schnell ansteigt (vgl. Müller-Merbach 1970, S. 166 ff.; Wäscher 1982, S. 199), sind die meisten Verbesse­ rungsverfahren Zweiertauschverfahren. Neben der Mächtigkeit MT der Tauschmenge unterscheiden sich die Verbesserungsverfahren im Hinblick auf die Beschränkung der Menge zu analysierender Vertauschungsmöglichkeiten und die Auswahl der zu reali­ sierenden Vertauschungsmöglichkeit: – Die Menge zu analysierender Vertauschungsmöglichkeiten kann alle Möglichkeiten (C1) oder eine beschränkte Auswahl umfassen. Im zuletzt genannten Fall wird die Beschränkung kriteriengeleitet (C2) oder zufallsgesteuert (C3) herbeigeführt. – Als zu realisierende Vertauschungsmöglichkeit kann diejenige ausgewählt werden, für die zuerst ein Verbesserungseffekt (D1) oder die höchste Verbesserung (D2) festgestellt wird. Welche Kriterien in welcher Kombination zur Anwendung gelangen, wird in Tabelle 3 für ausgewählte Verbesserungsverfahren aufgezeigt. Im Verlauf der vergangenen 30 Jahre ist tendenziell ein Rückgang der Publikatio­ nen zu problemspezifischen prioritätsregelgesteuerten Heuristiken für FLP-Probleme erkennbar (vgl. Loiola et al. 2007, S. 672). Jedoch gelangen die spezifischen Regeln und Prinzipien oder sogar vollständige problemspezifische Heuristiken in Metaheuristiken zur Anwendung.

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3.1.2.1.2 Dekomposition nach der Art der zu treffenden Entscheidung Verfahren zur relativen Anordnung der OE generieren auf der Basis der relativen An­ ordnungsbeziehungen zwischen den OE ein Layout, das Aussagen zur optimalen Nachbarschaft der OE trifft, dabei aber die Grundflächenabmessungen der OE und des STT nicht oder nur grob berücksichtigt. Deshalb liegt nach der Ausführung eines relativen Anordnungsverfahrens in der Regel kein zulässiges Layout vor. Durch ein darauffolgend angewendetes Verfahren der absoluten Anordnung der OE werden die Grundflächenabmessungen so berücksichtigt beziehungsweise festgelegt, dass bei Aufrechterhaltung der optimalen Nachbarschaft ein möglichst guter Zielfunktions­ wert erreicht wird. Für die relative Anordnung wurden im Wesentlichen zwei Verfahrensgruppen ent­ wickelt, graphentheoretische Verfahren und Kreispositionierungsverfahren. Die gra­ phentheoretischen Verfahren zur FLP zielen darauf ab, einen maximalen planaren Gra­ phen mit höchstmöglicher Summe der Kantenbewertungen zu ermitteln (vgl. Goet­ schalckx 1992, S. 305; Liggett 2000, S. 208 ff.; Meller/Gau 1996, S. 353 f.; Singh/Sharma 2006, S. 426). Dabei werden die OE durch Knoten und deren Nachbarschaftsbeziehun­ gen durch Kanten repräsentiert. Die Kantenbewertung gibt den Vorteil der Nachbar­ schaft an und kann z. B. durch das Closeness desirability rating oder die Transportin­ tensität gemessen werden. Aus der Definition eines maximalen planaren Graphen (vgl. z. B. Domschke/Drexl 1996, S. 238 ff.) lässt sich herleiten, dass dieser ausschließlich aus Dreiecken besteht und somit insgesamt ein Deltaeder ist (vgl. Seppänen/Moore 1975, S. 240). Unter Be­ rücksichtigung dieser Nebenbedingung lässt sich die Bestimmung der optimalen rela­ tiven Anordnung als ganzzahliges lineares Optimierungsproblem formulieren und bei kleineren Problemabmessungen mit Hilfe exakter Verfahren lösen (z. B. Branch-andBound: vgl. Foulds/Robinson 1976; Branch-and-Cut: vgl. Jünger/Mutzel 1996). Bei grö­ ßeren Problemabmessungen ist eine Lösung dieses Optimierungsproblems mit Hilfe von Heuristiken möglich. Bei den Heuristiken, die auf der Graphentheorie aufbauen, kann ebenfalls zwi­ schen Konstruktions- und Verbesserungsverfahren unterschieden werden. In Abhän­ gigkeit von der Vorgehensweise erfordern graphentheoretische Konstruktionsverfahren (k)einen Planaritätstest. Ein Planaritätstest kann entfallen, wenn neue Deltaeder aus­ schließlich durch das Hinzufügen/Entfernen von Knoten in/aus Dreiecke(n) eines Deltaeders und/oder das überschneidungsfreie Austauschen von Kanten eines Delta­ eders erzeugt werden (vgl. Foulds/Robinson 1979, S. 80 ff.). Somit kann ein maximal planarer Graph, der alle OE umfasst, durch sukzessives Einfügen von OE (Knoten) ge­ neriert werden (triangulation expansion). Um dabei auf eine höchstmögliche Summe der Kantenbewertungen hinzuarbeiten, sollten bevorzugt vorteilhaftere Nachbar­ schaften aufgebaut werden. Da dies keine maximale Summe der Kantenbewertungen garantiert, kann während des Einfügens eine gezielte Veränderung der Nachbar­ schaft durch Neuplazierung der Knoten und/oder Austauschen der Kanten erfolgen

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(vgl. Domschke/Drexl 1996, S. 251 ff.). Als besonders leistungsfähige Beispiele hier­ für sind die Konstruktionsverfahren von Eades, Foulds und Giffin (1982) (wheel-ex­ pansion), Leung (1992) und Merker und Wäscher (1997) zu nennen (vgl. Domschke/ Krispin 1997, S. 190 f.; Wäscher/Merker 1997, S. 454 ff.). Wird hingegen die Konstruk­ tion eines Layouts mit einem Subgraphen gestartet, der alle Knoten (OE) umfasst, um sukzessive Kanten in absteigender Reihenfolge ihrer Kantenbewertung einzu­ beziehen (vgl. z. B. Carry et al. 1978, S. 356 ff.; Foulds/Gibbons/Giffin 1985, S. 1097), dann sind zeitaufwändige Planaritätstests erforderlich (vgl. Domschke/Krispin 1997, S. 190). Ergebnis der graphentheoretischen Konstruktionsverfahren ist ein maximal pla­ narer Graph (Deltaeder), der alle OE erfasst, aber nicht zwingend die höchstmögliche Summe der Kantenbewertungen aufweist. Aufgabe der graphentheoretischen Verbes­ serungsverfahren ist es, das Deltaeder so zu verändern, dass sich eine höhere (mög­ lichst die höchste) Summe der Kantenbewertungen ergibt. Dies kann analog zu den Konstruktionsverfahren, die keinen Planaritätstest erfordern, durch Neuplazieren einzelner Knoten und/oder überschneidungsfreies Austauschen einzelner Kanten­ paare erfolgen. Neben problemspezifischen heuristischen Verfahren (vgl. Al-Hakim 1991; Foulds/Gibbons/Giffin 1985; Kim/Kim 1995) werden hierzu auch Metaheuris­ tiken, wie simulierte Abkühlung (vgl. Hasan/Osman 1995), Tabu-Suche (vgl. Hasan/ Osman 1995; Osman 2006; Pesch et al. 1999) und GRASP (vgl. Osman/Hasan/Abdullah 2002, S. 1144 ff.), herangezogen. Der maximal planare Graph mit maximaler Summe der Kantenbewertungen ist die optimale Lösung zum Problem der relativen Anordnung der OE. Um daraus ein zu­ lässiges Layout zu generieren, wird im nächsten Schritt die absolute Anordnung der OE festgelegt. Hierzu wird die Repräsentation der OE und ihrer jeweiligen Nachbarschaft durch Knoten beziehungsweise daran anknüpfende Kanten um die Abmessungen und Formen der Grundflächen der OE und des STT ergänzt. Da die Nachbarschaftsbezie­ hungen bereits bestimmt wurden, ergeben sich Vereinfachungen der diskreten be­ ziehungsweise kontinuierlichen Formulierung des ursprünglichen FLP-Problems, so dass der Lösungsprozess beschleunigt wird. Zur Lösung dieses Problems (und einige seiner Erweiterungen) wurden un­ terschiedliche Heuristiken vorgeschlagen (vgl. z. B. Al-Hakim 1992; Giffin/Foulds/ Cameron 1986; Goetschalckx 1992; Hassan/Hogg 1991; Irvine/Rinsma-Melchert 1997; Watson/Giffin 1997). Eine andersartige Dekomposition in die Teilprobleme der relativen und absolu­ ten Positionierung wird durch das Kreispositionierungsverfahren (Attractor-RepellerVerfahren; vgl. Anjos/Vannelli 2002; S. 6 ff.; Anjos/Vieira 2016, S. 1381) vollzogen, das die Grundideen des DISCON- (vgl. Drezner 1987) und des NLT-Verfahrens (vgl. Camp/Carter/Vannelli 1991) zur Lösung kontinuierlicher FLP-Modelle weiterentwi­ ckelt.

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Die relative Positionierung der OE erfasst deren Flächenbedarf approximativ durch Kreise mit einem entsprechenden Radius. Die relative Anordnung auf dem STT ent­ steht dann durch die Festlegung der Kreismittelpunktkoordinaten unter Berücksich­ tigung der Abmessungen des STT. Hierdurch vereinfacht sich das ursprüngliche kon­ tinuierliche Optimierungsmodell von Camp, Carter und Vannelli (1991, S. 176 ff.) (vgl. Abschnitt 2.2) dahingehend, dass die enthaltenen Variablen und Restriktionen zu den Seitenlängen der OE unberücksichtigt bleiben. Eine weitere Vereinfachung ergibt sich durch eine dem Prinzip der Lagrange-Relaxation ähnelnde Reformulierung der NichtÜberlappungs-Restriktionen als Strafkostenterm, der die ursprüngliche Zielfunktion ergänzt. Das heißt, die angeordneten Kreise dürfen sich zwar überlappen, aber das Ausmaß der Überlappung erhöht den Zielfunktionswert. Dem Modell zur relativen Po­ sitionierung liegen folgende Annahmen zugrunde (vgl. Anjos/Vannelli 2002, S. 6 ff.): – Die OE i (i, j = 1, . . . , I) haben einen Flächenbedarf a i und werden durch Kreise mit dem Radius r i sowie den Mittelpunktkoordinaten x i , y i , modelliert. – Der STT hat eine rechteckige Grundfläche mit den Seitenlängen w T , h T , den Min­ max max dest- und Höchstmaßen wmin beziehungsweise hmin und den Mittel­ T , wT T , hT punktkoordinaten x T , y T = (0, 0). – Die relativen Anordnungsbeziehungen zwischen den OE i, j (i ≠ j) werden durch die Transportkosten c ij pro quadratischer Entfernungseinheit erfasst. – Zur Messung der Entfernung d ij zwischen den OE wird der quadrierte euklidische Abstand D ij = d2ij in Bezug auf deren ST-Mittelpunkte herangezogen. – Die Überlappung benachbarter Kreise wird durch t ij = α ⋅ (r i + r j )2 gemessen, wobei der Parameter α modellexogen zweckmäßig im Intervall (0, 1] festzulegen ist. Während α = 1 eine Überlappung verhindert, nimmt mit abnehmenden α die Überlappung zu. – Für die Strafkosten der Überlappung gilt die abschnittsweise differenzierbare kon­ vexe Funktion: { t ij /D ij − 1 f ij (x i , x j , y i , y j ) = { −c ⋅ D + 2 ⋅ √c ij ⋅ t ij − 1 { ij ij –

: D ij ≥ √t ij /c ij : 0 ≤ D ij < √t ij /c ij

mit c ij > 0 und t ij > 0. Es sollen die Koordinaten x i , y i der Kreismittelpunkte und die Seitenlängen w T , h T der Grundfläche des STT so festgelegt werden, dass die Summe aus Trans­ port- und Strafkosten minimal ist.

Damit ergibt sich für das Optimierungsmodell der Kreispositionierung die Zielfunk­ tion: min ∑ c ij ⋅ D ij + ∑ f ij i,j

i,j

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Es werden drei Arten von Nebenbedingungen berücksichtigt: – Die Grundflächen der OE liegen vollständig auf der Grundfläche des STT: 1 ⋅ w T − (x i + r i ) ≥ 0 2 1 ⋅ h T − (y i + r i ) ≥ 0 2 1 (x i − r i ) + ⋅ w T ≥ 0 2 1 (y i − r i ) + ⋅ h T ≥ 0 2 –

∀i ∀i ∀i ∀i

Die Seitenlängen der STT-Grundfläche unter-/überschreiten die Mindest- bezie­ hungsweise Höchstmaße nicht: ≥ w T ≥ wmin wmax T T hmax ≥ h T ≥ hmin T T



Die Koordinaten und Seitenlängen sind reelle beziehungsweise positive reelle Zahlen inklusive der Null: xi , yi ∈ ℝ wT , hT ∈

∀i

ℝ+0

Während alle Nebenbedingungen linear sind, ist die Zielfunktion nichtlinear, so dass zur Bestimmung der optimalen Lösung auf Methoden der nichtlinearen Optimierung zurückgegriffen werden muss. Die Ergebnisse der relativen Positionierung werden zur Initialisierung des Lö­ sungsprozesses der absoluten Positionierung herangezogen. Dabei liegen, mit Aus­ nahme der Entfernungsmessung, der Zielsetzung und der Vorgabe einer Aspect ratio, dieselben Annahmen wie im ursprünglichen kontinuierlichen Optimierungsmodell zugrunde (vgl. Jankovits et al. 2011, S. 203 ff.). Bedingt durch die bei der relativen Positionierung ermittelten Startwerte für die Koordinaten der OE und festgelegten Abmessungen der STT-Grundfläche wird das Auffinden der optimalen Lösung mit Hilfe der semidefiniten Programmierung be­ schleunigt (vgl. Jankovits et al. 2011, S. 203). Probleme mit 30 OE konnten durch Anwendung beider Stufen des Kreispositionierungsverfahrens in akzeptabler Zeit (ca. 4 min) mit 8,4 % Abweichung von der minimalen Summe der Transportkosten gelöst werden (vgl. Jankovits et al. 2011, S. 206 ff.). 3.1.2.2 Metaheuristiken Für Probleme mit einer komplexen „Topographie“ des Lösungsraumes, die auch bei der FLP vorliegt, haben sich Metaheuristiken als besonders geeignet erwiesen. Der Be­ griff der Metaheuristik wird in der Literatur unterschiedlich abgegrenzt. Tendenziell werden damit Heuristiken bezeichnet, die

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– –

auf ein breites Spektrum unterschiedlicher Probleme angewendet werden können und Suchstrategien verfolgen, bei denen ein mehrfacher (zumeist zufallsgesteuerter) Wechsel zwischen Diversifikation (Breitensuche) und Intensivierung (Tiefensu­ che) erfolgt und dabei Lösungsverschlechterungen zugelassen werden (vgl. Roth­ lauf 2011, S. 91 ff.).

Teilweise werden die Prinzipien des Wechselns, der Breiten- und Tiefensuche so­ wie der Akzeptanz temporärer Lösungsverschlechterung in Analogie zu biologischen (z. B. Evolution, Sozialverhalten, Instinktbewegungen) oder physikalischen Prozes­ sen (z. B. Abkühlung) entwickelt. Zur Lösung von FLP-Problemen wurden bislang zumeist die folgenden Metaheuristiken eingesetzt: Tabu-Suche (Tabu-Search; vgl. Glover 1986, S. 541 ff.), simulierte Abkühlung (Simulated Annealing; vgl. Cerny 1985; Kirkpatrick/Gellat/Vecchi 1983), genetische Algorithmen (Genetic Algorithms; vgl. Holland 1975), Ameisenalgorithmen (Ant Colony Optimization; vgl. Colorny/Dorigo/ Maniezzo 1992), Partikelschwarmheuristik (Particle Swarm Optimization; vgl. Eber­ hart/Kennedy 1995), GRASP-Heuristik (Greedy Randomized Adaptive Search Proce­ dure; vgl. Feo/Resende 1989) und variable Nachbarschaftssuche (Variable Neigh­ bourhood Search; vgl. Mladenovic/Hansen 1997) (vgl. z. B. Burkard 2013, S. 2786 ff.; Drira/Pierreval/Hajri-Gabouj 2007, S. 262 f.; Kundu/Dan 2012, S. 238 ff.; Liggett 2000, S. 203 ff.; Loiola et al. 2007, S. 672 ff.; Singh/Sharma 2006, S. 427 ff.). Tabelle 4 gibt einen exemplarischen Überblick über den Einsatz von Metaheuris­ tiken im Kontext der FLP. Die Metaheuristiken müssen nicht in Reinform zur Anwendung gelangen, son­ dern können auch miteinander kombiniert werden, um Vorteile der unterschiedlichen Suchprinzipien zu bündeln und deren Nachteile abzuschwächen. Die genannten Me­ taheuristiken werden vor allem für die FLP-Probleme mit einer großen Anzahl an OE eingesetzt. In diesem Fall gehen geringfügige Abweichungen vom optimalen Layout mit geringeren Kosten einher als das Auffinden einer garantiert optimalen Lösung. Dies liefert auch eine Begründung für die an den Veröffentlichungszah­ len ablesbaren Tendenzen der abnehmenden/zunehmenden Verwendung exakter/ metaheuristischer Verfahren zur FLP (vgl. Loiola et al. 2007, S. 675 f.).

3.2 Expertengeführt algorithmische Verfahren Die formale Modellierung des FLP-Problems unterliegt stets einer Abwägung zwi­ schen Detailtreue und algorithmischer Lösbarkeit des Problems. Aufgrund der Schlechtstrukturiertheit der Problemstellung (vgl. Malakooti/Tsurushima 1989) wer­ den in der Regel nicht alle für die Layoutentscheidung relevanten Einflussgrößen berücksichtigt. So wird vor allem auf die Erfassung schwierig zu modellierender oder den algorithmischen Lösungsprozess stark erschwerender Restriktionen (z. B. Ar­

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Tab. 4: Anwendung metaheuristischer Lösungsverfahren auf Probleme der FLP (Beispiele in chronologischer Reihenfolge). Autoren

Verfahren

Problem Besonderheit

Burkard/Rendl (1984) Wilhelm/Ward (1987) Skorin-Kapov (1990) Taillard (1991) Kouvelis/Chiang/Fitzsimmons (1992) Tam (1992) Li/Pardalos/Resende (1994) Skorin-Kapov (1994) Banerjee/Zhou (1995) Tate/Smith (1995a) Tate/Smith (1995b) Chiang/Kouvelis (1996) Dorigo/Maniezzo/Colorni (1996) Meller/Bozer (1996) Kaku/Mazzola (1997) Chwif/Pereira Baretto/Moscato (1998) Kochhar (1998) Kochhar/Foster/Heragu (1998) Gambardella/Taillard/Dorigo (1999) Kochhar/Heragu (1999) Abdinnour-Helm/Hadley (2000) Ahuja/Orlin/Tiwari (2000) Balakrishnan/Cheng (2000) Baykasoğlu/Gindy (2001) Balakrishnan et al. (2003) Corry/Kozan (2004) Dunker/Radons/Westkämper (2005) Enea/Galante/Panascia (2005) Hardin/Usher (2005) Solimanpur/Vrat/Shankar (2005) McKendall/Shang (2006) McKendall/Shang/Kuppusamy (2006) Paul/Asokan/Prabhakar (2006) Rodriguez et al. (2006) Ramkumar/Ponnambalam/Jawahar (2009) Şahin/Türkbey (2009) Scholz/Petrick/Domschke (2009) McKendall/Hakobyan (2010) Samarghandi/Eshgi (2010) Ripon et al. (2013) Ahonen/Alvarenga/Amaral (2014) Gonçalves/Resende (2015) Vitayasak/Pongchareon/Hicks (2017)

SA SA TS TS SA GA GR TS GA GA GA TS AC SA TS SA GA GA AC GA GR-TS/ TS GA-Greedy GA SA GA-DP AC GA-DP GA PS AC AC-SA SA PS GA-TS AC-GA SA-TS TS TS TS GA-VN SA-TS GA GA

SQAP SQAP SQAP SQAP SQAP SMIP SQAP SQAP SMIP SQAP SMIP SQAP SQAP SMIP DQAP SMIP QSC QSC SQAP DMIP SQAP SQAP DQAP DQAP DQAP SMIP DMIP SMIP QSC SQAP DQAP DQAP SMIP DQAP SQAP DQAP SMIP DMIP SMIP SMIP SMIP SMIP DMIP

– – – – zweireihiges Layout – – – ringförmiges Layout – flexibles Reihenlayout – – ungleichgroße Grundflächen, mehrere STT – – ungleichgroße Grundflächen, mehrere STT ungleichgroße Grundflächen – ungleichgroße Grundflächen, mehrere STT mehrere STT – – – – ungleichgroße Grundflächen – Fuzzy – einreihiges Layout – – – – – – ungleichgroße Grundflächen – einreihiges Layout ungleichgroße Grundflächen zweireihiges Layout ungleichgroße Grundflächen stochastische Daten, flexibles Reihenlayout

Legende Verfahren: AC: Ameisenalgorithmus DP: Dynamische Programmierung GA: Genetischer Algorithmus GR: GRASP PS: Partikelschwarm-Heuristik SA: Simulierte Abkühlung TS: Tabu-Suche VN: Variable Nachbarschaftssuche

Probleme: DMIP: Mehrperiodiges kontinuierliches FLP-Problem DQAP: Mehrperiodiges quadratisches Zuordnungsproblem SMIP: Einperiodiges kontinuierliches FLP-Problem SQAP: Einperiodiges quadratisches Zuordnungsproblem QSC: Quadratisches Mengenüberdeckungsproblem

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beitsschutz, Routen von Transportmitteln) und Beurteilungskriterien (z. B. Erfüllung ergonomischer und ästhetischer Anforderungen) verzichtet. Sind diese Aspekte bei konkreten Problemstellungen jedoch von hoher Relevanz, dann können sich die auf der Grundlage zu stark abstrahierender formaler Modelle ermittelten optimalen Lösungen in der Realität als nicht-optimal oder sogar als un­ zulässig erweisen. In diesem Fall bieten sich expertengeführte FLP-Verfahren an (vgl. Hernandez et al. 2015, S. 95 f.). Hierbei ist es dem Layoutexperten möglich, die auto­ matisierten Planungsschritte so zu lenken, dass auch die formal unberücksichtigten, ihm aber bekannten Einflussgrößen Eingang in die Lösung finden (vgl. Brandt 1989, S. 49 f.). Im Rahmen der Layouterstellung kann somit einerseits das Expertenwissen des Planers bei der Auswahl der einzuplanenden OE und ihrer Positionierung einflie­ ßen. Andererseits kann die Überprüfung der Einhaltung algorithmisch schwierig be­ herrschbarer Bedingungen durch den Experten übernommen werden. Als Beispiele für expertengeführte Berechnungsverfahren sind zu nennen: – RMA COMP I (vgl. Muther/McPherson 1970) – MATCH (vgl. Montreuil/Ratliff/Goetschalckx 1987) – LAPLAS (vgl. Brandt 1989) – MCDM Expert System (vgl. Malakooti/Tsurushima 1989) – EXSYS (vgl. Abdou/Dutta 1990) – Plant Layout II (vgl. Sirinaovakul/Thajchayapong 1994) – MO-IGA (vgl. Hernandez et al. 2015).

4 Fazit Die FLP als taktische Aufgabe der Prozessgestaltung hat einen maßgeblichen und län­ gerfristigen Einfluss auf die Effizienz des Leistungserstellungsprozesses. Um der re­ lativ hohen Bedeutung der FLP gerecht werden zu können, sind Vorgehensweisen zu identifizieren, die der hohen Problemkomplexität Rechnung tragen. Im vorliegen­ den Beitrag wird aufgezeigt, wie die FLP mit Hilfe quantitativer Verfahren unterstützt werden kann. Die Argumentation knüpft dabei an den allgemeinen Prozess der for­ malanalytischen Lösung quantitativer Planungsprobleme an, so dass drei inhaltliche Schwerpunkte im Fokus liegen: – Systematische Erfassung der Vielfalt realer FLP-Probleme durch Spezifizierung des Grundproblems sowie seiner Spezialisierungen und Verallgemeinerungen, – Aufzeigen der grundlegenden Techniken zur formalen Modellierung von FLP-Pro­ blemen und ihrer Erweiterung sowie – Skizzierung und Gegenüberstellung der derzeit zur FLP verfügbaren Klassen von Lösungsverfahren.

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Die Analyse zeigt, dass die hohe Problemkomplexität es bislang verhindert hat, für die gesamte Vielfalt realer Problemstellungen adäquate Lösungsansätze zu formulie­ ren. Im Wesentlichen beschränken sich die Forschungsergebnisse auf das Grundpro­ blem und seine Erweiterung um ungleichgroße OE und STT mit mehreren Ebenen. Die Modellierung kann entweder diskret in Form des quadratischen Zuordnungspro­ blems (OE zu potentiellen ST) oder kontinuierlich als Problem der Positionsbestim­ mung von OE durch Koordinaten in den Dimensionen einer Ebene (Fläche des STT) vorgenommen werden. Es wird herausgearbeitet, unter welchen Gegebenheiten wel­ che Modellierungsform Vorteile bietet. Im Hinblick auf die Lösungsverfahren wird das Spektrum von exakten Verfahren bis hin zu expertengeführt algorithmischen Verfah­ ren aufgezeigt. Dabei wird deutlich, dass die Möglichkeiten zur exakten Lösung von FLP-Problemen aufgrund der hohen Problemkomplexität auf Probleme mit wenigen OE beschränkt sind. Die in der Pionierphase der Forschung zur FLP vorgeschlagenen problemspezifischen Heuristiken sind hingegen in der Lage, Probleme realistischer Größenordnung in akzeptabler Zeit zu lösen. Allerdings sind sie sehr anfällig für das „Steckenbleiben“ in lokalen Optima, so dass die Lösungen stark vom globalen Opti­ mum abweichen können. Diese Problematik wird durch die Anwendung von Metaheu­ ristiken deutlich abgeschwächt. Die Forschung zur FLP wird deshalb derzeit zweiglei­ sig betrieben. Einerseits wird versucht, exakte Lösungsverfahren zu entwickeln, die den Lösungsraum effizienter zu durchsuchen vermögen, beziehungsweise die Modell­ formulierung so zu erweitern, dass sich exakte Lösungsverfahren besser im Lösungs­ raum „zurechtfinden“. Andererseits besteht das Bestreben, bereits bewährte Meta­ heuristiken problembezogener auszugestalten oder noch nicht im Kontext der FLP herangezogene Metaheuristiken auf ihre Fähigkeit zur Lösung derartiger Problemstel­ lungen zu testen.

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Joachim Reese

Fließbandabgleich 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 3 4 5 6

Ausgangssituation | 592 Fließbandfertigung | 593 Produktionskosten vs. Transaktionskosten | 593 Technische Bedingungen | 595 Ökonomische Ziele | 597 Lösungsalgorithmen | 597 Fließbandmodellierung | 599 Ausgewählte Optimierungsverfahren | 601 Die Koordination des Fließbands | 603 Zusammenfassung und Ausblick | 606 Literatur | 607

Zusammenfassung. Hauptproblem der Fließbandfertigung ist die Abstimmung der verschiedenen Fließbandeinheiten, um die Fließbandproduktivität zu optimieren. Traditionelle Abstimmungsparameter sind die Anzahl der einzurichtenden Stationen sowie die Taktzeit. Darüber hinaus ist das Management von Fließbändern gefordert, bei seinen Entscheidungen auch die Transaktionskosten zu berücksichtigen, die in­ folge der Abstimmung auftreten. Dieser Beitrag zeigt die gesamte Problematik ebenso wie mögliche Lösungsansätze.

1 Ausgangssituation Zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden die ersten Automobil­ unternehmungen in den USA. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten gelang es, alltags­ taugliche Automobile zu entwickeln, zu produzieren und zu vermarkten. Innerhalb weniger Jahre wurden kleine Entwicklungsschmieden zu großen Automobilkonzer­ nen, welche auch heute noch das Weltbild der motorisierten Mobilität prägen. Die­ ses rasche Wachstum führte jedoch auch zu Differenzen zwischen den Eigentümern, überwiegend Investoren, die an hohen Ausschüttungen interessiert waren, und den Managern, die Abgrenzungspotenziale zur Konkurrenz ausfindig machen wollten. Die Geschichte einer der noch heute größten Automobilkonzerne begann 1896 mit Henry Ford.FordwarsowohlEigentümeralsauchManager.SeinZielwares,einAutomo­ bil für die Massen zu entwickeln. Trotz anfänglicher Rückschläge wurde ab 1902 in der zunächst kleinen Unternehmung die serienmäßige Produktion von Automobilen auf­ genommen. Die für die Produktion notwendigen Teile wie Motoren, Getriebe und Ach­ sen wurden ab 1903 von den Dodge Brüdern, John und Horace Dodge, geliefert. Im Juni https://doi.org/10.1515/9783110473803-032

Fließbandabgleich | 593

1903 wurde die „Ford Motor Company“ als Aktiengesellschaft eingetragen, wobei Henry Ford Hauptanteilseigner war, neben weiteren Aktionären wie den Dodge Brüdern. Das 1908 auf den Markt gebrachte Modell T verhalf der Unternehmung schlagartig zu großem finanziellen Erfolg. Es war für die damalige Zeit sehr gut ausgestattet und wurde mit einem Preis von nur 825 US-Dollar dem Anspruch eines Autos für die Mas­ sen gerecht. Henry Ford strebte weiterhin nach einer Verbesserung der Effizienz. So wurde 1913 die legendäre Fließbandproduktion eingeführt und im folgenden Jahr der 5-Dollar-Tag in Fords Fabriken etabliert, welcher den damaligen Tageslohn weit über­ stieg. Ziel der verhältnismäßig hohen Entlohnung war es, das Aufkommen von Un­ zufriedenheit zu verhindern und die starke Fluktuation der Arbeiter zu senken. Fords Strategie zeigte Erfolg und durch die erhöhte Effizienz konnte der Preis des Modells T 1916 sogar auf 360 US-Dollar reduziert werden. Ford hatte erkannt, dass es nicht ausreichte, die Produktionskosten zu reduzie­ ren, wenn zugleich die Transaktionskosten infolge einer hohen Mitarbeiterfluktuation überproportional anstiegen. Mit einer angemessenen Erhöhung der Löhne versuch­ te er, dieses Ungleichgewicht auszutarieren. Durch die Erhöhung der Löhne stiegen die Produktionskosten zwar an, jedoch fielen die Transaktionskosten deutlich stärker, so dass ein Zuwachs an Produktivität gelang und der Verkaufspreis reduziert werden konnte (vgl. zu diesen Darstellungen z. B. Archambault 2008; Reese 2014).

2 Fließbandfertigung 2.1 Produktionskosten vs. Transaktionskosten Ausgangspunkt der Fließbandfertigung ist es demnach, die Produktivität zu erhöhen, um die Produktionskosten zu reduzieren und die entstehenden Vorteile an den Kun­ den weiterzugeben. Dies gelingt im Wesentlichen durch eine Reduzierung der unpro­ duktiven Wartezeiten, die ein Auftrag in der Warteschlange verbringen muss, bevor er weiterbearbeitet werden kann. Darüber hinaus fallen allerdings weitere Kosten an, die nicht unmittelbar produktivitätswirksam sind und deshalb auch nicht zu den Pro­ duktionskosten gezählt werden dürfen. Diese Kosten werden gemeinhin als Transak­ tionskosten bezeichnet (vgl. z. B. Williamson 1981 und viele andere). Sie entstehen da­ durch, dass die Verfügungsrechte an dem zu bearbeitenden Produkt im Verlaufe des Produktionsprozesses mit den zu bearbeitenden Teilen ebenfalls weitergegeben wer­ den. Dies gilt umso mehr, je stärker die Arbeitsteilung ist beziehungsweise je mehr Arbeiter mit dem Werkstück beschäftigt sind. Allgemein hängen die Transaktionskos­ ten von der Unsicherheit, der Spezifität sowie der Häufigkeit ab, mit der Transaktionen vorgenommen werden. Abbildung 1 zeigt, an welchen Stellen des Fertigungsprozesses die einzelnen Kosten auftreten. Dabei wird auch unterschieden, ob die Verfügungs­ rechte innerhalb der Station oder außerhalb, d. h. an eine andere Station, übertragen werden.

594 | Joachim Reese

Management

Station 1

Station 2



Station M

Zeit Produktionskosten Transaktionskosten Interne bzw. externe Übergabe der Verfügungsrechte

Abb. 1: Kostenverursachung im Prozess der Fließbandfertigung.

Das ökonomische Entscheidungsproblem zur Gestaltung der Fließbandfertigung hat also zwei Komponenten: zum einen existiert ein Problem der Art, dass der Fertigungs­ prozess so zu gestalten ist, dass die Produktionskosten möglichst gering gehalten wer­ den. Dies geschieht durch eine entsprechende Organisation des Fließbands, indem die Leerkosten des Fließbands beziehungsweise die Wartekosten der noch zu bear­ beitenden Aufträge minimiert werden. Zum anderen besteht ein Problem darin, die Übergabe der Verfügungsrechte so zu regeln, dass die Transaktionskosten reduziert werden. Die Lösung beider Probleme in Form eines zufriedenstellenden Kompromis­ ses stellt dann den „Fließbandabgleich“ in dem Sinne dar, dass weitere Verbesserun­ gen nur noch vorgenommen werden können, wenn entweder die Produktions- oder die Transaktionskosten wieder zunehmen. Es handelt sich also um die Suche nach ei­ ner pareto-optimalen Lösung. Diese umfassende Sichtweise wird in der Literatur oft vernachlässigt: vielmehr konzentriert sich die Suche zumeist auf die Verringerung der Produktionskosten. Im Folgenden werden allerdings beide Perspektiven genauer dar­ gestellt und analysiert. Von einer klassischen Leistungsabstimmung wird gesprochen, wenn für die Ge­ staltung des Fließbands entweder die Anzahl der Arbeitsstationen oder die Taktzeit vorgegeben ist und dementsprechend jeweils die andere Variable optimiert werden kann. Hingegen wird bei der integrierten Leistungsabstimmung versucht, beide Varia­ blen gleichzeitig zu optimieren, d. h. Wechselwirkungen von vornherein zu berück­ sichtigen. Darüber hinaus sind je nach dem vorliegenden Produktionsproblem weite­ re Variablen beziehungsweise Nebenbedingungen zu beachten, die die Lösungssuche im Allgemeinen erheblich erschweren. Obwohl die grundlegende Problematik spätes­ tens seit Henry Ford bekannt ist, hat sich die Wissenschaft mit dem Planungsproblem der Fließbandabstimmung erst recht spät befasst: der fundamentale quantitative Lö­ sungsansatz hierzu stammt von Salveson (1955). Er ist in den nachfolgenden Jahrzehn­ ten immer wieder aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Dabei waren sowohl die Problemformulierung als auch der Lösungsalgorithmus Gegenstand wissenschaftli­ cher Analysen.

Fließbandabgleich | 595

2.2 Technische Bedingungen In den letzten Jahren haben sich die Publikationen zur Modellierung des Fließband­ problems dahingehend konzentriert, dass vor allem zusätzliche Nebenbedingungen formuliert wurden, die den Lösungsalgorithmus wesentlich beeinträchtigt haben. Dies betrifft vor allem die Berücksichtigung von Fertigungsreihenfolgen, das Cluste­ ring einzelner Aufgaben, die Einführung paralleler Aufgabenstränge für einen Auftrag sowie die Exklusivität einzelner Arbeitsstationen. Die Formulierung solcher Bedingungen resultierte aus der anhaltenden Kritik an bestehenden Modellen, wonach jene die Realität im Unternehmen nicht hinreichend genau abbildeten. Eine viel diskutierte, fundamentale Erweiterung des ursprüngli­ chen Modells von Salveson besteht darin, dass – gegenüber der klassischen Leistungs­ abstimmung – die Annahme der Produkthomogenität aufgegeben wird, d. h. mehrere Produktvarianten auf ein und demselben Fließband bearbeitet werden können. Hier­ aus ist eine Vielzahl von Modellvarianten entstanden, die die Produkte insbesondere in Bezug auf ihre Bearbeitungsdauern sowie hinsichtlich der für die Bearbeitung er­ forderlichen Stationen differenzieren. Darüber hinaus ist der Ansatz für den Fall, dass auf einem Fließband mehrere Produktarten in verschiedenen Chargen gefertigt wer­ den sollen, um die Rüstzeiten beziehungsweise -kosten, die anfallen, sobald ein Pro­ duktwechsel an einer Station erfolgt, erweitert worden (vgl. Battaïa/Dolgui 2013). Die Annahme über feste Bearbeitungsdauern muss dann korrigiert werden, wenn prakti­ sche Beobachtungen es erforderlich machen, unvorhersehbare Schwankungen („Stö­ rungen“) bei der Bearbeitung auf den einzelnen Stationen im Modell abzubilden. Ge­ nerell geschieht dies mit Hilfe einer entsprechenden Verteilungsfunktion (vgl. Alavi­ doost/Babazadeh/Sayyari 2016; Alavidoost et al. 2017; Hamta et al. 2013; Saif et al. 2014; Zacharia/Nearchou 2016). Analog gilt dies auch für Nachfrageschwankungen, die beachtet werden müssen (vgl. Chica et al. 2016). Eine Besonderheit der Fließbandferti­ gung betrifft das Layout des Fließbands, d. h. die Organisation des Fertigungsablaufs. So kann ein Fließband im einfachsten Fall linear organisiert sein; es kann allerdings auch einen anderen Verlauf nehmen, wenn dies den technischen Erfordernissen und organisatorischen Bedingungen eher entspricht. Insbesondere werden drei Formen des Layouts unterschieden (vgl. Battaïa/Dolgui 2013): – Ein einseitiges lineares Layout liegt vor, wenn die Bearbeitung des Werkstücks eindeutig in Arbeitsgänge zerlegt ist, d. h. jeder Station exklusiv Arbeitnehmer zugeordnet sind, die die Leistung an dem Produkt auf traditionelle Art und Weise erbringen. – Dagegen wird von einem zweiseitigen linearen Layout gesprochen, wenn die Be­ arbeitung des Objekts durch mindestens zwei Arbeitnehmer – von beiden Seiten des Fließbands – gleichzeitig erfolgen kann. Die hiermit beabsichtigte Beschleu­ nigung erlaubt gewöhnlich eine Reduzierung der Taktzeit, aber auch eine Verrin­ gerung der Anzahl der Arbeitsstationen.

596 | Joachim Reese



Unter besonderen Restriktionen wird häufig auf nicht-lineare, zum Beispiel u-för­ mige Fließbänder zurückgegriffen, die eine weitere Flexibilität der Fertigung ge­ statten. So werden insgesamt – wie auch Abbildung 2 zeigt – die von den Arbeit­ nehmern zurückzulegenden Wege abgekürzt, wenn diese zwischen mehreren Sta­ tionen hin und her pendeln sollen. Grundsätzlich kann diese Form des Fließbands mit dem Ziel einer Erhöhung der Durchlässigkeit der an dem Fließband zu erbrin­ genden Handgriffe beliebig an die betrieblichen Gegebenheiten angepasst wer­ den.

Die Modellparameter eines Optimierungsansatzes sind im Allgemeinen layoutbezo­ gen und müssen deshalb stets neu ermittelt werden, nachdem das Layout angepasst worden ist.

...

Station M



einseitig linear



zweiseitig linear

Arbeiter 1

Arbeiter 1

...

Station M

Arbeiter 2

Arbeiter 1

...

Station M



...

Station N

Station N

Arbeiter 2



Arbeiter 3 Abb. 2: Formen des Layouts von Fließbändern (vgl. Battaïa/Dolgui 2013).

Stationen U-förmig

Fließbandabgleich | 597

2.3 Ökonomische Ziele In Abhängigkeit von der Modellierung des zugrundeliegenden Fließbandproblems ist stets eine geeignete Zielfunktion zu formulieren. Für das Grundmodell der klassischen Fließbandabstimmung ist diese Funktion sehr einfach. So ist entweder die Anzahl der Stationen oder die Taktzeit zu minimieren. Mit zunehmender Problemkomplexität nimmt jedoch auch die Funktionsdarstellung häufig eine andere Dimension an. Ins­ besondere muss berücksichtigt werden, dass die Standardverfahren des Fließband­ abgleichs, die für das Grundmodell entwickelt worden sind, nicht mehr unmodifiziert angewandt werden können (vgl. Battaïa/Dolgui 2013). Im Extremfall führt jede Erwei­ terung um neue Zielvariablen zu einer Entscheidungsfindung bei mehrfacher Zielset­ zung, wodurch die Rechenzeit zur Lösung des Problems überproportional ansteigt.¹ So gehen einige Autoren – z. B. Fandel, Fistek und Stütz (2011), Hamta et al. (2013) oder Ogan und Azizoglu (2015) – davon aus, dass die Realität besser abgebildet wird, wenn die von der Zahl der Arbeitsstationen und der Taktzeit unabhängigen „Fix“kosten beim Fließbandabgleich ebenfalls berücksichtigt werden. Insbesondere sind die Lohnkosten mit anzusetzen, die sich von Arbeitsstation zu Arbeitsstation unterscheiden, zumal die einzelnen Aufgaben an den verschiedenen Stationen eine individuelle Qualifikation erfordern, die wiederum zu differenzierten Entlohnungen führt. In anderen Modellen wird die Zielfunktion um den Platzverbrauch erweitert, den die Einrichtung eines Fließbands verursacht (vgl. Chica et al. 2016; Kucukkoc/Zhang 2016; Rada-Vilela et al. 2013). Die entsprechenden Größen werden entweder in Kos­ ten pro Quadratmeter Fläche umgerechnet oder mit Hilfe einer Verhältnisskala opera­ tionalisiert und anschließend einer Nutzwertanalyse unterzogen. Auf ähnliche Wei­ se lassen sich ergonomische Kriterien in der Zielfunktion berücksichtigen, wenn ein Fließband eingerichtet werden soll. Hierbei kommt es ebenfalls darauf an, die Arbeits­ last auf den einzelnen Stationen in Form von Kostenwerten abzubilden (vgl. Bautis­ ta/Batalla-Garcia/Alfaro-Pozo 2016; Chica et al. 2016). Eine angestrebte gleichmäßige Auslastung der Arbeitsstationen kann dadurch abgebildet werden, dass Abweichun­ gen entweder quantitativ – in Form der entstehenden Kosten als Überstundenlöhne beziehungsweise Leerkosten – oder qualitativ berücksichtigt werden (vgl. Kucukkoc/ Zhang 2014).

2.4 Lösungsalgorithmen Für die Lösung der erörterten Probleme sind Verfahren verschiedener Güte entwickelt worden. Neben exakten Verfahren existiert inzwischen eine Vielzahl von Näherungs­ 1 Auf die Probleme von daraus resultierenden NP-schweren Problemen gehen insbesondere Akpinar, Bayhan und Baykasoglu (2013) genauer ein.

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Tab. 1: Systematik der Lösungsalgorithmen für Probleme der Fließbandabstimmung. Verfahren

Autoren

Branch-and-Bound-Verfahren

Sewell/Jacobson 2012 Ogan/Azizoglu 2015

Genetische Algorithmen

Chica et al. 2016 Kucukkoc/Zhang 2016 Zacharia/Nearchou 2016 Alavidoost et al. 2017 Delice et al. 2017

Ant-Colony-Optimierung

Rada-Vilela et al. 2013 Kucukkoc/Zhang 2014, 2015

Artificial-Bee-Colony-Algorithmus

Saif et al. 2014

Fuzzy Programmierung

Alavidoost/Babazadeh/Sayyari 2016

Hybride Algorithmen

Akpinar/Bayhan/Baykasoglu 2013

Einfache Heuristiken

Martino/Pastor 2010 Scholl/Boysen/Fliedner 2011

Petri-Netz-basierte Heuristiken

Su/Wu/Yu 2014

Travelling-Salesman-basierte Heuristiken

Andres/Miralles/Pastor 2008

verfahren, die wiederum zu unterscheiden sind in Verfahren der begrenzten Enume­ ration, einfache Heuristiken sowie Metaheuristiken. Eine grobe Übersicht über die bis dahin angewandten Verfahren liefern Battaïa und Dolgui (2013). Neueste Entwicklun­ gen sind ergänzend in Tabelle 1 gegenübergestellt. Dabei ist zu beachten, dass die Verfahren sich nicht stets auf dasselbe Grundproblem beziehen. Vielmehr hängt ihre Effizienz wesentlich davon ab, welche Modellierung zugrunde liegt. Dennoch ist er­ kennbar, welche Entwicklungen in der jüngsten Vergangenheit stattgefunden haben. Bei der Auswahl eines Algorithmus ist zu beachten, ob – bei verschiedenen Auftragsarten auch die Rüstzeiten erfasst werden müssen und als konstant beziehungsweise unabhängig von der Bearbeitungsreihenfolge der Aufträge angenommen werden können, – die Kundennachfrage über den relevanten Zeitraum als konstant angenommen werden kann, – die Bearbeitungsdauern intensitätsmäßig angepasst werden können, – auf lediglich einem Fließband gefertigt wird oder ob mehrere parallele Bänder existieren, – das Layout des Fließbands einfach ist, d. h. seine Stationen linear angeordnet sind und – sonstige Bedingungen berücksichtigt werden müssen. Insgesamt existiert mittlerweile eine Fülle von Algorithmen, die je nach Problem­ typ angewendet werden können. Die Verfahrensqualität bemisst sich zunächst vor allem nach der Rechenzeit sowie der erzielten Lösungsgüte. In Anbetracht der kon­ tinuierlichen Entwicklung auf dem Sektor der Informationstechnologie nehmen die

Fließbandabgleich | 599

Unterschiede bei dieser restriktiven Form der Bewertung allerdings mehr und mehr ab. Heutzutage kommt es vielmehr vornehmlich darauf an, ein Fließband so zu kon­ zipieren, dass es den Anwendungserfordernissen in der Unternehmung möglichst gut entspricht. Dies wird auch als Institutionalisierung des Fließbands bezeichnet. Krite­ rien hierfür sind vor allem die verschiedenen Formen der Koordination zwischen den einzelnen Stationen, die sich über die Transaktionskosten bestimmen lassen. Transaktionskosten fallen insbesondere bei der Übergabe eines Werkstücks von einer Station an eine andere an. Ging man bisher üblicherweise davon aus, dass diese Übergabe unkritisch – d. h. „kostenlos“ – ist, so zeigt ein genauer Blick in die Unter­ nehmenspraxis, dass im Allgemeinen mit Übergabekosten in unterschiedlicher Höhe zu rechnen ist, je nachdem in welcher Form die betroffenen Stationen untereinander abzustimmen sind.

3 Fließbandmodellierung Die Institutionalisierung des Fließbands geschieht im einfachsten Fall, also im Grund­ modell, über drei Parameter: erstens ist zu bestimmen, wie viele verfügungsberech­ tigte Subjekte auf den verschiedenen Stationen über das Werkstück verfügen sollen, das Gegenstand der Bearbeitung ist. Zweitens muss geregelt werden, wie lange das Werkstück bei den einzelnen Verfügungsberechtigten verbleiben darf, d. h. in wel­ chem Zeitraum es bearbeitet werden muss, bevor es weitergegeben wird. Drittens ist zu entscheiden, wie ein Werkstück von einer Arbeitsstation zu einer anderen Arbeitssta­ tion transportiert wird beziehungsweise welcher Zeitbedarf hierfür kalkuliert werden muss. Der Koordinationsaufwand wird über die Zahl der Arbeitsstationen M erfasst, die an der Produktion beteiligt sind. Dabei ist zu analysieren, welche Produktivitätsgewin­ ne durch die zugrundeliegende Arbeitsteilung grundsätzlich erwartet werden dürfen. Abbildung 3 zeigt den typischen Verlauf der Produktivitätsgewinne in Abhängigkeit von der Zahl der Arbeitsstationen. Die Verweildauer des Werkstücks an einer Fertigungsstation m = 1, . . . , N hängt einerseits von dieser Produktivität ab. Andererseits müssen die verschiedenen Pro­ duktivitäten auf den einzelnen Stufen untereinander abgeglichen werden. Für dieses Grundproblem des Fließbandabgleichs² gilt formal: T = Max(T1 , . . . , T M ) .

(1)

2 In der englischsprachigen Literatur wird das Grundproblem auch als SALBP (Simple Assembly Line Balancing Problem) bezeichnet (vgl. etwa Battaïa/Dolgui 2013). Hierauf aufbauend ist eine Vielzahl von Problemvarianten entwickelt worden, bei denen ursprünglich restriktive Annahmen verallgemei­ nert worden sind. Diese Varianten werden unter der Abkürzung GALBP (Generalized Assembly Line Balancing Problem) geführt.

Taktzeit

600 | Joachim Reese

Anzahl der Stationen

Abb. 3: Entwicklung der Produktivität in Abhängigkeit von der Zahl der Arbeitsstationen.

T i bezeichnet die Verweildauer eines Werkstücks in einer Bearbeitungsstation i; der maximale Wert T bestimmt die Taktzeit für das gesamte System. Diese Taktzeit wird für alle Stationen eingerichtet, um einen gleichmäßigen Produktions- und Transportfluss zu gewährleisten³. Zwischen der Anzahl der Arbeitsstationen und der Taktzeit herrscht ein enger Zu­ sammenhang. So lassen sich bei gegebener Taktzeit die für das Produkt zu erledigen­ den Arbeitseinheiten 1, . . . , N zu möglichst wenigen Arbeitsstationen zusammenfas­ sen. Damit ist sichergestellt, dass die Fertigung frühestmöglich beendet wird. Arbeitseinheiten beschreiben Elementaroperationen, die nicht weiter zerlegbar sind. Offenbar gilt N > M, d. h. die Anzahl der Arbeitseinheiten N darf die Anzahl der Arbeitsstationen M nicht unterschreiten. Zwischen den Arbeitseinheiten herrschen Ablaufbeziehungen, so dass zwei Einheiten jeweils in einer technisch bedingten Rei­ henfolge zu erledigen sind. Je weniger solche Beziehungen bei der Planung zu berück­ sichtigen sind, d. h. je größer der Freiheitsgrad der Planung ist, desto günstiger ist schließlich auch das Ergebnis der Planung. Wird die Produktivität eines Fließbands dadurch erhöht, dass möglichst geringe Wartezeiten auftreten, so spiegelt sich dies insbesondere in der Zielfunktion einer Mi­ nimierung der gesamten Durchlaufzeit über alle Arbeitsstationen wider. Formal gilt: min Mt .

(2)

3 Eine Taktzeit T unterhalb der Bearbeitungsdauer des Werkstücks an einer Station – also auch an der Station mit der längsten Bearbeitungszeit – bringt keine Verbesserung des Outputs. Diese Tatsache wird in der Produktionslogistik Flaschenhals genannt (vgl. Pulkurte et al. 2014).

Fließbandabgleich |

601

Die Durchlaufzeit ergibt sich zu Mt; sie entspricht der Anzahl der Arbeitsstationen, die mit der Taktzeit multipliziert wird. Die Durchlaufzeit kann also dadurch mini­ miert werden, dass entweder die Stationenanzahl oder die Taktzeit reduziert wer­ den. Berücksichtigt man, dass eine Station j aus verschiedenen Arbeitseinheiten n = 1, . . . , N j gebildet worden ist, deren Ausführungszeiten durch t n symbolisiert seien, so entsteht für jeden Auftrag eine Wartezeit in Höhe von Mt w = M (t − ∑ t n ) .

(3)

Andererseits muss eine Station auf den nächsten Auftrag warten, sobald der gegen­ wärtige Auftrag erledigt, aber noch nicht weitertransportiert worden ist. Es fällt für jede Station also eine Leerzeit in Höhe von tL = t − ∑ tn

(4)

an, während der die Maschinen dieser Station unproduktiv bleiben. Summiert man die Leerzeiten über alle Stationen1, . . . , J auf, so folgt wiederum Mt L = M (t − ∑ t n ) .

(5)

Damit entspricht eine Minimierung der Wartezeiten einer Minimierung der Leerzeiten. Ein Dilemma der Ablaufplanung, wie es in der Werkstattfertigung zu beobachten ist, tritt bei der Fließbandfertigung also nicht zu Tage. Die Maschinenauslastung – bezie­ hungsweise die Auslastung der Arbeitsstationen – erhält dieselbe Bedeutung wie die gesamte Durchlaufzeit, d. h. die Zeit bis zur Fertigstellung sämtlicher Aufträge. Im Hinblick auf die optimale Gestaltung des Fließbands, d. h. das Streben nach einer Maximierung der Produktivität, kommt es also vor allem darauf an, die unab­ hängigen Variablen t und M so zu wählen, dass das Produkt Mt – also die durch­ schnittliche Durchlaufzeit – über einen längeren Zeitraum minimal wird (vgl. auch Abschnitt 2.4).

4 Ausgewählte Optimierungsverfahren Zur Lösung des Grundproblems des Fließbandabgleichs ist eine Fülle von Algorith­ men entwickelt worden, mit denen die Suche nach einer optimalen Lösung systema­ tisch vollzogen wird. Hier kann lediglich auf die Struktur der wichtigsten Arten von Algorithmen eingegangen werden, um die Heterogenität der Verfahren sichtbar zu machen. Es ist weder beabsichtigt, sämtliche Algorithmen zum Grundproblem auf­ zuführen oder gar zu würdigen, noch sollen für die mittlerweile zahllosen Verallge­ meinerungen die verschiedenen Lösungsverfahren diskutiert werden. Dies muss einer grundlegenden Analyse zur Güte der mathematischen Optimierung vorbehalten blei­ ben. Vielmehr geht es an dieser Stelle darum, frühe Prototypen der gängigen Klassen

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von Algorithmen zu skizzieren beziehungsweise voneinander abzugrenzen (vgl. auch Reese 2013). Auf der Grundlage einer quantifizierbaren Zielfunktion und unter Beachtung technischer Nebenbedingungen („Restriktionen“) sind für das Grundproblem zu­ nächst aufwändige Algorithmen – sogenannte analytische Optimierungsverfahren – entwickelt worden, mit denen die Suche nach einer exakten Lösung systematisch vollzogen werden kann. Dabei wird das Grundproblem formal zunächst in ein ganz­ zahliges Zuordnungsproblem transformiert, d. h. es werden Variablen definiert, mit denen die Zuordnung einer Arbeitseinheit zu einer Arbeitsstation abgebildet werden kann (vgl. Bowman 1960). Auf diese Modelldarstellung lassen sich Standardalgorith­ men anwenden, so dass eine im Sinne der Zielsetzung optimale Lösung in jedem Fall ermittelt werden kann. Eine robustere Verfahrensklasse konzentriert sich auf die Suche nach „guten“ Lösungen im Sinne eines praktischen Problemverständnisses. Bei diesen „heuristi­ schen“ Verfahren wird keine optimale Lösung angestrebt. Vielmehr wird lediglich sichergestellt, dass eine bestimmte Lösungsqualität nicht unterschritten wird. Insbe­ sondere werden Engpässe möglichst schnell behoben, nachdem sie erkannt worden sind. So treten unerwünschte Effekte bei der hergeleiteten Lösung nicht stärker in Erscheinung, als dies von der Planungsinstanz von vornherein beabsichtigt ist. Ein frühes Verfahren, das für diese Klasse als Prototyp gelten darf, stammt von Helgeson und Birnie (1961) (vgl. auch Reese 2013). Schließlich existieren auch Verfahren, die zwischen den analytischen Optimie­ rungsverfahren und den gelegentlich auch als „Praktikerverfahren“ etwas abschätzig gewürdigten Heuristiken angesiedelt sind. Zu ihnen zählen vor allem Suchroutinen, mit denen grundsätzlich ein Optimum erreicht werden kann. Sie werden jedoch vor­ zeitig abgebrochen, sobald eine befriedigende Lösung gefunden ist. Der Suchprozess wird gemeinhin als „Branch and Bound“-Prozess charakterisiert, weil er durch das Erreichen von bestimmten Schrankenwerten (sogenannte Bounds) wesentlich deter­ miniert ist. Ein vielpraktiziertes Verfahren, das dieser Klasse zuzuordnen ist, ist der von Johnson (1988) entwickelte FABLE Algorithmus. Mit welcher Verfahrensklasse beziehungsweise welchem Verfahren eine ange­ messene Produktivität der Fließbandfertigung sichergestellt wird, ist letztendlich eine Frage, die vom Anwender in Abstimmung mit dem Experten entschieden werden muss. Wesentlich ist hierbei stets die Positionierung der Unternehmung im Wettbe­ werb. So muss vor allem anhand von übergeordneten Kriterien, die nicht mit den kurzfristigen Produktionskosten verwechselt werden dürfen, geprüft werden, wie die entwickelte Wettbewerbsstrategie auch beim Fließbandabgleich bestmöglich umge­ setzt werden kann.

Fließbandabgleich | 603

5 Die Koordination des Fließbands Der Fließbandabgleich wurde lange Zeit als ein Problem betrachtet, welches allein das Objekt – in diesem Fall also das Produkt – zum Gegenstand der Planung hat. Dies entspricht der Konzentration auf die dabei entstehenden Produktionskosten. Das Sub­ jekt – demnach die Planungsinstanz beziehungsweise der Operations Manager – stellt unter dieser Sichtweise keine kostenverursachende Größe dar. Dass diese Perspektive dem heutigen Problembewusstsein nicht uneingeschränkt Rechnung trägt, geht aus den Ausführungen in Abschnitt 3 hervor. Durch die angestrebte Realitätsnähe exis­ tieren inzwischen zahlreiche Modellvarianten, die auch dem Verhalten des Managers in seiner Problemumgebung – zumindest indirekt – Aufmerksamkeit schenken. Dies betrifft die Auswahl und die Reihenfolge der Einlastung von Produktvarianten ebenso wie den Umgang mit unsicheren Bearbeitungsdauern, die Aufgabenverteilung in Ab­ hängigkeit vom Layout, die Behandlung einer schwankenden Kundennachfrage etc. Man kann schlussfolgern, dass die Koordination zwischen den Fließbandstationen – ähnlich wie beim Supply Chain Management – inzwischen sogar in das Zentrum eines optimalen Fließbandabgleichs gerückt ist. Jede Form der Koordination des auf diese Weise beobachteten Verhaltens verur­ sacht allerdings Kosten, die im Wesentlichen nicht objektbedingt sind, sondern dem betreffenden Entscheidungsträger – zum Beispiel dem Stationsmanager – zugeordnet werden müssen. Grundlage jeglicher Koordination ist dabei ein Regelsystem, das dem Problem der Fließbandabstimmung zugrunde liegt⁴. Die Einhaltung beziehungswei­ se Überwachung der darin verankerten Regeln verursacht Transaktionskosten. Diese Kosten hängen von Parametern ab, durch die gekennzeichnet ist, welche Aufgaben­ komplexität von den Managern zu erwarten ist (vgl. auch Abschnitt 2.1). Die Regeln zur Handhabung eines Fließbands können vor allem aus den Neben­ bedingungen abgeleitet werden, die wiederum den realen Systemanforderungen ent­ sprechen. So trägt die Berücksichtigung einer Vielzahl von Produktvarianten unmit­ telbar dazu bei, dass die Transaktionsspezifität zunimmt. Der Abstimmungsprozess zwischen den verschiedenen Stationen des Fließbands wird wesentlich komplizier­ ter. Er erfährt einen höheren Zeitbedarf als beispielsweise in einem einfachen System, wie es Henry Ford ursprünglich vor Augen schwebte. So muss die Taktzeit im Allgemei­ nen erhöht werden; alternativ sind mehr Stationen einzurichten. Jedenfalls entstehen negative Konsequenzen hinsichtlich der Produktivität. Für die anderen Transaktions­ parameter gelten ähnliche Erfordernisse. Zugleich muss die Zielfunktion hinsichtlich der Optimierung des Fließbandabgleichs entsprechend um Transaktionskosten erwei­ tert werden. Daraus folgen zweierlei Konsequenzen:

4 Die Einführung eines solchen Systems wird auch als Institutionalisierung bezeichnet. Das System selbst stellt eine Institution dar.

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Regelungsdichte

Abb. 4: Kostenfunktion eines Fließbandabgleichs.

Zum einen entsteht ein Trade-off zwischen den objektbezogenen Produktionskosten sowie den subjektbezogenen Transaktionskosten. Diese Beziehung ist in Abbildung 4 veranschaulicht. Die Einführung des Regelsystems lässt sich durch die beiden Pole der abgebildeten Kostenfunktion genauer eingrenzen. Solange das Management ei­ ner Station von fundamentalen Entscheidungen befreit ist, resultiert eine Lösung, die ausschließlich an der Produktivität orientiert ist. Allerdings kommt es unter diesen Umständen bei der Modellierung auch zu erheblichen Realitätseinbußen, die in den letzten Jahren Gegenstand heftiger Kritik gewesen sind (vgl. z. B. Battaïa/Dolgui 2013; Hamta et al. 2013). Wird diesen berechtigten Einwürfen bezüglich einer mangelhaften Realitätsnähe der Lösungen allerdings Rechnung getragen, so treten Produktivitäts­ gewinne bei der Optimierung mehr und mehr in den Hintergrund, weil sie zumeist mit hohen Zuwächsen an Transaktionskosten verbunden sind. Der angewandte Lösungs­ algorithmus verliert an Bedeutung. Es gibt kaum noch Argumente für die Entwicklung exakter Optimierungsverfahren – im Vergleich zu Lösungsheuristiken⁵. 5 Einzig und allein robuste Qualitätsverbesserungen, die zum Beispiel durch moderne Informations­ technologie begünstigt werden, liefern weiterhin ein Plädoyer für den Einsatz exakter Verfahren.

Fließbandabgleich | 605

Zum anderen verursachen die beschriebenen Verhaltensphänomene des Manage­ ments auf lange Sicht Transaktionskosten, die sich einer befriedigenden Messbarkeit weitestgehend entziehen. So treten an die Stelle von Optimierungsverfahren, die auf der Verfügbarkeit von exakten Zahlenwerten basieren, strategische Überlegungen, bei denen der langfristige – kaum quantifizierbare – Nutzen überwiegt. An folgendem Beispiel soll diese fundamentale Entwicklung illustriert werden. Das fiktive Unternehmen EAC ist bemüht, seine Elektroautos so herzustellen, dass auch ausgefallene Kundenwünsche berücksichtigt werden können. Hierzu zählen et­ wa Wünsche wie z. B. bestickte Sitze, mehrfarbige Lackierung oder besondere Schnitz­ muster im Holz des Armaturenbretts. Würde man weiterhin einen traditionellen Fließ­ bandabgleich anstreben, so würde das Unternehmen von den nunmehr auftretenden, bisher nicht bekannten Problemen abstrahieren. Neben den Produktionskosten treten Transaktionskosten zutage, die verschiedene Ursachen haben: da die Übertragung der Verfügungsrechte neu zu regeln ist, ist nicht auszuschließen, dass Mitarbeiter in An­ betracht der zusätzlichen Arbeitsbelastung schneller erkranken oder sogar völlig aus dem Beruf ausscheiden (vgl. Bautista/Batalla-Garcia/Alfaro-Pozo 2016). Da es kaum Holzschnitzer auf dem Arbeitsmarkt gibt, muss die Ausbildung neu geregelt werden. Darüber hinaus müssen Bewerber, die über die entsprechenden Fähigkeiten verfü­ gen, mit Hilfe eines geeigneten Anreizsystems zum Wechsel motiviert werden. Auf der anderen Seite erfordern die erhöhten Anforderungen und damit verbundene Fehler­ wahrscheinlichkeiten verstärkt Endabnahmekontrollen, die ebenfalls kostenwirksam sind. All diese Faktoren sind verhaltensbedingt. Sie verhindern, dass die ehemals op­ timale Taktzeit einer Station beibehalten oder sogar reduziert werden kann. Allgemein entstehen Transaktionskosten in Form von – Informationskosten, um sicherzustellen, dass ausgefallene Kundenwünsche auf den einzelnen Stationen umgesetzt werden können, – Motivationskosten der Mitarbeiter, von denen ein hohes Maß an Flexibilität er­ wartet wird, – Kontrollposten in Bezug auf die Qualität der fertiggestellten Fahrzeuge, – Vereinbarungskosten über die Reihenfolge und zeitliche Übergabe der einzelnen Aufträge an die nächste Station sowie – Kosten der Fließbandanpassung. Insgesamt müssen diese Kosten neben den Produktionskosten in der Zielfunktion mit berücksichtigt werden. Das gesamte Kostenminimum hängt dann vor allem von sol­ chen Transaktionskosten ab, die wiederum mit der Zahl und Qualität der Kunden­ wünsche korrelieren. Diese Kosten sind jedoch nicht vollständig messbar, so dass ein optimaler Fließbandabgleich im Allgemeinen nur unter Berücksichtigung der vorhan­ denen Managererfahrung zustande kommt.

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6 Zusammenfassung und Ausblick Die Fließbandfertigung und insbesondere das Problem des Fließbandabgleichs ha­ ben nach wie vor eine zentrale Bedeutung für die Produktionsplanung. Die zugrun­ deliegende Organisationsform hat sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder be­ währt und ist entsprechend dem Streben der Unternehmung nach Festigung ihrer Wettbewerbsposition permanent weiterentwickelt worden, so dass sie heute vielfach auch dann Anwendung findet, wenn der typische Prozess der „Massenfertigung“ nicht identifiziert werden kann. Dies hat zu einer großen Zahl wissenschaftlicher Analy­ sen geführt, mit denen die Grenzen der traditionellen Fließbandorganisation sichtbar gemacht wurden. Die Betrachtungen kulminierten in jüngster Zeit in der Konzentrati­ on auf leistungsfähige Lösungsalgorithmen, mit denen auch schwierige, realitätsnahe Probleme auf befriedigende Art und Weise effizient gelöst werden können. Insgesamt hat die Fließbandfertigung heute ein ganz anderes Gewand als vor 100 Jahren; das liegt vor allem daran, dass im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft völlig neue Anforderungen an die Produktionsprozesse der Unternehmung gestellt werden. Soweit dies die technischen Bedingungen anbetrifft, wird durch die neueren Ansätze eine Lösungsqualität erreicht, die in Zukunft schwer zu überbieten sein wird. Eine Her­ ausforderung für die Zukunft stellt hingegen das menschliche Verhalten im Fließband­ prozess dar, das von den bisher publizierten Ansätzen kaum beziehungsweise nicht in dem erforderlichen Umfang berücksichtigt wird. Dies betrifft insbesondere den Infor­ mationsprozess, die Motivation der Mitarbeiter auf den verschiedenen Stationen, die Koordination beziehungsweise „Vertragsgestaltung“⁶ sowie alle Verhaltensanomali­ täten der betreffenden Beschäftigten. Dieses Defizit der Abbildung realen Entscheidungsverhaltens rührt in erster Linie aus der Komplexität der Aufgaben beziehungsweise Flexibilität, die von den Mana­ gern heutzutage erwartet wird, wenn die Fließbandfertigung mit ihren unbestritte­ nen Effizienzvorteilen in einer Umgebung eingesetzt werden soll, die sehr stark auch von den wechselnden, kurzlebigen Kundenbedürfnissen beeinflusst ist. Es wird also für die nächsten Jahre und Jahrzehnte für die Wissenschaft eine ständige Herausfor­ derung bleiben, neben den technischen Abläufen am Fließband vor allem auch das Verhalten der Arbeiter und Manager auf den verschiedenen Stationen so zu steuern, dass auch hier die Effizienzreserven bestmöglich genutzt werden.

6 Unter einem Vertrag ist nicht nur der klassische Vertrag zu verstehen. Vielmehr müssen im Ver­ ständnis der Neuen Institutionenökonomie vor allem andere, unvollständige Vertragsformen – wie insbesondere der relationale Vertrag – geprüft werden (vgl. Reese 2014).

Fließbandabgleich |

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Rainer Kolisch

Projektscheduling 1 2 3 3.1 3.2 3.3 4 4.1 4.2 4.3 4.4

Einführung | 609 Grundlagen: Aktivitäten, Zeitbeziehungen und Netzpläne | 610 Projektscheduling unter Zeitrestriktionen | 612 Projektscheduling mit Standardzeitbeziehungen | 612 Projektscheduling mit Standardzeitbeziehungen und stochastischen Aktivitätsdauern | 614 Projektscheduling mit allgemeinen Zeitbeziehungen | 616 Projektscheduling unter Zeit- und Ressourcenrestriktionen | 618 Projektscheduling mit erneuerbaren Ressourcen | 618 Projektscheduling mit multiplen Aktivitätsmodi | 620 Projektscheduling mit nicht-erneuerbaren Ressourcen | 621 Projektscheduling mit kumulativen Ressourcen | 621 Literatur | 622

Zusammenfassung. Projektscheduling beinhaltet die Bestimmung von Start- und Fer­ tigstellungszeiten von Aktivitäten, zwischen denen Zeitbeziehungen sowie gegebe­ nenfalls weitere Abhängigkeitsbeziehungen in Form knapper Ressourcen bestehen. Eine Aktivität wird dabei definiert als ein zeiterforderndes Geschehen, dessen Durch­ führung in der Regel Ressourcen beansprucht und Kosten verursacht. In dem folgen­ den Beitrag werden Verfahren zum Projektscheduling unter Zeitrestriktionen sowie zum Projektscheduling unter Zeit- und Ressourcenrestriktionen dargestellt. Neben der Darstellung von Modellen und Methoden wird auf Anwendungen im Bereich der Pro­ jekt- und der Prozessplanung eingegangen.

1 Einführung Projektscheduling (alternativ: Projektablaufplanung; englisch: Project Scheduling) beinhaltet die Bestimmung von Start- und Fertigstellungszeiten von Aktivitäten, zwi­ schen denen Zeitbeziehungen sowie gegebenenfalls weitere Abhängigkeitsbeziehun­ gen bestehen. Eine Aktivität wird dabei definiert als ein zeiterforderndes Geschehen, dessen Durchführung in der Regel Ressourcen beansprucht und Kosten verursacht (vgl. Zimmermann/Stark/Rieck 2010, S. 4). Alternative Bezeichnungen für Aktivität sind Vorgang, Job, Task oder Aufgabe. Jede Aktivität ist genau einem Projekt zugeord­ net. Nach der Anzahl der Projekte wird der Ein- und der Mehrprojektfall unterschie­ den. In diesem Beitrag wird der Einprojektfall betrachtet. Zum Mehrprojektfall siehe beispielsweise den Abschnitt X in Schwindt und Zimmermann (2015b). https://doi.org/10.1515/9783110473803-033

610 | Rainer Kolisch

Projektscheduling hat sich seit der Mitte des letzten Jahrhunderts als Disziplin für die Ablaufplanung von Projekten als einmaligen Vorhaben wie beispielsweise der Entwicklung der Polarisrakete herausgebildet. Mittlerweile werden die Verfahren des Projektscheduling auch für die Ablaufplanung von Prozessen mit Wiederholungscha­ rakter verwendet. Diese besitzen in der Regel eine geringere Varianz der Parameter wie beispielsweise der Projektdauern. Aufgrund dessen werden für die Ablaufpla­ nung von Prozessen häufig weiterführende Verfahren des Projektschedulings unter Verwendung verschiedener Ressourcenkonzepte entwickelt und verwendet (siehe Abschnitt 4). Im Gegensatz dazu werden für die überwiegenden Anwendungen des Projektschedulings im Projektmanagement einfache Verfahren ohne die Berücksich­ tigung von knappen Ressourcen eingesetzt (siehe Abschnitt 3). Es gibt zum Projektscheduling eine Vielzahl von Publikationen. Frühe Mono­ graphien sind Elmaghraby (1977) sowie Moder, Phillips und Davis (1983). Neuere Monographien sind in chronologischer Reihenfolge: Demeulemeester und Herroelen (2002), Neumann, Schwindt und Zimmermann (2003), Artigues, Demassey und Ne­ ron (2007), Zimmermann, Stark und Rieck (2010), Brucker und Knust (2012) sowie Schwindt und Zimmermann (2015a und 2015b). Übersichtsaufsätze zum Projektsche­ duling geben Kolisch und Padman (2001) sowie Hartmann und Briskorn (2010). Die Einbettung des Projektscheduling in das Projektmanagement wird in Monographien zum Projektmanagement dargestellt, beispielsweise in Shtub, Bard und Globerson (2005).

2 Grundlagen: Aktivitäten, Zeitbeziehungen und Netzpläne Wir betrachten eine Menge V = {0, 1, . . . , n, n + 1} von Aktivitäten eines Projekts. Dabei kann ein Projekt ein reales Projekt darstellen oder auch nur Begriff für die Menge der Aktivitäten im Rahmen der Planung eines Prozesses mit Wiederholungs­ charakter sein. Je nach Kontext ist dann das Planungsergebnis zu interpretieren. Die Projektdauer ist im Projektfall die Dauer vom Beginn des Projekts bis zu dessen Fertigstellung. Im Prozessfall ist es die Dauer, die zur Bearbeitung aller Aktivitäten des Prozesses benötigt wird. Die Aktivitäten 0 und n + 1 stellen die beiden ausge­ zeichneten Zustände Beginn und Fertigstellung der Bearbeitung aller Aktivitäten dar. Sie haben eine Dauer von 0, verbrauchen keine Ressourcen und verursachen keine Kosten. In der Projektplanung werden diese Aktivitäten als Meilensteine bezeichnet. Die verbleibenden Aktivitäten 1, . . . , n sind reale Aktivitäten mit positiven Bearbei­ tungsdauern sowie gegebenenfalls Ressourcenbedarfen und Kosten. Zwischen den Aktivitäten bestehen Zeitbeziehungen. Die Standardzeitbeziehung zwischen zwei Aktivitäten i und j ist die Ende-Start-Zeitbeziehung mit Mindestabstand 0, bei der für den Startzeitpunkt der Aktivität j gilt, dass dieser frühestens zum Fertigstel­

Projektscheduling | 611

2

8

1

2 1

pi 0

4

3

3

4

5

i

b 2

i d

a 4

3 c

Abb. 1: Netzplan in Vorgangsknotendarstellung (links) und Vorgangspfeildarstellung (rechts).

lungszeitpunkt der Aktivität i stattfinden kann. Mit E bezeichnen wir die Menge aller Zeitbeziehungen zwischen den Aktivitäten des Projekts. Aktivitäten und deren Zeitbeziehungen können graphisch als Netzplan dargestellt werden. Es gibt zwei Typen von Netzplänen: Vorgangsknotennetzpläne und Vorgangspfeilnetzpläne. Der gebräuchlichere Typ ist der Vorgangsknotennetzplan, bei dem die Aktivitäten als Knoten und die Zeitbeziehungen als Pfeile zwischen jeweils zwei Knoten dargestellt werden. Abbildung 1 links zeigt ein Projekt mit 6 Aktivitäten in Vorgangskontendar­ stellung. Oberhalb der Aktivität i ist deren Bearbeitungsdauer p i angegeben. Für das Beispiel ist die Aktivitätsmenge V = {0, 1, . . . , 5} und die Menge der Zeitbeziehungen ist E = {(0, 1) , (0, 3) , (1, 2) , (2, 5) , (3, 4) , (4, 5)}. Die Aktivitäten 0 und 5 sind die Meilensteine für die Zustände Beginn und Ende der Bearbeitung aller Aktivitäten. Entsprechend hat die Aktivität 0 keine Vorgängeraktivitäten und ist selber direkt oder indirekt Vorgängeraktivität aller anderen Aktivitäten. Aktivität 5 hat keine Nachfol­ geraktivitäten und ist selber direkt oder indirekt Nachfolger von allen anderen Akti­ vitäten. Die Abbildung 1 rechts stellt das gleiche Projekt in Vorgangspfeildarstellung dar. Jede Aktivität wird durch einen Pfeil sowie einen Anfangs- und einen Endknoten dargestellt. Die alphabetisch gekennzeichneten Knoten stellen Ereignisse dar. Bei­ spielsweise stellt Knoten b die Fertigstellung von Aktivität 1 dar. Die Zeitbeziehungen zwischen den Aktivitäten werden durch die Beziehung der (Aktivitäts-)Pfeile zuein­ ander abgebildet. Bei Vorgangspfeilnetzplänen kann es notwendig sein, zusätzliche Vorgänge mit Dauer Null, sogenannte Scheinvorgänge, zu verwenden, um Zeitbezie­ hungen abzubilden. Erweitert man beispielsweise den Vorgangsknotennetzplan um die Zeitbeziehung (1, 4), so muss in den Vorgangspfeilnetzplan ein Scheinvorgang von Knoten b zu Konten c mit Dauer 0 eingesetzt werden. Im Weiteren verwenden wir in diesem Beitrag die Vorgangsknotendarstellung. Entscheidungsgegenstand des Projektschedulings sind die Start- und Fertigstel­ lungszeitpunkte der Aktivitäten. Aus diesen Zeitpunkten können dann weitere Pla­ nungsinformationen wie z. B. Zahlungsströme, Ressourcenbedarfe, Materialbedarfe oder Kosten abgeleitet werden. Die Ziele des Projektschedulings sind unterschiedlich und können in Zeit-, Kosten und Ressourcenziele unterschieden werden (vgl. Zimmer­ mann/Stark/Rieck 2010, S. 126 ff.). Zu den Zeitzielen gehören die Minimierung der Pro­ jektdauer, die Minimierung der Summe der (gewichteten) Fertigstellungszeiten der Aktivitäten sowie die Summe der gewichteten Abweichungen von Zielterminen. Zu

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den Kostenzielen gehören die Minimierung der Projektkosten und die Maximierung des Projektkapitalwerts. Zu den Ressourcenzielen gehören die Minimierung der Sum­ me der gewichteten Maximalbedarfe der benötigten Ressourcen sowie die Minimie­ rung der Summe der gewichteten Abweichungen von gegebenen Kapazitäten der Res­ sourcen. Für die Modellierung und Lösung von Projektschedulingproblemen wurde eine Vielzahl von Verfahren entwickelt. Zu den ältesten und bekanntesten gehören die Cri­ tical Path Method (CPM), die Metra Potential Method (MPM) sowie die Program Eva­ luation and Review Technique (PERT). Diese werden vorrangig für die Planung von Projekten verwendet und berücksichtigen keine knappen Ressourcen. Im Gegensatz dazu erfolgt die Berücksichtigung von knappen Ressourcen durch das Resource-Cons­ trained Project Scheduling Problem (RCPSP) und dessen Weiterentwicklungen (siehe hierzu den Abschnitt 4).

3 Projektscheduling unter Zeitrestriktionen 3.1 Projektscheduling mit Standardzeitbeziehungen Bestehen zwischen den Aktivitäten eines Projekts nur Standardzeitbeziehungen, so können früheste und späteste Start- und Fertigstellungszeiten der Aktivitäten mit Hilfe von Verfahren zur Bestimmung längster Wege in Graphen berechnet werden (vgl. bei­ spielsweise Domschke et al. 2015, S. 110 ff.). Die Critical Path Method (CPM) sowie die Metra Potential Method (MPM) verwenden diesen Ansatz für Netzpläne in Vorgangs­ pfeil- beziehungsweise in Vorgangsknotendarstellung. Im Folgenden stellen wir das Verfahren für einen Vorgangsknotennetzplan dar, wobei wir eine topologische Num­ merierung der Aktivitäten voraussetzen. Eine topologische Nummerierung der Akti­ vitäten ist dann gegeben, wenn die Nummer einer Aktivität immer größer ist als die Nummer jeder Vorgängeraktivität. Der in Abbildung 1 links dargestellte Vorgangskno­ tennetzplan besitzt eine topologische Sortierung. Wir bezeichnen mit Predi die Menge der direkten Vorgängeraktivitäten der Aktivität i. Für den Vorgangsknotennetzplan in Abbildung 1 links gilt beispielsweise Pred5 = {2, 4}. Die frühesten Startzeitpunkte ES j und die frühesten Fertigstellungszeitpunkte EF j jeder Aktivität j können nun mit der folgenden Vorwärtsrekursion berechnet werden: 1: 2: 3: 4: 5:

ES 0 = EF0 = 0 For j = 1 to n + 1 ES j = max{EF i | i ∈ Predj } EF j = ES j + p j Next j

Die Vorwärtsrekursion setzt den frühesten Start- und Fertigstellungszeitpunkt des Meilensteins für den Projektstart zu 0 und berechnet anschließend den frühesten

Projektscheduling | 613

Startzeitpunkt jeder Aktivität j als das Maximum der Fertigstellungszeitpunkte aller Aktivitäten i ∈ Pred j , die direkte Vorgänger von Aktivität j sind. Für das in Abbildung 1 dargestellte Beispiel ergeben sich die in den Zeilen 2 und 3 der Tabelle 1 aufgeführten frühesten Zeitpunkte. Aufgrund der topologischen Sortierung sind zum Zeitpunkt der Berechnung von ES j die EF i der Vorgängeraktivitäten bereits berechnet. Die Berech­ nung der frühesten Start- und Fertigstellungszeiten der Aktivitäten ergibt zugleich den Projektablaufplan mit der minimalen Projektdauer EF n+1 , der minimalen Summe der Startzeitpunkte der Aktivitäten und der minimalen Summe der Fertigstellungs­ zeitpunkte der Aktivitäten. Die Berechnung der spätesten Startzeitpunkte LS j und der spätesten Fertigstel­ lungzeitpunkte LF j erfolgt ganz analog mit der Rückwärtsrekursion. Dabei werden ausgehend von einem spätesten Termin für die Fertigstellung des Projekts T die längs­ ten Wege von jeder Aktivität bis zum Projektende von T abgezogen. Bezeichnen wir mit Succj die Menge der unmittelbaren Nachfolger von Aktivität j, so können wir die Rückwärtsrekursion formal wie folgt darstellen: 1: 2: 3: 4: 5:

LF n+1 = LS n+1 = T For j = n to 0 LF j = min{LS i |i ∈ Succj } LS j = LF j − p j Next j

Die Rückwärtsrekursion setzt den spätesten Fertigstellungs- und Startzeitpunkt des Projektendmeilensteins n + 1 zu T und berechnet anschließend den spätesten Fertig­ stellungszeitunkt LF j von Aktivität j als Minimum der spätesten Startzeitpunkte der unmittelbaren Nachfolgeraktivitäten. Aufgrund der topologischen Sortierung sind da­ bei die Startzeitpunkte der Nachfolgeraktivitäten bereits berechnet. Für T = EF n+1 er­ geben sich die in den Zeilen 4 und 5 der Tabelle 1 aufgeführten spätesten Start- und Fertigstellungszeitpunkte der Aktivitäten. Unter Verwendung der frühesten und spä­ testen Startzeiten können die gesamten Pufferzeiten der Aktivitäten TS j wie folgt be­ rechnet werden: (1) TS j = LS j − ES j Tab. 1: Früheste und späteste Start- und Fertigstellungszeitpunkte sowie gesamte Pufferzeit der Aktivitäten. j

0

1

2

3

4

5

ES j EF j LS j LF j TS j

0 0 0 0 0

0 2 0 2 0

2 10 2 10 0

0 4 3 7 3

4 7 7 10 3

10 10 10 10 0

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0 1 2 3 4 5 0

2

4

7

10

Abb. 2: Balkendiagramm.

Die gesamte Pufferzeit TS j der Aktivität j ist die Zeit, um die die Dauer der Aktivität j verlängert werden kann, ohne dass sich dadurch der Zeitpunkt T für das Projekten­ de auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt. Voraussetzung ist allerdings, dass sich die Dauer jeder Vorgänger- und Nachfolgeraktivität von Aktivität j auf dem längsten Pfad von der Projektstartaktivität 0 zur Projektendaktivität n + 1 nicht verlängert. Für den spätesten Projektfertigstellungszeitpunkt T = EF n+1 gibt es immer mindestens eine Sequenz von durch Zeitbeziehungen verbundenen Aktivitäten mit gesamter Puf­ ferzeit 0. Im vorliegenden Beispiel ist dies die Sequenz < 0, 1, 2, 5]. Diese Aktivitäts­ folge bestimmt die Projektdauer und wird kritischer Pfad genannt. Jede Aktivität auf dem Pfad wird als kritische Aktivität bezeichnet. Die Bezeichnung rührt daher, dass zur Realisierung der kürzesten Projektdauer jede der Aktivitäten auf dem kritischen Pfad zum frühesten Startzeitpunkt begonnen und ohne eine Verlängerung der Bear­ beitungsdauer durchgeführt werden muss. Das in Tabelle 1 aufgeführten Ergebnis der Projektablaufplanung kann grafisch in Form eines Balkendiagramms (alternative Bezeichnung Gantt-Diagramm) dargestellt werden. Abbildung 2 gibt den Ablaufplan mit den frühesten Start- und Fertigstellungs­ zeiten der Aktivitäten wieder. Auf der x-Achse ist die Zeit dargestellt, auf der y-Achse werden die Aktivitäten von oben nach unten in aufsteigender Nummerierung aufge­ führt. Die Aktivitäten 1,. . . ,4 sind als Rechtecke dargestellt, die Projektstart- und Pro­ jektendaktivitäten 0 und 5 sind als Rauten dargestellt. Die gestrichelten Linien stellen die gesamte Pufferzeit der Aktivitäten dar. Kritische Aktivitäten haben keine gestri­ chelte Linie, da deren gesamte Pufferzeit Null ist.

3.2 Projektscheduling mit Standardzeitbeziehungen und stochastischen Aktivitätsdauern CPM und MPM gehen von einer deterministischen Problemstellung aus, bei der die Aktivitäten, die Zeitbeziehungen und die Bearbeitungsdauern der Aktivitäten deter­ ministisch sind. Gerade bei Ablaufplanungsproblemen mit Projektcharakter ist diese Annahme aufgrund der Einmaligkeitsbedingung eines Projekts häufig jedoch nicht gerechtfertigt. Die Program Evaluation and Review Technique (PERT) wurde daher als Ergänzung zu CPM und MPM entwickelt, um Informationen über die Verteilung der Projektdauer sowie daraus abgeleitet die Wahrscheinlichkeit, das Projekt inner­

Projektscheduling |

615

halb einer bestimmten Dauer fertigzustellen, berechnen zu können. PERT macht die folgenden Annahmen: (i) die Dauer einer Aktivität wird mittels einer approximierten Beta-Verteilung unter Verwendung von drei Parametern abgebildet: der kürzest möglichen Dauer (best ml case) p bc i , der wahrscheinlichsten Dauer (most likely case) p i und der längst wc möglichen Dauer (worst case) p i . (ii) Es wird nur ein kritischer Pfad im Projekt berücksichtigt. (iii) Die Projektdauer als Faltung der Dauern der Aktivitäten auf dem kritischen Pfad ist normalverteilt. Unter diesen Annahmen werden zunächst für jede Aktivität der Erwartungswert μ(p i ) =

1 ml wc ⋅ (p bc i + 4 ⋅ pi + pi ) 6

(2)

1 bc ⋅ (p wc i − pi ) 6

(3)

und die Standardabweichung σ(p i ) =

berechnet. Anschließend wird auf der Basis der Erwartungswerte der kritische Pfad des Projekts mit der in Abschnitt 3.1 dargestellten Vorwärts- und Rückwärtsrekursion berechnet. Im Falle mehrerer kritischer Pfade wird ein beliebiger kritischer Pfad aus­ gewählt. Wir bezeichnen die Menge der Aktivitäten auf dem ausgewählten kritischen Pfad mit VCP . Anhand der Aktivitäten auf dem kritischen Pfad werden der Erwar­ tungswert der Projektdauer μ(ES n+1 ) = ∑ μ (p j )

(4)

j∈VCP

und die Varianz der Projektdauer σ 2 (ES n+1 ) = ∑ σ 2 (p j )

(5)

j∈VCP

berechnet. Unter der Annahme einer normalverteilten Projektdauer liegen somit alle Informationen für die Verteilung der Projektdauer vor. Damit können auch Informatio­ nen wie beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, das Projekt bis zu einem bestimmten Zeitpunkt fertigzustellen, berechnet werden (zu Details vgl. beispielsweise Zimmer­ mann/Stark/Rieck 2010, S. 92 ff.). Zwar erlaubt PERT eine bessere Abschätzung des Risikos, das Projekt innerhalb einer gegebenen Zeit abzuschließen, als CPM und MPM. Allerding wird aufgrund der rigiden Annahmen, insbesondere der Annahme ii) nur eines kritischen Pfads sowie der implizit durch i) gemachten Annahme, dass die Verteilungen der Dauern der Ak­ tivitäten nicht korrelieren, eine zu optimistische Berechnung der Projektdauervertei­ lung vorgenommen. Eine realistischere und damit bessere Berechnung ist durch eine Monte-Carlo-Simulation möglich. Dabei werden die Verteilungen der Aktivitätsdau­ ern anhand geeigneter theoretischer oder empirischer Verteilungen modelliert und

616 | Rainer Kolisch

anschließend wird das Projekt auf der Basis der gemachten Verteilungsannahmen so häufig simuliert, dass sich statistisch stabile Ergebnisse für die Verteilung der Projekt­ dauer sowie abgeleitete Informationen wie die Wahrscheinlichkeit, das Projekt bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beenden, gewinnen lassen. Weiterhin kann für jede Aktivität ein Kritizitätsindex zwischen 0 und 1 berechnet werden, der die Wahrschein­ lichkeit angibt, dass die Aktivität auf einem kritischen Pfad liegt (zu Details vgl. bei­ spielsweise Zimmermann/Stark/Rieck 2010, S. 98).

3.3 Projektscheduling mit allgemeinen Zeitbeziehungen Grundsätzlich kann eine Zeitbeziehung auf den Start- oder den Endzeitpunkt einer Aktivität bezogen werden und einen Mindest- oder einen Maximalabstand haben. Bei zwei Vorgängen je Zeitbeziehung ergeben sich so 8 Zeitbeziehungen (vgl. beispiels­ weise Zimmermann/Stark/Rieck 2010, S. 46 ff.): Start-Start-, Start-Ende-, Ende-Startund Ende-Ende-Zeitbeziehung, jeweils als Mindest- oder Maximalabstand. Verwendet man die Variablen S j für den Startzeitpunkt und F j für den Fertigstellungszeitpunkt von Aktivität j sowie den Parameter δ ij für die Dauer des (Mindest- oder Maximal-) Abstands zwischen den Aktivitäten i und j, wobei das Superskript den Typen des Ab­ stands (ss = Start-Start, sf = Start-Ende, fs = Ende-Start, ff = Ende-Ende) anzeigt, so können die Zeitbeziehungen wie in Tabelle 2 als lineare Nebenbedingungen definiert werden. Die allgemeinen Zeitbeziehungen verallgemeinern die Ende-Start-Zeitbeziehung mit Mindestabstand 0. Diese würde als lineare Nebenbedingung S j ≥ F i lauten. Durch fs fs die Verwendung von δ ij ∈ ℝ ist bei allgemeinen Zeitbeziehungen im Falle von δ ij < 0 fs

fs

eine Überlappung möglich und für δ ij > 0 wird ein Mindestabstand von δ ij zwi­ schen dem Fertigstellungszeitpunkt von Aktivität i und dem Startzeitpunkt von Akti­ vität j erzwungen. Die Nutzung von allgemeinen Zeitbeziehungen bei Mindestabstän­ den wird im englischen als Precedence Diagramming bezeichnet (vgl. Moder/Phillips/ Davis 1983). Projektmanagementsoftware wie beispielsweise Microsoft Project erlaubt die Modellierung der vier Zeitbeziehungen mit Mindestabstand. Tab. 2: Typen von allgemeinen Zeitbeziehungen. Zeitbeziehung

Mindestabstand

Maximalabstand

Start-Start

S j ≥ S i + δ SS ij

S j ≤ S i + δ SS ij

Start-Ende

F j ≥ S i + δ ij

Sf

F j ≤ S i + δ ij

Ende-Start

S j ≥ F i + δ ij

fs

S j ≤ F i + δ ij

Ende-Ende

F j ≥ F i + δ ij

ff

F j ≤ F i + δ ij

Sf fs

ff

Projektscheduling | 617

Jede der 8 Zeitbeziehungen lässt sich in jeden anderen Typen umrechnen, wobei die Umrechnung eines Maximal- in einen Mindestabstand zu einer Umkehrung der Rich­ tung der Zeitbeziehung führt (zu Details vgl. Zimmermann/Stark/Rieck 2010, S. 59 ff.). Das bedeutet, dass aus einem positiven Maximalabstand zwischen Aktivität i und Ak­ tivität j ein negativer Mindestabstand zwischen Aktivität j und Aktivität i wird. Model­ liert man den spätesten Fertigstellungszeitpunkt des Projekts mittels des Maximalab­ sf standes F n+1 ≤ S0 + δ0,n+1 und überführt alle Zeitbeziehungen in den Typ Start-Start mit Mindestabstand, so können die frühesten und spätesten Startzeitpunkte aller Ak­ tivitäten mit dem Tripel-Algorithmus ermittelt werden. Der Tripel-Algorithmus berech­ net längste Wege zwischen allen Aktivitätspaaren (zu Details vgl. Zimmermann/Stark/ Rieck 2010, S. 73 ff.). Der früheste und späteste Startzeitpunkt definiert je Aktivität j ein Zeitfenster [EF j , LF j ] der möglichen Startzeitpunkte. Im Falle der Zielfunktionen Mini­ mierung der Projektdauer, Minimierung der Summe der Fertigstellungszeitpunkte der Aktivitäten oder Minimierung der Summe der Startzeitpunkte der Aktivitäten sind die EF j -Zeitpunkte optimal. Will man eine andere Zielfunktion optimieren, so kann dies mit Hilfe der Lösung eines linearen Programms erfolgen. Für die Zielfunktion Mini­ mierung der Projektdauer ergibt sich beispielsweise das folgende lineare Programm: Minimiere F n+1

(6)

unter den Nebenbedingungen: fs

S j ≥ F i + δ ij

∀ Zeitbeziehungen (i, j) vom Typ Ende-Start

(7)

Fj = Sj + pj

∀j = 0, . . . , n + 1

(8)

F j ≥ 0; S j ≥ 0

∀j = 0, . . . , n + 1

(9)

Die Zielfunktion (6) minimiert die Projektdauer. Die Nebenbedingungen (7) sorgen für die Einhaltung der Mindestabstände mit Ende-Start-Zeitbeziehungen. Dabei wird da­ von ausgegangen, dass alle Zeitbeziehungen in diesen Typ umgerechnet wurden. Al­ ternativ kann man die in Tabelle 2 aufgeführten allgemeinen Ungleichungen für die unterschiedlichen Zeitbeziehungen direkt als Nebenbedingungen verwenden. Die Ne­ benbedingungen (8) ermitteln den Fertigstellungszeitpunkt für jede Aktivität und die Nebenbedingungen (9) definieren die Entscheidungsvariablen. Projektscheduling mit allgemeinen Zeitbeziehungen wird unter anderem von Neumann und Schwindt (1997) für die Modellierung von Produktionsplanungspro­ blemen in der Auftragsfertigung mit unterschiedlichen Produktionsstrukturen und von Valls, Perez und Quintanilla (2009) für die Ablaufplanung von Mitarbeitern in einem Service Center verwendet.

618 | Rainer Kolisch

4 Projektscheduling unter Zeit- und Ressourcenrestriktionen 4.1 Projektscheduling mit erneuerbaren Ressourcen In der Regel benötigen Aktivitäten zur Durchführung Ressourcen wie beispielsweise Maschinen oder Mitarbeiter. Sei R = {1, . . . , K} die Menge von K Ressourcen. Res­ source k ∈ R hat in jeder Periode eine Kapazität von R k . Aufgrund der erneuten Ver­ fügbarkeit der Kapazität in jeder Periode werden diese Ressourcen in der Literatur zum Projektscheduling als erneuerbare Ressourcen (englisch: renewable resources) bezeichnet. Aktivität i benötigt zur Ausführung in jeder Bearbeitungsperiode die Ka­ pazität r ik der Ressource k. Für einen zulässigen Ablaufplan muss gelten, dass in je­ der Periode und für jede Ressource die in Bearbeitung befindlichen Aktivitäten nicht mehr als die vorhandene Kapazität benötigen. Durch die Berücksichtigung begrenzt verfügbarerer Ressourcen reicht es nicht mehr aus eine reine Zeitplanung (siehe Ab­ schnitte 3.1–3.3) durchzuführen, weil die Ablaufpläne bei knappen Kapazitäten unzu­ lässig werden können. Benötigen beispielsweise in dem Beispiel oben die Aktivitäten 1 und 3 jeweils eine Einheit r1,1 = r1,3 = 1einer Ressource k = 1 von der je Periode nur eine Einheit R1 = 1verfügbar ist, dann ist der in Abbildung 1 dargestellte Ablauf­ plan nicht mehr zulässig. Um die Problemstellung zu modellieren, verwenden wir die Binärvariable x it ∈ {1, 0}, die dann den Wert 1 hat, wenn t der Startzeitpunkt von Akti­ vität i ist. Für die Aktivität 3 in dem in Abbildung 2 dargestellten Ablaufplan gilt somit x3,0 = 1. Allgemein gilt die folgende Beziehung zwischen der in Abschnitt 3.3 verwen­ deten Startvariablen S i und der Binärvariablen x it : ∑Tt=1 t ⋅ x it =S i . Für Aktivität i defi­ nieren wir mit Wi = {ES i , . . . , LS i } die Menge der möglichen Startzeitpunkte, wobei die Rückwärtsrekursion ausgehend von einem die Zeit- und Ressourcenrestriktionen respektierendem Fertigstellungszeitpunkt T des Projekts erfolgen muss. Eine einfache Berechnung von T ist T = ∑j∈V p j . Das Projektschedulingproblem unter Berücksichti­ gung von Ressourcenbeschränkungen (englisch: Resource-Constrained Project Sche­ duling Problem, RCPSP) kann dann wie folgt als lineares binäres Programm modelliert werden: (10) Minimiere ∑ t ⋅ x n+1,t t∈Wn+1

unter den Nebenbedingungen ∑ x jt = 1 ∀j = 0, . . . , n + 1

(11)

t∈Wj

∑ t ⋅ x jt − ∑ t ⋅ x it ≥ p i t∈W j

t∈W i

∀ Zeitbeziehungen (i, j) vom Typ Ende-Start

(12)

Projektscheduling |

619

min{t,LS j }

∑ r jk ⋅ j∈V



x jτ ≤ R k

∀k ∈ R ; t = 0, . . . , T − 1

(13)

τ=max{ES j ,t−p j +1}

x jt ∈ {0; 1} ∀j = 0, . . . , n + 1 ; t ∈ Wj

(14)

Die Zielfunktion (10) minimiert die Fertigstellungszeit der Meilensteinaktivität Pro­ jektende und damit die Projektdauer. Die Nebenbedingungen (11) stellen sicher, dass jede Aktivität genau einmal innerhalb des Zeitfensters der möglichen Startzeitpunk­ te begonnen wird. Die Nebenbedingungen (12) berücksichtigen die Zeitbeziehungen zwischen den Aktivitäten. Dabei werden die Standardzeitbeziehungen vom Typ EndeStart mit Mindestabstand 0 verwendet. Eine Berücksichtigung von allgemeinen Zeit­ beziehungen mit beliebigen Mindest- und Höchstabständen ist unmittelbar möglich. Die Nebenbedingungen (13) erzwingen, dass für jede Ressource und in jeder Periode die in Ausführung befindlichen Aktivitäten nicht mehr als die verfügbare Kapazität benötigen. Dabei wird die Kapazität immer für den Startzeitpunkt der Periode über­ prüft. Beispielsweise wird die Periode 1 zum Zeitpunkt 0 überprüft. Die Nebenbedin­ gungen (14) definieren die Binärvariablen. Das RCPSP ist ein sehr allgemeines Problem der Ablaufplanung, das viele klassi­ sche Ablaufplanungsprobleme als Spezialfall beinhaltet. So können Ein- und Mehr­ maschinenprobleme, das Flow-Shop- und das Job-Shop-Problem (vgl. Drexl 1990) sowie das Fließbandaustaktungsproblem (vgl. De Reyck/Herroelen 1997) als RCPSP modelliert werden. Zudem erlaubt das Konzept der erneuerbaren Ressourcen die Modellierung von Randbedingungen, die sich nicht nur auf die Verfügbarkeit von klassischen Ressourcen wie Maschinen oder Mitarbeiter beziehen. So modellieren Brimberg, Hurley und Wright (1996) mittels einer erneuerbaren Ressource den be­ grenzten Raum im Cockpit eines Hubschraubers, in dem die Anzahl der gleichzei­ tig durchgeführten Wartungsaktivitäten beschränkt sind. Auf der Basis des RCPSP modelliert Hartmann (2000) eindimensionale Binpackprobleme und Rieck, Zimmer­ mann und Gather (2012) modellieren den jährlichen Wartungs- und Instandhaltungs­ prozess in Atomkraftwerken. Hartmann (2013) bildet mit dem RCPSP mit allgemeinen Zeitbeziehungen und zeitvarianten Kapazitäten der Ressourcen ein medizinisches Forschungsvorhaben ab. Hartmann (2004) modelliert mit dem RCPSP und allgemei­ nen Zeitbeziehungen Ablaufplanungsprobleme in Containerterminals. Die exakte Lösung des Projektschedulingproblems bei Berücksichtigung von Res­ sourcenbeschränkungen kann mit speziellen Branch-und-Bound-Verfahren (vgl. De­ meulemeester/Herroelen 1997 sowie Sprecher 2000) sowie durch die Lösung von bi­ nären und gemischt-ganzzahligen Programmen mit Optimierungssoftware erfolgen. Für die Lösung von binären und gemischt-ganzzahligen Programmen wurden neben der Modellformulierung (10)–(14) verschiedene andere Modellierungen vorgeschla­ gen. Eine Übersicht wird in Artigues et al. (2015) gegeben. Exakt können Probleme mit bis zu 30 Aktivitäten gelöst werden. Für größere Probleme wurde in der Literatur eine Vielzahl von Heuristiken vorgeschlagen. Die besten Ergebnisse werden mit populati­

620 | Rainer Kolisch

onsbasierten Verfahren, insbesondere mit Genetischen Algorithmen erzielt. Eines der besten Verfahren ist von Debels et al. (2006). Ein ausführlicher Vergleich von Heuris­ tiken wird in Kolisch und Hartmann (2006) vorgenommen. Eine frei verfügbare Soft­ ware zur exakten und heuristischen Lösung von RCPSP-Instanzen mit der Möglichkeit der Visualisierung von Ablaufplänen und von Kapazitätsbelastungsdiagrammen so­ wie der Möglichkeit des Vergleichs der Ergebnisse verschiedener Heuristiken wird in Deblaere, Demeulemeester und Herroelen (2011) vorgestellt.

4.2 Projektscheduling mit multiplen Aktivitätsmodi Auf der Grundlage des RCPSP wurden eine Reihe weiterführender Konzepte entwi­ ckelt. Das bekannteste ist das Mehr-Modus-Konzept, bei dem eine Aktivität i nicht mehr auf eine einzige Bearbeitungsdauer p i und die Ressourcenbedarfe r ik für die er­ neuerbaren Ressourcen k ∈ R beschränkt ist, sondern in dem mehrere Ausführungs­ modi für die Aktivität i abgebildet werden. Sei Mi die Menge und M i die Anzahl der Ausführungsmodi von Aktivität i sowie m der Index eines Ausführungsmodus. Akti­ vität i hat dann m = 1, . . . , M i unterschiedliche Ausführungsmodi, wobei Ausfüh­ rungsmodus m durch die Bearbeitungsdauer p im und die Ressourcenbedarfe r ikm für die Ressourcen k ∈ R gekennzeichnet ist. Bei Berücksichtigung multipler Modi be­ steht das Projektschedulingproblem dann darin, je Aktivität einen Modus sowie die Start- und die Fertigstellungszeit zu bestimmen. Zur Berücksichtigung multipler Modi kann die RCPSP-Modellierung wie folgt erweitert werden: Es wird eine Binärvariable x i,m,t ∈ {1, 0} eingeführt, die den Wert 1 hat, wenn Aktivität i in Modus m durch­ geführt und zum Zeitpunkt t begonnen wird. Damit ergibt sich die folgende Erweite­ rung des RCPSP zum Multi-Mode Resource-Constrained Project Scheduling Problem (MMRCPSP): Minimiere ∑ t ⋅ x n+1,1,t (15) t∈Wn+1

unter den Nebenbedingungen ∑

∑ x jmt = 1

∀j = 0, . . . , n + 1

(16)

m∈Mj t∈Wj



∑ t ⋅ x jmt − ∑

m∈Mj t∈W j

∑ (t + p im ) ⋅ x imt ≥ 0

m∈Mi t∈W i

Zeitbeziehungen (i, j) vom Typ Ende-Start

(17)

∀k ∈ R ; t = 0, . . . , T − 1

(18)



min{t,LS j }

∑ ∑ r jmk ⋅ j∈V m∈Mj



x jmτ ≤ R k

τ=max{ES j ,t−p jm +1}

x jmt ∈ {0; 1} ∀

j = 0, . . . , n + 1 ; m ∈ Mj ; t ∈ Wj

(19)

Die Zielfunktion (15) minimiert die Fertigstellungszeit der Meilensteinaktivität Pro­ jektende und damit die Projektdauer. Die beiden Meilensteinaktivitäten Projektbeginn

Projektscheduling |

621

und Projektende haben jeweils nur einen Modus, das heißt M0 = M n+1 = 1. Die Neben­ bedingungen (16)–(19) sind analog zu den Nebenbedingungen (11)–(14) des RCPSP. Das MMRCPSP kann für kleine Probleme exakt mit dem Branch-und-Bound-Verfahren von Sprecher und Drexl (1998) gelöst werden. Für größere Probleme muss wie beim RCPSP auf heuristische Verfahren zurückgegriffen werden. Einen Vergleich heuristi­ scher Verfahren für das MMRCPSP wird in Van Peteghem und Vanhoucke (2014) gege­ ben. Wie für das RCPSP zeigen populationsbasierten Verfahren die besten Ergebnisse zur Lösung des MMRCPSP. Mit dem MMRCPSP kann eine Vielzahl unterschiedlicher Planungsprobleme mo­ delliert werden. Hartmann (2000) modelliert beispielsweise ein- und zweidimensio­ nale Binpackingprobleme. Schultmann und Rentz (2001) behandeln den Rückbau von Gebäuden. Lorenzoni, Ahonen und Gomes de Alvarenga (2006) betrachten das Pro­ blem der Ablaufplanung für die Abfertigung von Schiffen in einem Containerhafen.

4.3 Projektscheduling mit nicht-erneuerbaren Ressourcen Nicht-erneuerbare Ressourcen (englisch: non-renewable resources) haben eine Kapa­ zität, die über den gesamten Planungszeitraum für die Durchführung aller Aktivitäten zur Verfügung steht. Das klassische Beispiel ist ein begrenztes Budget für die Bear­ beitung aller Aktivitäten des Projekts. Für die Modellierung wird die Menge der nichterneuerbaren Ressourcen mit R n bezeichnet. Nicht-erneuerbare Ressource k ∈ R n hat eine Kapazität von R nk , und Aktivität i in Modus m benötigt zur Durchführung einma­ lig r nimk Einheiten der nicht-erneuerbaren Ressource k. Das Modell MMRCPSP (15)–(19) kann dann um die folgende Nebenbedingung erweitert werden: ∑ ∑ r njmk ⋅ ∑ x jmt ≤ R nk j∈V m∈Mj

∀k ∈ R n

(20)

t∈Wj

Hartmann (2000) zeigt, dass ein- bis dreidimensionale Knapsackpackprobleme als spezielle MRCPSP mit nicht-erneuerbaren Ressourcen modelliert werden können.

4.4 Projektscheduling mit kumulativen Ressourcen Kumulative Ressourcen sind Ressourcen, die über den gesamten Planungszeitraum zur Verfügung stehen und deren Kapazität durch die Durchführung von Aktivitäten reduziert und erhöht werden kann. Das Konzept der kumulativen Ressourcen wurde für die Modellierung von Ablaufplanungsproblemen in der Prozessindustrie entwi­ ckelt. Hierbei werden von bestimmten Aktivitäten Zwischenprodukte erstellt, die spä­ ter von anderen Aktivitäten für die Erstellung von Endprodukten verbraucht werden (vgl. beispielsweise Neumann/Schwindt 2003). Im Folgenden wird das Konzept der kumulativen Ressourcen für den Einmodusfall dargestellt; die Anwendung im Mehr­ modusfall ist analog. Sei R c die Menge der kumulativen Ressourcen. Jede kumulative

622 | Rainer Kolisch Ressource k ∈ R c darf einen Mindestbestand Rmin nicht unterschreiten und einen k nicht überschreiten. Aktivität i erzeugt oder verbraucht r cik ∈ ℝ Maximalbestand Rmax k Einheiten der kumulativen Ressource. Dabei zeigt das Vorzeichen, ob es sich um die Erzeugung (r cik > 0) oder den Verbrauch (r cik < 0) der Ressource handelt. Im Falle ei­ nes Verbrauchs erfolgt dieser zum Startzeitpunkt der Aktivität und im Fall der Erzeu­ gung erfolgt diese zum Fertigstellungszeitpunkt der Aktivität. Die Menge aller Aktivi­ täten V wird im Hinblick auf die kumulative Ressource k unterteilt in die kapazitätser­ zeugenden Aktivitäten V+k und die kapazitätsverbrauchenden Aktivitäten V−k . Mit der Variablen R ckt wird der Bestand der kumulativen Ressource k zum Zeitpunkt t model­ liert. Für die Berücksichtigung von kumulativen Ressourcen kann das RCPSP (10)–(14) dann um die folgende Nebenbedingung erweitert werden: t

t

∑ ∑ r cjk ⋅ x j,τ−p j − ∑ ∑ r cjk ⋅ x j,τ = R ckt

∀k ∈ R c ; t = 0, . . . , T − 1

(21)

Rmin ≤ R ckt k

∀k ∈ R c ; t = 0, . . . , T − 1

(22)

j∈V+k τ=0

j∈V−k τ=0

R ckt



Rmax k

c

∀k ∈ R ; t = 0, . . . , T − 1

(23)

Literatur Artigues, C.; Demassey, S.; Neron, E. (Eds.): Resource-Constrained Project Scheduling – Models, Algorithms, Extensions and Applications, London/Hoboken 2007. Artigues, C. et al.: Mixed-Integer Linear Programming Formulations, in: Schwindt, C.; Zimmermann, J. (Eds.): Handbook on Project Management and Scheduling, Vol. 1, Berlin/Heidelberg 2015, pp. 17–41. Brimberg, J.; Hurley, W.J.; Wright, R.E.: Scheduling Workers in a Constricted Area, in: Naval Research Logistics, Vol. 43 (1996), pp. 143–149. Brucker, P.; Knust, S.: Complex Scheduling, 2nd edn., Berlin/Heidelberg 2012. Debels, D. et al.: A Hybrid Scatter Search/Electromagnetism Meta-Heuristic for Project Scheduling, in: European Journal of Operational Research, Vol. 169 (2006), pp. 638–653. Demeulemeester, E.; Herroelen, W.: New Benchmark Results for the Resource-Constrained Project Scheduling Problem, in: Management Science, Vol. 43 (1997), pp. 1485–1492. Demeulemeester, E.; Herroelen, W.: Project Scheduling: A Research Handbook, Boston 2002. Deblaere, F; Demeulemeester, E; Herroelen, W.: RESCON: Educational Project Scheduling Software, in: Computer Applications in Engineering Education, Vol. 19 (2011), pp. 327–336. Domschke, W. et al.: Einführung in Operations Research, 9. Aufl., Berlin/Heidelberg 2015. Drexl, A.: Fließbandaustaktung, Maschinenbelegung und Kapazitätsplanung in Netzwerken: Ein integrierender Ansatz, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 60. Jg. (1990), S. 53–69. Elmaghraby, S.E.: Activity Networks – Project Planning and Control by Network Models, New York 1977. Hartmann, S.: Packing Problems and Project Scheduling Models: An Integrating Perspective, in: Journal of the Operational Research Society, Vol. 51 (2000), pp. 1083–1092. Hartmann, S.: A General Framework for Scheduling Equipment and Manpower at Container Termi­ nals, in: OR Spectrum, Vol. 26 (2004), pp. 51–74.

Projektscheduling | 623

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Christoph Schwindt

Termin- und Kapazitätsplanung 1 1.1 1.2 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 4 4.1 4.2 5 5.1 5.2

Gegenstand und Systematik der Termin- und Kapazitätsplanung | 624 Rolle der Termin- und Kapazitätsplanung in der hierarchischen Produktionsplanung und -steuerung | 625 Überblick über die Phasen und Schritte der Termin- und Kapazitätsplanung | 627 Aggregierte Kapazitätsabstimmung | 629 Kapazitäts- und Kapazitätsbedarfsermittlung | 629 Kapazitätsabgleich | 631 Auftragsterminplanung als Problem der ressourcenbeschränkten Projektplanung | 633 Grundlagen der Projektplanung | 633 Modellierung der Auftragsterminplanung | 635 Sukzessivansatz der Auftragsterminplanung | 638 Durchlaufterminierung | 638 Intuitive Methoden der Kapazitätsterminierung | 639 Ansätze für die integrierte Auftragsterminplanung | 641 Ein zeitindexbasiertes Entscheidungsmodell | 641 Ein Schedule-Generierungsschema für reguläre Zielfunktionen | 642 Literatur | 644

Zusammenfassung. Gegenstand der Termin- und Kapazitätsplanung sind die kurz­ fristige Abstimmung verfügbarer und in Anspruch genommener Kapazitäten der Po­ tentialfaktoren eines Produktionssystems und die kapazitätszulässige Terminierung der Arbeitsgänge freizugebender Produktionsaufträge. An die aggregierte Kapazitäts­ abstimmung, bei der Maßnahmen zur Kapazitätsausweitung bzw. Minderung oder Glättung der Kapazitätsbelastung geplant werden, schließt sich die Auftragstermin­ planung mit den Schritten der Durchlauf- und der Kapazitätsterminierung an. Für bei­ de Schritte kommen Verfahren der Projektplanung zum Einsatz, mit denen sich heute komplexe Probleme der Termin- und Kapazitätsplanung mit bis zu tausend Arbeits­ gängen näherungsweise optimal lösen lassen.

1 Gegenstand und Systematik der Termin- und Kapazitätsplanung Der Termin- und Kapazitätsplanung kommen im Rahmen der operativen Prozessge­ staltung die Aufgaben zu, die Durchführbarkeit von Produktionsaufträgen sicher­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-034

Termin- und Kapazitätsplanung | 625

zustellen und diese unter Berücksichtigung der beschränkten Verfügbarkeit der Potentialfaktoren des Produktionssystems zu terminieren. Weiterhin dient sie der kurzfristigen Abstimmung der Produktionskapazitäten durch den Einsatz von Fle­ xibilitätsinstrumenten der Personalwirtschaft, die Reallokation von Betriebsmitteln oder die kurzzeitige Variation der Arbeitsintensität beziehungsweise Betriebsmit­ telzustände. Anstelle von Termin- und Kapazitätsplanung sind in der produktions­ wirtschaftlichen Literatur auch die Begriffe kurzfristige Kapazitätsbedarfsplanung (engl. Capacity Requirements Planning CRP, vgl. Schneeweiß 2002, S. 243 ff.), Kapa­ zitätsbelegungsplanung (vgl. Hahn/Laßmann 1999), Ressourceneinsatzplanung (vgl. Günther/Tempelmeier 2016, S. 189 ff.), Produktionsablaufplanung (vgl. Dyckhoff/ Spengler 2010, S. 272) beziehungsweise Termingrobplanung, Terminplanung oder Zeitwirtschaft gebräuchlich, die in diesem Fall jeweils die Kapazitätsterminierung mit einschließen (vgl. z. B. Corsten/Gössinger 2012, S. 512 ff.; Hoitsch 1993, S. 158 ff.; Kern 1992, S. 301 ff.; Steven 2007, S. 271 ff.). Die konkrete Ausgestaltung der Aufgaben der Termin- und Kapazitätsplanung sind vom gewählten Organisationstyp der Fertigung abhängig. Hoitsch (1993) unter­ scheidet beispielsweise Terminplanungen für die Einzel-/Auftrags-/Baustellenproduktion, die Einzel- und Kleinserien-/Auftrags-/Werkstattproduktion sowie die Se­ rien-/Vorrats-/Reihenproduktion. Wir werden den ersten Organisationstyp als Pro­ jektfertigung bezeichnen, bei den beiden anderen Typen sprechen wir vereinfachend von (auftragsgebundener) Einzel- und Kleinserienfertigung beziehungsweise von (auftragsanonymer Mittel-)Serienfertigung. Für den Organisationstyp der Varianten­ fließfertigung reduziert sich die Termin- und Kapazitätsplanung auf die Festlegung von Taktzeiten im Rahmen des operativen Fließbandabgleichs. Da sich die Fließband­ abgleichsprobleme grundlegend von den Problemen der Termin- und Kapazitätspla­ nung der übrigen Organisationstypen unterscheiden, werden wir uns im Folgenden auf die Untersuchung der Projekt-, der Einzel- und Kleinserien- sowie der Serienfer­ tigung beschränken. Die Vorgehensweisen der Termin- und Kapazitätsplanungen für die Projekt-, die Einzel- und Kleinserien- und die Serienfertigung stimmen in wesent­ lichen Punkten überein. Die Planungen unterscheiden sich in erster Linie in der Art ihrer Anbindung an die jeweils vor- und nachgelagerten Planungsebenen und in der Auswahl der ausgeführten Planungsschritte. Wir gehen zunächst auf die Stellung der Termin- und Kapazitätsplanung im Kon­ zept der hierarchischen Produktionsplanung und -steuerung ein, bevor wir einen Überblick über die einzelnen Phasen und Planungsschritte geben.

1.1 Rolle der Termin- und Kapazitätsplanung in der hierarchischen Produktionsplanung und -steuerung In der Produktionsplanung und -steuerung einer Serienfertigung verbindet die Ter­ min- und Kapazitätsplanung die Ebenen der Materialbedarfsplanung, von der sie

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grobterminierte Produktionsaufträge übernimmt, und der Produktionssteuerung mit Auftragsfreigabe und Maschinenbelegungsplanung (vgl. z. B. Kistner/Steven 2001, S. 263 f.). Die von der Materialbedarfsplanung nach dem Prinzip der Dispositionsstu­ fenverfahren gebildeten Produktionsaufträge sind dabei in den meisten Fällen durch die Anwendung unkapazitierter Modelle der Losgrößenplanung ermittelt worden und können daher regelmäßig nicht mit den zur Verfügung stehenden Produktionskapa­ zitäten realisiert werden. Auch erfolgt die Materialbedarfsplanung auf der Grundlage grob geschätzter Standarddurchlaufzeiten für die Produktionsaufträge, die sich auf­ grund der unsicheren Liegezeitanteile häufig als sehr ungenau erweisen. In einer typischen Umsetzungsform für die Serienfertigung entspricht die Termin- und Ka­ pazitätsplanung einer aggregierten Ablaufplanung für einzelne Produktionslose, die die wochengenau terminierten Produktionsaufträge der Erzeugnisse in tages- oder schichtgenau terminierte Ausführungen von Arbeitsgängen in Arbeitsplatzgruppen umwandelt. Im Unterschied zur detaillierten Ablaufplanung und Feinterminierung der Maschinenbelegungsplanung liefert auch die Termin- und Kapazitätsplanung noch periodenbezogene Grobtermine, deren Periodenraster je nach Planungsschritt und Detaillierungsgrad dem der Materialbedarfsplanung oder einer feineren Diskreti­ sierung entsprechen kann und deren Ergebnisse noch einer Detaillierung im Hinblick auf die Allokation von Produktionslosen zu einzelnen Arbeitsplätzen und deren Fein­ terminierung bedürfen. Die Notwendigkeit der Gliederung der Ablaufplanung in eine aggregierte und eine detaillierte Kapazitätsterminierung resultiert aus dem zeitlichen Abstand zur Umsetzung der Produktionsaufträge und der hiermit verbundenen Unsi­ cherheit der Planungsdaten (vgl. Dyckhoff/Spengler 2010, S. 273 f.; Kern 1992, S. 306; Schneeweiß 2002, S. 257). Liegt der Fall einer Projektfertigung oder einer Einzel- und Kleinserienfertigung vor, werden die Produktionsaufträge häufig direkt aus den Kundenaufträgen abge­ leitet. Aufgrund der Einmaligkeit der Ausführungsbedingungen kann ein in Pro­ jektfertigung vollzogener Produktionsauftrag als ein Projekt aufgefasst werden. Die Produktionsplanung entspricht in diesem Fall einer (Multi-)Projektplanung, die gege­ benenfalls hierarchisch in mehrere Aggregationsstufen gegliedert ist (vgl. Neumann/ Schwindt/Zimmermann 2003, S. 195 ff.). Da Projektfertiger in besonderer Weise auf eine flexible Kapazitätsnutzung angewiesen sind, kommen für die Terminierung der Projektaktivitäten typischerweise Modelle der multimodalen Projektplanung zum Einsatz, die Aspekte der optimalen Verfahrenswahl einschließen. Beim Organisationstyp der Einzel- und Kleinserienfertigung gliedert sich das Pro­ duktionssystem häufig in einen Upstream- und einen Downstream-Teil. Während die Endmontage und gegebenenfalls auch die Hauptfertigung im Downstream-Teil als Auftragsfertigung ausgeführt sind, wird die Vorfertigung im Upstream-Teil nach dem Prinzip der anonymen Lagerfertigung disponiert. Die Termin- und Kapazitätsplanung nimmt in diesem Fall in den beiden Produktionsbereichen eine unterschiedliche Stel­ lung ein, die im Upstream-Teil der der Serienfertigung und im Downstream-Teil der der Projektfertigung vergleichbar ist.

Termin- und Kapazitätsplanung | 627

1.2 Überblick über die Phasen und Schritte der Termin- und Kapazitätsplanung Die Termin- und Kapazitätsplanung kann in zwei Phasen gegliedert werden, die sich in ihrer zeitlichen und ablauforganisatorischen Detaillierung unterscheiden. Die erste Phase, die wir im Folgenden als aggregierte Kapazitätsabstimmung bezeichnen wol­ len, erfolgt typischerweise im groben Periodenraster der Materialbedarfsplanung und umfasst die Schritte der Kapazitäts- und Kapazitätsbedarfsermittlung sowie des Ka­ pazitätsabgleichs. Sie dient insbesondere dazu, die Möglichkeiten kurzfristiger Kapa­ zitätsanpassungsmaßnahmen auszuschöpfen und Produktionsaufträge sofern erfor­ derlich in kleinere Produktionslose aufzuteilen, um Kapazitätsangebote und -bedarfe aufeinander abzustimmen. Die bei der Kapazitätsabstimmung betrachteten Maßnah­ men zur Ausweitung der Produktionskapazität entsprechen in Teilen den Flexibili­ tätsinstrumenten, deren Nutzung in höherer Aggregation bereits Gegenstand der ag­ gregierten Produktionsprogrammplanung ist. Für eine Auftragsfertigung und wichtige anonyme Produktionsaufträge sowie im Falle komplexer Erzeugnisstrukturen muss im Anschluss an die aggregierte Kapazi­ tätsabstimmung eine genauere zeitliche Terminierung der Bearbeitung der Aufträ­ ge an kapazitiven Engpassstellen erfolgen, die als Auftragsterminplanung bezeichnet wird (vgl. Schneeweiß 2002, S. 249 ff.). Die Auftragsterminplanung besteht aus den beiden Schritten Durchlaufterminierung zur Ermittlung von Pufferzeiten und Kapa­ zitätsterminierung unter Berücksichtigung der Produktionskapazitäten der Arbeits­ platzgruppen. Da die Projektfertigung typischerweise eine besonders effiziente Nutzung von Fle­ xibilitätspotentialen erfordert, sollten dort Methoden eingesetzt werden, die die Pha­ sen der Kapazitätsabstimmung und der Auftragsterminplanung in Modellen der mul­ timodalen Projektplanung integrieren. Bei den übrigen Organisationstypen werden die beiden Phasen in den meisten Fällen nacheinander durchlaufen, oder es wird le­ diglich eine der beiden Phasen ausgeführt. Tabelle 1 zeigt die beiden Planungsphasen und die Schritte der Termin- und Kapazitätsplanung im Überblick. Die Schritte der Durchlaufterminierung und der Kapazitätsterminierung können auf das Instrumentarium der Projektplanung zurückgreifen und werden daher in der Literatur in Analogie zum Projektmanagement auch als Terminplanung beziehungs­ weise Kapazitätsplanung bezeichnet. Während die Durchlaufterminierung auf der Grundlage der Netzplantechnik auch in betrieblichen Anwendungssystemen zur Pro­ duktionsplanung und -steuerung weit verbreitet ist, wird die Kapazitätsterminierung trotz ihrer erheblichen Komplexität auch heute noch oft manuell durchgeführt (vgl. Corsten/Gössinger 2012, S. 579). Grundlage für diese manuelle Planung sind die in der Durchlaufterminierung ermittelten unterschiedlichen Arten von Pufferzeiten für die Produktionslose. Mit mathematischen Entscheidungsmodellen und spezialisierten Lösungsverfahren stehen heute jedoch leistungsfähige Methoden der ressourcenbe­ schränkten Projektplanung zur Verfügung, die in der Lage sind, innerhalb kurzer

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Tab. 1: Übersicht über die Phasen und Schritte der Termin- und Kapazitätsplanung. Phase

Periodenraster

Planungsschritt

Ergebnisse

1. Aggregierte grob (wie MaterialKapazitäts- bedarfsplanung, abstimmung z. B. wochengenau)

1.1 Kapazitäts- und Kapazitätsübersichten, Kapazitätsbedarfsermittlung Kapazitätsbelastungsprofile 1.2 Kapazitätsabgleich mit Kapazitäts- und Kapazitäts­ bedarfsanpassung

Kapazitiv zulässig grobterminierte Produktionsaufträge, Periodenkapazitäten der Arbeitsplatzgruppen

2. Auftragsterminplanung

2.1 Durchlaufterminierung

Pufferzeiten für Produktionslose, verfeinerte Kapazitätsbelastungsprofile

2.2 Kapazitätsterminierung

Zulässiger Terminplan für die Bearbeitung der Produktionslose in Arbeitsplatzgruppen

fein (z. B. tagesoder schichtgenau)

Rechenzeiten verlässlich gute Näherungslösungen für Probleme der Kapazitätster­ minierung zu liefern. Im Ansatz der ressourcenbeschränkten Projektplanung entfällt die Unterscheidung zwischen den Schritten der Durchlauf- und der Kapazitätster­ minierung, da beide Aufgaben bei der Modellierung und Problemlösung integriert betrachtet werden. Mit den beiden Schritten und den Instrumenten der aggregierten Kapazitätsab­ stimmung beschäftigt sich Abschnitt 2 dieses Beitrags. Die Abschnitte 3 bis 5 sind der Auftragsterminplanung gewidmet. Hierzu führen wir in Abschnitt 3 in die benötigten Grundlagen der Projektplanung ein und erläutern, wie die Auftragsterminplanung als ein Problem der ressourcenbeschränkten Projektplanung modelliert werden kann. In Abschnitt 4 wird der in der betrieblichen Praxis verbreitete Sukzessivansatz der Auf­ tragsterminplanung dargestellt, bei der im Rahmen der Durchlaufterminierung durch die Berechnung längster Weglängen in einem Netzplan zunächst die Pufferzeiten der Produktionslose ermittelt werden und anschließend darauf aufbauend im progres­ siv oder retrograd terminierten Plan Kapazitätskonflikte zwischen konkurrierenden Produktionslosen schrittweise aufgelöst werden. Gegenstand des Abschnitts 5 sind Ansätze der integrierten Auftragsterminplanung. Wir erläutern ein einfaches ge­ mischt-ganzzahliges Entscheidungsmodell, das für unterschiedliche Zielsetzungen der Auftragsterminplanung eingesetzt werden kann. Ferner wird ein Schedule-Gene­ rierungsschema vorgestellt, das zur Lösung von großen Problemen der Auftragster­ minplanung geeignet ist.

Termin- und Kapazitätsplanung | 629

2 Aggregierte Kapazitätsabstimmung Im Rahmen der aggregierten Kapazitätsabstimmung werden zunächst für die Peri­ oden der Materialbedarfsplanung die zur Verfügung stehenden Normalkapazitäten der Potentialfaktoren und die aus der Materialbedarfsplanung resultierenden Kapa­ zitätsbedarfe der Produktionsaufträge geschätzt. Anschließend wird versucht, in je­ der Periode die Kapazitätsangebote und -bedarfe aufeinander abzustimmen. Die Ka­ pazitätsabstimmung erfolgt für Gruppen von Potentialfaktoren, die zur Ausführung artverwandter Prozessschritte eingesetzt werden. Diese Gruppen bezeichnen wir als Arbeitsplatzgruppen. Alle Prozessschritte eines Produktionsauftrags, die gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander in einer Arbeitsplatzgruppe durchgeführt werden, fas­ sen wir zu einem Arbeitsgang zusammen, die Ausführung eines Arbeitsgangs wird als Produktionslos bezeichnet.

2.1 Kapazitäts- und Kapazitätsbedarfsermittlung Ausgangspunkt der Gegenüberstellung von Kapazitätsangeboten und -bedarfen ist eine geeignete Definition von Arbeitsplatzgruppen und die hieraus resultierende Auflösung der Produktionsaufträge in einzelne Produktionslose. Beispiele von Ar­ beitsplatzgruppen sind Werkstätten, Maschinengruppen auf den Stufen einer Rei­ henfertigung oder Arbeitsplätze von Mitarbeitern vergleichbarer Qualifikationen. Zur Ermittlung der Periodenkapazität R k (t) einer Arbeitsplatzgruppe k in einer Periode t ist die gesamte Arbeitszeit eines Arbeitsplatzes um durchschnittliche Brachzeitantei­ le für vorbeugende Wartungsmaßnahmen, störungsbedingte Nichtverfügbarkeiten, Leerlauf sowie Ausschuss und Nacharbeit zu bereinigen. Die resultierende Produk­ tivzeit, während der ein Arbeitsplatz im Mittel zur Herstellung von Gutteilen genutzt wird, erhält man aus der Multiplikation der Arbeitszeit mit der Gesamtanlageneffekti­ vität (OEE-Index). Die Produktivzeit der Arbeitsplatzgruppe entsteht aus der Summa­ tion der Produktivzeiten der zugehörigen Arbeitsplätze. Die tabellarische Darstellung der Periodenkapazitäten R k (t) einer Arbeitsplatzgruppe k wird Kapazitätsübersicht genannt. Zur Ermittlung der Kapazitätsbedarfe in den Perioden des Planungszeitraums müssen die im Rahmen der Materialbedarfsplanung verwendeten Schätzungen für die Auftragsdurchlaufzeiten durch die stundengenauen Belegungszeiten p i der Pro­ duktionslose i ersetzt werden. Die Belegungszeit eines Produktionsloses setzt sich aus der Rüstzeit und der Bearbeitungszeit zusammen. In die Belegungszeit können als geplante Übergangszeiten auch Dauern von Qualitätskontrollen einbezogen wer­ den. Transportzeiten als zweite Art geplanter Übergangszeiten werden im Rahmen der Auftragsterminplanung berücksichtigt. Der Kapazitätsbedarf von Los i in einer Grup­ pe entspricht der Arbeitsbelastung w i = r i ⋅ p i in Personen- oder Maschinenstunden,

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die von der Gruppe getragen werden muss, wenn Los i parallel an r i Arbeitsplätzen ausgeführt wird. Bei der Zuordnung der Arbeitsbelastungen der Produktionslose eines Produkti­ onsauftrags zu den Perioden des Planungszeitraums müssen diese über mehrere Pe­ rioden verteilt werden, wenn die geschätzte Auftragsdurchlaufzeit mehr als eine Pe­ riode umfasst. Hierfür bieten sich je nach Fertigungsweise unterschiedliche Vorge­ hensweisen an. Bei geschlossener Fertigung, bei der sich die aufeinanderfolgenden Produktionslose i = i1 , i2 , . . . , i m eines Auftrags zeitlich nicht überlappen, ermittelt man zunächst durch Division der geschätzten Auftragsdurchlaufzeit in Stunden durch die Summe ∑i p i der Belegungszeiten p i eine Schätzung für den Flussgrad φ des Pro­ duktionssystems. Das Verhältnis p i /φ aus Belegungszeit und Flussgrad entspricht für jedes Produktionslos i der geschätzten Verweilzeit p i des Auftrags in der zugehörigen Arbeitsplatzgruppe k(i). Beginnend mit Produktionslos i1 und Periode t = 1 werden nun die Belastungen w i der Lose i = i1 , i2 , . . . , i m nacheinander gemäß ihren Verweil­ zeiten p i und den in Stunden spezifizierten Periodenlängen ∆ t den Perioden t zugeord­ net. Dabei wird Periode t = 1 zunächst eine Belastung von w i1 ,1 = r i1 ⋅ min{p i1 , ∆1 ⋅ φ} zugewiesen. Gilt p i1 > ∆1 , reduzieren wir p i1 um ∆1 ⋅ φ und verteilen die verbleiben­ de Belastung von i1 schrittweise über nachfolgende Perioden t = 2, 3, . . . , t󸀠 , bis sie vollständig zugeordnet wurde. Danach gehen wir zum nächsten Los i2 über, dessen Belastung nun beginnend mit der zuletzt betrachteten Periode t󸀠 zugeordnet wird. Vor der Verteilung wird zur Berücksichtigung der Arbeitsgangfolge zunächst die Länge ∆ t 󸀠 von Periode t󸀠 um den Anteil w i1 ,t 󸀠 /(r i1 ⋅ φ) der Verweilzeit p i1 des Auftrags in Grup­ pe k(i1 ), der in die Periode t󸀠 fällt, vermindert. In analoger Weise fahren wir fort, bis die Belastungen aller Lose den Planungsperioden zugeordnet worden sind. Beim Fall der offenen Fertigung, bei dem Produktionslose in kleineren Transportlosen zwischen den Arbeitsplatzgruppen transportiert werden, kann man von einer näherungsweise gleichmäßigen Verteilung der Arbeitsbelastung w i jedes Loses i über die Perioden der Auftragsdurchlaufzeit ausgehen. Die Funktion w k (t), die für eine Arbeitsplatzgrup­ pe k den Perioden t die zugehörigen Kapazitätsbedarfe zuordnet, wird Kapazitätsbe­ lastungsprofil der Gruppe k genannt. Das Zahlenbeispiel in Tabelle 2 illustriert die Kapazitätsbedarfsermittlung für einen Produktionsauftrag mit drei Produktionslosen und den Fall der geschlossenen Fertigungsweise. Dabei wird von einer geschätzten Auftragsdurchlaufzeit von 105 Stunden und einheitlichen Periodenlängen von 40 Stunden ausgegangen. Tab. 2: Beispiel zur Kapazitätsbedarfsermittlung bei geschlossener Fertigungsweise. i

wi

ri

pi

pi

w k(i) (1)

w k(i) (2)

w k(i) (3)

1 2 3 Σ

15 5 30 50

1 1 2 –

15 5 15 35

45 15 45 105

13,33 0 0 13,33

1,67 5 6,67 13,33

0 0 23,33 23,33

Termin- und Kapazitätsplanung | 631

23,33 = 45 13,33

= 15 = 45

Zeit [h] 0

20

40

60

80

100

120

t=1

Abb. 1: Gantt-Diagramm für die drei Produktionslose aus Tabelle 2.

Abbildung 1 zeigt die der Berechnung zugrundeliegende Terminierung der drei Lose des Produktionsauftrags in einem Gantt-Diagramm. Die Lose i sind entsprechend ihrer zeitlichen Lage als Rechtecke über der Zeitachse angeordnet. Die Länge eines Recht­ ecks entspricht der Verweilzeit p i , die Höhe der Anzahl r i der parallel in Anspruch genommenen Arbeitsplätze. Die Rechteckflächen sind proportional zu den jeweiligen Belastungen w i , wobei der Proportionalitätsfaktor dem reziproken Flussgrad 1/φ ent­ spricht. Die gestrichelt gezeichneten horizontalen Linien geben für die drei Perioden jeweils die summarischen Belastungen der drei Arbeitsplatzgruppen an.

2.2 Kapazitätsabgleich Als Ergebnis der Gegenüberstellung von Periodenkapazitäten R k (t) und Kapazitätsbe­ lastungen w k (t) einer Arbeitsplatzgruppe k wird man in der Regel Perioden t identifi­ zieren, bei denen die Belastung die Kapazität entweder überschreitet oder (deutlich) unterschreitet. Im ersten Fall müssen Kapazität und Kapazitätsbelastung so aufein­ ander abgestimmt werden, dass w k (t) ≤ R k (t), im zweiten Fall erscheint eine Erhö­ hung der Auslastung w k (t)/R k (t) von Gruppe k in Periode t sinnvoll. Wir betrachten im Folgenden Maßnahmen zur Lösung von Kapazitätskonflikten, durch Umkehrung dieser Maßnahmen kann der Unterauslastung von Arbeitsplatzgruppen entgegenge­ wirkt werden. Ein Kapazitätskonflikt kann grundsätzlich dadurch behoben werden, dass die Ka­ pazität R k (t) ausgeweitet oder die Belastung w k (t) vermindert wird. Häufig wird man die Maßnahmen der Kapazitäts- und Kapazitätsbelastungsanpassung auch in Kombi­ nation ergreifen. Eine Kapazitätsanpassung kann als quantitative, zeitliche oder intensitätsmäßige Anpassung im Sinne Gutenbergs (1983, S. 354 ff.) interpretiert werden. Hierfür werden in der Literatur z. B. folgende Möglichkeiten genannt: – Quantitative Anpassung: Inbetriebnahme von Reservekapazitäten, Umschichtung von Kapazitäten unterausgelasteter Bereiche durch Reallokation von flexibel ein­

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setzbaren Mitarbeitern oder geeigneter Mehrzweckmaschinen, Einsatz von Sprin­ gern. Zeitliche Anpassung: Einsatz von Überstunden und Zusatzschichten, Nutzung temporärer Mehrarbeit im Rahmen flexibler Arbeitszeitregelungen, Verschiebung geplanter Instandhaltungsmaßnahmen. Intensitätsmäßige Anpassung: zeitlich begrenzte Steigerung der Arbeitsintensität durch Erhöhung der Produktionsgeschwindigkeit der Maschinen.

Als Maßnahmen zur Kapazitätsbedarfsanpassung stehen grundsätzlich die zeitliche Glättung der Kapazitätsbelastung (Kapazitätsausgleich) und der Bezug fremder Leis­ tungen zur Verfügung. Beide Formen können sich auf einzelne Produktionslose oder ganze Produktionsaufträge beziehen. Die Maßnahmen des Kapazitätsausgleichs stel­ len erhöhte Anforderungen an die Produktionsplanung und sind häufig mit einer Rei­ he von Nachteilen verbunden. Trotzdem kann in vielen Fällen nicht auf sie verzichtet werden. – Verschiebung von Losen und Aufträgen: Die Belastungsnivellierung verfolgt das Ziel, Arbeitsinhalte von Perioden hoher in Perioden geringerer Auslastung zu ver­ lagern. Dies kann durch Vorziehen von Aufträgen beziehungsweise Losen in Rich­ tung Gegenwart oder durch deren Zurückstellung in Richtung Zukunft gesche­ hen. Aufgrund der durch die Einsatzbeziehungen zwischen Erzeugnissen und die Arbeitsgangfolgen bedingten Vorrangbeziehungen müssen bei der Verschiebung jeweils vor- beziehungsweise nachgelagerte Produktionslose berücksichtigt wer­ den. Darüber hinaus müssen Bereitstellungstermine von Einsatzstoffen und Lie­ fertermine für Enderzeugnisse im Blick behalten werden, was zur erheblichen Komplexität der Planungsaufgabe beiträgt. Mit netzplanbasierten Ansätzen zur Lösung dieser Aufgabe werden wir uns in Abschnitt 4.2 zur Kapazitätsterminie­ rung näher beschäftigen. – Teilung von Losen und Aufträgen: In manchen Fällen wird es auch bei Untersu­ chung aller Verschiebungsalternativen für Aufträge und Lose nicht möglich sein, jeden Kapazitätskonflikt vollständig zu beseitigen. Eine Verlagerung von Arbeits­ belastungen kann dann gegebenenfalls dadurch ermöglicht werden, dass Aufträ­ ge beziehungsweise Lose in kleinere Einheiten geteilt werden, die unterschiedli­ chen Perioden zugewiesen werden können. – Reduktion der Übergangszeiten: Eine weitere Möglichkeit zur Belastungsglättung besteht darin, durch den Übergang von einer geschlossenen zu einer offenen Fer­ tigungsweise mit kleinen Transportlosgrößen eine Verstetigung des Auftragsflus­ ses und damit eine Vergleichmäßigung der zeitlichen Auslastung zu erreichen. – Bezug von Fremdleistungen: Die Kapazitätsbelastung kann insgesamt gesenkt werden, indem der Arbeitsvorrat des Produktionssystems durch die Verlagerung nach Außen reduziert wird. Hierfür kommen z. B. der Fremdbezug von Erzeugnis­ sen oder die Beauftragung von Lohnfertigern infrage.

Termin- und Kapazitätsplanung |

633

Die meisten der genannten Maßnahmen besitzen Nachteile, die bei der Entscheidung über die Vorgehensweise zur Kapazitätsbedarfsanpassung gegeneinander abgewogen werden sollten. Bei der Vorverlegung von Losen oder Aufträgen entstehen zusätzliche Umlauf- und Fertigwarenbestände, die zu erhöhten Lagerungskosten führen. Die Zu­ rückstellung von Aufträgen wird häufig dazu führen, dass Plan- oder Liefertermine nicht eingehalten werden. Die Teilung von Aufträgen und Losen führt zu einer Verlän­ gerung der Durchlaufzeit der ursprünglichen Aufträge und somit ebenfalls zu erhöh­ ten Umlaufbeständen. Der Fremdbezug von Leistungen kann als entgangene Nachfra­ ge interpretiert werden und wird im Vergleich zur Eigenfertigung meist zu erhöhten Herstellkosten führen.

3 Auftragsterminplanung als Problem der ressourcenbeschränkten Projektplanung Als Ergebnis der aggregierten Kapazitätsabstimmung liegen im Periodenraster der Materialbedarfsplanung grob terminierte Produktionslose sowie Periodenkapazitä­ ten der Arbeitsplatzgruppen vor. In vielen Fällen wird die Belegungszeit p i der Pro­ duktionslose die Periodenlängen ∆ t allerdings deutlich unterschreiten, so dass die Grobterminierung für die Entscheidung über die Freigabe von Produktionsaufträgen zu ungenau erscheint. Die zeitliche Verteilung der Arbeitsbelastung erfolgte darüber hinaus über den geschätzten Flussgrad φ und damit auf der Grundlage geschätzter Standarddurchlaufzeiten aus der Materialbedarfsplanung. Typischerweise enthalten diese Durchlaufzeiten einen hohen Anteil an ablaufbedingten Liegezeiten, die sich je­ doch erst durch eine detailliertere Ablaufplanung der Produktionslose quantifizieren lassen. Aufgabe der Auftragsterminplanung ist es, eine solche Ablaufplanung vor­ zunehmen. Hierfür wird ein feineres, z. B. tages- oder schichtgenaues Periodenraster zugrunde gelegt. Im Folgenden werden wir die beiden Schritte der Durchlauftermi­ nierung und der Kapazitätsplanung unter Verwendung von Methoden der Projekt­ planung behandeln. Hierfür führen wir in Abschnitt 3.1 die benötigten Grundlagen ein und formulieren in Abschnitt 3.2 das Problem der Auftragsterminplanung als ressourcenbeschränktes Projektplanungsproblem.

3.1 Grundlagen der Projektplanung Ein Projekt gliedert sich in eine Menge V von Aktivitäten i der Dauern p i . Neben den realen Aktivitäten werden auch zwei Scheinaktivitäten α und ω mit p α = p ω = 0 ein­ geführt, die die Ereignisse des Projektstarts und des Projektendes repräsentieren. Bei der Festlegung der Startzeitpunkte S i der Aktivitäten i sind Zeitabstände δ ij zu beach­ ten, die für jedes Aktivitätspaar (i, j) einer gegebenen Menge A besagen, dass Aktivi­

634 | Christoph Schwindt tät j frühestens δ ij ZE nach dem Start von i begonnen werden kann, d. h., S j − S i ≥ δ ij für alle (i, j) ∈ A. Ein nichtnegativer Zeitabstand δ ij ≥ 0 entspricht einem zeitlichen Mindestabstand von δ ij ZE zwischen den Startzeitpunkten von i und j, während ein negativer Zeitabstand δ ij < 0 wegen S i ≤ S j − δ ij als ein positiver Höchstabstand −δ ij zwischen den Startzeitpunkten von j und i interpretiert werden kann. Trifft man die Konvention, dass das Projekt zum Zeitpunkt t = 0 begonnen wird, d. h., S α = 0, so können mit zeitlichen Höchstabständen −δ iα z. B. späteste Startzeitpunkte der Aktivi­ täten festgelegt werden. Den gesuchten Vektor S = (S i ) i∈V der Startzeitpunkte der Ak­ tivitäten bezeichnen wir als Terminplan (engl. Schedule). Erfüllen die Startzeitpunkte von S alle vorgeschriebenen zeitlichen Mindest- und Höchstabstände, so sprechen wir von einem zeitzulässigen Plan. Die Aktivitäten eines Projekts und die Zeitabstände können in einem Vorgangs­ knoten-Netzwerk G = (V, A, p, δ) mit Knotenmenge V, Pfeilmenge A, Knotenbewer­ tungen p = (p i ) i∈V und Pfeilgewichten δ = (δ ij )(i,j)∈A dargestellt werden. Netzwerk G heißt auch MPM-Netzplan, wobei MPM für die von Roy (1964) eingeführte MetraPotential-Methode zur Zeitplanung der Aktivitäten steht. Eine Variante dieser Metho­ de wird in Abschnitt 4.1 zur Durchlaufterminierung behandelt. In Abbildung 2 ist ein MPM-Netzplan für ein Projekt mit fünf realen Aktivitäten dargestellt. Die zeitlichen Mindestabstände vom Projektstart α zu den Startaktivitäten i = 1, 3, 5 des Projekts und von den Endaktivitäten i = 1, 2, 4, 5 zum Projektende ω gewährleisten, dass die realen Aktivitäten weder vor dem Projektstart begonnen noch erst nach dem Projekt­ ende abgeschlossen werden. Das Paar entgegengesetzt gerichteter Pfeile zwischen 6 6

1 2

1

4

−3 0

0

4

2

4

0

3 −1 0

4

4

−1 −2

2 7

5 7 −8 Abb. 2: MPM-Netzplan für ein Projekt mit fünf realen Aktivitäten.

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635

den Knoten 1 und 2 besagt, dass Aktivität 2 sich frühestens eine und spätestens drei ZE nach dem Start von 1 in Ausführung befinden muss. Mit dem Pfeil vom Projektende zum Projektstart wird eine maximale Projektdauer von acht ZE vorgegeben. Grundlage der MPM-Methode sind die beiden Eigenschaften, dass ein zeitzuläs­ siger Terminplan genau dann und nur dann existiert, wenn G keinen Zyklus positiver Länge besitzt, und dass der zwischen zwei beliebigen Aktivitäten i, j von den Zeit­ abständen δ induzierte transitive Zeitabstand d ij mit der Länge eines längsten Wegs von Knoten i zu Knoten j in G übereinstimmt, wenn ein zeitzulässiger Plan existiert. Für das Projekt aus Abbildung 2 erhält man beispielsweise d α3 = 1, was bedeutet, dass Aktivität 3 frühestens zum Zeitpunkt 1 gestartet werden kann. Gleichzeitig gilt d3α = −1, d. h., der späteste Startzeitpunkt von Aktivität 3 ist ebenfalls 1. Somit ist 3 eine kritische Aktivität, die nicht verschoben werden kann. Während ihrer Ausführung darf eine Aktivität i nicht unterbrochen werden und belegt jeweils r ik Einheiten erneuerbarer Ressourcen k ∈ R. Diese Ressourcen stehen im Planungszeitraum mit einer Kapazität von R k Einheiten zur Verfügung. Bezeichnen wir mit r k (S, t) = ∑i∈V: S i ≤t 0 then breche ab; // es existiert kein zeitzulässiger Terminplan for i ∈ V do // ermittle früheste und späteste Start- und Endzeitpunkte sowie Pufferzeiten ES i := d 0i und EC i := ES i + p i ; // Vorwärtsterminierung LS i := −d i0 und LC i := LS i + p i ; // Rückwärtsterminierung TF i := LS i − ES i ; EFF i := min(i,j)∈A (ES j − δ ij ) − ES i und LFF i := LSi − max (LS h + δ hi ); IF i := min(i,j)∈A (ES j − δ ij ) − max (LS h + δ hi );

(h,i)∈A

(h,i)∈A

Abb. 5: Durchlaufterminierung mit dem Floyd-Warshall-Algorithmus.

nen negative Werte annehmen. Ein positiver Wert signalisiert, dass Aktivität i ver­ legt werden kann, ohne dass eine Abstimmung mit eventuellen Verschiebungen anderer Aktivitäten erforderlich ist, da sie die Lage der anderen Aktivitäten nicht beeinflussen kann. Aus der Definition der unabhängigen Pufferzeit folgt unmit­ telbar die Beziehung IF i ≤ min{EFF i , LFF i }. Für die Durchlaufterminierung existieren verschiedene Methoden, die alle auf der Ei­ genschaft beruhen, dass die Länge d ij eines längsten Wegs von Knoten i zu Knoten j im MPM-Netzplan einem induzierten Zeitabstand zwischen den beiden Aktivitäten ent­ spricht. Eine besonders einfache und effiziente Variante, die auf dem Algorithmus von Floyd/Warshall zur Berechnung der Distanzmatrix D aller Weglängen d ij basiert, ist in Abbildung 5 dargestellt.

4.2 Intuitive Methoden der Kapazitätsterminierung Der progressiv beziehungsweise retrograd ermittelte Plan ES beziehungsweise LS ist im Allgemeinen nicht zulässig, da die Ressourcenrestriktionen bei der Terminierung unberücksichtigt geblieben sind. Die Lösung der Kapazitätskonflikte stellt ein NPschweres Problem dar, das jedoch von einem erfahrenen Planer mit einer der beiden folgenden heuristischen Vorgehensweisen grundsätzlich auch manuell gelöst wer­ den kann. Prinzip der Pufferpriorisierung ist der sukzessive Einsatz der drei Arten von Aktivitätspuffern zur Beseitigung von Kapazitätskonflikten. Dabei wird man zu­ nächst versuchen, die an Kapazitätskonflikten beteiligten Aktivitäten unter Nutzung

640 | Christoph Schwindt

// Aktualisierung der Distanzmatrix D nach Definition eines neuen Zeitabstands δ ij for g, h ∈ V do if d gh < d gi + δ ij + d jh then d gh := d gi + δ ij + d jh ; if g = h ∧ d gh > 0 then breche ab; // Abstand δ ij kann nicht eingehalten werden Abb. 6: Aktualisierung der Distanzmatrix bei der Kapazitätsterminierung.

ihrer unabhängigen Pufferzeit in Perioden mit geringerer Kapazitätsauslastung zu verschieben. Anschließend wird man die verbliebenen freien Pufferzeiten nutzen, wobei bei progressiver Terminierung die freien Vorwärts- und bei retrograder Ter­ minierung die freien Rückwärtspufferzeiten maßgeblich sind. Zu beachten ist, dass nach der ersten Verschiebung einer Aktivität im weiteren Verfahrensablauf bei der Vorverlegung beziehungsweise Rückstellung gegebenenfalls auch Nachfolger bezie­ hungsweise Vorgänger verlegt werden müssen. Konnten nicht alle Konflikte auf diese Weise behoben werden, wird man schließlich auf die ungenutzten Teile der Gesamt­ pufferzeiten zurückgreifen und auch hier die notwendigen Verschiebungen anderer Aktivitäten berücksichtigen. Grundlage der Entzerrungsmethode, deren Verfahrensprinzip auf Bartusch, Möh­ ring und Radermacher (1988) zurückgeht, ist die Erkenntnis, dass ein Kapazitätskon­ flikt nur dadurch gelöst werden kann, dass iterativ jeweils zwei am Konflikt beteiligte Aktivitäten i, j ausgewählt werden, zwischen denen eine zusätzliche Vorrangbezie­ hung (i, j) mit δ ij = p i definiert wird. Der zugehörige Pfeil wird sodann als neuer Zeitabstand in den MPM-Netzplan aufgenommen und mit dem Algorithmus aus Ab­ bildung 6 in die Distanzmatrix D integriert, aus der der aktualisierte vorwärtstermi­ nierte Plan als die erste Zeile beziehungsweise der aktualisierte rückwärtsterminierte Plan als das Negative der ersten Spalte abgelesen werden kann. Man fährt in dieser Weise mit der Lösung von Kapazitätskonflikten fort, bis man einen zulässigen Plan S erhalten hat. Bei Vorwärtsterminierung empfiehlt es sich, in jeder Iteration den frü­ hesten, bei Rückwärtsterminierung den spätesten Kapazitätskonflikt zu betrachten. Da das Problem NP-schwer ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die gewähl­ te Vorrangbeziehung einen Zyklus positiver Länge im Netzplan erzeugt und daher im Widerspruch zu den übrigen Zeitabständen steht. In diesem Fall muss zur Lösung des aktuellen oder eines zuvor behandelten Kapazitätskonflikts eine andere Vorrangbe­ ziehung gewählt werden.

Termin- und Kapazitätsplanung | 641

5 Ansätze für die integrierte Auftragsterminplanung In den letzten 20 Jahren sind auf dem Gebiet der Projektplanung erhebliche Fort­ schritte erzielt worden, so dass heute Probleme der Auftragsterminierung industriel­ ler Größenordnung innerhalb vertretbarer Rechenzeiten auf einem herkömmlichen PC näherungsweise optimal gelöst werden können. Grundsätzlich kommen hierfür sowohl Entscheidungsmodelle der gemischt-ganzzahligen Programmierung als auch Optimierungsverfahren des Operations Research und des Constraint-Programming infrage. Letztere repräsentieren in der Ausprägung als sogenannte Lazy-Clause-Gene­ ration-Ansätze den aktuellen Stand der Forschung bei den exakten Enumerations­ verfahren (vgl. Schutt et al. 2013). In den beiden folgenden Abschnitten werden exemplarisch ein einfaches Entscheidungsmodell für kleinere Problemgrößen und sogenannte Schedule-Generierungs-Schemata vorgestellt, die im Rahmen von Sche­ dule-Konstruktionsverfahren und von Metaheuristiken zur heuristischen Lösung von Probleminstanzen mit mehreren hundert Aktivitäten eingesetzt werden können.

5.1 Ein zeitindexbasiertes Entscheidungsmodell Sei ∆ = {0, 1, . . . , T} die Menge der Anfangszeitpunkte der Perioden t = 1, . . . , T und des Endes T des Planungszeitraums. Mit ∆ i = [ES i , LS i ] ∩ ∆ bezeichnen wir die Mengen der zeitzulässigen ganzzahligen Startzeitpunkte S i der Aktivitäten i ∈ V. Die binären Entscheidungsvariablen des Modells sind definiert als {1, x it := { 0, {

t ≤ Si

falls sonst

(i ∈ V; t ∈ ∆)

Das Projektplanungsproblem aus Abschnitt 3.1 mit der zu minimierenden Zielfunktion f(x) lässt sich nun folgendermaßen als ganzzahliges Programm formulieren: Min. f(x) u. d. N. ∑ x it = 1

(i ∈ V)

(1)

((i, j) ∈ A; t ∈ ∆)

(2)

(k ∈ R; t ∈ ∆)

(3)

t∈∆ i

x it 󸀠 +

∑ t 󸀠 ∈∆ i : t 󸀠 ≥t

∑ r ik i∈V



x jt 󸀠 ≤ 1

t 󸀠 ∈∆ j : t 󸀠 ≤t+δ ij −1



x it 󸀠 ≤ R k

t 󸀠 ∈∆ i : t−p i +1≤t 󸀠 ≤t

x it ∈ {0, 1}

(i ∈ V; t ∈ ∆ i )

Nebenbedingung (1) stellt sicher, dass jede Aktivität genau einmal ausgeführt wird. Gemäß Ungleichung (2) darf Aktivität j in keiner der Perioden t󸀠 < t + δ ij gestartet

642 | Christoph Schwindt

Tab. 3: Formulierung von Zielfunktionen im ganzzahligen Entscheidungsmodell. Zielfunktion

Formulierung im ganzzahligen Programm

Projektdauer (Zykluszeit) Maximale Verspätung

f(x) = ∑t∈∆ ω t ⋅ x ωt f(x) = Lmax Lmax ≥ ∑t∈∆ i t ⋅ x it + p i − d i (i ∈ V) f(x) = ∑k∈R c k ∑t∈∆ r 2kt r kt = ∑i∈V r ik ∑t󸀠 ∈∆ i : t−pi +1≤t󸀠 ≤t x it󸀠 (k ∈ R; t ∈ ∆)

Varianzen der Ressourcenbelastungen

werden, falls Aktivität i zu t oder später begonnen wird, was die Zeitrestriktionen zum Ausdruck bringt. Die innere Summe in Nebenbedingung (3) nimmt genau dann den Wert 1 an, wenn sich Aktivität i zur Zeit t in Ausführung befindet. Damit entspricht die linke Seite der Ungleichung der Inanspruchnahme an Ressource k zum Zeitpunkt t, die die Kapazität R k nicht überschreiten darf. Tabelle 3 listet für die in Abschnitt 3.1 betrachteten Zielfunktionen die zugehöri­ gen Formulierungen als Funktionen f(x) sowie gegebenenfalls erforderliche zusätzli­ che Nebenbedingungen auf. Die beiden ersten Funktionen sind linear, die Funktion der Varianzen der Ressourcenbelastungen entspricht einer konvexen quadratischen Funktion, so dass die LP-Relaxation des ganzzahligen Modells ebenfalls effizient lös­ bar ist und das Problem mit kommerziellen Standard-Solvern wie CPLEX oder Gurobi gelöst werden kann. In der Literatur existiert eine Vielzahl weiterer Formulierungen von Projektpla­ nungsproblemen als (gemischt-)ganzzahlige Optimierungsprobleme. Eine aktuelle Übersicht findet man bei Artigues et al. (2015).

5.2 Ein Schedule-Generierungsschema für reguläre Zielfunktionen Erhebliche Leistungssteigerungen bei Hardware und kommerziellen Solvern für ge­ mischt-ganzzahlige Programme erlauben es heute, mit mathematischen Entschei­ dungsmodellen gute Lösungen für Projekte mit bis zu 120 Aktivitäten zu erzeugen (vgl. z. B. Bianco/Caramia 2013). Zur Lösung größerer Probleminstanzen wird man auf heu­ ristische Methoden der ressourcenbeschränkten Projektplanung zurückgreifen. Viele dieser Verfahren basieren auf einem Schedule-Generierungsschema, das eine Per­ mutation der Aktivitäten in einen zulässigen Terminplan überführt. Eine solche Per­ mutation Π kann z. B. als Aktivitätenliste vorliegen oder als Prioritätsregel π codiert sein, die jeder Aktivität i ∈ V einen Prioritätswert π(i) zuweist. Für das Projektpla­ nungsproblem aus Abschnitt 3.1 haben Neumann, Schwindt und Zimmermann (2003) ein serielles Schedule-Generierungsschema vorgeschlagen, das in jeder Iteration den Startzeitpunkt einer einplanbaren Aktivität i∗ festlegt. Dabei werden lediglich Permu­ tationen Π betrachtet, die der Präzedenzordnung ≺ mit i ≺ j : ⇔ d ij ≥ 0 ∧ d ji < 0

Termin- und Kapazitätsplanung |

643

setze S α := 0 und C := {α}; // plane Projektstart α ein while C ≠ V do // es sind noch nicht alle Aktivitäten eingeplant worden ermittle Menge der einplanbaren Aktivitäten E := {i ∈ V\C | h ∈ C für alle h ≺ i}; wähle einzuplanende Aktivität i ∗ ∈ arg min{π(i) | i ∈ E} mit Prioritätsregel π aus; bestimme frühesten Zeitpunkt t ≥ ES i∗ mit r k (S C , t) + r i∗ k ≤ R k für alle k ∈ R; if t > LS i∗ then Unschedule(i ∗ , t − LS i∗ ); // i ∗ kann nicht eingeplant werden else // plane i ∗ ein setze S i∗ := t und füge i ∗ in C ein; for j ∈ V\C do // aktualisiere früheste und späteste Startzeitpunkte ES j := max{ES j , S i∗ + d i∗ j } und LS j := min{LS j , S i∗ − d ji∗ }; return S := S C ; Abb. 7: Serielles Schedule-Generierungsschema für reguläre Zielfunktionen. ermittle Menge U:={i ∈ C | LS i∗ = S i − d i∗ i } der Aktivitäten, die spätesten Startzeitpunkt von i ∗ bestimmen; for i ∈ C mit S i ≥ minh∈U S h do entferne i aus C; // plane alle Aktivitäten aus U und alle, die nicht früher gestartet worden sind, wieder aus for i ∈ U do // verzögere frühesten Start der Aktivitäten aus Menge U um ∆t ZE ES i :=S i + ∆t; if ES i > −d i0 then breche ab; // es konnte kein zulässiger Plan gefunden werden for j ∈ V\C do // setze früheste und späteste Startzeitpunkte zurück ES j := max{d 0j , maxh∈U (ES h + d hj )} und LS j := − d j0 ; for i ∈ C do ES j := max{ES j , S i + d ij } und LS j := min{LS j , S i − d ji }; Abb. 8: Funktion Unschedule(i∗, ∆t).

genügen. Dies bedeutet, dass Aktivität j erst nach Aktivität i eingeplant wird, falls j nach i gestartet werden kann, aber nicht umgekehrt. Aus der Menge E der ein­ planbaren Aktivitäten wird in jeder Iteration jeweils eine Aktivität i∗ mit kleinstem Prioritätsindex π(i∗ ) ausgewählt, zum frühesten zeit- und ressourcenzulässigen Zeit­ punkt t in den bis dahin konstruierten Teilplan SC eingefügt und in die Menge C der eingeplanten Aktivitäten aufgenommen. Anschließend werden die frühesten und spätesten Startzeitpunkte der noch nicht terminierten Aktivitäten aktualisiert. Der Pseudocode dieses Verfahrens ist in Abbildung 7 dargestellt. Bei der Ausführung des seriellen Schedule-Generierungsschemas kann aufgrund des Vorhandenseins zeitlicher Höchstabstände der Fall auftreten, dass Aktivität i∗ erst nach ihrem spätesten Startzeitpunkt ressourcenzulässig eingeplant werden könnte. Eine zulässige Terminierung ist dann nicht möglich, so dass die in Abbildung 8 darge­ stellte Unscheduling-Prozedur aufgerufen werden muss. Diese ermittelt zunächst die Menge U der Aktivitäten, deren Einplanung den spätesten Startzeitpunkt von i∗ be­ dingt hat. Diese Aktivitäten sowie alle weiteren, die nicht vor den Vorgängen i ∈ U ge­ startet worden sind, werden aus dem aktuellen Teilplan entfernt. Danach werden die frühesten Startzeitpunkte der Aktivitäten i ∈ U für den nächsten Planungslauf jeweils

644 | Christoph Schwindt auf den frühesten Zeitpunkt erhöht, der eine zulässige Einplanung von i∗ erlaubt hät­ te. Schließlich werden die frühesten und spätesten Startzeitpunkte aller noch nicht oder nicht mehr eingeplanten Aktivitäten auf den aktuellen Stand zurückgesetzt, be­ vor das Schedule-Generierungsschema zur iterativen Einplanung der Aktivitäten zu­ rückkehrt. Eine sehr gute Prioritätsregel zur Minimierung der Projektdauer ist π(i) = LS i , die jeweils diejenige einplanbare Aktivität selektiert, die zur Erreichung eines zulässi­ gen Plans als früheste gestartet werden muss. Franck, Neumann und Schwindt (2001) konnten mit dieser Regel für alle 533 der 630 Instanzen mit bis zu 1000 Aktivitäten eines Testsets aus der Literatur einen zulässigen Plan erzeugen.

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Termin- und Kapazitätsplanung | 645

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Hubert Missbauer

Auftragsfreigabe und Produktionssteuerung 1 2 3 3.1 3.2 4 4.1 4.2 4.3

Einordnung in die Produktionsplanung und -steuerung | 646 Auftragsfreigabe als Entscheidungsproblem – Bestandsregelung (Workload Control) | 648 Methoden zur Auftragsfreigabe im Workload Control Konzept | 651 Traditionelle Auftragsfreigabemechanismen | 652 Mehrperiodige Optimierungsmodelle zur Auftragsfreigabeplanung | 658 Produktionssteuerung | 664 Kurzfristige Feinterminierung – Planung der Maschinenbelegung | 665 Veranlassen der Planvorgaben | 667 Überwachen und Sichern des Produktionsvollzugs | 668 Literatur | 671

Zusammenfassung. Dieser Beitrag erläutert zunächst die Positionierung der Auftrags­ freigabe als eine wichtige Entscheidungsfunktion an der Schnittstelle zwischen Pro­ duktionsplanung und Produktionssteuerung. Traditionelle Auftragsfreigabemecha­ nismen im Rahmen des Workload Control Konzepts und Modelle zur mehrperiodigen Auftragsfreigabeplanung werden dargestellt. Die Teilaufgaben der Produktionssteue­ rung, die häufig dezentral innerhalb der Produktionsbereiche durchgeführt wird, werden besprochen. Dabei wird die Planung der Maschinenbelegung, die häufig eng mit der Reaktion auf Störungen verzahnt ist, als Teil der Produktionssteuerung ver­ standen. Auf Methoden zur Unterstützung dieser Entscheidungen wird eingegangen.

1 Einordnung in die Produktionsplanung und -steuerung Die operative Produktionsplanung und -steuerung (PPS) umfasst Entscheidungen mit sehr unterschiedlichem Detaillierungsgrad und zeitlicher Reichweite, von der Abstimmung von Produktion und saisonaler Nachfrage über die Planung des Pro­ duktionsprogramms, Material- und Losgrößenplanung und der groben Terminie­ rung dieser Fertigungs- und Beschaffungsaufträge bis zur Feinterminierung (Maschi­ nenbelegungsplanung). Die PPS ist daher meist hierarchisch strukturiert, wobei die Ausgestaltung dieser Planungshierarchien unternehmensspezifisch ist. Der auf dem MRP II Konzept (vgl. Landvater/Gray 1995) beruhende Aufbau von PPS Systemen (vgl. Vollmann et al. 2005) sowie die Supply Chain Planning Matrix, die das planerische Konzept von Advanced Planning Systems (APS) wiedergibt (vgl. Stadtler/Kilger/Meyr 2015), sind zwei markante Gestaltungsmöglichkeiten solcher Planungshierarchien. https://doi.org/10.1515/9783110473803-035

Auftragsfreigabe und Produktionssteuerung |

647

Bei aller Unterschiedlichkeit dieser hierarchischen Strukturen lässt sich speziell in der diskreten Fertigung meist eine Grundstruktur beobachten: Die Feinterminie­ rung der Fertigung (Maschinenbelegungsplanung) und das laufende Anpassen die­ ser Planung an Störungen beziehungsweise ungeplante Ereignisse wird häufig de­ zentral in den entsprechenden Produktionsbereichen (z. B. eine Werkstattfertigung in der Teilefertigung oder eine Produktionsinsel) auf Disponentenebene durchgeführt (zur Bedeutung und den Rollen produktionsnaher Führungskräfte vgl. Fuchs-Frohn­ hofen/Henning 1997), die damit teilautonome Einheiten darstellen. Diese werden in Bertrand/Wortmann/Wijngaard (1990) als Production Units bezeichnet; wir verwen­ den im Folgenden in Anlehnung an Buzacott et al. (2010, S. 111) den Begriff Produkti­ onsbereiche. Die Produktionsvorgaben für diese Produktionsbereiche, üblicherweise in Form von Fertigungsaufträgen, definiert nach Produkt- beziehungsweise Teileart, Menge (Losgröße) und gefordertem Fertigstellungstermin, werden von einer hierar­ chisch übergeordneten zentralen Planungsstelle festgelegt, die durch diese Vorgaben den Materialfluss zwischen den Produktionsbereichen sowie zu den Kunden koordi­ niert. Die Ausgestaltung dieser Planungsebene, etwa ob diese auf dem MRP-Konzept oder eher auf der Logik von APS-Systemen beruht und welche Rolle Lagerdispositi­ onssysteme für unabhängigen Bedarf spielen, wird hier nicht vertieft. Die Auftrags­ freigabe ist die Schnittstelle zwischen zentraler Planungsstelle und dezentraler Fein­ planung. Freigabe eines Fertigungsauftrags bedeutet, dass die Kontrolle über diesen Fertigungsauftrag von der zentralen Planungsstelle auf die dezentrale Feinplanung in dem entsprechenden Produktionsbereich übergeht, verbunden mit der Vorgabe, die­ sen Auftrag bis zu einem definierten Endtermin fertigzustellen. Diese Struktur des PPS Systems, die im Folgenden unterstellt wird, beeinflusst die Abgrenzung der Begriffe Produktionsplanung und Produktionssteuerung und damit deren Schnittstelle. Traditionell entspricht die Produktionsplanung der Willensbil­ dung, die Produktionssteuerung der Willensdurchsetzung (vgl. Zäpfel 1982, S. 33 f.). Idealtypisch wäre damit die Maschinenbelegungsplanung ein Teil der Produktions­ planung, der Produktionssteuerung obliegen die Veranlassung der Durchführung dieser Vorgaben, die Auftragsüberwachung und das Ergreifen von Korrekturmaßnah­ men bei Abweichungen. Die beschriebene hierarchische PPS-Struktur geht jedoch von einer dezentralen Maschinenbelegung aus und betont die enge Verzahnung von Maschinenbelegungsplanung, Umplanungen und laufenden steuernden beziehungs­ weise regelnden Eingriffen in den Produktionsablauf, die häufig den Alltag der be­ treffenden Disponenten ausmacht (vgl. McKay/Wiers 2004). Damit wird als Produk­ tionsplanung die meist periodenbezogene Planung bis zur Erstellung der Produk­ tionsvorgaben für die Produktionsbereiche verstanden, die Produktionssteuerung (Production Control), die meist in kontinuierlicher Zeit arbeitet, führt diese Pläne durch entsprechende Maschinenbelegungsplanung (detailed scheduling) und ent­ sprechende regelnde Eingriffe aus. Zur Abgrenzung der Begriffe siehe Buzacott et al. (2013), zu den Gestaltungsmöglichkeiten der Schnittstelle Produktionsplanung – Produktionssteuerung siehe Zäpfel (2001, S. 59 ff. und S. 225 ff.).

648 | Hubert Missbauer

2 Auftragsfreigabe als Entscheidungsproblem – Bestandsregelung (Workload Control) Entsprechend der oben definierten PPS-Struktur erstellt die Produktionsplanung Fer­ tigungsaufträge, für die ein geforderter Endtermin und – unter Berücksichtigung ge­ planter Durchlaufzeiten – ein geplanter Starttermin definiert sind. Die Freigabe dieser Aufträge an die Produktionsbereiche ist in traditionellen, an MRP (Material Require­ ments Planning) angelehnten PPS-Systemen eher eine administrative Funktion; sie umfasst etwa die Umwandlung geplanter in offene Aufträge, die Anpassung der be­ auftragten Menge und die Verfügbarkeitsprüfung für die benötigten Materialien bzw. Komponenten (order launching; vgl. Jacobs et al. 2011, S. 203). Erfolgt die Auftrags­ freigabe vor dem geplanten Starttermin, so entsteht dadurch ein geplanter Zeitpuffer, der zur Glättung der Kapazitätsbelastung innerhalb der Produktionsbereiche genutzt werden kann. Nachdem die Fertigungsaufträge durch die Vorgabe von Endterminen gewissermaßen durch die Fertigung „geschoben“ werden, entspricht dies einem PushSystem (vgl. Hopp/Spearman 2008, S. 356 ff.) Diese Auftragsfreigabelogik erschwert eine klare Definition der Schnittstelle zwi­ schen der zentralen Planungsstelle und den Produktionsbereichen. In dieser Hin­ sicht kommt den Fertigungsdurchlaufzeiten eine zentrale Bedeutung zu. Die geplante Durchlaufzeit eines Fertigungsauftrags ist die Zeitspanne, innerhalb der die zen­ trale Planungsstelle die Durchführung eines Fertigungsauftrages erwarten darf und der Auftrag vom jeweiligen Produktionsbereich fertiggestellt werden muss; die ge­ plante Durchlaufzeit ist eine wesentliche Norm zur Koordinierung der beiden Pla­ nungsebenen. Eine strikt an Endterminen und geplanten Durchlaufzeiten orientierte Auftragsfreigabe berücksichtigt die Bestandssituation in der Fertigung (Länge der Warteschlangen vor den Arbeitssystemen) nicht explizit. Nachdem die mittlere Durch­ laufzeit über das Littlesche Gesetz mit dem mittleren Bestand in der Fertigung zu­ sammenhängt, ist damit auch die Einhaltung der geplanten Durchlaufzeiten nicht sichergestellt. Dies kann zum Durchlaufzeitsyndrom (Lead Time Syndrome) führen: Überschreiten die realen Durchlaufzeiten die zur Ermittlung der Starttermine verwen­ deten geplanten Werte, so besteht eine Tendenz, diese Planwerte zu erhöhen, um die Termineinhaltung sicherzustellen. Damit werden beim nächsten Planungslauf die Aufträge früher freigegeben, was die Bestände in der Fertigung (Arbeitsinhalt vor den Arbeitssystemen) und damit wiederum die realen Durchlaufzeiten erhöht. Damit ent­ steht ein positiver Regelkreis, der die Durchlaufzeiten auf hohe Werte treiben kann, die nicht mehr argumentierbar sind (vgl. Wight 1974, S. 108 ff.). Der Einstoß ungeplan­ ter Eilaufträge, etwa im Zusammenhang mit der Fehlteilesteuerung bei kundenauf­ tragsbezogener Montage, kann die Situation noch verschlimmern (vgl. Abbildung 1). Das Durchlaufzeitsyndrom wurde bereits in den 1970er Jahren auf Basis praktischer Beobachtungen beschrieben (vgl. Mather/Plossl 1978; Wight 1974). Eine modelltech­ nische Analyse wurde in Selçuk/Fransoo/De Kok (2006) und Selcuk et al. (2009)

Auftragsfreigabe und Produktionssteuerung | 649

Frühzeitige Freigabe geplanter Fertigungsaufträge

Kurzfristiger Einstoß von Fehlteilen an den Arbeitssystemen

Lange Warteschlangen an den Arbeitssystemen (hoher Arbeitsstundeninhalt vor den Maschinen bzw. hohe Werkstattbestände)

Verlängerte geplante Durchlaufzeiten durch die Arbeitssysteme

Verlängerte mittlere Durchlaufzeiten durch die Arbeitssysteme

Abb. 1: Durchlaufzeitsyndrom (vgl. ähnlich Zäpfel 2000, S. 218).

durchgeführt und ergibt, dass das Ausmaß und die Frequenz der Aktualisierung von Plandurchlaufzeiten die Gefahr des Durchlaufzeitsyndroms wesentlich bestimmen. Empirische Untersuchungen unter kontrollierten Bedingungen, etwa im Rahmen von Experimenten, sind zur Zeit noch ausständig. Ebenfalls ist genauer zu klären, welche Mechanismen ein solches Aufschaukeln in der Praxis zum Stillstand bringen und ab welchem Punkt die Entwicklung nicht mehr reversibel ist, das System gewissermaßen in einen Zustand hoher Bestände und Durchlaufzeiten „einrastet“. Die beschriebene Problematik legt es nahe, die Rolle der Auftragsfreigabe grund­ legend anders zu definieren: Die Produktionsbereiche sind teilautonome Einheiten, die aus materialflussmäßig vernetzten Arbeitssystemen bestehen und als Warte­ schlangennetzwerke betrachtet werden können. Die mittlere Durchlaufzeit an den Arbeitssystemen wird durch die Bestände (Arbeitsinhalt, etwa Arbeitsstunden, vor den Arbeitssystemen) bestimmt, die wiederum vom Arbeitszu- und -abgang an den Arbeitssystemen bestimmt werden. Dies legt es nahe, Durchlaufzeiten nicht als Pro­ gnosegrößen zu betrachten, die etwa aus Vergangenheitswerten geschätzt werden, sondern als Regelgrößen (zu dieser Gegenüberstellung vgl. Tatsiopoulos/Kingsman 1983), die durch die Auftragsfreigabe (bestimmt den Arbeitszugang) und durch die Kapazitäten der Arbeitssysteme (bestimmen den Abgang an Arbeit) geregelt wer­ den. Dieses Grundkonzept, als Bestandsregelung beziehungsweise Workload Control bezeichnet (wir verwenden im Folgenden die geläufigere englische Bezeichnung), definiert die Auftragsfreigabe als wichtiges Entscheidungsproblem. Der Auftragsfrei­ gabe und deren Abstimmung mit der Kapazitätsplanung kommt die Aufgabe zu, die Bestände und Durchlaufzeiten in der Fertigung auf einem definierten Sollwert zu halten. Dabei regelt die Auftragsfreigabe den mittleren Bestand, der – über das Little­ sche Gesetz – direkt mit der mittleren Durchlaufzeit zusammenhängt. Die individu­

650 | Hubert Missbauer

Abb. 2: Simulierte Produktionskennlinie für eine Werkstattfertigung (vgl. Nyhuis/Wiendahl 2012, S. 52).

ellen Durchlaufzeiten der Fertigungsaufträge können durch die Reihenfolgeplanung beeinflusst werden. Diese Rolle der Auftragsfreigabe impliziert das Vorhandensein eines Pools an nicht freigegebenen Aufträgen, die von der zentralen Planungsstelle gemäß der dort angewendeten Planungslogik generiert wurden. Diese Aufträge kön­ nen etwa aus dem MRP-Lauf und anschließender Durchlaufterminierung, direkt aus Kundenaufträgen oder aus Lagerdispositionssystemen resultieren. Konzeptionelle Beschreibungen von Workload Control finden sich in Bertrand/Wortmann/Wijngaard (1990) und Zäpfel/Missbauer (1993a). Die Soll-Bestandshöhe beziehungsweise die geplante mittlere Durchlaufzeit be­ ruht auf dem aus der Warteschlangentheorie bekannten funktionalen Zusammenhang zwischen mittlerem Bestand und mittlerer Leistung beziehungsweise Kapazitätsaus­ lastung. Diese funktionale Beziehung mit dem mittleren Bestand als unabhängige und der mittleren Leistung und mittleren Durchlaufzeit als abhängigen Variablen wird häufig als Produktions- oder Betriebskennlinie (vgl. Nyhuis/Wiendahl 2012) bezeich­ net und durch Simulationen ermittelt (vgl. Abbildung 2). Als Sollbestand wird jener Wert empfohlen, bei dem eine hohe Auslastung gerade erreicht werden kann, d. h. zu hohe Bestände, die nur noch die Durchlaufzeiten erhöhen, ohne eine nennenswer­ te Leistungssteigerung zu bringen, sind zu vermeiden. Der Sollbestand ist damit ein Kompromiss in einem Zielkonflikt, der als Dilemma der Ablaufplanung (vgl. Guten­ berg 1979, S. 216) bezeichnet wird und in diesem Zusammenhang eher ein Dilemma der Auftragsfreigabe ist (vgl. Zäpfel 2001, S. 195 f.). Die so ermittelte Soll-Bestandshöhe setzt auf gegebenen Betriebskennlinien auf, deren Gestalt wesentlich von der diskreten Natur des Materialflusses und der Unre­

Auftragsfreigabe und Produktionssteuerung | 651

gelmäßigkeit der Zwischenankunfts- und Operationszeiten an den Arbeitssystemen abhängt (zum „Corrupting Influence of Variability“ vgl. Hopp/Spearman 2008). Ge­ lingt eine Verringerung dieser Variabilität, also eine Verstetigung des Materialflus­ ses, so kann der Sollbestand ohne Leistungseinbußen verringert werden. Es handelt sich dabei um einen Prozess der kontinuierlichen Verbesserung, der im Konzept einer Just-in-Time Produktion beziehungsweise einer Lean Production (vgl. z. B. Krajewski/ Ritzman/Malhotra 2013, Kapitel 8) eine wesentliche Rolle spielt. Nachdem Workload Control im Regelfall eine Bestandssenkung und Durchlauf­ zeitverkürzung anstrebt, wird der Entscheidungsspielraum der Reihenfolgeplanung aufgrund der kürzeren Warteschlangen geringer. Ursprünglich wurde argumentiert, dass unter diesen Bedingungen eine FIFO-Abfertigung meist vorzuziehen ist (vgl. Bechte 1980, S. 57), jedoch ist dies nach den seither durchgeführten Forschungen differenzierter zu sehen (vgl. Land/Stevenson/Thürer 2014).

3 Methoden zur Auftragsfreigabe im Workload Control Konzept Methoden zur Unterstützung des so definierten Entscheidungsproblems der Auftrags­ freigabe wurden ca. ab 1980 entwickelt, wobei sich etwa gleichzeitig und relativ un­ abhängig voneinander zwei Forschungsrichtungen etabliert haben: 1. Verfahren, die die freizugebenden Fertigungsaufträge für einen kurzen Planungs­ zeitraum, üblicherweise eine Planperiode, so bestimmen, dass die Sollbestände eingehalten beziehungsweise nicht überschritten werden. Eine explizite Zielfunk­ tion gibt es dabei meist nicht. Im Folgenden werden diese Verfahren als traditio­ nelle Auftragsfreigabemechanismen bezeichnet. 2. Mehrperiodige Auftragsfreigabemodelle, die den Materialfluss durch die betrach­ teten Produktionsbereiche als Funktion der Auftragsfreigabe in den Planperioden abbilden und unter Zugrundelegung einer Zielfunktion, meist einer Kostenfunk­ tion, die Auftragsfreigabe über die Zeit mit Hilfe mathematischer Optimierungs­ verfahren festlegen. Die Abbildung des Materialflusses kann dabei auch in aggre­ gierten Größen, etwa Einheiten von Produktgruppen oder Arbeitsstunden, erfol­ gen. Dabei handelt es sich also um Verfahren zur Auftragsfreigabeplanung. Im Folgenden werden diese beiden Gruppen von Auftragsfreigabeverfahren beschrie­ ben.

652 | Hubert Missbauer

3.1 Traditionelle Auftragsfreigabemechanismen Traditionelle Auftragsfreigabemechanismen legen die freizugebenden Fertigungsauf­ träge meist für eine Planperiode, ca. einen Tag bis eine Woche, unter Beachtung der definierten Sollbestände in der Fertigung fest. Die ersten derartigen Verfahren wurden häufig gemeinsam mit konzeptionellen Überlegungen zur Bestandsregelung beschrie­ ben, etwa die belastungsorientierte Auftragsfreigabe (vgl. Wiendahl 1997; vorgestellt in Bechte 1980 und 1988), der Lancaster University Management School (LUMS) An­ satz (vgl. Stevenson/Hendry 2006; vorgestellt in Hendry/Kingsman 1989 und 1991) so­ wie die Methode von Bertrand und Wortmann (1981). Im Zuge der weiteren Forschung wurde herausgearbeitet, dass diesen und einer Reihe später entwickelter Verfahren ei­ ne gemeinsame Verfahrenslogik zugrunde liegt, aus der durch Festlegung bestimmter Designoptionen, die in dieser gemeinsamen Verfahrenslogik offen bleiben, das jewei­ lige Verfahren abgeleitet werden kann. Im Folgenden wird einführend die belastungs­ orientierte Auftragsfreigabe als eines der wichtigsten Verfahren beschrieben und dar­ aus die allgemeine Verfahrenslogik abgeleitet.

3.1.1 Belastungsorientierte Auftragsfreigabe Die Belastungsorientierte Auftragsfreigabe (BORA) wurde in den 1980er Jahren am In­ stitut für Fabrikanlagen der Universität Hannover entwickelt. Zur folgenden Beschrei­ bung siehe Wiendahl (1997) sowie Zäpfel (2000). Aktualisierungen des Verfahrens werden in Yan et al. (2016) beschrieben. Die BORA geht von folgenden Annahmen aus: Alle Fertigungsaufträge sind mit ihrem Soll-Endtermin gegeben. Ebenfalls liegt aus der Durchlaufterminierung mit ge­ planten Durchlaufzeiten ein geplanter Starttermin vor. Die Kapazitäten der Arbeits­ systeme sind fix und bekannt. Ein Kapazitätsabgleich ist so weit durchgeführt, dass über einen längeren Zeitraum gesehen die Kapazitäten zur Abarbeitung der Aufträge ausreichen. Das betrachtete Entscheidungsproblem besteht darin, welche Aufträge im Laufe der nächsten Planperiode (in der Praxis 1 Tag bis 1 Woche) freigegeben werden sollen. Eine Planung der Auftragsfreigabe über mehrere Perioden erfolgt nicht. Die Verfahrensschritte der BORA sind Folgende: – Reihung der Aufträge nach ihrer Dringlichkeit, gemessen durch die verfügbare Pufferzeit (geplanter Starttermin minus Planungszeitpunkt). – Ermittlung jener Teilmenge dieser Aufträge, deren Freigabe grundsätzlich zuläs­ sig ist, sogenannte dringliche Aufträge. Dies sind alle jene, deren spätest mögli­ cher Starttermin um nicht mehr als eine vorgegebene Zeitspanne (Vorgriffshori­ zont) in der Zukunft liegt. – Freigabe der Aufträge in der Reihenfolge ihrer Dringlichkeit, wobei ein Auftrag freigegeben werden kann, sofern kein zugehöriger Arbeitsvorgang ein Arbeitssys­ tem belegen müsste, bei dem die zulässige Direktbelastung für die betrachtete

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Periode bereits überschritten ist. Nicht freigegebene Aufträge verbleiben im Pool nicht freigegebener Aufträge und werden beim nächsten Planungslauf wieder be­ rücksichtigt. Der Soll-Bestand am Arbeitssystem, gemessen in Arbeitsstunden, wird also durch ei­ ne Grenze für die Direktbelastung (Periodenanfangsbestand plus erwarteter Zugang während der Periode am Arbeitssystem) ausgedrückt. Diese Grenze, als Belastungs­ schranke oder Einlastungsprozentsatz ausgedrückt, ergibt sich folgendermaßen: Die mittlere Durchlaufzeit L ist jene Zeit, die benötigt wird, um den mittleren Plan­ bestand W mit Hilfe der verfügbaren Kapazität C abzuarbeiten (Littlesches Gesetz), also W (1) L= C Soll diese mittlere Durchlaufzeit eingehalten werden, so darf die Belastung des Ar­ beitssystems in der Planperiode nicht größer sein als die geplante Leistung C zuzüg­ lich dem Planbestand W (wenn von einem gleichmäßigen Zugang während der Plan­ periode ausgegangen wird): BS = W + C (2) Diese Belastungsschranke (BS) wird in Stunden ausgedrückt und lässt deshalb ohne Kenntnis der Periodenkapazität keinen unmittelbaren Rückschluss auf die geplante mittlere Durchlaufzeit zu. Bequemer ist es daher, die Belastungsschranke als Prozent­ satz der Periodenkapazität auszudrücken (Einlastungsprozentsatz, EPS): EPS =

BS [⋅100%] C

(3)

Setzt man (2) in (3) ein, so lässt sich der Einlastungsprozentsatz schreiben als EPS =

W+C [⋅100 %] C

(4)

Durch Einsetzen von (1) in (4) erhält man schließlich EPS = (1 + L)[⋅100 %]

(5)

Ist eine mittlere Durchlaufzeit von einer Planperiode vorgesehen, so ist also ein Ein­ lastungsprozentsatz von 200 % zu wählen, eine geplante mittlere Durchlaufzeit von zwei Perioden entspricht einem Einlastungsprozentsatz von 300 % usw. Die Berechnung des Zugangs freigegebener beziehungsweise an VorgängerArbeitssystemen befindlicher Aufträge am betrachteten Arbeitssystem in der betrach­ teten Planperiode ist nur näherungsweise möglich, da die realen Zugangszeitpunkte von der Maschinenbelegung abhängen. Die BORA nimmt für alle Arbeitssysteme an, dass der Anteil der Direktbelastung, der während der Periode abgearbeitet wird, als Wahrscheinlichkeit interpretiert werden kann, dass ein Auftrag noch in der Plan­ periode abgearbeitet wird und damit das Folgearbeitssystem erreicht. Nachdem BS

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Arbeitsstunden verfügbar sind und davon C abgearbeitet werden, ist diese Wahr­ scheinlichkeit also C/BS = 1/EPS (aus Gleichung (3)). Weiters wird stochastische Unabhängigkeit der Arbeitssysteme angenommen, so dass sich die Wahrscheinlich­ keit des Durchlaufens mehrerer Arbeitssysteme in der Planperiode durch Multiplika­ tion dieser Wahrscheinlichkeiten 1/EPS m für alle zu durchlaufenden Arbeitssysteme m ergibt. Zur Direktbelastung eines Arbeitssystems wird der Erwartungswert dieser Belastung gebucht. Zur detaillierten Berechnung siehe Zäpfel (2000, S. 22 ff.).

3.1.2 Verfahrenslogik traditioneller Freigabemechanismen Die allgemeine Verfahrenslogik, die den traditionellen Freigabemechanismus zugrun­ de liegt, lässt sich folgendermaßen beschreiben („Basic Release Procedure“; vgl. Land 2004, S. 36 f.): Ausgangspunkt ist ein Pool nicht freigegebener Fertigungsaufträge. Beim Freigabelauf, der periodisch erfolgt, werden die Aufträge im Pool nach einer Priorität gereiht, etwa, wie bei der BORA, nach geplantem Starttermin als Messgröße für die Dringlichkeit.¹ Ein Vorgriffshorizont, der Aufträge mit zu weit in der Zukunft lie­ gendem geplantem Starttermin von der Freigabe ausschließt, kann definiert werden. Beim Freigabelauf werden die Aufträge in der Reihenfolge abfallender Priorität geprüft und freigegeben, sofern dadurch die Bestandsvorgaben nicht verletzt werden. Aufträ­ ge, deren Freigabe zu einer Verletzung der Bestandsvorgaben führen würde, werden übersprungen und im nächsten Freigabelauf wieder berücksichtigt. Der Freigabealgo­ rithmus kann also je nach Belastungssituation in der Fertigung Aufträge mit früherem geplantem Starttermin später freigeben und damit temporäre Unter- und Überlastun­ gen an Arbeitssystemen beziehungsweise Produktionsrouten vermeiden. Innerhalb dieses Rahmens sind die Ausprägungen einer Reihe von Designattri­ buten festzulegen, um das konkrete Verfahren zu spezifizieren. Die wichtigsten dieser Designoptionen sind die folgenden (vgl. umfassend Bergamaschi et al. 1997): – Einheit des Bestandes, also ob der Bestand in Anzahl an Aufträgen oder in Ar­ beitsinhalt (Arbeitsstunden) gemessen wird. – Aggregationsgrad der Bestände: Die Bestände können aggregiert für den ge­ samten Produktionsbereich festgelegt werden (z. B. gesamte noch zu leistende Arbeitsstunden in der Teilefertigung) oder – häufiger – differenziert für jedes Arbeitssystem. In letzterem Fall ist zu entscheiden, ob Bestandsgrenzen für alle oder nur für die Engpassarbeitssysteme definiert werden. – Definition der zu verwendenden Bestandsgröße: Die Bestandsvorgaben können sich (wie bei der BORA) auf die Direktbestände beziehen, definiert als die direkt zur Bearbeitung anstehende Arbeit am betrachteten Arbeitssystem. Der Beitrag

1 Freigabemechanismen, die in kontinuierlicher Zeit arbeiten und bei Erreichen bestimmter Be­ standsgrenzen freigeben, betrachten wir im Folgenden nicht näher.

Auftragsfreigabe und Produktionssteuerung | 655

eines Fertigungsauftrags zum Direktbestand kann allerdings bei der Freigabe nur geschätzt werden, da der Zugangszeitpunkt zu allen Arbeitssystemen außer dem Ersten von der Maschinenbelegungsplanung abhängt. Der aggregierte Bestand (aggregate load) eines Arbeitssystems umfasst die gesamte freigegebene Arbeit (etwa Arbeitsstunden), die vom betrachteten Arbeitssystem noch abzuarbeiten ist, unabhängig von der aktuellen Position des Auftrags; sie ergibt sich also als die Summe aus dem Direktbestand und dem indirekten Bestand, der sich noch an stromaufwärts liegenden Arbeitssystemen befindet. Der korrigierte aggregier­ te Bestand (corrected aggregate load; vgl. Oosterman/Land/Gaalman 2000) ist das Produkt aus aggregiertem Bestand und einem Faktor, der von der Position des Arbeitssystems im Materialfluss abhängt und das Verhältnis zwischen Di­ rektbestand und aggregiertem Bestand im stationären Systemzustand darstellt. Damit ist er als Abschätzung des Direktbestands zu interpretieren (vgl. Missbau­ er 2009). Sollte – etwa in kleineren Unternehmen – die Rückmeldung nicht pro Arbeitsgang, sondern nur bei Fertigstellung des gesamten Auftrags im Produkti­ onsbereich erfolgen, so kann auch der aggregierte Bestand plus der Arbeitsinhalt jener Aufträge, die sich nach Bearbeitung am betrachteten Arbeitssystem noch im Produktionsbereich befinden (shop load), als relevante Bestandsgröße gewählt werden, allerdings mit Einbußen an Planungsqualität (vgl. Oosterman/Land/ Gaalman 2000). Weiters sind festzulegen – die Länge der Planperiode und des Intervalls zwischen zwei Planungsläufen; Letz­ teres kann gegen Null gehen, womit die Auftragsfreigabe ereignisbezogen in kon­ tinuierlicher Zeit erfolgt, etwa bei CONWIP (vgl. Hopp/Spearman 2008), – ob die Kapazitäten als fix betrachtet werden oder im Zuge der Auftragsfreigabe noch änderbar sind, – ob eine Vorschau auf künftige Planperioden erfolgt (Time Bucketing Approach; vgl. Bobrowski 1989), – sowie eine Reihe weiterer Verfahrensdetails, etwa die Freigabe dringender Aufträ­ ge trotz Überschreitung der Bestandsgrenzen oder ereignisbezogene Auftragsfrei­ gabe zwischen den Freigabeläufen bei drohendem Leerlaufen eines Arbeitssys­ tems (Force Release beziehungsweise Intermediate Pull Release bei LUMS; vgl. Stevenson/Hendry 2006). Durch Kombination dieser Designoptionen gibt es mittlerweile eine große Vielfalt tra­ ditioneller Auftragsfreigabemechanismen. Fredendall/Ojha/Wayne Patterson (2010) führen 25 Verfahren an. Sehr bekannt geworden sind die beschriebene belastungsori­ entierte Auftragsfreigabe und LUMS. LUMS (vgl. Stevenson/Hendry 2006) regelt auf der Freigabeebene den aggregierten oder korrigierten aggregierten Bestand, versteht sich aber als umfassendes Konzept der Produktionsplanung und -steuerung bei kun­ denauftragsbezogener Fertigung, das auch Angebotslegung und Kundenauftragsan­

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nahme umfasst. Durch diese Entscheidungshierarchie regelt es eine Hierarchie von Bestandsgrößen (vgl. Kingsman 2000). Einen umfassenden Überblick über die For­ schung auf diesem Gebiet geben Thürer/Stevenson/Silva (2011). Im weiteren Sinn zu den Bestandsregelungsverfahren gehört Kanban, das maß­ geblich im Rahmen des Toyota Produktionssystems entwickelt wurde (vgl. z. B. Bu­ zacott et al. 2010, S. 127 ff.). Bei Kanban wird für jedes zu produzierende Produkt be­ ziehungsweise Teil ein serielles Produktions-Lagerhaltungs-System aufgebaut und für jedes Pufferlager zwischen den Produktionsstufen eine Bestandsobergrenze definiert, üblicherweise als Anzahl Standardbehälter mit definiertem Inhalt. Im Ruhezustand des Systems, also wenn keine Teile verbraucht werden, sind diese Pufferlager voll. Werden Teile benötigt, so erfolgt keine Freigabe eines Fertigungsauftrags von einer zentralen Stelle, sondern ein Behälter mit fertigen Teilen wird vom Pufferlager ent­ nommen (Supermarkt-Prinzip). Die daraus entstehende Lücke in Gestalt eines leeren Behälters wird von der letzten Produktionsstufe nachproduziert, was wiederum den Verbrauch eines Behälters des Vormaterials bedingt, der von der vorletzten Produk­ tionsstufe nachproduziert wird usw. Damit stellt der Verbrauch beziehungsweise Ab­ transport eines vollen Behälters vom Pufferlager, logisch durch Übermittlung einer Karte (Kanban) abgebildet, die Freigabe eines entsprechenden Fertigungsauftrags für die jeweils vorgelagerte Produktionsstufe dar. Durch diese Dezentralisierung und die strikten Verfahrensregeln arbeitet das System sehr einfach, ist jedoch an enge Einsatz­ voraussetzungen gebunden. CONWIP, das als Alternative zu Kanban mit weniger re­ striktiven Einsatzvoraussetzungen vorgestellt wurde (vgl. Spearman/Woodruff/Hopp 1990), ist in seiner Standardversion (vgl. Hopp/Spearman 2008) für Fertigungslini­ en, also gleiche technologische Vorgangsfolge für alle Produkte, konzipiert. Für die gesamte Linie wird ein Sollbestand, gemessen in Anzahl Fertigungsaufträgen, festge­ legt. Sobald ein Fertigungsauftrag beendet ist, wird ein neuer Auftrag freigegeben, der jedoch nicht von der gleichen Produktart sein muss. Damit lässt sich CONWIP als Verfahren innerhalb der allgemeinen Logik der traditionellen Freigabemechanis­ men begreifen, bei dem die Freigabe ereignisbezogen in kontinuierlicher Zeit erfolgt und der gesamte Bestand im Produktionsbereich (nicht differenziert nach Arbeitssys­ temen) geregelt wird. Auf verallgemeinerte Kartensysteme wie etwa das Production Authorization Card (PAC) System (vgl. Buzacott et al. 2010, S. 160 ff.) oder POLCA (vgl. Suri 1998) wird hier nicht näher eingegangen. Eine auf die Engpässe fokussierte Pro­ duktionsplanung und -steuerung gemäß der Theory of Constraints beziehungsweise des Drum-Buffer-Rope Ansatzes (zum Überblick vgl. Gupta 2003) kann speziell bei der Dimensionierung der Pufferlager vor den Engpässen und der Steuerung der Material­ versorgung dieser Engpässe Elemente einer Bestandsregelung enthalten. Darauf wird hier nicht näher eingegangen. Aufgrund dieser Vielfalt an Verfahren stellt sich für den Anwender die Frage, un­ ter welchen Bedingungen hinsichtlich Materialflussstruktur, Auftragsmix usw. wel­ che Designoptionen zu wählen sind und wie damit das Verfahren zu konfigurieren ist. Diese Frage ist Gegenstand zahlreicher meist auf Simulationen basierender Untersu­

Auftragsfreigabe und Produktionssteuerung |

657

chungen. Eine systematische Zusammenstellung der daraus resultierenden Entschei­ dungsregeln existiert bislang allerdings nicht. Ein markantes Ergebnis besteht darin, dass bei ungerichtetem Materialfluss (idealisierter Job Shop als Extremfall) eine Di­ rektbestandssteuerung und -abschätzung im Sinne der BORA zu guten Ergebnissen führt, bei gerichtetem Materialfluss aber eher eine Regelung der aggregierten Bestän­ de vorzuziehen ist (vgl. Oosterman/Land/Gaalman 2000). In letzterem Fall hat sich ein Arbeiten mit corrected aggregate load (gegenüber dem aggregierten Bestand) als überlegen erwiesen, so dass für gerichtete Materialflussstrukturen die Einbindung der Corrected Aggregate Load in LUMS (LUMS COR) als Referenzmethode gilt (vgl. Thürer et al. 2012). Neben dem Design ist die Parametrisierung der Auftragsfreigabeverfahren fest­ zulegen. Die Sollwerte für mittleren Bestand und mittlere Durchlaufzeit ergeben sich direkt aus den in Abschnitt 2 besprochenen Überlegungen zu den Betriebskennlini­ en von Fertigungssystemen. Beziehen sich die Sollbestände auf den aggregierten Be­ stand, so sind die Soll-Durchlaufzeiten und -bestände für die Arbeitssysteme in die entsprechenden Werte für die aggregierten Bestände umzurechnen (vgl. etwa Löd­ ding 2008, S. 370). Der Wert für die Terminschranke (Vorgriffshorizont) bestimmt die Fähigkeit des Verfahrens, die Kapazitätsbelastung über die Zeit zu glätten. Der op­ timale Wert hängt damit von der Höhe der Nachfrage sowie vom Umfang der Nach­ frageschwankungen ab, die bis auf die Fertigungsaufträge und deren geforderte End­ termine durchschlagen (vgl. Zäpfel/Missbauer/Kappel 1992). Wiendahl (1997, S. 330) empfiehlt zwei bis drei Perioden als sinnvollen Startwert.

3.1.3 Implementierung traditioneller Freigabemechanismen Implementierungserfahrungen mit dieser Kategorie von Auftragsfreigabeverfahren wurden bereits relativ früh berichtet (vgl. Bechte 1988; Wiendahl 1992; Überblick in Thürer/Stevenson/Silva 2011). Seit circa 2005 werden verstärkt Studien im Zusam­ menhang mit praktischen Implementierungen durchgeführt, um Schwachstellen der Verfahren aufzuzeigen, zu verallgemeinerbaren Aussagen über die Eignung dieses Konzepts in Abhängigkeit von den Merkmalen des praktischen Falles zu kommen und auch um verallgemeinerbare Empfehlungen bezüglich der Gestaltung des Imple­ mentierungsprozesses abzuleiten. Einen Überblick über diese Forschungsrichtung geben Hutter/Häussler/Missbauer (2017). Dort wird auch über die Implementierung eines derartigen Verfahrens bei einem Lagerfertiger auf Basis eines Standard-ERP Sys­ tems berichtet, während die Literatur stark auf kundenauftragsorientierte Fertigung fokussiert ist (vgl. etwa Stevenson/Hendry/Kingsman 2005).

658 | Hubert Missbauer

3.2 Mehrperiodige Optimierungsmodelle zur Auftragsfreigabeplanung Diese Kategorie von Auftragsfreigabemodellen betrachtet einen Planungshorizont, der in T Planperioden (t = 1, . . . , T) unterteilt wird, und entscheidet über die Freiga­ bemengen R it für alle Produkte beziehungsweise Produktgruppen j und Perioden t. Dies erfordert eine Modellierung des Materialflusses durch den entsprechenden Pro­ duktionsbereich, der als Netzwerk von Arbeitssystemen modelliert wird, für diesen Zeitraum. Konzeptionelle Grundlage sind mehrperiodige Modelle zur Produktions­ planung beziehungsweise -glättung bei zeitlich schwankender Nachfrage, die etwa in Kilger (1973) und Johnson/Montgomery (1974) beschrieben wurden. Haben die Fertigungsdurchlaufzeiten eine relevante Größe (eine oder mehrere Planperioden), wovon im Folgenden ausgegangen wird, so kann aufgrund der Autonomie der Pro­ duktionsbereiche ein solches Planungsmodell die Terminierung der Arbeitsoperatio­ nen zwar antizipieren, die tatsächlich umgesetzte Entscheidung ist jedoch nur die Auftragsfreigabe, da der weitere Durchlauf der Fertigungsaufträge innerhalb der Pro­ duktionsbereiche dezentral festgelegt wird. Damit sind Produktionsplanungsmodelle unter Berücksichtigung von Fertigungsdurchlaufzeiten letztlich Auftragsfreigabemo­ delle. Die wichtigsten Typen dieser Modelle werden im Folgenden beschrieben. Aus Gründen der einfacheren Darstellung betrachten wir dabei eine einstufige Fertigung, d. h. der Produktionsbereich wird als ein Arbeitssystem modelliert. Falls ein Arbeits­ system einen eindeutigen Engpass bildet, ist dies oft angemessen. Die Erweiterung auf Netzwerke von Arbeitssystemen ist in der zitierten Literatur beschrieben. Eine detailliertere Beschreibung der Modellansätze findet sich in Missbauer/Uzsoy (2011).

3.2.1 Auftragsfreigabemodelle mit fixen Plandurchlaufzeiten Bei dieser Modellkategorie sind die Plandurchlaufzeiten an den Arbeitssystemen be­ ziehungsweise durch den gesamten Produktionsbereich konstante, vorweg definierte Parameter. Damit ist die geplante Zeitspanne zwischen Freigabe und Fertigstellung für alle Aufträge gegeben. Es ergibt sich folgendes Modell FLT: Variable (ausgedrückt in Zeiteinheiten, z. B. Arbeitsstunden) W jt Halbfabrikatebestand (Work-in-Process) der Produktgruppe j am Ende der Peri­ ode t. I jt Lagerbestand der Produktgruppe j am Ende der Periode t. R jt Freigegebene Arbeit der Produktgruppe j in Periode t. X jt Geleistete Arbeit an Produktgruppe j in Periode t.

Auftragsfreigabe und Produktionssteuerung | 659

Parameter D jt Nachfragemenge der Produktgruppe j in Periode t (in Arbeitsstunden). h bj , l j Lagerkostensatz je Einheit und Periode für Halbfabrikate- bzw. Endlagerbe­ stand der Produktgruppe j. L Vorlaufzeit. Ct Kapazität in Periode t. Zielfunktion ∑ ∑ h bj ⋅ W jt + ∑ ∑ l j ⋅ I jt → Min! j

t

j

(6)

t

Nebenbedingungen W jt = W j,t−1 + R jt − X jt

∀j, t

(7)

I jt = I j,t−1 + X jt − D jt

∀j, t

(8)

X jt = R j,t−L

∀j, t

(9)

∑ X jt ≤ C t

∀t

(10)

∀j, t

(11)

j

X jt , R jt , W jt , I jt ≥ 0

Die Zielfunktion (6) minimiert die Lagerkosten für Halb- und Fertigfabrikate. Sollten etwa Freigabe- oder variable Produktionskosten entscheidungsrelevant sein, so sind sie in der Zielfunktion zu berücksichtigen, auch die Berücksichtigung von Fehlmengen ist einfach möglich. (7) und (8) sind die Definitionsgleichungen für die Halbfabrikate- beziehungsweise Endlagerbestände. Gleichungen (9) stellen die fixen Durchlaufzeiten sicher, äquivalent könnte man direkt R j,t−L für X jt in (8) und (10) substituieren. Nebenbedingungen (10) sind die Kapazitätsrestriktionen, (11) sind die Nichtnegativitätsbedingungen für alle Variablen. Für eine detaillierte Beschrei­ bung solcher Modelle und der Rolle der geplanten Durchlaufzeiten siehe Hackman/ Leachman (1989). Bei obiger Formulierung tritt die Kapazitätsbelastung am Ende der Plandurchlaufzeit auf („Lag Before“); andere Annahmen sind formulierbar. Bei Mo­ dellen mit mehreren Arbeitssystemen können die Plandurchlaufzeiten auch jeweils kumuliert von Freigabe bis Ankunft beziehungsweise Bearbeitung am jeweiligen Ar­ beitssystem angegeben werden (Step-Separated Formulation; vgl. Leachman/Carmon 1992). Werden die Variablen nicht in Arbeitsstunden, sondern in Produkteinheiten de­ finiert, so ist das Modell entsprechend zu modifizieren. Plandurchlaufzeiten sind real ein Zeitfenster, das zur Abarbeitung von Arbeits­ operationen zur Verfügung steht, womit eine Glättung der Kapazitätsbelastung über diese Zeitspanne möglich ist. Dies wird durch obige Formulierung nicht ausgedrückt. Um dem abzuhelfen, ist der Abarbeitungszeitraum innerhalb der Plandurchlaufzeit durch Variable auszudrücken und im Zuge der Optimierung festzulegen. Dies ent­ spricht der Logik der Input/Output Control (vgl. Wight 1974; Belt 1976). Unter Verwen­ dung der zusätzlichen Symbole

660 | Hubert Missbauer h bj , h aj Lagerkostensatz je Einheit und Periode für freigegebene Aufträge vor bezie­ hungsweise nach Bearbeitung am Arbeitssystem, Halbfabrikatebestand nach Bearbeitung von Produkt j am Ende von Periode t F jt (Variable) führt dies zu folgendem Modell IOC: Zielfunktion ∑ ∑ (h bj ⋅ W jt + h aj ⋅ F jt ) + ∑ ∑ l j ⋅ I jt → Min! j

t

j

(12)

t

Nebenbedingungen W jt = W j,t−1 + R jt − X jt

∀j, t

(13)

F jt = F j,t−1 + X jt − R j,t−L

∀j, t

(14)

I jt = I j,t−1 + R j,t−L − D jt

∀j, t

(15)

∀j, t

(16)

∀t

(17)

∀j, t

(18)

t+L

∑ W jt ≤ ∑ ∑ X jk j

j k=t+1

∑ X jt ≤ C t j

X jt , R jt , W jt , F jt , I jt ≥ 0

Das Modell spaltet die Bestände am Arbeitssystem in einen nicht abgearbeite­ ten und einen abgearbeiteten Teil auf (W jt beziehungsweise F jt jeweils für Produkt j und Periode t). Die Zielfunktion (12) minimiert analog zu (6) die Kosten für Bestän­ de an Halb- und Fertigfabrikaten. (13) und (14) sind die Definitionsgleichungen für die beiden Bestandsvariablen am Arbeitssystem, (15) die Lagerdefinitionsgleichun­ gen für das Endlager. Gleichungen (16) stellen sicher, dass der Bestand am Arbeits­ system innerhalb der Plandurchlaufzeit abgearbeitet werden kann, also die Leistung der nächsten L Perioden nicht überschreitet. Die Kapazitäts- und Nichtnegativitätsbe­ dingungen (17) beziehungsweise (18) ergänzen das Modell. Diese Modellierung für Netzwerksstrukturen findet sich in Pürgstaller/Missbauer (2012), ein entsprechendes Modell für ein gesamtes logistisches Netzwerk in de Kok/ Fransoo (2003). Die obigen Modellformulierungen bilden den Materialfluss als kontinuierlich ab. Aus den Freigabemengen pro Produkt beziehungsweise Produktgruppe und Periode, die sich aus der Optimierung ergeben, sind für die jeweils aktuelle Periode die frei­ zugebenden Aufträge abzuleiten. Die einfachste Möglichkeit besteht darin, in der betrachteten Planperiode so viele Fertigungsaufträge der betreffenden Produktgrup­ pe freizugeben, bis die kumulierte reale Freigabemenge der kumulierten geplanten Freigabemenge aus der Optimierung entspricht beziehungsweise gerade darüber

Auftragsfreigabe und Produktionssteuerung | 661

oder darunter liegt (vgl. Missbauer 2002). Es wurde auch vorgeschlagen, aus den Er­ gebnissen eines über die Arbeitssysteme aggregierten Optimierungsmodells zeitlich schwankende Parameter der BORA abzuleiten, die dann die in der jeweils nächsten Periode freizugebenden Aufträge festlegt (vgl. Zäpfel/Missbauer 1993b). Es kann auch das Freigabemodell auf der Ebene von Fertigungsaufträgen formuliert werden und die jeweiligen Freigabeentscheidungen pro Auftrag und Periode als 0-1-Variablen ab­ bilden (Kostenorientierte Input/Output Control; vgl. Missbauer 2014). Dies führt zu einem schwerer lösbaren Modell der gemischt-ganzzahligen Optimierung. Sind die Plandurchlaufzeiten vorweg definierte Parameter, die jedoch über die Zeit schwanken, etwa aufgrund schwankenden Nachfrageverlaufs, so ist die Modell­ formulierung anzupassen (vgl. Missbauer/Uzsoy 2011, S. 456). Die Bestimmung ver­ nünftiger Parameterwerte in diesem Fall ist wenig erforscht und auch konzeptionell schwierig, da die Plandurchlaufzeiten von der Kapazitätsbelastung (nicht unmittelbar von der Nachfrage) abhängen und damit vorweg Annahmen über die Glättung der Ka­ pazitätsbelastung getroffen werden müssen.

3.2.2 Auftragsfreigabemodelle mit belastungsabhängigen Plandurchlaufzeiten Plandurchlaufzeiten als über die Zeit konstante Modellparameter erlauben es nicht, diese Durchlaufzeiten im Zuge der Optimierung an die Belastungssituation in der Fertigung anzupassen. Der aus der Warteschlangentheorie bekannte nichtlineare Zu­ sammenhang zwischen Kapazitätsauslastung und mittlerer Durchlaufzeit wird damit nicht abgebildet. Die Plandurchlaufzeiten an den Engpassarbeitssystemen müssen eine hohe Auslastung erlauben und sind daher in Perioden mit geringer Auslas­ tung tendenziell zu hoch, zudem ist eine temporäre Erhöhung von Durchlaufzeiten und Beständen an bestimmten Arbeitssystemen im Modell nicht möglich. Nachdem die Auslastung unmittelbar von der Auftragsfreigabe und nur mittelbar vom Nach­ frageverlauf abhängt, bietet es sich an, die Plandurchlaufzeiten beziehungsweise -bestände als Modellvariable abzubilden und simultan mit den Freigabemengen zu optimieren. Dies erfordert, die Wirkung der Bestände vor den Arbeitssystemen, näm­ lich die Pufferwirkung gegen zeitliche Schwankungen im Auftragszu-und -abgang, im Modell abzubilden. Einen Überblick über mögliche Modellansätze geben Missbauer und Uzsoy (2011). Die weitaus wichtigste Modellkategorie sind Modelle mit Clearing Functions. Eine Clearing Function ist die funktionale Beziehung zwischen dem (ge­ eignet gemessenen) Bestand vor dem betreffenden Arbeitssystem in der betrachteten Periode und der erwarteten oder maximalen Leistung des Arbeitssystems in dieser Periode. Analog zu den Betriebskennlinien (Abschnitt 2) wird dieser Zusammenhang üblicherweise als konkav unterstellt, die Leistung des Arbeitssystems geht mit stei­ gendem Bestand gegen die Periodenkapazität. Als relevante Bestandsgröße, die die unabhängige Variable darstellt, wird häufig die Periodenbelastung verwendet, de­ finiert als Summe von Anfangsbestand und geplantem Zugang in der betrachteten

662 | Hubert Missbauer

Periode. Unter Zugrundelegung der obigen Symbole lässt sich das Grundmodell zur Auftragsfreivergabe mit Clearing Functions folgendermaßen formulieren (vgl. Miss­ bauer/Uzsoy 2011, S. 465): Modell CF: ∑ ∑ h bj ⋅ W jt + ∑ ∑ l j ⋅ I jt → Min! j

t

j

(19)

t

mit den Lagerdefinitionsgleichungen W jt = W j,t−1 + R jt − X jt

∀j, t

(20)

I jt = I j,t−1 + X jt − D jt

∀j, t

(21)

∀t

(22)

und der belastungsabhängigen Obergrenze für die Leistung: ∑ X jt ≤ f (∑ (W j,t−1 + R jt )) j

j

Alle Variablen sind nichtnegativ. Die Clearing Function f in den Nebenbedingungen (22) ist in obiger Formulierung über die Produkte aggregiert. Bei Mehrproduktmodellen lässt diese Formulierung da­ her zu, Bestand eines Produktes aufzubauen und dadurch Kapazitäten zu generieren, die für die Fertigung anderer Produkte verwendet wird. Diesem Modellierungsfeh­ ler kann durch Formulierung einer Allocated Clearing Function (vgl. Asmundsson/ Rardin/Uzsoy 2006) abgeholfen werden, die die Abweichung des Produktmix der ge­ leisteten Arbeit vom Produktmix der Periodenbelastung beschränkt. Die nichtlinea­ re Formulierung einer Allocated Clearing Function ist analog zu Asmundsson et al. (2009): X jt ≤ Z jt ⋅ f ( ∑ Z jt = 1

W j,t−1 + R jt ) Z jt

∀j, t

(23)

∀t

(24)

j

wobei Z jt den Anteil des Produkts j am gesamten möglichen Output approximiert. Technisch wird in der Literatur meist mit einer linearisierten Formulierung gearbei­ tet, die optimierungstechnisch leichter handhabbar ist (vgl. Asmundsson et al. 2009). Im Folgenden wird das Modell mit dieser linearisierten Version als Modell ACF be­ zeichnet. Die Clearing Function drückt die relevanten Effekte der Variabilität beziehungs­ weise Stochastik des Materialflusses am Arbeitssystem durch eine deterministische Nebenbedingung aus und ist allein deshalb eine Approximation. Überdies führen die Schwankungen der Freigabemengen über die Zeit zu nichtstationären Systemzustän­ den, so dass eine Clearing Function mit einer erklärenden Variable auch die erwartete

Auftragsfreigabe und Produktionssteuerung

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Leistung nur mit unter Umständen erheblichen Ungenauigkeiten schätzen kann. Dies lässt sich durch warteschlangentheoretische Analysen zeigen (vgl. Missbauer 2011). Eine genauere Antizipation der geleisteten Arbeit und der Durchlaufzeiten, die aus einem Freigabeverlauf über die Zeit resultieren, ist durch eine Simulation des Ferti­ gungsablaufs unter Zugrundelegung dieses Freigabeverlaufs möglich. Allerdings lässt sich ein Simulationsmodell zur Durchlaufzeitschätzung nicht in eine konventionelle mathematische Optimierung integrieren², so dass in diesem Fall die Antizipation von Periodenleistung und Durchlaufzeit außerhalb der Optimierung erfolgen muss. Dies ist die Grundlage der Iterativen LP-Simulations-Ansätze zur Auftragsfreigabeplanung: Das Auftragsfreigabemodell arbeitet mit fixen Plandurchlaufzeiten, für die zunächst Ausgangswerte geeignet geschätzt werden. Auf Basis dieser Durchlaufzeiten optimiert das Auftragsfreigabemodell, dessen Struktur Modell FLT entspricht, die Freigabemen­ gen über die Zeit. Die sich daraus ergebenen Freigabezeitpunkte der Fertigungsaufträ­ ge sind Eingabedaten für ein Simulationsmodell der Fertigung, und aus dieser Simu­ lation ergeben sich die realen Durchlaufzeiten der Fertigungsaufträge und die geleis­ tete Arbeit für die Planperioden. Auf Basis dieser Simulationsergebnisse werden die Plandurchlaufzeiten und/oder die Periodenkapazitäten aktualisiert und das Freigabe­ modell wird erneut gerechnet, woraus sich geänderte Freigabemengen ergeben. Die­ ser iterative Ablauf wird so lange fortgesetzt, bis ein geeignetes Konvergenzkriterium erfüllt ist. Derartige iterative Verfahren wurden in verschiedenen Varianten entwickelt und ausführlich numerisch getestet (vgl. den Überblick in Kacar/Irdem/Uzsoy 2012). Wird nur über die Plandurchlaufzeiten iteriert (vgl. etwa Hung/Leachman 1996), so konvergiert das Verfahren nicht immer. Ein Iterieren sowohl über Plandurchlaufzeiten als auch über Kapazitäten (vgl. Kim/Kim 2001) verbessert das Konvergenzverhalten er­ heblich. In Missbauer (2016) wird gezeigt, dass ein Iterieren nur über die Plandurch­ laufzeiten einer Preiskoordination entspricht, die die theoretischen Anforderungen nicht erfüllt, so dass die Konvergenzprobleme nicht überraschen. Hier ist noch erheb­ licher Forschungsbedarf gegeben, was auch zur grundlegenderen Frage führt, wie ei­ ne ereignisorientierte Simulation am besten in Methoden zur Auftragsfreigabe einzu­ binden ist. Die Frage der relativen Vorteilhaftigkeit von Auftragsfreigabemodellen mit fixen vs. belastungsabhängigen Vorlaufzeiten ist aus theoretischer Sicht durch zwei ge­ genläufige Tendenzen bestimmt: Die Vorgabe fixer Vorlaufzeiten ist modelltechnisch als Restriktion zu betrachten, was die Optimallösung niemals verbessern kann. An­ dererseits ist bei Modellen mit belastungsabhängigen Vorlaufzeiten mit erheblichen

2 Eine simulationsbasierte Optimierung der Freigabemengen ist denkbar und wurde in der Literatur versucht (vgl. Kacar/Uzsoy 2015). Ebenfalls ist es möglich, die funktionale Beziehung zwischen Frei­ gabemengen über die Zeit und den relevanten Messgrößen für die Zielerreichung durch Simulation zu ermitteln und diese Funktion in das Freigabemodell zu integrieren (vgl. Li et al. 2016). Die Eignung dieser Ansätze, die zur Zeit Grundlagenforschung darstellen, für einen praktischen Einsatz muss sich in der Zukunft erweisen.

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Modellierungsungenauigkeiten zu rechnen, was wiederum deren Leistung, gemessen am realen bzw. simulierten Fertigungsablauf, beeinträchtigt. Welcher dieser Aspekte überwiegt, wurde in den letzten circa zehn Jahren in einer Reihe von simulations­ basierten Vergleichsstudien untersucht. Dabei haben sich Modelle mit belastungs­ abhängigen Vorlaufzeiten auf Basis der Allocated Clearing Function gegenüber Mo­ dellen mit fixen Vorlaufzeiten mit der Struktur des Modells FLT meist als überlegen erwiesen (vgl. Asmundsson et al. 2009, Kacar/Mönch/Uzsoy 2013). Die optimale Ein­ stellung nicht-ganzzahliger Vorlaufzeiten bei FLT-Modellen verbessert jedoch deren Leistung erheblich, so dass sie durchaus ACF-Modellen überlegen sein können (vgl. Kacar/Mönch/Uzsoy 2016). Ebenfalls sind ACF-Modelle den iterativen Ansätzen von Hung und Leachman (1996) sowie von Kim und Kim (2001) überlegen (vgl. Kacar/ Irdem/Uzsoy 2012). Vergleichsstudien von ACF-Modellen mit Input/Output Control Modellen ähnlich Modell IOC wurden bisher sehr spärlich durchgeführt. Erste Erfah­ rungen sprechen dafür, dass ACF-Modelle gegenüber IOC-Modellen mit ganzzahligen Durchlaufzeiten tendenziell überlegen sind (vgl. Häussler/Missbauer 2017; dort wird auch ein Literaturüberblick über die Vergleichsstudien gegeben). Erwähnenswert ist auch die Studie von Pürgstaller and Missbauer (2012), in der ein IOC-Modell mit einem traditionellen Freigabemechanismus ähnlich LUMS anhand eines vereinfachten Pra­ xisfalls und rollierender Planung verglichen wird. Das IOC-Modell erweist sich dabei auch bei höheren Prognosefehlern und entsprechenden Prognoseaktualisierungen als überlegen, was für eine Überlegenheit einer Auftragsfreigabeplanung gegenüber reaktiven Verfahren auch bei unzuverlässigen Nachfrageprognosen spricht.

4 Produktionssteuerung Ausgangspunkt der Produktionssteuerung sind die freigegebenen Fertigungsaufträge mit gefordertem Fertigstellungstermin. Die Produktionssteuerung umfasst „das Ver­ anlassen, Überwachen und Sichern der Aufgabendurchführung hinsichtlich Menge, Ter­ min, Qualität und Kosten“ (Zäpfel 2001, S. 224; kursiv im Original). Die Schnittstelle zur Planung und damit der genaue Aufgabenumfang der Steuerung hängt von der Po­ sitionierung der Maschinenbelegungsplanung im PPS-System ab. Wenn wir, wie bei der Betrachtung der Auftragsfreigabe als Entscheidungsproblem unterstellt, von ei­ ner dezentralen Maschinenbelegungsplanung ausgehen, so ist die Erstellung der Ma­ schinenbelegungspläne, die in der Realität häufig sehr eng mit der laufenden Umpla­ nung als Reaktion auf Störereignisse verzahnt ist, als Teil der Produktionssteuerung zu betrachten. Dies führt unmittelbar zur kybernetischen Betrachtung, bei der die Pro­ duktionssteuerung als Regler auftritt, der für den realen Prozess (Fertigungsablauf) Sollwerte vorgibt, den Istzustand laufend überwacht und bei Soll/Ist-Abweichungen entsprechende Korrekturmaßnahmen trifft (vgl. ausführlicher Zäpfel 1982, S. 240 ff.). Der Begriff der Fertigungsregelung (vgl. Wiendahl 1997), der auch die Auftragsfreigabe umfasst, wird diesem Sachverhalt vielleicht besser gerecht.

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4.1 Kurzfristige Feinterminierung – Planung der Maschinenbelegung Das Planungsproblem der Planungsstelle (Disponentenebene) innerhalb eines Pro­ duktionsbereichs lässt sich folgendermaßen veranschaulichen: Gegeben sind die frei­ gegebenen Fertigungsaufträge mit deren Soll-Endterminen, allen nötigen Arbeitsope­ rationen und den technologischen Vorgangsfolgen. Ebenfalls ist der Status der Ma­ schinen zum Planungszeitpunkt gegeben (z. B. leer/belegt/rüsten/gestört) sowie der Status aller Fertigungsaufträge. Man kann mit guter Näherung davon ausgehen, dass jeder Auftrag gerade bearbeitet wird oder logisch in der Warteschlange vor einem Ar­ beitssystem steht. Ist der Transport zwischen zwei Arbeitsoperationen ein relevanter Engpass, so ist der Transportvorgang als Arbeitsoperation zu betrachten. Darauf aufbauend sind die Arbeitsoperationen der freigegebenen Fertigungs­ aufträge den Anlagen beziehungsweise Arbeitsplätzen zuzuordnen, falls mehrere parallel vorhanden sind (Zuordnung), die Arbeitsoperationen an den Anlagen zu reihen (Reihenfolgeplanung, also Festlegung der organisatorischen Arbeitsvorgangs­ folge) und deren genaue Beginn- und Endtermine festzulegen (Feinterminierung). Der resultierende Belegungsplan lässt sich übersichtlich als Gantt-Diagramm darstellen. Abbildung 3 zeigt ein solches Diagramm für den Produktionsabschnitt Stahlerzeu­ gung – Strangguss eines Stahlwerks. Bei der Belegungsplanung können unterschiedliche, teilweise konfliktäre Ziele verfolgt werden, etwa Minimierung der Makespan³, Minimierung der mittleren Durch­ laufzeit oder Maximierung der (geeignet operationalisierten) Termintreue (zu den Zielen der Belegungsplanung vgl. Zäpfel 2001, S. 204 ff.). Die Ermittlung des für ein bestimmtes Ziel optimalen Belegungsplans ist mit wenigen Ausnahmen NP-schwer, d. h. ein schweres Problem im Sinn der Komplexitätstheorie (zu den Komplexitätsbe­ trachtungen vgl. Leung 2004; Pinedo 2012, S. 589 ff.). Mathematisch optimale Lösun­ gen sind für reale Problemstellungen daher meist nicht ermittelbar. Die Literatur zur Maschinenbelegungsplanung (Detailed Scheduling), speziell zu Modelltypen sowie exakten und heuristischen Lösungsverfahren, ist überaus umfangreich. Nachdem sich die Probleme je nach konkreter Situation sehr unterschiedlich stellen können, sind verschiedene Modelltypen zu unterscheiden. Wichtig ist insbesondere eine Typi­ sierung nach Materialflussstruktur, wobei Job Shops (technologische Vorgangsfolge für die Aufträge ist im Allgemeinen unterschiedlich) und Flow Shops (identische Vor­ gangsfolge für alle Aufträge) markante Strukturen darstellen. Für einen umfassenden Überblick siehe etwa Pinedo (vgl. Pinedo 2012).

3 Unter der Makespan versteht man die Zeitspanne zur Abarbeitung einer gegebenen Menge von Fer­ tigungsaufträgen, also von Beginn des ersten bis zum Ende des letzten Arbeitsvorgangs. Dabei wird üblicherweise eine statische Planungssituation unterstellt, d. h. alle betrachteten Fertigungsaufträge sind zum Planungszeitpunkt vorhanden. Dies ist Äquivalent zum Ziel Maximierung der Kapazitäts­ auslastung, sofern die Produktionsreihenfolge keinen Einfluss auf die Operationszeiten hat.

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Abb. 3: Belegungsplan für den Produktionsabschnitt Stahlerzeugung-Strangguss eines Stahlwerks (vgl. Missbauer/Hauber/Stadtler (2009)).

Zur heuristischen Lösung realer Problemstellungen können verschiedene Verfahren herangezogen werden, etwa Metaheuristiken wie z. B. Simulated Annealing oder ge­ netische Algorithmen (vgl. Pinedo 2012; Morton/Pentico 1993). Sehr wichtig sind Prio­ ritätsregeln, die innerhalb eines geeigneten Verfahrens, das die Arbeitsoperationen sequentiell einplant (etwa des Verfahrens von Giffler und Thompson; vgl. Zäpfel 2001, S. 212 ff.), anzuwenden sind. Falls mehrere Arbeitsvorgänge an der gleichen Kapazi­ tätseinheit in Konflikt stehen, sich also die gewünschten Bearbeitungstermine über­ schneiden, wird anhand der Prioritätsregeln über die Produktionsreihenfolge an die­ ser Kapazitätseinheit entschieden, was auch die frühestmöglichen Beginn- und End­ termine bestimmt. Prioritätsregeln können statische Merkmale heranziehen, etwa die KOZ-Regel, bei der die Arbeitsoperation mit der kürzesten Operationszeit des betrach­ teten Arbeitsgangs priorisiert wird, oder dynamische Merkmale, die sich mit dem Fer­ tigungsfortschritt beziehungsweise dem Zeitablauf ändern. Ein Beispiel für Letzte­ res ist die Schlupfzeitregel, die den Arbeitsgang mit der geringsten Schlupfzeit, de­ finiert als Zeit bis zum Fälligkeitstermin abzüglich noch abzuarbeitender Operations­ zeit, priorisiert. Beim Arbeiten mit Prioritätsregeln ist die Zielfunktion nicht explizit definiert, sondern implizit in der Prioritätsregel enthalten. Simulationsstudien, die

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die Wirkung unterschiedlicher Prioritätsregeln auf die relevanten Ziele der Maschi­ nenbelegungsplanung ermitteln, wurden in großem Umfang durchgeführt (vgl. Pan­ walkar/Iskander 1977; Pinedo 2012, S. 376 ff.). Einige zentrale Erkenntnisse dieser Stu­ dien sind leicht nachvollziehbar. So schneidet etwa die Schlupfzeitregel beim Ziel Ma­ ximierung der Termintreue sehr gut ab, was zu erwarten ist, da sie terminmäßig drin­ gende Aufträge priorisiert. Die KOZ-Regel ist sehr gut bezüglich des Ziels Minimierung der mittleren Durchlaufzeit; beim statischen Ein-Maschinen-Problem führt sie sogar zur optimalen Lösung (vgl. Morton/Pentico 1993, S. 62 ff.). Nachdem die KOZ-Regel die Dringlichkeit nicht berücksichtigt, schneidet sie dagegen bei der Termintreue tenden­ ziell schlecht ab. Menschliche Planer entscheiden häufig auf Basis eines umfangreichen Problem­ verständnisses beziehungsweise einer durch viel „Erfahrung“ erworbenen, oft nicht ohne weiteres explizierbaren Wissensbasis. Für den Implementierungserfolg einer algorithmengestützten Maschinenbelegungsplanung ist es oft entscheidend, dieses Wissen geeignet abzubilden, was aufwändig und methodisch schwierig ist. Missbau­ er/Hauber/Stadtler (2011) beschreiben ein solches Regelsystem für das Stahlwerk von Abbildung 3. Ein in der Prozessindustrie häufiger Sonderfall von Regeln zur Reihenfol­ geplanung sind Produktionszyklen aufgrund reihenfolgeabhängiger Rüstzeiten oder ähnlicher Beschränkungen. Ein Beispiel sind Walzwerke (Warmbreitbandstraßen) in der Stahlindustrie, bei denen nach Walzenwechsel zu Beginn eines Produktionszyklus einige Brammen von schmal auf breit gewalzt werden, um die Walzen aufzuwärmen („Warmup Section“), und anschließend im Hauptteil des Zyklus („Staple Section“) von breit auf schmal gewalzt wird, so dass ein „Sargmuster“ (Coffin Shape) entsteht. Innerhalb der Breitenklassen gibt es wiederum Subzyklen vor allem nach Härte und Dicke. Insgesamt ist die Regelbasis sehr komplex, umso mehr als nötigenfalls Aus­ nahmen zugelassen werden können und die Regeln damit teilweise „weich“ sind. Bei der IT-Unterstützung der Belegungsplanung sind elektronische Leitstände von großer Bedeutung (vgl. etwa Kurbel 2011, S. 362 f.), die dem Planer zu jedem Zeit­ punkt einen genauen Überblick über den Auftrags- und Ressourcenstatus geben und manuelle und/oder automatisierte Belegungsplanung unterstützen. Abbildung 3 zeigt die Benutzeroberfläche eines solchen Leitstands in der Stahlindustrie, die, wie häufig, an traditionelle Plantafeln angelehnt ist (Gantt-Diagramm; vgl. Pinedo 2012, S. 470 ff.). Leitstände können auch Module von ERP-Systemen oder Advanced Planning Systems sein, die entsprechende Funktionalität ist auch Bestandteil der Standarddefinition von Manufacturing Execution Systems (siehe Abschnitt 4.3).

4.2 Veranlassen der Planvorgaben Auf Basis der Belegungsplanung ist die Durchführung dieses Planes zu veranlassen; bei der hier unterstellten dezentralen Belegungsplanung kann diese auch als Teil der Veranlassung gesehen werden (vgl. Zäpfel 2001, S. 230). Nach der Belegungsplanung

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umfasst die Auftragsveranlassung zunächst die Verfügbarkeitsprüfung der benötigten Ressourcen sowie die termingerechte Bereitstellung der Produktionsfaktoren (Mate­ rialien, Werkzeuge, Vorrichtungen usw.) einschließlich der benötigten Daten, etwa Ar­ beitspläne oder NC-Programme, an den Arbeitssystemen. Nachdem diese Bereitstel­ lung einige Zeit dauern kann (z. B. Anforderung eines Krans zum Transport schwerer Arbeitsobjekte zum Arbeitssystem), sind die entsprechenden Vorlaufzeiten zu berück­ sichtigen. Erfolgt die Bereitstellung arbeitssystembezogen, so werden alle üblicherweise am Arbeitsplatz benötigten Produktionsfaktoren ständig dort bereitgehalten. Bei der auftragsbezogenen Bereitstellung werden auftragsbezogen die benötigten Produkti­ onsfaktoren am Arbeitsplatz bereitgestellt. Bei Mischformen wird eine Grundausstat­ tung an Produktionsfaktoren ständig am Arbeitsplatz bereitgehalten, auftragsspezi­ fische Produktionsfaktoren werden auftragsbezogen bereitgestellt (vgl. Zäpfel 2001, S. 231 f.). Eine wichtige Frage an der Schnittstelle zwischen Feinterminierung und Veran­ lassen sowie Überwachen des Produktionsvollzugs ist der Zentralisierungsgrad die­ ser Aufgaben innerhalb der Produktionsstelle. Diese Aufgaben können zentral auf der Ebene eines Leitstandes erfolgen oder dezentral etwa auf der Ebene der Meister, die für Teilbereiche der Produktionsstelle zuständig sind. Diese beiden Konzepte unter­ scheiden sich insbesondere darin, inwieweit die dispositiven Aufgaben von den fach­ lichen Aufgaben der Meister getrennt werden oder zu einem wesentlichen Teil dort angesiedelt sind. (Vgl. dazu die Ausführungen zur Aufgabenverteilung in Zäpfel 1982, S. 277 ff.)

4.3 Überwachen und Sichern des Produktionsvollzugs Aus der Maschinenbelegungsplanung ergeben sich Sollwerte für Beginn- und Endter­ mine der Arbeitsvorgänge und für den Bearbeitungsfortschritt über die Zeit. Die Ein­ haltung dieser Sollwerte ist laufend zu überwachen, um bei Soll/Ist-Abweichungen entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können. Dies erfordert die Kenntnis des aktuellen Zustands des Produktionssystems, insbesondere des Auftrags- und Anla­ genstatus, womit die Betriebsdatenerfassung (BDE) angesprochen ist. Zur BDE „ge­ hören alle Maßnahmen, die erforderlich sind, um die Betriebsdaten in maschinell verarbeitbarer Form am Ort ihrer Verarbeitung bereitzustellen“ (Roschmann 1996, zitiert nach Kurbel 2011, S. 386). Die Daten, z. B. Fertigstellungstermine und -men­ gen von Arbeitsvorgängen, können dabei manuell oder maschinell, etwa mittels Barcode oder RFID, erfasst werden. Die dadurch erreichbare umfassende Informati­ onstransparenz und die sich daraus ergebenden Steuerungs- beziehungsweise Re­ gelungsmöglichkeiten sind ein wesentlicher Aspekt einer im Rahmen von Industrie 4.0 diskutierten intelligenten Fabrik („Smart Factory“ beziehungsweise „Smart Ma­ nufacturing“; vgl. SmartFactoryKL 2017; Kusiak 2017). Wird der Anlagenzustand etwa

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im Rahmen von Prozessleitständen laufend automatisiert überwacht und entspre­ chend geregelt (als Beispiel seien die Öfen zum Aufheizen der Brammen vor dem Warmwalzen in der Stahlindustrie genannt), so ergeben sich die für die Produktions­ steuerung benötigten Daten aus diesen Systemen („Level 2“ gemäß ISA 2000, vgl. International Society of Automation 2000). Zu beachten ist, dass je nach Aufgabe ein zunehmender Detaillierungsgrad der erfassten Daten einem fallenden Grenznut­ zen unterliegen kann (vgl. Henrich et al. 2004). Ein BDE System „besteht aus der Hardware (oft Spezialhardware) und der Software, die erforderlich ist, um die BDE Aufgaben zu erbringen.“ (Kurbel 2011, S. 386). Betriebsdatenerfassung ist neben der Feinplanung der Fertigung eine wesentliche Funktionalität von Fertigungsmanage­ mentsystemen (Manufacturing Execution Systems, MES), die darüber hinaus noch Funktionalitäten zur Ressourcenverwaltung, Datenschnittstellen und Leistungsana­ lysen enthalten (vgl. Kletti 2007; Mönch 2016). Abweichungen vom geplanten Produktionsvollzug sind auf unvermutete Be­ einträchtigungen der Produktion zurückzuführen, die unter dem Begriff Störungen subsumiert werden. Störungen können sich dabei auf die Produktionsfaktoren, den Verlauf des Produktionsprozesses sowie auf das Produkt beziehen. Weiters ist zu unterscheiden zwischen der Primärstörung und Sekundärstörungen, die durch Stö­ rungsfortpflanzung aufgrund der Kopplung der Teilprozesse des Wertschöpfungs­ prozesses entstehen. Die Primärstörung kann endogen sein (z. B. Maschinenausfall) oder exogen, d. h. aus der Umwelt kommend (vgl. umfassender Buzacott et al. 2010, S. 111). Ebenfalls kann nach der Art des Produktionsfaktors, der die Störung verur­ sacht, in dispositions-, personal-, betriebsmittel- und materialbedingte Störungen unterschieden werden (vgl. Zäpfel 2001, S. 237 f.). Durch entsprechende Vorkehrun­ gen im Design und Betrieb der Produktion lassen sich Häufigkeit und Wirkung von Störungen verringern. Beispiele sind vorbeugende Instandhaltung von Anlagen, Qua­ litätskontrollen während des Fertigungsprozesses, um die Weitergabe defekter Stücke zu vermeiden („Quality at the source“) oder das Verlagern störungsanfälliger Prozesse an das Ende der Produktion, falls dies möglich ist (zur Variability Propagation vgl. Hopp/Spearman 2008, S. 278 ff.) Sofern eine Störung nicht schnell beseitigt werden kann, erfordert die Reakti­ on auf eine Störung eine Umplanung, bei der eine oder mehrere Teilentscheidungen der Maschinenbelegungsplanung, also Zuordnung, Reihenfolgeplanung und Termi­ nierung, geändert werden müssen. Je nach Produktionssystem kann dies zeitkritisch sein. Beispielsweise darf die Materialversorgung einer Stranggießanlage in der Stahl­ industrie nicht beziehungsweise nur für wenige Minuten unterbrochen werden, da sonst der Strang reißt und ein Wiederanfahren der Anlage nötig ist. Damit ist der The­ menkreis der Umplanung (Rescheduling) angesprochen. Umplanungen können ereignisorientiert oder periodisch durchgeführt werden. Im Prinzip kann als Reaktion auf eine Störung ein Neuaufwurf der Maschinenbele­ gungsplanung erfolgen, speziell dann, wenn diese weitgehend automatisiert ist. Da­ bei können Einfrierregeln sinnvoll sein, die bestimmte vorweg getroffene Entscheidun­

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gen über einen gewissen Zeitraum nicht mehr ändern. Hier ist etwa an die Zuordnung von Arbeitsoperationen zu parallelen Anlagen zu denken, wenn das Material bereits an der ursprünglich geplanten Anlage bereitgestellt wurde. Die Komplexität einer sol­ chen Planung entspricht weitgehend der einer Neuplanung, inklusive der Wissensin­ tensität und der damit verbundenen Probleme bei der Automatisierung. Speziell bei Umplanungen ist regelbasiertes Arbeiten, das ereignisbezogen (durch Störungsein­ tritt) ausgelöst wird, von großer Bedeutung. In diesem Fall bestimmen Planungsre­ geln, die nicht immer dokumentiert sind und häufig auf Sachkenntnis und Erfahrung der entsprechenden Disponenten beruhen, welche Maßnahmen in einem konkreten Fall zu ergreifen sind. So mag etwa bei einem Maschinenausfall ein zeitliches Ver­ schieben der betroffenen Arbeitsgänge unvermeidlich sein (es sei denn man könnte diese auf eine Ausweichmaschine verlagern), was wiederum technologisch nachfol­ gende Arbeitsoperationen verzögern kann. Ab einem bestimmten Punkt wird es unter Umständen sinnvoll sein, Reihenfolgevertauschungen durchzuführen, um dringende Fertigstellungstermine halten zu können. Ist eine Einhaltung von Produktionsvorga­ ben nicht mehr möglich, so sind diese auf der Planungsebene zu ändern, etwa die vorgegebenen Fertigstellungstermine oder die Zuordnung von Produktions- zu Kun­ denaufträgen. Der Suchraum wird also sukzessive erweitert (vgl. Buzacott et al. 2010, S. 113; zu den Änderungsebenen („modes“) vgl. Morton/Pentico 1993, S. 556 ff.). Im Vergleich zur sehr weit entwickelten Forschungstradition zur Maschinenbelegung im Sinne einer Neuplanung ist die Forschungstradition zur ereignisorientierten Umpla­ nung deutlich weniger umfangreich. Einen Überblick über relevante Literatur geben de Snoo et al. (2011) oder Aytug et al. (2005). Häufig handelt es sich dabei um einen stark von den auf dieser Dispositionsebene tätigen Personen getragenen Prozess, der oft mehrere beteiligte Stellen betrifft und deshalb sehr kommunikationsintensiv ist (vgl. die ausführliche Fallstudie in de Snoo et al. 2011). Eine (Teil-)Automatisierung der Umplanung zumindest für weniger schwierige Fälle, die aber einen erheblichen Prozentsatz der Störungen ausmachen können, könnte die Disponenten wesentlich entlasten und auch Unterschiede in der personel­ len Besetzung der Schichten ausgleichen, beispielsweise wenn Spezialisten während der Nachtschicht nicht anwesend sind. Eine solche Automatisierung beziehungsweise die Unterstützung der Disponenten durch einen Systemvorschlag erfordert die Abbil­ dung der entsprechenden Regelbasis zur Umplanung im System. Die Anwendung von Machine Learning (vgl. etwa Alpaydin 2014; Pinedo 2012, S. 491 ff.) zur automatisier­ ten Ableitung solcher Regeln könnte eine für die Zukunft interessante Richtung sein. Eine Möglichkeit ist das Protokollieren der in einem bestimmten Zeitraum aufgetrete­ nen Störungen, der getroffenen Maßnahmen und deren Konsequenzen, woraus sich sinnvolle Aktionen bei künftigen Störungen ableiten lassen. Dies entspricht der Logik des Case-Based Reasoning (vgl. Aytug et al. 2005, S. 89 f.; Aamodt/Plaza 1994). Der Aufwand zur Erstellung einer solchen Datenbasis kann allerdings problematisch sein. Bisher wurde impliziert, dass zunächst für einen gewissen Zeitraum ein Ma­ schinenbelegungsplan erstellt und dieser im Fall von Störereignissen geändert wird

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(Predictive-Reactive Scheduling; vgl. Aytug et al. 2005). Je nach der Dynamik der Planungssituation und damit der Häufigkeit von Störereignissen ist die relative Be­ deutung der Erstellung eines Maschinenbelegungsplans und der jeweiligen Umpla­ nungen unterschiedlich. In der Literatur wurde in Frage gestellt, ob in sehr dynami­ schen Planungssituationen Modelle zur Maschinenbelegungsplanung überhaupt das gleiche Entscheidungsproblem behandeln, dem sich Fertigungsdisponenten gegen­ übersehen (vgl. McKay/Safayeni/Buzacott 1988). Komplett reaktive Ansätze, die etwa auf Prioritätsregeln beruhen können, sind die Alternative (vgl. Aytug et al. 2005). Wichtig bei der Berücksichtigung von Unsicherheit bei der Belegungsplanung ist die Frage, wie man die unmittelbar anstehenden Entscheidungen so treffen kann, dass für die Zukunft entsprechende Anpassungsspielräume offen bleiben („Prinzip der kleinstmöglichen Bindung“; vgl. Buzacott et al. 2010, S. 189). Dies hängt mit der Robustheit des Belegungsplanes gegenüber Störungen („Schedule Robustness“; vgl. Pinedo 2012, S. 486 ff.) zusammen. Alle diese Aspekte sind in realen Planungssitua­ tionen zu berücksichtigen, weshalb die Tätigkeit der Disponenten („Scheduler“) sehr wissens- und kommunikationsintensiv und die Entscheidungssituation nicht ohne weiteres in einem Modell abbildbar ist (vgl. dazu McKay/Wiers 2004). Konsequenter­ weise setzt auch die Implementierung einer IT-Unterstützung, die Entscheidungsvor­ schläge liefert, eine sorgfältige Analyse der realen Entscheidungssituation und des relevanten Wissens in ihrer ganzen Vielschichtigkeit voraus. Hier ist noch ein weites Forschungsfeld offen.

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Florian Sahling

Dynamische Losgrößenplanung 1 2 3 4 5 5.1 5.2 5.3 6 6.1 6.2 6.3

7 7.1 7.2 8

Einleitung | 677 Merkmale von Losgrößenproblemen | 678 Übersicht über Modellformulierungen für dynamische Losgrößenprobleme mit Kapazitätsrestriktionen | 679 Das Grundproblem der dynamischen kapazitätsbeschränkten Losgrößenplanung – Das Capacitated Lot Sizing Problem (CLSP) | 681 Einstufige Losgrößen- und Reihenfolgeplanung bei Fließproduktion | 682 Merkmale der Losgrößen- und Reihenfolgeplanung bei Fließproduktion | 682 Das Proportional Lot Sizing and Scheduling Problem (PLSP) | 683 Das General Lot Sizing and Scheduling Problem (GLSP) | 684 Mehrstufige Losgrößenplanung bei Werkstattproduktion | 686 Merkmale der Losgrößenplanung bei Werkstattproduktion | 686 Das Multi-Level Capacitated Lot Sizing Problem (MLCLSP) | 687 Erweiterung des MLCLSP um den Erhalt des Rüstzustandes – Das Multi-Level Capacitated Lot Sizing Problem with Linked Lot Sizes (MLCLSP-L) | 688 Lösungsansätze für dynamische kapazitätsbeschränkte Losgrößenprobleme | 690 Überblick | 690 Die Fix-and-Optimize-Heuristik nach Helber und Sahling (2010) | 691 Ausblick | 692 Literatur | 692

Zusammenfassung. Für die Vorbereitung der Fertigung von unterschiedlichen Pro­ duktarten auf einer Produktionsanlage ist häufig ein Rüstvorgang erforderlich. Wenn durch diesen Rüstvorgang Rüstzeiten und/oder Rüstkosten verursacht werden, muss ein Losgrößenproblem betrachtet werden. In diesem Beitrag werden ausgewählte mathematische Modellformulierungen für die dynamische Losgrößenplanung bei kapazitätsbeschränkten Produktionsanlagen vorgestellt. Dabei liegt der Fokus auf der Losgrößenplanung bei Fließproduktion und Werkstattproduktion. Als flexibler Lösungsansatz auf Basis der mathematischen Programmierung wird die Fix-andOptimize-Heuristik von Helber und Sahling (2010) beschrieben.

https://doi.org/10.1515/9783110473803-036

Dynamische Losgrößenplanung | 677

1 Einleitung Die Fertigung mehrerer Produktarten auf einer Produktionsanlage erfordert häufig einen Rüstvorgang, durch den die Produktionsanlage für die Herstellung einer Pro­ duktart vorbereitet wird. Sobald dieser Produktartwechsel Rüstzeiten und/oder Rüst­ kosten verursacht, entsteht ein sogenanntes Losgrößenproblem. Als Losgröße wird die Produktionsmenge einer Produktart bezeichnet, die auf einer Anlage ohne Unter­ brechung durch einen Rüstvorgang gefertigt wird. Zur Einsparung dieser Rüstkosten kann daher versucht werden, für jede Produktart Nachfragemengen mehrerer Peri­ oden zu einem größeren Los zusammenzufassen. Daraus würde ein Anstieg der La­ gerbestände resultieren, was mit höheren Lagerkosten einhergeht. Eine Senkung der Lagerkosten wäre möglich, wenn die Produktarten nachfragenah in kleineren Losen hergestellt werden. Dies würde dagegen zu einer Zunahme der Rüstkosten führen. So­ mit besteht bei der Losgrößenplanung ein Zielkonflikt aufgrund der gegenläufigen Entwicklung der Rüst- und Lagerkosten. Gesucht ist bei der Losgrößenplanung da­ her ein Produktionsplan, der die Gesamtkosten in der Regel bestehend aus Rüst- und Lagerkosten minimiert und die beschränkten Kapazitäten der Produktionsanlage ein­ hält. Im Rahmen eines kapazitätsorientierten Produktionsplanungs- und -steuerungs­ systems stellen Drexl et al. (1994, S. 1040) die Losgrößenplanung als Bindeglied zwi­ schen der kapazitätsbeschränkten Hauptproduktionsprogrammplanung und der Res­ sourceneinsatzplanung dar. Die in der industriellen Praxis vorzufindenden Losgrö­ ßenprobleme sind dabei abhängig vom Organisationstyp der Fertigung und somit vom unterstellten Produktionsprozess. Die unterschiedlichen Typen an Produktionssys­ temen haben einen wesentlichen Einfluss auf den Umfang sowie das Planungskon­ zept des zugrundeliegenden Losgrößenproblems. Bei der Fließproduktion erfolgt bei­ spielsweise die Losgrößen- und Reihenfolgeplanung simultan. Dagegen wird bei der Werkstattproduktion zunächst nur ein Produktionsplan bestimmt. Eine Disaggregati­ on dieses Produktionsplans in einen Maschinenbelegungsplan erfolgt erst in der sich anschließenden Ressourceneinsatzplanung. In diesem Abschnitt werden zunächst die Merkmale dynamischer Losgrößen­ probleme beschrieben (Abschnitt 2). Es folgt eine Übersicht über mathematische Modellformulierungen für die dynamische Losgrößenplanung bei Kapazitätsrestrik­ tionen (Abschnitt 3). In Abschnitt 4 wird eine grundlegende Modellformulierung für ein einstufiges kapazitätsbeschränktes Losgrößenproblem eingeführt. Aufbau­ end auf dieser Modellformulierung werden in Abschnitt 5 einstufige Losgrößen- und Reihenfolgeprobleme für die Fließproduktion erläutert. Es folgen mathematische Modellformulierungen für mehrstufige Losgrößenprobleme bei Werkstattproduktion in Abschnitt 6. Ein Überblick über heuristische Lösungsverfahren für kapazitätsbe­ schränkte Losgrößenprobleme wird in Abschnitt 7 gegeben. Es schließt sich ein kurzer Ausblick in Abschnitt 8 an.

678 | Florian Sahling

2 Merkmale von Losgrößenproblemen Losgrößenmodelle lassen sich unter anderem nach den Annahmen hinsichtlich der Zeitstruktur, des Informationsgrades sowie der Produkt- und Maschinenzahl klassi­ fizieren. In Bezug auf die zugrundeliegende Zeitstruktur wird in der Literatur zwi­ schen statischen und dynamischen Losgrößenmodellen unterschieden. Statische Los­ größenmodelle unterliegen der Annahme eines unendlich langen Planungshorizon­ tes mit einer im Zeitablauf konstanten Nachfragerate. Dabei wird eine kontinuierliche Zeitachse verwendet, die eine Losauflage zu jedem beliebigen Zeitpunkt erlaubt. Im Gegensatz dazu wird bei dynamischen Losgrößenmodellen von einer im Zeitablauf schwankenden Nachfrage ausgegangen und ein endlicher Planungshorizont unter­ stellt. Dieser Planungshorizont wird in diskrete Planungsperioden¹ unterteilt. Verein­ fachend ist eine Losauflage daher nur zu diskreten Zeitpunkten möglich. Darüber hinaus kann zwischen stochastischen und deterministischen Losgrößen­ modellen unterschieden werden. Bei stochastischen Modellen finden Unsicherheiten Berücksichtigung (vgl. z. B. Helber et al. 2018; Helber/Sahling/Schimmelpfeng 2013; Tempelmeier 2011), die z. B. hinsichtlich der Nachfrage, der Produktionsausbeute so­ wie der Kapazitäten hervorgerufen durch Maschinenausfälle auftreten können. Da­ gegen werden bei deterministischen Modellen die Modellparameter als mit Sicherheit bekannt angenommen. Um stochastischen Einflüssen weitgehend entgegenzuwirken, können in deterministischen Losgrößenmodellen z. B. Sicherheitsbestände und Puf­ fer integriert werden. Hinsichtlich der Produktanzahl kann zwischen Ein-Produkt- und Mehr-Produkt­ problemen differenziert werden. Ferner wird bei Mehr-Produktproblemen zwischen ein- und mehrstufigen Erzeugnisstrukturen unterschieden. Eine einstufige Erzeugnis­ struktur liegt vor, wenn keine Abhängigkeiten zwischen Vorgänger- und Nachfolger­ produkten existieren oder die bestehenden Abhängigkeiten außer Acht gelassen wer­ den. In diesem Fall werden nur die (End-) Produkte einer Fertigungsstufe betrach­ tet. Entsprechend liegt eine mehrstufige Erzeugnisstruktur vor, wenn die bestehenden Vorgänger-Nachfolger-Beziehungen explizit Berücksichtigung finden. Ferner kann hinsichtlich der Ressourcenanzahl zwischen Ein- und Mehr-Maschi­ nenproblemen unterschieden werden. Bei Mehr-Maschinenproblemen kann eine ein­ deutige Zuordnung der Produktarten auf die Maschinen vorliegen. Im Fall paralleler Ressourcen ist keine eindeutige Zuordnung der Produktarten zu den Maschinen mög­ lich, da die Produktarten auf unterschiedlichen Maschinen gefertigt werden können. Bei Losgrößenproblemen muss die Kapazität des Produktionssystems berück­ sichtigt werden, sofern diese einen Engpass bei der Fertigung darstellt. Dabei stellt die verfügbare Periodenkapazität eine Obergrenze für die maximale Nutzungszeit dar, die sich gegebenenfalls durch den Einsatz von Zusatzkapazitäten in Form von Über­ 1 In der englischsprachigen Literatur werden diese Planungsperioden als Buckets bezeichnet. (vgl. z. B. Eppen/Martin 1987, S. 831 f.).

Dynamische Losgrößenplanung |

679

stunden erweitern lässt. Für die Herstellung der Produktarten werden Nutzungszeiten auf den Ressourcen berücksichtigt, welche die vorhandene Kapazität verringern. Da­ bei wird zwischen Stückbearbeitungs- und Rüstzeiten differenziert. Als Stückbearbei­ tungszeit wird die Zeitspanne bezeichnet, die für die Herstellung einer Mengeneinheit (ME) einer Produktart erforderlich ist. Bei einem Rüstvorgang von einer Produktart auf eine andere können unter Umständen Rüstzeiten auftreten. Die Rüstzeit entspricht der Zeitspanne für die Durchführung vorbereitender Maßnahmen zur Herstellung der nachfolgenden Produktart. Dazu zählen beispielsweise Werkzeugwechsel, Reini­ gungs- und Justierungsprozesse. Bei der Losgrößenplanung soll ein Produktionsplan bestimmt werden, der die an­ fallenden Gesamtkosten minimiert. Die Gesamtkosten können unter anderem Lager­ haltungs-, Rüst-, Produktions- und Überstundenkosten beinhalten. Die Kosten für die Lagerung einer Produktart lassen sich vom Lagerbestand am Ende einer Periode be­ wertet mit einem Lagerkostensatz ableiten, der vorrangig aus Kapitalbindungskosten besteht. Bei einem Rüstvorgang von einer Produktart auf eine andere können von der Produktionsmenge unabhängige Rüstkosten auftreten. Diese können neben Kosten für den Verbrauch von Einsatzfaktoren, z. B. in Form von Schmierstoffen oder Reini­ gungsmitteln, auch Opportunitätskosten beinhalten, sofern innerhalb der Kapazitäts­ restriktionen keine Rüstzeiten berücksichtigt werden. Mit Hilfe dieser Opportunitäts­ kosten soll der durch einen Rüstvorgang entgangene Nutzen bewertet werden. Dar­ über hinaus müssen variable Produktionskosten betrachtet werden, wenn diese sich im Zeitablauf ändern und/oder unabhängig von der ausgewählten Produktionsanlage sind.

3 Übersicht über Modellformulierungen für dynamische Losgrößenprobleme mit Kapazitätsrestriktionen Anfang des vergangenen Jahrhunderts wurde von Harris (1913) unter der Fragestel­ lung „How many parts to make at once?“ ein erstes statisches Losgrößenproblem mit einer konstanten Nachfragerate für eine Produktart beschrieben. Die von Wagner und Whitin (1958) eingeführte Modellformulierung für ein einstufiges dynamisches Los­ größenproblem ohne Kapazitätsrestriktionen (SLULSP, engl.: Single-Level Uncapaci­ tated Lot Sizing Problem) bildet darüber hinaus die Grundlage für zahlreiche weitere Modellformulierungen. Bei den Modellformulierungen für dynamische Losgrößenprobleme mit einem endlichen Planungshorizont wird zwischen Small-Bucket- und Big-Bucket-Modellen unterschieden. Bei Small-Bucket-Modellen ist in jeder Periode maximal ein Rüstvor­ gang erlaubt, so dass abhängig von der jeweiligen Modellformulierung innerhalb einer Periode bis zu zwei Produktarten gefertigt werden können. Bedingt durch diese

680 | Florian Sahling

Annahme wird in der Regel eine relativ kurze Periodenlänge unterstellt. Daher werden die Perioden auch als Mikroperioden bezeichnet. Dagegen kann bei den Big-BucketModellen innerhalb einer Periode theoretisch für jede Produktart ein Los aufgelegt werden. Analog werden die Perioden auch als Makroperioden bezeichnet, da die Periodenlänge im Vergleich zu den Small-Bucket-Modellen deutlich länger ist. Bei einigen Modellformulierungen ist die Möglichkeit der Rüstzustandsübertra­ gung auf einer Ressource in nachfolgende Perioden ausgeschlossen. In diesem Fall wird die Produktionsanlage am Ende einer Periode in einen sogenannten Nullzustand zurückgesetzt. Somit ist auch dann zu Beginn der nachfolgenden Periode ein erneu­ ter Rüstvorgang notwendig, wenn eine Produktart in zwei nachfolgenden Perioden hergestellt wird. Dagegen kann bei anderen Modellformulierungen der Rüstzustand einer Produktart auf einer Produktionsanlage in der nachfolgenden Periode erhalten bleiben. Die Fertigung dieser Produktart kann dann ohne zusätzlichen Rüstvorgang in nachfolgenden Perioden fortgesetzt werden. Bedingt durch die Annahme, dass in jeder Mikroperiode jeweils maximal ein Rüst­ vorgang erfolgen kann, wird die Produktionsreihenfolge bei den Small-Bucket-Model­ len aufgrund der detaillierten Modellierung der Zeit modellendogen bestimmt. Da­ gegen wird die Produktionsreihenfolge bei Big-Bucket-Modellen häufig erst in einem nachfolgenden Planungsschritt bestimmt. Lediglich für den Fall reihenfolgeabhängi­ ger Rüstvorgänge erfolgt die Losgrößen- und Reihenfolgeplanung simultan. In diesem Fall sind die Rüstzeiten und/oder -kosten für eine Produktart abhängig von der zuvor gefertigten Produktart. Zu den Big-Bucket-Modellen mit Makroperioden zählt im einstufigen Fall unter anderem das Capacitated Lot Sizing Problem (CLSP). Varianten für das CLSP mit der Möglichkeit der Rüstübertragung beschreiben unter anderem Haase (1994) sowie Sü­ rie und Stadtler (2003). Modellformulierungen mit reihenfolgeabhängigen Rüstvor­ gängen basierend auf dem CLSP werden unter anderem von Haase (1996) und Alma­ da-Lobo et al. (2007) vorgestellt. Zu den Small-Bucket-Modellen mit Mikroperioden zählen beispielsweise im ein­ stufigen Fall das Discrete Lot Sizing and Scheduling Problem (DLSP) von Fleischmann (1990, 1994), das Continuous Lot Sizing and Scheduling Problem (CSLP) von Kar­ markar und Schrage (1985) sowie das Proportional Lot Sizing Problem (PLSP) nach Drexl und Haase (1995). Bei diesen Modellformulierungen ist jeweils eine Rüstüber­ tragung in nachfolgende Perioden möglich. Bei den Losgrößenproblemen mit Reihenfolgeplanung stellt das General Lot Si­ zing and Scheduling Problem (GLSP) nach Fleischmann und Meyr (1997) und Meyr (1999) einen Sonderfall dar. Dieses Modell kann als hybrides Modell aufgefasst wer­ den, da Makroperioden betrachtet werden, die jedoch intern in Mikroperioden aufge­ teilt werden. Neben den genannten werden in der Literatur zahlreiche weitere Modellformulie­ rungen für die dynamische Losgrößenplanung vorgestellt. Brahimi et al. (2006, 2017) geben einen Überblick über Ein-Produktprobleme. Darüber hinaus stellen Quadt und

Dynamische Losgrößenplanung | 681

Kuhn (2008) zahlreiche Erweiterungen für das CLSP vor. Drexl und Kimms (1997) so­ wie Copil et al. (2017) geben einen umfassenden Überblick über Modellformulierun­ gen für Probleme der simultanen Losgrößen- und Reihenfolgeplanung.

4 Das Grundproblem der dynamischen kapazitätsbeschränkten Losgrößenplanung – Das Capacitated Lot Sizing Problem (CLSP) Eine Erweiterung des SLULSP um Kapazitätsrestriktionen stellt das CLSP dar. Das CLSP basiert auf den nachfolgenden Modellannahmen (vgl. z. B. Trigeiro/Thomas/ McClain 1989): – Auf einer Ressource, z. B. eine Maschine oder Produktionsanlage, können meh­ rere unterschiedliche Produktarten (k = 1, . . ., K) hergestellt werden. – Der endliche Planungshorizont ist unterteilt in insgesamt T Makroperioden (t = 1, . . . , T). – Der gegebene Primärbedarf d kt nach Produktart k in Periode t muss vollständig befriedigt werden, wobei Fehlmengen nicht erlaubt sind. – Innerhalb einer Periode t gibt es keine Beschränkungen hinsichtlich der zu ferti­ genden Produktarten, solange die Periodenkapazität c t der Ressource eingehal­ ten wird. Somit zählt das CLSP zu den Big-Bucket-Modellen. – Für die Herstellung der Produktart k in Periode t ist ein Rüstvorgang erforderlich, der Rüstkosten sc k und -zeiten st k hervorruft. Ein Erhalt des Rüstzustandes in nachfolgende Perioden ist nicht zulässig. – Durch die Lagerung einer Mengeneinheit (ME) von Produktart k fallen Lagerkos­ ten hc k in jeder Periode an. – Gesucht ist ein Produktionsplan, der die Summe aus Lager- und Rüstkosten mi­ nimiert und die Kapazitätsbeschränkung der Ressource in jeder Periode ein­ hält. Notation für das CLSP Indizes: k Produktarten (k = 1, . . . , K) t Makroperioden (t = 1, . . . , T) Parameter: b kt hinreichend große Zahl für Produktart k in Periode t c t Kapazität der Ressource in Periode t d kt Primärbedarf von Produktart k in Periode t hc k Lagerkostensatz für die Lagerung einer ME von Produktart k je Periode pt k Stückbearbeitungszeit für Produktart k

682 | Florian Sahling

sc k Kosten für einen Rüstvorgang für Produktart k st k Rüstzeit für Produktart k Entscheidungsvariablen: Lagerbestand von Produktart k am Ende der Periode t I kt ≥ 0 Q kt ≥ 0 Produktionsmenge (Losgröße) von Produktart k in Periode t γ kt ∈ {0; 1} Binäre Rüstvariable, die den Wert 1 annimmt, wenn Produktart k in Pe­ riode t hergestellt wird, ansonsten den Wert 0 Mit der Notation kann das CLSP folgendermaßen mathematisch formuliert werden: Modell CLSP: K

T

min Z = ∑ ∑ (hc k ⋅ I kt + sc k ⋅ γ kt )

(1)

k=1 t=1

u. B. d. R. I k,t−1 + Q kt − I kt = d kt

∀k; t

(2)

∀t

(3)

∀k; t

(4)

K

∑ (pt k ⋅ Q kt + st k ⋅ γ kt ) ≤ c t k=1

Q kt ≤ b kt ⋅ γ kt

Die Zielfunktion (1) minimiert die Gesamtkosten bestehend aus Lager- und Rüstkos­ ten. Die Lagerbilanzgleichung (2) stellt sicher, dass die Nachfrage d kt von Produktart k in der Periode t vollständig befriedigt wird. Die Kapazitätsrestriktion (3) gewährleistet, dass die beschränkte Kapazität der Ressource in jeder Periode eingehalten wird. Die Restriktion (4) verknüpft die reellwertige Entscheidungsvariable Q kt mit der binären Rüstvariablen γ kt . Somit kann Produktart k in Periode t nur dann hergestellt werden (Q kt > 0), wenn ein Rüstvorgang in der entsprechenden Periode erfolgt (γ kt = 1). Andernfalls wird die Produktionsmenge Q kt auf den Wert 0 gezwungen (γ kt = 0).

5 Einstufige Losgrößen- und Reihenfolgeplanung bei Fließproduktion 5.1 Merkmale der Losgrößen- und Reihenfolgeplanung bei Fließproduktion Aufgrund der Anordnung der Produktionsanlagen nach dem Objektprinzip ist der Ma­ terialfluss bei Fließproduktion in der Regel klar strukturiert. Dabei wird häufig ein überschaubares Spektrum ähnlicher Produktarten (Produktfamilien, Sorten) auf einer Fließlinie hergestellt. Der mehrstufige Produktionsprozess erfolgt auf einer Fließlinie,

Dynamische Losgrößenplanung | 683

die in ihrer Gesamtheit für die herzustellende Produktart gerüstet sein muss und somit als planerische Einheit betrachtet werden kann. Daher reicht es häufig aus, einstufige Modellformulierungen für die Losgrößenplanung bei Fließproduktion zu betrachten. Die im Folgenden vorgestellten (Small-Bucket-)Modellformulierungen werden vorwie­ gend für den Bereich der Mehr-Produktfließproduktion verwendet.

5.2 Das Proportional Lot Sizing and Scheduling Problem (PLSP) Beim PLSP nach Drexl und Haase (1995) ist der Planungshorizont in S Mikroperioden (s = 1, . . ., S) unterteilt. In jeder Mikroperiode s ist maximal ein Rüstvorgang zuläs­ sig. Somit können in jeder Mikroperiode höchstens zwei unterschiedliche Produktar­ ten gefertigt werden, d. h. die erste vor sowie die zweite Produktart nach einem Rüst­ vorgang. Falls in einer Periode kein Rüstvorgang erfolgt, kann in dieser Periode aus­ schließlich die Produktart gefertigt werden, für die bereits am Ende der vorherigen Periode gerüstet war. Zusätzliche Notation für das PLSP Indizes: s Mikroperioden (s = 1, . . . , S) Entscheidungsvariablen: δ ks ∈ {0; 1} Binäre Rüstindikatorvariable, die den Wert 1 annimmt, wenn am Ende der Mikroperiode s für die Produktart k gerüstet ist, ansonsten den Wert 0 Für das PLSP wird die für das CLSP eingeführte und um den Mikroperiodenindex s mo­ difizierte Notation sowie die zusätzliche Notation für die binäre Rüstindikatorvariable δ ks verwendet: Modell PLSP: K

S

min Z = ∑ ∑ (hc k ⋅ I ks + sc k ⋅ γ ks )

(5)

k=1 s=1

u. B. d. R. I k,s−1 + Q ks − I ks = d ks

∀k; s

(6)

∀s

(7)

∀k; s

(8)

∀s

(9)

K

∑ (pt k ⋅ Q ks + st k ⋅ γ ks ) ≤ c s k=1

Q ks ≤ b ks ⋅ (δ k,s−1 + δ ks ) K

∑ δ ks ≤ 1 k=1

γ ks ≥ δ ks − δ k,s−1

∀k; s

(10)

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Die Zielfunktion (5) sowie die Lagerbilanzgleichung (6) und Kapazitätsrestriktion (7) wurden im Vergleich zum CLSP hinsichtlich der Berücksichtigung des Mikroperioden­ indexes s modifiziert. Laut Restriktion (8) ist eine Fertigung von Produktart k in der Mikroperiode s nur dann möglich, wenn entweder zu Beginn der Mikroperiode s für die Produktart (δ k,s−1 = 1) oder am Ende der Mikroperiode s für die Produktart ge­ rüstet ist (δ ks = 1). Bedingt durch die Nebenbedingung (9) kann zu Beginn einer Mi­ kroperiode s maximal für eine Produktart gerüstet sein. Die Restriktion (10) erzwingt einen Rüstvorgang (γ ks = 1) für Produktart k in Mikroperiode s, wenn zu Beginn nicht (δ k,s−1 = 0), jedoch am Ende dieser Mikroperiode s für diese Produktart gerüstet ist (δ ks = 1). Beim PLSP kann ein Rüstzustand für eine Produktart auch dann erhalten bleiben, falls diese in der entsprechenden Mikroperiode nicht hergestellt wird. Im Allgemeinen wirken sich bei Small-Bucket-Modellen aufgrund der modellen­ dogenen Bestimmung der Reihenfolge unvorhergesehene Planänderungen im Pro­ duktionsablauf erheblich auf den erstellten Produktionsplan aus, so dass in den meisten Fällen eine Neuplanung unausweichlich ist.

5.3 Das General Lot Sizing and Scheduling Problem (GLSP) Beim GLSP nach Meyr (1999) erfolgt eine Kombination aus einer starren exogenen Zeitstruktur, den Makroperioden, mit einer flexiblen endogenen Zeitstruktur, den Mi­ kroperioden. Dazu werden die Makroperioden in mehrere Mikroperioden unterteilt. Dabei ist nur die maximale Anzahl von nutzbaren Mikroperioden innerhalb einer Ma­ kroperiode t exogen vorgegeben. In jeder Mikroperiode kann maximal eine Produktart gefertigt werden, sofern eine Fertigung in einer Mikroperiode erfolgt. Die tatsächliche Länge einer Mikroperiode lässt sich modellendogen anhand der Rüst- und Bearbei­ tungszeiten der in der Mikroperiode hergestellten Produktart ableiten. Darüber hinaus sind in der vorgestellten Variante des GLSP zusätzliche Aspekte der Losgrößen- und Reihenfolgeplanung integriert. Dazu zählen unter anderem nichtidentische parallele Fließlinien und reihenfolgeabhängige Rüstvorgänge. Da sich die parallelen Fließlini­ en hinsichtlich der Produktionszeiten und -kosten unterscheiden können, werden die Produktionskosten beim GLSP explizit berücksichtigt. Zusätzliche Notation für das GLSP Indizes und Indexmengen: i, k Produktarten (i, k = 1, . . . , K) l Parallele Linien (l = 1, . . . , L) S t Menge der Mikroperioden, die Makroperiode t zugeordnet sind Parameter: c lt Kapazität der Linie l in Makroperiode t pc kl variable Produktionskosten von Produktart k auf Linie l pt kl Stückbearbeitungszeit für Produktart k auf Linie l

Dynamische Losgrößenplanung | 685

sc kl Kosten eines Rüstvorganges von Produktart i auf Produktart k auf Linie l st kl Dauer eines Rüstvorganges von Produktart i auf Produktart k auf Linie l Entscheidungsvariablen: Produktionsmenge von Produktart k auf Linie l in Mikroperiode s Q klt ≥ 0 γ iklt ∈ {0; 1} Binäre Rüstvariable, die den Wert 1 annimmt, wenn die Linie l zu Beginn der Mikroperiode s von Produktart i auf Produktart k gerüstet wird, an­ sonsten den Wert 0 δ klt ∈ {0; 1} Binäre Rüstzustandsvariable, die den Wert 1 annimmt, wenn die Linie l für Produktart k in Mikroperiode s gerüstet ist, ansonsten den Wert 0 Für das GLSP wird die oben angegebene Notation verwendet. Damit ergibt sich die folgende mathematische Modellformulierung: Modell GLSP: K

T

K

K

L

S

K

L

S

min Z = ∑ ∑ hc k ⋅ I kt + ∑ ∑ ∑ ∑ sc ikl ⋅ γ ikls + ∑ ∑ ∑ pc kl ⋅ Q kls k=1 t=1

i=1 k=1 l=1 s=1

(11)

k=1 l=1 s=1

u. B. d. R. L

I k,t−1 + ∑ ∑ Q kls − I kt = d kt

∀k; t

(12)

∀l; t

(13)

∀k; l; s

(14)

∀l; s

(15)

∀i ≠ k; l; s

(16)

l=1 s∈S t K

K

∑ ∑ (pt kl ⋅ Q kls + ∑ st ikl ⋅ γ ikls ) ≤ c lt k=1 s∈S t

i=1

Q kls ≤ b kls ⋅ δ kls K

∑ δ kls = 1 k=1

γ ikls ≥ δ il,s−1 + δ kls − 1

Mit der Zielfunktion (11) werden die Gesamtkosten minimiert, in denen neben den Lager- und reihenfolgeabhängigen Rüstkosten auch die linienspezifischen Produkti­ onskosten enthalten sind. Die Gleichung (12) stellt die Lagerbilanzgleichung dar, die für jede Makroperiode sicherstellt, dass die Periodennachfrage vollständig befriedigt wird. Mit der Kapazitätsrestriktion (13) wird gewährleistet, dass die Kapazität der Li­ nie l in jeder Makroperiode t eingehalten wird. Bedingt durch Restriktion (14) kann Produktart k auf der Linie l in Mikroperiode s nur gefertigt werden (Q kls > 0), wenn für diese Produktart in der entsprechenden Mikroperiode gerüstet ist (δ kls = 1). In jeder Mikroperiode s muss laut Bedingung (15) jede Linie l für genau eine Produktart gerüstet sein. Gemäß Restriktion (16) ist zu Beginn der Mikroperiode s auf der Linie l ein Rüstvorgang von Produktart i auf Produktart kerforderlich (γ ikls = 1), wenn die Linie l in der vorherigen Mikroperiode s − 1 für die Produktart i(δ il,s−1 = 1) und in der Mikroperiode s für die Produktart k gerüstet ist (δ kls = 1).

686 | Florian Sahling

6 Mehrstufige Losgrößenplanung bei Werkstattproduktion 6.1 Merkmale der Losgrößenplanung bei Werkstattproduktion Die Losgrößenplanung bei Werkstattproduktion unterscheidet sich von der bei Fließ­ produktion sowohl hinsichtlich der Struktur und Rahmenbedingungen der Produktionsprozesse als auch der Struktur des Planungsprozesses. Ein Werkstattproduktionssystem ist nach dem Funktionsprinzip angeordnet. Den unterschiedlichen Werk­ stätten sind jeweils ähnliche oder identische Ressourcen zugeordnet, die ähnliche Operationen an den Werkstücken durchführen. Diese Operationen werden als Ar­ beitsgänge bezeichnet. Dabei wird durch den Arbeitsplan festgelegt, in welcher Rei­ henfolge die Arbeitsgänge an den jeweiligen Ressourcen durchgeführt werden. Daraus ergibt sich der Weg der Werkstücke durch das Werkstattproduktionssystem. Aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen Produktarten ergibt sich im Vergleich zur Fließpro­ duktion ein eher unstrukturierter Materialfluss. Allerdings besitzt dieses System den Vorteil größtmöglicher Flexibilität. In der betrieblichen Praxis erfolgt die Losgrößenplanung vielfach auf der Basis der Produktarten, die das Ergebnis der Durchführung mehrerer Arbeitsgänge an ei­ nem Werkstück darstellen. Diese Vorgehensweise ist bei der Fließproduktion auch zweckmäßig, da die gesamte Fließlinie, wie in Abschnitt 5.1 erläutert, als planerische Einheit betrachtet werden kann. Diese Vorgehensweise würde allerdings im Rahmen einer Werkstattproduktion zu unzulässigen Produktionsplänen führen, da keine ein­ deutige Zuordnung zu einer einzelnen Ressource möglich ist. Daher muss die Ent­ scheidung über die Ressourcenbelegung auf Basis der Arbeitsgänge erfolgen, und ein mehrstufiges Losgrößenproblem entsteht. Im Sinne einer einheitlichen Sprachrege­ lung werden nachfolgend die Ergebnisse der Arbeitsgänge als Produkte bezeichnet, die einer Ressource eindeutig zugeordnet werden können. Auf Arbeitsgangsbasis kann der Erzeugniszusammenhang in einer Stückliste (engl. Bill of materials, BOM) dargestellt werden. Innerhalb einer mehrstufigen Er­ zeugnisstruktur kann zwischen vier Vergenztypen der Produktion unterschieden werden. Bei einer seriellen Erzeugnisstruktur verfügt ein Produkt über höchstens ei­ nen direkten Vorgänger und einen direkten Nachfolger. Dagegen ist bei einer konver­ gierenden Erzeugnisstruktur nur die Anzahl der direkten Nachfolger für ein Produkt auf maximal ein Produkt beschränkt, dabei kann jedes Produkt beliebig viele direk­ te Vorgänger haben. Bei einer divergierenden Erzeugnisstruktur besitzt ein Produkt maximal einen direkten Vorgänger, während die Anzahl der direkten Nachfolger un­ beschränkt ist. Hinsichtlich der Anzahl direkter Nachfolger und Vorgänger gibt es für die Produkte einer generellen Erzeugnisstruktur keine Einschränkungen. Da bei der Werkstattproduktion die Produktionsmengen über mehrere Ressour­ cen in verschiedenen Werkstätten koordiniert werden müssen, vergrößert sich der

Dynamische Losgrößenplanung | 687

Planungsaufwand im Vergleich zur Fließproduktion erheblich. Darüber hinaus ist die Komplexität der Produktionsprozesse in der Werkstattproduktion bedingt durch die produktspezifischen Materialflüsse größer als bei der Fließproduktion. Somit wird bei der Losgrößenplanung bei Werkstattproduktion häufig auf eine simultane Reihenfol­ geplanung verzichtet. Darüber hinaus kann der Planungsaufwand teilweise verringert werden, wenn die Planung mit einem gröberen Zeitraster auf Basis von Makroperi­ oden erfolgt.

6.2 Das Multi-Level Capacitated Lot Sizing Problem (MLCLSP) Zur Abbildung eines Losgrößenproblems bei Werkstattproduktion kann das mehrstu­ fige kapazitätsbeschränkte Losgrößenproblem (MLCLSP, engl. Multi-Level Capacita­ ted Lot Sizing Problem) von Billington, McClain und Thomas (1986) herangezogen werden. Beim MLCLSP handelt es sich um die mehrstufige Variante des CLSP. Bedingt durch den mehrstufigen Produktionsprozess kann die produzierte Menge eines Pro­ duktes statt zur Deckung des Primärbedarfes auch für die Befriedigung des Sekun­ därbedarfes herangezogen werden, d. h. zur Herstellung eines anderen Produktes, in welches ein Vorgängerprodukt direkt eingeht. Da beim MLCLSP die Reihenfolgeplanung wie beim CLSP erst in einem nachfol­ genden Planungsschritt erfolgt, müssen alle Vorgängerprodukte zum Periodenbeginn hergestellt sein. Dies wird mit Hilfe einer Vorlaufverschiebung sichergestellt. Wenn von Produkt k eine bestimmte Menge in Periode t produziert wird, so steht diese erst nach einer Vorlaufverschiebung von vp k Perioden, d. h. in Periodet + vp k , für die Pro­ duktion der direkten Nachfolger k ∈ N k oder zur Bedarfsbefriedigung zur Verfügung. Zusätzliche Notation für das MLCLSP Indizes und Indexmengen: m Maschinen (m = 1, . . . , M) k ∈ K m Menge der Produkte, die auf Maschine m produziert werden i ∈ N k Menge der direkten Nachfolger von Produkt k, d. h. Menge der Produkte, in welche Produkt k laut Erzeugnisstruktur unmittelbar eingeht Parameter: db ki Direktbedarfskoeffizient der Produkte k und i, d. h. erforderliche Anzahl von Pro­ dukt k für die Herstellung einer ME von Produkt i vp k Mindestvorlaufverschiebung von Produkt k Für die Modellformulierung des MLCLSP nach Billington, McClain und Thomas (1986) wird die oben angegebene zusätzliche Notation verwendet. Modell MLCLSP: K

T

min Z = ∑ ∑ (hc k ⋅ I kt + sc k ⋅ γ kt ) k=1 t=1

(1)

688 | Florian Sahling

u. B. d. R. I k,t−1 + Q k,t−vp k − ∑ db ki ⋅ Q it − I kt = d kt

∀k; t

(17)

∀m; t

(18)

∀k; t

(4)

i∈N k

∑ (pt k ⋅ Q kt + st k ⋅ γ kt ) ≤ c mt k∈K m

Q kt ≤ b kt ⋅ γ kt

Beim MLCLSP ist eine Anpassung der Zielfunktion (1) und Restriktion (4) nicht er­ forderlich. Durch die Lagerbilanzgleichung (17) wird gewährleistet, dass neben dem Primärbedarf auch der Sekundärbedarf vollständig befriedigt wird. Außerdem wird durch die Berücksichtigung der Vorlaufverschiebung vp k sichergestellt, dass Produk­ tionsmengen Q kt nur dann in Periode t eingeplant werden, wenn auch die einzuset­ zenden Mengen der Vorgängerprodukte bereitstehen. Es folgt die ressourcenspezifi­ sche Kapazitätsrestriktion (18). Beim (ML)CLSP werden zunächst nur die Produktionsmengen für die jeweiligen Perioden festgelegt. Somit ist die Reihenfolge der Produktionsaufträge in einer Pe­ riode flexibel und die Festlegung der Bearbeitungsreihenfolge erfolgt erst in einem nachfolgenden Planungsschritt. Ein Vorteil dieser Big-Bucket-Modelle liegt somit dar­ in, dass die ermittelten Produktionspläne robuster gegenüber Veränderungen sind. Beim (ML)CLSP ist es daher möglich, einen Teil der Produktionskapazität für mögli­ che Planveränderungen zu reservieren, die durch Eilaufträge oder Maschinenausfäl­ le hervorgerufen werden können. Dadurch können kurzfristig Anpassungen für eine einzelne Periode und Ressource vorgenommen werden, ohne den Produktionsplan komplett anpassen zu müssen.

6.3 Erweiterung des MLCLSP um den Erhalt des Rüstzustandes – Das Multi-Level Capacitated Lot Sizing Problem with Linked Lot Sizes (MLCLSP-L) Beim MLCLSP-L kann auf jeder Maschine der Rüstzustand für maximal ein Produkt über Periodengrenzen erhalten bleiben. Dabei erlaubt die vorgestellte Modellformu­ lierung eine mehrfache Rüstübertragung, d. h. der Rüstzustand eines Produktes kann über mehrere Perioden erhalten bleiben. In diesem Fall dürfen allerdings auf der ent­ sprechenden Maschine keine weiteren Rüstaktivitäten in diesen Perioden erfolgen. Neben einer zusätzlichen Binärvariablen δ kt für die Rüstübertragung wird eine Hilfs­ variable ν mt benötigt. Sobald auf Maschine m für mindestens ein Produkt in Periode t ein Rüstvorgang erfolgt, nimmt die Hilfsvariable ν mt den Wert 0 an. Wenn wiederum auf dieser Maschine m ausschließlich das Produkt gefertigt wird, dessen Rüstzustand aus der Vorperiode übernommen wurde, nimmt die Variable ν mt den Wert 1 an.

Dynamische Losgrößenplanung | 689

Zusätzliche Notation für das MLCLSP-L Entscheidungsvariablen: δ kt ∈ {0; 1} Binäre Rüstzustandsvariable, die den Wert 1 annimmt, wenn für Pro­ dukt k am Anfang der Periode t gerüstet ist, ansonsten den Wert 0 ν mt ∈ {0; 1} (Binäre) Hilfsvariable, die den Wert 1 annimmt, falls kein Rüstvorgang auf der Maschine m in Periode t erfolgt, ansonsten den Wert 0 Mit der zusätzlichen Notation lässt sich das MLCLSP-L nach Sürie und Stadtler (2003) und Tempelmeier und Buschkühl (2009) folgendermaßen mathematisch modellieren: Modell MLCLSP-L: K

T

min Z = ∑ ∑ (hc k ⋅ I kt + sc k ⋅ γ kt )

(1)

k=1 t=1

u. B. d. R. I k,t−1 + Q k,t−vp k − ∑ db ki ⋅ Q it − I kt = d kt

∀k; t

(17)

∀m; t

(18)

∀k; t

(4’)

∀m; t

(19)

∀k; t

(20)

δ kt + γ kt ≤ 1 + ν mt

∀m; k ∈ K m ; t

(21)

γ kt + ν mt ≤ 1

∀m; k ∈ K m ; t

(22)

i∈N k

∑ (pt k ⋅ Q kt + st k ⋅ γ kt ) ≤ c mt k∈K m

Q kt ≤ b kt ⋅ (γ kt + δ kt ) ∑ δ kt ≤ 1 k∈K m

γ k,t−1 ≥ δ kt − δ k,t−1

Für die Modellformulierung des MLCLSP-L können neben der Zielfunktion (1) auch die Nebenbedingungen (17) und (18) vom MLCLSP unverändert übernommen werden. Ei­ ne Anpassung ist bei Restriktion (4) erforderlich. Mit der modifizierten Restriktion (4’) ist auch dann eine Fertigung von Produkt k in Periode t möglich, wenn bereits zu Pe­ riodenbeginn der Rüstzustand für das Produkt vorliegt (δ kt = 1). Die Nebenbedin­ gung (19) bewirkt, dass in jeder Periode t der Rüstzustand für maximal ein Produkt auf der Maschine m erhalten bleibt. Durch die Restriktion (20) ist ein Rüstvorgang für Produkt k in Periode t − 1 not­ wendig, wenn zu Beginn der Periode t für das Produkt k gerüstet ist, dieser Rüstzu­ stand jedoch zu Beginn der Periode t−1 noch nicht vorlag. Mit der Restriktion (21) wird sichergestellt, dass ein Erhalt des Rüstzustandes von Periode t − 1 bis in Periode t + 1 nur dann zulässig ist, wenn in Periode t auf der Maschine m keine Rüstaktivitäten für andere Produkte erfolgen (ν mt = 1). Sobald in Periode t für mindestens ein Produkt k gerüstet wird (γ kt = 1), nimmt die Variable ν mt aufgrund der Nebenbedingung (22) den Wert 0 an. Somit ist in diesem Fall eine Rüstübertragung über mehrere Perioden auf der Maschine m ausgeschlossen.

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7 Lösungsansätze für dynamische kapazitätsbeschränkte Losgrößenprobleme 7.1 Überblick Florian, Lenstra und Kan (1980) zeigen, dass das CLSP zu der Klasse der NP-schweren Probleme gehört. Für diese Problemstellungen existieren keine Lösungsansätze, die alle Probleme dieser Klasse mit polynomialem Rechenaufwand exakt lösen können. Darüber hinaus scheitern Standardmethoden der mathematischen Programmierung bei der Lösung realistischer Probleme häufig an der Rechenzeit. Ferner ist der Nach­ weis einer zulässigen Lösung für das CLSP mit Rüstzeiten (st k > 0) NP-vollständig. Aus diesem Grund wurden in der Literatur zahlreiche (heuristische) Lösungsansätze für dynamische Losgrößenprobleme vorgestellt. Jans und Degraeve (2007) konzentrieren sich auf metaheuristische Ansätze zur Lösung von Losgrößen- und Reihenfolgeproblemen. Buschkühl et al. (2010) klassi­ fizieren Lösungsansätze für dynamische kapazitätsbeschränkte Losgrößenprobleme und geben einen umfassenden Überblick über Lösungsansätze für Big-Bucket-Model­ le. In ihrer Klassifikation differenzieren Buschkühl et al. (2010) diese Lösungsansätze folgendermaßen: – Ansätze der mathematischen Programmierung – Lagrange-Heuristiken – Dekompositions- und Aggregationsansätze – Metaheuristiken – problemspezifische Greedy-Heuristiken Ein großer Teil dieser Lösungsansätze basiert auf Verfahren der mathematischen Pro­ grammierung (MP). Insbesondere bei diesen sogenannten MP-basierten Verfahren wird zwischen exakten Verfahren und Heuristiken differenziert. Exakte Verfahren konvergieren gegen ein existierendes Optimum, jedoch geht die Bestimmung der op­ timalen Lösung häufig mit einem sehr hohen Rechenaufwand einher. Diese exakten Verfahren bilden die Grundlage für MP-basierte Heuristiken. Diese sollen möglichst in kurzer Zeit eine gute Lösung in der Nähe des Optimums erzeugen. Dabei werden häu­ fig nur Teile des Lösungsraums untersucht. Ein Vorteil dieser MP-basierten Verfahren liegt darin, dass diese im Gegensatz zu problemspezifischen Heuristiken häufig ohne größeren Aufwand auch zur Lösung von Modellerweiterungen herangezogen werden können. Zu den MP-basierten Verfahren gehört die sogenannte Fix-and-OptimizeHeuristik (F&O-Heuristik), die im folgenden Abschnitt näher erläutert wird.

Dynamische Losgrößenplanung |

691

7.2 Die Fix-and-Optimize-Heuristik nach Helber und Sahling (2010) Helber und Sahling (2010) und Sahling (2010) beschreiben eine F&O-Heuristik zur Lösung des MLCLSP. Die Idee der F&O-Heuristik besteht darin, iterativ das Ausgangs­ problem in Unterprobleme zu zerlegen. In jedem Unterproblem werden die binären Rüstvariablen in zwei disjunkte Teilmengen unterteilt. Die erste Teilmenge enthält die auf den Wert einer vorherigen Iteration fixierten Binärvariablen. Die zweite Teil­ menge beinhaltet die Binärvariablen, die im aktuellen Unterproblem optimal gelöst werden sollen. Dabei werden die Teilmengen so ausgewählt, dass stets das Gros der binären Rüstvariablen innerhalb eines Unterproblems fixiert ist. Für die übrigen binä­ ren und reellwertigen Entscheidungsvariablen wird jeweils die optimale Ausprägung für das aktuelle Teilproblem mit einem Standardsolver, wie z. B. CPLEX, bestimmt. Es wird versucht, die Anzahl der optimal zu lösenden Binärvariablen innerhalb eines Unterproblems so gering zu halten, dass eine optimale Lösung dieser Teilprobleme in akzeptabler Zeit möglich ist. Anschließend erfolgt die Fixierung der optimal gelösten Binärvariablen und eine neue Teilmenge der im nachfolgenden Unterproblem optimal zu lösenden Binärvariablen wird bestimmt. Helber und Sahling (2010) starten mit einer einfachen Startlösung für das ML­ CLSP. Bei dieser Startlösung kann jedes Produkt in jeder Periode produziert werden (γ kt = 1, ∀k; t). Durch die Auswahl wechselnder optimal zu lösender Binärvariablen innerhalb der Unterprobleme werden iterativ unattraktive Rüstvorgänge eliminiert und somit die Lösung verbessert. Für die Auswahl der in einem Unterproblem optimal zu lösenden Binärvariablen stellen Helber und Sahling (2010) verschiedene Dekompositionsstrategien vor: 1. Produktorientierte Dekomposition: Innerhalb eines Unterproblems werden jeweils alle binären Rüstvariablen für ein Produkt über den gesamten Planungshorizont betrachtet und optimal gelöst. 2. Maschinenorientierte Dekomposition: Alle Produkte einer Maschine werden gleich­ zeitig betrachtet. Um die Anzahl gleichzeitig optimal zu lösender Binärvariablen zu beschränken, werden allerdings nur Rüstvariablen innerhalb eines vorgegebe­ nen Zeitfensters optimal gelöst. Dieses Zeitfenster wird solange verschoben, bis das Ende des Planungshorizontes erreicht ist. 3. Prozessorientierte Dekomposition: In jedem Unterproblem werden zwei Produkte mit einer Input-Output-Beziehung jeweils über die Hälfte des Planungshorizontes betrachtet und die zugehörigen Binärvariablen optimal gelöst. Durch die Kombination dieser Dekompositionsstrategien definieren Helber und Sah­ ling (2010) unterschiedliche Varianten der F&O-Heuristik. In numerischen Untersu­ chungen haben die Autoren gezeigt, dass die besten Ergebnisse durch Anwendung aller Strategien erreicht werden können.

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8 Ausblick Da PC-Systeme und Standardsolver immer leistungsfähiger werden, zählen MP-basier­ te Lösungsansätze insbesondere für dynamische Losgrößenprobleme gegenwärtig zu den effizientesten Lösungsverfahren. Die Lösungsgüte lässt sich zum Beispiel bei der F&O-Heuristik über die optimal zu lösenden Binärvariablen innerhalb eines Unterpro­ blems steuern. Je größer die Anzahl optimal zu lösender Binärvariablen, desto höher ist die erwartete Laufzeit zur Bestimmung der optimalen Lösung eines Unterproblems. Dies geht jedoch für gewöhnlich mit einer deutlichen Verbesserung der Lösungsgüte einher, da mehr Binärvariablen gleichzeitig betrachtet werden. Ferner zeichnen sich MP-basierte Lösungsansätze durch ein hohes Maß an Flexi­ bilität aus. So haben mittlerweile zahlreiche Autoren die Idee der F&O-Heuristik zur Lösung anderer Modelle der dynamischen Losgrößenplanung aufgegriffen. Lang und Shen (2011) beschreiben eine F&O-Heuristik für eine Variante des CLSP mit der Mög­ lichkeit der Produktsubstitution. Modifizierte F&O-Heuristiken für das MLCLSP-L wer­ den unter anderem von Sahling et al. (2009) sowie für Erweiterungen des MLCLSP von Chen (2015) und Toledo et al. (2015) vorgestellt. Tempelmeier und Copil (2016) verwen­ den eine F&O-Heuristik zur Lösung einer Variante des CLSP mit einem Rüstoperator und reihenfolgeabhängigen Rüstvorgängen. Darüber hinaus wurde die F&O-Heuristik auch erfolgreich zur Lösung einer mehr­ stufigen Variante des PLSP von Stadtler und Sahling (2013) sowie für das GLSP von Seeanner, Almada-Lobo und Meyr (2013) herangezogen. Dies unterstreicht die hohe Flexibilität MP-basierter Lösungsansätze im Allgemeinen sowie der F&O-Heuristik im Speziellen. Es ist zu erwarten, dass zukünftig der Fokus bei der dynamischen Losgrößenpla­ nung vermehrt auf der Berücksichtigung von Unsicherheiten liegen wird. Aktuellere Ansätze berücksichtigen bereits explizit Unsicherheiten bei der Nachfrage (vgl. Hel­ ber/Sahling/Schimmelpfeng 2013; Tempelmeier 2011). Allerdings kann die Unsicher­ heit im Nachfrageverlauf zu Fehlbeständen führen, da die Nachfrage in der Regel nicht vollständig befriedigt werden kann. Gesucht ist daher ein robuster Produktionsplan, der sowohl die vorhandene Kapazität der Produktionsanlage als auch im Mittel ein vorgegebenes Servicegradmaß einhält.

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Dynamische Losgrößenplanung | 693

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Gudrun P. Kiesmüller

Lagerhaltung in Closed-Loop Supply Chains 1 2 3 3.1 3.2 3.3 4 5 6

Einleitung | 695 Losgrößenbestände | 698 Sicherheitsbestände | 701 Sicherheitsbestände in einstufigen Systemen ohne Zwischenlagerung | 702 Sicherheitsbestände in einstufigen Systemen mit Zwischenlagerung | 703 Sicherheitsbestände in mehrstufigen Systemen | 705 Lagerbestände bei fixen Kosten und Unsicherheit | 708 Ergänzende Betrachtungen | 710 Zusammenfassung | 711 Literatur | 712

Zusammenfassung. In dieser Arbeit wird untersucht, welchen Einfluss Retouren auf das Bestandsmanagement in einer Supply Chain haben. Hierbei wird insbesondere darauf eingegangen, wie sich die optimalen Bestellpolitiken verändern und wie Ent­ scheidungsregeln angepasst werden müssen, wenn Retouren zu integrieren sind. Es wird zum einen unterschieden ob Retouren zwischengelagert werden oder nicht, und zum anderen welcher Arbeitsaufwand notwendig ist, bevor wiederaufgearbeitete Re­ touren zurück in das System einfließen können. Außerdem wird diskutiert wie Los­ größenbestände und Sicherheitsbestände angepasst werden müssen wenn Retouren auftreten.

1 Einleitung Im Rahmen des Supply Chain Managements hat die Auseinandersetzung mit Güter­ rückflüssen in den letzten Jahren sowohl in den Unternehmen als auch in der Wis­ senschaft eine immer größer werdende Bedeutung erlangt. Dies wird unter anderem durch eine steigende Anzahl von Publikationen in diesem Bereich und insbesondere durch eine Reihe von Übersichtsartikeln belegt (vgl. Guide Jr/van Wassenhove 2009, S. 10–18; Akcali/Cetinkaya 2011, S. 2373–2407; Govindan/Soleimani/Kannan 2015, S. 603–626; Wang et al. 2017, S. 666–687). Mehrere Gründe können hierfür angegeben werden, wobei im Folgenden nur eine Auswahl kurz erläutert werden soll. Zum einen kann festgestellt werden, dass der Themenbereich „Umwelt- und Kli­ maschutz“ laut einer vom Umweltbundesamt durchgeführten Studie zum Umweltbe­ wusstsein in Deutschland einen hohen Stellenwert bei der Bevölkerung einnimmt und die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten in den letzten Jahren zugenommen hat. https://doi.org/10.1515/9783110473803-037

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Damit einher geht auch, dass das Umweltbewusstsein der Verbraucher und Nachhal­ tigkeitskriterien einen immer größerem Einfluss auf Kaufentscheidungen haben. So achten manche Verbraucher darauf, dass die von Ihnen erworbenen Produkte aus umweltfreundlichem Material hergestellt wurden, oder dass die Produkte am Ende ih­ rer Nutzungsdauer weiterverwendet werden können. Darum setzen Unternehmen ver­ mehrt Umweltsiegel ein und werben mit recyclebaren Materialien und Produkten, die wiederaufgearbeitet werden können. Allerdings zeigt sich auch, dass die Akzeptanz von wiederaufgearbeiteten Produkten zum Teil noch gering ist und die Zahlungsbe­ reitschaft der Verbraucher anders ist als bei neu hergestellten Produkten (vgl. Essous­ si/Linton 2010, 458–468), da die Verbraucher die Qualität der wiederaufgearbeiteten Produkte anders einschätzen als die der neu hergestellten. Doch nicht nur das Kundenverhalten, sondern auch die gesetzlichen Rahmenbe­ dingungen beeinflussen das Verhalten der Hersteller. In der Bundesrepublik Deutsch­ land wurde zum Beispiel die Produktverantwortung im Kreislaufwirtschaftsgesetz (§23 Abs. 1, KrWG) geregelt und diese schließt auch die verbleibenden Abfälle nach dem Gebrauch eines Erzeugnisses mit ein. Dies kann zum Beispiel bedeuten, dass Her­ steller und Händler zur Rücknahme von Elektronikaltgeräten verpflichtet sind und diese, je nach Zustand, optisch und technisch aufarbeiten beziehungsweise aufrüs­ ten oder fachgerecht entsorgen müssen (ElektroG 2015). Insofern sind Unternehmen für ihre Produkte auch nach der Nutzungsperiode oder am Ende des Lebenszyklus verantwortlich. Einige Hersteller sind aber auch an der Rücknahme ihrer Produkte interessiert, um zu vermeiden, dass die Konkurrenz diese erhält und dabei wichtige Produktinformationen gewinnen kann. Außerdem wurde der ökonische Wert der Wie­ derverwendung und Wiederaufarbeitung von gebrauchten Produkten erkannt (vgl. Guide Jr./van Wassenhove 2009, 10–18). Ein weiteres Phänomen, das für einen Anstieg von Produktrückflüssen sorgt, ist die steigende Beliebheit des Onlinehandels, die durch wachsende Umsätze belegt werden kann (vgl. statista.com). Meist bieten Versand und Onlinehändler aus Ku­ lanz den Kunden die Möglichkeit die Ware zurückzusenden, auch über die gesetzlich verpflichtende Rücknahmefrist von 14 Tagen hinaus. Rogers et al. (2002, S. 1–18) be­ richten von einem Versandhandel für Bekleidung bei dem Rückflussraten von bis zu 40 % beobachtet wurden und Mostard und Teunter (2006, S. 81–96) sprechen sogar von Rückflussraten bis zu 75 %. Diese Retouren sind meist ungebrauchte neue Pro­ dukte, die den Kundenwünschen nicht gerecht werden konnten. Somit unterscheiden sie sich wesentlich von Retouren am Ende der Nutzungsdauer, da sie meist direkt, oder nach kurzer Inspektion, Reinigung und Umverpackung wiederverwendet wer­ den können. Lange Wiederaufarbeitungszeiten spielen in diesem Falle keine Rolle. Rücksendungen und Rückgaben von Produkten führen dazu, dass zusätzliche lo­ gistische Aufgaben in der Supply Chain zu bewältigen sind, wie zum Beispiel das Ein­ sammeln, Testen und Sortieren der Erzeugnisse, ebenso wie die Durchführung von kleinen Reparaturen, das Wiederaufarbeiten und das Upgraden von Produkten sowie die Demontage und die Wiederverwertung von Materialien (vgl. Guide/Harrison/van

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Wassenhove 2003, S. 3–6). Wird die klassische Supply Chain, bei der die Güterströme nur vom Hersteller zum Kunden betrachtet werden um die oben genannten Funktio­ nen ergänzt, so wird in der Literatur in der Regel von einer sogenannten Closed-LoopSupply-Chain (CLSC) gesprochen (vgl. Souza 2013, S. 7–38). Um einen kontinuierlichen kosteneffizienten Güterfluss in einer CLSC zu erzeugen, ist es, ebenso wie bei einer klassischen Supply Chain, bei der die Güter vom Hersteller zum Kunden bewegt wer­ den, notwendig Lagerbestände aufzubauen. Mit der Integration der Rückflüsse in die Supply Chain sind aber verschiedene Herausforderungen verbunden. Zum einen gehen die Güterstöme von den Kunden zurück zu den Händlern oder Herstellern immer mit einer großen Unsicherheit einher. In der Regel sind weder die Zeitpunkte der Rückgabe bekannt noch die angelieferten Mengen, und auch die Qua­ lität der Retouren lässt sich meist erst nach Inspektionen und Demontage genauer beurteilen. Neben der Unsicherheit spielt auch die begrenzte Verfügbarkeit von Re­ touren eine entscheidende Rolle bei der Bestandsplanung. Um den Unsicherheiten und der begrenzten Verfügbarkeit entgegenzuwirken, werden Ansätze verfolgt, bei de­ nen man versucht durch finanzielle Anreize den Güterstrom der Retouren zu steuern und den Bedarfen anzupassen (vgl. z. B. Guide/Teunter/van Wassenhove 2003, S. 3–6; Ketzenberg/Zuidwijk 2009, S. 344–360, Teunter/Flapper 2011, S. 241–248 oder Minner/ Kiesmüller 2012, S. 2836–2851). Des Weiteren ist davon auszugehen, dass sich die Anzahl der Lagerhaltungs­ punkte in einer Supply Chain erhöhen wird, wenn Rückflüsse integriert werden (vgl. Fleischmann et al. 2000, S. 653–666). So werden die Retouren meist an Sammelstellen aufbewahrt, um große Transportlose zu bilden, oder zusätzliche Lagerhaltungspunk­ te entstehen bei den Wiederaufarbeitungsprozessen, um Skaleneffekt besser nutzen zu können. Dies führt in der Regel auch zu einer Erhöhung der Komplexität in der Koordination der Prozesse und zu mehr Entscheidungsalternativen. Der Grad der Komplexität hängt auch wesentlich davon ab, ob eine Integration von Return und Forward Supply Chain angestrebt wird. Werden Produkte nach der Wiederaufarbeitung auf einem anderen Markt angeboten, so können viele Prozesse separat betrachtet werden und so kann auch von unterschiedlichen Lagerhaltungs­ punkten für Retouren, den einzelnen Zwischen- und Endprodukten ausgegangen wer­ den. Allerdings ist darauf zu achten, dass es zu Kanibalisationseffekten bei der Nach­ frage kommen kann (vgl. Atasu/Guide/van Wassenhove 2010, S. 56–76; Guide/Li 2010, S. 547–572), insbesondere dann, wenn wiederaufbereitete Produkte für den Endkun­ den günstiger angeboten werden. Haben Retouren nach Wiederaufarbeitung die gleichen Produkteigenschaften wie neu hergestellte Produkte, so werden die Güterflüsse häufig in die Forward Supply Chain integriert und Kanibalisationseffekte spielen keine Rolle. Insbesondere bei Re­ touren im Onlinehandel können nach kurzen Eingriffen, wie z. B. Säuberung und Um­ verpackung, die Retouren ebenso zur Deckung der Nachfrage verwendet werden wie die vom Hersteller eingekauften neuen Produkte. Bei Wiederaufarbeitung von Retou­ ren muss mit längeren Wiederaufarbeitungszeiten gerechnet werden, aber auch hier

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ist eine Substituion mit neu herzustellenden Produkten möglich und somit eine simul­ tane Planung von Produktion und Wiederaufarbeitung erforderlich. In dieser Situati­ on haben Rückflüsse einen großen Einfluss auf Bestellmengenentscheidungen, da ein Lagerhaltungsknoten in einer CLSC von mehreren Quellen beliefert werden kann. Es stellt sich somit die Frage, welchen Einfluß Retouren auf die Bestandsplanung und das Bestandsmanagement in CLSCs haben. Ebenso muss geklärt werden, wie die bekannten Verfahren der Lagerhaltung angepasst werden müssen, um den kosten­ effizienten und kontinuierlichen Verlauf der Güterflüsse in einer CLSC zu gewähren. Welches Verfahren für die Bestandsplanung verwendet werden sollte, hängt im We­ sentlichen davon ab, aus welchem Grund Bestand aufgebaut werden soll. Hier spielen insbesondere Skaleneffekte, Unsicherheiten, saisonale Glättung oder Transportzeiten eine wesentliche Rolle. In diesem Beitrag ist der Fokus ähnlich wie bei Fleischmann und Minner (2004, S. 115–138) auf die Skaleneffekte und die Unsicherheiten gerichtet. Des Weiteren wird nicht eine vollständige Übersicht über die vorhandene Literatur angestrebt, sondern die wichtigsten Ergebnisse, Einsichten und Resultate sollen kurz erläutert werden. Im Abschnitt 2 wird auf Losgrößenbestände genauer eingegangen und in Abschnitt 3 wer­ den Sicherheitsbestände diskutiert. In Abschnitt 4 werden diese beiden Aspekte nicht mehr separat betrachtet, sondern es werden Resultate für Lagerhaltungspolitiken bei Unsicherheit und fixen Lagerkosten präsentiert. Weitere wichtige Aspekte werden im Abschnitt 5 kurz diskutiert bevor im sechsten Abschnitt eine Zusammenfassung folgt.

2 Losgrößenbestände In diesem Abschnitt soll genauer untersucht werden, welchen Einfluss Produktrück­ flüsse auf die Bildung von Losgrößenbeständen haben. Es wird davon ausgegangen, dass alle Retouren durch Wiederaufarbeitung in einen Zustand versetzt werden kön­ nen, in dem sie von neu hergestellten Produkten nicht mehr unterschieden werden können, d. h. sie haben die gleiche Qualität und den gleichen Preis wie neu produ­ zierte Erzeugnisse. Wir beginnen mit Modellen in kontinuierlicher Zeit und gehen am Ende auch kurz auf zeitdiskrete Modelle ein. Als Ausgangspunkt soll das einfache statische Losgrößenmodell ohne Produkt­ rückflüsse dienen, bei dem angenommen wird, dass die Nachfragerate d nach einem Produkt gegeben und konstant ist und keine Fehlmengen zugelassen sind. Wird nun im einfachsten Fall angenommen, dass die Rückflussrate genauso groß ist wie die Nachfragerate, so können die Bedarfe vollständig durch die Produktrückflüsse ge­ deckt werden und es müssen keine weiteren neuen Einheiten hinzugekauft werden. Allerdings wird das System um einen zusätzlichen Lagerhaltungspunkt erweitert, um die zurückgegebenen Erzeugnisse bis zum Beginn der Wiederaufarbeitung aufbewah­ ren zu können (vgl. Abbildung 1), um Skaleneffekte ausnutzen zu können. Außerdem wird in der Regel davon ausgegangen, dass der Lagerhaltungskostensatz h R für die

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Retouren

Retouren

Wiederaufarbeitung

Endprodukte

Nachfrage

Endprodukte

Nachfrage

Abb. 1: Modell mit Zwischenlagerung von Retouren.

Produktion

Retouren

Retouren

Wiederaufarbeitung

Abb. 2: Modell mit Zwischenlager für Retouren und zusätzlicher Produktion.

zurückgegebenen Einheiten geringer ist als für die Erzeugnisse, die bereits wieder­ aufgearbeitet wurden (h S ) und nun als Endprodukte wieder verkauft werden können, so dass die Lagerung von Retouren Kostenvorteile mit sich bringt. Im einfachsten Fall (vgl. Schrady 1967, S. 270–398) wird davon ausgegangen, dass die Wiederaufarbeitungsrate unendlich groß ist, was gleichbedeutend mit einer Lie­ ferzeit von Null ist. Fallen mit dem Wiederaufarbeitungsprozess fixe Kosten A R für das Vorbereiten und Einstellen der Maschine an, so gilt es einen Zielkonflikt zu lösen, zwischen großen Losen einhergehend mit hohen Lagerkosten und kleinen Losen, die einen großen Fixkostenanteil induzieren. Die optimale Losgröße Q∗R für die Wieder­ aufarbeitung ist durch folgende Formel gegeben: Q∗R = √

2A R d hR + hS

(1)

Es zeigt sich also, dass ein Wiederaufarbeitungslos kleiner als ein reines Produktions­ los ist, da im Vergleich zur Andler’schen Losgrößenformel (vgl. Klaus/Krieger/Krupp, S. 68–70) noch zusätzliche Lagerkosten für die Retouren anfallen. Die Unterschiede werden umso größer, je teurer die Lagerhaltung für die Retouren ist. Wird nun davon ausgegangen, dass weniger Erzeugisse zurückgebracht als nach­ gefragt werden, so kann dies mit einer Returnrate von rd, (0 < r < 1) modelliert wer­ den. In diesem Falle müssen zur Bedarfserfüllung zusätzlich neue Erzeugnisse herge­ stellt werden (vgl. Abbildung 2), wobei auch hier Rüstkosten in Höhe von A P anfallen. Es gilt also nicht nur die optimale Losgröße für die Wiederaufarbeitung zu bestim­ men, sondern auch die optimale Losgröße für die Produktion neuer Erzeugnisse. Au­ ßerdem stellt sich die Frage, wie viele Lose hintereinander aufgearbeitet beziehungs­ weise neu hergestellt werden sollen. Die meisten Beiträge beschränken sich auf Po­ litiken, bei der die Produktions- und die Wiederaufarbeitungslose immer gleich groß

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sind, auch wenn diese in der Regel nicht optimal sind. Außerdem werden feste Zyklen für das Auflegen der Produktions- und Wiederaufbereitungslose festgelegt. Es wird zwischen den folgenden zwei Situationen unterschieden. Folgen auf ein Produktions­ los mehrere Wiederaufarbeitungslose, so erhält man nach Teunter (2001, S. 484–495) für die optimale Produktionslosgröße Q∗P und die optimale Wiederaufarbeitungslos­ größe Q∗R die folgenden Ausdrücke: Q∗P = √

2A P d(1 − r) rh R + h S (1 − r)

(2)

Q∗R = √

2A R d hR + hS

(3)

Diese Abfolge von Losen erscheint insbesondere dann sinnvoll, wenn die Rückfluss­ raten sehr hoch sind. Dann ist aber die Nachfragerate bei der Produktion sehr niedrig und somit erhält man kleine Produktionslose, die auch selten aufgelegt werden. Im Gegensatz dazu hat die Returnrate keinen Einfluss auf die Losgröße bei der Wiederver­ arbeitung. Sie beeinflusst nur die Anzahl der Wiederaufarbeitungslose, die zwischen zwei Produktionslosen gefertigt wird. Der zweite häufig betrachtete Fall geht davon aus, dass ein Wiederaufarbeitungs­ los von mehreren Produktionslosen gefolgt wird, was insbesondere dann sinnvoll ist, wenn die Returnrate gering ist. Dann hat diese aber keinen Einfluss auf die Größe eines Produktionsloses und es kann die Andler’sche Losgrößenformel unangepasst verwen­ det werden. Die Returnrate hat aber einen Einfluss auf die Losgröße für die Wiederauf­ arbeitung und auf die Anzahl der nacheinander anzufertigenden Produktionslose Q∗P = √

2A P d hS

(4)

Q∗R = √

2A R rd rh S + h R

(5)

Wie bereits oben erwähnt, ist es nicht immer optimal mit konstanten Losgrößen zu ar­ beiten, auch wenn die Nachfragerate und die Returnrate konstant sind. So hat Minner (2001, S. 328–332) gezeigt, dass insbesondere das letzte Los in der Wiederaufarbei­ tungssequenz vor einem Produktionslos etwas kleiner sein sollte. Unterschiedliche Losgrößen für den Wiederaufarbeitungsprozess wurden in Schulz und Voigt (2014, S. 21–31) erlaubt und es konnte gezeigt werden, dass mit dieser Flexibilisierung eine Kostenreduktion von bis zu 17 % erzielt werden kann. Der hier betrachtete einfache Fall, bei dem weder Unsicherheiten noch zeitli­ che Veränderungen eine Rolle spielen, zeigt schon deutlich, dass bei Integration von Rückflüssen die Komplexität in der Bestandsplanung ebenso wie die Anzahl an Entscheidungsalternativen zunimmt. Dies zeigt sich auch in Beiträgen, bei denen endliche Produktions- und/oder Aufarbeitungsraten angenommen wurden, unter­

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701

schiedliche Lagerhaltungskostensätze für produzierte und wiederaufgearbeitete Pro­ dukte betrachtet wurden, Fehlmengen erlaubt sind oder die Entsorgung von Retouren zulässig ist (für den interessierten Leser wird auf die Literaturübersicht bei Yuan/Gao 2010, S. 6155–6187 verwiesen). Wird davon ausgegangen, dass die Nachfragemengen und die Anzahl der Retou­ ren nicht mehr konstant über die Zeit sind, sondern unterschiedliche Mengen auftre­ ten können, die zum Zeitpunkt der Planung auch bekannt sind, dann werden meist zeitdiskrete Modelle betrachtet. Auf Grund von fixen Kosten kommt es wiederum zum Aufbau von Losgrößenbeständen, damit die Skaleneffekte ausgenutzt werden, aller­ dings können zusätzlich saisonale Effekte bei der Losgrößenbildung eine Rolle spie­ len. Teunter, Bayindir und van den Heuvel (2006, 4377–4400) unterscheiden zwischen zwei Szenarien bezüglich der fixen Kosten. Zum einen wird eine Situation betrachtet, bei der die Produktion und die Wiederaufarbeitung auf einer Maschine hintereinander stattfinden, so dass nur einmal fixe Kosten für das Einrichten der Maschine vor der Pro­ duktion der Lose anfallen. In diesem Falle kann gezeigt werden, dass Lose nur dann aufgelegt werden, wenn der Bestand der Endprodukte Null ist. Zum anderen können aber die Wiederaufarbeitung und der Produktionsprozess auf unterschiedlichen Ma­ schinen ausgeführt werden, so dass sowohl für das Produktionslos als auch für das Wiederaufarbeitungslos jeweils fixe Kosten in unterschiedlicher Höhe anfallen kön­ nen. In diesem Falle wird in der optimalen Lösung unter Umständen ein Wiederaufar­ beitungslos aufgelegt, obwohl noch Endprodukte im Bestand vorhanden sind. Aus diesem Grunde können keine einfachen Algorithmen zur Bestimmung der optima­ len Lösung angegeben werden. Allerdings zeigt sich, dass die bekannten Heuristiken für das klassische dynamische Losgrößenproblem, wie z. B. die Silver Meal Heuristik oder das Verfahren der gleitenden wirtschaftlichen Losgröße, so angepasst werden können, dass diese Retouren integriert werden (vgl. Teunter/Bayindir/van den Heu­ vel 2006, S. 4377–4400; Schulz 2011, S. 2519–2533). Für komplexere Probleme, bei de­ nen die Produktions- und Wiederaufarbeitungslose für mehrere Produkte oder meh­ rere Stufen simultan bestimmt werden müssen, kommen häufig Metaheuristiken zum Einsatz. Für eine ausführliche Literaturübersicht über die dynamische Losgrößenpla­ nung unter Berücksichtigung von Retouren wird auf Sifaleras und Konstantaras (2017, S. 385–392) verwiesen (vgl. auch Minner/Lindner 2004, S. 151–180).

3 Sicherheitsbestände Ein grundsätzlich anderer Zielkonflikt steht bei der Bestimmung von Sicherheitsbe­ ständen im Vordergrund, denn eine hohe Produktverfügbarkeit kann bei Unsicher­ heiten im Lagerhaltungssystem nur durch hohe Lagerbestände, die mit hohen Lager­ kosten einhergehen, erreicht werden. Da die Unsicherheiten mit der Integration von Rückflüssen in das Lagerhaltungssystem zunehmen, spielt die Bestimmung von Si­

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cherheitsbeständen in Closed-Loop-Supply-Chains eine noch größere Rolle als bei tra­ ditionellen SCs, bei denen meist nur die Unsicherheit im Nachfrageprozess betrachtet wird. Da der Fokus in diesem Abschnitt auf die Sicherheitsbestände gerichtet ist, wird im Folgenden davon ausgegangen, dass fixe Kosten nicht auftreten, sondern nur linea­ re Lagerhaltungskosten und Fehlmengenkosten anfallen, und dass Entscheidungen im Rahmen einer periodischen Planung getroffen werden.

3.1 Sicherheitsbestände in einstufigen Systemen ohne Zwischenlagerung Welchen Einfluss die Unsicherheiten von Retouren auf den Sicherheitsbestand haben zeigt sich bereits beim einfachsten Lagerhaltungsmodell mit unsicherer Nachfrage. Geht man von einer einzigen Planungsperiode aus bei der lange vor Verkaufsbeginn entschieden werden muss, welche Menge von einem Produkt eingekauft werden soll, so ist im Falle einer stochastischen Nachfrage bei Minimierung der Unter- und Über­ bestandskosten die optimale Bestellmenge nicht nur durch die erwartete Nachfrage bestimmt, sondern auch durch die Unsicherheit der Nachfrage und das Verhältnis der Kostensätze für Über- und Unterbestände. Kommt das oben beschriebene Modell des Zeitungsjungen bei einem Onlineoder Versandhändler zur Anwendung muss nun aber bei der Einkaufsentscheidung der Ware noch zusätzlich berücksichtigt werden, dass nicht jede nachgefragte Einheit gleichbedeutend mit einem Verkauf ist. Die Möglichkeit, Produkte zurücksenden zu können führt dazu, dass der Händler diese Retouren bei seiner Einkaufsentscheidung mit berücksichtigen muss. Wann und wie viele Retouren zu beobachten sind, ist in der Regel unsicher, und welche Kosten durch Retouren induziert werden ist sowohl von der jeweiligen Situation abhängig als auch von der Qualität des zurückgesendeten Produkts (vgl. Vlachos/Dekker 2003, S. 38–52). Betrachtet man die einfachste Situation, bei der Retouren nach kurzer Inspek­ tion, eventueller Reinigung und Neuverpackung ohne großen Zeitverzug wieder für den Verkauf zur Verfügung stehen, wird in der Regel nur von einem Lagerhaltungs­ punkt ausgegangen (vgl. Abbildung 3) und im Modell werden Nachfragen und Retou­

Herstellung

Retouren

Neueinkauf

Endprodukte

Nachfrage

Abb. 3: Modell mit Retouren ohne Zwischenlagerung.

Lagerhaltung in Closed-Loop Supply Chains | 703

ren zu einer Nettonachfrage zusammengefasst, die dann auch negative Werte anneh­ men kann. Geht man von einer normalverteilten Nettonachfrage aus (vgl. Ketzenberg/van der Laan/Teunter 2006, S. 393–406) mit Mittelwert μ N und Standardabweichung σ N , so kann die optimale Bestellmenge Q* wie im klassischen Modell für den Zeitungsjungen angegeben werden durch: Q∗ = μ N + kσ N

mit

k = Φ−1 (

cu ) cu + co

(6)

wobei Φ die Verteilungsfunktion der standardisierten Normalverteilung darstellt. Die numerischen Werte für die Kostensätze für Überbestände (c o ) und Unterbestände (c u ) hängen unter anderem auch davon ab, welche Kosten bei der Integration der Retouren in das vorhandene System entstehen (vgl. Vlachos/Dekker 2003, S. 38–52). Mit welcher Standardabweichung gerechnet werden muss, wird durch die Wahl des Modells für die Retouren beeinflusst (vgl. Vlachos/Dekker 2003, S. 38–52; Mostard/Teunter 2006, S. 81–96; Mostard/de Koster/Teunter 2005, S.329–342) und welche Informationen zum Zeitpunkt der Planung zur Verfügung stehen (vgl. Ketzenberg/van der Laan/Teunter 2006, S. 393–406). Vergleicht man die optimalen Bestellmengen für die Situationen mit und ohne Re­ touren, so kann festgestellt werden, dass bei gleichen zu erwartenden Verkaufszahlen und bei positivem Sicherheitsfaktor (k > 0) ein gößerer Sicherheitsbestand auf Grund einer höheren Unsicherheit der Nettonachfrage benötigt wird. Würde man die Bestell­ entscheidung ohne Berücksichtigung der Retouren treffen, so kann es laut Vlachos und Dekker (2003, S. 38–52) zu erheblichen Gewinneinbußen von bis zu 16 % kom­ men. Wird nicht nur eine Periode, sondern eine Folge von Perioden betrachtet, so bleibt eine Politik mit einem Bestellniveau weiterhin optimal, auch wenn die Nachfrage ne­ gative Werte auf Grund der Retouren annehmen kann (vgl. DeCroix/Song/Zipkin 2005, S. 350–362). Allerdings kann der disponible Bestand auf Grund der negativen Nachfra­ ge nun auch ohne Eingang einer Lieferung ansteigen und sogar größer werden als das Bestellniveau, so dass die Bestimmung des numerischen Wertes für das Bestellniveau nicht mehr durch eine einfache Gleichung wie im Zeitungsjungenmodell gegeben ist.

3.2 Sicherheitsbestände in einstufigen Systemen mit Zwischenlagerung Ist eine sofortige Integration der Retouren in den Lagerbestand von funktionstüchti­ gen Endprodukten nicht möglich, da eine aufwendigere Wiederaufarbeitung notwen­ dig ist, wird ein weiterer Lagerhaltungspunkt für die Retouren in das System eingefügt (vgl. Abbildung 2). Wäre die Lagerung der Retouren teurer, so wäre es optimal, die Retouren sofort weiterzuverarbeiten, damit sie zu dem Bestand der vertriebsfähigen

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Endprodukte hinzugefügt werden können. In der Regel ist aber davon auszugehen, dass der Lagerkostensatz für die Retouren niedriger ist als für die vertriebsfähigen Endprodukte, so dass auch bei fehlenden fixen Kosten für die Wiederaufarbeitung die Retouren zwischengelagert werden. Ebenso wie bei der Bestimmung der Losgrößenbestände sind im Rahmen einer periodischen Planung auch bei vernachlässigbaren fixen Kosten die Mengen, die neu herzustellen oder wiederaufzuarbeiten sind, zu bestimmen. Geht man von vernach­ lässigbaren Bearbeitungszeiten bei den beiden Prozessen aus, so können die optima­ len Entscheidungen auf Basis einer drei parametrigen (S, M, U) Politik getroffen wer­ den (vgl. Simpson 1978, S. 270–281). Befinden sich zu viele Einheiten im System, so werden Retouren entsorgt, so dass der systemweite Bestand auf U reduziert wird. Der Parameter S gibt den Zielbestand für die marktfähigen Endprodukte an und der Pa­ rameter M steuert den Zufluss zum Wiederaufarbeitungsprozess. Er gibt den Zielbe­ stand für die Endprodukte an, wenn der Bestand mit Hilfe von wiederaufgearbeiteten Produkten aufgefüllt wird. Ist die Anzahl der verfügbaren Retouren nicht ausreichen, um diesen Zielbestand zu erreichen, werden alle vorhandenen Retouren wiederaufge­ arbeitet und neue Produkte gemäß der Entscheidungsregel hinzugekauft. Bei länge­ ren Prozesszeiten, aber gleicher Dauer von Neuproduktion und Wiederaufarbeitung, bleibt die Optimaliät der Politikstruktur bei geeigneter Definition der disponiblen Be­ stände erhalten (vgl. Inderfurth 1997, S. 111–122). Es zeigt sich, dass bei unterschiedlicher Dauer der einzelnen Prozesszeiten keine einfache optimale Entscheidungsregel mehr bestimmt werden kann (vgl. Inderfurth 1997, S. 111–122), da die optimalen Entscheidungen von allen ausstehenden Bestel­ lungen abhängen. Außerdem wurde für diese Situation auch gezeigt (vgl. Kiesmüller 2003a, S. 62–71), dass die Performance einer Entscheidungsregel stark davon abhängt, welche Informationen zur Berechnung der Bestellmengen herangezogen werden. So ist es nicht ausreichend, alle Informationen in einer Größe zu aggregieren, sondern es sollten zwei unterschiedliche disponible Bestände für die jeweilige Entscheidung betrachtet werden, wobei jeweils nur die Informationen mit berücksichtigt werden sollten, die zu den Bestellungen gehören, die während der Produktionszeit eintreffen. Bei entsprechenden Definitionen der disponiblen Bestände erscheint auch bei unter­ schiedlichen Lieferzeiten die (S, M, U) Politik eine geeignete Entscheidungsregel zu sein, wobei Teunter und Vlachos (2002, S. 257–266) gezeigt haben, dass eine Entsor­ gung von Retouren nur in sehr selten auftretenden Situationen zu einer Kostenreduk­ tion führt. Das Verhältnis der Prozesszeiten für Neuherstellung und Wiederaufbereitung be­ einflusst auch die Höhe des optimalen Sicherheitsbestandes an marktfähigen Endpro­ dukten. Gibt es keinen Unterschied in der Länge der beiden Zeiten, dann kann man feststellen, dass weniger Sicherheitsbestand angelegt wird, verglichen mit einer Si­ tuation ohne Retouren (vgl. Kiesmüller/Minner 2003, S. 83–88). Die Ursache hierfür sind die höheren Kosten für Überbestände. Wurde eine Einheit zu viel produziert und dem Endproduktlager zugeführt, so kann dies dazu führen, dass ein zurückgegebenes

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Produkt länger auf die Wiederaufarbeitung warten muss als notwendig und somit La­ gerkosten verursacht, zusätzlich zu den Lagerkosten der Einheit im Bestand für End­ produkte. Gleichermaßen kann man schlussfolgern, wenn die Produktionszeit für die Herstellung einer neuen Einheit kürzer ist als die Wiederaufarbeitungszeit. Auch dann wird der Sicherheitsbestand mehr durch die zusätzlichen Lagerkosten beeinflusst als durch die Unsicherheit der Rückflüsse, denn diese kann durch die Zwischenlagerung abgefangen werden. Im Gegensatz dazu kann sich der Sicherheitsbestand im Vergleich zu einem Sys­ tem ohne Retouren erhöhen, wenn die Produktionszeit länger als die Wiederaufarbei­ tungszeit ist. Auf Grund der Kostenvorteile bei der Wiederaufarbeitung ist diese der Neuproduktion vorzuziehen, und bei der Entscheidung, welche Menge zu produzie­ ren ist müssen zukünftige Rückflüsse mit berücksichtigt werden. Da diese aber nicht bekannt sind, muss diese Unsicherheit durch eine Erhöhung des Sicherheitsbestands aufgefangen werden.

3.3 Sicherheitsbestände in mehrstufigen Systemen Betrachtet man mehrstufige Systeme so können Retouren an mehreren Stellen im Sys­ tem auftreten. Ein serielles Lagerhaltungssystem bei dem die Retouren nur an dem La­ gerhaltungspunkt auftreten, der dem Kunden am nächsten ist, und die Retouren sofort in das System integriert werden können, wird von DeCroix, Song und Zipkin (2005, S. 350–362) untersucht. Die Retouren werden durch negative Nachfragen im Modell abgebildet und es zeigt sich, dass bei zentraler Disposition der Beweis von Clark und Scarf (1960, S. 475–490) für die Optimalität von Politiken mit systemweiten Bestellni­ veaus weiterhin gültig ist. Nicht mehr gültig ist hingegen die Eigenschaft, dass man ein Lagerhaltungssystem bei dem Bestellentscheidungen auf Basis der systemweiten Bestände getroffen werden, in ein äquivalentes System transformieren kann, bei dem Entscheidungen auf Basis von Informationen über lokale Beständen getroffen werden. Ebenso verändert sich die Komplexität bei der Berechnung der optimalen Politikpara­ meter sowie der zugehörigen Sicherheitsbestände, da die Retouren dazu führen kön­ nen, dass die systemweiten disponiblen Bestände die Bestellniveaus übersteigen und somit auch der myopische Charakter der optimalen Politik verloren geht. Da zusätz­ lich noch die Materialverfügbarkeit an den vorgeschalteten Lagerhaltungspunkten zu berücksichtigen ist, empfehlen DeCroix, Song und Zipkin (2005, S. 350–362) appro­ ximative Verfahren zur Berechnung der Sicherheitsbestände, die aber eine hervorra­ gende Genauigkeit aufweisen. Die in DeCroix, Song und Zipkin (2005, S. 350–362) prä­ sentierten numerischen Beispiele, bei denen davon ausgegangen wird, dass Nachfra­ gen und Retouren mit Hilfe einer poissonverteilten Zufallsvariable modelliert werden können, zeigen, dass bei gleichbleibender mittlerer Nettonachfrage der Sicherheitsbe­ stand bei steigender Anzahl der mittleren Retouren auf Grund der steigenden Variabi­ lität der Nettonachfrage zunimmt. Außerdem kann man sehen, dass die Retouren auf

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Retouren

Wiederaufarbeitung

Endprodukte

Nachfrage

Abb. 4: Mehrstufiges Lagerhaltungssystem mit Zwischenlagerung von Retouren.

der untersten Stufe der seriellen Supply Chain einen Einfluss auf die Sicherheitsbe­ stände an allen Stufen haben, wobei der Effekt geringer wird, je weiter man sich von der untersten Stufe entfernt. Wenn Retouren zwischengelagert und wiederaufgearbeitet werden bevor sie in das Lagerhaltungssystem einfließen, dann müssen die Retouren explizit modelliert werden. Für den Fall, dass Retouren an genau einer Stelle in ein serielles Lagerhal­ tungssystem eintreten können (vgl. Abbildung 4), hat DeCroix (2006, S. 532–543) die optimale Bestellpolitik bei zentraler Disposition hergeleitet. Hierfür werden allerdings spezielle Voraussetzungen für die Wiederaufbereitungszeit und die Lieferzeiten im se­ riellen System benötigt. Wird nämlich auf einer bestimmten Stufe im System ein Teil benötigt, so muss die Versorgung dieser Stufe mit dem benötigtem Material immer die gleiche Zeit in Anspruch nehmen, unabhängig davon, ob ein Teil wiederaufgearbeitet wird oder über die vorgelagerten Stufen der seriellen Supply Chain angeliefert wird. Unter dieser Annahme und für die Situation, dass die Retouren bei dem Lagerknoten in die Supply Chain eintreten, der am weitesten stromaufwärts liegt, konnte DeCroix (2006, S. 532–543) zeigen, dass die optimale Bestellpolitik für diesen Knoten identisch ist, mit der von Simpson (1978, S. 270–281) hergeleiteten (S,M,U) Entscheidungsregel für ein zweistufiges System. Zu beachten ist, dass die Entscheidungen auf Basis der systemweiten Bestände getroffen werden und dass für alle anderen Lagerpunkte im System die optimalen Entscheidungen durch Bestellniveaus charakterisiert werden. Werden die Retouren so aufgearbeitet, dass sie an einer anderen Stufe in das La­ gerhaltungssystem eintreten, dann muss vorausgesetzt werden, dass eine Entsorgung der Retouren nicht möglich ist und alle Retouren letztendlich aufgearbeitet werden müssen. Diese Annahme ist notwendig, da die Retouren in die Definition der sys­ temweiten Bestände der vorgelagert Stufen mit einbezogen werden, und somit wird verhindert, dass der systemweite Bestand reduziert wird ohne dass Nachfragen auf­ treten. Die optimale Bestellpolitik für die Stufe, an der die wiederaufgearbeiteten Retouren in das System einfließen folgt dann einer (S,M) Regel, wobei M das Bestell­ niveau für den Wiederaufarbeitungsprozess ist und S das Bestellniveau, wenn die Anlieferung über die vorgelagerten Lagerhaltungspunkte erfolgt. Alle anderen La­

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gerhaltungspunkte bestimmen die optimale Bestellentscheidung durch Abgleich des systemweiten Bestandes mit dem zugehörigen Bestellniveau. Bei mehrstufigen Lagerhaltungssystemen ohne Retouren hat sich gezeigt, dass die Analyse von seriellen Systemen ein wesentlicher Baustein für die Analyse von konvergenten Systemen ist (vgl. Rosling 1989, pp. 565–579), bei denen jeder Lagerhal­ tungsknoten nur genau einen Nachfolger hat, aber mehrere Vorgänger haben kann. Die in der Montage häufig vorkommenden mehrstufigen Lagerhaltungssysteme kön­ nen in äquivalente serielle Systeme transformiert werden und somit auch analysiert werden. Entscheidend für diese Transformation ist eine Gleichgewichtseigenschaft (Long-Run Balance), die besagt, dass die Anzahl der verfügbaren Teile, die zur Mon­ tage eines Endproduktes innerhalb der nächsten Perioden benötigt wird, innerhalb der konvergenten Struktur zunimmt, je weiter man sich vom Lagerhaltungspunkt des Endproduktes entfernt. Diese Eigenschaft geht im allgemeinen durch die Integration von Retouren verloren, wenn die Retouren den wiederaufgearbeiteten Komponenten oder Endprodukten entsprechen, die direkt in das System einfließen, ohne dass eine Zwischenlagerung stattfindet. Ebenso wird angenommen, dass alle Retouren akzep­ tiert werden müssen und keine Enstorgung möglich ist. Geht man dann davon aus, dass entweder Retouren nur beim Endprodukt auftreten können oder nur bei allen für die Montage für das Endprodukt benötigten Komponenten, dann bleibt die Gleich­ gewichtseigenschaft erhalten und die Äquivalanz des konvergenten Systems zu ei­ nem seriellen System kann zur Analyse der Sicherheitsbestände herangezogen wer­ den (vgl. DeCroix/Zipkin 2005, 1250–1265). Bestellpolitiken mit Bestellniveaus zum Abgleich mit den systemweiten Beständen sind weiterhin optimal. In allen anderen Situationen, zum Beispiel wenn nur bei einer einzigen Komponente wiederaufgear­ beitete Teile in den Bestand mit aufgenommen werden, ist die optimale Bestellpolitik nicht bekannt und hat wahrscheinlich eine komplexe Struktur. In diesen Fällen schla­ gen DeCroix und Zipkin (2005, 1250–1265) zwei heuristische Verfahren vor, die beide eine Erweiterung von Bestellpoltiken mit Bestellniveau sind. Es stellt sich heraus, dass sowohl Bestands- als auch Fehlmengenkosten zunehmen, wenn die Returnrate steigt oder die Unsicherheit bezüglich der Retouren zunimmt. Ebenso steigen diese Kosten, wenn die Anzahl der Komponenten steigt, bei denen auch wiederaufgearbeitete Teile verwendet werden. Allerdings spielt es keine Rolle, welche der Komponenten wieder­ aufgearbeitet werden und wie sich das Endprodukt aus den Komponenten zusammen­ setzt. In dem untersuchten Rahmen zeigt sich deutlich, dass bei Integration von Re­ touren in das Montagesystem die Bestandskosten steigen und die Wiederverwertung also nur dann ökonomisch sinnvoll ist, wenn die Reduktionen bei den Materialkosten die höheren Bestandskosten aufwiegen.

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4 Lagerbestände bei fixen Kosten und Unsicherheit Während in den beiden vorausgegangen Abschnitten Losgrößenbestände und Sicher­ heitsbestände getrennt voneinander untersucht wurden, sollen in diesem Abschnitt nun Lagerhaltungspolitiken betrachtet werden, bei denen sowohl fixe Kosten als auch Unsicherheiten eine Rolle spielen. Hierzu wird das System aus Abbildung 3 betrachtet und es wird angenommen, dass bei der Herstellung neuer Erzeugnisse fixe Kosten anfallen. Außerdem wird eine positive Dauer für den Herstellungsprozess unterstellt. Fleischmann und Kuik (2003, S. 25–37) haben gezeigt, dass unter diesen Annahmen eine (s, S) Politik die mittleren Kosten, die sich aus fixen Bestellkosten, Lagerhaltungskosten und Fehlmengenkosten zusammensetzen, minimiert. Somit erhält man dieselbe optimale Entscheidungsregel wie in einer Situation, bei der keine Rückflüsse auftreten. Allerdings unterscheiden sich die numerischen Werte der Politikparameter. Da mit dieser Politik nur der Zu­ fluss von neuen Waren zum Lager gesteuert wird, lässt sich auch hier beobachten, dass mit steigenden Rückflussraten die Produktionslosgröße verringert wird (vgl. Ab­ schnitt 2) und ebenso mehr Sicherheitsbestand benötigt wird, wenn die Unsicherheit in den Rückflüssen steigt (vgl. Abschnitt 3.1). Wird der Strom der Rückflüsse durch einen weiteren Lagerhaltungspunkt von der Wiederaufarbeitung entkoppelt (vgl. Abbildung 2), so erhöht sich die Komplexität im System und die Retouren und Nachfragen können nicht mehr zu einer Nettonachfra­ ge zusammengefasst werden. Unter den Voraussetzungen, dass die Prozesszeiten ver­ nachlässigbar sind und fixe Kosten nur bei der Neuproduktion und der Entsorgung anfallen wurde von Li et al. (2010, S. 629–648) die optimale Entscheidungsregel her­ geleitet. Die Produktionsentscheidung wird durch eine (s, S) Politik gesteuert, wobei ein Produktionslos nur dann aufgelegt wird, wenn der systemweite Bestand unter den Bestellpunkt s fällt. Die Produktionsmenge bestimmt sich dann aus der Differenz zwi­ schen dem Bestellniveau S und dem systemweiten disponiblen Bestand. Mit der Wie­ deraufarbeitung wird gestartet, wenn der Bestand der gebrauchsfähigen Endproduk­ te unter das Bestellniveau M fällt. Es werden entweder alle Retouren aufgearbeitet oder so viele, dass das Bestellniveau M erreicht wird. Auf Grund der fixen Kosten für die Entsorgung von Retouren, werden Retouren nur dann aus dem System entfernt, wenn der systemweite Bestand ein vorgegebenes Niveau U übersteigt. Dann wird der systemweite Bestand auf das Niveau von U reduziert, wobei maximal die verfügbare Menge an Retouren entsorgt werden kann. Zusammenfassend kann festgehalten wer­ den, dass die optimale Entscheidungsregel einer (s,S,M,s,U) Politik entspricht. Einfa­ che Algorithmen zur Berechnung der numerischen Werte der Politikparameter sind ebensowenig bekannt wie Aussagen über die optimale Struktur der Bestellpolitik bei positiven Prozesszeiten. Darum beschränken sich viele wissenschaftliche Beiträge auf die Untersuchung fest vorgegebener einfacher Politiken und die Bestimmung der nu­ merischen Werte der zugehörigen Politikparameter.

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Während Fleischmann und Kuik (2003, S. 25–37) sowie Li et al. (2010, S. 629–648) eine periodische Planungsumgebung betrachten und die optimale Politikstruktur her­ leiten, untersuchen van der Laan et al. (1996, S. 339–350) eine (s, Q)-Politik bei konti­ nuierlicher Bestandsüberwachung. Außerdem wird davon ausgegangen, dass Retou­ ren nicht direkt in den marktfähigen Bestand integriert werden können, sondern erst repariert werden müssen, wofür eine gewissen Zeit in Anspruch genommen wird. Ei­ ne exakte Bestimmung der Politikparameter ist zwar für Nachfragen und Retouren, die als Poissonprozess modelliert werden können, möglich, allerdings werden dafür einige Faltungen mit größerem Rechenaufwand benötigt. Darum nehmen die Autoren an, dass die Nettonachfrage während der Lieferzeit mit einer Normalverteilung ap­ proximiert werden kann. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich die Kostenfunktion relativ einfach darstellen und die optimalen Politikparameter sind als Lösung eines Systems von zwei nicht linearen Gleichungen gegeben. Die Lösung kann mittels ei­ nes iterativen Verfahrens ähnlich wie bei einer (s, Q) Politik ohne Retouren bestimmt werden, allerdings erhält man mit steigender Returnrate kleinere Losgrößen und mit steigender Unsicherheit der Retouren wird mehr Sicherheitsbestand gefordert. Van der Laan et al. (1999, S. 733–747) betrachten zwei logische Erweiterungen der (s,Q) Politik für das zweistufige hybride System (vgl. Abbildung 2). Bei der PUSH Poli­ tik werden Retouren so lange gelagert, bis ein Wiederaufarbeitungslos der Größe Q R gebildet werden kann, und dann wird ohne Verzug und unabhängig vom Systemzu­ stand mit der Wiederaufarbeitung begonnen. Nachbestellungen bei der Neuproduk­ tion werden mit einer (s, Q P ) Politik geregelt. Die Autoren zeigen, dass diese Politik ökonomisch nur dann sinnvoll ist, wenn die Unterschiede zwischen den Lagerhal­ tungskostensätzen zwischen Retouren und marktfähigen Endprodukten relativ gering sind. Ansonsten ist eine sogenannte PULL Politik zu bevorzugen, bei der es zwei un­ terschiedliche Bestellpunkte für die Wiederaufarbeitung (s R ) und die Neuproduktion (s P ) gibt. Nur wenn ausreichend Retouren vorhanden sind, wird ein Wiederaufarbei­ tungslos aufgelegt, wenn der disponible Bestand unter s R fällt. Erreicht der disponible Bestand den Bestellpunkt s P und es sind noch stets nicht ausreichend Retouren vor­ handen, dann wird in der Produktion ein neues Los aufgelegt, um den Bestand wieder aufzufüllen. Sowohl die PUSH als auch die PULL Politik können erweitert werden, so dass auch die Entsprgung von Retouren ermöglicht wird (vgl. van der Laan/Salomon 1997, S. 264–278). Für den speziellen Fall, dass Produktions- und Wiederaufarbeitungszeit gleich sind, zeigen van der Laan und Teunter (2006, S. 1084–1102), dass ein heuristischer sequentieller Ansatz zur Berechnung der Politikparameter zu geringen Abweichun­ gen von den optimalen Kosten führt. Dabei werden die Losgrößen auf Basis von deter­ ministischen Modellen bestimmt und die Bestellpunkte als Quantil der Verteilungs­ funktion der Nachfrage während der Lieferzeit. Wie bei Systemen ohne Retouren ist zu erkennen, dass der Sicherheitsbestand mit zunehmender Nachfrageunsicherheit steigt und mit wachsenden fixen Kosten in der Produktion sinkt. Ebenso sinkt der Sicherheitsbestand mit zunehmenden fixen Kosten bei der Wiederaufarbeitung. Die

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Unsicherheit der Retouren hat allerdings auf Grund der Entkopplung mit Hilfe des zu­ sätzlichen Lagerhaltungspunkts keinen Einfluss auf den Sicherheitsbestand. Es lässt sich aber beobachten, dass mit zunehmenden Rückflussraten höhere Sicherheitsbe­ stände möglich sind, da die Losgrößenbestände auf Grund kleinerer Produktionslose sinken.

5 Ergänzende Betrachtungen Bei allen vorangegangenen Diskussionen wurde davon ausgegangen, dass Nachfra­ gen und Retouren unabhängig voneinander sind, obwohl in vielen Situationen diese Annahme nicht gerechtfertigt ist. (Die Resultate einer Überprüfung der gängigen Mo­ dellierungsannahmen für Retouren mit Hilfe verschiedener Case Studies werden in de Brito und Dekker (2003, S. 225–241) präsentiert). Auch wenn nicht alle Produkte zurückgegeben werden und auch die Zeitpunkte der Rückgabe nicht genau bekannt sind, so kann doch die Information über die Anzahl der verkauften Produkte verwen­ det werden, um die Anzahl der zukünftigen Retouren abzuschätzen. Kiesmüller und van der Laan (2001, S. 73–87) haben gezeigt, dass bei der Berücksichtigung dieser Ab­ hängigkeiten Sicherheitsbestände reduziert werden können, wobei die Unterschiede mit steigenden Returnraten größer werden (vgl. auch von Zerhouni/Gayon/Frein 2013, S. 62–71, Benedito/Corominas 2013, S. 189–201). Ist das Zeitintervall zwischen Ver­ kauf und Rückgabe eines Produktes relativ lang, so kann diese Abhängigkeit zwischen Nachfrage und Retouren allerdings vernachlässigt werden. Ebenso wurde in den bisherigen Diskussion nicht berücksichtigt, dass sowohl Produktions- als auch Wiederaufarbeitungskapazitäten beschränkt sein können. Schon bei einem System, wie es in Abbildung 2 dargestellt wurde, können unter­ schiedliche Möglichkeiten für die Kapazitätsbeschränkungen existieren. So kann sich die Beschränkung auf einen Prozess beziehen oder auf beide oder es kann auch von einer Gesamtkapazität für beide Prozesse ausgegangen werden. Für die unter­ schiedlichen Möglichkeiten haben Gong und Chao (2013, S. 603–611) die Struktur der optimalen Politik hergeleitet unter der Voraussetzung, dass die Prozesszeiten ver­ nachlässigbar sind und Entscheidungen periodisch getroffen werden. Sie konnten zeigen, dass bei beschränkter Wiederaufarbeitungskapazität, die Wiederaufarbei­ tung von Retouren immer Priorität hat und nur wenn der Bestand nicht mit Retouren aufgefüllt werden kann, wird mit der Produktion neuer Endprodukte gestartet. Bei hohen Returnraten wird der Bestand an Endprodukten höher ausfallen, verglichen mit einem System mit unbeschränkten Kapazitäten, da Wiederaufarbeitung auch bei einem hohem Bestand von Endprodukten stattfinden wird, um zukünftigen Ka­ pazitätsengpässen in der Wiederaufarbeitung vorzubeugen. Auch Vercraene, Gayon und Flapper (2014, S. 62–70) untersuchen die optimale Struktur einer Bestellpolitik für ein kapazitiertes System wie in Abbildung 2 illustriert, allerdings werden die Ka­

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pazitätsbeschränkungen anders modelliert. Es wird ein zeitkontinuierliches Modell betrachtet und es kann immer nur genau eine Einheit in einem Prozess bearbeitet werden und die Prozesszeiten werden als exponentialverteilt vorausgesetzt. Unter diesen Annahmen wird gezeigt (vgl. Vercraene/Gayon/Flapper 2014, S. 62–70), dass die optimalen Entscheidungen durch zustandsabhängige Bestellniveaus bestimmt werden. Ein weiterer Aspekt, der in den bisherigen Betrachtungen außer Acht gelassen wurde, ist die Qualität der Retouren. Bis jetzt wurde davon ausgegangen, dass alle Retouren die gleiche Qualität aufweisen und auch vor der Wiederaufarbeitung keine weiteren Kontrollen und Inspektionen statt finden. Werden die Retouren aber erst in­ spiziert und dann gemäß ihrer Qualität sortiert, so führt dies in der Regel zu einer Erhöhung der Anzahl der Lagerhaltungspunkte in der CLSC, zu erhöhten Lagerkos­ ten und zu erhöhtem Koordinationsaufwand (vgl. z. B. Nenes/Panagiotidou/Dekker 2010, 300–312, oder die Literaturübersicht in Zikopoulous/Tagaras 2015, S.435–449). In Zhou, Tao und Chao (2011, S. 20–34) werden die Retouren nach der Inspektion auf Basis ihrer Qualität in verschiedene Klassen eingeteilt und separat gelagert. Es wird davon ausgegangen dass die Wiederaufarbeitungkosten von der Qualität abhängen und für identische Prozesszeiten wird die optimale Entscheidungsregel hergeleitet. Alle Resultate, die in den vorherigen Abschnitten präsentiert wurden, beziehen sich auf Modelle, bei denen nur ein einziges Endprodukt betrachtet wird. Gibt es ver­ schiedene Optionen für die Wiederaufarbeitung von Retouren so geht dies wieder­ um einher mit in einer Erhöhung der Komplexität und einer Erweiterung der Ent­ scheidungsalternativen (vgl. Ferguson/Fleischmann/Souza 2011, S. 773–798, Kleber/ Minner/Kiesmüller 2002, S. 121–141, und Inderfurth/de Kok/Flapper 2001, S. 130–152), denn die Sicherheitsbestände hängen dann auch von der zu fällenden Allokations­ entscheidung ab.

6 Zusammenfassung In dieser Arbeit wurde für verschiedene Situationen angegeben wie Losgrößenbe­ stände und Sicherheitsbestände zu bestimmen sind, wenn Retouren in das Bestands­ management integriert werden müssen. Man kann zwischen zwei Situationen unter­ scheiden abhängig davon, ob Retouren zwischengelagert werden oder nicht. Findet keine Zwischenlagerung statt und werden die Retouren direkt in das System integriert, dann können die Nachfrage und Retouren zu einer Nettonachfrage zusammengefasst werden. Dies bedeutet, dass diese Nettonachfrage dann auch negativ werden kann. Es zeigt sich aber, dass diese Eigenschaft die Struktur der optimalen Entscheidungsregel meist nicht beeinflusst. So bleibt unter linearen Lagerhaltungs- und Fehlmengenkos­ ten eine Basestock Politik sowohl im einstufigen wie im mehrstufigen Fall optimal. Fallen zusätzlich noch fixe Bestellkosten an, dann folgen die optimalen Entschei­

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dungen in einem einstufigem System einer (s,S) Politik. Allerdings verändern sich die Politikparameter und die Sicherheitsbestände müssen auf Grund der unsicheren Rückflüsse erhöht werden. Werden Retouren zwischengelagert, dann erhöht sich die Anzahl der Lagerhal­ tungspunkte in der Supply Chain und die optimalen Entscheidungen und Politikstruk­ turen verändern sich. Das Zwischenlager kann zum einen die Funktion übernehmen Retouren zu sammeln bis eine ausreichende Menge vorhanden ist um ein ökonomisch effizientes Los zu bilden. Auf Grund der zusätzlichen Lagerkosten müssen Losgrößen dann im Allgemeinen kleiner gewählt werden als bei einem System ohne Lagerung von Retouren. Bei unsicheren Rückflüssen übernimmt das Lager eine Pufferfunkti­ on und der Sicherheitsbestand für das Endprodukt muss trotz unsicherer Rückflüsse nicht unbedingt erhöht werden. In einigen Fällen wird er sogar reduziert auf Grund der zusätzlichen Lagerkosten für Retouren, um die Lagerkosten für das ganze System gering zu halten. Generelle Aussagen über die optimalen Losgrößen- und Sicherheitsbestände in mehrstufigen komplexen Supply Chains sind kaum möglich. Es zeigt sich, dass neben der Anzahl der Lagerhaltungspunkte und der Unsicherheiten in der Nachfrage und bei den Rückflüssen, unterschiedliche Prozesszeiten für die Produktion und die Wie­ deraufarbeitung die Modellierung und Analyse dieser Systeme erschweren. Auf Grund der hohen Komplexität der Systeme kann davon ausgegangen werden, dass auch in naher Zukunft heuristische Verfahren zur Bestandsplanung und für das Bestandsma­ nagement verwendet werden müssen.

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Heinrich Kuhn, Andreas Holzapfel und Manuel Ostermeier

Handelslogistik 1 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 4 4.1 4.2 4.3 4.4 5

Begriff und Einordnung der Handelslogistik | 717 Bedeutung der Handelslogistik und Einzelhandelsbranchen | 718 Bedeutung der Handelslogistik | 718 Einzelhandelsbranchen | 718 Planung, Gestaltung und Steuerung von Strukturen und Prozessen | 721 Rahmenbedingungen | 721 Supply-Chain-Planungsmatrix | 722 Omni-Channel-Handel | 724 Bedeutung und Herausforderungen | 724 Gestaltung des Logistiksystems | 726 Operative Logistik im Warenverteilzentrum | 728 Operative Logistik bei der Warenauslieferung und -retournierung | 729 Aktueller Trend in der Handelslogistik: Sharing Economy | 732 Literatur | 733

Zusammenfassung. Die Handelslogistik umfasst die ganzheitliche Betrachtung der logistischen Abläufe im Handel zwischen einem Handelsunternehmen, seinen Kun­ den und Lieferanten sowie den beteiligten inner- und außerbetrieblichen Distributi­ onsstufen. Der Handelslogistik kommt demnach die Aufgabe zu, die räumlichen und zeitlichen Differenzen zwischen Produktion und Konsumtion auszugleichen. Der Han­ del zählt mit einem Anteil von ca. 15 % am Bruttoinlandsprodukt zu den wesentli­ chen Wirtschaftszweigen in Deutschland. Die umsatzstärksten Sektoren im Einzel­ handel sind der Lebensmitteleinzelhandel, der Modehandel, der Elektrofachhandel und der Do-It-Yourself-Handel. Entlang der Lieferkette eines Handelsunternehmens sind im Hinblick auf eine funktionale und zeitliche Perspektive zahlreiche Entschei­ dungen zu treffen, die anhand der Handels-Supply-Chain-Planungsmatrix systemati­ siert und strukturiert werden können. Aufgrund des anhaltenden Wachstums im On­ linegeschäft und der weiter fortschreitenden Digitalisierung konsumnaher Bereiche gewinnen der Multi- und Omni-Channel-Handel und die damit zusammenhängen­ den handelslogistischen Fragen zunehmend an Bedeutung. Auf strategischer Ebene sind hier die Liefernetzwerke zu gestalten und die Verantwortlichkeiten für die ope­ rative Logistik in den jeweiligen Vertriebskanälen festzulegen. Weiterhin bedarf es ei­ ner effektiven und effizienten Gestaltung der „letzten Meile“, die neben der Waren­ auslieferung an den Kunden auch die Retournierung der Waren vom Kunden berück­ sichtigt und die stationären Filialen zieladäquat integriert. In diesem Zusammenhang gewinnen Angebote, wie Same-Day-Delivery, oder neuartige Geschäftsmodelle, wie Crowdshipping, an Bedeutung. https://doi.org/10.1515/9783110473803-038

Handelslogistik

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1 Begriff und Einordnung der Handelslogistik Der Handel von Waren und Dienstleistungen lässt sich grundsätzlich danach un­ terscheiden, ob dieser zur Befriedigung von Endkunden- (Business-to-ConsumerHandel, B2C-Handel) oder von Unternehmensbedarfen (Business-to-Business-Han­ del, B2B-Handel) dient (vgl. Kreutzer/Rumler/Wille-Baumkauf 2017). Der Beitrag be­ schreibt die wesentlichen logistischen Fragen im B2C-Handel von Sachgütern. Unter dem Begriff Handelslogistik im B2C-Geschäft von Sachgütern versteht man alle logistischen Aufgaben im Zuge der Beschaffung, der Lagerung, der Kommissio­ nierung, des Umschlags und der Belieferung von Waren und Produkten vom Liefe­ ranten (Hersteller) bis zum Endverbraucher (Kunden; vgl. Kotzab 2012). Diese logis­ tischen Aufgaben werden in der Regel von einem Handelsunternehmen unter einer ganzheitlichen Perspektive gestaltet, geplant und durchgeführt. Darin enthalten sind die Gestaltung und Planung der Waren- und der damit jeweils verbundenen Infor­ mationsströme zwischen dem Handelsunternehmen, seinen Kunden und Lieferanten sowie den beteiligten inner- und außerbetrieblichen Stufen (Lagerungs-, Kommissio­ nier- und Umschlagspunkte; vgl. Kotzab 2012). Neben der Gestaltung und Planung des logistischen Netzwerks zählen darüber hinaus auch die Durchführung und Steuerung der logistischen Prozesse sowie die Kontrolle der bestehenden Strukturen zu den Auf­ gaben der Handelslogistik. Die Handelslogistik verfolgt das Ziel, diese Waren- und Informationsflüsse un­ ter Gewährleistung eines vorgegebenen Servicegrads effizient (in der Regel kosten­ effizient) zu gestalten und zu betreiben. Neben diesem eindimensionalen Effizienz­ kriterium gewinnen aktuell mehrdimensionale Effizienz- und Effektivitätskriterien an Bedeutung, die neben wertorientierten Zielbeiträgen auch werteorientierte Größen (z. B. humane Arbeitsbedingungen, faire Erlösverteilung, ökologische Gesichtspunk­ te, Nachhaltigkeit des Geschäftsbetriebs etc.) in die Zielformulierung einbeziehen. Kunden achten bei der Wahl des Handelsunternehmens und bei der Auswahl der Pro­ dukte vermehrt auf regionale Angebote, faire Arbeitsbedingungen bei Einzelhandels­ unternehmen und Produzenten sowie eine umweltschonende Produktionsweise der Hersteller (vgl. Anzengruber 2016). Es wird somit im Hinblick auf das gewählte ein- oder gegebenenfalls mehrdimen­ sionale Zielkriterium nach der optimalen Gestaltung und dem optimalen Betrieb aller an einer Handelskette beteiligten Betriebsstätten (Lager-, Kommissionier- und Um­ schlagspunkte) sowie der räumlichen Transfersysteme (Transportprozesse) gesucht. Handelsunternehmen beziehen in der Regel von sehr vielen unterschiedlichen Herstellern und Lieferanten Waren. Hierdurch entstehen sehr komplexe, teilweise in­ ternationale Logistiknetzwerke. Damit diese effizient und effektiv betrieben werden können, bedarf es einer funktionierenden nationalen und internationalen Verkehrs­ infrastruktur sowie unterstützender Transport- und Logistikdienstleister (vgl. Kotzab 2012).

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Die Warenströme im Handel werden durch gegenläufige und begleitendende In­ formationsströme ausgelöst beziehungsweise gesteuert. Die Informationsströme ge­ ben unter anderem Aufschluss über die tatsächlichen Bedarfe nach Produkten, über gegebenenfalls bereits erteilte und damit offene Bestellungen sowie über den verfüg­ baren Bestand. Damit unterstützen sie maßgeblich die Planung und Steuerung der Warenströme. Die Erfassung, Verarbeitung und Bereitstellung der jeweiligen Infor­ mationen erfolgt über sogenannte (computergestützte) Warenwirtschaftssysteme (vgl. Hertel/Zentes/Schramm-Klein 2011).

2 Bedeutung der Handelslogistik und Einzelhandelsbranchen 2.1 Bedeutung der Handelslogistik Der Handel erwirtschaftet ca. 15 % des gesamtdeutschen Bruttoinlandsprodukts und repräsentiert damit einen der bedeutendsten Wirtschaftszweige in Deutschland (vgl. EHI Retail Institute 2016). Demgegenüber nimmt die Handelslogistik ca. 30 % des ge­ samten Logistikmarkts von ca. 250 Mrd. Euro ein (vgl. Kille 2012). Die grundsätzliche Bedeutung logistischer Aktivitäten im Handel wird durch diese Disproportionalität deutlich sichtbar. Zukünftig werden logistische Aktivitäten durch den zunehmenden Wettbewerb zwischen den Handelsunternehmen und durch den stark wachsenden Onlinehandel weiterhin an Bedeutung gewinnen. Für viele Handelsunternehmen wird daher die Logistik zu einem zentralen Wettbewerbsfak­ tor. Der Handel begegnet diesen Herausforderungen durch ganz unterschiedliche Strategien. Ein Teil der Handelsunternehmen integriert möglichst viele logistische Aktivitäten in das eigene Unternehmen und entwickelt die Logistik zu einer ihrer Kernkompetenzen weiter. Ein anderer Teil der Handelsunternehmen überlässt diese Aufgaben vorzugsweise spezialisierten logistischen Dienstleistern.

2.2 Einzelhandelsbranchen Der gesamte Bruttoumsatz im deutschen Einzelhandel im engeren Sinn, d. h. ohne Kraftfahrzeuge, Brenn- und Treibstoffe sowie Apothekenumsätze, belief sich in den Jahren 2016 und 2017 auf ca. 487 beziehungsweise 501 Mrd. Euro. Seit 2010 verzeichnet der bundesdeutsche Handel einen stetigen Anstieg des Umsatzes, während sich die Entwicklung zwischen 2000 und 2009 relativ konstant bei einem Umsatz um 420 Mrd. Euro bewegte (vgl. Handelsverband Deutschland 2017a; vgl. Abbildung 1). Der B2C-Handel umfasst eine breite Palette sehr unterschiedlicher Warensorti­ mente. Grundsätzlich lassen sich die Sortimente Lebensmittel, Textil und Bekleidung,

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501

500 Umsatz in Milliarden Euro

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487

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400

Abb. 1: Umsatz im Einzelhandel im engeren Sinne in Deutschland von 2000 bis 2017 (vgl. Handels­ verband Deutschland 2017a; * Schätzwerte).

Elektro, Haushalt, Do-It-Yourself (DIY) und Möbel unterscheiden. Weitere Kategorien sind Automobil- und Mobilitätsprodukte sowie Brenn- und Treibstoffe sowie Arznei­ mittel. Zu den wichtigsten Sektoren im Einzelhandel zählen der Lebensmitteleinzel­ handel, der Modehandel, der Elektrofachhandel und der DIY-Handel. Der Lebensmitteleinzelhandel (LEH) stellt den größten Sektor im Einzelhandel dar. Die Branche wurde in der Vergangenheit durch stetig steigende Umsätze geprägt. Der Umsatz ist von etwa 126 Mrd. Euro im Jahre 1998 auf 176 Mrd. Euro im Jahre 2016 an­ gestiegen (vgl. GfK 2017), das umfasst ca. 31,8 % des gesamten Umsatzes im Handel. Das Spektrum der Warensortimente, die von einem Handelsunternehmen an­ geboten werden, kann dabei sehr vielfältig ausfallen. Vollsortimenter im LEH de­ cken beispielsweise die gesamte Breite des Lebensmittelsortiments ab. Diese Händler bieten neben den Ultrafrische- (z. B. Fisch und Meeresfrüchte), Frische-, Fleisch-, Molkerei- und Tiefkühlprodukten sowie den Produkten des Trockensortiments und Drogerieartikeln auch weitere, ergänzende Sortimente an, wie etwa Textil- und Elek­ troartikel. Große Lebensmitteleinzelhändler nutzen mehrstufige Netzwerke, d. h. die Distribution von Gütern erfolgt über zentrale und regionale Verteilzentren sowie Cross-Docks. Darüber hinaus werden die Filialen auch über Direktlieferungen (Stre­ ckengeschäft) mit Waren beliefert. Die unterschiedlichen Produktkategorien, wie etwa Tiefkühlware, Frische und Trockenware benötigen dabei besondere Lagerungsund Transportbedingungen. Die umsatzstärkste Handelsbranche nach dem LEH ist die Textil- und Bekleidungs­ branche mit ca. 64 Mrd. Euro Jahresumsatz in 2015 (vgl. statista 2017a, S. 124), das entspricht ca. 13 % des gesamten Einzelhandelsumsatzes. Lieferanten und Hersteller in dieser Branche sind häufig in fernöstlichen Ländern angesiedelt, z. B. China, Indien oder Bangladesch. Durch die große räumliche Diffe­ renz zwischen Produktion und Konsum ergeben sich besondere logistische Herausfor­ derungen. Beispiele hierzu sind die frühzeitige Vorhersage saisonaler Produkte nach Art und Menge, deren Beschaffung bei Lieferanten und Herstellern sowie die Alloka­

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tionsplanung der jeweiligen Mengen zu den Nachfragezentren des Handelsunterneh­ mens. Die Struktur des Distributionssystems zeichnet sich in dieser Branche durch eine begrenzte Anzahl an zentralen Verteilzentren aus. Die sogenannte Radio-Frequency-Identification (RFID) gewinnt in diesem Sektor merklich an Bedeutung. RFID-Tags werden dabei an den Kleidungsstücken ange­ bracht, um die logistischen Abläufe zu unterstützen, den Automatisierungsgrad zu erhöhen und den Kundenservice zu verbessern. Die physischen Bestände können so­ mit in Echtzeit erfasst und mit aktuellen, datengetriebenen Methoden analysiert und ausgewertet werden, um kurzfristige Rabattierungs- und Lozierungsentscheidungen sowie zukünftige Sortiments- und Bestellentscheidungen zu unterstützen. Für alle Marktteilnehmer stellt das Onlinegeschäft einen der wesentlichen Ver­ triebswege dar. Hierzu zählt auch, den Kunden die Möglichkeit zu bieten, bestellte Ware in den Einzelhandelsfilialen abzuholen, wodurch erhebliche Logistikkosten ein­ gespart werden können. Vor allem in der Textil- und Bekleidungsbranche gewinnen ökologische Aspekte und die Gewährleistung humanitärer Arbeitsbedingungen in den Herstellungsbetrieben an Bedeutung (vgl. Hübner/Wollenburg/Holzapfel 2016). Über Jahre hinweg war der Elektrofachhandel in Deutschland von der Wandlung vom stationären Handel hin zum Onlinehandel geprägt. Darüber hinaus besteht gera­ de in diesem Sektor ein hoher Preis- und Wettbewerbsdruck. Im Jahr 2016 verzeichnete die Branche in Deutschland einen Umsatz von ca. 31,3 Mrd. Euro (vgl. statista 2017c). Das entspricht einem Anteil von ca. 6,5 % des gesamten Handelsumsatzes in Deutsch­ land. Der starke Wettbewerb und die zunehmenden Marktanteile des Onlinehandels führen zu sinkenden Margen, wodurch effiziente logistische Systeme und Prozesse zu­ nehmend an Bedeutung gewinnen. Einzelhändler im Elektronikfachhandel werden vorwiegend aus zentralen Verteil­ zentren oder direkt vom Hersteller versorgt, da ultrakurze Lieferzeiten – kürzer als 24 Std. – weniger bedeutsam sind als im LEH. Für die Distribution der Produkte ge­ nügen in der Regel zentrale Läger sowie regionale Umschlagspunkte (vgl. Hübner/ Wollenburg/Holzapfel 2016). Der Do-It-Yourself-Kernmarkt umfasst Bau- und Heimwerkermärkte sowie große und kleine Fachmärkte. Dabei besteht das Kernsortiment aus Artikeln der Warensor­ timente Heimwerken, Baustoffe und Garten. Im erweiterten Sortiment sind darüber hinaus Produkte in den Bereichen Spiele und Freizeit sowie Basteln und Camping. Die Umsatzentwicklung verläuft seit 2005 relativ stabil bei ca. 44 bis 45 Mrd. Euro. Im Jahre 2016 belief sich der Umsatz des DIY-Markts auf ca. 45 Mrd. Euro (vgl. statista 2017b). Das entspricht einem Anteil von ca. 10 % des gesamten Handelsvolumens in Deutschland. Händler, die sich auf Baustoffe und Elektrowerkzeuge spezialisiert haben, nut­ zen zur Versorgung der Filialen überwiegend zentrale Warenverteilzentren. Zahlrei­ che Marktteilnehmer vertreiben eigene Handelsmarken, um sich unter anderem vom Onlinehandel zu differenzieren.

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3 Planung, Gestaltung und Steuerung von Strukturen und Prozessen 3.1 Rahmenbedingungen Aufgrund des stetig wachsenden Konkurrenzdrucks im Einzelhandel rücken die Kun­ denorientierung und die effiziente Gestaltung der Prozesse in den Mittelpunkt der Betrachtungen bei Handelsunternehmen. Kunden fordern hohe Serviceleistungen und gleichzeitig günstigere Preise. Die Händler streben daher nach einer größeren Produktvielfalt, profitableren Verkaufspreisen und geringeren Kosten (vgl. Hübner/ Kuhn 2012) und integrieren dabei immer mehr Logistikfunktionen (vgl. Fernie/Sparks/ McKinnon 2010). Die Erfüllung der Kundenbedürfnisse stellt somit beim B2C-Handel – verglichen mit Industriezweigen – ein vorrangiges Ziel dar. Aus logistischer Sicht beeinflusst dies vor allem die Gestaltung der letzten Meile bis zum Regal in der Handelsfiliale des Ein­ zelhändlers oder bis zum Übergabepunkt an den Endkunden vor dessen Haus- oder Wohnungstür. Aufgrund der sich rasant entwickelnden neuen Kommunikations- und Informationstechnologien werden derzeit völlig neue, ganzheitliche logistische Kon­ zepte diskutiert und entwickelt. Insbesondere die stark wachsenden Onlineumsätze fördern diese Entwicklung. In Deutschland betragen die Onlineumsätze im Jahr 2017 laut Prognose bereits über 48 Mrd. Euro (vgl. Handelsverband Deutschland 2017b). Die zunehmende Verbreitung mobiler Endgeräte ermöglicht den Endkunden einen fortwährenden Zugriff auf das Internet mit merklichen Auswirkungen auf das Ein­ kaufsverhalten und neuen Herausforderungen an den Automatisierungsgrad der Ver­ teilzentren, die Cross-Docking-Systeme und die interstädtische Warenverteilung (CityLogistik) zur Erfüllung der sich ständig wandelnden Kundenbedürfnisse (vgl. Hüb­ ner/Glatzel/Großpietsch 2012; Klingler/Hübner/Kempcke 2016; Kuhn/Sternbeck 2011; Morschett et al. 2012). Viele Handelsunternehmen operierten früher hauptsächlich durch die Beschaf­ fung von Waren und Produkten von anderen Marktteilnehmern, um diese dann über die eigenen Handelskanäle an den Konsumenten zu vertreiben. Handelsunternehmen stellen daher Produkte in der Regel nicht selbst her oder verarbeiten diese weiter. In den letzten Jahren hat jedoch der Vertrieb von Produkten unter einem eigenen Na­ men – sogenannte Handels- oder Eigenmarken – stark zugenommen (vgl. Rudolph 2013). Ziel hierbei ist, sich von der Konkurrenz abzugrenzen. Der Fluss der Waren ent­ lang der Lieferkette kann daher sehr unterschiedliche Ausprägungen aufweisen. Aufgrund dieser Entwicklungen stellt die ganzheitliche Analyse und Optimie­ rung der Logistikkette eine wesentliche Herausforderung der Logistik dar (vgl. Kotzab 2012). Die Logistikkette reicht hierbei von der Beschaffung der Produkte über deren Lagerung und Distribution bis hin zur Organisation der Filialprozesse und der NachHause-Lieferung an den Endkunden, die die notwendige strukturelle und operative

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Flexibilität aufweisen sollte, um sich an das ständig wandelnde Einkaufsverhalten der Kunden anpassen zu können. In dieser Lieferkette sind zahlreiche Entscheidun­ gen zu treffen, die zum einen über die gesamte Lieferkette reichen und zum anderen eine sehr unterschiedliche zeitliche Perspektive einnehmen. Jedoch hängen alle Ent­ scheidungsprobleme – zumindest indirekt – voneinander ab. Zur Systematisierung und Strukturierung der jeweils relevanten Entscheidungsprobleme in einer Indus­ triebranche und zur Veranschaulichung der jeweiligen Abhängigkeiten, wurde die Supply-Chain-Planungsmatrix entwickelt (vgl. Fleischmann/Meyr/Wagner 2015).

3.2 Supply-Chain-Planungsmatrix Die Supply-Chain-Planungsmatrix strukturiert die jeweiligen Planungsfragen in funk­ tionaler und zeitlicher Hinsicht. Abbildung 2 veranschaulicht die Planungsmatrix für den B2C-Handel. Entlang der Lieferkette unterscheidet die Handels-Supply-Chain-Planungsmatrix die Funktionen Einkauf/Beschaffung, Lagerhaltung, Distribution und Vertrieb. Die je­ weiligen Planungsfragen in den einzelnen Funktionsbereichen sind demgegenüber im Hinblick auf ihre zeitliche Perspektive hierarchisch nach lang-, mittel- und kurzfristi­ gen Fragen differenziert. Die langfristige Planung beinhaltet die strategische Beschaffungs-, Netzwerk- und Vertriebsplanung. Die Gestaltung der Lieferkette nimmt in diesem Zusammenhang ei­ ne herausragende Bedeutung ein. Die Lieferkette bestimmt den Weg der Waren und Produkte vom Hersteller bis zum Endverbraucher und legt damit die Waren- und die damit verbundenen Informationsflüsse fest. Ziel sollte es daher sein, diese Kette mög­ lichst effektiv zu gestalten und die unterschiedlichen Einheiten der Kette kosteneffizi­

Mittelfristig

Kurzfristig

Strategische Distributionsplanung

Produktsegmentation und Allokation

Strategische Absatzplanung

Masterkategorienplanung

Eingangsplanung

Produktionsplanung

Distributionsplanung

Planung ladeninterner Abläufe

Bestellplanung

Produktions ablaufplanung

Transportplanung

Erfüllung ladeninterner Aufgaben

Legende: Warenfluss

Informationsfluss

Abb. 2: Supply-Chain-Planungsmatrix im B2C-Handel (vgl. Hübner/Kuhn/Sternbeck 2013).

Konfigu ration

Strategisches Lagerhausdesign

Masterplanung

Strategische Beschaffungslogistik

Vertrieb

Ausführungsplanung

Langfristig

Distribution

Lagerhaltung

Beschaffung

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ent miteinander zu verknüpfen. Eine „gut“ funktionierende Lieferkette ist eine Grund­ voraussetzung für jedes Handelsunternehmen (vgl. Kuhn/Sternbeck 2013; Sternbeck/ Kuhn 2010). Die mittelfristige Planung plant und koordiniert die operativen Entscheidungs­ probleme im Zeithorizont von 6 bis 16 Monaten. Hierunter fallen unter anderem die mittelfristige Sortimentsplanung, die Zuordnung der Produkte zu den unter­ schiedlichen Lagertypen, z. B. zum Zentral- oder Regionallager (vgl. Holzapfel/Kuhn/ Sternbeck 2018), die Entscheidungen darüber, an welcher Stelle und in welcher Größe die Liefereinheiten der Industrie in kleinere Gebindeeinheiten aufgelöst werden sol­ len (vgl. Broekmeulen et al. 2017; Wensing/Sternbeck/Kuhn 2018), die Festlegung der Häufigkeit und der zeitlichen Lage der Filialbelieferungen vom Warenverteilzentrum (vgl. Holzapfel et al. 2016; Sternbeck/Kuhn 2014a), die Gestaltung der Filialprozesse (vgl. Sternbeck/Kuhn 2014b) sowie die mittelfristige Sortimentsplanung (vgl. Hübner/ Kuhn/Kühn 2016) und die Produktplatzierungen in den Regalen unter Berücksichti­ gung der logistischen Strukturen und Prozesse in den Filialen (vgl. Hübner/Schaal 2017). Die Planungen berücksichtigen hierbei insbesondere die von der Jahreszeit abhängige Kundennachfrage der jeweils angebotenen Produkte. Die kurzfristige Planung spezifiziert und steuert alle Aktivitäten im Zeithorizont von Tagen und wenigen Wochen und bezieht insbesondere tages- und wochenzeit­ liche Saisoneffekte in die Planungen mit ein. Darunter fällt unter anderem auch die kurzfristige, tägliche Transportplanung (vgl. Hübner/Ostermeier 2018). Eine wesent­ liche Aufgabe der kurzfristigen Planungsebene ist es, die entstehenden Warenflüsse vom Lieferanten zum Endkunden zu verfolgen und Informationen über die abgesetz­ ten Waren sowie Lagerbestände in der Kette zeitnah bereitzustellen. Dies geschieht über die Implementierung und Bereitstellung von sogenannten Warenwirtschaftssys­ temen, die meist eine unternehmensübergreifende, artikelspezifische, vollautomati­ sche und IT-gestützte Auftragsabwicklung ermöglichen (vgl. Kotzab 2012). Warenwirt­ schaftssysteme bilden dabei den physischen Warenfluss innerhalb der Lieferkette ab und steuern die dazugehörigen Prozesse im Handelsunternehmen. Hauptsächliche Prozesse sind dabei Dispositions-, Bestell-, Wareneingangs-, Lagerungs-, Warenaus­ gangs-, Kassenabwicklungs-, Inventur- und Berichtsprozesse (vgl. Hertel/Zentes/ Schramm-Klein 2011). Die jeweiligen lang-, mittel- und kurzfristigen Planungen sind stark miteinander vernetzt und weisen teilweise erhebliche Abhängigkeiten auf. Bei der Aufstellung der jeweiligen Pläne sind diese Abhängigkeiten zu berücksichtigen, um unnötige Kosten und/oder entgangene Deckungsbeiträge zu vermeiden, die zum einen durch ein Über­ angebot an Produkten oder zum anderen durch das Fehlen von Produkten entstehen können. Quantitative Entscheidungsmodelle können hier zieladäquat Unterstützung geben (vgl. Hübner/Kuhn 2012; Kopalle 2010).

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4 Omni-Channel-Handel Der Multi- und Omni-Channel-Handel gewinnt aufgrund des anhaltenden Wachstums im Onlinegeschäft und der fortschreitenden Digitalisierung konsumnaher Bereiche merklich an Bedeutung. Von einem Multi-Channel-Handel wird gesprochen, wenn ein Handelsunternehmen sowohl ein Onlinegeschäft als auch stationäre Handelsfi­ lialen betreibt, ohne dass beide Vertriebskanäle physisch und/oder operativ mitein­ ander verbunden sind (vgl. Beck/Rygl 2015; Verhoef/Kannan/Inman 2015; Hübner/ Holzapfel/Kuhn 2015; Hübner/Wollenburg/Holzapfel 2016). Der Begriff Omni-Chan­ nel-Handel unterstellt demgegenüber, dass die jeweiligen Absatzkanäle integriert or­ ganisiert und betrieben werden. Im Omni-Channel-Handel unterscheidet weder der Kunde noch der Händler in welchem Kanal die Ware gekauft beziehungsweise für welchen Absatzkanal die Ware beschafft, gelagert, kommissioniert und transportiert wird (vgl. Beck/Rygl, 2015; Bell/Gallino/Moreno 2014; Brynjolfsson/Hu/Rahman 2013; Hübner/Wollenburg/Holzapfel 2016; Verhoef/Kannan/Inman 2015). Der Kunde erhält die gewünschte Ware unabhängig davon, in welchem Kanal er die Ware ursprüng­ lich beschaffen wollte. Der Händler hingegen nutzt die wechselseitigen Synergieef­ fekte aus den beiden Kanälen, um Kosten zu senken und/oder den Kundennutzen zu erhöhen (vgl. Hübner/Wollenburg/Holzapfel 2016).

4.1 Bedeutung und Herausforderungen Der Onlinehandel entwickelt sich rasant. Während in den vergangenen Jahren die ge­ samten Verkäufe im Einzelhandel zwischen 1 und 3 % p. a. gewachsen sind, liegen die Wachstumsraten im Onlinehandel bei über 10 % p. a. (vgl. Danneck 2013). Dieser Trend wird sich auch in den kommenden Jahren weiter fortsetzen. Sowohl die Nach­ frage als auch das Angebot im Onlinegeschäft wächst stetig. Bereits 2013 waren mehr als 50 % der großen stationären Handelsunternehmen in Deutschland auch im On­ linegeschäft tätig (vgl. Kuhn/Hübner/Holzapfel 2014). Der Non-Food-Bereich treibt bisher das Wachstum des Onlinegeschäfts. Jedoch werden auch im Lebensmitteleinzelhandel ähnlich wie in den Branchen Textil und Elektronik die Onlineanteile merklich zunehmen. Die Entwicklungen in anderen eu­ ropäischen Ländern, z. B. Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden, offen­ baren, dass sich auch der LEH in die Richtung eines Omni-Channel-Handels entwi­ ckelt. In Großbritannien wurden im Jahr 2016 bereits für mehr als 11 Mrd. Euro Le­ bensmittel online umgesetzt. Dies entspricht einem Anteil von ca. 5 % am gesamten Lebensmittelumsatz. Für 2021 wird ein Online-Umsatz von ca. 20 Mrd. Euro erwartet (vgl. Phillips/Vasquez-Nicholson 2016). Im Jahr 2018 werden Lebensmittel die Unter­ haltungselektronik bei den Onlineumsätzen überholt haben und damit in Großbri­ tannien die zweitgrößte Onlinekategorie nach Bekleidung bilden (vgl. Forrester 2014).

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Die zunehmende Erwerbstätigkeit, die gute Einkommensentwicklung und die daraus resultierenden Convenience-Ansprüche begünstigen diese Entwicklung in allen euro­ päischen Ländern. Der Anteil des Onlineumsatzes von Lebensmitteln, der in Deutsch­ land aktuell (2016) weniger als 1 % beträgt, wird zukünftig signifikant steigen. Mehr als die Hälfte der deutschen Verbraucher kann sich bereits heute vorstellen, Lebens­ mittel online einzukaufen (vgl. Gstettner et al. 2014). Diese Entwicklung führt zu der Herausforderung, neue Belieferungsstrukturen und -modelle zu entwickeln, die insbesondere den stationären Handel, d. h. die Filia­ len des Einzelhandels in die Lieferkonzepte des Onlinehandels integrieren, um zum einen den Kundenservice zu verbessern und zum anderen die Lieferzeiten zu verkür­ zen (vgl. Kuhn/Hübner/Holzapfel 2014). Handelsunternehmen werden zukünftig in der Lage sein, auf Kundenbestellungen unmittelbar reagieren zu können. In diesem Zusammenhang gewinnt die Transparenz über die Höhe der jeweili­ gen Produkt- und Warenbestände über alle Vertriebskanäle hinweg an Bedeutung. Es werden einerseits verlässliche Bestandsinformationen benötigt, um die unterschiedli­ chen Kanäle zu koordinieren und die Produktverfügbarkeit kanalübergreifend sicher­ zustellen. Andererseits sind Echtzeitinformationen über die vorhandenen Bestände an den verschiedenen Lagerorten notwendig, um moderne Lieferkonzepte wie SameDay-Pickup oder Same-Day-Delivery realisieren zu können. Neben Bestandstranspa­ renz spielt die Allokation und die Integration der Warenbestände eine zentrale Rolle, um Synergieeffekte zwischen den Vertriebskanälen zu nutzen und damit Kosten zu re­ duzieren und gleichzeitig die Verfügbarkeit der Produkte an möglichst vielen Stand­ orten und in allen Kanälen zu gewährleisten. Bestände werden möglichst spät und vor allem flexibel zugeteilt, so dass unnötige Umfuhren vermieden werden können. Die Integration der Bestände über mehrere Kanäle kann physisch über ein gemeinsa­ mes Lager, aber auch virtuell mit Hilfe moderner, integrierter Warenwirtschaftssysteme umgesetzt werden (vgl. Kuhn/Hübner/Holzapfel 2014). Die angeführten Herausforderungen spiegeln sich in den Planungs- und Steue­ rungsfragen der Handelslogistik im Multi- beziehungsweise Omni-Channel-Handel wider. Auf strategischer Ebene sind dabei zunächst die Verantwortlichkeiten für die Logistik in den Kanälen und damit die Frage nach der Eigen- oder Fremderfüllung der jeweiligen Aufgaben zu klären. Außerdem stellt sich die Frage, wie das Liefernetz­ werk eines Multi- beziehungsweise Omni-Channel-Händlers gestaltet werden sollte. Auf taktischer und operativer Ebene ist festzulegen, wie die Saisonalitäten im On­ line- und im stationären Handel gezielt genutzt werden können, um gegebenenfalls Spitzenbedarfe ausgleichen zu können. Daneben stellt sich über die Planungsebe­ nen hinweg die Frage nach dem Angebot und der Umsetzung der Warenauslieferung und -retournierung, die die Möglichkeiten des Onlinehandels nutzen und die statio­ nären Filialen zielgerichtet integrieren (vgl. Hübner/Holzapfel/Kuhn 2015; Hübner/ Holzapfel/Kuhn 2016; Kuhn/Hübner/Holzapfel 2014).

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4.2 Gestaltung des Logistiksystems Die Distribution im Online- und im traditionellen Versandhandel wird in der Regel von KEP-Dienstleistern übernommen. Die Bewirtschaftung der Läger kann jedoch in jedem der Kanäle ganz unterschiedlich organisiert werden. Grundsätzlich lassen sich vier Typen unterscheiden (vgl. Abbildung 3; Kuhn/Hübner/Holzapfel 2014): Händler vom Typ 1 führen das stationäre Geschäft eigenverantwortlich durch und lagern das Onlinegeschäft an einen externen Dienstleister aus. Diese Variante bietet stationären Handelsunternehmen beim Einstieg in den Onlinehandel die Möglichkeit, sich die Kompetenzen für die Abwicklung des Versandhandels einzukaufen. Weiterhin kön­ nen mit dieser Option Kapazitätsengpässe in der eigenen Infrastruktur ausgeglichen werden. Langfristige Synergien in der Logistik sind aber nur dann erzielbar, wenn die Abwicklung von Online- und stationärem Geschäft integriert stattfindet (Typ 2). Die eigenverantwortliche Abwicklung beider Kanäle sollte daher das langfristige Ziel ei­ nes Omni-Channel-Händlers sein. Grundsätzlich können die logistischen Abwicklun­ gen der Filial- und Kundenaufträge auch vollständig fremdvergeben werden (Typ 3). Handelsunternehmen mit einer Kernkompetenz in der Warenbeschaffung und/oder im Vertrieb bevorzugen diese Variante. Die vierte Kombinationsmöglichkeit (Typ 4), d. h. die Logistik für den stationären Kanal wird fremdvergeben, während die Logistik

Typ 3

Typ 1 Fremdvergabe 3 Lager für OnlineHandel Typ 2

2

Typ 4

Eigenabwicklung 1

Eigenabwicklung

Fremdvergabe

Lager für stationären Handel Abb. 3: Typologie der Verantwortlichkeiten für die Lagerabwicklung im Multi- und Omni-ChannelHandel (vgl. Kuhn/Hübner/Holzapfel 2014).

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für den Versandhandel selbst durchgeführt wird, findet sich in der Praxis typischer­ weise nicht. Die logistische Abwicklung der Filialaufträge ist in der Regel erheblich leichter beherrschbar als die Abwicklung der Kundenaufträge im Onlinegeschäft, da­ her ist Typ 4 in der Praxis nicht existent. Im Zuge ihres Geschäftsbetriebs entwickeln sich Handelsunternehmen in der Re­ gel von einem zum anderen Typ. Wurde bisher nicht fremdvergeben, besteht grund­ sätzlich die Möglichkeit, von Typ 2 zu Typ 4 zu wechseln (1). Jedoch kann dieser Über­ gang aus ökonomischen Gründen nicht empfohlen werden. Ein Übergang von Typ 2 zu Typ 1 ist hingegen dann zu empfehlen (2), wenn Kapazitätsengpässe für die Ab­ wicklungen eines Absatzkanals vorherrschen und keine größeren Investitionen in die eigene Infrastruktur vorgenommen werden sollen. Der Übergang von Typ 1 zu Typ 2 beschreibt die Entwicklung hin zum Omni-Channel-Händler (3), um im Zuge der lo­ gistischen Abwicklung möglichst viele Synergieeffekte zu nutzen. Die angestrebte logistische Netzwerkkonfiguration entscheidet mit darüber, wie die Verantwortung für die Lagerabwicklung geregelt wird. Hierbei stellt sich die Fra­ ge, ob die beiden Absatzkanäle in denselben physischen Standorten abgewickelt wer­ den sollen, oder ob eine Trennung nach Kanälen zu separaten Lagerstandorten führt. Durch kanalübergreifende Standorte (Typ IN) lassen sich Synergieeffekte gewinnen. Diese liegen vor allem in der Möglichkeit, Lagerbestände für beide Kanäle gemein­ sam zu nutzen und dadurch bei identischem Gesamtlagerbestand einen besseren Ser­ vicegrad oder einen vergleichbaren Servicegrad bei geringerem Gesamtlagerbestand zu erzielen. Daneben können Lagerflächen, Overheadkosten und gegebenenfalls Um­ fuhren eingespart werden. Die effektive Nutzung eines gemeinsamen Lagers setzt al­ lerdings eine passende Infrastruktur, Ressourcen und Know-how für die Kommissio­ nierung und das Versenden der Artikel in beiden Kanäle voraus. Sind diese Vorausset­ zungen nicht erfüllt oder können sie nicht schnell genug geschaffen werden, setzen die Händler zunächst auf separate Lagerstandorte (Typ SP-P und SP-S) für die Kanäle, wobei es oft zum Outsourcing des Versandhandelskanals kommt. Die Separierung der Kanäle bietet den Vorteil, sich auf die in ihren Anforderun­ gen teilweise sehr unterschiedliche Kommissionierung für die beiden Absatzkanäle spezialisieren zu können. Die Umsetzung erfolgt entweder in komplett parallel ge­ schaffenen Strukturen (Typ SP-P) oder indem die Ware zunächst im stationären Lager für beide Kanäle vereinnahmt und dann an das Onlinelager weitergeleitet wird (Typ SP-S). Letzteres Vorgehen führt zwar zu doppeltem Handlingsaufwand, bündelt aber die Mengen im Inboundbereich. Oft liegt dieser Abwicklungsvariante die Behandlung des Onlineshops als eine weitere Filiale zugrunde, die aus dem stationären Lager bedient wird (vgl. Hübner/Holzapfel/Kuhn 2016; Kuhn/Hübner/Holzapfel 2014). Die grundsätzlichen Netzwerkstrukturen sind in Abbildung 4 veranschaulicht.

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Gemeinsames Netz Typ IN:

Getrennte Netze Typ SP-P:

Lieferanten

stationär &Online online

Lieferanten

stationär

online

Typ SP-S: Lieferanten

stationär

online

Abb. 4: Typologie der Logistiknetzwerke im Multi- und Omni-Channel Handel (vgl. Kuhn/Hübner/ Holzapfel 2014).

4.3 Operative Logistik im Warenverteilzentrum Die gemeinsame Nutzung eines Warenverteilzentrums für den stationären und den Onlinekanal ermöglicht es, die Beschäftigung des Kommissioniersystems mit Filialund Onlinekundenaufträgen gegenseitig auszugleichen. Der jahreszeitliche Nachfra­ geverlauf führt zunächst in beiden Kanälen zu parallel verlaufenden Saisonspitzen, so dass die gemeinsame Nutzung des Kommissioniersystems noch keinen unmittel­ baren Vorteil bietet. Die stationären Filialen können jedoch mit einer gewissen zeitlichen Flexibilität beliefert werden, so dass die Aufträge mit einem Vorlauf vor den Saisonspitzen des On­ linehandels zusammengestellt und ausgeliefert werden können. Weiterhin lässt sich die Beschäftigung des Kommissioniersystems innerhalb einer Woche oder eines Tages durch die zeitliche Verschiebung der Auftragsbearbeitung für den stationären Handel glätten. Die leicht verschobene Wochensaisonalität der Nachfrage in den beiden Absatz­ kanälen (vgl. Abbildung 5) kann zum Ausgleich der Beschäftigung innerhalb einer Woche genutzt werden. Findet die Retourenabwicklung im selben Lager statt, glättet

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Stationär Online

Mo

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Mi

Do

Fr

Sa

Abb. 5: Kommissionierbedarf im Lager eines Omni-Channel-Händlers – Wochensaison (vgl. Kuhn/ Hübner/Holzapfel 2014).

diese die Beschäftigung weiter, da die Bedarfe zu den jeweiligen originären Nachfra­ gen zeitlich verschoben entstehen und die jeweiligen Bedarfsspitzen zur Wochenmitte auftreten (vgl. Hübner/Holzapfel/Kuhn 2015; Kuhn/Hübner/Holzapfel 2014). In der täglichen Auftragsbearbeitung bietet ein gemeinsames Lager ebenfalls die Möglichkeit, Bedarfsspitzen auszugleichen. Bestellungen für den Onlinehandel tref­ fen an Werktagen üblicherweise gegen Abend ein und somit nahe dem sogenann­ ten Cut-Off-Zeitpunkt, an dem die kommissionierte Ware an den Paketdienstleister zu übergeben ist. Kurz vor diesem Zeitpunkt werden dann vorwiegend Onlineaufträge bearbeitet und Filialaufträge am Vormittag oder nach dem Cut-Off-Zeitpunkt zusam­ mengestellt (vgl. Hübner/Holzapfel/Kuhn 2015; Kuhn/Hübner/Holzapfel 2014).

4.4 Operative Logistik bei der Warenauslieferung und -retournierung Die Gestaltung der Fullfillment-Prozesse von der Kundenbestellung über die Lagerhal­ tung und Kommissionierung bis hin zum Endkunden sind ausschlaggebend für die Wettbewerbsfähigkeit eines Online- oder Omni-Channel-Handelsunternehmens (vgl. Hübner/Kuhn/Wollenburg 2016). Die „letzte Meile“, d. h. die Auslieferung der Produk­ te und Waren vom Warenverteilzentrum und/oder der Filiale an den Endkunden spielt in diesem Zusammenhang und hier vor allem im Online-LEH eine ganz besondere Rol­ le, um im Wettbewerb bestehen zu können. Abbildung 6 veranschaulicht die Gestaltungsmöglichkeiten der letzten Meile im Omni-Channel- und Onlinehandel. Zwei Grundmodelle stehen im Vordergrund: die Hauszustellung und die sogenannte Click&Collect-Lösung, bei der onlinebestellte Wa­

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Hauszustellung

Click&Collect

an-

eigenst.

Liefermodus abwesend

gleicher Tag

angebaut

in Filiale

z. B. CrowdShipping

zwei oder mehr Tage

nächster Tag

Lieferzeit ohne Zeitfenster

mit Zeitfenster

Liefergebiet

lokal

regional

national

international

Retouren

keine, aber Geld zurück

Haustürkontrolle und Retoure

CEPKontrolle und Retoure

Annahme und Geld zurück in der Filiale

Abb. 6: Gestaltungsmöglichkeiten der „letzten Meile“ im Online- und Omni-Channel-Handel (vgl. Hübner/Kuhn/Wollenburg 2016, S. 234).

ren vom Kunden selbst abgeholt werden. Dem Omni-Channel-Händler bieten sich hierbei mehrere Umsetzungsalternativen. Die Hauszustellung kann direkt aus den Filialen heraus organisiert werden. Diese Variante ist insbesondere im LEH und bei sperrigen Gütern im DIY-Bereich zu finden. Darüber hinaus begünstigt diese Variante, Kundenbestellungen bereits am Tag der Bestellung (Same-Day-Delivery) ausliefern zu können (vgl. Hübner/Holzapfel/Kuhn 2016; Kuhn/Hübner/Holzapfel 2014). Bei der Hauszustellung lassen sich wiederum zwei Varianten unterscheiden. Im ersten Fall nimmt der Kunde seine Ware an der Wohnungstür an, was die Anwesenheit des Kunden innerhalb eines zwischen Kunde und Händler abgestimmten Zeitfensters voraussetzt (Anwesenheitskonzept). Die Anwesenheit des Kunden ist in der Regel so­ wohl im LEH als auch bei Warenlieferungen, die besondere Dienstleistungen enthal­ ten, z. B. Anschluss und Einbau von Elektrogroßgeräten, wie Waschmaschinen und Fernsehgeräten, erforderlich. Für den Händler erhöht sich dadurch der Logistikauf­ wand, da zum einen die Auslieferung für ein bestimmtes Lieferzeitfenster zu planen ist und zum anderen bei einer möglichen Abwesenheit des Kunden eine gegebenen­ falls wiederholte Anlieferung der Waren und/oder erneute Bereitstellung des spezifi­ schen Fachpersonals erforderlich wird (vgl. Hübner/Kuhn/Wollenburg 2016). Beim zweiten Fall der Hauszustellung ist es nicht erforderlich, dass der Kunde zu Hause ist (Abwesenheitskonzept). Dies erhöht den Spielraum in der Distributionspla­ nung und senkt die operativen Kosten erheblich. Die Kosten der Hauslieferung bei persönlicher Übergabe sind durchschnittlich 2,5-mal so hoch wie bei nicht-persönli­ cher Übergabe (vgl. Gstettner et al. 2014). Beim Abwesenheitskonzept im LEH werden entweder Lieferboxen oder individuelle, an der Wohnung befindliche Empfangsboxen genutzt. Im zweiten Grundmodell des Liefermodus, der Click&Collect-Lösung bestellt der Kunde online und holt seine Waren an eigens eingerichteten Abholstationen ab. Da­

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bei kann es sich um das Ladengeschäft selbst, um in der Nähe der Filialen errichtete Abholstationen oder um eigenständige und unabhängig von einer Filiale aufgebaute Abholstationen handeln. Die Click&Collect-Lösung weist erhebliche Kostenvorteile auf, da die relativ kost­ spielige Lieferung zur Wohnung des Kunden vom Kunden selbst getragen wird (vgl. Hübner/Kuhn/Wollenburg 2016). Daneben geht Click&Collect mit erhöhtem CrossSelling und Kundenbindungspotenzial einher. Die Kommissionierung der Bestellung erfolgt entweder in der Filiale selbst oder im Onlineverteilzentrum und wird dann per Dienstleister oder mit der regulären Filiallieferung in die Filiale beziehungsweise an die Abholstation gebracht. Im ersten Fall wird die Ware quasi aus dem Filialbestand reserviert, daher spricht man in diesem Zusammenhang auch von Click&Reserve. Hierdurch kann der Bestand in den Filialen auch für das Onlinegeschäft genutzt und den Kunden eine taggleiche Abholung (Same-Day-Pickup) angeboten werden. Jedoch ergeben sich für das Verkaufspersonal in den Filialen zusätzliche Aufgaben und an das Warenwirtschaftssystem werden besondere Anforderungen gestellt (vgl. Hübner/ Holzapfel/Kuhn 2016; Kuhn/Hübner/Holzapfel 2014). Neben den beiden Grundmodellen des Liefermodus, der Hauslieferung und des Click&Collect, bieten sich weitere innovative Auslieferungskonzepte an, zu denen das sogenannte Crowdshipping zählt. Hier agieren die Kunden selbst als Auslieferer, die anderen Kunden Produkte mitbringen (vgl. Hübner/Kuhn/Wollenburg 2016). Filialen des stationären Handels können nicht nur dazu verwandt werden, um onlinebestellte Waren abzuholen, sondern auch dazu, diese gegebenenfalls wieder zurückzubringen (Gestaltung des Retourenprozesses). Im fortgeschrittenen Stadium des Omni-Channel-Handels wird die Retournierungsoption den Onlinekunden unab­ hängig davon angeboten, über welchen Liefermodus die Kunden die Ware erhalten haben. Somit ist eine Rückgabe per Paketdienstleister sowie in einer beliebigen Filia­ le möglich. Dem Händler bietet letztere Option die Chance, durch Gespräche mit dem Kunden Hinweise über die tatsächlichen Retourengründe zu erfahren und dem Kun­ den gegebenenfalls alternative Produkte anzubieten. Zudem können durch die Verein­ nahmung der retournierten Ware in den Filialbestand Transportkosten gesenkt wer­ den (vgl. Hübner/Holzapfel/Kuhn 2016; Kuhn/Hübner/Holzapfel 2014). Entsprechend einer Filialabholung erhöht sich der Handlingsaufwand, und das Warenwirtschafts­ system muss besonderen Anforderungen genügen, wenn dem Kunden beispielsweise der Warenwert unmittelbar erstattet werden soll. Omni-Channel-Händlern mit einem ausgedehnten Filialnetz bietet sich somit im Hinblick auf die Lieferung und Retoure von Waren die Chance, ihren Kunden einen deutlichen Zusatznutzen anzubieten und hiermit ihre Wettbewerbssituation gegen­ über reinen Versandhändlern merklich zu verbessern.

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5 Aktueller Trend in der Handelslogistik: Sharing Economy Die Entwicklungen im Online- und Omni-Channel-Handel haben zu der Herausforde­ rung geführt, die letzte Meile effizient und effektiv zu überwinden (vgl. Hübner/Kuhn/ Wollenburg 2016). Eine Möglichkeit, dieser Herausforderung zu begegnen, wird unter anderem in der Idee und den Konzepten der Sharing Economy gesehen. Unter dem Begriff „Sharing Economy“ werden Dienstleistungen verstanden, bei denen private oder gewerbliche Anbieter ihre aktuell nicht genutzten mobilen und immobilen Ressourcen sowie Fähigkeiten und Dienstleistungen privaten und ge­ werblichen Nachfragern über Onlineplattformen zum temporären Gebrauch anbieten (vgl. Gesing 2017). Aktuell bekannte und erfolgreich betriebene Geschäftsmodelle der Sharing Economy im Private-to-Private-Bereich (P2P) sind Airbnb und Uber. Im gewerblichen Bereich findet man zahlreiche B2B-Sharing-Anbieter. Im Rah­ men der Logistik werden unter anderem logistische Dienstleistungen für den B2B- so­ wie B2C-Handel angeboten. Im B2B-Handel werden vor allem Transport- und Lager­ haltungsaufgaben übernommen (vgl. Ocicka/Wieteska 2017). Zur besseren Nutzung unausgelasteter Transportkapazitäten, insbesondere um Leerfahrten im Rücklauf zu vermeiden, haben sich sogenannte Onlinefrachtbörsen entwickelt (vgl. Müller 2010). Es werden Plattformen geschaffen, die Angebot und Nachfrage vakanter Transport­ kapazitäten zusammenführen (vgl. Srinivasan/Leveque 2016). Diese Frachtenbörsen bieten für Handelsunternehmen zweierlei Vorteile. Zum einen kann damit die Auslas­ tung des eigenen Fuhrparks erhöht werden, zum anderen können hierüber – ähnlich wie mit Hilfe klassischer Transportdienstleister – die Kapazitäten des eigenen Fuhr­ parks ergänzt oder gegebenenfalls sogar komplett ersetzt werden. Im Rahmen der Lagerlogistik werden diese Aktivitäten als „On-Demand Ware­ housing“ bezeichnet. Hierbei bieten Unternehmen ihre aktuell nicht genutzten Lager­ flächen über Onlineplattformen anderen Unternehmen zur temporären Nutzung an. Im Unterschied zum Angebot traditioneller Logistikdienstleister können diese Lager­ flächen für einen kürzeren Zeitraum und in kleineren Mindestgrößen gebucht werden (vgl. Sinha 2016). Die Nutzung von On-Demand-Warehousing-Plattformen bieten dem Handelsunternehmen erhebliche Flexibilitätsvorteile. Nachfragespitzen, die mit be­ reits bestehenden Distributionszentren nicht abgedeckt werden können, können über derartige Plattformen abgefangen werden, indem sich Lagerflächen und/oder Dienst­ leistungen (unter anderem Kommissionierleistungen) sehr kurzfristig und nahe an den tatsächlichen Bedarfszeitpunkten hinzubuchen lassen. Ansätze der Sharing Economy in der Handelslogistik lassen sich nicht nur beim B2B-Sharing-Konzept, sondern auch beim C2B-Sharing finden. Im C2B-Sharing-Kon­ zept werden über Internetplattformen verfügbare Kapazitäten und Ressourcen von Privatpersonen an Unternehmen vermittelt. Eine mögliche Ausprägung des Konzepts ist das Crowdsourcing von Transportdienstleistungen der letzten Meile, d. h. im Zuge

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733

der Hauszustellung von Endkundenaufträgen (vgl. Castillo et al. 2017). Diese Konzep­ te werden im weiteren Sinne als „Crowdsourced Logistics“ oder im engeren Sinne als „Crowdshipping“ bezeichnet. Beim Crowdshipping wird explizit auf die Auslieferung von Endkundenaufträgen Bezug genommen. Das Crowdshipping wird vor allem im Zuge der Auslieferung von Kundenbestel­ lungen am Tag der Bestellung (Same-Day-Delivery) genutzt, um die Auslieferung ef­ fektiv und zugleich kosteneffizient umsetzen zu können. Beim Crowdshipping werden über Onlineplattformen Paketauslieferungen von Privatpersonen übernommen, die gegebenenfalls bereits aus persönlichen Gründen mit einem Mobilitätsträger (Auto, Fahrrad, ÖPNV) in der Nähe und in gleicher Richtung unterwegs sind (vgl. Dörrzapf et al. 2016; Mehmann/Frehe/Teuteberg 2015). Onlinehändler wie Amazon (Amazon Flex) nutzen Crowdshipping zur Ausliefe­ rung von Paketen (vgl. Kramer/Frisse 2017), wobei bei Amazon Flex die Auslieferfahr­ ten separat arrangiert werden und die Fahrer in der Regel nicht bereits aus persönli­ chen oder anderen Gründen unterwegs sind. Auch der stationäre Einzelhandel lässt sich durch diese Konzepte bereichern, in­ dem beispielsweise Kunden, die stationär einkaufen, für andere Kunden Produkte von ihrem eigenen Einkauf mitbringen (vgl. Dörrzapf et al. 2016). Der stationäre Händler kann dadurch zusätzliche Umsätze erzielen und/oder Lieferkosten einsparen. Bring­ Bee war eine der ersten Crowdshipping-Plattformen, die derartige Dienstleistungen vermittelte (vgl. BringBee 2014). Aufgrund der geringen Anzahl an Nutzern wurde der Betrieb von BringBee jedoch nach ca. 18 Monaten Laufzeit eingestellt.

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Andreas Otto, Maximilian Lukesch, Christian Brabänder und Florian Kellner

Konsumgüterdistribution 1 1.1 1.2 1.3 1.4 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8

Distributionslogistik als System | 737 Funktionen der Distributionslogistik | 737 Strukturen der Distributionslogistik | 738 Prozesse der Distributionslogistik | 744 Systemleistung und deren Messung | 748 Umgestaltung des Systems: Arbeitsfelder | 749 Systemführerschaft | 749 Bündelung ohne Netz – Balance von Spedition und Frachtführer | 750 Segmentierung des Sortiments | 750 Mehrkanal-Distribution: Integration von Brick & Click | 751 Heimlieferung | 751 Nachhaltigkeit als Gestaltungsziel | 752 Technologie | 752 Kooperation der Akteure | 753 Literatur | 755

Zusammenfassung. Der Beitrag untersucht die Konsumgüterdistribution aus system­ theoretischer Sicht. Der Fokus liegt auf der logistischen Funktion der Warenverteilung mit Einschränkung auf schnelldrehende Konsumgüter (FMCG) in Deutschland. Der eng an die Empirie angelehnten Beschreibung der Funktion, der Strukturelemente (Kunden, Hersteller, Handel, Logistikdienstleister, Sortimente, Sendungen, Betriebs­ mittel) sowie der Prozesse (Netzplanung, Distributionsplanung, Auftragsabwicklung, Transporte) folgt die Diskussion prinzipieller Arbeitsfelder (Systemführerschaft, Bün­ delung, Beschleunigung, Segmentierung, Kanalintegration, Kooperation) zur Umge­ staltung der Konsumgüterdistribution.

1 Distributionslogistik als System 1.1 Funktionen der Distributionslogistik Aus systemtheoretischer Sicht erfüllt die Distribution logistische und akquisitorische Funktionen: Die Verteilung von Fertigprodukten von Quellen (Lager, Werk, Lieferant) an Senken (Point of Sale, Point of Use) und die Gestaltung von Absatzkanälen zur För­ derung des Verkaufs (vgl. Ihde 1984, S. 206; Specht/Fritz 2005, S. 48 ff.; Coughlan et al. 2006, S. 2). Dieser Beitrag erklärt die logistische Aufgabe und versteht Distributions­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-039

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logistik als die Gestaltung der physischen Warenverteilungsprozesse (vgl. Ahlert 1985, S. 22–31). Deren Umfang ist Reflex der Fundamentalentscheidung des Unternehmens, Produkte in bestimmten Mengen zu bestimmten Zeitpunkten an bestimmten Orten herzustellen. Diese Entscheidung erzeugt regelmäßig Diskrepanzen zwischen Ange­ bot und Nachfrage hinsichtlich Ort, Zeit und Menge. Distributionslogistik gleicht die­ se durch Transport, Umschlag, Kommissionierung und Lagerung aus (vgl. Ihde 1984, S. 206; Ahlert 1985, S. 22–26; Specht/Fritz 2005, S. 113). Einschränkung: Distribution schnelldrehender Konsumgüter (FMCG) in Deutschland Fast Moving Consumer Goods (FMCG) sind Konsumgüter des täglichen Bedarfs wie etwa Lebensmittel, Pflegeprodukte, Reinigungsmittel, Genussmittel et cetera. FMCG zeichnen sich durch Verbrauchscharakter, hohe Kauffrequenz und -routine, qualita­ tive Substituierbarkeit, einem niedrigen Grad an Involvement sowie einem niedrigen Preisniveau aus (vgl. Ahlert 1985, S. 44; Coughlan et al. 2006, S. 114; Schögel 2012, S. 374). FMCG werden mehrheitlich im filialisierten Einzelhandel verkauft. Die FMCGDistributionslogistik ist für Hersteller und Handel ein Wettbewerbsfaktor, der über die FMCG-Besonderheiten und die daraus entstehende Komplexität der Aufgabe zu be­ gründen ist (vgl. Otto/Mensing 2008): (1) geringer Warenwert, (2) geringer Auftrags­ wert, (3) kurze Reaktionszeit, (4) heterogenes Sortiment, (5) viele Zustelllokationen, (6) schwierige Zustellsituation, (7) Rückführung von Ladehilfsmitteln und Ladungs­ trägern, (8) Volumenschwankungen.

1.2 Strukturen der Distributionslogistik FMCG-Distribution erfolgt meist indirekt¹ und arbeitsteilig. Akteure sind, in der für diese Betrachtung ausreichenden engeren Sicht², Kunden, Hersteller, Absatzmittler (Einzelhandel und Großhandel³) und Distributionshelfer (Logistikdienstleister) (vgl. Specht/Fritz 2005, S. 162–164). Weitere Strukturelemente sind das zu verteilende Sor­ timent, Sendungen und Betriebsmittel.

1.2.1 Kunden FMCG werden flächendeckend von der gesamten Bevölkerung gekauft. Der FMCGKundenpool ist somit in seinem altersmäßigen Aufbau, seiner Haushaltsstruktur, sei­ 1 Indirekt bedeutet, dass Absatzmittler Funktionen in der Distribution übernehmen. 2 Für eine erweiterte Sicht siehe Schögel 2012, S. 53 ff. 3 Die Bedeutung des Großhandels für die FMCG-Distribution, insbesondere für konventionelle Le­ bensmittel, ist in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken und soll hier nicht weiter beachtet wer­ den. Dies gilt nicht für andere Branchen, wie z. B. landwirtschaftliche Grundstoffe, Öl, Maschinen (vgl. Wrobel/Köhler/Cäsar 2016) und auch nicht für spezifische Konsumgüter wie z. B. Bio-Lebensmit­ tel (vgl. Gerlach/Kennerknecht/Spiller 2005).

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ner geographischen Verteilung und seiner Kaufkraft diversifiziert. Ohne Kinder unter 6 Jahren umfasst der FMCG-Kundenpool in Deutschland ca. 78 Millionen Menschen. Davon entfallen 19 % auf junge (6–25 Jahre), 27 % auf erwachsene (25–45 Jahre) und 54 % auf ältere Konsumenten (45 Jahre und älter), wobei das letztgenannte Segment künftig stark wachsen wird (vgl. Statistisches Bundesamt 2017b, 2017d). Der typische deutsche Haushalt hat ein oder zwei Personen (75 % der ca. 40 Millionen Haushalte in Deutschland). Langfristig sinkt der Anteil größerer Haushalte auf 20 % (vgl. Statisti­ sches Bundesamt 2017a). Der Urbanisierungsgrad steigt seit 2000 langsam aber stetig an: 2016 lebten 75 % der FMCG-Konsumenten in Deutschland in Städten. Während Metropolregionen wachsen, verlieren ländliche Gegenden Bevölkerung (vgl. Kotzera 2016, S. 11; Borstel 2015). Das monatliche Haushaltsnettoeinkommen in Deutschland betrug 2016 3147 Euro (vgl. Statistisches Bundesamt 2017e, S. 169). Seit 2000 nimmt der Anteil des Einzelhandelsumsatzes an den privaten Konsumausgaben stetig ab: Gegenüber einem Wert von 35,8 % im Jahr 2000 beträgt er 2014 nur noch 28,6 % (vgl. Handelsverband Deutschland 2015, S. 7). Ein typischer Kassenbon im deutschen Le­ bensmittelhandel liegt bei 17,63 Euro (vgl. EHI Retail Institute 2017). Das Einkaufsverhalten ist Reflex vieler Determinanten und kann in Auszügen cha­ rakterisiert werden (vgl. The Nielsen Company 2017; Schögel 2012): Einkaufen muss „einfach“ sein und wenig Zeit in Anspruch nehmen („Convenience“). Dies beeinflusst die Einkaufsstättenwahl (Kriterien sind beispielsweise Lage, Sortiment, Warenver­ fügbarkeit, Öffnungszeiten, Preismix) und die situativ „vor dem Regal“ erfolgende Produktwahl (Kriterien sind beispielsweise Warenverfügbarkeit, Regalbild, Präsen­ tation komplementärer Produkte, Vorhandensein von Tiefkühl- und Fertigware). Ge­ ringes Kundeninvolvement, qualitative Substituierbarkeit und technologiegetriebene Preistransparenz erzeugen ein erhöhtes Preis-Leistungs-Bewusstsein: Konsumenten sind „Smart Shopper“ („Deal“). Bei Preisaktionen, Out-of-Stock-Situationen oder Leis­ tungsunterschieden sind sie es gewohnt, Artikel, Marken oder Filiale zu wechseln bei­ spielsweise den Kauf aufzuschieben oder gänzlich abzubrechen (vgl. Gruen/Corsten/ Bharadwaj 2002). Schließlich erwarten Konsumenten Abwechslung und Vielfalt im FMCG-Sortiment („Variety“).

1.2.2 Hersteller Die deutsche Lebensmittelindustrie umfasst 5393 Hersteller⁴ mit vielen handwerk­ lichen und landwirtschaftlichen Betrieben⁵ und erzielte 2016 einen Umsatz von 158,4 Mrd. Euro (vgl. Statistisches Bundesamt 2016). Die Hersteller produzieren, ge­ 4 Das Statistische Bundesamt berücksichtigt nur Betriebe mit wenigstens 20 Mitarbeitern. Insgesamt sind es rund 6000. 5 54 % der Hersteller haben 20 bis 49 Beschäftigte, 20 % bis zu 99, weitere 17 % bis 249, lediglich 2 % bis 999 und 0,5 % haben über 1000 Beschäftigte (vgl. Statistisches Bundesamt 2017c).

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messen an der Anzahl Verkaufsstellen, in wenigen Werken und entsorgen die Werks­ produktion in Zentrallager. Bei gegebenem Auftragsbestand kann deren kostenmi­ nimale Anzahl und Lokation errechnet werden: In Deutschland sind es meist ein bis vier Zentrallager. Bereitgestellt und betrieben werden die Lager meist durch Lo­ gistikdienstleister, wenngleich die logische und administrative Bestandsführung im ERP-System des Herstellers verbleibt. Die Transporte erfolgen mehrheitlich mit Fahr­ zeugen von Logistikdienstleistern, Werkverkehr ist die Ausnahme.

1.2.3 Handel Der deutsche Einzelhandel restrukturiert sich. Traditionelle Lebensmitteleinzelhänd­ ler verlieren (2016: 10.290 Filialen), Discounter gewinnen Verkaufsstellen (2016: 16.130 Filialen). Die Gesamtzahl der Verkaufsstellen im Lebensmitteleinzelhandel fiel von 2003 bis 2016 um 38 % auf 35.445 (Discounter, Verbrauchermärkte und traditioneller Lebensmittelhandel). 2016 gibt es in Deutschland 6450 Drogeriemärkte und Fachpar­ fümerien. Insgesamt gibt es in Deutschland 52.395 Geschäfte mit primärem Fokus auf Konsumgüter (vgl. IRI Information Resources GmbH 2016). Die Verkaufsfläche ist von 2003 bis 2016 um 8,7 % auf 124 Millionen m2 gestiegen (vgl. IRI Information Resour­ ces GmbH 2016; Handelsverband Deutschland 2017, S. 30). Die Restrukturierung wirkt auf die Flächenproduktivität im Lebensmitteleinzelhandel (Quotient aus Umsatz und Verkaufsfläche), die 2015 3457,63 Euro betrug (vgl. GfK 2015) und in den vergangenen Jahren stetig gewachsen ist.⁶ Der Lebensmitteleinzelhandel betreibt ein feinmaschiges Netzwerk aus Zentralla­ gern, Regionallagern und Verkaufsstätten (Filialen). Die folgende Abbildung zeigt bei­ spielhaft für eine existierende Einzelhandelskette das Netz aus Regionallagern (vgl. Abbildung 1a⁷) und die aus den Regionallagern zu beliefernden Filialen im Postleit­ gebiet „9“ (vgl. Abbildung 1b). Die Belieferung der Filialen durch die Regionallager erfolgt mit eigenem Fuhrpark des Handels. Bei Unfrei-Beschaffungen wird zwar der Transport durch den beauftragenden Handel geplant, aber zur Durchführung an Lo­ gistikdienstleister vergeben.

1.2.4 Logistikdienstleister Wenngleich Hersteller und Handel in unterschiedlichem Umfang eigene Logistiksys­ teme betreiben, wird ein Teil der Distributionsaufgabe an gewerbliche Logistikdienst­ 6 Die Flächenproduktivität hängt von der Betriebsform ab. Discounter erreichen beispielsweise hö­ here Werte (Aldi Nord: 6380 Euro/m2 , Aldi Süd: 10.040 Euro/m2 , Lidl 7410 Euro/m2 ). 7 Die zum Teil enge Nachbarschaft zweier Regionallagern ist meist entweder durch unterschiedliche Handhabung, z. B. Trockengutlager und Frischdienstlager, oder durch große Mengen in Metropolre­ gionen begründet.

Konsumgüterdistribution |

(a)

741

(b)

Abb. 1: Regionallagerstruktur einer Einzelhandelskette.

leister (Speditionen) vergeben. Einige dieser Unternehmen, Sammelgutspeditionen, betreiben Netzwerke, um in den Knoten (Terminals) bündeln zu können. Ladungsver­ kehrsspeditionen arbeiten ohne Netzwerk, da sie lediglich komplette Ladungen be­ fördern. Je nach Art des Transportgutes (ungekühlt/Trockengut, gekühlt bei 2 bis 7 Grad Celsius/Frischdienst, gekühlt bei –28 Grad Celsius/Tiefkühl) sind dies zwischen 23–35 (Tiefkühl)⁸, 26 bis 28 (Frischdienst) beziehungsweise 45 bis 50 (Trockengut) Ter­ minals in Deutschland. Die nachfolgende Abbildung 2 zeigt beispielhaft das Frisch­ dienst-Netzwerk einer deutschlandweit tätigen Spedition mit 26 Terminals (Punkte). Um die Flächendeckung beurteilen zu können, sind um die Terminallokationen Kreise mit 75 km Radius (Luftlinie) eingezeichnet.

1.2.5 Sortimente Lebensmitteldiscounter führen im Durchschnitt 2121 Artikel, Supermärkte 11.610, gro­ ße Supermärkte 25.030 und SB-Warenhäuser 49.525 Artikel (vgl. EHI Retail Institute 8 Der Markt für Tiefkühllogistik in Deutschland wird dominiert von Nordfrost (35 Terminals) und Transthermos (23 Terminals), die jeweils über 35–40 % Marktanteil (Stand 2015) verfügen. Transther­ mos wurde am 01.01.2016 Teil der Nagel-Group. EuroCool Nagel war bisher die Nr. 3 im Markt mit 15 Terminals.

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Abb. 2: Frischdienst-Netzwerk einer Spedition.

2013). Generell gilt, dass Sortimente breiter (angebotene Warengruppen) und tiefer (Anzahl Artikel pro Warengruppe) werden. Dies ist getrieben durch Neuproduktein­ führungen („Bio, Regio, Ethno“), diverse Formen nachgelagerter Produktdifferenzie­ rung⁹, (saisonale) Aktionsware sowie die Ausweitung des Sortiments an Handelsmar­ ken (vgl. Schögel 2012, S. 124; Eichholz-Klein 2016).

1.2.6 Sendungen Die nachfolgende Abbildung 3 zeigt die typische Sendungsstruktur eines FMCG-Her­ stellers, der den Lebensmitteleinzelhandel mit Markenartikeln unterschiedlicher Sor­ timentsbereiche bedient. Eine Sendung ist die Produktmenge, die an einem Tag an ei­ nen Empfänger transportiert (versendet) wird. In einer Sendung sind gegebenenfalls Artikel mehrerer Bestellungen gebündelt. Das mittlere Gewicht der durch diesen Her­ steller an den Handel versendeten Sendungen beträgt 3481 kg. Eine weitere Analyse

9 Zum Beispiel Schmuckpackungen, individualisierte Packungsgrößen, Mehrproduktpackungen, Mischpackungen, individuelles Labeling, Zusatzprodukte (z. B. Getränkekiste und Glas), vgl. Otto/ Mensing (2008).

Konsumgüterdistribution | 743

Anzahl Sendungen

Anzahl Sendungen kumuliert 100 % 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0%

Anzahl Sendungen

30.000 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0

Gewicht pro Sendung in Kg Abb. 3: Anzahl Sendungen nach Gewichtsklassen eines typischen FMCG-Herstellers.

zeigt: (1) 47 % der Tonnage wird in Sendungen mit 18 oder mehr Tonnen befördert. Die­ se Sendungen sind Lagerauffüllungen, die an die bestandsführenden Regionallager des Handels gehen. (2) Weiterhin wird erkennbar, dass neben den Lagerauffüllungen viele kleine Sendungen anfallen. 21 % der Sendungen wiegen weniger als 250 kg und 50 % der Sendungen weniger als 1 Tonne. Diese kleinen Sendungen gehen zum Teil an die Regionallager des Handels, zum Teil direkt an die Handelsfilialen.

1.2.7 Betriebsmittel Die typischerweise in der Konsumgüterdistribution eingesetzten Betriebsmittel um­ fassen Fahrzeuge, Ladehilfsmittel, Kommissioniertechnik und Nummerierungs-/ Identifikationstechnik: 1. Fahrzeuge: FMCG werden mehrheitlich mit Lastkraftwagen auf der Straße trans­ portiert. Eingesetzt werden Standard-Lastkraftwagen mit zulässigem Gesamtge­ wicht von 40 Tonnen für den Fernverkehr (Sattelfahrzeuge, Gliederzüge) sowie 12 beziehungsweise 18 Tonnen für den Nahverkehr, im Ausnahmefall auch Busse/ Sprinter. Um den Anforderungen gerecht zu werden (s. u.), dehnt der Handel den Anteil von Mehrkammerfahrzeugen für eine kombinierte Zustellung von gekühl­ ter und ungekühlter Ware aus. Im Ausnahmefall und nur bezogen auf Transporte zwischen Hersteller- und Handelslager wird per Eisenbahn transportiert. 2. Ladehilfsmittel: FMCG werden weitestgehend auf Europaletten distribuiert. Wa­ rengruppenbezogen kommen weitere Ladehilfsmittel wie z. B. Fleischkästen und Obstkisten zum Einsatz.

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3.

Kommissioniertechnik: Industrie und Handel investieren in unterschiedlichem, aber grundsätzlich zunehmendem Umfang in Kommissioniertechnik (Flurförder­ zeuge, Lokalisierungshilfen, Zähl- und Wiegehilfen) und -automaten. Während Hersteller die Kommissionierung von Ganzpaletten und Lagen bereits seit länge­ rer Zeit automatisieren, forciert insbesondere der Handel die automatisierte Kar­ ton- und Griffeinheitenkommissionierung. 4. Nummerierungs- und Identifikationstechnik: Bestellprozesse im Rahmen der Dis­ tributionslogistik (Filiale bestellt bei Hersteller und Regionallager, Regionallager bestellt bei Hersteller) beziehen sich auf Artikel, die über GTINs (Global Trade Item Number) eindeutig beschrieben sind. Die bestellten Artikel werden durch Hersteller, Handel oder Logistikdienstleister zu Kommissionen zusammengestellt und mit NVE (Nummer der Versandeinheit beziehungsweise SSCC/Serial Ship­ ping Container Code) eindeutig beschrieben. Während des Distributionsprozes­ ses ist die NVE maßgeblich. Die Codierung und spätere Identifikation (Tracking) kann z. B. über einen GS1-128-Standard erzeugten Barcode erfolgen.

1.3 Prozesse der Distributionslogistik 1.3.1 Langfristig: Netzplanung Konsumgüter werden in Netzwerken distribuiert. Deren Knoten sind Werke, Lager und Verbrauchs- beziehungsweise Verkaufsstätten, deren Kanten sind Transportrelatio­ nen. Auf strategischer Ebene ist erstens die Struktur des Netzwerks sowie zweitens die Arbeitsteilung festzulegen. (1) Netzstrukturentscheidungen gelten mehrjährig und setzen den Rahmen für nachgelagerte taktische und operative Entscheidungen. Zen­ trale Aufgabe ist die Festlegung von Anzahl und Lage der Knoten. Ausgangspunkt ist dazu die am Markt geforderte Lieferzeit. In deren Kenntnis kann die kostenminimale Standortkonfiguration errechnet werden. Je schneller der Markt versorgt werden soll, desto mehr bestandsführende Läger sind nötig. Optimierungsrechnungen verarbeiten Transport-, Bestands- und Umschlagskosten. Meist dominieren die Transportkosten die Entscheidung (vgl. Bretzke 2010; Chopra/Meindl 2014; Kellner/Igl 2012). (2) Eben­ falls strategisch und langfristig ist die Entscheidung zur Arbeitsteilung zwischen Her­ steller, Handel und Logistikdienstleister. Es ist zu klären, durch wen und auf wessen Rechnung die erforderlichen Logistikleistungen erbracht werden. Etablierte Muster der Arbeitsteilung werden zunehmend in Frage gestellt (vgl. Abschnitt 2.1 und 2.8).

1.3.2 Mittelfristig: Distributionsplanung Mittelfristig (1–6 Monate) sind Nachschubmengen (Werk an Herstellerlager, Herstel­ lerlager an Handelslager) und Bestandshöhen (Zyklusbestand, Sicherheitsbestand) in

Konsumgüterdistribution | 745

groben Zeit- (Wochen) und Produkteinheiten (Produktgruppe) sowie per Verkehrsträ­ ger beziehungsweise Durchführungsform (Ladung, Teilladung, Stückgut) per „Distri­ bution Requirements Planning“ (DRP) zu bestimmen. In einem hierarchischen und sukzessiven Verfahren schätzt der Hersteller, basierend auf artikelgenauen Progno­ sen, für die Regionallager des Handels Auffüllbedarfe und damit Nachschubmengen von Hersteller zu Handel. Dies geschieht unter Beachtung definierter Transportlos­ größen, Nachschubzyklen und Sollhöhen für Zyklus- und Sicherheitsbestand¹⁰ (vgl. Vollman/Berry/Whybark 1997, S. 743–786).

1.3.3 Kurzfristig: Auftragsabwicklung FMCG werden „auf Lager“ produziert und distribuiert (Make to Stock, Replenish to Forecast, vgl. Olhager 2003). Hersteller planen auf Basis von Absatzprognosen (DRP, s. o.) Produktion und Nachschubströme. Erst mit dem Eintreffen von Kundenaufträgen (Bestellungen) des Handels beginnt die Auftragsabwicklung. Nach Abschluss kom­ merzieller Prüfungen entscheidet der Hersteller in der Verfügbarkeitsprüfung (ATP, Available to Promise), weitestgehend automatisiert, ob und gegebenenfalls in wie vie­ len (Teil-)Lieferungen und aus welchen Lokationen Aufträge bedient werden. Diese Lieferplanung steuert die nachfolgenden, zeitlich eng zu taktenden (Auftragsdurch­ laufzeit ist Kundenwartezeit), also prozessual eng zu integrierenden Kommissionier-, Verlade- und Transportprozesse. Die physische Auftragsabwicklung des Herstellers endet mit der Übergabe der Ladeeinheiten an den Frachtführer, mit einer Warenaus­ gangsbuchung und einer Lieferavisierung an den Handel, der auf Basis der empfange­ nen Avise im Warenwirtschaftssystem Anlieferbelege für eine kontrollierte Entladung und sichere Wareneingangsbuchung erstellt. Die Auftragsabwicklung des Herstellers beinhaltet darüber hinaus die Erstellung der auftrags- oder lieferbezogenen Fakturie­ rungsvorgabe sowie gegebenenfalls die Erstellung eines Transportkostenbeleges, um entweder einlaufende Frachtrechnungen zu prüfen oder beauftragte Logistikdienst­ leister per Gutschrift zu bezahlen.

1.3.4 Kurzfristig: Zustelltransporte – Drei Grundmodelle Hersteller und Handel planen Transporte meist unabhängig voneinander. Die Trans­ portplanung des Herstellers beschränkt sich i. d. R. auf die Kombination von Sendun­ gen zu Ganzladungen, die an Speditionen oder Frachtführer übergeben werden. Die nicht zu Ganzladungen kombinierbaren Sendungen werden zu periodisch ausgehan­

10 Integrierte Softwarepakete können grundsätzlich auch Lieferanten in die Planung einbeziehen, dies soll hier aber nicht weiter beachtet werden.

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Zentrallager (ZL)

Hersteller

Langsamdreher

Direct Store Delivery (DSD)

Schnelldreher

ZL RL

RL

RL

RL

RL

Cross Dock (CD)

CD1

CD2

ZL

ZL

RL filialrein

artikelrein

Handel

ZL RL

RL

CD

Automaten

Filialen

CD

Gastro Handelsfilialen

Konsum

Handelsfilialen

Kleinere Sendungen, oft Mischpaletten Größere Sendungen, in der Regel Ganzpaletten

Abb. 4: Grundmodelle der Konsumgüterdistributionsprozesse.

delten Preisen an Sammelgutspeditionen übergeben, meist auf der Basis mehrjähriger Kontrakte. Der Handel plant die Transporte vom Regionallager zu den Filialen sowie bei Unfrei-Beschaffungen den Transport vom Herstellerlager zu eigenen Regionalla­ gern. Grundsätzlich wird die Transportdurchführung überwacht (Track & Trace) und gegebenenfalls per Supply Chain Event Management (SCEM) protokolliert (vgl. Otto 2003). FMCG werden dabei über drei Grundmodelle distribuiert: Zentrallager (ZL), Fili­ aldirektbelieferung (Direct Store Delivery, DSD) oder Cross Dock (CD). Diese Modelle implizieren die Stufigkeit der Distribution, also die Anzahl der auf dem Transportweg durchlaufenen bestandsführenden Lokationen (vgl. Abbildung 4). 1. Zentrallager: Die Distribution per ZL erfolgt indirekt.¹¹ Fertigprodukte durchlau­ fen mehrere Lagerstufen: Werk an Herstellerzentrallager, gegebenenfalls Herstel­ lerzentrallager an Herstellerregionallager, Herstellerlager an Handelsregionalla­ ger, Handelsregionallager an Handelsfiliale (vgl. Fleischmann 1999). Ob Herstel­ ler und Handel sowohl Zentral- als auch Regionallager (RL) betreiben, hängt ab von (1) der Verbrauchsstruktur (Langsamdreher werden zentral, Schnelldreher dezentral gelagert), (2) den erwarteten Wiederbeschaffungszeiten (24 Stunden und schneller erfordern „dezentrale“ RL) und (3) Auftragsgrößen (kleine Aufträ­ ge erfordern dezentrale RL, um einen Großteil der Transportstrecke gebündelt zu

11 Zur Systematisierung von direkt vs. indirekt sowie ein- vs. mehrstufig vgl. Specht/Fritz (2005, S. 162).

Konsumgüterdistribution | 747

2.

3.

überwinden; große Aufträge erlauben zentrale Lagerung). Der Großteil der FMCG durchläuft ein Herstellerzentrallager und ein regionales Handelslager. Direct Store Delivery (Filialdirektbelieferung): Einige Konsumgüter werden, in der Regel durch beauftragte Logistikdienstleister, vom Hersteller unter Umgehung ei­ nes Handelslagers direkt an den Point of Sale (Handelsfiliale, Kiosk, Tankstelle, Verkaufsautomaten) geliefert. DSD ist aus Sicht der Logistikverantwortlichen des Handels meist unerwünscht, da die per ZL zustellbaren Volumina sinken und da­ mit die Stückkosten der Zentrallagerbelieferung steigen. DSD ist ein teures Distri­ butionsmodell, da im Gegensatz zum Zentrallagermodell regelmäßig nur gerin­ ge Stoppfaktoren (Anzahl zugestellte Sendungen pro Zustellstopp) erreicht wer­ den. Gerechtfertigt wird der Einsatz von DSD meist über (1) höhere und frühere Warenverfügbarkeit (Restlaufzeit), (2) Möglichkeit der Regalpflege, (3) effektive­ re Neuprodukteinführung und (4) Möglichkeit der Marktforschung vor Ort (vgl. Otto/Schoppengerd/Shariatmadari 2009).¹² Cross-Dock: Ein CD ist ein bestandsloser Umschlagspunkt des Handels, meist räumlich kombiniert mit dessen RL (vgl. Yu/Egbelu 2008). Der Hersteller sendet Ware aus seinem ZL an das regionale CD. Dort werden die Cross-Dock-Volumina durch die per Zentrallagermodell zuzustellenden und daher im RL vorhandenen Volumina ergänzt und an die Handelsfilialen zugestellt. Je nach Cross-DockingVariante erstellt der Hersteller in dessen Zentrallager (Cross-Docking I) oder der Handel im Cross-Dock (Cross-Docking II) die Filialkommission.

1.3.5 Kurzfristig: Abholtransporte Abzuholen aus den Filialen sind Leergut, Verpackung und Ladehilfsmittel (Paletten, Corletten, Kisten etc.). Rückführungen (Reverse Logistics) gewinnen durch Abfallbe­ seitigungsgebühren, Umweltbewusstsein und gesetzliche Regelung (Verpackungsver­ ordnung; Mehrwegsysteme ersetzen Einwegsysteme) an Bedeutung (vgl. Specht/Fritz 2005, S. 465) und können bilateral (Pendelsystem) oder multilateral (Poolsystem) er­ folgen (vgl. Vahrenkamp/Kotzab/Siepermann 2012, S. 351). Rückführungen werden meist in die Zustelltransporte integriert, so dass ein Zustell- (Vollgut) zugleich ein Abholstopp (Leergut) ist. Dedizierte Leerguttransporte entstehen allenfalls abgehend von Handelsregionallagern oder beim Einsatz von Mietpaletten (vs. Poolpaletten).

12 In Entwicklungs- und Schwellenländern wird Filialdirektbelieferung auch häufig gewählt, da der stationäre Handel nicht über ein leistungsfähiges eigenes Logistiksystem verfügt und Regalpräsenz somit aus Sicht des Herstellers nur durch „eigene“ Logistik sichergestellt werden kann.

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1.4 Systemleistung und deren Messung Die Qualität der Ausgestaltung der Distribution wird gemessen an deren Kosten, an der Warenverfügbarkeit und an der Flexibilität. (1) Kosten werden ermittelt als Stück­ kosten pro Teilleistung (Transport, Umschlag, Kommissionierung, Lagerung, Dispo­ sition), meist implementiert über Bezugszahlen wie „Transportkosten pro Palette“, „Kommissionierkosten pro Position“, „Lagerkosten pro Palettenplatz und Monat“, „Transportkosten in Prozent vom Umsatz“. Informationsquellen sind die (Logistik-) Kostenrechnung für die Kostendaten und die ERP-Systeme für die Leistungsdaten. (2) Warenverfügbarkeit wird gemessen an der Zykluszeit (Bestelleingang bis Trans­ portfreigabe beziehungsweise Zustellnachweis) sowie mit Alpha-, Beta- und GammaServicekennzahlen. (3) Flexibilität kann gemessen werden als Volumen-, Sortimentsund Lokationsflexibilität (vgl. Upton 1994). Flexibilität wird dann verstanden als (a) Spannweite von Bewegungen in einem Möglichkeitsraum (Kann das Distributions­ volumen von aktuell 100 Tonnen auf 130 Tonnen pro Tag gesteigert werden?) sowie (b) Veränderung wichtiger Parameter infolge der Bewegung in diesem Möglichkeits­ raum (Wie entwickeln sich die Transportkosten pro Palette, wenn das Volumen auf 130 Tonnen pro Tag steigt?). Volumenflexibilität misst dann erstens die Spannweite möglicher Systemleistungen und zweitens die dabei jeweils entstehenden Stückkos­ ten. Volumenflexibilität ist wichtig für die Distribution, da diese als Dienstleistung nicht speicherbar ist und Nachfrageänderungen nicht durch „Produktion auf Vorrat“ antizipiert werden können, saisonale Schwankungen daher „ungebremst“ auf das System treffen. Sortimentsflexibilität misst die Spannweite des durch das bestehende Logistiksystem verarbeitbaren Sortiments (Anzahl Artikel, Handhabungsanforde­ rungen des Sortiments wie etwa Anforderung an Kühlung, Hygiene, Diebstahlsiche­ rung, Gefahrgutsicherung, MHD-Spannweite) sowie die Änderung der Stückkosten bei Änderungen der Sortimentsbreite oder der Handhabungsanforderungen. Lokati­ onsflexibilität misst die Spannweite der Anzahl belieferbarer Lokationen sowie die Änderung der Stückkosten bei Änderung der Lokationsanzahl (Ist es möglich, vom Regionallager A nicht wie bisher 100 Filialen, sondern 120 Filialen zu versorgen und wie entwickeln sich die Stückkosten dabei?). In erweiterter Sicht ist es möglich, Integrationsqualität (Beispiel: Wie gut „passt“ der Auslieferprozess zeitlich und sachlich in den Verwenderprozess?), die Umweltqua­ lität (Ausstoß an CO2 -Äquivalenten pro gelieferter Einheit) und die Informationsquali­ tät (Richtigkeit und Rechtzeitigkeit der vorauseilenden Avisierungsdaten) zu messen.

Konsumgüterdistribution | 749

2 Umgestaltung des Systems: Arbeitsfelder 2.1 Systemführerschaft Die Aufgabenverteilung zwischen Hersteller und Handel hat sich über die Zeit zu ei­ ner „Branchennorm“ entwickelt, unterlag in den letzten Jahren aber Reorganisationen (vgl. Schögel 2012, S. 311).

2.1.1 Handel: Rückwärtsintegration Der Handel hat in den letzten Jahren den Eigenleistungsanteil in der Logistik erhöht. Während die Verteilung vom Regionallager an die Filialen stets in Eigenregie erfolg­ te, haben einige Handelsketten in einer Frankaturumstellung die bisher durch den Hersteller organisierte und bezahlte Belieferung der Zentrallager übernommen. Pro­ dukte werden nicht mehr „frei Haus“ (mit Logistik) sondern „ab Werk“ (ohne Logis­ tik) gekauft. Der Auftakt erfolgte im Jahr 2002 durch die Handelskette Metro, ande­ re Ketten haben inzwischen nachgezogen.¹³ Ziel der Umstellung ist (1) die Senkung der Transportkosten durch Quell- und Zielgebietsbündelung und erhöhte Rücklade­ quoten, (2) bessere Koordination der einlaufenden Transporte an den Rampen der Regionallager sowie (3) Verbesserung der Qualität der vorauseilenden Sendungsin­ formationen (Avise). Weitere Arbeitsfelder des Handels zur Umgestaltung der Logis­ tiksysteme sind der Ausbau der Zentrallagerbelieferung (unter bewusster Verdrän­ gung der Filialdirektbelieferung) und des Cross-Dockings. Ziele sind die Senkung der Transportkosten durch Bündelung der Lieferströme und Reduktion der Standzeiten im Regionallager, Senkung der Bestandskosten durch Bestandsreduzierung im Re­ gionallager, Senkung der Handhabungskosten durch bessere Planung der Rampen­ kontakte (vgl. Bretzke 2010, S. 276 ff.; Gudehus 2010, S. 951 ff.; Vahrenkamp/Kotzab/ Siepermann 2012, S. 110 ff.). Die Vorteile für den Handel bringen Nachteile für die Her­ steller mit sich – ein Beispiel eines strategischen Konfliktes im Absatzkanal (vgl. Ah­ lert 1985, S. 128).

2.1.2 Hersteller: Effizienz trotz Frankaturumstellung Die meisten Hersteller vergeben die Distributionslogistik an Logistikdienstleister (Out­ sourcing), sowohl den Betrieb der Zentrallager als auch die Transporte an den Handel. Begründet wird dies strategisch mit Verweis auf Kernkompetenzen und ROI-Effekte

13 Zu einer tiefgehenden Beschreibung und Beurteilung der Metro-Veränderungen vgl. Bretzke (2010, S. 294–298).

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sowie taktisch mit Verweis auf Faktorkostenunterschiede und mangelnde strukturelle Bündelungsfähigkeit. Die Arbeitsfelder der Hersteller beschränken sich damit mittel­ fristig (1 bis 5 Jahre) auf die Auswahl der Logistikdienstleister zur Beförderung kleiner Sendungen (Stückgut) sowie kurzfristig auf deren Monitoring sowie ebenfalls kurz­ fristig/täglich auf die Auswahl von Logistikdienstleistern zur Beförderung der großen Sendungen (Ladungen).

2.2 Bündelung ohne Netz – Balance von Spedition und Frachtführer Frankaturumstellung ist sinnvoll, wenn der Handel die zu beschaffende Ware besser bündeln kann als es zuvor der Hersteller vermochte. Die oben gezeigte Sendungsstruk­ tur (Abbildung 3) verdeutlicht das Problem, demzufolge typischerweise viele kleine Sendungen zu transportieren sind, der Handel aber nicht über eigene Terminals ver­ fügt, um im Quellgebiet bündeln zu können. Eine „Bündelung ohne Netz“ kann er­ folgen, indem der Handel die von vielen Herstellern zu beschaffenden Sendungen im Quellgebiet zu „fertigen“ Touren entweder an das Regionallager oder an große Filialen kombiniert (Direktverladung) und diese an Frachtführer als Ladungen aus­ schreibt (vgl. Bretzke 2010, S. 296). Alternativ können Sendungen ohne Tourenbil­ dung an Speditionen vergeben werden. Bündelung erfolgt dann durch die Spedition im Quellgebiet. Dies ermöglicht direkte Transporte an Handelsregionallager (Relati­ onsverladung). Direkt- und Relationsverladungen senken Transportkosten und Tran­ sitzeiten, da die Anzahl erforderlicher Umschläge sinkt. Nachschubbeschleunigung und Takterhöhung Getrieben durch die Sortimentserweiterungen bei gleichbleibender beziehungsweise bei Innenstadtlagen gegebenenfalls sogar sinkender Verkaufsfläche pro Filiale redu­ ziert der Handel die Bestandsreichweiten in den Filialen (im Regal). Dies erzwingt eine häufigere Belieferung der Filiale, vielfach eine tägliche, gegebenenfalls sogar mehrfa­ che Belieferung pro Tag mit frischen Produkten. Neben der Erhöhung des Taktes soll der Nachschub auch beschleunigt werden. Gemessen wird dies an der Dauer zwischen Übermittlung der Filialbestellung an das Regionallager des Handels und Eintreffen der Ware in der Filiale (vgl. Otto/Mensing 2008).

2.3 Segmentierung des Sortiments Zur Senkung der Warenverteilungskosten ist es sinnvoll, die zu bedienenden Absatz­ kanäle sowie das zu verteilende Sortiment nach logistikorientierten Kriterien zu seg­ mentieren. Dabei werden Absatzkanäle und Sortiment so segmentiert und allokiert, dass bezüglich ihrer logistischen Anforderungen homogene Teilsortimente über spe­ zialisierte Kanäle distribuiert werden. Homogenität ist dabei unter anderem herzustel­

Konsumgüterdistribution | 751

len in Bezug auf Volumen pro Periode, Nachfragekonstanz, Erlaubnis von Nachliefe­ rungen oder logistische Handhabung (z. B. Größe, Gewicht, Volumen, Behälter, Tem­ peraturanforderungen, Ladehilfsmittel). Die homogenen Segmente können daraufhin als voneinander abgrenzbare logistische Aufgaben bearbeitet werden. Segmentierung ermöglicht damit Prozessstandardisierung, Spezialisierung sowie Skaleneffekte und ermöglicht darüber hinaus eine Profitabilitätsbeurteilung von Absatzkanälen und Ar­ tikelsegmenten (vgl. Fuller/O’Conor/Rawlinson 1993; Schögel 2012, S. 398 f.).

2.4 Mehrkanal-Distribution: Integration von Brick & Click FMCG werden über unterschiedliche Kanäle distribuiert¹⁴. Der traditionelle Verkauf in Filialen (stationärer Absatzkanal; Holprinzip) wird ergänzt oder ersetzt durch On­ line-Handel (Bringprinzip). Die Anforderungen an die Distributionslogistik steigen dabei.¹⁵ Während reine Online-Händler (Pure Player) das Distributionslogistiksystem allein auf die Endkundenbelieferung ausrichten, suchen Hybrid-Händler (stationär und online) sinnvolle Kombinationen (vgl. Moriarty/Moran 1990). Die Strukturen und Prozesse der Filialbelieferung unterscheiden sich von denen der Endkundenbelie­ ferung. Relevant sind u. a. folgende Auftragsparameter: Anzahl Kommissionierpo­ sitionen pro Auftrag, Kommissioniermenge pro Kommissionierposition, Ladungssi­ cherung, Zykluszeit, Ladehilfsmittel. Gestaltungsoptionen sind (1) die Kanäle in der Bestandsführung und Kommissionierung zu trennen und über Automatisierung der dann homogeneren Auftragsstruktur Prozesskostenvorteile zu erzielen oder (2) die Kanäle aus einem gemeinsamen Lager zu bedienen und damit Bestandssenkung sowie Lastausgleich¹⁶ zu erreichen und gleichzeitig durch Investitionen in flexible Automatisierung die Prozesskosten trotz Auftragsheterogenität gering zu halten.

2.5 Heimlieferung Traditionell endet Distributionslogistik in der Filiale: Kunden wählen, prüfen, entneh­ men (kommissionieren) und transportieren selbst. E-Commerce bietet neue Optionen (vgl. Schögel 2012, S. 363 f.), erstens zur Umsetzung direkt beobachtbarer Kunden­ tätigkeiten (Auswahl, Kommissionierung, Transport) sowie zweitens für zusätzliche Dienstleistungen (Fehlmengenhandhabung, Zwischenaufbewahrung, Versicherung). 14 Zum Kanalbegriff vgl. umfassend Schögel (2012, S. 37 ff.). Hier wird auf dessen Verständnis „Ab­ satzkanal als Distributionssystem“ Bezug genommen. Als Kanal soll hier darüber hinaus nicht der Zugangskanal für Aufträge (Telefon, Fax, Website), sondern der „Abgangskanal“ der Belieferung ver­ standen werden. 15 Darüber hinaus gehende Anforderungen, etwa an Koordination und Abgrenzung der Kanäle oder Preisbildung, sollen hier ausgeblendet werden. Siehe dazu vertiefend Schögel (2012, S. 391 ff.). 16 Die Schwankungen der in den Kanälen vorhandenen Volumenbelastung können durch Zusam­ menlegung kompensiert werden.

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Sinnvolle Muster der Arbeitsteilung werden getestet: (1) Kunden stellen auf händler­ seitigen Kaufportalen Warenkörbe online zusammen, holen selbst ab oder beauftra­ gen eine Heimlieferung, gegebenenfalls „same day“ (vgl. Kotteder/Riedel 2015). (2) Al­ ternative Zustellungsoptionen sind Schließfachsysteme, Abholpunkte oder die Ablage der Waren in oder an der Wohnstätte des Kunden. (3) Eine Unterstützung der Aus­ wahlentscheidung versuchen „Online Recommendation Agents“ (vgl. Xiao/Benbasat 2007; Maes 1994). Inwieweit die Gestaltung des Warenverteilungsprozesses „bis vor die Haustür“ gelingt, hängt von der Fähigkeit der Akteure ab, auftretende operative (z. B. Schlüsselübergabe, Sicherstellung der Kühlkette, Schließfachbelegung etc.) und administrative (z. B. Gefahrenübergang, Versicherung, Datensicherheit etc.) Probleme zu lösen und eine hohe Auslastung des Verteilsystems zu erreichen. Hierfür wird eine Vertiefung der Kooperation der Akteure zu erwarten sein.

2.6 Nachhaltigkeit als Gestaltungsziel Nachhaltige Netzstrukturgestaltung verfolgt drei Zieldimensionen: wirtschaftliche, umweltbezogene und soziale Ziele („Triple Bottom Line“, vgl. Elkington 1998; McKin­ non et al. 2015, S. 107 ff.). Dem Distributionsmanagement stehen diverse Ansatzpunkte zur Verfügung, um die „Performance“ in den drei Zieldimensionen zu verbessern, dar­ unter die Lieferantenwahl sowie die Netzwerkkonfiguration (vgl. Harris et al. 2011). Bezogen auf die ökologische Zieldimension lässt sich eine Reihe von Ansatzpunkten zur Reduzierung des Ausstoßes an CO2 -Äquivalenten nennen. 1. Netzstrukturentscheidungen: Je mehr Distributionslager betrieben werden, des­ to stärker sinken transportbedingte Treibhausgasemissionen, da der Anteil ineffi­ zienter zu Gunsten effizienter Raumüberbrückung abnimmt (vgl. Gross/Hayden/ Butz 2012; Kellner/Igl 2012; Kellner 2016). 2. Routingentscheidungen: Signifikanten Einfluss haben Sendungsgrößen, Liefer­ frequenzen und Routingentscheidungen für einzelne Sendungen. Denn diese Grö­ ßen haben Einfluss auf die eingesetzten Fahrzeuge, Ladefaktoren und Entfernun­ gen, die innerhalb eines Logistiknetzwerks zurückgelegt werden (vgl. Igl/Kellner 2017; Kellner/Igl 2015). 3. Tourenplanung: Die Fahrzeugwahl/Transporttechnologie als auch die Fahrzeug­ beladungen und Streckenwahl bestimmen CO2 -Volumina. Eine Tourenplanung unter Berücksichtigung der Menge ausgestoßener Treibhausgasemissionen be­ rücksichtigt dies (vgl. Bektaş/Laporte 2011).

2.7 Technologie 2.7.1 Identifikation, Überwachung Elektronische Barcodes (RFID) ersetzen Papierbarcodes, um die Identifikation von Ladehilfsmitteln, Griffeinheiten und Einzelstücken zu rationalisieren (Kosten, Dau­

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er) und durch Objektbeschreibung zu ergänzen (vgl. Finkenzeller 2015, S. 1; Maz­ helis et al. 2013, S. 16). Dies betrifft regelmäßige Identifikation (Wareneingang und -ausgang) sowie fallweise Such- und Bestandsermittlungprozesse („Inventur auf Knopfdruck“). RFID-Einführungen in der Distribution erfordern netzweite Investi­ tionen (Etiketten, Drucker, Lesegeräte, Middleware zur Eventverarbeitung, Back-End zur Objektbeschreibung). Zukünftig werden bilateral kommunizierende elektroni­ sche Barcodes eingesetzt und ermöglichen funktionale Erweiterungen (vgl. Buettner et al. 2008): (1) Monitoring: Um Sensorik erweiterte elektronische Barcodes können Zustandsverläufe zeigen, z. B. Temperatur, Luftfeuchtigkeit, um Prozesskonformi­ tät nachzuweisen. (2) Direct Access: Um IP-Funktionalität erweiterte elektronische Barcodes erlauben direkte Kommunikation über den Nahbereich hinaus, z. B. mit Versender oder Empfänger. (3) Kitting: Um Peer-to-Peer-Kommunikation erweiterte elektronische Barcodes können Vollständigkeitsprüfungen wahrnehmen, um etwa Teillieferungen zu unterbinden.

2.7.2 Operative Entscheidungsunterstützung ERP-Systeme werden zukünftig grundsätzlich mit In-Memory Datenbanken (IMDB) betrieben (vgl. Plattner 2013). Der schnellere Zugriff auf historische und aktuelle Da­ ten drängt Heuristiken und „Daumenregeln“ der operativen Abwicklung zurück und dehnt damit die (teil-)automatisierte Entscheidungsfindung in der Touren- und Kom­ missionierplanung aus. Kostensenkung und Qualitätsverbesserungen sind zu erwar­ ten.

2.8 Kooperation der Akteure Hersteller und Handel kooperieren in diversen Formen, mitunter als Efficient Consu­ mer Response (ECR) bezeichnet (vgl. Kotzab 1999). Materielle Leitlinie ist die stärke­ re Synchronisierung aller Nachschubprozesse mit den Verkaufsmengen am PoS (von Push zu Pull). Formale Leitlinie ist die temporale, prozessuale, instrumentale und or­ ganisationale Ausdehnung kooperativen Verhaltens mit dem Ziel höherer Bindungs­ dichte. Kooperationsfelder, auch jenseits von ECR, sind: 1. Transport: Handelslager und -filialen werden durch unterschiedliche Herstel­ ler beliefert. Die Handelskonzentration bewirkt, dass Markenartikelhersteller in hohem Maße gleiche Handelslokationen anfahren. Eine vergleichsweise ein­ fach aufzubauende horizontale Kooperation der Hersteller kann darin bestehen, Transporte im Quellgebiet zu bündeln und gemeinsam durchzuführen oder ge­ meinsam einen Logistikdienstleister zu beauftragen und damit die Fahrzeugaus­ lastung und den Stoppfaktor (Sendungen/Tonnage pro Zustellstopp) in der Han­ delslager-, aber insbesondere in der Filialdirektbelieferung zu verbessern (vgl.

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Cruijssen/Dullaert/Fleuren 2007; Otto 2003). Mit der für die Intensivdistribution¹⁷ realistischen Unterstellung, dass nur einige Handelskunden eines Herstellers die Frankatur umstellen und damit das autonom disponierbare Transportvolumen zurückgeht¹⁸, aber dennoch eine eigene Distributionslogistik aufrechterhalten werden muss, steigt das Kostensenkungspotenzial durch gemeinsame Transpor­ te. 2. Lager: Kooperative Transportplanung wird wirksamer bei Nutzung gemeinsamer beziehungsweise zumindest benachbarter Lager, da Transporte ohne zusätzli­ che Vorlaufkosten im Quellgebiet gebündelt werden können. Lagerkooperation ist aber deutlich schwieriger umzusetzen, da die räumliche Zusammenführung der Lager bedeutet, dass mindestens ein Kooperationspartner den Lagerstandort wechseln und damit vermutlich höhere Transportkosten zum Abtransport der Werksproduktion in Kauf nehmen muss. 3. Planungsprozesse: Vertikale Kooperation kann darin bestehen, gemeinsame Nachfrageprognosen zu erstellen und Verkaufsförderungsmaßnahmen abzu­ stimmen. Damit werden jeweils Nachfrageunsicherheit und als Konsequenz der Bedarf für Sicherheitsbestände reduziert sowie der Vorlauf für Kapazitätsan­ passungen (insbesondere Frachtraum und Umschlagspersonal) vergrößert. Der Handel bindet in diesem „Collaborative Planning, Forcasting, and Replenish­ ment“ (CPFR), gemäß Referenzprozess, Hersteller früh in Nachfrageprognosen und Nachschubplanungen ein (vgl. Seifert 2006, S. 783 f.). 4. Kommunikationsprozesse: Vertikale Kooperation kann darin bestehen, Daten­ tauschprozesse/-formate zu harmonisieren, um administrative Bestellkosten und damit auch Zyklusbestände zu senken. 5. PoS-Transparenz: Vertikale Kooperation kann darin bestehen, PoS-Verkaufsmen­ gen an Hersteller zu kommunizieren und damit eine bessere Nachfrageprognose zu ermöglichen. 6. Bestandshoheit: Vertikale Kooperation kann bedeuten, die Bestandshoheit im Handelslager an den Hersteller zu übertragen. „Vendor Managed Inventory“ (vgl. VMI; Tyan/Wee 2003) überträgt die dispositive Hoheit an Hersteller. Diese garan­ tieren per Min-Max-Vorgabe eingegrenzte Bestände und bewirken in Kenntnis der Bestandshöhen im Handelslager Nachlieferungen und informieren den Handel per Lieferavisierung (vgl. Waller/Johnson/Davis 1999). VMI senkt damit disposi­ tive Kosten (keine Bestellung) sowie Transportkosten („Smart Sizing“ der Nach­ lieferung, um Fahrzeuge besser auszunutzen). Eine weitergehende Übertragung

17 Ahlert (1985, S. 157) spricht von Universalvertrieb, wenn die „Anzahl der belieferten Händler keiner erkennbaren Beschränkung durch den Produzenten“ unterliegt. Schögel (2012, S. 263) spricht dann von Intensivdistribution. 18 Damit sinken sowohl die durch den „eigenen“ Logistikdienstleister täglich abzuholenden Stück­ gutvolumina (Effizienz der Rampenprozesse, Abholtonnage pro Stopp) sowie die Chancen zur Bildung direkter Touren in das Zielgebiet.

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der wirtschaftlichen Hoheit an den Hersteller (Konsignationslager) reduziert die Neigung der Hersteller, Bestände zu Bilanzierungszwecken zu reduzieren und damit Volumenschwankungen zu erzeugen (vgl. Lee/Padmanabhan/Wang 1997).

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Martin J. Geiger und Sandra Huber

Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken 1 2 2.1 2.2 3 4 4.1 4.2 5

Einleitung | 759 Netzwerkstruktur | 760 Elemente | 760 Modellierung von Wertschöpfungsnetzwerken | 764 Transportplanung | 768 Realisierung von Lösungsverfahren | 771 Vendor Managed Inventory | 771 Softwareunterstützung in der Transportplanung | 777 Schlussbetrachtung | 782 Literatur | 783

Zusammenfassung. Die Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken beschäf­ tigt sich mit der operativen Bestimmung optimaler Transportmengen zwischen An­ bietern und Nachfragern. Dabei ist die Struktur der zugrundeliegenden Netzwerke maßgeblich für die Transportplanung. Weiterhin determinieren die zur Lösung der komplexen Planungsprobleme eingesetzten Methoden und Softwaresysteme die Qua­ lität operativer Entscheidungsvorschläge. In diesem Beitrag werden zunächst die Grundlagen der Transortplanung und der zugrundeliegenden Netzwerkstrukturen dargestellt. Anschließend werden Methoden zur Analyse und Lösung von Transport­ planungsproblemen umrissen. Der Beitrag schließt mit der Darstellung ausgewählter Softwarelösungen zur operativen Lösung konkreter Transportplanungsprobleme.

1 Einleitung Die Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken befasst sich, vordergründig, mit der Bestimmung optimaler, d. h. in aller Regel kostenminimaler Transportmen­ gen (vgl. Hitchcock 1941). Transportplanung ist insofern zunächst Mengenplanung. Während diese offenkundig oberflächliche Näherung an das Thema immer Kern der zu treffenden Entscheidungen bleibt, so treten, bei genauerer Betrachtung, zahlreiche Aspekte hinzu, welche den Kontext des Entscheidungsfeldes maßgeblich beeinflus­ sen. Die Ausführungen des vorliegenden Beitrags sind dementsprechend entlang dieser Einflussgrößen aufgebaut. Aus wissenschaftlicher Sicht ist zunächst die Frage der adäquaten Modellierung von Netzwerken zu stellen. Abschnitt 2.1 liefert hierzu eine Grundlage, indem bekann­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-040

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te, der Graphentheorie entnommene Elemente vorgestellt werden. Aufbauend hier­ auf stellt Abschnitt 2.2 typische Ausprägungen einzelner Wertschöpfungsnetzwerke vor. Der strategische Handlungsrahmen für die Ausgestaltung unterschiedlicher Netz­ werkkonfigurationen wird so zunächst aufgespannt. Hier wird klar, dass Fragen der strategischen Standortplanung den Güterfluss grundlegend prägen. Hinzu kommt, dass einmal getroffene Strukturentscheidungen nicht kurzfristig revidiert oder ange­ passt werden können und zahlreiche Elemente logistischer Netzwerke einer Kosten­ remanenz unterliegen. Demzufolge sind die strukturalen Gegebenheiten des Wert­ schöpfungsnetzwerkes hinsichtlich strategischer Oberziele sinnvoll zu wählen. Eine stärker methodische Betrachtung liefert Abschnitt 3 durch die Analyse und Lösung konkreter Transportplanungsprobleme. Ausgehend vom klassischen Fall ei­ nes linearen Modells werden Grundideen bekannter Lösungskonzepte vorgestellt und diskutiert. Die getroffenen Entscheidungen der vorgestellten Abschnitte 2.1 und 2.2 fließen hier als Vorgaben ein. Wiederum aufbauend hierauf stellt Abschnitt 4 zwei insbesondere für praktische Problemstellungen relevante Erweiterungen vor. Zum einen ist dies der Fall der kombinierten Mengen- und Transportplanung. Zum anderen wird eine Betrachtung eines tatsächlichen computerbasierten Entscheidungsunter­ stützungssystems vorgenommen. Praktische Transportplanung findet immer in einem sozio-technisch-ökonomischen System statt. In diesem Sinne sind leistungsfähige Systeme heute und zukünftig von Bedeutung: die Lösung realer Transportplanungs­ probleme erscheint, vor dem Hintergrund der Komplexität der Problemstellung, nur unter Einsatz leistungsfähiger Methoden leistbar. Die Transportplanung stellt, wie wohl fast alle betrieblichen Entscheidungspro­ bleme, eine mehrkriterielle Problemstellung dar, welche nur unter Zugrundelegung entsprechender Annahmen auf den Kostenminimierungsaspekt reduziert werden kann. Bedeutende weitere Aspekte sind insbesondere Serviceziele (vgl. Lee/Moore 1973). Auf Arbeiten, welche diesen multikriteriellen Aspekt als Schwerpunkt aufgrei­ fen, sei hier aber lediglich verwiesen (vgl. Current/Min 1986; Current/Marsh 1993).

2 Netzwerkstruktur 2.1 Elemente Wertschöpfungsnetzwerke lassen sich probat mittels bekannter Elemente der Gra­ phentheorie formalisieren. Datengrundlage sind Knoten sowie verbindende Elemen­ te: ungerichtete Kanten beziehungsweise richtungsdefinierende Pfeile (vgl. Grünert/ Irnich 2005a). Abbildung 1 kann hierzu ein Beispiel entnommen werden. Gegeben sind eine Knotenmenge V = {1, . . . , 9} sowie eine Pfeilmenge A = {(1, 4), (1, 5), (1, 8), (2, 4), (2, 5), (3, 5), (4, 6), (4, 7), (5, 8), (5, 9)}. Im ungerichteten Fall lautet die gängige Notation einer Kante [3, 5].

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8 9

Abb. 1: Elemente in einem Graphen.

Knoten modellieren typischerweise Orte beziehungsweise ortsfeste Elemente, etwa Produktionsstätten, Lager, Umschlagknoten oder Verbraucher. Wertschöpfung findet hier in Form produktbezogener Herstellung, (Weiter-) Verarbeitung, (Zwischen-) Lage­ rung und Umschlag/Umverteilung statt. Oftmals lässt sich im Netzwerk neben einer oder mehreren Quellen eine Menge an Senken identifizieren, welche Verbraucher be­ ziehungsweise Abnehmer der erzeugten Produkte/Leistungen darstellen (vgl. Dempe/ Schreier 2006). Das Netzwerk besitzt somit eine dem Anwendungsfall entsprechende Konfiguration, welche sich in der jeweiligen Topologie des zugehörigen Graphen aus­ drückt. Spezielle Ausprägungen sind (teil-) zyklische Graphen, welche z. B. für Pro­ bleme der Kreislaufwirtschaft relevant sind und Rücktransporte einzelner Güter oder Ladungsträger modellieren helfen (vgl. Pishvaee/Farahani/Dullaert 2010). Transportbeziehungen lassen sich einfach durch Hinzunahme verbindender Kan­ ten beziehungsweise Pfeile abbilden, welche somit durch zwei Knoten definiert sind: (3, 5) als Pfeil von Knoten i = 3 zu Knoten j = 5. Wertschöpfungsaktivitäten ent­ lang der Pfeile sind offensichtlich klassische Transporte, d. h. Raumänderungen der zu betrachteten Güter. Transporte finden somit unter Einsatz gegebener Transportmit­ tel statt, welche sich im Netzwerk entlang der Verbindungen bewegen können und die zu transportierenden Güter beziehungsweise Personen in den Konten aufnehmen und abgeben. Das Vorliegen mehrerer alternativer Transportmittel kann durch Einführen unterschiedlicher Modi ausgedrückt werden. Gängige Annahme ist, dass ein Wechsel des Transportmodus nur an den Knoten stattfinden kann (vgl. Yamada et al. 2009). Wesentliches Gestaltungsmerkmal bei der Modellierung von Wertschöpfungs­ netzwerken sind Bewertungen der Verbindungen, d. h. Wertgrößen, welche z. B. Kos­ ten c ij des Transportes von i nach j ausdrücken. Andere wichtige Aspekte sind Fahrzei­ ten t ij und Distanzen d ij . Während sich letztere typischerweise zuverlässig ermitteln lassen, hängen die ersten beiden oftmals von weiteren Nebenaspekten ab (vgl. Grü­ nert/Irnich 2005a). So stellen sich in praktischen Anwendungen Fahrzeiten oftmals tageszeitabhängig, mindestens jedoch transportmodusabhängig dar. Die Angabe der Transportkosten c ij besitzt neben einem bezüglich der Transportmengen variablen Anteil eventuell auch fixe beziehungsweise sprungfixe Komponenten. Letztere stellen eine klare Herausforderung für die Modellierung und Lösung entsprechender Trans­ portplanungsprobleme dar, einfach weil Wechselwirkungen mit der Auslastung der Transportmittel auftreten. So muss bei Überschreiten einer maximalen Transportka­ pazität ein weiteres Transportmittel hinzugezogen werden.

762 | Martin J. Geiger und Sandra Huber

Modelle für Gütertransporte besitzen gegebenenfalls Kapazitätsobergrenzen der Umschlagknoten/Verteilknoten. Hinzu kommen etwaige Transport-/Flussbeschrän­ kungen entlang der Pfeile. Im Falle zu transportierender Personen sind weitere As­ pekte relevant, etwa minimale notwendige und maximal zulässige Verweildauern in den Knoten. Ein Grundmodell der Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken stellt das klassische einstufige Transportproblem dar (vgl. Vahrenkamp 2003). In diesem werden die Gesamtkosten des Transportes einer Menge an Gütern von gegebenen Quellen zu Nachfragern minimiert (Formel (1)). Entscheidungsvariablen sind Trans­ portmengen x ij von i nach j. Nebenbedingung ist die vollständige Deckung aller Bedarfe D j (Formel (2)), bei gleichzeitiger Einhaltung der zur Verfügung stehenden Angebotsmengen S i . n

m

min ∑ ∑ c ij x ij

(1)

i=1 j=1

unter den Nebenbedingungen n

∑ x ij = D j

∀j

(2)

∀i

(3a)

∀i

(3b)

i=1 m−1

∑ x ij ≤ S i j=1 m

∑ x ij = S i j=1

x ij ≥ 0

∀i, j

(4)

In den obigen Formulierungen stellt Formel (3a) sicher, dass die Kapazitäten S i der Anbieter nicht überschritten werden. Eine Umformulierung der Ungleichungen (3a) in Ausdruck (3b) ist leicht möglich, indem ein Kunde m hinzugefügt wird, welcher mit einer Nachfrage D m = ∑ni=1 S i −∑m−1 j=1 D j die Restkapazitäten der Anbieter abnimmt. Of­ fensichtlich sind hierbei die c im = 0 zu wählen. Somit ergibt sich ein System einfacher linearer Gleichungen, welches zur Bestimmung der kostenminimalen Transportmen­ gen herangezogen werden kann. Allerdings bleiben hierbei einige der oben erwähnten Aspekte unberücksichtigt, etwa (sprung-) fixe Transportkosten sowie variable Trans­ portkosten mit nicht-konstanten Kostenkoeffizienten. Zahlreiche Erweiterungen des Grundmodells existieren und können der einschlä­ gigen Literatur entnommen werden (vgl. Dempe/Schreier 2006). So treten, wie in Abbildung 1 skizziert, im mehrstufigen Fall Umladeprobleme hinzu, in denen einge­ hende und ausgehende Güterflüsse je Knoten auftreten. Auch werden andere Ziel­ setzungen betrachtet, insbesondere, wenn neben der Minimierung der anfallenden Kosten Zeitziele von Relevanz sind. Leicht führt dies zu Zielkonflikten, einfach weil schnelle Transportverbindungen mit höheren Kosten etwa durch Nutzung relativ teu­ rerer Transportmodi verbunden sein können. Dementsprechend sind Kompromisslö­

Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken |

763

sungen zu ermitteln, welche die aus Sicht eines Entscheidungsträgers meistpräferierte Lösung identifizieren. Hier bietet sich der Einsatz mehrkriterieller Modelle an. Diese betrachten mehrere, konfliktäre Zielsetzungen simultan. Die Lösung mehrkriterieller Modelle besteht somit in der Identifikation einer Menge pareto-optimaler Alternativen (effizienter Ergebnisse), verbunden mit der Auswahl eben dieser aus Anwendersicht meistpräferierten Lösung (vgl. Ringuest/Rinks 1987). Von bedeutender praktischer Relevanz sind zudem dynamische Modelle, welche die obigen statischen Annahmen durch Hinzunahme eines Planungshorizontes um ei­ ne Zeitachse erweitern. Liefermengen von i nach j treten somit je Periode t auf: x ijt . Für die Planung und den Betrieb realer Wertschöpfungsnetzwerke hat dies bedeutende Konsequenzen. Indem sich Lieferungen in gewissen zeitlichen Grenzen variieren las­ sen, können Gütermengen im Zeitablauf entlang des Wertschöpfungsnetzwerks kon­ zentriert/verteilt beiehungsweise verschoben werden. Demzufolge schwanken die La­ germengen in den Knoten von Periode zu Periode. Eine kosteneffiziente Gestaltung der Transportaktivitäten kann hier ansetzen. Stärkere Bündelungen der Transportmengen resultieren typischerweise in höheren Transportmittelauslastungen sowie in reduzier­ ten (Stück-) Kosten. Auf der anderen Seite steigen hierdurch die mittleren Lagerbestän­ de im Wertschöpfungsnetzwerk. Der optimale Betriebspunkt ist somit in der Kombi­ nation beider Aspekte zu finden. Vendor-Managed-Inventory-Konzepte sowie Inven­ tory-Routing-Probleme seien hier als wichtige Ausprägungen angeführt (vgl. Archetti/ Boland/Speranza 2017; Moin/Salhi 2007). Dynamische Modelle erfahren oftmals Erweiterungen durch Hinzunahme sto­ chastischer Elemente, etwa unsicherer Nachfragemengen (vgl. Cardona-Valdés/Álva­ rez/Ozdemir 2011) oder im Zeitablauf eintretenden Störungen (schwankende Fahrzei­ ten, ausfallende Transportmittel, etc.; vgl. Wilson 2007). Wichtige Aspekte derartiger Elemente sind somit erwartbare Nachfragen beziehungsweise die Deckung dieser (Erwartungswertbetrachtungen), sowie die Planung und Realisierung von Verfügbar­ keitslevels der Produkte je Netzwerkknoten. Wesentlich für die Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken sind ferner Aussagen zu den (strategischen) Unternehmenszielen. Hierbei wird oftmals von über­ geordneten, einer strategischen Unternehmensplanung entnommenen Zielen ausge­ gangen, welche dann im operativen Betrieb durch Einführung entsprechender Ziel­ surrogate umgesetzt werden. Typisches Beispiel eines betriebswirtschaftlichen Kal­ küls ist die Gewinnmaximierung, welche im obigen Formalmodell indirekt durch die Minimierung der gesamten Transportkosten zum Ausdruck kommt. Eine andere ide­ altypische Zielsetzung stellt die Minimierung der anfallenden Lieferzeit dar, welche durch Bereithaltung entsprechender Lagerbestände in Verbindung mit schnell ein­ setzbaren Transportmitteln und einer kundennahen Lagerung realisiert werden kann. Allerdings wird bereits hier klar, dass zahlreiche Interdependenzen zwischen den Ele­ menten des Transportnetzwerks existieren. So sind die Transportkosten c ij abhängig von der Struktur des Netzes, d. h. der räumlichen und kapazitativen Festlegung der Knotenpunkte (Lager, etc.), sowie der Wahl der Transportmodi und -mittel. Das Hand­

764 | Martin J. Geiger und Sandra Huber

lungsfeld der Transportplanung umfasst somit, zumindest auf der strategischen Ebe­ ne, die Konfiguration eines adäquaten Transportnetzes.

2.2 Modellierung von Wertschöpfungsnetzwerken Im Rahmen des Aufbaus eines Transportsystems erfolgen Entscheidungen auf der strategischen, taktischen und operativen Planungsebene. Auf der strategischen Pla­ nungsebene werden bei der Ausgestaltung von Wertschöpfungsnetzwerken Entschei­ dungen über die Aktivitäten an den Knoten (zum Beispiel Fertigung, Transport- und Lagervorgänge, Umschlag- und Sortieraktivitäten), die Anzahl der Standorte, die geo­ graphische Wahl der Standorte, die Kapazitäten sowie die Zuordnung von Standorten zu Märkten getroffen (vgl. Govindan/Fattahi/Keyvanshokooh 2017). Da sich aus der Strukturfestlegung Konsequenzen für die Kostenkomponenten und die Qualität der Leistung ergeben, ist es notwendig, die Wettbewerbsstrategie für das Design des Sup­ ply-Chain-Netzwerks zu berücksichtigen. Bei einer Strategie der Kostenführerschaft liegt der Schwerpunkt auf der kostengünstigen Gestaltung des Netzwerks. Hier wird die Anzahl der Standorte so festgelegt, dass Skaleneffekte bei den Transportlosgrö­ ßen ausgeschöpft werden können (vgl. Bretzke 2008; Chopra/Meindl 2016). Alternativ sind die Hauptziele bei einer Differenzierungsstrategie die angebotene Produktvielfalt und die Reaktionsfähigkeit auf die Kundennachfrage zu maximieren. Der Fokus bei der Ausgestaltung des Netzwerks liegt dabei auf der schnellen Bedienung der Kun­ den, z. B. realisiert durch eine angemessene Anzahl dislozierter Standorte und/oder schneller Transportmodi (vgl. Chopra/Meindl 2016). Die Planung und Realisierung des Transportflusses stellt eine zentrale Aufga­ be der strategischen Gestaltung des Wertschöpfungsprozesses dar. Neben der Aus­ wahl der zu integrierenden Wertschöpfungsstufen erfolgt eine Konzentration auf die Anzahl der Wertschöpfungsstufen im Supply-Chain-Netzwerk. Für eine bessere Ab­ stimmung der einzelnen Akteure ist eine systematische Strukturierung erforderlich. Konsequenz eines schlecht abgestimmten Netzwerks ist, dass Fehlmengen beim Lie­ feranten zu Maschinenausfällen am Produktionsstandort führen können (vgl. Klaus/ Krieger/Krupp 2012). In Abbildung 2 ist eine exemplarische Auswahl an möglichen Stufen dargestellt. Zur Entscheidungsunterstützung bei der Standortauswahl kön­ nen mathematische Optimierungsmodelle für Warehouse-Location-Probleme genutzt werden. Ein Überblick zur Modellierung, Eröffnungs- und Verbesserungsverfahren so­ wie exakten Verfahren wird in Domschke und Drexl (1996) beschrieben. Modelle der taktischen Planungsebene setzen die Vorgaben der strategischen Entscheidungen der Aufbau- und Ablauforganisation um und bestimmen insbe­ sondere Kapazitäten der Standorte/Läger und die eingesetzten Transportmittel (vgl. Schneeweiß 1999). Ausgewählte Problemstellungen auf der operativen/kurzfristigen Planungsebene sind: das klassische Transportproblem, offene Transportprobleme, kapazitierte Transportprobleme, Umladeprobleme, Bottleneck-Transportprobleme,

Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken |

Lieferanten

Produktionsstandorte

Lagerstandorte/ Distributionszentren

765

Märkte/ Kunden

Abb. 2: Mögliche Stufen in einem Wertschöpfungsnetzwerk (in Anlehnung an Chopra/Meindl 2016).

Rundreiseprobleme und die Ausgestaltung von Touren (vgl. Dempe/Schreier 2006). Neuere Ansätze kombinieren Entscheidungen auf unterschiedlichen Planungsebenen miteinander, um die Performance des gesamten Netzwerks zu erhöhen. So werden im der Arbeit von Prodhon und Prins (2014) Entscheidungen über die strategische Positionierung der Standorte und die operative Tourenplanung simultan getroffen. Prinzipiell gibt es zwei idealtypische Distributionsstrategien beim Gütertrans­ port: 1) die Direktbelieferung und 2) die Lieferung über intermediäre Umschlags-/ Lagerungsknoten. In der praktischen Umsetzung von Distributionsstrategien in der Praxis findet jedoch in der Regel keine ausschließliche Anwendung eines Idealtyps statt. Vielmehr sind Mischformen im Einsatz, die versuchen, die jeweiligen Vorteile der Konzepte zu verknüpfen (vgl. Klaus/Krieger/Krupp 2012).

2.2.1 Strategie der Direktlieferung In Abbildung 3 ist die Herstellerlagerung mit Direktlieferung veranschaulicht, bei der das Produkt von der Fabrik ohne Zwischenlagerung zum Kunden transportiert wird. Dabei übernimmt der Händler häufig die Entgegennahme der Bestellung. Ein Vorteil dieser Strukturierung ist, dass die Bestände direkt beim Hersteller verbleiben. Ein klassisches Lehrbeispiel ist das Unternehmen Dell, welches eine kundenspezifische Montage erst nach Eingang des Kundenauftrags ausführt, was sich in einer Reduktion der Lagerbestände äußert (vgl. Simchi-Levi/Kaminsky/Simchi-Levi 2008). Bei diesem Konzept nimmt der Kunde in der Regel eine höhere Lieferzeit in Kauf, einfach weil die Vorteile einer kundenindividuellen Herstellung die längeren Lieferzeiten, welche die Endmontage sowie den Transport umfassen, übersteigen (vgl. van Hoek 2001). Die mathematische Modellierung derartiger Systeme mit variablen Liefermengen ist über ein einstufiges Transportproblem möglich (vgl. Grünert/Irnich 2005a).

766 | Martin J. Geiger und Sandra Huber

Fabriken

Händler

Kunden

Informationsfluss Warenstrom Abb. 3: Herstellerlagerung mit Direktlieferung (in Anlehnung an Chopra/Meindl 2016).

2.2.2 Strategie der Lieferung über intermediäre Standorte Bei der Transportbündelung werden Aufträge von verschiedenen Herstellern zusam­ mengefasst, sodass die Kunde nur jeweils eine Lieferung empfängt (vgl. Abbildung 4). Solch eine Strategie kann mittels linearer mehrstufiger Transportmodelle oder linearer Umladeprobleme formuliert und dementsprechend mittels linearer Optimierung ge­ löst werden (vgl. Domschke/Scholl 2010). Von verschiedener Seite wird argumentiert, dass die Bestimmung von zentralen Umschlagpunkten (Hub-Standorte) eine bedeutende Rolle für die Minimierung der Gesamtkosten in einem Netzwerk spielt, da die Anzahl von Verbindungen im Ver­ gleich zu Direktlieferungen stark reduziert wird (vgl. O’Kelly/Miller 1994). Der Auf­ bau eines Hub-und-Spoke-Netzwerks mit zwei Hubs ist in Abbildung 5 schematisch illustriert. In der dargestellten Struktur bringen Fahrzeuge die Fracht aus den Lägern (Speichen beziehungsweise spokes) zum zentralen Umschlagpunkt, wo die Waren ge­ bündelt zum nächsten Hub transportiert werden, bevor diese dann ihren endgülti­ gen Bestimmungsort erreichen (vgl. Aykin 1995). Durch die Anwendung dieser Netz­ werkstrukturierung sind üblicherweise zwei unterschiedliche Segmenttypen zu be­ obachten: Ferntransporte und lokale Abholungen/Lieferungen (vgl. Zäpfel/Wasner 2002). Als ein wesentlicher Vorteil eines Hub-und-Spoke-Systems gilt die höhere Aus­ lastung der Transportmittel durch den Effekt der Transportbündelung. Darüber hin­ aus ist durch die Kombination der Ferntransporte mit den lokalen Anlieferungen/

Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken | 767

Fabriken

Händler Transportbündelung

Kunden

Informationsfluss Warenstrom Abb. 4: Transportbündelung (in Anlehnung an Chopra/Meindl 2016).

Abb. 5: Hub-und-Spoke-Netzwerk (in Anlehnung an Domschke/Drexl 1996).

Abholungen eine flächendeckende Bedienung der Nachfrage realisiert (vgl. Klaus/ Krieger/Krupp 2012). Unter dem Begriff Cross Docking wird in der Literatur die Bündelung der Waren­ anlieferungen von verschiedenen Herstellern verstanden mit dem Ziel die Anlieferfre­ quenz beim Kunden zu reduzieren (vgl. Vis/Roodbergen 2011). Die Umsetzung dieses Konzepts in einem Hub-und-Spoke-Netzwerk erfordert u. a. eine Synchronisation von Warenflüssen an den Hub-Standorten.

768 | Martin J. Geiger und Sandra Huber

Eingehende Fahrzeuge

Lieferanten

Annahme

Ausgehende Fahrzeuge

Sortierung

Versand

Kunden

Distributionszentrum Abb. 6: Prozesse im Cross Docking (in Anlehnung an Yu/Egbelu 2008).

Die Kernidee des Cross Docking und die damit einhergehenden Güterbewegungen sind in Abbildung 6 veranschaulicht. Es sind die Warenströme von drei eingehenden und von drei ausgehenden Fahrzeugen illustriert, wobei die eingehenden Fahrzeuge jeweils nur ein Produkt (Ganzladung) im Distributionszentrum anliefern. Danach wer­ den die Palettenanlieferungen umsortiert und entsprechend weiter versendet. Ausge­ hende Fahrzeuge transportieren dann mehrere unterschiedliche Produkte zu den Kun­ den. In der Regel findet beim System des Cross Docking keine Lagerung der Produkte statt. Von Bedeutung sind hierbei vor allem die Synchronisation der eingehenden und ausgehenden Fahrzeuge über Zeitfenster. Plant der Disponent mehrere Güter gleich­ zeitig, kann ein Mehrgütertransportmodell formuliert werden (vgl. Junginger 1993). Darüber hinaus kann die Modellierung von Netzwerken eine Dynamisierung er­ fahren. Mehrperiodenmodelle bieten die Möglichkeit, die Nachfrage der Kunden über mehrere Perioden zusammenzufassen, so dass eine Belieferung nicht periodengenau, sondern für mehrere Perioden stattfindet. Das zu analysierende Netzwerk hängt so­ mit von der Bestimmung der Liefermengen für die jeweiligen Perioden ab (siehe noch Abschnitt 4 unten). Offensichtlich findet in einer derartigen Betrachtung implizit die Lagerhaltung von Produktion bei den Kunden statt, ein Aspekt, welcher zusätzlich zu berücksichtigen ist.

3 Transportplanung Grundsachverhalt der Transportplanung ist die Festlegung von Transportmengen bei Annahme bestehender Netzwerkstrukturen. Das in Abschnitt 2.1 vorgestellte klassi­ sche Transportmodell liefert insofern ein grundlegendes Beispiel. In diesem sind die Anbieter, Lieferkapazitäten, Nachfrager, Nachfragemengen, sowie Stücktransport­ kosten c ij des Transports von i nach j fixiert. Dementsprechend liegen die Ergebnisse angrenzender Problemstellungen als Vorgaben beziehungsweise Ergebnisse/Daten vor und fließen als solche ein: Standortplanungsentscheidungen, welche das Netz­

Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken |

769

Tab. 1: Zahlenbeispiel. c ij

j=1

j=2

j=3

j=4

i=1 i=2 i=3 i=4

10 8 6 4

10 8 9 5

5 6 8 7

6 6 10 8

Tab. 2: Zahlenbeispiel (Fortsetzung).

Si

i=1

i=2

i=3

i=4

110

70

120

100

Dj

j=1

j=2

j=3

j=4

100

90

80

130

Tab. 3: Zahlenbeispiel (Lösungstableau). x ij

j=1

j=2

j=3

j=4

Si

i=1 i=2 i=3 i=4 Dj

? ? ? ? 100

? ? ? ? 90

? ? ? ? 80

? ? ? ? 130

110 70 120 100

werk determinieren, sowie gelöste kürzeste-Transportwege-Probleme von i nach j für alle i, j (vgl. Grünert/Irnich 2005b). Ein exemplarisches Datenmaterial sei in den Tabellen 1 und 2 gegeben. Wir be­ trachten eine Situation mit n = m = 4 Lieferanten/Nachfragern und gegebenen Kos­ ten/Restriktionen, für welche wir eine kostenminimale Lösung suchen. Gesucht sind Transportmengen x ij , welche die definierten Bedarfe decken, die gegebenen Lieferkapazitäten einhalten, sowie die Gesamtkosten minimieren. Dem­ entsprechend kann eine Darstellung in Form einer Tabelle gewählt werden, in wel­ cher die Zeilen- beziehungsweise Spaltensummen der festzulegenden Transportmen­ gen den S i ∀i beziehungsweise D j ∀j zu entsprechen haben, wie in Tabelle 3 darge­ stellt. Lösungsansätze hierzu, aber auch zu anderen Planungsproblemen der Logistik, lassen sich unterteilen in Eröffnungs- und in Verbesserungsverfahren. Erstere erzeugen zunächst eine erste, zulässige Alternative, während letztere iterative Verbesserungs­ schritte an bereits vorliegenden Alternativen vornehmen. Insofern bauen Verbesse­ rungsverfahren auch auf Eröffnungsverfahren auf, ergänzen diese somit. Die Nordwesteckenregel stellt ein klassisches Eröffnungsverfahren für das Trans­ portproblem dar (vgl. Dempe/Schreier 2006). Hierbei werden, ausgehend von der Zel­ le oben links („Nord-Westen“), Liefermengen gewählt, so dass eine zulässige Men­ genfestlegung gefunden wird. Die Rechenschritte folgen der Matrix nach rechts be­ ziehungsweise unten. Die Tabelle 4 gibt das Ergebnis für obiges Beispiel wieder. Die

770 | Martin J. Geiger und Sandra Huber

Tab. 4: Zahlenbeispiel (Beispiellösung nach Nordwesteckenregel). x ij

j=1

j=2

j=3

j=4

Si

i=1 i=2 i=3 i=4 Dj

100(1) 0 0 0 100

10(2) 70(3) 10(4) 0 90

0 0 80(5) 0 80

0 0 30(6) 100(7) 130

110 70 120 100

Reihenfolge der einzelnen Rechenschritte kann hierbei den eingeklammerten Zahlen (1)−(7) entnommen werden. Offensichtlich ist das Auffinden einer zulässigen Lösung trivial. Gleichzeitig wird deutlich, dass der so erzeugte Transportplan beliebig schlecht ausfallen kann, ein­ fach weil das Verfahren sich lediglich an der Anordnung der Zeilen beziehungswei­ se Spalten orientiert und relevante Kosteninformationen (c ij ) vollständig unberück­ sichtigt lässt (Hinweis: Die Transportkosten obiger Ausgangslösung betragen 3490, im Optimum sind es 2300). Genau hier setzen andere Verfahren an, etwa das (Spalten-)/ Matrixminimumverfahren, welches die Transportmengen x ij in aufsteigender Folge der Kosten c ij festlegt und somit Beispiel für ein klassisches Greedy-Verfahren ist. Wei­ terhin bekannt ist die Vogelsche Approximationsmethode (vgl. Domschke 2007). Die­ se transformiert die Kostenmatrix zunächst in eine Opportunitätskostenmatrix, wel­ che dann für die Festlegung der Transportmengen herangezogen wird (und in jedem Rechenschritt zu aktualisieren ist). Kalkül der Vorgehensweise ist, dass Liefermen­ gen, welche nicht zu minimalen Kosten c ij transportiert werden, mindestens zu den nächstkleineren Kosten (Spalte bezieuhungsweise Zeile) transportiert werden müs­ sen. Intuitiv sind hohe Opportunitätskosten Ausdruck nachteiliger Mengenfestlegun­ gen. Dementsprechend erfolgt die Festlegung der Transportmengen in Abhängigkeit hiervon. Liefern obige Eröffnungsverfahren keine optimale Lösung, wovon ausgegangen werden muss, so können sinnvoll iterative Verbesserungsverfahren zum Einsatz kom­ men. Prominente Beispiele sind die MODI-Methode beziehungsweise die SteppingStone-Methode (vgl. Dempe/Schreier 2006; Domschke 2007). Grundidee ist das Ver­ schieben von momentan festgelegten Transportmengen hin zu anderen Verbindungen (i, j), so dass bei gleichzeitiger Einhaltung der Mengenrestriktionen eine Reduktion der Transportkosten eintritt. Die Verfahren terminieren sobald keine weiteren derar­ tigen Transformationen auffindbar sind mit der optimalen Lösung. Wie bereits in Abschnitt 2.1 ausgeführt, nimmt das klassische Transportmodell die Form eines linearen Optimierungsmodells an (vgl. Mattfeld/Vahrenkamp 2014). Im Hinblick auf die Verfügbarkeit leistungsstarker Optimierungssoftware für derartige Probleme (z. B. in der Form von IBM CPLEX, Gurobi, etc.) kann die obige Problemstel­ lung, auch für Fälle mit zahlreichen Variablen, als aus Praxissicht gelöst betrachtet werden. Kompetitive Vorteile für Unternehmen sind somit bei obigen Gegebenheiten weniger zu erwarten.

Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken | 771

Reale Probleme umfassen eher die Problematik der Datenbeschaffung sowie die Integration anderer Sachverhalten, welche die Linearität des Modells aufheben. Dies ist dann der Fall, wenn die Stückkosten c ij von der Menge abhängen: c ij (x ij ), wodurch die Gesamtkosten einen non-linearen Verlauf annehmen: ∑ ni=1 ∑m j=1 c ij (x ij ) x ij . Die An­ wendung der linearen Programmierung ist teilweise weiterhin möglich, etwa durch eine adäquate Umformulierung der non-linearen Funktionen in stückweise lineare Funktionen (Piecewise Linear Functions) (vgl. Grünert/Irnich 2005a). Allerdings kom­ men hierdurch Ansätze der linearen Programmierung eher an ihre Leistungsgrenzen, sodass eine vollständige Lösung der Problemstellung unter Umständen unmöglich wird. Dementsprechend interessant sind und bleiben die Kernideen obiger heuristi­ scher Verfahren. Wenngleich von einem Anstieg ihres Rechenaufwands ausgegangen werden muss, so lassen sie sich doch auf andere, entsprechend komplexe Problem­ stellungen übertragen. Im Hinblick auf die Realisierung signifikanter Kosteneinsparungen interessant ist insbesondere die Verbindung der Transportplanung mit der Mengenplanung. Wäh­ rend im klassischen Fall die Bedarfe der Kunden gegeben und zu bedienen sind (vgl. oben), können somit, eine entsprechende Mehrperiodenbetrachtung vorausgesetzt, Lieferungen antizipiert werden. Hieraus resultieren zahlreiche Möglichkeiten für die Transportplanung, welche im folgenden Abschnitt angesprochen werden.

4 Realisierung von Lösungsverfahren 4.1 Vendor Managed Inventory Das Vendor-Managed-Inventory-Konzept (VMI) ist ein Teilbereich des Efficient Con­ sumer Response (vgl. Seifert 2000) und geprägt durch die Kooperation von Liefe­ ranten mit Händlern zur Befriedigung von Konsumentenbedürfnissen. Nach dem Verständnis des VMIs überträgt der Abnehmer die Verantwortung für sein Lager an den Lieferanten. Dieser kann dann eigenständig beschließen, in welcher Periode der Transport durchgeführt wird und somit Wegstrecken einsparen, da nahe gele­ gene Kunden gemeinsam beliefert werden können. Auch für den Kunden ist dieses Konzept vorteilhaft, da er keinen alltäglichen Aufwand mit der Durchführung der Bestellvorgänge hat (vgl. Coelho/Cordeau/Laporte 2014). Ein Überblick zu den vor­ handenen Kostenkomponenten haben Bertazzi, Savelsbergh und Speranza (2008) dargelegt. Im Beitrag von Coelho, Cordeau und Laporte (2014) wird eine Literaturübersicht zu Untersuchungen des integrierten Bestands- und Tourenplanungsproblems (engl. Inventory Routing Problem), eine Ausprägungsform des VMI, vorgestellt. Ein Über­ blick zu den Charakteristika und den möglichen Varianten ist in Tabelle 5 gegeben. Eine Unterteilung der im integrierten Bestands- und Tourenplanungsproblem typi­

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Tab. 5: Problemcharakteristika und Ausprägungsformen des integrierten Bestands- und Tourenpla­ nungsproblems (in Anlehnung an Andersson et al. 2010; Coelho/Cordeau/Laporte 2014). Charakteristika

Ausprägungsform(en)

Planungshorizont Netzwerkstruktur Tourenplanung Lieferstrategie Bestandsentscheidungen Kundennachfrage Fuhrparkzusammensetzung Fuhrparkgröße

Endlich One-to-one Direktlieferungen Maximum level (ML) Nicht-Negativ Stochastisch Homogen Eins

Unendlich One-to-many Multiple Order-up-to level (OU) Entgangene Umsätze Deterministisch Heterogen Mehrere

Many-to-many Continuous Auftragsrückstand

Unlimitiert

scherweise vorzufindenden Problemstellungen kann auf Basis der in Tabelle 5 dar­ gestellten Klassifikationsmerkmalen vorgenommen werden. Der Planungshorizont kann hierbei zwei Ausprägungsformen aufweisen, endlich oder unendlich. Nach dem Grundverständnis der einschlägigen Literatur hinsicht­ lich der Netzwerkstruktur wird von drei gängigen Optionen ausgegangen: One-to-One, One-to-Many und Many-to-Many. Direktlieferungen treten auf, wenn nur ein Kunde angefahren wird. Üblicherweise werden mehrere Kunden pro Transportmittel ange­ nommen. Im Bereich des Transports über den Seeweg wird häufig von einer conti­ nuous Problemstellung gesprochen, da es kein zentrales Depot gibt und das Anfahren der Häfen durchgehend fortgeführt wird (vgl. Song/Furman 2013). Bei Anwendung der Maximum Level (ML) Lieferstrategie wird eine Liefermenge innerhalb der durch die Lagerkapazität des Abnehmers sowie die Fahrzeugkapazität definierten Beschränkungen flexibel, d. h. in jeder Periode erneut, bestimmt. Die Or­ der-Up-to-Level (OU) Strategie beinhaltet, dass beim Besuch eines Kunden immer ge­ nau die Menge geliefert wird, die zur Erreichung der maximalen Lagerkapazität erfor­ derlich ist. Hinsichtlich der Bestandsentscheidungen beim Kunden gibt es die Variante, dass der Bestand nicht-negativ bleiben muss, d. h. Lieferungen sind immer so zu veranlas­ sen, dass keine Fehlmengen beim Kunden entstehen. Wenn der disponible Lagerbe­ stand negative Werte annehmen kann, dann besteht die Möglichkeit den Auftrags­ rückstand zu einem späteren Zeitpunkt zu bedienen. Alternativ wird die Fehlmen­ ge als entgangener Umsatz verbucht. Von deterministischen Nachfragedaten spricht man, wenn zu Beginn des Planungshorizonts alle Nachfragedaten bekannt sind. Ist das nicht der Fall, so müssen Verteilungsannahmen für die Nachfragewerte angenom­ men werden (stochastische Kundennachfrage; vgl. Rahimi/Baboli/Rekik 2017). Die Merkmale Zusammensetzung und Größe des Fuhrparks dienen zur Klassifikati­ on der Fahrzeugflotte. Das wesentliche Charakteristikum eines homogenen Fuhrparks ist dessen einheitliche Kapazität, Fahrgeschwindigkeit/Ausstattung, etc. Demgegen­ über steht eine Flotte mit heterogenen Transportmitteln, die sich bezüglich ihrer Fahr­ zeugkonfiguration unterscheiden. Andersson et al. (2010) differenzieren zwischen le­

Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken |

773

diglich einem Fahrzeug oder einer Vielzahl an Transportmitteln, die für die Touren­ planung zur Verfügung stehen. Falls Transportkapazitäten auf dem Markt kurzfristig angemietet werden können, ist die Annahme eines unlimitierten Fuhrparks modella­ risch möglich (vgl. Coelho/Cordeau/Laporte 2014). Ein Anwendungsbereich des integrierten Bestands- und Tourenplanungspro­ blems ist z. B. die wiederkehrende Belieferung von Krankenhäusern mit Gasen (vgl. Praxair 2017). Weitere Anwendungsgebiete gibt es bei der Belieferung von Supermärk­ ten und von Automobilherstellern (vgl. Campbell/Savelsbergh 2004). Ein Anwendungsbeispiel Ausgangspunkt der folgenden Analyse sei ein integriertes Bestands- und Tourenpla­ nungsproblem: Neben der zentralen Position des Depots (D), von dem aus alle Trans­ porte starten beziehungsweise enden, sind ferner die Kundenstandorte mit den jewei­ ligen Koordinaten zu berücksichtigen (siehe Abbildung 7). Bei der Problemstellung handelt es sich um ein von einem divergierenden Materialfluss geprägtes, einstufiges Netzwerk: Dementsprechend wird ein One-to-Many Netzwerk realisiert. In Tabelle 8 sind die Lagerkapazitäten der Kunden k, die Anfangslagerbestände, sowie die bekann­ ten Nachfragewerte d k,t für jede Periode t (deterministische Werte) gegeben. Darüber hinaus stehen beliebig viele gleichartige Fahrzeuge mit einer Kapazität von jeweils 70 Mengeneinheiten (ME) zur Verfügung. Die Ermittlung einer geeigneten Lösung des Problems erfordert die Beantwortung folgender Fragestellungen: – In welcher Periode wird wie viel dem Kunden geliefert? – In welcher Reihenfolge werden die Kunden angefahren? Entscheidungen sind somit auf zwei unterschiedlichen Gestaltungsebenen zu treffen: Liefermengenentscheidungen und Erstellung eines Tourenplans. Eine optimale, alle Knoten

x-Koordinate

y-Koordinate

Depot

50

50

C1

80

30

C2

20

20

C3

80

80

C4

50

10

C5

30

35

100 C3 80

60

Depot C5

40

C1

C2 20

C4

0 0 Abb. 7: Darstellung der Depots und der Kunden.

20

40

60

80

100

774 | Martin J. Geiger und Sandra Huber

Tab. 6: Ermittelte Distanzwerte (von – nach).

Depot C1 C2 C3 C4 C5

Depot

C1

C2

C3

C4

C5

0 37 43 43 40 25

37 0 61 50 37 51

43 61 0 85 32 19

43 50 85 0 77 68

40 37 32 77 0 33

25 51 19 68 33 0

Tab. 7: Ermittelte Savingswerte für das exemplarisch gewählte Tourenplanungsverfahren.

C1 C2 C3 C4

C2

C3

C4

C5

19

30 1

40 51 6

11 49 0 32

Tab. 8: Lagerkapazität, Anfangsbestand und die Nachfragewerte d k,t für 5 Perioden mit t = 1, . . . , 5. Knoten

Kapazität (ME)

Anfangsbestand (ME)

t=1

t=2

t=3

t=4

t=5

C1 C2 C3 C4 C5

20 30 60 60 20

10 10 15 10 12

10 20 30 25 5

5 25 18 20 5

10 20 15 25 3

5 25 22 20 2

10 20 28 25 3

Interdependenzen der Bestands- und Tourenplanung berücksichtigende Lösung be­ darf der Integration der Teilprobleme in einen Simultanplanungsansatz. Da solche Modellierungen in der Praxis häufig nicht handhabbar sind, bietet sich alternativ ei­ ne geeignete Zerlegung des Problems an. Im vorliegenden Fall kann ein Sukzessivpla­ nungsansatz das Liefermengen- und das Tourenplanungsproblem als zwei Teilproble­ me auffassen. Zum Auffinden einer möglichst guten Lösung wird mit der Berechnung eines Teilproblems begonnen und das generierte Ergebnis für das andere Teilproblem genutzt. Es bestehen zwei Möglichkeiten für die Ordnung von Liefermengenbestimmung und Tourenplanermittlung. Zunächst wird die Idee aufgegriffen, die Liefermengen für sämtliche Perioden zu berechnen und diese als Grundlage für die Erstellung des je­ weiligen Tourenplans zu verwenden. Vorteilhaft bei dieser Reihenfolge der Teilpro­ bleme ist, dass basierend auf den Liefermengen der Gebrauch einer Standard-Touren­ planungssoftware für jede Periode möglich ist. Alternativ kann die Entkopplung der Teilprobleme über die Planung von Rahmentouren erfolgen, auf deren Basis die Lie­ fermengen für die Kunden kalkuliert werden.

Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken |

775

Tab. 9: Liefermengen für Belieferungsstrategie 1. Knoten

t=1

t=2

t=3

t=4

t=5

C1 C2 C3 C4 C5

0 10 15 15 0

5 25 18 20 0

10 20 15 25 1

5 25 22 20 2

10 20 28 25 3

Die dem integrierten Bestand- und Tourenplanungsproblem zugrundeliegenden Ziel­ kriterien der Bestands- sowie der Wegstreckenminimierung werden nachfolgend mit Hilfe des obigen Datenmaterials analysiert. Ist für das integrierte Tourenplanungspro­ blem die Zielvorgabe, die Lagerbestände bei den Kunden zu minimieren, so wird die­ ses Ziel durch die bedarfsgerechte Belieferung der jeweiligen Kunden in jeder Periode realisiert (Belieferungsstrategie 1). Für jede Periode t wird sichergestellt, dass die Nach­ frage der Kunden C1-C5 unter Beachtung der Fahrzeug- und Lagerkapazität bei den Kunden bedient wird. Eine exemplarische Berechnung der Liefermengen wird für den Kunden C1 ausgeführt. Für t = 1 ist keine Belieferung eingeplant, da der Bedarf aus dem Lagerbestand bedient werden kann. Für die verbleibenden Perioden wird nur ex­ akt die nachgefragte Menge geliefert. Die Belieferungsmengen für die restlichen Kun­ den sind in Tabelle 9 gegeben. Je Periode wird nun ein Tourenplanungsproblem unter Einsatz eines geeigneten Verfahrens gelöst (vereinfachte Annahme hier: Savings-Ver­ fahrens; vgl. Clarke/Wright 1964; vgl. Toth/Vigo 2014 zu weiterführenden Ansätzen). Es ergeben sich die folgenden Routen: – t = 1: Route {D → C2 → C4 → C3 → D} mit 40 ME und 195 EE – t = 2: Route {D → C3 → C1 → C4 → C2 → D} mit 68 ME und 205 EE – t = 3: Routen {D → C5 → C2 → C4 → C1 → D} mit 56 ME und 150 EE; {D → C3 → D} mit 15 ME und 86 EE – t = 4: Routen {D → C5 → C2 → C4 → C1 → D} mit 52 ME und 150 EE; {D → C3 → D} mit 22 ME und 86 EE – t = 5: Routen {D → C5 → C2 → C4 → C1 → D} mit 58 ME und 150 EE; {D → C3 → D} mit 28 ME und 86 EE Für die Berechnung des Lagerbestands am Ende der jeweiligen Periode wird angenom­ men, dass Lieferungen einer Periode t, welche den Bedarf d k,t genau dieser Periode decken, den Lagerbestand nicht beeinflussen. Somit ergibt sich für die Summe der La­ gerbestände für sämtliche Perioden ein Wert von 57 ME, der sich aus der Summe der Anfangsbestände zusammensetzt. Der durchschnittliche Lagerbestand beträgt für die fünf Perioden 11,4 ME. Mit Blick auf die Wegstrecke wurde ein Wert von 1108 Entfer­ nungseinheiten (EE) bestimmt. Dabei ist anzumerken, dass die Distanzwerte für ein

776 | Martin J. Geiger und Sandra Huber

Tab. 10: Liefermengen für Belieferungsstrategie 2. Knoten

t=1

t=2

t=3

t=4

t=5

C1 C2 C3 C4 C5

5 10 33 15 6

0 25 0 45 0

10 20 37 0 0

15 25 0 20 0

0 20 28 25 0

Knotenpaar k, m auf ganze Zahlen gerundet wurden (vgl. Formel (5)). Distanzk,m =⌈√(xKoordinatek −xKoordinatem )2 +(yKoordinatek −yKoordinatem )2 ⌉

∀k,m

(5)

Im Gegensatz zu den obigen Erläuterungen ist nun die Untersuchung des Ziels der Minimierung der Wegstrecke vorgesehen (Belieferungsstrategie 2). Hierbei ist offen­ sichtlich, dass die bisherige bedarfsgerechte Liefermengenberechnung anzupassen ist. Da in einem Mehrperiodenmodell die Bedarfe aus zukünftigen Perioden antizipiert werden können, ist anzunehmen, dass eine Erhöhung der Liefermenge zu einer redu­ zierten Wegstrecke führt. Die nachfolgende Beschreibung umreißt die methodische Grundidee eines Lösungsansatzes, welcher sich aufgrund der beschriebenen Annah­ me ergibt. Bei der Liefermengenbestimmung gilt es, die Touren zu erweitern, indem die Liefermenge für bereits eingeplante Kunden um zukünftige Periodenbedarfe er­ höht und/oder bisher unberücksichtigte Kunden aufgenommen werden. Für das vorliegende Datenmaterial sind die Kunden C2-C4 als dringende Kunden identifiziert worden, da bei diesen der Lagerbestand nicht ausreicht, um die Nach­ frage in der Periode zu bedienen. Durch die vorgegebene Zielfunktion werden nach­ folgend günstige Liefermengen für die Erweiterung der Tour gesucht, um die Fahr­ zeugkapazität von 70 ME besser auszulasten. Für die Kunden C3 und C4 können die Nachfragemengen aus der zweiten Periode bereits in t=1 geliefert werden. Zusätzlich werden C1 und C5 mitaufgenommen, wodurch die Bedarfe von C5 für sämtliche Peri­ oden gedeckt sind. Einen Überblick zu den Liefermengen ist in Tabelle 10 dargestellt. Auf dieser Grundlage wurden die folgenden Routen ermittelt: – t = 1: Route {D → C5 → C2 → C4 → C1 → C3 → D} mit 69 ME und 206 EE – t = 2: Route {D → C2 → C4 → D} mit 70 ME und 115 EE – t = 3: Route {D → C2 → C1 → C3 → D} mit 67 ME und 197 EE – t = 4: Route {D → C2 → C4 → C1 → D} mit 60 ME und 149 EE – t = 5: Routen {D → C2 → C4 → D} mit 45 ME und 115 EE; {D → C3 → D} mit 28 ME und 86 EE Auf Basis dieser Belieferungsstrategie beträgt die Summe der Wegstrecke 868 EE und die Summe der Lagerbestände ergibt 166 ME (vgl. Tabelle 10 und Tabelle 11). Der durch­ schnittliche Lagerbestand liegt bei 33,2 ME.

Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken | 777

Tab. 11: Lagerbestände für Belieferungsstrategie 2. Knoten

t=1

t=2

t=3

t=4

t=5

C1 C2 C3 C4 C5

5 0 18 0 13

0 0 0 25 8

0 0 22 0 5

10 0 0 0 3

0 0 0 0 0

Bei der Untersuchung der beiden Lieferstrategien wird klar, dass die Minimierung der Lagerbestände zur Minimierung der Wegstrecke einen klaren Zielkonflikt aufweist. Tat­ sächlich lassen sich die Transportkosten erheblich reduzieren, allerdings nur unter Inkaufnahme entsprechender Lagerbestände bei den Kunden. Umgekehrt wird deut­ lich, dass eine Minimierung der durchschnittlich gelagerten Produkte entsprechende Auswirkungen auf die Transportkosten hat, ein Aspekt, welcher im praktischen An­ wendungsfall einer genauen Kostenanalyse unterzogen werden sollte. Darüber hinaus sind, je nach Anwendungsfall, Mischstrategien denkbar, welche Kompromisslösun­ gen zu den beiden oben angeführten, idealtypischen Vorgehensweisen implementie­ ren.

4.2 Softwareunterstützung in der Transportplanung Zum Zwecke der Lösung von Transportplanungsproblemen wird in der Regel Soft­ wareunterstützung benötigt. Eine zusammenfassende Übersicht zu zentralen Kompo­ nenten bei der Softwareunterstützung in der Transportplanung ist in Abbildung 8 ge­ geben. Typische Elemente bei der Entwicklung eines Entscheidungsunterstützungs­ systems sind zunächst die zugrundeliegenden Lösungsansätze und die Eingabe von Inputdaten. Beispielhaft sind die Größe des Fuhrparks und der Auftragsbestand zu nennen. Für den Fall, dass aktuelle Transportinformationen in die Optimierung in­ tegriert werden können, muss zusätzlich eine Datenverarbeitung unterstützt werden. Unter dem Begriff Datenverarbeitung wird die zielgerichtete Veränderung/Weitergabe an Daten durch Computersysteme verstanden (vgl. Klaus/Krieger/Krupp 2012). Mehre­ re Aufgaben müssen im Rahmen der Datenverarbeitung sichergestellt sein, so müssen beispielsweise die Daten an den Lösungsansatz übermittelt werden. Hierzu ist die Ent­ wicklung einer Schnittstelle für das App, Telematiksystem etc. notwendig. Insbeson­ dere sollte auch eine grafische Visualisierung der aktuellen Transportinformationen erfolgen (vgl. Klaus/Krieger/Krupp 2012). Als ein Beispiel für aktuelle Transportinfor­ mationen kann die Einbeziehung von Verkehrsdaten und die Position des Transport­ mittels in die Optimierung herangezogen werden. Durch diese Zusatzinformationen kann der Tourenplan zeitnah angepasst werden, indem z. B. eine Umplanung der Kun­ denreihenfolge erfolgt.

778 | Martin J. Geiger und Sandra Huber

Externe Informationen Tom Tom

Entscheidungsunterstützungssystem

Verkehrsinformationen, Zeiten, etc.

Google Maps API

Position, Mitteilungen, etc. Telematik system, App

Fahrer/-in

Benutzeroberfläche

Datenverarbeitung

Aktuelle Transportinformationen

Inputdaten: - Fuhrpark - Auftragsbestand - etc.

Optimierung Planungsergebnisse, etc.

Planer/-in

Abb. 8: Aspekte bei der Softwareunterstützung in der Transportplanung (in Anlehnung an Heilig/ Lalla-Ruiz/Voß 2017).

Aus Sicht eines Entscheidungsträgers (ETs), der für die Transportplanung zuständig ist, kann die Interaktion im Entscheidungsunterstützungssystem im Wesentlichen auf zwei Ebenen unterschieden werden: – Interaktion mit den Inputdaten und – Interaktion mit dem Optimierungsverfahren beziehungsweise dessen Ergebnis­ sen. Im Hinblick auf die erste Interaktionsebene kann z. B. der Informationsaustausch über neue Kundenaufträge mittels Excel-Listen und/oder einem Datenbanksystem erfol­ gen. Der Informationsaustausch des ETs mit dem Optimierungsverfahren ist vielfältig. Die Analyse von Zielkonflikten stellt dabei einen bedeutenden Interaktionsbereich für den ETs dar. Durch Angabe der Präferenzen des ET in der Benutzeroberfläche, kann der Optimierungsansatz diese Informationen nutzen, um weitere Lösungsvorschläge zu erzeugen (für ausgewählte Zielsetzungen vgl. Tabelle 12). Eine andere Interaktions­ möglichkeit ist die Angabe von Laufzeiten für den Algorithmus, da er/sie nur eine be­ stimmte Arbeitszeit für die Auswahl eines Tourenplans zur Verfügung hat. Eine Übersicht zu Entscheidungsunterstützungssystemen in der Transportpla­ nung wird in den Beiträgen von Żak (2010 und 2018) beschrieben. Bei der Evalua­ tion von Transportplanungsproblemen werden häufig konfliktäre Zielsetzungen un­ tersucht, z. B. ist die Analyse des Trade-offs zwischen Servicequalität und Kosten einer Lösung möglich. Hierzu stellt die Übersicht in Tabelle 12 eine Auswahl von Zielfunktionen für verschiedene Problemstellungen bei der computergestützten Ent­

Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken |

779

Tab. 12: Überblick zu ausgewählten Zielfunktionen in Transportproblemen. Autoren

Problem

Ziele

(Żak 2018)

Auswahl von Trans­ portmodi

Maximiere den Komfort Minimiere die operativen Kosten

(Żak 2018)

Design eines Trans­ portsystems

Minimiere die Wartezeit Minimiere die gesamte Fahrtzeit Maximiere die Sicherheit

(Heilig/Lalla-Ruiz/Voß 2017)

Inter-Terminal Routing Problem

Minimiere die fixen Fahrzeugkosten Minimiere die variablen Servicekosten Minimiere die Emissionen

(Nedjati/Izbirak/Arkat 2017)

Integriertes Standortund Tourenplanungs­ problem mit interme­ diären Depots

Minimiere die unbefriedigten Nachfragen Minimiere die Wartezeit

(Huber/Geiger 2015)

Integriertes Bestandsund Tourenplanungs­ problem

Minimiere die gesamte Wegstrecke Minimiere die Summe der Bestände

(Nolz/Absi/Feillet 2014)

Integriertes Bestandsund Tourenplanungs­ problem

Minimiere die Distributionskosten Minimiere die erwarteten Bestandskosten Minimiere die Summer der erhöhten Bestände und der Strafkosten

(Parragh et al. 2009)

Dial-A-Ride Problem

Minimiere die Transportkosten Minimiere die durchschnittliche Fahrtzeit der Nutzer

(Caballero et al. 2007)

Integriertes Standortund Tourenplanungs­ problem

Minimiere die fixen Kosten Minimiere die Transportkosten Minimiere die Ablehnung der Route Minimiere die maximale Ablehnung der Route Minimiere die soziale Ablehnung

(Park/Koelling 1986)

Tourenplanungsproblem Minimiere die gesamte Wegstrecke Minimiere den Verderb der Produkte während des Transports Maximiere die Befriedigung von „wichtigen“ Nachfrageknoten

scheidungsunterstützung in der Transportplanung dar. Eine detaillierte Übersicht zu mehrkriteriellen Transportplanungproblemen thematisiert der Literaturüberblick von Jozefowiez, Semet und Talbi (2008). Als Beispiel einer Tourenplanungssoftware ist in Abbildung 9 die Benutzerober­ fläche von Smarttour dargestellt, einem Produkt der PTV Group, welche zu den führen­ den Herstellern entsprechender Systeme gehört (installierte Softwarelösungen unter­

780 | Martin J. Geiger und Sandra Huber

Abb. 9: Benutzeroberfläche der Softwarelösung Smarttour.

stützen täglich bei Einsatz einer Million Fahrzeuge). Die Benutzeroberfläche zeigt drei wesentliche Ansichten: Der ET kann sich die Aufträge und sämtliche Touren in einer Listenform anzeigen lassen. Außerdem besteht die Möglichkeit, die Touren in der Kar­ te grafisch zu veranschaulichen. Zu den Aufträgen gibt es weitere Informationen wie die früheste/späteste Beladung und das Gewicht. Zusätzlich ist angegeben, ob es sich um eine Lieferung oder um eine Abholung handelt. Zu den geplanten Touren kommen Bewertungen, die den Entscheidungsträger unterstützen sollen. Darüber hinaus fin­ den sich für jede Tour Kostenaussagen, Angaben zur Fahrzeugauslastung sowie zur Einsatzdauer, die sich aus der Fahrtzeit- und der Servicezeit zusammensetzt. Der ET trifft die Entscheidung über die freizugebenden Touren im Unternehmen. Danach können die Produkte kommissioniert und für die Lieferung vorbereitet wer­ den. Auf Basis des Expertenwissens des ETs kann mit der Software interagiert werden, indem er/sie Kunden mittels „Drag and Drop“ aus der Tour herausnimmt/hinzufügt. Schließlich wird durch das Optimierungsverfahren ein angepasster Tourenplan be­ rechnet. Neben der eigentlichen Planerstellung beinhaltet die Software auch eine verglei­ chende Kostenbetrachtung für ausgewählte Touren. Auf der Grundlage von Frachtta­ bellen der verschiedenen Speditionen werden die Frachtkosten für die Tour berechnet. Im Beispiel in Abbildung 10 ist die detaillierte Darstellung von vier Be­ rechnungen zur Vergabe der Transportleistung an Speditionen angegeben und eine Kostenbetrachtung für die eigene Flotte realisiert worden. Bei Speditionsvergabe rei­ chen die Kosten von 225,57 € bis 570 €. Für den eigenen Fuhrpark ergibt sich ein Kostenwert von 493,77 €. Eine genaue Aufschlüsselung der Kosten ist in Abbildung 11 dargelegt. Ein Großteil des Betrags ist auf die Bezahlung der Fahrer zurückzuführen.

Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken | 781

Abb. 10: Vergleichende Betrachtung der Kosten.

Abb. 11: Aufschlüsselung der Kosten.

Zusätzlich beinhaltet die Berechnung beispielsweise fixe Kosten für die Nutzung des Fahrzeugs sowie Kosten für die gefahrene Distanz. Der ET kann zur Einzeltour aktuelle Informationen über das Telematiksystem im Lkw abrufen und somit die einzelnen Stationen der Tour direkt in der Karte nachvoll­

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Abb. 12: Verknüpfung mit Telematik.

ziehen. In Abbildung 12 wird der Ausführungsstatus „Abgefahren“, „Angekommen“ oder „Noch nicht ausgeführt“ angezeigt. Auch ist die derzeitige Verspätung in Minu­ ten zur erwarteten Ankunftszeit angegeben. Diese Nachverfolgungsdaten unterstüt­ zen den ET bei der Bewertung der Tour und erlauben Anpassungen in der Reihenfolge der Tour, um Zeitfenster einzuhalten. Die Beschreibung der ausgewählten Möglichkeiten der Tourenplanungssoftware zeigt, wie gängige Systeme den Planer in der operativen Transportlogistik unterstüt­ zen. Konkret findet eine Interaktion auf mehreren Ebenen statt. So werden Auftrags­ daten und Fahrer- beziehungsweise Fahrzeuginformationen mit geographischen Da­ ten verknüpft und in konkrete Arbeitspläne überführt. Methodisch wird dies durch einschlägige Lösungsverfahren, jedoch auch durch den manuellen Eingriff in die de­ taillierte Planung umgesetzt. Zeitnahe Kostenabschätzungen erlauben zudem eine be­ triebswirtschaftlich adäquate Bewertung der erzeugten Pläne.

5 Schlussbetrachtung Die Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken beinhaltet zahlreiche Teilfrage­ stellungen, welche hier nicht vollumfänglich abgearbeitet werden konnten. In diesem Sinne lieferte der vorliegende Beitrag lediglich ein paar wenige zum Problemverständ­ nis beitragende Ausführungen. Darüber hinaus sind einschlägige Quellen zu angren­ zenden Problemstellungen zu konsultieren, insbesondere zur Standortplanung, zur strategischen Netzwerkplanung, sowie zur Tourenplanung. Als lineare Optimierungsprobleme modellierbare Transportprobleme können, im Hinblick auf die Verfügbarkeit leistungsfähiger Optimierungssoftware, als recht gut gelöst angesehen werden. Praktische Problemstellungen, welche durch derartige For­ malmodelle repräsentiert werden können, stellen somit keine besonderen Herausfor­ derungen für bekannte Methoden dar. Demgegenüber sind mehrere Planungsstufen integrierende Ansätze noch relativ neu und vergleichsweise weniger gut untersucht.

Transportplanung in Wertschöpfungsnetzwerken | 783

Allerdings bieten genau diese das Potenzial, kompetitive Vorteile für entsprechende Problemstellungen zu liefern. Der aktuelle Beitrag war bemüht, eine Brücke zwischen bekannten Konzepten ei­ nerseits, vgl. die Abschnitte 2 und 3, und neueren Lösungsansätzen andererseits, vgl. die Abschnitte 4.1 und 4.2, zu spannen. Grundsätzlich bauen jüngere Entwicklungen auf bekannten Konzepten auf. Diese werden somit nicht obsolet, sondern vielmehr erweitert und durch neuere Ideen ergänzt. Ganz besonders zeigt sich dies in entspre­ chenden computergestützten Systemen, welche formale Methoden mit aktuellen Ent­ wicklungen der Informationstechnologie kombinieren. Innovationsschübe sind aus dieser Richtung zu vermuten.

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Dirk C. Mattfeld

Tourenplanung 1 2 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 4

Einleitung | 786 Standardmodell der Tourenplanung | 788 Problemstellungen | 789 Milkruns und Sammelprobleme | 790 Inventory Routing | 791 Kurier-, Express- und Paketdienstleistungen | 793 Kollaborative Tourenplanung | 794 Tourenplanung in der City Logistik | 796 Tourenplanung mit Emissionen | 797 Tourenplanung für Vor-Ort-Dienstleistungen | 799 Tourenplanung für Dial-A-Ride-Probleme | 800 Tourenplanung für Schulbusse | 802 Lösungsverfahren | 803 Literatur | 804

Zusammenfassung. Die Tourenplanung ist der taktisch/operativen Ebene der Ver­ triebsplanung in der Supply-Chain-Matrix zugeordnet. Im Rahmen der Transport­ planung entscheidet die Tourenplanung über die Besuchsreihenfolge von Kunden sowie über die Zuordnung von Kundenbesuchen zu Fahrzeugen der Lieferflotte. Die genannten Entscheidungen finden sich ebenfalls in Problemstellungen der Sammelund Dienstleistungsverkehre sowie in kombinierten Fragestellungen. Der Beitrag zeigt zunächst die zu treffenden Entscheidungen in einem Modell auf, das die Schwere des zu lösenden Problems erkennen lässt. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt auf der pro­ blemseitigen Beschreibung von Erweiterungen des Basismodells. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion kürzlich veröffentlichter heuristischer Optimierungsverfahren, die die generische Behandlung der Tourenplanung zum Ziel haben.

1 Einleitung Die Tourenplanung liefert einen wichtigen Beitrag zum Produktions- und Logistikma­ nagement. Mit der Reihenfolgebildung von Ortsbesuchen lassen sich effiziente Wa­ ren- und Personentransporte realisieren. Weiterhin leistet die Tourenplanung einen Beitrag bei der Erbringung von ortsbezogenen Dienstleistungen. Die zu bestimmen­ den Besuchsreihenfolgen können innerbetriebliche oder überbetriebliche Orte betref­ fen. Der dabei betrachtete Transportmodus reicht vom Fußgänger über den Fahrradund PKW-Fahrer bis hin zum LKW, Flugzeug und Containerschiff. Werden mehr als https://doi.org/10.1515/9783110473803-041

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ein Fahrzeug simultan betrachtet, so muss, außer der Reihenfolgebildung, über die Zuordnung der Orte zu den Fahrzeugen der Flotte entschieden werden. Die zurückzulegenden Wege werden als paarweise Verbindung zwischen den be­ teiligten Orten dargestellt. Typischerweise wird die Distanz oder Reisezeit zwischen jeweils zwei Orten in der Form eines Aggregats betrachtet. Neuere Arbeiten bilden aber auch andere transportrelevante Kenngrößen wie etwa Emissionen ab. Zuordnun­ gen und Reihenfolgen werden nun so gebildet, dass die Summe über die Distanzen, Reisezeiten oder Emissionen der von der Flotte zu realisierenden Touren minimiert wird. Weitere Zielsetzungen können die Einsparung von Fahrzeugen für die Touren­ realisierung sowie die gleichmäßige Verteilung der Orte oder Wege auf die Fahrzeuge der Flotte sein. Bei der Personenbeförderung kommt naturgemäß der Reisezeit eine besondere Bedeutung zu. Sind Transporte Gegenstand der Tourenplanung, so wird zwischen Sammeln und Liefern aus oder in Depots unterschieden, wobei ein Depot als Ort mit besonderen Ei­ genschaften abgebildet wird. Die simultane Betrachtung von Sammel- und Lieferakti­ vitäten wird als Pickup-and-Delivery bezeichnet, wie sie etwa für Kurierdienstleistun­ gen zu beobachten sind. Einen Sonderfall stellen Dienstleistungen dar, die entlang der zurückzulegenden Wege erbracht werden, wie etwa der Winterräumdienst, die Hausmüllentsorgung oder die Postverteilung. Die Orte stellen in diesen Anwendun­ gen Landmarken der Infrastruktur wie etwa Kreuzungen dar. Bei der Bildung der Touren können limitierende Faktoren wie Ladekapazität, Zeit oder auch Energie berücksichtigt werden. Diese Faktoren können sich auf die Fahr­ zeuge, auf Orte oder auf Wege beziehen und müssen bei der Tourenbildung als ein­ schränkende Größen berücksichtigt werden. Die Tourenplanung kann genutzt wer­ den, um Rahmentouren auf der Ebene der taktischen Planung zu generieren. Andere Anwendungen machen die Erstellung eines Tourenplans auf operativer Planungsebe­ ne notwendig. Im Extrem werden Touren im Sinne eines Steuerungsansatzes während ihrer Realisierung dynamisch fortgeschrieben. Die aus der obigen Problemskizzierung ableitbaren Problemstellungen sind man­ nigfaltig, bedingen aber im Kern eine Entscheidung über die Zuordnung von Besuchen zu Fahrzeugen und über die Reihenfolgebeziehungen zwischen Orten. Beide Entschei­ dungen sind binärer Natur und müssen in mathematischen Optimierungsmodellen als ganzzahlige Variable abgebildet werden. Für die meisten Tourenplanungsproble­ me sind keine Lösungsverfahren bekannt, deren Aufwand zur Ableitung einer optima­ len Lösung in Bezug auf die Problemgröße als Polynom darstellbar ist. Die damit ver­ bundenen Herausforderungen an Modell und Algorithmus haben dazu geführt, dass die Tourenplanung eher im Operations Research als im Operations Management ver­ ortet wird (vgl. Erdogan 2017). Dieser Beitrag zeigt im Abschnitt 2 ein akzeptiertes Standardmodell der Touren­ planung auf. In Abschnitt 3 werden unterschiedlichste Problemstellungen der Tou­ renplanung nebeneinandergestellt. In Abschnitt 4 werden heuristische Lösungsver­ fahren genannt. Besondere Berücksichtigung erfährt ein kürzlich vorgestelltes Ver­ fahren, das eine Vielzahl unterschiedlicher Problemstellungen effizient lösen kann.

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2 Standardmodell der Tourenplanung Die Standardformulierung berücksichtigt eine Flotte von Fahrzeugen mit Kapazitäts­ beschränkung, die eine Anzahl von Kundenorten mit einer Gütermenge von einem De­ pot aus beliefert. Es gilt nun Auslieferungstouren in Form von Rundreisen vom Depot so zu gestalten, dass unter Einhaltung aller Restriktionen die Gesamttransportdistanz minimiert wird. Das skizzierte Problem wurde in dieser Form erstmals von Dantzig und Ramser (1959) beschrieben. Unter einem Depot wird der Ort verstanden, an dem die Auslieferungsfahrten be­ ginnen und enden. Beispiele für Depots sind Auslieferungslager, Sammellager und Fahrzeugdepots. Im Modell wird dem Depot die Nummer 0 zugewiesen, die zu ver­ sorgenden Kundenorte werden mit 1, . . . , n nummeriert. Dem Tourenplanungspro­ blem liegt ein zusammenhängendes Netzwerk G = (V, E) mit der Knotenmenge V = {0, 1, . . . , n} zugrunde, welche die Kunden und das Depot repräsentiert. Die zulässi­ gen Verbindungen von Kunde i nach Kunde j oder zum Depot 0 werden von der Kan­ tenmenge E zum Ausdruck gebracht. Die Bewertung d ik einer Kante (i, j) bildet die Entfernung von Kunde i zu Kunde j ab. Eine geordnete Menge von Kunden, die auf einer in einem Depot beginnenden und in einem Depot endenden Fahrt bedient werden, wird als eine Tour bezeichnet. So ist (0, 1, 2, 3, 0) eine mögliche Tour. Wenn angenommen wird, dass Start- und Zielorte der Fahrzeuge identisch sind, handelt es sich um geschlossene Touren. Im Gegensatz dazu spricht man von offenen Touren, falls die Fahrzeuge nicht zum Depot zurück­ kehren. Der Bedarf des Kunden i betrage q i Mengeneinheiten. Eine Tour (0, 1, 2, . . . , r, 0) liefert eine Transportmenge q1 + q2 + . . . + q r an die Kunden aus und besitzt die Länge d01 + d12 + . . . + d r0 . Wir nehmen an, dass alle Lieferfahrzeuge eine iden­ tische Ladekapazität C besitzen. Damit ergibt sich die folgende Kapazitätsrestrikti­ on für zulässige Touren: q1 + q2 + . . . + q r ≤ C. Eine Menge von Touren mit der Eigenschaft, dass jeder Kunde auf genau einer Tour bedient wird, wird als Touren­ plan bezeichnet. Die Gesamtlänge eines Tourenplanes ist die Summe der Länge sei­ ner Touren. Ein zulässiger Tourenplan genügt allen Restriktionen des Tourenpro­ blems. Im Folgenden wird eine mathematische Formulierung des Vehicle-Routing-Pro­ blems (VRP) dargestellt (vgl. Laporte 1992). Die Entscheidungsvariable x ijk ist genau dann 1, wenn Fahrzeug k die Kante (i, j) befährt, und ansonsten 0. Variable y ik ist genau dann 1, wenn Knoten i von Fahrzeug k bedient wird, und ansonsten 0. Die Ziel­ funktion (1) minimiert die Distanz über die von den m Fahrzeugen befahrenen Kan­ ten (i, j). m

min ∑ ∑ d ij ⋅ x ijk k=1 i =j̸

(1)

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unter den Nebenbedingungen: n

∑ q i ⋅ y ik ≤ C

∀k = 1, . . . , m

(2)

i=1 m

∑ y0k = m

(3a)

k=1 m

∑ y ik = 1

∀i = 1, . . . , n

(3b)

k=1 n

∑ x ijk = y ik

∀i = 0, . . . , n; k = 1, . . . , m

(4)

∀j = 0, . . . , n; k = 1, . . . , m

(5)

∀S ⊂ V; |S| ≥ 1; k = 1, . . . , m

(6)

x ijk ∈ {0; 1}

∀i, j = 1, . . . , n; k = 1, . . . , m

(7)

y ik ∈ {0; 1}

∀i = 1, . . . , n; k = 1, . . . , m

(8)

j=0 n

∑ x ijk = y jk i=0

∑ x ijk ≤ |S| − 1 i,j∈S

In Nebenbedingung (2) wird die Kapazität C der Fahrzeuge berücksichtigt. q i stellt den Bedarf des Kunden i dar. Die Nebenbedingungen (3a) und (3b) stellen sicher, dass je­ der Kundenort von genau einem Fahrzeug besucht wird. Lediglich das Depot 0 wird von allen m Fahrzeugen besucht. Nebenbedingungen (4) und (5) binden die Varia­ blen x und y indem sie sicherstellen, dass Kanten jeweils dem Fahrzeug zugeordnet werden, das auch den inzidenten Knoten besucht. Die Nebenbedingung (6) wird als Subtour-Elimination bezeichnet und stellt sicher, dass alle Knoten einer Tour in einer definierten Reihenfolge besucht werden. Nebenbedingungen (7) und (8) sichern die Ganzzahligkeit der Entscheidungsvariablen.

3 Problemstellungen Das im vorhergehenden Abschnitt beschriebene Standardmodell der Tourenplanung hat unterschiedlichste Erweiterungen erfahren, die die Spezifika der jeweiligen abge­ leiteten Problemstellungen abbilden. Da der Charakter des obigen Standardmodells aber jeweils erhalten bleibt, bleibt in den Modellerweiterungen auch die Schwere des Problems im Hinblick auf das Auffinden einer optimalen Lösung erhalten. Im Folgen­ den werden einige dieser abgeleiteten Problemstellungen vorgestellt und deren Mo­ dellerweiterungen kurz skizziert. Dabei ist die Sammlung in keiner Weise vollständig, die Auswahl berücksichtigt jedoch zum einen den eigenständigen Charakter der je­ weiligen Problemstellung und zum anderen die Relevanz für das Produktions- und Logistikmanagement.

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3.1 Milkruns und Sammelprobleme Da Güter häufig in gestuften Produktionsschritten an verschiedenen Orten produ­ ziert werden, ist ein wichtiger Bestandteil der Produktionsplanung die Frage, wie Einzelteile und Baugruppen rechtzeitig an den vorhergesehenen Orten zur Verfügung stehen, ohne dass dort Lagerbestände akkumulieren. Im Rahmen des Lean Manu­ facturing werden vermehrt sogenannte Milkruns eingesetzt (vgl. Kilic/Durmusoglu/ Baskak 2012). Dieser Begriff stammt aus Zeiten, in denen Milch von Milchboten ver­ teilt wurde, die jeden Tag die gleiche Route abfuhren und nur dann eine neue Flasche Milch lieferten, wenn die alte Flasche leer vor dem betreffenden Haus abgestellt wur­ de. Im Produktionszusammenhang bezeichnen Milkruns wiederkehrende Touren, bei denen Einzelteile und Baugruppen in bestimmten Losgrößen an mehreren Orten eingesammelt werden. Milkruns werden in diesem Zusammenhang in zwei Berei­ chen eingesetzt: zur innerbetrieblichen Tourenplanung zwischen Arbeitsstationen (vgl. Gyulai et al. 2013) sowie zur überbetrieblichen Tourenplanung zwischen Zu­ lieferern (vgl. Grunewald 2015). Bei Milkruns ist die Frage nach der Tourenplanung eng verknüpft mit der Frage der Losgrößenplanung. Verwandt ist die Fragestellung von Sammelproblemen, bei denen Güter eingesammelt werden müssen, ergo keine Losgrößenplanung erfolgt. In Milkrun-Problemen werden Touren gesucht, auf denen Güter von bestimmten Orten eingesammelt werden. Es handelt sich also um ein klassisches Vehicle-Rou­ ting-Problem, bei dem den zu besuchenden Orten Fahrzeuge zugeordnet werden müssen. Des Weiteren werden Reihenfolgen für die einzelnen Fahrzeuge in Touren festgelegt. Milkruns können auch als Pickup-and-Delivery-Problem mit periodischen Touren interpretiert werden (vgl. Gyulai et al. 2013). Für die Fahrzeuge können Kapazi­ tätsrestriktionen gelten, insbesondere in Bezug auf Volumen und Gewicht. Zusätzlich werden häufig Zeitfenster einbezogen, insbesondere für weitläufige Touren, auf denen einige Orte nur zu bestimmten Zeiten zugänglich sind oder für Touren in Produkti­ onsstätten, in denen die Taktzeiten eng sind und die pünktliche Lieferung von großer Bedeutung für den reibungslosen Ablauf ist. Außerdem kann zur Vereinfachung die Annahme getroffen werden, dass alle Teile in jeder Tour transportiert werden und nicht seltener oder öfter benötigt werden als andere. Entschieden wird in Milkruns über die Zuordnung von Standorten zu Fahrzeugen, über die Tourenplanung von Fahrzeugen oder über die Bestellpolitik. Grunewald (2015) integriert beide Entschei­ dungen. Als Zielfunktionen können beispielsweise die Minimierung der verwendeten Fahrzeuge und die Minimierung der gefahrenen Distanz genannt werden (vgl. Kilic/ Durmusoglu/Baskak 2012). Andere Modelle nutzen eine Kombination aus Transportund Inventarkosten (vgl. Sadjadi/Jafari/Amini 2009). Für Sammelprobleme, bei de­ nen mehrere Güter an mehreren Orten abgeholt werden müssen, werden Entschei­ dungen darüber getroffen, welche Produkte von welchem Fahrzeug eingesammelt werden, welches Fahrzeug welche Stationen bedient und wie die Touren realisiert werden. Als Nebenbedingung kann hier beispielsweise festgelegt werden, dass alle

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Güter eingesammelt werden müssen und dass nicht nur Teilmengen eines Gutes von einem Fahrzeug abgeholt werden dürfen. Die Zielfunktion hier ist typischerweise die Minimierung der Kosten der Touren (vgl. Henke/Speranza/Wäscher 2015). Die formulierten Modelle für Milkrun-Probleme sind häufig klassische VehicleRouting-Problemformulierungen mit vergleichsweise wenigen Restriktionen. Daher werden typischerweise keine neuen Algorithmen entwickelt, sondern Standardsol­ ver verwendet (vgl. Kilic/Durmusoglu/Baskak 2012). Wenn kompliziertere Nebenbe­ dingungen wie das Layout einer Produktionsstätte vorliegen (vgl. Gyulai et al. 2013), können Heuristiken an die speziellen Anforderungen angepasst werden. Grunewald (2015) löst die Fragen der Bestandsplanung und der Tourenplanung integriert und kombiniert daher in einem partiellen Enumerationsalgorithmus Lösungsansätze aus dem Bestandsmanagement mit einer Solver-basierten Tourenplanung. Da Sammel­ probleme Vehicle-Routing-Probleme mit erweiterten Restriktionen darstellen und oft nur in kleinen Instanzen optimal gelöst werden können, wird hier auf Heuristiken wie beispielsweise die Variable Neighborhood Search zurückgegriffen, die auf die spezi­ ellen Anforderungen zugeschnitten sind.

3.2 Inventory Routing Eine Spezialform des VRPs stellt das Inventory-Routing-Problem (IRP) dar, das Frage­ stellungen der Lagerhaltung und der Tourenplanung integriert. Das IRP stellt somit in der Sicht des Lieferanten das Gegenstück zum Vendor Managed Inventory dar, das die Sichtweise des Verbrauchers einnimmt. Eine der ersten Arbeiten zum IRP geht auf Dror, Ball und Golden (1985) zurück. Sie definieren das Problem wie folgt: Gegeben sei eine Menge von Kunden, in der jeder Kunde einen Rohstoff in unterschiedlicher Menge je Periode nachfragt. Die konkrete Nachfrage eines Kunden hängt von seinem aktuel­ len Lagerbestand und seinem Verbrauch je Periode ab. Das Ziel ist die Minimierung der Gesamtkosten für die Belieferung mit Transportfahrzeugen über die betrachteten Perioden. Als Nebenbedingung wird formuliert, dass bei keinem Kunden ein Engpass bezüglich des Rohstoffes auftreten darf. Sowohl Campbell, Clarke und Kleywegt (1998) als auch Coelho, Cordeau und Laporte (2014) leiten daraus drei Fragestellungen ab. – In welchen Perioden sollte welcher Kunde bedient werden? – Welche Rohstoffmenge sollte zu den verschiedenen Kunden geliefert werden? – Wie sollten die Kunden in die Touren der Fahrzeuge eingebunden sein? Die Kunden unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Lagergrößen sowie ihres Material­ verbrauchs. Die genaue Liefermenge muss als Teil des Problems bestimmt werden. Falls es mehrere Depots gibt, ist die Entscheidung über das Depot, aus dem ein Kunde versorgt wird, ebenfalls Gegenstand des Problems. Hier kann das IRP vom Pickupand-Delivery-Problem (PDP) abgegrenzt werden. Im PDP existieren feste Transport­ aufträge, die feste Liefermengen und feste Quelle-Senke-Beziehungen implizieren.

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Da die angegebene Definition und die drei Fragestellungen noch einige Freiheits­ grade zulassen, existiert keine einheitliche Definition des IRP. Jedoch bieten Coelho, Cordeau und Laporte (2014) eine Übersicht, indem sie die verschiedenen Modelle an­ hand einer Reihe von Merkmalen in unterschiedlichen Ausprägungen klassifizieren: – Zeithorizont: Der Zeithorizont kann entweder finit oder infinit sein. Ein finiter Zeit­ horizont bietet sich an, wenn die Planung nur für einen Tag oder eine Woche erfol­ gen soll. Ein infiniter Zeithorizont kommt infrage, wenn die Kunden eine bekannte und konstante Konsumrate besitzen und somit regelmäßig beliefert werden müs­ sen. – Struktur: Die Struktur gibt Auskunft über die Anzahl von Depots und Kunden. In 1-1-Modellen existieren genau ein Kunde und ein Depot, während 1-m auf mehrere Kunden hinweist. Modelle mit m-m-Ausprägung besitzen mehrere Kunden und mehrere Depots. – Tour: Eine Pendeltour beginnt in einem Depot, von dem aus genau ein Kunde be­ dient wird, bevor das Fahrzeug zum selben Depot zurückkehrt. Eine multiple Tour beginnt und endet ebenfalls an einem Depot. Es befinden sich jedoch mehrere Kunden in der Tour. Eine offene Tour beinhaltet ebenfalls mehrere Kunden, en­ det jedoch nicht zwingend an einem Depot. Sie bietet den Vorteil, dass zu einem späteren Zeitpunkt noch Kunden eingefügt werden können. – Inventar-Strategie: Die Inventar-Strategie gibt an, inwiefern das Lager des Kun­ den aufgefüllt werden soll. Es kann entweder vollständig oder mit einer variablen Menge aufgefüllt werden. – Lagerbestand: Die sich im Laufe der Zeit verändernden Lagerbestände können auf unterschiedliche Arten modelliert werden. Falls der Lagerbestand nicht-negativ modelliert wird, so kann die Nachfrage bei einem leeren Lager nicht befriedigt werden. Falls der Lagerbestand (im Modell) jedoch negativ werden kann, so wird die Nachfrage aufgeschoben, bis das Lager wieder aufgefüllt wird. In beiden Fäl­ len ist mit Strafkosten zu rechnen. – Anzahl der Fahrzeuge: Die Problemstellung kann entweder ein einzelnes oder mehrere Fahrzeuge beinhalten. – Zusammensetzung der Flotte: Falls es mehrere Fahrzeuge gibt, können diese ho­ mogen oder heterogen sein. Heterogene Fahrzeuge unterscheiden sich z. B. hin­ sichtlich der Ladekapazität und der Reisegeschwindigkeit. Zusätzlich können weitere Herausforderungen und Unsicherheiten auftreten. Eine wichtige betrachtete Größe ist der veränderliche Verbrauch über die Zeit. Ein unvor­ hergesehen hoher Verbrauch kann zu einem Engpass des Rohstoffes führen, auf den nicht mehr rechtzeitig reagiert werden kann. Generell kann das IRP nicht in polynomieller Zeit gelöst werden. Im Wesentli­ chen hängt der Aufwand von der Anzahl der Kunden und Depots, sowie der Länge des Zeithorizontes und von der Anzahl der Fahrzeuge ab. Dennoch können mit Hil­ fe anspruchsvoller Algorithmen bestimmte Instanzen exakt gelöst werden. So lösen

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Archetti et al. (2014) die Instanzen eines 1-m-IRPs und 25 bis 30 Kunden und einem Zeithorizont von drei Perioden beziehungsweise Instanzen mit 10 bis 15 Kunden über sechs Perioden und mit jeweils einem Fahrzeug exakt. Bertazzi, Paletta und Speran­ za (2002) setzen eine Heuristik ein, die zunächst eine Startlösung generiert und diese iterativ verbessert. Somit können annehmbare Ergebnisse für bis zu 50 Kunden und 30 Perioden erzielt werden. Hewitt et al. (2013) lösen ein m-m-IRP mit bis zu sechs De­ pots, Kunden und Fahrzeugen über eine Periode mit einem kommerziellen Solver. Die Qualität der Lösung liegt durchschnittlich 9 % unter der einer unteren Schranke. Die Rechenzeit beträgt zwischen wenigen Minuten und zwölf Stunden.

3.3 Kurier-, Express- und Paketdienstleistungen Unter Kurier-, Express und Paketdiensten (KEP) sind Transportdienstleistungen zu­ sammengefasst, die die Beförderung von Waren mit überwiegend niedrigem Gewicht und kleinem Volumen innerhalb kurzer Zeitspannen an den Endkunden zum Gegen­ stand haben. Kurierdienstleistungen bezeichnen die Abholung von Sendungen beim Sender und die direkte Zustellung zum Empfänger. Üblicherweise beschränkt sich der Transport der Waren auf kurze Distanzen. Demgegenüber sind Paketdienstleistungen typischerweise durch größere Entfernungen charakterisiert. Sendungen werden dann nicht direkt, sondern häufig multimodal über Umschlagszentren befördert. Express­ dienstleistungen erfolgen meist ebenso indirekt, haben jedoch als wesentlichen Un­ terschied garantierte Laufzeiten für die Abwicklung des Transports, die üblicherwei­ se kürzer als bei Paketdienstleistungen sind und innerhalb eines Zeitfensters erfolgen. Durch den zunehmenden Onlinehandel einerseits und die gestiegenen Kundenerwar­ tungen an die Lieferzeit andererseits konvergieren KEP-Dienstleistungen zunehmend, so werden etwa „Same-Day-Delivery“ Dienstleistungen in Ballungszentren angebo­ ten. Gleichzeitig nimmt die Zahlungsbereitschaft der Kunden für schnelle Lieferun­ gen ab, womit die Gewinnmargen der KEP-Dienstleister zunehmend geringer ausfal­ len. Ein kritischer Erfolgsfaktor für KEP-Anbieter stellt daher die Planung der Touren auf operativer Ebene dar. Eine effiziente Tourenplanung ist eine Grundvoraussetzung, um in diesem Umfeld profitabel zu operieren. Die sich aus der Gestaltung der Touren für KEP-Dienstleistungen ergebene Pro­ blemstellung entspricht dem Pickup-and-Delivery-Problem mit Zeitfenstern (PDPTW; vgl. Dumas/Desrosiers/Soumis 1991). Wichtige Restriktionen sind hierbei die Zeitfens­ ter und die Reihenfolge der Abhol- und Lieferaufträge. Letztere müssen unbedingt eingehalten werden, während erstere optional verletzt werden dürfen (sogenannte weiche Zeitfenster). Weiterhin ist die Dauer einer Tour z. B. durch Arbeitszeitregelun­ gen der Fahrer beschränkt. Die Kapazität der zum Transport eingesetzten Fahrzeu­ ge spielt aufgrund der eingangs genannten Eigenschaften der Sendungen eine unter­ geordnete Rolle und kann bei der Modellierung vernachlässigt werden. Als typische Zielsetzung findet sich die Minimierung der operationalen Kosten wieder. Diese wird

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durch die Minimierung der zurückgelegten Strecke, der gesamten Dauer der Touren, der Anzahl der Fahrzeuge oder der gesamten Verspätung angestrebt (vgl. Solomon/ Desrosiers 1988). Alternativ kann auch die Maximierung der bedienten Kundenanfra­ gen in Betracht gezogen werden. Hinsichtlich der Informationslage kann zwischen statischer und dynamischer Modellierung unterschieden werden. Bei ersterer wird angenommen, dass alle notwendigen Informationen wie z. B. Kundenaufträge zum Zeitpunkt der Planung vorhanden sind. Bei der dynamischen Modellierung hingegen wird angenommen, dass Informationen erst im Zeitablauf bekannt werden und somit nur ein Teil der Informationen während der initialen Planung vorhanden ist. Exakte Verfahren wie die gemischt-ganzzahlige Programmierung oder die Spal­ tengenerierung kommen lediglich für kleinere und weniger komplexe Instanzen zum Einsatz. Um größere beziehungsweise komplexe Problemstellungen zu lösen, wird da­ her typischerweise auf Heuristiken zurückgegriffen. Ropke und Pisinger (2006) stellen mit der Adaptive-Large-Neighborhood-Search-Heuristik ein Lösungsverfahren für sta­ tische PDPTW vor, welches effizient Lösungen für Instanzen mit bis zu 500 Kunden­ anfragen findet. Ein Lösungsverfahren, welches ebenfalls auf Nachbarschaftssuche basiert, stellen Gendreau et al. (2006) für dynamisch modellierte PDPTW vor. Hier­ bei verwenden die Autoren weiche Zeitfenster und minimieren eine gewichtete Ziel­ funktion aus Gesamtdauer, Gesamtüberstunden und Gesamtverspätung. Das Verfah­ ren findet Lösungen für Instanzen mit durchschnittlich 180 Kundenanfragen verteilt über einen Zeithorizont von bis zu 7,5 Stunden. Findet ein Informationsgewinn z. B. in Form von eintreffenden Kundenanfragen über die Zeit statt, so kann es vorteilhaft sein, jeweils nur über die unmittelbar auszuführenden Lieferaktivitäten zu entschei­ den. Zukünftige Entwicklungen werden lediglich auf Basis von Antizipationstermen in die dynamische Optimierung einbezogen. Eine Modellierung erfolgt vorteilhaft auf Basis von Markov-Entscheidungsprozessen (vgl. Ulmer 2017).

3.4 Kollaborative Tourenplanung Für Logistikdienstleister, die aufgrund des hohen Wettbewerbsdrucks bereits über­ wiegend geringe Gewinnmargen in Kauf nehmen müssen, stellt die horizontale Zu­ sammenarbeit ein Instrument zur Effizienzsteigerung dar. In der Literatur werden der­ artige Konstrukte zumeist als Kooperation oder Kollaboration bezeichnet. Die Kolla­ boration wird in Bezug auf das gegenseitige Teilen von Informationen, Risiko, Wissen und Profit jedoch zumeist als engere Geschäftsbeziehung angesehen (vgl. Cruijssen/ Dullaert/Fleuren 2007). In der Tourenplanung wirkt sich dies insbesondere auf die Gebietszuteilung für die jeweils eingesetzte Flotte sowie die Liefertouren einzelner Fahrzeuge aus. Dadurch können nicht nur Servicegrad und Kapazitätsauslastung ge­ steigert (vgl. Audy et al. 2012), sondern durch die damit einhergehende Verkehrsent­ lastung auch ökologische Ziele verfolgt werden. Um Schadstoff- und Geräuschemissio­ nen in Ballungsgebieten zu reduzieren, begünstigt die öffentliche Verwaltung Kolla­

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borationen zwischen Logistikunternehmen (vgl. Ballot/Fontane 2010). Im Gegensatz zum regulären Marktverhalten, in dem jeder einzelne Dienstleister seinen eigenen Ge­ winn maximiert, soll in der kollaborativen Tourenplanung der Gesamtgewinn aller teilnehmenden Akteure maximiert werden. Diese Zielsetzung kann zentral oder dezentral verfolgt werden (vgl. Gansterer/ Hartl 2017). Im Falle der zentralen Planung, die von einer übergeordneten Instanz mit vollumfänglichem Informationsstand durchgeführt wird, kann die Erreichung des größtmöglichen Gesamtgewinns in der Zielfunktion eines sogenannten idealen Modells verankert werden (vgl. Schneeweiss 2003). Hierbei gleicht das zu lösende Op­ timierungsproblem dem Grundproblem der Tourenplanung, wenn auch der Umfang durch die Mehrzahl an Dienstleistern ansteigt. Anwendungsstudien bescheinigen dieser Vorgehensweise eine mögliche Transportkostensenkung von rund 20 % im Vergleich zum nicht-kooperativen Szenario (vgl. Lin 2008). Allerdings erfordert diese Variante zusätzlichen Planungsaufwand und ist für die einzelnen Akteure zumeist mit der Abtretung von eigenen wettbewerbsrelevanten Geschäftsprozessen verbunden. In dezentralen Modellen verständigen sich die einzelnen Akteure hingegen ledig­ lich auf Mechanismen, die den Austausch von Lieferanfragen untereinander regeln. Hierbei muss, nach der Wahl passender Kollaborationspartner, eine Auswahl von zu vergebenden Anfragen getroffen werden. Die zugrundeliegenden Kriterien können zunächst geographischen Aspekten folgen. Des Weiteren müssen die Dienstleister entscheiden, welche Anfragen sie von ihren jeweiligen Kollaborationspartnern im Gegenzug übernehmen. Der Komplexität, die aus dem gegenseitigen Austausch von Aufträgen folgt, wird mit vereinfachten Verfahren entgegengewirkt, in denen Teile be­ reits gebildeter Touren ausgetauscht werden. Die Auftragsvergabe kann ferner auch in Form von Auktionen realisiert werden, die von einer zentralen Autorität beaufsichtigt werden. Hier stellt das Bündeln einzelner Aufträge zu Paketen ein Instrument dar, um die Attraktivität der eigenen Angebote zu steigern (vgl. Pekeč/Rothkopf 2003). Die erläuterten Methoden um horizontale Kollaboration zu ermöglichen, kön­ nen nicht nur auf das allgemeine Tourenplanungsproblem, sondern auch auf diverse spezifischere Problemstellungen angewandt werden. Häufig müssen Zeitfenster für die Anlieferung beim Kunden eingehalten und zusätzlich zur Auslieferung auch die Abholung von Gütern ermöglicht werden. Als Lösungsmethoden für das komplexe Problem finden sowohl exakte (vgl. Berger/Bierwirth 2010) als auch heuristische Ver­ fahren (vgl. Schopka/Kopfer 2017) Anwendung. Eine besondere Schwierigkeit bei der Anwendung der kollaborativen Planung stellt das mögliche Ungleichgewicht einge­ sparter Kosten auf der einen Seite und erzielter Gewinne auf der anderen Seite dar. Um dennoch eine gerechte Verteilung für jeden einzelnen Kooperationspartner zu erzielen, kommen weiterhin Ansätze aus der kooperativen Spieltheorie zum Einsatz (vgl. Guajardo/Rönnqvist 2016). Zukünftige Forschungsfragen eröffnen sich in der Einbeziehung multimodaler Transportsysteme und der Untersuchung strategischen Verhaltens individueller Akteure.

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3.5 Tourenplanung in der City Logistik Im Jahr 2007 wurden 85 % des Bruttoinlandsprodukts der europäischen Union im städtischen Raum erwirtschaftet wobei 72 % der europäischen Bevölkerung in städti­ schen Raum lebten. Die sich daraus ableitende Nachfrage nach Logistikdienstleistung sowie die stetig steigende Belastung für die städtische Verkehrsinfrastruktur stellt die Tourenplanung im städtischen Raum vor erhebliche Herausforderungen. Zusätzlich wirken hier exogene Regularien auf die Tourenplanung, welche die Interessen der städtischen Stakeholder repräsentieren (vgl. Taniguchi et al. 2001). So existieren etwa begrenzte Öffnungszeiten von Quartieren, um Anwohner vor Emissionen zu schützen. Weiterhin sind Lieferzeitfenster für Innenstadtbereiche Realität. Um diesen Heraus­ forderungen gerecht zu werden, erfolgt im städtischen Bereich die Tourenplanung auf taktischer beziehungsweise operativer Ebene. Ziel ist hierbei die kosteneffiziente und verlässliche Realisierung von Touren unter der Berücksichtigung von Fahrzeiten. Vorab vereinbarte Lieferzeitfenster mit dem Endkunden bedingen die Integration von typischen Verkehrslagen und den daraus resultierenden Reisezeiten in die Tourenpla­ nung. So können prognostizierbare Staus eine erhebliche Abweichung zwischen der geplanten und der realisierten Fahrtzeit verursachen. Liegen zusätzliche Regularien wie Einfahrtsverbote in Fußgängerzonen vor, besteht zusätzlich die Möglichkeit, dass eine geplante Liefertour nicht realisiert werden kann. Eine mögliche Modellierung der genannten Regularien kann durch die Erweite­ rungen des Optimierungsmodells mit Zeitfensterrestriktionen als Nebenbedingung realisiert werden. Ist eine strikte Einhaltung der Zeitfenster gefordert, kann dies je­ doch zu Inflexibilität in der Planung führen, wodurch weniger effiziente Lösungen realisiert werden. Ist die strikte Einhaltung der Zeitfenster nicht erforderlich, können Freiheitsgrade geschaffen werden, indem die Verletzung der Zeitfenster als Straf­ term in der Zielfunktion modelliert wird. Zusätzlich ist eine adäquate Modellierung der Fahrtzeiten erforderlich. Typischerweise erfolgt die Umsetzung mit Hilfe einer Matrix, welche die Fahrtzeit zwischen den zu beliefernden Kunden enthält. In der städtischen Tourenplanung ist die Berücksichtigung eines einzelnen Fahrtzeit-Wer­ tes zwischen zwei Kunden nicht repräsentativ. Abhängig von der Tageszeit ergeben sich unterschiedliche Verkehrsbelastungen (z. B. Rush Hour), welche zu unterschied­ lichen Fahrtzeiten führen. Um diesen Umstand zu repräsentieren, eignet sich die Modellierung als tageszeitabhänge Fahrtzeit. Hierbei wird für einen Zeitraum eine entsprechende Fahrtzeit bereitgestellt. So könnten für die Betrachtung eines gesam­ ten Tages in Zeiträumen von je einer Stunde 24 Fahrtzeitmatrizen modelliert werden. Muñuzuri et al. (2012) untersuchen die Auswirkung von Regularien, die die Ein­ fahrt in bestimmte Bereiche stadtabhängig in vorgegebenen Zeiträumen verbieten. Hierbei werden die Belieferungszeiten nicht direkt beeinflusst, jedoch das Recht eines Fahrzeuges, ein bestimmtes Gebiet zu betreten oder zu verlassen. Aus den Untersu­ chungen wird ersichtlich, dass entsprechende Regularien zu zusätzlichen Kosten für die Belieferung führen, da mehr Fahrzeuge für die Durchführung der Belieferungen

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benötigt werden. Diesem Umstand kann mit der Errichtung von verkehrsgünstig gele­ genen Verteilzentren am Stadtrand entgegengewirkt werden, von welchen aus die An­ bieter konsolidierte Transporte zu innerstädtisch verteilten Umschlagsstationen orga­ nisieren (vgl. Crainic 2008). Ausgehend von diesen sogenannten Satellites erfolgt die Belieferung der Endkunden mit kleineren, emissionsärmeren Fahrzeugen. Zweistufige Tourenplanungsprobleme vereinen die Planung in der ersten Stufe auf üblicherweise taktischer Ebene mit der operativen Planung der zweiten Stufe (vgl. Cattaruzza et al. 2017). Um eine zeitabhängige Tourenplanung zu realisieren, müssen zunächst geeignete Planungsdaten in Form von zeitabhängigen Kunde-zu-Kunde-Verbindungen bereitge­ stellt werden. Diese erfolgt im nicht-zeitabhängigen Fall über die Berechnung kürzes­ ter Wege mit dem Dijkstra-Algorithmus. Im zeitabhängigen Fall werden jedoch spezia­ lisierte Verfahren benötigt, die sowohl die höhere Dimension der Planungsdaten als auch die erhöhte Berechnungskomplexität bewältigen können. Geisberger und San­ ders (2010) stellen entsprechende leistungsfähige Lösungsverfahren vor. Ehmke und Mattfeld (2012) realisieren eine datengestützte Tourenplanung für die Hauszustellung von Lebensmitteln für die Stadt Stuttgart. Hierbei werden tageszeit­ abhängige Fahrtzeiten sowie vorgegebenen Lieferzeitfenster berücksichtigt. Zur Lö­ sung des Optimierungsproblems wird eine tageszeitabhängige Variante der LANTIMEMetaheuristik verwendet. Aus den Untersuchen geht hervor, dass eine Optimierung ohne zeitabhängige Fahrtzeiten zu einer Unter- beziehungsweise Überschätzung der Tourendauer von bis zu 24 % führt. Zudem kann die Berücksichtigung zeitabhängiger Fahrtzeiten die Anzahl der benötigten Fahrzeuge reduzieren. Im Falle von Maden, Eglese und Black (2010) führt eine Nichtbeachtung der Zeit­ abhängigkeit von Fahrtzeiten bei der Hälfte der geplanten Touren zu einer Verletzung der maximal erlaubten Arbeitszeit. Aus diesen verschiedenen Untersuchungen wird deutlich, dass zeitabhängige Fahrzeiten für die Tourenplanung in der City Logistik ei­ ne essentielle Rolle spielen. Dies gilt besonders, wenn starke Regularien (z. B. kurze Zeitfenster) vorliegen.

3.6 Tourenplanung mit Emissionen Durch die fortschreitende Urbanisierung und das starke Wachstum von Ballungs­ räumen ergibt sich eine zunehmende Umweltbelastung im städtischen Raum. Eine Hauptursache für diese Umweltbelastung sind starke Abgaskonzentrationen von Kohlendioxid und Stickoxiden. Insbesondere Lieferflotten haben einen erheblichen Anteil an den innerstädtischen Emissionen. Der Ausstoß von Emissionen ist direkt verbunden mit dem Treibstoffverbrauch, der wiederum von diversen Eigenschaften wie Ladung, Geschwindigkeit und Steigung der Straße abhängt. Emissionen sind im konzentrierten Maße schädlich für die Stadtbewohner. Aus diesem Grund haben eu­ ropäische Gesetzesinitiativen die Verletzung von Grenzwerten unter Strafe gestellt.

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Die Strafkosten sind erheblich und einige Städte reagieren bereits mit Fahrverboten für gewisse Bereiche und Zeiten. Andere Städte haben intelligente und dynamische Verkehrsmanagement-Systeme implementiert, die den Verkehr hinsichtlich aktuel­ ler Verkehrs- und Emissionslage leiten. Auch Unternehmen reagieren auf den zu­ nehmenden Druck, Emissionen zu vermeiden. So werden zum Beispiel Lieferflotten modernisiert. Allerdings ist der Kostendruck in der Logistikbranche enorm und die emissionsvermeidenden Maßnahmen werden den generellen Lieferkosten unterge­ ordnet. Da Emissionen im direkten Zusammenhang zu Treibstoffkosten stehen, haben sie jedoch neben z. B. Personalkosten einen Einfluss auf die Lieferkosten. Das in Abschnitt 2 vorgestellte Modell der Tourenplanung ignoriert Emissionen und Treibstoffverbrauch sowohl in der Zielfunktion als auch in den Nebenbedingun­ gen. Die Integration von Treibstoffkosten in die Zielfunktion resultiert generell in einer Mehrzieloptimierung, z. B. zwischen Fahrzeit und verbrauchtem Treibstoff. Um Treib­ stoffverbrauch beziehungsweise Emissionen in der Zielfunktion zu berücksichtigen, muss ein geeignetes Modell gefunden werden, das die Emissionen pro Verbindung zwischen zwei Kunden abbildet. Die adäquate Modellierung von Emission in der Tou­ renplanung stellt eine besondere Herausforderung dar, da diese von einer Vielzahl von Faktoren abhängen. Durch den Einbezug von Emissionsmodellierungstechniken aus dem Verkehrsingenieurwesen ist es möglich, eine geeignete Bewertungsfunktion in die Tourenplanung zu integrieren. Ein Beispiel hierfür ist das Comprehensive Emis­ sions Model (CEM) nach Barth und Boriboonsomsin (2008). Dieser Ansatz liefert ei­ nen kantenbezogenen Treibstoffverbrauch auf Basis von Geschwindigkeit, Fahrzeug­ gewicht und kantenspezifischen Eigenschaften. Da eine Minimierung des Treibstoff­ verbrauches zu reduzierten Emissionen und damit reduzierten Kosten führt, scheint dieser Ansatz als besonders geeignet für die effiziente emissionsorientierte Transport­ planung. Emissionen können des Weiteren in die Nebenbedingungen integriert wer­ den. So können zeitabhängige Fahrverbote in den Fahrzeitmatrizen abgebildet wer­ den, indem diese tageszeitabhängig gewählt werden. Weiterhin werden dynamische Entscheidungsmodelle benötigt, um das dynamische Verkehrsmanagement abzubil­ den. Die Forschung bezüglich Emissionen in der Tourenplanung ist noch recht jung, hat aber in den letzten Jahren enormen Zulauf bekommen. Bektas und Laporte (2011) ersetzen die Zielfunktion des klassischen Tourenplanungsproblems durch eine emis­ sionsorientierte. Sie zeigen, dass sich dadurch andere Touren im Vergleich zur klassi­ schen distanzminimierenden Zielfunktion ergeben. Huang et al. (2017) betrachten ein zeitabhängiges Tourenplanungsproblem zur Minimierung der Treibstoffkosten. Die zu treffenden Entscheidungen beziehen sich dabei nicht nur auf Tourenplanungsent­ scheidungen, sondern auch auf die Wahl der Wege zwischen Kunden. Die Wegewahl steht dabei in Abhängigkeit zu der Abfahrtszeit bei einem Kunden und der jeweili­ gen Stausituation. Die Autoren stellen fest, dass sich beim Einbezug des Kraftstoffver­ brauchs in die Zielfunktion die besten Wege zwischen Kunden in Abhängigkeit von der Belastung des Straßennetzes und der Variabilität der Fahrtgeschwindigkeiten än­

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dern. Cimen und Soysal (2017) betrachten ein zeitabhängiges und stochastisches Tou­ renplanungsproblem zur Minimierung von Emissionen. Hierbei kann auf befahrenen Kanten zufällig Stau entstehen. Abhängig von der Stausituation werden unterschied­ lichen Fahrtgeschwindigkeiten realisiert, wodurch ebenfalls die realisierten Emissio­ nen beeinflusst werden. Als Lösungsverfahren wenden die Autoren einen Ansatz der approximativen dynamischen Programmierung an.

3.7 Tourenplanung für Vor-Ort-Dienstleistungen Tourenplanung spielt eine wichtige Rolle für Anbieter von Vor-Ort-Dienstleistungen, da Service-Arbeitskräfte möglichst viele Kunden am Tag bedienen sollen und gleich­ zeitig möglichst pünktlich den Kunden erreichen müssen, um die Dienstleistung durchzuführen. Service-Leistungen werden hauptsächlich in den Bereichen Gesund­ heit, Wartung und Reparatur angeboten und von privaten Dienstleistern mit einer Fahrzeugflotte erfüllt. Beispiele sind Pflegedienste, die Patienten täglich zu Hause besuchen und dort pflegerische und gegebenenfalls medizinische Tätigkeiten durch­ führen. Weitere Beispiele sind Reparaturservices bei Kunden und Unternehmen, die sowohl spontan bei einem kurzfristigen Auftrag als auch routinemäßig in bestimm­ ten Zeitintervallen durchgeführt werden. In vielen Fällen wird mit den Kunden ein Termin oder Zeitfenster verabredet, in dem der Service erfüllt wird. Im Gesundheits­ wesen ist es wichtig, dass es eine Kontinuität im betreuenden Personal gibt, damit sowohl Patienten als auch Personal keinem zusätzlichen Stress ausgesetzt sind und der Service zügig und angemessen durchgeführt werden kann (vgl. Kovacs et al. 2014). Bei technischen Reparaturservices ist oftmals zu berücksichtigen, dass Aufgaben un­ terschiedliche Anforderungen an Ausrüstung und Kenntnisse des Personals stellen. Nicht jeder Auftrag kann von jeder Arbeitskraft durchgeführt werden und Aufträ­ ge benötigen unterschiedliche Zeitdauern zur Durchführung. Weiterhin kann es zu Lerneffekten kommen, so dass Arbeitskräfte über einen längeren Zeitraum Erfahrung sammeln und Aufgaben nach einiger Zeit schneller und zuverlässiger erfüllen können (vgl. Chen/Hewitt/Thomas 2017). Abschließend sind in vielen Fällen nicht sämtliche zur Planung notwendigen Informationen initial verfügbar. So können zum Beispiel neue Anfragen über den Tag eingehen, auf die möglichst schnell reagiert werden muss (vgl. Ulmer/Mattfeld/Köster 2017). Weiterhin ist oftmals die Ursache eines De­ fekts nicht offensichtlich. Dies beeinflusst die Zeit, die benötigt wird, um den Defekt zu beheben. Die Tourenplanung für Dienstleister muss eine Vielzahl an Nebenbedingungen und Zielen berücksichtigen. Ausgehend von dem in Abschnitt 2 vorgestellten Optimie­ rungsmodell müssen neben den täglichen maximalen Arbeitszeiten der Arbeitskräf­ te auch die Zeitfenster der Kunden integriert werden. Diese Zeitfenster können hart definiert werden, wenn bei einer Nichteinhaltung kein Service durchgeführt werden kann. Sie können auch weich formuliert werden. In diesen Fällen kann der Service

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trotz Zeitfensterverletzung durchgeführt werden, führt dann jedoch zu Kundenunzu­ friedenheit. Weiterhin ergibt sich eine heterogene Flotte von Arbeitskräften hinsicht­ lich der Art und Dauer der Services, die durchgeführt werden können. Die Zielfunktion muss zum einen die entstehenden Kosten für Fahrten und Personal berücksichtigen und zum anderen den Servicelevel am Kunden. Dieser Servicelevel hängt von der Ein­ haltung der Zeitfenster, der Reaktionszeit für neue Anfragen sowie der Servicequali­ tät ab, welche wiederum von der Erfahrung der Arbeitskraft sowie der Konsistenz in der Betreuung abhängig ist. Um den Aspekt von Konsistenz und von sich entwickeln­ den Erfahrungen zu modellieren, werden diese Probleme oftmals über eine Menge an Perioden betrachtet. Für die Integration spontaner Anfragen ist eine dynamische Modellierung notwendig, die eine schrittweise Anpassung der Tourenpläne an neue Anfragen ermöglicht. Arbeiten in der Service-Tourenplanung sind vielfältig und betrachten unter­ schiedliche Aspekte dieser reichen Problemklasse. Die Arbeiten an Tourenplanung mit Zeitfenstern sind zahlreich. Solomon und Desrosiers (1988) präsentieren einen frühen Übersichtsartikel. Erste Arbeiten befassen sich mit der exakten Lösung von kleineren Instanzen dieser Probleme während später Heuristiken und Metaheuris­ tiken entwickelt werden, um Probleme von realweltlicher Größe zu lösen. Weitere Arbeiten beschäftigen sich mit der Konsistenz im Service von Patienten. So bestim­ men Hewitt/Nowak/Nataraj (2016) mittels Metaheuristiken geeignete und konsistente Tourenpläne über einen längeren Zeitraum, in dem Kunden nicht jeden Tag bedient werden müssen, sondern nur einige Male pro Woche. Im Bereich von lernenden Ar­ beitskräften betrachten Chen/Hewitt/Thomas (2017) die potentielle Entwicklung von Erfahrungsleveln der Arbeitskräfte über einen längeren Zeitraum und integrieren diese Information in tägliche Zuordnungsentscheidungen mittels Approximativer Dy­ namischer Programmierung (ADP). ADP wird auch in Ulmer/Mattfeld/Köster (2017) genutzt, um die Auswirkung von Zusagen neu anfragender Kunden auf den zu erwar­ teten Servicegrad abzuschätzen.

3.8 Tourenplanung für Dial-A-Ride-Probleme Während sich viele Tourenplanungsprobleme mit der Distribution von Gütern be­ schäftigen, steht bei Dial-A-Ride-Problemen der Transport von Personen im Vorder­ grund. Anbieter von Dial-A-Ride-Dienstleistungen nehmen Anfragen von Kunden ent­ gegen, die zwischen zwei Orten transportiert oder zu einem Ort hin und später wieder zurückgebracht werden möchten (vgl. Cordeau 2006). Diese Dienste sind daher vor allem attraktiv für Personen, die nicht selbst Auto fahren können oder wollen und für die der öffentliche Personennahverkehr keine Alternative bietet. Für Dial-A-RideProbleme werden Tourenpläne erstellt, die alle Kundenanfragen einplanen. Für jede Kundenanfrage werden also zwei Orte besucht, da der Kunde an einem Ort abgeholt und an einem anderen Ort abgesetzt wird (vgl. Psaraftis 1980). Aufgrund der stark

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variierenden Nachfrage nach Dial-A-Ride-Dienstleistungen müssen die notwendi­ gen Tourenpläne täglich neu erstellt werden. Erweiterte Fragestellungen akzeptieren auch dynamische Kundenanfragen, die die Anpassung von bereits erstellten Touren­ plänen notwendig macht. In dynamischen Problemstellungen ist die datengetriebene Vorausschau auf gegebenenfalls in die Tour einzufügende Kunden von besonderem Interesse. Das Dial-A-Ride-Problem stellt ein relativ klassisches Vehicle-Routing-Problem mit einigen spezifischen Nebenbedingungen dar. Da es sich um den Transport von Personen handelt und diese typischerweise in einem PKW-ähnlichen Fahrzeug trans­ portiert werden, sind die Kapazitätsbeschränkungen für diese Probleme wichtig. Gegebenenfalls sind in einigen oder allen Fahrzeugen auch Sitzplätze geeignet für beispielsweise Rollstuhlfahrer, dann müssen auch Restriktionen bezüglich der Kun­ den und Sitzplätze im Modell berücksichtigt werden. Zusätzlich müssen zeitliche Restriktionen eingehalten werden. Dies betrifft zum einen, wie beispielsweise auch bei der Tourenplanung für Schulbusse, die Tatsache, dass Personen nicht zu lange im Fahrzeug sitzen sollen (vgl. Cordeau 2006). Dies wird allerdings nicht immer als Nebenbedingung geführt, sondern kann auch Teil der Zielfunktion sein. Auch der Umweg, der durch Aufnahme weiterer Personen im Vergleich zum direkten Weg zwi­ schen Start und Ziel entsteht, kann in einer Restriktion begrenzt werden (vgl. Schil­ de/Doerner/Hartl 2014). Zum anderen können seitens der Kunden Zeitfenster für die Abholung beziehungsweise das Absetzen angegeben werden (vgl. Cordeau/Laporte 2003). Modellseitig muss sichergestellt werden, dass die Abholung des Kunden vor dem Absetzen des Kunden geschehen muss. Diese Beziehung wird durch Pickup-andDelivery-Bedingungen ausgedrückt und schränkt die Sequenz und die Zuordnung von Besuchen an Kundenorten ein. Zielfunktionen für Dial-A-Ride-Probleme können sowohl die Minimierung der Länge der Touren, die Anzahl der benötigten Fahrzeuge als auch die Maximierung der Servicequalität sein. Die Servicequalität kann die Fahrt­ dauer oder die Einhaltung von Zeitfenstern reflektieren. Gegebenenfalls können auch multikriterielle Zielfunktionen zum Einsatz kommen, in denen mehrere Bestandteile Verwendung finden und eine Balance zwischen den jeweiligen Zielen angestrebt ist. Grundsätzlich kann das Dial-A-Ride-Problem als Vehicle-Routing-Problem mit Ka­ pazitätsbeschränkungen, Zeitfenstern und Pickup-and-Delivery betrachtet werden, weswegen hauptsächlich Heuristiken zum Einsatz kommen, um die Touren zu erstel­ len. Exakte Verfahren wie Dynamische Programmierung oder Branch-and-Cut können nur für einfache Probleme und kleine bis mittlere Instanzen verwendet werden (vgl. Psaraftis 1980; Cordeau 2006). Als Heuristiken kommen Eröffnungsverfahren wie Cheapest Insertion in Kombination mit Verbesserungsverfahren wie beispielsweise Variable Neighborhood Search (vgl. Schilde/Doerner/Hartl 2011) oder Tabu Search (vgl. Cordeau/Laporte 2003) in Betracht. Wenn in der Problemstellung weitere Details hinzugefügt werden, müssen oft auch die Lösungsalgorithmen angepasst werden. Ein Beispiel hierfür findet sich in Schilde, Doerner und Hartl (2014), um die Lösungsver­ fahren an stochastische Fahrzeiten anzupassen.

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3.9 Tourenplanung für Schulbusse Im öffentlichen Verkehr findet sich die Entsprechung der Tourenplanung typischer­ weise in der auf strategischer Ebene durchgeführten Linienplanung sowie in der nach­ folgend auf taktischer Ebene durchgeführten Umlaufplanung. Eine Tourenplanung, die auf dem in Abschnitt 2 eingeführten Optimierungsmodell basiert, findet sich hin­ gegen in der Tourenplanung für Schulbusse. Die üblicherweise durch die jeweilige Kommune verantworteten Schülertransporte stellen sicher, dass die Schüler des Be­ zirks sicher und in vertretbarer Zeit den Weg zwischen Wohnort und Schule zurück­ legen können. In der Regel werden ein oder mehrere regionale Busunternehmen mit dieser Aufgabe beauftragt. Es kommt damit eine heterogene Flotte von Bussen zum Einsatz, die einen Fahrplan bedient, der für einen längeren Zeitraum festgelegt ist. Dieser Fahrplan bedingt einen Tourenplan, der ein oder mehrere Busdepots mit den Wohnorten der Schüler und den beteiligten Schulen verbindet. Einsatzzeiten der Bus­ se sind vorwiegend der frühe Morgen sowie der Nachmittag, so dass die Tourenpla­ nung gegebenenfalls in zwei unabhängige Phasen unterteilt werden kann (vgl. Braca et al. 1997). Wichtige Nebenbedingungen des Modells sind durch die Anfangs- und Endzeit des Schulbetriebs gegeben (vgl. Ginter/Kliewer/Suhl 2005). Weiterhin sollte eine Fahrt für jeden der zu transportierenden Schüler nicht länger als eine vorgegebene Zeit dau­ ern, wobei in der Praxis eine maximale Fahrtdauer von 45 Minuten üblich ist. Über die Fahrtdauer hinaus müssen zumindest für die Rückfahrten gegebenenfalls anfal­ lende Wartezeiten an den Schulen berücksichtigt werden (vgl. Desaulniers/Lavigne/ Soumis 1998). Die genannten zeitlichen Restriktionen beschreiben zumindest mittel­ bar die höchstzulässige Einsatzdauer der Busflotte je Phase, die lediglich durch Leer­ fahrten von und zu den Depots erweitert werden darf. Die im Standardmodell verwen­ dete Distanzmatrix wird hier durch Fahrzeiten zwischen den beteiligten Orten ersetzt, wobei die Fahrzeiten so konservativ gewählt werden müssen, dass der aufgestellte Fahrplan unbedingt eingehalten werden kann. Die typische Zielsetzung definiert sich über die Minimierung der zum Einsatz kommenden Busse, deren Anzahl maßgeblich die durch die Kommune aufzubringenden Transportkosten determiniert. Als weiterer Term der Zielfunktion kommt die Minimierung der durchschnittlichen (oder maxima­ len) Warte- und Reisezeit der Schüler in Betracht, so dass sich konkurrierende Zielset­ zungen in einem Mehrziel-Optimierungsmodell ergeben (vgl. Corberan et al. 2000). Bodin und Berman (1979) realisieren für eine Problemstellung für zwei Schul­ distrikte in Kanada Einsparungen von ca. 20 %. Der Fokus dieser Arbeit liegt in der Aufbereitung der eingehenden Daten. Eine weitergehende Frage dieses Beitrags setzt sich mit der Verschiebung von Schulanfangszeiten auseinander. Diese werden in Form von externen Parametern in Szenarien berücksichtigt. Fügenschuh (2009) be­ zieht die Möglichkeit variierender Schulanfangszeiten in das Modell ein und erreicht überzeugende Ergebnisse mittels mathematischer Optimierung. Bowermann, Hall und Calamai (1995) integrieren die Positionierung von Wartehäuschen in der Nähe

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der Schülerwohnorte in das Modell. In der Zielsetzung bedingt dies die Einbezie­ hung von Laufzeiten der Schüler vom jeweiligen Wartehäuschen zum tatsächlichen Wohnort. Cacres, Batta und He (2017) berücksichtigen stochastische Bedarfe in einem Ansatz der Spaltengenerierung. Exakte Verfahren wie gemischt-ganzzahlige Program­ mierung oder Spaltengenerierung kommen für kleinere und/oder stark restringierte Problemstellungen zum Einsatz. Komplexe und/oder große Problemstellungen wer­ den typischerweise mit Hilfe von Heuristiken und Metaheuristiken gelöst.

4 Lösungsverfahren Die Forschung für die in Abschnitt 3 beispielhaft vorgestellten Anwendungsproble­ me hat zu einer wahren Flut von Zeitschriftenartikeln geführt, die geschickte Modell­ formulierungen und darauf aufbauend Lösungsverfahren behandeln. Die Vielfalt der Ansätze wird heute mit dem Term Rich-Vehicle-Routing-Problem (RVRP) zusammen­ gefasst. Ein Großteil der Forschung der vergangenen Jahre ist durch die Ableitung von optimalen Lösungen (für kleinere Instanzen) spezifischer RVRP geprägt. Die For­ schung mag akademisch interessant sein, jedoch bietet sie wenig Mehrwert für das Produktions- und Logistikmanagement, das sich in stärkerem Maße der betrieblichen Praxis verpflichtet fühlt. Je größer der Detailgrad von RVRP im Modell abgebildet wird, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die optimale Lösung des determinis­ tischen Modells in einer tendenziell stochastischen Umwelt eines operationalen Pla­ nungsproblems umgesetzt werden kann. Ein vielversprechender Ast der VRP Forschung widmet sich heuristischen Ver­ fahren mit dem Ziel, auch größte Problemstellungen effizient lösen zu können. Typi­ scherweise kommen Metaheuristiken zum Einsatz, die Konstruktionsheuristiken mit Verbesserungsverfahren verbinden. Um lokale Minima überwinden zu können, lässt die Steuerung der Suche neben Verbesserungen temporär und üblicherweise in sehr viel kleinerem Umfang auch Verschlechterungen zu. Als ein prominenter Vertreter der Konstruktionsheuristiken für das VRP soll aufgrund seiner universellen Anwendbar­ keit der Savings Algorithmus genannt werden (vgl. Clark/Wright 1964). Als Operatoren für Verbesserungsverfahren seien die vom Travelling-Salesman-Problem bekannten reihenfolgeorientierten Operatoren genannt, die um zuordnungsorientierte Operato­ ren ergänzt werden, welche die Zuordnung von Ortsbesuchen zu Touren modifizieren können. Einige vielbeachtete Arbeiten zu Metaheuristiken für das VRP fokussieren auf die Erstellung von algorithmischen Rahmenwerken, die einen flexiblen Gebrauch der Operatoren zulassen und damit eine gewisse Anwendungsbreite adressieren. Ein auf Tabu Search basierendes Verfahren wurde von Cordeau, Laporte und Mercier (2001) entwickelt und in den folgenden Jahren ergänzt. Ropke und Pisinger (2006) entwi­ ckelten den Adaptive-Large-Neighborhood-Search-Algorithmus für die Anwendung

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für Pickup-and-Delivery-Probleme mit Zeitfenstern. Das Iterated-Local-Search-Ver­ fahren (vgl. Hahimoto/Yagiura/Ibaraski 2008) fokussiert auf zeitabhängige VRP. Das derzeit leistungsfähigste Verfahren Unified Hybrid Genetic Search von Vidal et al. (2014) ist konsequent modular aufgebaut und ermittelte beste bekannte Lösungen für eine Vielzahl von VRP-Varianten. In der betrieblichen Praxis finden VRP-Solver Verwendung, die versuchen, eine gewisse Breite an Problemstellungen abzudecken, aber jeweils besondere Stärken auf­ weisen (vgl. Partyka/Hall 2014). Kommerzielle VRP-Solver basieren sämtlich auf Meta­ heuristiken, die durch geschickte Wahl der Operatoren zumindest jeweils eine Gruppe von VRP mit ähnlichen Charakteristika effizient lösen können. Neben kommerziellen Solvern, die typischerweise Schnittstellen zu Enterprise-Resource-Planning-Systemen aufweisen und so ihre Rolle in der Supply-Chain-Matrix wahrnehmen, existieren eini­ ge wenige frei verfügbare Produkte am Markt (vgl. Bräysy/Hasle 2014). In besonderem Maße soll auf den freien Spreadsheet-Solver von Erdogan (2014) hingewiesen werden, der in MS Excel integriert einen einfachen Zugang zur heuristischen Lösung von VRP verschafft. Dieser adressiert die Verwendung in kleinen und mittleren Unternehmen sowie für studentische Arbeiten.

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| Teil E: Controlling

Birgit Friedl

Produktions- und Logistikcontrolling als Bereichscontrolling 1 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 3.3 4

Einführung | 811 Abgrenzung des Bereichscontrolling | 813 Konzeptionelle Grundlagen des Controlling | 813 Bereichscontrolling als spezifische Ausrichtung des Controlling | 817 Inhaltliche Konkretisierung des Produktions- und Logistikcontrolling | 819 Gegenstand des Produktionscontrolling | 819 Gegenstand des Logistikcontrolling | 822 Problemlösungsansatz des Produktions- und Logistikcontrolling | 825 Schlussbemerkungen | 826 Literatur | 827

Zusammenfassung. Die spezifische Problemstellung des Controlling ist die Koordina­ tion differenzierter und dezentralisierter Entscheidungen. Gegenstand eines Bereichs­ controlling ist danach die bereichsinterne Koordination der Entscheidungen in einem Funktions- oder Servicebereich der Unternehmung. Die bereichsübergreifende Koor­ dination der Entscheidungen verbleibt beim Unternehmungscontrolling. Bestimmend für die Aufgaben des Produktions- und Logistikcontrolling sind die dem jeweiligen Be­ reich zugeordneten Entscheidungskompetenzen sowie Art und Umfang der Differen­ zierung und Dezentralisation der Entscheidungen im jeweiligen Bereich.

1 Einführung Das Produktions- und das Logistikcontrolling sind inhaltlich spezifizierte Formen des Bereichscontrolling, unter dem ein bereichsbezogen abgegrenzter Ausschnitt des Controlling der Unternehmung verstanden wird. Die funktionale und instrumentelle Ausgestaltung des Bereichscontrolling wird durch den Gegenstand des Controlling der Unternehmung bestimmt (vgl. Männel 1992, S. 5). Zu diesem hat sich noch keine generell akzeptierte Auffassung durchgesetzt. Die verschiedenen Auffassungen zum Controlling kommen in den Controllingkonzeptionen zum Ausdruck, die sich seit den 1970er Jahren herausgebildet haben. Beschreiben lässt sich eine solche Konzeption vor allem durch die spezifische Problemstellung des Controlling. Die Abgrenzung einer eigenständigen und einheitlichen Problemstellung, die zum Erkenntnisgegen­ stand dieser Disziplin erhoben werden kann, wird als eine Voraussetzung für die An­ erkennung des Controlling als betriebswirtschaftliche Teildisziplin gesehen (vgl. Küp­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-042

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per 1987, S. 84 f.). Da es für eine Problemstellung alternative Lösungsansätze geben kann und mit der Problemlösung verschiedene Ziele verfolgt werden können, enthält eine Controllingkonzeption auch Aussagen zum gewählten Problemlösungsansatz so­ wie dem als Controllingziel zu verfolgenden Unternehmungsziel (vgl. Friedl 2013, S. 3). Nach der spezifischen Problemstellung lassen sich die informationsorientierte, die koordinationsorientierte und die rationalitätsorientierte Controllingkonzeption un­ terscheiden. Varianten dieser Konzeptionen weisen Unterschiede im gewählten Pro­ blemlösungsansatz oder dem verfolgten Ziel auf. Einige Konzeptionen sehen vor, dass mit der Lösung der jeweiligen spezifischen Problemstellung nur wirtschaftliche Zie­ le verfolgt werden sollen, d. h. ergebnisorientierte Ziele unter Beachtung der Liquidi­ tätssicherung. Begründet wird diese Begrenzung mit der Bedeutung wirtschaftlicher Ziele in Unternehmungen (vgl. Hahn/Hungenberg 2001, S. 272). Ergebnisziele sind je­ doch nicht für alle Unternehmungen bestimmend (z. B. Non-Profit-Unternehmungen). Maßgebend für das bei der Problemlösung verfolgte Ziel sollte deshalb das jeweils an­ gestrebte Unternehmungsziel sein (vgl. Küpper et al. 2013, S. 39). Die spezifische Problemstellung der informationsorientierten Controllingkonzep­ tion ist die Deckung des Informationsbedarfs des Managements der Unternehmung. Die koordinationsorientierte Controllingkonzeption zielt primär darauf, das Manage­ ment zur Koordination arbeitsteilig ausgeführter Aktivitäten im Hinblick auf das Ziel der Unternehmung zu befähigen, d. h. zur Primärkoordination (vgl. Horváth/Gleich/ Seiter 2015, S. 58; Küpper et al. 2013, S. 34 f.). Die planungs- und kontrollsystemori­ entierte Variante dieser Konzeption sieht vor, die Fähigkeit des Managements zur Primärkoordination durch die Koordination zwischen Planung, Kontrolle und In­ formationsversorgung sicherzustellen (vgl. Horváth/Gleich/Seiter 2015, S. 56 ff.). Die führungssystemorientierte Konzeption verlangt die Koordination im Führungsgesamt­ system. Diese umfasst die Koordination innerhalb der einzelnen Führungsteilsyste­ me sowie zwischen den verschiedenen Führungsteilsystemen, zu denen neben dem Planungs-, Kontroll- und Informationssystem auch das Personalführungs- und Orga­ nisationssystem zählen (vgl. Küpper et al. 2013, S. 38, 42). Bei der koordinationsorientierten Controllingkonzeption wird davon ausgegan­ gen, dass die Fähigkeit des Managements zur Primärkoordination durch den Ausbau und die Verselbstständigung der Führungsteilsysteme beeinträchtigt wird. Der Be­ einträchtigung der Fähigkeit des Managements zur Primärkoordination durch diese Entwicklung des Führungssystems entgegenzuwirken, ist nach dieser Konzeption die spezifische Problemstellung des Controlling (vgl. Küpper et al. 2013, S. 35 f.). Kriti­ siert wird an dieser Konzeption, dass sie für konkrete Fragestellungen zu abstrakt sei und dem Controlling die wichtigsten und essentiellen Managementaufgaben zuordne, weshalb sie vom Management nicht akzeptiert werden könne (vgl. Weber/Wallenburg 2010, S. 4). Diese Kritik hat zur Entwicklung der rationalitätsorientierten Controlling­ konzeption geführt. Dieser liegt als spezifische Problemstellung die Rationalitätssiche­ rung der Führung zugrunde (vgl. Weber/Schäffer 2011, S. 43).

Produktions- und Logistikcontrolling als Bereichscontrolling

Konzeption

Koordinationsorientierte Konzeption

Bereich

Informationsorientierte Konzeption

Produktionscontrolling

Preßl 1994; Götze/Mikus 2009

Hoitsch 1990, 1994; Müller 2001; Steven 2016

Logistikcontrolling

Reichmann 1989; Herold 2005; Schulte 2017

Horváth 1996; Herold Küpper 1992; 2003; Blum 2006 Göpfert 2013;

Planungs- und Kontrollorientiert

Führungssystemorientierte

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Rationalitätsorientierte Konzeption

Kaminski 2002; Weber 2005

Abb. 1: Überblick über Ansätze zum Produktions- und Logistikcontrolling.

Vorschläge für die funktionale und instrumentelle Ausgestaltung des Produktions- und Logistikcontrolling sind für alle Controllingkonzeptionen entwickelt worden. Abbil­ dung 1 gibt einen Überblick über diese Vorschläge. In Unternehmungen werden von Managern auf allen Hierarchieebenen und in al­ len Bereichen Entscheidungen getroffen, deren Ergebnisse den Mitarbeitern unmittel­ bar oder mittelbar als Anweisungen vorgegeben werden, um ihr Arbeitsverhalten an den Zielen der Unternehmung auszurichten. Sind diese Entscheidungen nicht an den Unternehmungszielen ausgerichtet und untereinander abgestimmt, tragen die Vorga­ ben nicht zur Primärkoordination bei. Die Fähigkeit des Managements zur Primärko­ ordination kann deshalb auch durch die zunehmende Differenzierung und Dezentra­ lisation der Entscheidungen in der Unternehmung beeinträchtigt werden. Bei dieser Sichtweise sind es die Entscheidungen der Manager auf allen Hierarchieebenen und in allen Bereichen der Unternehmung, die zur Sicherstellung der Fähigkeit des Ma­ nagements zur Primärkoordination abgestimmt werden müssen. Die spezifische Pro­ blemstellung des Controlling ist danach die Koordination der Entscheidungen des Ma­ nagements auf allen Hierarchieebenen und in allen Bereichen der Unternehmung. In Abschnitt 2 wird die Problemstellung des Controlling präzisiert und der Ansatz zur Problemlösung umrissen. Weiterhin wird die Problemstellung eines Bereichscon­ trolling abgegrenzt und es wird erläutert, wie das Bereichscontrolling in der Organi­ sation der Unternehmung verankert werden kann. In Abschnitt 3 wird das Bereichs­ controlling für die Produktion und die Logistik inhaltlich präzisiert.

2 Abgrenzung des Bereichscontrolling 2.1 Konzeptionelle Grundlagen des Controlling 2.1.1 Entscheidungskoordination als Problemstellung Zur Reduzierung der Komplexität werden Entscheidungsprobleme differenziert, d. h. in isoliert oder sukzessiv zu treffende Teilprobleme zerlegt (vgl. Laux/Liermann 2005,

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S. 62). Entscheidungen können horizontal (Segmentierung von Entscheidungen) und vertikal (Strukturierung von Entscheidungen) differenziert werden (vgl. Frese/ Graumann/Theuvsen 2012, S. 110 ff.). Bei horizontaler Differenzierung ergeben sich mehrere nebeneinander stehende, gleichgeordnete Entscheidungen, die nach sach­ lichen oder zeitlichen Kriterien abgegrenzt sein können. Sachliche Kriterien können Funktionen, Objekte, Regionen oder Organisationseinheiten sein. Eine Differenzie­ rung nach zeitlichen Kriterien führt zu Entscheidungen, die für aufeinanderfolgende Perioden getroffen werden. Die vertikale Differenzierung führt zu Entscheidungen verschiedener Ebenen. Diese unterscheiden sich im Grad der Aggregation der Ent­ scheidungsvariablen und im Umfang des zugrunde liegenden Problemfeldes. Die Entscheidung einer höheren Ebene gibt einen Rahmen vor, der durch Entscheidun­ gen unterer Ebenen konkretisiert wird (vgl. Wild 1981, S. 166). Zwischen den durch Differenzierung gebildeten Entscheidungsproblemen kön­ nen Sachinterdependenzen bestehen. Sie liegen vor, wenn die Entscheidung über ein Teilproblem die Entscheidungen über andere Teilprobleme zielrelevant beeinflusst. Entscheidungen über diese Teilprobleme führen ohne Kenntnis der Entscheidung über das ursprüngliche Teilproblem zu anderen Ergebnissen als bei Kenntnis dieser Entscheidung (vgl. Frese/Graumann/Theuvsen 2012, S. 112 f.). Diese Abhängigkeiten zwischen Entscheidungsproblemen können einseitig, aber auch wechselseitig sein. Ursachen von Sachinterdependenzen sind innerbetriebliche Lieferbeziehungen oder die gemeinsame Nutzung von Ressourcen oder Märkten. Nach diesen Ursachen wer­ den drei Arten von Sachinterdependenzen unterschieden: – Prozessverbund: Die Abhängigkeiten zwischen den Entscheidungsproblemen werden durch innerbetriebliche Lieferbeziehungen zwischen den festzulegen­ den Sachverhalten begründet, wie sie beispielsweise zwischen Beschaffung und Produktion bestehen. – Restriktionenverbund: Er liegt vor, wenn bei gemeinsamer Nutzung von Ressour­ cen oder Märkten durch die festzulegenden Sachverhalte Engpässe auftreten, d. h. die Nutzung durch einen Sachverhalt die Nutzungsmöglichkeiten des anderen Sachverhalts verringert. Beispiele für diese konkurrierende Nutzung von Ressour­ cen sind die Bearbeitung mehrerer Produkte auf einer Maschine und die Finan­ zierung mehrerer beantragter Investitionsvorhaben aus den für das Geschäftsjahr zur Verfügung stehenden Investitionsmitteln. – Zielverbund: Verursacht werden diese Interdependenzen durch die gemeinsame Nutzung von Ressourcen oder Märkten beim Vorhandensein von Verbundvortei­ len. Das sind Beiträge zur Zielerreichung, die nur bei der gemeinsamen Nutzung der Ressourcen oder Märkte eintreten. Als Beispiele können Mengenrabatte ge­ nannt werden, die nur bei der Zusammenfassung des Materialbedarfs für ver­ schiedene Produkte oder mehrere Perioden realisiert werden können. Die Entscheidungskompetenzen für Entscheidungsprobleme, die sich aus der Diffe­ renzierung ergeben, können auf Instanzen unterer Ebenen der Unternehmungshier­ archie übertragen werden. Diese Delegation von Entscheidungskompetenzen auf un­

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tere Ebenen der Unternehmungshierarchie wird als Entscheidungsdezentralisation be­ zeichnet (vgl. Kieser/Walgenbach 2010, S. 155). Werden Teilentscheidungen dezentra­ lisiert, treten unter folgenden Bedingungen Verhaltensinterdependenzen auf: – Zwischen den individuellen Zielen der Manager auf der mittleren oder unteren Ebene der Unternehmungshierarchie und den Unternehmungszielen besteht ein Zielkonflikt. – Das Management auf mittleren und unteren Ebenen der Unternehmungshierar­ chie verfügt über bessere Informationen als die Unternehmungsleitung, d. h. die Informationen sind asymmetrisch verteilt. In einer solchen Situation hat das Management auf den mittleren und unteren Ebenen der Unternehmungshierarchie Freiräume, um über die Wahl suboptimaler Alternati­ ven oder die nicht wahrheitsgemäße oder unvollständige Berichterstattung gegenüber übergeordneten Instanzen seine individuellen Ziele zulasten der Unternehmungsziel­ erreichung zu realisieren. Anders als bei Sachinterdependenzen werden Entscheidun­ gen nicht von anderen Entscheidungen zielrelevant beeinflusst, sondern von den in­ dividuellen Zielen des Managements der mittleren und unteren Ebenen der Unterneh­ mungshierarchie. Unter der Entscheidungskoordination wird die Abstimmung oder Ausrichtung dif­ ferenzierter oder dezentralisierter Entscheidungen auf ein übergeordnetes Ziel ver­ standen. Die Abstimmung gleichrangiger Teilentscheidungen auf ein übergeordnetes Ziel wird als horizontale Koordination bezeichnet. Die vertikale Koordination hat die Ausrichtung dezentraler Entscheidungen an den übergeordneten Zielen zum Gegen­ stand (vgl. Rühli 1992, Sp. 1166). Die spezifische Problemstellung des Controlling ist die Koordination der Entscheidungen des Managements auf allen Ebenen der Hier­ archie und in allen Bereichen der Unternehmung. Determiniert wird der Koordinati­ onsbedarf durch die Art der Spezialisierung und den Umfang der Entscheidungsde­ legation in der Unternehmung (zu diesen Merkmalen vgl. Kieser/Walgenbach 2010, S. 71 ff.).

2.1.2 Präzisierung des Problemlösungsansatzes Die Koordination differenzierter und dezentralisierter Entscheidungen verlangt die Umsetzung von Konzepten der Entscheidungskoordination. Bei einem solchen Kon­ zept handelt es sich um grundsätzliche Prinzipien der Entscheidungskoordination. Nach der zugrunde liegenden Vorgehensweise werden sach- und personenorientierte Koordinationskonzepte unterschieden. Sachorientierte Konzepte tragen durch die Begrenzung des Handlungsspielraums bei der Entscheidungsfindung zur Entschei­ dungskoordination bei. Werden hierzu von der übergeordneten Instanz Maßnahmen, Ressourcen oder Ziele vorgegeben, dann handelt es sich um ein hierarchisches Koor­ dinationskonzept. Bei den hierarchiefreien Koordinationskonzepten wird der Hand­ lungsspielraum über Informationen zu gleichrangigen interdependenten Entschei­

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dungen begrenzt, die bei der Entscheidungsfindung ein- oder wechselseitig berück­ sichtigt werden. Inhalte dieser Informationen können z. B. endgültige, vorläufige oder grob umrissene Entscheidungen sein. Personenorientierte Konzepte sollen sicherstel­ len, dass die Manager die Vorgaben befolgen oder Informationen zu gleichrangigen Teilproblemen in die Entscheidungsfindung einbeziehen (vgl. Laux/Liermann 2005, S. 151 ff.). Unter der Umsetzung eines Koordinationskonzepts wird die Entwicklung von Koordinationssystemen, ihre Durchsetzung, Implementierung und Überwachung sowie die Vornahme notwendiger Anpassungen verstanden. Ein Koordinationssystem ist die Gesamtheit der generellen Regelungen, die den Vollzug der Entscheidungsfin­ dung nach den Koordinationsprinzipien sicherstellen sollen, wie z. B. Planungs- und Kontrollsysteme für Maßnahmenpläne, Budgets und Zielvorgaben. Koordinationssysteme bleiben wirkungslos, wenn die abgestimmten Entschei­ dungen verändert, unvollständig oder überhaupt nicht realisiert werden oder sich nachträglich als Fehlentscheidungen erweisen. Die Koordination differenzierter und dezentralisierter Entscheidungen verlangt deshalb auch, dass im Prozess der Ent­ scheidungsfindung die Informationen und Instrumente verfügbar sind, die für die Er­ arbeitung einer vollständigen und realisierbaren Problemlösung mit den geforderten Zielwirkungen erforderlich sind. Für die Koordination differenzierter und dezentrali­ sierter Entscheidungen hat das Controlling deshalb auch die Informationsversorgung des Managements durch die Abstimmung seines aufgabenbedingten Informationsbe­ darfs mit seiner Informationsnachfrage und dem Informationsangebot in der Unter­ nehmung sicherzustellen.

2.1.3 Aufgaben des Controlling Zur Umsetzung von Koordinationskonzepten und der Sicherung der Informations­ versorgung des Managements übt das Controlling systemgestaltende und prozess­ unterstützende Aufgaben aus. Zu den systemgestaltenden Aufgaben des Controlling zählen die Entwicklung, Durchsetzung und Implementierung von Koordinationsund Informationssystemen, die Überwachung ihrer Effektivität und Effizienz sowie die Vornahme notwendiger Anpassungen. Die koordinierende und informations­ versorgende Unterstützung des Managements bei der Entscheidungsfindung ist der Gegenstand der prozessunterstützenden Aufgaben des Controlling. Eine dieser Aufga­ ben ist die problemspezifische Informationsversorgung. Sie umfasst die Versorgung des Managements mit Informationen und Instrumenten, die durch die geschaffenen Informationssysteme der Unternehmung nicht routinemäßig bereitgestellt werden, aber zur Sicherung der Entscheidungsqualität benötigt werden. Die weiteren pro­ zessunterstützenden Aufgaben werden unter der Bezeichnung „Management von Entscheidungsprozessen“ zusammengefasst. Es handelt sich dabei um laufende Ab­ stimmungs- und Kontrollaufgaben zur Steigerung des Koordinationsgrades und der Qualität der Ergebnisse von Entscheidungsprozessen.

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2.2 Bereichscontrolling als spezifische Ausrichtung des Controlling 2.2.1 Problemstellung des Bereichscontrolling Werden Leitungsbefugnisse auf Funktions- oder Servicebereiche delegiert, tritt neben die Unternehmungsleitung auch ein Management von Funktions- und Ser­ vicebereichen. Funktionsbereiche (z. B. Beschaffung, Produktion, Absatz) tragen un­ mittelbar zur Leistungserstellung oder -verwertung bei, während Servicebereiche (z. B. Logistik, IT, Personal) für die Funktionsbereiche Dienstleistungen erbringen. Ein Funktions- oder Servicemanagement koordiniert die arbeitsteilig ausgeführten Aktivitäten innerhalb des jeweiligen Bereichs, während der Unternehmungsleitung die bereichsübergreifende Primärkoordination obliegt. Die spezifische Problemstellung des Unternehmungscontrolling ist die Ausrich­ tung der Entscheidungen in den Funktions- und Servicebereichen an den Unterneh­ mungszielen und die Abstimmung zwischen den Entscheidungen der Funktions- und Servicebereiche im Hinblick auf das Unternehmungsziel. Gegenstand des Unterneh­ mungscontrolling ist damit die vertikale und die bereichsübergreifende horizontale Entscheidungskoordination zur Sicherung der Erreichung der Unternehmungsziele (vgl. Küpper et al. 2013, S. 689 f.). Das Bereichscontrolling ist auf die Koordination der Entscheidungen des jeweili­ gen Bereichsmanagements spezialisiert. Seine spezifische Problemstellung ist es, zur vertikalen und zur bereichsübergreifenden horizontalen Koordination durch das Un­ ternehmungscontrolling beizutragen, indem es die Entscheidungen des Bereichsma­ nagements an den Vorgaben der Unternehmungsleitung für den jeweiligen Bereich ausrichtet und die Entscheidungen des Bereichsmanagements hinsichtlich dieser Vor­ gaben abstimmt. Die spezifische Problemstellung des Bereichscontrolling ist damit die bereichsinterne vertikale und horizontale Entscheidungskoordination. Vorgaben der Unternehmungsleitung können Globalpläne, Budgets oder Bereichsziele sein.

2.2.2 Organisatorische Einordnung des Bereichscontrolling Grundsätzlich kann auf die Einrichtung von Stellen verzichtet werden, die auf Con­ trollingaufgaben spezialisiert sind. Die Aufgaben des Controlling werden in diesem Fall durch vorhandene Instanzen, Servicestellen oder Stäbe wahrgenommen, die neben ihren Aufgaben auch Controllingaufgaben wahrnehmen. Größere Beachtung findet das Controlling, wenn eine auf die Controllingaufgaben spezialisierte Orga­ nisationseinheit geschaffen wird. Merkmale zur Beschreibung der Organisation des Controlling der Unternehmung sind die Spezialisierung, die Koordination, das Lei­ tungssystem und die Entscheidungsdelegation (in Anlehnung an Kieser/Walgenbach 2010, S. 71 ff.).

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Die Organisation des Controlling soll die Erfüllung seiner Aufgaben unterstützen (vgl. Horváth/Gleich/Seiter 2015, S. 385). Das verlangt nach einer organisatorischen Einordnung des Bereichscontrolling, welche die bereichsübergreifende vertikale und horizontale Koordination der Entscheidungen des Bereichsmanagements fördert. Als Anforderungen an die organisatorische Einordnung des Bereichscontrolling lassen sich die Nähe zu den bereichsspezifischen Problemen, die bereichsübergreifende Ausrich­ tung sowie die Unternehmungszielorientierung nennen. Die Problemnähe ist maßge­ bend für den Erwerb spezifischer bereichsbezogener Fachkenntnisse durch das Be­ reichscontrolling, die Anpassung seines Handelns an die speziellen Anforderungen des Bereichs sowie seinen Zugang zu bereichsspezifischen Informationen. Durch die Regelungen zur Spezialisierung wird festgelegt, welche Teilaufgaben des Controlling durch jeweils einen Mitarbeiter erbracht werden. Nach dem Kriteri­ um zur Auswahl der Teilaufgaben des Controlling, die zu einer Organisationseinheit zusammengefasst werden, kann die Verrichtungsspezialisierung und die Bereichs­ spezialisierung unterschieden werden. Bei der Verrichtungsspezialisierung werden gleichartige Teilaufgaben des Controlling zusammengefasst, die für alle Funktionsund Servicebereiche gemeinsam erbracht werden, wie z. B. Planungs- und Kontroll­ aufgaben einerseits und Reportingaufgaben andererseits. Diese Art der Spezialisie­ rung trägt zur bereichsübergreifenden Ausrichtung und zur Unternehmungszielori­ entierung des Controlling bei. Der Forderung nach Problemnähe genügt diese Form der Spezialisierung dagegen nicht. Durch die Bereichsspezialisierung entstehen Or­ ganisationseinheiten, denen alle Teilaufgaben zur bereichsinternen Koordination der Entscheidungen eines Funktions- oder Servicebereichs zugeordnet sind. Neben dem Unternehmungscontrolling entstehen bei dieser Form der Spezialisierung Stellen für das Bereichscontrolling, wie z. B. das Produktions- und das Logistikcontrolling (vgl. Eschenbach 2002, Sp. 277). In diesen Organisationseinheiten entsteht die erforderli­ che Nähe zu den bereichsspezifischen Problemen. Die Regelungen zur Koordination geben vor, wie der Aufgabenvollzug zwischen den Controllingstellen abgestimmt und an den Unternehmungszielen ausgerichtet werden soll. Bei hierarchischer Koordination werden die bereichsübergreifende Aus­ richtung und die Unternehmungszielorientierung durch Vorgaben des Unterneh­ mungscontrolling an das Bereichscontrolling herbeigeführt. Die Mechanismen der hierarchiefreien Koordination sehen die direkte Interaktion zwischen den für das Un­ ternehmungs- und Bereichscontrolling zuständigen Mitarbeitern in Arbeitsgruppen oder die Einrichtung von Ausschüssen und Kommissionen vor, die mit Mitarbeitern des Unternehmungs- und Bereichscontrolling zum Zweck der Gruppenabstimmung besetzt sind (vgl. Laux/Liermann 2005, S. 98 f.). Die Regelungen zum Leitungssystem des Controllingbereichs betreffen unter ande­ rem die Unterstellung der für das Bereichscontrolling zuständigen Organisationsein­ heiten. Damit verbunden ist die Zuordnung der Befugnisse zur Leitung dieser Orga­ nisationseinheit, d. h. dem Recht, Entscheidungen über das „Ob“, das „Was“ und das „Wie“ von Handlungen des Bereichscontrolling zu treffen, die Mitarbeiter im Bereichs­ controlling anzuweisen, diese Entscheidungen zu realisieren, und im Anschluss die

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regelgerechte Entscheidungsrealisation zu kontrollieren. Alternative Leitungssysteme für den Controllingbereich sind das Einliniensystem und das Dotted-Line-System (vgl. Weber/Schäffer 2011, S. 458 ff.). Beim Einliniensystem ist das Bereichscontrolling entweder dem Unternehmungs­ controlling oder dem Bereichsmanagement vollständig unterstellt. Die Unterstellung unter das Bereichsmanagement (Unternehmungscontrolling) fördert (beeinträchtigt) die Problemnähe, beeinträchtigt (fördert) jedoch die bereichsübergreifende Ausrich­ tung und die Unternehmungszielorientierung. Um den Nachteilen des Einliniensys­ tems zu begegnen, werden beim Dotted-Line-System die fachlichen und disziplina­ rischen Leitungsbefugnisse getrennt. Für das Bereichscontrolling hat entweder das Bereichsmanagement oder das Unternehmungscontrolling die disziplinarischen Lei­ tungsbefugnisse. Diese beziehen sich unter anderem auf die Kontrolle, die Leistungs­ beurteilung und die Beförderung der unterstellten Mitarbeiter. Die Instanz mit den dis­ ziplinarischen Leitungsbefugnissen hat auch fachliche Leitungsbefugnisse gegenüber dem Bereichscontrolling und sie trägt die Gesamtverantwortung. Der jeweils anderen Instanz werden fachliche Leitungsbefugnisse für einige genau bestimmte Aufgaben und Situationen übertragen, deren Bearbeitung z. B. ein besonderes Fachwissen er­ fordern (vgl. Kieser/Walgenbach 2010, S. 133 f.). Bei der Instanz mit den disziplina­ rischen Leitungsbefugnissen können im Zusammenhang mit diesen Aufgaben oder Situationen Anhörungs-, Beratungs-, Vorschlags-, Mitentscheidungs- und Vetorechte verbleiben (vgl. Küpper et al. 2013, S. 693). Mit den Regelungen zur Entscheidungsdelegation wird festgelegt, in welchem Um­ fang die Kompetenzen für Entscheidungen über seine Handlungen auf das Bereichs­ controlling übertragen werden. Beispielsweise kann das Unternehmungscontrolling dem Bereichscontrolling die Befugnis für Entscheidungen über seine Handlungen übertragen. Zur Sicherung der bereichsübergreifenden Ausrichtung und der Unter­ nehmungszielorientierung sollten beim Unternehmungscontrolling Richtlinienkom­ petenzen für die systemgestaltenden und die prozessunterstützenden Aufgaben des Bereichscontrolling sowie Mitentscheidungsrechte bei speziellen Fragen und der Be­ setzung von Stellen im Bereichscontrolling verbleiben.

3 Inhaltliche Konkretisierung des Produktions- und Logistikcontrolling 3.1 Gegenstand des Produktionscontrolling 3.1.1 Abgrenzung der Produktion Die Produktion ist die Phase des Unternehmungsprozesses (vgl. Kosiol 1972, S. 129 ff.), die zwischen der Beschaffung und dem Absatz liegt. Sie umfasst alle Aktivitäten der Planung, Ausführung und Steuerung der Produktionsprozesse für die zielorientier­

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te Realisation des Sachziels der Unternehmung. Das Sachziel beschreibt die Gesamtoder Marktaufgabe der Unternehmung, d. h. die Art und die terminierte Menge der in einer Periode am Markt zu verwertenden Sach- und Dienstleistungen (vgl. Kosi­ ol 1972, S. 223). Die Produktion zählt damit zu den betriebswirtschaftlichen Grund­ funktionen, die sich direkt aus der Marktaufgabe der Unternehmung herleiten lassen. Ein Produktionsprozess ist die Anwendung technischer oder konzeptioneller Verfah­ ren zur Transformation der originären und derivativen Produktionsfaktoren, die der Unternehmung zur Verfügung stehen, in absetzbare Leistungen oder in derivative Pro­ duktionsfaktoren, die in weitere Produktionsprozesse der Unternehmung eingesetzt werden (vgl. Corsten/Gössinger 2016, S. 2). Zur Produktion zählt nicht nur der Vollzug, sondern auch das Management dieser Prozesse, d. h. die Produktionsausführung und das Produktionsmanagement. Unter dem Produktionsmanagement wird die Gesamtheit der Aktivitäten verstan­ den, durch die Produktionsziele nach Maßgabe der Unternehmungsziele festgelegt und die Realisation der Produktionsziele durch Mitarbeiter und mit Mitarbeitern in arbeitsteilig ausgeführten Produktionsprozessen sichergestellt werden. Nach ihrem Inhalt werden folgende Kategorien von Produktionszielen unterschieden (vgl. Hoitsch 1993, S. 26): wirtschaftliche Ziele (z. B. Periodenerfolge, Marktanteil), technische Ziele (z. B. Ausschussquoten, Qualität, Flexibilität), soziale Ziele (z. B. Arbeitsplatzsicher­ heit, Gesundheitsbelastung von Arbeitsplätzen) und ökologische Ziele (z. B. Ver­ brauch natürlicher Ressourcen, Emissionen). Die Entscheidungen des Produktions­ managements betreffen die Produkt- und Programmgestaltung, die Potential- und die Prozessgestaltung (vgl. Kern 1990, S. 83).

3.1.2 Problemstellung des Produktionscontrolling Die Beschaffung stellt für die Produktion die originären Produktionsfaktoren zur Ver­ fügung und der Absatz verwertet die absetzbaren Leistungen, die Produktionsprozes­ se hervorbringen. Diese Leistungsverflechtungen sind die Ursache für Sachinterde­ pendenzen zwischen den Funktionsbereichen der Unternehmung. Sachinterdepen­ denzen zwischen den Funktionsbereichen können auch auf einen Ressourcen- oder Zielverbund zurückgehen. Ein Restriktionenverbund liegt z. B. vor, wenn die Inves­ titionsvorhaben in den Funktionsbereichen um die Investitionsmittel der Unterneh­ mung konkurrieren. Ein Beispiel für einen Zielverbund zwischen den Funktionsberei­ chen der Unternehmung ist die gemeinsame Nutzung eines Fuhrparks, um über die Reduzierung der Zahl der Leerfahrten Economies of Scale zu erzielen. Diese bereichs­ übergreifende horizontale Koordination ist Aufgabe des Unternehmungs- oder des Ge­ schäftsbereichscontrolling oder des Controlling anderer Funktions- und Serviceberei­ che, wie das Logistikcontrolling im Beispiel der gemeinsamen Nutzung des Fuhrparks. Die Problemstellung des Produktionscontrolling ist die bereichsinterne horizonta­ le und vertikale Koordination aller Entscheidungen des Produktionsmanagements. Sie

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kann durch die Arten der Differenzierung von Produktionsentscheidungen konkreti­ siert werden. Unterschieden werden die sachlich-horizontale, die zeitlich-horizonta­ le, die sachlich-vertikale und die zeitlich-vertikale Differenzierung. Die sachlich-horizontale Differenzierung führt z. B. zur Abgrenzung von Entschei­ dungen über die einzelnen Phasen des Produktionsprozesses. Diese Phasen sind über Leistungsbeziehungen verbunden. Zwischen den Produkt-, Programm-, Prozess- und Potentialentscheidungen bestehen deshalb Sachinterdependenzen. Es können auch Produktionsentscheidungen abgegrenzt werden, die einzelne Produkte betreffen. Werden für die Produktion dieser Produkte dieselben Ressourcen eingesetzt, kann zwischen den Entscheidungen über die Produktion dieser Produkte ein Ziel- oder auch ein Restriktionenverbund existieren (vgl. z B. Hoitsch 1994, S. 428). Die zeitlich-horizontale Differenzierung führt zu gleichrangigen Entscheidungen aufeinanderfolgender Perioden. Sachinterdependenzen zwischen diesen Entschei­ dungen bewirken, dass die Entscheidungsmöglichkeiten einer Periode von früheren Entscheidungen begrenzt werden und die Entscheidung dieser Periode wieder die Entscheidungsmöglichkeiten nachfolgender Perioden beeinflussen (vgl. Steven 2007, S. 119). Diese Sachinterdependenzen werden auch als dynamische Interdependenzen bezeichnet (vgl. Luhmer 2002, Sp. 1035). Bei einem mehrperiodigen Auftrag betreffen die Entscheidungen früher Perioden beispielsweise die Produktion von Bauteilen, die Entscheidung einer nachfolgenden Periode die Montage der Bauteile. Sachinter­ dependenzen zwischen den Entscheidungen aufeinanderfolgender Perioden können damit als Prozessverbund interpretiert werden. Zwischen den Entscheidungen über einperiodige Aufträge, die in jeder Periode neu getroffen werden, können Sachin­ terdependenzen auftreten, denen ein Ziel- oder ein Restriktionenverbund zugrunde liegt. Ist Lagerhaltung möglich, können durch die Zusammenfassung von Aufträgen mehrere Perioden Economies of Scale erzielt werden (z B. durch die Reduzierung der Zahl der Rüstprozesse) oder durch zeitliche Verschiebung von Aufträgen Engpässe in einzelnen Perioden umgangen werden (vgl. Corsten/Friedl 1999, S. 35). Entscheidungen über Produktgruppen, die den Rahmen für Entscheidungen über Produktfamilien vorgeben, die wiederum durch Entscheidungen über Produkte kon­ kretisiert werden, sind das Ergebnis einer sachlich-vertikalen Differenzierung. Bei der zeitlich-vertikalen Differenzierung beziehen sich die Entscheidungen höherer Ebenen auf einen längeren Zeitraum. Bei der vertikalen Differenzierung wird meist nach zeit­ lichen und sachlichen Kriterien gemeinsam differenziert. Die Entscheidungen unterer Ebenen zeichnen sich bei dieser Form der Differenzierung durch einen geringeren Ag­ gregationsgrad der Entscheidungsvariablen und einen kürzeren Bezugszeitraum aus. Die Abgrenzung strategischer, taktischer und operativer Produktionsentscheidungen ist das Ergebnis einer vertikalen Differenzierung nach sachlichen und zeitlichen Kri­ terien. Die Entscheidungen verschiedener Ebenen sind über Instrumentalrelationen verbunden, d. h. durch Entscheidungen unterer Ebenen wird festgelegt, wie ein durch die übergeordnete Entscheidung vorgegebener Sachverhalt realisiert werden soll. Die Realisierbarkeit und die Zielwirkungen der Entscheidungen höherer Ebenen hängen

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von den Entscheidungen unterer Ebenen ab. Ohne Kenntnis der Entscheidungen unte­ rer Ebenen können die Entscheidungen höherer Ebenen nicht beurteilt werden. Ande­ rerseits können Entscheidungen unterer Ebenen ohne Kenntnis der Entscheidungen höherer Ebenen nicht getroffen werden, da weder die zu verfolgenden Ziele noch die verfügbaren Ressourcen bekannt sind. Diese Abhängigkeiten zwischen den Entschei­ dungen verschiedener Ebenen werden auch als vertikale Interdependenzen bezeich­ net (vgl. Wild 1981, S. 192). Die Entscheidungen verschiedener Ebenen sind vertikal zu koordinieren. Die Entscheidungen untergeordneter Ebenen nutzen die durch die über­ geordneten Entscheidungen vorgegebenen Ressourcen gemeinsam, so dass zwischen ihnen ein Restriktionen- oder Zielverbund bestehen kann (vgl. Steven 2007, S. 247 ff.).

3.2 Gegenstand des Logistikcontrolling 3.2.1 Abgrenzung der Logistik In Anlehnung an die Definition des Council of Supply Chain Management Profes­ sionals (CSCMP) umfasst die Logistik die Gesamtheit der Aktivitäten in der Unter­ nehmung zur Planung, Ausführung und Steuerung der Logistikprozesse für einen zielorientierten Objektfluss von einem Liefer- zu einem Empfangspunkt. Bei den Logistikprozessen werden Kern- und Unterstützungsprozesse des Objektflusses unter­ schieden. Die Kernprozesse sind die Lagerung, der Transport und das Umschlagen. Das Verpacken und Signieren sowie der Austausch von Informationen zwischen der liefernden Stelle und der Bedarfsstelle sind die Unterstützungsprozesse (vgl. Pfohl 2010, S. 7 f.). Die Logistik umfasst sowohl die Logistikausführung als auch das Logis­ tikmanagement (vgl. Large 2016, S. 3). Die Logistik ist keine betriebswirtschaftliche Grundfunktion wie die Beschaffung, die Produktion und der Absatz. Sie zählt zu den Querschnittsfunktionen, die für die Grundfunktionen Dienstleistungen erbringen (vgl. Pfohl 2010, S. 24, 42 f.). Die Dienst­ leistungen der Logistik sind die Herstellung der bedarfsgerechten Verfügbarkeit von Gütern und die anforderungsgerechte Rückführung von Rückständen und Abfällen. Merkmale von Dienstleistungen sind die Integration des externen Faktors und die Im­ materialität, die sich darin zeigt, dass Prozesse der Dienstleistungserstellung keine Objekte hervorbringen, sondern Veränderungen an den externen Faktoren bewirken (vgl. Corsten 1996, Sp. 339). In der Logistik sind diese externen Faktoren die Logis­ tikobjekte. Zu diesen zählen Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe, Zuliefer- und Ersatzteile, Handelswaren, Halb- und Fertigprodukte, Retouren, Verpackungen sowie Abfälle und Rückstände, für deren Entsorgung oder Rückführung in das Wirtschaftssystem die Unternehmung verantwortlich ist, sowie die mit den Objektflüssen zusammenhän­ genden Informationen (vgl. Steven 2015, S. 9). Voraussetzung für den Vollzug eines Lo­ gistikprozesses sind Güter oder Abfälle, die zum Zweck der Veränderung ihrer räum­ lichen oder zeitlichen Eigenschaften bei Aufrechterhaltung ihrer substantiellen Be­ schaffenheit in die Logistikprozesse eingebracht werden (vgl. Gössinger 2008, S. 448).

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Die Beiträge der Logistik zur Realisation der Unternehmungsziele werden durch die Logistikziele definiert und vorgegeben. Aus dem Sachziel der Unternehmung wird das Serviceziel der Logistik hergleitet, das vor allem über die Lieferzeit, die zeitliche Lieferzuverlässigkeit, die art-, mengen- und räumliche Lieferungsbeschaffenheit und die Lieferflexibilität, d. h. die Fähigkeit der Unternehmung auf besondere Bedürfnisse des Kunden einzugehen, definiert und erfasst wird (vgl. Pfohl 2010, S. 34 ff.). Die For­ malziele der Logistik geben die Beiträge zu den wirtschaftlichen, technischen, ökologi­ schen und sozialen Unternehmungszielen vor, die mit der Realisation des Serviceziels erbracht werden sollen. Neben den Logistikkosten können auch Mengen von Emissio­ nen, nicht reproduzierbaren Ressourcen oder umweltbelastenden Stoffen Inhalte der Formalziele der Logistik sein. Für das Logistikmanagement finden sich in der Literatur führungs- und aktivitäts­ orientierte Definitionen (vgl. Weber/Wallenburg 2010, S. 16 ff.). Bei der führungsorien­ tierten Definition wird unter dem Logistikmanagement eine Führungskonzeption ver­ standen, die eine Ausrichtung des gesamten Unternehmungsprozesses an den Erfor­ dernissen eines zielorientierten Objektflusses vorsieht (vgl. z. B. Göpfert 2013, S. 22). Sie kommt darin zum Ausdruck, dass alle Entscheidungen in der Unternehmung von Überlegungen geleitet werden, die Voraussetzungen für einen zielorientierten Objekt­ fluss zu schaffen. Wird das Logistikmanagement aktivitätsorientiert abgegrenzt, er­ streckt es sich nur auf die Logistikprozesse (vgl. z. B. Pfohl 2010, S. 12 ff.; Large 2012, S. 11). Bei dieser Abgrenzung wird das Logistikmanagement analog zum Produktions­ management definiert.

3.2.2 Problemstellung des Logistikcontrolling Folgt man dem führungsorientierten Verständnis des Logistikmanagements, handelt es sich beim Logistikcontrolling nicht um ein Bereichscontrolling, sondern um ein Controlling der Unternehmung, das bei der Koordination aller Entscheidungen in der Unternehmung der Effizienz und Effektivität des Objektflusses besondere Bedeutung beimisst (vgl. Schiffers 1994, S. 66 ff.; Kummer 1996, Sp. 1120). Nur bei einem aktivitäts­ orientiert abgegrenzten Logistikmanagement kann sich neben dem Unternehmungs­ controlling ein Logistikcontrolling als Bereichscontrolling herausbilden. Die Logistik erbringt Dienstleistungen für die Funktionsbereiche der Unterneh­ mung, d. h., zwischen der Logistik und den Funktionsbereichen bestehen enge Leis­ tungsverflechtungen. Werden die Ressourcen der Logistik von mehreren Funktions­ bereichen der Unternehmung gemeinsam genutzt, können Engpässe entstehen oder Verbundvorteile realisiert werden. Zwischen der Logistik und den Funktionsbereichen bestehen damit enge Sachinterdependenzen, denen ein Prozess-, ein Restriktionenoder ein Zielverbund zugrunde liegen kann (vgl. Pfohl 2010, S. 28 f.). Wie die Pro­ duktionsentscheidungen werden auch die Logistikentscheidungen nach sachlichen und zeitlichen Kriterien horizontal und vertikal differenziert. Die gemeinsame Nut­ zung der Ressourcen durch verschiedene Logistikobjekte und die Leistungsverflech­

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tungen zwischen den Logistikprozessen verursachen Interdependenzen zwischen den Logistikentscheidungen, wie sie auch zwischen den Produktionsentscheidungen be­ stehen. Es hängt von der organisatorischen Verankerung der Logistik und des Logistik­ controlling ab, welche Entscheidungen des Logistikmanagements bereichsintern vom Logistikcontrolling oder bereichsübergreifend vom Unternehmungscontrolling zu ko­ ordinieren sind. Sollen Organisationseinheiten gebildet werden, die auf Aufgaben der Logistik spezialisiert sind, bieten sich mehrere Gestaltungsmöglichkeiten für die Aufbauor­ ganisation der Logistik an. Nach dem Zentralisationsgrad der Logistikaufgaben wer­ den folgende Organisationsmodelle für die Logistik unterschieden (vgl. Pfohl 2016, S. 286 ff.; Large 2016, S. 187 ff.): – die zentrale Logistik, – die dezentrale Logistik und – die hybride Logistik. Bei der zentralen Logistik werden alle Logistikaufgaben in der Unternehmung zu einer Organisationseinheit zusammengefasst. Der Logistikbereich, der dadurch entsteht, kann auf der zweiten Hierarchieebene eingeordnet werden, d. h. in einer funktiona­ len Organisation auf der Ebene der Funktionsbereiche, in einer objektorientierten Organisation als eine Division. Bei dieser Einordnung ist der Logistikbereich der Un­ ternehmungsleitung direkt unterstellt. Dieser zentrale Logistikbereich erbringt logis­ tische Dienstleistungen für alle Funktionsbereiche oder Divisionen. Die horizontale bereichsinterne Koordination erstreckt sich auf alle Logistikentscheidungen der Un­ ternehmung. Diese Entscheidungen hat das Logistikcontrolling bereichsintern zu koordinieren und an den Unternehmungszielen auszurichten. Beim Unternehmungs­ controlling liegt die Koordination der Logistikentscheidungen mit den Entscheidun­ gen der Funktionsbereiche oder Divisionen. Die spezifische Problemstellung des Logistikcontrolling entspricht bei diesem Organisationsmodell der des Produktions­ controlling. Werden die Logistikaufgaben, die für einen einzelnen Funktionsbereich oder ei­ ne einzelne Division erbracht werden, zu einer Organisationseinheit zusammenge­ fasst und die dadurch entstehenden Logistikabteilungen den jeweiligen Funktions­ bereichs- oder Divisionsleitungen unterstellt, liegt eine dezentrale Logistik vor. Ein dezentrales Logistikcontrolling ist nur für die bereichsinterne Koordination der Lo­ gistikentscheidungen des jeweiligen Bereichs zuständig. Bei einer funktionalen Orga­ nisation sind das z. B. alle Entscheidungen der Produktions- oder alle Entscheidungen der Distributionslogistik. Auszurichten sind die Entscheidungen an den Bereichszie­ len, wie z. B. den Produktionszielen. Das dezentrale Logistikcontrolling wird bei dem jeweiligen Funktionsbereichscontrolling, wie z. B. dem Produktionscontrolling, oder dem Geschäftsbereichscontrolling liegen. In diesem Fall umfasst die spezifische Pro­ blemstellung z. B. des Produktionscontrolling auch die Koordination der Produktions­ entscheidungen mit den Entscheidungen über die Logistikprozesse in der Produktion.

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Die horizontale bereichsübergreifende Koordination, die sich auf die Entscheidungen der Beschaffungs-, Produktions- und Distributionslogistik erstreckt, liegt beim Unter­ nehmungscontrolling. Als hybride Logistik werden alle Organisationsmodelle bezeichnet, die eine Vertei­ lung der Logistikaufgaben auf mehrere dezentrale Logistikabteilungen in den Funk­ tionsbereichen oder Divisionen und einen zentralen Logistikbereich auf der zweiten Hierarchieebene vorsehen. Nach dem Einfluss der zentralen Logistikabteilung auf die dezentralen Logistikabteilungen werden unter anderem das Richtlinien- und das Ser­ vicemodell unterschieden (vgl. Pfohl 2016, S. 286 ff.). Beim Richtlinienmodell ist der zentrale Logistikbereich für alle Grundsatzentscheidungen zuständig und gegenüber den dezentralen Logistikabteilungen weisungsbefugt. Die dezentralen Logistikabtei­ lungen treffen zu präzisierende Entscheidungen im Rahmen dieser Vorgaben. Das Ser­ vicemodell sieht vor, dass die dezentralen Logistikabteilungen über die Art der Lo­ gistikhandlungen entscheiden, die vom zentralen Logistikbereich ausgeführt werden. Diese entscheidet nur noch über die Art der Auftragserfüllung (vgl. Frese/Graumann/ Theuvsen 2012, S. 469 ff.; Large 2016, S. 191 ff.). Beim Servicemodell umfasst die spe­ zifische Problemstellung eines Logistikcontrolling, das der Leitung des zentralen Lo­ gistikbereichs unterstellt ist, die horizontale bereichsinterne Koordination aller Ent­ scheidungen über das Logistikpotential und die Logistikprozesse. Die Koordination dieser Entscheidungen mit den Entscheidungen über das Logistikprogramm in den Funktionsbereichen oder Divisionen ist Bestandteil der spezifischen Problemstellung des Unternehmungscontrolling.

3.3 Problemlösungsansatz des Produktions- und Logistikcontrolling Die vertikale und die bereichsübergreifende horizontale Koordination der Entschei­ dungen in den Funktions- und Servicebereichen ist Bestandteil der spezifischen Pro­ blemstellung des Unternehmungscontrolling. Zur Bearbeitung dieser Problemstel­ lung setzt es Koordinationskonzepte um und sichert die Informationsversorgung der Unternehmungsleitung. Nach den Regelungen der vom Unternehmungscontrolling geschaffenen Koordinationssysteme werden auf der Ebene der Unternehmungsleitung Pläne, Budgets oder Kennzahlensysteme mit Vorgaben für die Funk­ tions- und Servicebereiche der Unternehmung entwickelt. Die vertikalen Interdependenzen zwischen den Entscheidungen der Unternehmungsleitung und der Funktions- und Servicebereiche macht es erforderlich, dass die Unternehmungs­ leitung in diesen Planungsprozessen mit dem Management der Bereiche interagiert. Diese Interaktion wird als Hierarchiedynamik bezeichnet. Sie kann dem Top-downoder dem Bottom-up-Prinzip folgen. Bei paralleler Anwendung dieser beiden Prinzi­ pien gelangt man zum Gegenstromverfahren, dem Gegenstromverfahren mit Puffer­ ebenen oder dem mit Planungskomitee (vgl. z. B. Friedl 2013, S. 164 ff.).

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Die Hierarchiedynamik verlangt, dass die Koordinationssysteme in den Bereichen den Prinzipien der Koordinationssysteme auf der Ebene der Unternehmungsleitung folgen. Aufgabe des Produktions- und Logistikcontrolling ist es, die vom Unterneh­ mungscontrolling gestalteten Koordinationssysteme für die Anforderungen der ver­ tikalen und bereichsinternen horizontalen Koordination zu detaillieren und präzisie­ ren. Werden in einer Unternehmung mit einer funktionalen Organisation zur bereichs­ übergreifenden horizontalen Koordination der Entscheidungen Budgets erstellt, ist es die Aufgabe des Produktions- und des Logistikcontrolling ein System zur Planung und Steuerung von Budgets für ihren jeweiligen Bereich zu gestalten. Hierzu sind in Abstimmung mit dem Budgetierungssystem der Unternehmung die Teilbereiche im Funktions- oder Servicebereich abzugrenzen, für die jeweils ein Budget geplant wer­ den soll, der Bezugszeitraum dieser Budgets, die Budgetgrößen, die Kennzahlen zur Vorgabe und Messung der Leistung der zu budgetierenden Bereiche und das Verfahren zur Planung und Abstimmung der Budgets zu definieren. Bei einer zentralen Logistik oder einer Logistik, die nach dem Servicemodell organisiert ist, kann das Unterneh­ mungscontrolling die Koordination über Zielvorgaben und Lenkpreise vorsehen. In diesem Fall ermittelt das Logistikcontrolling markt- oder kostenorientierte Lenkprei­ se, sofern sie nicht zwischen Logistik- und Funktionsbereichen ausgehandelt werden. Zur Gewinnung bereichsspezifischer Informationen, die bei der Planung, der Bud­ getierung und der Entwicklung von Kennzahlen als Vorgabegrößen benötigt werden, gestalten das Produktions- und Logistikcontrolling Informationssysteme zur Erfas­ sung von Ablauf und Wirkungen der Produktions- und Logistikprozesse. Neben Kos­ teninformationen sind nicht monetäre Kennzahlen für die differenzierte Messung der Leistungen in Produktion und Logistik erforderlich (zu Produktions- und Logistik­ kennzahlen vgl. Troßmann 1994; Pfohl 2016, S. 181 ff.). Werden auch ökologische Zie­ le verfolgt, sind Informationssysteme über die ökologischen Wirkungen der Produk­ tions- und Logistikprozesse und ihre Veränderungen zu gestalten, d. h., es sind Ver­ fahren zur Erstellung einer Ökobilanz für die Produktions- und Logistikprozesse zu entwerfen, zu implementieren, zu überwachen und anzupassen (zu einem Überblick über die Verfahren der Ökobilanz vgl. Günther 2008, S. 292 ff.). Zur Übermittlung der gewonnenen Informationen an das Produktions- oder Logistikmanagement und das Unternehmungscontrolling gestaltet das Bereichscontrolling ein bereichsbezogenes Reportingsystem (vgl. Weber/Wallenburg 2010, S. 237 ff.). Gegenüber dem Unterneh­ mungscontrolling berichtet es unter anderem die Ist-Werte für die Kontrolle der Vor­ gaben.

4 Schlussbemerkungen Die Problemstellung der koordinationsorientierten Konzeption des Controlling ist es, das Management zur Primärkoordination zu befähigen. Die Ursache dieses Koordinations­

Produktions- und Logistikcontrolling als Bereichscontrolling

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827

problems kann im Ausbau und der Verselbstständigung der Führungsteilsysteme in der Unternehmung gesehen werden. Eine andere Ursache dieses Koordinationspro­ blems ist die Differenzierung und Dezentralisation von Entscheidungen des Manage­ ments. Durch die Differenzierung und Dezentralisation der Entscheidungen entsteht der folgende bereichsübergreifende Koordinationsbedarf in der Unternehmung: die Ab­ stimmung zwischen den Entscheidungen in den Funktionsbereichen der Unterneh­ mung und die Ausrichtung dieser Entscheidungen an den Unternehmungszielen. Die­ se bereichsübergreifende vertikale und horizontale Koordination ist Bestandteil der spezifischen Problemstellung des Unternehmungscontrolling. Werden die Entschei­ dungen im Aufgabenbereich des Managements eines Funktions- oder Servicebereichs differenziert und dezentralisiert, entsteht die Notwendigkeit einer bereichsinternen Abstimmung und Ausrichtung an den Zielen des jeweiligen Bereichs. Dieser bereichs­ interne Koordinationsbedarf ist der Gegenstand der spezifischen Problemstellung des Bereichscontrolling. Der Gegenstand des Produktions- und Logistikcontrolling ist damit von der Art und dem Umfang der Differenzierung und Dezentralisation der Entschei­ dungen in der Unternehmung abhängig, die sich in der Organisation der Unterneh­ mung widerspiegelt. Die Aufgaben, die Ziele und die Instrumente des Produktionsund Logistikcontrolling können deshalb nur über das zu bearbeitende Koordinations­ problem abgegrenzt werden, das durch die Organisation der Unternehmung definiert wird.

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Philipp Dräger, Peter Letmathe und Matthias Schinner

Supply Chain Controlling 1 2 3 3.1 3.2 3.3 3.4 4 5

Begriff | 829 Controllinggegenstand | 831 Instrumente des Supply Chain Controlling | 832 Prozessmapping | 832 Kennzahlen | 834 Reifegradmodell | 835 Supply Chain Scorecard | 836 Controlling von internationalen Supply Chains | 838 Schlussbemerkungen | 839 Literatur | 839

Zusammenfassung. Der Beitrag gibt einen Überblick über Begriff und Methoden (Pro­ zessmapping, Kennzahlen, Reifegradmodelle, SC-Scorecards) des Supply Chain Con­ trolling. Neben der kritischen Reflexion des aktuellen Entwicklungsstands des Supply Chain Controlling wird auch auf die Problematik internationaler Wertschöpfungsket­ ten sowie auf mögliche zukünftige Entwicklungen eingegangen.

1 Begriff Supply Chain Management (SCM) ist heute in den Unternehmen fest etabliert, und gerade der Planung, Steuerung und Kontrolle von Informationen sowie Finanz- und Güterströmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette kommt eine besondere Be­ deutung zu. Für die Bewältigung der damit einhergehenden Koordinationsaufgaben ist das Supply Chain Controlling (SCC) eine wesentliche Säule des SCM, da es hierfür als Führungsunterstützungsfunktion dient (vgl. Werner 2014, S. 7). Eine einheitliche, stringente Definition für das SCC stellt sich jedoch aufgrund der Vielzahl an Ansätzen und Aufgaben als schwierig dar. Nach Wannenwetsch (2005, S. 409 f.) und Werner (2014, S. 7) steht SCC für eine systematische Planung, Steuerung und Kontrolle und baut auf entscheidungsrelevan­ ten Informationen auf, die das SCC beschaffen, verdichten und dem Management zur Verfügung stellen muss. Dabei sollte der Controlling-Prozess zyklisch und als rollie­ rende Planung stattfinden. Dadurch wird auch eine Soll-Ist-Analyse ermöglicht, die bei etwaigen Abweichungen die Einleitung von Steuerungsmaßnahmen ermöglicht (vgl. Abbildung 1). Für die Messung und spätere Umsetzung sind über Kennzahlen abbildbare Zie­ le notwendig. Diese mit der Unternehmensstrategie übereinstimmenden Ziele sollten https://doi.org/10.1515/9783110473803-043

830 | Philipp Dräger, Peter Letmathe und Matthias Schinner

Supply Chain Controlling

Zieldefinition Leistungsfaktoren/Messgrößen ableiten (z. B. Kennzahlen)

Planung

Maßnahmen

Steuerung

Kontrolle Soll-Ist-Analyse

Abb. 1: Controllingzyklus im Supply Chain Management (vgl. Wannenwetsch 2005, S. 410).

eine Balance zwischen Reaktionsfähigkeit und Effizienz des Unternehmens schaffen (vgl. Eßig 2014, S. 137). Um dies zu erreichen, müssen funktionsübergreifende Ein­ flussfaktoren in der Supply Chain (SC) untersucht werden (vgl. Chopra/Meindl 2014, S. 74). Das Zieldreieck aus Kosten, Qualität und Zeit kann auch hierbei genutzt wer­ den, um den Erfolg der SC zu gewährleisten (vgl. Eßig/Hofmann/Stölzle 2013, S. 374). Einen Überblick über die wichtigsten Aufgaben des SCC geben Göpfert und Neher (2002, S. 36): Sie fordern eine einheitliche Kommunikationsbasis (z. B. durch stan­ dardisierte Prozessbeschreibungen), ein Bestands- und Kapazitätsmanagement über die einzelnen Wertschöpfungsstufen hinweg, eine übergreifende Prozessorganisa­ tion sowie die Bereitstellung von Informationen über die Leistung der kompletten SC sowie einzelner Akteure. Ähnliche Punkte führt auch Renner (2005, S. 134 ff.) an. Demgemäß sollten drei Faktoren beachtet werden: Die Beschreibung von wich­ tigen SC-Prozessen, die Entwicklung eines zielorientierten Steuerungssystems und die laufende Messung der Leistung mit geeigneten Kennzahlen und Steuerungs­ größen. Als hierfür dienliche Instrumente empfiehlt er die Kennzahlen aus dem SCOR-Model, die Prozesskostenrechnung (PKR), die Möglichkeit den Reifegrad ei­

Supply Chain Controlling

| 831

ner SC zu messen sowie Benchmarks (vgl. Renner 2005, S. 134 ff.). Um sinnvol­ le Kennzahlen oder Prozesskosten erheben zu können, sollte laut Bacher (2004, S. 176) ein geeignetes SC-Mapping erfolgen. Schneider und Draeger (2003, S. 232) führen an, dass in der Praxis innerhalb eines intraorganisationalen SCC eine Viel­ zahl von Instrumenten genutzt wird, wozu sich die Balanced Scorecard (BSC) auf­ grund ihrer Einsetzbarkeit auf der Bereichsebene, der Gesamtunternehmensebe­ ne sowie auch unternehmensübergreifend gut eignet. Des Weiteren führen auch sie Kennzahlensysteme, Methoden der PKR sowie Benchmarking an. Auch Stölzle (2002, S. 12) plädiert für die SC Scorecard, ergänzt durch Benchmarks oder SC-Cos­ ting-Verfahren. Bei einer zielführenden Konzeption des SCC kommt es aber letzt­ lich immer auf die Gegebenheiten innerhalb des Unternehmens und der relevanten Wertschöpfungsketten an (vgl. Seuring 2006, S. 12 f.; Weber/Wallenburg 2010, S. 281).

2 Controllinggegenstand Obwohl der unternehmensübergreifende Charakter hervorgehoben wird, ist ein um­ fassendes SCM auch unternehmensintern von Bedeutung (vgl. Mentzer et al. 2001, S. 18; Pollmeier 2008, S. 22). Grundsätzlich besteht Einigkeit, dass sowohl die Koor­ dination von Funktionsbereichen innerhalb des einzelnen Unternehmens, als auch die Koordination von Funktionsbereichen über die gesamte SC durch das Controlling unterstützt werden muss (vgl. Seuring 2006, S. 12 f.; Mentzer et al. 2001, S. 18; Abbil­ dung 2). Insbesondere die Interdependenzen zwischen verschiedenen Funktionsbe­ The Supply Chain The Global Environment Inter-Corporate Coordination (Functional Shifting, Third Party Providers, Relationship Management, Supply Chain Structure)

Inter-Functional Coordination (Trust, Commitment, Risk, Dependence, Behaviors)

Marketing Sales R&D Forecasting Production Purchasing Logistics Information Systems Finance Customer Service

Supply Chain Flows

Products

Services

Information

Financial Resources

Demand

Forecasts Supplier’s Supplier ↔ Supplier ↔ Focal Firm ↔ Customer ↔ Customer’s Customer

Abb. 2: Aufbau eines Supply Chain Managements (vgl. Mentzer et al. 2001, S. 18).

Customer Satisfaction/ Value/ Profitability/ Competitive Advantage

832 | Philipp Dräger, Peter Letmathe und Matthias Schinner

reichen im Unternehmen und in der Wertschöpfungskette erfordern, dass Funktions­ bereiche wie die Beschaffung und die Transportlogistik koordiniert werden müssen. Unternehmensübergreifend liegt der Koordinationsbedarf stärker auf den Material-, Finanz- und Informationsflüssen mit den Partnern der SC, beispielsweise den Liefe­ ranten. Wie beim SCM sollte das SCC auch auf eine durchgängige Prozessorientierung auf­ bauen (vgl. Larrson/Ljungberg 2007, S. 103). Es ist daher notwendig, eine prozessua­ le Sichtweise einzuführen und zu verfolgen (vgl. Lambert/Stock/Ellram 1998, S. 541). Wenn innerhalb einer Unternehmung die Prozesse definiert und eingehalten werden, sind unternehmensübergreifende Prozesse einfacher zu gestalten (vgl. Sucky 2004, S. 20). Das SCC-Controlling hat dann die Aufgabe prozessbezogen und prozessüber­ greifend die Planung, Steuerung und Kontrolle der Wertschöpfung innerhalb der SC zu gewährleisten. Grundsätzlich können etablierte Controllingmethoden (Kostenar­ ten-, Kostenstellen- und Kostenträgerrechnung, PKR, darauf aufbauende Erfolgsrech­ nungen, Effizienzanalysen, Kennzahlen etc.) genutzt werden. Mit diesem Instrumen­ tarium kann die Performance der gesamten SC oder Ausschnitte daraus gemessen wer­ den.

3 Instrumente des Supply Chain Controlling Für die angesprochenen Bedarfe zur inter- und intraorganisationalen Koordination der SC werden im Folgenden Instrumente vorgestellt, die die prozessorientierte Sicht­ weise schaffen und fördern. Darauf aufbauend erfolgt exemplarisch die Einordnung und Darstellung von SCM-Kennzahlen, des SCM-Reifegradmodells und der Supply Chain Scorecard als SCM-spezifische Controllingmethoden.

3.1 Prozessmapping Zur Ausführung sowie zur Messung von Aktivitäten innerhalb der SC ist ein gemeinsa­ mes Verständnis der Prozesse mit einer standardisierten Definitionsgrundlage wichtig (vgl. Larrson/Ljungberg 2007, S. 103). Ohne die standardisierte und durchgängige Do­ kumentation der Prozessabläufe sowie des bei der Prozessdurchführung anfallenden Mengen- und Wertgerüsts mit hinreichendem Detaillierungsgrad ist eine für die intraund interorganisationale Koordination notwendige Erfassung von Kosten und Erlösen und weiteren Performance-Kennzahlen kaum möglich (vgl. Bacher 2004, S. 177). Viele Unternehmen, z. B. Airbus oder IBM, nutzen dafür das im Jahr 1996 vom Supply Chain Council entwickelte SCOR-Model (vgl. Zhou et al. 2011, S. 332 f.). Das SCOR-Model (Abbildung 3) wurde entwickelt, um Wertschöpfungsketten zu skizzieren, die über mehrere Organisationseinheiten hinweggehen. Es enthält stan­ dardisierte Beschreibungen von Soll-Prozessen, Leistungskennzahlen für jeden Pro­

Supply Chain Controlling

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833

Plan

Plan Deliver

Plan Deliver

Source

Source Make Deliver

Make

Return

Return

Supplier’s Supplier

Return

Source Deliver

Source

Return Return Make

Return

Enable

Enable

Supplier

Focal Firm

Return

Return Enable Customer

Internal or External

Customer’s Customer

Internal or External

Abb. 3: SCOR Managementprozesse (vgl. Supply Chain Council 2012, o. S.).

zess und einen Rahmen für Prozessbeziehungen, Best-Practices sowie Anforderungen für die Fähigkeiten und das Training der Mitarbeiter (vgl. Supply Chain Council 2010, S. 6). Es besteht damit im Grundsatz aus einem Referenzmodell für Prozesse und aus einer SCOR-Card mit den Kennzahlen zu den relevanten Leistungsbereichen (vgl. Wer­ ner 2013, S. 49). Das SCOR-Model hat insgesamt vier Ebenen, wobei jede Ebene eine detailliertere Unterstufe der höheren Ebene darstellt. Die ersten drei Ebenen umfassen in zunehmender Verfeinerung Referenzbausteine zur Modellierung von Prozessket­ ten. Die vierte Ebene ist für Unternehmens- und Branchenspezifika vorgesehen. Das Prozessmodell sieht auf der obersten Ebene sechs Hauptprozesse vor: Plan, Source, Make, Deliver, Return und Enable. Damit lassen sich prinzipiell alle Prozesse vom End­ kunden bis zum ersten Lieferanten abbilden: – Unter „Plan“ werden alle Planungsprozesse für die Ausführungsprozesse (Make, Source, Deliver, Return) zusammengefasst (vgl. Weber/Wallenburg 2010, S. 164 ff.). Damit soll ein effektiver Planungsprozess mit positiven Auswirkungen auf die ge­ samte Wertschöpfungskette gewährleistet werden (vgl. Zhou et al. 2011, S. 341). – Unter „Source“ werden die Beschaffungsprozesse inklusive der dafür erforderli­ chen Logistikprozesse zusammengefasst. – „Make“ wird als Transformation von Gütern in ihren definierten Endzustand be­ schrieben und umfasst damit alle Wertschöpfungsprozesse, die für die Herstellung der Sachgüter und Dienstleistungen erforderlich sind. – Bei „Deliver“ werden die Schnittstellen zu den Kunden betrachtet, z. B. die Ver­ sandlogistik. – „Return“ befasst sich mit allen Prozessen des Rücklaufs von Ware. Hierbei wird zwischen kundenseitigem und lieferantenseitigem Rücklauf unterschieden (vgl. Weber/Wallenburg 2010, S. 164 ff.). – „Enable“ unterstützt die Durchführung und Handhabung der Planungsprozesse. Daher gibt es hierbei Schnittstellen in nahezu alle Funktionsbereiche, z. B. zum Personalwesen oder Finanzbereich.

834 | Philipp Dräger, Peter Letmathe und Matthias Schinner

Einigen Autoren geht das SCOR-Modell jedoch nicht weit genug. Laut Poluha (2010, S. 339) sollten auch Marketing- und Vertriebsprozesse in das SCOR-Model mit einbezo­ gen werden. Aber auch Entwicklungs- und Designprozesse von Produkten könnten er­ gänzt werden (vgl. Weber/Wallenburg 2010, S. 165). Insgesamt bildet das SCOR-Modell aber mit und ohne entsprechende Erweiterungen eine zielführende Grundlage zur Er­ fassung der Wertschöpfungsprozesse und der dafür relevanten Leistungskennzahlen.

3.2 Kennzahlen Kennzahlen sind zur Erfolgsmessung besonders im Controlling ein unabdingbares Instrument und daher auch im SCC relevant. Laut Küpper (2008, S. 389) stellen Kenn­ zahlen eine Größe dar, die quantitativ erfassbare Zusammenhänge in einer aggregier­ ten und verdichteten Form wiedergeben, um durch solch eine systematische Aufberei­ tung ein möglichst schnelles und umfangreiches Verständnis für komplexe betriebli­ che Strukturen und Prozesse zu erhalten (vgl. Reichmann 2006, S. 19). Kennzahlen sind in der betriebswirtschaftlichen Literatur das grundlegende Instrument zur Pla­ nung und Steuerung (vgl. Bacher 2004, S. 229). Aus diesem Grund setzen sich viele Autoren mit der Wahl geeigneter SC-Kennzahlen auseinander (vgl. Giese 2011, S. 69). Chan/Qi (2003, S. 211 ff.) folgen der prozessorientierten Sichtweise und untertei­ len in Anlehnung an das SCOR-Model die Schlüsselprozesse in Beschaffung, InboundLogistik, Produktion, Outbound-Logistik, Marketing & Vertrieb sowie Endkunden. Jedem dieser Prozesse werden Sub-Prozesse zugeteilt. Diesen werden dann geeignete Input- (z. B. Kosten), Output- (wie z. B. Lieferzuverlässigkeit) oder kombinierte Kenn­ zahlen (wie z. B. Produktivität) zugeordnet. Fünf Leistungsattribute dienen hierfür als Ausgangsbasis: Lieferzuverlässigkeit, Reaktionsfähigkeit, Flexibilität, Lieferketten­ kosten und Kapitaleinsatz. Jedes Leistungsattribut umfasst ein bis drei Kennzahlen auf der obersten Ebene. Diese wiederum sind mit den Kennzahlen auf den beiden nachfolgenden Ebenen verknüpft (vgl. Weber/Wallenburg 2010, S. 167 f.). Werner (2014, S. 48 f.) typologisiert SC-Kennzahlen in zwei Dimensionen. Die erste Dimension betrachtet Kennzahlen entlang der Wertschöpfungskette und ordnet diese in die Bereiche Input, Throughput, Output und Payment ein. Die zweite Dimension ordnet die Kennzahlen nach ihrer spezifischen Art, also nach generischen Kennzah­ len, Produktivitäts- und Wirtschaftlichkeitskennzahlen sowie Qualitäts- und Service­ kennzahlen. Innerhalb des SCC wird eine Reihe von Kennzahlen diskutiert, wiederkehrend sind jedoch Kennzahlen zu Beständen, Standorten, Transport, Informationsflüssen, Beschaffung und Produktion (vgl. z. B. Chopra/Meindl 2014, S. 69 ff.; Musalem/Dekker 2005, S. 179). Diese beschränken sich nicht nur auf das fokale Unternehmen, sondern auf die gesamte SC (vgl. Pettersson/Segerstedt 2013, S. 357 ff.).

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3.3 Reifegradmodell Neben den bereits erwähnten Instrumenten kann auch das Reifegradmodell für die Betrachtung und Messung von SC-Prozessen herangezogen werden (vgl. Estampe/ Lamouri/Paris 2013, S. 248 f.). Nach Lahti, Shamsuzzoha und Helo (2009, S. 656) basiert der SCM-Reifegrad auf dem Konzept der Prozessreife und beruht auf der Er­ kenntnis, dass Prozesse und Netzwerke einen Lebenszyklus durchlaufen, der vom Unternehmen zielgerichtet gesteuert werden kann. Prozesse mit höherem Reifegrad gehen mit verbesserten Leistungskennzahlen einher (z. B. Kosten, Qualität, Produkti­ vität). Die Erfassung und Messung der Reifegrade erlaubt eine bessere Vorhersage von Kosten und anderen Kenngrößen, was über entsprechende Steuerungsmaßnahmen zur effizienteren Erreichung der SC-Ziele beitragen kann (vgl. Lockamy/McCormack 2004, S. 272 ff.). In diesem Rahmen wurde das SCM-Reifegradmodell in Anlehnung an das Modell der Geschäftsprozess-Orientierung entwickelt. Das Reifegradmodell, das in verschiedenen Ausprägungen diskutiert wird, besteht in der Regel, wie in Abbil­ dung 4, aus fünf Ebenen mit verschiedenen Reifegraden (vgl. Lockamy/McCormack 2004, S. 272 ff.; Söderberg/Bengtsson 2010, S. 91). Mit dem Erreichen der nächsthöhe­ ren Ebene geht eine höhere Prozessfähigkeit einher (vgl. Lockamy/McCormack 2004, S. 272 ff.).

CUSTOMERS SUPPLIERS

Extended

MAKE

SOURCE

DELIVER

PLAN

Integrated

SUPPLIERS

Linked

SUPPLIERS

PLAN SOURCE SUPPLIERS MAKE DELIVER

CUSTOMERS SOURCE

Defined

SUPPLIERS

S Ad Hoc

S

S S

U

PLAN

PLAN

PLAN

CUSTOMERS

MAKE

DELIVER

PLAN PLAN PLAN MAKE DELIVER SOURCE CUSTOMERS DELIVER MAKE SOURCE DELIVER MAKE SOURCE S O E R C

K

M A

E

N

P

L

A

Abb. 4: SCM Reifegradmodell (vgl. Lockamy/McCormack 2004, S. 276).

I V R ED LE

C C C

C

836 | Philipp Dräger, Peter Letmathe und Matthias Schinner

Anhand von bestimmten Reifegradprofilen können Schwachstellen aufgedeckt, Ver­ besserungsvorschläge generiert und Prioritäten für die zu ergreifenden Maßnahmen gesetzt werden. Als weiteres Einsatzgebiet des Reifegradmodells wird das Bench­ markingpotenzial hinsichtlich der Verbreitung und Entwicklung von Best Practices genannt (vgl. Renner 2005, S. 139). Das jeweilige Reifegradniveau kann auf verschie­ dene Arten gemessen werden, z. B. durch vorhandene Kennzahlensysteme oder durch eigens dafür durchgeführte Erhebungen (z. B. Self-Assessment Tests, Fragebögen). Es können aber auch umfangreiche, über mehrere Wochen andauernde Ursache-Wir­ kungs-Analysen erfasst werden (vgl. Lahti/Shamsuzzoha/Helo 2009, S. 658 und 676). Die Ergebnisse der Reifegradmessung werden dann in einem Profil als zusammenfas­ sendes Ergebnis dargestellt. Das Reifegradmodell kann somit als eine Bestandsaufnahme verstanden werden, um den Zusammenhang zwischen der SCM-Prozessreife und der gesamten SC-Perfor­ mance darzustellen (vgl. Lockamy/McCormack 2004, S. 273). Anhand eines Reifegrad­ modells wird es dem Unternehmen möglich, den momentanen Status quo schnell zu erkennen und die für eine Verbesserung notwendigen Schritte einzuleiten (vgl. Lahti/ Shamsuzzoha/Helo 2009, S. 657). Allerdings existiert noch kein umfassendes Reife­ gradmodell, welches die ganze Komplexität von SC-Netzwerken umfassend verarbei­ ten kann.

3.4 Supply Chain Scorecard Aufgrund von Kritik an der Eindimensionalität der traditionellen Kennzahlensyste­ me mit einem starken Fokus auf finanzielle Kennzahlen, wurde von Kaplan und Nor­ ton zu Beginn der 90er Jahre die BSC entwickelt (vgl. Kaplan/Norton 1992; Pollmeier 2008, S. 165). Die klassische BSC bietet zur finanziellen Perspektive drei weitere nichtfinanzielle Perspektiven an: die Kunden, die internen Prozesse sowie die Lern- und Entwicklungsperspektive. Für jede Perspektive müssen sowohl Maßnahmen und Vor­ gaben als auch Ziele und Kennzahlen definiert werden, die aus der Strategie abgeleitet werden (vgl. Bacher 2004, S. 242). Die strukturellen Eigenschaften der BSC können mit folgenden Ausprägungen charakterisiert werden: Ausgewogenheit, Strategieorientierung, Ursache-WirkungsBeziehungen und Visualisierung. Im Rahmen der Ausgewogenheit werden neben den vergangenheitsorientierten Kennzahlen auch vorlaufende Indikatoren dargestellt, die eine frühe Rückmeldung über den Umsetzungserfolg einer Strategie ermöglichen. Des Weiteren werden finanzielle und nicht-finanzielle Messgrößen einbezogen. Es werden sowohl intern (z. B. Prozesse) als auch extern (z. B. Kundenperspektive) orientierte Messgrößen verwendet. Außerdem hat die BSC durch die Ableitung der Kennzahlen aus den Zielen eine starke Strategieorientierung und operationalisiert diese mit der

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Definition von Zielwerten und der Festlegung von Maßnahmen. Darüber hinaus ist ein signifikantes Kriterium der BSC, eine Verbindung der einzelnen Kennzahlen durch Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu schaffen. Dabei werden die Ziele und Kennzah­ len der einzelnen Perspektiven miteinander verknüpft. Die Visualisierung wird als vierte wichtige Eigenschaft der BSC gesehen. Dies wird einerseits durch die Fokus­ sierung auf einige wenige Kennzahlen erreicht und andererseits durch sogenannte Strategy Maps vollzogen, die auf den Ursache-Wirkungs-Beziehungen beruhen. Dies soll die Strategie des Unternehmens für alle Mitarbeiter nachvollziehbar machen (vgl. Pollmeier 2008, S. 165). Die BSC ist besonders für das SCC geeignet, da sie erstens einen hohen Akzeptanzund Verbreitungsgrad in der Praxis und zweitens flexibel gestaltbare Perspektiven hat und schnell an die Bedürfnisse der jeweiligen Supply Chain und deren dynamisches Umfeld anpassbar ist. Im Kontext des SCC erfährt die BSC damit eine Reihe von An­ passungen, bei denen die Perspektiven inhaltlich an den SC-Kontext angepasst wer­ den oder neue SC-spezifische Perspektiven integriert werden. Es hat sich allerdings noch keine einheitliche Meinung über die Perspektiven und Inhalte einer SC Score­ card gebildet (vgl. Werner 2014, S. 74). Für die Wahl der Perspektiven sollten die Ziele des Unternehmens beziehungsweise des SC-Netzwerks im Vordergrund stehen und dementsprechend müssen die Perspektiven und dazugehörigen Kennzahlen gebildet werden (vgl. Wagner 2005, S. 116). Eine SC-Scorecard eignet sich für die Koordination von internen und unterneh­ mensübergeifenden Wertschöpfungsketten, da sie sich nicht nur auf die Gesamt­ unternehmensebene bezieht, sondern sowohl unternehmensübergreifende Wert­ schöpfungsketten, als auch Teilbereiche von Unternehmen betrachten kann. Es lohnt sich daher aus zwei Gründen eine bereichsübergreifende Scorecard zu implementie­ ren: Erstens existieren in den einzelnen Bereichen Ziele und Maßnahmen, die nicht zwangsläufig das komplette strategische Feld aus Gesamtunternehmenssicht abbil­ den. Zweitens gibt es Ziele und Maßnahmen, die die gesamte Wertschöpfungskette oder Teile daraus betreffen. Des Weiteren werden viele Entscheidungen nicht in den Funktionsbereichen getroffen, sondern auf zentraler Ebene beziehungsweise durch Abstimmung von SC-Partnern und sollten daher in eine zentrale Scorecard einflie­ ßen. Für die Ausgestaltung der Perspektiven schlagen Weber und Wallenburg (2010, S. 288 ff.) die Finanz-, Koordinationsstruktur-, Koordinationsprozess- sowie Lern- und Entwicklungsperspektive vor. Für die Finanzperspektive führen sie beispielsweise als Ziel die Reduzierung des gebundenen Kapitals in den Beständen um einen gewissen Prozentsatz an. Die darunterliegenden Bereichsscorecards können wieder Modifizie­ rungen erfahren, z. B. durch eine differenzierte Lieferantenperspektive im Bereich Beschaffung. Als Ergebnis entstehen dann miteinander verknüpfte Bereichsscore­ cards (siehe Abbildung 5).

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Zentrale Unternehmensscorecard

Lieferant

Finanziell

Koordinationsprozess

Koordinationsstruktur

Lernen und Entwicklung

Beschaffung

Produktion

Distribution

Finanziell Prozess

Finanziell Prozess

Finanziell Prozess

Beschaf- Distribufung tion

ProdukKunden tion

Lieferanten

Produktion

Endkunde

Unternehmensinterne Supply Chain Abb. 5: Struktur einer unternehmensinternen Scorecard (vgl. Weber/Wallenburg 2010, S. 291).

4 Controlling von internationalen Supply Chains Trotz zunehmender Globalisierung und der damit einhergehenden Internationali­ sierung von Wertschöpfungsketten beschäftigt sich das SCC kaum mit den damit einhergehenden Herausforderungen und Chancen. Obwohl eine ganze Reihe an For­ schungsbeiträgen kulturelle Kontextfaktoren hervorhebt (vgl. z. B. Naor/Linderman/ Schroeder 2010, S. 194 ff.), wird ein sinnvoller Trade-off zwischen klassischen Zielen der Effizienzsteigerung und Kostensenkung, die häufig mit einem hohen Grad an Pro­ zessintegration, aber auch mit der Teilung proprietären Wissens einhergeht, und dem Schutz von Intellectual Property Rights, also der Gefahr, dass wichtiges Know-how von SC-Partnern wettbewerbswidrig genutzt wird, kaum diskutiert. Eine solche Dis­ kussion hat aber gerade für aufstrebende Ökonomien aus dem asiatischen Raum, z. B. China, eine hohe Relevanz (vgl. Fredendall/Lethmathe/Uebe-Emden 2016, S. 135 ff.). Auch die Herausforderung internationaler Wertschöpfungsketten mit Blick auf so­ ziale und ökologische Problematiken ist nach wie vor ein hochrelevantes Gebiet (vgl. Fahimnia/Sarkis/Davarzani 2015, S. 101 ff.). Zwar haben viele Unternehmen in Corpo­ rate-Social-Responsibility-Initiativen investiert, müssen sich aber häufig des Green­ washing (vgl. Laufer 2003, S. 253 ff.) bezichtigen lassen, da substanzielle Ergebnisse kaum nachweisbar sind. Dabei wären viele Kunden bereit, für ökologisch und sozi­ al nachhaltig hergestellte Produkte einen höheren Kaufpreis zu zahlen (vgl. Sörqvist et al. 2013, S. 1 ff.), wenn die damit erzielten Erfolge zweifelsfrei nachgewiesen würden. Gerade hier können geeignete Controllinginstrumente, die Missstände in den Pro­ duktionsländern wirksam bekämpfen und zugleich den nachprüfbaren Ausweis der erzielten Erfolge ermöglichen, einen wichtigen Beitrag leisten.

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5 Schlussbemerkungen Insbesondere unternehmensübergreifende Ansätze werden zwar immer wieder ge­ nannt, es fehlt aber die differenzierte Ausgestaltung einer angepassten Methodik sowie Controlling-gestützte Mechanismen zur fairen Aufteilung von Effizienzgewin­ nen und finanziellen Vorteilen einer verbesserten SC-Koordination. Defizite des SCC lassen sich auch konstatieren, wenn man verschiedene SC-Wertschöpfungstypolo­ gien (Einzel-, Kleinserien-, Großserien- und Massenfertigung sowie Dienstleistungs­ produktion) und deren Anforderungen betrachtet (vgl. Jacobs et al. 2017, S. 34 ff.). Auffällig ist auch, dass den spezifischen Gesichtspunkten von kleinen und mittleren Unternehmen (Ressourcenstärke, Economies of Scale, Interaktionsmechanismen etc.) bei Betrachtungen zum SCC kaum Rechnung getragen wird (vgl. Urigshardt/Jacobs/ Letmathe 2008, S.7 ff.). Im internationalen Kontext bedarf es Controllingansätzen, die kulturelle Spezifika, länderspezifische Risiken und andere Kontextfaktoren sinn­ voll einbeziehen. Dazu kommt, dass sowohl die Kunden als auch die Gesellschaft als Ganzes vermehrt soziale und ökologische Aspekte in Kauf- und Regulierungsent­ scheidungen mit einbezieht. Das SCC sollte daher vermehrt Nachhaltigkeitsaspekte betrachten. Damit dies nicht nur zu Greenwashing, sondern zu substanziellen Ver­ besserungen führt, müssen sowohl auf regulatorischer als auch auf methodischer Ebene wirksame Corporate-Governance-Mechanismen implementiert werden. In der Summe hat das Feld des SCC sowohl in der Forschung als auch in der Praxis in der Zukunft noch viele spannende Entwicklungen vor sich.

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Supply Chain Controlling

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Anton Burger und Niels Ahlemeyer

Risikocontrolling 1 2 3 3.1 3.2 3.3 4 4.1 4.2 4.3 4.4 5

Problemstellung | 842 Der Prozess des Risikomanagements | 843 Ansatzpunkte für ein Controlling im Prozess desRisikomanagements | 847 Planung, Kontrolle und Informationsversorgung | 847 Koordination | 849 Sicherung der Rationalität: Entlastung, Ergänzung und Begrenzung | 849 Risikocontrolling als Rationalitätssicherung im Prozess des Risikomanagements | 852 Zweckrationalität und Rationalitätsebenen | 852 Rationalität auf der Ebene der Entscheidungsmodelle | 853 Rationalität auf der Prozessebene | 856 Rationalität auf der Ergebnisebene | 857 Resümee | 858 Literatur | 859

Zusammenfassung. „Risikomanagement“ fokussiert aus prozessualer Sicht auf die Identifikation, die Analyse und die Bewertung, die Steuerung sowie die Kontrolle von (asymmetrischen und symmetrischen) Risiken, ergänzt werden diese Phasen um Rückkopplungen und um ein Berichtswesen. Ein „Risikocontrolling“ bietet hierbei eine vornehmlich entlastende und ergänzende Unterstützung in Gestalt einer sys­ tembildenden (Instrumentenhoheit) und systemkoppelnden Koordination (konkreter Einsatz von Instrumenten) und wird auch für ein „Risiko-Reporting“ verantwortlich zeichnen. Als „Business Partner“ kann es zu einem rationalen Umgang mit Risiken beitragen.

1 Problemstellung Das „Risikomanagement“ fokussiert auf die Erfassung, Steuerung und Kontrolle von Einzel- und aggregierten Risiken, die im Makro- und Wettbewerbsumfeld und im Un­ ternehmen selbst begründet sind. Die Wahrnehmung von (Erfolgs-) Chancen setzt im Allgemeinen das In-Kauf-Nehmen von Risiken (im Sinne negativer Abweichungen oder von möglichen Schäden) voraus. Die systematische Beschäftigung mit Risiken ist folglich unverzichtbarer Teil jeder verantwortungsvollen Unternehmensführung. Das Management kann einzelne Aufgaben aus unterschiedlichen Gründen an ein Controlling delegieren. Ein „Risikocontrolling“ kann als eine das Risikomanagement

https://doi.org/10.1515/9783110473803-044

Risikocontrolling

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843

unterstützende Organisationseinheit mit einem zu spezifizierenden Aufgabenspek­ trum verstanden werden. Der vorliegende Betrag versucht die Frage zu beantworten, was ein Risikocontrol­ ling in das Risikomanagement einbringen kann. Herausgearbeitet werden soll, in wel­ cher Art und Weise ein Risikocontrolling in den einzelnen Phasen des Risikomanage­ mentprozesses (unterstützende) Aufgaben übernehmen kann, um so zu einer verbes­ serten Effektivität und Effizienz des Umgangs mit Risiken beizutragen.

2 Der Prozess des Risikomanagements Die systematische Beschäftigung mit Risiken durch die Unternehmensführung ist zum einen von der Sache her und zum anderen rechtlich geboten. Aus sachlicher Sicht ist sie unverzichtbar, denn jede unternehmerische Entscheidung wirkt in die Zukunft und da in der Regel die Wirkungen von Entscheidungsalternativen nicht mit Sicher­ heit abgebildet werden können, liegt eine Situation der Mehrwertigkeit der Hand­ lungsergebnisse, also eine „Risikosituation“ vor. Ob man von einer solchen nur dann spricht, wenn für einzelne abzugrenzende Umweltzustände (zumindest subjektive) Wahrscheinlichkeiten angegeben werden können und die andere Situation mit „Unge­ wissheit“ gekennzeichnet wird, ist bloß eine Frage der Zweckmäßigkeit, entscheidend ist die Mehrwertigkeit der Ergebnisse von Aktionen (auch von Unterlassungen). Oben­ drein gebieten explizite Rechtsnormen (wie das KonTraG- „Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich“, das von einem asymmetrischen Risikobegriff ausgeht und im Wesentlichen die institutionalisierte Beschäftigung mit solchen Risi­ ken verlangt, die den Fortbestand der Gesellschaft gefährden können) und generell die Sorgfaltspflicht von Managern eine systematische (und zu dokumentierende) Aus­ einandersetzung mit – unter Umständen den Fortbestand gefährdenden – „Risiken im Unternehmen“. „Risiken“ im Sinne eines Schadens- oder Verlustpotenzials gelten als „asymme­ trisch“, bei „symmetrischen“ Risiken können sowohl negative als auch positive Ab­ weichungen von einem erwarteten Ergebnis auftreten, demnach bestehen hier Gefah­ ren und Chancen. In Bezug auf symmetrische Risiken kann daher auch von einem „Risiko- und Chancenmanagement“ gesprochen werden. Unter „Risikomanagement“ verstehen wir im Folgenden sowohl das Management asymmetrischer als auch jenes symmetrischer Risiken, es schließt mithin ein Chancenmanagement ein (vgl. Burger/ Buchhart 2002, S. 1 ff.) Das generelle Ziel eines (derart verstandenen) Risikomanagements liegt in der Si­ cherung der Erreichung der Unternehmensziele. Geht man vom generellen Ziel der Erwirtschaftung von Überschüssen aus, mit denen – nach der Erfüllung der Verzin­ sungsanforderungen der Fremdkapitalgeber – auch das bereitgestellte Eigenkapital Entgelte für das Zur-Verfügung-Stehen erhält, so lautet das generelle Ziel eines Risiko­ managements, die Überschüsse aus der betrieblichen Erstellung und Verwertung von

844 | Anton Burger und Niels Ahlemeyer

Sach- und Dienstleistungen zu sichern (zur Verzinsung von Fremd- und Eigenkapital im Allgemeinen und zur Mindestverzinsung des Eigenkapitals, die z. B. in das WACCKonzept als Mindestgewinngröße einfließt; vgl. Ahlemeyer/Burger 2016, S. 89 ff. und 124 ff.). Ziel eines Risikomanagements kann es nicht sein, sämtliche Risiken – und da­ mit auch die bei symmetrischen Risiken relevanten Chancen – zu vermeiden. Risiken sind unternehmerischen Handlungen immanent, daher kann es bei der Sicherungs­ funktion eines Risikomanagements nicht um die generelle Vermeidung, sondern um die Erreichung einer aus Sicht der Stakeholder „optimalen Risikoposition“ gehen (vgl. Burger/Buchhart 2002, S. 10). Die konkrete Ausprägung dieses Optimums hängt vor­ nehmlich von den Präferenzen der maßgeblichen Entscheidungsträger und von der Risikotragfähigkeit des Unternehmens (vgl. Ahlemeyer/Burger 2016, S. 52), also vor allem von seiner Ausstattung mit Eigenkapital ab (zur Bedeutung und zum Problem der Eigenkapitalausstattung im Unternehmen vgl. Rückle 2009, S. 25 ff.). Aus prozessualer Sicht kann Risikomanagement als ein kybernetischer Regelkreis veranschaulicht und in die folgenden Phasen differenziert werden (zum „RisikoManagement-Prozess“ und den folgenden Ausführungen vgl. z. B. Burger/Buchhart 2002, S. 31 ff. mit weiteren Verweisen; ferner z. B. Diedrichs 2012, S. 49 ff., Wolke 2016, S. 4 im Überblick und 13 ff. im Detail): – Identifikation von Risiken, – Analyse und Bewertung von Risiken, – Steuerung von Risiken, – Kontrolle von Risiken. In der Phase der Identifikation sind alle für ein Unternehmen relevanten Risiken zu erheben, es sind aktuelle und potenzielle zielrelevante Risiken strukturiert zu iden­ tifizieren. In dieser Phase geht es darum, eine unverfälschte und für die folgenden Phasen brauchbare Informationsgrundlage zu schaffen. So sind besonders Risiken und Chancen voneinander zu trennen, also Bruttogrößen zu betrachten, ferner ist zwi­ schen Risiken und den korrespondierenden Maßnahmen der Risikosteuerung zu tren­ nen, d. h. der Effekt von konkreten Steuerungsmaßnahmen ist bei der Risikoerfassung separat aufzuführen. Eine zentrale Frage in dieser Identifikationsphase lautet, welche Instrumente, Mo­ delle oder Analyseraster man einsetzt, um Risiken auf unterschiedlichsten Ebenen und in den verschiedensten Segmenten zu erheben. Eine mehrdimensionale Identi­ fikation liefert eine Systematik der Risiken, in der vornehmlich zwischen finanziel­ len und nicht-finanziellen, strategischen und operativen, beeinflussbaren und nichtbeeinflussbaren, bereichsspezifischen und -übergreifenden, erfolgsbeeinflussenden und existenziellen Risiken usw. differenziert wird. Eine im Hinblick auf die Steuerung von Risiken zentrale Unterscheidung liegt in Risiken aus dem Unternehmensumfeld, d. h. aus der Makroumwelt (ökonomische, politisch-rechtliche, soziale, technologische Risiken) und aus dem Wettbewerbsum­ feld (Risiken aus Konkurrenten, Käufern, Lieferanten, Substitutionsprodukten etc.),

Risikocontrolling

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und aus dem Unternehmen selbst; hierbei kann man nach betrieblichen Funktionen und/oder nach Prozessen im Sinne von Wertketten z. B. in Kern- und Unterstützungs-, Hilfs- und Querschnittsprozesse etc. differenzieren. Der Zusammenführung von Um­ welt- und Unternehmensanalyse dienen z. B. „Risikomodule“. Die Erfassungsphase schafft die informatorische Grundlage für die folgenden Ab­ schnitte des Risikomanagements. Nur was an Risiken adäquat identifiziert und ab­ gebildet wird, kann im Folgenden bewertet, gesteuert und kontrolliert werden. Der Qualität der Risikoerfassung kommt daher eine sehr große Bedeutung zu. In der Phase der Analyse und Bewertung von Risiken geht es um die Abbildung der Wirkungen der erhobenen Risiken, vornehmlich auf die positiven und negativen Cash-Flow-Komponenten. Die Grundlage hierfür kann z. B. die Gliederung der Kapi­ talflussrechnung aus dem externen Rechnungswesen in drei Bereiche und weiter in einzelne Hauptkomponenten der jeweiligen Cash-Inflows und Cash-Outflows bieten. Die Analyse fokussiert erstens auf die Einzelrisiken und zweitens auf die Bezie­ hungen zwischen einzelnen Risiken, hierbei geht es um kompensatorische und ein­ ander verstärkende Wirkungen von Einzelrisiken. Die Bewertung zielt auf die Ermitt­ lung von (quantitativen und auch qualitativen) Risikomaßen, in vielen Fällen geht es um Cash-Flow-Wirkungen und Wahrscheinlichkeiten. Im Fall von (lediglich) qua­ litativ erfassbaren Risiken können vor allem Risikoklassen gebildet und Einzel- und Gesamtrisiken diesen zugeordnet werden. Eine zentrale Frage nach der eigentlichen Analyse und Bewertung von Risiken liegt in der Festlegung von (absoluten und/oder relativen) Schwellenwerten. Ihr Überoder Unterschreiten entscheidet darüber, ob und welche Instanzen des Managements sich mit dem Risiko im Sinne einer Steuerung auseinandersetzen. Das Herzstück des Risikomanagements ist die Entscheidung darüber, wie mit den identifizierten, analysierten und bewerteten relevanten Einzel- und Gesamtrisi­ ken umgegangen wird (Phase der Steuerung). Diese Management-Entscheidung kann grundsätzlich vier verschiedene Ausprägungen haben (vgl. Burger/Buchhart 2002, S. 49 ff.; Wolke 2016, S. 93 ff.): – die Akzeptanz von Risiken: Das Management erachtet das Schadenspotenzial – vor allem vor dem Hintergrund seiner Risikopräferenzen und der Risikotragfähig­ keit des Unternehmens – für zu gering, um über ausdrückliche Maßnahmen auf das mögliche Schadensausmaß und/oder seine Eintrittswahrscheinlichkeit ein­ zuwirken; eine laufende Beobachtung dieser Risiken und eine Berichterstattung hierzu sind einzurichten; – die Überwälzung von Risiken: Durch die Gestaltung von Kaufverträgen, durch Markttransaktionen wie Derivate, durch Versicherungsverträge usw. können Ri­ siken zur Gänze oder teilweise auf Transaktionspartner überwälzt werden; Beob­ achtung und Berichterstattung zur Verlässlichkeit, zu den Kosten der Überwäl­ zung etc. sind nötig; – die Vermeidung von Risiken: Risiken, die die Existenz des Unternehmens gefähr­ den oder mit einem „hohen“ Schadenspotenzial einhergehen, kann das Manage­

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ment bewusst (weitgehend) vermeiden, indem z. B. bestimmte Geschäfte und Handlungen nicht vorgenommen werden; die Verminderung beziehungsweise Kompensation von Risiken: Sie kann das Management erreichen, indem es z. B. den Umfang und die Zahl bestimmter Ge­ schäfte beschränkt; eine Kompensation kann auch durch Diversifikation erreicht werden, indem negativ korrelierte Geschäfte (vor allem in Bezug auf Cash-FlowWirkungen), wie z. B. US-Dollar-Forderungen und -Verbindlichkeiten, bewusst im Sinne einer Risikokompensation, hier zum Wechselkursrisiko, gestaltet werden, etwa durch die Wahl der Fakturierungswährung bei Verkaufs- und Kaufverträgen.

Realiter läuft die Steuerung von Risiken auf einen „Strategie-Mix“ hinaus, d. h. die einzelnen Risiken werden unterschiedlich gesteuert. Für die Entscheidung über die konkreten Maßnahmen bei den einzelnen Risiken benötigt das Management zum ei­ nen die Bewertung der Risiken und zum anderen die Abbildung, wie sich Risikopo­ sitionen durch einzelne Maßnahmen verändern lassen. Im Sinne der Entscheidungs­ theorie gilt es, den Aktionsraum (mögliche Maßnahmen der Steuerung eines Risikos), den Zustandsraum (zielrelevante Umweltparameter, zusammengefasst in Szenarien) und vor allem den Ergebnisraum (Wirkungen der Maßnahmen in den einzelnen Um­ weltzuständen) zu prognostizieren. Auf der Grundlage des Ergebnisraums entwickelt das Management ein Bündel „optimaler“ Maßnahmen, das es umzusetzen gilt. Die Phase der Kontrolle von Risiken bedeutet vornehmlich einen Soll-Ist-Ver­ gleich: geplante versus realisierte Risikoposition, abgebildet mittels jener Größen, die man bei der Bewertung der Risiken und möglicher Steuerungsmaßnahmen ein­ setzt. Es sind Abweichungen zu ermitteln und im Fall ihrer Wesentlichkeit ist zu analysieren, wo Ursachen dieser Abweichungen liegen und wo eine Verantwortung hierfür zu verorten ist. Die Kontrolle kann sich auch auf die Vollständigkeit der erho­ benen, bewerteten und gesteuerten Risiken sowie auf Methoden und Instrumente des gesamten Prozesses des Risikomanagements beziehen; die Kontrolle erlaubt insofern auch ein Lernen in instrumenteller und in prozessualer Sicht. Im Sinne eines kybernetischen Regelkreises sind Rückkopplungen von den Pha­ sen der Analyse und Bewertung, der Steuerung und der Kontrolle zu allen vorange­ henden Phasen (vor allem auch zu jener der Erfassung) vorzusehen. So kann eine Abweichungsanalyse offenbaren, dass einzelne Risiken schon bei der Erfassung un­ berücksichtigt blieben oder dass zentrale Planungsprämissen, also Annahmen zur be­ trieblichen Planung sich änderten und dass das dahinter stehende Risiko in Zukunft explizit als zielrelevantes Risiko zu behandeln ist. So wie alle Phasen der Führung im Allgemeinen haben auch jene des Risiko­ managements mit „Information“ zu tun. Für die Unternehmensführung unerlässlich sind die Dokumentation vor allem von Entscheidungsgrundlagen und die Bericht­ erstattung zum Inhalt der einzelnen Phasen (Risiko-Reporting; vgl. z. B. Diederichs 2012, S. 163 ff.).

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3 Ansatzpunkte für ein Controlling im Prozess des Risikomanagements Der Inhalt von „Controlling“ wird in der wissenschaftlichen Literatur seit Langem ei­ nerseits von der Empirie ausgehend und andererseits über „theoretische“ Ansätze konkretisiert und fortentwickelt. Controlling in der Wirtschaftspraxis weist in der Re­ gel drei grundlegende Merkmale auf: – Planungs- und Kontrollbezug, – Informationsbezug und – Nähe zum Management (vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 37 ff.; ferner Wolke 2016, S. 300 f. in Bezug auf „Risikocontrolling“). Theoretische Ansätze, die durchaus diese empirischen Merkmale einbeziehen, sind die Konzeptionen, Controlling – als Koordinationsfunktion in einem arbeitsteiligen Führungssystem und – als Funktion der Sicherung einer rationalen Unternehmensführung zu entwerfen (vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 37 ff.; ferner Wolke 2016, S. 300 f. in Be­ zug auf „Risikocontrolling“). Auf der Grundlage dieser induktiven und deduktiven Konzeptionen eines Controllings werden nun konkrete Ansatzpunkte für ein „Risi­ kocontrolling“ erarbeitet.

3.1 Planung, Kontrolle und Informationsversorgung Hinter dem Controllingkonzept, das auf Planung und Kontrolle sowie die damit ein­ hergehende Informationsversorgung fokussiert, steht eine Führung durch Ziele und Pläne sowie ein kybernetisches Verständnis von Management. Einzelne und GesamtRisiken können nur dann gesteuert werden, wenn diesbezügliche Ziele vorliegen („Ri­ siko-Ziele“); auf strategischer Ebene geht es um die Entwicklung, Etablierung und Pflege einer Risikokultur und um langfristige Ziele zu einzelnen Risikoarten, nach Möglichkeit ausgedrückt mittels „Risiko-Kennzahlen“; auch der Aspekt der Risiko­ tragfähigkeit, vornehmlich durch eine adäquate Ausstattung mit Risikokapital, spielt hier herein. Ein „strategisches Risikocontrolling“ hat dafür zu sorgen, dass man sich Gedanken über eine Risikokultur und über strategische Ziele zur Steuerung von Risi­ ken macht, es hat einen solchen Prozess anzustoßen, zu organisieren und zu beglei­ ten, es hat auch für die Überleitung auf die operative Ebene zu sorgen. Operative Ziele zum Risikomanagement fokussieren auf (periodenbezogene) Risikopositionen, abge­ bildet z. B. durch eine Cash-Flow-at-Risk-Zielgröße; ein Risikocontrolling kann hier etwa auf die Abbildung von Zielgrößen, gegebenenfalls integriert in eine Balanced Scorecard, oder auf Zielbeziehungen fokussieren.

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Auf der Grundlage strategischer und operativer Risikoziele ist es die Aufgabe der Planung, über Steuerungsmaßnahmen für zieloptimale Risikopositionen zu sorgen. Ein Risikocontrolling kann das Management unterstützen z. B. bei der Generierung von Handlungsmöglichkeiten, bei der Differenzierung von Szenarien, bei der Ablei­ tung des Ergebnisraums, bei der Auswahl der besten Aktionen und bei der begleiten­ den Steuerung der Maßnahmenumsetzung. Und da zu jeder Planung eine solche Kon­ trolle (bis hin zu Abweichungsanalysen und bis zur Ausarbeitung und Umsetzung von Korrekturmaßnahmen) gehört, liegt hier ein weiteres Aufgabenfeld für ein Risikocon­ trolling. Hervorheben wollen wir, dass es gemeinhin nicht die Aufgabe eines Risikocontrol­ lings ist, Zielgrößen selbst vorzugeben und Maßnahmen der Risikosteuerung selbst auszuwählen. Vielmehr sind die Festlegung von Zielen und die Maßnahmenbestim­ mung zentrale Führungsentscheidungen, also Aufgaben des Risikomanagements; um diesen Kern des Risikomanagements herum kann es sich eines Risikocontrollings be­ dienen. Die im (Risiko-)Managementprozess „generierten Informationen bilden die ‚Spra­ che‘ der Planung und Kontrolle“ (Weber/Schäffer 2016, S. 38). Ein Risikocontrolling kann sich um die Generierung, Verarbeitung, Bereitstellung und richtige Interpretati­ on von Informationen in den Phasen des Risikomanagements kümmern. Dieser Infor­ mationsbezug des (Risiko-)Controllings tritt bei den Konzepten der Koordination und der Sicherung der Rationalität deutlich hervor. Auch ein (Risiko-)Controlling steht in einer engen Nähe zum (Risiko-)Manage­ ment. Diese Nähe entspringt einer Delegation von Aufgaben vom Management an das Controlling, demnach soll das Controlling unterstützende Leistungen für das Manage­ ment erbringen. Das Spektrum möglicher Aufgaben reicht von „einfachen Informati­ onsaufgaben . . . bis zu einer komplexen Counterpartfunktion“ (Weber/Schäffer 2016, S. 38). Es liegt am Management, einzelne Aufgaben zu delegieren, eine saubere Ab­ grenzung zur eigentlichen Führung ist vielfach nicht möglich. Der Interaktion zwi­ schen Management und Controlling kommt eine zentrale Bedeutung zu (zu diesen Aspekten der „Nähe zum Management“ vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 38 f.). Eine Aufgabendelegation ist für Organisationen wie Unternehmen etwas Selbst­ verständliches. So werden Manager Aufgaben dann delegieren, wenn erstens ihre Ka­ pazitäten nicht ausreichen und/oder zweitens Aufgaben durch Andere besser bezie­ hungsweise schneller ausgeführt werden können und/oder drittens die Ausführung von Aufgaben durch Andere „billiger“ kommt (vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 42, Her­ vorhebung auch im Original). Es ist das Management, das einzelne Aufgaben der Unternehmensführung an das Controlling delegiert. Insofern trägt das Management die Verantwortung für das in sei­ nem Unternehmen institutionell und funktional eingerichtete Controlling. Man könn­ te sagen, das Management hat jenes Controlling, das es selbst eingerichtet hat (und damit eines, das es insofern „verdient“).

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3.2 Koordination Das koordinationsorientierte Konzept von Controlling fokussiert auf eine intra- und in­ tersystemische Koordination innerhalb des Führungssystems, ist also eine „Meta-Füh­ rung“. In Bezug auf das Risikomanagement als Teil der Unternehmensführung kann sich ein Risikocontrolling mit risikobezogenen intra- und intersystemischen Koordi­ nationsaufgaben in einem systembildenden und systemkoppelnden Sinn beschäfti­ gen. Grundlage ist die Differenzierung des Führungssystems in Teilsysteme (wie Pla­ nung, Kontrolle, Informationsversorgung, Organisation und Personalführung); der Fokus liegt auf der Koordination innerhalb und zwischen den Führungsteilsystemen. Ein „Risikocontrolling“ ist demnach erstens dafür verantwortlich, Systeme des Risikomanagements einzurichten („systembildende Koordination“), wie z. B. ein Pla­ nungs- und Informationssystem, das für ein bestimmtes Risiko die Ermittlung der Kennzahl Cash-Flow-at-Risk erlaubt, oder ein Kontrollsystem, das zu Risiko-Plangrö­ ßen die zugehörigen Ist-Größen liefert, allfällige Abweichungen ermittelt und gegebe­ nenfalls auch für Abweichungsanalysen sorgt. Zweitens hat ein Risikocontrolling für das Laufen des Risikomanagementsystems zu sorgen („systemkoppelnde Koordinati­ on“), d. h. z. B. im Rahmen des operativen Planungshorizonts für ein konkretes Risiko Kennzahlen wie Erwartungswert oder Cash-Flow-at-Risk zu ermitteln, vorzugeben, ex post die Ist-Ausprägungen abzubilden, den Plangrößen gegenüberzustellen, für eine Abweichungsanalyse zu sorgen und Korrekturmaßnahmen anzustoßen etc. Probleme des koordinationsorientierten Ansatzes liegen erstens in der prakti­ schen Schwierigkeit, zwischen Führungs- und Ausführungssystem trennscharf zu unterscheiden, zweitens im Problem der Führungsteilsystemabgrenzungen und drit­ tens in der Schwierigkeit der Abgrenzung dieses (Risiko-)Controllings zu traditio­ nellen Teildisziplinen der Betriebswirtschaftslehre. Ein derart verstandenes (Risiko-) Controlling legt letztlich die Verantwortung für die Gestaltung des gesamten (Risiko-) Managements in die Hände des Controllings; Controlling wird hier zur „Metafüh­ rung“. Obendrein bewegt sich diese Konzeption eines (Risiko-)Controllings sehr weit weg von den Schwerpunkten eines (Risiko-)Controllings in der Wirtschaftspraxis (zu dieser Kritik am koordinationsorientierten Ansatz eines Controllings vgl. Weber/ Schäffer 2016, S. 26 f., und die dort angegebene weitere Literatur).

3.3 Sicherung der Rationalität: Entlastung, Ergänzung und Begrenzung „Controlling als Rationalitätssicherung der Führung“ zu konzipieren, das ist ein theo­ retischer Ansatz zum Controlling, der auf den Kritikpunkten zur koordinationsorien­ tierten Konzeption aufbaut und der dank der Einbeziehung der typischen Merkma­ le eines Controllings in der Wirtschaftspraxis eine große Übereinstimmung mit der praktischen Entwicklung erreicht. Im Übrigen geht es bei (Risiko-)Controlling-Theo­

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rien nicht um richtig oder falsch, sondern um die Kategorien zweckmäßig und un­ zweckmäßig; sie sind „wie Brillen, die man für einen bestimmten Zweck aufsetzt und die für andere Zwecke weniger geeignet sind“ (Weber/Schäffer 2016, S. 36). Ein Risikocontrolling kann demnach die generelle Aufgabe der Rationalitätssi­ cherung in den einzelnen Phasen des Risikomanagements übernehmen. Es hat die Funktion, Rationalitätsdefizite im Umgang mit Risiken zu erkennen, zu vermindern und zu beseitigen. (Auch) Diese Funktion dient einer effektiven und effizienten Füh­ rung des Unternehmens. Grundlage dieses rationalitätsorientierten Ansatzes ist eine Führung durch Ziele; Manager als die zentralen ökonomischen Akteure im Unternehmen nutzen Instru­ mente beziehungsweise Modelle zur Lösung von Entscheidungsproblemen. In der klassischen ökonomischen Theorie geht man von der Annahme aus, für ein Entschei­ dungsproblem stünde stets das richtige Modell zur Verfügung, es würde von allen Akteuren verstanden, man kenne alle maßgeblichen Variablen und die Ursache-Wir­ kungs-Beziehungen und man könne letztlich die optimale Vorgehensweise ableiten. Mithin geht man von der Annahme aus, die Modelle und die Aufgabenträger erfüll­ ten die Anforderungen der eingesetzten Modelle (vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 39). Rationalitätsdefizite können – auf der Ebene der Modelle und – auf der Ebene der Aufgabenträger (Manager) auftreten. Auf der Modellebene betreffen sie vornehmlich die fehlende Möglichkeit, alle maßgeblichen unabhängigen Variablen und die Abhängigkeiten zwischen unab­ hängigen und abhängigen Variablen zu kennen (vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 39). Ge­ rade bei der Identifikation, Analyse und Bewertung von Risiken ist man nicht nur, aber vor allem wegen des Außenbezugs zur Makro- und Wettbewerbsumwelt mit derartigen Begrenzungen massiv konfrontiert. Auf der Ebene der Aufgabenträger liegen Ursachen für Rationalitätsdefizite in der Führung besonders in den begrenzten kognitiven Fähigkeiten des Menschen und in der Möglichkeit opportunistischen Verhaltens. Kognitive Begrenzungen wirken bei der Wahrnehmung von Problemen wie bei der Identifikation von Risiken, bei der Progno­ se von künftiger Entwicklungen wie der Branchenkonjunktur oder der Zinssätze für Fremdkapital, oder bei der Bewertung von Handlungsmöglichkeiten, wenn etwa sehr viele Kriterien maßgeblich sind und ein „stimmiges Gesamturteil“ gefragt ist. Bei den Aufgabenträgern ist ferner die Möglichkeit opportunistischen Verhaltens anzusiedeln: Haben Manager („Agenten“) andere als die vom „Prinzipal“ vorgegebenen Ziele vor dem Hintergrund eines Informationsvorsprungs, dann entsteht für den Agenten ein Raum, diese Ziele (auch) gegen den und vor allem ohne Wissen des Prinzipals zu ver­ folgen. Auch bewusste Täuschung und Betrug würde man unter opportunistischem Verhalten subsumieren (zu diesen Ebenen von Rationalitätsdefiziten vgl. Weber/ Schäffer 2016, S. 39 f.; im Detail etwa zur Erklärung von Entscheidungsanomalien Kahneman/Tversky 1979, S. 263 ff., Kahneman/Tversky 1992, S. 297 ff.).

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Für die Erledigung einer Führungsaufgabe braucht der Entscheidungsträger so­ wohl das nötige Können als auch das adäquate Wollen. Über die Dimensionen „Kön­ nen“ und „Wollen“ des Managers in einer bestimmten Entscheidungssituation kommt man zur Differenzierung der Controllingaufgaben in solche der Entlastung, Ergän­ zung und Begrenzung (zu dieser Differenzierung und den folgenden Merkmalen von Entlastungs-, Ergänzungs- und Begrenzungsaufgaben im Allgemeinen, d. h. ohne ausdrücklichen Bezug zum Risikomanagement und -controlling, vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 43 ff.): – Können und Wollen des Managers sind problemadäquat und wird die Aufgabe delegiert, dann liegt eine „Entlastung“ vor; – der Manager hat ein der Aufgabe adäquates Wollen, aber Könnensdefizite und wird die Aufgabe delegiert, dann liegt eine „Ergänzung“ vor; – unabhängig vom Können des Managers ist das Wollen des Managers nicht pro­ blemadäquat und werden Aufgabenelemente delegiert, dann liegt eine „Begren­ zung“ vor. „Entlastung“ bietet ein Risikocontrolling dann, wenn es delegierte Aufgaben besser, schneller, mit geringerem Aufwand etc. ausführen kann. Das kann Aufgaben wie die Auswahl von Instrumenten der Risikoidentifikation („Methodenhoheit“), die Bericht­ erstattung zu Risiken, Abweichungsanalysen zu Risikopositionen und Ähnlichem be­ treffen. Das Risikocontrolling nimmt die Funktion eines Zulieferers an das Risikoma­ nagement wahr, der Nutzen seines Tuns ist unmittelbar ersichtlich, so wird die Effizi­ enz der Führung gesteigert. „Ergänzung“ betrifft Aufgaben, die der delegierende Manager in Bezug auf Um­ fang, Inhalt und Ergebnis nicht völlig beherrscht. In dieser Situation kann der Mana­ ger – in eine selbst gewählte Ergänzung gehen: Ein Risikocontrolling soll sich z. B. mit der Bewertung leistungswirtschaftlicher Risiken mittels der Kennzahl CashFlow-at-Risk beschäftigen. – eine Ergänzung vorgesetzt, also oktroyiert erhalten: Ein Risikocontrolling soll die Bewertung von Wechselkurs- oder von Bonitätsrisiken „noch einmal durchse­ hen“; so sollen mögliche Fehler und Verzerrungen „durch den klaren Blick der Zentrale geheilt“ (Weber/Schäffer 2016, S. 44) werden. Die „Begrenzung“ kann als Sonderfall der „aufgezwungenen Ergänzung“ gesehen werden: Im Fall von Wollensdefiziten und unabhängig vom Manager-Können wer­ den hier z. B. zentrale Prämissen bei der Identifikation, Analyse und Bewertung von Risiken oder auch opportunistische Verhaltensweisen durch ein Controlling geprüft. Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen der „freiwilligen“ und der „erzwunge­ nen“ Delegation von (Teilen von) Aufgaben an eine Risikocontrolling. „Freiwillig“ be­ deutet, der Manager selbst nimmt sie vor, um die Effektivität und Effizienz seiner Füh­ rungsarbeit zu steigern. Hier wird ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Manager

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und Controller entstehen und auch nötig sein, schließlich kann die Ergänzung auch bewusst als Einladung zum Widerspruch gedacht werden; und nur hier hat ein Ma­ nagement jenes Controlling, für das es selbst sorgt. Der Controller wird zum „Busi­ ness Partner“ des Managers (zur Rolle des „Business Partners“ vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 17). Im Fall einer erzwungenen Einschaltung wird dagegen in der Regel eine Atmosphäre der mehr oder weniger starken Konfrontation entstehen. Zweifellos sind die Charakterisierungen Entlastung, Ergänzung und Begrenzung Idealtypen mit fließenden Übergängen, sie vermögen allerdings eine klare Botschaft zu transportieren. Verbindet man sie mit dem Aspekt der Sicherung einer rationalen Unternehmensführung, so gilt: Entlastung bedeutet größtenteils eine reine Unterstüt­ zung des Managements bei unproblematischen Aufgaben, so dass Rationalitätssiche­ rung durch ein Controlling hier kaum Bedeutung hat. Freiwillige Ergänzung ist dage­ gen jenes Feld, auf dem ein Controlling seine rationalitätssichernde Funktion gemäß dem Auftrag des und im vertrauensvollen Einvernehmen mit dem Management erfül­ len kann. Entlastung und freiwillige Ergänzung werden beim Controlling realiter im Mittelpunkt stehen. Die aufgezwungene Ergänzung mit dem Spezialfall der Begren­ zung wird realiter den Ausnahmefall darstellen, schließlich existieren andere Organe innerhalb (wie Beiräte oder auch die Interne Revision) und außerhalb des Unterneh­ men (wie Aufsichtsrat), um Manager in dieser Weise zu ergänzen und vor allem zu begrenzen. Mit der Funktion der Rationalitätssicherung unterstützt ein Risikocontrolling das Risikomanagement. Es ist die Entscheidung des Managements, welche Aufgaben in den Phasen des Risikomanagementprozesses an ein Risikocontrolling delegiert wer­ den; von einer dem Management aufgezwungenen Ergänzung beziehungsweise Be­ grenzung sehen wir hier ab. Die Einschaltung eines Risikocontrollings soll die Ef­ fektivität und Effizienz der Führung in Bezug auf Risiken sicherstellen: Bei der Ent­ lastung steht die Effizienz, also die Verbesserung des Input-Output- beziehungsweise Aufwands-Ertrags-Verhältnisses im Vordergrund, wie z. B. dank einer billigeren Auf­ gabendurchführung; die Effizienz stellt die Frage, ob etwas richtig (im Sinne von Wirt­ schaftlichkeit) gemacht wird. Bei der Ergänzung sind sowohl die Effektivität, die die Frage nach dem richtigen Tun, also nach der Zielrelevanz eines Outputs stellt, als auch die Effizienz relevant.

4 Risikocontrolling als Rationalitätssicherung im Prozess des Risikomanagements 4.1 Zweckrationalität und Rationalitätsebenen „Rationalität“ kann inhaltlich unterschiedlich gefasst werden. In der Ökonomie ist sie als „(Mittel-) Zweckrationalität“ konzipiert, es geht um die Optimierung des Mittelein­

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satzes für die Ziele des konkreten Unternehmens; diese „instrumentelle Rationalität“ beschrieb Immanuel Kant als hypothetischen Imperativ: „Wenn du X willst, dann ma­ che Y!“. Rationalität im Sinne des „kategorischen Imperativs“ wären dagegen verall­ gemeinerbare Handlungsmaximen, die zu einer Pflichtenethik führen („Was ist kraft Vernunft zu tun geboten?“); diese Rationalität ist hier nicht gemeint (zum Inhalt von Rationalität im Sinne des kategorischen Imperativs und der Instrumentalität bei Im­ manuel Kant vgl. vor allem Sandel 2013, S. 165 ff.). Die „ökonomische Rationalität“ stellt nach herrschender Meinung auf eine Mit­ tel-Zweck-Relation ab. Selbstverständlich ist auch diese Einschätzung lediglich eine vorläufige, eine relative in Bezug auf das aktuell vorhandene Wissen, den State of the Art zu einem Problem (vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 50). Soll ein Controlling die öko­ nomische Rationalität sicherstellen, dann haben die Funktionsträger die Weiterent­ wicklung des State of the Art – z. B. zur Identifikation, Bewertung und Steuerung von Risiken – zu verfolgen, zu verinnerlichen und gegebenenfalls die im Unternehmen eingesetzten Instrumente, Kennzahlen etc. anzupassen. Stehen Methoden, Maßgrö­ ßen, Interpretationen von Kennzahlen usw. in deutlichem Widerspruch zum State of the Art, so liegt ein Verstoß gegen die ökonomische Rationalität vor. Es ist die Auf­ gabe eines rationalitätssichernden Controllings, solche Defizite zu erkennen und zu vermindern oder zu beseitigen. Der Inhalt der Rationalität, die richtigen Mittel für ein gegebenes Ziel beziehungs­ weise gegebene Mittel für den richtigen Zweck (Effektivität) und die Mittel stets opti­ mal einzusetzen (Effizienz), lässt sich auf die Ebenen der Inputs, der Prozesse und der Ergebnisse von Managementhandlungen herunterbrechen (hierzu und zu den folgen­ den Ausführungen vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 53 ff.): – „Inputrationalität“ fokussiert auf die eingesetzten (Entscheidungs-)Modelle sowie auf das Können und Wollen der Akteure; – „Prozessrationalität“ betrifft die Anwendung von Modellen, die Verarbeitung von Wissen und Informationen und die Beachtung von Anwendungsprämissen; – „Outputrationalität“ ist auf das Ergebnis von Modellen, auf seine adäquate Ablei­ tung, Beurteilung und auf seine Plausibilität gerichtet.

4.2 Rationalität auf der Ebene der Entscheidungsmodelle Auf der Inputebene bedeutet Rationalitätssicherung, Modelle vor ihrer Anwendung zu prüfen. Dabei geht es um – die Vermeidung einer mangelnden Modelleignung, – die Vermeidung von Könnensdefiziten und – die Vermeidung von Wollensdefiziten (vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 57). In Bezug auf ein Risikocontrolling, das in Phasen des Risikomanagement-Prozesses unterstützend im Sinne einer Rationalitätssicherung wirkt, zielt die Prüfung der Mo­

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delleignung erstens auf die grundsätzliche Adäquanz eines Instruments für das zu lö­ sende Problem und zweitens auf die Erfüllung der instrumentenspezifischen Anwen­ dungsprämissen (vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 57): In der Phase der Risikoidentifikation stehen vor allem die Modelle beziehungswei­ se Instrumente des Brainstorming, der Frühwarnsysteme, des Risikoinventars, der Checklisten und der Szenario-Analyse zur Verfügung. Ein Risikocontrolling, das die Instrumentenhoheit (im Sinne einer systembildenden Koordination) innehat, wird diese Instrumente zunächst danach ordnen, inwieweit sie Risiken unsystematisch oder systematisch erfassen und inwieweit sie auf Einzelrisiken oder auf aggregierte Risiken fokussieren. In der Regel wird ein Risikocontrolling nicht nur ein einziges Vorgehen, sondern einen „Instrumenten-Mix“ zusammenzustellen. Zur konkreten In­ formationsgewinnung innerhalb dieser Instrumente können etwa Besichtigungen, Dokumentenanalysen, Organisationsanalysen oder Mitarbeiterbefragungen dienen (vgl. z. B. Burger/Buchhart 2002, S. 68 ff.). In Bezug auf die Adäquanz eines Instruments macht es einen essentiellen Un­ terschied, ob man im Sinne eines Screening zunächst einmal auf einzelne relevante Risikoarten stoßen will – hier kann etwa ein Brainstorming einen ersten Zugang bie­ ten – oder ob es schon konkreter um die Identifikation von Wechselkurs-, von Boni­ tätsrisiken bei einzelnen Kunden, von Maschinenbruchrisiken, von Risiken des KnowHow-Abflusses bei Humanressourcen usw. geht (vgl. Burger/Buchhart 2002, S. 34). In Bezug auf die Anwendungsvoraussetzungen ist z. B. zu prüfen, ob Branchenspezifika in Checklisten berücksichtigt sind oder ob bei Frühwarnsystemen eine ausreichen­ de statistische Datenbasis oder die Kenntnis der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge (Strukturmodelle) gegeben ist (vgl. Burger/Buchhart 2002, S. 81 f.). In der Phase der Analyse und Bewertung von Risiken können auf der Ebene von Einzelrisiken Instrumente wie das Risikoinventar, die Risk Map oder die SzenarioTechnik zur Analyse und die Kennzahlen (Schadens-)Erwartungswert, Value-at-Risk oder Cash-Flow-at-Risk und die Instrumente Sensitivitätsanalyse, Klassifikation oder Scoring zur Bewertung im engeren Sinn eingesetzt werden. Stets ist zu prüfen, ob die Anwendungsvoraussetzungen eines Instruments erfüllt sind. Besonders augen­ scheinlich wird dies etwa beim Cash-Flow-at-Risk: Er stellt ein Risikomaß für zukünf­ tige Cash Flows dar, die Einbuße an Cash Flow ist mit der Wahrscheinlichkeit des Konfidenzintervalls nicht größer als der errechnete Cash-Flow-at-Risk; eine der zen­ tralen Voraussetzungen liegt im Bewertungsmodell, vornehmlich in der Wahrschein­ lichkeitsverteilung, die in der Regel auf Verteilungsannahmen beziehungsweise Schätzungen in Bezug auf die zugrundeliegenden Cash Flows beruht; besonders die Verlässlichkeit solcher Schätzungen und im Fall historischer Analysen die Über­ tragbarkeit in die Zukunft sind kritisch zu reflektieren (zu Instrumenten der Analyse und Bewertung vgl. Burger/Buchhart 2002, S. 91 ff., zur Kennzahl Cash-Flow-at-Risk Burger/Buchhart 2002, S. 136 ff., ferner Wolke 2016, S. 30 ff.). Zur Aggregation und Quantifizierung einer Mehrzahl von Risiken kann etwa das Instrument des Risiko­ profils dienen, zur Bewertung extremer Risiken der Crash-Test, zur einheitlichen

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Bewertung von quantitativen und qualitativen Risiken das Scoring-Modell, zur in­ tegrierten Bewertung von Risiken das Risiko-Portfolio (Chancen/Risiken-Portfolio, Risk-Reward-Portfolio etc.) (vgl. Burger/Buchhart 2002, S. 147 ff.). Der große Pool an möglichen Analyse-und Bewertungsinstrumenten stellt ein Ri­ sikocontrolling mit Methodenhoheit vor die Herausforderung, einen adäquaten Mix an Instrumenten auszuwählen. Auf die Erfüllung der Anwendungsvoraussetzungen, wie z. B. statistischer Natur, ist obendrein zu achten. In der Phase der Steuerung von Risiken geht es um die Entscheidung, analysierte und bewertete relevante Risiken zu akzeptieren, zu vermindern, zu vermeiden oder zu überwälzen. Die Entscheidung darüber ist eine ureigene Managemententscheidung und wird im Allgemeinen nicht an ein Risikocontrolling delegiert werden. Eine un­ terstützende Leistung kann es durchaus bei der Entwicklung der Entscheidungsma­ trix und der Bewertung von möglichen Steuerungsmaßnahmen geben. So wie generell beim Controlling ist auch hierbei darauf hinzuweisen, dass ab einem gewissen Grad der Entscheidungsvorbereitung die Entscheidung de facto gefallen ist, als präjudiziert wird, ohne dass der Controller nach außen hin die Verantwortung hierfür trägt, denn formal entscheidet der Manager. In der Phase der Kontrolle von Risiken übernimmt das Risikocontrolling Soll-IstVergleiche, die Ermittlung und Analyse von Abweichungen, die Identifikation von Verantwortlichkeiten für Abweichungen, gegebenenfalls auch die Einleitung von Kor­ rekturmaßnahmen. Besonders die Abweichungsanalyse stellt angesichts möglicher Vereinfachungen im zugrunde liegenden Bewertungsmodell oder wegen allfälliger ex­ terner Effekte eine große Herausforderung speziell für das Risikocontrolling dar. Er­ kenntnisse aus der Korrekturphase können und werden zurückwirken etwa auf die Auswahl von Instrumenten der Bewertung von Risiken. Instrumente des Risiko-Reporting sind etwa die Risk Engine oder die Risk Map. Diese Berichterstattung bietet Informationen über die Art von Risiken, ihre Einfluss­ faktoren, ihren zeitlichen Verlauf, ihr Gefährdungspotenzial, über das Zusammenwir­ ken von Einzelrisiken etc. Das Risiko-Reporting dokumentiert zum einen die Entschei­ dungsgrundlagen für die Steuerung von Risiken und zum anderen erfüllt es ex post den Zweck der Kontrolle. Kriterien wie die Wesentlich-, die Rechtzeitig-, die Genauigund die Vollständigkeit sind relevant (vgl. Burger/Buchhart 2002, S. 175 ff.). Das Risiko-Reporting stellt gemeinhin eine zentrale Aufgabe des Risikocontrol­ lings dar. Auch hier ist eine große Methodenkenntnis gefordert, wie z. B. bei einer Risk Engine, die in ihrem Kern ein Business-Risk-Model enthält, in dem die Zusam­ menhänge zwischen Risikofaktoren und finanziellen Größen wie Cash Flow oder Net Operating Profit gezeigt werden (vgl. Burger/Buchhart 2002, S. 180). Die Adäquanz von Instrumenten und die Erfüllung der Anwendungsprämissen sind immer wieder zu hinterfragen. Könnensdefizite auf der Inputebene betreffen die Frage, ob die beteiligten Akteu­ re erstens mit dem Modell an sich und zweitens mit seinen Anwendungsprämissen vertraut sind (vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 57). Das betrifft vornehmlich den Akteur

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„Risikomanager“, aber auch andere Personen, die innerhalb und außerhalb des Un­ ternehmens und mit dem Risikomanagement in Verbindung stehen, wie z. B. ein Auf­ sichtsrat oder eine Gesellschafterversammlung. Hat das Risikocontrolling die Methodenhoheit und liegt es in seiner Verantwor­ tung, dem State of the Art entsprechende Instrumente im Risikomanagement ein­ zusetzen, so ist es auch seine Bringschuld, den diesbezüglichen Kenntnisstand der Adressaten (dezent) zu erheben und für eine adäquate Unterrichtung von Akteuren im Risikomanagement zu sorgen. So kann etwa die Kennzahl Cash-Flow-at-Risk sehr hilfreich sein, ohne eine explizite ökonomische Ausbildung (und selbst dann, wenn sie vorliegt) ist eine adäquate Einschätzung ihrer Brauchbarkeit und der Anwen­ dungsprämissen bei vielen Akteuren des Risikomanagements kaum zu erwarten. Wollensdefizite auf der Inputebene betreffen die Fragen, ob eingesetzte Modelle an sich und ihre Anwendungsprämissen vor dem Opportunismus einzelner Akteure geschützt sind (vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 57). Das kann Instrumente der Erfassung betreffen, in denen subjektive Einschätzungen unverzichtbar sind und wo – ganz im Geiste von „Planentstehungskontrollen“ – eine kritische Reflexion von Einschät­ zungen, die etwa im Rahmen von Befragungen erfolgen, angezeigt ist. Ein Risiko­ controlling wird sich explizit damit beschäftigen, ob und wo Anwendungsprämissen eine zentrale Bedeutung haben und inwieweit sie opportunistisch ausgefüllt werden können. Raum für Opportunismus könnte vornehmlich durch Risikomanager auch in der Weise genutzt und damit missbraucht werden, dass einzelne Parameter wie subjektive Wahrscheinlichkeiten in Bewertungsmodellen zielorientiert beeinflusst werden, um gewünschte Ergebnisse zu erhalten, ganz im Sinne des – aus Sicht einer rationalen Führung zu vermeidenden – Mottos: „Wir rechnen jede Zahl.“ Ein Risikocontrolling kann – in der Funktion der freiwilligen Begrenzung – dem Management die Folgen einer solchen Gestaltung „unter vier Augen“ aufzeigen.

4.3 Rationalität auf der Prozessebene Die „Prozessrationalität“ fokussiert auf die Instrumente in ihrer Anwendung. Ein Ri­ sikocontrolling stellt die Fragen, ob die Akteure des Risikomanagements ein ausrei­ chendes Wissen zur Modellanwendung besitzen, ob sie die hierfür nötigen Informa­ tionen generieren und richtig verarbeiten und ob die Modellanwendung einem „SollVerlauf“ entspricht (vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 57). Beispielsweise ist für die Berechnung eines Cash-Flow-at-Risk eine Wahrschein­ lichkeitsverteilung einer konkreten Cash-Flow-Größe (z. B. Cash Flow from Operating Activities auf der Basis von Cash and Cash Equivalents oder gegebenenfalls eine Form des Free Cash Flows) nötig, es sind z. B. bei einer historischen Analyse zur Gewin­ nung der Verteilung adäquate Daten erforderlich, ein Konfidenzintervall ist anzuneh­ men etc. Ein Risikocontrolling mit Methodenhoheit implementiert ein solches Berech­

Risikocontrolling

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nungsmodell und es ist seine Bringschuld, im Fall eines vermuteten unzureichen­ den Wissens bei einzelnen Akteuren des Risikomanagements einen entsprechenden Kenntnisstand herzustellen. Ebenso hat es dafür zu sorgen, dass die für das Modell nötigen Informationen generiert und richtig verarbeitet werden. Ein durch das Risiko­ controlling vorgegebener „Soll-Ablauf“ kann auf der Prozessebene als Leitfaden fun­ gieren. Da bei der Anwendung von Instrumenten viele Fehler gemacht werden können, kommt der Sicherung der Prozessrationalität durch ein Risikocontrolling eine zentrale Bedeutung zu. Die Bereitstellung von Fachwissen zum Modelleinsatz – bis hin zur „Schulung“ von Akteuren und zur Festlegung von „Spielregeln“ – stellt realiter eine Kernaufgabe des Controllings dar (vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 56). Vornehmlich auf der Prozessebene können auch kognitive Verzerrungen eine gro­ ße Rolle spielen. Man denke etwa an den Effekt des „Group Think“, der für Teams eine Tendenz zu der Illusion der Einmütigkeit und zu einem übersteigerten Risikoverhalten enthält. Auch auf solche – im sogenannten „Behavioral Controlling“ beschriebene – Wirkungen kann ein rationalitätssicherndes Risikocontrolling gerichtet sein (vgl. die grundlegenden Werke in Bezug auf die „Prospect Theory“ Kahneman/Tversky 1979, S. 263 ff., und in Bezug auf das „Mental Accounting“ Thaler 1985, S. 199 ff., sowie Tha­ ler 1999, S. 183 ff.).

4.4 Rationalität auf der Ergebnisebene Auf der Ebene der Ergebnisse geht es bei der Reflexion erstens darum zu prüfen, ob das Modellergebnis methodisch den Soll-Anforderungen entspricht, zweitens ob es auch inhaltlich gesetzten Anforderungen (wie Toleranzbereichen oder Hurdle Rates) gerecht wird und drittens ob das Modellergebnis auch plausibel erscheint (vgl. Weber/ Schäffer 2016, S. 57). Ein Risikocontrolling kann Kennzahlen technisch beurteilen, wie z. B. die Ein­ haltung eines vorgegebenen Konfidenzintervalls beim Cash-Flow-at-Risk prüfen oder das Problem der Scheingenauigkeit, vor allem bei Prognosegrößen, thematisieren, es kann ermittelte Ergebnisse mit Schwellenwerten, Benchmarks usw. vergleichen und es wird besonderes Augenmerk auf die Prüfung der Plausibilität der Ergebnisse legen. Fachwissen, Erfahrung und „ökonomischer Hausverstand“ versetzen ein Ri­ sikocontrolling in die Lage, Modellergebnisse zu evaluieren, bevor sie mittels eines Risiko-Reportings dokumentiert und an Adressaten zur Information oder – im Fall der Risikosteuerung – zur Entscheidung über das weitere Vorgehen berichtet werden.

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5 Resümee „Controlling“ verstehen (auch) wir als eine auf die Sicherung einer rationalen Unter­ nehmensführung ausgerichtete Institution und Funktion. Es unterstützt das Manage­ ment im Sinne einer Entlastung, Ergänzung und Begrenzung. Es liegt im eigenen In­ teresse des Managements, sich zur Verbesserung der Effektivität und der Effizienz der Führung ein adäquates Controlling zuzulegen. Ein „Risikocontrolling“ erhält Aufgaben in den Phasen des Risikomanagement­ prozesses delegiert (Identifikation, Analyse und Bewertung, Steuerung, Kontrolle, Re­ porting) in systembildender (Instrumentenhoheit) und systemkoppelnder Art (kon­ kreter Einsatz der Instrumente); z. B. entscheidet das Risikocontrolling über die In­ strumente zur Erfassung der vielfältigen Risiken oder über die Verwendung konkreter Kennzahlen der Bewertung, wie z. B. eines Cash-Flow-at-Risk, ebenso trägt es die Verantwortung für den konkreten Instrumentenlauf, für die Berechnung gewählter Kennzahlen etc. Entscheidungen zur eigentlichen Steuerung von Risiken (Akzep­ tanz, Verminderung, Vermeidung, Überwälzung) sind dem Management vorbehalten, wenngleich ein Risikocontrolling diese vorbereiten und begleiten kann. Auch das Ri­ siko-Reporting zählt zu den Kernaufgaben eines Risikocontrollings. Wissensdefizite der Akteure auf der Inputebene kann das Risikocontrolling durch Schulungen, Leit­ fäden, Interpretationshilfen (vor allem zu Kennzahlen) etc. zu beheben versuchen. Für „Inputrationalität“ sorgt ein Risikocontrolling, indem es vornehmlich die Ad­ äquanz und das Vorliegen der Anwendungsprämissen bei Instrumenten beurteilt und diesbezügliche Könnens- und Wollensdefizite der Akteure vermeidet. „Prozessratio­ nalität“ fokussiert auf Fehler bei der Verwendung von Instrumenten, auch auf einen Raum für opportunistisches Verhalten der Akteure und auf dessen Vermeidung. „Out­ putrationalität“ stellt auf die Ergebnisse von Instrumenten ab; das Augenmerk liegt auf dem methodischen Soll-Ablauf, auf inhaltlichen Kriterien wie Schwellenwerten und auf der Prüfung der Plausibilität der Ergebnisse. Controlling wurde vielerorts auch mit Rollenbildern charakterisiert; internatio­ nal entwickelte sich das heutige Bild des „Business Partners“. Risikocontrolling ist demnach „Partner“ des Risikomanagements, es agiert auf gleicher Augenhöhe (vgl. Weber/Schäffer 2016, S. 17). Das Rollenbild des Business Partners und das skizzierte weite mögliche Aufgabenfeld eines Risikocontrollings lassen eine Vielfalt an realen Gestaltungen zu.

Risikocontrolling

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Literatur Ahlemeyer, N.; Burger, A.: Wertorientiertes Controlling. Konzepte und Fallstudien, Konstanz/ München 2016. Burger, A.; Buchhart, A.: Risiko-Controlling, München/Wien 2002. Diederichs, M.: Risikomanagement und Risikocontrolling, 3. Aufl., München 2012. Kahneman, D.; Tversky, A.: Prospect Theory. An Analysis of Decision under Risk, in: Econometrica, Vol. 47 (1979), pp. 263–292. Kahneman, D.; Tversky, A.: Advances in Prospect Theory. Cumulative Representation of Uncertainty, in: Journal of Risk and Uncertainty, Vol. 5 (1992), pp. 297–323. Rückle, D.: Probleme der Eigenkapitalausstattung in Unternehmen, in: Schauer, R. (Hrsg.): Probleme der Eigenkapitalausstattung in Unternehmen, Linz 2009, S. 25–73. Sandel, M.: Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun, Berlin 2013. Thaler, R.H.: Mental Accounting and Consumer Choice, in: Marketing Science, Vol. 4 (1985), pp. 199–214. Thaler, R.H.: Mental Accounting Matters, in: Journal of Behavioral Decision Making, Vol. 12 (1999), pp. 183–206. Weber, J.; Schäffer, U.: Einführung in das Controlling, 15. Aufl., Stuttgart 2016. Wolke, T.: Risikomanagement, 3. Aufl., Berlin 2016.

Edeltraud Günther und Lisa Koep

Nachhaltigkeitscontrolling in Wertschöpfungsnetzwerken 1 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 4 4.1 4.2 5

Ausgangsfrage: Rechnet sich Nachhaltigkeit? | 860 Nachhaltigkeit in Wertschöpfungsnetzwerken | 865 Wertschöpfungsnetzwerke | 865 Dimension der Nachhaltigkeit in Wertschöpfungsnetzwerken | 868 Nachhaltigkeitscontrolling: Wie rechnet sich Nachhaltigkeit? | 873 Wirkrichtungen zwischen Nachhaltigkeitsleistung und finanziellem Erfolg | 873 Nachhaltigkeitscontrolling | 876 Ausgewählte Instrumente des Nachhaltigkeitscontrollings in Wertschöpfungsnetzwerken | 878 Strategische Steuerung nachhaltiger Transportprozesse | 878 Materialflusskostenrechnung in der Lieferkette | 880 Fazit | 881 Literatur | 882

Zusammenfassung. Nachhaltigkeit kann in Wertschöpfungsnetzwerken nur gelin­ gen, wenn das Controlling dieses Ziel auch aufgreift. Um diese These zu belegen, geht der folgende Artikel den nachstehenden drei Fragen nach: 1. Rechnet sich Nachhal­ tigkeit? Diese Frage wird durch eine Zusammenfassung empirischer Forschung der letzten 40 Jahre beantwortet. 2. Welche Voraussetzungen müssen Unternehmen für den Aufbau eines Nachhaltigkeitscontrollings in Wertschöpfungsnetzwerken erfül­ len? Der Begriff der Wertschöpfungsnetzwerke wird aus der Perspektive des Nachhal­ tigkeitsmanagements konkretisiert und erweitert. 3. Wie rechnet sich Nachhaltigkeit? Das Konzept des Nachhaltigkeitscontrollings wird vorgestellt. Danach werden zwei Instrumente des Nachhaltigkeitscontrollings detailliert vorgestellt. Zum einen die Strategische Steuerung nachhaltiger Transportprozesse und zum anderen Materi­ alflusskostenrechnung in der Lieferkette. Die Veranschaulichung der vorgestellten Konzepte und Instrumente erfolgt an konkreten Beispielen aus der Textilbranche.

1 Ausgangsfrage: Rechnet sich Nachhaltigkeit? Unternehmen sehen sich zunehmend der Herausforderung gegenüber, Nachhaltigkeit in ihre strategische Zielentwicklung und ihre operative Steuerung zu integrieren: Der Druck kann dabei von rechtlichen Rahmenbedingungen (z. B. das Verbot bestimmter Flammschutzmittel bei Textilien, sowie Höchstmengen von bestimmten Azofarbstof­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-045

Nachhaltigkeitscontrolling in Wertschöpfungsnetzwerken |

861

fen geregelt durch die Chemikalien-Verbotsverordnung ChemVerbotsV), wettbewerb­ lichen Faktoren (z. B. der STANDARD 100 by OEKO-TEX®, ein weltweit einheitliches, unabhängiges Prüf- und Zertifizierungssystem für textile Roh-, Zwischen- und End­ produkte) oder auch normativen Überlegungen im Unternehmen (z. B. die Mitglied­ schaft bei dem Bündnis für nachhaltige Textilien oder der Clean Clothes Campaign, die soziale, ökologische und ökonomische Verbesserungen entlang der gesamten Tex­ tilwertschöpfungskette erreichen wollen) ausgehen. Dabei drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob sich Nachhaltigkeit rechnet. Die­ se Frage ist nicht neu, sie wird seit mehr als 40 Jahren (vgl. Bragdon/Marlin 1972) in unterschiedlichen Konstellationen gestellt: Wie wirkt eine strategische Ausrichtung des Unternehmens an Nachhaltigkeitsaspekten auf den Börsenkurs (vgl. Eccles/Ioan­ nou/Serafeim 2014)? Sind nachhaltigkeitsorientierte Unternehmen innovativer und damit finanziell erfolgreicher (vgl. Christmann 2000)? Führen Ressourceneinsparun­ gen auch zu geringeren Kosten (vgl. Porter/Van der Linde 1995)? Einzelstudien führen zu inkonsistenten Ergebnissen, Metaanalysen zeigen insgesamt eine Evidenz dafür, dass sich Nachhaltigkeit rechnet (vgl. Endrikat/Günther/Hoppe 2014, S. 201; Orlitzky/ Schmidt/Rynes 2003). Dabei werden unterschiedliche Dimensionen der Nachhaltig­ keit gemessen, oft orientieren sich Studien an der Gliederung der Global Reporting Initiative für die soziale und ökologische Dimension (siehe Tabelle 1). Am Lehrstuhl für Betriebliche Umweltökonomie der Technischen Universität Dresden haben wir für die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit fast 500 Stu­ dien zusammengetragen, die der Frage nachgehen, ob sich Ökologieorientierung rechnet. Eine Auszählung (Vote Counting) der Ergebnisse von 274 verwertbaren Stu­ dien mit 721 Zusammenhängen zwischen Umweltleistung und finanzieller Leistung von Unternehmen, zeigt, dass für die meisten Umweltleistungsmaße die Anzahl der Studien mit positiv signifikanten Ergebnissen höher ist als die Anzahl der Studien mit negativ signifikanten Ergebnissen (vgl. Günther/Hoppe/Endrikat 2012; Abbildung 1).

strategische Maße (n=81)

56 %

36 %

09 %

Befragungen (n=65)

57 %

35 %

08 %

Ereignisse (n=74)

39 %

46 %

15 %

Rankings (n=244)

46 %

43 %

11 %

operative Maße (n=152)

40 %

44 %

16 %

Umweltberichterstattung (n=52)

29 %

58 %

13 %

Abb. 1: Vote Counting zum Zusammenhang von Umweltleistung und ökonomischer Leistung (vgl. Günther 2014) (n = Anzahl der untersuchten Zusammenhänge; ++/– signifikanter positiver/ negativer Zusammenhang, o nicht signifikanter Zusammenhang).

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Tab. 1: Kategorien und Aspekte der GRI G4 Leitlinien (vgl. VAUDE 2017). Wirtschaftliche Indikatoren Wirtschaftliche Leistung Marktpräsenz

Indirekte wirtschaftliche Auswirkungen Beschaffung

Umsatzplus mit umweltfreundlichen Produkten (+7 % in 2016 im Vergleich zu 2015). Seit 2016 Mitglied der Fair Wear Foundation (FWF), damit verbundene Audits aller Produktionsstätten hinsichtlich der Sozialstandards. CSR entlang der kompletten Wertschöpfungskette. Durch Engagement mehr schaffen. Einsetzen für die Infrastruktur, das Ortsbild und die Freizeitangebote. Menschenrechte entlang der Lieferkette im Fokus. Langfristige Partnerschaften mit Produzenten. Ganzjährige Auslastung der Produktionsstätten angestrebt. Ökologische Indikatoren

Materialien Energie

Wasser Biodiversität Emissionen Abwasser und Abfall

Produkte und Dienstleistung Compliance

Transport

Insgesamt

Bewertung der Lieferanten hinsichtlich ökologischer Aspekte Beschwerdeverfahren hinsichtlich ökologischer Aspekte

Umweltbewusste Materialauswahl und so wenig Verpackung wie möglich. Seit 2014 Strom und Gas zu 100 % Bezug regenerativ (2016 durch Abbrennen einer Produktionsstätte geringerer Anteil). Konsequentes Energiesparen, hohe Energieeffizienz neuer Gebäude. Mobilitätslotto. Effektives Wassermanagement am Unternehmenssitz. Verwendung von Regenwasser als Brauchwasser. Bodenentsiegelung und Begrünung von Betriebsflächen. Unterstützung externer Naturschutzprojekte. Verbräuche reduzieren, nicht vermeidbare Emissionen kompensieren (myclimate). Ordnungsgemäße Entsorgung/Recycling von Abfall. Upcycling-Workshops mit nicht-recycelbaren Abfällen. Umfangreiche Abwassertests bei Lieferanten in Pilotphase. Herstellung langlebiger, zeitloser und reparabler Produkte. Fairwertung gebrauchter und leicht defekter Produkte. Reparaturservice und Online-DIYs. Geht zum Teil über gesetzliche Vorschriften hinaus. Jährliche Audits (EMAS, ISO) am Unternehmenssitz. Monitoring der Lieferanten durch Bluesign. 2016 waren keine Bußgelder fällig. Luftfrachten vermeiden. Transport vorrangig per Seefracht oder Bahn. Initiierung von Forschungsprojekten zur Optimierung der Warenströme. EMAS-Zertifizierung des Umwelt-Managementsystems. Eingeplante Budgets für Kompensation, Zertifizierungen, Entwicklung neuer CSR-Projekte etc. Gewinnverzicht für nachhaltigere Materialien. Monitoring durch Bluesign. Verpflichtung der Produzenten zur Einhaltung von Qualitätskriterien sowie Schadstoffgrenzen. Regelmäßiges Monitoring deckt Verstöße auf, Vorab-Prüfung neuer Lieferanten als Vorsorgemaßnahme.

Nachhaltigkeitscontrolling in Wertschöpfungsnetzwerken |

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Tab. 1: (Fortsetzung) Gesellschaftliche Indikatoren: Arbeitspraktiken Beschäftigung Arbeitnehmer-ArbeitgeberVerhältnis Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz Aus- und Weiterbildung

Vielfalt und Chancengleichheit Gleicher Lohn für Männer und Frauen Bewertung der Lieferanten hinsichtlich Arbeitspraktiken Beschwerdeverfahren hinsichtlich Arbeitspraktiken

Geringe Fluktuation von 4,4 %. Flexible Arbeitszeitmodelle möglich. Vertrauenskultur. Kinderbetreuung im Kinderhaus. Ergonomische Arbeitsplätze. 150 jährliche Gesundheitsveranstaltungen. Bio-Kantine. Produzenten verpflichten sich zu sicheren Arbeitsbedingungen. Unabhängige Auditoren prüfen. Internes Weiterbildungsprogramm „Academy“. Talentprogramm für Nachwuchskräfte. Regelmäßige Feedback-Gespräche und Mitarbeiterbewertung. 43,5 % der Führungskräfte weiblich. Bestimmte Stellen gezielt für Menschen mit Behinderung. Arbeitsplätze für geflüchtete Menschen. Produzenten verpflichten sich zu gleicher Behandlung der Mitarbeiter. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit durch ein Punktesystem. Funktionsstufen und Gehälter veröffentlicht. FWF auditiert regelmäßig die Produzenten.

Anonyme Beschwerden an die Fair Wear Foundation Beschwerdestelle. VAUDE löst anschließend das Problem mit dem Produzenten. Veröffentlichung der Beschwerden.

Gesellschaftliche Indikatoren: Menschenrechte Gleichbehandlung

Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen Kinderarbeit

Zwangs- oder Pflichtarbeit Bewertung der Lieferanten hinsichtlich Menschenrechten Beschwerdeverfahren hinsichtlich Menschen­ rechtsverletzungen

43,5 % der Führungskräfte weiblich. Bestimmte Stellen gezielt für Menschen mit Behinderung. Arbeitsplätze für geflüchtete Menschen. Produzenten verpflichten sich zu gleicher Behandlung der Mitarbeiter. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit durch ein Punktesystem. Produzenten verpflichten sich, ihren Mitarbeitern Mitspracherechte einzuräumen. FWF prüft dies. „Work Education Programm“-Training klärt Arbeitnehmer über ihre Rechte auf. CSR-Mitarbeiter koordinieren vor Ort. Produktionsbetriebe verpflichten sich dazu, keine Kinder zu beschäftigen. FWF prüft dies. Missstände werden öffentlich kommuniziert. Produzenten verpflichten sich gegen Zwangsarbeit. FWF prüft dies. FWF auditiert regelmäßig die Produzenten.

Anonyme Beschwerden an die Fair Wear Foundation Beschwerdestelle. VAUDE löst anschließend das Problem mit dem Produzenten. Veröffentlichung der Beschwerden.

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Tab. 1: (Fortsetzung) Gesellschaftliche Indikatoren: Gesellschaft Politik

Öffentliche Positionierung zu gesellschaftspolitischen Themen. Teilnahme an politischen Gesprächsrunden. Mitarbeit in freiwilligen Initiativen (z. B. Bündnis für Nachhaltige Textilien der Bundesregierung). Geht zum Teil über gesetzliche Vorschriften hinaus. Jährliche Audits (EMAS, ISO) am Firmensitz. Monitoring der Lieferanten durch die FWF. Beratung durch externe Experten hinsichtlich Gesetzesänderungen. 2016 waren keine Bußgelder fällig.

Compliance

Gesellschaftliche Indikatoren: Produktverantwortung Kundengesundheit und -sicherheit

Kennzeichnung von Produkten und Dienstleistungen

Marketing

Compliance

Umfassendes Schadstoffmanagement: 2016 Unterzeichnung des Detox-Commitments von Greenpeace und langjähriger Bluesign-Systempartner. Hohe Grenzwerte für Schadstoffe. Lieferanten verpflichtet zu Schadstofftests. Detaillierte Risikobetrachtung sicherheitsrelevanter Produkte. 2016 keine Zwischenfälle mit negativen Folgen. Mehr Produktinformationen als gesetzlich vorgeschrieben (ökologische und technische Aspekte, Auszeichnungen etc.). „Green Shape“-Etikett bei Erfüllung der Auflagen. Etikett für Produkte aus mind. 30 % Recyclingmaterial oder erneuerbarem Material. Jedoch immer nur eins der drei letztgenannten Etikette am Produkt, um Verwirrung zu vermeiden. Interne sowie externe Kommunikation von Nachhaltigkeitsstrategie, aktuellen Problemen und Lösungsansätzen. Nutzung von Social Media, Presse, Videokanälen und Webseiten. Ehrlichkeit und Transparenz. Engagement in verschiedenen Arbeitskreisen und Verbänden, um rechtzeitig über Änderungen produktspezifischer Vorgaben informiert zu werden. 2016 waren keine Bußgelder fällig.

Eine Metaanalyse mit 149 für diese Methode geeigneten Studien zeigt einen statistisch signifikanten positiven Gesamteffekt (vgl. Endrikat/Günther/Hoppe 2014) und bestä­ tigt somit Ergebnisse früherer Metaanalysen zum Zusammenhang von Nachhaltig­ keit und finanzieller Leistung (vgl. Margolis/Elfenbein/Walsh 2007; Orlitzky/Schmidt/ Rynes 2003). Auch Teilanalysen, z. B. für strategische und operative Maße weisen po­ sitive Zusammenhänge nach. Die Ergebnisse zeigen, dass ein positiver Zusammenhang nicht von der Wahl des Maßes abhängig ist, allerdings Unterschiede zu beobachten sind. Gerade bei der Wahl von Maßen aus dem Rechnungswesen zeigen sich ausschließlich positive Zusammen­ hänge. Weiterhin zeigt sich, dass der Zusammenhang stärker ist, wenn Unternehmen eine proaktive Ökologieorientierung verfolgen. Und eine genauere Analyse der Ein­ zelstudien zeigt auch, dass die Maße zwischen den Studien stark variieren und sich bisher kein Maß durchgesetzt hat (vgl. Poser/Günther/Orlitzky 2012).

Nachhaltigkeitscontrolling in Wertschöpfungsnetzwerken |

865

Und so stellt sich die Frage, was Unternehmen für die Steuerung ihrer Nachhaltig­ keitsleistung in Wertschöpfungsnetzwerken aus diesen Ergebnissen lernen können. Hierzu soll zunächst die Nachhaltigkeit in Wertschöpfungsnetzwerken erläutert wer­ den.

2 Nachhaltigkeit in Wertschöpfungsnetzwerken Globalisierung, Arbeitsteilung und die fortgeschrittene Digitalisierung haben zu inter­ nationalen Wertschöpfungsnetzwerken geführt (vgl. Hofmann et al. 2012), d. h. Un­ ternehmen agieren in Netzwerken vieler Akteure mit wechselseitigen Beziehungen und interagierenden Prozessen. Dies macht eine isolierte Betrachtung eines einzelnen Unternehmens wenig sinnvoll. Stattdessen bewährt sich immer mehr das Denken in Wertschöpfungsnetzwerken, die die unternehmerischen Kooperationen mit Partnern und deren Wechselwirkungen berücksichtigt. Wendet man diesen Ansatz konsequent an, so muss auch bei der Betrachtung von Nachhaltigkeitsfragen wie z. B. Umweltaus­ wirkungen eine ganzheitliche Untersuchung stattfinden. Die Illustration von PUMAs Lieferkette in Abbildung 2 zeigt eine solche ganzheitliche Betrachtung auf. Dieser Paradigmenwechsel zum Denken in Wertschöpfungsnetzwerken macht sich auch bemerkbar in wichtigen Richtlinien für das Nachhaltigkeitsreporting wie z. B. der Global Reporting Initiative (GRI) oder dem Greenhouse Gas (GHG) Protocol. In den GRI Richtlinien G3, G3.1 und G4 GRI sind einige Fragen bezüglich der Wert­ schöpfungskette, wie z. B. der vor- und nachgelagerten Emissionen, enthalten (vgl. Global Reporting Initiative 2013, 2011 und 2006). Ebenso unterstreicht der Report des GHG-Protocols „Corporate Value Chain (Scope 3) Accounting and Reporting Standard“ die Bedeutung der Bilanzierung der Treibhausgasemissionen entlang der gesamten Wertschöpfungskette (vgl. World Resources Institute 2011). Daher gewinnt die Ope­ rationalisierung und Messung von Nachhaltigkeit entlang der Wertschöpfungskette (Value Chain) immer mehr an Bedeutung.

2.1 Wertschöpfungsnetzwerke Bei der Wertschöpfungs-Perspektive liegt der Fokus auf dem Prozess, bei der die Orga­ nisation oder das Produkt als System betrachtet wird, welches aus verschiedenen, un­ tergeordneten Teilsystemen besteht. In der Betrachtung werden daher Inputs, Trans­ formationsprozesse und Outputs berücksichtigt. Wertkette Das Analyseinstrument der Wertkette (Value Chain), erstmals vorgestellt von Porter (1985) in seinem Buch „Competitive Advantage“, zielt darauf ab alle Tätigkeitsberei­

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PUMA: Operatives Geschäft Stickstoff- und Schwefeloxide durch Energieverbrauch, Produktvertrieb und Reisen

Treibhausgase durch Energieverbrauch, Produktvertrieb und Reisen

Stufe 1: Fertigung Stickstoff- und Schwefeloxide durch Energieverbrauch und Produkttransport

Treibhausgase durch Energieverbrauch und Produkttransport

Abfall durch Schneiden des Materials

Stufe 2: Outsourcing (Komponenten)

Abfall durch Schneiden des Materials

Treibhausgase durch Energieverbrauch und Komponententransport

Stickstoff- und Schwefeloxide durch Energieverbrauch und Komponententransport

Stufe 3: Verarbeitung Wasserverbrauch in Ledergerbung und -industrie

Treibhausgase durch Energieverbrauch und Materialtransport

Stickstoff- und Schwefeloxide durch Energieverbrauch und Materialtransport

Stufe 4: Rohmaterialien Methan in Viehhaltung und Stickstoffoxide in Landwirtschaft

Treibhausgase

Wasser

Wasserverbrauch durch Bewässerung in Landwirtschaft

Landnutzung

Wandel von Ökosystemen für landwirtschaftliche Nutzung

Luftverschmutzung

Abfall

Abb. 2: PUMAs Lieferkette: Darstellung der Prozesse und Wirkungen entlang der Wertschöpfungs­ kette von PUMA (vgl. PUMA 2011).

che eines Unternehmens abzubilden, und hinsichtlich der Stärken und Schwächen zu bewerten (vgl. Porter 2004). Bei diesem Instrument werden die verschiedenen Wertschöpfungsstufen dargestellt und analysiert, um die gesamten Einflüsse eines Unternehmens zu untersuchen. Hierzu werden die Aktivitäten des Unternehmens in primäre und sekundäre Tätigkeiten unterteilt. Primäre Aktivitäten beziehen sich

Nachhaltigkeitscontrolling in Wertschöpfungsnetzwerken |

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auf die Produktherstellung, und beinhalten Herstellung, Verkauf, Übermittlung an den Kunden, sowie den Kundendienst. Die sekundären Maßnahmen unterstützen die primären Maßnahmen, und erhalten diese aufrecht (vgl. Porter 2004). Dabei kann es sich zum Beispiel um die Personalwirtschaft oder Unternehmensinfrastruktur han­ deln. Unterschiedliche Auffassungen von Value Chain Während Porters Wertkette sich auf die Prozesse im Unternehmen bezieht, gehen andere Autoren weit über die Aktivitäten im Unternehmen hinaus (vgl. Günther/ Krannich 2017) und betrachten auch interorganisationale Verknüpfungen und Wech­ selwirkungen. Ebenfalls wird häufig zwischen der Wertkette und der traditionellen Lieferkette (Supply Chain) unterschieden. Bei der Supply Chain liegt der Fokus auf Güterströmen, während die Value Chain die Wertschaffung fokussiert. Die Wertkette bietet eine ganz­ heitlichere Betrachtung der Unternehmensaktivitäten inklusive der Produktentwick­ lung sowie Lieferkettenprozesse. Es werden alle Schritte des Produkt- oder ProzessLebenszyklus einbezogen, wie zum Beispiel die Produkt-Konzeption, Rohmaterialien­ gewinnung, Produktion, Transport, Kundennutzung, sowie Entsorgung (vgl. D’heur 2015). Daher bietet die Wertschöpfungskette einen umfassenderen Überblick über alle Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Produkt entlang der Schritte des Produktle­ benszyklus und hilft Optionen der Entscheidungsfindung im Unternehmen zu identi­ fizieren (vgl. Balkau/Sonnemann 2011). Value Chain Management Während des Prozesses des Value Chain Managements (VCM) wird systematisch ana­ lysiert, zu welchem Markterfolg die jeweiligen Aktivitäten führen. Die wesentlichen Werttreiber der Geschäftsprozesse werden ermittelt, und die Ressourcen werden den verschiedenen Wertschöpfungsstufen zugeordnet. Das Ziel ist, Mehrwert zu generie­ ren und gleichzeitig die Kosten zu minimieren (vgl. Soosay/Fearne/Dent 2012). Der Vorteil dieser gesamtheitlichen Betrachtung entlang der Wertschöpfungsket­ te ist, dass das Unternehmen Risiken und Möglichkeiten identifizieren kann, was wie­ derum die Resilienz stärkt (vgl. Fearne/Garcia Martinez/Dent 2012). Dieses ist beson­ ders wichtig in der Textilindustrie, welche über komplexe Lieferketten verfügt und daher weitreichende Risiken birgt. Der Einsturz von Rana Plaza in Bangladesch in 2013 zeigte, dass das Outsourcing der Verarbeitung der Textilien, obgleich es außer­ halb der sogenannten Legal Entity, der rechtlichen Systemgrenze der Textilhändler war, trotzdem eine große Auswirkung auf diese Unternehmen hatte. Nach der Kata­ strophe erhöhte sich der Druck auf die europäischen Textilmarken, Kontrollen der Zulieferer in Bezug auf Arbeitsbedingungen und Arbeitssicherheit durchzuführen und sich für faire Löhne zu engagieren. Kampagnen wie der „Modern Slavery Act 2015“, der

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„Bangladesh Accord“, das „Textilbündnis“ und die „Clean Clothes Campaign“ wurden initiiert, die Unternehmen auffordern, durch Transparenz in ihren Lieferketten sozia­ len und ökologischen Pflichten nachzukommen. Nach Rana Plaza folgte eine große Welle von Auditierungen und Inspektionen von Textilfabriken in Bangladesch und anderen Niedriglohnländern. Die zunehmende Globalisierung führt zu einer internationalen Streuung von Produktionsprozessen. Der Begriff Global Value Chains (GVC) reflektiert die länder­ übergreifende Dimension und erweitert den Begriff der Value Chain. Der Ansatz Glo­ bal Value Chain (GVC) wurde in den 1990er Jahren entwickelt und analysiert die Zusammenhänge zwischen Industrie- und Entwicklungsstaaten im globalen Markt (vgl. De Marchi/Di Maria/Ponte 2013). Das Konzept der GVC baut auf dem Ansatz der Global Commodity Chains (GCC) auf, basierend auf den „Commodity Chains“ von Hopkins und Wallerstein (1977), welche die Abhängigkeiten der globalisierten Wirtschaft zwischen Produktionsstandorten in Entwicklungs- und Industrieländern betrachten. Mit zunehmender Globalisierung zerstreuen sich die verschiedenen Phasen der Produktion, Distribution und Vermarktung von Textilien auf der gesamten Welt. Die Textil- und Bekleidungs-Wertkette eignet sich besonders für globale Produktionsnetz­ werke, da die meisten Produkte in jeder Phase der Kette exportiert werden können. Prinzipiell bleiben komplexere, höhere wertschaffende Aufgaben in Industrieländer mit höher qualifizierten Arbeitskräften, während weniger qualifizierte Aufgaben in Niedriglohnländer verlagert werden (vgl. Kaplinsky 2013).

2.2 Dimension der Nachhaltigkeit in Wertschöpfungsnetzwerken Die Interdependenzen, die durch Globalisierung und komplexe Wertschöpfungsnetz­ werke geschaffen wurden, bringen mit sich, dass Unternehmen vermehrt Risiken ausgeliefert sind und die Unternehmen zwingen, ganzheitlich und zukunftsfähig zu denken. Hauptherausforderungen an das Management im Kontext der Global Value Chains sind z. B. die Sicherstellung von Umwelt- und Sozialstandards, Qualitätssiche­ rung, politische Unsicherheiten, aber auch die Komplexität von Lieferketten und die Betroffenheit durch den Klimawandel (vgl. Mahammadzadeh 2015). Eine konsequen­ te Anwendung des VCM Ansatzes führt dazu, dass nicht nur die Umweltauswirkungen des Unternehmens selbst, sondern auch entlang des gesamten Wertschöpfungsnetz­ werkes betrachtet und verbessert werden sollten. Erweiterung des VCM Ansatzes um Nachhaltigkeitsaspekte Aufgrund dieser neuen Anforderungen wurde der Ansatz des Value Chain Manage­ ments weiterentwickelt, um ökonomische, ökologische und sozialer Aspekte oder die Triple Bottom Line (vgl. Elkington 1998), zu berücksichtigen. Verschiedene Autoren

Nachhaltigkeitscontrolling in Wertschöpfungsnetzwerken |

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F&E Logistik Personal/Organisation Marketing Controlling

Abb. 3: Wertschöpfungskreis (in Anlehnung an Günther 1994 und die dort zitierten Quellen; Porter 2004).

haben zu der Weiterentwicklung der Wertkette beigetragen (vgl. Zahn/Schmid 1992) jeweils mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Es gibt zum Beispiel den Wertschöp­ fungsring (vgl. Schmid 1996), den Ökowürfel (vgl. Schröder 1996), den Value Circle (vgl. Remmen/Jensen/Frydendal 2007) oder den Wertschöpfungskreis (vgl. Günther 1994), welcher die Wertkette von Porter umstrukturiert und um den Bereich Entsor­ gung erweitert. Diese Modelle helfen Unternehmen, produkt- und produktionsorientierte Maß­ nahmen zu identifizieren, bei denen die genutzten Ressourcen (Inputs) sowie die durch die Produktion entstehenden Emissionen und Abfälle (Outputs) sowie die Nut­ zung und Endphase mit einfließen. Besonders bei einer genaueren Betrachtung der Textilbranche lassen sich die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Global Value Chains und Nach­ haltigkeitsmanagement aufzeigen. Die Textil- und Bekleidungsindustrie zeichnet sich durch komplexe Wertschöpfungsprozesse und lange Lieferketten aus. So wird z. B. die Baumwolle für ein T-Shirt in Amerika produziert, die Baumwolle wird in Indonesien gesponnen und zu Stoff verarbeitet, der Stoff wird in Bangladesch gefärbt, geschnitten und zusammengenäht und von dort wird das fertige Produkt nach Europa gebracht, wo es vermarktet wird. Diese langen Wertketten führen auch dazu, dass das Thema der Nachhaltigkeit in dieser Industrie besonders präsent ist: Giftige chemische Verarbeitungsprozesse und intensiver Energie- und Wasserverbrauch führen zu signifikanten Umweltauswirkun­ gen während der Textilproduktion (vgl. Allwood et al. 2008; Seuring 2004). Durch den Einsturz der Fabrik Rana Plaza sind die unsicheren und prekären Arbeitsbedingungen in der Bekleidungsproduktion in Niedriglohnländern in das allgemeine Bewusstsein gelangt (vgl. Turker/Altuntas 2014).

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Der wachsende Trend der „Fast Fashion“, welche sich auf kostengünstige Klei­ dungs-Kollektionen bezieht, die aktuelle Luxus-Mode-Trends nachahmen (vgl. Joy et al. 2012), führt zu immer schneller wechselnden Modezyklen. Daher wird die Ware in verminderter Qualität zu einem günstigeren Preis hergestellt, was zu mehr Abfall und negativen Umweltauswirkungen führt (vgl. Niinimäki/Hassi 2011). Zugleich verlangen Endkunden mehr Transparenz in Bezug auf die Produktion ihrer Textilien, getrieben durch Digitalisierung und schnellere Kommunikation durch soziale Medien, und fordern daher von Unternehmen klare Kommunikation bezüg­ lich der Value Chain (vgl. Capriotti 2017). Um diesem Paradox gerecht zu werden, ver­ suchen einige Unternehmen, ihre Auswirkungen in Bezug auf die Nachhaltigkeit zu messen und zu optimieren. Für die Bewertung von Nachhaltigkeit entlang der Wertschöpfungsnetzwerken werden tragfähige Informationen über ökonomische, ökologische und soziale Wir­ kungen benötigt, die durch ein fokussiertes Controlling geliefert werden können. Diese Informationen werden nicht nur im Unternehmen gesammelt, sondern auch au­ ßerhalb des Unternehmens durch verschiedene Zulieferer und Kooperationspartner. Environmental Profit and Loss Accounting (EP&L oder Ökologische Gewinn- und Verlustrechnung) ist ein Beispiel für solch einen Controlling-Ansatz, welcher das gan­ ze Wertschöpfungsnetzwerk betrachtet. Hier werden Veränderungen der Umwelt, die aufgrund der Aktivitäten des Unternehmens für die Gesellschaft entstehen, entlang der gesamten Wertkette in Kosten ausgedrückt. Dieser ganzheitliche Ansatz, um die wahren Kosten eines Unternehmens zu ermitteln, unterscheidet sich von traditionel­ len Kostenkalkulationen. Die Methode wurde durch das Unternehmen Puma entwickelt und erstmals um­ fassend angewandt, und wurde als Methodik bei der gesamten Kering Gruppe, zu der Textilunternehmen wie zum Beispiel Stella McCartney, Alexander McQueen und viele mehr gehören, eingeführt. Seit die EP&L bei der Kering Gruppe eingeführt wurde, zeigt sich hier ein positiver Zusammenhang zwischen der Reduzierung der EP&L-Intensität und Unternehmenseinnahmen in dem Betrachtungszeitraum von 2012 bis 2015 (vgl. Kering Group 2015). Das Beispiel illustriert, dass durch das transparente Messen der Umweltauswirkungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette Optimierungspo­ tentiale für das Unternehmen sowie für die Umwelt erreicht werden können. Für die Bewertung werden die verschiedenen Wertschöpfungsstufen des Unter­ nehmens in sogenannte „Tiers“ gruppiert, welche von Rohmaterialproduktion (z. B. Anbau von Baumwolle) über Materialverarbeitung (Spinnen, Weben, Färben, Verede­ lung von Garnen), Verarbeitung, Zuschneiden und Nähen der Kleidung bis zum Ver­ trieb reichen. Im nächsten Schritt können die verschiedenen Wertschöpfungsstufen genauer betrachtet und analysiert werden. Während z. B. die Rohstoffproduktion be­ sonders intensiv in der Wassernutzung ist, kann die Rohstoffverarbeitung zu beson­ ders schwerwiegenden Schadstoffbelastungen, z. B. durch ungeklärte Einleitung in Gewässer führen, und die Verarbeitung der Stoffe ist oft mit Problematiken in Bezug auf Arbeitsbedingungen und Arbeitssicherheit behaftet.

Nachhaltigkeitscontrolling in Wertschöpfungsnetzwerken |

Stufe 0: Lagerräum e

Stufe 1: Montage

Stufe 2: Fertigung

Stufe 3: Rohm aterialverarbeitung

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Stufe 4: Rohm aterialproduktion

Luftem issionen

Treibhausgase

Landnutzung

Abfall

Wasserverbrauch

Wasserverschm utzung

Abb. 4: Environmental Profit & Loss Konto der Kering Gruppe (vgl. Kering Group 2015).

Die Durchführung eines EP&L zeigt, dass der größte Teil der negativen Umweltaus­ wirkungen im Bereich der Rohmaterialgewinnung und Rohstoffverarbeitung stattfin­ det. So wirkt sich die Nutzung von bestimmen Rohmaterialien stark auf die Umwelt­ auswirkungen aus und das Unternehmen kann Hot Spots identifizieren und entspre­ chend handeln. So konnte das Mode Label Stella McCartney aufgrund der Analyse der Wertschöpfungsstufen Kaschmir-Wolle als negativen Treiber der Umweltauswirkun­ gen identifizieren und nutzt jetzt umweltfreundlichere regenerierte Kaschmir-Wolle (vgl. Stella McCartney Ltd 2016). Dieses Beispiel zeigt, wie das Nachhaltigkeitscon­ trollinginstrument EP&L Unternehmen hilft, ihre Rohstoffe zu beurteilen und die Lie­ ferkette genauer kennenzulernen. Der in den letzten Jahren aufgetretene Fast-Fashion-Trend in der Textilbranche führt dazu, dass Kleidungsstücke zunehmend als Wegwerfware betrachtet werden, was weltweit auftretende Umweltprobleme verschärft und die Rohstoffverknappung vorantreibt. Um diesen negativen Effekten entgegenzuwirken, gibt es aus dem Be­

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Circular Design

Entsorgung & Upcycling

Rohmaterialgewinnung

Closed loop, Nutzungsphase (Waschen und Trocknen)

Vertrieb (Transport, Handel)

zero waste Faserproduktion

Zuschnitt und Nähen von Kleidung

Abb. 5: Kreislaufwirtschaft in der Textilbranche (Eigene Darstellung).

reich der Circular Economy (Kreislaufwirtschaft) auch einige Ansätze, um die Umwelt­ auswirkungen der Textilbranche zu reduzieren. Die Circular Economy zielt darauf ab, eingesetzte Rohstoffe im Kreislauf zu führen, indem diese nach der Nutzungsphase erneut für den Produktionsprozess genutzt werden, um Material- und Energieverluste zu minimieren. Daher ist es erstrebenswert, Lücken im Produktlebenszyklus zu schlie­ ßen, um somit der Verknappung von Ressourcen entgegenzuwirken (vgl. EU Kommis­ sion 2017). In Deutschland gibt es seit 2012 das Kreislaufwirtschaftsgesetz, welches Unternehmen auffordern soll, Materialkreisläufe zu schließen und den maximalen Nutzen aus Rohstoffen, Produkten oder Abfällen auszuschöpfen. Das Konzept der Circular Economy gewinnt auch in der Textilbranche an Bedeu­ tung in der Form von Circular Fashion (Cradle-to-Cradle, oder Wiege-zu-Wiege): Tex­ tilunternehmen sind gefordert, Verantwortung für die Entsorgung von Bekleidungs­ stücken oder Textilresten zu übernehmen. So bieten manche Unternehmen ein soge­ nanntes Upcycling von Textilien an, bei dem Materialien für gleich- oder höherwertige neue Produkte wiederverwendet werden (wie z. B. Bekleidung aus recyceltem Polyes­ ter). Auch betrachten Textilunternehmen in diesem Bereich die Qualität der genutzten Materialien, um die Lebensdauer der Bekleidungsprodukte zu verlängern oder bieten

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Reparaturen und Pflegemaßnahmen an, damit der Kunde die Produkte länger nutzen kann. Zudem erscheinen auch schon neue Geschäftsmodelle in der Fashion-Industrie, wie z. B. das Leasing von Jeans (z. B. Mud Jeans) oder das Mieten von Kleidungskol­ lektionen für Konsumenten.

3 Nachhaltigkeitscontrolling: Wie rechnet sich Nachhaltigkeit? Auch wenn wir aus der Analyse der vielen empirischen Studien wissen, dass sich Nachhaltigkeit rechnet, können Entscheidungsträger diese Informationen nur einge­ schränkt für ihre tägliche Arbeit nutzen. Deshalb soll in diesem Kapitel der Frage nachgegangen werden, wie Nachhaltigkeit in die Unternehmenssteuerung integriert werden kann. Hierzu werden zunächst die Wirkrichtungen des Zusammenhangs nä­ her untersucht. Darauf aufbauend wird ein Maßnahmenpaket für ein Nachhaltigkeits­ controlling vorgestellt.

3.1 Wirkrichtungen zwischen Nachhaltigkeitsleistung und finanziellem Erfolg Die oben vorgestellten Studien zum Zusammenhang von Nachhaltigkeitsleistung (und spezifisch Umweltleistung) und finanzieller Leistung lassen sich nach ihrer theore­ tischen Fundierung in zwei Wirkrichtungen, nämlich „Nachhaltigkeitsleistung wirkt auf ökonomische Leistung“ und „ökonomische Leistung wirkt auf Nachhaltigkeits­ leistung“ jeweils mit positivem und negativem Vorzeichen unterscheiden. Nachhal­ tigkeitsleistung und ökonomische Leistung können positiv oder negativ verbunden sein, dargestellt auf der Ordinate. Darüber hinaus kann die Nachhaltigkeitsleistung die finanzielle Leistung beeinflussen und umgekehrt, dargestellt auf der Abszisse (vgl. Abbildung 6). Ein Unternehmen kann dabei für verschiedene Geschäftsfelder unter­ schiedliche Beziehungen ausprägen. So sind die Übergänge zwischen den Quadran­ ten fließend. Die Quadranten sowie ihre Verbindungen und Übergänge können wie folgt charakterisiert werden: – Wertgenerierung: Die den Quadranten „Wertgenerierung“ beschreibenden Theo­ rien, insbesondere die Stakeholdertheorie und der Resource Based View, sehen einen positiven Zusammenhang zwischen Nachhaltigkeitsorientierung und fi­ nanziellem Erfolg. Die Stakeholdertheorie (vgl. Hassel/Nilsson/Nyquist 2005) sieht die Anspruchsgruppen entweder als Impulsgeber für Nachhaltigkeit (z. B. der Staat durch Initiativen im Bereich Grüne Beschaffung) oder auch als Ver­ stärker (z. B. Umsatzsteigerungen durch Neukunden, die aufgrund der sozialen Verantwortung des Unternehmens gewonnen werden oder durch Preisprämien).

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Zusammenhang

negativ

Trade-off

Opportunismus Teufelskreis

Ausgleich

Ausgleich Tugendkreis

positiv

Wertgenerierung

Nachhaltigkeit

Pufferkapazitäten

€ €

Nachhaltigkeit

Richtung

Abb. 6: Beziehung zwischen Nachhaltigkeit und Unternehmenserfolg (vgl. Günther/Hoppe 2014).



Die ressourcenbasierte Sichtweise sieht insbesondere für die Berücksichtigung der natürlichen Umwelt drei Mechanismen: Vermeidung von Emissionen, Pro­ duktverantwortung und nachhaltige Entwicklung. Die erste Strategie führt insbe­ sondere bei der Aufdeckung von Ineffizienzen zu geringeren Kosten (vgl. Porter/ Van der Linde 1995), die zweite zu erhöhten Umsätzen und die dritte zu lang­ fristigem Erfolg. Bei diesem Quadranten könnte man argumentieren, dass gutes Management diese Potentiale heben müsste, auch ohne spezifisches Interesse an Umweltfragen. Doch selbst im Energiebereich, in dem bereits Effizienzmaß­ nahmen im Fokus stehen, können die sogenannten „Low-Hanging Fruits“ noch größere Aufmerksamkeit bekommen (vgl. Bergmann/Günther/Kara 2017; Cordei­ ro/Sarkis 1997). Die empirischen Ergebnisse liefern Evidenz für die Dominanz dieses Quadranten. Trade-off : Demgegenüber stehen die Verfechter eines negativen Zusammenhangs von Nachhaltigkeit und finanzieller Leistung. Sie argumentieren, dass die Unter­ nehmen, die ihre Kraft auf die Erhöhung der Nachhaltigkeitsleistung legen, Op­ portunitätskosten erzeugen, da sie diese Kraft und Fähigkeiten nicht der Steige­ rung der finanziellen Leistung widmen. Mahapatra (1984) liefert drei Argumen­ te: Nachhaltigkeitsmanagement erhöht nur die Ausgaben, nicht die Einnahmen; die Liquidität wird negativ beeinflusst und das Risiko erhöht sich. Dadurch ent­ steht ein Trade off zwischen Nachhaltigkeitsleistung und finanzieller Leistung. Friedman (1970) argumentierte, dass die gesellschaftliche Verantwortung der Un­ ternehmen darin besteht, die Gewinne zu erhöhen und damit Aktivitäten ohne Verbindung zur Gewinnerzielung nicht Aufgabe von Unternehmen seien. Er sah bei den Unternehmen auch nicht die Kompetenz für diese Aufgaben, sondern bei der Regierung.

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Pufferkapazitäten: Doch auch die andere Wirkrichtung von finanziellem Erfolg auf die Nachhaltigkeit wird gesehen: Nur Unternehmen, die „es sich leisten können“, also den notwendigen Puffer haben, können in Nachhaltigkeit investieren (vgl. Bowen 2002). Gerade wenn hohe Ausgaben für Infrastrukturleistungen erforder­ lich sind, die zum Teil über viele Jahre hohe Ausgaben nach sich ziehen, ist ein finanzieller Puffer unabdingbar. Eine Metaanalyse von Daniel et al. (2004) zeigt einen positiven Zusammenhang für drei Arten von Puffern: Bereits vorhandener Puffer, erwarteter Puffer und potentieller zukünftiger Puffer. So scheint ein Zusam­ menhang zwischen den Pufferkapazitäten und dem Engagement für Nachhaltig­ keit zu bestehen: Finanzieller Erfolg begünstigt Nachhaltigkeitsengagement und vice versa führt eine prekäre wirtschaftliche Lage zum Rückgang freiwillig über­ nommener sozialer Verantwortung (vgl. Orlitzky 2006, 2008). Opportunismus: Preston und O’Bannon (1997) beschreiben opportunistisches Ma­ nagerverhalten wie folgt: Wenn die finanzielle Leistung gut ist, neigen Manager – im Gegensatz zur soeben beschriebenen Theorie der Pufferkapazitäten – dazu, ihr Nachhaltigkeitsengagement zu reduzieren, um den variablen Anteil ihrer Ver­ gütung zu erhöhen. Und umgekehrt erhöhen sie bei schlechter Gewinnsituation ihre Aktivitäten im Bereich sozialer Verantwortung, um damit den Gewinnrück­ gang rechtfertigen zu können. Williamson (1975) nennt dieses Verhalten hinter­ listiges Verfolgen des Eigeninteresses. Es kann sogar zu Greenwashing, das heißt rein symbolischem Engagement ohne Substanz führen (vgl. Laufer 2003). In allen Fällen ist der Wirkmechanismus zwischen Nachhaltigkeitsleistung und finanziel­ ler Leistung negativ. Tugendkreis: Eine Verknüpfung der beiden positiven Zusammenhänge führt zu einem Tugendkreis, der im Zeitablauf zu positiven Synergien führt (vgl. Hart/ Ahuja 1996): Puffer ermöglichen die Übernahme gesellschaftlicher Verantwor­ tung durch Investitionen in Nachhaltigkeitsprojekte, z. B. Flutschutzmaßnahmen in der Wertschöpfungskette. Diese wiederum führen z. B. durch die Erhöhung der Liefersicherheit zu Kosteneinsparungen oder Umsatzstabilität im Zeitablauf. Oder durch den Aufbau einer Materialflusskostenrechnung bei den Textilbetrieben in Asien, der durch vorhandene Puffer möglich ist, werden die Materialkosten lang­ fristig gesenkt, wodurch weiterer Puffer aufgebaut werden kann (vgl. Rieckhof/ Bergmann/Günther 2015). Wagner und Blom (2011) sprechen von einem rezipro­ ken Verhältnis von Nachhaltigkeitsorientierung und finanziellem Erfolg. Teufelskreis: Umgekehrt können auch die beiden negativen Zusammenhänge verbunden werden: Opportunistische Manager vermeiden die Übernahme gesell­ schaftlicher Verantwortung, um ihre Vergütung zu erhöhen. Dadurch übersehen sie auch die Möglichkeiten der Wertgenerierung, die Nachhaltigkeitsengagement ermöglicht. Oder umgekehrt verbergen sie negative wirtschaftliche Entwicklun­ gen durch Greenwashing und übersehen dabei die möglichen negativen Rückwir­ kungen (vgl. Walker/Wan 2012).

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Ausgleich: Auch wenn die empirischen Ergebnisse insgesamt für einen positiven Zusammenhang sprechen, kann es im Einzelfall auch Kompensationseffekte ge­ ben. So können manche Geschäftsfelder eines Unternehmens vom Nachhaltig­ keitsengagement profitieren, wohingegen in anderen Bereichen Umsatzeinbußen zu verzeichnen sind (vgl. Chen/Delmas 2011; Mattingly/Berman 2006). Auch ein neutrales Ergebnis ist möglich: Nach der Theorie der Unternehmung (vgl. Jensen/ Meckling 1976) kann man argumentieren, dass Nachhaltigkeitsüberlegungen wie alle anderen entscheidungsrelevanten Parameter im Unternehmen auch in die Angebots-/Nachfrageabwägung einfließen und zu einem neutralen Ergebnis im Gleichgewicht führen (vgl. McWilliams/Siegel 2001). So geben Unternehmen stei­ gende Energiekosten oft an die Kunden weiter, um die Wirkungen auszugleichen.

Wie die Beispiele für die Textilindustrie zeigen, können alle Wirkrichtungen in einem Unternehmen auftreten. Die Vielfalt der Wirkbeziehungen unterstreicht auch, dass die Abwägung, ob und inwieweit Nachhaltigkeitsziele in Entscheidungen einfließen sol­ len, für jeden Einzelfall getroffen werden muss. Doch diese Abwägung ist nur möglich, wenn ein Unternehmen über ein Nachhaltigkeitscontrolling verfügt.

3.2 Nachhaltigkeitscontrolling So sollten wir auch für die Steuerung von Wertschöpfungsnetzwerken die Frage „Rechnet sich Nachhaltigkeit?“ in den Hintergrund treten lassen und durch die Frage ersetzen: „Wie rechnet sich Nachhaltigkeit in Wertschöpfungsnetzwerken?“ immer im Bewusstsein um die verschiedenen Wirkbeziehungen zwischen Nachhaltigkeitszielen und ökonomischer Leistung. Bereits Whittington (1977) beschreibt, dass das Control­ ling durch Datensammlung und geeignete Datenaufbereitung zur Internalisierung ökonomisch externer Effekte beitragen kann. Das Controlling wird üblicherweise in eine strategische und eine operative Ebene untergliedert, wobei die strategische an die Unternehmensstrategie und das Manage­ mentsystem anknüpft und die operative an das Rechnungswesen. Für die Integration der sog. Triple Bottom Line werden neben ökonomischen auch ökologische und so­ ziale Ziele durch das Controlling gesteuert, für die Berücksichtigung zukünftiger Generationen wird das Controlling um eine Zeitdimension erweitert. So kann Nach­ haltigkeitscontrolling definiert werden als „betriebliches Instrumentarium, das durch nachhaltigkeitsorientierte, funktionen- und unternehmensübergreifende Informati­ onsgewinnung sowie durch quantitative und/oder qualitative Informationsaufberei­ tung eine Grundlage für zukunftsorientierte, operative und strategische Entschei­ dungsunterstützung des Managements liefert“ (Günther/Endrikat/Günther 2016). Dabei soll durch geeignete Steuerungs- und Kontrollmechanismen die Durchsetzung der Nachhaltigkeitsziele sichergestellt werden. Gerade der funktions- und unterneh­ mensübergreifende Charakter zeigt die Orientierung auf Wertschöpfungsnetzwerke.

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Unternehmen S t r a t e g i s c h e E b e n e O p e r a tiv e E b e n e

Fokus

Makro- und Mikroumfeld

Intergenerational Intragenerational Leistungsmessung/ Rechnungswesen/ Instrumente

Controlling

Managementsystem

Rechnungswesen

Nachhaltigkeitscontrolling

Unternehmensführung ökonomisch

ökologisch

sozial

Umfang Triple Bottom Line Abb. 7: Einordnung des Nachhaltigkeitscontrollings (in Erweiterung von Günther/Endrikat/Günther 2016).

Nachhaltige Unternehmensführung ist ohne die Betrachtung der gesamten Wert­ schöpfung nicht realisierbar. (vgl. Abbildung 7). Das Nachhaltigkeitscontrolling kann in Anlehnung an Malmi und Brown (2008) in folgenden die Bausteine gegliedert werden: 1. Kybernetische Nachhaltigkeitssteuerung (Budgetierung, finanzielle, nicht-finanziel­ le und kombinierte Indikatoren): Das schon erwähnte Beispiel der Ökologischen Gewinn- und Verlustrechnung, welche von PUMA entwickelt wurde, integriert fi­ nanzielle und nicht-finanzielle Indikatoren, um die tatsächlichen Kosten der Aus­ wirkungen eines Unternehmens auf die Natur zu messen. 2. Nachhaltigkeitsplanung (langfristig und kurzfristig): Das Unternehmen Tchibo, eines der Top 10 deutschen Modehändler, verfolgt das strategische Kernziel „auf dem Weg zu 100 % Nachhaltigkeit“. Zur unternehmensweiten Umsetzung des Ziels wurde ein integriertes Zielsystem eingeführt, welches das Kernziel in Leitzie­ le für Handlungsschwerpunkte und Teilziele auf Fachbezugsebene runterbricht. Die Fachbereiche leisten in Tchibos integriertem Managementsystem hierzu ihre eigenen Beiträge und werden dabei durch den Direktionsbereich Unternehmens­ verantwortung unterstützt. Hier spielt das Controlling eine wichtige Rolle und hilft dem Unternehmen, Leistung zu messen und zu bewerten. 3. Anreizsysteme: Bei der VAUDE Sport GmbH & Co. KG werden bei allen Mitarbei­ tern Nachhaltigkeitsziele in den persönlichen Mitarbeiterzielen verankert mit dem Bestreben, diese bestmöglich umzusetzen. Ein konkretes Beispiel ist die Einführung einer verbindlichen Einkaufsrichtlinie basierend auf nachhaltigen

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Unternehmenswerten und einer Zielvereinbarung mit Einkäufern, um eine nach­ haltige Beschaffung umzusetzen. 4. Verwaltungssteuerung (in Führung, Organisation und Prozessen): Ein Beispiel der Verwaltungssteuerung ist die nachhaltige Beschaffung von Polizeihelmen der Stadt Zürich. Die Stadt Zürich beschafft nach dem Beschaffungsleitbild bezie­ hungsweise der Beschaffungsstrategie der Stadt, welche eine einheitliche und nachhaltige Beschaffungspolitik anzielt. Gemeinsam mit helvetas, B.Organic Swiss Cotton, Jenny Fabrics AG, CILANDER und Metzler initiierte die Stadt Zürich ein Pilotprojekt zur Fertigung von Polizeihemden aus Bio-Baumwolle. Seit 2009 ist das neue Standard-Hemd der Stadtpolizei sowie „Schutz und Rettung“ aus Bio-Baumwolle. Rund 1000 Polizisten und 600 Mitarbeitende von „Schutz und Rettung“ tragen nun ein qualitativ besseres und umweltfreundlicheres Hemd. 5. Nachhaltigkeitskultur (Gruppen, Werte, Symbole): Das Unternehmen hessnatur wurde 1976 von Dorothea und Heinz Hess gegründet und ist durch eine nach­ haltige Unternehmenskultur und ein Bekenntnis zu sozialen und ökologischen Werten und Visionen geprägt, die die Unternehmensstrategie steuern.

4 Ausgewählte Instrumente des Nachhaltigkeitscontrollings in Wertschöpfungsnetzwerken Von der Vielzahl möglicher Ausgestaltungen des Nachhaltigkeitscontrollings in Wert­ schöpfungsnetzwerken sollen zwei detailliert vorgestellt werden: Erstens die strate­ gische Steuerung nachhaltiger Transportprozesse und zweitens die Materialflusskos­ tenrechnung in der Lieferkette, für die die ISO-Norm 14052 eine Vorgehensweise vor­ schlägt (vgl. International Organization for Standardization 2017).

4.1 Strategische Steuerung nachhaltiger Transportprozesse Gerade Entscheidungen über die Nachhaltigkeit von Transportprozessen können oft nicht direkt vom Unternehmen beeinflusst werden, da sie außerhalb der rechtlichen Systemgrenze des Unternehmens liegen. Für den Fall, dass Transportprozesse als umweltrelevant eingestuft werden, gilt es zunächst zu prüfen, ob das Unternehmen diese steuern kann. Falls ja, können z. B. Transporteigenschaften, wie Mengen oder Dichte der gelieferten Güter, geographische Eigenschaften, Distanzen oder die Trans­ portart beeinflusst werden. Für den Fall, dass eine direkte Steuerung nicht möglich ist, können Entscheidungen auf strategischer Ebene gefällt werden. Denn die gesamte Wertschöpfungskette, die Wahl der Rohstoffe, der Produktionsprozess, Entsorgungs­ strategien und auch die Unternehmensinfrastruktur bestimmen die Erfordernisse des Transportprozesses. Für den Fall, dass das Unternehmen keine eigenen Entschei­ dungsmöglichkeiten hat, kann mit dem Logistikdienstleister über Beladungen und

Rohstoffextraktion Produktion End-of-life Behandlung Unternehmensinfrastruktur

Überdenken folgender Aspekte der Unternehmensstrategie:

Nein

Nein

Ja

Haben Sie großen Einfluss?

Lastfahrzeugeigenschaften

mit Logistikdienstleistern über folgende Kriterien verhandeln:

langfristiger Entscheidungshorizont

Neubewertung

Nein

mit pol. Entscheidungsträgern bei der gemeinsamen Berücksichtigung folgender Kriterien kooperieren:

Klima-/ Umweltbelastung öffent. Infrastruktur politische Entscheidungen Verkehrsszenarien Lieferbedingungen Fahrstil Frequenz Wegstreckenaufteilung Treibstoffverbrauch

Nein

Kooperation mit pol. Entscheidungsträgern

Logistikdienstleister zum Überdenken folgender Kriterien bewegen:

Ja

Haben Sie Einfluss?

Kooperation mit Logistikdienstleistern

kurz- und mittelfristiger Entscheidungshorizont

Frachteigenschaften geografische Spezifikationen Distanz Verkehrsträger

Überdenken folgender, den Transport betreffenden, Kriterien:

Ja

Haben Sie Kontrolle über das Kriterium?

Ja

Zeigt die Lebenszyklusanalyse, dass Transporte umweltrelevant sind?

Abb. 8: Entscheidungsbaum Nachhaltiger Transportstrategien (vgl. Greschner Farkavcoca/Rieckhof/Günther 2017).

Legende:

Transport Entscheidungskriterien

Aktion

Einflussreichweite

Nein

Kontrolle im Unternehmen

keine weitere Analyse notwendig

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die Eigenschaften der Fahrzeuge verhandelt werden. Auch weitergehende Fragen, wie Fahrstil, Häufigkeit, Fahrtenplanung und Betankung können die Umweltrelevanz der Transportprozesse beeinflussen. Schließlich kann auch eine Einflussnahme auf die politischen Entscheidungsträger indirekt Wertschöpfungsnetzwerke beeinflussen, im Transportbereich wären dies z. B. Infrastrukturentscheidungen. Der hier dargestellte Entscheidungsbaum (siehe Abbildung 8) kann dazu genutzt werden, Entscheidungen zu priorisieren und umweltorientierte Transportstrategien zu entwickeln (vgl. Greschner Farkavcova/Rieckhof/Günther 2017). Der Entschei­ dungsbaum kann auch auf andere Fragen der Steuerung von Wertschöpfungsnetz­ werken übertragen werden, da die Dimensionen Beeinflussbarkeit und Akteure auch in anderen Fällen gelten.

4.2 Materialflusskostenrechnung in der Lieferkette Ein zweites Instrument sei besonders hervorgehoben: Die mittlerweile als DIN EN ISO 14051:2011 normierte Materialflusskostenrechnung sowie deren Spezifizierung für die Lieferkette DIN EN ISO 14052:2017 (vgl. International Organization for Standardization 2017 und 2011). Sie zielt als material- und energieflussorientierter Kostenrechnungs­ ansatz darauf, einerseits die Umweltwirkungen des Unternehmens, aber auch der Lie­ ferkette zu steuern und andererseits Ineffizienzen zu minimieren und die Ressour­ ceneffizienz zu erhöhen, indem sie physikalische und kostenbezogene Informationen kombiniert. Durch die Quantifizierung und Visualisierung von Materialverlusten wird die Aufmerksamkeit des Managements auf den unerwünschten Output gelenkt, denn im Gegensatz zur üblichen Vorgehensweise in der Kostenrechnung werden die Kos­ ten eines Prozesses nicht nur den Produkten zugerechnet, sondern auch den Materialund Energieverlusten. Im einfachsten Fall erfolgt die Zurechnung nach der Masse. Die Idee ist, dass eine Verringerung der Produktionsabfälle auch zu einer Verringerung der Inputflüsse führt. Der Charme der Methode liegt darin, dass der Blick sowohl auf die Kosten als auch auf die Umweltwirkungen (z. B. Abfall, Abwasser, CO2 -Emissionen) gelenkt wird und dadurch eine Win-Win-Situation entsteht. Abbildung 9 veranschau­ licht die Idee der Materialflusskostenrechnung. Gerade, wenn die Analyse über einzelne Prozesse hinaus auf die Wertschöpfungs­ kette und den gesamten Lebenszyklus erweitert wird, verstärken sich die Einsparpo­ tentiale. Die Anwendung der Methodik kann aufzeigen, wie sich Materialverluste ent­ lang der Wertkette kumulieren können. Die Anwendung der Materialflusskostenrechnung im Textilsektor hat für viele Unternehmen zu signifikanten Ersparnissen geführt, besonders im Bereich des Be­ kleidungszuschnittes. Eine wissenschaftliche Studie von Kasemset, Chernsupornchai und Pala-ud (2015) zeigt in diesem Produktionsprozess signifikante Einsparungs­ potentiale auf. In der Praxis gibt es immer mehr Designer wie z. B. Natascha von Hirschhausen, die Zero-Waste- (Null-Abfall-) Schnittmuster erstellen, um hier Materi­ alverluste zu verhindern oder zu minimieren.

Nachhaltigkeitscontrolling in Wertschöpfungsnetzwerken |

Input Material (95 kg) Materialkosten € 950

Output

Mengenstelle Energiekosten Systemkosten Abfallmanagementkosten Anfangsbestand: Material (15 kg) € 150

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€ 50 € 800 € 80

Endbestand: Material (10 kg) € 100

Produkt (70 kg) Materialkosten Energiekosten Systemkosten Gesamtkosten

€ 700 € 35 € 560 € 1295

Materialverluste (30 kg) Materialkosten Energiekosten Systemkosten Abfallmanagementkosten Gesamtkosten

€ 300 € 15 € 240 € 80 € 635

Abb. 9: Materialflusskostenrechnung (vgl. DIN EN ISO 14051:2011).

5 Fazit Der vorliegende Artikel zeigt auf, wie ein Nachhaltigkeitscontrolling in Wertschöp­ fungsnetzwerken sowohl die Nachhaltigkeitsorientierung steuern als auch Produk­ tions- und Logistikentscheidungen begleiten kann. Die vielen Beispiele weisen auf zahlreiche Ansatzmöglichkeiten für Entscheidungsträger und Manager hin, um Nach­ haltigkeit in ihren Unternehmen umzusetzen. Die Beispiele veranschaulichen auch, dass sich kleine Veränderungen und Optimierungen addieren. So können Manager während der ohnehin kontinuierlich stattfindenden Change-Management-Prozesse Nachhaltigkeitsziele integrieren. Zum Beispiel könnte der Impuls des Nachhaltigkeits­ controllings integriert werden, wenn das Anreizsystem im Unternehmen überdacht wird. Hier können öffentlich verfügbare Best-Practice-Beispiele als Leitbild genutzt werden. Auch Mitarbeit und Mitgliedschaften in Verbänden können hier Hilfestellung leisten. Anknüpfend an die anderen in dem Handbuch diskutierten Themen kann der vorliegende Artikel zwei Beiträge leisten: (1) Die bereits auf Nachhaltigkeitsziele aus­ gerichteten Abhandlungen, wie z. B. zur Circular Economy oder zum nachhaltigen Supply Chain Management oder zur energie- und ressourceneffizienten Produktion können die in dem Artikel vorgeschlagene Systematik nutzen, um die Entscheidungs­ findung der Manager in Richtung Nachhaltigkeit zu unterstützen (vgl. Chenhall 2003, S. 129). (2) Der Artikel kann die Abhandlungen zu klassischen Fragen in Produktion und Logistik ergänzen, indem zentrale Themen des Controllings, wie Wertschaffung, Strategieentwicklung und Verhaltenssteuerung mit der Entwicklung von Anreizsyste­ men, der Transportplanung oder der Lieferantenauswahl verknüpft werden und die von Simons (1995) so genannte „limited management attention“ auf die Möglichkeiten einer Nachhaltigkeitsorientierung erweitert wird.

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Heinz Ahn und Marcel Clermont

Performance Measurement 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 2.3 3

Konzeptionelle Grundlagen | 886 Begriff der Performance | 886 Subjektivität der Bewertung | 888 Leitfaden für eine Performanceanalyse | 890 Ausgewählte Methoden zur Datenaggregation | 895 Data Envelopment Analysis | 895 Stochastic Frontier Analysis | 897 Stochastic Non-Smooth Envelopment of Data | 898 Vom Performance Measurement zum Performance Management: Das Beispiel der Balanced Scorecard | 899 Literatur | 901

Zusammenfassung. Performanceanalysen ermöglichen eine systematische Ergrün­ dung und Bewertung der Leistungserbringung von Untersuchungseinheiten. Zwei zentrale Performancedimensionen sind die Effektivität und Effizienz, deren Charakte­ risierung den Ausgangspunkt des Beitrags bilden. Alsdann wird auf die Subjektivität von Performanceanalysen eingegangen. Ihr kann lediglich mit einer transparenten, systematischen Vorgehensweise Rechnung getragen werden, weshalb ein entspre­ chender Leitfaden skizziert wird. Er umfasst unter anderem das eigentliche Perfor­ mance Measurement, aus dem drei Methoden vorgestellt werden, namentlich die Data Envelopment Analysis, die Stochastic Frontier Analysis und die Stochastic-NonSmooth Envelopment of Data. Abschließend wird am Beispiel der Balanced Scorecard der Bogen vom Performance Measurement zum Performance Management betriebli­ cher Leistungen geschlagen.

1 Konzeptionelle Grundlagen 1.1 Begriff der Performance Es gibt in der Literatur unterschiedliche Ansätze den Terminus Performance zu defi­ nieren (vgl. z. B. den Überblick in Hilgers 2008, S. 30 ff.). Häufig werden hierunter die Effektivität und Effizienz behandelt (vgl. z. B. Gilles 2005, S. 20; Gleich/Haindl 1996, S. 263; Lohman/Fortuin/Wouters 2004, S. 268; Neely/Gregory/Platts. 1995, S. 80). Die­ se Performancedimensionen spielen in der Betriebswirtschaftslehre zur Bewertung unternehmerischer Handlungen eine große Rolle, wobei sie unterschiedlich definiert und heterogen verwendet werden (zu einer Übersicht vgl. Lasshoff 2006, S. 11 ff.). Im https://doi.org/10.1515/9783110473803-046

Performance Measurement | 887

Folgenden werden die entscheidungstheoretisch orientierten Definitionen von Ahn und Dyckhoff (2004) herangezogen. Sie weisen nicht nur eine hohe Kompatibilität zum gängigen Sprachgebrauch von Effektivität und Effizienz in Wissenschaft und Pra­ xis auf, sondern sind auch in besonderem Maße für eine entscheidungs- und produk­ tionstheoretisch fundierte Messung der Leistungserbringung geeignet. Ausgehend von einer bestimmten Entscheidungssituation und allen damit ver­ bundenen Zielsetzungen fokussiert Effektivität ausschließlich auf die als Zwecke bezeichneten und durch fundamentale Ziele konkretisierten, originären Beweggrün­ de des Handelns. Effektiv ist eine Handlung dann, wenn die aus ihr resultierenden Zustandsveränderungen den beabsichtigten Zwecken entsprechen. Effizienz bezieht sich dagegen auf alle mit einer Handlung verbundenen Ziele, also auf jegliche, auch unbeabsichtigte Eigenschaften zukünftiger Zustände. Neben den Zwecken sind daher ebenfalls der mit einer Handlung einhergehende Mitteleinsatz sowie die erwünschten und unerwünschten Nebenfolgen zu betrachten. Dadurch wird das Effizienzkriterium der Tatsache gerecht, dass die Realisierung der originären Handlungsziele zwingend Nachteile, aber gegebenenfalls auch weitere Vorteile mit sich bringt. Gemäß dem von Weber (1976, S. 13) postulierten Konstrukt der Zweckrationalität berücksichti­ gen Effektivität und Effizienz die Ziele in dreierlei Hinsicht: durch Abwägung der Zwecke untereinander (Bezugspunkt Effektivität) sowie der Zwecke gegen die Mittel und gegen die Nebenfolgen (Bezugspunkt Effizienz). Abgesehen von der Betrach­ tung sämtlicher Ziele bezieht sich die Effizienz im Gegensatz zur Effektivität zudem grundsätzlich auf den Vergleich mehrerer Handlungsalternativen. Eine solche gilt als effizient, wenn sie eine Zustandsveränderung bewirkt, die bei Wahl einer anderen Alternative im Hinblick auf kein Ziel eine Verbesserung erlaubt, ohne gleichzeitig bei einem anderen Ziel zu einer Verschlechterung zu führen. Durch die Einschränkung auf bestimmte Zielkategorien lassen sich spezielle Ef­ fektivitäts- und Effizienzkonzepte definieren. So führt der Bezug auf ausschließlich umweltbezogene Ziele zur Öko-Effektivität beziehungsweise Öko-Effizienz, und die Beleuchtung allein monetärer Aspekte lässt auf die ökonomische Zweckmäßigkeit so­ wie die – traditionell im Rechnungswesen behandelte – (wertmäßige) Wirtschaftlich­ keit einer Handlung schließen. Das Spektrum solcher Partialbetrachtungen ist sehr vielfältig: Beispielsweise kann der Fokus auf einem Zweck oder auf mehreren Zwecken liegen, Nebenfolgen können beachtet oder vernachlässigt werden, und Mittel können in einem anderen Kontext zu zweckbezogenen Zielen werden. Neben der Auswahl be­ stimmter Ziele führt auch die Auswahl einer Teilmenge der in einer spezifischen Ent­ scheidungssituation grundsätzlich relevanten Handlungsalternativen zu einer ledig­ lich partiellen Effizienzbetrachtung. Die angesprochenen Konstrukte (Effektivität, Effizienz etc.) und die in diesem Kontext relevanten Informationen (über Ziele, Präferenzen etc.) können sich auf eine Bewertung sowohl vor als auch nach Leistungserbringung beziehen. Deshalb kann auf eine konzeptionelle Differenzierung zwischen der Bewertung potenzieller Perfor­ mance im Rahmen von Entscheidungsfindungsprozessen und der Bewertung geleis­

888 | Heinz Ahn und Marcel Clermont

teter Performance im Rahmen von Kontrollprozessen verzichtet werden. Damit ein­ hergehend wird im Folgenden nicht differenziert zwischen (Handlungs-)Alternativen, auf welche die Entscheidungstheorie als Bewertungsobjekte abstellt, und Produkti­ on(saktivität)en, auf welche die Produktionstheorie als Bewertungsobjekte abstellt; beide Begriffe lassen sich im Rahmen einer kombinierten ex ante- und ex post-Bewer­ tung ineinander überführen. Nachfolgend wird deshalb verallgemeinert von Unter­ suchungseinheiten gesprochen.

1.2 Subjektivität der Bewertung Welche Ziele und Handlungsalternativen in einer bestimmten Bewertungssituation von Bedeutung sind, ist letztlich abhängig von den Präferenzen des jeweiligen Be­ trachters. So liegt es prinzipiell in seinem Ermessen, wie einzelne Aspekte interpretiert werden, ob sie z. B. Zwecke oder erwünschte Nebenfolgen, Mittel oder unerwünsch­ te Nebenfolgen darstellen (vgl. Ahn/Dyckhoff 2004, S. 517 ff.). Bewertungen sind also per se subjektiv (in Bezug auf die Beurteilung von Arbeitsleistungen vgl. z. B. Tappe 2014). Eingeschränkt wird der entsprechende Spielraum freilich von den Informati­ onsbedarfen der an den Leistungen interessierten Stakeholder, die zunehmend Ein­ fluss auf Unternehmensentscheidungen nehmen (wollen). So zeigen Entwicklungen wie Prosuming oder Mass Customization (vgl. z. B. Piller 2004), dass der Konsument immer stärker in die Entwicklungs- und die Produktionsphase der Unternehmen ein­ gebunden wird. Daneben ist auch die Wahrnehmung der Bevölkerung bezüglich der Funktions- und Arbeitsweisen von Unternehmen im Rahmen einer hohen, immer we­ niger Lücken aufweisenden Informationsversorgung deutlich gestiegen. Um sich der zahlreichen Einflüsse unterliegenden Subjektivität einer Bewertung bewusst zu werden, sind die subjektiven Elemente offenzulegen. Auf diese Weise kann auch für Dritte Transparenz geschaffen und einer Kritik über die mangelnde Nach­ vollziehbarkeit von Performanceanalysen entgegengewirkt werden, um letztlich die Akzeptanz resultierender Ergebnisse und darauf aufbauender Entscheidungen zu er­ höhen. Vor diesem Hintergrund werden nachfolgend Bewertungsprozesse aus ent­ scheidungs- und produktionstheoretischer Sicht beschrieben, und der grundlegende Zusammenhang zwischen Entscheidern im Unternehmen und differierenden, unter­ nehmensinternen beziehungsweise -externen Bewertenden wird aufgezeigt. Ableitend aus den Vorüberlegungen ist für eine aussagekräftige Performance­ messung Klarheit über alle in einer spezifischen Situation aus Sicht des Bewerten­ den relevanten Ziele, Handlungsalternativen und damit verbundenen Zustandsver­ änderungen erforderlich. Im Kontext von Transformationsprozessen bietet die von Dyckhoff (2006) entwickelte entscheidungsorientierte Produktionstheorie dazu einen entscheidungs- und zugleich produktionstheoretisch fundierten Rahmen. Während konventionelle produktionstheoretische Überlegungen meist rein mengen- und kos­ tenbezogen sind, ermöglicht die entscheidungsorientierte Produktionstheorie die Be­

Performance Measurement | 889

Wertprämissen

Subjektsystem „Entscheider“

Subjektsystem „Bewertender“

Zielsystem

Zielsystem

Beeinflussung

Informationssystem

Informationen

Faktenprämissen

Wertprämissen

Entscheidungslogik

weitergeleitete Informationen

Entscheidungsfeld Objektsystem „Produktionsprozess“

Beeinflussung

Wertprämissen

Informationssystem

Faktenprämissen

Wertprämissen

Bewertungslogik

Aktivitäten

wahrgenommene Informationen Beeinflussung

Abb. 1: Produktionsprozess als Entscheidungs- und Bewertungsprozess (auf Basis von Bamberg/ Coenenberg 2012, S. 1 f.; Dyckhoff 2003, S. 17).

rücksichtigung auch anderer, insbesondere nicht-wirtschaftlicher Ziele eines Trans­ formationsprozesses, wie z. B. solche ökologischer oder sozialer Art. Dies gelingt durch die Einbeziehung des dispositiven Faktors Produzent und weiterer Perso­ nen(gruppen), aus deren Perspektive eine produktionstheoretische Betrachtung er­ folgt und die somit die Rolle eines Entscheiders einnehmen. Der Transformationspro­ zess selbst wird im Sinne von Bamberg und Coenenberg (2012, S. 1 f.) als Interakti­ onsprozess zwischen dem Objektsystem der Produktion und dem Subjektsystem des Entscheiders aufgefasst (vgl. linker Teil der Abbildung 1). Das Objektsystem beziehungsweise synonym Entscheidungsfeld (vgl. Ewert/ Wagenhofer 2014, S. 32) umfasst alle technisch realisierbaren Handlungsalternativen, Umfeldkonstellationen und die aus der Kombination dieser beiden Bewertungsfakto­ ren resultierenden Ergebnisse der Produktion. Aus Sicht der Produktionstheorie kön­ nen diese Ergebnisse in die Kategorien eingesetzte Mittel (Input), Bedingungskonstel­ lationen (Prozess), den Transformationsprozess abschließende Ergebnisse (Output) sowie Wirkungen des Transformationsprozesses außerhalb des Produktionssystems (Outcome) klassifiziert werden. Neben diesen Ergebnisarten, die auf der Struktur eines um den Outcome erweiterten Produktionsmodells beruhen (vgl. Rassenhövel/Dyck­ hoff 2006, S. 93), resultieren aus einer dynamischen und stochastischen Betrachtung weitere, zeit- und sicherheitsbezogene Ergebnisklassen (vgl. Dyckhoff 2003, S. 28). Dieses objektive Entscheidungsfeld wird im Hinblick auf die Zwecke und sonsti­ gen Ziele des Entscheiders gemäß seinen damit verbundenen Wertprämissen sowie seiner Realitätswahrnehmung in seinem individuellen Informationssystem (Subjekt­

890 | Heinz Ahn und Marcel Clermont

system) abgebildet. Es entsteht eine subjektive Bewertungsgrundlage, die zwar aus den objektiven Bestandteilen des Entscheidungsfeldes hervorgeht, diese aber nur mehr oder weniger umfassend und wirklichkeitsgetreu wiedergibt. Durch logische Verknüpfungen der sich ergebenden faktischen Prämissen mit weiteren vom Zielsys­ tem gelieferten Wertprämissen erfolgt schließlich die Bewertung der Produktionsak­ tivitäten. Bisher wurde implizit davon ausgegangen, dass die Bewertung einer Produk­ tion durch denjenigen vorgenommen wird, der auch die Entscheidung zugunsten bestimmter Produktionsalternativen (als Handlungsalternativen) trifft. Wie bereits verdeutlicht, existieren in der Regel neben diesen Entscheidern noch weitere In­ teressengruppen, die im Allgemeinen nicht darüber entscheiden, welche Produkti­ onsalternative durchgeführt wird, diese jedoch vor oder nach ihrer Durchführung bewerten. Im Prinzip hat dabei jeder Bewertende ein eigenes Zielsystem und wird den Produktionsprozess anhand seines individuellen Präferenzsystems beurteilen. Entsprechend können die Grundüberlegungen von Bamberg/Coenenberg (2012) und Dyckhoff (2006) um eine zusätzliche Komponente erweitert werden: das Subjekt­ system des Bewertenden. Dieses zusätzliche, im Hinblick auf den Bewertungsprozess relevante Subjektsystem ist in Abbildung 1 auf der rechten Seite illustriert. Es sei ange­ merkt, dass es sich hier nur um eine exemplarische Darstellung handelt. Zum einen blendet sie die Prinzipal-Agenten-Problematik aus (vgl. Wagenhofer 1997, S. 68 ff.), zum anderen können Bewertende sehr heterogen sein, wodurch mehrere für das Unternehmen relevante Subjektsysteme „Bewertender“ existieren können. Grundsätzlich resultieren für den Bewertenden die gleichen Überlegungen wie für Subjekte, die Entscheidungsbefugnisse besitzen. Im Rahmen der Zielvorstellungen der Bewertenden werden Wertprämissen generiert, welche ihre Informationsverarbei­ tung und Bewertungslogik beeinflussen. Die Bewertung einer Handlung kann nun­ mehr allerdings das Entscheidungsfeld des Entscheiders beeinflussen. Gelangen Kun­ den beispielsweise zu einer negativen Qualitätsbewertung eines Konsumgutes, dann führt diese Bewertung zu einer negativen Kaufentscheidung, die wieder unmittelbar Ergebnisausprägungen im Entscheidungsfeld des Entscheiders beeinflussen können (z. B. sinkender Umsatz). Antizipiert der Entscheider diesen Einfluss ex ante, wird er sein Entscheidungsfeld entsprechend anpassen.

1.3 Leitfaden für eine Performanceanalyse In der Literatur wurde im Rahmen der Ermittlung und Bewertung von Leistungen vor allem der Begriff des Performance Measurements geprägt (vgl. z. B. Gilles 2005, S. 31; Hubig 2008, S. 126; Neeley/Gregory/Platts 1995, S. 80). Hierunter wird zumeist die Bestimmung, Berechnung und Interpretation von Performancemaßgrößen verstan­ den (vgl. Gilles 2005, S. 31 ff.). Dies sollte im Rahmen eines fundierten und nachvoll­ ziehbaren Prozesses geschehen. Es liegt auf der Hand, dass sich damit zum einen

Performance Measurement | 891

(P1) Festlegung des Bezugsrahmens

(M3) Evaluation

(P2) Analyse der Adressatenziele

(M2) Auswahl von Methoden zur Datenaggregation

(P3) Ableitung zielbezogener Maßgrößen

(M1) Datenerhebung und -voranalyse

Abb. 2: Vorgehensschema für eine Performanceanalyse.

die Entscheidungsqualität erhöhen und intersubjektiv nachprüfen lässt. Zum ande­ ren wird die maßgrößenbasierte Verhaltenssteuerung Dritter erleichtert, indem dem Eindruck einer willkürlichen, intransparenten Auswahl solcher Größen entgegenge­ wirkt wird (zur entsprechenden Differenzierung zwischen Entscheidungsunterstüt­ zung und Verhaltenssteuerung siehe Demski/Feltham 1976, S. 8 ff.; Wagenhofer 1997, S. 68 ff.). Maßgebend ist somit die Systematik und Transparenz des Vorgehens. Zu de­ ren Sicherstellung reicht die Betrachtung eines Performance Measurements im obi­ gen, engen Sinne allerdings nicht aus. Vielmehr ist mit Blick auf eine fundierte Per­ formanceanalyse z. B. zusätzlich festzulegen, aus welcher Perspektive eine Bewertung stattfindet, welchen Quellen die notwendigen Daten entnommen werden sollen, wer Zugang zu Daten sowie Ergebnissen erhält und wofür diese verwendet werden dürfen. Eine entsprechende Hilfestellung bietet das in Abbildung 2 dargestellte Vorge­ hensschema. Es fußt auf vorhandenen, oft methodenspezifischen Schemata (vgl. z. B. Dyckhoff/Ahn 1997; Emrouznejad/De Witte 2010) und umfasst die beiden Phasen der Planung (P) und Messung (M), welche wiederum in drei Teilphasen gegliedert sind. (P1) Festlegung des Bezugsrahmens Ein Bezugsrahmen steckt in vielfältiger Hinsicht die Grenzen einer Performanceanaly­ se ab. Zentral ist diesbezüglich die Frage nach ihrem jeweiligen Zweck. Eine möglichst präzise Formulierung dieses Zweckes impliziert oft bereits die Ausprägung weiterer Aspekte des Bezugsrahmens, zumindest wird deren Spezifizierung aber erleichtert. Nachfolgend seien einige dieser Aspekte exemplarisch angesprochen. So ist zu ergründen, welche unternehmensinternen und/oder -externen Adressa­ ten mit den Ergebnissen der Performanceanalyse erreicht werden sollen. Damit ver­ knüpft ist die Frage, wer die Analyse durchführt. Neben dem Fall rein unternehmens­

892 | Heinz Ahn und Marcel Clermont

interner Bewertungen sind nicht selten auch Unternehmensexterne die Bewertenden, etwa wenn Analysten ein Geschäftsfeld evaluieren oder Unternehmensberater eine mögliche Reorganisation der Verwaltung auf Effizienzpotenziale hin überprüfen. Die­ se Beispiele zeigen zugleich, dass es maßgeblich von den Adressaten – hier die (Fi­ nanz-)Öffentlichkeit beziehungsweise die Geschäftsführung – abhängt, welche Un­ tersuchungseinheiten hinsichtlich ihrer Performance analysiert werden sollen. Dabei spielen situative Faktoren eine große Rolle, deren Einfluss bis auf die Ebene einzel­ ner Leistungsbestandteile reicht. So wird ein Rettungsdienst bei Inanspruchnahme an der unverzüglichen Bereitschaft des Krankenwagens, der schnellen, aber sicheren Beförderung zum Krankenhaus und der ärztlichen Versorgung des Patienten gemes­ sen werden. Jenseits einer tatsächlichen Inanspruchnahme kann aber auch die Leis­ tungsbereitschaft des Rettungsdienstes im Vordergrund der Bewertung stehen (vgl. Richter/Souren 2008). Als weiterer zentraler Aspekt ist festzulegen, an welchem Vergleichsmaßstab eine konkrete Leistung gespiegelt werden soll. Ein solcher Maßstab kann fix sein, z. B. im Sinne einer Idealvorstellung hinsichtlich der Zielerfüllung, oder relativ, z. B. im Sinne eines Vergleichs der zu evaluierenden Untersuchungseinheiten miteinander. Letztge­ nanntes Beispiel entspricht dem, was allgemein unter Benchmarking verstanden wird (zu den diesbezüglichen Vor- und Nachteilen vgl. z. B. Bräuning 2007). In allen Fällen gilt, dass es keine Bewertung ohne Vergleichsmaßstab geben kann – es mag lediglich sein, dass sich ein Bewertender nicht des zugrundeliegenden Maßstabs bewusst ist. (P2) Analyse der Adressatenziele Die Festlegung der zu berücksichtigenden Ziele stellt sich in der Praxis oftmals als unerwartet schwierig heraus. Zwecks Bewältigung dieser Aufgabe wird in der Litera­ tur empfohlen, auf Basis von Zielbeziehungen zunächst ein hierarchisch aufgebautes, operationales Zielsystem zu erstellen. Dazu existiert eine Reihe hilfreicher Konzepte. Abbildung 3 stellt einige dieser Konzepte in ihrem Zusammenhang dar. Als ersten Ansatzpunkt zur Erstellung eines Systems von Zielen bietet es sich an, auf bestehende Strukturierungsvorschläge zurückzugreifen. Dazu zählt die bereits angesprochene Differenzierung zwischen den zentralen Performancedimensionen Effektivität und Effizienz sowie ihre Spezifizierung anhand der Unterscheidung zwi­ schen zweckbezogenen Zielen, einzusetzenden Mitteln und (un-)erwünschten Neben­ folgen. Um diesen drei Zielkategorien konkrete Ziele adressatengerecht zuzuordnen, wird z. B. vorgeschlagen, schrittweise die Werte, Verhaltensmodelle und Strategien von – primären und sekundären – Stakeholdern zu analysieren (zu Details dieses Konzepts und einem entsprechenden Beispiel vgl. Ahn/Le 2016). Die aus einem solchen Vorgehen abgeleiteten Ziele werden oftmals nicht opera­ tional genug sein, um sie direkt zur Performancemessung heranzuziehen. Sie bilden dann lediglich Oberziele, die in einem nächsten Schritt in ihre Unterziele aufzuspal­ ten sind. Dieser Top-down-Ansatz lässt sich durch einen Bottom-Up-Ansatz ergänzen, wobei in beiden Fällen die Sicherstellung eines entscheidungslogischen Zusammen­

Performance Measurement |

893

Fundamentalität

zweckbezogene Ziele

Einfachheit

Oberziele

Mittel

Nebenfolgen

zur Effektivitätsmessung zur Effizienzmessung aus Sicht primärer Stakeholder

aus Sicht sekundärer Stakeholder

versus Messbarkeit

Vollständigkeit und Redundanzfreiheit

Unterziele möglichst entscheidungslogische Strukturierung

Präferenzunabhängigkeit

Abb. 3: Zusammenführung wesentlicher Konzepte zur Zielstrukturierung.

hangs von Unter- und Oberzielen vorteilhaft ist. Dies ist der Fall, wenn ein Oberziel durch seine Unterziele vollständig und redundanzfrei beschrieben wird. Ein derart ab­ geleitetes Zielsystem begünstigt neben der Sicherstellung seiner Vollständigkeit und Redundanzfreiheit die Gewährleistung weiterer Anforderungen. Aus entscheidungs­ theoretischer Sicht gehören dazu die Fundamentalität, Präferenzunabhängigkeit und Messbarkeit der Ziele sowie die Einfachheit des letztlich als relevant erachteten (Teils des) Zielsystems (vgl. Eisenführ/Weber/Langer 2010, S. 35 ff.; mit Bezug auf ein kon­ kretes Beispiel vgl. auch Ahn et al. 2012). Unter die Analyse der Adressatenziele kann ferner die Bestimmung des soge­ nannten Zielplans subsumiert werden. Dazu zählt zum einen die Entscheidung, gegebenenfalls nur einen Ausschnitt aus dem abgeleiteten Zielsystem zur Perfor­ mancemessung heranzuziehen. Zum anderen bedarf es für einen quantitativen Leis­ tungsvergleich zielbezogener Präferenzen. Ein entsprechend vollständig formuliertes Präferenzsystem umfasst die Arten-, Höhen-, Risiko- und Zeitpräferenz (vgl. Ewert/ Wagenhofer 2014, S. 33 f.). Da Präferenzen je nach Bewertungskontext, insbesondere in Abhängigkeit vom jeweils Bewertenden, stark schwanken können, wird hier die einer Bewertung immanente Subjektivität besonders deutlich. (P3) Ableitung zielbezogener Maßgrößen Mit der Forderung nach Messbarkeit der Ziele verknüpft ist die Notwendigkeit zu bestimmen, anhand welcher Maßgrößen – in der Entscheidungstheorie spricht man von (Ziel-)Attributen – die Zielerfüllung gemessen werden soll. Eisenführ, Weber und Langer (2010, S. 74 ff.) unterscheiden diesbezüglich natürliche, Proxy- und künstli­ che Attribute. Während sich die erstgenannten unmittelbar aus den entsprechenden Zielen ergeben (z. B. ist die Maßgröße für ein Umsatzziel der Umsatz selbst), dienen die beiden anderen Arten der Quantifizierung nicht eindeutig messbarer Ziele. Dazu

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gehören etwa Qualitätsziele, die typischerweise unbestimmt sind und deshalb der Zuordnung messbarer Ersatzgrößen bedürfen. Es handelt sich bei diesen Attributen somit um Korrespondenzregeln, durch die von einem beobachtbaren Sachverhalt auf die nicht direkt wahrnehmbare Zielerfüllung geschlossen werden kann (vgl. z. B. Corsten/Gössinger 2008, S. 302). Während Proxy-Attribute einzelne Ersatzgrößen sind, die sich in Indikatoren und Ursache-Wirkungs-Vermutungen differenzieren las­ sen, stellen künstliche Attribute aus mehreren Proxy-Attributen zusammengesetzte Ersatzgrößen dar. Im Rahmen der Festlegung der jeweiligen zielbezogenen Maßgröße ist eine Reihe von Anforderungen abzuwägen. In pragmatischer Hinsicht lassen sich vor allem die Datenverfügbarkeit und Wirtschaftlichkeit der Datenerhebung nennen, in qualitati­ ver Hinsicht die Validität und Reliabilität einer Maßgröße, d. h. ihre Beschreibungs­ güte und Zuverlässigkeit (vgl. Kromrey 2006, S. 179 ff.). Diese Anforderungen fokus­ sieren auf die Entscheidungsunterstützungsfunktion der Performanceanalyse. Steht dagegen ihre Verhaltenssteuerungsfunktion im Vordergrund, sind weitere Aspekte zu beachten, die der Akzeptanz der Maßgrößen und damit letztlich des Zielsystems die­ nen. Insbesondere ist sicherzustellen, dass derjenige, der mittels Indikatoren ange­ reizt werden soll, die Ausprägungen dieser Indikatoren auch beeinflussen kann. (M1) Datenerhebung und -voranalyse Im Rahmen des ersten Schrittes zur eigentlichen Messung der Performance gilt es, die Möglichkeiten der Datenerhebung abzuwägen sowie eine erste Analyse der erhobe­ nen Daten vorzunehmen. So ist zunächst zu überlegen, mittels welcher Quellen und Methoden die Ausprägungen der als relevant erachteten Maßgrößen ermittelt werden können. Auch die Form der Datendokumentation beziehungsweise -speicherung will überlegt sein. Ferner ist es notwendig, die Vollständigkeit, Korrektheit und Homogeni­ tät der generierten Datensätze zu prüfen. Schließlich wirkt sich die Entscheidung, wie mit entsprechend beeinträchtigen Datensätzen verfahren werden soll, auf die nächs­ ten beiden Schritte aus. (M2) Auswahl von Methoden zur Datenaggregation Mittels Aggregation der Ausprägungen der zielbezogenen Maßgrößen auf Basis des unter P2 bestimmten Zielplans lassen sich die Effektivität beziehungsweise Effizienz sowie weitere Performancedimensionen der betrachteten Alternativen quantifizie­ ren; hierzu steht mittlerweile eine Reihe von Methoden, vor allem des Operations Re­ search, zur Verfügung (vgl. diesbezüglich Abschnitt 2). Aber auch die Ermittlung eines einzigen, nicht zwischen Performancedimensionen differenzierenden Performance­ werts ist denkbar, dazu könnten die Methoden aus dem Bereich der Multi-Criteria Decision Analysis herangezogen werden. Letztlich ist die Auswahl der Methode(n) zur Datenaggregation wiederum als spezielles Problem der Performancemessung interpretierbar.

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(M3) Evaluation Der letzte Schritt dient der Bewertung der mittels der eingesetzten Methoden generier­ ten Ergebnisse. Über deren Kenntnisnahme und Würdigung hinaus geht es dabei auch um deren kritische Hinterfragung. Insbesondere nicht plausibel erscheinende Resul­ tate können den Anstoß geben, getätigte Annahmen (z. B. hinsichtlich der Vergleich­ barkeit der Untersuchungseinheiten und der Adäquatheit der zielbezogenen Maßgrö­ ßen) zu überprüfen und die Bewertung gegebenenfalls anzupassen. Der entsprechend iterative Charakter fundierter Bewertungsprozesse ergibt sich auch aus Wechselwir­ kungen zwischen den einzelnen Prozessphasen. Beispielsweise kann die gewählte Aggregationsmethode Anforderungen an die Datenbasis stellen, die zuvor nicht be­ rücksichtigt wurden. Besonders iterative Bewertungen bergen freilich auch die Gefahr der Manipulati­ on mit Blick auf ein gewünschtes Ergebnis. Dieser Gefahr kann durch die Schaffung von Methodenkenntnis in den evaluierten Einheiten und durch Transparenz bezüg­ lich des Vorgehens zumindest entgegengewirkt werden. Bewährt hat sich ebenso die Beteiligung unabhängiger Benchmarking-Experten. Mit Blick auf die Datenaggregati­ on gilt dies vor allem beim Einsatz von Methoden des Operations Research. Im Folgen­ den werden drei Beispiele dieser einerseits komplexeren, andererseits tiefergehenden Erkenntnisse schaffenden Methoden skizziert.

2 Ausgewählte Methoden zur Datenaggregation 2.1 Data Envelopment Analysis Die Data Envelopment Analysis (DEA) ist ein nicht-parametrischer Ansatz zur Bewer­ tung der Effizienz von Untersuchungseinheiten – sogenannter Decision Making Units. Deren Leistung wird im produktionstheoretischen Sinne als Verhältnis der gewichteten Summe eingesetzter, zu minimierender Inputs zur gewichteten Summe her­ gestellter, zu maximierender Outputs definiert. Davon ausgehend beinhaltet das Grundkonzept der DEA drei Schritte: Zunächst wird unter den Annahmen von „Free Disposability“ und „Non-Emptiness“ aus den Semipositiv-Linear- beziehungsweise Konvexkombinationen der über die Inputs und Outputs in ihrer Leistung beschriebe­ nen Untersuchungseinheiten eine sie umhüllende Technik T env mit einem effizienten Rand T env, eff konstruiert. Sodann wird eine Vorschrift zur Bestimmung der Entfer­ nung der ineffizienten Einheiten zu T env, eff bestimmt. Sie ordnet diesen Einheiten eine auf T env, eff liegende (reale oder virtuelle) Referenzeinheit als Benchmarks zu und beinhaltet ein entsprechendes Abstandsmaß. Auf dieser Basis lässt sich nun mit Hilfe mathematischer Programmierungsmodelle für jede Untersuchungseinheit deren (In-)Effizienzwert berechnen, welcher eine Aussage über das im Vergleich zur Referenzeinheit vorhandene Verbesserungspotenzial erlaubt. Für eine effiziente Un­

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tersuchungseinheit beträgt der Effizienzwert 100 %, für eine ineffiziente Einheit liegt er zwischen 0 % und 100 %. Es existieren vier grundlegende DEA-Basismodelle, die danach differenziert wer­ den können, ob konstante oder variable Skalenerträge postuliert werden (CCR- vs. BCC-Modelle) und ob eine Input- oder Outputorientierung angenommen wird (vgl. Charnes/Coope/Rhodes 1978; Banker/Charnes/Cooper 1984). Letztgenannte Annah­ me bezieht sich auf die Projektion der ineffizienten Untersuchungseinheiten auf den effizienten Rand. Bei einer Inputorientierung wird der jeweilige Effizienzwert ermit­ telt, indem die maximal mögliche proportionale („radiale“) Inputverringerung ohne Outputeinbußen berechnet wird; bei einer Outputorientierung wird die maximal mög­ liche proportionale Outputsteigerung ohne Erhöhung der Inputs bestimmt. Formal lässt sich das CCR-Modell wie folgt formulieren: Es werden n Untersu­ chungseinheiten j = 1, . . . , n betrachtet, die jeweils m Inputs x j = (x1j,..., x mj ) ∈ ℝ+m in s verschiedene Outputs y j = (y1j,..., y sj ) ∈ ℝ+s transformieren. Zu lösen sind nachfol­ gende Probleme, dargestellt in ihrer Umhüllungsform bei a) Input- beziehungsweise b) Outputorientierung: a)

min θ0 , so dass

b)

n

∑ λ j x ij ≤ θ0 x i0

n

∀i

j=1 n

∑ λ j y rj ≥ y r0

∑ λ j x ij ≤ x i0

∀i

j=1 n

∀r

j=1

λj ≥ 0

max η0 , so dass

∑ λ j y rj ≥ η0 y r0

∀r

j=1

∀j

λj ≥ 0

∀j.

Im inputorientierten Fall gibt der Effizienzwert Θ0I :=θ0 die maximal mögliche propor­ tionale Verringerung aller Inputs der betrachteten Untersuchungseinheit 0 bei gleich­ bleibenden oder zu erhöhenden Outputs wieder. Im outputorientierten Fall bemisst η0 den Faktor, um den diese Einheit ihre Outputs proportional erhöhen muss, diesmal unter der Bedingung, dass die Inputs gleich bleiben oder gesenkt werden können. Um in Analogie zur Inputorientierung einen auf 0 und 1 normierten Effizienzwert Θ0O zu er­ halten, wird Θ0O := η10 gesetzt. Die Effizienzwerte beider CCR-Modellvarianten sind auf Grund des Strahlensatzes der Geometrie identisch (vgl. Thanassoulis/Portela/Despic 2008). Allerdings können sich die Lösungen beider Modelle dahingehend unterschei­ den, dass verschiedene Benchmarks generiert werden. Die entsprechenden BCC-Modelle unterscheiden sich von den obigen CCR-Model­ len nur durch folgende zusätzliche Restriktion bezüglich der Aktivitätsvariablen λ j : ∑nj=1 λ j = 1. Dadurch ergibt sich der effiziente Rand als Konvexkombination der Un­ tersuchungseinheiten, während er beim CCR-Ansatz aus ihrer Semipositiv-Linearkom­ bination resultiert. Das hat insbesondere zwei Konsequenzen: Die BCC-Effizienzwerte sind stets größer oder gleich den CCR-Effizienzwerten, und erstere können für das out­ put- und das inputorientierte Modell unterschiedlich hoch sein.

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Im Laufe der Zeit ist eine Fülle weiterer DEA-Modellvarianten entwickelt worden (einen diesbezüglichen Überblick liefern beispielsweise Cook/Seiford 2009; Liu et al. 2013). Stellvertretend für die vielfältigen Stoßrichtungen der DEA-Forschung und ihrer Protagonisten seien hier einige exemplarisch genannt, und zwar die Ansätze zur – Messung der Effizienzveränderung im Zeitverlauf (vgl. Färe et al. 1992; O’Donnell/ Fallah-Fini/Triantis 2017); – Einbindung von Informationen hinsichtlich einer Kriteriengewichtung (vgl. Allen et al. 1997; Podinovski 2015); – Multidirektionale Effizienzmessung (vgl. Chambers/Chung/Färe 1998; Sahoo/ Mehdiloozad/Tone 2014); – Modellierung von Produktionsnetzwerken (vgl. Färe/Großkopf 2000; Kao 2014); – Berücksichtigung erwünschter Input- und unerwünschter Outputarten (vgl. Dyck­ hoff/Allen 2001; Seiford/Zhu 2002): – Modellierung eines semi-zentralen Managements der Untersuchungseinheiten (vgl. Ahn/Neumann/Vazquez Novoa 2012; Afsharian/Ahn/Thanassoulis 2017). Eine umfangreiche Bibliographie nebst weiteren Übersichten zur DEA findet sich bei Emrouznejad (2017).

2.2 Stochastic Frontier Analysis Die Stochastic Frontier Analysis (SFA) wurde von Aigner, Lovell und Schmidt (1977) sowie Meeusen und Van den Broeck (1977) gleichzeitig entwickelt und in die Literatur eingeführt. Ausgangspunkt einer SFA ist eine gegebene Menge von Untersuchungsein­ heiten, die jeweils mit einer bestimmten Menge an m Inputs x ∈ ℝ+m eine bestimmte Menge eines Outputs y ∈ ℝ+ produzieren. Auf Grundlage dieser Daten wird zunächst diejenige Produktionsfunktion f : ℝ+m → ℝ+ bestimmt, die den maximal erreichba­ ren Output einer Technik bei gegebenen Inputs abbildet. Da der Anwender ex ante die Form der zu schätzenden Produktionsfunktion vorgeben muss, ist die SFA im Ge­ gensatz zur DEA eine parametrische Methode. Diesbezüglich wird z. B. oft von einer Cobb-Douglasfunktion ausgegangen, die im Folgenden exemplarisch dargestellt ist: β

β

y = f (x, β) = β 0 ⋅ x11 ⋅ . . . ⋅ x mm . Ferner unterscheidet sich die SFA von der DEA dahingehend, dass von stochastischen anstelle deterministischer Daten ausgegangen wird. Es wird also angenommen, dass unsystematische Verzerrungen im Datensatz vorhanden sind. Unter dieser Prämisse wird die Abweichung einer ineffizienten Untersuchungseinheit j von der Produktions­ funktion ε j als zusammengesetzter Term aus Ineffizienz u j ≥ 0 und Datenverzerrung v j erklärt (mit ε j = v j − u j ). Für eine Untersuchungseinheit 0 resultiert als zu schätzender maximaler Output: y∗0 = f (x 0 , β∗ ) + v j − u j .

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Auf Grundlage der zuvor getroffenen Annahmen wird zur Schätzung der Produktions­ funktion f im ersten Schritt eine Ordinary Least Squares Regression durchgeführt. Im zweiten Schritt werden die Ineffizienz- und Verzerrungskomponenten geschätzt, wel­ che auf Grundlage der Schätzungen der Varianzen σ 2u und σ 2v abgeleitet werden. Zur Modellierung der Eigenschaften der Ineffizienz und Verzerrung ist es notwendig, eine Annahme über die jeweilige Verteilung zu machen; in der Regel wird eine Halb-Nor­ malverteilung mit positivem Erwartungswert sowie endlicher Varianz für die Ineffizi­ enz und eine Normalverteilung mit einem Erwartungswert von 0 sowie endlicher Vari­ anz für die Verzerrung verwendet. Insbesondere zur Modellierung der Ineffizienz wer­ den aber auch andere Verteilungsannahmen eingesetzt, so etwa eine gestutzte Nor­ malverteilung, eine Exponentialverteilung oder eine Gammaverteilung. Die Schätzun­ gen selbst können beispielsweise mittels der Methode der Momente oder einer Maxi­ mum-Likelihood-Schätzung geschehen. Die skizzierte klassische SFA ist beschränkt auf Funktionen, die in den eindimen­ sionalen Raum ℝ≥0 abbilden, also auf solche Produktionssysteme, die aus Inputs genau einen Output herstellen. Darüber hinaus existieren sogenannte Cost Fron­ tier-Modelle, bei denen hilfsweise die Effizienz der Gesamtkosten mehrerer Outputs bestimmt wird. Sollen neben mehreren Inputs explizit mehrere Outputs modelliert werden, ist eine Modifikation notwendig, die entweder auf Basis einer (gerichteten) Distanzfunktion (vgl. Shephard 1953; Chambers/Chung/Färe 1996) oder einer Ray Production Function (vgl. Löthgren 1997) erfolgt. Im Vergleich zur DEA sind die Modellmodifikationen und -erweiterungen der SFA überschaubar (vgl. Lampe/Hilgers 2015). Dazu gehören beispielsweise folgende Ent­ wicklungsstränge: – Messung der Effizienzveränderung im Zeitablauf (vgl. Nishimizu/Page 1982; Bau­ er 1990); – Einbezug exogener Einflüsse (vgl. Deprins/Simar 1989; Kumbhakar/Ghosh/ McGuckin 1991); – Einbezug von Paneldaten, unter anderem zur Unterscheidung von Fixed und Ran­ dom Effects (vgl. Cornwell/Schmidt/Sickles 1990; Kumbhakar 1990); – Berücksichtigung der Heterogenität von Untersuchungseinheiten (vgl. Greene 2004; Greene 2005).

2.3 Stochastic Non-Smooth Envelopment of Data Die Stochastic-Non-Smooth Envelopment of Data (StoNED) wurde von Kuosmanen und Kortelainen (2012) entwickelt, wobei die Autoren die Kennzeichnung der Metho­ de als „Non-Parametric“ gegenüber „Non-Smooth“ bevorzugen. StoNED kombiniert Überlegungen der DEA und SFA. Ausgangspunkt ist auch hier eine gegebene Menge von Untersuchungseinheiten, die jeweils mit einer bestimmten Menge an m Inputs x ∈ ℝ+m eine bestimmte Menge eines Outputs y ∈ ℝ+ produzieren. Auf dieser Grundla­

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ge wird wiederum diejenige Produktionsfunktion f : ℝ+m → ℝ+ bestimmt, die den ma­ ximal erreichbaren Output einer Technik bei gegebenen Inputs angibt. Dabei wird – analog zur DEA und im Gegensatz zur SFA – keine spezifische Form der Produktions­ funktion angenommen. Es werden lediglich drei Anforderungen an diese Funktion gestellt: sie muss stetig, monoton steigend und konkav sein. Wie bei der SFA wird die Abweichung einer ineffizienten Untersuchungseinheit j von der Produktionsfunktion ε j als Differenz aus Datenverzerrung v j und Ineffizienz u j ≥ 0 erklärt. Die generelle Vorgehensweise zur Berechnung des Effizienzwertes ist bei StoNED nahezu identisch zur SFA; allerdings unterscheiden sich die jeweils verwendeten Ver­ fahren. So wird die Produktionsfunktion f im ersten Schritt anhand einer Convex Non­ parametric Least Squares Regression durchgeführt, um einen minimalvariaten erwar­ tungstreuen Schätzer zu ermitteln. Im zweiten Schritt werden die Ineffizienz- und Ver­ zerrungskomponenten auch hier auf Grundlage der Schätzungen der Varianzen σ 2u und σ 2v auf Basis bestimmter Verteilungsannahmen ermittelt. Dies kann beispielswei­ se durch die Methode der Momente oder einer Pseudo-Likelihood-Schätzung erfolgen. Auch StoNED ist grundsätzlich nur gültig für Funktionen, die in den eindimensio­ nalen Raum ℝ≥0 abbilden. Für Produktionssysteme, bei denen aus mehreren Inputs auch mehrere Outputs produziert werden, können prinzipiell wiederum die gerichte­ te Distanzfunktion als auch die Ray Production Function verwendet werden. Entspre­ chende Modifikationen werden derzeit in der Literatur diskutiert (vgl. Kuosmanen/ Johnson 2017; Schaefer/Clermont 2017).

3 Vom Performance Measurement zum Performance Management: Das Beispiel der Balanced Scorecard Im Detail fällt eine genaue Abgrenzung zwischen Performance Measurement und Per­ formance Management schwer. Offenkundig ist aber, dass eine Leistungsmessung nur mit Blick auf eine angestrebte Leistungsverbesserung sinnvoll ist. Eine solche erfor­ dert auf organisationaler Ebene die Ergreifung von Maßnahmen und auf personeller Ebene die Involvierung der betreffenden beziehungsweise betroffenen Akteure. Ein diese Aufgaben verbindendes und ihre Durchführung unterstützendes Instrument ist die Balanced Scorecard (BSC), die im Folgenden exemplarisch skizziert wird. Die BSC besteht aus vier Schritten (vgl. Kaplan/Norton 1997). Den Ausgangspunkt bildet die Konkretisierung der Unternehmensstrategie (beziehungsweise des jeweils betrachteten Bereichs). Dazu sind im Standardansatz für vier aufeinander aufbauende Ebenen – für die sogenannte Potential-, Prozess-, Kunden- und Finanzperspektive – jeweils die zentralen Ziele zu bestimmen und über Ursache-Wirkungs-Vermutungen miteinander in Beziehung zu setzen. Hierdurch soll vor allem Transparenz geschaffen werden, inwieweit Investitionen in die langfristige Wettbewerbsfähigkeit einen Bei­ trag zu den finanzwirtschaftlichen Zielsetzungen leisten. Der Grundgedanke ist, dass

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erst die Kombination der klassischen Finanzziele mit in ihrer Veränderung zeitlich vorgelagerten Größen, welche Erfolgsfaktoren wie die Kundenorientierung, Prozess­ beherrschung und Innovationsfähigkeit abbilden, eine aussagekräftige Darstellung und auf Dauer angelegte Verbesserung der Unternehmenssituation erlaubt. Dazu be­ darf es auch einer weiteren Operationalisierung, die über die Festlegung von Kenn­ zahlen (d. h. von Attributen zur Messung der Zielerreichung), zeitlich gestaffelten Ziel­ vorgaben (d. h. von Vergleichsmaßstäben mit Blick auf den Zielerreichungsgrad) und Maßnahmen-Programmen (d. h. von ausgewählten Handlungsalternativen) erfolgt. Die so operationalisierte Strategie bildet im zweiten Schritt die Grundlage für ei­ nen Kommunikationsprozess. Im Zuge dessen soll nicht nur die Strategie den ope­ rativen Einheiten transparent gemacht machen, sondern es sollen auch die Ziele der einzelnen Abteilungen und Mitarbeiter mit den strategischen Zielen und Programmen in Beziehung gesetzt werden. Die methodisch-formale Verknüpfung von strategischer und operativer Ebene findet dann im dritten Schritt statt, in welchem der periodisch anfallende Budgetierungs- und Kontrollprozess adressiert wird. Die zeitlich gestaffel­ ten Zielvorgaben bilden dabei zum einen den Ausgangspunkt zur Verteilung der Res­ sourcen auf die zu realisierenden strategischen Programme. Zum anderen gibt ihr re­ gelmäßiger Abgleich mit der tatsächlichen Zielerreichung den jeweiligen Stand der Strategieumsetzung wieder. Festgestellten Defiziten kann damit auf operativer Ebene kurzfristig begegnet werden, beispielsweise durch Ergreifung ergänzender Maßnah­ men. In strategischer Hinsicht geben solche Defizite ein Signal, die der Strategiekon­ kretisierung zugrunde gelegten Prämissen zu hinterfragen. Dieser vierte, als strategi­ sches Lernen bezeichnete Schritt betrifft vor allem die Überprüfung der Zusammen­ hänge zwischen den für die Kunden-, Prozess- und Potentialperspektive postulierten Leistungstreibern und den vergangenheitsorientierten Ergebnisgrößen der Finanzper­ spektive. Auch wenn die BSC einige zentrale Elemente eines Performance Measurements beinhaltet, geht sie doch deutlich über den entsprechenden Rahmen hinaus. Mit Blick auf ihre Integration von strategischen und operativen Planungs- und Kontrollprozes­ sen sowie ihre Betonung von Kommunikationsprozessen erlaubt sie ein entsprechend ausgerichtetes Performance Management. Allerdings wird dieses Potenzial in der Pra­ xis nicht ausgeschöpft; dies lassen zumindest Übersichtsstudien (vgl. z. B. Schäffer/ Matlachowsky 2008) in Verbindung mit den relativ wenigen Beispielen für eine Um­ setzung aller vier Schritte (vgl. z. B. Ahn/Dickmeis 2000) vermuten. Ob die in der Lite­ ratur vorgeschlagene Verknüpfung von BSC und Methoden der Datenaggregation (vgl. z. B. Amado/Santos/Marques 2012) dies langfristig ändern wird, bleibt abzuwarten.

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Logistikkennzahlen für das Performance Measurement 1 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2 3.3 4

Einführung | 904 Kennzahlensysteme als Instrument des Performance Measurement | 906 Struktur von Kennzahlensystemen | 906 Kennzeichnung des Performance Measurement | 907 Gestaltung von Performance-Measurement-Systemen | 909 Kennzahlen und Kennzahlensysteme in der Logistik | 911 Inhalte von Logistikkennzahlen | 911 Ansätze für Logistikkennzahlensysteme | 912 Logistikkennzahlen in der Balanced Scorecard | 916 Schlussbemerkungen | 920 Literatur | 921

Zusammenfassung. Performance Measurement ist der Einsatz von Kennzahlensyste­ men zur Messung der Fähigkeit einer Unternehmung zur künftigen Zielerreichung. Als Querschnittsfunktion, die interne Dienstleistungen erbringt, kann die Logistik die Fähigkeit der Unternehmung zur künftigen Zielerreichung nur mittelbar über die be­ trieblichen Grundfunktionen beeinflussen. Logistikkennzahlen für das Performance Measurement können deshalb nicht unabhängig von den strategischen Zielen der Funktionsbereiche der Unternehmung festgelegt werden. In den bisher vorgeschlage­ nen Ansätzen zur Entwicklung von Logistikkennzahlensystemen findet diese Abstim­ mung mit den Kennzahlen in den Funktionsbereichen noch keine Berücksichtigung.

1 Einführung Kennzahlen geben quantifizierbare Sachverhalte in verdichteter Form wieder (vgl. Reichmann/Kißler/Baumöl 2017, S. 39). Sie sind aus mehreren Einzelinformationen zusammengesetzt, um einen Sachverhalt quantitativ zu beschreiben (vgl. Troßmann 2013, S. 124). Kennzeichnen lässt sich eine Kennzahl durch den Kennzahleninhalt, die Berechnungsformel und den Kennzahlenwert. Der Kennzahleninhalt nennt den Sach­ verhalt, der durch die Kennzahl beschrieben wird, wie z. B. die Lieferbereitschaft. Die Berechnungsformel gibt das Verfahren vor, nach dem der Kennzahlenwert aus Ein­ zelinformationen ermittelt wird, wie z. B. der Quotient aus der Anzahl termingemäß ausgelieferter Bedarfsanforderungen und der Gesamtzahl der Bedarfsanforderungen für die Lieferbereitschaft. Der Kennzahlenwert ist die Absolut- oder Verhältniszahl, die den Kennzahleninhalt beschreibt (vgl. Dellmann 2002, Sp. 941). Kennzahlenwerte https://doi.org/10.1515/9783110473803-047

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können tatsächlich realisierte (Ist-Werte), erwartete (Wird-Werte) oder angestrebte Werte (Soll-Werte) sein. Kennzahlen dienen einer Reihe von Funktionen (zu einem Überblick vgl. Troß­ mann 2013, S. 125 ff.), die zu zwei Grundfunktionen zusammengefasst werden können: der Informations- und der Verhaltensbeeinflussungsfunktion (vgl. Küpper et al. 2013, S. 475 ff.). Die Informationsfunktion erfüllen Kennzahlen dadurch, dass sie über die für die Planung und Kontrolle relevanten Sachverhalte komprimiert informieren, z. B. als Frühwarnindikatoren, Zielvorgaben, Prämissen, Beurteilungs- und Vergleichsgrö­ ßen. Sind Kennzahlen Vorgaben zur Einflussnahme auf Mitarbeiter, die eine Ausrich­ tung deren Arbeitsverhalten an den Unternehmungszielen bewirken soll, dienen sie der Verhaltensbeeinflussungsfunktion. Die Vorgaben können ein zu erreichendes Ziel oder die zur Aufgabenerfüllung zur Verfügung stehenden Mittel beschreiben. Sie bil­ den eine Grundlage für die leistungsgerechte Beurteilung und Entlohnung der Mitar­ beiter. Verantwortungsbereichen auf der zweiten Ebene der Unternehmungshierarchie, wie z. B. Investment, Profit und Cost Centern, werden traditionell finanzielle Kennzah­ len als Ziel vorgegeben. Beispiele für diese Kennzahlen sind die Kapitalrentabilität, der Economic Value Added sowie Erfolgs- und Kostengrößen (vgl. Otley 2002, S. 13 ff.). Ermittelt werden diese Kennzahlen aus den Daten des Rechnungswesens. Als Vorga­ be zur Ausrichtung der Entscheidungen in diesen Verantwortungsbereichen an den Unternehmungszielen weisen finanzielle Kennzahlen unter anderem die folgenden Defizite auf (vgl. Eccles/Pyburn 1992, S. 41; Neely 1999, S. 206; Speckbacher/Bischof 2000, S. 796 ff.; Otley 2002, S. 14 ff.): – Anreiz zur kurzfristigen Erfolgsoptimierung: Die finanziellen Wirkungen von Inves­ titionen werden durch diese Kennzahlen nicht vollständig erfasst. Investitionen verursachen in der laufenden Rechnungsperiode Kosten und Aufwand. Die Erlö­ se und Erträge werden gewöhnlich erst in nachfolgenden Perioden generiert. Für den Manager eines Verantwortungsbereichs kann es deshalb zweckmäßig sein, auf vorteilhafte Investitionen zugunsten eines höheren Periodengewinns zu ver­ zichten. Das gilt insbesondere für Investitionen in immaterielle Werte, wie z. B. das Innovations- und das Kundenkapital, da ihr Nutzen weit in der Zukunft liegt, ungewiss und finanziell schwer quantifizierbar ist, während die durch sie verur­ sachten Kosten oder Aufwendungen klar bestimmbar sind und sofort anfallen. Die Vorgabe finanzieller Kennzahlen bewirkt deshalb eine Tendenz zur Unterin­ vestition in immaterielle Werte. – Fehlender Strategiebezug: Finanzielle Kennzahlen informieren einen Verantwor­ tungsbereich allenfalls über den Beitrag zu dem mit einer Strategie angestrebten langfristigen Erfolg, nicht jedoch darüber, wie dieser erzielt oder gesichert werden soll. Sie eignen sich deshalb nicht zur Kommunikation der Strategien der Unter­ nehmung und unterstützen auch nicht deren Implementierung in den Verantwor­ tungsbereichen. – Unzureichender Informationsgehalt: Finanzielle Kennzahlen sind hoch aggregiert und informieren über die Erfolgswirkungen von Entscheidungen der Vergangen­

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heit. Fehlentwicklungen schlagen sich deshalb erst in nachfolgenden Perioden in den Kennzahlenwerten nieder. Die Ursachen festgestellter Abweichungen von den vorgegebenen Kennzahlenwerten sind dann meist nicht mehr ermittelbar. Einflussgrößen können sich gegenläufig entwickeln und dadurch gegenseitig kompensieren, so dass Fehlentwicklungen unter Umständen nicht erkennbar sind. Mit finanziellen Kennzahlen kann deshalb zwar der finanzielle Erfolg eines Verantwortungsbereichs gemessen werden. Sie informieren jedoch nicht dar­ über, wie dieser Erfolg zustande gekommen ist oder welche Erfolge in der Zukunft erreichbar sind. Mangelnder Umweltbezug: Kennzahlenwerte von Wettbewerbern, die zum Zweck der Leistungsbewertung den realisierten Kennzahlenwerten der Verantwortungs­ bereiche gegenübergestellt werden könnten, sind allenfalls ausnahmsweise verfügbar. Zur Leistungsbewertung werden deshalb Abweichungen von intern gebildeten Vorgaben herangezogen, die auf Erwartungen oder den realisierten Kennzahlenwerten vergangener Perioden beruhen. Finanzielle Kennzahlen hal­ ten deshalb vielmehr zur Vermeidung von Abweichungen als zur Nutzung von sich bietenden Chancen und kontinuierlichen Verbesserung an.

Diese Defizite und dysfunktionalen Wirkungen haben in Wissenschaft und Unter­ nehmungspraxis zur Entwicklung des Performance Measurement geführt (vgl. Eccles 1991), das als Leistung nicht den finanziellen Erfolg eines Verantwortungsbereichs misst, sondern seine Fähigkeit zur künftigen Zielerreichung. Unter der Leistung wird ein bewusst gebildetes Konstrukt aus Einflussgrößen auf die künftige Zielerreichung verstanden. Dieses Verständnis der Leistung basiert auf einem Kausalmodell, das den Einfluss gegenwärtiger Handlungen auf die künftige Zielerreichung abbildet (vgl. Lebas/Euske 2002, S. 68, 78). Der Grundgedanke des Performance Measurement be­ steht darin, Verantwortungsbereichen nicht nur finanzielle Kennzahlen vorzugeben, sondern Kennzahlen verschiedener Dimensionen, wie z. B. Qualität, Innovationsfä­ higkeit und Kundenzufriedenheit, die Einflussgrößen der künftigen Zielerreichung sind (vgl. Eccles/Pyburn 1992, S. 41 f.). In diesem Beitrag soll der Frage nachgegan­ gen werden, wie Kennzahlen zur Messung des Beitrags der Logistik zur künftigen Zielerreichung in das Performance Measurement einbezogen werden können.

2 Kennzahlensysteme als Instrument des Performance Measurement 2.1 Struktur von Kennzahlensystemen Eine einzelne Kennzahl besitzt nur sehr begrenzte Aussagekraft. Es werden deshalb mehrere Kennzahlen zu einem Kennzahlensystem zusammengefügt. Ein Kennzahlen­

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system ist eine Menge von Kennzahlen, die in Beziehung zueinander stehen oder sich gegenseitig ergänzen und die vollständige Erfassung eines Sachverhalts bezwecken (vgl. Staehle 1969, S. 69). Werden Kennzahlen nach einem oder mehreren Merkmalen in Gruppen ge­ gliedert, liegt ein Kennzahlensystem in der Form eines Ordnungssystems vor. In hierarchischen Kennzahlensystemen werden die Kennzahlen nach den zwischen ihnen bestehenden Beziehungen mehreren Ebenen zugeordnet. Bei diesen Bezie­ hungen kann es sich um hierarchische Beziehungen, Präferenzrelationen und In­ strumentalrelationen handeln. Hierarchische Beziehungen begründen ein Über-/ Unterordnungsverhältnis zwischen den Kennzahlen, das in der Fristigkeit, der De­ tailliertheit oder der Präzision begründet sein kann. Präferenzrelationen bringen die Vorziehenswürdigkeit abgebildeter Zielkennzahlen zum Ausdruck. Instrumentalre­ lationen sind Mittel-Zweck-Beziehungen oder Ursache-Wirkungs-Beziehungen (vgl. Küpper et al. 2013, S. 433 ff.). Nach der Begründung der Instrumentalrelationen werden definitionslogisch und empirisch-induktiv hergeleitete Kennzahlensysteme unterschieden (vgl. Reichmann/ Kißler/Baumöl 2017, S. 50 f.). Erstere weisen eine Spitzenkennzahl oder wenige Spit­ zenkennzahlen auf, aus denen durch mathematische Umformungen weitere Kennzah­ len hergeleitet werden. Sie können nicht nur nach dem Top-down-Prinzip gebildet werden, sondern auch nach dem Bottom-up-Prinzip durch die Verdichtung mehrerer Einzelkennzahlen zu einer Spitzenkennzahl (vgl. Weber et al. 1995, S. 19 ff.). Kenn­ zahlensysteme, die aus definitionslogisch verbundenen Kennzahlen bestehen, wer­ den als Rechensysteme bezeichnet. Durch definitionslogische Ableitungen können zwar einzelne Komponenten einer Kennzahl identifiziert werden, nicht jedoch ihre Einflussgrößen. Empirisch-induktiv begründete Kennzahlensysteme schließen Kenn­ zahlen ein, bei denen es sich um Einflussgrößen der Kennzahlen höherer Ebenen han­ delt. Ihre Auswahl basiert auf Plausibilitätsüberlegungen oder der statistischen Aus­ wertung empirischer Daten (vgl. Küpper et al. 2013, S. 482 ff.).

2.2 Kennzeichnung des Performance Measurement Performance Measurement ist der Aufbau und der Einsatz von Kennzahlensystemen zur Messung und Bewertung der Effektivität und Effizienz von Handlungen. Die Ef­ fektivität bezieht sich auf den Leistungsbeitrag der Handlungen, d. h. ihre Wirkung auf Einflussgrößen der künftigen Zielerreichung. Die Effizienz ist Ausdruck der Wirt­ schaftlichkeit der Ressourcennutzung und ist definiert als Quotient aus dem Leis­ tungsbeitrag und den dafür benötigten Ressourcen (vgl. Neely/Gregory/Platts 2005, S. 1228 ff.; Gleich 2011, S. 17). Ein Kennzahlensystem zur Messung und Bewertung der Effektivität und Effizienz von Handlungen ist ein Bestandteil eines Performance-Measurement-Systems (vgl. Bourne/Neely 2003, S. 3). Es definiert die Leistung eines Verantwortungsbereichs als

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ein Konstrukt aus Einflussgrößen auf die zukünftige Zielerreichung der Unterneh­ mung. Als Funktionen eines Performance-Measurement-Systems werden genannt (vgl. Bourne/Bourne 2011, S. 5 ff.): – Feststellung der aktuellen Leistung: Sie ist die Voraussetzung für Entscheidungen über Maßnahmen zur Leistungssteigerung und die Grundlage für Leistungsver­ gleiche und die Beurteilung von Leistungssteigerungen. – Kommunikation über die Ausrichtung der Unternehmung: Die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter wird auf die für die künftige Zielerreichung wichtigen Einflussgrößen gelenkt. Es wird vermittelt, welche Handlungen heute vorzunehmen sind, damit die Ziele künftig erreicht werden können. – Verhaltensbeeinflussung: An die Stelle der kurzfristigen Erfolgsoptimierung tritt die Ausrichtung des Arbeitsverhaltens der Mitarbeiter an den langfristigen Zielen. – Förderung des Handelns in zielkritischen Tätigkeitsfeldern: Die Kennzahlen defi­ nieren Tätigkeitsfelder, die für die künftige Zielerreichung kritisch sind. Die Vor­ gabe und Kontrolle der Kennzahlen motiviert zu Handlungen in diesen zielkriti­ schen Tätigkeitsfeldern. – Etablierung eines Lernprozesses: Das Performance-Measurement-System eröffnet die Möglichkeit, unter den aktuellen Bedingungen die Richtigkeit des zur künf­ tigen Zielerreichung gewählten Weges zu überprüfen (vgl. Eccles/Pyburn 1992, S. 42). Performance-Measurement-Systeme sind strategieorientiert, ausgewogen und mit dem Führungssystem der Unternehmung verknüpft. Die Strategien der Unterneh­ mung legen die Vorgehensweisen zur Erreichung der langfristigen finanziellen Ziele fest. Sie beschreiben unter anderem die Bereiche, in denen die Unternehmung tätig sein soll, die Merkmale, durch die sich die Unternehmung in ihren Tätigkeitsbereichen von den Wettbewerbern abheben soll, sowie die Logik, nach der in den Tätigkeits­ bereichen Erfolge erzielt werden sollen (vgl. Hambrick/Fredrickson 2005, S. 53 ff.). Damit grenzen sie die Einflussgrößen ab, die zur langfristigen Zielerreichung gestal­ tet werden sollen. Ein Performance-Measurement-System bildet den Zusammenhang zwischen diesen Einflussgrößen und den langfristigen finanziellen Zielen der Un­ ternehmung ab. Die Strategieorientierung eines Performance-Measurement-Systems kommt in den Instrumentalrelationen zum Ausdruck, die alle Kennzahlen direkt oder indirekt mit den langfristigen finanziellen Zielen der Unternehmung verbinden (vgl. Eccles/Pyburn 1992, S. 42). Unter der Ausgewogenheit eines Performance-Measurement-Systems wird die gleichgewichtige Erfassung von Bestimmungsfaktoren der kurz-, mittel- und lang­ fristigen Zielerreichung verstanden. Durch sie soll sichergestellt werden, dass die Zielerreichung auf kurze, mittlere und lange Sicht gesichert ist (vgl. Kaplan/Norton 1997, S. 46, 142 f.). Die Forderung nach Strategieorientierung und Ausgewogenheit hat die Mehrdimensionalität des Kennzahlensystems zur Folge, d. h., es umfasst neben finanziellen Kennzahlen auch Kennzahlen zur Messung relevanter Merkmale des In­

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puts, der kritischen Prozesse, der Kundenzufriedenheit sowie bedeutender externer und interner Einflussgrößen auf die Erreichung der langfristigen Ziele. Die Verknüpfung mit dem Führungssystem kann durch folgende Merkmale be­ schrieben werden: (1) Die Kennzahlen werden aus den Strategien abgeleitet und bilden die Zielvorgaben für die Planungen in allen Verantwortungsbereichen der Un­ ternehmung. (2) Die Daten zur Ermittlung der Kennzahlenwerte werden durch das In­ formationssystem der Unternehmung routinemäßig bereitgestellt. (3) Die Erreichung der Soll-Werte wird kontrolliert. (4) Über das Reporting der Unternehmung werden die zuständigen Instanzen über Abweichungen von den Vorgabewerten informiert. (5) Die erfasste Leistung geht in das Anreizsystem zur Bemessung der Belohnungen für die Mitarbeiter ein (vgl. Eccles 1991, S. 133). Die Kennzahlen eines Performance-Measurement-Systems bilden die Strategie der Unternehmung ab und werden als strategische Kennzahlen bezeichnet. Sie in­ formieren über die für die Strategieumsetzung kritischen Sachverhalte, sind der Ge­ genstand eines regelmäßigen Reporting und bilden die Objekte der strategischen Kontrolle. Sie erfordern die Aufmerksamkeit der Manager auf allen Ebenen der Un­ ternehmungshierarchie. Bei Abweichungen von den Soll-Werten dieser Kennzahlen, bei Veränderungen der strategischen Prämissen und sonstiger Bedingungen wer­ den sie hinterfragt und gegebenenfalls angepasst. Keinen Bestandteil eines Perfor­ mance-Measurement-Systems bilden die diagnostischen Kennzahlen, mit denen der planmäßige Ablauf der Leistungserstellung und -verwertung überwacht wird. Über diagnostische Kennzahlen wird das Management nur bei Abweichungen von den Vorgaben informiert, die ein sofortiges Eingreifen erforderlich machen (vgl. Kaplan/ Norton 1997, S. 157).

2.3 Gestaltung von Performance-Measurement-Systemen 2.3.1 Elemente von Performance-Measurement-Systemen Ein Performance-Measurement-System besteht aus fünf Elementen. Das sind das Be­ zugssystem, die Ziele, die Kennzahlen, die Vorgaben und die Initiativen zur Leistungs­ steigerung. Das Bezugssystem eines Performance-Measurement-Systems gibt vor, wie die Kennzahlen geordnet und mit den Strategien der Unternehmung verknüpft wer­ den sollen. Es ist maßgebend für die Übersichtlichkeit der Darstellung der verfolg­ ten Ziele und die Art und Weise, wie es die Aufmerksamkeit auf die für die künftige Zielerreichung wichtigen Faktoren lenkt. Die in Wissenschaft und Unternehmungs­ praxis entwickelten Konzepte des Performance Measurement (zu einem Überblick vgl. Gleich 2011, S. 67 ff.) sind mögliche Bezugssysteme für das Performance Measurement. Das Konzept der Balanced Scorecard setzt den Schwerpunkt auf die nicht finanziellen Kennzahlen, das Performance Prism auf die Forderungen und erforderlichen Beiträge der verschiedenen Stakeholder und das Konzept der European Foundation for Quali­

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ty Management (EFQM) auf die Abgrenzung zwischen Ergebnis- und Einflussgrößen (vgl. Bourne/Bourne 2011, S. 13 f.; zu anderen Konzepten vgl. Watts/McNair-Connolly 2012, S. 228). Die Ziele beschreiben den Zustand, der für die Realisation der Strategien der Un­ ternehmung geschaffen werden muss. Sie sind als Zwischenziele für die Erreichung der strategischen Ziele zu interpretieren und werden aus den strategischen und den langfristigen finanziellen Zielen der Unternehmung hergeleitet (vgl. Eccles/Pyburn 1992, S. 42). Mit den Kennzahlen werden die Beiträge zur Erreichung dieser Ziele gemessen und bewertet. Beispiele für die Inhalte der Ziele sind „internationales Wachstum vorantreiben“, „Kundenbetreuung aktiver gestalten“, „Verkürzung der Produktentwicklungszyklen“ und „Mitarbeitermotivation erhöhen“. Das Ziel „inter­ nationales Wachstum vorantreiben“ kann beispielsweise durch die Kennzahlen „Ge­ samtumsatz“, „Umsatzwachstum außerhalb der Kernmärkte“, „Umsatzanteil Region 1“, „Umsatzanteil Region 2“ usw. erfasst werden. Für das Ziel „Mitarbeitermotivation erhöhen“ eignet sich z. B. die Kennzahl „Anteil der Austritte von Key-Employees“ (zu den Beispielen vgl. Horváth & Partners 2007, S. 210 ff.). Die Vorgaben geben das Ni­ veau der Zielerreichung in der Planperiode vor. Die Initiativen zur Leistungssteigerung zeigen auf, wie dieses Niveau der Zielerreichung realisiert werden soll. Sie beschrei­ ben die notwendigen Veränderungen im Unternehmungsprozess (vgl. Bourne/Bourne 2011, S. 14 f.).

2.3.2 Prozess der Gestaltung von Performance-Measurement-Systemen Die Kennzahlen eines Performance-Measurement-Systems müssen einer Vielzahl von Anforderungen genügen. Sie sollen unter anderem aus der Strategie hergeleitet sein, frühzeitiges und präzises Feedback ermöglichen sowie beeinflussbar und klar defi­ niert sein (vgl. Neely et al. 1997, S. 1135 ff.; Neely et al. 2000, S. 1131). Die in Wissenschaft und Unternehmungspraxis entwickelten Konzepte des Performance Measurement nennen nur Bereiche, in denen eine Leistungsmessung zweckdienlich sein kann. Sie geben jedoch keine Hinweise, wie geeignete Kennzahlen identifiziert, eingeführt und genutzt werden können (vgl. Neely et al. 2000, S. 1120). In der Literatur findet sich eine Reihe von Vorschlägen für einen Prozess sowie zu Regeln und Richtlinien für die Entwicklung eines Performance-Measurement-Systems (zu einem Überblick vgl. Nee­ ly et al. 2000, S. 1127 ff.; Bourne/Neely 2003, S. 5 ff.). Ein umfassendes und detailliertes Konzept für einen Prozess zur Gestaltung eines Performance-Measurement-Systems ist von Neely et al. (2000) vorgeschlagen und kontinuierlich weiterentwickelt worden. Dieses Konzept gliedert die Gestaltung eines Performance-Measurement-Systems in vier Phasen (vgl. Bourne et al. 2000, S. 757): die Systemplanung, die Systemimple­ mentierung, die Systemkontrolle und die Systemanpassung. Während der Systemplanung sind Entscheidungen zu allen Elementen des Perfor­ mance-Measurement-Systems zu treffen. Die Auswahl der Ziele, die für die künftige

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Zielerreichung kritisch sind, verlangt nach der Erarbeitung des Kausalmodells, das den Einfluss von Handlungen auf die langfristigen finanziellen Ziele abbildet (vgl. Eccles/Pyburn 1992, S. 42). Unterstützt werden kann dieser Schritt durch die Strate­ gy Map (vgl. Kaplan/Norton 2004) oder die Success Map (vgl. Bourne/Bourne 2011, S. 20 ff.). Ungeeignete Kennzahlen können bei den Mitarbeitern dysfunktionales Ar­ beitsverhalten auslösen. In die Überlegungen zur Auswahl der Kennzahlen sind des­ halb die wahrscheinlichen Wirkungen auf das Arbeitsverhalten der Mitarbeiter einzu­ beziehen (vgl. Neely et al. 1997, S. 1131 ff.). Zur Beschreibung einer Kennzahl für ein Performance-Measurement-System müssen folgende Mermale definiert werden (vgl. Neely et al. 1997, S. 1136 ff.): Titel, Zweck, Zielbezug, Vorgabe, Berechnungsformel, Häufigkeit der Berechnung der Ist-Kennzahlenwerte und ihrer Analyse, Datenquellen, Verantwortung für die Ermittlung der Ist-Kennzahlenwerte, Verantwortung für die Er­ reichung der Vorgabe sowie Inititativen zur Leistungssteigerung. Objekte der Systemkontrolle sind nicht nur die Vorgaben, sondern bei Abweichun­ gen von den strategischen Prämissen oder Änderungen bei sonstigen Bedingungen auch die Richtigkeit der einzelnen Kennzahlen, des Kennzahlensystems sowie des zugrunde liegenden Kausalmodells. Wird bei der Systemkontrolle festgestellt, dass Kennzahlen bei den Mitarbeitern dysfunktionales Arbeitsverhalten auslösen oder Än­ derungen bei den strategischen Prämissen oder sonstigen Bedingungen aufgetreten sind, schließt sich die Systemanpassung an. In dieser Phase werden die Elemente des Performance-Measurement-Systems korrigiert (vgl. Bourne et al. 2000, S. 757 ff.).

3 Kennzahlen und Kennzahlensysteme in der Logistik 3.1 Inhalte von Logistikkennzahlen Logistikkennzahlen werden nach dem Kennzahleninhalt abgegrenzt. Sie geben quan­ tifizierbare Sachverhalte der Logistikprozesse in verdichteter Form wieder (vgl. z. B. Göpfert 2013, S. 380). Mit den Logistikprozessen werden Veränderungen der räum­ lichen oder zeitlichen Eigenschaften von Logistikobjekten (z. B. Material, Halb- und Fertigprodukte, Retouren, Abfälle und Rückstände) hergestellt. Zu ihnen zählen un­ ter anderem die Lagerung, der Transport und das Umschlagen (vgl. Pfohl 2010, S. 7 f.). Einen umfassenden Überblick über Logistikkennzahlen für die Unternehmungs­ praxis geben mehrere VDI-Richtlinien. Ziel der VDI-Richtlinie 4400 mit den Blättern 1 (Logistikkennzahlen für die Beschaffung, Mai 2001), 2 (Logistikkennzahlen für die Produktion, Dezember 2004) und 3 (Logistikkennzahlen für die Distribution, Juli 2002) ist die Definition von Kennzahlen zur Messung der Effizienz der Logistik als Grundlage für ein Benchmarking der Logistik. Die VDI-Richtlinie 4490 (Operative Logistikkennzahlen von Wareneingang bis Versand, Mai 2007) erläutert über 300

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Kennzahlen, die der Informationsfunktion dienen sollen und sich nicht an Abtei­ lungen und Funktionen, sondern an den Logistikprozessen orientieren. Für kleine und mittelständische Unternehmungen sind praxisorientierte Logistikkennzahlen vorgeschlagen worden, die in der VDI-Richtlinie 2525 (Juli 1999) erläutert werden.

3.2 Ansätze für Logistikkennzahlensysteme 3.2.1 Strukturmerkmale von Logistikkennzahlensystemen Logistikkennzahlensysteme sind von Reichmann (1985), Weber (1995), Pfohl und Zöll­ ner (1991) und Schulte (1992) vorgeschlagen worden. Sie sind überwiegend vor dem Erscheinen des „Performance Measurement Manifesto“ von Eccles (1991) entwickelt worden, das als früher Meilenstein der Forschung auf dem Gebiet des Performance Measurement gewertet wird (vgl. Horváth/Seiter 2009, S. 394). Das Logistikkennzahlensystem nach Reichmann, Kißler und Baumöl (2017, S. 423 ff.) soll die Informationsfunktion für die Entscheidungsunterstützung und die Wirtschaftlichkeitskontrolle erfüllen. Es ist ein hierarchisches, nach dem Top-downPrinzip aufgebautes Kennzahlensystem mit drei Ebenen. Der obersten Ebene sind drei Logistikkennzahlen zugeordnet, die sich auf die Gesamtlogistik der Unterneh­ mung beziehen: die Umschlagshäufigkeit aller Bestände, die Gesamtlogistikkosten pro Umsatzeinheit sowie der Lieferbereitschaftsgrad. Die zweite Ebene umfasst diese Logistikkennzahlen für die Materialwirtschaft, die Fertigungs- und die Absatzlogistik. Die Kennzahlen der ersten und der zweiten Ebene sind über Hierarchiebeziehungen verbunden. Die dritte Ebene bilden Logistikkennzahlen, die sich auf einzelne Pha­ sen im Objektfluss innerhalb der Materialwirtschaft, der Fertigung und des Absatzes beziehen. Zwischen den Logistikkennzahlen der zweiten und dritten Ebene bestehen Instrumentalrelationen, die auf Plausibilitätsüberlegungen beruhen. Tabelle 1 zeigt die Struktur dieses Logistikkennzahlensystems. Pfohl und Zöllner (1991, S. 323) schlagen ein hierarchisches, nach dem Top-downPrinzip aufgebautes Logistikkennzahlensystem mit drei Ebenen zur Messung der Ef­ Tab. 1: Struktur des Kennzahlensystems nach Reichmann. Kennzahlen für die Gesamtlogistik Kennzahlen für die Materialwirtschaft

Kennzahlen für die Fertigungslogistik

Kennzahlen für die Absatzlogistik

Kennzahlen für – die Warenannahme – die Wareneingangskontrolle – das Eingangslager – den Materialtransport

Kennzahlen für Kennzahlen für – das Bereitstellungszwischenlager – das Versandlager – den Bereitstellungszwischentransport – die Kommissionierung – das Liegen vor/nach der Bearbeitung – den Abtransport

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fizienz der Logistik, logistischer Subsysteme sowie des Logistikmanagements vor. Funktionen des Logistikkennzahlensystems sind die Früherkennung, die Zielvorgabe und die Steuerung. Logistikkennzahlen der obersten Ebene sind die Logistikkosten sowie mehrere Kennzahlen zum Lieferservice. Auf der zweiten Ebene sind Kennzah­ len eingeordnet, die über die Logistikkosten und den Lieferservice der einzelnen logistischen Subsysteme und der einzelnen Phasen des Güterflusses informieren. Die dritte Ebene bilden Kennzahlen zu den Logistikkosten und dem Lieferservice für die einzelnen logistischen Subsysteme in jeder einzelnen Phase des Güterflusses. Weitere Ebenen können in das Kennzahlensystem eingefügt werden. Die Logistikkennzah­ len verschiedener Ebenen sind über Hierarchiebeziehungen verbunden. Abbildung 1 zeigt die Struktur des Kennzahlensystems (vgl. Pfohl 2016, S. 185). Ein Ordnungssystem mit mindestens 145 Logistikkennzahlen ist von Schulte (2017, S. 914 f.) vorgeschlagen worden. Die Logistikkennzahlen sind nach zwei Kriterien in 20 Gruppen gegliedert. Diese Kriterien sind zum einen die Ziele und Restriktionen (Pro­ duktivität, Wirtschaftlichkeit, Qualität, Struktur/Rahmenbedingungen) und zum an­ deren Subsysteme und Phasen des Objektflusses (Beschaffungslogistik, Materialfluss und Transport, Lager und Kommissionierung, Produktionsplanung und -steuerung sowie Distribution). Ein hierarchisches, nach dem Bottom-up-Prinzip aufgebautes Kennzahlensystem für die Logistik ist von Weber (1995, S. 195 ff.) entwickelt worden. Zweck dieses Kenn­ zahlensystems ist die Ermittlung einer Maßzahl für die Effizienz der gesamten Logistik der Unternehmung. Die unterste Ebene des Kennzahlensystems bilden die Leistungsund Kostengrößen sowie Kennzahlen der verschiedenen Logistikbereiche der Unter­ nehmung. Die Leistungen werden mit Hilfe der Nutzwertanalyse zu volumen-, serviceund durchlaufzeitbezogenen Leistungswerten zusammengefasst, welche die zweite Ebene des Kennzahlensystems bilden. Die dritte Ebene umfasst den Logistikleistungs­ wert, der über eine Nutzwertanalyse aus den Kennzahlen der zweiten Ebene ermittelt wird, sowie den Logistikkostenwert. Spitzenkennzahl des Kennzahlensystems ist die Logistikeffizienz, die durch Aggregation der beiden Kennzahlen der dritten Ebene er­

Phase des Güterflusses Phase des Güterflusses Logistisches Gesamtsystem

Beschaffungslogistik

Produktionslogistik

Distributionslogistik

Unternehmungslogistik

2. Hierarchieebene

1. Hierarchieebene

3. Hierarchieebene

2. Hierarchieebene

Transport Lagerhaltung Lagerhaus Auftragsabwicklung

Managementfunktionen

Abb. 1: Struktur des Kennzahlensystems nach Pfohl/Zöllner (1991).

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mittelt wird. Die Ebenen dieses Kennzahlensystems können als Abbildung der Ergeb­ nisse eines mehrstufigen Verfahrens verstanden werden, das die in einem mehrstufi­ gen Prozess erbrachten Logistikleistungen bewertet, gewichtet und verdichtet, um sie abschließend den Logistikkosten zur Beurteilung der Logistikeffizienz gegenüberzu­ stellen (vgl. Weber 1995, S. 297 ff.). Die vorgestellten Konzepte für Logistikkennzahlensysteme zeigen Bereiche auf, für die Logistikkennzahlen gebildet werden sollen und nennen zu jedem dieser Be­ reiche Beispiele für Logistikkennzahlen. In Wissenschaft und Praxis sind viele Logis­ tikkennzahlen vorgeschlagen worden. Das Problem ist deshalb nicht die Entwicklung von Logistikkennzahlen, sondern die Auswahl und die Verknüpfung geeigneter Lo­ gistikkennzahlen (vgl. Pfohl 2016, S. 182).

3.2.2 Verfahren zur Entwicklung von Logistikkennzahlensystemen Es kann kein für jede Unternehmung und jede Situation passendes Logistikkennzah­ lensystem gestaltet werden (vgl. Weber et al. 1995, S. 40). Erforderlich ist deshalb ein Konzept zur Entwicklung von unternehmungs- und situationsspezifischen Logistik­ kennzahlensystemen. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Vorschläge für solche Konzepte. Die Konzepte nach Schulte und Göpfert sehen die Herleitung der Logistikkenn­ zahlen aus den Logistikzielen vor. Logistikkennzahlensysteme, die nach diesen Verfahren entwickelt werden, sind weder strategieorientiert noch ausgewogen. Den Schwerpunkt dieser Vorschläge bildet die Verknüpfung des entwickelten Logistik­ kennzahlensystems mit dem Informationssystem der Unternehmung. Die von Herold (2003, S. 98 f.) vorgeschlagene Vorgehensweise bezweckt die Her­ leitung von Logistikkennzahlen und Soll-Werten, um eine Ausrichtung der Logistik an der Unternehmungsstrategie zu gewährleisten. Ziel des Konzepts der selektiven Kenn­ zahlen von Weber et al. (1995, S. 22) ist es, die strategische Positionierung der Logistik in das tägliche Geschäft zu transportieren und umsetzungsfähig zu machen. Grundla­ ge für die Herleitung der Logistikziele sind die strategischen Leistungsanforderungen an den Objektfluss in der Form von Zielen, Meilensteinen strategischer Programme und strategischen Prämissen. Dieses Top-down-Vorgehen, durch das die Strategie­ orientierung des entwickelten Logistikkennzahlensystems hergestellt werden kann, wird mit einer Bottom-up-Vorgehensweise kombiniert. Der Grund für diese Erweite­ rung ist die Erkenntnis, dass die den Objektfluss störenden operativen Engpässe bei der Strategieumsetzung erhebliche Probleme bereiten können. Es sind deshalb die tat­ sächlichen und potentiellen Engpässe im Flusssystem der Unternehmung zu identifi­ zieren. Aus den kritischen Engpässen werden Logistikkennzahlen hergeleitet und in das Kennzahlensystem einbezogen. Diese Kennzahlen tragen zur Ausgewogenheit des Logistikkennzahlensystems bei. Aus den nach dem Top-down- und dem Bottom-upPrinzip hergeleiteten Logistikkennzahlen sollen jeweils nur drei bis fünf Kennzahlen

Logistikkennzahlen für das Performance Measurement | 915

Tab. 2: Konzepte zur Entwicklung von Logistikkennzahlensystemen. Göpfert (1993, S. 225 ff.)

– Konsolidierung über Beweggründe und Ziele der Anwendung von Logistikkennzahlen – Ableitung von Kennzahlen aus den Zielen der Logistik und den Planungsund Steuerungszwecken – Sachlogische Verknüpfung der Logistikkennzahlen zu einem System – Sicherung der Datenquellen für die Berechnung der Logistikkennzahlen – Definition der Logistikkennzahlen und Dokumentation – Integration des Kennzahlenkonzepts in die EDV des Unternehmens

Schulte (2017, S. 933 ff.)

– – – – – – –

Herold (2003, S. 54 ff.)

– Festlegung der strategischen Ausrichtung der Logistik – Auswahl logistischer Messgrößen – Festlegung von Ziel- und Schwellenwerten

Weber et al., (1995, S. 195 ff.)

– Ableitung von Logistikkennzahlen aus der Unternehmungsstrategie – Ableitung von Logistikkennzahlen aus den Merkmalen der Material- und Warenflüsse – Zusammenführung von Kennzahlen zu Unternehmungsstrategie und Material- und Warenflüssen

Festlegung und Gewichtung der logistischen Ziele Festlegung der Kennzahlen zum Logistikcontrolling Auswahl der Kennzahlenempfänger Sicherung der Informationsquellen und Vergleichsgrundlagen Festlegung der Erhebungszeitpunkte beziehungsweise -räume Auswahl der Mitarbeiter für die Erstellung der Kennzahlen Festlegung der Darstellung der Kennzahlenergebnisse

ausgewählt werden. Dadurch soll erreicht werden, dass die Aufmerksamkeit des Lo­ gistikmanagements auf die zentralen strategischen Leistungsanforderungen und ope­ rativen Engpässe gelenkt wird.

3.2.3 Logistikkennzahlen in der Unternehmungspraxis Empirische Studien zum Einsatz von Logistikkennzahlen und Logistikkennzahlensys­ temen in der Unternehmungspraxis sind von Küpper und Hoffmann (1988), Göpfert, Kummer und Weber (1993) sowie Weber et al. (2012) durchgeführt worden. Die Ergeb­ nisse dieser Studien weisen auf die unzureichende Strategieorientierung, aber auch auf die vielfach begrenzte Eignung der implementierten Logistikkennzahlensysteme hin. Die Studie von Küpper und Hoffmann zum Logistikcontrolling ergab, dass 45 % der befragten Unternehmungen Logistikkennzahlensysteme nutzen. In den befrag­ ten Unternehmungen wurden vor allem Kennzahlen zur Umschlaghäufigkeit und zu Logistikkosten verwendet. Weniger häufig wurden Kennzahlen zur Lieferbereitschaft und zur Produktivität ermittelt (vgl. Küpper 1992, S. 128 ff.).

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Von Göpfert, Kummer und Weber (1993) wurden unter anderem der Stand der Einführung von Logistikkennzahlensystemen und die Bedeutung einzelner Logistik­ kennzahlen untersucht. Etwa 20 % der befragten Unternehmungen gaben an, ein ge­ schlossenes Logistikkennzahlensystem eingeführt zu haben. 90 % dieser Unterneh­ mungen sahen jedoch einen wesentlichen Bedarf an Verbesserung und Erweiterung des eingeführten Logistikkennzahlensystems. Als Beweggründe für die Einführung ei­ nes Logistikkennzahlensystems wurden vor allem eine Verbesserung der Anlagenaus­ lastung und der Kostenkontrolle sowie eine Verkürzung der Auftragsdurchlaufzeit ge­ nannt. Vordergründig auf den Kunden ausgerichtete Beweggründe (z. B. Erhöhung der Termintreue, Verkürzung der Lieferzeiten, Schaffen eines Leistungsvorsprungs) wa­ ren weniger ausschlaggebend (vgl. Göpfert/Kummer/Weber 1993, S. 236 f.). Ein weite­ res Ergebnis der Befragung war, dass die Bedeutung der globalen Logistikkennzahlen zur Steuerung des Gesamtsystems als hoch eingeschätzt wird. Als weniger bedeutend wurden die Logistikkennzahlen für die Steuerung der einzelnen (lokalen) physischen und dispositiven Prozesse, Leistungsstellen und -bereiche gesehen (vgl. Göpfert 2013, S. 385 f.). In der neuesten Studie zu Logistikkennzahlen sind unter anderem der Reifegrad der Logistikkennzahlensysteme in der Unternehmungspraxis und die organisatori­ sche Einordnung der Logistikkennzahlensysteme untersucht worden (vgl. Weber et al. 2012, S. 9 ff.). Zur Beurteilung des Reifegrades eines Logistikkennzahlensystems sind die folgenden sechs sich gegenseitig ergänzende Gestaltungsmerkmale von Kenn­ zahlensystemen betrachtet worden: Mehrdimensionalität, Verknüpfung der strategi­ schen mit der operativen Ebene, Fokussierung auf selektive Kennzahlen, zeitgerechte Verfügbarkeit der Kennzahlenwerte, unternehmungsübergreifende Verknüpfung so­ wie Anpassungsfähigkeit. Nach dieser Untersuchung werden in Unternehmungen Kennzahlen verschiedener Dimensionen genutzt, der Schwerpunkt liegt jedoch auf Finanzkennzahlen. Bei der Verknüpfung der strategischen und operativen Ebene besteht ebenso Nachholbedarf, wie bei der Nutzung der Logistikkennzahlen für die Anreizsysteme der Unternehmung. Da die aktuellen Kennzahlenwerte zeitnah zur Verfügung stehen, kann von einer Abstimmung zwischen den Logistikkennzahlen und dem Informationssystem ausgegangen werden. Weiterhin wurde festgestellt, dass die Auswahl und Definition von Logistikkennzahlen und deren Erhebung sowie die Erfassung der Logistikleistungen überwiegend in der Logistik angesiedelt sind.

3.3 Logistikkennzahlen in der Balanced Scorecard 3.3.1 Grundkonzept der Balanced Scorecard Das Konzept der Balanced Scorecard ist das bekannteste Bezugssystem für ein Per­ formance-Measurement-System (vgl. Neely et al. 2000, S. 1122). Es ist von Kaplan und Norton 1992 erstmals vorgestellt und seitdem kontinuierlich weiterentwickelt worden. Ein Performance-Measurement-System, das nach diesem Bezugssystem aufgebaut ist,

Logistikkennzahlen für das Performance Measurement |

917

wird hier als Balanced Scorecard bezeichnet. Balanced Scorecards werden in erster Li­ nie für die Geschäftsbereiche einer Unternehmung entwickelt. Das Bezugssystem einer Balanced Scorecard sieht vor, die Ziele und die zugehöri­ gen Kennzahlen für drei bis fünf verschiedene Perspektiven, aus denen ein Geschäfts­ bereich betrachtet werden kann, zu entwickeln und zu Gruppen zusammenzufassen. Kaplan/Norton schlagen vor, bei der Entwicklung eines Performance-MeasurementSystems neben der finanziellen Perspektive die Kundenperspektive, die Perspektive der internen Prozesse sowie die Lern- und Entwicklungsperspektive einzunehmen. Die Ziele der finanziellen Perspektive geben den finanziellen Beitrag vor, der nach der Unternehmungsstrategie vom Geschäftsbereich erwartet wird. Die Vorgaben der Un­ ternehmungsstrategie zur Erreichung dieser Ziele werden durch die Kennzahlen der finanziellen Perspektive präzisiert. Sie legen unter anderem die Art und die Bedeu­ tung des Umsatzwachstums, der Produktivitätssteigerung und der Nutzung finanzi­ eller Ressourcen für die Erreichung der langfristigen finanziellen Ziele fest. Um den finanziellen Beitrag leisten zu können, sind Sach- und Dienstleistungen zu erstellen und zu verwerten, die für die Kunden einen Wert haben. Mit den Zielen und Kenn­ zahlen der Kundenperspektive wird vorgegeben, wie dieser Wert geschaffen werden soll. Zur Erreichung der langfristigen finanziellen Ziele trägt der geschaffene Kunden­ wert nur bei, sofern die relevanten internen Prozesse effektiv und effizient ausgeführt werden. Die Ziele und Kennzahlen der Prozessperspektive beschreiben, wie die Effek­ tivität und die Effizienz der internen Prozesse verbessert werden sollen, die für die Erreichung der langfristigen finanziellen Ziele und die Schaffung des Kundenwertes kritisch sind. Die Erreichung der langfristigen Ziele verlangt, dass sowohl der Kunden­ wert des Leistungsprogramms als auch die Effektivität und Effizienz der kritischen in­ ternen Prozesse kontinuierlich verbessert werden. Das kann den Erwerb von Wissen oder Technologien, die Steigerung der Motivation, die Qualifikation der Mitarbeiter oder die Stärkung der Innovationskraft erfordern. Welche dieser Potentiale aufgebaut werden sollen, wird durch die Ziele und Kennzahlen der Lern- und Entwicklungsper­ spektive festgelegt (vgl. Kaplan/Norton 1997, S. 41 ff.). Jede Kennzahl einer Balanced Scorecard ist ein Glied der Ursache-Wirkungs-Kette, an deren Ende die Kennzahlen der finanziellen Perspektive stehen. Alle Kennzahlen einer Balanced Scorecard sind damit entweder direkt oder indirekt über Instrumental­ relationen mit den Kennzahlen der Finanzperspektive verbunden (vgl. Kaplan/Norton 1997, S. 142 ff.). Die als Strategy Map bezeichnete Ursache-Wirkungs-Kette verdeutlicht, warum jede einzelne Kennzahl in einem bestimmten Umfang erreicht werden sollte (vgl. Horváth & Partners 2007, S. 53 ff.). Beiträge zur Erreichung der langfristigen finanziellen Ziele sollten nicht nur von den Geschäftsbereichen erwirtschaftet werden, sondern auch von der Unter­ nehmungsleitung und den Servicebereichen, deren Kosten nicht über enge kausale Mechanismen mit der Herstellung von Sach- und Dienstleistungen verbunden sind, wie z. B. die Zentralbereiche Finanzen, Personal und IT. Um den Beiträgen dieser Verantwortungsbereiche zu den langfristigen finanziellen Zielen der Unternehmung ähnliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, wie den finanziellen Leistungen der

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Geschäftsbereiche, treten neben die Balanced Scorecards der Geschäftsbereiche eine Balanced Scorecard für die Unternehmungsleitung sowie eine Balanced Scorecard für jeden Servicebereich. Die Unternehmungsstrategie gibt vor, wie die Unternehmungsleitung Synergie­ potentiale schaffen und realisieren soll, um einen höheren Beitrag zur Erreichung der langfristigen finanziellen Ziele zu leisten als die Geschäftsbereiche unabhängig von­ einander erwirtschaften könnten. Diese zusätzliche finanzielle Leistung, die über die Summe der finanziellen Leistungen der Geschäftsbereiche hinausgeht, wird als Unter­ nehmungswertbeitrag bezeichnet (vgl. Kaplan/Norton 2006, S. 4 f.). Abgebildet wird diese Dimension der Unternehmungsstrategie durch eine Balanced Scorecard der Un­ ternehmungsleitung, deren Ziele und Kennzahlen Antworten auf die folgenden Fra­ gen liefern (vgl. Kaplan/Norton 2006, S. 6 ff.): (1) Finanzperspektive: Wie kann die fi­ nanzielle Leistung der Geschäftsbereiche gesteigert werden? (2) Kundenperspektive: Wie können die Schnittstellen zu den Kunden optimiert werden, um den Gesamtkun­ denwert zu erhöhen? (3) Perspektive der internen Prozesse: Wie können die Prozes­ se in den Geschäftsbereichen gesteuert werden, damit Economies of Scale oder eine Wertkettenintegration entsteht? (4) Lern- und Entwicklungsperspektive: Wie können die immateriellen Werte weiterentwickelt und gemeinsam genutzt werden? Der Grundgedanke der Balanced Scorecard für einen Servicebereich ist die Abbil­ dung einer Strategie, die für den Servicebereich festlegt, wie er die Unternehmungslei­ tung und die Geschäftsbereiche bei der Erreichung ihrer strategischen Ziele unterstüt­ zen kann. Beiträge der Servicebereiche zur Erreichung der langfristigen finanziellen Ziele der Unternehmung können sein (vgl. Kaplan/Norton 2006, S. 117): (1) Operati­ ve Exzellenz beim Angebot von Basisleistungen zu niedrigen Kosten und mit hoher Zuverlässigkeit oder (2) erstklassige Leistungen bei kritischen internen Dienstleistun­ gen, die zu einer Differenzierungsstrategie der Geschäftsbereiche beitragen können. Die Ziele und Kennzahlen der finanziellen Perspektive der Balanced Scorecard für einen Servicebereich betreffen zum einen seine Effizienz, die sich auf die Kosten und die Einhaltung des Budgets bezieht, und zum anderen auf die Effektivität, d. h. den Beitrag des Servicebereichs für die Umsetzung der Unternehmungs- und Geschäfts­ bereichsstrategien. Als Ziele zur Effektivität des Servicebereichs werden die Ziele aus den Balanced Scorecards der Geschäftsbereiche verwendet, die durch den Servicebe­ reich direkt beeinflusst werden. Die Finanzperspektive der Balanced Scorecard eines Servicebereichs wird deshalb auch als Linkage Scorecard bezeichnet. Die Ziele und Kennzahlen der Kundenperspektive der Balanced Scorecard eines Servicebereichs beschreiben, wie er seine funktionale Expertise nutzen soll, um Lösungen bereit­ zustellen, die zur finanziellen Leistung der Geschäftsbereiche beitragen. Neben den Einflussgrößen auf die Effizienz und die Effektivität des Servicebereichs umfasst die Perspektive der internen Prozesse auch Ziele und Kennzahlen zur Ausgestaltung der Beziehungen zu den Geschäftsbereichen. Die spezifischen Anforderungen an die Mit­ arbeiter des Servicebereichs bilden den Inhalt der Ziele und Kennzahlen in der Lernund Entwicklungsperspektive (vgl. Kaplan/Norton 2006, S. 130 ff.).

Logistikkennzahlen für das Performance Measurement | 919

3.3.2 Ansätze der Balanced Scorecard für die Logistik Für eine Balanced Scorecard der Logistik werden in der Literatur zum einen Kennzah­ len für die Finanz-, die Kunden-, die Prozess- sowie die Lern- und Entwicklungsper­ spektive vorgeschlagen (vgl. Herold 2003, S. 177 f.; Schulte 2017, S. 945). Zum anderen werden Vorschläge zu den Perspektiven unterbreitet, die bei der Auswahl der Ziele und Kennzahlen eingenommen werden sollten (vgl. Stölzle 2001; Weber 2002; Mikus 2003). Nach Stölzle (2001, S. 43 und S. 46) setzt die Entwicklung einer Balanced Score­ card eine zentrale Logistik voraus, d. h. die Einordnung als Profit Center oder zentra­ ler Servicebereich. Um die Balanced Scorecard mit der Unternehmungsstrategie zu verbinden, wird neben der finanziellen Perspektive, der Kunden-, Prozess- und Lern­ perspektive als fünfte Perspektive eine Strategieperspektive eingeführt. Sie gibt den Beitrag der Logistik zur Umsetzung der Unternehmungsstrategien vor. Für die Strate­ gieperspektive werden drei Ziele genannt: (1) die Schaffung der Fähigkeit, selbsttra­ gend im Wettbewerb zu bestehen, (2) die Steigerung der Servicezufriedenheit der ex­ ternen Kunden und (3) die Verwirklichung der Nachhaltigkeit. Als Profit Center wird die Logistik institutionalisiert, wenn sie Logistikleistungen für den externen Markt anbietet. Für einen solchen Logistikdienstleister kann die Balanced Scorecard nach dem Konzept für die Geschäftsbereiche entwickelt werden. Eine Strategieperspekti­ ve ist nicht erforderlich. Die für die Strategieperspektive genannten Ziele sind über die Ziele und Kennzahlen der übrigen Perspektiven zu präzisieren. Für die Balanced Scorecard eines zentralen Servicebereichs „Logistik“ müsste die finanzielle Perspek­ tive als Linkage Scorecard entwickelt werden. Das Konzept nach Weber (2002, S. 301 ff.) sieht jeweils eine Balanced Scorecard für die Beschaffungs-, die Produktions- und die Distributionslogistik sowie eine weitere Balanced Scorecard für die Gesamtlogistik vor. Als Beispiele für die Strategie der Ge­ samtlogistik, die durch eine eigene Balanced Scorecard abgebildet werden soll, wer­ den genannt: (1) die Erhöhung der Aufmerksamkeit des oberen Managements für die Notwendigkeit und Dringlichkeit einer Koordination des Objektflusses, (2) die stär­ kere Integration der Logistik in die Produktgestaltung und (3) die Qualifizierung der Logistikmitarbeiter für eine koordinationsorientiert verstandene Logistik. In der Ba­ lanced Scorecard der Gesamtlogistik wird eine Finanz-, eine Koordinationsstruktur-, eine Koordinationsprozess- sowie eine Lern- und Entwicklungsperspektive berück­ sichtigt. Um die Bedeutung der Quellen und Senken im Objektfluss hervorzuheben, tritt in den Balanced Scorecards der logistischen Teilbereiche an die Stelle der Lernund Entwicklungsperspektive die Perspektive der jeweiligen Quelle. Die Senke wird durch die Perspektive des jeweiligen Kunden berücksichtigt. Bei den Balanced Score­ cards für die Beschaffungs- und die Produktionslogistik sind das die Produktion und die Distribution. Auch das Konzept von Mikus (2003) sieht eine Balanced Scorecard für die Ge­ samtlogistik sowie weitere Balanced Scorecards vor, die für logistische Organisations­

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einheiten und/oder Segmente logistikbezogener strategischer Planungen (z. B. logis­ tische Produkt-Markt-Kombinationen, Prozesse, Ressourcenbündel) gebildet werden. Hinzu treten Balanced Scorecards auf einer dritten Ebene, die logistische Verrichtun­ gen oder Produkte/Produktgruppen erfassen. Jede dieser Balanced Scorecards ist in eine finanzielle Perspektive sowie die Perspektiven für die logistischen Angebote, die logistischen Prozesse sowie die logistischen Ressourcen gegliedert. Die Berücksich­ tigung einer Koordinationsstruktur- und Koordinationsprozessperspektive wird abge­ lehnt, da die entsprechenden Sachverhalte über die Ressourcen- (Koordinationsstruk­ tur) und die Prozessperspektive (Koordinationsprozess) erfasst werden können. Auch wird die Strategieperspektive nach Stölzle (2001) nicht aufgegriffen, da die unterge­ ordneten Scorecards generell an den übergeordneten Scorecards auszurichten sind und alle Kennzahlen über Instrumentalrelationen mit der Unternehmungsstrategie verbunden sein sollten. Die Konzepte nach Weber (2002) und Mikus (2003) sind für Organisationseinhei­ ten auf der dritten oder vierten Ebene der Unternehmungshierarchie vorgeschlagen worden. Für das Performance Measurement müssen alle Kennzahlen in diesen Balan­ ced Scorecards über Instrumentalrelationen mit den Kennzahlen der Balanced Score­ cards der übergeordneten Hierarchieebenen bis zu den finanziellen Zielen der Balan­ ced Scorecard der obersten Hierarchieebene verbunden sein. Beide Konzepte enthal­ ten Aussagen zur Anzahl und Art der Perspektiven. Offen bleibt, wie die Kennzahlen der Balanced Scorecards für die Logistik mit der Unternehmungsstrategie und der Ge­ schäftsbereichsstrategie verknüpft werden sollen. Nach Kaplan und Norton (2004, S. 59 ff.) werden Balanced Scorecards für die Un­ ternehmungsleitung, die Geschäftsbereiche und die Servicebereiche gebildet. Die trei­ benden Kräfte der Logistik für den Erfolg im Wettbewerb werden in der Perspektive der internen Prozesse der Balanced Scorecards auf der Ebene der Geschäftsbereiche be­ rücksichtigt. Neben den Logistikabteilungen in den Funktionsbereichen oder Sparten kann ein zentraler Logistikbereich treten. Für diesen kann eine Balanced Scorecard entwickelt werden, die an das Konzept der Balanced Scorecard für einen Servicebe­ reich angelehnt sein sollte.

4 Schlussbemerkungen Die Verwendung von Kennzahlen bietet sich in der Logistik an, da die Wirkungen von Lager-, Transport- und Umschlagprozessen mit Mengen- und Zeitgrößen darstell­ bar sind. Es sind deshalb zahlreiche Kennzahlen und Vorschläge zur Struktur eines Logistikkennzahlensystems für die Nutzung als diagnostische Kennzahlen entwickelt worden. Eingesetzt werden die Logistikkennzahlen als Zielgrößen für logistische Pro­ zesse, die am Ende der Periode den Ist-Werten gegenübergestellt werden, um einen notwendigen Korrekturbedarf erkennen zu können (vgl. Küpper et al. 2013, S. 598).

Logistikkennzahlen für das Performance Measurement | 921

Die Vorschläge zu einer Balanced Scorecard für die Logistik eignen sich nicht für das Performance Measurement der Unternehmung. Allen Vorschlägen gemeinsam ist die Herleitung aus einer Logistikstrategie der Unternehmung. Die Logistik ist ein in­ terner Servicebereich. In ihrem Gestaltungsbereich liegen deshalb Einflussgrößen auf die künftige Zielerreichung der Geschäfts- und Funktionsbereiche der Unternehmung. Logistikkennzahlen für das Performance Measurement können deshalb nicht unab­ hängig von den Zielen anderer Unternehmungsbereiche entwickelt werden. Bei der Gestaltung von Logistikkennzahlen und Logistikkennzahlensystemen muss deshalb sehr viel stärker als bisher der Dienstleistungscharakter der Logistik berücksichtigt werden.

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Ernst Troßmann

Kostenmanagement 1 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 3.3 4 4.1 4.2 4.3 4.4 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 6

Kostenmanagement – ebenso wichtig wie unbeliebt | 924 Grundlagen des Kostenmanagements | 924 Zur Abgrenzung des Kostenmanagements | 924 Instrumente des Kostenmanagements | 926 Prozessorientiertes Kostenmanagement | 927 Die beiden Ansatzpunkte des prozessorientierten Kostenmanagements | 927 Die Entscheidungsstufen im Produktionsprozess als Ansatzpunkt des Kostenmanagements | 927 Die Cost Driver als Ansatzpunkt des Kostenmanagements | 929 Kostenmanagement mit dem Target Costing | 932 Charakterisierung des Target Costing | 932 Bewertung der Produktfunktionen als Grundlage des Target Costing | 933 Zielkostenspaltung nach dem Target-Costing-Prinzip | 935 Zielkostenspaltung nach dem entscheidungsorientierten Verfahren | 937 Kostenmanagement mit Budgets | 938 Charakterisierung der Budgetierung | 938 Überblick zu den Budgetierungstechniken | 939 Die allgemeine Programmbudgetierung | 940 Die inputorientierte Fortschreibung | 941 Die Gemeinkostenwertanalyse | 942 Das Zero-Base Budgeting | 943 Beyond Budgeting | 944 Die unterschiedlichen Kostenmanagement-Ansätze im Vergleich | 945 Literatur | 946

Zusammenfassung. In diesem Beitrag werden die Aufgaben des Kostenmanagements charakterisiert und seine Instrumente sowie organisatorische Realisierungsalternati­ ven vorgestellt. Als grundlegende Ansatzpunkte des Kostenmanagements werden die Entscheidungsstufen im Produktionsprozess und die Cost Driver der einzelnen Stufen behandelt. Weitere Schwerpunkte bilden das produktbezogene Target Costing und die abteilungsbezogene Kostenbudgetierung.

https://doi.org/10.1515/9783110473803-048

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1 Kostenmanagement – ebenso wichtig wie unbeliebt Es scheint kaum begründungsbedürftig zu sein, dass ein aktives und konsequentes Kostenmanagement wichtig ist. Gründe dafür sind ein starker Wettbewerbsdruck, ei­ ne starke Käuferposition auf dem Absatzmarkt oder eine besonders hohe Erwartung der Eigenkapitalgeber, etwa wenn die beiden vorgenannten Gründe nicht zutreffen. Schließlich ist das Gerüstetsein für die Zukunft, die Absicherung einer relativ guten betrieblichen Position ein Grund, der ohne Rückgriff auf die aktuelle Marktsituation von „zeitloser“ Bedeutung ist. Insgesamt ist eine hochrangige Bedeutung des Kosten­ managements unstrittig. Kontrovers werden Kostenmanagement-Themen dagegen, wenn sie sich in kon­ kreten Maßnahmen niederschlagen, etwa in Produktumgestaltungen, personalpoliti­ schen Maßnahmen oder weitergreifenden betrieblichen Umstrukturierungen. Der vorliegende Beitrag beleuchtet zunächst, weshalb sich das Kostenmanage­ ment nur schwer von den typischen Managementbereichen abgrenzen lässt und zeigt dann die wichtigsten Ansatzpunkte und Instrumente des Kostenmanagements.

2 Grundlagen des Kostenmanagements 2.1 Zur Abgrenzung des Kostenmanagements Management bedeutet Gestalten und Steuern von ganzen Betrieben oder betriebli­ chen Teilbereichen. Als Teilbereiche kommen ganz unterschiedliche Ausschnitte des betrieblichen Geschehens in Frage. Das können beispielsweise organisatorische Teil­ einheiten sein, etwa das Bereichsmanagement für den Geschäftsbereich X, woraus sich wiederum, je nach Organisationsprinzip, vielfältige weitere konkrete Ausprä­ gungsformen ergeben. Da die betriebliche Organisation zahlreiche Gliederungsmög­ lichkeiten bietet, gibt es entsprechend unterschiedliche Erscheinungsformen, so beispielsweise das Beschaffungsmanagement (bei funktionaler Organisation), das Produktmanagement für die Produktgruppe Y (bei produktorientierter Spartenorga­ nisation), das Regionalmanagement für das Land Z (bei regionenorientierter Speziali­ sierung) usw. Der betriebliche Teilbereich, auf den sich die Managementbemühungen richten, kann jedoch auch unabhängig von der organisatorischen Gliederung („quer“ zu ihr) bestimmt sein, etwa das Beschaffungsmanagement in einer Spartenorganisa­ tion oder das Kundenprozessmanagement in einer funktionalen Organisation. Den angeführten Möglichkeiten ist bei all ihrer Vielfalt gemeinsam, dass es jeweils konkre­ te betriebliche Organisationsbereiche sind, die gestaltet und gesteuert werden sollen. Sie liegen also im güterwirtschaftlichen Bereich.

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Anders verhält es sich mit dem engeren Gebiet des Kostenmanagements. „Kosten“ bezeichnen gerade keinen (güterwirtschaftlichen) Teilbereich des Betriebes. Kosten können nicht durch eine wie auch immer geartete Gliederung des Betriebsgeschehens eingegrenzt werden. Vielmehr ist der Begriff „Kosten“ selbst ein formaler. Er erfasst nach einer der üblichen Definitionen den „sachzielbezogenen bewerteten betriebli­ chen Güterverzehr“ (so bei Schweitzer et al. 2016, S. 21, oder bei Troßmann/Baumeister 2015, S. 17). Mit dem Begriff „Kostenmanagement“ können damit nur Management­ bemühungen gemeint sein, die sich auf die Kosten als eine Zielgröße richten. In gleicher Weise ist dies auch bei analogen Begriffsbildungen wie Erfolgsmanagement, Gewinnmanagement, Deckungsbeitragsmanagement, Terminmanagement, Quali­ tätsmanagement oder Zufriedenheitsmanagement der Fall. Solche „ZielmanagementBereiche“ sind generell durch eine gewisse Abstraktheit gekennzeichnet. Die eigentli­ chen Ansatzpunkte werden gar nicht genannt. So richtet sich ein Erfolgsmanagement auf sämtliche betriebliche Prozesse, die den Erfolg positiv oder negativ beeinflussen – und das dürfte so ziemlich ausnahmslos alle güterwirtschaftlichen Prozesse umfas­ sen. Prinzipiell gilt dies mehr oder weniger für alle weiteren Zielmanagement-Bereiche auch, zumindest insoweit, als sie sich durchweg nicht exklusiv auf bestimmte primäre Aktionsfelder richten. Damit ist klar, dass sich Zielmanagement-Bereiche eben gerade nicht für eine organisatorische Zuständigkeitsregelung eignen: Es ist nicht möglich, den einen Manager mit dem Erfolgsmanagement zu beauftragen, den anderen mit dem Qualitätsmanagement, einen dritten mit dem Betriebsklimamanagement und weitere mit dem Erlösmanagement, dem Deckungsbeitragsmanagement oder eben dem Kostenmanagement. Man hätte hierbei keine klare Abgrenzung der resultieren­ den Tätigkeitsbereiche und würde damit widersprüchliche Maßnahmenentscheidun­ gen provozieren. Alle Zielmanagementbereiche können daher höchstens auf eine der folgenden Arten praktiziert werden: 1. Möglichkeit 1: Die für das Zielmanagement Zuständigen treffen gar keine güter­ wirtschaftlichen Entscheidungen, sondern tragen nur die Entscheidungen der Primärbereichsmanager zusammen. Dies kann mit einer Systematisierungsauf­ gabe verbunden sein, so dass auf diese Weise die gesamte Zielwirkung deutlicher sichtbar wird. Ein so verstandener Kostenmanager würde dann keinerlei Pro­ duktionsentscheidungen treffen; er würde aber beispielsweise die gewählten Maßnahmen in Beschaffung, Lagerhaltung, Transport, Fertigung und im Ab­ satzbereich, ferner in der Produktgestaltung und -konstruktion, im Personalein­ satz, in der Prozessplanung sowie in der Anlageninvestition insgesamt in ihrer Kostenwirkung zusammenstellen und etwa die Erfüllung gesetzter Kostenziele überprüfen. Diese Aufgaben sind zweifellos wichtig; sie erfüllen eine wertvolle führungsunterstützende Funktion – eine eigentliche gestalterische, also „mana­ gende“ Aufgabe ist es aber nicht. Gerade in der Kostenrechnung ist es in den ver­ gangenen Jahren da und dort gebräuchlich geworden, bloße kostenrechnerische Aufgaben als Kostenmanagement zu bezeichnen. Einer solchen, eher systematikund verständnisstörenden Bezeichnungsweise wird hier nicht gefolgt.

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2.

3.

Möglichkeit 2: Ganz anderen Ursprungs ist die zweite Möglichkeit des Begriffs­ verständnisses: Ausgangspunkt ist hier ein klar definierter realgüterlicher Auf­ gabenbereich, der auch organisatorisch nach Tätigkeitsgesichtspunkten sauber abgegrenzt ist. Für diesen Aufgabenbereich steht aber ein bestimmter Zielinhalt derart pointiert im Vordergrund, dass die gewünschte Zielerreichung namensge­ bend wird. Zeigt beispielsweise eine bestimmte Produktart X nicht den angestreb­ ten Gewinn, so kann der zuständige Produktmanager sich insbesondere um ei­ ne gewinnorientierte Produktgestaltung, eine gewinnorientierte Produktionspro­ zessoptimierung und ein gewinnorientiertes Absatzmarketing kümmern. Obwohl weiterhin Produktmanager (was seine Tätigkeit bezeichnet), betreibt er „Gewinn­ management“. Analog kann man den für eine bestimmte kostenorientierte Pro­ duktgestaltung zuständigen Produktmanager als denjenigen ansehen, der Kos­ tenmanagement (eben für das Produkt X) betreibt. In entsprechender Weise wäre ein Werksleiter oder ein Fertigungsbereichsleiter (Kostenstellenleiter in der Ferti­ gung), der selbst eine Kostenvorgabe als Führungsziel erhalten hat, also etwa mit einem Kostenbudget gesteuert wird, als Kostenmanager zu verstehen. Möglichkeit 3: Ohne sich auf eines der betrieblichen Ziele unter Vernachlässigung der anderen zu konzentrieren, interessiert sich das Management dafür, von wel­ chen Einflussgrößen speziell Ziel 1, Ziel 2, usw. abhängt. Es betreibt insofern, ei­ ner allgemeinen Vorstellung folgend, bei seinen Entscheidungen gemäß dem be­ trieblichen Zielsystem in einem gewissen Maß gleichzeitig ein Zielmanagement für verschiedene Ziele. Die Manager sind also für ihren inhaltlichen Aufgaben­ bereich zugleich Gewinnmanager, Kostenmanager, Zeitmanager und Betriebskli­ mamanager. Dann ist unter dem Teilgebiet des Kostenmanagements vor allem das abwägende Verfolgen von Kostenzielen unter Beachtung der anderen relevanten betrieblichen Ziele zu verstehen.

2.2 Instrumente des Kostenmanagements Von den drei angeführten Interpretationsmöglichkeiten umfassen nur die letzten bei­ den gestalterische, also eigentliche Managementaufgaben. Allgemein lässt sich nach dieser Sichtweise Kostenmanagement wie folgt definieren: Kostenmanagement be­ zeichnet die Gestaltung von Kostenbestimmungsgrößen mit dem Ziel, die von ihnen beeinflussbaren Kosten in eine angestrebte Größenordnung oder sogar exakt festge­ legte Zielhöhe zu bringen. Zu den Instrumenten des Kostenmanagements kann man drei Ansätze rechnen: – die Bereitstellung von Ansatzpunkten für eine gezielte Kostenbeeinflussung, teil­ weise auch als „Kostenhebel“, „Cost Driver“ oder bisweilen auch als „Kostentrei­ ber“ bezeichnet; – das Target Costing als spezielle Methode des Kostenmanagements von Produkten; – die Kostensteuerung als spezielles organisatorisch-hierarchisches Steuerungs­ mittel für das Management von Kostenstellen.

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Das Target Costing und die Kostenbudgetierung sind dabei zwei unterschiedlich aus­ gerichtete Instrumente eines kostenorientierten Managements nach der zweiten der oben angeführten Interpretationsmöglichkeiten. Das Target Costing lässt sich als In­ strument eines produktorientierten Kostenmanagements, die Kostenbudgetierung als organisatorisches Kostenmanagement verstehen. Die allgemeine Analyse von Kosten­ beeinflussungsgrößen entspricht dagegen der dritten, ebenfalls generell ausgerichte­ ten Interpretation. Sie orientiert sich letztlich an den Prozessen der betrieblichen Pro­ duktion und wird deshalb hier als prozessorientiertes Kostenmanagement bezeichnet.

3 Prozessorientiertes Kostenmanagement 3.1 Die beiden Ansatzpunkte des prozessorientierten Kostenmanagements Ausgangspunkt eines prozessorientierten Kostenmanagements ist das vorhandene Kostenrechnungssystem. Soweit es entscheidungsorientiert aufgebaut ist, zeigen die kostenrechnerischen Strukturen die prinzipiellen Gestaltungsmöglichkeiten des Kos­ tenmanagements an. Wichtige Strukturmerkmale der Kostenrechnung hierbei sind ei­ nerseits die Aufgliederung in einzelne Berechnungs- und damit Entscheidungsstufen und andererseits die jeweiligen Kosteneinflussgrößen, nach denen sich die Kostenhö­ he bestimmt. Beides ist aus den praktizierten Kostenrechnungsmethoden unmittelbar ersichtlich: die abgebildeten Entscheidungsstufen zeigen sich in der mehrstufigen De­ ckungsbeitragsrechnung, die Kosteneinflussgrößen an den unabhängigen Variablen der Kalkulation, sie heißen dort, je nach Kostenrechnungssystem, Bezugsgrößen oder Cost Driver. Für Kostenmanagementzwecke eignen sich die Aufbauelemente der Kos­ tenrechnung generell nur insoweit, als sie zu den relevanten Entscheidungsgrößen eine akzeptierbare Abbildungsgenauigkeit bieten.

3.2 Die Entscheidungsstufen im Produktionsprozess als Ansatzpunkt des Kostenmanagements Die in der Kostenrechnung abgebildeten Berechnungsstufen sind grundsätzlich das geeignete Abbildungsmittel, um die Entscheidungsfolge abzubilden, die sich nach dem Disponibilitätsprinzip ergibt. Soweit dieses Prinzip im Kostenrechnungsaufbau beachtet worden ist, drücken die einzelnen Deckungsbeitragsstufen mit den ihnen zugeordneten stufenweisen Fixkosten aus, in welcher Reihenfolge über die verschie­ denen Voraussetzungen des Produktionsprozesses disponiert wird und welches Kos­ tenengagement damit verbunden ist. Beispielsweise könnte eine typische Stufenfolge Dispositionen umfassen über

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1. 2.

die Fertigung und den Absatz einer bestimmten Produktgruppe, die Fertigung von Produkten dieser Produktgruppe nach einer bestimmten Ferti­ gungsart, etwa mit einer bestimmten Produktionstechnik unter Verwendung von Maschinen eines bestimmten Typs, 3. die Fertigung und den Absatz einer bestimmten Produktart, 4. die Fertigung einer bestimmten Menge der einzelnen Produktart. In der Abfolge dieser Dispositionen spezialisiert sich die Entscheidungslage immer weiter, so dass das typische Aufgliederungsschema der mehrstufigen Deckungsbei­ tragsrechnung entsteht. In der rechnerischen Darstellung dominiert dafür die umge­ kehrte Gliederungsfolge, d. h. das Rechenschema beginnt mit den jüngsten Entschei­ dungen – üblicherweise denen über die Mengen der einzelnen Produktarten – es folgen dann die vorhergehenden Entscheidungen, die als Voraussetzung für die je­ weiligen Folge-Entscheidungen anzusehen sind (vgl. Troßmann/Baumeister 2015, S. 25 ff.). Ein entscheidungslogisch korrekt aufgebautes DeckungsbeitragsrechnungsSchema sorgt zunächst dafür, dass in der Zurechnung von Kosten und damit in der Berechnung von Deckungsbeiträgen keine Fehler entstehen. Abgesehen von Verein­ fachungen in einem unerheblichen Ausmaß sollten die auf jeder Stufe ausgewiesenen Kostenbeträge tatsächlich nur dann entstehen, wenn die betreffende Entscheidung so getroffen wird. Für ein Kostenmanagement bietet dies prinzipiell zwei Optimierungs­ möglichkeiten: Zum einen kann innerhalb der bestehenden Struktur nach Rationali­ sierungsreserven gesucht werden; zum anderen kann die Struktur selbst Gegenstand von Kostenverbesserungsüberlegungen sein. Im ersten Fall wird für die bestehende Struktur geprüft, ob sich die jeweilige Stu­ fensituation, etwa die Bereitstellung einer bestimmten Produktionskapazität, auch kostengünstiger herbeiführen lässt, beispielsweise durch Wahl eines anderen Produk­ tionsverfahrens, Umstieg auf eine andere Produktionsanlage oder Verwendung ande­ rer Materialarten, die vielleicht geringere Anforderungen an die Maschinenleistung stellen. Auch die Verlagerung der Produktion oder Teilen davon in ein Niedriglohn­ land ist hier einzuordnen. Immer handelt es sich dabei um eine Optimierung unter grundsätzlicher Beibehaltung der bestehenden Struktur. Der weiterreichende Fall einer strukturellen Änderung problematisiert die Abfol­ ge der Dispositionsstufen. Ansatzpunkt ist hier die Frage, ob sich an einzelnen, vor al­ lem an kostenkritischen Stellen eine Umkehr der Entscheidungsreihenfolge erreichen lässt. Ein Beispiel dafür wäre, nicht zuerst in die (stark kapitalbindende) Produktions­ anlage zu investieren und anschließend über deren jährliche Produktionsbereitschaft (d. h. über das Rüsten, Warten, Instandhalten usw.) und die jährlichen Marketingan­ strengungen zum Produktabsatz zu entscheiden, sondern insbesondere die kostenin­ tensiveren Produktionsentscheidungen möglichst umfassend an spätere Stellen der Dispositionskette zu bringen. Das wäre beispielsweise durch einen Übergang von der Eigenfertigung bestimmter Teile auf deren Fremdbezug denkbar. Dann wäre das Be­

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reitstellen einer eigenen Produktionskapazität nicht erforderlich. Da jene aber eines zeitlichen Vorlaufes bedarf, der für den Fremdbezug in diesem Ausmaß weitgehend entfällt, ergibt sich eine veränderte Dispositions-Abfolge. Eine wichtige Aufgabe des Kostenmanagements wäre daher, zu prüfen, inwieweit durch derartige strukturelle Maßnahmen ungünstig hohe Kostenfestlegungen an früher Stelle des Prozesses durch spätere ersetzt werden können. Der Preis einer auf diese Weise verbesserten Risikola­ ge kann darin bestehen, dass die Produktionskosten durch Einschalten des Fremdbe­ triebs insgesamt höher liegen. Die einzelnen Ausgestaltungen derartiger Überlegun­ gen umfassen außer dem angeführten Beispiel des Fremdbezugs beispielsweise auch die Lohnauftragsfertigung, das Mieten/Leasen von Maschinen über kürzere Fristen, die Inanspruchnahme von Zeitarbeitsangeboten, den Übergang von Vorrats- auf Kun­ denauftragsfertigung, das Schließen von Dauerlieferverträgen usw. Insgesamt besteht der Kostenmanagementansatz hier darin, durch alternative Gestaltung von Kosten­ höhen oder Entstehungsabfolgen Möglichkeiten einer kostengünstigeren Produktion herbeizuführen.

3.3 Die Cost Driver als Ansatzpunkt des Kostenmanagements Neben der mehrstufigen Struktur einer Deckungsbeitragsrechnung können die be­ rücksichtigten Cost Driver (Kosteneinflussgrößen) Ausgangspunkt für das Kostenma­ nagement sein. Sie sind am augenfälligsten im Kalkulationsschema zu erkennen. Ty­ pische Kosteneinflussgrößen sind die Produktions- und Absatzmengen der einzelnen Produktarten, Maschinenbelegungszeiten, Häufigkeiten bestimmter Prozessschritte, etwa die Anzahl der Rüstvorgänge, der Wartungen, der Bestellungen, der Sonderbe­ handlungen, der Kontrollen, oder Messgrößen für das Auftreten verschiedener Mate­ rialarten, Herstellungsvarianten, des Einbaus bestimmter Ausstattungen, Lagerungsoder Transportarten. In allen Kostenrechnungssystemen spielen sie die gleiche Rolle, tragen aber verschiedene Namen, neben Kosteneinflussgrößen etwa Zuschlagsbasen oder Bezugsgrößen (vgl. z. B. Arbeitskreis Internes Rechnungswesen 2017, S. 228 und S. 355). In der Prozesskostenrechnung heißen sie einheitlich Cost Driver. In der Kostenträgerrechnung dominiert das Prinzip der Addition einfacher Pro­ portionalbeziehungen (vgl. Troßmann/Baumeister 2015, S. 52 ff.). Es wird also für je­ den Cost Driver die zum Kostenträger gehörende Cost-Driver-Menge festgestellt, mit der Cost-Driver-Rate multipliziert und über alle Cost Driver die Summe gebildet. Ab­ gesehen von anderen Bezeichnungsweisen ist dieses Prinzip der Zuschlagsrechnung allen Kostenrechnungssystemen gemeinsam. Damit lassen sich die cost-driver-bezo­ genen Kostenmanagement-Überlegungen in zwei Gruppen aufsplitten. Sie orientieren sich entweder – an den Cost-Driver-Mengen und damit am Kostenträger, dem Produkt, – oder an den Cost-Driver-Raten und damit an der Kostenstruktur der Produktions­ prozesse.

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So lässt sich das kostenorientierte Produktgestaltungsmanagement vom kostenorien­ tierten Prozessmanagement unterscheiden. Die wenigen nichtlinearen oder mehrva­ riabligen Kostenzusammenhänge, die in der Kostenrechnung berücksichtigt werden – etwa im Fall einer „heterogenen Kostenverursachung“ in der Grenzplankostenrech­ nung – erlauben diese Aufsplittung ebenfalls; möglicherweise ist dort aber die Inter­ pretation der relativen Bedeutung einzelner Summanden nicht so einfach. Für das Kostenmanagement liegt der Vorteil einer besonders stark differenzier­ ten Aufgliederung der Kostenentstehung auf der Hand. Je mehr Cost Driver unter­ schieden werden, desto differenzierter und präziser lassen sich besonders kostenin­ tensive Teilprozesse identifizieren. Für die Kostenrechnung dagegen besteht eine me­ thodische Optimierungsaufgabe immer darin, die mit den zusätzlichen Cost Drivern verbundenen Genauigkeitszuwachs gegen die damit provozierte höhere Komplexität abzuwägen. Reduziert man die Kalkulationsgrundlagen wie in der traditionellen Kos­ tenrechnung auf die Bezugsgrößen der Materialeinzelkosten, Fertigungseinzellöhne sowie die (bereits davon abhängigen) Herstellkosten, ist die Aussagekraft der Kalkula­ tionsergebnisse selbst äußerst beschränkt. Darüber hinaus lässt sich aus einer derart groben Kostenrechnung naturgemäß keinerlei Sekundärnutzen für ein gestaltendes Kostenmanagement gewinnen. Bei hinreichend differenzierter Kostenanalyse gibt es aber eine genügend große Anzahl diskriminierender Cost Driver mit zugehörigen Cost-Driver-Raten, auf deren Basis gute Kostenprognosen getroffen werden können. Für ein kostenorientiertes Pro­ duktgestaltungsmanagement werden damit fundierte Kalkulationen schon in frühen Produktentwicklungsstadien möglich. Einerseits wird erkennbar, welche Cost Driver für eine treffende Kostenprognose besonders wichtig sind, so dass auf deren Fest­ legung zu einem frühen Entwurfszeitpunkt besonders Gewicht gelegt werden kann, andererseits zeigen sich auch die Hauptstellgrößen für die Kostenbeeinflussung. Bei den Verfahren der konstruktionsbegleitenden Kalkulation unterscheidet man einer­ seits Kurzkalkulationsverfahren, die sich auf wenige Kosteneinflussgrößen beschrän­ ken, andererseits Verfahren mit einem vollständigen Kalkulationsschema. Letztere ersetzen die zum aktuellen Produktentwurfsstand noch fehlenden Kalkulations­ grundlagen (Cost-Driver-Mengen) durch tatsächliche Werte aus ähnlichen, früheren Produktentwicklungen oder durch Interpolationen solcher Werte (vgl. zu einem Ver­ fahrensüberblick z. B. Troßmann/Baumeister 2015, S. 52 ff.). In beiden Fällen ist die Größenordnung der zugehörigen Cost Driver ein wertvoller Anhaltspunkt für das kostenorientierte Produktionsgestaltungsmanagement. Zu besonderer Bedeutung ge­ langen fundierte Cost-Driver-Raten schließlich beim Target Costing, bei dem gezielt Alternativen der Produktgestaltung in ihrer Kostenwirkung verglichen werden (vgl. dazu Abschnitt 4). Das kostenorientierte Prozessmanagement setzt nicht beim Produkt, sondern bei der Cost-Driver-Rate an. Während bei der Produktplanung die Cost-Driver-Raten als gegeben angenommen werden, stehen gerade sie im Zentrum der gestalterischen Bemühungen des kostenorientierten Prozessmanagements. Anhaltspunkt für ein

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effizientes Kostenmanagement sind einerseits diejenigen Cost Driver, die relativ ho­ he Cost-Driver-Raten aufweisen, andererseits diejenigen, die regelmäßig mit hohen Cost-Driver-Mengen multipliziert werden. Die Kostenmanagementbemühungen rich­ ten sich hier auf eine (Neu-)Gestaltung der Prozesse, um tendenziell kleinere CostDriver-Raten zu ermöglichen. Solche Prozessoptimierungsmaßnahmen reichen von den typischen ablauforganisatorischen Änderungen im prinzipiell gleichbleibenden Prozess bis hin zu kompletten Prozessumgestaltungen. Durch die elektronischen Erfassungsmöglichkeiten und die damit gegebene parallele Verfügbarkeit der pro­ zessstatusdefinierenden Informationen fallen häufig bestimmte Ablauferfordernisse weg, die vordem durch den physischen Weitertransport des Werkstückes oder des In­ formationsträgers bedingt waren. So können einzelne Prozessschritte entfallen, par­ allel erledigt werden oder jetzt reihenfolgeunabhängig eingeordnet werden. Beispiele derartiger ablauforganisatorischer Umgestaltungen werden in der Unternehmens­ beratungspraxis gerne als Business-Reengineering-Maßnahmen beschrieben (vgl. z. B. Hammer/Champy 1994 sowie kritisch Theuvsen 1996). Welche Art von Prozess­ optimierung möglich und angebracht ist, kann freilich nur in einer systematischen Prozessanalyse herausgefunden werden. Wie generell liefert auch hier die kosten­ orientierte Herangehensweise lediglich Anhaltspunkte dafür, an welchen Stellen Gestaltungsmaßnahmen besonders effizient sein könnten. Innerhalb der betrieblichen Hierarchie kann sowohl die kostenorientierte Pro­ duktgestaltung als auch die kostenorientierte Prozessgestaltung an ausführungsnähe­ re Organisationseinheiten delegiert werden. Dies geschieht zweckmäßig mit Hilfe der Kostenbudgetierung (vgl. Abschnitt 5). Dann sind die in diesem Abschnitt beschrie­ benen Instrumente des Kostenmanagements Hilfsmittel für die budgetierten Einhei­ ten, das ihnen zugeordnete Kostenbudget zu erreichen. Inwieweit der delegierte Ent­ scheidungsbereich über eine einzige Entscheidungsstufe der Kostenentstehung hin­ ausgeht, richtet sich nach der aufbauorganisatorischen Gesamtausgestaltung und ist generell abhängig von der Hierarchiehöhe. Vergleicht man die im vorherigen Abschnitt angesprochenen Kostenmanagement­ ansätze zu den Entscheidungsstufen mit den hier behandelten Ansätzen eines kosten­ einflussgrößenbezogenen Kostenmanagements, stellt sich folgender Zusammenhang heraus: Je genauer die Cost Driver gefunden werden, die die Kostenentstehung er­ klären, desto besser können auch Kostenwirkungen auf die verschiedenen Entschei­ dungsstufen der mehrstufigen Deckungsbeitrags-Entstehung identifiziert werden. So mag vielfach der Anlass für eine differenzierte Prozesskostenrechnung darin gese­ hen werden, eine genauere Produktkalkulation zu erreichen. Als Ergebnis stellt sich indessen regelmäßig heraus, dass eine ganze Reihe von Cost Drivern gar nicht auf die mengenvariablen Kosten einer bestimmten Produktart wirken, sondern vielmehr die Kostenhöhe verschiedener Vorstufen der Stückproduktion bestimmen. Beispie­ le dafür sind die häufig auftretenden Cost Driver „Anzahl an Produktvarianten“, „Anzahl erforderlicher Einzelteile“, „Häufigkeit von Prozesskontrollen“, „Anzahl der Umrüstvorgänge“, „Anzahl einzuholender Angebote für neue Materialarten“ usw. Die

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zugehörigen Kosten dieser Cost Driver variieren nicht mit den Mengen der einzelnen Produktstücke; insofern sind sie mengenfix. Sie fallen aber beispielsweise (erneut) an, wenn eine weitere Produktvariante aufgelegt wird. Und ihre Höhe bestimmt sich danach, welche Besonderheiten diese zusätzliche Variante in Materialeinsatz und Fertigungsprozess hat. Insoweit sind sie also variantenartabhängig. So ermöglicht das Instrumentarium der Kosteneinflussgrößen-Analyse auch eine genauere Analyse und Gestaltung der (mengen-)„fixen“ Kosten der verschiedenen Entscheidungsstufen.

4 Kostenmanagement mit dem Target Costing 4.1 Charakterisierung des Target Costing Das Target Costing ist ein Ansatz des Kostenmanagements, der gezielt auf stückbe­ zogene Kostenziele ausgerichtet ist. Es dient vor allem dazu, möglichst präzise und fundiert stückbezogene Kostenziele für ein Produkt einerseits und vor allem auch für die einzelnen Produktkomponenten zu formulieren. Die Kostenziele sind mit anderen betrieblichen Zielgrößen sowie – was die Kostenziele für Produktkomponenten be­ trifft – auch untereinander abzugleichen. Zweck des Target Costing ist damit, das mit einer Produktentwicklung oder -weiterentwicklung verbundene Kostenziel so zu fas­ sen und auf Teilbereiche zu konkretisieren, dass die einzelnen produktgestalterischen Aufgaben samt einem adäquaten Kostenziel delegiert werden können. Das macht ei­ ne Aufgabenverteilung auf mehrere eigenverantwortliche Organisationseinheiten, et­ wa die für verschiedene Produktkomponenten zuständigen Ingenieure, möglich. Ein wichtiges Element dabei ist eine nachvollziehbare Begründung für die vorgegebenen Kostenziele. Erst das führt zu einer Zielakzeptanz und damit zu entsprechenden An­ strengungen auf die Zielerreichung hin. Andernfalls sieht sich die delegierende Ma­ nagementebene konfrontiert mit Argumenten der Art „Bei Komponente 1 ist nichts mehr einzusparen, eher aber bei den Komponenten 2 bis 10“ (für die andere zustän­ dig sind). Das Target Costing gliedert sich in zwei getrennte Schritte: – Die Formulierung von Kostenzielen für das Gesamtprodukt, – Die Formulierung von Kostenzielen für die einzelnen Produktkomponenten, die so­ genannte Zielkostenspaltung. Hauptanwendungsfall des Target Costing ist die Produktion von technischen Massen­ produkten, die sich auf einem Konsumgütermarkt insbesondere dem Preiswettbewerb stellen müssen. Allerdings ist es keineswegs auf diesen Standardfall beschränkt, son­ dern prinzipiell auf alle materiellen und immateriellen Produktarten anwendbar. Für die Formulierung eines Kostenziels werden zwar in der Literatur mehrere Ansatzpunkte genannt (vgl. Seidenschwarz 1993, S. 115 ff.), zweckerfüllend kommen

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aber tatsächlich nur zwei Möglichkeiten in Frage. Sie werden als „Market into Compa­ ny“ beziehungsweise „Out of Competitor“ bezeichnet. Bei der Methode des „Market into Company“ ist der Ausgangspunkt die tatsächliche oder prognostizierte Wettbe­ werbssituation. Gibt es Konkurrenzprodukte auf dem Markt, so geben deren Preise den Spielraum der eigenen Preissetzungsmöglichkeiten an. Innerhalb dieser Spanne bedarf es dann einer eigenen Zielpreisfestlegung. Daraus lässt sich eine passende Zielhöhe für die variablen Stückkosten bestimmen, indem diverse Positionen wie Mehrwertsteuer, stückbezogene Rabatte und Verkaufsprovisionen sowie ein WunschStückdeckungsbeitrag abgezogen werden. Soweit es sich um Neuproduktentwick­ lungen handelt, für die vergleichbare Produkte noch nicht auf dem Markt sind und auch anderweitig keine Marktpreisprognosen gestellt werden können, wird der später realisierbare Verkaufspreis höchstens noch dadurch eingeschränkt, dass ein Wettbe­ werber eine ähnliche Produktentwicklung betreibt. Dann kommt die Methode des „Out of Competitor“ zum Zuge. Um konkurrenzfähig zu sein, kann man sich dann an den vermuteten variablen Stückkosten der Konkurrenz orientieren, wie auch immer solche Vermutungen fundiert werden. In dieser Lage ist es eine risikoarme Taktik, kei­ ne höheren variablen Stückkosten zu haben als die bei der Konkurrenz vermuteten. Mit der damit gleichzeitig etwa gleich großen Preisuntergrenze kann in einem mögli­ chen Preiskampf mitgehalten werden. Strebt man einen höheren Zielkostenbetrag an, kann dies bei dieser Informationslage durch die Taktik einer bewusst höherwertigen Produktgestaltung unterlegt werden.

4.2 Bewertung der Produktfunktionen als Grundlage des Target Costing Für die Feinjustierung der eigenen Preis- und Produktgestaltung, insbesondere, wenn sie von der Konkurrenzalternative abweichen soll, muss man sich über die Produkt­ bewertung durch die potenzielle Kundenzielgruppe ein Bild machen. Hier liegt ei­ ne Hauptschwierigkeit der Zielkostenfestlegung, insbesondere auch des später fol­ genden Schrittes der Zielkostenspaltung: Es ist nämlich davon auszugehen, dass die Nachfrager nicht die „technische“ Seite des Produkts und seiner einzelnen Kompo­ nenten bewerten, sondern hauptsächlich die Funktionen, die das Produkt erfüllt – möglicherweise sogar nur vermeintlich erfüllt. Will man also den „Wert“ eines Pro­ dukts bestimmen, braucht man eine Information über die bewertungsrelevanten Pro­ duktfunktionen aus Sicht der Nachfrager sowie deren relative Gewichtung. Zur Be­ stimmung einer Liste derartiger Funktionen mit jeweiligen Teilgewichten eignet sich vor allem die Conjoint-Analyse (vgl. im Einzelnen Baier/Brusch 2009; ferner speziell Friedl 2009, S. 287). Darunter versteht man eine indirekte Erhebungsform auf Basis einer Vielzahl präsentierter kleinerer Auswahlentscheidungen. Die Befragten wählen zwischen Alternativen, die sich jeweils in einigen der interessierenden Funktionen un­ terscheiden. Durch die rechnerische Auswertungsmethode kann daraus (indirekt) auf

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die Gewichtung der einzelnen Funktionen bei den Entscheidern geschlossen werden. Üblicherweise normiert man die Gewichtungssumme auf 100, so dass Funktionsge­ wichte in Form von Prozentzahlen entstehen. Die so gewonnenen Funktionsgewichte sind die Grundlage für alle genaueren Analysen im Target Costing. Nach dem Prinzip der Nutzwertanalyse bewertet man für ein Produkt das Ausmaß, in dem es die einzelnen Funktionen erfüllt, gewich­ tet mit den erhobenen Funktionsgewichten und erhält so einen Produktnutzwert. Dies kann auf die vorliegenden Konkurrenzprodukte ebenso angewendet werden wie auf den eigenen Produktentwurf nach dessen Konstruktionsstadium. Damit kön­ nen beispielsweise Produktnutzwerte und zugehörige Preise der Marktalternativen den einen Gestaltungsalternativen gegenübergestellt werden. Ein derartiger „PreisLeistungs-Vergleich“ kann für die konkrete Festlegung eines Kostenziels und eines Produktwertziels hilfreich sein (vgl. Troßmann/Baumeister 2015, S. 266 f.). Die Festlegung der Zielkosten (und die des Nutzwertes) für das ganze Produkt ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Marktpositionierung. Dennoch dürfte sie aber im eigenen Haus weniger Anlass zu größeren Kontroversen geben. Anders verhält es sich mit der Zielkostenspaltung. Sie ist vor allem von operativer Durchsetzungsrele­ vanz und birgt prinzipiell ein größeres Konfliktpotenzial für die beteiligten Produktde­ signer und -konstrukteure. Letzteres hat mit der unmittelbaren Betroffenheit zu tun, die mit Zielvorgaben für die zu entwickelnden Produktkomponenten verbunden sind. Eine Zielkostenspaltung ist erforderlich, um möglichst konfliktarm eine Dele­ gation des Kostenmanagements auf die unmittelbar Verantwortlichen zu erreichen. Eigentlich würde dafür ein Verfahren genügen, das eine möglichst gute Akzeptanz der resultierenden Teilziele gewährleistet. Inhaltlich freilich steht im Vordergrund, dass über die Zielkostenspaltung ein Optimum zwischen Kostenhöhe und KundenProduktnutzwert zu finden ist. Mit der festgelegten Kostenzielhöhe soll also ein mög­ lichst hoher Gesamtproduktnutzwert erreicht werden. Und das Verfahren zur Her­ leitung soll dann (außerdem) so transparent und nachvollziehbar sein, dass es zur angesprochenen Akzeptanz führt. Zwei Verfahren der Zielkostenspaltung lassen sich unterscheiden: das ursprüng­ lich in der Literatur diskutierte, zunächst einzige, klassische Verfahren sowie ein Verfahren, das sich bei konsequenter Anwendung der typischen Prinzipien der ent­ scheidungsorientierten Kostenrechnung ergibt. Beide Verfahren stimmen im ersten, grundlegenden Schritt überein. Dabei wird die relative Bedeutungsgewichtung der einzelnen Produktfunktionen aus Kundensicht auf eine Bedeutungsgewichtung der Produktkomponenten übertragen. Hilfsmittel dazu ist die Funktionswirkungsmatrix (zum Begriff vgl. Troßmann/Baumeister 2015, S. 269). Nach der bereits vorliegen­ den Liste der Produktfunktionen und ihrer Bedeutungsgewichte fehlt dazu inhaltlich nur noch ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Komponenten und dem Aus­ maß der Funktionserfüllung. Dieser Zusammenhang ist nach dem Vorschlag von Tanaka (1989, S. 69) konstruierbar. Dazu untersucht man für jede Produktfunktion einzeln, in welchem Ausmaß ihr Nutzwertbeitrag durch die einzelnen Komponenten

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bewirkt wird. Diese „Funktionswirkung“ der Komponenten ist vor allem technisch begründbar. Herauszufinden ist, auf welchen Ursachen das Zustandekommen einer bestimmten Funktionswirkung beim Kunden beruht. Häufig wirken mehrere (tech­ nische) Produktkomponenten zusammen, um ein bestimmtes Kundenerlebnis zu bewirken. Es ist sinnvoll, solche Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge durch Experten quantifizieren zu lassen. Für die Aufgabe der Funktionswirkungstrennung empfiehlt es sich deshalb, ein Team von Experten aus dem Bereich der Produktentwicklung und -herstellung, vielleicht auch aus dem Bereich der Produktinstandhaltung und -reparatur, dem Verkauf, der Kundenbetreuung und -reklamation und möglicherwei­ se weiteren Fachabteilungen zu bilden. Im Zusammenwirken eines solchen (durchaus betriebsinternen) Expertenteams ist dann für jede einzelne Produktfunktion festzu­ stellen, welche Produktkomponenten überhaupt zu dieser Funktion beitragen und mit welchem prozentualen Anteil der jeweilige Betrag einer Komponente zur Bewertung der betreffenden Funktion pauschal am ehesten richtig erfasst wird. Die Ergebnisse dieser Experteneinschätzung ergeben zu jeder Funktion eine Zahlenreihe mit den Beiträgen der Komponenten. Diese Zahlenreihen bilden die Spalten der Funktions­ wirkungsmatrix. Die Zeilen dieser Matrix sind den Produktkomponenten, die Spalten den Produktfunktionen zugeordnet. Teilt man nun in jeder Spalte das aus der Con­ joint-Analyse bestimmte Funktionsgewicht gemäß den neu festgelegten Anteilen auf, dann enthält die Gesamtmatrix eine Aufteilung des Gesamtgewichts von 100 % auf alle Matrixfelder. Die spaltenweise Addition ergibt (wieder) die vorgegebene Gewich­ tung der Funktionen. Die zeilenweise Addition aber ergibt jetzt ein daraus abgeleitetes implizites Bedeutungsgewicht der Komponenten. Diese Gewichtungsumrechnung ist ein zentrales Element des Target Costing, auf dem die weitere Zielkostenspaltung maßgeblich beruht.

4.3 Zielkostenspaltung nach dem Target-Costing-Prinzip Die weitere Vorgehensweise ist nun verfahrensabhängig. Die klassische Target-Cos­ ting-Zielkostenspaltung interpretiert die erhaltene Bedeutungsgewichtung der Komponenten, die sich ja konstruktionsgemäß auf 100 % addiert, als eine Art SollVorstellung für die Kostenanteile des Produkts. Dies wird als „Target-Costing-Postu­ lat“ bezeichnet (vgl. Troßmann 2014, S. 186 sowie Troßmann/Baumeister 2015, S. 274). Konsequenterweise ist daher für den aktuellen Stand des Produktkonzepts eine Kal­ kulation zu erstellen, und zwar für jede einzelne Komponente. Erforderlichenfalls ist dabei eine der Methoden der konstruktionsbegleitenden Kalkulation heranzuziehen. Dann berechnet man für jede Komponente den Kostenanteil an der Produktkalkula­ tionssumme. Die maßgeblichen Vergleichsgrößen für das Kostenmanagement sind nun, dem Target-Costing-Postulat entsprechend, für jede Komponente deren Kosten­ anteil und deren Bedeutungsanteil. Für sie wird eine ungefähre Gleichheit angestrebt. Die aktuelle Situation lässt sich im Quotienten von Bedeutungsanteil und Kostenan­

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teil, dem sogenannten „Zielkostenindex“, erfassen. Wo er kleiner als eins ist, wo also der Bedeutungsanteil hinter dem Kostenanteil zurückbleibt, handelt es sich um eine Komponente mit tendenziell zu hohen Kosten. Übersteigen also die aktuellen Gesamt­ kosten des Produktentwurfs die Zielkosten, würde man Kostensenkungsmaßnahmen einleiten, und zwar bei denjenigen Produktkomponenten, die einen Zielkostenindex von unter eins aufweisen. Die Abweichung vom Zielquotienten 1 gibt dabei zusätzlich eine Art Dringlichkeitsempfehlung an; der Bedeutungsanteil, multipliziert mit dem Zielkostenbetrag, die Zielkosten für die Produktkomponente. Sollte umgekehrt der aktuelle Produktentwurf ein Kalkulationsergebnis unter den Produktzielkosten er­ bringen, besteht Spielraum für eine kostenerhöhende Produktwertsteigerung. Dafür kommen Komponenten mit einem Zielkostenindex von größer als eins in Frage. Die Vorgehensweise nach dem Target-Costing-Postulat ist vielfach kritisiert wor­ den (zum Überblick vgl. Troßmann/Baumeister 2015, S. 276 ff.). Ein Teil der Kritik bezieht sich auf die Grenzen der Funktionsgewichtung durch die potenziellen Kunden. Beispielsweise werden typischerweise wichtige Grundfunktionen des betrachteten Produkts, die von allen verglichenen Angebotsalternativen aber gleichermaßen er­ füllt werden, in Erhebungen nicht hinreichend gewürdigt, weil als selbstverständlich vorausgesetzt. Da es sich bei der Funktionsgewichtung – wie ohnehin bei der ge­ samten Methode – um ein Instrument zur Unterstützung des eigenen Managements handelt, spricht freilich nichts dagegen, die Erhebungen der Kundenbewertungen um derartige konstruktiv begründbare Merkmale zu ergänzen. Der problematischere Teil der Kritik hängt mit dem eigentlichen Target-CostingPostulat zusammen. Durch die ausschließliche Orientierung an Anteilsätzen spielt die absolute Höhe der erreichten Kosten für die empfohlenen Maßnahmen keine Rolle. So wird auch bei markanter Überschreitung der Gesamtzielkosten immer nur ein Teil der Komponenten zur Kostensenkung empfohlen. Und: Sobald auch nur bei einer Kompo­ nente eine Kostensenkung erreicht wird, ändern sich auch die relativen Positionen al­ ler anderen Komponenten. Dabei kann eine bisher zur Nutzwerterhöhung vorgeschla­ gene Komponente jetzt als kostensenkungsrelevant eingestuft werden. Dies ergibt sich aus der Umrechnung der absoluten in eine relative Kostenhöhe. Hauptkritik des Target-Costing-Postulats ist aber, dass die absolute Bewertung des aktuellen Produktentwurfs völlig unbeachtet bleibt und damit für das Ergebnis der Kostenmanagement-Empfehlung als irrelevant angesehen wird. In die Berechnungen zum Target-Costing-Postulat gehen stattdessen nur die Bedeutungsgewichte ein, mit denen bei der Produktbewertung die Nutzwerte der Komponenten zu gewichten wä­ ren (vgl. Troßmann 2014, S. 186 ff.). Deshalb kann es sein, dass eine Produktkompo­ nente mit der höchsten erreichbaren Bewertung noch zur Produktwerterhöhung vor­ geschlagen wird – ebenso wie eine Komponente mit einer ohnehin schon niedrigen Bewertung möglicherweise noch für eine weitere Kostensenkung empfohlen wird.

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4.4 Zielkostenspaltung nach dem entscheidungsorientierten Verfahren Am Hauptkritikpunkt des Target-Costing-Postulats setzt das entscheidungslogische Verfahren an. Bis zur Aufstellung der Funktionswirkungsmatrix ist das Vorgehen mit der klassischen Methode identisch. Zur Beurteilung des aktuellen Produktentwurfs wird jedoch außer den erreichten Kosten auch der erreichte Produktnutzwert errech­ net. Ein solcher Nutzwert wird auch für jede Komponente gebraucht. Nach den bisher verwendeten Hypothesen zur Marktbewertung des Produkts, seiner Funktionen so­ wie zur Umrechnung der Funktionsgewichtung auf die Komponentengewichtung ist die Bestimmung eines impliziten Nutzwertes für jede Komponente eindeutig möglich. Hierzu muss letztlich die gleiche Umrechnungsmethode angewendet werden, wie sie schon für die Berechnung der Komponentengewichte insgesamt eingesetzt wurde. Al­ lerdings geht man jetzt nicht von den einzelnen Funktionsgewichten aus, sondern von den mit den Funktionsgewichten multiplizierten Funktionsbewertungen (vgl. Troß­ mann/Baumeister 2015, S. 272 f.). Dementsprechend erhält man nach der Umrechnung für jede Komponente den mit dem jeweiligen Komponentengewicht multiplizierten Komponentenwert, woraus man Letzteren durch Division herausrechnen kann. Der so gewonnene Komponentenwert stellt also die implizite Bewertung der Komponente dar, wie sie in der gegenwärtigen Konstruktionsversion enthalten ist. Bei diesen Voraussetzungen umfasst ein entscheidungslogischer Weg folgende Schritte: – Zunächst wird durch Vergleich von Ist- und Zielsituation festgestellt, ob das Pro­ duktkonzept so zu ändern ist, dass unter Inkaufnahme eines schlechteren Pro­ duktnutzwertes geringere Stückkosten entstehen, oder so, dass der Produktnutz­ wert unter Inkaufnahme höherer Kosten steigt. – Für den erstgenannten Fall der Kostenreduktion ist nunmehr zu prüfen, bei wel­ cher Komponente eine Kostenreduktion um z. B. 1,- € zur geringsten Verschlech­ terung des Produktnutzwertes führt. Dazu braucht man für jede Komponente eine Hypothese für den Zusammenhang von Komponentenwert und zugehörigen Kos­ ten sowie den Zusammenhang zwischen Komponentenwert und dem jeweiligen Produktnutzwert. Ersterer ist entweder aus der bisherigen Entwicklungspraxis be­ kannt oder kann durch eine plausible Ad hoc-Annahme bereitgestellt werden, et­ wa einer linearen Kostenfunktion. Das Zweite liegt durch das bereits errechnete implizite Bedeutungsgewicht der Komponente bereits vor. – Für die im vorigen Schritt herausgefundene Komponente wird abgeschätzt, für welches Änderungsintervall die errechneten Zahlen gelten. Erforderlichenfalls werden auch die zweit- und drittbesten Komponenten sowie gegebenenfalls wei­ tere jeweils für eine Kosteneinsparung herangezogen, so dass sich insgesamt das gewünschte Kostensenkungsausmaß ergibt. – Im Fall einer angestrebten Produktwerterhöhung geht man analog vor. Dann werden diejenigen Komponenten gesucht, bei denen eine Wertsteigerung des Gesamtprodukts um eine Einheit am wenigsten kostet.

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Für die skizzierte entscheidungslogische Methode des Target Costing braucht man ge­ genüber der herkömmlichen Methode insgesamt außer einer realistischen Kostenhy­ pothese für den Zusammenhang von Komponentenwert und Komponentenkosten kei­ ne weiteren Informationen. Insbesondere erfordert die Methode keine zusätzliche Er­ hebung in der Absatzzielgruppe des Produkts. Daher hält sich der Zusatzaufwand für die entscheidungslogische Methode in engen Grenzen. Beispielrechnungen zeigen, dass sich die Kostenmanagement-Empfehlungen nach der entscheidungslogischen Methode deutlich von denen nach dem Target-Costing-Postulat unterscheiden kön­ nen (vgl. Troßmann 2014, S. 186 ff.).

5 Kostenmanagement mit Budgets 5.1 Charakterisierung der Budgetierung Für die Delegation jedweder betrieblichen Aufgabe, bei der ein Kostenziel im Vorder­ grund steht, eignet sich die Kostenbudgetierung.¹ Allgemein ist ein Budget eine finan­ zielle Plangröße für eine bestimmte Organisationseinheit und eine bestimmte Peri­ ode (vgl. ursprünglich Wild 1974, S. 325, erläuternd Troßmann 2018, S. 189 ff.). Dass es sich um eine finanzielle Größe handelt, reduziert dieses Instrument nicht zwingend auf Kosten. Vielmehr gibt es auch Leistungsbudgets, Einnahmen- und Ausgabenbud­ gets, Ertrags- und Aufwandsbudgets sowie die sogenannten Differenzbudgets, also Gewinn-, Deckungsbeitrags-, Einnahmenüberschuss- oder Kapitalwertbudgets. Aller­ dings ist die Kostenbudgetierung eine der bedeutendsten Anwendungen dieses Con­ trolling-Instruments im Betrieb. Das Kostenbudget ist das typische Kostenmanage­ ment-Instrument für die Organisationseinheit. Soll mit Kostenbudgets gesteuert werden, ist ein Kostenbudget als Instrument der delegativen Koordination freilich unvollständig. Das liegt daran, dass ein Kostenbud­ get als „Negativbudget“ einzuordnen ist. Sowohl „Positiv-“ als auch „Negativbudgets“ sind als alleinige Vorgabe ungeeignet, da sie nur eine Seite der Optimierungsaufgabe ansprechen. Damit stehen sie im Gegensatz zu Differenzbudgets, bei denen zumin­ dest die beiden Seiten einer finanziellen Zielgröße erfasst werden. Wo lediglich eine Kostenobergrenze vorgegeben wird, ist die Zielerreichung einfach: Durch Zurückfah­ ren der Produktion kann letztlich jedes beliebige Kostenziel erreicht werden. Deshalb sind Kostenbudgets stets durch eine (weitere) Zielvorgabe zu ergänzen. Jene braucht aber nicht zwingend finanziell ausgedrückt werden. Typisch ist vielmehr eine Sach­ zielvorgabe, die sich, je nach budgetierter Stelle, etwa in Produktionsmengen, in Pro­ duktionsstunden, in Lieferbereitschaften oder Qualitätsvorgaben zeigen kann. Diese

1 Einzelne Passagen dieses Abschnitts 5, insbesondere der Abschnitte 5.2 und 5.3, sind bereits in Troß­ mann/Baumeister 2015, S. 286 ff. erschienen.

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Möglichkeit und gleichzeitig Notwendigkeit einer separaten Sachzielvorgabe, die sich ohne Einschränkungen an der Stellenaufgabe ausrichten kann, ist ein Hauptgrund für die Beliebtheit von Kostenbudgets. Es belegt zugleich die übergreifende Bedeutung von Kostenzielen.

5.2 Überblick zu den Budgetierungstechniken Für den Erfolg einer Budgetsteuerung ist von zentraler Bedeutung, wie die Budgets be­ stimmt werden. Wie bei jeder Zielvorgabe ist zu beachten, dass das Budget durch die Dispositionen der budgetierten Stelle überhaupt erreicht werden können. Die Budge­ tierung muss deshalb auf die jeweils beeinflussbaren Größen abstellen, und das Bud­ get sollte in seiner Größenordnung einerseits erreichbar sein, andererseits auch einen gewissen Anreiz für Weiterentwicklungen setzen. Zur Herleitung von Kostenbudgets gibt es verschiedene Methoden, Budgetierungstechniken genannt. Sie unterscheiden sich hauptsächlich in zwei Merkmalen, und zwar – in der Fundierung der Argumentation, nach der das Budget hergeleitet wird, – und der Ausgangsbasis, mit der der Budgetierungsprozess beginnt. Bei der Fundierung geht es darum, von welchen Prozessgrößen die Budgethöhe ab­ geleitet wird. Grundsätzlich kommen Input- und Outputgrößen in Frage. Bei Input­ orientierung wird die Budgethöhe auf Basis der Einsatzgüter der budgetierten Einheit geplant. Die Menge der Einsatzgüter ist ihrerseits dabei nicht besonders begründet – es sei denn, außerhalb des Budgetierungsverfahrens. Eine outputorientierte Budgetierung legt den zu planenden Finanzgrößen die Aus­ bringungsmengen der in der Stelle herzustellenden bzw. zu bearbeitenden Produkte zugrunde. Neben den Mengen sind u. a. auch prozessbezogene Kostenbestimmungs­ größen denkbare Basiselemente einer outputorientierten Budgetierung, also auch Entscheidungsgrößen des Produktionsprozesses oder äußere Produktionsbedingun­ gen. Zu den Erstgenannten zählen z. B. Losgrößen, Auftragsreihenfolgen, Taktzeiten und Schichtstärken; zu Letzteren gehören z. B. technische Merkmale der Produkti­ onsmaschinen, der Krankenstand des Personals, klimatische Tatbestände, Angebots­ mengen und -preise oder andere Verhaltensparameter der Konkurrenz. Die Bezeich­ nung „outputorientiert“ soll damit insgesamt auf eine Fundierung durch kausale Prognosen hinweisen. Als Ausgangsbasis der Budgetfindung kann entweder ein bisheriges Budget, vor allem das der Vorperiode, herangezogen werden oder man beginnt ohne jede Vorgabe bei null. Im ersten Fall, der Fortschreibung, wird geprüft, in welchen Punkten sich das Vorperiodenbudget ändern wird oder ändern soll. Bei der Nullbasis wird das Budget in jeder Periode vollständig neu hergeleitet; das Vorjahresbudget wird dafür ausdrück­ lich nicht als Grundlage oder auch nur als Orientierung herangezogen.

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Zur Budgetierung steht eine ganze Reihe von Techniken zur Verfügung. Trotz ei­ ner gewissen Bezeichnungsvielfalt handelt es sich im Kern nur um wenige verschiede­ ne Ansätze, die jeweils in Varianten auftreten. Für die Kostenbudgetierung diskutiert werden vor allem – die allgemeine Programmbudgetierung, – die inputorientierte Fortschreibung, – die Gemeinkostenwertanalyse, – das Zero-Base Budgeting.

5.3 Die allgemeine Programmbudgetierung Die allgemeine Programmbudgetierung ist eine outputorientierte Nullbasis-Budgetie­ rung. Sie arbeitet mit der Plankostenrechnung und lässt sich insbesondere dort leicht praktizieren, wo schon aus anderen Gründen eine brauchbare Kostenfunktion vor­ liegt. Dies ist vor allem in typischen Hauptkostenstellen der Fall. Die Bezeichnung „allgemeine Programmbudgetierung“ erklärt sich daraus, dass dort in der Regel die herzustellende Menge der Produkte sowie deren zeitliche Verteilung eine maßgebli­ che Rolle spielen. Für Kostenbudgets ist die Technik der allgemeinen Programmbud­ getierung die beste der möglichen Vorgehensweisen. Die Budgethöhe richtet sich bei der Vorgabe nach dem geplanten, bei der Kontrolle nach dem tatsächlich realisierten Produktionsprogramm. Grundlage der Budgetierung ist ein kostentheoretischer Zusammenhang zwi­ schen dem Produktionsprogramm sowie Einflussgrößen des Produktionsprozesses einerseits und der Kostenhöhe andererseits. Dies sind im kostenrechnerischen Alltag regelmäßig einfache proportionale Beziehungen der Art „Ausprägung der Bezugs­ größe“ mal „Kosten pro Bezugsgrößeneinheit“ beziehungsweise „Cost-Driver-Menge“ mal „Cost-Driver-Rate“. Nach dem Prinzip der Kostenprognose werden die geplanten, erwarteten oder gewünschten Ausprägungen der Kosteneinflussgrößen festgestellt, dann mit Hilfe der geplanten Cost-Driver-Raten die Plankosten hergeleitet und jene schließlich als Kostenbudget vorgegeben. Dabei verwendet man im Allgemeinen als geplante Cost-Driver-Raten nicht die tatsächlich prognostizierten, sondern angestreb­ te beziehungsweise gewünschte Werte. Damit werden die so hergeleiteten Plankosten zu Kostenbudgets mit einem mehr oder weniger anspruchsvollen Zielsetzungscha­ rakter. Die allgemeine Programmbudgetierung scheidet dort aus, wo keine Kostenfunk­ tionen vorliegen. Traditionell ist diese Voraussetzung vor allem in den betrieblichen Sekundärleistungsbereichen (etwa der Buchhaltung, der Fertigungsplanung oder der Produktionskontrolle) sowie generell in der Dienstleistungsproduktion oft nicht ge­ geben, so dass für diese Bereiche zu (schlechteren) Alternativtechniken der Budge­ tierung gegriffen wird. Tatsächlich ist freilich die Aufstellung von Kostenfunktionen oft weniger aufwendig und weniger problematisch als befürchtet, zumal in vielen Fäl­

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len einfache proportionale Kostenbeziehungen ausreichen. Für ein gewisses Engage­ ment zur Aufstellung von Kostenfunktionen spricht zudem, dass sie im Ergebnis zwar unmittelbar der Budgetierung dienen, aber einen dauerhaften Zusatznutzen auch für viele weitere kostenrechnerische Zwecke bringen. Insbesondere erlaubt eine Kosten­ funktion eine differenzierte Kalkulation sowie fundierte Kostenanalysen. In den vergangenen Jahren kann in der betrieblichen Praxis vielerorts ein besse­ res Verständnis und ein einfacherer Zugang zu den Kostenrechnungsmethoden beob­ achtet werden, nicht zuletzt auch durch die Verbreitung der Prozesskostenrechnung. Deren Anwendungsbeispiele liegen oft außerhalb des engeren Fertigungsbereichs. So lassen sich typischerweise Aufgaben der Verwaltung, der Planung, des Rechnungswe­ sens und anderer Führungsfunktionen kostenrechnerisch analysieren, wenn man ak­ zeptiert, dass zugehörige Kosteneinflussgrößen (Cost Driver) nicht zwingend – wie in traditionellen Kostenfunktionen des Fertigungsbereichs – Ausbringungsmengenein­ heiten sind. Dasselbe gilt für Sekundärleistungen innerhalb des Fertigungsbereichs, z. B. die Arbeitsvorbereitung, die Qualitätsprüfung oder die Fertigungslogistik. Die ty­ pischerweise immateriellen Leistungen, die in solchen Bereichen erbracht werden, haben früher oft zu einer eher stiefmütterlichen kostenrechnerischen Behandlung ge­ führt – ein Phänomen, das prinzipiell weder sachlich noch methodisch gerechtfertigt ist, wenn auch tatsächlich etwa speziell die Ausbringungsmenge bei manchen imma­ teriellen Produktionen weniger gut quantitativ messbar sein mag. Der letztgenannte Aspekt ist auch einer der Gründe dafür, dass in manchen Be­ reichen eine genauere kostentheoretische Analyse für Zwecke der Produktkalkulati­ on als weniger nutzbringend erscheint und vielleicht deshalb vernachlässigt wird, während sie für eine outputorientierte Budgetierung wertvoll wäre. Generell erfordert die Budgetierung indessen eine geringere kostentheoretische Analysetiefe. Budgetiert werden organisatorische Einheiten, nicht einzelne Mengeneinheiten eines Produkts. Dafür reicht eine Kostenhypothese, die die Kostenhöhe der betrachteten organisatori­ schen Einheit insgesamt in Abhängigkeit von ihren relevanten Einflussgrößen erklärt. Darunter sind Größen, die von dieser Stelle disponibel sind, sowie solche, die für die Kostenhöhe relevant, aber von der betrachteten Stelle nicht beeinflussbar sind. Nicht zwingend ist, dass darunter die Ausbringungsmenge überhaupt auftritt. Insbesondere aber kann es durchaus sein, dass es zwar eine Reihe äußerst kostensensibler Einfluss­ größen gibt, die Produktionsmenge selbst die Kostenhöhe aber kaum beeinflusst. So verursacht die Produktion mancher immaterieller Produkte im Wesentlichen mengen­ fixe Kosten (vgl. zu Anwendungsbeispielen Troßmann/Baumeister 2015, S. 295).

5.4 Die inputorientierte Fortschreibung Für Bereiche ohne Kostenfunktion wird vielfach gleich zum direkten Gegenteil der outputorientierten Nullbasisbudgetierung gegriffen: der inputorientierten Fortschrei­ bung. Sie gilt als die ungünstigste aller Budgetierungstechniken. Zwar erlaubt sie, den

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Budgetierungsprozess in jedem Fall aufrechtzuerhalten, und dies ohne viel Mühe; aber die Gesamtfundierung der inputorientierten Fortschreibung ist problematisch. Als Fortschreibungsverfahren geht sie vom Vorperiodenbudget aus und führt über Ak­ tualisierungen und Ergänzungen der bisherigen Werte zum neuen Budget. Deshalb sind Änderungen zu begründen, die Beibehaltung des Bisherigen aber nicht. Die Be­ gründung einer Abweichung vom Vorperiodenwert orientiert sich, da keine Kosten­ funktion vorliegt, am Input. Es ist also zu prüfen, ob und wie sich die mengenmäßi­ gen Verbräuche oder die in der neuen Periode voraussichtlich geltenden Preise än­ dern. Der Budgetierende hat z. B. zu beurteilen, ob ein von der budgetierten Einheit geforderter Zuwachs an Personalkapazität, eine erhöhte Zahl temporärer Kräfte, eine zusätzliche maschinelle Ausstattung, der Ersatz bisheriger Anlagen oder ein größerer Materialvorrat gerechtfertigt ist und gegebenenfalls in welchem Umfang solche Ände­ rungen in Abwägung zu den Budgets anderer Abteilungen zugestanden werden sollen. Es liegt auf der Hand, dass bei den geschilderten Voraussetzungen eine verlässliche Entscheidungsbasis kaum vorliegt und weitgehend auf Grobeinschätzungen und Ver­ mutungen zurückgegriffen werden muss. Als Folge davon können weder Unter-, noch Überschreitungen der so gefundenen Budgetvorgaben fundiert beurteilt werden. Ei­ ne zielerreichungsfördernde Steuerung und nachträgliche Leistungsbewertung sind deshalb auf dieser Basis kaum möglich. Lässt sich eine brauchbare kostentheoretische Basis mit vertretbarem Aufwand nicht finden, kommen als Alternative zur inputorientierten Fortschreibung einige wei­ tere Techniken in Frage. Sie stammen größtenteils aus Zeiten, in denen die Suche einer verbesserten kostentheoretischen Grundlage aus unterschiedlichen Gründen weniger intensiv betrieben wurde. Davon sind als allgemeinere Verfahrenstypen vor allem zwei Techniken von Bedeutung: – die Gemeinkostenwertanalyse und – das Zero-Base Budgeting, dies im ersten Fall wegen ihrer praktischen Verbreitung, im zweiten Fall wegen ihrer analytischen methodischen Komponente (vgl. Troßmann 2018, S. 201 ff. und S. 206 ff.).

5.5 Die Gemeinkostenwertanalyse Die Gemeinkostenwertanalyse ist eine Kostenmanagementmethode, die seit Jahrzehn­ ten zur Kostenbudgetierung eingesetzt wird. Sie stammt ursprünglich aus dem Be­ reich der Unternehmensberatung (vgl. Roever 1980). Die Gemeinkostenwertanalyse gehört zu den Fortschreibungsmethoden. Trotz fehlender kostentheoretischer Zusam­ menhänge hat sie eine outputorientierte Ableitungskomponente. Jene besteht haupt­ sächlich in einem argumentativen Nachbilden einer Lieferanten-Abnehmer-Situation. Dies wird durch den Charakter des äußeren Ablaufs sowie einige den Argumentations­ prozess auslösende Schlüsselbehauptungen erreicht.

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Dazu gehört vor allem, den Leiter der zu budgetierenden Abteilung mit der Be­ hauptung zu konfrontieren, ein Großteil der von seinem Bereich erbrachten Leis­ tungen habe ein ungünstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis, es seien daher erhebliche Kosteneinsparungen erforderlich, beispielsweise von 40 %. Naturgemäß kann eine Kostenreduktion dieser Größenordnung nur durch eine einschneidende Kürzung des Abteilungs-Outputs erreicht werden. In der weiteren Dramaturgie der Gemeinkosten­ wertanalyse werden dann potenzielle Nutznießer der entsprechenden Abteilungs­ leistungen mit solchen Einsparungsvorschlägen konfrontiert. Sie sollen, das ist die Kernidee der Gemeinkostenwertanalyse, durch ihre Argumentation für den Erhalt des Leistungsumfangs der Abteilung seinen Wert nichtquantitativ ausdrücken. In der Dis­ kussion um die angesichts dessen durchsetzbare Kostensenkung soll sich dann ein akzeptierbarer Leistungsumfang herausbilden. Die gleichzeitig dafür als hinnehmund realisierbar diskutierten Kostensenkungen ergeben schließlich als Fortschrei­ bungsresultat das neue Budget. Charakteristisch für dieses Budgetierungsverfahren ist, dass die Funktionen, die durch Ablauf und provozierte Rollenverteilung im Argumentationsprozess deklariert und sichtbar werden, die dahinterliegenden eigentlichen Funktionen und damit den Mechanismus der Budgetierung nur indirekt erkennen lassen (vgl. Troßmann 2018, S. 203 f.). Die Gemeinkostenwertanalyse gilt unter Controlling-Gesichtspunkten als problematisch (vgl. u. a. auch Friedl 2009, S. 232 sowie Kajüter 2000, S. 228). Ob­ wohl sie auf einer prinzipiell funktionsfähigen Idee beruht, die insbesondere eine outputorientierte Budgetierung ohne entsprechende quantitative Kostenfunktion er­ möglicht, leidet sie an zwei Konstruktionsschwächen: Zum einen hängt das Gewähr­ leisten der Outputorientierung davon ab, dass diejenigen, die als Leistungsempfänger argumentieren sollen, die ihnen zugedachte Rolle auch tatsächlich hinreichend enga­ giert wahrnehmen (können). Zum anderen widerspricht der notwendige Aufbau des Argumentationszwangs durch Kürzungsandrohungen dem Koordinationscharakter des Controlling (vgl. Troßmann 2018, S. 206).

5.6 Das Zero-Base Budgeting Das Zero-Base Budgeting gleicht die fehlende Kostenfunktion durch ein analytisches Konstrukt aus und ist daher von völlig anderer Struktur als die Gemeinkostenwert­ analyse. Auch das Zero-Base Budgeting ist seit Jahrzehnten bekannt; auch es stammt ursprünglich aus der Unternehmungsberatungspraxis (vgl. vor allem Meyer-Piening 1990). Allerdings hat es eine deutlich geringere Verbreitung erfahren als etwa die Ge­ meinkostenwertanalyse. Das Zero-Base Budgeting ist outputorientiert, und es geht, seinem Namen entsprechend, von einer Nullbasis aus. Damit ist es formal ebenso ein­ zuordnen wie die auf einer Kostenfunktion beruhende allgemeine Programmbudge­ tierung. Tatsächlich arbeitet das Zero-Base Budgeting auch mit einer Kostenfunkti­ on, allerdings mit einer sehr rudimentären. Anstelle einer kontinuierlich formulier­

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ten verwendet sie eine lediglich aus drei einzelnen Werten bestehende Funktion, dies dafür aber mehrfach, nämlich für einzelne Teile des Aufgabenbereichs der zu bud­ getierenden Abteilung jeweils separat. Der gesamte Aufgabenbereich wird deshalb zunächst in kleinere, jeweils überschaubare Teile untergliedert, Entscheidungseinhei­ ten genannt. Sie sollen so klein gehalten sein, dass in jeder jeweils möglichst nur ei­ ne einzige Leistungsart erbracht wird. Für jede Entscheidungseinheit werden jeweils drei unterschiedliche Leistungsumfänge der Abteilungsaufgabe definiert, Leistungs­ niveaus genannt. Ihnen werden die zugehörigen Kosten zugeordnet und jeweils mit dem Leistungsniveau zu drei sogenannten Entscheidungspaketen zusammengefasst. Die Entscheidungspakete bilden die Alternativen, über die im Budgetierungsprozess zu entscheiden ist. Insgesamt stellt das Zero-Base Budgeting eine Entscheidungssystematik bereit, nach der für jede der gebildeten Entscheidungseinheiten eines der drei definierten Entscheidungspakete zu wählen ist. Die Summe der Kosten von allen gewählten Ent­ scheidungspaketen ergibt dann das Kostenbudget. Für die Idee der Budgetbildung nach dem Zero-Base Budgeting ist es von nur un­ tergeordneter Bedeutung, wie die Wahl der Entscheidungspakete methodisch ange­ legt wird. Prinzipiell wären hierfür verschiedene Optimierungstechniken geeignet. Im Zero-Base Budgeting wird diese Wahl durch sukzessive Rangordnungsbildung getrof­ fen. Letztlich werden alle Entscheidungspakete in eine eindeutige Abfolge gebracht. Die geplanten Entscheidungspakete und damit das zugehörige Budget erhält man, indem eine Grenze zwischen dem letzten noch akzeptierten und dem ersten nicht mehr akzeptierten Entscheidungspaket gezogen wird. Dies ist der sogenannte Budget­ schnitt. Er kann beispielsweise durch den Vergleich von Zielerreichung und Kosten in der Rangfolge aufeinanderfolgender Entscheidungspakete gesetzt werden (vgl. Troß­ mann 2018, S. 212 ff.). Das Zero-Base Budgeting gilt als Budgetierungstechnik, die dem Koordinations­ charakter des Controlling besser entspricht als etwa die Gemeinkostenwertanalyse. Allerdings ist sie mit einem größeren Aufwand verbunden, da sie eine Analyse der Ar­ beitsweise sowie unterschiedlicher Intensitäten der Zielerreichung bei den einzelnen Teilaufgaben in der zu budgetierenden Abteilung erfordert.

5.7 Beyond Budgeting Keine weiteren, schon gar keine neuen oder alternativen Budgetierungstechniken bieten dagegen die Vorschläge, die unter der Bezeichnung Beyond Budgeting disku­ tiert werden. Dabei handelt es sich um verschiedene Empfehlungen insbesondere aus Unternehmensberaterkreisen (vgl. ursprünglich Hope/Fraser 2003, und daran anschließend zahlreiche Diskussionsbeiträge, zum Überblick vgl. Troßmann 2018, S. 218 ff.). Sie sollen bestimmte Nachteile vermeiden, die mit der Budgetierung ver­ bunden werden. Argumentative Grundlage ist allerdings stets (nur) die inputorien­

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tierte Fortschreibung. Daher ist nachvollziehbar, dass ein Teil der Vorschläge im Kern auf eine outputorientierte Budgetierung hinauslaufen. Weitere Teile richten sich auf allgemeine Methoden der Führungsunterstützung, die letztlich mit der Budgetierung nur in losem Zusammenhang stehen. Ein dritter Teil verweist schließlich pauschal auf (sehr) wenige der Controlling-Instrumente, die tatsächlich an die Stelle einer Budgetierung treten können (vgl. Hope/Fraser 2003, S. 69 ff., S. 143 ff. und S. 177 ff.).

6 Die unterschiedlichen Kostenmanagement-Ansätze im Vergleich Obwohl es sich beim Kostenmanagement um ein Zielbereichsmanagement handelt, das schon konstruktionsbedingt nur indirekt fassbar ist, weist es doch ein akzeptier­ tes eigenes Instrumentarium auf. Das unterscheidet das Kostenmanagement von den meisten anderen Anwendungsfällen eines Zielbereichsmanagements. Die drei hier unterschiedenen Instrumente-Gruppen des Kostenmanagements betreffen indessen ganz unterschiedliche Zugänge zum Kostenmanagement. Das prozessorientierte Kostenmanagement stellt Ansatzpunkte zur Kostenbeein­ flussung bereit, die sich aus der betrieblichen Kostenrechnung ergeben, genauer: aus der ihr zugrundeliegenden Struktur der Kostenzusammenhänge. Insofern handelt es sich hier um die Grundelemente des Kostenmanagements, die sich in allen Anwen­ dungsfällen des Kostenmanagements als Bausteine wiederfinden können. Delegati­ onsaspekte spielen für die Art des Vorgehens hier keine Rolle. Insofern handelt es sich um ein Instrument der sachorientierten Führung. Die Methoden des Target Costing behandeln das Management der stückbezoge­ nen Kosten von Produktneu- oder -weiterentwicklungen. Darunter finden sich wich­ tige Modellstrukturen zum sachlich-inhaltlichen Vorgehen (etwa die Orientierung an den Produktfunktionen, die Erhebung der Funktionsgewichte, die Aufstellung der Funktionswirkungsmatrix, die Auswahl der für eine Zielkostenverbesserung relevan­ ten Produktkomponenten usw.), aber auch zur Kostensteuerung im organisatorischhierarchischen Zusammenhang (vor allem zur Begründung von Kostenvorgaben für Produktkomponenten an organisatorische Teilbereiche). Die Kostenbudgetierung schließlich konzentriert sich ausschließlich auf die De­ legationsproblematik. Sie orientiert sich demgemäß zur Abgrenzung an formalen Merkmalen: Während sich das Target Costing auf das einzelne Stück einer Produktart bezieht, gilt ein Budget für eine Periode und für eine betriebliche Organisations­ einheit. Selbst wenn eine Spartenorganisation nach Produktarten auf den ersten Blick eine gewisse Ähnlichkeit zwischen einer darauf ausgerichteten Kostenbudge­ tierung und dem produktorientierten Target Costing vortäuschen könnte – es handelt sich um Kostenmanagement-Instrumente ganz unterschiedlicher Detailliertheit und Ausrichtung. So würde in einer Kostenbudgetierung (für eine Periode!) niemals ein

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stückbezogener (!) Zielkostenbetrag für eine Komponente eines neu zu entwickelnden Produkts auftreten. Völlig anders verhält es sich dagegen mit den Instrumenten des prozessorientier­ ten Kostenmanagements. Die hierzu gehörenden Elemente können sich als Kostenma­ nagement-Hilfsmittel sowohl im Target Costing als auch in der Kostenbudgetierung wiederfinden (und sind somit in der Tat grundlegend).

Literatur Arbeitskreis Internes Rechnungswesen der Schmalenbach-Gesellschaft (Hrsg.): Säulen der Kosten­ rechnung. Originalquellen und Kommentierungen zu den Grundfragen und Konstruktionsprinzi­ pien der Kostenrechnung, München 2017. Baier, D.; Brusch, M. (Hrsg.): Conjointanalyse. Methoden, Anwendungen, Praxisbeispiele, Berlin/ Heidelberg 2009. Friedl, B.: Kostenmanagement, Stuttgart 2009. Hammer, M.; Champy J.: Business Reengineering, 4. Aufl., Frankfurt/New York 1994. Hope, J.; Fraser, R.: Beyond Budgeting. How Managers Can Break Free from the Annual Performance Trap, Boston 2003. Kajüter, P.: Proaktives Kostenmanagement. Konzeption und Realprofile, Wiesbaden 2000. Meyer-Piening, A.: Zero Base Planning. Zukunftssicherndes Instrument der Gemeinkostenplanung, Köln 1990. Roever, M.: Gemeinkostenwertanalyse. Erfolgreiche Antwort auf die Gemeinkosten-Problematik, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 50. Jg. (1980), S. 686–690. Schweitzer, M. et al.: Systeme der Kosten- und Erlösrechnung, 11. Aufl., München 2016. Seidenschwarz, W.: Target Costing. Marktorientiertes Zielkostenmanagement, München 1993. Tanaka, M.: Cost Planning and Control Systems in the Design Phase of a New Product, in: Monden, Y.; Sakurai, M. (Eds.): Japanese Management Accounting, Cambridge/Norwalk 1989, pp. 49–71. Theuvsen, L.: Business Reengineering. Möglichkeiten und Grenzen einer prozessorientierten Or­ ganisationsgestaltung, in: Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, 48. Jg. (1996), S. 65–82. Troßmann, E.: Controlling als Führungsfunktion. Eine Einführung in die Mechanismen betrieblicher Koordination, 2. Aufl., München 2018. Troßmann, E.: Zur Logik in der Kostenrechnung. Konsequenzen für Kostenvorgaben in der Konstruk­ tion, in: Gössinger, R.; Zäpfel, G. (Hrsg.): Management integrativer Leistungserstellung, Berlin 2014, S. 165–190. Troßmann, E.; Baumeister A.: Internes Rechnungswesen. Kostenrechnung als Standardinstrument im Controlling, München 2015. Wild, J.: Budgetierung, in: Marketing Enzyklopädie, Bd. 1, München 1974, S. 325–340.

| Teil F: Energie- und Ressourceneffizienz

Harald Dyckhoff

Produktion und Umwelt 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2 3.3 4

Wirtschaftliche und natürliche Produktion | 949 Was ist Produktion? | 949 Ökologische (Produktions-) Systeme | 951 „Industrie 5.0“ statt industrieller Produktion in „voller Welt“ | 952 Umweltorientierte Produktionstheorie | 954 Multikriterielle Produktionstheorie als theoretisches Fundament | 954 Prinzipien ökonomischer und ökologischer Rationalität | 957 Ökonomische und ökologische Erfolgs- und Effizienzmessung | 959 Aspekte umweltorientierten Produktionsmanagements | 962 Kuppelproduktion als ökologischer Regelfall | 962 Umweltorientierung logistischer Entscheidungen | 965 Grundzüge nachhaltiger Unternehmensführung | 966 Was heißt eigentlich „Umwelt(schutz)“? | 971 Literatur | 974

Zusammenfassung. Wie jedes vom Menschen geschaffene und somit „künstliche“ System sind auch Produktionssysteme Teil übergreifender Umsysteme, insbesondere der Wirtschaft, welche selber in die Gesellschaft und diese wiederum in die Natur eingebettet sind. Durch Rohstoffentnahmen einerseits und Emissionen (Abfälle, Ab­ wässer, Abgase) andererseits verändert der Mensch bei Produktion und Konsum seine natürliche Umwelt inzwischen so gravierend, dass die derzeitige Wirtschaftsweise kei­ ne Zukunft hat, also nicht „nachhaltig“ ist. Hauptursache dafür ist die durch mehrere umwälzende Basisinnovationen in wenigen Generationen möglich gewordene, enorm angestiegene Ausbeutung der fossilen Primärenergierohstoffe Kohle, Rohöl und Erd­ gas. Nach der neolithischen Revolution vor etwa 10.000 und der industriellen vor gut 200 Jahren ist eine dritte „große Transformation“ des Wirtschaftssystems der Mensch­ heit noch in diesem Jahrhundert unumgänglich (Wirtschaft 4.0 oder Industrie 5.0). Der Beitrag begründet dies zu Anfang und skizziert daraufhin sowohl theoretische Grundlagen als auch praktische Aspekte einer ökologisch nachhaltigen Produktion.

1 Wirtschaftliche und natürliche Produktion 1.1 Was ist Produktion? Die gängige Vorstellung über das Wirtschaften ist die einer menschlichen Tätigkeit, welche sich zwischen den beiden Polen Produktion und Konsumtion abspielt so­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-049

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wie in und zwischen Wirtschaftseinheiten stattfindet. Wirtschaftseinheiten oder -subjekte sind – zumindest gedanklich – abgrenzbare, individuell identifizierbare Personen oder von Menschen gelenkte, weitgehend unabhängig und planvoll han­ delnde Einrichtungen (Organisationen) innerhalb eines ökonomischen Systems (Un­ ternehmung, Haushalt, Volkswirtschaft, Weltwirtschaft). Zwischen ihnen und den sie umfassenden Systemen finden Interaktionen statt, bei denen Objekte materieller und immaterieller Art, wie Sachen, Dienste, Rechte und Informationen, ausgetauscht werden, ohne die Objekte selber zu verändern, sondern lediglich ihre Besitzverhält­ nisse oder die Verfügungsgewalt über sie. Dies sind Kauf, Miete, Schenkung oder Raub. Der Prozess der Klärung und Vereinbarung eines Austausches von Objekten oder Leistungen wird als Transaktion bezeichnet. Dagegen handelt es sich bei Pro­ duktion und Konsumtion um Transformationen der Objekte innerhalb des rechtli­ chen beziehungsweise faktischen Verfügungsbereichs der jeweiligen Wirtschaftsein­ heit. Transformationen verändern die qualitativen sowie – im Falle logistischer Prozes­ se (Transfers) vor allem – die quantitativen, lokalen oder temporalen Eigenschaften von Objekten. Soweit die Transformation der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung des Wirtschaftssubjektes dient, handelt es sich um Konsumtion. Von Produktion wird gesprochen, wenn die Transformation mit dem Zweck erfolgt, bestimmte Leistungen zu erbringen, mit denen Werte (Nutzen) für spätere Zeiten oder für andere Wirtschafts­ subjekte geschaffen werden. (Wirtschaftliche) Produktion ist eine von Menschen ziel­ gerichtet gelenkte, sich systematisch vollziehende Transformation von Objekten, wel­ che im Hinblick auf eine angestrebte, der Wertschöpfung dienende Leistung veran­ lasst ist (vgl. Dyckhoff 2006, S. 3). Von diesem Produktionsbegriff zu unterscheiden ist die natürliche Produktion. Sie findet ohne Zutun des Menschen innerhalb der endlichen und in ihrer Kapazität begrenzten ökologischen Systeme unseres Planeten statt („Raumschiff Erde“; Boul­ ding 1966). Darunter wird die Erzeugung organischen Materials verstanden, haupt­ sächlich aus anorganischen Substanzen, Wasser und Kohlendioxid mittels Photosyn­ these in grünen Pflanzen, Algen und bestimmten Bakterien, angetrieben durch die Energie des Sonnenlichts und mit Sauerstoff als Kuppelprodukt. Ihr überschüssiger, nicht für die Erhaltung dieser sogenannten Primärproduzenten nötiger Teil wird als „Net Primary Production“ (NPP) bezeichnet. Er dient grundsätzlich den Tieren und den Menschen als Lebensgrundlage. Der tatsächlich von den Menschen beanspruchte Teil des NPP heißt „Human Appropriation of Net Primary Production“ (HANPP); er misst das Ausmaß, in dem die Ernte von Biomasse wie auch die Nutzung von Land die Verfügbarkeit von NPP in ökologischen Systemen verändert (vgl. Haberl/Erb/ Krausmann 2013), nämlich regelmäßig verringert; bei der Bewässerung zur Begrü­ nung von Wüsten aber auch erhöhen kann.

Produktion und Umwelt | 951

1.2 Ökologische (Produktions-) Systeme Weltweit und übers Jahr gemittelt beträgt die von der Sonne bei der Photosynthe­ se erbrachte Leistung etwa 215 TW (TeraWatt = 1012 W; vgl. Kleidon 2012). Davon steht rund die Hälfte anschließend als NPP zur Verfügung, ca. 90–130 TW, wobei je nach Schätzung auf terrestrische Ökosysteme 59–77 TW entfallen, und auf maritime 32–54 TW (vgl. die Literaturübersicht von Beran/Dyckhoff 2014). Demgegenüber be­ trug die weltweit von Menschen eingesetzte Primärenergie im Jahr 2014 ca. 18 TW. Diese stammt zu über 80 % aus fossilen Rohstoffen, also aus Rückständen von Bio­ masse früherer Jahrmillionen (Kohle, Erdöl, Erdgas), und nur zu 10,3 % aus aktueller Biomasse (ca. 2 TW Bioprimärenergie, hauptsächlich aus Feuerholz, Dung und Holz­ kohle in Entwicklungsländern; vgl. International Energy Agency 2016). Die nachhal­ tig gewinnbare Bioenergie, zunehmend als Biosprit und Biogas, wird auf höchstens 9 TW geschätzt, wobei schon dies substantielle Risiken für die Natur und Zielkompro­ misse mit anderen Naturbeanspruchungen erfordern würde (vgl. Haberl et al. 2010). Die hauptsächliche Nutzung von Biomasse durch den Menschen besteht nämlich in Nahrungsmitteln und organischen Artefakten wie Kleidung, Möbeln und Werkzeugen. Darüber hinaus verdrängt die Flächennutzung für Gebäude, Straßen etc. natürlich er­ zeugte Biomasse. Schätzungen für die terrestrische HANPP in ihren verschiedenen Formen weisen eine Bandbreite von 17–34 TW auf, jedoch weniger wegen etwaiger Schätzfehler (diese sind eher gering) als wegen der unterschiedlichen Bestimmungen des Begriffs „appropriation“ (vgl. Beran/Dyckhoff 2014, S. 121). Somit beansprucht die Menschheit heute schon 20–40 % der NPP aller Kontinen­ te. Folgen sind unter anderem ein deutlicher Verlust an Biodiversität sowie gravieren­ de Veränderungen biogeochemischer Zyklen. Weil manche Teile der Biomasse (z. B. Flechten in der Tundra) der menschlichen Nutzung kaum zur Verfügung stehen, wird die Beanspruchung der Biokapazität, d. h. des wirtschaftlich nutzbaren Teils der ge­ samten Biomasse, bei dem Konzept des ökologischen Fußabdrucks für 2013 schon auf über 67 % geschätzt (vgl. Global Footprint Network 2017). Dazu kommen 101 % fiktive Beanspruchung für Wälder, die eigentlich vorhanden sein müssten, um das weltweit emittierte Kohlendioxid mittels Photosynthese wieder aus der Atmosphäre zu entfer­ nen. Der ökologische Fußabdruck der Menschheit betrug 2013 somit etwa 1,7 Planeten Erde. Da die Biokapazität nur in relativ begrenztem Umfang künstlich vergrößert wer­ den kann (z. B. über Algenzüchtung in Wassertanks in der Sahara mittels Solarener­ gie), verdeutlichen die genannten Zahlen, dass die Weltwirtschaft heute schon große Teile der irdischen Natur beansprucht und ein weiterer Anstieg dieser Naturausbeu­ tung in vergleichbarer Größenordnung kaum noch möglich ist. Allein eine Verdopp­ lung erscheint kaum noch realistisch und wäre außerdem hinsichtlich ihrer weiteren sozialen und ökologischen Folgen moralisch kaum vertretbar. Eine solche Verdopp­ lung ist bei einer Wachstumsrate von 2 % schon in 35 Jahren, bei 1 % in 70 Jahren erreicht. Damit setzen die ökologischen Systeme dem Wirtschaftswachstum noch im

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21. Jahrhundert enge Grenzen, wenn man vernünftigerweise von der Prämisse starker Nachhaltigkeit ausgeht, welche besagt, dass bestimmte Teile der Natur nicht durch künstliches Kapital substituierbar sind (vgl. Neumayer 2013). Ökologische Systeme bestehen aus weitgehend geschlossenen Stoffkreisläufen, d. h. die genutzten Stoffe werden nahezu vollständig rezykliert. Angetrieben werden die Stofftransformationen zur Erzeugung organischen Materials durch einfallendes, kurzwelliges Sonnenlicht als stark arbeitsfähige Primärenergie, während gering ar­ beitsfähige Energie (mit hoher Entropie) in Form von Abwärme ins Weltall zurückge­ strahlt wird. Dabei existiert in der Natur neben den pflanzlichen „(Primär-) Produzen­ ten“ sowie den tierischen und menschlichen „Konsumenten“ mit den „Reduzenten“ (oder „Destruenten“) noch eine dritte Gruppe von Akteuren in der Gestalt von Mikroor­ ganismen, welche die anfallenden, abgestorbenen organischen Substanzen von Flora und Fauna in ihre Grundsubstanzen abbauen, so dass sie nach dieser „Reduktion“ den grünen Pflanzen wieder als Baumaterial für erneute Kreisläufe zur Verfügung stehen (vgl. Haber 1995).

1.3 „Industrie 5.0“ statt industrieller Produktion in „voller Welt“ War der Mensch in frühen Zeiten seiner Entwicklung als Jäger und Sammler noch Teil solchermaßen geschlossener Ökosysteme, so ist er es spätestens seit Beginn der In­ dustrialisierung nicht mehr. Aufgrund der mit der Arbeitsteilung verbundenen und durch die Globalisierung verstärkten lokalen Spezialisierung und Massenproduktion sowie durch das Entstehen großer Ballungszentren ist die Natur immer weniger in der Lage, die örtlich und zeitlich konzentriert anfallenden Emissionen menschlicher Pro­ duktion und Konsumtion abzubauen. Bisherige Methoden zur Entsorgung der Abfälle, Abwässer und Abgase über die Umweltmedien Boden, Wasser und Luft mittels Kon­ zentration in Deponien oder Verdünnung über Schornsteine überlasten die Natur vie­ lerorts. Es ist deshalb notwendig, nicht nur die Produktion, sondern ebenso die Re­ duktion industriell zu organisieren und nicht mehr allein der Natur zu überlassen. An Stelle der heute „vollen Welt“ ist als dritte „große Transformation“ nach neolithischer und industrieller Revolution eine Harmonisierung von Wirtschaft und Natur anzustre­ ben (Wirtschaft 4.0 oder Industrie 5.0; vgl. Abbildung 1). Bei einem entsprechend als Kreislaufwirtschaft gestalteten Wirtschaftssystem vollziehen sich dann im Zeitablauf Stoffkreisläufe von der Erzeugung und Distributi­ on der Produkte über die Konsumtion und die Einsammlung der Rückstände bis zur Reduktion, die wiederum die Baustoffe für eine erneute Produktion zur Verfügung stellt. Derartige Kreisläufe sind allerdings nie völlig geschlossen, weil sie nicht ohne die Belastung der natürlichen Umwelt durch dauernde Rohstoffentnahmen und Emis­ sionen auskommen (vgl. Dyckhoff/Souren 2008, S. 55 ff.; Souren 2002). Die Reduktion ist dabei in gewisser Weise das Spiegelbild der herkömmlichen Produktion, indem ihr Zweck nicht in der Erzeugung bestimmter Güter (inkl. Dienste) besteht, sondern in der

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Volle Welt Ökosystem

Ökosystem

S

Harmonisierte Welt

S Recycling

M

M

Wirtschaft Wirtschaft

E

E H

H

Legende: vom Menschen produziertes Kapital Natürliches Kapital

S: M: E: H:

Sonnenenergie Materie Energie Abwärme (Heat)

Abb. 1: Harmonisierung von Wirtschaft und Natur (Dyckhoff/Souren 2008, S. 27; nach Costanza et al. 1997, S. 6).

Vernichtung oder Umwandlung bestimmter unerwünschter Objekte, die Übel genannt werden, etwa bei der Verbrennung oder Verwertung von Müll. Übel stellen hinsicht­ lich ihrer Erwünschtheit und Verfügbarkeit das Gegenteil von Gütern dar. Sie sind nicht nützlich und knapp, sondern schädlich und nicht ohne Aufwand zu beseitigen. Insofern vernichtet die Reduktion von Übeln negative Werte und stellt im Saldo auch eine Wertschöpfung dar. Reduktion ist damit eine Form „umgekehrter“ Produktion, kann allerdings auch als die Erbringung einer Entsorgungsdienstleistung verstanden werden (vgl. Souren 1996). In einer Kreislaufwirtschaft dienen die im traditionellen Sinn verstandene Produktion der Versorgung der Gesellschaft mit Gütern sowie die anschließende Reduktion der Entsorgung von den bei Produktion und Konsumtion entstandenen Übeln. Die Schließung der stofflichen Kreisläufe allein reicht jedoch für eine nachhaltige Wirtschaft nicht aus. Zudem müssen Volumen, Rate und geografische Ausdehnung der globalen Stoffflüsse sowie die dafür notwendigen Transporte begrenzt oder so­ gar wieder reduziert werden. Das bedeutet, dass – analog dem politischen Subsidiari­ tätsprinzip – die Globalisierung der Wirtschaft sich zu Gunsten regionaler oder loka­ ler und für die Natur verträglicher Stoffkreisläufe zurückentwickeln muss, verbunden mit einer Abnahme örtlich und zeitlich konzentrierter Massenproduktion (und ent­ sprechender Massenkonsumtion) von Produkten und umweltschädlichen Emissionen (umweltverträgliche Regionalisierung). Große Fabriken als räumlich zentrierte Stätten industrieller Produktion stehen deshalb zur Disposition. Eine nachhaltige Produkti­ on kann dennoch industriell sein, wenn man darunter die Erbringung großer Men­ gen gleichartiger Leistungen (auch von Diensten und nicht wie bei Kern (1992) nur

954 | Harald Dyckhoff

von Sachleistungen) in speziellen Betrieben versteht, die dann aber räumlich verteilt stattfindet (verteilte Massenproduktion, etwa mit 3D-Laserdruckern). Der Planet Erde ist aber eigentlich jetzt schon zu „voll“ mit Menschen und mensch­ lichen Artefakten. So verteilt sich inzwischen die Biomasse an Wirbeltieren zu Lande und in der Luft zu knapp einem Drittel auf die Menschen selber, zu knapp zwei Drit­ teln auf ihre Nutztiere und nur noch zu 3 % auf Wildtiere (vgl. Appleby 2008, S. 7). Die Menschheit wiegt also heute schon zehn Mal schwerer als alle wilden Landwirbeltiere und Vögel zusammen, ihre Nutztiere sind zwanzig Mal so schwer. Für eine nachhaltige Harmonisierung von Wirtschaft und Natur (Industrie 5.0) ist aber auch der weltweite Energieeinsatz in Frage zu stellen, nicht nur hinsichtlich der – sowieso nur noch für wenige Jahrzehnte (Erdöl und Erdgas) oder Jahrhunderte (Koh­ le) verfügbaren – fossilen Rohstoffe wegen ihres Einflusses auf das Erdklima bei ihrer Verbrennung, sondern selbst auch bei ausschließlichem Einsatz regenerativer Primär­ energie. Derzeit beträgt der durchschnittliche Primärenergieeinsatz für jeden der 7,5 Milliarden Erdbewohner 2,5 kW. Bei einer zukünftigen Weltbevölkerung von eventuell 10 Milliarden wären insgesamt 92 TW (an Stelle von heute 18 TW) Primärenergie nötig, wenn alle Menschen im Durchschnitt so viel verbrauchen würden wie 2014 die USA, nämlich 9,2 kW pro Kopf. Wie thermodynamische Abschätzungen deutlich machen, übersteigt dies die globalen Kapazitäten von Bioenergie, Wasser- und Windkraft, aber auch der Solar- und Geothermie, jeweils isoliert für sich betrachtet, bei Weitem (vgl. Kleidon 2012). Nur im Mix dieser regenerativen Primärenergiearten und bei haupt­ sächlichem Einsatz von Solarphotovoltaik ließen sich Primärenergiebedarfe von 100 TW und mehr ohne die Entstehung von Treibhausgasen decken, solange die Kernfu­ sion noch keine Alternative ist. Aber selbst dann ist (wegen der Energieerhaltung und Entropieentstehung gemäß den Hauptsätzen der Thermodynamik) damit zu rechnen, dass solch stark zunehmende Energieumsätze auf der Erdoberfläche zwangsläufig zu mehr Abwärme führen, mit möglicherweise ebenfalls gravierenden Folgen für das Erd­ klima.

2 Umweltorientierte Produktionstheorie 2.1 Multikriterielle Produktionstheorie als theoretisches Fundament Der Klimawandel ist Ausdruck des größten Marktversagens der Geschichte. Die bei wirtschaftlichen Aktivitäten entstehenden Emissionen von Treibhausgasen – haupt­ sächlich Kohlendioxid bei der Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas sowie Me­ than bei der Verdauung von Nutzvieh – stellen externe Kosten für die heutigen und zukünftigen Generationen dar, die nicht über Preise auf Märkten erfassbar sind. Es ist ein typisches Kennzeichen von Umweltproblemen, dass eine monetäre Bewertung

Produktion und Umwelt |

955

Total Ecological Impact 3rd Aggregation Step

Land Use

Resource Consumption

Energy Impacts

Input Concerned Emissions to Water

Emissions

Toxicity Potential

2nd Aggregation Step

Risk Potential

Output Concerned

Emissions to Air

Emissions to Soil

1st Aggregation Step Global Warming Potential

Ozone Depletion Potential

Photochemical Ozone Creation Potential

Acidification Potential

Abb. 2: Hierarchische Aggregation verschiedener Umweltbelastungskategorien bei der Öko-Effizi­ enzanalyse der BASF (Dyckhoff/Quandel/Waletzke 2015, S. 1560).

der vielfältigen Umweltbelastungen kaum möglich ist. Wenn dennoch Versuche unter­ nommen werden, zu einer eindimensionalen Bewertung zu kommen, so liegen dem (zumindest implizit) Ansätze und Konzepte der multikriteriellen Entscheidungstheo­ rie zu Grunde, so beispielsweise bei der Öko-Effizienzanalyse der BASF, welche die verschiedenen Umweltbelastungen in drei hierarchischen Schritten zu einer ökologi­ schen Gesamtwirkung aggregiert (Abbildung 2). Der Fokus traditioneller Produktions- und Kostentheorien ist zu eng, um die bei der Umweltproblematik notwendigen mehrdimensionalen Bewertungen auf der Basis verschiedener Ziele und Performance-Kriterien erfassen zu können. Dies gelingt aber mit einer geeignet entscheidungstheoretisch verallgemeinerten Produktionstheorie (vgl. Dyckhoff 1994). Die wesentliche Idee dieser Verallgemeinerung besteht darin, systematisch zwischen zwei verschiedenen, aber streng miteinander verbundenen Kategorien zu unterscheiden: zum einen – wie in der traditionellen Sicht der Produk­ tionstheorie üblich – die technologisch bestimmten Inputs und Outputs einer Produk­ tionsaktivität, zum zweiten – aus der Perspektive der Entscheidungstheorie darüber hinaus – die Konsequenzen der durch die Produktionsaktivität beschriebenen Hand­ lungsalternative im Hinblick auf die relevanten Ziele. Eine solche multikriterielle Produktionstheorie ist speziell umweltorientiert, wenn sie die Wirkungen der Produk­ tionsaktivitäten auf relevante Umweltbelastungskategorien als zu minimierende Ziele erfasst. Dabei kann regelmäßig unterstellt werden, dass die Umweltwirkungen einer Produktion funktional von den Quantitäten ihrer Inputs und Outputs abhängen.

956 | Harald Dyckhoff Inventory Flow

Areas of Protection

CO2 Sea Level Rise CH4

Atmospheric Concentraon Increase

Radiave Forcing Increase

N2O

Atmospheric Temperature Increase

CFCs

Loss of Human Life

Melng of Land Ice

Flooding

Extreme Weather Events

Droughts

Ecosystem Damage

Endpoints

Midpoints

Impact Pathway

Abb. 3: Wirkungskette von der Emission bei der Produktion durch die Immission in die Atmosphäre zu dadurch bewirkten Umweltschäden (vgl. Hauschild/Huijbregts 2015, S. 8).

Allerdings sind diese Abhängigkeiten oft nur mittelbar und nur schwer zu quantifizie­ ren, wie die Abbildung 3 für den Zusammenhang der Emissionen von Treibhausgasen mit den Verlusten an Menschenleben und Schäden an Ökosystemen illustriert. Vie­ le Umweltwirkungen einer Produktion sind außerdem als solche kaum messbar, wes­ halb an ihrer Stelle Proxy-Größen verwendet werden müssen. So sind die durch sauren Regen bewirkten Waldschäden schwer bezifferbar, wohl aber die Menge an Emissio­ nen von Schwefeldioxid, welche bei der Verbrennung von Braunkohle in Kraftwerken die Schornsteine verlässt und in die Atmosphäre immittiert. Deshalb werden bei der umweltorientierten Bewertung von Produktionsaktivitäten sowie ihrer Produkte an Stelle der eigentlichen Umweltbelastungen häufig die sie verursachenden und leich­ ter messbaren Outputs (oder Inputs) als Zielgrößen verwendet. Dann stellt der Out­ put an Schwefeldioxid eine Proxy-Größe für das Ziel der Minimierung der Versaue­ rung von Waldböden dar. Emittiertes Schwefeldioxid (ebenso die Treibhausgase in Abbildung 3) ist aus diesem Grund ein Abprodukt (Übeloutput), welches vom Produk­ tionssystem unmittelbar verursacht wird und somit leichter zu kontrollieren ist als die durch es bewirkte Immission in der Natur mit entsprechenden Umweltschäden. Um­ gekehrt stellt Müll bei der Müllverbrennung ein Redukt (Übelinput) dar, dessen Input (ceteris paribus) maximiert werden soll, weil auf diese Weise der Bestand des Übels Müll reduziert wird. In großen Teilen der volkswirtschaftlichen, aber gelegentlich auch der betriebs­ wirtschaftlichen Literatur der Umweltökonomie ist es üblich, die durch Emissio­ nen hervorgerufenen Umweltschäden als Input zu deklarieren („Umweltverbrauch“) und entsprechend zu modellieren. Neben den zuvor beschriebenen Problemen einer Quantifizierung und Bestimmung der funktionalen Abhängigkeiten widerspricht dies jedoch auch der produktionstheoretischen Begrifflichkeit, wie sie etwa Frisch (1965, S. 3) formuliert:

Produktion und Umwelt | 957

The term transformation indicates that there are certain things (goods or services) which enter in­ to the process, and lose their identity in it, i.e. ‚ceasing to exist‘ in their original form, while other things (goods or services) come into being in that they ‚emerge‘ from the process. The first cate­ gory may be referred to as ‚production factors‘ (input elements), while the last-named category are referred to as ‚products‘ (the output or resultant elements).

Gemäß dieser Definition sind Objekte des Inputs x solche, die in den Transformati­ onsprozess eingehen, während solche des Outputs y aus ihm herauskommen. Bei­ de, also sowohl der Input an Produktionsfaktoren als auch der Output an Produk­ ten, werden dabei in der Regel als Stromgrößen verstanden und in Quantitäten pro Zeiteinheit gemessen. Wie oben festgestellt, gibt es neben den Gütern außerdem Übel als unerwünschte Objekte, die in Transformationsprozesse eingehen (Redukte) oder aus ihm herauskommen (Abprodukte). Die Einstufung der Erwünschtheit der Objekte selber betrifft dabei den Wunsch, sie zu besitzen (Gut) oder alternativ zu beseitigen (Übel). Der „Güterverzehr“ als Inputstrom einer Produktion ist deshalb unerwünscht und wird als Kosten eingestuft, wenn er monetär bewertet werden kann. Umgekehrt ist die durch einen Prozessinput bewirkte Vernichtung eines Übels erwünscht und stellt einen Nutzen dar. In Verallgemeinerung der in der Kosten-Nutzen-Analyse üblichen monetären Begriffe (gemäß Dyckhoff/Ahn 2002) stellen die bei der Produktion als Pro­ dukte oder Redukte geschaffenen positiven sowie vernichteten negativen realen Wer­ te nicht-monetäre Nutzen oder reale Erträge dar, während umgekehrt nicht-monetäre Kosten oder reale Aufwände durch Güterinput (Faktoreinsatz) oder Übeloutput (Ab­ produktemission) verursacht werden. Die so definierten verallgemeinerten Kosten c und Nutzen b sind nicht notwendigerweise auf ein und derselben Maßskala definiert, sondern zunächst einmal in den natürlichen und oft verschiedenen Skalen der jewei­ ligen Objektarten, also etwa in Gramm, Liter, Joule oder Stückzahl je Periode. Sie sind somit a priori nicht miteinander vergleichbar, anders als im Spezialfall von in Geld­ einheiten gemessenen Kosten und Nutzen der volkswirtschaftlichen Umweltökono­ mie. Im allgemeinen Fall multipler, inkommensurabler Kosten und Nutzen resultiert deshalb aus dem Versuch einer Gesamtbewertung von Produktionsaktivitäten stets ein Entscheidungsproblem bei mehrfacher Zielsetzung, welches eine multikriterielle Produktionstheorie als konzeptionelles Fundament erfordert (vgl. Dyckhoff 2017).

2.2 Prinzipien ökonomischer und ökologischer Rationalität So ist es möglich, den traditionellen Effizienzbegriff der Produktionstheorie durch Rückgriff auf den allgemeineren der Entscheidungstheorie umweltorientiert zu erwei­ tern. Generell ist eine Produktionsaktivität effizient bezüglich einer Menge betrachte­ ter Alternativen und relevanter Ziele, wenn sie diesbezüglich von keiner der anderen Aktivitäten dominiert wird. Dabei dominiert eine Aktivität eine andere genau dann, wenn sie hinsichtlich wenigstens eines Ziels besser und sonst nicht schlechter ist. Ef­ fizienz ist also immer in doppelter Weise relativ, einmal in Bezug auf die möglichen

958 | Harald Dyckhoff

Produktionsaktivitäten

4 4 5 3 = 3 5 5 5 5 1 3 3 =

1 1 1 1 120 40 100 100 0,6 0,2 0,5 0,5

Konsequenzen für Nachhaltigkeitsziele Arbeit Kapital Altreifen Zement CO2 FCKW

250 70 100 120 4 4 5 3

Gewinn Beschäftigung

4320 1440 3600 3600 0,6 0,2 0,5 0,5

Treibhauseffekt Ozoneffekt



Abb. 4: Produktions- und Ergebnisdaten der vier Zementwerke (vgl. Dyckhoff 2017, Figure 3).

Handlungsalternativen und zum zweiten in Bezug auf die verwendeten Effizienzkrite­ rien. Von ökologischer Effizienz lässt sich somit sprechen, wenn nur Umweltziele rele­ vant sind, von ökonomischer bei rein wirtschaftlichen Zielen; bei gemischten Zielen liegt eine Kombination von ökonomischer und ökologischer Effizienz vor. Um dies zu illustrieren, betrachten wir ein Beispiel, bei dem vier Zementfabriken hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit zu vergleichen sind (vgl. Dyckhoff 2017). Je zwei Ar­ ten von Kosten und Nutzen werden als relevant identifiziert. Aus ökonomischer Sicht bildet der Gewinn b 1 einen Nutzen, aus sozialer die Schaffung von Arbeitsplätzen b 2 . Als ökologische Kosten berücksichtigt werden die Beiträge der Zementfabriken zum Klimawandel c1 sowie zum Ozonloch über der Antarktis c2 . Um diese Kosten und Nutzen zu quantifizieren, sieht die Instanz, welche den Vergleich der Fabriken durch­ führt, drei Arten von Input als relevant an: Arbeit x1 , Kapital x2 und Altreifen x3 , sowie drei Arten von Output: Zement y1 , CO2 y2 und FCKW y3 . Kosten und Nutzen hängen linear von den Inputs und Outputs ab: b 1 = 340y1 − 10x1 − 50x2 + 20x3

c1 = y2 + 7000y3

b2 = x1

c2 = y3

(1)

Der Gewinn b 1 ergibt sich (zu Demonstrationszwecken stark vereinfacht), indem von den gesamten Erlösen die Löhne und Kapitalkosten subtrahiert werden. Erste resultieren aus dem Absatz des produzierten Zements in Höhe von 340 Geldeinhei­ ten (GE) je Quantitätseinheit (QE) Zement sowie aus eingenommenen Gebühren für die Altreifenbeseitigung in Höhe von 20 GE/QE. Die Altreifen werden verbrannt und erzeugen dabei als (rein internes) Zwischenprodukt Energie für die Produktion von Zement. Der Lohnsatz beträgt 10 GE/QE, die Kapitalkosten 50 GE/QE. Der soziale Nutzen b 2 einer Schaffung von Arbeitsplätzen wird unmittelbar anhand des Arbeits­ einsatzes gemessen. Der Treibhauseffekt c1 resultiert aus den Emissionen von Kohlen­ dioxid (CO2 ) und Fluorchlorkohlenwasserstoff (FCKW), wobei letzter eine 7000 Mal stärkere Treibhauswirkung je Masseneinheit aufweist und als weitere ökologische Kosten c2 außerdem noch die Ozonschicht in der Stratosphäre schädigt. Abbildung 4 zeigt links die Input- und Outputquantitäten der vier Zementwerke, rechts die daraus gemäß (1) resultierenden Kosten und Nutzen. Das Beispiel illustriert drei für die traditionelle Produktionstheorie untypische As­ pekte: (i) Der Arbeitsinput x1 hat zwei gegenläufige Wirkungen, nämlich eine uner­

Produktion und Umwelt | 959

wünschte finanzielle auf den Gewinn, aber auch eine erwünschte auf die Beschäf­ tigung. (ii) Der Output FCKW y3 hat auch simultan zwei verschiedene, jedoch nun beide unerwünschte ökologische Effekte zur Folge. (iii) Die Altreifen bilden einen un­ erwünschten Faktor, dessen Input in den Zementherstellungsprozess erwünscht ist, weil sie dadurch zerstört und negative Werte verringert werden. Das dritte und das vierte Zementwerk unterscheiden sich lediglich in ihrem Ar­ beitseinsatz und damit beim Gewinn und der erzielten Beschäftigung. Dies ist Aus­ druck eines Interessenkonflikts der Eigenkapitalgeber und der Beschäftigten als be­ troffene Share- und Stakeholder. Damit ist der Arbeitseinsatz gleichzeitig sowohl un­ erwünscht, weil Kosten aus ökonomischer Sicht, als auch erwünscht, weil Nutzen aus sozialer Sicht. Wegen dieser gegensätzlichen Beurteilung des Arbeitseinsatzes greift das Dominanzprinzip der traditionellen Produktionstheorie nicht und alle Aktivitäten wären per se effizient. Ein Dominanzvergleich allein aus der Sicht der Eigenkapital­ geber, also wie üblich im Sinne des rein ökonomischen Rationalitätsprinzips, würde dagegen die Produktion des vierten Werkes eindeutig besser als die des dritten beur­ teilen, weil bei ansonsten identischen Input- und Outputquantitäten zwei Einheiten weniger vom Faktor Arbeit eingesetzt werden. So gesehen kann das vierte Werk wegen des geringsten Arbeitseinsatzes auch nicht von den anderen dominiert werden und wäre ökonomisch effizient. Betrachtet man allerdings stattdessen Kosten und Nutzen, so weist das erste Werk sowohl einen größeren Gewinn als auch eine höhere Beschäfti­ gung als das vierte auf, ist also aus ökonomischer und sozialer Perspektive dominant, allerdings zu Lasten höherer ökologischer Kosten. Mit Blick auf alle vier Nachhaltig­ keitsziele wird jedoch kein Werk von einem der anderen drei dominiert, so dass alle im direkten Vergleich untereinander effizient sind: Werk 1 weist nämlich den größten Gewinn aus, Werk 3 die höchste Beschäftigung und Werk 2 die geringsten Umweltbe­ lastungen, während Werk 4 im Vergleich mit den anderen drei jeweils in mindestens einem Kriterium besser ist (so beim Gewinn besser als Werke 2 und 3, und bei beiden ökologischen Kostenarten besser als Werk 1).

2.3 Ökonomische und ökologische Erfolgs- und Effizienzmessung Gelingt es, wie in der traditionellen ökonomischen Theorie, alle Inputs und Outputs einer Produktionsaktivität mit Preisen eindeutig zu bewerten, so lässt sich ihr ökono­ mischer Erfolg als eindimensionale Performance-Kennzahl berechnen, typischerwei­ se als Gewinn oder Deckungsbeitrag anhand von Marktpreisen. Entsprechend kann die hierarchische Aggregation und Bewertung der verschiedenen Umweltbelastun­ gen mittels ökologisch begründeter Gewichte, wie etwa bei der Öko-Effizienzanaly­ se der BASF (vgl. Abbildung 1), zu einem ökologischen Misserfolgs- beziehungsweise (Gesamt-) Kostenwert führen. Weil die Bestimmung geeigneter Gewichtungen für die verschiedenen Umweltbelastungskategorien nicht allgemeingültig und total objektiv sein kann, sondern immer auch auf subjektiven, im günstigen Fall aber zumindest in­

960 | Harald Dyckhoff

tersubjektiv nachvollziehbaren Einschätzungen und Wertungen basiert, können die bekannten Methoden des Multi-Criteria Decision Making (MCDM) hilfreich sein (vgl. Dyckhoff/Quandel/Waletzke 2015). Ein alternatives Instrument zur Bewertung von Produktionsaktivitäten ist die Messung eines Effizienzgrades als Ausmaß der jeweiligen Ineffizienz mit Hilfe der Data Envelopment Analysis (DEA). Dies sei an dem Beispiel der vier Zementwerke demonstriert, jedoch so modifiziert, dass entgegen dem Zahlenbeispiel aus Abbil­ dung 4 die Dominanz von Aktivitäten möglich ist (vgl. Dyckhoff/Ahn 2010, S. 1265 ff.). Neben rein ökonomischen Zielen wird nur noch der globale Klimawandel als ökolo­ gische Kosten berücksichtigt (also nicht mehr das Ozonloch und außerdem nicht die Beschäftigung als soziales Nachhaltigkeitsziel). An die Stelle von FCKW tritt dafür Methan (CH4 ) als zweites Treibhausgas neben CO2 . Hierarchiestufe 1: Arbeit und Kapital sind Produktionsfaktoren, deren Einsatz zu minimieren ist und ökonomische Kosten bildet. Ökologische Kosten entstehen durch Kohlendioxid und Methan als treibhausrelevante Abprodukte, deren Output also ebenfalls zu minimieren ist. Zu maximieren sind dagegen sowohl die Ausbringung von Zement als Produkt und der Einsatz von Altreifen als Redukt, weil sie gemäß (1) zu Erlösen führen und somit ökonomisch „nützlich“ sind. Dabei werden zunächst keine Preise und Gewichtungen betrachtet, sondern die Inputs und Outputs als ei­ genständige Zielkategorien angesehen, wie es analog bei der Effizienzanalyse der traditionellen Produktionstheorie üblich ist, hier jedoch mit den Übeln CO2 , CH4 und Altreifen, deren Optimierungsrichtung gegensätzlich zu den drei Gütern Arbeit, Kapital und Zement ist, so dass vier Kosten- und zwei Nutzenziele relevant sind: 4 [ [ 3 [ [120 [ [ 6 [ [ [ 1 [ 5

4 5 40 2 1 1

5 5 100 5 1 3

3 x1 c1 ] [ ] [ ] 5] [ c2 ] [x2 ] ] [ ] [ ] [ c3 ] [ y2 ] 100] ]=[ ] ]= ̂[ ] [ ] ] 5] [ [ c4 ] [ y3 ] ] [ ] [ ] 1] [b 1 ] [ y1 ] 3] [b 2 ] [x3 ]

Arbeit Kapital CO2 CH4 Zement Altreifen

Wegen der Modifikation des Beispiels (gegenüber Abschnitt 2.2) wird das Werk 3 nun durch Werk 4 dominiert, weil es ceteris paribus zwei Einheiten Arbeit weniger einsetzt. Zwischen den Werken 1, 2 und 4 existieren keine Dominanzbeziehungen, so dass sie im Vergleich untereinander effizient bezüglich der durch die Inputs und Outputs un­ mittelbar definierten Kosten und Nutzen sind. Die DEA erlaubt es nicht nur, eine Kennzahl für das Ausmaß der Ineffizienz des dritten Werkes zu bestimmen, sondern ermöglicht darüber hinaus eine Verschärfung des Effizienzvergleiches, indem die Zementproduktion der vier Werke als empiri­ sche Realisationen einer umfassenden Technologie verstanden werden. Je nachdem, welche Eigenschaften für diese Technologie unterstellt werden können, ergeben sich mehr oder minder viele andere mögliche Aktivitäten der Zementerzeugung, mit denen die Produktion der vier Werke verglichen werden kann. Nimmt man zur Illustration

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beispielsweise eine lineare Technik an, so bilden alle (nichtnegativen) Linearkom­ binationen der vier sechsdimensionalen Input/Output-Vektoren ebenfalls mögliche Produktionsaktivitäten. Das nach den DEA-Pionieren Charnes, Cooper und Rhodes (1978) benannte CCR-Modell sucht nun in der von Dyckhoff und Ahn (2010) verallge­ meinerten kostenorientierten Variante unter allen diesen Linearkombinationen nach solchen, die das betrachtete Werk dominieren, und berechnet den Effizienzgrad spe­ ziell als Prozentsatz der maximal möglichen proportionalen Verminderung aller vier Kostengrößen. Im Beispiel ist Werk 3 so zu 80 % effizient, weshalb es möglich sein sollte, denselben Nutzen, d. h. 1 QE Zementausbringung und 3 QE verbrannte Altrei­ fen, mit nur je 4 QE Einsatz von Arbeit und Kapital bei Emissionen von 80 QE CO2 und 4 QE CH4 zu erreichen. Die drei anderen Werke sind gemäß des CCR-Modells zu 100 % effizient. Zu beachten ist dabei allerdings, dass das CCR-Modell (wie alle „radialen“ DEA-Modelle) nur ein Maß schwacher Effizienz bestimmt und so unter Umständen eine Produktion mit „100 % effizient“ ausweist, obwohl einzelne Inputs oder Outputs noch weiter verbesserbar sind (vgl. Dyckhoff/Ahn 2010). Hierarchiestufe 2: In einem ersten Aggregationsschritt werden je zwei Inputs und Outputs zu drei Nutzen- und Kostenkategorien zusammengefasst. Ein Kilogramm Me­ than hat auf 100 Jahre gesehen dieselbe Treibhauswirkung (radiative forcing) wie 25 Kilogramm Kohlendioxid, so dass CH4 mit einem Gewicht von 25 versehen und mit CO2 zu ökologischen Kosten aggregiert werden kann, gemessen in „Kohlendioxid­ äquivalenten“. Die anderen vier, nur ökonomisch relevanten Inputs und Outputs wer­ den mit den in (1) genannten Preisen bewertet und als finanziell bestimmte Kosten und Erlöse separat ausgewiesen: 270 [ [190 [440

90 290 360

225 300 400

c1 225 c3 + 25c4 ] ] [ ] [ ̂ [ c2 ] = [ 10c1 + 50c2 ] 280] = 400] [b 1 ] [340b 1 + 20b 2 ]

Treibhauseffekt monetäre Kosten Erlös

Mit dem kostenorientierten CCR-Modell ergeben sich mit Ausnahme des vierten Wer­ kes dieselben Effizienzgrade wie zuvor, während Werk 4 nur noch zu 83 % effizient ist. Hierarchiestufe 3: Fasst man jedoch die monetären Erlöse und Kosten wie üblich zum Gewinn zusammen, so verbleiben mit der globalen Erwärmung und dem ökono­ mischen Nutzen die beiden anfangs formulierten Ziele: 270 [ 250

90 70

225 100

ĉ 1 c1 225 ̂[ ̂ ]=[ ] ]= 120 b1 b1 − c 2

Treibhauseffekt Gewinn

Nunmehr ist nur noch Werk 1 zu 100 % effizient, während die weiteren Effizienzgrade lauten: 84 % für Werk 2, 48 % für Werk 3 und 58 % für Werk 4. Dass der Effizienz­ grad eines Werkes sich bei einer konsistenten Aggregation nicht verbessert, ist kein Zufall, sondern bildet eine allgemeine Gesetzmäßigkeit (vgl. Dyckhoff 2017). Solange die Preise oder ökologischen Gewichtungen der Inputs und Outputs nicht (vollstän­

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dig) bekannt sind, bilden die Effizienzgrade somit obere Schranken für die bestmög­ liche Bewertung einer Produktionsaktivität im Vergleich mit den anderen. Im Beispiel der Zementproduktion sind alle Bewertungsfunktionen, mit denen die Input- und Outputquantitäten in Kosten- und Nutzenwerte verschiedener Katego­ rien überführt werden, linear, so dass die Preise oder Gewichtungen, mit denen eine Quantitätseinheit bewertet wird, konstant sind, unabhängig davon, wie viel von ei­ ner Objektart eingesetzt oder erzeugt wird. Bekanntlich können Preise und Gewichte jedoch mengenabhängig sein. So konnte etwa in den 1980er Jahren der bei Rauch­ gasentschwefelungsanlagen von Braunkohlekraftwerken im Rheinland anfallende „Rea-Gips“ in geringen Mengen noch auf den örtlichen Baumärkten verkauft werden, während größere Mengen mit negativen Deckungsbeiträgen auf entfernteren Märk­ ten abgesetzt oder auf Deponien kostenträchtig beseitigt werden mussten. Bei einer solchen Objektart, die mengenabhängig sowohl Gut als auch Übel sein kann, wie im Falle des Rea-Gipses, ist die Dominanz von Produktionsaktivitäten nicht mehr über eine eindeutige Optimierungsrichtung – wie etwa „je mehr Output, umso besser“ – bestimmt. Der unmittelbar für Inputs und Outputs definierte Effizienzbegriff verliert (spätestens) dann weitgehend seine Bedeutung und muss durch den allgemeineren, entscheidungstheoretisch begründeten ersetzt werden, welcher nichtlineare Abhän­ gigkeiten der Kosten und Nutzen von den Inputs und Outputs erfassen kann.

3 Aspekte umweltorientierten Produktionsmanagements 3.1 Kuppelproduktion als ökologischer Regelfall Rea-Gips ist ein Kuppelprodukt der Braunkohleverstromung, wenn das Kraftwerk mit einer Rauchgasentschwefelungsanlage ausgestattet ist und diese auch nutzt, um Schwefeldioxid (SO2 ) oder schweflige Säure (H2 SO3 ) aus den Abgasen des Verbren­ nungsofens abzuscheiden. Das SO2 (oder H2 SO3 ) als ursprüngliches Kuppelprodukt der Braunkohleverstromung kann somit in Folge der Technologieänderung durch eine zusätzliche Filteranlage („end-of-pipe-technology“) vermieden werden. Dies illustriert die Relativität des Kuppelproduktionsbegriffes: Ein Output heißt Kuppelprodukt eines Produktionssystems genau dann, wenn er bei der Erfüllung ei­ nes Systemzwecks unvermeidbar entsteht, ohne in seiner Art diesem Systemzweck zu entsprechen (vgl. Dyckhoff 1996). Im üblichen, engeren Sinn wird von Kuppelproduk­ tion lediglich dann gesprochen, wenn das Kuppelprodukt selber einem Systemzweck entspricht, also ein Hauptprodukt bildet. Dann müssen mindestens zwei verschiede­ ne Systemzwecke existieren, also etwa zwei Arten von Hauptprodukten wie im Fal­ le von Strom und Wärme bei Heizkraftwerken. Besteht ein Zweck des Systems in der Reduktion von Übeln, beispielsweise in der Verbrennung von Müll, so ist ein Müll­

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heizwerk auch ein Kuppelproduktionssystem mit dem Hauptprodukt Wärme als Kup­ pelprodukt. Kuppelproduktion im weiteren Sinn liegt dagegen in Bezug auf ein Produk­ tionssystem vor, wenn keines seiner Kuppelprodukte ein Hauptprodukt ist und min­ destens ein solches Kuppelprodukt als Neben- oder Abprodukt auch Beachtung findet (vgl. Dyckhoff 1994, S. 14). Ohne die letzte Einschränkung, dass die Kuppelprodukte eines Systems auch Be­ achtung finden müssen, also etwa bei der Modellierung oder Bewertung der Produk­ tion, wäre jede Produktion aus naturgesetzlichen Gründen eine Kuppelproduktion im weiteren Sinn und dieser Begriff dann überflüssig (vgl. Baumgärtner et al. 2001; Dyck­ hoff 1994, S. 13). Schon Georgescu-Roegen (1971) hat darauf hingewiesen, dass Pro­ duktion stets mit Energieumwandlung verbunden ist und diese nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zwangsläufig zu einer Entropiezunahme führt, d. h. zu einem unvermeidlichen Anfall nicht mehr arbeitsfähiger Energie (in der Regel Ab­ wärme). Aus dieser Perspektive ist jede Produktion eine Kuppelproduktion, und re­ gelmäßig auch aus „ökologischer Perspektive . . . , da gleichzeitig mit der Produktion gewollter, verkaufsfähiger Produkte ein ungewollter Output in Form von Emissionen . . . entsteht“ (Adam 1993, S. 5). Kuppelproduktion ist insofern immer relativ, als sie sich auf ein bestimmtes Pro­ duktionssystem bezieht. Ein Produktionssystem ist dadurch gekennzeichnet, dass es einen bestimmten Zweck erfüllt, durch eine Bilanzhülle von seiner Umgebung räum­ lich, zeitlich und sachlich abgegrenzt (oder abgegrenzt gedacht) ist und sich in ihm ein Prozess vollzieht, bei dem von der Umgebung bezogener Input entsprechend der im System verfügbaren Technik in Output transformiert wird, welcher nach außen abge­ geben wird. Als Stoff- und Energiebilanz (auch „Ökobilanz“) bezeichnet man die öko­ logisch relevanten Input- und Outputströme des Systems während einer bestimmten Periode. Der Bezug auf ein bestimmtes Produktionssystem impliziert, dass die Unvermeid­ barkeit eines Kuppelprodukts nur insoweit „technisch zwangsläufig“ ist, als damit die dem System verfügbare Technik angesprochen ist. Eine Veränderung des Systems durch eine neue Technik kann unter Umständen zur Vermeidung des Outputs führen, wie im früher erwähnten Fall des SO2 durch Installation einer Rauchgasentschwefe­ lung. Die Veränderung des Systemzwecks, etwa die Elimination eines – schädliche Kuppelprodukte verursachenden – Hauptprodukts aus dem Produktsortiment, führt ebenfalls zu einer Systemänderung. Kuppelproduktion ist demnach definiert in Rela­ tion – zur verfügbaren Technik, – zum jeweiligen Produktionszweck sowie – zur Wahrnehmung und Beachtung der Outputobjekte. Ein Kuppelprodukt, wie beispielsweise Kohlendioxid bei der Verbrennung fossilen Kohlenstoffs, führt demnach nur dann zu einer Kuppelproduktion im weiteren Sinn, wenn es auch Beachtung findet, so neuerdings aus ökologischen Gründen wegen

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seiner Klimabeeinflussung. Aus ökonomischer Sicht liegt sie dagegen erst dann vor, wenn das Kohlendioxid dadurch beachtenswert wird, dass es die wirtschaftlichen Ziele beeinflusst, etwa durch eine Kohlendioxidsteuer oder eng gesetzte Emissions­ grenzwerte. Da aus der Perspektive des Umweltschutzes mehr Objektarten als Outputs beachtet werden müssen als bei rein wirtschaftlichen Analysen, tritt Kuppelproduk­ tion im weiteren Sinn ökologisch gesehen viel häufiger auf („Regelfall“) als in tradi­ tioneller ökonomischer Sicht („Sonderfall“). Das deutsche Kreislaufwirtschaftsgesetz (KrWG) sieht eine Prioritätenrangfolge hinsichtlich des Umgangs mit Abfällen vor, wonach ihre Vermeidung an oberster und ihre Beseitigung an unterster Stelle stehen, mit verschiedenen Formen mehr oder min­ der gelungener Verwertung dazwischen. Definitionsgemäß sind Kuppelprodukte in Bezug auf ihr Produktionssystem aber unvermeidbar. Nur eine Änderung der Technik oder eines Zweckes des Systems ermöglicht die vollständige Vermeidung, und zwar durch Prozessinnovation beziehungsweise durch Sortimentsanpassung mittels Inno­ vation, Variation oder Elimination von Hauptprodukten. Unter Abfallvermeidung wird allerdings auch die bloße Verminderung ihrer Menge oder Schädlichkeit verstanden. Die Mengenverminderung als teilweise Vermeidung des Anfalls von Quantitäten einer Kuppelproduktart ist bei unverändertem Produktionssystem nur dann möglich, wenn keine starre, sondern eine flexible Kuppelproduktion vorliegt, bei der die Mengenrela­ tionen der verschiedenen Kuppelprodukte in gewissen Grenzen untereinander variiert werden können. Diese Relationen werden in der Praxis regelmäßig durch die Wahl bestimmter Rohstoffe oder Herstellungsverfahren determiniert. Die beiden grundle­ genden Typen flexibler Kuppelproduktion sind die inputseitig determinierte Produk­ tion und die Verfahrenswahl bei der Nutzung eines Input (vgl. Dyckhoff 2006, S. 99 f.). Beispiel für den ersten Typ ist die Substituierbarkeit von Rohölen mit verschiedenen Eigenschaften und Bestandteilen (z. B. Gehalt an leichten Kohlenwasserstoffen oder an Schwefel) bei ihrer Destillation in Raffinerien, für den zweiten Typ die Wahl der Schnittmuster beim Zuschneiden großer Objekte fester Form in kleinere Stücke (z. B. Blech, Glas, Holz, Textilien). Mit Blick auf Milliarden Tonnen, die allein in Deutsch­ land in verschiedenen Branchen zugeschnitten werden, bringt eine Verringerung des Verschnitts von einem Prozent Rohstoff- und Abfalleinsparungen von Millionen Ton­ nen ohne Einbußen bei den Hauptprodukten (vgl. Dyckhoff 1996). Abfälle, die als Kuppelprodukte nicht zu vermeiden sind, sollen in erster Linie möglichst hochwertig verwertet werden, am besten durch Wiederverwendung. Das trifft etwa auf Katalysatoren in der chemischen Industrie zu. Längerfristig werden so­ gar sämtliche verschleißbaren oder alternden Betriebsmittel eines Produktionssys­ tems selber zu Abfällen: Bohrköpfe eher, Gebäude später. So gesehen stellen alle stofflichen Produktionsfaktoren am Ende ihrer Lebenszeit Kuppelprodukte des Produkti­ onssystems dar, für das sie genutzt wurden. (Nicht vermeidbare) Abfälle müssen entsorgt, d. h. verwertet oder beseitigt wer­ den. Das Schwefeldioxid als Kuppelprodukt der Braunkohleverstromung wird in der Rauchgasentschwefelung weiterverarbeitet und so in Rea-Gips umgewandelt. Aus der

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engeren Sicht des Braunkohlekraftwerks ist das Schwefeldioxid unvermeidbar und muss nach seinem Anfall verwertet werden. Aus der Sicht des um die Rauchgasent­ schwefelung als additive Technik erweiterten Produktionssystems ist das Schwefeldi­ oxid jedoch vermeidbar (und somit kein Kuppelprodukt). Folglich ist es immer eine Frage der engeren oder weiteren Abgrenzung des Produktionssystems, ob es sich um eine (externe) Verwertung oder eine Vermeidung (durch interne Verwertung) handelt. In ökologischen Systemen werden Abfälle von den Produzenten (grüne Pflanzen) und Konsumenten (Tiere und Menschen) als einzelnen Akteuren regelmäßig nicht vermie­ den, dafür aber stets verwertet, zuletzt von den Reduzenten (Mikroorganismen). Ab­ fall ist so gesehen ein Rohstoff, und – sofern ungiftig – nur dann problematisch, wenn er am falschen Ort oder zur falschen Zeit anfällt.

3.2 Umweltorientierung logistischer Entscheidungen Anders als bei der Erzeugung von Sachgütern stehen bei logistischen Prozessen raumzeitliche Transformationen im Fokus. Der Zweck logistischer Produktionssysteme lässt sich als Erbringung einer Dienstleistung kennzeichnen, bei der Objekte von einem zum anderen Ort transportiert oder an einem Ort umgeschlagen und gela­ gert werden. Im Rahmen von Kreislaufwirtschaftssystemen treten in allen Phasen logistische Prozesse auf, vor allem bei der Distribution der Produkte sowie bei der Kollektion der Abfälle. Wie die physischen sind auch die logistischen Prozesse mit der Entstehung unerwünschter Kuppelprodukte sowie dem Verbrauch natürlicher Ressourcen verbunden. Hierzu zählen vor allem die Emission von Kohlendioxid und der Verbrauch von Mineralöl, welche zu einem erheblichen Anteil durch den Verkehr verursacht werden. Darüber hinaus spielen auch der Flächenverbrauch sowie Lärm und andere Belästigungen eine wesentliche Rolle bei der ökologischen Beurteilung logistischer Systeme und Prozesse. Um transportbedingte Umweltbelastungen ohne Senkung des gesamten Aufkom­ mens an Gütertransporten zu verringern, stehen grundsätzlich folgende drei Effizienz­ strategien zur Verfügung (vgl. ausführlich Dyckhoff/Souren 2008, S. 204 ff.): – Senkung der (mittleren) Transportentfernung: Durch geeignete Auslegung des lo­ gistischen Systems (z. B. die Distributionsstruktur), vor allem die Zahl und Stand­ orte der Zentral- und Regionalläger sowie der Umschlagplätze, werden die ins­ gesamt zurückzulegenden Fahrstecken und so die Umweltschädigungen vermin­ dert. – Erhöhung der Transportmittelauslastung: Damit kann trotz konstanten Güterauf­ kommens die Zahl der notwendigen Transportvorgänge gesenkt werden. Weil die Umweltschädigungen einer einzelnen Fahrt hauptsächlich von der Fahrstrecke und nur geringfügig von der Beladung des Transportmittels abhängen, schlägt die Verringerung der Transportvorgänge nahezu vollständig auf die Gesamtquantität an Emissionen und den Energieverbrauch durch. Wesentlichen Einfluss auf die

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Transportmittelauslastung haben die Gestaltung der Güterverpackung und die Optimierung der Beladung von Containern und Paletten. Verlagerung des Transports auf umweltfreundliche Transportmittel: Weil die spezi­ fischen Umweltbelastungen der verschiedenen Transportmittelarten stark diffe­ rieren, sinken die Umweltschäden bei geeigneter Wahl des Transportmittels, vor allem die Emissionen und der Energieverbrauch beim Umstieg von Flugzeug oder LKW auf Bahn und Schiff.

Bei der Umsetzung dieser Strategien sind allerdings die konkreten Zielwirkungen abzuwägen. So führt eine Steigerung der Transportmittelauslastung durch erhöhte Liefermengen zwar zur Absenkung der transportbedingten Umweltschädigungen, sie kann aber gleichzeitig verbunden sein mit einer Erhöhung der lagerbedingten Schä­ den durch größere Lagermengen und ein höheres Risiko, die Güter nicht vollständig absetzen zu können. Ein umweltorientiertes Logistikmanagement muss dabei die Auswirkungen auf die verschiedenen ökologischen Kriterien nicht nur gegeneinan­ der abwägen, sondern natürlich auch in Bezug auf die ökonomischen und sonstigen Ziele, so dass wie beim umweltorientierten Produktionsmanagement auch hier ge­ nerell multikriterielle Entscheidungsprobleme zu bewältigen sind (vgl. Abschnitt 2). Allerdings existieren öfters auch komplementäre Zielwirkungen, besonders wenn durch Senkung des Energieverbrauchs, beispielsweise aufgrund höherer Transport­ mittelauslastung, simultan auch die Energiekosten gemindert werden.

3.3 Grundzüge nachhaltiger Unternehmensführung Inwieweit das Produktions- und Logistikmanagement umweltorientiert oder nach­ haltig sein soll, ist im Rahmen der gesamten Unternehmensführung zu klären. Nach der Tragweite und Bedeutung unternehmerischer Entscheidungen unterscheidet man (bis zu) vier Managementebenen, welche sich plakativ durch folgende Fragen cha­ rakterisieren lassen, die sich die Entscheidungsträger zu stellen haben (zu ausführ­ licheren Erläuterungen und Literaturhinweisen vgl. nachfolgend Dyckhoff/Souren 2008): – Normativ: Was sind unsere Gründe für die Existenz und Weiterführung der Unter­ nehmung? – Strategisch: In welche Richtung führen uns diese Gründe? – Taktisch: Welchen Weg dahin wollen wir nehmen? – Operativ: Welche einzelnen Schritte sind auf dem Weg vorzunehmen? Im Prinzip ist die Frage nach der Umweltorientierung und (ökologischen) Nachhal­ tigkeit auf der normativen Ebene angesiedelt. Kernaufgaben des normativen Manage­ ments sind die Festlegung und Gestaltung der Unternehmenspolitik und deren ge­ eignete (formale und informelle) Rahmung mit einer passenden Unternehmensver­

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fassung und Unternehmenskultur. Mit der Unternehmenspolitik legen die Kernorgane die Leitlinien für das Handeln der Unternehmung und ihrer Mitarbeiter fest, ausge­ drückt in Mission und Vision der Unternehmung sowie den autorisierten Wertvorstel­ lungen. Bei der Entscheidung darüber, für wen welche Nutzen geschaffen werden sol­ len, kommt es nicht nur darauf an, die Interessen verschiedener Anspruchsgruppen ausreichend zu berücksichtigen, sondern auch die Wichtigkeit einzelner Werte vor­ zugeben, damit Abwägungen nachgelagerter Managementebenen konform zur Unter­ nehmenspolitik erfolgen können. Wenn diese Konkretisierung versäumt wird, kön­ nen Mission und Vision nicht handlungsleitend sein, mit entsprechenden Folgen, die zur offensichtlichen Diskrepanz zwischen normativem Anspruch und gelebtem Alltag führen. Im Hinblick auf gesellschaftliche und staatliche Ansprüche lassen sich idealty­ pisch drei Grundhaltungen der Unternehmenspolitik unterscheiden: – Illegal (oder sogar kriminell): Das Streben nach ökonomischem Erfolg macht bei dieser Politik unter Umständen sogar vor einer (mehr oder minder vorsätzlichen) Verletzung gesetzlicher Vorgaben nicht Halt, vor allem dann, wenn kaum mit et­ waigen Sanktionen und Strafbewehrungen für die Entscheidungsträger zu rech­ nen ist. Beispiele, auch prominenter Unternehmungen, finden sich in jüngerer Zeit genug. – Defensiv (legal, aber eventuell illegitim): Eine solche Politik hält sich an die ge­ setzlichen Regelungen soweit wie nötig, aber nicht darüber hinaus. Insbesonde­ re werden juristische Grauzonen und gesetzliche Lücken ausgenutzt, um daraus Vorteile für Eigentümer und Mitarbeiter der Unternehmung zu gewinnen, auch wenn sie zu Lasten der Gesellschaft oder zukünftiger Generationen gehen. Aktu­ ell von besonderer Bedeutung sind Steuervermeidungspolitiken durch die Verla­ gerung von Unternehmensgewinnen in Staaten mit niedrigen Steuersätzen, wo­ durch zum einen in den Haushaltsbudgets betroffener Staaten nicht genügend Mittel für Investitionen und soziale Aufgaben zur Verfügung stehen und zum an­ deren die schon bestehende starke Ungleichheit von Einkommen und Vermögen zu Gunsten der Kapitaleigner weiter zunimmt. – Offensiv (legal und legitim): Über die bloß formale Einhaltung relevanter Gesetze und Verordnungen hinaus werden die diesen zugrundeliegenden Motivationen sowie sonstige (nicht kodifizierte) gesellschaftliche und moralische Ansprüche von der Unternehmenspolitik proaktiv beachtet und ernsthaft sowie transparent gegenüber konkurrierenden Ansprüchen abgewogen. Erst dann erhalten Umwelt­ schutz und Nachhaltigkeit einen eigenen Wert und werden in gewissen Grenzen, d. h. in der Regel solange der Bestand der Unternehmung nicht substantiell ge­ fährdet ist, auch gegen ökonomische Bedenken im möglichen Ausmaß durchge­ setzt. Beispiele hierfür sind landwirtschaftliche Betriebe, die auf eine Massentier­ haltung verzichten und auf eine nachhaltige, tier- und umweltfreundliche Pro­ duktion umsteigen, obwohl sie dabei ökonomische Nachteile oder Risiken in Kauf nehmen.

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Die drei Idealtypen moralischer Grundhaltungen sind in der Praxis selten in Reinform festzumachen (die kriminelle aus naheliegenden Gründen sowieso kaum). Das liegt nicht nur daran, dass sich die tatsächlich verfolgten Wertvorstellungen der handeln­ den Personen, anders als die offiziell proklamierten, grundsätzlich nicht beobachten lassen. Wichtig ist nämlich außerdem, dass jeder einzelne moralische Anspruch einer separaten Prüfung unterzogen werden muss. Eine differenzierte Beurteilung verschie­ dener Ansprüche kann dann dazu führen, dass manchen offensiv, anderen dagegen defensiv oder gar illegal begegnet wird. Eine offensive Unternehmenspolitik bedarf umfassender Auseinandersetzungen mit den Interessen sämtlicher Anspruchsgruppen. Die Übernahme der Legitimations­ verantwortung durch die Unternehmung im Rahmen einer (öko-sozialen) Marktwirt­ schaft zeigt sich dann zum Beispiel dadurch, dass Frühinformationssysteme einge­ richtet werden, um gegenwärtige oder zukünftige moralische Anforderungen rechtzei­ tig zu erkennen. Durch den Dialog mit kritischen Interessengruppen (z. B. NGO) öffnet sich die Unternehmensführung für moralische Argumente und einen entsprechenden Diskurs, um gegebenenfalls ihr Handeln neu auszurichten. Begründet ist eine solche offensive Unternehmenspolitik mit dem Umstand, dass gesetzliche Rahmenordnun­ gen nie vollkommen perfekt sein können, sondern immer in Teilen gewisse Defizite aufweisen, weshalb manche legitimen Ansprüche nicht schon durch die staatlichen Regeln berücksichtigt sind und somit ein Verweis auf die Gesetzeslage nicht ausreicht. Höchste Priorität sollte dabei aber haben, dass solche Defizite in der Rahmenordnung baldmöglichst beseitigt werden, wozu offensiv handelnde Unternehmen durch ihre Lobbyisten positiv beitragen können, um legales und legitimes Verhalten ordnungs­ politisch in Übereinstimmung zu bringen. Mit dem Bekenntnis zu einer offensiven Unternehmenspolitik manifestiert sich die Bereitschaft zur ernsthaften Auseinandersetzung mit moralisch begründeten An­ sprüchen, wie etwa Forderungen nach umweltfreundlichem Unternehmenshandeln. Gleichwohl ist die Verankerung des Umweltschutzes (und anderer moralischer An­ sprüche) im normativen Management nur eine (meist) notwendige Bedingung für ein tatsächlich ökologisch nachhaltiges Wirtschaften der Unternehmung. Weil es über­ wiegend durch untergeordnete Managementebenen realisiert wird, muss sicherge­ stellt sein, dass die autorisierten Wertvorstellungen adäquat in die Entscheidungspro­ zesse des strategischen, taktischen und operativen Managements der verschiedenen Unternehmensbereiche, insbesondere des Produktions- und Logistikmanagements, einfließen. In der Realität offenbaren sich jedoch häufiger Mängel in der durchgängi­ gen Verankerung des Umweltschutzes in den verschiedenen Managementbereichen. Für einen Industriebetrieb lassen sich bei den sachbezogenen Grundsatzentschei­ den auf der strategischen Managementebene idealtypisch fünf umweltbezogene Basis­ strategien unterscheiden, die in der Praxis zumeist in Mischformen anzutreffen sind und die drei oben beschriebenen Grundhaltungen der Unternehmenspolitik in unter­ schiedlicher Weise konkretisieren, wie es die Abbildung 5 schematisch skizziert.

präventive

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zyklusorientiert prozessorientiert offensiv

nachgeschaltete

defensiv

outputorientiert

verwertungsorientiert

keine

abwehrorientiert illegal

Art und Umfang der Umweltschutzmaßnahmen

keine

direkte

auch indirekte

Abb. 5: Fünf idealtypische Umweltbasisstrategien (Dyckhoff/Souren 2008, S. 118).

Die Typologie setzt an der Art und an dem Ausmaß der objektiv beobachtbaren Um­ weltschutzaktivitäten an. Prinzipiell existiert diesbezüglich nämlich ein Kontinuum von Ausprägungen zwischen den beiden Extremen „Keine Maßnahmen“ und „Alle erdenklichen Maßnahmen“. Daraus werden die Basisstrategien so gegriffen, dass sie die gesamte Spannweite in diskreten Stufen zunehmender Umweltschutzaktivitäten repräsentieren, und zwar durch die Differenzierung nach zwei Merkmalen mit je zwei Ausprägungen: – Direkter versus indirekter Umweltschutz: Direkter Umweltschutz betrifft nur sol­ che Belastungen, die unmittelbar von der Unternehmung ausgehen, insbesonde­ re Flächen- und Naturverbrauch sowie Emissionen bei der Produktion; indirekter dagegen solche, welche zwar nur mittelbar, jedoch wesentlich von der Unterneh­ mung in den verschiedenen Phasen des ökologischen Produktlebenszyklus mit beeinflusst werden, nämlich über die Umweltverträglichkeit bei der Gewinnung und Entstehung der beschafften Energie und Materialien in der vorangehenden Supply Chain sowie bei der nachgelagerten Nutzung und Entsorgung der entwi­ ckelten und hergestellten Produkte. – Nachgeschalteter versus präventiver Umweltschutz: Erster setzt an schon vorhan­ denen potentiellen Belastungen an und versucht diese, nachträglich zu entsorgen (z. B. Verwertung und Beseitigung von Abprodukten durch Schornsteine, Filter-

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und Kläranlagen). Präventiver Umweltschutz versucht, potentielle Belastungen schon vor ihrer Entstehung zu vermeiden (z. B. Elektro- anstelle eines Verbren­ nungsmotors). Bei der abwehrorientierten Basisstrategie ergreift die Unternehmung keine nennens­ werten Maßnahmen für den Umweltschutz. Stattdessen wehrt sie von außen herange­ tragene Ansprüche ab, sei es durch Kommunikationsaktivitäten, wie Lobbyismus und Verhandlungen mit Behörden, oder durch die Überwälzung der Ansprüche auf andere Akteure, wie etwa Zulieferer oder Versicherungen. Diese Strategie ist Ausdruck einer defensiven, wenn nicht sogar illegalen Unternehmenspolitik. Defensiv ist auch die outputorientierte Strategie. Sie setzt allein auf direkten, nachgeschalteten Umweltschutz. Er wird durch additive Techniken („end-of-pipe technology“) gesetzeskonform realisiert. Bisherige Prozessabläufe bleiben davon weitgehend unberührt. Durch die Überwachung und Wartung der additiven Anlagen ergeben sich jedoch zumindest zusätzliche Kontrollaufgaben. Die prozessorientierte Strategie realisiert hauptsächlich „produktionsintegrier­ ten“, d. h. direkten und präventiven Umweltschutz durch den Einsatz neuer Pro­ duktionstechniken im Unternehmen, welche Umweltbelastungen von vorneherein vermeiden („clean technology“). Rechtsnormen werden proaktiv übererfüllt. Diese Strategie befindet sich somit im Übergang von einer defensiven zu einer offensiven Unternehmenspolitik. Das trifft auch auf die verwertungsorientierte Strategie zu, soweit sie über Rechts­ normen, wie das hier besonders relevante KrWG, freiwillig hinausgeht. Hierbei wer­ den für die eigenen Produkte und Abprodukte Stoffkreisläufe durch indirekten, nach­ geschalteten („recyclingorientierten“) Umweltschutz angestrebt. Dazu beteiligt sich die Unternehmung an bestehenden Verwertungssystemen sowohl für die eigenen Pro­ duktionsabfälle als auch für die während des ökologischen Produktlebenszyklus an­ fallenden Produktabfälle, sofern sie kein eigenes Recyclingnetzwerk aufbaut. Während die beiden letztgenannten Basisstrategien Übergänge von einer defen­ siven zu einer offensiven Unternehmenspolitik beinhalten – je nachdem, inwieweit die Unternehmung so viel für den Umweltschutz tut „wie nötig“ oder aber „wie mög­ lich“ –, ist die zyklusorientierte Strategie eindeutig Ausdruck einer offensiven, ökolo­ gisch nachhaltigen Politik. Über den direkten präventiven und den indirekten nach­ geschalteten Umweltschutz hinaus sind nun auch indirekte präventive Aktivitäten vorgesehen, welche vor allem die Konzeption und Entwicklung der Produkte heraus­ fordern. Dies erfordert eine umfassende Kooperation mit allen beteiligten Akteuren zur Realisierung möglichst intelligenter Stoffkreisläufe sowie umweltorientierter Pro­ dukt- und Servicekonzepte („produktintegrierter Umweltschutz“). Das ist eine echte Querschnittsaufgabe, die sämtliche inner- und überbetrieblichen Prozesse betrifft, auf welche die Unternehmung durch ihr Verhalten Einfluss nimmt oder nehmen kann. Die Verwirklichung dieser Strategie ist somit sehr anspruchsvoll, weil sie um­ fangreiche Planungs- und Realisationsaufgaben in allen Bereichen zur Folge hat und

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auch nach ihrer Einführung dauerhaft eine enge Kooperation mit allen wesentlichen Partnern entlang des ökologischen Lebenszyklus der Produkte notwendig macht. Daraus resultieren erhebliche Transaktionskosten, welche dem ursprünglichen Ideal vollkommener Märkte der ökonomischen Theorie zuwiderlaufen, wonach die Preise der beschafften und abgesetzten Güter alle relevanten Informationen beinhalten. Die im KrWG verankerte Verantwortung der Entwickler, Hersteller und Vertreiber für ihre Produkte geht aber letztlich in Richtung einer zyklusorientierten Strategie.

4 Was heißt eigentlich „Umwelt(schutz)“? Wie zu Beginn erläutert, stößt die heute herrschende Wirtschaftsweise auf vielfälti­ ge Art an natürliche Grenzen unseres Planeten. Sie muss daher in absehbarer Zeit grundlegend verändert und zukunftsfähig gestaltet werden. Dazu ist unsere natürli­ che Umwelt in ausreichendem Maß dauerhaft zu schützen. Nur was heißt das eigent­ lich? Bewahrung der Natur vor jeglichen Schäden durch den Menschen? Das wohl kaum! (Vgl. nachfolgend ausführlicher Dyckhoff/Souren 2008, S. 45 ff.; basierend auf Dyckhoff 1995.) Selbst in Zeiten „alternativer Fakten“ dürfte es noch viele reale Situationen geben, in denen niemand Zweifel hegt, dass die Umwelt vom Menschen geschädigt wird. Das seit Milliarden Jahren sechste – und erstmals von einer Spezies, konkret dem Homo Sapiens, durch Raubbau in der Natur verursachte – große Massensterben natürlicher Arten in Flora und Fauna ist eindrucksvoll belegt (vgl. Kolbert 2015). Dennoch gibt es auch eine Fülle realer Situationen, in denen nicht ohne Weiteres klar ist, was Um­ weltschutz genau bedeutet. So lässt sich etwa mit guten Gründen darüber streiten, ob man Kunststoffabfälle als Müll unter Gewinnung von Nutzenergie verbrennen darf, das ursprünglich eingesetzte Rohöl künftigen Generationen dann aber nicht mehr zur Verfügung steht sowie der Klimawandel verstärkt wird. Mit der Unschärfe des Begriffs Umweltschutz ist hier nicht das mangelnde Wis­ sen über viele Wirkungszusammenhänge in der Realität gemeint, etwa die Fragen, in­ wieweit der CO2 -Ausstoß in Zukunft zu einem Klimawandel führt und welche Auswir­ kungen das auf die Lebensgrundlagen des Menschen besitzt. Die Unkenntnis über die Wirkungszusammenhänge bedingt das Problem, nicht zu wissen, ob man das Richti­ ge tut oder ob man den Schutz der Umwelt nicht vielleicht auf anderem Wege besser erreichen könnte. Den vorangehenden kurzen Einblick in das Thema Produktion und Umwelt abschließend geht es nicht darum zu erörtern, wie man die Umwelt schützt, sondern um die viel grundsätzlichere Frage, was eigentlich überhaupt unter dem Be­ griff „Schutz der Umwelt“ zu verstehen ist. Um dies zu klären, sind folgende drei Fra­ gen hilfreich: – Wessen Umwelt soll geschützt werden? – Was alles gehört zu der Umwelt, die geschützt werden soll? – Wovor soll die Umwelt geschützt werden?

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Zunächst ist zu fragen, auf welches Subjekt sich „Umwelt“ bezieht. Oft wird dabei eine rein anthropozentrische Sicht verfolgt. In Deutschland hat sich diese enge Auffassung 1994 durch einen neuen Paragraphen im Grundgesetz geändert (wobei der Tierschutz 2002 dazu kam): Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebens­ grundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung. (Artikel 20a GG)

Für die staatlichen Organe (Legislative, Exekutive und Judikative) besteht damit eine verfassungsmäßige Pflicht zum Umweltschutz, die zwar, anders als ein Grundrecht, vom Bürger nicht eingeklagt werden kann, aber eine wichtige politische Leitlinie dar­ stellt. Umstritten war zuvor, ob es sich um die „natürlichen Lebensgrundlagen“ an sich oder aber speziell nur „des Menschen“ handeln soll. Unbestimmt bleibt nun aber, wessen Lebensgrundlagen gemeint sind. Kann man auch Teilen der belebten Natur ein eigenes Recht auf den Schutz ihrer Umwelt zugestehen? Gilt ein solcher Anspruch etwa für den Eisbären, dem die Arktis wegschmilzt, oder den Orang-Utan, dem der Urwald in Indonesien weggeholzt wird, um stattdessen Palmen für Palmöl anzubau­ en? Derjenige Teil der Natur, dem man ein Recht auf seinen eigenen Lebensraum zu­ misst, lässt sich Mitwelt nennen. Umweltschutz dient dann der Mitwelt. Ob dazu außer dem Menschen auch höher entwickelte Lebewesen wie Menschenaffen, Wale, Eisbä­ ren, Wölfe oder Krähen zählen, ist gar nicht einmal die kritische Frage. Die stellt sich nämlich erst im Konfliktfall, wenn Interessen oder Rechte verschiedener Teile der Mit­ welt abzuwägen sind. Die kritische Frage lautet dann: Wie stark sind die Ansprüche eines Mitgeschöpfes im Vergleich zu denen eines anderen, und wer entscheidet dar­ über? Heute sind das weitgehend die Menschen in den entwickelten Ländern. Selbst bei rein anthropozentrischer Sicht sind Interessen verschiedener Bevölkerungsgrup­ pen abzuwägen. Inwieweit werden die Bewohner unterentwickelter Länder sowie zu­ künftige Generationen (Nachwelt) zur Mitwelt gezählt, wenn sich Wüsten weiter aus­ breiten oder der Meeresspiegel steigt? Die letzte Frage leitet über zu dem eng mit dem jeweiligen Bezugssubjekt ver­ knüpften Aspekt der Art und Ausdehnung der zu schützenden Umwelt. Für den Men­ schen kann grob zwischen der natürlichen und der künstlichen, d. h. von ihm selber geschaffenen (etwa technischen, sozialen oder wirtschaftlichen) Umwelt unterschie­ den werden. Bei Umweltschutz ist üblicherweise nur die Natur gemeint. Die Ausdeh­ nung des Schutzanspruchs kann sich dabei auf räumliche und zeitliche Dimensio­ nen beziehen. Eine räumliche Begrenzung hat in früheren Jahrzehnten zur Strategie der hohen Schornsteine geführt, so dass Schadstoffemissionen (z. B. SO2 ) in höhere Schichten der Atmosphäre gelangen und möglichst weit vom Entstehungsort wieder auf den Boden absinken (z. B. als saurer Regen). Der kostengünstige (unter Umstän­ den illegale) Export von Elektroschrott, Alttextilien und Schlachtabfällen nach Afrika an Stelle einer heimischen Entsorgung gehört ebenfalls dazu. Die zeitliche Ausdeh­

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nung des Schutzes ist relevant bei der Ausbeutung erschöpfbarer Rohstoffe und der Endlagerung radioaktiver Abfälle. Aber selbst wenn Bezugssubjekt, Art und Ausdehnung der zu schützenden Um­ welt bestimmt sind, bleibt noch die konkrete Zielsetzung der Schutzmaßnahmen of­ fen. Wenn darunter oft die Bewahrung der Natur verstanden wird, stellt sich die Frage, in welchem Zustand sie bewahrt werden soll. Geht es um die Erhaltung des Status quo oder gar um die Wiederherstellung früherer Naturzustände? Ist es nicht sogar natür­ lich, dass sich die Natur ständig verändert? Die Dinosaurier sind beispielsweise völlig ohne Zutun des Menschen ausgestorben. Betrachtet man den heute vorherrschenden Umweltschutz kritisch, so schützt der Mensch sich hauptsächlich vor sich selbst. Woll­ te man radikal die Natur vor menschengemachten Veränderungen schützen, so müss­ te man in letzter Konsequenz die Menschheit abschaffen. Zumindest seit die Mehrzahl der Menschen dem Status der Naturvölker entwachsen ist, und spätestens seit der In­ dustrialisierung, hat die Menschheit stets die Natur verändert, heute sogar so stark, dass man schon vom Anthropozän spricht, welches das – nach der letzten Kaltzeit mit der neolithischen Revolution begonnene – Holozän ablöst. Umweltschutz kann somit nie absoluten Schutz, sondern auch bei nachhaltigem Wirtschaften immer nur relati­ ve, näher einzugrenzende Schonung der Natur bedeuten. Auch bei dem 1987 von den Vereinten Nationen vorgestellten Konzept einer nach­ haltigen Entwicklung wird ein anthropozentrischer Standpunkt verfolgt, wenn sie als eine Entwicklung definiert wird, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation ent­ spricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen“ (World Commission on Environment and Development 1987, S. XV). Es geht damit um intra- und intergene­ rationale Gerechtigkeit und so um schwierige Interessenabwägungen, die nicht allge­ mein zu lösen sind. Ersatzweise sind unterschiedliche Konzepte, Prinzipien, Strategi­ en und Regeln für ein ökologisch nachhaltiges Verhalten formuliert worden: – Ökologische Systeme sind gesund zu erhalten, insbesondere indem ihre Aufnah­ mefähigkeit für Emissionen beachtet wird. Natürliche Ressourcen sind ausge­ wogen zu nutzen, erneuerbare im Rahmen ihrer natürlichen Regenerationsrate, nicht erneuerbare höchstens insoweit, wie sie in vertretbarem Maß substituier­ bar sind. Abhängig von dem Ausmaß der angenommenen Substituierbarkeit der Natur durch künstliches Kapital unterscheidet man die schwache von der starken Nachhaltigkeit (vgl. Neumayer 2013). – Umweltschonung kann durch eine genügsamere Lebensweise erreicht werden (Suffizienz), durch Vermeidung unnötiger Verschwendung (Effizienz) oder durch den Einklang mit der Natur (Konsistenz). Ressourceneffiziente Produkte sehen sich allerdings dem Rebound-Effekt ausgesetzt, wenn von ihnen wegen geringerer Stückkosten mehr produziert und genutzt werden, so dass die Umweltbelastung in der Summe sogar steigt. Konsistenz als Harmonisierung von Wirtschaft und Natur verlangt ökologisch verträgliche Produkt- und Prozessinnovationen, stößt aber auf dem Planeten Erde letztlich auch an „Grenzen des Wachstums“, wie zu Beginn dieses Beitrags angedeutet.

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Alle Akteure haben Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen (Produktverant­ wortung) und mit anderen zwecks Realisierung umweltverträglicher Strategien zusammenzuarbeiten (Kooperationsprinzip), vor allem zur Schließung von Stoff­ kreisläufen (Kreislaufprinzip). Dabei sollen Bedürfnisse möglichst immateriell be­ friedigt werden, etwa indem Gebrauchsgüter an die Nutzer nicht verkauft, son­ dern vermietet werden oder an Stelle der Sach- unmittelbar eine Dienstleistung erbracht wird (Funktionsprinzip; z. B. Verkauf von Mobilität statt Autos oder von Reinigungsleistungen statt -geräten). Entstofflichung, Energieeffizienzsteigerung, Entflechtung und Entschleunigung sind weitere Konzepte, die sich teilweise mit den zuvor genannten überschneiden.

In einem aktuellen Überblick über die (englischsprachige) Forschung der letzten 50 Jahre zur Schnittstelle von Produktionsmanagement und ökologischer Nachhaltig­ keit, konzentriert auf Publikationen im International Journal of Production Research, identifizieren Sarkis und Zhu (2017) eine Liste potentieller Produkt- und Prozessinno­ vationen (welche für die deutschsprachige Literatur nicht so neu sind) „that might re­ sult in a sustainable production future“. Sie kommen zu dem Schluss: „The road less travelled up to this time has been a path . . . focusing on integrating environmental sustainability into production research. This road is becoming wider and more devel­ oped. For future generations in our world, this road must be taken more often“ (Sarkis/ Zhu 2014, S. 14).

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Philipp C. Sauer, Stefan Seuring, Valentin Sommer und Grit Walther

Nachhaltiges Supply Chain Management 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 3 4

Entstehung, Relevanz und Anwendungsfelder des Nachhaltigen Supply Chain Managements | 976 Strategisches Nachhaltiges Supply Chain Management | 978 Strategische Werte im Nachhaltigen Supply Chain Management | 979 Struktur einer nachhaltigen Supply Chain | 980 Integration von Unternehmensstrukturen | 981 Prozesse im Nachhaltigen Supply Chain Management | 981 Implementierung und Optimierung von Nachhaltigen Supply Chains | 984 Zukunft des Nachhaltigen Supply Chain Managements | 989 Literatur | 990

Zusammenfassung. Nachhaltiges Supply Chain Management verbindet das Manage­ ment von Wertschöpfungsketten und Netzwerken mit Zielen aus den drei Dimensio­ nen der Nachhaltigkeit, d. h. Ökologie, Soziales und Ökonomie. Durch diese Quer­ schnittsfunktion ermöglicht das Nachhaltige Supply Chain Management gleicherma­ ßen die Erfüllung der Anforderungen von Stakeholdern, Gesetzgebern und Kunden sowie die langfristige Sicherung des Erfolgs und der Widerstandsfähigkeit einer Sup­ ply Chain. Dieser Beitrag gibt Einblicke in die Entstehung und Relevanz der Thema­ tik sowie den Aufbau und die strategischen Komponenten einer nachhaltigen Supply Chain. Anschließend werden entlang des Lebenszyklus eines Produktes die Ansätze und Methoden zur Optimierung einer nachhaltigen Supply Chain aufgezeigt bevor ab­ schließend ein Ausblick auf zukünftige Herausforderungen gegeben wird.

1 Entstehung, Relevanz und Anwendungsfelder des Nachhaltigen Supply Chain Managements Die zunehmende Globalisierung der Weltwirtschaft im letzten Jahrhundert hat ver­ deutlicht, dass nicht länger einzelne Unternehmen miteinander konkurrieren, son­ dern vielmehr Supply Chains (SC) untereinander in Wettbewerb stehen (vgl. Seuring/ Gold 2013, S. 1). SCs „. . . bestehen aus drei oder mehr Einheiten (Unternehmen und Organisationen), die direkt in die vor- und rückwärts gerichteten Flüsse von Produk­ ten, Dienstleistungen, Finanzen und Informationen von der Quelle bis zum Kunden eingebunden sind“ (Mentzer et al. 2001, S. 3). Damit umfasst die SC den gesamten Wertschöpfungsprozess eines Produktes, wodurch ihr eine entscheidende Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit von Produkten und die damit verbundenen Firmen zu­ kommt. https://doi.org/10.1515/9783110473803-050

Nachhaltiges Supply Chain Management |

977

Diese Erkenntnis, dass erst ein Netzwerk von Unternehmen konkurrenzfähig sein kann, ist insbesondere mit Blick auf die sogenannte „Triple Bottom Line“ der Nachhal­ tigkeit (TBL), d. h. das Erreichen von ökologischen, ökonomischen und sozialen Min­ destanforderungen (vgl. Elkington 1997) essentiell. Die Einhaltung solcher Mindest­ anforderungen wird von den Stakeholdern eines Unternehmens oder einer SC aktiv eingefordert. Verletzungen dieser Forderungen können schwerwiegende Verkaufsein­ brüche und Strafen nach sich ziehen (vgl. Seuring/Müller 2008). Besonders wichtig ist dabei die Erkenntniss, dass die Konsumenten nicht zwischen den Mitgliedern der SC unterscheiden, wenn die TBL verletzt wird. Sie machen dafür das fokale Unternehmen verantwortlich, das die SC führt, ohne Rücksicht darauf welcher Akteur in der SC ih­ re Anforderungen verletzt. Diese sogenannte „chain liability“ (vgl. Hartmann/Moeller 2014, S. 281) des fokalen Unternehmens für seine globalen SCs und Wertschöpfungs­ netzwerke stellt eine Herausforderung im Management nachhaltiger SCs dar. Um die­ sen Effekt zu vermeiden, müssen die fokalen Unternehmen ihre SC mit Blick auf die TBL managen, denn „. . . companies are only as sustainable as the suppliers that com­ pose their supply chains . . . “ (Krause/Vachon/Klassen 2009, S. 21). Als Antwort auf die genannten Herausforderungen ist die Disziplin des „Nachhal­ tigen“ oder „Sustainable Supply Chain Management“ (SSCM) entstanden. Es umfasst die „Material-, Informations- und Kapitalflüsse, sowie die gegenseitige Kooperation der Unternehmen entlang der Supply Chain. Dabei sind Ziele aus allen drei Dimen­ sionen nachhaltiger Entwicklung (ökonomische, ökologische und soziale Dimensi­ on) zu verfolgen, welche aus Kunden- und Stakeholderanforderungen abgeleitet wer­ den. In nachhaltigen Supply Chains müssen ökologische und soziale Kriterien von den Mitgliedern eingehalten werden, um in der Kette zu verbleiben, während die Wettbe­ werbsfähigkeit durch die Erfüllung von Kundenbedürfnissen erhalten wird“ (Seuring/ Müller 2008, S. 1700). Hierbei besteht derzeit die Herausforderung, dass wesentliche Umweltwirkungen und soziale Implikationen außerhalb des direkten Einflussbereiches des fokalen Un­ ternehmens einer SC resultieren (vgl. Abbildung 1). Notwendig ist daher die Erfassung der Wirkungen entlang der gesamten SC unter Berücksichtigung aller Prozesse der Lieferkette, des Transports, der Energiebereitstellung, der Produktion, der Nutzung und der Entsorgung. Erst die hierdurch erzielte Transparenz erlaubt die Ableitung ge­ eigneter Minderungsmaßnahmen entlang der SC. Forderungen bezüglich der Bericht­ erstattung über Stoffströme (z. B. CO2 -Emissionen und Wasser) und Minderungsmaß­ nahmen entlang der SC werden beispielsweise durch das Carbon Disclosure Projekt erhoben (vgl. Nill et al. 2014; für konkrete Praxisbeispiele vgl. Kube et al. 2016). Um eine nachhaltige SC zu realisieren, haben sich mehrere Anwendungsfelder des SSCM etabliert. Ihnen gemeinsam ist bislang der Schwerpunkt auf ökologischökonomische Zusammenhänge (vgl. Seuring/Gold 2013). Die bis heute anhaltenden Herausforderungen in der Erfassung und Messung sozialer Nachhaltigkeit haben einen erheblichen Nachholbedarf in der Konzeptualisierung und Messung sozialer Nachhaltigkeit im Allgemeinen und in SCs im Besonderen entstehen lassen. Yawar

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Lieferkette

Transport

Energie

Standorte

Nutzung

Verwertung

Klima

Wasserverbrauch

Schadstoffe

Ressourcen

Sozialrisiken

Abb. 1: Sustainability Impact Scorecard (vgl. Systain Consulting 2013).

und Seuring (2017) weisen auf diese Herausforderungen hin und machen eine Reihe von Vorschlägen, wie diese addressiert werden können. Neben den Dimensionen der TBL, wird das SSCM zudem in die Anwendungsfel­ der des Strategischen SSCM einerseits sowie die Implementierung und Optimierung von nachhaltigen SCs andererseits unterteilt. Diese Anwendungsfelder werden in den folgenden Abschnitten näher beleuchtet, bevor abschließend anhand des Multi-tier SSCM ein Ausblick auf die zukünftigen Herausforderungen und Entwicklungen des SSCM gegeben wird.

2 Strategisches Nachhaltiges Supply Chain Management Das strategische SSCM im Sinne dieses Abschnitts umfasst Managementansätze zur Schaffung eines dauerhaften Wettbewerbsvorteils durch die Erfüllung von Kundenund Stakeholderanforderungen in den drei Dimensionen der TBL (vgl. Seuring/Müller 2008). Wie in Abbildung 2 dargestellt, beinhaltet das strategische SSCM einen vierstu­ figen Prozess zum Aufbau nachhaltiger SCs (vertikal-längliche Boxen in Abbildung 2) sowie zwei Managementaufgaben des fokalen Unternehmens zum Erhalt der Zu­ kunftsfähigkeit der SC (horizontal-längliche Box in Abbildung 2). Diese Aufgaben sowie der Prozess werden in den folgenden Abschnitten vorgestellt und miteinander in Verbindung gebracht.

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Managementaufgaben des fokalen Unternehmens einer nachhaltigen SC: • Abgleich mit und Ausrichtung auf staatliche Regulierung und Stakeholderanforderungen • Sicherstellung des ökonomischen Erfolges der SC-Partner und der SC insgesamt Definition strategischer Werte durch:

Aufbau einer SC-Struktur durch:

Integration von Unternehmensstrukturen durch:

• Kunden- und Stakeholderorientierung

• SC-Partner Auswahl

• Technologische Integration

• SC-Partner Entwicklung

• Logistische Integration

• Langfristige Beziehungen

• Vertiefte Kommunikation

• SCOrientierung • TBLOrientierung

• Gemeinsame Entwicklung

Umsetzung eines oder beider Prozessansätze: Risikomanagement • Anspruchsgruppen • Individuelles Monitoring • Standards und Zertifikate Proaktives Management • Lernen • Stakeholder Management • Innovation • Life Cycle Assessment

Abb. 2: Prozess zum Aufbau und Erhalt einer nachhaltigen SC im strategischen SSCM.

2.1 Strategische Werte im Nachhaltigen Supply Chain Management Um den Aufbau und Erhalt einer nachhaltigen SC zu realisieren, ist die Orientierung an drei strategischen Werten grundlegend (vgl. Beske/Seuring 2014; Mentzer et al. 2001; Seuring/Müller 2008). Diese umfassen insbesondere: 1. Kunden- und Stakeholderorientierung: Kunden und Stakeholder bestimmen maßgeblich den Rahmen für die Produktions- und Absatzbedingungen, dem die SC mit all ihren Akteuren, insbesondere aber dem Endprodukt unterliegt. Damit determinieren die Kunden und Stakeholder die zu erreichenden Nachhal­ tigkeitskennwerte und zugleich die dafür verfügbaren Ressourcen in Form von investiertem Kapital, Subventionen oder erzielbaren Preisen. 2. SC-Orientierung: Die SC stellt ein komplexes System dar, das auf die Erstellung eines Endproduktes oder einer vermarktbaren Leistung hinarbeitet. Um dieses optimal an den (Nachhaltigkeits-)Bedürfnissen der Kunden und Stake­ holder auszurichten, ist es essentiell die Ziele und Prozesse, aber auch Bedürfnis­ se der einzelnen SC-Partner miteinander abzugleichen und auf den gemeinsamen Erfolg auszurichten. Dabei sind in die Planung einer nachhaltigen SC neben den Unternehmen auch wichtige Stakeholder wie Non-governmental organizations (NGOs) (vgl. Pagell/Wu 2009) oder auch Regierungsorganisationen (vgl. Sauer/ Seuring 2017) einzubeziehen. Sie erweitern das Wissen der Unternehmen und bringen eine neue Perspektive in die SC, die hilft sich von der Konkurrenz abzu­ setzen und effizientere Prozesse aufzubauen.

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3.

Orientierung an der TBL: Innerhalb der SC gilt die Beachtung von Mindestzielen in allen drei Dimensionen der Nachhaltigkeit, um den gemeinsamen Anforderungen der SC-Partner, Kunden und Stakeholder gerecht zu werden.

Die genannten strategischen Werte bilden die Grundlage für eine erfolgreiche gemein­ same Ausrichtung des fokalen Unternehmens und seiner Zulieferer. Diese gemeinsa­ me Ausrichtung erstreckt sich sowohl auf die Ziele der Unternehmen (strategische Ausrichtung), als auch auf die Prozesse innerhalb der Unternehmen (operative Aus­ richtung; vgl. Seuring/Gold 2013). Um innerhalb der SC größtmögliche Effizienz zu er­ reichen, gilt es dabei die Strukturen und Prozesse zu harmonisieren, die über die Gren­ zen eines einzelnen Unternehmens der SC hinaus von Relevanz für die Erreichung der Kunden- und Stakeholderbedürfnisse sind. Auf diese Strukturen und Prozesse gehen die folgenden Abschnitte genauer ein.

2.2 Struktur einer nachhaltigen Supply Chain Aus strategischer Sicht zentral ist im SSCM die Erreichung einer größtmöglichen Kon­ tinuität der SC-Struktur, die die Effizienz der SC maßgeblich beeinflusst (vgl. Pagell/ Wu 2009). So ist es notwendig langfristige Beziehungen zwischen den Partnern in ei­ ner SC herzustellen. Diese beruhen auf persönlichen, aber auch institutionellen Kon­ takten zwischen den Unternehmen, die idealerweise von Vertrauen und kooperativem Miteinander geprägt sind. Diese langfristigen Beziehungen sind eine wichtige Voraus­ setzung für die gemeinsame Ausrichtung von Unternehmensprozessen zum Wohl der SC. Sollten keine langfristigen Beziehungen möglich sein, da sich Unternehmenskul­ turen, Handlungsweisen oder Vorstellungen von Zuverlässigkeit stark unterscheiden, so müssen im Rahmen einer SC-Partner-Auswahl gegebenenfalls neue und stabilere Beziehungen zu anderen Zulieferern aufgebaut werden (vgl. Beske/Seuring 2014). Da die (Nachhaltigkeits-)Leistung einer SC immer durch ihr schwächstes Glied limi­ tiertwird (vgl. Krause/Vachon/Klassen2009), giltesstetigeVerbesserungeninder Kette durchzuführen. Diese SC-Partner-Entwicklung zielt auf eine langfristige Steigerung der Unternehmensleistung und damit auf die Fähigkeiten und Ressourcen eines Zulieferers (vgl. Beske/Seuring 2014). In der praktischen Ausgestaltung kann die Entwicklung ver­ schiedenste Formen annehmen, die oft auch von den konkreten Nachhaltigkeitsher­ ausforderungen und Produktionscharakteristika abhängen. So werden häufig Schu­ lungen durchgeführt, die den Mitarbeitern Handlungsweisen aufzeigen, um den Kun­ den- und Stakeholderanforderungen gerecht zu werden. Diese Maßnahmen bieten sich vor allem in arbeitsintensiven Branchen an. Ein Beispiel dafür ist der Aufbau einer BioBaumwolle-SC durch den Versandhändler Otto Anfang der 2000er Jahre, in der neben Pestizideinsatz vor allem die Arbeitsbedingungen eine große Rolle spielen (vgl. Gold­ bach/Seuring/Bach 2003). Neben dieser wissens- und handlungsbasierten Entwick­ lung können aber auch Investitionen in verbesserte Maschinen, Abläufe, Arbeitsplatz­ bedingungen oder Filteranlagen getätigt werden, um die Umwelt- und Sozialleistungen

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der Zulieferer und damit der gesamten SC zu steigern. Solche Maßnahmen sind vor al­ lem in hochtechnisierten Produktionen von Vorteil, wie sie sich in der Automobil- oder Metallindustrie finden (vgl. Koplin/Seuring/Mesterham 2007; Sauer/Seuring 2017).

2.3 Integration von Unternehmensstrukturen Um die SC-Struktur und die SSCM-Prozesse miteinander zu verknüpfen, ist es vorteil­ haft die Strukturen der einzelnen SC-Partner zumindest teilweise zu integrieren. Insbesondere zwei Kernfunktionen innerhalb der SC bieten sich für eine solche Integration an. Zum einen gilt es eine technologische Integration von beispielswei­ se IT-Systemen umzusetzen. Zum anderen steht eine logistische Integration, die sich mit der Abstimmung von Transport- und Lagerabläufen befasst, im Fokus. Durch die­ se Integrationen werden die Material- und Informationsflüsse der SC-Partner verbun­ den und deren Effizienz durch den Abbau von Informationsbarrieren und Zeitverzöge­ rungen sowie den Aufbau von Synergien und Kooperationspotentialen gesteigert (vgl. Beske/Seuring 2014). Darüber hinaus fördern eine gemeinsame Entwicklung von Produkten und Pro­ zessen sowie eine vertiefte Kommunikation unter den Partnern die Weiterentwick­ lung der SC (vgl. Beske/Seuring 2014). Diese Maßnahmen werden oftmals durch re­ gelmäßige Treffen von unternehmensübergreifenden Projekt- und Entwicklungsteams umgesetzt, die die Stärken der beteiligten Unternehmen und Organisationen zum ge­ meinsamen Erfolg einsetzen. Dabei sind innerbetriebliche Widerstände gegen solche Integrationen zu berücksichtigen, da damit auch das Teilen sensibler Informationen einhergeht (vgl. Seuring/Gold 2013). Mit Blick auf die Nachhaltigkeit werden inter­ ne Informationen zu Produkten und Prozessen gerne zurückgehalten, da sie poten­ tielle Verletzungen von Kunden- und Stakeholderanforderungen aufdecken könnten, was schnell zu Negativkampagnen gegen die SC führen kann (vgl. Hartmann/Moeller 2014). Insbesondere bei der Einbeziehung vieler Partner und auch NGOs ist daher ein hohes Maß an Vertrauen notwendig, das oftmals erst in langjährigen Partnerschaften entsteht, die bereits als wichtiges Ziel in der Gestaltung der SC-Struktur angesprochen wurden. Um diese Strukturen mit Leben zu füllen, definiert das strategische SSCM ei­ ne Reihe von Prozessen, die im Folgenden beschrieben werden.

2.4 Prozesse im Nachhaltigen Supply Chain Management 2.4.1 Prozesse im Risikomanagement-Ansatz des Nachhaltigen Supply Chain Managements Auf der Prozessebene werden zwei Ansätze unterschieden. Erstens umfasst der Ri­ sikomanagement-Ansatz die Prozesse, die der Vermeidung negativer Einflüsse auf die SC dienen. Hierunter fallen vor allem die Beteiligung und das Management von

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Anspruchsgruppen, individuelles Monitoring von SC-Partnern und die Nutzung von Standards und Zertifikaten (vgl. Beske/Seuring 2014). In der praktischen Umsetzung dieser Strategie werden zumeist Mindestanfor­ derungen für die Umwelt- und Sozialdimension definiert, die die Zulieferer erfüllen sollen (vgl. Koplin/Seuring/Mesterham 2007). Wie bereits zuvor beschrieben, spie­ geln diese idealerweise die Erwartungen der Stakeholder wider, die das fokale Un­ ternehmen in seinen Beschaffungsprozessen umzusetzen versucht. Dazu können die Unternehmen entweder sogenannte Codes of Conduct definieren oder auf externe Standards und Zertifikate zurückgreifen. Zu diesem Zweck ist es zudem vorteilhaft die Kräfte verschiedener Käufer zu bündeln, was auch eine Reihe international täti­ ger (Handels-) Unternehmen z. B. in der Business Social Compliance Initiative getan haben. Diese Initiativen vereinheitlichen die Anforderungen für Zulieferer, um den Aufwand für Lieferanten und Käufer zu begrenzen. Durch solche Zertifizierungen und Codes of Conduct können Lieferanten bezüglich der Nachhaltigkeitsleistung bewertet und gelistet werden. Diese können dann, wie im Falle der sogenannten „Approved EcoSupplier“ in der Bio-Baumwolle-SC von Otto, bei Vergabe wichtiger Aufträge be­ vorzugt berücksichtigt werden (vgl. Goldbach/Seuring/Back 2003). Ein solches Vor­ gehen reduziert den Aufwand für eine nachhaltigkeitsorientierte Lieferantenauswahl sowohl auf Seiten des Käufers, der kontrollieren muss, als auch auf Seiten des Zulie­ ferers, der diese Kontrollen bereits nachweisen kann. Damit senken beide Seiten ihre Absatz- beziehungsweise Einkaufsrisiken, was zu Effizienzgewinnen in der SC führt. Im Kontrast dazu führt eine Verletzung der in den Zertifizierungen und Codes of Conduct genannten Sozial- und Umweltanforderungen im Extremfall zu einer Beendi­ gung der Beziehungen zum entsprechenden Lieferanten. Allerdings muss gleichzeitig eine alternative Versorgung aufgebaut werden, was die zuvor beschriebenen Aktivitä­ ten zur Etablierung langfristiger Beziehungen und gemeinsamer Strukturen mit dem Lieferanten ins Leere laufen lässt. Zudem kann es mit Blick auf eine nachhaltige Ent­ wicklung vorteilhaft sein, eine Verbesserung der Nachhaltigkeit vom Lieferanten ein­ zufordern, anstatt ihm Aufträge und damit mögliche Ressourcen zum Aufbau nachhal­ tigerer Prozesse und Strukturen zu entziehen (vgl. Koplin/Seuring/Mesterham 2007). Zusammenfassend kann der Risikomanagement-Ansatz, in dem die fokalen Un­ ternehmen auf eine Reduzierung von Nachhaltigkeitsrisiken zielen, als ein reaktiver oder passiver Ansatz bezeichnet werden.

2.4.2 Prozesse im proaktiven Management-Ansatz des Nachhaltigen Supply Chain Managements Der Ansatz des proaktiven Managements zielt auf die kontinuierliche Verbesserung der Nachhaltigkeitsleistung der SC. Diese wird insbesondere durch aktives Lernen un­ ter den SC-Partnern, aktives Stakeholder Management, Innovationen und Life Cycle Assessments realisiert (vgl. Beske/Seuring 2014).

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Wie in Abbildung 2 angesprochen, sind dabei die Nachhaltigkeitsansprüche der Endkunden und Stakeholder als zentrale Leitlinie zu beachten. Ein wichtiger Prozess ist hier das Life-Cycle-Assessment (LCA), um die Umwelteinwirkungen von Produkten über ihre gesamte Lebensdauer zu erfassen und daraus entsprechende Vorgaben für das Produktdesign in den einzelnen Stufen der SC zu entwickeln (vgl. Seuring/Müller 2008), was im folgenden Abschnitt weiter erläutert wird. Aufgrund dieser Verbindungen der Nachhaltigkeitsleistungen über den gesamten Produktlebenszyklus kommt der Implementierung gemeinsamer Strukturen und Pro­ zesse innerhalb der SC eine entscheidende Rolle zu, um Lernprozesse und Innovatio­ nen zu ermöglichen. Der Fokus liegt hier auf der Ausrichtung aller Glieder der SC an den strategischen Werten (vgl. Abbildung 2), was eine größere Stabilität, z. B. durch langfristige vertragliche Absicherungen, erfordert. Oft ist es diese Basis, die zunächst die Etablierung langfristiger Geschäftsbeziehungen und die mit steigender Lernkurve entstehenden Effizienzvorteile ermöglicht. Erst mit Erreichen dieser Vorteile zahlt sich eine umfassende Lieferantenentwicklung aus, ohne die häufig keine geeigneten Roh­ materialien und Produkte verfügbar sind (vgl. Goldbach/Seuring/Back 2003; Sauer/ Seuring 2017). Durch die sorgfältige Auswahl und Verbindung geeigneter Partner in­ nerhalb der SC können letztendlich nachhaltig produzierte Produkte zu einem wett­ bewerbsfähigen Preis auf den Markt gebracht und ein Wettbewerbsvorteil erarbeitet werden (vgl. Seuring/Müller 2008). Aufgrund einer möglichen Überforderung eines Zulieferers bei sofortigem Einsatz des proaktiven Ansatzes, kann auch eine Kombination der beiden Managementansät­ ze verwendet werden, wie sie im Folgenden dargestellt wird.

2.4.3 Integration der Ansätze des Risikomanagement und des proaktiven Managements Die beiden vorgestellten Ansätze stellen keine sich gegenseitig ausschließenden Al­ ternativen dar. Vielmehr können sie innerhalb der SC ergänzend eingesetzt werden (vgl. Seuring/Müller 2008). Wie bereits ausgeführt, sind Unternehmen, die auf um­ weltfreundliche Produkte abzielen, zu einem Management ihrer Zulieferer gezwun­ gen. Zu diesem Zweck werden verschiedene Planungsmodelle und -methoden einge­ setzt, die im folgenden Abschnitt erläutert werden. Im Grunde stellt der Aufbau einer risikomanagement-basierten Nachhaltigkeits­ strategie einen effizienten Weg zur Sicherstellung der Nachhaltigkeitsleistung dar. Al­ lerdings sind die zu erreichenden Fortschritte leicht von der Konkurrenz nachzuver­ folgen und zu imitieren, was den Beitrag zur Erreichung eines Wettbewerbsvorteils begrenzt. Ergänzend zu diesem aus dem Risikomanagement-Ansatz stammenden Vor­ gehen, kann ein individuell auf die SC angepasstes, proaktives Management nachhal­ tiger Produkte aufgebaut werden. Hierdurch kann sich die SC von ihren Konkurren­ ten stärker differenzieren, was eine bessere Marktposition fördert (vgl. Seuring/Müller 2008).

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3 Implementierung und Optimierung von Nachhaltigen Supply Chains Das SSCM umfasst Planungsaufgaben, die eine nachhaltige Wertschöpfung entlang der gesamten Wertschöpfungskette sicherstellen sollen. Hierbei sind die Planungs­ probleme der einzelnen Wertschöpfungsstufen einer SC beziehungsweise der Le­ benszyklusphasen eines Produkts (a. Produktdesign, b. Beschaffung, c. Produktion, d. Distribution, e. Nutzung sowie f. Verwertung) hoch komplex, wobei sowohl die Interdependenzen entlang der Wertschöpfungskette als auch die ökologischen, öko­ nomischen und sozialen Folgen einer Entscheidung zu berücksichtigen sind. Modelle und Methoden des Operations Management (OM) können helfen, komplexe Entschei­ dungen in nachhaltigen SCs optimiert zu treffen. In den folgenden Absätzen werden die Relevanz und die Entwicklung von Methoden des OM für die einzelnen Teilberei­ che einer SC aufgeführt. a) Produktdesign: Im Rahmen der Produktentwicklung bestehen die größten Ein­ flussmöglichkeiten auf die Wert- und Stoffströme aller Produktlebenszyklusphasen (vgl. Europäisches Parlament und Rat 2005; Spengler/Schröter 2001). In diesem Sin­ ne fordert die Integrierte Produktpolitik (IPP) die Verringerung von Umweltwirkun­ gen über den gesamten Lebenszyklus (vgl. Europäische Kommission 2001). Aufbau­ end auf dem Verursacherprinzip wird hierbei dem Hersteller die Verantwortung für die mit den Lebenszyklusphasen (Rohstoffherstellung, Produktion, Nutzung, Entsor­ gung/Verwertung) verbundenen (Umwelt-)Wirkungen zugeschrieben, auch wenn die­ se außerhalb des eigenen Unternehmens liegen (vgl. Europäische Kommission 2003). Wesentliche Voraussetzung für die Übernahme einer derart umfassenden Produktver­ antwortung ist eine ex ante Analyse der (Umwelt-)Wirkungen und der entsprechenden Maßnahmen zur Minderung dieser Wirkungen über den Produktlebenszyklus. Hier­ bei gilt es insbesondere Interdependenzen zwischen den Lebenszyklusphasen (z. B. Mehraufwendungen in der Produktion versus Minderungen während der Nutzung) sowie die transmediale Verlagerung von Umweltwirkungen zu vermeiden (vgl. Abbil­ dung 3). Während im Rahmen des LCA eine eher deskriptive Erfassung und Bewertung aller Umweltwirkungen über den gesamten Lebenszyklus eines Produktes (vgl. Deut­ sches Institut für Normung 2006a; Deutsches Institut für Normung 2006b; Deutsches Institut für Normung 2011) erfolgt, ermöglichen integrierte Methoden die Nutzung von Daten des Computer Aided Design (CAD) bei der Erstellung des Inventars der Ökobilanz. Dies bietet Vorteile bei der Entwicklung neuer Produkte, für die entschei­ dungsrelevante Informationen bezüglich der Stoffströme und Umweltwirkungen noch nicht vorliegen, und erlaubt die Ermittlung der Konsequenzen von Designentschei­ dungen (vgl. Gaha/Benamara/Yannou 2011; Marosky 2007). Ansätze des Design for X (X={Disassembly; Remanufacturing; Recovery and Material Recycling; Energy Ef­ ficiency}) zielen auf die Optimierung des Produktes in Hinblick auf ausgewählte

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Umweltwirkungen A 4 3 7 2



6

1 5

0

Nutzung

V

Zusätzlicher Nutzen/ Zusätzliche Kosten

Herstellung und Recycling primärer Produktionsgüter : 1 = Rohstoffförderung; 2 = Nachbereitung; 3 = Umformung; 4 = Verarbeitung; 5 = Sammlung und Abholung; 6 = Demontage/Trennung ; 7 = Wiederverarbeitung Abb. 3: Umweltwirkungen im Lebenszyklus (vgl. Clift/Wright 2000).

Lebenszyklusphasen ab (vgl. Rossi/Germani/Zamagni 2016). Weitere Ansätze wie Checklisten, Diagramm-Tools, Leitfäden oder Managementansätze verfolgen einen eher qualitativen beziehungsweise semi-quantitativen Ansatz (vgl. Rossi/Germani/ Zamagni 2016). Hier ergibt sich eine wichtige Schnittstelle zum Design der SC. Diese Auswahl der SC-Partner erstreckt sich insbesondere auch auf Rohstoffproduzenten, da nachhaltig produzierte Rohstoffe oftmals die Ausnahme darstellen (vgl. Goldbach/Seuring/Back 2003; Sauer/Seuring 2017). Rohstoffe werden, als sogenannte Commodities, in kon­ ventionellen SCs ausschließlich aufgrund von Preisen, Qualitätsstufen und Verfüg­ barkeiten beschafft und die Regulierung ihrer Produktionsbedingungen den Markt­ kräften überlassen. Da dies in der Regel ausschließlich preisgetrieben erfolgt, müssen die Marktkräfte im SSCM durch ein aktives Management des fokalen Unternehmens er­ setzt oder zumindest ergänzt werden (vgl. Beske/Seuring 2014), was den Einsatz der vorgenannten operativen Modelle erfordert. b) Beschaffung: Der Nachhaltigkeit entlang der Lieferkette und somit der Bewer­ tung und Auswahl der Lieferanten kommt eine wesentliche Bedeutung zu. Aufgrund der Komplexität globaler Lieferketten ist jedoch bereits die Erfassung der Umwelt- und Sozialwirkungen bei den Lieferanten mit großen Herausforderungen verbunden. Ei­ nen ersten Schritt stellen hierbei globale Standards dar. Hierbei werden durch Kun­ den und Investoren zunehmend Forderungen nach einer Berichterstattung entlang der Lieferkette erhoben, z. B. entsprechend der Leitfäden der Global Reporting Initia­

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tive (2017) sowie der Berichterstattung entsprechend des Carbon Disclosure Projects (vgl. Delay 2017). Im Rahmen des Lieferantenmanagements erfolgen die Auswahl nachhaltig agie­ render Zulieferer, die Entwicklung der Lieferanten sowie die Zusammenarbeit im Rah­ men von Lieferanten-Abnehmer-Beziehungen (vgl. Koplin/Seuring/Mesterham 2007; Matthyssens/Faes 2013) unter Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer und so­ zialer Kriterien. Als Entscheidungskriterien werden beispielsweise die Existenz und die Qualität des Umweltmanagementsystems, die Bereitschaft zur Übernahme von Umweltverantwortung, die Minderung von Emissionen oder als Mindestziel die Erfül­ lung rechtlicher Rahmenbedingungen genannt (vgl. Govindan et al. 2015). Aufgrund der Vielzahl an Kriterien werden in der Literatur für die Lieferantenwahl Methoden der multikriteriellen Entscheidungsfindung vorgeschlagen (vgl. Govindan et al. 2015), beispielsweise der Analytische Hierarchieprozess (AHP), der Analytische Netzwerk­ prozess (ANP), Ansätze der mathematischen Mehrzielprogrammierung, Ansätze der Fuzzy-Entscheidungsfindung (vgl. Humpfreys et al. 2006; Zhang/Li/Merchant 2013) oder der Effizienzanalyse (vgl. Kumar/Jain 2010). Auch hier werden verstärkt integrier­ te Ansätze entwickelt, z. B. als Kombination von AHP und Data Envelopment Analysis oder Fuzzy Sets (vgl. Govindan et al. 2015). c) Produktion: Für die internen Produktionsprozesse liegen häufig detaillierte In­ formationen bezüglich der umweltrelevanten Stoff- und Energieströme vor, z. B. aus den Umwelt- (vgl. Deutsches Institut für Normung 2004) und Energiemanagement­ systemen (vgl. Deutsches Institut für Normung 2011) sowie über die Berichterstattung an das Carbon Disclosure Project (vgl. Simpson 2017), auf deren Basis konkrete Min­ derungsmaßnahmen erarbeitet und umgesetzt werden können. Im Rahmen einer en­ ergie- und ressourcenoptimalen Produktion bestehen Ansatzpunkte vom einzelnen Prozess bis hin zum gesamten Produktionsstandort. Konkrete Maßnahmen stellen bei­ spielsweise die Verbesserung der Energieeffizienz einzelner Anlagen, die optimale An­ lagenauslastung, die Optimierung einzelner Prozessparameter, die interne Nutzung beziehungsweise Rückführung von Energie- und Stoffströmen, in einem optimalen Energiemanagement sowie die Layoutplanung dar (vgl. Duflou et al. 2012). Im Rahmen der strategischen Gestaltung des Produktionsnetzwerks sind die Interdependenzen zu den vor- und nachgelagerten Wertschöpfungsstufen sowie ver­ schiedene Zielsetzungen (ökonomisch, ökologisch, sozial) zu berücksichtigen. Hier finden Ansätze der multikriteriellen beziehungsweise Pareto-effizienten Netzwerkge­ staltung Einsatz (vgl. z. B. Mallidis/Dekker/Vlachos 2010; Wang/Lai/Shi 2011). Her­ ausforderungen bestehen vor allem bei der Implementierung neuer (alternativer) Technologien, die häufig mit hohen Investitionen und großen Planungsunsicher­ heiten verbunden sind. Dies wurde mit Blick auf die Rohstoffbeschaffung, z. B. von Mineralien, bereits angesprochen (vgl. Sauer/Seuring 2017). Des Weiteren finden Planungsansätze zur robusten Gestaltung von Produktionsnetzwerken unter Berück­ sichtigung der Risikoeinstellungen der Entscheidungsträger Anwendung (vgl. z. B. Hombach/Büsing/Walther 2017; Walther/Schatka/Spengler 2012).

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d) Distribution: Trotz hoher Umweltwirkungen (vgl. European Environment Agen­ cy 2013) und ambitionierter Minderungsziele (vgl. European Commission 2014a) ist der Logistiksektor der einzige Sektor, der nach wie vor steigende Emissionen verzeich­ net (vgl. European Commission 2014b, European Union 2016). Ursachen sind hier zu­ nehmende Transportvolumina sowie eine nach wie vor geringe durchschnittliche Aus­ lastung und ein hoher Anteil von Leerfahrten (vgl. Cruijssen 2013). Die Steigerung der Nachhaltigkeit von Logistikprozessen ist daher von hoher Bedeutung. Ansatzpunkte (vgl. Blanco/Sheffi 2017) hierfür bestehen beispielsweise in – der Reduktion der absolut zurückgelegten Entfernungen durch verbessertes Netz­ werkdesign, Ansätze der lokalen Beschaffung sowie ein verbessertes Routing der Fahrzeuge, – der Umsetzung des Modal Shift durch die Planung intermodaler Terminals, die Be­ rücksichtigung von intermodalen Transportoptionen im Rahmen des Netzwerk­ designs sowie eine stärkere Gewichtung nachhaltiger Transportmodi, – der Implementierung und Nutzung nachhaltiger Technologien, z. B. in Form der Elektrisierung logistischer Flotten oder der Nutzung von Kraftstoffen auf Basis er­ neuerbarer Energieträger (Biokraftstoffe, Power-to-Liquid-Kraftstoffe), – der Optimierung der Auslastung der Fahrzeuge durch Verpackungsoptimierung oder den Einsatz von Planungsansätzen aus dem Operations Research und – der Erreichung von operationaler Exzellenz durch Anreize und Ausbildung der Fahrer und Planer. Vielversprechende Planungsansätze bestehen in der Erhöhung der Transporteffizienz durch Vehicle Routing konventioneller und alternativer Fahrzeuge (für einen Über­ blick über derartige Verfahren siehe Toth/Vigo 2002). Neuere Ansätze verfolgen auch hier das Ziel der integrierten Lösung interdependenter Planungsprobleme, zum Bei­ spiel in Form von Ansätzen des Inventory Routing sowie des Location Routing für elek­ trisierte (LKW-) Flotten (vgl. Schiffer/Walther 2017; Schiffer/Schneider/Laporte 2017; Schiffer/Stütz/Walther 2017). e) Nutzung: Im Rahmen der Integrierten Produktpolitik sind Hersteller auch für die Umweltwirkung ihrer Produkte während der Nutzungsphase verantwortlich. Die Vorteilhaftigkeit potentieller Minderungsmaßnahmen hängt hierbei davon ab, in wel­ cher Lebenszyklusphase die wesentlichen Umweltwirkungen entstehen (vgl. Quari­ guasi Frota Neto et al. 2010). Eine Steigerung der Öko- beziehungsweise Energieeffi­ zienz (z. B. durch das EU-Energielabel nach EU-Richtlinie 2010/30/EU) ist vor allem für Produkte mit hohen Umweltwirkungen in der Nutzungsphase (z. B. Kühlschrank, Waschmaschine, PKW) sinnvoll. Im Gegensatz dazu sollte bei Geräten mit hohen Um­ weltwirkungen in der Phase der Produktion die Herstellung neuer Geräte weitgehend reduziert werden. Hierbei sind neben Ansätzen zur Verlängerung der Lebensdauer im Rahmen des Closed Loop Supply Chain Managements (siehe unten) neue Ansät­ ze zur Nutzungsintensivierung im Sinne einer „Sharing Economy“ vielversprechend (vgl. Theurl et al. 2015).

Open Loop, Verbleib im allgemeinen Wirtschaftskreislauf

Demontage

Sammlung und Test

Reverse Supply Chain

Nutzung Reparatur

Produkte

ReUse

Refurbishing

Montage

Remanufacturing

Bauteile/ Baugruppen

Komponentengewinnung

Produktion

Stoffliche Verwertung

Wertstoffe/ Energie

Energetische Verwertung

Beseitigung

Rohmaterialgewinnung

Forward Supply Chain

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Closed Loop, Verbleib in der selben Supply Chain

Abb. 4: Überblick über Verwendungs- und Verwertungsoptionen im Lebenszyklus (vgl. Walther 2010).

Der Ansatz der Sharing Economy beruht auf einem kollaborativen Konsum durch gemeinsame Nutzung unterausgelasteter Ressourcen (z. B. in Form von Räumen, Fä­ higkeiten oder Produkten; vgl. Botsman/Rogers 2010). Notwendig sind hierfür neue Geschäftsmodelle, die in der Regel an die Verfügbarkeit von Informationen über das Internet und an neue Kommunikationstechnologien gekoppelt sind (vgl. Cohen/ Kietzmann 2014; Hawlitschek/Teubner/Gimpel 2016). Beispiele finden sich im Be­ reich der Shared Mobility mit Ansätzen zum Carsharing (B2B, B2C) oder zum Rideund Bikesharing (vgl. Cohen/Kietzmann 2014). Für klassische Automobilhersteller besteht derzeit die Herausforderung in der Transformation vom Produkthersteller zum Anbieter von Mobilitätsdienstleistungen. Das Nachhaltigkeitspotential derarti­ ger Ansätze sowie die Bewertung geeigneter Geschäftsmodelle beruht in der Regel auf Simulationsansätzen (vgl. z. B. Firnkorn/Müller 2011; Lombardi/Schwabe 2017). f) Verwertung: Die Verlängerung der Nutzungsdauer von Produkten beziehungs­ weise von Komponenten ermöglicht die Erhaltung der während der Produktion ein­ gesetzten Wertschöpfung und Energie. Der mit der Herstellung neuer Produkte ver­ bundene ökonomische und ökologische Aufwand kann somit vermieden werden (vgl. Walther 2010). Konkrete Optionen stellen die Wiederverwendung (Re-Use), die Re­ paratur, die Aufarbeitung zum Gebrauchtgerät (Refurbishing) beziehungsweise auf den Stand eines Neugerätes (Remanufacturing) oder die Komponentengewinnung dar (vgl. Abbildung 4). Treiber für die genannten Optionen können sowohl ökonomisch als auch recht­ lich, ökologisch oder sozial bedingt sein. Das Schließen von ursprünglich vorwärts ge­ richteten (offenen) SCs resultiert in sogenannten Closed Loop Supply Chains (CLSC), welche alle vorwärts und rückwärts gerichteten Material-, Informations- und Finanz­ ströme beinhalten (vgl. Fleischmann 2001; Guide/Harrison/Wassenhove 2003). Mit der Umsetzung der genannten Ansätze geht eine deutliche Erhöhung der Kom­ plexität der Planungsprobleme und der Akteursbeziehungen einher. Entsprechend kommen für die Gestaltung und Lenkung von CLSCs Methoden der mathematischen

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Optimierung zum Einsatz, beispielsweise im Rahmen der Planung von Recyclingnetz­ werken für Elektronikgeräte (vgl. Walther 2005), für Altfahrzeuge (vgl. van Burik 1998) oder für die Aufarbeitung von medizinischen Geräten (vgl. Schröter 2005). Im Rahmen der operativen Lenkung finden vor allem Ansätze des Inventory Management unter Berücksichtigung der durch den Rücklauf an Geräten induzierten Unsicherheiten An­ wendung (vgl. Fleischmann/Minner 2004; Inderfurth 2005).

4 Zukunft des Nachhaltigen Supply Chain Managements Die zuvor beschriebenen Herausforderungen für das SSCM wurden bislang überwie­ gend auf dyadischem Level, d. h. zwischen einem Käufer und einem Zulieferer, be­ trachtet. Allerdings ergibt sich ein Großteil der Herausforderungen, aber auch der Po­ tentiale des SSCM, aus dem Zusammenspiel der SC-Partner vom Rohstoff bis zum End­ produkt. Daher verschiebt sich der Fokus des SSCM zunehmend auf die Betrachtung von Ketten aus drei oder mehr Akteuren, den sogenannten Multi-tier SCs (vgl. Tachiza­ wa/Wong 2014). Allerdings sind Untersuchungen und Modellierungen von mehrstu­ figen SCs um ein vielfaches aufwändiger und bedingen den Aufbau erster dyadischer Verbindungen. Aktuelle Studien zeigen, dass die Einbeziehung mehrerer Akteure, insbesondere Rohstofflieferanten, sowohl auf strategischer als auch operativer Ebene großes Poten­ tial für die Steigerung der Nachhaltigkeitsleistung bietet (vgl. Sauer/Seuring 2017; Seu­ ring/Gold 2013; Tachizawa/Wong 2014). Diese Potentiale entstehen aus den oftmals stark verschiedenen Kontexten über die sich SCs erstrecken. So finden sich in der SC von Smartphones und anderen Elektronikprodukten beispielsweise Rohstoffe aus den Konfliktregionen der Demokratischen Republik Kongo, die dort unter katastrophalen sozialen und ökologischen Bedingungen gefördert werden (vgl. Hofmann/Schleper/ Blome 2015). Diese Minen bleiben in der SC oft unbekannt, da sich zwischen dem fo­ kalen Unternehmen und ihnen viele weitere Verarbeitungsstufen befinden. Dennoch bleiben die Endprodukte mit dem Konflikt verbunden und tragen zu seiner Finanzie­ rung bei, was bereits den Gesetzgeber in den USA und der EU aber auch viele Stake­ holder und Endkunden sensibilisiert hat (vgl. Hofmann/Schleper/Blome 2015; Sauer/ Seuring 2017). Generell schwinden sowohl das Wissen über als auch der Einfluss auf den Zuliefe­ rer mit jeder SC-Stufe, die zwischen einem Zulieferer und dem fokalen Unternehmen liegt sowie geografischen und kulturellen Unterschieden zwischen den Partnern (vgl. Tachizawa/Wong 2014). Diese hemmenden Faktoren, die in konventionellen, kosten­ optimierten und damit stark globalisierten SCs stark ausgeprägt sind, stellen eine gro­ ße Herausforderung für das SSCM dar. Insbesondere die Erwartung der Kunden ein stark nachhaltigeres aber nur moderat teureres Endprodukt kaufen zu wollen ist zu

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beachten. Diese Herausforderungen werden bislang meist nur von Nischenanbietern überwunden, die sich einzelnen Nachhaltigkeitsproblemen annehmen und maßge­ schneiderte SCs aufbauen, während sich bei Massenrohstoffen und -produkten noch wenige Beispiele für nachhaltige Multi-tier SCs finden (vgl. Sauer/Seuring 2017). Aus­ nahmen stellen die schon beschriebene Bio-Baumwolle-SC aber auch Bio-Lebensmit­ tel-SCs dar, die sich inzwischen flächendeckend im Einzelhandel finden. Insbesondere mit Blick auf die weltweit steigende Vernetzung der SC-Partner aber auch der damit verbundenen Risiken, ist eine ständige Ausweitung des Betrachtungs­ rahmens des SSCM angebracht. Diese Ausweitung wird essentiell sein, um die kom­ menden, komplexen Herausforderungen für die soziale und ökologische Wirkung von SCs und deren Management adäquat zu adressieren.

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Thomas S. Spengler und Kerstin Schmidt

Kreislaufwirtschaft und Recycling 1 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2 3.3 4 4.1 4.2 4.3

Einleitung | 994 Grundlagen, Rahmenbedingungen und Planungsaufgaben | 996 Begriffe und Definitionen | 996 Abfallrechtliche Rahmenbedingungen des Recyclings | 999 Produktionswirtschaftliche Planungsaufgaben des Recyclings | 1001 Operative Demontage- und Recyclingplanung | 1004 Demontage- und Recyclingplanung | 1004 Aktivitätsanalytische Modellierung der Demontage | 1005 Integrierte Demontage- und Recyclingplanung | 1007 Demontage und Recycling von Lithium-Ionen-Batterien | 1010 Motivation | 1010 Der LithoRec-Prozess | 1012 Modellierung von Demontage- und Recycling zur Technologie- und Kapazitätsplanung | 1013 Literatur | 1016

Zusammenfassung. Das Ziel der Kreislaufwirtschaft besteht darin, der Natur entnom­ mene Ressourcen durch Recycling, d. h. durch mehrmalige Nutzung von Stoffen, Ma­ terialien, Komponenten und Produkten so lange als möglich im Wirtschaftskreislauf zu halten. Damit haben die Kreislaufwirtschaft und das Recycling einen wesentlichen Anteil an einer nachhaltigen Wirtschaftsweise. In diesem Beitrag werden neben den Grundlagen und den abfallrechtlichen Rahmenbedingungen die produktionswirt­ schaftlichen Planungsaufgaben des Recyclings erarbeitet. Für die operative Demon­ tage- und Recyclingplanung, wird ein aktivitätsanalytischer Modellierungsansatz vorgestellt und anhand eines Fallbeispiels zur Technologie- und Kapazitätsplanung eines zukünftigen Recyclings von Lithium-Ionen-Traktionsbatterien aus Elektrofahr­ zeugen exemplarisch veranschaulicht.

1 Einleitung Die Kreislaufwirtschaft, als Gegenentwurf zu einer Quellen-Senken-Wirtschaft, leistet einen wesentlichen Beitrag zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise in Deutschland. Vor dem Hintergrund knapper werdender Ressourcen und einem kontinuierlichen An­ stieg anthropogener Emissionen in die Umweltmedien Luft, Wasser und Boden kommt der Kreislaufwirtschaft eine hohe Bedeutung im Umgang mit diesen Herausforderun­ gen zu. Das Ziel der Kreislaufwirtschaft besteht im Recycling, d. h. in der mehrmaligen Nutzung von Stoffen, Materialien, Komponenten und Produkten. Recycling führt da­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-051

Kreislaufwirtschaft und Recycling

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mit zu einer Reduktion des Abbaus natürlicher Ressourcen sowie zu einer Senkung des Abfallaufkommens und erhöht somit die ökologische Ressourceneffizienz (vgl. BMUB 2017a; Steinborn 2011, S. 8; Walther 2010, S. 1). Aus ökologischer Sicht trägt die Kreislaufwirtschaft zu einer Vermeidung uner­ wünschter Umweltwirkungen bei. Neben der stofflichen und energetischen Verwer­ tung liegen wesentliche ökologische und ökonomische Potenziale des Produktrecy­ clings in der funktionellen Aufarbeitung ganzer Produkte beziehungsweise ihrer Kom­ ponenten. Die Rücknahme von Altprodukten nach Ende der ersten Nutzungsphase, ihre Aufarbeitung und anschließende Zuführung einer zweiten Nutzungsphase er­ möglicht die Substitution neuer Produkte und Komponenten. Somit wird der mit der Herstellung neuer Produkte und Komponenten verbundene ökonomische und ökolo­ gische Aufwand vermieden oder zumindest reduziert. Darüber hinaus geht eine Ver­ längerung der Nutzungsdauer mit einer Vermeidung von Abfällen einher, da über die Zeit weniger Produkte hergestellt werden. Durch das Produktrecycling selbst können jedoch auch unerwünschte Umweltwirkungen verursacht werden. Im Vergleich zur Neuproduktion ist dieses dennoch als ökologisch vorteilhaft anzusehen (vgl. Brüning et al. 2010, S. 205; Hansen 1999, S. 120–125; Steinborn 2011, S. 10; Walther 2010, S. 189 f.). Aus ökonomischer Sicht können durch die Kreislaufführung von Produkten Auf­ wendungen für die Ressourcen Arbeit, Rohstoffe bzw. Material und Energie vermieden werden. Während beim Materialrecycling (werkstoffliches oder rohstoffliches Recy­ cling) insbesondere der Materialwert erhalten bleibt, ermöglicht das Produktrecycling darüber hinaus den Erhalt der Wertschöpfung, welche im Rahmen der Herstellung des originären Produktes aufgewendet wurde. Den dadurch erzielbaren Kosteneinsparun­ gen stehen jedoch Aufwendungen für das Produktrecycling gegenüber. Diese Aufwen­ dungen müssen zur Aufweisung eines ökonomischen Potenzials deutlich unter denen einer Neuproduktion liegen. Dies ist insbesondere darin begründet, dass am Markt für recycelte Produkte deutlich geringere Preise als für Neuprodukte erzielt werden kön­ nen. Werden beim Materialrecycling die Aufwendungen in der Regel nicht durch die Verkaufserlöse der Materialien gedeckt, so lassen sich im Gegensatz dazu die Aufwen­ dungen des Produktrecyclings im Normalfall durch die am Markt erzielbaren Preise decken (vgl. Schlögl 1995, S. 56 f.; Steinborn 2011, S. 10 f.). Der vorliegende Beitrag gibt im nachfolgenden Abschnitt 2 zunächst einen Über­ blick über die Grundlagen, rechtlichen Rahmenbedingungen und Planungsaufgaben der Kreislaufwirtschaft und des Recyclings. Darauf aufbauend wird in Abschnitt 3 auf die operative Demontage- und Recyclingplanung, eingegangen, die aus produktions­ wirtschaftlicher Perspektive zu den Kernaufgaben der Kreislaufwirtschaft zählt. Die zugehörigen Planungsaufgaben werden beschrieben und ein aktivitätsanalytischer Modellierungsansatz von Demontage und Recyclingprozessen vorgestellt. Darauf auf­ bauend wird ein mathematisches Optimierungsmodell zur integrierten Demontageund Recyclingplanung formuliert. Auf Basis eines Fallbeispiels zum Recycling von Li­ thium-Ionen-Traktionsbatterien aus Elektrofahrzeugen wird in Abschnitt 4 die aktivi­ tätsanalytische Modellierung von Demontage- und Recyclingprozessen exemplarisch veranschaulicht und konkretisiert.

996 | Thomas S. Spengler und Kerstin Schmidt

2 Grundlagen, Rahmenbedingungen und Planungsaufgaben 2.1 Begriffe und Definitionen Mit der Schließung von Stoffkreisläufen, das heißt der Rücknahme und Rückführung sowie der Behandlung von (Alt-) Produkten, entstehen erweiterte Wertschöpfungsket­ ten, die neben den Akteuren, die an der Herstellung und dem Absatz von Produk­ ten beteiligt sind, auch die Akteure einschließen, die an den zusätzlichen Prozessen der Rückführung eines Produkts nach seinem Gebrauch in den Kreislauf mitwirken. Diese erweiterten Wertschöpfungsketten werden in Abhängigkeit davon, ob die (Alt-) Produkte als Input für die ursprüngliche oder für eine andere Wertschöpfungskette verwendet werden, als Closed- beziehungsweise Open-Loop Supply Chains bezeichnet (vgl. Schröter 2006, S. 7 ff.). Wird nur der rückwärtsgerichtete Teil einer Closed-/Open-Loop Supply Chain be­ trachtet, so spricht man bei deren Management von Reverse Logistics (vgl. Schmid 2009, S. 10). Das Reverse Logistics umfasst alle Aktivitäten, die von der Erfassung der (Alt-) Produkte beim Anwender bis zur erneuten Marktdistribution (Wiederverwen­ dung) oder Entsorgung (stoffliche/energetische Verwertung oder Beseitigung) erfor­ derlich sind (vgl. Fleischmann et al. 1997, S. 2). Diese Aktivitäten haben zum Ziel, die (Alt-) Produkte oder die daraus gewonnenen Materialien einer erneuten Verwendung (Produktrecycling) oder auch Verwertung (Materialrecycling) zuzuführen, und sind wie folgt definiert. Abbildung 1 gibt einen Überblick über diese Aktivitäten. – Die Erfassung schließt die Aktivitäten der Sammlung, Zwischenlagerung, Vorsor­ tierung und des Transports ein (vgl. Walther 2005, S. 27). – Die Behandlung umfasst alle Aktivitäten der Wieder- und Weiterverwertung oder Beseitigung, einschließlich der Vorbereitung vor der Verwertung oder Beseitigung (vgl. Richtlinie 2008/98/EG, Art. 3). Darüber hinaus zählen die Aktivitäten der Wieder- und Weiterverwendung ebenfalls zur Behandlung. Die zur Behandlung gehörenden Aktivitäten sind wie folgt definiert: – Die Wiederverwendung beschreibt die „Verwendung eines Gerätes oder seiner Bestandteile zum gleichen Zweck, für den es entwickelt wurde“ ohne physika­ lische oder chemische Veränderung oder Aufbereitung (VDI Richtlinie 2343, Blatt 1, S. 8). – Die Weiterverwendung bezeichnet hingegen „die erneute Benutzung eines ge­ brauchten Produktes für einen anderen Verwendungszweck, für den es ur­ sprünglich nicht hergestellt wurde. Sie kann unter Nutzung der Gestalt ohne bzw. mit beschränkter Veränderung des Produktes erfolgen“ (VDI Richtlinie 2343, Blatt 1, S. 8). – Die Demontage umfasst „die Gesamtheit aller (geplanten) Vorgänge, die der Vereinzelung von Mehrkörpersystemen zu Baugruppen, Bauteilen und/oder

Kreislaufwirtschaft und Recycling | 997

Erfassung

Sammlung Zwischenlagerung Vorsortierung Transport

Demontage

Behandlung

Mechanische Aufbereitung

Verwertung Wiederverwendung

stofflich

energetisch

Beseitigung

Entsorgung

Abb. 1: Definitionen und Begrifflichkeiten im Reverse Logistics (vgl. Schmid 2009, S. 14; Walther 2005, S. 27).





– –

zu formlosen Stoffen durch Trennen dienen. Dabei steht sie in Konkurrenz zu anderen Prozessen wie Shreddern, Pressen oder Pyrolyse. Gegenüber diesen Verfahren ermöglicht die Demontage die Rückgewinnung funktionsfähiger Bauteile und Baugruppen zur Wieder-/Weiterverwendung, die Separierung von Schadstoffen zur ordnungsgemäßen Beseitigung sowie die sortenreine Gewinnung von Werkstoffen zur stofflichen Verwertung“ (VDI Richtlinie 2343, Blatt 1, S. 3). Die mechanische Aufbereitung bezeichnet die verfahrenstechnische Aufbe­ reitung der bei der Demontage gewonnenen Baugruppen, Bauteile und/oder formlosen Stoffe in Materialfraktionen für die sich anschließende stoffliche Verwertung (vgl. Schmid 2009, S. 11; Walther 2005, S. 38). Die stoffliche Verwertung beschreibt „die Substitution von Rohstoffen durch das Gewinnen von Stoffen aus Abfällen (Sekundärrohstoffe) oder die Nutzung der stofflichen Eigenschaften der Abfälle für den ursprünglichen Zweck (Wie­ derverwertung) oder für andere Zwecke (Weiterverwertung) mit Ausnahme der unmittelbaren Energierückgewinnung“ (VDI Richtlinie 2343, Blatt 1, S. 7). Die energetische Verwertung hat die Energiegewinnung durch thermische Be­ handlung zum Ziel (vgl. Walther 2005, S. 26). Die Beseitigung bezeichnet „jedes Verfahren, das keine Verwertung ist, auch wenn das Verfahren zur Nebenfolge hat, dass Stoffe oder Energie zurück ge­

998 | Thomas S. Spengler und Kerstin Schmidt



wonnen werden“ (Richtlinie 2008/98/EG, Art. 3). Zu den Beseitigungsverfah­ ren zählen nach Anhang I der Richtlinie 2008/98/EG unter anderem die Ab­ lagerung in oder auf dem Boden (zum Beispiel Deponien), die Einleitung in ein Gewässer, die Verbrennung oder die Dauereinlagerung. Unter dem Begriff der Entsorgung werden die Aktivitäten der Verwertung so­ wie der Beseitigung von Materialien zusammengefasst (vgl. Schmid 2009, S. 12; Walther 2005, S. 27).

In Abhängigkeit der oben genannten Aktivitäten und des durch sie erzielbaren Endzu­ stands existiert für die erneute Verwendung von Produkten, Materialien und Stoffen eine Vielzahl von Recyclingoptionen (vgl. Schmid 2009, S. 12, Walther 2010, S. 190). Diese Recyclingoptionen werden in Abbildung 2 anhand einer Closed-Loop Supply

Traditionelle, vorwärts gerichtete Supply Chain Rohstoffgewinnung

Komponenten und Bauteile

Endmontage

Verkauf

Kunde

Service

Re-Use von Produkten

Reparatur

Refurbishment

Test & Demontage

Re-Use von Komponenten

Remanufacturing Stoffliche/ energetische Verwertung

End-of-life

Beseitigung

Verwendung von Geräten und Bauteilen nach Zerlegung

Wiederverwendung von Geräten ohne Zerlegung

Rückwärts gerichtete Supply Chain Abb. 2: Überblick über Recyclingoptionen in der Closed-Loop Supply Chain (vgl. Walther 2010, S. 193).

Kreislaufwirtschaft und Recycling |

999

Chain zusammenfassend dargestellt und im Folgenden beschrieben (vgl. hierzu Thier­ ry et al. 1995, S. 117 ff.; Schmid 2009, S. 12 f.; Walther 2010, S. 190 f.). – Das Re-Use (beziehungsweise die direkte Wiederverwendung) bezeichnet die Zu­ führung einer erneuten Nutzung eines Produkts nach Beendigung der Nutzungs­ phase ohne die Durchführung von Tätigkeiten zur Ausbesserung. Lediglich die Funktionsfähigkeit des Produkts wird überprüft und muss zur Wiedereinführung in den Kreislauf gewährleistet sein. – Die Reparatur beschreibt die Überführung eines Produktes in einen betriebsfähi­ gen Zustand. Hierzu erfolgt nach einer Prüfung der Betriebs-/Funktionstüchtigkeit die Reparatur oder der Austausch defekter durch neue oder gebrauchte Teile. Der Qualitätszustand des überarbeiteten Produkts ist in diesem Fall nicht expli­ zit spezifiziert, dieser ist jedoch geringer als der eines Neuprodukts (vgl. van der Laan/Salomon/van Nunen 1998, S. 450). – Beim Refurbishing erfolgt im Gegensatz zur Reparatur die Aufarbeitung eines Pro­ dukts auf ein vorgegebenes Qualitätsniveau, welches geringer ist als das eines Neuprodukts (vgl. Van der Laan/Salomon/van Nunen 1998, S. 450). Hierfür erfolgt nach der Prüfung aller kritischen Baugruppen die Reparatur oder der Austausch ausgewählter Baugruppen sowie gegebenenfalls die Aufwertung von Komponen­ ten, die nicht mehr dem Stand der Technik entsprechen. – Das Remanufacturing beschreibt die Aufarbeitung eines Produkts auf den Qua­ litätsstandard eines Neuprodukts. Dies erfordert eine vollständige Zerlegung des Produkts bis auf Bauteilebene sowie die anschließende Prüfung aller Baugruppen und Bauteile und deren Aufarbeitung in einen neuwertigen Zustand. Darüber hin­ aus erfolgt gegebenenfalls die Aufwertung einzelner Komponenten. – Die Komponentengewinnung umfasst die selektive Gewinnung von Baugruppen und/oder Bauteilen mit dem Ziel der Aufarbeitung. Die im Rahmen einer zerstö­ rungsfreien Demontage gewonnenen Komponenten werden hierfür in einer der genannten Recyclingoptionen für Produkte (Re-Use, Reparatur, Refurbishing, Re­ manufacturing) verwendet. Die Aufarbeitung erfolgt dabei in einen definierten Qualitätszustand, welcher von dem Produkt, in das die Komponente eingesetzt wird, abhängig ist (vgl. Spengler/Walther 2008, S. 711).

2.2 Abfallrechtliche Rahmenbedingungen des Recyclings In Deutschland unterliegen die rechtlichen Regelungen der Kreislaufwirtschaft und des Recyclings der Umweltgesetzgebung. Nach dem Grundsatz der Abfallhierarchie, „Abfallvermeidung vor Abfallverwertung vor Abfallbeseitigung“ liegt ein wesentli­ ches umweltpolitisches Ziel der Bundesregierung darin, „die Kreislaufwirtschaft in den nächsten Jahren hin zu einer umfassenden Stoffstromwirtschaft weiter zu entwi­ ckeln. Durch eine konsequente Umsetzung der Abfallhierarchie, insbesondere durch die Getrennthaltung von Abfällen, ihre Vorbehandlung, durch Recycling oder ihre

1000 | Thomas S. Spengler und Kerstin Schmidt

energetische Nutzung – aber auch durch die Steigerung der Ressourcenproduktivi­ tät – wird angestrebt, die im Abfall gebundenen Stoffe und Materialien möglichst vollständig zu nutzen.“ (BMUB 2017a). Bedingt durch die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Europäi­ schen Union basiert die nationale Gesetzgebung – wie in nahezu fast allen Umweltbe­ reichen – im Bereich der Abfallwirtschaft auf den Vorgaben der europäischen Gesetz­ gebung (vgl. BMUB 2017b; Walther 2005, S. 7). In der Europäischen Union wird der Um­ gang mit Abfällen durch die Richtlinie 2008/98/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtli­ nien (Abfallrahmenrichtlinie) geregelt. Diese Richtlinie hat den Schutz der Umwelt, der menschlichen Gesundheit und der Ressourcen zum Ziel (vgl. Richtlinie 2008/98/EG, Abs. 1). Sie fokussiert auf die Stärkung von Maßnahmen zur Abfallvermeidung sowie auf die Reduzierung der Umweltauswirkungen von Abfallerzeugung und -bewirtschaf­ tung und sieht die Einführung eines Konzepts, das den gesamten Lebenszyklus von Produkten und Stoffen berücksichtigt, die Förderung der Verwertung von Abfällen zur Erhaltung der natürlichen Rohstoffquellen vor (vgl. Hoyer 2015, S. 44). Die Umsetzung der europäischen Abfallrahmenrichtlinie in deutsches Recht er­ folgte in Form des Gesetzes zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Bewirtschaftung von Abfällen (Kreislaufwirtschaftsgesetz KrWG), welches im Juli 2012 in Kraft getreten ist¹. Das Ziel des Gesetzes ist die Förderung der Kreislaufwirtschaft mit dem Ziel der Schonung der natürlichen Ressourcen sowie die Sicherstellung des Schutzes von Mensch und Umwelt bei der Erzeugung und Bewirt­ schaftung von Abfällen (vgl. § 1 KrWG 2017). Der Geltungsbereich des Kreislaufwirt­ schaftsgesetzes bezieht sich auf alle Bereiche der Abfallwirtschaft: die Vermeidung sowie die Verwertung von Abfällen, auf ihre Beseitigung und sonstige Maßnahmen der Abfallbewirtschaftung (vgl. § 2 KrWG 2017). Die Kernpunkte des Kreislaufwirtschaftsgesetzes bestehen in der Einführung der Grundsätze der Abfallvermeidung und Abfallbewirtschaftung sowie der Produktver­ antwortung (vgl. Hoyer 2015, S. 44). Die Grundlage für die Abfallvermeidung und Ab­ fallbewirtschaftung bildet die oben genannte Abfallhierarchie (vgl. § 6 KrWG 2017). Basierend auf dieser Rangfolge sollen im Rahmen der Abfallbewirtschaftung diejeni­ gen Maßnahmen im Vordergrund stehen, die den Schutz von Mensch und Umwelt am besten gewährleisten (vgl. §§ 7 und 8 KrWG 2017). Dabei gilt es den gesamten Lebens­ zyklus des Abfalls, d. h. unter anderem die zu erwartenden Emissionen, die einzu­ setzende oder zu gewinnende Energie sowie die Schadstoffanreicherung, zu berück­ sichtigen. Darüber hinaus sind neben den technischen Möglichkeiten auch die wirt­

1 Vorgänger des 2012 in Kraft getretenen KrWG sind das Abfallbeseitigungsgesetz (1972–1986), das Ab­ fallgesetz (1986–1996) sowie das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz (1996–2012) (vgl. Hoyer 2015, S. 44).

Kreislaufwirtschaft und Recycling | 1001

schaftliche Zumutbarkeit sowie die sozialen Folgen der Maßnahmen zu beachten (vgl. § 6 KrWG 2017). Der Grundsatz der Produktverantwortung bezieht Entwickler, Hersteller, Be- und Verarbeiter sowie Vertreiber von Produkten explizit in die Zielerreichung der Kreis­ laufwirtschaft mit ein (vgl. § 23 KrWG 2017). Demnach sind Produkte so zu gestalten, dass „bei ihrer Herstellung und ihrem Gebrauch das Entstehen von Abfällen vermin­ dert wird und sichergestellt ist, dass die nach ihrem Gebrauch entstehenden Abfälle umweltverträglich verwertet oder beseitigt werden“ (§ 23 KrWG 2017). Die Forderung des Gesetzgebers in Bezug auf die Produktverantwortung umfasst unter anderem die mehrfache Verwendbarkeit, technische Langlebigkeit, die Eignung für eine ordnungs­ gemäße, schadlose und hochwertige Verwertung sowie die umweltverträgliche Besei­ tigung der Produkte. Darüber hinaus wird der vorrangige Einsatz von verwertbaren Abfällen oder sekundären Rohstoffen bei der Herstellung von Produkten, die Kenn­ zeichnung schadstoffhaltiger Produkte und Bauteile sowie ihre Rücknahme am Le­ bensdauerende gefordert (vgl. § 23 KrWG 2017). Durch das KrWG wird die Bundesregierung zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt, die die Umsetzung der angestrebten Kreislaufwirtschaft für spezifische Abfälle zum Ziel haben. So existieren z. B. Verordnungen und Gesetze für das Inver­ kehrbringen, die Rücknahme und die umweltverträgliche Entsorgung von Elektround Elektronikgeräten (Elektro- und Elektronikgerätegesetz – ElektroG) in Umsetzung der Richtlinie 2012/19/EU über Elektro- und Elektronik-Altgeräte (WEEE), die umwelt­ verträgliche Entsorgung von Altfahrzeugen (Altfahrzeug-Verordnung – AltfahrzeugV), das Inverkehrbringen, die Rücknahme und die umweltverträgliche Entsorgung von Batterien und Akkumulatoren (Batteriegesetz – BattG) sowie die Entsorgung von ge­ werblichen Siedlungsabfällen und von bestimmten Bau- und Abbruchabfällen (Ge­ werbeabfallverordnung – GewAbfV).

2.3 Produktionswirtschaftliche Planungsaufgaben des Recyclings Die Umsetzung der verschiedenen Recyclingoptionen im Rahmen der Kreislaufwirt­ schaft geht mit vielfältigen produktionswirtschaftlichen Planungsaufgaben sowohl auf der Gestaltungs- als auch auf der Lenkungsebene einher. Während sich die langund mittelfristigen Planungsaufgaben der Gestaltungsebene zuordnen lassen, sind die kurzfristigen Planungsaufgaben der Lenkungsebene zugeordnet. Im folgenden Abschnitt wird auf diese näher eingegangen. Auf der Gestaltungsebene liegen die strategischen und taktischen Planungsauf­ gaben insbesondere in der Wahl von Standorten, der einzusetzenden Technologien sowie den im Zeitverlauf zu schaffenden Kapazitäten (vgl. Hoyer 2015, S. 74). Eine der wichtigsten strategischen Entscheidungen für jedes Unternehmen ist die Wahl geeigneter Standorte von Anlagen für die Sammlung und Behandlung, Lagerhallen und Umverteilungslagern, da sie langfristig Gewinne und Kosten beeinflusst und

1002 | Thomas S. Spengler und Kerstin Schmidt

die Änderung einer getroffenen Standortentscheidung ein sehr schwieriger und kos­ tenintensiver Prozess ist (vgl. Queiruga et al. 2008, S. 182; Fleischmann 2001). Als Voraussetzung für die Vorauswahl geeigneter Standorte sind seitens der Entschei­ dungsträger zunächst geeignete Standortfaktoren zu ermitteln. Standortfaktoren sind situationsspezifische, regionale Parameter, die die zukünftige Leistungsfähig­ keit eines Produktions- oder Recyclingsystems beeinflussen. Hierbei gilt es sowohl qualitative (zum Beispiel die demographische Struktur oder gesetzliche Anforderun­ gen) als auch quantitative (zum Beispiel die Einwohnerzahl, Immobilienpreise oder Personalkosten) Standortfaktoren zu berücksichtigen und in den Entscheidungspro­ zess miteinzubeziehen. Im Rahmen der Entscheidungsunterstützung bei mehrfacher Zielsetzung unter Berücksichtigung verschiedener und oftmals konfliktärer Kriteri­ en kommen in der Regel Ansätze der multikriteriellen Entscheidungsunterstützung (Multi Criteria Decision Making – MCDM) zum Einsatz. Liegt der Entscheidung eine diskrete Anzahl an (Standort-) Alternativen zugrunde, können Verfahren des MultiAttributive Decision-Making (MADM) (zu einer Übersicht vgl. Zimmermann/Gutsche 1991; Schneeweiß 1991) angewandt werden (vgl. Spengler/Walther/Queiruga 2005, S. 28; Walther/Spengler/Queiruga 2008, S. 408). Anschließend ist aus der Menge vor­ ausgewählter, geeigneter Standorte ein optimales Recyclingsystem zu bestimmen. Hierbei gilt es insbesondere die Interdependenzen zwischen den potentiellen Stand­ orten in Form von Transportkosten, Altgeräteflüssen und zu errichtenden Kapazitäten zu berücksichtigen. Dies wird durch die Formulierung und Lösung verallgemeinerter Warehouse Location Probleme (WLP) (zu einer Übersicht vgl. Klose/Drexl 2005) er­ möglicht, welche auf die Minimierung systemweiter Kosten abzielen (vgl. Spengler/ Walther/Queiruga 2005, S. 29; Walther/Spengler/Queiruga 2008, S. 408). Neben der Standortentscheidung bildet die Wahl der einzusetzenden Technolo­ gien und somit die Festlegung der umzusetzenden Recyclingoptionen eine wesentli­ che Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolgs des Recyclings, da diese die Menge und Qualität der zurückgewinnbaren Stoffe und zu beseitigenden Reststoffe maßgeb­ lich beeinflussen (vgl. Hoyer 2015, S. 74; Thierry et al. 1995). Grundlage dieser Ent­ scheidung bilden neben dem Rückgabegrund insbesondere die Produkteigenschaf­ ten, die maßgeblich die Umsetzbarkeit aus ökonomischer und technischer Sicht be­ einflussen (vgl. Ritchey et al. 2001). Basierend auf der Entscheidung für eine oder mehrere Recyclingoptionen ergeben sich die Planungsaufgaben der Wahl einer ge­ eigneten Organisationsform (Umsetzung im eigenen Unternehmen) beziehungswei­ se des Outsourcings an Dienstleister (vgl. Ayres/Ferrer/van Leynseele 1997; Stölting 2006). Darüber hinaus gilt es Fragen der strategischen Wettbewerbspositionierung zu berücksichtigen: aus Herstellersicht beziehen sich diese sowohl auf mögliche Kanni­ balisierungseffekte bei dem gleichzeitigen Vertrieb von Neu- und Gebrauchtprodukten als auch auf den Wettbewerb zu unabhängigen Recyclingunternehmen (vgl. de Bri­ to/Dekker 2002, S. 17 f.; Debo/Toktay/van Wassenhove 2005; Ferguson/Toktay 2006; Walther 2010, S. 195 f.).

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Mit der Umsetzung von Recyclingoptionen ergeben sich ebenfalls Planungsauf­ gaben im Bereich der Kapazitätsplanung. Hierbei gilt es die Nutzung von Größende­ gressionseffekten bei der Installation großer Anlagen gegen die Reduktion von Inves­ titions- und Technologierisiken bei der sequentiellen Installation kleinerer Anlagen abzuwägen. So sind die Durchschnittskosten zur Produktion eines Produktes in einer großen Anlage in der Regel geringer als in einer kleinen, wenn eine hohe Auslastung dieser vorausgesetzt werden kann. Demgegenüber stehen jedoch höhere Kapitalbin­ dungskosten, da Investitionen häufig früher getätigt werden (vgl. Hoyer 2015, S. 75). Weitere Planungsaufgaben auf der Gestaltungsebene bestehen zum einen in der frühzeitigen Berücksichtigung recyclinggerechter Produktkonstruktionen (Design for Recycling), da diese beispielsweise durch eine Reduktion der Werkstoffvielfalt oder durch die Verwendung gut demontierbarer Verbindungstechniken einen hohen Ein­ fluss auf die Prozesse des Recyclings haben (vgl. Gungor/Gupta 1999; Stölting 2006). Zum anderen gilt es die Rückläufer geeignet in die Gesamtorganisation einzubinden und somit ein integriertes Management der Produktions- und Recyclingprozesse zu betreiben. Insbesondere sind Entscheidungen hinsichtlich des Transports, des Um­ schlags, der Lagerhaltung sowie der Beschaffung unter Berücksichtigung der Rück­ läufer zu treffen. Eine besondere Herausforderung stellen dabei die existierenden Un­ sicherheiten in Bezug auf den Zeitpunkt, die Menge sowie die Qualität der Rückläufer dar, sodass die Auswahl geeigneter Prognosetechniken unerlässlich ist (vgl. Püchert 1996; Steinborn 2011; Toktay 2003). Wesentlichen Einfluss auf die Wirtschaftlichkeit hat darüber hinaus ein aktives Rückläufermanagement. Dieses umfasst neben der Er­ mittlung von Akquisitions- und Verkaufspreisen für die Gebrauchtprodukte auch die Bestimmung entsprechender Rücknahmemethoden (vgl. Guide/Pentico 2003; Guide/ Teunter/van Wassenhove 2003). Darüber hinaus gilt es die Prozesse der Rücknahme sowie der Aufarbeitung in die Bedarfs- und Produktionsprogrammplanung zu inte­ grieren (vgl. Steinborn 2011). In Bezug auf das gesamte Netzwerk besteht eine weitere Planungsaufgabe in der Koordination der unternehmensübergreifenden Zusammen­ arbeit (vgl. Schmid 2009). Des Weiteren müssen auch die unterstützenden Informati­ onstechnologien angepasst und/oder erweitert werden. Zu den wichtigsten Planungsaufgaben auf der Lenkungsebene zählen die Demon­ tage- und Recyclingplanung an den jeweiligen, auf der Gestaltungsebene festgeleg­ ten Standorten des Recyclingnetzwerks. Diese beschäftigen sich insbesondere mit der Festlegung von Demontagetiefe und -reihenfolge (vgl. Spengler/Rentz 1996). Vor dem Hintergrund der Vielzahl zur Verfügung stehender Demontagemöglichkeiten besteht das Ziel zunächst in der Bestimmung der optimalen Demontagetiefe, sodass entwe­ der eine Minimierung der Kosten der Zerlegung erfolgt oder das beste Verhältnis aus Kosten und Erlösen erzielt wird (vgl. Gungor/Gupta 1999; Walther 2005; S. 106). Bei tiefer gehender Demontage sind in der Regel erhöhte Verwertungserlöse durch die Er­ zielung höherer Reinheit der Verwertungsfraktionen erreichbar. Demgegenüber ste­ hen jedoch damit gleichzeitig einhergehende erhöhte Demontagezeiten und -kosten. Die Festlegung der Demontagetiefe determiniert somit nicht nur die anfallenden De­

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montagekosten, sondern auch die generierten Materialfraktionen, ihre Reinheit so­ wie durch sie bedingte Entsorgungskosten und -erlöse (vgl. Walther 2005, S. 97 und S. 106). Daran anschließend stellt sich die Frage der optimalen Demontagereihenfolge. Bedingt durch die Existenz vielfältiger Möglichkeiten für die Zerlegung von Produk­ ten erfordert die Festlegung der Demontagereihenfolge detailliertes Wissen über die Produktstruktur und die Verbindungstechniken sowie über die zur Lösung der Verbin­ dungstechniken erforderlichen Verfahren und Zeitbedarfe (vgl. Walther 2005, S. 97). Die Entscheidungen hinsichtlich der Demontagetiefe und -reihenfolge sind eng mit­ einander verbunden. So hängt die optimale Demontagereihenfolge von dem aus der gewählten Demontagetiefe bedingten Endzustand der Komponenten und Materiali­ en ab. Darüber hinaus benötigt die Bestimmung der optimalen Demontagetiefe de­ taillierte Informationen über die mit der Demontage einhergehenden Kosten, welche sich unter anderem aus der Demontagereihenfolge ergeben (vgl. Schmid 2009, S. 43; Walther 2005, S. 106). Des Weiteren kommt der Berücksichtigung der Besonderheiten der Recyclingpro­ zesse bei der Produktionsplanung und -steuerung simultaner Produktions- und Recy­ clingsysteme eine hohe Bedeutung zu (vgl. Guide 2000). Bei der Umsetzung dieser er­ folgt die Abstimmung der Prozesse unter Berücksichtigung der Demontage-, Bedarfs-, Material- und Kapazitätsplanung sowie der Terminierung (vgl. Inderfurth et al. 2004; Inderfurth/Teunter 2003; van der Laan et al. 1999). Im folgenden Abschnitt 3 wird vertiefend auf die Demontage- und Recyclingpla­ nung, die als eine zentrale Kernaufgabe des Recyclings komplexer Verbundprodukte anzusehen ist, eingegangen.

3 Operative Demontage- und Recyclingplanung 3.1 Demontage- und Recyclingplanung Komplexe Verbundprodukte, wie zum Beispiel Kraftfahrzeuge und Elektronikgeräte, enthalten eine Vielzahl an Werkstoffen, Bauteilen und -gruppen². Dem eigentlichen Recycling muss daher ein mehrstufiger Demontageprozess vorgeschaltet werden. Aus der Erzeugnisstruktur der zu demontierenden Verbundprodukte lassen sich soge­ nannte Demontage-Graphen ableiten (vgl. Gehrmann 1986), welche den Ausgangs­ punkt der Demontageplanung bilden. In der Regel stehen verschiedene Demonta­ gemaßnahmen zur Auswahl. Für die demontierten Bauteile und -gruppen stehen alternative, kapazitätsbeschränkte Recyclingoptionen zur Verfügung. Die Herausfor­ derung besteht somit darin, den Demontageprozess möglichst gut auf die in Betracht

2 Die Abschnitte 3.1–3.3 basieren auf vorhergehenden Arbeiten des Autors (vgl. Spengler 1994; Speng­ ler/Rentz 1996). Entnommene Abschnitte sind im Folgenden nicht gesondert gekennzeichnet.

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kommenden Recyclingoptionen abzustimmen und die Interdependenzen zwischen der Demontage- und Recyclingplanung geeignet zu berücksichtigen. Bei vorliegendem Demontage-Graphen und exogen gegebenen Recyclingoptio­ nen lässt sich das Demontage- und Recyclingplanungsproblem komplexer Verbund­ produkte folgendermaßen formulieren: „Für eine gegebene Anzahl zu verwertender Altprodukte sind die insgesamt durchzuführenden Demontageaktivitäten sowie die Zuordnungen der demontierten Produktkomponenten zu den verfügbaren Recycling­ optionen so zu bestimmen, dass die Differenz aus erzielbaren Verwertungserlösen und aufzuwendenden variablen Demontage-, Aufbereitungs- und Entsorgungskosten, al­ so der Gesamtdeckungsbeitrag, maximal wird“ (Spengler 1994, S. 31) und bestehende technische und kapazitative Restriktionen nicht verletzt werden. Mit dem Ziel der mathematischen Formulierung eines integrierten Demontageund Recyclingplanungsproblems wird im Folgenden zunächst eine aktivitätsanaly­ tische Modellierung der Demontage vorgestellt (Abschnitt 3.2). Darauf aufbauend er­ folgt die mathematische Formulierung eines Modells zur integrierten Demontage- und Recyclingplanung auf Basis der kombinatorischen Optimierung (Abschnitt 3.3).

3.2 Aktivitätsanalytische Modellierung der Demontage Demontageprozesse können aufbauend auf den Demontage-Graphen zu demontie­ render Produkte als mehrstufige analytische Kuppelproduktionsprozesse formuliert werden. Basierend auf der auf Koopmanns (vgl. Koopmanns 1951) und Debreu (1959) zurückgehenden Aktivitätsanalyse ist damit eine aktivitätsanalytische Modellierung der Demontage möglich. Diese stellt einen allgemeinen Ansatz zur Analyse der Trans­ formationsbeziehungen zwischen Inputs und Outputs industrieller Produktionspro­ zesse dar und kommt hierbei ohne die Wahl eines für den jeweiligen Prozess geeig­ neten formalen Produktionsfunktionstyps aus. Dies hat den Vorteil, dass die Produk­ tionsfunktion eines Prozesses nicht in Form einer stetigen mathematischen Funktion gegeben sein muss, sondern das Vorliegen lediglich empirisch ermittelte Aktivitäten, zum Beispiel in Form einer Tabelle oder Matrix ausreichend ist (vgl. Fandel 1990). Im Folgenden wird die erstmals von Spengler (vgl. Spengler 1994; Spengler/Rentz 1996) vorgestellte aktivitätsanalytische Modellierung der Demontage dargestellt. Unter einer Demontageaktivität v Tj = (v1j , . . . , v ij , . . . , v mj ) ∈ ℝm wird eine be­ stimmte Kombination von Faktoreinsatzmengen und zugehörigen Produktmengen v1j , . . . , v mj verstanden. Dabei bezeichnen positive v ij die mit Hilfe der Aktivität v j erzeugten Produkte, während negative v ij die hierzu benötigten Faktoreinsatzmen­ gen bezeichnen. Ist der entsprechende Produktionsfaktor beziehungsweise das ent­ sprechende Produkt nicht beteiligt, so ist die zugehörige Komponente v ij kein Be­ standteil der Demontageaktivität. Die Menge aller technisch zulässigen Aktivitäten TM = {v j |j = 1, . . . , n} wird als Technologie bezeichnet und lässt sich in Form einer Matrix V = (v ij )i=1,...,m;j=1,...,n , der sogenannten Technologiematrix, schreiben.

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Die lineare Aktivitätsanalyse bildet einen Spezialfall der Aktivitätsanalyse, die sich ausschließlich mit linearen Technologien beschäftigt (vgl. u. a. Fandel 1991; Kist­ ner 1983), und lässt sich bei vorliegendem Demontage-Graphen zur Modellierung der Demontage komplexer Verbundprodukte heranziehen. Die Komponenten des Demon­ tagezustandsvektors y T = (y1 , . . . , y i , . . . , y m ) bezeichnen die jeweiligen Mengen der bereits demontierten, jedoch nicht weiter zerlegten Produktkomponenten i und legen so den Demontagezustand des zu demontierenden Produkts eindeutig fest. Der An­ T fangszustand ist durch den Vektor y a = (y1a , 0, . . . , 0) gegeben, wobei y1a ≥ 1 der Anzahl der insgesamt zu demontierenden Produkte entspricht. Zur Ermittlung aller technisch möglichen Demontagezustandsvektoren y wird der Aktivitätsniveauvektor x T = (x1 , . . . , x j , . . . , x n ) eingeführt. Die Komponenten x j ∈ ℕ0 des Aktivitätsniveauvektors geben an, wie oft die zugehörige Demontageak­ tivität v j angewendet werden soll. Unter der Voraussetzung, dass die Komponenten des Demontagezustandsvektors y nicht negativ werden dürfen, kann der folgende Zusammenhang formuliert werden: n

y i = y ai + ∑ x j ⋅ v ij ≥ 0

∀i = 1, . . . , m

(1)

j=1

In Vektorschreibweise lässt sich die Demontagezustandsmenge Y aller technisch mög­ lichen Demontagevarianten des zu zerlegenden Produkts wie folgt darstellen: n } { Y = { y | y = y a + ∑ x j ⋅ v j ≥ 0 ; x j ∈ ℕ0 } j=1 } {

(2)

Mit zunehmender Verflechtung der Produktstruktur und steigender Anzahl an zerleg­ baren Baugruppen nimmt die Mächtigkeit der Demontagezustandsmenge Y kombi­ natorisch zu, sodass unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Verwer­ tungsoptionen und der jeweils erzielbaren Erlöse beziehungsweise aufzuwendenden Kosten die Bestimmung der deckungsbeitragsmaximalen Demontagevariante nicht trivial ist. Bestehen darüber hinaus verschiedene Bauteile eines zusammengesetzten Produkts aus gleichen oder ähnlichen Werkstoffen, so können sie unter Umständen denselben Recyclingoptionen zugeführt werden. Existieren Kapazitätsbeschränkun­ gen hinsichtlich der Recyclingoptionen konkurrieren die betroffenen Produktkompo­ nenten um die knappen Kapazitäten und es treten Interdependenzen zwischen der Demontage und dem Recycling auf. Im nächsten Abschnitt wird daher ein allgemei­ nes integriertes Demontage- und Recyclingplanungsmodell als gemischt-ganzzahli­ ges lineares Optimierungsproblem zur Bestimmung der deckungsbeitragsmaximalen Produktdemontage und -verwertung vorgestellt.

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3.3 Integrierte Demontage- und Recyclingplanung Die mathematische Formulierung der integrierten Demontage- und Recyclingplanung erfordert zunächst eine Beschreibung der zugrundeliegenden Demontage- und Recy­ clingstruktur sowie der zu treffenden Entscheidungen. Anschließend werden die exis­ tierenden Interdependenzen zwischen den Planungsaufgaben der Produktdemonta­ ge sowie dem Recycling in einem Simultanmodell abgebildet. Abbildung 3 gibt einen Überblick über das im Folgenden beschriebene Problem der integrierten Demontageund Recyclingplanung. Der Demontageplanung liegt die in Abschnitt 3.2 vorgestellte aktivitätsanalytische Modellierung der Demontage zugrunde. Bei der mathematischen Formulierung des Planungsmodells sind die einer Demontagevariante zuzurechnenden Demontagekos­ ten zu bestimmen: Bei der Zerlegung einer Baugruppe i fallen Demontagekosten an, die im Wesentlichen aus Lohn-, Maschinen- und Energiekosten bestehen, wobei zu­ nächst lediglich die den Demontageaktivitäten v j direkt zurechenbaren variablen Be­ standteile angesetzt werden. Bezeichnet man die bei einmaliger Anwendung einer De­ montageaktivität v j entstehenden Kosten mit c zj , so ergeben sich die einer Demonta­ gevariante y insgesamt zuzurechnenden Demontagekosten c z zu: n

c z = ∑ x j ⋅ c zj

(3)

j=1

Die Entscheidungsvariablen x j ∈ ℕ0 (j = 1, . . . , n) geben an, wie oft die zugehörigen Demontageaktivitäten v j ∈ ℕ0m (j = 1, . . . , n) anzuwenden sind, d. h. welche Demon­ tagevariante y gewählt werden soll. Der Recyclingplanung liegt die folgende Struktur zugrunde. Zum Recycling der de­ montierten Produktkomponenten gemäß Demontagezustandsvektor y stehen insge­ samt r Recyclingoptionen (RO) zur Verfügung. Die technisch zulässigen Zuordnungen der Produktkomponenten i zu den Recyclingoptionen μ ∈ T i sind durch die Mengen T i = {μ ∈ T | Recyclingoption μ kann Komponente i verwerten} und

(4)

I μ = {i ∈ I | Komponente i kann Recyclingoption μ zugeführt werden}

(5)

gegeben. Die Mengen T = {μ = 1, . . . , r} bzw. I = {i = 1, . . . , m} bezeichnen dabei die Indexmengen aller Recyclingoptionen bzw. Produktkomponenten. Mit Hilfe der Stückgewichte γ i werden die jeweils zu recycelnden Massen y i ⋅ γ i ermittelt, die auf die technisch zulässigen Recyclingoptionen μ ∈ T i zu verteilen sind. Die Entscheidungsvariablen z iμ ∈ ℝ0+ geben an, wieviele Mengeneinheiten ei­ ner Produktkomponente i einer bestimmten Recyclingoption μ ∈ T i zugeordnet wer­ den. Die dabei erzielbaren Recyclingerlöse beziehungsweise aufzuwendenden varia­ blen Recyclingkosten werden in den zugehörigen Modellparametern c viμ ∈ ℝ erfasst. Die Kapazitäten der Recyclingoptionen μ seien durch exogen gegebene Maximalkapa­ zitäten Q μ nach oben beschränkt.

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Recyclingoptionen





Demontageplanung

Aufarbeitung, Aufbereitung



Baugruppen, Bauteile



DemontageZustandsvektor



Komplexes Verbundprodukt

Demontageaktivitäten

Recyclingplanung

Abb. 3: Struktur der integrierten Demontage- und Recyclingplanung (vgl. Spengler/Rentz 1996, S. 88).

Demzufolge ist zur deckungsbeitragsmaximalen Zuordnung der Produktkomponen­ ten ein sogenanntes einstufiges Transportproblem zu lösen. Dabei ist darauf zu ach­ ten, dass alle Produktkomponenten den jeweils zulässigen Recyclingoptionen unter Einhaltung der jeweiligen Kapazitätsobergrenzen zugeordnet werden müssen. Die An­ zahl der zu verwertenden Produktkomponenten ist durch den Demontagezustands­ vektor y T = (y1 , . . . , y m ) gegeben. Dieser bildet die Ausgangsgröße des Teilproblems der Demontageplanung. Zur Lösung des Teilproblems der Recyclingplanung müss­ te somit zunächst die Demontageplanung durchgeführt werden. Zur Bestimmung des deckungsbeitragsmaximalen Demontagezustandsvektors sind jedoch anderer­ seits die den verschiedenen Produktkomponenten zuzurechnenden Recyclingerlöse beziehungsweise -kosten erforderlich. Die Recyclingplanung müsste somit der De­ montageplanung vorausgehen. Die Berücksichtigung der zwischen der Demontage und dem Recycling der demontierten Produktkomponenten vorliegenden Interdependenzen erfordert den Einsatz eines Simultanmodells. Als Zielfunktion wird die Maximierung des gesamten erzielbaren Deckungsbeitrags angesetzt. Neben den ganzzahligen Entscheidungs­ variablen x j ∈ ℕ0 der Demontageplanung müssen zusätzlich die kontinuierlichen Entscheidungsvariablen z iμ ∈ ℝ0+ der Recyclingplanung miteinbezogen werden. Insgesamt kann das integrierte Demontage- und Recyclingplanungsproblem bei interdependenten Recyclingoptionen wie folgt als gemischt-ganzzahliges lineares Op­

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timierungsproblem formuliert werden: m

n

max ∑ ∑ c viμ ⋅ z iμ − ∑ c zj ⋅ x j i=1 μ∈T i

(6)

j=1

unter den Nebenbedingungen n

y i = y ai + ∑ x j ⋅ v ij

∀i = 1, . . . , m

(7)

∀i = 1, . . . , m

(8)

∀μ = 1, . . . , r

(9)

∀j = 1, . . . , n

(10)

∀i = 1, . . . , m ; μ ∈ T i

(11)

j=1

∑ z iμ = y i ⋅ γ i μ∈T i

∑ z iμ ≤ Q μ i∈I μ

x j ∈ ℕ0 z iμ ≥ 0

In diesem Modell beschreibt die Nebenbedingung (7) die technisch zulässigen De­ montageaktivitäten. Nebenbedingung (8) erfordert das vollständige Recycling alle Produktkomponenten. In Nebenbedingung (9) werden die Recyclingkapazitäten be­ schränkt. Wird die angegebene Zielfunktion der Deckungsbeitragsmaximierung zugrunde gelegt, gehen lediglich variable Bestandteile in die Berechnung der Recyclingerlöse c viμ und der Demontagekosten c zj ein. In diesem Fall sind fixe Kosten nicht entschei­ dungsrelevant. Auf Basis des vorgestellten Modells zur integrierten Demontage- und Recyclingplanung können somit keine Entscheidungen hinsichtlich der Neuerrich­ tung oder Stilllegung von Aufbereitungsanlagen getroffen werden. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die betrachteten Recyclingoptionen μ ∈ T bereits zur Verfügung stehen und die notwendigen Aufbereitungsanlagen vorhanden sind. Die Deckungsbeitragsmaximierung eignet sich daher insbesondere für kurz- und mittel­ fristige Entscheidungsprobleme der Lenkungsebene. Besteht das Ziel hingegen in der Modellierung langfristiger Entscheidungspro­ bleme, so kann die Deckungsbeitragsmaximierung durch die Gewinnmaximierung ersetzt werden. Hierzu können beispielsweise standortabhängige Fixkosten zur Er­ richtung von Aufbereitungsanlagen in die Zielfunktion aufgenommen werden. Da­ durch erhöht sich die Anzahl der Entscheidungsvariablen des Planungsmodells um die entsprechende Anzahl an binären Variablen, die angeben, ob an einem be­ stimmten Standort eine Aufbereitungsanlage für eine Produktkomponente i, die einer Recyclingoption μ zugeführt werden soll, zu errichten ist. In diesem Fall gilt es zu­ sätzlich die Kosten zum Transport der Produktkomponenten zu den Aufbereitungs­ standorten und weiter zu den Standorten der Recyclingoptionen zu berücksichtigen. Hierauf wird in diesem Beitrag jedoch nicht weiter eingegangen. Stattdessen wird im folgenden Abschnitt 4 die Vorgehensweise zur aktivitätsanalytischen Modellierung von Demontage- und Recyclingprozessen an einem Fallbeispiel zum Recycling von

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Lithium-Ionen-Traktionsbatterien aus Elektrofahrzeugen konkretisiert. Diese bildet die Voraussetzung zur zukünftigen Planung eines ökonomisch effizienten Batteriere­ cyclings im Rahmen der Kreislaufwirtschaft.

4 Demontage und Recycling von Lithium-Ionen-Batterien 4.1 Motivation Mit ihrem Nationalen Entwicklungsplan Elektromobilität setzt sich die deutsche Bun­ desregierung das Ziel, Deutschland zu einem Leitmarkt für Elektromobilität zu ent­ wickeln. Hierfür gilt es bis zum Jahr 2020 einen Bestand von einer Million Elektro­ fahrzeugen auf Deutschlands Straßen sowie eine flächendeckende Ladeinfrastruktur in Ballungsräumen zu erreichen (vgl. Deutsche Bundesregierung 2009, S. 46 f.). Die Realisierung dieser Pläne würde mit einem Aufkommen von mehr als hunderttau­ send Tonnen gealterter Lithium-Ionen-Traktionsbatterien bis zum Jahr 2025 einher­ gehen (vgl. Hoyer/Kieckhäfer/Spengler 2011, S. 413 f.). Vor diesem Hintergrund ste­ hen Politik sowie Automobil- und Batteriehersteller bereits heute vor der Aufgabe, Konzepte für eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft für Batterien vorzulegen und um­ zusetzen (vgl. Hoyer/Kieckhäfer/Spengler 2015, S. 506). Grundlage hierfür bilden die Batterierichtlinie 2006/66/EG der Europäischen Union sowie ihre Umsetzung in deut­ sches Recht, das Batteriegesetz (BattG), welches im Dezember 2009 wirksam wurde. Nach diesen Vorschriften müssen Altbatterien gemäß des KrWG in erster Linie wie­ der- beziehungsweise weiterverwendet und in zweiter Linie stofflich beziehungsweise energetisch verwertet werden, wobei durch den Einsatz geeigneter Recyclingverfahren im Durchschnitt mindestens 50 % der Masse zurückzugewinnen ist (vgl. BattG 2009, § 1; Hoyer 2015, S. 2). Das Recycling von Lithium-Ionen-Traktionsbatterien bietet aufgrund der großen Menge an Nichteisenmetallen, wie Lithium, Cobalt, Nickel, Mangan und Kupfer, öko­ nomisches und ökologisches Potenzial (vgl. Hoyer/Kieckhäfer/Spengler 2015, S. 506). Aufgrund der starken geologischen Konzentration der heute bereits erschlossenen Vorkommen von Lithium und Cobalt könnte eine Abhängigkeit von einigen wenigen Ländern für die Produktion von Batteriematerialien entstehen. In Kombination mit einer durch das schnelle Marktwachstum von Elektrofahrzeugen bedingten hohen Nachfrage nach diesen Metallen sowie langen Planungs- und Realisierungszeiten für den Ausbau von Förder- und Raffinierungskapazitäten ist von starken Preis­ anstiegen für diese auszugehen. Die Bereitstellung einer sekundären Quelle, wie dem Recycling kann hier zu einer Erhöhung der Sicherheit der Rohstoffversorgung sowie einer Minderung der Importabhängigkeit beitragen und einer starken Preis­ volatilität entgegenwirken (vgl. Hoyer/Kieckhäfer/Spengler 2015, S. 506; Spengler/

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Hoyer/Kieckhäfer 2016, S. 626). So lagen die Marktpreise für Schlüsselmaterialien der Lithium-Ionen-Traktionsbatterien im Jahr 2016 bei 1,50 EUR/kg für Aluminium, 5,00 EUR/kg für Kupfer, 6,00 EUR/kg für Lithiumcarbonat, 9,00 EUR/kg für Nickel und 33 EUR/kg für Kobalt (vgl. LME 2017; USGS 2017). Basierend auf diesen Preisen über­ steigt der Wert der in einem 300 kg schweren Batteriesystem enthaltenen Materialien 700 EUR. Somit birgt das Recycling von Altbatterien ein erhebliches ökonomisches Po­ tential (vgl. Thies et al. 2018, S. 258). Aus ökologischer Sicht kann durch ein Recycling die Schonung der Rohstoffreserven sowie eine Verringerung der Umweltbelastungen erreicht werden. Dies ist insbesondere darin begründet, dass „die Sekundärprodukti­ on von Metallen im Allgemeinen verhältnismäßig wenig Energieeinsatz erfordert und im Vergleich zur Primärproduktion deutlich weniger Schadstoffe emittiert“ (Hoyer/ Kieckhäfer/Spengler 2015, S. 506; Spengler/Hoyer/Kieckhäfer 2016, S. 626). Ausgereifte Prozesse und Anlagen, die sich für eine Rückführung und Behand­ lung der Altbatterien zur Rückgewinnung der genannten Metalle eignen, existieren bislang nicht. Auch kann nicht auf bereits etablierte Recyclingnetzwerke, wie zum Beispiel für Altfahrzeuge, zurückgegriffen werden, da diese in der Regel strukturell und kapazitativ nicht für die Behandlung großer Mengen der technisch komplexen Li­ thium-Ionen-Traktionsbatterien ausgelegt sind (vgl. Hoyer 2015, S. 3; Spengler/Hoyer/ Kieckhäfer 2016, S. 626). Folglich ist noch vor der großflächigen Marktdurchdringung von Elektrofahrzeugen ein Recyclingnetzwerk für diese Batterien zu gestalten. Hierbei stehen im Rahmen der strategischen und taktischen Planung seitens der Automobil­ hersteller die Gestaltung der Rücknahme und Sammlung der Altbatterien, seitens der Recyclingunternehmen die Entscheidung über die zu errichtenden Recyclinganlagen, deren Standorte und Kapazitäten sowie die einzusetzenden Demontage- und Aufbe­ reitungsverfahren im Vordergrund (vgl. Hoyer 2015, S. 3 f.). In den letzten Jahren wurden in Deutschland im Rahmen von Forschungsprojek­ ten neue Recyclingverfahren für Lithium-Ionen-Traktionsbatterien entwickelt, so zum Beispiel die Verfahren LiBRi und LithoRec³ (vgl. LiBRi 2011; Kwade 2018). In LithoRec II entwickelte eine Konsortium aus Automobil-, Batterie- und Maschinenherstellern sowie Recyclern, Unternehmen der Rohstoffindustrie und Universitätspartnern eine Pilotanlage für die LithoRec-Technologie, mit dem langfristigen Ziel ein umfassen­ des, kooperatives Netzwerk für das Recycling von Lithium-Ionen-Traktionsbatterien zu etablieren (vgl. Hoyer 2015, S. 507; Kwade 2018). Im folgenden Abschnitt 4.2 wird zu­ nächst der LithoRec-Prozess beschrieben. Anschließend wird in Abschnitt 4.3 ein auf der aktivitätsanalytischen Modellierung von Demontage und Recycling aufbauendes Optimierungsmodell zur zukünftigen Technologie- und Kapazitätsplanung vorstellt.

3 Das Recyclingverfahren LithoRec für Lithium-Ionen-Traktionsbatterien wurde im Rahmen der durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) geförderten For­ schungsprojekte LithoRec (2009–2011) und LithoRec II (2012–2015) entwickelt. LithoRec II war ein Leuchtturmprojekt der Bundesregierung im Bereich Recycling und Ressourceneffizienz.

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4.2 Der LithoRec-Prozess Der LithoRec-Prozess kann grundsätzlich als eine Abfolge von Sammel-, Transport-, Sortierungs-, Behandlungs-, Beseitigungs- und Distributionsaktivitäten beschrieben werden. Im Rahmen der Behandlung der Lithium-Ionen-Traktionsbatterien können unterschiedliche Kombinationen verschiedener Technologien angewendet werden, wobei mit jeder Technologie verschiedene Komponenten und Materialien in unter­ schiedlichen Qualitäten zurückgewonnen werden können. Zu diesen Technologien zählen die Entladung, die manuelle und automatisierte Demontage sowie mechani­ sche, pyrometallurgische und hydrometallurgische Aufbereitungsschritte (vgl. Ho­ yer 2015, S. 56 f.). Die wesentlichen Prozessschritte sind in Abbildung 4 dargestellt und werden im Folgenden ausführlicher beschrieben. Im ersten Prozessschritt erfolgt, insbesondere zur Verringerung des Gefährdungs­ potentials, die Entladung des Batteriesystems. Bei der Entladung können zwei Tech­ nologievarianten unterschieden werden: Bei der ersten Variante ohne Energierück­ gewinnung werden die Batteriesysteme über einen großen Widerstand entladen und die Restenergie als Wärme abgeführt. Bei der zweiten Variante wird die gewonnene Restenergie in das Stromnetz eingespeist (vgl. Thies et al. 2018, S. 263). Im zweiten Schritt schließt sich die Demontage des Batteriesystems bis auf Zell­ ebene an. Diese kann entweder manuell oder teilautomatisiert über eine hybride Mensch-Roboter-Demontage erfolgen. Für die Formulierung des in Abschnitt 4.3 vor­ gestellten Optimierungsmodells wird jedoch nur die manuelle Demontage in Betracht gezogen, da sich die hybride Mensch-Roboter-Demontage noch in der Entwicklung befindet und dementsprechend noch keine gültigen Daten vorliegen. Darüber hin­ aus werden in diesem Schritt zusätzlich zu den Zellen wieder-/weiterverwendbare und wieder-/weiterverwertbare Produktkomponenten, wie Elektronikbauteile und Leiterplatten zurückgewonnen (vgl. Hoyer/Kieckhäfer/Spengler 2015, S. 509; Thies et al. 2018, S. 263). Batteriesystem

Entladenes Batteriesystem

Entladung

Elektrische Energie

Demontage

Elektronik Leiterplatten

Zellen

Beschichtung Mechanische Aufbereitung

Hydro-/Pyrometallurgie

Elektrolyt mit leitfähigem Salz

Cobalt

Aluminium

Lithium

Nickel

Kupfer Abb. 4: Prozessschritte des LithoRec-Prozesses zum Recycling von Lithium-Ionen-Traktionsbatterien (vgl. Hoyer 2015, S. 58; Thies et al. 2018, S. 260).

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Im Rahmen der mechanischen Aufbereitung, dem dritten Prozessschritt, werden die Zellen zunächst in einem Schredder zerkleinert. Zur Trennung und anschließenden Entsorgung flüchtiger organischer Substanzen (Elektrolyt mit leitfähigem Salz) ste­ hen zwei Technologievarianten zur Verfügung: die thermische Trocknung und die Lö­ sungsmittelextraktion. Die grobkörnigen Fraktionen werden weiter geschliffen, ge­ siebt und sortiert. Unter anderem werden in diesem Schritt Aluminium-, Kupfer- und Kathodenbeschichtungsfraktionen gewonnen (vgl. Hoyer/Kieckhäfer/Spengler 2015, S. 509; Thies et al. 2018, S. 263). Anschließend können im vierten Prozessschritt hydro- und pyrometallurgische Verfahren eingesetzt werden. Zur Rückgewinnung von Metallen, wie Cobalt, Nickel oder Lithium, werden neben thermischen Verfahren auch Kombinationen aus Flota­ tions-, Extraktions-, Konzentrations- und Fällungsverfahren sowie der Elektrolyse verwendet (vgl. Hoyer 2015, S. 58).

4.3 Modellierung von Demontage- und Recycling zur Technologieund Kapazitätsplanung Vor dem Hintergrund des frühen Entwicklungsstands des Fahrzeugmarkts und der Batterietechnologie, der unsicheren zukünftigen Wertstoffpreise und der noch in der Entwicklung befindlichen Recyclingverfahren bedarf die Einführung und Umsetzung eines Recyclings von Lithium-Ionen-Traktionsbatterien zur Absicherung potentieller Investoren einer fundierten Technologie- und Kapazitätsplanung (vgl. Hoyer 2015, S. 4). Das von Hoyer, Kieckhäfer und Spengler (2015) entwickelte und im Folgenden vorgestellte mathematische Optimierungsmodell zur integrierten Demontage- und Re­ cyclingplanung dient der Abschätzung der Wirtschaftlichkeit des LithoRec-Prozesses unter Berücksichtigung verschiedener, zukünftiger Markt- und Preisszenarien.⁴ Zur Bestimmung von Investitionsplänen bezüglich der im Planungszeitraum zu errichtenden Anzahl an Recyclinganlagen spezifischer Technologie und Kapazität adressiert das Modell sowohl die Gestaltungsebene (Investitionsplanung) als auch die Lenkungsebene (Demontage- und Recyclingplanung). Mit dem Ziel, dynamische Entwicklungen abbilden zu können zu ermöglichen ist der Planungszeitraum in dis­ krete Perioden unterteilt. Im Rahmen der Investitionsplanung werden Entscheidungen hinsichtlich der An­ zahl der in jeder Planungsperiode zu betreibenden Module getroffen. Dabei repräsen­ tieren Module eine bestimmte Recyclingtechnologie in einer bestimmten Kapazitäts­ klasse. Zu Beginn jeder Planungsperiode kann eine unbegrenzte Anzahl an Modulen in Betrieb genommen werden. Am Ende einer Planungsperiode können diese Module

4 Der Abschnitt 4.3 basiert auf vorhergehenden Arbeiten des Autors (vgl. Hoyer/Kieckhäfer/Spengler 2015, S. 514 ff.). Entnommene Abschnitte sind im Folgenden nicht gesondert gekennzeichnet.

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deaktiviert und liquidiert werden. Somit wird nicht nur über die Anzahl der installier­ ten Module sondern auch über ihre Betriebszeit entschieden. Die Demontage- und Recyclingplanung beinhaltet Entscheidungen bezüglich der Menge und dem Mix der in jedem Modul und in jeder Planungsperiode zu behandeln­ den Batterien und Zwischenprodukte. Des Weiteren werden im Rahmen der Demon­ tage- und Recyclingplanung die benötigten Einsatzfaktoren, die zurückgewonnenen Wertstoffe sowie die anfallenden Reststoffe quantifiziert. Die hierfür notwendige Mo­ dellierung zur Bestimmung der durch die eingesetzten Demontage- und Recycling­ prozesse entstehenden Stoff- und Energieströme erfolgt auf Basis der linearen Akti­ vitätsanalyse (vgl. Abschnitt 3.2). Das hierzu verwendete und bereits in Kapitel 3 vor­ gestellte integrierte Demontage- und Recyclingplanungsmodell basiert auf Arbeiten von Spengler und Rentz (1996) und Walther und Spengler (2005) und wurde um die Abbildung von Transportprozessen erweitert. Der entwickelte aktivitätsanalytische Modellierungsansatz wird in Abbildung 5 an­ hand der in Abschnitt 4.2 beschriebenen Prozessschritte der Demontage sowie der mechanischen Aufbereitung beispielhaft veranschaulicht. Für jeden der beiden Pro­ zessschritte wird ein Modul installiert. Das Demontagemodul D1 sammelt und behan­ delt sämtliche der zwei unterschiedlichen, verfügbaren Batterietypen (100 Stück der Batterien vom Typ BT1 sowie 200 Stück der Batterien vom Typ BT2). Im Rahmen der Demontage können zwei verschiedene Aktivitäten ausgeführt werden. Bei der Anwen­

BT1

BT2

Transport von Zwischenprodukten

Mechanische Aufbereitung (M1)

Demontage (D1)

Aktivität 1

Produkteingang

Aktivität 2

Produktquellen

Bezugsquellen

Senken Abb. 5: Modellierung von Demontageprozessen mittels linearer Aktivitätsanalyse (vgl. Hoyer 2015, S. 112; Hoyer/Kieckhäfer/Spengler 2015, S. 518).

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dung der Aktivität 1 wird eine Batterie vom Typ BT1 in 100 Mengeneinheiten (ME) des Zwischenprodukts Zellen Typ ZT1 sowie 5 ME des Reststoffs Plastik (PL) transformiert. Zur Durchführung der Aktivität werden 0,5 ME elektrische Energie eingesetzt. Bei der Anwendung der Aktivität 2 wird eine Batterie vom Typ BT2 in 50 ME Zellen Typ ZT2 sowie 2 ME Plastik transformiert. Hierfür werden 0,3 ME elektrische Energie (EE) be­ nötigt. Zur Behandlung sämtlicher gesammelter Batterien muss die Aktivität 1 mit ei­ ner Intensität von 100 und Aktivität 2 mit einer Intensität von 200 betrieben werden. Als Input werden hierfür zusätzlich insgesamt 110 ME elektrische Energie benötigt. Als Output ergeben sich darüber hinaus 900 ME Plastik, welche in den Senken au­ ßerhalb des Systems beseitigt werden. Bei der Durchführung der Aktivitäten werden jeweils 10.000 ME der beiden Zelltypen zurückgewonnen. Diese werden zum instal­ lierten mechanischen Aufbereitungsmodul M1 transportiert und dort weiter behan­ delt (vgl. Hoyer 2015, S. 111 f.). Aufbauend auf der aktivitätsanalytischen Modellierung von Demontage- und Re­ cyclingprozessen wird nun ein integriertes Demontage- und Recyclingplanungsmo­ dell mathematisch formuliert und zur expliziten Berücksichtigung von Investitions­ entscheidungen um binäre Entscheidungsvariablen erweitert. Die Struktur des sich ergebenden mathematischen Optimierungsmodells zur Technologie- und Kapazitäts­ planung ist in Abbildung 6 dargestellt (vgl. Hoyer 2015, S. 108 f.). DATEN Faktoren  Verfügbare Produkte  Masse der Faktoren  Einstands-, Verkaufsund Entsorgungspreise der Faktoren  Sammelkostensätze  Verbringungskostensätze Module und Aktivitäten  Investitionsbarwerte  Mindest-/ Maximalnutzungsdauern  Kapazitäten  Kapazitäts- und Aktivitätskoeffizienten  Variable Auszahlungen je Aktivitätsausführung Sonstige  Kalkulatorischer Zinssatz  Sammelquoten  Mindestrecyclingquoten

OPTIMIERUNGSMODELL Zielfunktion des potentiellen Investors: Maximierung des Kapitalwerts der Zahlungen resultierend aus:  der Sammlung von Produkten  den Investitionen, dem Betrieb (fix und variable) sowie den Liquidationen der Module  den Transport von Zwischenprodukten  dem Kauf von Einsatzfaktoren, dem Verkauf von Wertstoffen und der Entsorgung von Reststoffen Nebenbedingungen  Begrenzte Verfügbarkeit von Produkten  Produktakzeptanz und begrenzte Kapazität von Modulen  Stofftransformationen in Modulen und Stofffluss zwischen Modulen  Einhaltung der Mindestnutzungsdauer von Modulen  Einhaltung von Sammel- und Mindestrecyclingquote  Auswahl der Sammelkostenstufe

Entscheidungen Investitionsplan Anzahl zu betreibender Module sowie jeweils Zeitpunkt In- und Außerbetriebnahme Recyclingprogrammplan Menge und Art der zu behandelnden Produkte, benötigte Einsatzstoffe und Energie, zu verkaufende Wertstoffe, zu beseitigende Reststoffe

Abb. 6: Konzept des Modells zur Technologie- und Kapazitätsplanung in Recyclingnetzwerken (vgl. Hoyer 2015, S. 108).

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Als Zielfunktion wird die Maximierung des Kapitalwerts gewählt, welcher sich auch den diskontierten Zahlungsströmen sämtlicher Investitionsentscheidungen sowie auf dieser Basis möglichen Demontage- und Recyclingaktivitäten ergibt. Die Zahlungs­ ströme beinhalten auf der einen Seite Investitionsauszahlungen, Liquidationseinzah­ lungen sowie fixe Betriebsauszahlungen, die für jeden Modultyp definiert sind, und variable Betriebsauszahlungen, welche von den im Modul verarbeiteten Produkten und Zwischenprodukten abhängig sind. Die Berücksichtigung von Skaleneffekten wird dabei durch die Vorgabe verschiedener Werte für die Zahlungsgrößen für un­ terschiedliche Kapazitätsklassen ermöglicht. Auf der anderen Seite umfassen die Zahlungsströme Aus- und Einzahlungen die im Zusammenhang mit den Materialund Energieströmen zu und zwischen den Modulen stehen. Dies sind Auszahlungen für Transport, Beschaffung und Entsorgung sowie Einzahlungen aus dem Verkauf von Wertstoffen und Energie (vgl. Hoyer 2015, S. 109). Zu den im Modell berücksichtigten Restriktionen zählen unter anderem die dem LithoRec-Prozess zugrundeliegenden Material- und Energieströme und ihre Trans­ formation in mehrstufige Prozesse, minimale Recycling- und Sammelquoten sowie beschränkte Verfügbarkeiten von Altbatterien. Im Ergebnis steht somit ein gemischtganzzahliges lineares Optimierungsproblem, welches für die Beantwortung ökono­ mischer und gestalterischer Fragen, die mit der Planung des Recyclings von Lithi­ um-Ionen-Traktionsbatterien einhergehen, eingesetzt werden kann. Zur Anwendung dieses Modells und damit zur Bewertung und Entscheidungsunterstützung einer Technologie- und Kapazitätsplanung zum zukünftigen Recycling von Lithium-IonenBatterien aus Elektrofahrzeugen sei auf verschiedene Literatur (vgl. Hoyer 2015; Ho­ yer/Kieckhäfer/Spengler 2015; Thies et al. 2018) verwiesen.

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Matthias G. Wichmann

Energie- und ressourceneffiziente Produktion 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 3 3.1 3.2 3.3 4

Einleitung | 1020 Begriffe | 1021 Ressource | 1022 Energie | 1024 Interdependenzen zwischen Energien und Ressourcen | 1026 Effizienz | 1027 Management einer energie- und ressourceneffizienten Produktion | 1029 Strukturierung von Planungsproblemen des Produktionsmanagements | 1029 Gestaltung einer energie- und ressourceneffizienten Produktion | 1031 Energie- und ressourceneffiziente Verwendung von Produktionssystemen | 1034 Zusammenfassung und zukünftige Forschungsfragen | 1038 Literatur | 1039

Zusammenfassung. Die betriebliche Produktion ist der wesentliche Verwender von Energie und Ressourcen im Unternehmen. Die Aufgabe des Produktionsmanagements ist es, Entscheidungen zur Gestaltung und zum Betrieb des Produktionssystems vor­ zubereiten und zu treffen. Für eine energie- und ressourceneffiziente Produktion sind hierbei ausgewählte Energieformen und Ressourcen in die Entscheidung mit einbe­ zogen werden. In diesem Beitrag werden Energieformen und Ressourcen inhaltlich abgegrenzt. Anschließend werden für Planungsprobleme des Produktionsmanage­ ments ausgewählte Ansätze zur Unterstützung einer energie- und ressourceneffizi­ enten Produktion dargestellt. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf zukünftige Forschungsfelder.

1 Einleitung Seit den 1980er Jahren hat sich das Konzept der nachhaltigen Entwicklung als ein Leit­ bild für die Entwicklung von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft etabliert. Nachhal­ tige Entwicklung zielt auf eine Entwicklung ab, welche die Bedürfnisse einer Gene­ ration befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, einzuschränken. Dies stellt insbesondere auf eine Entwicklung ab, in der die Nutzung von Ressourcen, Investitionen, technologische Entwicklungen und insti­ tutionelle Wandel so aufeinander abgestimmt sind, dass ihr Potential zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse gesteigert wird (vgl. Brundtlandt-Kommission 1987, S. 51 ff.). https://doi.org/10.1515/9783110473803-052

Energie- und ressourceneffiziente Produktion

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Dieses Leitbild ist mittlerweile nicht nur fester Bestandteil politischer Entschei­ dungsmaximen, sondern schlägt sich auch im unternehmerischen Handeln nieder. So wird einerseits nachhaltiges Handeln als Marktdifferenzierungskriterium angesehen. Andererseits gehen mit dem nachhaltigen Handeln Bedarfe zur Steigerung der Ener­ gie- und Ressourceneffizienz einher. Die Steigerung der Energie- und Ressourceneffi­ zienz ist notwendig um einerseits die mit dem Verbrauch von Energie und Ressourcen verbundenen Kosten zu reduzieren. Andererseits geht mit der Steigerung der Effizienz eine Verringerung der ökologischen Auswirkungen eines Unternehmens einher (vgl. Schenk 2015, S. 18 ff.). Eine Steigerung der Effizienz kann sowohl durch technische Maßnahmen als auch durch organisatorische und verhaltensändernde Maßnahmen erreicht werden (vgl. Wahren 2014, S. 29). In der Industrie werden Energie und Ressourcen eingesetzt, um durch ihre Trans­ formation im Rahmen der Produktion verkaufsfähige Endprodukte zu erzeugen (vgl. Fandel 2010, S. 1 ff.). Die Aufgabe des Produktionsmanagements ist die Unterstüt­ zung von Managemententscheidungen hinsichtlich der Gestaltung und Verwendung beziehungsweise des Betriebs des Produktionssystems (vgl. Dyckhoff/Spengler 2010, S. 6 ff.). In den betriebswirtschaftlichen Entscheidungsmodellen, welche zur Entschei­ dungsunterstützung herangezogen werden, stehen hierzu bislang zumeist zahlungs-, deckungsbeitrags- oder kostenorientierte Zielgrößen im Mittelpunkt. Diese basieren auf der Annahme, dass sich sämtliche Einflussgrößen auf die Produktion monetarisie­ ren lassen. Vor dem Hintergrund einer energie- und ressourceneffizienten Produktion ist eine rein ökonomische Betrachtung dieser Fragestellungen jedoch nicht immer möglich oder ausreichend. Das Ziel dieses Beitrages ist die Darstellung von Ansätzen des Produktionsma­ nagements, die auf eine energie- und ressourceneffiziente Produktion abstellen. Da­ zu werden in Abschnitt 2 zunächst die relevanten Begriffe der Energie, der Ressource und ihrer Interdependenzen sowie Ansätze zur Bemessung der Effizienz dargestellt. Abschnitt 3 widmet sich, aufbauend auf einer zeitlichen, sachumfänglichen und ener­ giebezogenen Abgrenzung von Planungs- und Betrachtungsebenen des Produktions­ managements, der Darstellung von Planungsmodellen zur Gestaltung und Lenkung von Produktionssystemen. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung und ei­ nem Ausblick auf mögliche zukünftige Forschungsfelder.

2 Begriffe In diesem Abschnitt werden die wesentlichen Begriffe der energie- und ressourcenef­ fizienten Produktion dargestellt. Hierzu wird in Abschnitt 2.1 auf den Begriff der Res­ source und in Abschnitt 2.2 auf den Begriff der Energie eingegangen. In Abschnitt 2.3 werden wesentliche Interdependenzen zwischen Energien und Ressourcen aufge­ zeigt. Abschließend werden in Abschnitt 2.4 der Begriff der Effizienz sowie verschie­ dene Kennzahlen zur Bewertung der Energie- beziehungsweise Ressourceneffizienz dargestellt.

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2.1 Ressource Der Begriff Ressource wird, je nach Anwendungsfeld, anders verstanden. Im Folgen­ den werden eine geläufige, die produktionswirtschaftliche sowie die volkswirtschaft­ liche Begriffsdefinition vorgestellt und diskutiert. Im Allgemeinen definiert der Duden Ressourcen einerseits als „natürlich vorhan­ denen Bestand von etwas, was für einen bestimmten Zweck, besonders zur Ernäh­ rung der Menschen und zur wirtschaftlichen Produktion, [ständig] benötigt wird“ und andererseits als „Bestand an Geldmitteln, Geldquelle, auf die jemand zurückgreifen kann“. Mit dieser Definition werden drei wesentliche Eigenschaften von Ressourcen festgelegt. Erstens verweist der „natürlich vorhandene Bestand“ auf eine in der Re­ alwirtschaft verortete Verfügbarkeitsmenge von Sachgütern, die ohne äußeres Zutun, insbesondere nicht künstlich vom Menschen nachgebildet oder hergestellt worden ist. Zweitens werden Ressourcen zur „wirtschaftlichen Produktion benötigt“ und sind da­ mit ihrerseits Input für jede Form der wirtschaftlichen Transformation. Drittens stellen auch „Geldmittel“ und damit nicht nur natürlich vorhandene Sachgüter eine Ressour­ ce dar. In der Betriebswirtschaftslehre, insbesondere in der Produktionswirtschaft, wird der Begriff der Ressource synonym zum Begriff der Input- beziehungsweise Produk­ tionsfaktoren verwendet (vgl. Fandel 2010, S. 1 ff.). Produktionsfaktoren unterteilen sich hierbei in Sachgüter und Dienstleistungen. Sachgüter umfassen Güter materiel­ ler Art wie Nutzungs- und Gebrauchsgüter in Form von Grundstücken, Gebäuden, Ma­ schinen und Einrichtungsgegenständen sowie Umsatzgüter in Form von Rohstoffen, Materialen, Hilfsstoffen und Waren. Dienstleistungen sind immateriell und umfassen beispielsweise Transporte, Versicherungen oder menschliche Arbeit. Arbeit wird da­ bei in der Regel unterteilt in direkt in die Wertschöpfung einfließende, ausführende Arbeit sowie planerische Tätigkeiten, welche dispositiver Faktor bezeichnet werden (vgl. Gutenberg 1951; Busse von Colbe/Laßmann 1986; Dyckhoff/Spengler 2010). In der Volkswirtschaftslehre wird der Begriff der Produktionsfaktoren nochmals weiter gefasst. So umfassen Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Natürliche Res­ sourcen (vgl. Rogall 2008). Arbeit unterteilt sich hierbei in koordinierende Tätigkei­ ten als dispositiver Faktor, geistige Kenntnisse sowie ausführende Tätigkeiten. Kapital umfasst Maschinen und Anlagen im Sinne von Produktionsmitteln, Gebäude sowie die zugrundeliegende Infrastruktur. Natürliche Ressourcen umfassen alle Bestand­ teile der Natur wie beispielsweise Wasser, Boden, Rohstoffe und Primärenergieträ­ ger. Dabei werden natürliche Ressourcen gemäß ihrer Regenerierbarkeit unterteilt in erneuerbare Ressourcen, nicht erneuerbare Ressourcen, quasi unerschöpfliche Res­ sourcen sowie Umweltmedien. Erneuerbare Ressourcen können sich in überschau­ barer Zeit regenerieren, sind jedoch erschöpfbar, wenn ihre Regenerationsrate durch ihre Entnahmerate überschritten wird. Dies umfasst beispielsweise Flora und Fauna. Nicht erneuerbare Ressourcen sind hingegen nicht in menschlichen Zeitmaßen rege­ nerierbar. Hierzu zählen beispielsweise Kohle, Erdöl oder Erdgas. Quasi unerschöpf-

Energie- und ressourceneffiziente Produktion |

1023

liche Ressourcen werden verbraucht, stehen jedoch weitaus länger als in menschli­ chen Zeiträumen fühlbar zur Verfügung. Beispiele sind Solarenergie oder Geothermie. Umweltmedien beschreiben die Bereiche der Umwelt, auf die sich Umweltverschmut­ zung auswirken kann wie beispielsweise Boden, Wasser und Luft (vgl. Junkernhein­ rich 1995, S. 306 ff.). Die drei unterschiedlichen Definitionen zeigen unterschiedliche Fokussierungen des Ressourcenbegriffes auf. So ist sowohl im geläufigen als auch im volkswirtschaft­ lichen Begriffsverständnis eine besondere Fokussierung auf die Umwelt zu erkennen. In der Folge wird in beiden Begriffswelten der Umgang mit Ressourcen im Wesent­ lichen sowohl auf deren Entnahme als auch auf die umweltrelevanten Wirkungen re­ duziert. Die betriebswirtschaftliche Begriffsdefinition adressiert hingegen den Einsatz von vielfältigen Produktionsfaktoren in der industriellen Wertschöpfung und stellt den umweltökologischen Aspekt zurück. In der Folge der unterschiedlichen Fokus­ sierungen ist für konkrete Problemstellungen eine kontextabhängige Abgrenzung des Ressourcenverständnisses erforderlich. In diesem Beitrag wird von der betriebswirt­ schaftlichen Definition des Ressourcenbegriffs ausgegangen. Die unterschiedlichen Arten von Ressourcen sind in der betriebswirtschaftli­ chen Praxis von unterschiedlicher Bedeutung. In Abbildung 1 sind die Wertigkeiten verschiedener Ressourcen im Rahmen der betrieblichen Produktion dargestellt. Die Bewertung erfolgt auf Basis der Kostenanteile am Bruttoproduktionswert in verschie­ denen Branchen des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland im Jahr 2015. Die dar­ gestellten Werte umfassen das verarbeitende Gewerbe insgesamt, die Branche der Me­ tallerzeugung und -bearbeitung sowie den Maschinenbau. Die Abbildung legt offen, dass im verarbeitenden Gewerbe Sachgüter in Form von Materialien und Handels­ waren einen Anteil von 54,9 % der aufgewendeten Kosten, menschliche Arbeit durch

insgesamt

54,9 %

Metallerzeugung und -bearbeitung

61,8 %

Maschinenbau

0%

22,1 % 1,8 % 21,2 %

19,2 % 5,1 % 13,9 %

49,6 %

20 %

30,7 %

40 %

60 %

0,9 % 18,8 %

80 %

Materialkosten und Handelswaren

Personalkosten, Lohnarbeiten und Leiharbeitnehmer

Energiekosten

Sonstige Kosten

100 %

Abb. 1: Kostenanteile am Bruttoproduktionswert in ausgewählten Branchen des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland 2015 (vgl. Statistisches Bundesamt 2015).

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Leiharbeit, Personalkosten und Lohnarbeiten 22,1 % und Energie hingegen lediglich 1,8 % der aufgewendeten Kosten ausmachen. Diversifiziert sich die Untersuchung hingegen in einzelne Branchen, zeigen sich deutliche Unterschiede in der Wertigkeit. So nehmen die Sachgüter in der Metallerzeugung beziehungsweise im Maschinenbau einen Kostenanteil von 61,8 % beziehungsweise 49,6 %, menschliche Arbeit einen Anteil von 19,2 % beziehungsweise 30,7 % und Energie 5,1 % beziehungsweise 0,9 % ein (vgl. Statistisches Bundesamt 2015). In der Folge werden in der betrieblichen Praxis, der Wertigkeit folgend, in der Analyse und Berücksichtigung von Ressourcen verschiedene Ressourcen adressiert.

2.2 Energie Energie stellt gemäß ihrer physikalischen Definition die Fähigkeit dar, Arbeit zu ver­ richten. Insofern ist die Energie eine fundamentale Größe. Zwei Klassen von Energie werden unterschieden. Einerseits ist Energie eine Bestandseigenschaft eines ther­ modynamischen Systems. So ist in den einzelnen Objekten und Bestandteilen eines Systems Energie gespeichert oder gebunden. Andererseits stellt Energie die Wechsel­ wirkung eines Systems mit anderen Systemen in Form von Arbeit, Wärme oder elek­ tromagnetischer Strahlung dar. Diese Prozessenergie wirkt als Energieträger nach außen. Beide Klassen von Energie sind wechselseitig miteinander verbunden. So kann gemäß dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik Energie weder verbraucht noch erzeugt werden, sondern lediglich von einer Form in eine andere umgewandelt werden. Für Bestands- und Prozessenergie bedeutet dies, dass immer dann, wenn ein System nach außen Prozessenergie in Form von Arbeit abgibt, gleichzeitig der Ener­ giebestand im System reduziert wird. Eine Energieaufnahme führt demgegenüber zu einer Steigerung des Energiebestands im System (vgl. VDI 4661). Hinsichtlich ihres Vorkommens werden sieben Formen von Energie unterschei­ den. Die erste Form ist die äußere mechanische Energie. Diese umfasst sowohl die kinetische Energie, welche aus der Bewegung eines Objektes resultiert, als auch die potentielle Energie, welche aus der Lage eines Objektes in einem Kraftfeld resultiert. Die zweite Form ist die innere Energie, welche sich aus der thermischen, der chemisch gebundenen sowie der atomkerngebundenen Energie eines Systems zusammensetzt. Die dritte Form ist die Enthalpie. Sie beschreibt diejenige Energiemenge, welche durch einen Stoffstrom über seine mechanische Energie hinaus beim Überschreiten von Sys­ temgrenzen transferiert wird. Die vierte Form ist mechanische Arbeit. Sie beschreibt die Prozessenergie, die durch die Anwendung einer Kraft an einem Angriffspunkt, bei­ spielswiese durch Rotation und Translation, übertragen wird. Die fünfte Form ist Wär­ me. Wärme ist eine Prozessenergie, die aufgrund eines Temperaturunterschieds zwi­ schen zwei Systemen übertragen wird. Die sechste Form ist die elektrische Energie, welche sich aus sind elektrischer und magnetischer Feldenergie zusammensetzt. Die

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1025

abschließende siebente Form ist elektromagnetische Strahlung, welche als Prozess­ energie durch elektromagnetische Felder übertragen wird (vgl. VDI 4661). Die Energiemenge eines Systems wird in die zwei Anteile Exergie und Anergie unterteilt. Unter der Exergie wird dabei die Energiemenge verstanden, welche sich in jede andere Energieform, besonders in Arbeit, umwandeln lässt. Exergie ist daher synonym zur technischen Arbeitsfähigkeit eines Systems (vgl. Rant 1956). Die Anergie beschreibt hingegen die Energie, die in einer festgelegten Umgebung nicht in ande­ re Energieformen umwandelbar ist. Der Exergieanteil beschreibt damit die „Qualität“ einer Energieform. Typischerweise bestehen elektrische und mechanische Energie zu 100 % aus Exergie. Der Exergieanteil von thermischer Energie ist hingegen variabel (vgl. VDI 4661). Hinsichtlich ihrer Bedeutung unterscheiden sich die Energieformen signifikant. In Abbildung 2 sind die Anwendungsformen von Energie hinsichtlich der Endener­ gie für verschiedene Sektoren im Jahr 2015 dargestellt. Die Endenergie beschreibt da­ bei die Energieform, die vom Verbraucher in Nutzenergie umgewandelt wird. Die vier dargestellten Balken beschreiben dabei den Energieverbrauch in der Industrie, im Verkehr, in Gewerbe, Handel und Dienstleistungen, und in Privathaushalten. Dabei macht die Industrie 29,0 %, der Verkehr 29,5 %, Gewerbe, Handel und Dienstleistun­ gen 15,7 % und Privathaushalte 25,8 % des Endenergieverbrauchs in Deutschland aus. So werden in der Industrie 65,3 % der Endenergie in Form von Prozesswärme und 23,2 % in Form mechanischer Energie eingesetzt. Im Gewerbe werden hingegen 46,8 % der Endenergie in Raumwärme, 17,6 % in mechanischer Energie und 13,8 % in der Be­ leuchtung eingesetzt. Privathaushalte nutzen Energie jedoch zu 68,6 % in Raumwär­ me, zu 14,4 % in Warmwasser und zu 6,2 % in anderen Wärmeformen. Damit zeigt sich, dass sektorenspezifisch andere Energieformen und demnach auch andere Transfor­ mationstechnologien relevant sind (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft 2017).

Industrie Verkehr Gewerbe, Handel, Dienstleistungen Privathaushalte 0%

20 %

40 %

60 %

80 %

Raumwärme

Warmwasser

sonstige Prozesswärme

Klimakälte (Strom)

sonstige Prozesskälte (Strom)

mechanische Energie

IKT (Strom)

Beleuchtung (Strom)

100 %

Abb. 2: Anteile von Endenergie in den Sektoren (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft 2017).

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2.3 Interdependenzen zwischen Energien und Ressourcen Die Begriffe der Energie und der Ressourcen sind im produzierenden Gewerbe eng miteinander verknüpft. Dabei lassen sich zwei Arten von Interdependenzen unter­ scheiden. Die erste Art adressiert den Einsatz insbesondere natürlicher Ressourcen als Energieträger zur Umwandlung in Energie. Die zweite Art adressiert den Einsatz von Energie in betrieblichen Ressourcen zur Realisierung betrieblicher Wertschöp­ fung. Der Einsatz von Ressourcen zur Umwandlung in verschiedene Energieformen erfolgt in der Regel in mehreren Stufen. Die Umwandlung erfolgt auf Basis von Ener­ gieträgern. Energieträger bezeichnen dabei alle Quellen oder Stoffe, in denen Energie mechanisch, thermisch, chemisch oder physikalisch gespeichert ist (vgl. Arbeitsge­ meinschaft Energiebilanzen e. V. 2015). Sie umfassen fossile Brennstoffe, erneuerbare Energien, Strom, Kernbrennstoffe und Fernwärme. Hierarchisch wird in Energiesyste­ men Primärenergie von Primärenergieträgern umgewandelt in Sekundärenergie auf Sekundärenergieträgern. Primärenergieträger sind natürlich vorkommende Energie­ träger; Sekundärenergieträger sind hingegen durch menschlichen Eingriff erzeugt (vgl. VDI 4608, Blatt 1, S. 13). Die Sekundärenergie wird anschließend im Anwen­ dungssystem in Endenergie, die angewendete Energieform, transformiert. Ein Teil der Endenergie ist abschließend die Nutzenergie, welche tatsächlich im zugrundelie­ genden Prozess Eingang. Die meisten der dargestellten Transformationsprozesse sind nicht in der Lage, die eingesetzte Energie vollständig in die nachfolgende Energieform umzusetzen. Daher ergeben sich an jeder Transformationsstufe Wandlungsverluste, welche die Bilanz entsprechend ausgleichen (vgl. Pehnt 2010, S. 22 f.). Für die Bezie­ hung zwischen Energieträgern und Ressourcen ergibt sich jedoch augenscheinlich, dass der Großteil der Endenergie auf Basis natürlich vorkommender Ressourcen er­ zeugt wurde. Andererseits ist der Einsatz von Energie in betrieblichen Ressourcen erforderlich, um eine betriebliche Wertschöpfung zu erzielen. So ist der Betrieb von Anlagen und Maschinen ohne den Einsatz von Strom kaum vorstellbar. Gleiches gilt für den Einsatz von Dampf, Druckluft, Kühlung und weiteren Medien in entsprechenden Produkti­ onssystemen (vgl. Herrmann et al. 2014). Die Auswahl von Produktionstechnologien hat daher zunächst lediglich einen Einfluss auf die Art und Menge von Energie, die grundsätzlich zur Herstellung einer Leistungsbereitschaft in der Produktion erforder­ lich ist. Weiterhin zeigt sich, dass die Energieverbräuche von Produktionsprozessen keineswegs konstant sind. Vielmehr unterliegt der Energieverbrauch bedarfsgesteu­ erten Schwankungen (vgl. Posselt 2016, S. 32 ff.). In Abbildung 3 ist eine zeitabhängi­ ge Energiebedarfskurve einer Schleifmaschine dargestellt. Diese zeigt, dass abhängig vom Zustand, in dem sich die Maschine befindet, unterschiedliche Energiemengen aufgenommen werden. Die aufgenommene Energie umfasst dabei nicht nur notwen­ dige Energiemengen für Produktionsschritte, sondern auch Energie für das Aufrecht­ erhalten der Produktionsbereitschaft in Stand-By-Zeiten. Die Energiemengen einzel­

Energie- und ressourceneffiziente Produktion |

1027

10.000

Leistungsaufnahme [W]

9.000

Arbeitsleistung

Abluftsystem

Filter Pumpe I+II

Schmiersystem

Steuerung

Aus

Spindelmotor

8.000 7.000 6.000 5.000 4.000 3.000 2.000 1.000 1 62 123 184 245 306 367 428 489 550 611 672 733 794 855 916 977 1.038 1.099 1.160 1.221 1.282 1.343 1.404 1.465 1.526 1.587 1.648 1.709 1.770 1.831 1.892

0

Zeit [s] Abb. 3: Zeit- und komponentenabhängiger Energiebedarf einer Schleifmaschine (vgl. Posselt 2016, S. 32).

ner Maschinen kumulieren wiederum zum Energiebedarf von Produktionslinien oder Fabriken. In der Folge ergibt sich, dass der Einsatz betrieblicher Ressourcen ursäch­ lich für den Bedarf nach Energie ist.

2.4 Effizienz Im Rahmen der Beschreibung der Leistungsfähigkeit eines Systems oder Prozesses werden zwei zentrale Begriffe unterschieden. Der erste zentrale Begriff ist die Effek­ tivität eines Systems. Diese beschreibt den Grad eines Systems, die an das System ge­ stellten Aufgaben beziehungsweise die gesetzten Ziele vollständig und genau zu er­ füllen („Die richtigen Dinge tun“) (vgl. DIN 9000:2015, 3.7.11). Die Art und Weise, wie die Ziele erreicht werden, wird dabei nicht bewertet. Der zweite zentrale Begriff ist die Effizienz eines Systems. Dieser geht über die Effektivität hinaus und erfordert zum Erreichen eines Zieles ebenso ein angemesse­ nes Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und der Wirkung („Dinge richtig tun“) (vgl. Pehnt 2010, S. 1). Dieser Definition folgend ergibt sich die Effizienz aus dem Verhältnis zwischen dem Ergebnis und den eingesetzten Ressourcen (vgl. DIN 9000:2015, 3.7.10). Dabei gibt es nicht nur ein ausgewähltes Effizienzmaß. Vielmehr lassen sich eine Vielzahl unterschiedliche Effizienzmaße definieren. Diese unterschei­ den sich durch die Festlegung der zu betrachtenden Ergebnisse beziehungsweise Out­ puts sowie der bewertungsrelevanten Ressourcen beziehungsweise Inputs. In Tabel­ le 1 sind Beispiele für produktionswirtschaftlich relevante, skalare Effizienzmaße in

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Tab. 1: Ausgewählte Effizienzmaße (in Anlehnung an Grün/Jammernegg 2012, S. 46 ff.). Bezeichnung

Definition

Bezeichnung

Definition

Produktmenge Arbeitsstunden

Wirtschaftlichkeit

Erträge Aufwendungen

Maschinenproduktivität

Produktmenge Maschinenstunden

Umsatzrentabilität

Umsatz Gewinn

Materialergiebigkeit

Produktmenge Materialverbrauch

Eigenkapitalrentabilität

Arbeitsproduktivität

Gewinn Eigenkapital

Anlehnung an Grün und Jammernegg (2012) dargestellt. Diese adressieren die Produk­ tivität, die Wirtschaftlichkeit und die Rentabilität. Alle skalaren Effizienzdefinitionen setzen jedoch voraus, dass sowohl die Ergebnisse als auch die eingesetzten Ressour­ cen in jeweils der gleichen Einheit beschreib- oder messbar sind, um das resultierende Verhältnis zu ermitteln. Ist dies nicht möglich, so ist auch die Bestimmung der Effizi­ enz eines Systems unmöglich. Da die Einheitengleichheit nicht vorausgesetzt werden kann, wird in der Produkti­ onswirtschaftslehre der Begriff der Effizienz weiter gefasst. Ausgangspunkt ist die Be­ schreibung der Produktion mittels geeigneter Aktivitäten. Der Begriff der Produktion kann von der Ausgestaltung eines Produktionssystems über die Bewertung individuel­ ler Technologien bis hin zu operativen Handlungsoptionen eines gegebenen Produkti­ onssystems vieles umfassen. Unabhängig davon ist eine Aktivität ein Vektor, welcher die Nettoinputs und -outputs aller verwendeten Objekte einer möglichen Produktion aggregiert. Die vektorielle Beschreibung erlaubt es, Aktivitäten miteinander zu ver­ gleichen, ohne Inputs und Outputs einer ökonomischen Bewertung zu unterziehen. Der Vergleich stellt darauf ab, Dominanzbeziehungen zwischen Aktivitäten zu identi­ fizieren. Eine Aktivität z1 ist dabei gegenüber einer anderen Aktivität z2 genau dann dominant, wenn die Nettomenge einer jeden positiv konnotierten Objektart, einem Gut, in z1 mindestens genauso hoch wie in z2 und die Menge einer jeden negativ kon­ notierten Objektart, einem Übel, in z1 höchstens genauso hoch wie in z2 ist. Eine der Bedingungen muss hierbei eine echte Ungleichung sein (vgl. Dyckhoff/Spengler 2010, S. 115 f.). Darauf aufbauend ist eine Aktivität genau dann effizient, wenn sie von kei­ ner anderen Aktivität dominiert wird (vgl. Dyckhoff/Spengler 2010; Fandel 2010). Die­ se Definition zeigt auf, dass es im Rahmen der Betrachtung einer Produktion nicht nur eine effiziente Aktivität geben muss, sondern eine Vielzahl effizienter Aktivitäten geben kann. Deren Bestimmung ist typischerweise nicht trivial. Ein gängiges Verfah­ ren zur Bestimmung effizienter Aktivitäten einer definierten Produktion ist die Data Envelopment Analyse (vgl. Charnes/Cooper/Rhodes 1978; Cooper/Seiford/Tone 2006; Hwang/Lee/Zhu 2016). Diese erlaubt es einerseits alle effizienten Aktivitäten und an­ dererseits quantitative Effizienzmaße und effiziente Referenzaktivitäten für nicht-effi­ ziente Aktivitäten zu identifizieren.

Energie- und ressourceneffiziente Produktion | 1029

3 Management einer energie- und ressourceneffizienten Produktion In diesem Abschnitt wird das Management einer energie- und ressourceneffizienten Produktion näher erläutert. Hierzu wird in Abschnitt 3.1 der verwendete Bezugsrah­ men dargestellt. Anschließend wird in Abschnitt 3.2 auf Ansätze der Gestaltung en­ ergie- und ressourceneffizienter Produktionssysteme eingegangen. In Abschnitt 3.3 werden nachfolgend Ansätze zur energie- und ressourceneffizienten Verwendung von Produktionssystemen dargestellt.

3.1 Strukturierung von Planungsproblemen des Produktionsmanagements Planungsprobleme des Produktionsmanagements, insbesondere unter Berücksichti­ gung der Energie- und Ressourceneffizienz, lassen sich anhand des betrachteten zeit­ lichen Horizonts, des technologischen Sachumfangs sowie der Grenzen der Energiebi­ lanzierung des betrachteten Produktionssystems strukturieren. Im Folgenden werden die drei Charakteristika näher beschrieben. Hinsichtlich des zeitlichen Horizonts lassen sich das strategische, taktische und operative Produktionsmanagement unterscheiden (vgl. Zäpfel 2001, S. 45 ff.). Das strategische Produktionsmanagement umfasst Planungsaufgaben mit einem Hori­ zont von ca. fünf Jahren. Diese adressieren insbesondere die Erschaffung und Er­ haltung einer leistungsstarken Produktion sowie die Aufrechterhaltung der Wett­ bewerbsfähigkeit unter sich verändernden Bedingungen im betrieblichen Umfeld. Neben anderen Aufgaben umfasst dies insbesondere die Auswahl zukünftiger Stand­ orte. Das taktische Produktionsmanagement umfasst Planungsaufgaben mit einem Horizont zwischen einem und fünf Jahren. Diese adressieren die Konkretisierung der Strategien, Entscheidungen über zukünftige Leistungsfelder, Entscheidungen über einzusetzende Produktionstechnologien sowie die Gestaltung der Produktionsorga­ nisation. Damit einher geht insbesondere die Planung der Produktionskapazitäten sowie das Technologiemanagement. Das operative Produktionsmanagement umfasst Planungsaufgaben mit einem Horizont von weniger als einem Jahr. Im Mittelpunkt stehen kurzfristige Entscheidungen zum optimalen Einsatz des gegebenen Produk­ tionssystems. Diese umfassen die kurzfristige Produktionsprogrammplanung, Fra­ gestellungen der Losgrößen- und Ressourceneinsatzplanung, der Reihenfolge- und Belegungsplanung sowie der operativen Steuerung von Produktionssystemen. Strate­ gische und taktische Aufgaben dienen demnach der Gestaltung, operative Aufgaben hingegen der Verwendung von Produktionssystemen (vgl. Dyckhoff/Spengler 2010, S. 29 ff.; Zäpfel 2001, S. 45 ff.).

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Hinsichtlich des Sachumfangs lassen sich fünf technologische Betrachtungs­ ebenen der Produktion unterscheiden. Die erste Ebene ist die die Maschinenebene. Hierbei werden lediglich individuelle Anlagen und Werkzeuge sowie zugehörige Hilfs­ systeme betrachtet. Die zweite Ebene ist die Ebene von Produktionslinien, Fertigungs­ zellen und Werkstätten. In dieser Ebene werden mehrere Geräte organisatorisch miteinander verbunden, um gemeinsam spezifische Aufgaben, beispielsweise die Fertigung eines komplexen Bauteils zu erfüllen. Die dritte Ebene ist die Fabrikebe­ ne. Eine Fabrik umfasst dabei eine oder mehrere Fertigungslinien beziehungsweise Werkstätten sowie die zugehörige technische Gebäudeausstattung. Die technische Gebäudeausstattung dient der dezentralen Bereitstellung der produktionsrelevanten Medien wie Dampf, Druckluft und Kühlung. Die vierte Ebene ist die Multi-FabrikEbene. Diese umfasst mehrere regional nahe beieinanderstehende Fabriken. Diese Betrachtungsebene erlaubt die Berücksichtigung von fabrikübergreifenden Stoff- und Energieströmen, welche synergetisch genutzt werden können. Die fünfte Ebene ist abschließend die Ebene globaler Wertschöpfungsketten. Diese umfasst alle Fabriken, deren organisatorische und medienbezogene Infrastruktur sowie die zwischenge­ schalteten Transportaufwendungen. Aus der Betrachtungsebene ergeben sich rele­ vante Erkenntnisse hinsichtlich der im Management zu berücksichtigenden Energie­ formen und Ressourcen sowie deren Interdependenzen (vgl. Duflou et al. 2012). Hinsichtlich der Grenzen der Energiebilanzierung lassen sich drei Bilanzierungs­ ebenen unterscheiden. Die erste Bilanzierungsebene umfasst ausschließlich die direkte Anwendung von Endenergie im Wertschöpfungsprozess. Im Mittelpunkt der Bilanzierung steht dabei eine ausgewählte Energieform. Die Umwandlung von Ener­ gieformen wird dementsprechend nicht berücksichtigt. Die zweite Bilanzierungs­ ebene umfasst neben der Anwendung von Endenergie auch die im Rahmen eigener Entscheidungen beeinflussbare Umwandlung von Energieformen in internen Ener­ giewandlungssystemen. Dies kann beispielsweise die Umwandlung von Brennstoffen in elektrische Energie in eigenverantworteten Generatoren oder die Umwandlung von elektrischer Energie in Druckluft sein. Diese Bilanzierungsebene betrachtet neben den Interdependenzen zwischen der internen Energieumwandlung und der Endenergie­ anwendung auch Interdependenzen zwischen verschiedenen Wandlungseinheiten. Die abschließende dritte Bilanzierungsebene umfasst abschließend, neben der zwei­ ten Bilanzierungsebene, die externe Energieumwandlung. Die externe Energieum­ wandlung wandelt Primär- und Sekundärenergieträger in Sekundär- und Endenergie um. Sie ist mit der internen Energieumwandlung sowie der eigentlichen Produktion in der Regel über einen Markt verbunden. Die unterschiedlichen Bilanzierungsräu­ me sind beispielhaft in Abbildung 4 dargestellt. Aus den Bilanzgrenzen ergeben sich ebenfalls relevante Erkenntnisse hinsichtlich der im Management zu berücksichti­ genden Energieformen und deren Interdependenzen (vgl. Gahm et al. 2016).

Energieanbieter

Energie- und ressourceneffiziente Produktion

| 1031

Externes Energiewandlungssystem (eWS) Primärenergieträger

eWE1

eWE2

eWE3

Energiemarkt

Energienutzer

Internes Energiewandlungssystem (iWS)

Produktionssystem (PS)

iWE1

PE3

PE2

iWE2

PE1

iWE3 Primärenergieträger eWE: externe Wandlungseinheit

PE5

PE4 PE6

Sekundärenergieträger iWE: Interne Wandlungseinheit

Endenergie PE: Produktionseinheit

Abb. 4: Bilanzierungsräume von Energiesystemen (in Anlehnung an Gahm et al. 2016).

3.2 Gestaltung einer energie- und ressourceneffizienten Produktion Hinsichtlich der Gestaltung von Produktionssystemen lassen sich zwei wesentliche Planungsaufgaben des Produktionsmanagements unterscheiden. Diese sind zum ei­ nen die Systemgestaltung durch die Auswahl von Produktionstechnologien, deren zielorientierte Kombination und kapazitative Ausgestaltung sowie zum anderen die Prozessgestaltung. Für beide Planungsaufgaben werden im Folgenden ausgewählte Ansätze kurz dargestellt. Die Systemgestaltung dient der Auswahl, Kombination und kapazitativen Abstim­ mung verschiedener Produktionstechnologien zur Erzielung der unternehmerischen Produktionsziele. Die Auswahl von Produktionstechnologien ist dabei zunächst ge­ trieben von ihrer Fähigkeit, die notwendigen Produktionsschritte und Arbeitsgänge technisch zu realisieren. Stehen jedoch mehrere Technologien zur Auswahl, ist zu ent­ scheiden, welche der verfügbaren Technologien die am besten geeignete Technologie ist. Im Rahmen der energie- und ressourceneffizienten Produktion werden hierbei ver­ schiedene Verfahren angewandt, welche eine umfassende Bewertung der im Rahmen der Produktion notwendigen Stoff- und Energieströme sowie ihrer ökologischen und ökonomischen Wirkungen ermöglichen. Eine grundlegende Methode ist hierbei die Materialflussanalyse. In einer typischerweise vierstufigen Analyse werden erstens das zu betrachtende System und seine Grenzen festgelegt, zweitens die betrachtungsre­

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levanten Materialien abgegrenzt, drittens Bestände und Flüsse im System ausgewie­ sen und viertens systemgrenzenübergreifende Flüsse identifiziert. In der Folge wird das betrachtete System transparent (vgl. Brunner/Rechberger 2004). Aufbauend auf der Materialflussanalyse wird mit der Lebenszyklusbewertung eine ökologische Be­ wertung von Produktionssystemen ermöglicht. Hierbei werden die grenzüberschrei­ tenden Materialströme in Umweltwirkungskategorien transformiert, die ihrerseits die Beeinflussung der Umwelt durch das betrachtete System beschreiben. Durch eine Ag­ gregation der Umweltwirkungskategorien aller grenzübergreifenden Ströme wird die ganzheitliche Bewertung eines Produktionssystems aber auch die Bewertung von Pro­ dukten ermöglicht (vgl. DIN EN ISO 14040). Zur ökonomischen Bewertung werden aus umweltökonomischer Sicht sowohl das Konzept der Lebenszykluskostenbewertung, als auch klassische Verfahren der Amortisations- und Kapitalwertrechnung angewen­ det (vgl. VDI 2884; DIN EN 60300-3-3). Im Ergebnis erlauben die Bewertungsansätze eine Beschreibung der Leistungsfähigkeit der betrachteten Systeme sowohl auf Basis der ein- und umgesetzten Materialmengen als auch deren ökonomischen und öko­ logischen Folgen. Zur Auswahl werden darüber hinaus Verfahren der multikriteriel­ len Entscheidungsfindung angewendet. Diese zielen darauf ab, die Unvergleichbar­ keit von alternativen Systemkonfigurationen aufgrund der Vielzahl der Bewertungs­ kriterien zu überwinden und präferierte Alternativen abzuleiten (vgl. Zimmermann/ Gutsche 1991, S. 22). Zur Kapazitätsbestimmung werden darüber hinaus seit langer Zeit vielfältige Pla­ nungsansätze angewendet. Diese adressieren zumeist Ansätze der Kapazitätsexpan­ sion zur Erfüllung einer stetig wachsenden Nachfrage. Umfassende Literaturübersich­ ten finden sich beispielsweise bei Julka et al. (2007) oder Martínez-Costa et al. (2014). Aus finanzwirtschaftlicher Sicht werden verstärkt Real-Options-Modelle zur Bestim­ mung sinnvoller Produktionskapazitäten angewendet (vgl. Huberts et al. 2015). Im Rahmen der Kapazitätsplanung schlägt sich Ressourceneffizienz insbesondere in der Gestaltung von Recyclingnetzwerken nieder. Diese zielen darauf ab, bereits der Umwelt entnommene materielle Ressourcen bestmöglich in Wirtschaftskreisläufe zurückzuführen. Die Integration aller Entscheidungen in Modellen zur simultanen Standort-, Technologie- und Kapazitätswahl, welche auch Kapazitätsreduktionen be­ rücksichtigen, finden sich beispielsweise bei Walther, Schatka und Spengler (2012). Insgesamt werden für die Kapazitätsplanung verstärkt gemischt-ganzzahlige Opti­ mierungsmodelle angewendet. Aufgrund der langfristigen Perspektive adressieren Fragestellungen der Systemgestaltung zumeist die Fabrik- oder fabrikübergreifende Betrachtungsebenen unter Berücksichtigung der Energiebedarfe des Produktionsund internen Wandlungssystems. Einen besonderen Ansatz der Gestaltung energie- und ressourceneffizienter Pro­ duktionssysteme liefern Hoyer, Kieckhäfer und Spengler (2015). In diesem wird die Gestaltung eines Recyclingnetzwerks von Lithium-Ionen-Traktionsbatterien durch eine kombinierte Technologie- und Kapazitätsauswahl adressiert. Dabei werden vier wesentliche Problemeigenschaften berücksichtigt. Erstens umfasst das Recycling­

Energie- und ressourceneffiziente Produktion

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netzwerk mehrere Stufen. In jeder Stufe können Recyclingprozesse durchgeführt werden. Zweitens stehen für jede Stufe mehrere Recyclingtechnologien zur Aufbe­ reitung von Lithium-Ionen-Traktionsbatterien zur Verfügung. Sie unterschieden sich durch die recycelbaren Batterietechnologien, -komponenten und -bauteile sowie die Mengen und Zusammensetzungen der aus den Einsatzstoffen gewonnenen Materi­ almengen. Drittens können die Technologien in unterschiedlichen Größenklassen errichtet werden. Die Größenklassen unterscheiden sich hinsichtlich der verarbei­ tungsfähigen Materialmengen sowie der zugehörigen Investitionshöhen und Zah­ lungsströme. Die Größenklassen adressieren darüber hinaus Größendegressionsef­ fekte in der Errichtung von Anlagen. Viertens wird ein langfristiger Planungszeitraum mit mehreren Planungsperioden betrachtet. In der Folge können Entscheidungen der Anlagenerrichtung in Folgeperioden zurückgenommen oder durch Kapazitätsverän­ derungen angepasst werden. Damit verbunden sind jedoch Zahlungsströme. Das Ziel der Planung besteht in der Optimierung des durch das Recyclingnetzwerk realisierten Kapitalwerts. Der Kapitalwert wird in diesem Fall einerseits durch anlagenspezifi­ sche Zahlungen und andererseits durch materialstrombezogene Zahlungen, sowohl für Recyclingbatterien als auch für die durch das Recycling erzeugten Materialien beeinflusst. Im Ergebnis entsteht sowohl ein Investitions- als auch ein Recyclingpro­ gramm für das gesamte Netzwerk. Auf Basis dieses Modells werden abschließend verschiedene Szenarien von Mengen- und Wertentwicklungen analysiert, um robuste Handlungsempfehlungen zur Ausgestaltung eines Recyclingnetzwerks zu entwickeln (vgl. Hoyer/Kieckhäfer/Spengler 2015). Die Prozessgestaltung dient der übergreifenden Abstimmung von Maschinen und Anlagen in Produktionslinien und Werkstätten sowie deren längerfristige Parame­ trierung. Typischerweise werden für Werkstätten Layoutpläne bestimmt, welche die Anordnung von Maschinen auf einer Fläche festlegen (vgl. Arnold/Furmans 2009, S. 289 ff.). Neben einfachen Anordnungsproblemen im Rahmen eines quadratischen Zuordnungsproblems werden unter anderem multikriterielle (vgl. Jacobs 1987) und unscharfe (vgl. Deb/Bhattacharyya 2003) Ansätze betrachtet, welche mehrere Ziel­ funktionen berücksichtigen und Expertenmeinungen mittels linguistischer Variablen in die Festlegung von Anordnungen einbeziehen. In Fließproduktionssystemen wer­ den darüber hinaus Entscheidungen über die Zuordnung von Arbeitsgängen zu Statio­ nen entlang der Linie getroffen, um möglichst gleichmäßig ausgelastete Produktions­ linien zu gewährleisten. Die Ansätze des Assembly-Line-Balancing adressieren dabei eine Vielzahl von Ausprägungen von Fließproduktionslinien, beginnend bei Ein-Pro­ dukt-Linien mit gegebener Taktzeit (vgl. Baybars 1986) bis hin zu Mehr-Produkt-Lini­ en, bei denen sowohl über die Anzahl von Stationen als auch die zu realisierende Taktzeit unter Berücksichtigung verschiedenster reihenfolgebezogener Nebenbedin­ gungen zu entscheiden ist (vgl. Becker/Scholl 2006). Im Rahmen der energie- und res­ sourceneffizienten Produktion liegt der Fokus darüber hinaus in der längerfristigen Festlegung von Systemparametern, um mit gegebenen Produktionstechnologien eine bestmögliche Wertschöpfung zu erzielen. Dies umfasst beispielsweise die Festlegung

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von Prozesszeiten zur Abstimmung Durchlaufzeiten, Emissionen und Energiebedar­ fen (vgl. Zhang et al. 2017), die Festlegung von Schneideparametern beim Fräsen (vgl. Yan/Li 2013), die Identifikation von leistungsoptimalen Betriebstemperaturen (vgl. Rahman/Hasanuzzaman/Rahim 2017), oder die Festlegung des Sauerstoffniveaus bei der Verbrennung von Sägemehl in Kraftwerken (vgl. Fogarasi/Cormos 2017). Einen besonderen Ansatz zur energie- und ressourceneffizienten Prozessgestal­ tung in Kühlsystemen liefern Schlei-Peters et al. (2017). Hier werden Gestaltungsop­ tionen zur Verbesserung des Strom- und Wasserbedarfs eines Kühlsystems bewertet. Ausgangspunkt ist ein mehrstufiges Kühlsystem mit mehreren strom- und wasserver­ brauchenden Komponenten, deren Bedarfe und Interaktionen aktivitätsanalytisch beschrieben werden. Die Bestimmung stundengenauer Aktivitätsvektoren erfolgt durch ingenieurwissenschaftliche Ansätze unter Berücksichtigung meteorologischer Rahmenbedingungen und thermodynamischer Gesetzmäßigkeiten. Ihre langfristige Aggregation auf Basis standortspezifischer meteorologischer Daten bildet die Basis zur ökonomischen und ökologischen Bewertung von Status quo und Veränderungs­ optionen des Systems. Im Rahmen einer Fallstudie können als Resultat zu ändernde Betriebsregelungen für einzelne Aggregate identifiziert werden, die eine Reduktion des Wasserverbrauchs um 23,8 % und des Energieverbrauchs um 17,3 % ermöglichen (vgl. Schlei-Peters et al. 2017).

3.3 Energie- und ressourceneffiziente Verwendung von Produktionssystemen Hinsichtlich der Verwendung von Produktionssystemen werden drei wesentliche Planungsaufgaben des Produktionsmanagements unterschieden. Diese sind die Pro­ duktionsprogrammplanung, die Losgrößen- und Ressourceneinsatzplanung sowie die kurzfristige Feinplanung. Für jede Planungsaufgabe werden im Folgenden ausge­ wählte Ansätze kurz dargestellt. Die Aufgabe der Produktionsprogrammplanung ist die Festlegung der Art und Menge der in den nächsten Perioden zu produzierenden Erzeugnisse (vgl. Günther/ Tempelmeier 2016, S. 137 ff.). Im Mittelpunkt stehen dabei sowohl die Abstimmung von der Kapazitätsbeanspruchung von Produktionseinheiten und der Nachfrage als auch der Ausgleich der Kapazitätsbeanspruchung über mehrere Perioden (Monate oder Jahre) hinweg. Ressourcenorientierte Ansätze der Produktionsprogrammpla­ nung adressieren insbesondere Demontage- und Aufbereitungsprozesse um den Ein­ satz natürlicher Primärressourcen zur Deckung einer Nachfrage zu reduzieren (vgl. Steinborn et al. 2010). Die Demontage dient dabei der Zerlegung von Produkten in ihre Bauteile zu Komponenten als marktfähige Endprodukte. Die Aufarbeitung überführt defekte Bauteile in höherwertige Zustände und erlaubt damit auch die Erfüllung hö­ herwertiger Nachfrage (vgl. Kim et al. 2006). Daneben werden Ansätze der integrierten Produktionsprogramm- und Recyclingplanung verfolgt, welche beide Betrachtungs­

Energie- und ressourceneffiziente Produktion

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ebenen verbinden (vgl. Steinborn et al. 2010). Im Mittelpunkt der meisten Modelle steht die mengenbasierte oder aktivitätsanalytische Modellierung von Recyclingpro­ zessen sowie eine darauf aufbauende Modellierung kontinuierlicher und gemischtganzzahliger Optimierungsmodelle zur Bestimmung deckungsbeitragsoptimaler Ver­ wertungsprogramme. Energieorientierte Ansätze der Produktionsprogrammplanung adressieren insbesondere die Abstimmung der Energieerzeugung mit einer erwarte­ ten Nachfrage im Rahmen des Unit Commitments (vgl. Padhy 2004). Im Mittelpunkt steht dabei die Festlegung der Stromerzeugungsmenge von Generatoren, die auf ei­ ner Verbrennung von Primärenergieträgern basieren. Zielsetzung ist die Minimierung der erzeugungsabhängigen Kosten, bestehend aus Treibstoff-, Wartungs-, Anfahrund Abschaltkosten. Alle Kostenbestandteile sind nichtlinear mit der zu erzeugen­ den Leistung verbunden. Typische Betrachtungsfristen sind Zeiträume von bis zu einem Jahr (vgl. Vemuri/Lemonidis 1992). Ansätze des Unit Commitment umfassen hierbei die Betrachtung von einem oder mehreren Generatoren, Leistungsspann­ breiten von Generatoren, Anlauf- und Abschaltkurven sowie die Berücksichtigung von Erzeugungs- und Nachfragegleichheit (vgl. Padhy 2004). Der Sachumfang der Produktionsplanung adressiert die Fabrik- und fabrikübergreifende Ebenen. In der Energiebilanzierung werden insbesondere externe Wandlungssysteme adressiert. Ein besonderer Ansatz der ressourceneffizienten Produktionsprogrammplanung findet sich bei Meyer, Wichmann und Spengler (2016). Im Mittelpunkt steht hierbei die Planung des Recyclingprogramms von Eisenhüttenschlacken. Bei der Herstellung von Stahl fallen prozessbedingt und unvermeidlich ca. 315 kg Schlacke je erzeugter Tonne Stahl mit einer Gesamtmenge von ca. 14 Mio. t pro Jahr in Deutschland an. Schlacke kann durch geeignete Aufbereitungsprozesse wie Brechen und Sieben in weiterver­ arbeitungsfähige Erzeugnisse für die Baustoff- oder Zementindustrie umgewandelt werden. Sie ist damit ein Substitut für Naturprodukte. Das konstituierende Produkt­ merkmal von Schlackenerzeugnissen ist die Korngrößenverteilung. Sie gibt an, wel­ cher Massenprozentanteil auf Bestandteile mit einer definierten durchschnittlichen Korngröße entfallen darf. Brech- und Siebprozesse ändern ihrerseits die Korngrößen­ verteilung des verarbeiteten Materials. Der Grad der Änderung ist jedoch abhängig von operativ änderbaren technischen Parametern wie der Betriebsgeschwindigkeit von Brechern oder der Maschenweite von Sieben. Ökonomisch relevante Einflussfak­ toren sind regionale Märkte mit Preisrabattstrukturen, die aus der Umsetzung von Recyclingaktivitäten resultierenden Recyclingkosten sowie Lagerhaltungskosten für die Deponierung von Schlacken. Im Rahmen der Recyclingprogrammplanung von Ei­ senhüttenschlacken ist über die Länge des Einsatzes spezifischer Recyclingoperatio­ nen sowie die Zuordnung der erzielten Produktmengen zu Senken zu entscheiden, so dass der Gesamtdeckungsbeitrag maximiert wird. Zur Bestimmung der notwendigen Aktivitätsvektoren von Recyclingaktivitäten wird auf die Kombination eines Stoff­ strommodells und einer Simulationsstudie unter Berücksichtigung ingenieurwis­ senschaftlicher Erkenntnisse zurückgegriffen. Die Resultate eines praxisorientierten

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Testdatensatzes zeigen Steigerungspotentiale des Deckungsbeitrags von ca. 1,4 % auf (vgl. Meyer/Wichmann/Spengler 2016). Ansätze der Losgrößen- und Ressourceneinsatzplanung adressieren die Frage, wie die notwendigen Verbrauchsfaktoren bereitgestellt und die vorhandenen Pro­ duktionsressourcen zur Erzeugung des geplanten Produktionsprogramms eingesetzt werden können. Dabei sollen segmentweise die bekannten Endproduktmengen in Produktionsaufträge (Lose) umgesetzt werden. Hierbei sind sowohl die Mengen als auch deren Termine arbeitsganggenau in der Belegung beschränkter Kapazitäten zu berücksichtigen (vgl. Günther/Tempelmeier 2016, S. 155 ff.). Von besonderer Wich­ tigkeit ist die Betrachtung von Rüstaufwendungen, welche einerseits kostenintensiv und andererseits zeitverbrauchend sind. Ansätze in der Literatur zur Werkstattpla­ nung adressieren hierbei sowohl einstufige („Capacitated Lot-Sizing Problem“ – CLSP; vgl. Bodt/Gelders/van Wassenhove 1984) als auch mehrstufige Produktionsnetzwer­ ke („Multi-Level Capacitated Lot-Sizing Problem“ – MLCLSP; vgl. Stadtler/Sahling 2013; Stammen-Hegener 2002; Billington/McClain/Thomas 1983). Gängige Modelle adressieren periodenbezogenes Rüsten, das Übertragen von Rüstzuständen, sowie unterschiedliche Arten von reihenfolgeabhängigen Rüstaufwendungen (vgl. Busch­ kühl et al. 2010). In der Fließproduktion werden entsprechende Planungsaufgaben als „Economic Lot Scheduling Problem“ betrachtet. Sie unterscheiden sich von dis­ kreten Modellen insbesondere in der Annahme kontinuierlicher produktbezogener Nachfrageraten anstelle schwankender Bedarfe (vgl. Elmaghraby 1978; Kirschstein 2018). Ressourceneffizienz findet sich in derartigen Planungsansätzen bislang im Wesentlichen in der Berücksichtigung der einzuhaltenden technologischen Produk­ tionskapazitäten beziehungsweise der Minimierung der notwendigen finanziellen Mittel. Der Fokus liegt auf einzelnen Anlagen und Produktionslinien. Eine Berück­ sichtigung von Energie findet bei der Betrachtung von Werkstätten kaum statt (vgl. Masmoudi et al. 2017; Schulz 2018). Sofern Energie betrachtet wird, adressieren Pla­ nungsansätze den direkten Endenergiebedarf sowie die mit der Leistungserstellung einhergehenden Lastspitzen. Ein besonderer Ansatz der energieorientierten Losgrößenplanung findet sich bei Masmoudi et al. (2017). In diesem Ansatz wird ein mehrstufiges Losgrößenplanungs­ problem in der Werkstattproduktion modelliert und analysiert. Die Maschinen sind über Arbeitsgangfolgen und die daraus resultierenden Belegungen aufeinanderfol­ gender Maschinen miteinander verbunden. Eine Besonderheit stellt hierbei die Be­ rücksichtigung des Energiebedarfs und dessen Verteilung über einzelne Produktions­ schritte hinweg dar. So wird erstmalig der Gesamtenergiebedarf eines Werkstattsys­ tems betrachtet. Weiterhin wird der Energiebedarf mit tageszeitabhängigen Kosten in zwei Tarifstaffeln je Arbeitstag bewertet. Dies ermöglicht, sofern die Einhaltung der termingebundenen Nachfrage nach den erzeugten Endprodukten sichergestellt ist, die Verschiebung von Arbeitsgängen und Produktionslosen in Phasen günstige­ rer Arbeitspreise. Darüber hinaus wird die Spitzenleistung des Systems in der Ziel­ funktion berücksichtigt und somit prinzipiell auch der Leistungspreis adressiert. Zur

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Lösung des Planungsproblems werden zwei Heuristiken vorgeschlagen, die auf dem Verschieben von Produktionsblöcken beruhen. Im Ergebnis liefern die Heuristiken in­ nerhalb weniger Sekunden Produktionspläne, welche den optimalen Lösungen sehr nahe kommen (vgl. Masmoudi et al. 2017). Ansätze der Feinplanung adressieren die Reihenfolgebildung von individuellen Aufträgen auf einer oder mehreren Produktionsressourcen. Energieorientierte An­ sätze der Feinplanung beschäftigen sich dabei einerseits mit der Minimierung der zur Produktion eines gegebenen Auftragsprofils notwendigen Endenergie (vgl. Gahm et al. 2016). Dies ist möglich, indem Rüstvorgänge vermieden (vgl. Yildirim/Mouzon 2012), Maschinen in Ruhephasen abgeschaltet (vgl. Mouzon/Yildirim/Twomey 2007), in ihrer Geschwindigkeit reduziert (vgl. Fang/Lin 2013) oder Rekuperationspotentiale ausgenutzt werden (vgl. Halim/Srinivasan 2011). Andererseits werden auch interne und externe Wandlungssysteme direkt und indirekt in die Feinplanung eingebunden. Eine direkte Einbindung erfolgt durch die Berücksichtigung von Interdependenzen zwischen Produktions- und internem Wandlungssystem. So werden Effizienzpoten­ tiale im Wandlungssystem dann erreicht, wenn die Endenergienachfrage im Produk­ tionssystem möglichst nivelliert ist (vgl. Rager/Gahm/Denz 2015). Eine indirekte Ein­ bindung wird hingegen durch eine preisbezogene Koordination der Produktionspläne des Produktionssystems und der Wandlungssysteme erreicht. Inhaltlich adressiert die energieorientierte Feinplanung zumeist Systeme der Fließproduktion. Werkstätten werden hingegen kaum betrachtet. Darüber hinaus beschäftigt sich der Großteil der Literatur entweder mit der Minimierung des Endenergiebedarfs oder der Abstimmung mit externen Wandlungssystemen, beispielsweise unter Berücksichtigung volatiler Energiepreise (vgl. Johannes/Wichmann/Spengler 2018). Interne Wandlungssysteme werden bislang noch kaum adressiert (vgl. Gahm et al. 2016). Eine Fokussierung auf ausgewählte, natürliche Ressourcen erfolgt in der Feinplanung bislang nicht. Einen besonderen Ansatz der Feinplanung mit Fokussierung auf eine interne Energieumwandlung unter Berücksichtigung thermischer Energie liefern Puttkam­ mer et al. (2016). Diese adressieren die Belegungsplanung der Warmwalzstraße in der stahlerzeugenden Industrie. Das Ziel der Planung ist es, eine Produktionsreihenfolge für ein gegebenes Auftragsportfolio zu bestimmen, welches den geringsten Ener­ giebedarf zum Aufheizen von Aufträgen aufweist. Da die Aufträge die vorgelagerte Produktionsstufe mit einer definierten Temperatur verlassen, steigt der Energiebe­ darf des Aufheizens an, je größer der zeitliche Abstand zwischen dem Verlassen der Vorstufe und dem Produktionsbeginn in der Warmwalzstraße ist. Die Abkühlung erfolgt dabei nicht linear, so dass Anreize bestehen, Aufträge schnellstmöglich einzu­ planen. Herausfordernd ist die Planungsaufgabe darüber hinaus durch eine Vielzahl reihenfolgeabhängiger Nebenbedingungen, welche sowohl auf geometrische als auch technologische Eigenschaften der Aufträge abstellen. Damit zeigt der Ansatz auf, dass nicht nur elektrische Energie, sondern auch andere Energieformen im Rahmen einer energieorientierten Feinplanung berücksichtigt werden können. Der Ansatz ist geeig­ net Energiebedarfe um über 15 %, verglichen mit einem industriellen Benchmark, zu reduzieren (vgl. Puttkammer/Wichmann/Spengler 2016).

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4 Zusammenfassung und zukünftige Forschungsfragen Ziel dieses Beitrages ist es, einen Überblick über Ansatzpunkte des Produktionsma­ nagements zur Berücksichtigung der Energie- und Ressourceneffizienz zu geben. Auf­ bauend auf einer einleitenden Motivation werden in Abschnitt 2 die grundlegenden Begriffe der Energie, der Ressource, deren Interaktion sowie der Effizienz definiert. Der Abschnitt führt zu drei Erkenntnissen. Erstens zeigt sich, dass eine Vielzahl von Ener­ gieformen und Ressourcen in der betrieblichen Produktion relevant und miteinander verbunden sind. Während der Begriff der Ressource in der Produktionstheorie seit lan­ gem klar differenziert wird, wird der Begriff der Energie in der Produktionstheorie je­ doch kaum umfassend beschrieben. Zweitens zeigt sich, dass sowohl die gängige als auch die volkswirtschaftliche Ressourcendefinition oftmals natürlichen Ressourcen adressiert und damit einer grundsätzlich anderen Diktion als der betriebswirtschaft­ lichen Definition folgt. Diese Differenzierung gilt es, in Ansätzen des ressourcenorien­ tierten Produktionsmanagements grundsätzlich herauszustellen. Dritten zeigt sich, dass die Bewertung der Energie- und Ressourceneffizienz nicht mit einer klar defi­ nierten Größe erhoben werden kann, sondern abhängig von der oder den gewählten Spitzenkennzahlen ist. In Abschnitt 3 werden zunächst Planungsaufgaben des Produktionsmanage­ ments und Betrachtungsebenen der Produktion und der Energie im betrieblichen Kontext dargestellt. Anschließend werden sowohl ausgewählte klassische als auch energie- und ressourcenorientierte Planungsansätze des Produktionsmanagements beschrieben. Hierbei zeigen sich vier Erkenntnisse. Erstens steigt mit dem zeitlichen Detaillierungsgrad auch der Detaillierungsgrad der Betrachtung des Produktions­ systems. So adressieren langfristige Planungsaufgaben überblicksweise eine oder mehrere Fabriken im Verbund, während kurzfristige Planungsaufgaben eher auf die Ebene von Einzelaggregaten oder Produktionslinien ausgerichtet sind. Zweitens zeigt sich, dass in allen Planungsaufgaben des Produktionsmanagements in neueren An­ sätzen Energie auf unterschiedliche Art und Weise berücksichtigt wird. Im Zentrum der Betrachtung steht zumeist die Berücksichtigung elektrischer Energie. Drittens zeigt sich, dass die Zielsetzung der energieorientierten Planung oftmals entweder die Reduktion oder die zeitliche Glättung des Energiebedarfs ist. Zeitliche volatile Energiepreise werden bislang kaum adressiert. Viertens zeigt sich, dass eine Fokus­ sierung auf natürliche Ressourcen lediglich im Rahmen von Gestaltungsaufgaben des Produktionsmanagements erfolgt. Im Rahmen der Verwendung von Produktionssys­ temen wird der Verbrauch natürlicher Ressourcen entweder nicht explizit oder als ein Kostenfaktor unter mehreren adressiert. Eine auf spezifische Ressourcen ausgerichte­ te Optimierung von Verwendungsentscheidungen erfolgt damit sehr selten. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen ergeben sich eine Vielzahl zukünftiger For­ schungsfelder, von denen vier im Folgenden kurz umrissen werden. Erstens kann

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das energieorientierte Produktionsmanagement auf eine Vielzahl von Energiefor­ men ausgeweitet werden. So werden Potentiale der thermischen, aber auch der in­ neren Energie (z. B. Druckluft) bislang kaum genutzt. Hier sind Ansätze, einerseits zur Beschreibung energieorientierter Zusammenhänge und andererseits zu deren Berücksichtigung in Entscheidungen erforderlich. In diesen sind betriebs- und inge­ nieurwissenschaftliche Erkenntnisse zur sachgerechten Modellierung zu verbinden. Zweitens werden Energiespeicher bislang kaum adressiert. Vor dem Hintergrund ei­ ner steigenden dezentralen Energieversorgung bieten sie jedoch Potentiale zu einer erhöhten Eigenenergieproduktion in Unternehmen. Da Energiespeicher, anders als Lager physischer Güter, den eingetragenen Energiegehalt nicht langfristig erhalten können, sind produktionswirtschaftliche Konzepte zu ihrer adäquaten Beschreibung und zur Berücksichtigung in energieorientierten Entscheidungen erforderlich. Ein drittes Forschungsfeld ist die Berücksichtigung zeitlich volatiler Energiepreise in un­ terschiedlichen Planungsaufgaben des Produktionsmanagements. Ein abschließen­ des viertes Forschungsfeld ist das ressourcenorientierte Produktionsmanagement mit dem Fokus auf natürliche Ressourcen. Da die Verwendung natürlicher Ressourcen wie beispielsweise Luft und Wasser nicht immer betriebswirtschaftlich bewertet werden kann, sind geeignete, über klassisch-betriebswirtschaftliche Ansätze hinausgehende Planungsmodelle zu deren Berücksichtigung erforderlich.

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Energieflexibilität in der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 3 3.1 3.2 3.3 4

Einleitung | 1043 Bezugsrahmen der Energieflexibilität | 1046 Grundstruktur des Strommarkts | 1046 Flexibilitätstreiber | 1050 Beitrag der Produktionsplanung zur Energieflexibilität | 1054 Entwurf einer integrierten Sicht | 1059 Ansätze zur Berücksichtigung von Energieflexibilität | 1061 Programmplanung | 1061 Detailplanung | 1070 Einordnung der Ansätze | 1076 Fazit | 1076 Literatur | 1078

Zusammenfassung. Die Erzeugungsstruktur elektrischer Energie unterliegt in vielen Ländern einem grundlegenden Wandel. Mit der Umstellung von fossilen auf regene­ rative Energieträger geht ein Verlust an angebotsseitiger Flexibilität einher, dem mit einer Steigerung nachfrageseitiger Flexibilität – der Energieflexibilität – begegnet werden kann. Ziel dieses Beitrags ist, die Möglichkeiten zur Berücksichtigung von Energieflexibilität in der mittel- und kurzfristigen Produktionsplanung zu systemati­ sieren und die Potenziale der Energieflexibilität für Industrie und Energiewirtschaft zugänglich zu machen. Wir schlagen einen Bezugsrahmen vor, der die Preissignale des Strommarkts den Entscheidungen der Produktionsplanung gegenüberstellt. Die Einordnung ausgewählter Ansätze verdeutlich die Möglichkeiten, Energieflexibilität in der Produktionsplanung zu berücksichtigen und offenbart zudem vordringliche Forschungsbedarfe.

1 Einleitung Elektrische Energie ist ein bedeutender Produktionsfaktor für die deutsche Wirtschaft. Sie deckt knapp ein Drittel des Endenergiebedarfs der Industrie (vgl. BMWi 2017, S. 19). Für über 40 % der Unternehmen haben die Stromkosten mit einem Anteil von über zwei Prozent des Umsatzes eine hohe wirtschaftliche Bedeutung. Bei jedem fünften Unternehmen beträgt dieser Anteil sogar über vier Prozent (vgl. IHK 2013). Neben Auf­ wendungen für Material und Personal sind Stromkosten damit ein wesentlicher Faktor für die Wirtschaftlichkeit der Leistungserstellung. Zwar konnte durch Effizienzmaß­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-053

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nahmen in den letzten Jahren der Stromverbrauch der Produktionsprozesse reduziert werden (vgl. BMWi 2017, S. 18), durch die fortschreitende Automatisierung ist jedoch davon auszugehen, dass der Einsatz elektrischer Energie in der Industrie weiter an Bedeutung gewinnen wird. In vielen Ländern der Welt unterliegt die Erzeugungsstruktur elektrischer Energie derzeit einem grundlegenden Wandel. In Deutschland soll die Stromerzeugung auf Basis fossiler Energieträger im Zuge der sogenannten Energiewende zu einem großen Teil durch regenerative Quellen abgelöst werden. Ausgehend von aktuell ca. 30 % soll der Anteil des aus erneuerbaren Energien erzeugten Stroms am Bruttostromverbrauch bis zum Jahr 2050 auf mindestens 80 % erhöht werden. Innerhalb der nächsten 10 Jah­ re soll bereits ein Anteil von bis zu 45 % erreicht werden (vgl. AGEE-Stat 2017, S. 5; BM­ Wi 2014, S. 6). Den größten Beitrag leistet die Stromerzeugung aus Photovoltaik- und Windenergieanlagen. Im Jahr 2016 trugen diese Energieträger mit über 115 Mrd. kWh zu nahezu zwei Drittel der Bruttostromerzeugung aus erneuerbaren Energien bei (vgl. AGEE-Stat 2017, S. 6). Allein die Erzeugung aus Windkraft deckt an einzelnen Tagen knapp die Hälfte des Gesamtbedarfs. So wurden am 14.09.2017 in Deutschland insge­ samt 639 Tsd. kWh erzeugt, entsprechend 45,4 % des Gesamtbedarfs (vgl. Windeurope 2017). Im Gegensatz zur Erzeugung aus konventionellen Energieträgern unterliegt die Erzeugung von Solar- und Windstrom allerdings externen Einflussfaktoren wie Tages­ zeit und Wetter. Bezogen auf die Windenergieeinspeisung kommt es bereits heute zu zwischentägigen Schwankungen in der Größenordnung von über zehn GW (vgl. Ago­ ra Energiewende 2017). Hinzu kommen untertägige Schwankungen der verfügbaren Solarenergie, die schon jetzt den Wert von 25 GW übersteigen. In Summe übertrifft dies die Kapazität aller derzeit in Deutschland betriebenen Braunkohlekraftwerke bei weitem. Damit kommt es vermehrt zu Situationen mit einem Überschuss oder einer Knappheit an Strom (vgl. IHK 2016, S. 22). Die Umstellung der Erzeugungsstruktur erfordert eine Weiterentwicklung des Strommarkts. Mit der Umstellung von fossilen auf regenerative Energieträger geht ein Verlust an angebotsseitiger Flexibilität einher. Damit bekommt die Flexibilität auf Seiten der Nachfrage für Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft zunehmend einen Wert. Indem Verbraucher ihr Verhalten dynamisch an die jeweils zur Verfügung ste­ hende elektrische Energie anpassen, können einerseits Verluste der Flexibilität auf der Angebotsseite partiell kompensiert, andererseits Investitionen in die Ausweitung der Infrastruktur vermieden werden (vgl. Frontier Economics 2016, S. 13 f.). Entspre­ chend werden im Strommarkt monetäre Anreize geschaffen, um die Bereitstellung nachfrageseitiger Flexibilität zu motivieren. Bezogen auf den Industriesektor wurde für ein flexibles Nachfrageverhalten in den letzten Jahren in der wissenschaftlichen Literatur der Begriff der Energieflexibili­ tät eingeführt. Allgemein wird unter Energieflexibilität die Eigenschaft eines Produk­ tionssystems verstanden, elastisch und ohne größeren finanziellen Aufwand auf Ver­ änderungen des Energiemarkts reagieren zu können (vgl. Graßl/Reinhart 2014, S. 129). In der Realisierung energieflexibler Produktionssysteme kommen heute überwiegend

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technische Flexibilitätsinstrumente zum Einsatz, die eine gezielte Anpassung der Stromnachfrage ermöglichen. Typischerweise sind dies Technologien, die per se ei­ ne weitgehend freie Wahl von Energieaufnahme und -abgabe im Zeitablauf zulassen und damit keinen Eingriff in den Produktionsablauf erforderlich machen. In diesem Zusammenhang werden üblicherweise die Technologien Power-to-Heat (Umwand­ lung elektrischer Energie in Wärme), Power-to-Gas (Herstellung und Speicherung von Gas mittels Elektrolyse und Methanisierung unter Stromeinsatz) oder elektrische Energiespeicher (Batterien) als naheliegende Flexibilitätsinstrumente genannt (vgl. Simon 2017, S. 265 ff.). Über technische Flexibilitätsinstrumente hinaus wird in Studien oftmals von ei­ nem lediglich geringfügigen Beitrag der Industrie zur Kompensation von Diskrepan­ zen zwischen Stromeinspeisung und -bedarf ausgegangen (vgl. Dena 2010; Winter et al. 2011, S. 152) – obwohl organisatorische beziehungsweise planerische Maßnahmen sehr viel kurzfristiger und oftmals ohne nennenswerte Investitionen umsetzbar sind. Ursachen für die Skepsis werden insbesondere in Befürchtungen gesehen, dass Ener­ gieflexibilität nur auf Kosten der eigenen Wirtschaftlichkeit und mit einer erheblichen Komplexitätszunahme in der Planung erreicht werden kann. Hinzu kommt, dass es aufgrund der vielschichtigen Wechselwirkungen zwischen Strombezug und Produk­ tion in vielen Fällen schwerfällt, die Potenziale der Energieflexibilität verlässlich zu quantifizieren (vgl. IHK 2016, S. 21). Diese Ausgangssituation hat in der wissenschaftlichen Literatur gerade in jünge­ rer Vergangenheit zum Aufkommen einer Reihe von Arbeiten im Bereich der Produk­ tionsplanung geführt. Durch angepasste Planungsverfahren sollen industrielle Ver­ braucher in die Lage versetzt werden, ihre Leistungserstellungsprozesse flexibel an den Schwankungen des Stromangebots zu orientieren und somit von den durch den Strommarkt geschaffenen Anreizen profitieren zu können. Allerdings handelt es sich dabei jeweils um sehr spezialisierte Arbeiten, die einzelne Teilaspekte fokussieren. Ein gesamthaftes Verständnis für eine energieflexible Produktionsplanung fehlt bis­ lang. Vor diesem Hintergrund ist das Ziel der nachfolgenden Ausführungen, die Mög­ lichkeiten zur Berücksichtigung von Energieflexibilität in der kurz- und mittelfristigen Produktionsplanung auf übergeordneter Ebene zu systematisieren. So soll ein Bei­ trag geleistet werden, um die Potenziale der Energieflexibilität zukünftig für Industrie und Energiewirtschaft besser zugänglich zu machen. Hierzu werden auf der Basis der Grundstruktur des Strommarkts Flexibilitätstreiber herausgearbeitet und Bezüge zu den Entscheidungen der Produktionsplanung hergestellt (Abschnitt 2). Anhand aus­ gewählter Arbeiten wird verdeutlicht, welche Möglichkeiten bestehen, um Flexibili­ tätstreiber in Planungsverfahren beziehungsweise in die diesen Verfahren zugrunde­ liegenden Modelle zu integrieren (Abschnitt 3). Abschließend werden vordringliche Forschungsbedarfe benannt (Abschnitt 4). Der Beitrag ist insofern als Ergänzung zu bestehenden Übersichtsarbeiten zu sehen, die schwerpunktmäßig auf Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz abzielen (vgl. Duflou et al. 2012, Gahm et al. 2016) oder den Energiemarkt lediglich randständig behandeln (vgl. Biel/Glock 2016).

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2 Bezugsrahmen der Energieflexibilität Auf dem Strommarkt gewinnt der Einsatz von Preisinstrumenten als Flexibilitätstrei­ ber zunehmend an Bedeutung. Um den Einfluss der Flexibilitätstreiber auf betrieb­ liche Entscheidungen in der Produktionsplanung bewerten zu können, wird in Ab­ schnitt 2.1 zunächst die Grundstruktur des Strommarkts beschrieben. Dies schafft die Grundlage für eine systematische Darstellung der Flexibilitätstreiber in Abschnitt 2.2. Im Anschluss werden in Abschnitt 2.3 operative Möglichkeiten der Industrie zur Flexi­ bilisierung ihres Strombedarfs beschrieben. In Abschnitt 2.4 werden beide Perspekti­ ven, die des Stromsystems und die der betrieblichen Planung, in einem Bezugsrahmen der Energieflexibilität zusammengeführt.

2.1 Grundstruktur des Strommarkts Industrielle Unternehmen beziehen einen großen Teil der benötigten elektrischen Energie über den Strommarkt. Im Folgenden wird die Grundstruktur des Strommarkts unter besonderer Berücksichtigung der beteiligten Akteure dargestellt. Durch die Liberalisierung des Strommarkts kam es in der Energiewirtschaft zur Differenzierung in spezialisierte Unternehmen mit spezifischen Zielsetzungen. Vor 1998 wurden die Erzeugung, der Transport sowie der Vertrieb von elektrischer Ener­ gie in Deutschland durch wenige große Unternehmen organisiert. Mit der Libera­ lisierung des Strommarkts wurden diese oligopolistischen Strukturen schrittweise aufgebrochen. Fortan waren Erzeugung, Transport und Vertrieb elektrischer Energie institutionell zu trennen, um neuen Akteuren auf allen Stufen einen freien Markt­ zugang zu gewähren. Auf diese Weise sollte der Wettbewerb in der Stromerzeugung und im Vertrieb gefördert werden mit dem Ziel, die Strompreise aus Konsumenten­ sicht zu stabilisieren. In der Folge entstanden auf jeder Stufe der Stromlieferkette spezialisierte und wirtschaftlich eigenständige Akteure, die durch eigene Zielsysteme gekennzeichnet sind. – Für die Erzeugung sind Betreiber von Kraftwerken und dezentralen Energieanla­ gen verantwortlich. Wesentliches operatives Ziel der Erzeuger ist es, die Differenz zwischen den Erlösen des Stromverkaufs und den Kosten der Stromerzeugung zu maximieren. – Den Vertrieb der elektrischen Energie übernehmen Stromversorger, deren primä­ res Ziel in der Maximierung der Differenz zwischen den Erlösen des Stromverkaufs und den Strombeschaffungskosten besteht. – Für den Transport und die Verteilung der elektrischen Energie sind Netzbetreiber verantwortlich. Ihre zentrale Aufgabe besteht in der Gewährleistung der Netzbeziehungsweise Frequenzstabilität. Kommt es zu Abweichungen zwischen der eingespeisten und der entnommenen elektrischen Energie, verschiebt sich die

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Netzfrequenz. Im Extremfall kommt es zu einem Stromausfall. Netzbetreiber sind daher gefordert, netzstabilisierende Maßnahmen zu ergreifen: im Fall eines Un­ terangebots etwa die Aktivierung von Reservekapazitäten (sogenannte positive Regelenergie), im Fall eines Überangebots die Drosselung der Erzeugung oder die Aktivierung zusätzlicher Verbraucher (sogenannte negative Regelenergie). Das operative Ziel der Netzbetreiber ist die Maximierung der Differenz zwischen Erlösen und Kosten für Stabilisierungsmaßnahmen, wobei die Erlöse durch die Bundesnetzagentur staatlich reguliert werden. Die Industrie kann im liberalisierten Markt auf verschiedene Weise ihren Strombe­ darf decken (vgl. Marí/Nabona/Pagès-Bernaus 2017, S. 432). Neben der Eigenerzeu­ gung und dem direkten Bezug über die Strombörse ist das vorherrschende Modell der Bezug von Versorgern. Die Stromversorger stellen sicher, dass der Strombedarf der Kunden gedeckt ist, d. h., dass zu jedem Zeitpunkt die vom Kunden entnomme­ ne elektrische Energie in das Netz eingespeist wird. Hierzu betreiben Stromversorger eigene Erzeugungsanlagen oder beschaffen elektrische Energie von anderen Erzeu­ gern. Die Bezugskonditionen werden über bilaterale Abkommen zwischen den indus­ triellen Verbrauchern und den Stromversorgern geregelt, in denen auch die regulierte Kompensation des Netzbetreibers enthalten ist. Im Sinne der Ertragsmaximierung be­ steht das Ziel der Industrie darin, elektrische Energie zu möglichst geringen Kosten zu beschaffen. Durch die zunehmende Ablösung fossiler durch erneuerbare Energieträger unter­ liegt der Strommarkt einem fundamentalen Wandel. In einem konventionellen Strom­ markt, in dem Strom zu einem überwiegenden Anteil in regelbaren Großkraftwerken auf Basis fossiler Energieträger erzeugt wurde, konnte die Stromerzeugung nachfrage­ orientiert an die Marktsituation angepasst und jederzeit die benötigte Menge elektri­ scher Energie ausreichend zur Verfügung gestellt werden. Mit einem steigenden Anteil erneuerbarer Energien wird es jedoch zunehmend schwieriger, die Stromnachfrage je­ derzeit zu erfüllen. Zwar kann die installierte Erzeugungskapazität erneuerbarer Ener­ gien präzise ermittelt werden, die tatsächlich erzeugte elektrische Energie unterliegt allerdings Schwankungen, die unter anderem abhängig sind von den klimatischen Bedingungen, der Tageszeit und dem lokalen Wetter (vgl. Kondziella/Bruckner 2016, S. 11). Damit resultiert eine situationsabhängige Differenz zwischen der Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energieträgern und dem Bedarf. Diese Differenz wird als Residuallast bezeichnet, die durch andere Erzeugungs- oder Speicherkapazitäten ge­ deckt werden muss. Ein exemplarischer Jahresverlauf der Residuallast, abhängig von der Dauer ihres Auftretens in Stunden, ist in Abbildung 1 dargestellt. Positive Wer­ te repräsentieren Situationen, in denen der Strom aus erneuerbaren Energieträgern nicht ausreicht, um die Nachfrage zu erfüllen. In diesen Zeiträumen muss die Nachfra­

Residuallast [GWh]

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Zunehmende Einspeisung fluktuierender erneuerbarer Energien Zusatzerzeugung erforderlich 0

Stunden

8760 Angebotsüberschuss

Abb. 1: Exemplarischer Jahresverlauf der Residuallast (Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Kondziella/Bruckner 2016).

ge durch zusätzliche Stromerzeugung aus konventionellen Quellen gedeckt werden.¹ Eine negative Residuallast deutet darauf hin, dass ein Überschuss an Strom aus er­ neuerbaren Energien vorliegt und mehr Strom erzeugt als nachgefragt wird. Es ist zu erwarten, dass die Residuallastkurve durch den anhaltenden Zubau von Wind- und Solarenergieanlagen insgesamt weiter nach unten verschoben wird (vgl. Kondziella/ Bruckner 2016, S. 16), allerdings weitestgehend ohne Einfluss auf den linken Rand, da es nach wie vor zu Situationen kommen kann, in denen Wind- und Solarenergie nicht zur Verfügung stehen. Aus der sich kontinuierlich verändernden Residuallast ergeben sich zwei wesent­ liche Konsequenzen für den Strommarkt. Zum einen sind dies schwankende Strom­ preise. Da die Erzeugung von Wind- und Solarstromerzeugung nahezu ohne Grenz­ kosten erfolgt, sinkt in Zeiten geringer Residuallast der Strompreis. Demgegenüber steigt der Strompreis, wenn konventionelle Kraftwerke zur Deckung der Nachfrage zu­ geschaltet werden müssen.² Die Häufigkeitsverteilung von Strompreisen an der euro­ päischen Strombörse ist in Abbildung 2 dargestellt. Auffällig sind hier die extremen Preisdifferenzen. Während bei einer hohen Residuallast Preisspitzen von einem Viel­ fachen des Durchschnittspreises möglich sind, kommt es bei einem Überangebot von Strom aus erneuerbaren Energien sogar zu negativen Preisen. Zum anderen erfordert die sich verändernde Erzeugungsstruktur zunehmende Aufwendungen für netzstabilisierende Maßnahmen. Diese werden auf die Kunden der Netzbetreiber übertragen und betragen deutlich über 500 Mio. € im Jahr (vgl. Bundesnetzagentur 2017, S. 10). 2015 wurde ein Rekordwert von über 1 Mrd. € erreicht (vgl. BDEW 2016, S. 5).

1 Als zusätzliche Ausgleichoption stehen Stromimporte zur Verfügung, die hier aber aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht weiter thematisiert werden. 2 Für eine ausführliche Darstellung zur Strompreisbildung sei auf Sensfuß et al. (2008) verwiesen.

Energieflexibilität in der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung | 1049

Häufigkeit, absolut

3000 2500 2000 1500 1000 500 -50 -44 -38 -32 -26 -20 -14 -8 -2 4 10 16 22 28 34 40 46 52 58 64 70 76 82 88 94 100

0 Strompreis (€/MWh) Abb. 2: Häufigkeitsverteilung der Strompreise an der Strombörse im Jahr 2016 (Quelle: Eigene Dar­ stellung).

Die schwankenden Strompreise und die Kosten für die Ausgleichsmaßnahmen führen zu erheblichen Herausforderungen für die Akteure im Strommarkt, insbesondere für Stromversorger. Wird Strom weiterhin zu fixen Preisen verkauft, aber zu schwanken­ den Preisen beschafft, ist das Ziel der Gewinnmaximierung gefährdet. Der hohe Auf­ wand für die Gewährleistung der Netzstabilität fordert die Netzbetreiber. Zwar werden die Kosten für kurzfristige Ausgleichsmaßnahmen auf Endkunden abgewälzt, jedoch steigt mit dauerhaften Ungleichgewichtssituationen die Notwendigkeit, die Kapazität der Infrastruktur zu erweitern – mit den damit einhergehenden finanziellen Belastun­ gen für die Netzbetreiber (vgl. Alizadeh et al. 2016, S. 1189). Besonders herausfordernd sind in diesem Fall Situationen, in denen Abnehmer durch ein sehr ungleichmäßiges Entnahmeverhalten zusätzliche Ausgleichbedarfe beziehungsweise -kapazitäten er­ zeugen. In dieser Situation wird es für Versorger und Netzbetreiber zunehmend interes­ sant, auf Industriekunden zuzugehen, um das Verbrauchsverhalten entsprechend der zur Verfügung stehenden elektrischen Energie zu beeinflussen (vgl. Palensky/Dietrich 2011, Paulus/Borggrefe 2011). Im Sinne eines Managements der Energielieferkette scheint es besonders naheliegend, durch Flexibilisierung der Bezugskonditionen eine Koordination von Beschaffung, Bereitstellung und Verbrauch von elektrischer Ener­ gie zu erreichen. Dies hat zum Aufkommen neuer Stromversorgungstarife geführt, die Anreize für eine Anpassung des Verbrauchsverhaltens schaffen. Aus Sicht der Indus­ trie lassen sich die neuen Tarife als Flexibilitätstreiber interpretieren, die entweder verbrauchs- beziehungsweise beschaffungsorientiert oder leistungs- beziehungswei­ se netzorientiert wirken. Eine zusammenfassende Darstellung der Grundstruktur des Strommarkts ist in Abbildung 3 gegeben. Im Folgenden werden die neuen Tarife zunächst einführend dargestellt, unter­ teilt nach verbrauchsorientierten Komponenten (Abschnitt 2.2.1) und leistungsorien­ tierten Komponenten (Abschnitt 2.2.2). Der Fokus liegt dabei auf dem Strommarkt, für eine weiterführende Diskussion des Regelmarkts wird auf Paulus/Borggrefe (2011)

Leistungsorientierte Flexibilitätstreiber

Verbrauchsorientierte Flexibilitätstreiber

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Vertrieb und Handel Ziel: Max (Erlös Stromverkauf – Kosten Strombeschaffung)

Industrie Ziel: Max (Verkaufserlöse – Produktionskosten inkl. Strom)

Erzeugung Ziel: Max (Erlös Stromverkauf – Kosten Stromerzeugung)

Transport Ziel: Max (Regulierte Erlöse – Kosten Netzstabilisierung) Informationsund Finanzfluss

Energiefluss Fremderzeugung

Energiefluss Eigenerzeugung

Abb. 3: Grundstruktur des Strommarkts (Quelle: Eigene Darstellung).

oder Müsgens/Ockenfels/Peek (2014) verwiesen. Der Beitrag der Produktionsplanung zur Bereitstellung der geforderten Energieflexibilität wird in Abschnitt 2.3 behandelt. Beide Aspekte werden in Abschnitt 2.4 in einem Bezugsrahmen zusammengeführt.

2.2 Flexibilitätstreiber Aus Sicht der Industrie umfassen Stromtarife mehrere Komponenten³. In der Regel sind dies neben einer festen Komponente aus Steuern, Umlagen und Abgaben eine verbrauchsorientierte Komponente, das sogenannte Arbeitsentgelt, und eine leis­ tungsorientierte Komponente, das Leistungsentgelt. Das Arbeitsentgelt richtet sich nach der im Abrechnungszeitraum genutzten Strommenge des Verbrauchers. Das Leistungsentgelt richtet sich nach der höchsten abgerufenen elektrischen Leistung im Abrechnungszeitraum. Nach wie vor sind in Deutschland langfristig vereinbarte Versorgungstarife mit zeitkonstantem Arbeits- und Leistungsentgelt weit verbreitet. Im Folgenden werden grundsätzliche Möglichkeiten zur Flexibilisierung dieser Tarif­ komponenten im Sinne der Koordination vorgestellt. Entsprechend der Struktur des Strommarkts wird im Folgenden zwischen verbrauchsorientierten Flexibilitätstrei­ bern (Abschnitt 2.2.1) und leistungsorientierten Flexibilitätstreibern (Abschnitt 2.2.2) unterschieden.

3 Im Folgenden wird ausschließlich von leistungsgemessenen Industrieunternehmen ausgegangen.

Energieflexibilität in der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung | 1051

2.2.1 Verbrauchsorientierte Flexibilitätstreiber Die Grundidee verbrauchsorientierter Flexibilitätstreiber ist es, den Strompreis im Zeitablauf zu variieren und somit Anreize zu schaffen, Strom vorrangig in Phasen ab­ zunehmen, in denen dieser günstig beschafft werden kann. Entsprechend der Länge des Zeitraums, für den Preise festgelegt werden, wird im Folgenden zwischen lang­ fristigen, kurzfristigen und stochastischen Tarifsystemen unterschieden. Langfristige Tarifsysteme werden für einen Zeitraum von einem Monat bis zu mehreren Jahren vereinbart und beinhalten unterschiedliche, meist tageszeitabhän­ gige Preisniveaus (vgl. Wang/Li 2013, S. 234). Entsprechend hat sich der Begriff nut­ zungszeitabhängiger Tarif beziehungsweise wesentlich weiter verbreitet „Time-OfUse“-Tarif (TOU-Tarif) etabliert. In der einfachsten Ausprägungsform werden nur zwei Niveaus des Arbeitspreises unterschieden (vgl. Abbildung 4(a)). Solche Aus­ prägungsformen kommen z. B. bei Versorgungstarifen mit Tag- und Nachtstrom zum Einsatz. Die im Voraus definierten Preisniveaus können jedoch die vorherrschende Marktsituation nicht unmittelbar wiedergeben, sodass sich TOU-Tarife nur sehr ein­ geschränkt für einen Ausgleich von Stromangebot und -nachfrage eignen. Dennoch wird durch die Preisniveaus der Anreiz geschaffen, den Verbrauch aus Zeiten höherer in Zeiten geringerer Nachfrage zu verschieben. Empirische Untersuchungen zeigen, dass aus Industriesicht das Einsparungspotenzial durch TOU-Tarife erheblich von der spezifischen Vertragsgestaltung und dem industriellen Anwendungsbereich abhängt (vgl. Wang/Li 2015, S. 89). Kurzfristige Tarifsysteme nutzen Informationen über den an der Strombörse ermit­ telten Preis, um die Bezugskonditionen in regelmäßigen Abständen fortzuschreiben. Um die untertägigen Preisschwankungen abzubilden, wird hierzu in der Regel auf ei­ ne sehr viel feingranularere Abbildung der Zeit zurückgegriffen (vgl. Abbildung 4(b)). Wird etwa der Day-Ahead-Handel der Strombörse als Referenz herangezogen, werden stundenbezogene Preise für den Folgetag fixiert. Im Vergleich zu TOU-Tarifen reichen kurzfristige Tarife die Schwankungen des Strommarktpreises direkter und in einer grö­ ßeren Bandbreite an die Verbraucher weiter. Industrielle Verbraucher können von sol­ chen Tarifen profitieren, wenn sie flexibel und mit einem kurzen zeitlichen Vorlauf ihr Nachfrageverhalten anpassen können (vgl. Nezamoddini/Wang 2017, S. 1024).

(a)

(b)

(c)

Abb. 4: Verbrauchsorientierte Flexibilitätstreiber: (a) langfristig, (b) kurzfristig, (c) stochastisch (Quelle: Eigene Darstellung).

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Stochastische Tarifsysteme basieren unmittelbar auf dem kontinuierlich an der Strom­ börse ermittelten Preis (vgl. Abbildung 4(c)). Indem die Kosten für den Strombezug di­ rekt an die Verbraucher weitergegeben werden, ermöglichen stochastische Flexibili­ tätstreiber eine unmittelbare Koordination von Angebot und Nachfrage. Stochastische Flexibilitätstreiber erfordern die höchste nachfrageseitige Flexibilität. Um von diesen Flexibilitätstreibern profitieren zu können, ist es notwendig, den Strompreisverlauf im Rahmen der kurzfristigen Produktionsplanung geeignet zu antizipieren.

2.2.2 Leistungsorientierte Flexibilitätstreiber Im Gegensatz zu verbrauchsorientierten Flexibilitätstreibern schaffen leistungsorien­ tierte Flexibilitätstreiber gezielt Anreize, um die nachfrageseitige Höhe der Leistungs­ aufnahme zu beeinflussen. Diese Flexibilitätstreiber werden hinsichtlich der Länge ih­ rer Auswirkung auf betriebliche Entscheidungen weiter differenziert in statisch, punk­ tuell und kontinuierlich wirkende Leistungsentgelte. Statisch wirkende Leistungsentgelte schaffen über einen langen Zeitraum einen Anreiz für ein netzdienliches Abnahmeverhalten. Hierbei werden zwei Varianten un­ terschieden. Im einfachsten Fall wird lediglich die sogenannte Spitzenlast, d. h. die maximale Höhe der Leistungsaufnahme im Betrachtungszeitraum, herangezogen, um das Leistungsentgelt zu berechnen (vgl. Abbildung 5 (a)). Der abrechnungsrelevante Bemessungszeitraum beträgt in Deutschland üblicherweise ein Jahr. Möglich und in­ ternational sehr viel verbreiteter sind aber auch kürzere Zeiträume, z. B. ein Monat (vgl. Wang/Li 2015, S. 94). Die Koordinationswirkung lässt sich weiter steigern, wenn neben der Spitzenlast auch die Gleichmäßigkeit der Abnahme herangezogen wird. Dies lässt sich etwa durch Zugrundelegung der Benutzungsdauer als Quotient aus nachgefragter Strommenge und der maximalen Leistung innerhalb des Bemessungs­ zeitraums erreichen. Wenn im Extremfall kontinuierlich dieselbe Leistung abgerufen wird, nimmt der Quotient den Wert der Stunden im Betrachtungszeitraum an. Niedri­ gere Werte lassen auf ein weniger gleichmäßiges Abnahmeverhalten schließen. Zwar werden durch statisch wirkende Leistungsentgelte Anreize geschaffen, die nachfrage­ seitige Planungssicherheit der Netzbetreiber zu erhöhen, im Hinblick auf die kurzfris­ tige Kompensation der volatilen Residuallast entfalten sie aber keine direkte Wirkung. Punktuell wirkende Leistungsentgelte zielen darauf, einen Anreiz zu schaffen, ei­ nen Teil der Lastspitze zeitlich zu verschieben. Hierzu wird im Voraus ein begrenz­ ter Zeitabschnitt definiert, innerhalb dessen eine besonders niedrige Leistungsauf­ nahme durch ein reduziertes Leistungsentgelt honoriert wird (vgl. Abbildung 5 (b)). Ein netzentlastender Effekt soll dadurch erzielt werden, dass die Entnahme in Zeitab­ schnitten, in denen regelmäßig eine sehr hohe Netzlast zu verzeichnen ist, reduziert wird. In Deutschland wird dieser Flexibilitätstreiber über das Anreizinstrument der atypischen Netznutzung umgesetzt, welches eine Abweichung der Lastspitze eines Verbrauchers vom Zeitpunkt der Systemspitzenlast des Netzbetreibers belohnt. Eine

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(a)

(b)

1053

(c)

Abb. 5: Leistungsorientierte Flexibilitätstreiber: a) statisch, b) punktuell, c) kontinuierlich (Quelle: Eigene Darstellung).

Reduktion des Leistungsentgelts ist für Verbraucher dann möglich, wenn ihre maxi­ male Leistung innerhalb dieses Zeitabschnitts, dem sogenannten Hochlastzeitfens­ ter, deutlich von der eigenen Jahreshöchstlast abweicht. Die Hochlastzeitfenster wer­ den für ein Jahr im Voraus vom Netzbetreiber definiert und können sich quartalsweise unterscheiden.⁴ Grundsätzlich ist auch eine Kombination von statisch und punktuell wirkenden Leistungsentgelten möglich. Nachteil der punktuellen Systeme ist, dass sie keine Einflussnahme auf das Abnahmeverhalten außerhalb des definierten Zeit­ abschnitts haben. Dieser Nachteil wird in kontinuierlich wirkenden Leistungsentgelten aufgegriffen. Diese basieren auf der Idee, einen Zulässigkeitskorridor für die Leistungsaufnah­ me, das sogenannte Lastprofil, zu definieren (vgl. Abbildung 5(c)). Abweichungen von dem vereinbarten Lastprofil in Form von Über- oder Unterschreitungen der Last­ grenze werden durch vertraglich vereinbarte Strafkosten, sogenannte „Load Curve Penalties“, bestraft (vgl. Nolde/Morari 2010, S. 1900). Solche kontinuierlichen Leis­ tungsentgelte kommen insbesondere in Versorgungsverträgen für industrielle Groß­ verbraucher zum Einsatz (z. B. Stahlindustrie). Durch die dynamische Anpassung der Lastgrenzen können kontinuierliche Leistungsentgelte einen direkteren Beitrag zur Netzstabilität leisten. Sie setzen aus Industriesicht allerdings das höchste Maß an Planung voraus. Es sei angemerkt, dass die vorgestellten Flexibilitätstreiber einander bedingen und insofern nicht unabhängig voneinander zu sehen sind. So wird aus Industriesicht über den Arbeitspreis ein Anreiz geschaffen, den Verbrauch zu reduzieren oder zu ver­ schieben. Eine Anpassung des Verbrauchsverhaltens impliziert jedoch zugleich eine Beeinflussung des Lastprofils mit gegebenenfalls nachteiligen Wirkungen auf das an den Netzbetreiber zu entrichtende Leistungsentgelt. Gleichermaßen beeinflusst eine Reduktion oder Verschiebung einer Lastspitze auch das Verbrauchsverhalten im Zeit­ ablauf. Gegebenenfalls verschiebt sich dadurch der Strombezug in höherpreisige Pha­ sen. Beide Flexibilitätstreiber sind daher aus Industriesicht simultan zu betrachten.

4 Die atypische Netznutzung wird in der Verordnung über die Entgelte für den Zugang zu Elektrizi­ tätsversorgungsnetzen (StromNEV) in §19 Absatz 2, Satz 1 festgelegt.

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2.3 Beitrag der Produktionsplanung zur Energieflexibilität Die Ausführungen zu den Flexibilitätstreibern ermöglichen eine Konkretisierung des Konstrukts der Energieflexibilität. Unter Energieflexibilität wird demnach im Fol­ genden die Eigenschaft eines Produktionssystems verstanden, auf Anreize durch verbrauchs- und leistungsorientierte Flexibilitätstreiber des Energiemarkts reagie­ ren zu können, indem das Lastprofil des Produktionssystems durch Entscheidungen in der Produktionsplanung beeinflusst wird. In welcher Form diese Beeinflussung erfolgen kann, wird nachfolgend thematisiert. Der Fokus wird auf standortbezoge­ ne Entscheidungen im kurz- bis mittelfristigen Bereich gelegt. Zur Systematisierung der Zusammenhänge wird Bezug auf die Struktur hierarchischer Planungssysteme genommen (vgl. Fleischmann/Meyr/Wagner 2015, S. 71 ff.). Aufbauend auf einer ein­ führenden Beschreibung der relevanten Planungsaufgaben – der Programmplanung und der Detailplanung – werden Möglichkeiten zur Beeinflussung von Verbrauch und Leistung der Produktion herausgearbeitet und Bezüge zum Lastprofil erörtert.

2.3.1 Programmplanung Gegenstand der Programmplanung ist der mittelfristige Abgleich von Bedarfen und Kapazitäten. Unterstellt man absatzseitige Vorgaben im Hinblick auf die zu erfüllende Nachfrage, gilt es, Engpassfaktoren in der Produktion zu erkennen und geeignete An­ passungsmaßnahmen zu ergreifen. Hierbei bestehen zwei grundsätzliche Möglichkei­ ten. Einerseits können durch Nutzung von Lagerbeständen Nachfrage und Leistungs­ erstellung (partiell) entkoppelt und somit ein Ausgleich von Nachfragespitzen und -tälern erreicht werden. Andererseits ist es möglich, die Kapazität entsprechend der Nachfrage anzupassen. Hierzu stehen vielzählige Maßnahmen im Bereich der zeitli­ chen, intensitätsmäßigen, quantitativen und qualitativen Anpassung zur Verfügung. Im Ergebnis werden neben den Anpassungsmaßnahmen auch Art, Menge und Ter­ min der herzustellenden Produkte festgelegt. Das Planungsziel ist die Minimierung der Anpassungskosten bei termingerechter Erfüllung der Nachfrage und gleichzeiti­ ger Einhaltung der Kapazitätsschranken. Der Planungshorizont beträgt je nach An­ wendungsfall etwa drei bis zwölf Monate, die meist in Wochenperioden unterteilt sind (vgl. Drexl et al. 1993, S. 12 f.). Entscheidungen der Programmplanung beeinflussen die Energieflexibilität der Produktion in erheblichem Maße. Dies betrifft sowohl den zeitlichen Verlauf von Ver­ brauch und Leistung als auch den insgesamt erforderlichen Energiebedarf. Mögliche Flexibilitätsinstrumente werden im Folgenden dargestellt (vgl. Abbildung 6). Der mittelfristige Auf- und Abbau von Lagerbestand hat einen wesentlichen Ein­ fluss auf den Verlauf von Verbrauch und Leistung. Zum einen können erwartete Pha­ sen relativ hoher Strompreise zugunsten solcher mit niedrigeren Strompreisen vermie­ den werden. Zum anderen können besonders netzdienliche Lastverläufe eingestellt

Energieflexibilität in der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung | 1055

Planungsaufgabe

Maßnahmen

Einfluss auf Lastprofil

Programmplanung • • • • •

Lagerung Zeitliche Anpassungen Intensitätsmäßige Anpassungen Quantitative Anpassungen Qualitative Anpassungen

Abb. 6: Programmplanung (Quelle: Eigene Darstellung).

werden, etwa im Sinne einer Vergleichmäßigung oder Residuallastorientierung. Da­ bei steigt die Energieflexibilität mit zunehmender Lagerkapazität grundsätzlich. Das Potential der Energieflexibilität steht jedoch im Zielkonflikt zu den durch die Lagerung entstehenden Kosten. Kurzfristiger wird der Verlauf von Verbrauch und Leistung durch die zeitliche Or­ ganisation der Produktion und speziell das Schichtmodell geprägt. So werden über die Wahl des Schichtmodells implizit auch Festlegungen hinsichtlich der Produkti­ ons- und Stillstandszeiten getroffen. Damit besteht analog zum Einsatz von Lagerbe­ stand die Möglichkeit, die grundsätzliche Struktur des Lastgangs zu beeinflussen. Zu Zielkonflikten kommt es dann, wenn Verschiebungen im Sinne der Energieflexibilität zu erhöhten Produktionskosten führen, etwa aufgrund von Schichtzuschlägen. So lie­ gen Nacht- und Wochenendschichten meist in Zeiten günstiger Energiepreise. Je mehr Schichtmodelle zur Verfügung stehen, desto größer ist die Energieflexibilität. Energieflexibilität kann auch über intensitätsmäßige (Verkürzung von Bearbei­ tungszeiten), quantitative (Kapazitätsanpassungen, Fremdvergabe) und qualitative Anpassungsmaßnahmen dargestellt werden. Diese sind allerdings in der Regel mit weitergehenden Konsequenzen in Bezug auf den insgesamt erforderlichen Energie­ bedarf verbunden. Beispielsweise wird die Erweiterung der Anlagenkapazität ten­ denziell den Gesamtenergiebedarf erhöhen, während er durch Fremdvergabe von Aufträgen reduziert wird. Intensitätsänderungen können nichtlineare Änderungen des Energieverbrauchs bedingen. Neben den zuvor dargestellten direkten Auswirkungen nehmen Entscheidungen der Programmplanung auch implizit Einfluss auf die Energieflexibilität der Produkti­ on, da sie den Entscheidungsfreiraum der zeitlich nachgelagerten Planungsebenen definieren. Insbesondere werden Festlegungen im Hinblick auf kapazitative Reserven getroffen, die in kurzfristigeren Planungsaufgaben genutzt werden können, um Pro­ duktionspläne im Sinne der Energieflexibilität zu ermitteln. Da eine zunehmende Re­ servekapazität in der Regel mit erhöhten Kosten einhergeht, ist erneut ein Zielkonflikt zu verzeichnen.

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Wie die zuvor stehenden Ausführungen zeigen, führt die Berücksichtigung von Energieflexibilität in der mittelfristigen Programmplanung zur Notwendigkeit, einen erweiterten Zielkonflikt zu lösen. Dabei sind drei erschwerende Herausforderungen zu berücksichtigen. 1. Die Programmplanung ist mittelfristig ausgerichtet. Aus Gründen der Komplexi­ tätsreduktion wird in der Regel auf eine zeitliche und mengenmäßige Aggrega­ tion zurückgegriffen. Demgegenüber unterliegen Strompreise sehr kurzfristigen Veränderungen, die eine hohe Granularität erforderlich machen. 2. Ebenfalls aus Gründen der Komplexitätsreduktion werden im Rahmen der Pro­ grammplanung nur Teile der Produktion erfasst. Entsprechend sind daraus abge­ leitete Aussagen bezüglich des Lastprofils allenfalls approximativ zu sehen. Um zu einer besseren Annäherung des Lastprofils zu kommen, ist es erforderlich, den Betrachtungsbereich der Programmplanung zu erweitern. 3. Zukünftige Strompreise sind nur unter Unsicherheit bekannt. Um vom vollen Po­ tenzial der Energieflexibilität zu profitieren, gilt es, diese Unsicherheit im Rahmen der Programmplanung zu berücksichtigen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass bei den in der Programmpla­ nung einsetzbaren Flexibilitätsinstrumenten ein enger Zusammenhang zwischen Verbrauchsanpassung und Leistungsverlauf besteht. Generell begünstigt die Flexi­ bilität in der Produktion die Energieflexibilität. Gleichzeitig besteht ein Zielkonflikt zwischen steigenden Kosten durch Erhöhung der Flexibilität und durch Energieflexi­ bilität generierte Einsparungspotentiale. Die Lösung des Zielkonflikts macht eine erweiterte Betrachtung erforderlich. Einerseits ist sowohl zeitlich als auch sachlich eine höhere Abbildungsgenauigkeit nötig, um die durch Flexibilitätstreiber erziel­ baren Effekte in der Programmplanung zu berücksichtigen. Andererseits muss der Betrachtungsrahmen weiter gefasst werden, um die Abhängigkeiten innerhalb der Produktion möglichst ganzheitlich abzubilden. Schließlich erfordern Unsicherhei­ ten (insbesondere mit Blick auf Strompreise) im mittelfristigen Planungshorizont die Verwendung stochastischer Elemente in der Planung.

2.3.2 Detailplanung Innerhalb der Detailplanung sind zwei eng miteinander verbundene Planungsauf­ gaben zu berücksichtigen: die mengenorientierte Losgrößenplanung und die ter­ minorientierte Ablaufplanung. Im Rahmen der Losgrößenplanung sind die aus der Programmplanung übernommenen Primärbedarfsmengen zu Fertigungsaufträgen zusammenzufassen. Neben den Primärbedarfen sind in diesem Zusammenhang auch Lose für die abgeleiteten Bedarfe, d. h. die jeweiligen Baugruppen, Komponenten und Teile festzulegen. Abhängig von technischen und zeitlichen Voraussetzungen kann innerhalb der Losgrößenplanung auch über die Produktionsreihenfolge der einzel­

Energieflexibilität in der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung |

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nen Lose entschieden werden. Unter der Annahme konstanter Produktionskosten besteht das Ziel der klassischen Losgrößenplanung in der Lösung des Zielkonflikts zwischen Rüst- und Lagerkosten. Dabei muss insbesondere auf die Bedarfstermi­ ne der Produkte, aber auch auf die Rahmenbedingungen des Produktionssegments wie Personal- und technische Kapazitäten einzelner Arbeitsplätze Rücksicht genom­ men werden. Zusätzlich können Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Produkten berücksichtigt werden, etwa bei der gemeinsamen Nutzung einer limitierten Res­ source. Der Planungshorizont hat üblicherweise eine Länge von vier bis zwölf Wo­ chen und kann in Tages- oder Schichtperioden aufgeteilt werden (Drexl et al. 1993, S. 14 f.). Im Rahmen der Ablaufplanung soll eine möglichst liefertermingerechte Zuord­ nung der zuvor festgelegten Produktionslose auf die Anlagen bestimmt werden. Dazu wird der Durchlauf der Fertigungsaufträge durch das Produktionssystem mit Start- und Endterminen an den Anlagen terminiert. Im Gegensatz zu den vorgela­ gerten Planungsaufgaben wird in der Ablaufplanung in der Regel keine ökonomi­ sche Zielsetzung verfolgt. Stellvertretend werden nicht-monetäre Ersatzziele gewählt, beispielsweise die Minimierung der Durchlaufzeit oder der Terminabweichung. Der Planungshorizont der Ablaufplanung ist in der Regel sehr kurz und umfasst nur ei­ nen Zeitraum von wenigen Stunden bis zu einem Tag, seltener wenige Tage (vgl. Drexl et al. 1993, S. 15 ff.). Die Durchführung von Losgrößenplanung und Ablauf­ planung kann sequenziell erfolgen; eine integrierte Betrachtung steigert zwar die Problemkomplexität, verspricht jedoch bessere Ergebnisse (vgl. Copil et al. 2017, S. 2). Analog zu den Entscheidungen der Programmplanung beeinflusst die Losgrößen­ planung die Energieflexibilität der Produktion in erheblichem Maße. Dies betrifft so­ wohl den zeitlichen Verlauf von Verbrauch und Leistung als auch den insgesamt er­ forderlichen Energiebedarf. Mögliche Flexibilitätsinstrumente werden im Folgenden dargestellt (vgl. Abbildung 7).

Planungsaufgabe

Maßnahmen

Detailplanung • • • • •

Losgrößen Reihenfolge Terminierung Anlagenzuordnung Anlagenbetrieb

Abb. 7: Detailplanung (Quelle: Eigene Darstellung).

Einfluss auf Lastprofil

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Durch die Losgrößen werden nicht nur die oftmals energieintensiven Rüstvorgänge festgelegt, es werden auch Phasen der Produktion beziehungsweise solche der NichtProduktion definiert. Unter Berücksichtigung der Flexibilitätstreiber können Lose demnach so angeordnet werden, dass beispielsweise Hochlastzeitfenster (im Sin­ ne einer punktuellen Lastüberwachung) oder Phasen hoher Strompreise vermieden werden. Analog zur Programmplanung wird damit aber ein Zielkonflikt zu den Lager­ kosten hervorgerufen. Generell ermöglichen kleinere Losgrößen, passgenauer auf die Flexibilitätstreiber einzugehen, und erhöhen somit die Energieflexibilität. Allerdings werden zusätzliche Rüstvorgänge erforderlich, sodass Rüstkosten und Energiebedarf oftmals im Zielkonflikt zur Energieflexibilität stehen. Aufbauend auf der Losgrößenplanung können im kurzfristigen Bereich detaillier­ te Ablaufentscheidungen im Sinne der Energieflexibilität getroffen werden. So kön­ nen die Auftragsreihenfolge, die Wahl von Anlagen mit günstigen energetischen Eigen­ schaften sowie die Terminierung der Produktionsstartpunkte genutzt werden, um den Verlauf von Verbrauch und Leistung gezielt an die in Abschnitt 2.2 dargestellten Fle­ xibilitätstreiber anzupassen. Gleiches gilt für die Planung des Anlagenbetriebs, etwa durch kurzfristige Unterbrechungen der Produktion (Standby/Ausschalten) zur Ver­ meidung hoher Strompreise oder Lastspitzen. Analog zur Programmplanung erfordert auch die Detailplanung unter Energiefle­ xibilitätsgesichtspunkten eine vergleichsweise kurzfristige Betrachtung von Produk­ tionsentscheidungen. Unsicherheiten bezüglich des Strompreisverlaufs sind wesent­ lich geringer als bei der Programmplanung, können aber im Einzelfall, speziell bei einem längeren Planungshorizont, von Relevanz sein. Darüber hinaus bestehen ins­ besondere die folgenden spezifischen Herausforderungen: 1. Typischerweise wird in der Detailplanung von konstanten Produktionskosten ausgegangen – eine Prämisse, die bei Berücksichtigung von dynamischen Strom­ preisen beziehungsweise auftragsspezifischen Leistungsbedarfen verletzt wird. Dies führt dazu, dass neben der zeitlichen Organisation des Auftragsdurchlaufs auch der Betrieb der Anlagen zu definieren ist. Hiervon sind nicht nur die Pro­ duktionsphasen betroffen, sondern insbesondere auch die Phasen der Nicht-Pro­ duktion, so etwa lastrelevante Entscheidungen über Start- und Stoppvorgänge sowie Phasen im Bereitschaftsmodus. Dies macht eine erweiterte Betrachtung erforderlich. 2. Aufgrund von Schwierigkeiten in der monetären Bewertung von Ablaufplänen wird in der Regel auf Ersatzziele zurückgegriffen. Demgegenüber liegen aus ener­ giewirtschaftlicher Sicht feingranulare Kosteninformationen für Verbrauch und Leistung vor. Aufgrund der gegebenen Unvergleichbarkeit zwischen Ersatzzielen und finanziellen Zielen resultiert eine multikriterielle Entscheidungssituation, die eine gesonderte Handhabung erfordert.

Energieflexibilität in der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung | 1059

3.

Üblicherweise beschränken sich Abhängigkeiten zwischen mehreren Anlagen auf gemeinsam genutzte Ressourcen (z. B. Personal) und die Logistik (z. B. Material­ verfügbarkeit). Die Berücksichtigung der elektrischen Leistung im Rahmen der Planung führt dazu, dass eine neue Art von Abhängigkeit entsteht, da mit Blick auf leistungsorientierte Entgelte lediglich die Gesamtleistung von Relevanz ist. Die Berücksichtigung dieser Abhängigkeiten im Rahmen der Planung ist zum ei­ nen von hoher betriebswirtschaftlicher Relevanz, da Lastspitzen zu erheblichen Mehrkosten führen können. Zum anderen erfordert sie eine sehr hohe zeitliche Abbildungsgenauigkeit, da die Leistung von der jeweiligen Nutzung der Anlagen abhängt.

Insgesamt können die Flexibilitätsinstrumente in der Detailplanung die in der Pro­ grammplanung generierte Flexibilität erweitern; der Zusammenhang zwischen Ver­ brauchs- und Leistungsverlauf besteht analog zur Programmplanung. Den erweiter­ ten Zielkonflikten wird durch multikriterielle Betrachtungen Rechnung getragen. Die Ergebnisse der Detailplanung stellen konkrete Produktionspläne für spezifische Pro­ duktionskonstellationen dar. Unsicherheiten bezüglich des Strompreisverlaufs sind in der kurzfristigen Betrachtung von untergeordneter Relevanz.

2.4 Entwurf einer integrierten Sicht Nachdem in Abschnitt 2.2 die Flexibilitätstreiber des Energiemarkts und in Ab­ schnitt 2.3 der Beitrag der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung zur Ener­ gieflexibilität dargestellt wurden, werden beide Perspektiven in dem Bezugsrahmen der Energieflexibilität zusammengefasst (vgl. Abbildung 8). Der Bezugsrahmen er­ möglicht die Einordnung von aktuellen Planungsansätzen, die einen Beitrag zur Energieflexibilität leisten.

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Verbrauchsorientierte Flexibilitätstreiber

langfristig

kurzfristig

Planungsaufgabe

stochastisch

Maßnahmen

Einfluss auf Lastprofil

Programmplanung • • • • •

Lagerung Zeitliche Anpassungen Intensitätsmäßige Anpassungen Quantitative Anpassungen Qualitative Anpassungen

• • • • •

Losgrößen Reihenfolge Terminierung Anlagenzuordnung Anlagenbetrieb

Detailplanung

Leistungsorientierte Flexibilitätstreiber

statisch

punktuell

kontinuierlich

Abb. 8: Bezugsrahmen der Energieflexibilität (Quelle: Eigene Darstellung).

Energieflexibilität in der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung |

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3 Ansätze zur Berücksichtigung von Energieflexibilität Zur Illustration des Bezugsrahmens wird im Folgenden anhand ausgewählter Arbei­ ten dargestellt, wie sich die Flexibilitätstreiber in Planungsverfahren beziehungswei­ se den diesen zugrundeliegenden Modellen berücksichtigen lassen. Entsprechend der zuvor eingeführten Struktur wird zwischen mittelfristigen Ansätzen der Programm­ planung und kurzfristigen Ansätzen der Detailplanung unterschieden.

3.1 Programmplanung Ansätze zur Berücksichtigung von Energieflexibilität im Bereich der mittelfristigen Produktionsplanung finden sich in verschiedenen Strängen der produktionswirt­ schaftlichen Literatur. In den Modellen findet eine Vielzahl von Flexibilitätstreibern auf Arbeits- und Leistungsentgeltebene Anwendung. Größtenteils werden bereits langfristige Tarifsysteme zugrunde gelegt, während leistungsorientierte Flexibilitäts­ treiber in verschiedenen Ausprägungen abgebildet sind. Eine Gemeinsamkeit der Ansätze stellt die Verbindung von Planungsinstrumen­ ten der mittelfristigen Programmplanung mit kurzfristigen Entscheidungsmodellen der Detailplanung dar. Dies ist erforderlich, da mit Blick auf kurzfristig schwankende Strompreise zur Gewinnung von Energieflexibilität auch kurzfristige Entscheidungen in der Produktion getroffen werden müssen. Allerdings sind aus Gründen der Lösbar­ keit Kompromisse in Bezug auf die Länge des Planungshorizonts erforderlich. Grundsätzlich lassen sich auf dieser Planungsebene drei Modellierungsansätze unterscheiden, die im Folgenden exemplarisch beschrieben werden. Im Einzelnen sind dies: 1. Ansätze, die zukünftige Strompreise als deterministisch bekannt annehmen; 2. Ansätze, die Unsicherheiten im Strompreisverlauf stochastisch abbilden; 3. generalisierte Ansätze, die auf analytischen Modellen beruhen.

3.1.1 Deterministische Modelle Deterministische Modelle gehen von mit Sicherheit bekannten Strompreisverläufen aus und können weiter in Modelle mit statischer Kapazität und Modelle mit der Mög­ lichkeit zur Veränderung der Kapazitäten unterschieden werden.

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Grundmodell mit statischer Kapazität Ein Ansatz zur Berücksichtigung von Energieflexibilität in der Programmplanung mit statischer Kapazität wird von Ashok (2010) vorgestellt. Motiviert durch typische Anwendungsumgebungen in der Prozessindustrie wird eine Mehrprodukt-Reihen­ produktion bestehend aus einer gegebenen Anzahl von Anlagen (je eine pro Pro­ duktionsstufe) mit produktspezifischen Energiebedarfen betrachtet. Es wird von idealtypischen Produktionsbedingungen ausgegangen. Quantitative und zeitliche Maßnahmen werden nicht berücksichtigt: der zur Verfügung stehende Zeitraum und damit auch die zur Verfügung stehende Kapazität sind fix; Lagermöglichkeiten sind nicht begrenzt, Rüstprozesse nicht erforderlich; einzig die Verfügbarkeit des Vorma­ terials ist beschränkt. Der Fokus liegt auf qualitativen Maßnahmen durch flexible Produktionsmengen und -reihenfolgen. Die betrachtete Problemstellung besteht darin, ein Produktionsprogramm zu be­ stimmen, bei dem die Energiekosten bei gegebener Produktivität minimiert werden. Neben einem langfristigen Tarifsystem wird auch ein statisch wirkendes Leistungsent­ gelt entsprechend der über alle Anlagen kumulierten Spitzenlast berücksichtigt. Als Planungshorizont wird ein mittelfristiger Zeitraum von einem Monat angenommen. Das Problem wird mit Hilfe der ganzzahligen linearen Programmierung gelöst. Die Herausforderung besteht darin, dass die Berücksichtigung des Leistungsentgelts einerseits eine mittelfristige Perspektive erfordert. Andererseits hängen der anlagen­ spezifische Energiebedarf und damit auch die Spitzenlast von sehr kurzfristigen Ent­ scheidungen über den Produktionsablauf ab. Die Arbeitspreise unterliegen einer ho­ hen zeitlichen Dynamik. Damit resultiert ein Problem hoher Komplexität. Um diesem Dilemma zu begegnen, wird ein approximativer Ansatz gewählt. Der Betrachtungs­ horizont für die detaillierte Planung wird auf einen einzelnen repräsentativen Tag re­ duziert. Dieser fließt entsprechend der Länge des Planungshorizonts gewichtet in die Zielfunktion ein. Der repräsentative Tag wird in Zeitabschnitte gleicher Länge unter­ teilt. Auf dieser Basis werden unter Berücksichtigung einer vorgegebenen Anlagen­ folge detaillierte Ablaufpläne mit minimalen Stromkosten erstellt. Die entsprechende Zielfunktion ist in (1) dargestellt. N

M

J

Min z = ∑ ∑ ∑ [E mjk ⋅ C k ] ⋅ H + C d ⋅ MD

(1)

k=1 m=1 j=1

Hierbei entspricht E mjk dem Energieverbrauch des Auftrags j auf Anlage m in Peri­ ode k. Zur Berechnung des Arbeitsentgelts im betrachteten Monat wird der Energiever­ brauch mit dem Arbeitspreis C k eines langfristigen Tarifsystems multipliziert und über die Perioden (Stunden) des repräsentativen Tages aufsummiert. Das Ergebnis wird mit der Anzahl der Arbeitstage im Monat H gewichtet. Schließlich wird das Leistungsent­ gelt als Produkt aus Spitzenlast MD und Leistungspreis C d hinzuaddiert. Kapazitäten werden über die zur Verfügung stehende Zeit sowie produkt- und anlagenspezifische Ausbringungskoeffizienten modelliert.

Energieflexibilität in der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung | 1063

Testinstanzen aus der Stahlindustrie zeigen eine Einsparung der Energiekos­ ten im Bereich von ca. 5 %. Zudem kann die Spitzenlast wirksam reduziert werden. Die Produktionsprogramme, die untertägig mehrere Produkte mit unterschiedlichem spezifischen Energiebedarf beinhalten, weisen das größte Potenzial auf, um von den schwankenden Stromkosten zu profitieren. Dadurch können Produkte mit einem niedrigen Energiebedarf in Zeiten hoher Strompreise bevorzugt produziert werden. Dies steht im Gegensatz zur gegenwärtigen Praxis der Prozessindustrie, wonach oft tagesübergreifende Chargen eines Produkts gefertigt werden. Durch die Lösung des Modells lässt sich bei den getroffenen Annahmen eine relativ detaillierte Programm­ planung unter Energieflexibilitätsgesichtspunkten erstellen. Hinsichtlich der in Abschnitt 2.3.1 abgeleiteten Herausforderungen der Berück­ sichtigung von Energieflexibilität in der Programmplanung weist das Modell von As­ hok (2010) Grenzen auf. Die Grenzen sind vor allem auf die vereinfachte Darstellung der Produktion zurückführen, in der auf Lagermöglichkeiten verzichtet wird. Speziell die Vernachlässigung von Rüstprozessen ist in der betrachteten Industrieumgebung kritisch zu sehen. Zudem werden übliche Flexibilitätsinstrumente zur Anpassung der Kapazität nicht berücksichtigt. Grenzen ergeben sich auch durch die alleinige Fokus­ sierung auf Energiekosten. Der erweiterte Zielkonflikt einer Programmplanung, in der Energieflexibilität berücksichtigt wird, wird dadurch nur ansatzweise abgebildet. Die Hochskalierung des einzelnen Tages mag eine grobe Annährung bilden, bei einer voll­ ständigen Betrachtung des gesamten Monats ließe sich jedoch mehr Flexibilitäts- und damit Einsparungspotential vermuten. Mit Blick auf den Bezugsrahmen wird deutlich, dass Ashok (2010) in seinem Ansatz Zielsetzungen der Programmplanung mit Mitteln der kurzfristigen Detailplanung zu erreichen versucht. Dabei werden auch, wie bei ei­ nem kurzfristigen Planungshorizont üblich, deterministische Energiepreise zugrunde gelegt. Erweiterung auf veränderliche Kapazität Mitra et al. (2012a) stellen einen Ansatz zur kapazitierten einstufigen Mehrprodukt­ programmplanung bei parallelen Anlagen vor. Auch hier liegt der Fokus auf der kon­ tinuierlichen Fertigung in der Prozessindustrie. Arbeitspreise eines langfristigen Ta­ rifs stellen verbrauchsorientierte Flexibilitätstreiber dar und werden ergänzt um ein kontinuierlich wirkendes Leistungsentgelt. Im Vergleich zum Ansatz von Ashok (2010) werden hier Rüstvorgänge und Aspekte der Lagerhaltung berücksichtigt. Quantitative sowie zeitliche Maßnahmen finden auch in diesem Modell keine Anwendung. Unter Einhaltung der zu erfüllenden Nachfrage sowie gegebener Lager- und Produktionska­ pazitäten wird der Zielkonflikt der gleichzeitigen Minimierung von Strombezugskos­ ten, Lagerkosten und Rüstkosten gelöst. Aufgrund ihrer hohen Komplexität sind Modellen, die Produktionsprozesse und Anlagenzustandswechsel detailliert abbilden, enge Grenzen gesetzt. Ein aus Sicht der Programmplanung relevanter Planungshorizont lässt sich somit nicht berück­ sichtigen. Vor diesem Hintergrund schlagen Mitra et al. (2012a) einen produktions­

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theoretisch fundierten Ansatz zur Approximation des Lösungsraums auf der Basis einer Menge von Ungleichungssystemen vor. Im Mittelpunkt stehen sogenannte Pro­ duktionsmodi, welche Techniken in der Produktionstheorie entsprechen. Ein Modus beschreibt eine eindeutige Anlagenkonfiguration. Er wird definiert, indem für jeden Produktionsbereich der Anlage einer der drei diskreten Zustände Stillstand, Rüsten oder Produktion gewählt wird. Durch den Modus werden zulässige Kombinationen von Ausbringungsmengen der Produkte beschrieben. Unter Annahme eines stetigen Lösungsraums wird jede Kombination von Ausbringungsmengen als Betriebspunkt bezeichnet. Die Idee besteht darin, Produktion, Materialfluss und Energiebedarf über Betriebspunkte zu modellieren. Auf diese Weise können Rüstvorgänge als Änderung des Modus interpretiert werden, sodass sie hinsichtlich ihrer Zulässigkeit, Mindestund Höchstdauer beschränkt und hinsichtlich ihrer Kosten für den Zustandswech­ sel bewertet werden können. Implizit lassen sich über die Modi und Betriebspunk­ te auch Produktionsreihenfolgen als qualitative Maßnahmen abbilden. Beschrän­ kungen in der Veränderung des Produktionsprogramms lassen sich innerhalb eines Modus in der Beschränkung von Änderungen im Betriebspunkt modellieren. La­ gerbilanzen werden über den Abgleich der Ausbringung mit dem Bedarf sichtbar. Rückschlüsse auf den Energiebedarf lassen sich über produkt- und modusabhängige Bedarfskoeffizienten ziehen, die empirisch ermittelt werden können. Die dargestellte Modellierung ermöglicht eine gute Lösbarkeit des Planungspro­ blems. Da Prozesse durch die Verwendung der Modi nicht genau abgebildet werden müssen und weiterhin die Wechsel zwischen den Modi beschränkt sind, wird die Pro­ blemgröße deutlich reduziert. Auf diese Weise sind auch Probleme mit komplexen Fertigungsstrukturen und einem Planungshorizont von einer Woche gut lösbar. Häu­ fige Änderungen der Modi werden durch deren kostengewichteten Eingang in die Ziel­ funktion vermieden. Durch die Möglichkeit zur Lagerung wird ein Beitrag zur Energie­ flexibilität geleistet. Erste Anwendungsbeispiele aus der Chemie- und Zementindus­ trie versprechen eine Kostenersparnis von 5 bis 10 %. Jedoch zeigt auch der Ansatz von Mitra et al. (2012a) Grenzen hinsichtlich der in Abschnitt 2.3.1 abgeleiteten Herausforderungen der mittelfristigen Programmpla­ nung. Aufgrund der Untersuchung detaillierter Entscheidungen ist das Problem nach wie vor durch eine hohe Komplexität gekennzeichnet, sodass auch hier eine Begren­ zung des Planungshorizonts notwendig ist. Ohne weiteres kann der Planungshorizont nicht auf eine Länge erweitert werden, die üblicherweise für Probleme der Programm­ planung von Interesse wäre. Das optimale Produktionsprogramm kann durch die Art der Modellierung der Betriebszustände nur näherungsweise bestimmt werden, da die zugrundeliegenden Prozesse nicht exakt abgebildet werden. Die Annahme determi­ nistischer Strompreisverläufe vernachlässigt den Umstand, dass zukünftige Strom­ preise in der mittelfristigen Produktionsplanung nur unter Unsicherheit bekannt sind. Das Leistungsentgelt als weiterer Flexibilitätstreiber wird zudem nur implizit über den Lösungsraum abgebildet. Weitere Grenzen ergeben sich durch die Vernachlässigung von Produktionskosten, die zum Beispiel durch eine angepasste Personalplanung entstehen.

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Erweiterung um saisonale Effekte In einer Folgearbeit greifen Mitra/Pinto/Grossmann (2014) speziell die Erweiterung des Planungshorizonts auf, um die mittelfristige Programmplanung gezielter zu unter­ stützen. Insbesondere sollen saisonale Effekte in der Produktion (z. B. Urlaubszeiten), des Absatzes (z. B. witterungsbedingte Nachfragespitzen und -täler) und der Energie­ wirtschaft (z. B. sonnenlaufabhängige Preisverläufe) bei der Planung von Kapazitäten und Lagerbeständen berücksichtigt werden. Weiterhin werden quantitative Maßnah­ men zur Erweiterungsinvestition im Bereich der Anlagen und des Lagers sowie Unsi­ cherheiten in der Prognose der Nachfrage mit in die Betrachtung aufgenommen. Ziel ist es, den erwarteten auszahlungsbezogenen Kapitalwert aus Investitionen und Aus­ zahlungen für den operativen Betrieb zu minimieren. Als entscheidungsrelevante ope­ rative Auszahlungen werden (pagatorische) Energiekosten, Lagerkosten, Rüstkosten und Kosten für die Fremdbeschaffung von Produkten berücksichtigt. Die Modellierung des Problems erfolgt unter Verwendung und Erweiterung des von Mitra et al. (2012a) ausgeführten Ansatzes. Im Rahmen eines mehrstufigen sto­ chastischen Optimierungsmodells wird die Unsicherheit in der Nachfrage über Sze­ narien in die Betrachtung mit aufgenommen. Die Verlängerung des Planungshori­ zonts geht mit einer nochmals erhöhten Problemkomplexität einher. Zur Reduktion der Komplexität wird analog zu Ashok (2010) eine Verkleinerung des Entscheidungs­ felds vorgenommen. Die operativen Planungsentscheidungen je Jahreszeit werden auf eine einzige Woche mit repräsentativem Strompreisverlauf beschränkt und es wird un­ terstellt, dass dieser Produktionsplan für die Dauer der Jahreszeit zyklisch zu wieder­ holen ist (vgl. Abbildung 9). Durch die exemplarische Betrachtung von nur vier Wochen eines Jahres sinkt die Problemgröße. Das mittelfristige Produktionsprogramm kann somit annährungswei­ se bestimmt werden. In den vorgestellten Fallbeispielen sind bei den Energiekosten Einsparungen von bis zu 4 % möglich, in einem Extremfall sogar von 13 %. Die Höhe der Einsparungen hängt dabei stark von der vorhandenen Flexibilität ab, die länger­ fristig, z. B. durch Produktions- und Lagerkapazitäten, bestimmt wird. Jedoch weist das Modell von Mitra/Pinto/Grossmann (2014) Grenzen durch die Annahme deterministischer Strompreisverläufe auf. Insbesondere mit Blick auf den Zyklische Wochenplanung je Jahreszeit Saisonaler Strompreisverlauf Frühling

Sommer

Herbst

Winter

Abb. 9: Exemplarische Wochen der Jahreszeiten (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Mitra/ Pinto/Grossmann 2014).

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langen Planungshorizont von einem Jahr könnten sich durch die Berücksichtigung der Unsicherheit der Strompreise aussagekräftigere Ergebnisse erzielen lassen. Leistungs­ orientierte Flexibilitätstreiber werden im erweiterten Ansatz nicht mehr betrachtet. Weiterhin finden typische Programmplanungsaufgaben, wie beispielsweise die Per­ sonalplanung, keine Anwendung. Ein Problem im Rahmen der Jahresplanung besteht darin, dass die Übergänge der Lagerbestände zwischen den Jahreszeiten nicht konsis­ tent abgebildet werden. Einen Ansatz zur Vermeidung der Inkonsistenz im Periodenübergang schlagen Zhang et al. (vgl. Zhang et al. 2016a) vor. Dazu wird zusätzlich zu den sich zyklisch wie­ derholenden Wochen innerhalb der Jahreszeiten am Ende jeder Jahreszeit eine weite­ re Woche eingeführt, mit deren Hilfe die Lagerbestände in die Folgesaison übertragen werden können. Dadurch wird nicht nur die Programmplanung konsistenter, da die Lagerbestände über die Jahreszeiten miteinander verbunden sind; durch die jahres­ zeitübergreifende Lagerung ergibt sich auch ein größeres Flexibilitätspotential, da in Jahreszeiten mit einem niedrigeren Strompreisniveau vorproduziert werden kann.

3.1.2 Stochastische Modelle Stochastische Modelle berücksichtigen in der Modellierung Unsicherheiten im Strom­ preisverlauf. Grundsätzlich lassen sich stochastische Ansätze unterscheiden in robus­ te sowie stochastische Programmierung. Gemeinsames Ziel ist die Kontrolle des Risi­ kos, welches durch den unsicheren Preisverlauf entsteht. Robuste Programmierung Um unsichere Strompreisverläufe in der kontinuierlichen Fertigung zu berücksichti­ gen, erweitern Mitra et al. (2012b) das in Abschnitt 3.1.1 vorgestellte deterministische Modell (2012a). Sie betrachten als Fallbeispiel Luftzerlegungsanlagen, deren Strombe­ zug über einen stochastischen Tarif gedeckt ist. Diese verbrauchsorientierten Flexibi­ litätstreiber werden in der Programmplanung mit Hilfe der stochastischen Program­ mierung berücksichtigt. Die Lösbarkeit des Planungsproblems wird jedoch durch die Vielzahl an Szenarien, die untersucht werden müssen, beeinträchtigt. Zusätzlich wei­ sen die Strompreisverläufe Abhängigkeiten auf: Ein hoher Strompreis in den Morgen­ stunden deutet meist darauf hin, dass sich der Strompreis auch am restlichen Tag auf einem überdurchschnittlichen Niveau befinden wird. Durch robuste Programmierung kann die Menge der zu untersuchenden Szenari­ en eingeschränkt und die Problemgröße reduziert werden. Dabei werden die Szenari­ en durch sogenannte „Uncertainty Sets“ begrenzt, die die Ausprägungsmöglichkeiten des Parameters Strompreis bestimmen. Vorteile des Lösungsansatzes liegen – neben der guten Lösbarkeit trotz stochastischer Elemente – in den Gestaltungsmöglichkei­ ten durch die „Uncertainty Sets“. Durch Variationen in den Grenzen der untersuchten

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Strompreisverläufe lässt sich bei der Optimierung einstellen, wie konservativ der er­ stellte Produktionsplan sein soll. Weiterhin kann mittels der erzielten Ergebnisse das finanzielle Risiko durch Strompreisschwankungen kontrolliert werden. Der Ansatz von Mitra et al. (2012b) greift vorrangig die Herausforderung auf, un­ sichere Strompreisverläufe in der mittelfristigen Planung zu berücksichtigen. Da wie­ der ausschließlich die Energiekosten in der Zielfunktion minimiert werden und ande­ re produktionswirtschaftliche Faktoren unberücksichtigt bleiben, ist die Aussagekraft der Lösungen jedoch begrenzt. Außerdem scheinen die geringen Abweichungen der stochastischen zur deterministischen Lösung den Aufwand nicht zu rechtfertigen. Stochastische Programmierung Zhang et al. (2016b) stellen einen Ansatz für die mittelfristige Koordination von Ener­ giebezugs- und Produktionsplanungsentscheidungen vor. Aufbauend auf dem in Ab­ schnitt 3.1.1 vorgestellten Ansatz (vgl. Zhang et al. 2016a) wird eine kontinuierliche Produktion mit Lagermöglichkeiten und Fremdbeschaffung als quantitative Maßnah­ me zur Kapazitätsanpassung betrachtet. Die Produktionskosten werden als konstant angenommen und Lagerkosten nicht berücksichtigt. Zwei Strombezugsoptionen ste­ hen zur Verfügung: zum einen der kurzfristige Bezug über die Strombörse und zum anderen der mittelfristige Bezug über Verträge. Dabei wird eine vereinfachte Vertrags­ struktur angenommen, die als verbrauchsorientierte Flexibilitätstreiber neben einer zeitabhängigen, langfristig bekannten Tarifkomponente eine volumenabhängige Ta­ rifkomponente im Sinne eines gestuften Volumenrabatts beinhaltet. Der über Verträ­ ge beschaffte Strom wird unabhängig vom Verbrauch in Rechnung gestellt. Die beiden größten Unsicherheitsfaktoren, die Strompreise und die Nachfrage, werden gleichzei­ tig berücksichtigt, wobei auch hier verschiedene Strompreisverlaufsszenarien gene­ riert werden. Durch die sich im Zeitablauf realisierende Unsicherheit ergibt sich eine mehrstu­ fige Entscheidungsstruktur. Die damit einhergehende Komplexität ist erheblich. Um die Lösbarkeit zu verbessern, wird daher vereinfachend davon ausgegangen, dass sich die Unsicherheit zu einem einzigen Zeitpunkt realisiert. Aufbauend auf dieser An­ nahme wird das Problem durch eine zweistufige stochastische gemischt-ganzzahlige Programmierung modelliert. In der ersten Stufe werden mittelfristige Entscheidun­ gen über den Produktionsmodus und die Energiebezugsverträge getroffen. Die zweite Stufe entspricht kurzfristigen Entscheidungen über Produktionsraten, Lagerbestän­ de, Fremdbeschaffungen und Strombezug am Markt. Zur Berücksichtigung von Risi­ ken wird das Risikomaß „Conditional Value at Risk“ (CVaR) eingeführt. Da eine allei­ nige Kostenbetrachtung Szenarien mit hoher Nachfrage ungünstig beurteilen würde, erfolgt die Berechnung des CVaR auf Grundlage des Gewinns. Die Ergebnisse des Ansatzes zeigen, dass bei stochastischer Optimierung die An­ lagen in der Regel länger laufen, um die Unsicherheiten abfangen zu können. Dadurch wird mehr Flexibilität geschaffen und weniger Verträge müssen abgeschlossen wer­

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den. Eine wichtige Erkenntnis mit Blick auf das Risiko ist, dass bei risikoneutraler Optimierung die Berücksichtigung unsicherer Preise keinen großen Einfluss auf die Lösung hat. Je risikoscheuer die Optimierung hingegen ist, desto wichtiger werden stochastische Preise für das Erzielen guter Lösungen. Es gelingt Zhang et al. (2016b), die Unsicherheit der Strompreise in der mittelfris­ tigen Programmplanung zu berücksichtigen. Die Aussagekraft der Ergebnisse bleibt jedoch durch die Vernachlässigung anderer produktionswirtschaftlicher Faktoren weiterhin eingeschränkt. Darüber hinaus scheint der kurzfristige Wechsel zwischen einem Versorgungsvertrag und der direkten Strombeschaffung am Markt nicht rea­ litätsnah zu sein. Lösungsbedingt besteht die Notwendigkeit, den Planungshorizont auf die Länge einer Woche zu begrenzen. Dies steht im deutlichen Gegensatz zu übli­ chen Vertragslaufzeiten und Vorläufen in der Programmplanung.

3.1.3 Analytische Ansätze Analytische Ansätze sind generalisierte Ansätze, die auf analytischen Modellen beru­ hen. Sie konzentrieren sich auf ein vom restlichen Umfeld abgegrenztes Produktions­ system und stellen die Abläufe des Produktionssystems in formalen Zusammenhän­ gen dar. Sun et al. (2014) betrachten die mehrstufige Fertigung eines Produkts mit varia­ blen Produktionsraten. Die Anlagen auf den einzelnen Fertigungsstufen sind durch Lager verbunden, die in ihrer Kapazität beschränkt sind. Als Flexibilitätstreiber wird ein zweiteiliger Stromtarif zugrunde gelegt, bestehend aus einem langfristig bekann­ ten Arbeitspreis und einem statisch wirkenden Leistungspreis. Aufbauend auf der Ar­ beit von Fernandez/Li/Sun (2013) besteht das Ziel darin, in Zeiten hoher Strompreise einzelne Anlagen auszustellen. Zuvor gezielt aufgebaute Pufferbestände, sogenann­ te „Just-for-Peak“-Puffer, werden eingesetzt, um die Produktion auf nachgelagerten Anlagen aufrechtzuerhalten. Der Zielkonflikt besteht darin, einerseits die vom Strom­ verbrauch und der aufgenommenen Leistung abhängigen Strombezugskosten zu re­ duzieren, andererseits Lagerkosten und Opportunitätskosten für Produktionsausfälle gering zu halten. Da der Fokus auf der Koordination von Entscheidungen über Produk­ tionsraten und -zeiten sowie Lagerbestände liegt, ist dieser Ansatz der Programmpla­ nung zuzuordnen. Zur Lösung des vorliegenden Zielkonflikts wird ein stark stilisiertes analytisches Modell zur geschlossenen Beschreibung der Durchschnittskosten der Produktion in einem stationären Zustand entwickelt. Mittels nichtlinearer ganzzahliger Program­ mierung werden die Fahrweisen der Anlagen bestimmt. Die eingesetzten Pufferlager tragen zur Energieflexibilität bei. In Zeiten niedriger Strompreise kann vorproduziert werden, sodass in Zeiten hoher Strompreise Anlagen ausgeschaltet werden können, ohne die Erfüllung der Nachfrage einzuschränken. Es liegt eine zweistufige Entschei­ dungsstruktur vor. Zunächst muss entschieden werden, ob in Zeiten hoher Stromprei­

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se Anlagen ausgeschaltet werden oder weiter produzieren sollen. Sobald die Reser­ ven aus dem Pufferlager aufgebraucht sind, stellt sich die Frage, ob die betroffenen Anlagen trotz hoher Energiekosten wieder zugeschaltet oder Produktionsausfälle in Kauf genommen werden sollen. Bei Anwendung des Modells zeigen die vorgestellten Testinstanzen Energiekostenersparnisse von bis zu 25 %. Bei leicht sinkender Gesamt­ produktionsmenge werden zu Hochpreisphasen einzelne Anlagen ausgeschaltet und die Pufferlager zur Weiterproduktion genutzt. Die stark vereinfachenden Annahmen schränken jedoch die Verallgemeinerung der Erkenntnisse dieses Ansatzes ein. Dabei wiegt vor allem der fehlende Einfluss von Rüstvorgängen schwer. Insbesondere steht auch die Beschränkung auf ein Produkt einer breiteren Übertragbarkeit entgegen. Die letzte Limitation des Modells von Sun et al. (2014) wird im Ansatz von Papier (2016) aufgegriffen. Untersucht wird eine mehrstufige Lagerfertigung mit stochasti­ schen Bearbeitungszeiten. Dem Modell liegt eine weniger differenzierte Betrachtung energiewirtschaftlicher Rahmenbedingungen zugrunde. Es wird angenommen, dass die Stück-Energiekosten mit der abgerufenen Leistung nichtlinear ansteigen. Dies wird damit begründet, dass bei niedrigem Energiebedarf zunächst günstige Energie­ träger zum Einsatz kommen und erst bei hohem Energiebedarf teurere Alternativen zugeschaltet werden müssen. Ein weiterer Unterschied zu Sun et al. (2014) ist die Optimierung in einem unbe­ grenzten Planungshorizont, sodass zwangsläufig Durchschnittspreise betrachtet wer­ den müssen. Die Nachfrage und Bearbeitungszeiten der Anlagen beinhalten stochas­ tische Elemente. Aufgrund der Mengen- und Kapazitätsorientierung kann der Ansatz der Programmplanung zugeordnet werden. Ziel der Optimierung ist die Erstellung einer optimalen Kontrollpolitik bei minimalen Energiekosten, Lagerkosten und Kos­ ten für Lieferrückstände. Aufgrund des nichtlinearen Verlaufs des Leistungsentgelts hat die Kontrollpolitik keine monotone Struktur, sodass die Lösbarkeit des Problems erschwert wird. Mittels der vorgestellten Heuristik auf Grundlage eines Markov-Ent­ scheidungsprozesses und des Optimalitätsprinzips von Bellman kann trotzdem eine optimale Kontrollpolitik gefunden werden. Diese Lösung zeigt sich in den Testinstan­ zen robust gegenüber der Anpassung von Annahmen. Wichtigste Erkenntnis der Un­ tersuchungen ist, dass die Möglichkeit zur Vermeidung von Leistungsspitzen stark von den vorhandenen Produktions- und Lagerkapazitäten abhängt. Damit wird noch einmal deutlich, dass Energieflexibilität in der Produktion vor allem von Entscheidun­ gen auf höheren Planungsebenen geschaffen wird. Einschränkend wirkt jedoch auch hier die isolierte Betrachtung einzelner Teile der Produktion. Über die Berücksichtigung von Rüstkosten könnte eine präzisere Aus­ sage über den Verlauf des Lastprofils abgeleitet werden. Der fehlende Einfluss von verbrauchsorientierten Flexibilitätstreibern und das ungewöhnliche Leistungspreis­ modell stehen einer Verallgemeinerbarkeit des von Papier (2016) vorgeschlagenen An­ satzes zusätzlich entgegen.

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3.2 Detailplanung Auch im Bereich der Detailplanung existieren Ansätze zur Berücksichtigung von Ener­ gieflexibilität in verschiedenen Strängen der produktionswirtschaftlichen Literatur. Flexibilitätstreiber werden auf Ebene der Arbeits- und Leistungsentgelte berücksich­ tigt. Im Bereich der Arbeitspreise gehen die Arbeiten einheitlich von einer langfristig bekannten Tarifkomponente im Sinne eines verbrauchsorientierten Flexibilitätstrei­ bers aus. In den Arbeiten, in denen zusätzlich leistungsorientierte Flexibilitätstreiber wirken, wird die Leistung entweder explizit in der Zielfunktion oder implizit über eine entsprechende Begrenzung in den Nebenbedingungen berücksichtigt. Eine Gemein­ samkeit der Ansätze ist, dass kurzfristige Schwankungen der Energiepreise in expli­ ziter Form berücksichtigt werden. Aufgrund der damit einhergehenden Komplexität sind der Anwendung exakter Lösungsverfahren enge Grenzen gesetzt. Um auch für praxisnahe Problemgrößen Lösungen zu finden, werden angepasste Heuristiken ent­ wickelt. Grundsätzlich lassen sich die Planungsansätze auf dieser Planungsebene ge­ mäß der Struktur der Produktion unterscheiden. Der Fokus von Ansätzen für die einstufige Produktion liegt auf der sehr detaillierten Abbildung der Zusammenhän­ ge zwischen Auftragsbearbeitungsreihenfolge und Anlagenfahrweise unter Berück­ sichtigung energetischer Aspekte. Aus Gründen der Komplexitätsreduktion greifen Ansätze für die mehrstufige Produktion auf restriktivere Annahmen in Bezug auf den Ablauf zurück.

3.2.1 Ansätze bei einstufiger Produktion Im Folgenden wird die Grundstruktur der Detailplanung bei einstufiger Produktion unter Berücksichtigung von Energieflexibilität vorgestellt. Hierzu wird zunächst Be­ zug auf ein stark vereinfachtes Modell der Ablaufplanung genommen. Losgrößen und Auftragsreihenfolge sind in diesem Modell als gegebene Parameter angenommen. Für den Fall komplexerer Rahmenbedingungen sind der Anwendung exakter Lösungsver­ fahren enge Grenzen gesetzt. Der Fokus der wissenschaftlichen Arbeiten in diesem Be­ reich verschiebt sich folglich in Richtung der Entwicklung angepasster heuristischer Lösungsverfahren. Exemplarisch wird ein Ansatz für die hybride Mehrprodukt-Rei­ henproduktion vorgestellt. Grundmodell bei gegebener Reihenfolge Das Grundproblem der energieflexiblen Ablaufplanung wird in Shrouf et al. (2014) un­ tersucht. Es liegt ein Produktionssystem mit einer Anlage zugrunde. Die Länge des be­ trachteten Planungshorizonts beträgt eine Schicht. Die Reihenfolge der Aufträge und deren jeweilige Produktionsdauer ist vorgegeben, eine Unterbrechung eines begonne­

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nen Auftrags ist nicht möglich. Es wird von konstanten, auftragsspezifischen Strombe­ darfen ausgegangen. Die Strompreise sind unter Annahme langfristiger Tarifsysteme für den Planungshorizont bekannt. Der Fokus der Arbeit liegt auf der realitätsgetreu­ en Abbildung des Strombedarfs, abhängig von der Betriebsart der Anlage. Unter der Annahme, dass alle Aufträge bis Ende des Planungshorizonts fertig gestellt sein müs­ sen, zielt die Optimierung auf eine Minimierung der Energiekosten. Neben den Startund Endterminen der Aufträge wird der Betrieb der Anlage festgelegt. Damit ähnelt das Problem strukturell der Kampagnenplanung (vgl. Tan et al. 2016). Das Problem ist als gemischt-ganzzahliges lineares Programm formuliert und wird mit Hilfe eines genetischen Algorithmus gelöst. Um den Strombedarf der Anlage zu modellieren, werden diskrete, sich gegenseitig ausschließende Betriebsarten mit spezifischer Leistung unterschieden. Wechsel zwischen den Betriebsarten An, Aus und Leerlauf sind möglich und mit spezifischer Leistung bewertet. Weiterhin werden zeitliche Beschränkungen berücksichtigt, etwa für die Dauer von Zustandswechseln oder die minimale Dauer von Betriebsarten. Anwendungen in Testfällen zeigen die Vorteile des genetischen Algorithmus vor allem bei großen Instanzen. Dabei sind Kostenersparnisse von bis zu 20 % möglich. Besonders vorteilhaft ist das Modell bei geringer Kapazitätsauslastung, hohen Schwankungen der Energiepreise sowie hohen Energieverbräuchen der Anlagen. Einige Aspekte vermindern jedoch das Flexibilitätspotential der errechneten Pro­ duktionspläne. Mit Blick auf die in Abschnitt 2.3.2 abgeleiteten Herausforderungen der Berücksichtigung von Energieflexibilität in der Detailplanung werden andere, sonst in der kurzfristigen Planung übliche Ziel- und Einflussfaktoren vernachlässigt. Bei­ spielsweise kann die zugrunde gelegte Schichtlänge nicht angepasst werden. Einmal begonnene Aufträge können nicht unterbrochen werden und die Reihenfolge der Auf­ träge ist fix. Es wird ein einfaches Energiemodell verwendet, bei dem z. B. Anlagen nicht in einen Stromsparmodus versetzbar sind (vgl. Weinert/Mose 2014). Gleicher­ maßen bleiben leistungsorientierte Flexibilitätstreiber unberücksichtigt. Erweiterung um Reihenfolgeplanung Eine Erweiterung des Grundmodells von Shrouf et al. (2014) um Reihenfolgeplanungs­ entscheidungen stellen Gong et al. (2016) vor. Erneut wird auf einen genetischen Al­ gorithmus als heuristisches Lösungsverfahren zurückgegriffen. Um stochastischen Ef­ fekten wie Anlagenausfällen oder Veränderungen im Auftragsbestand zu begegnen, wird eine reaktive Neuplanung vorgeschlagen. Leistungsorientierte Flexibilitätstrei­ ber bleiben auch hier unberücksichtigt, genauso wie weitere energieunabhängige Pro­ duktionskosten, etwa Personalkosten. Das Modell ist ebenfalls auf die Optimierung einer Anlage begrenzt.

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Erweiterung um parallele Anlagen Tan, Duan und Su (2016) betrachten die integrierte Losgrößen- und Reihenfolgepla­ nung bei der Produktion auf heterogenen parallelen Anlagen. Gesucht wird eine op­ timale Zusammenfassung von Produktlosen zu Kampagnen mit spezifischen Startund Endterminen, die auf einer zu bestimmenden Anlage gefertigt werden. Durch die Mehrstufigkeit der Entscheidung resultiert eine im Vergleich zur klassischen Sequenz­ planung nochmals erhöhte Komplexität. Aus energiewirtschaftlicher Sicht wird ein langfristiges Tarifsystem mit vier Preisen berücksichtigt. Zudem fließt ein statisch wir­ kendes Leistungsentgelt durch die Vorgabe einer Maximallast in die Entscheidungs­ findung ein, wobei neben der Leistungsaufnahme der Produktion auch die Grundlast berücksichtigt wird. Die Unterschiedlichkeit der Anlagen führt dazu, dass die pro­ duktspezifischen Werte für Energiebedarf und Produktions- beziehungsweise Rüst­ zeiten von der Anlagenwahl abhängen. Im Modell wird von idealtypischen Produk­ tionsbedingungen ausgegangen. Es gibt eine hinreichend große Produktionskapazi­ tät, sodass alle Aufträge im Planungshorizont in Grenzen flexibel verschoben werden können. Lieferfristen werden innerhalb des Planungshorizonts nicht berücksichtigt. Mögliche Lösungen müssen die Nachfrage zum Ende des Planungshorizonts erfüllen können und spezifische Ober- und Untergrenzen der Losgrößen einhalten. Im Rahmen eines multikriteriellen Ansatzes wird eine Lösung des Zielkonflikts zwischen Zyklus­ zeit und Stromkosten gesucht. Die Modellierung basiert ebenfalls auf der gemischt-ganzzahligen linearen Pro­ grammierung. Die Herausforderung der multikriteriellen Entscheidungssituation wird durch eine einfache gewichtete Summenbildung dargestellt. Eine Besonderheit besteht in der Abbildung der Zeit. Während der Ablaufplan auf einer kontinuierlichen Repräsentation der Zeit basiert, macht die Berücksichtigung der langfristigen Tarif­ systeme eine zeitdiskrete Betrachtung erforderlich. Die Kopplung beider Skalen, eine weitere Herausforderung der Detailplanung, erfolgt durch die in Abbildung 10 dar­ gestellten Transformationsbedingungen. Ausgangspunkt sind Abrechnungsperioden für den Strombezug k der Länge τ, sowie die Hilfsvariable t dmn , die die Bearbeitungs­ zeit von Kampagne n auf der Anlage m angibt. Modellrechnungen zeigen, dass der vorgeschlagene Ansatz im Vergleich zu einer konventionellen Planung ohne Energiekostenberücksichtigung und zu einem Verfah­ ren, bei dem die Losgrößen- und Reihenfolgeplanung sequenziell erfolgen, zu einer Reduktion der Energiekosten führt. Die nähere Betrachtung der Lösungsstruktur zeigt zum einen, dass die Größe der Lose auch abhängig von den jeweiligen Strompreisen ist, zum anderen energieintensive Lose in Niedrigpreisphasen produziert werden. Die Grenzen des Ansatzes liegen in der vereinfachten Darstellung der Produktion durch Annahme idealtypischer Produktionsbedingungen. Wiederum ist die Vernach­ lässigung von Rüstprozessen kritisch zu beurteilen. Die Herausforderungen der De­ tailplanung werden durch die Verbindung monetärer und nicht-monetärer Ziele teil­ weise berücksichtigt.

Energieflexibilität in der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung | 1073

3.2.2 Ansätze bei mehrstufiger Produktion Im Folgenden wird die Grundstruktur der Detailplanung bei mehrstufiger Produkti­ on unter Berücksichtigung von Energieflexibilität vorgestellt. Hierzu wird zunächst Bezug auf ein stark stilisiertes Modell der Losgrößen- und Ablaufplanung bei Einpro­ dukt-Reihenproduktion genommen. Darauf aufbauend wird eine Erweiterung auf den Fall der hybriden Mehrprodukt-Reihenproduktion dargestellt. Grundmodell bei Reihenproduktion Masmoudi et al. (2017) betrachten die kapazitierte Einprodukt-Losgrößenplanung bei Reihenproduktion. Aspekte der Energieflexibilität finden insofern Berücksichtigung, als dass langfristige Tarifsysteme und ein statischer Leistungspreis in Verbindung mit einer Lastobergrenze in die Entscheidungsfindung einfließen. Weiterhin werden als typische Kriterien der Losgrößenplanung die Lagerkosten sowie die Rüstkosten be­ trachtet. Gesucht werden Start- und Endzeitpunkte für die Produktion der einzelnen Statio­ nen, sodass an jeder Station Materialbedarfe und die Gesamtnachfrage erfüllt werden. Unsichere Einflüsse bleiben unberücksichtigt. Weiterhin ist jede Station in jeder Peri­ ode auf einen Rüstvorgang begrenzt. Diese Rüstvorgänge erfordern keine elektrische Energie. Auch hier wird das Problem durch gemischt-ganzzahlige lineare Programmierung dargestellt. Die Zielfunktion ist in (2) gegeben. Die Energiekosten ergeben sich durch Multiplikation der stationsspezifischen Leistungsaufnahme (φ m ), der Stückbearbei­ tungszeit (p m ) und des Energiekostensatzes (C0t ) der jeweiligen Periode mit der in der Periode hergestellten Menge (x mt ). Rüstvorgänge (y mt ) und Bestände (I mt ) werden mit den entsprechenden Kostensätzen berücksichtigt, wobei jeweils lediglich der Pe­ riodenendbestand erfasst wird. Über Nebenbedingungen sind je Periode Obergrenzen für die Leistung definiert. Das Netzentgelt wird periodenweise entsprechend der abge­ Betrachtete Periode

Dauer

Möglichkeit 1 Möglichkeit 2 Möglichkeit 3 Möglichkeit 4 Möglichkeit 5 Möglichkeit 6 Zeit Abb. 10: Transformationsbedingungen (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Tan/Duan/Su 2016).

1074 | Lukas Strob, Kristian Bänsch und Thomas Volling

rufenen Spitzenlast erfasst. Somit ist das Modell als Variante eines kontinuierlichen Leistungspreises mit linearen Boni für das Nichtausschöpfen der maximalen Last in­ terpretierbar. T

M

Min z = ∑ ∑ φ m ⋅ p m ⋅ C0t ⋅ x mt + h ⋅ I mt + w mt ⋅ y mt

(2)

t=1 m=1

Die auftretenden Zielkonflikte sind in den folgenden Abbildungen verdeutlicht. Dar­ gestellt sind der konventionell, d. h. unter Vernachlässigung von Energieaspekten, er­ mittelte Losgrößenplan (vgl. Abbildung 11(a)) sowie der koordinierte Plan (vgl. Abbil­ dung 11(b)) für eine Situation mit drei Anlagen und einem Tarif mit abwechselndem Niedrig- (Periode 1) und Hochpreisphasen (Periode 2) für den Strombezug. Die Berück­ sichtigung der Energiepreise führt dazu, dass geringere Mengen während der Hoch­ preisphase hergestellt werden. Dies ermöglicht zudem das Vermeiden eines Rüstvor­ gangs auf Anlage 1 in Periode 2. Allerdings führt dieses Vorgehen zu Lagerbeständen und bedingt eine erhöhte Spitzenlast, da die Anlagen 1 und 2 sowie 2 und 3 in Periode 1 phasenweise zeitgleich betrieben werden. Da das betrachtete Losgrößenplanungsproblem generell NP-schwer ist, werden zwei Heuristiken vorgeschlagen. Beide beruhen auf der Idee, eine Initiallösung durch

Energiepreise [$/kWh]

Produktion [Stück]

46 46

46 8

7

Lastverlauf [kW] (a)

15 8

46 15

7

15

0 0 0

6 Bestand

0,16

48

61

15

t2

Bestand

0,08 0 2 15

13

0 0 0

15

13

8

7

Lastverlauf [kW] (b)

0 0 0

6

t1

Energiepreise [$/kWh]

Produktion [Stück]

0,16

0,08

7

6

6 0

t1

Bestand

t2

Bestand

Abb. 11: Konventioneller (a) und koordinierter (b) Losgrößenplan (Quelle: Eigene Darstellung in An­ lehnung an Masmoudi et al. 2017).

Energieflexibilität in der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung | 1075

verschiedene Verschiebeoperationen zu verbessern, wobei die zweite Heuristik als randomisierte Variante der ersten verstanden werden kann. Aufgrund der restriktiven Annahmen sind der Übertragbarkeit des Ansatzes enge Grenzen gesetzt. Speziell die Fokussierung auf ein einzelnes Produkt und die Energie­ neutralität von Rüstvorgängen wird in den wenigsten Anwendungsfällen zutreffen. Die Erweiterung auf mehrere Produkte führt zum Multi-Level Capacitated Lot-Sizing Problem (MLCLSP), einem umfassend erforschten Planungsproblem. Eine Erweite­ rung der Ansätze um Aspekte der Energieflexibilität ist jedoch schwierig. Gegenstand der Ansätze zum MLCLSP ist, periodenbezogene Produktionsmengen für die einzel­ nen Produkte auf den jeweiligen Produktionsstufen zu ermitteln. Rückschlüsse auf den zeitlichen Ablauf der Produktion und die konkrete Ausgestaltung von Rüstvor­ gängen lassen diese Werte allerdings nur bedingt zu. Somit lassen sich kurzfristig veränderliche Strompreise und Lastgänge sowie folglich die Herausforderungen der Detailplanung nur teilweise berücksichtigen. Dies hat zum Aufkommen von Modellen geführt, die eine simultane Planung von Losgrößen und Abläufen verfolgen. Erweiterung auf hybride Mehrprodukt-Fließproduktion Luo et al. (2013) untersuchen eine hybride Mehrprodukt-Fließproduktion mit langfris­ tigen Tarifstrukturen. Betrachtet wird eine Anzahl von Aufträgen, die in der gleichen Reihenfolge auf mehreren aufeinanderfolgenden Produktionsstufen bearbeitet wer­ den. Auf jeder Stufe stehen mehrere Parallelanlagen zur Verfügung. Die Stufen sind durch in ihrer Aufnahmefähigkeit nicht beschränkte Puffer ideal-elastisch miteinan­ der gekoppelt. Um eine Lösung im Spannungsfeld von Zykluszeit und Energiekosten zu finden, wird ein bikriterielles Entscheidungsproblem formuliert. Analog zu den vorgenannten Arbeiten ist der Energieverbrauch für die Bearbeitung auftragsunabhängig konstant. Es kommt ein vereinfachtes Modell zum Einsatz, das keine vollständige Deaktivierung der Anlagen und folglich auch keine Rüst- und Deaktivierungsvorgänge vorsieht – et­ wa, weil solche prohibitiv teuer sind. Weiterhin wird vereinfachend angenommen, dass kein taktischer Bestandsaufbau erfolgt. Aufträge werden weiterbearbeitet, so­ bald mindestens eine Anlage der nächsten Stufe verfügbar ist. Zur Ermittlung von Lö­ sungen wird eine Metaheuristik (Ameisenalgorithmus) entwickelt und mit anderen Metaheuristiken verglichen (NSGA-2, SPEA 2). Interessante Erkenntnisse hinsichtlich der Energieflexibilität offenbart die numerische Analyse. In dieser werden zwei Konfi­ gurationen des Produktionssystems hinsichtlich ihrer Energieflexibilität untersucht. Neben einer Konfiguration mit identischen Anlagen auf jeder Stufe wird eine zweite Konfiguration mit heterogenen Anlagen untersucht. Bei gleicher rechnerischer Kapa­ zität je Stufe werden unterschiedliche Produktivitäten betrachtet. Die Energieeffizienz wird als konstant angenommen. Unter diesen Annahmen zeigen sich deutliche Vor­ teile der heterogenen Konfiguration. So gelingt es durch die schnellen Anlagen, den

1076 | Lukas Strob, Kristian Bänsch und Thomas Volling

Produktionsplan sehr viel flexibler an Strompreisschwankungen auszurichten. Aus­ wirkungen auf die Zykluszeit ergeben sich erwartungsgemäß nicht. Durch Vereinfachungen in den Modellannahmen bleibt die Aussagekraft des An­ satzes jedoch begrenzt. Leistungsorientierte Flexibilitätstreiber werden in der Model­ lierung ebenso nicht berücksichtigt wie limitierende Lagerkapazitäten. Zudem kön­ nen Anlagen nicht in Zeiten hoher Strompreise abgeschaltet werden, sodass grundle­ gende Aspekte zur Bewältigung der Herausforderungen der Energieflexibilität in der Detailplanung damit übergangen werden.

3.3 Einordnung der Ansätze Zusammenfassend werden die in Abschnitt 3.1 und 3.2 diskutierten Ansätze unter Be­ rücksichtigung der Flexibilitätstreiber des Strommarktes sowie der Konfiguration des Produktionssystems tabellarisch in den Bezugsrahmen der Energieflexibilität einge­ ordnet (vgl. Tabelle 1).

4 Fazit Der steigende Anteil fluktuierender erneuerbarer Energien stellt die Akteure des deut­ schen Strommarkts vor neue Herausforderungen. Insbesondere wird es zunehmend schwieriger, Angebot und Nachfrage elektrischer Energie jederzeit in Einklang zu brin­ gen und gleichzeitig eine sichere Stromversorgung zu gewährleisten. Industrielle Ver­ braucher können mit einem flexiblen Nachfrageverhalten einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung dieser Herausforderung leisten. Ziel dieses Beitrags war die Systematisierung von Möglichkeiten zur Berücksich­ tigung von Energieflexibilität in der mittel- und kurzfristigen Produktionsplanung, um die Potenziale der Energieflexibilität für Industrie und Energiewirtschaft zugäng­ lich zu machen. Dazu wurden zunächst Bezüge zwischen verbrauchs- und leistungs­ orientierten Flexibilitätstreibern des Strommarkts zu betrieblichen Entscheidungen der Produktionsplanung hergestellt. Auf dieser Basis wurden ausgewählte Arbeiten diskutiert, um die Möglichkeiten zu verdeutlichen, wie Flexibilitätstreiber in die Pla­ nungsverfahren der Produktionsprogrammplanung und der Detailplanung integriert werden können. Die betrachteten Arbeiten zeigen, dass mittels geeigneter Maßnah­ men auf mittel- bis kurzfristigen Planungsebenen eine Reaktion der Produktion auf die Flexibilitätstreiber möglich ist und dabei Einsparungen der Strombezugskosten ohne größere Einschränkungen in der Wirtschaftlichkeit realisierbar sind. Im Zuge der Berücksichtigung von Energieflexibilität in der mittelfristigen Pro­ duktionsprogrammplanung und der kurzfristigen Detailplanung müssen jeweils spezifische Herausforderungen bewältigt werden. Die Programmplanung erfordert

Energieflexibilität in der mittel- bis kurzfristigen Produktionsplanung | 1077

eine Verbindung von standortübergreifenden mittel- und kurzfristigen Entscheidun­ gen sowie eine Berücksichtigung von Unsicherheiten beim Strompreisverlauf durch hochkomplexe Problemstrukturen. Daher sind auf dieser Planungsebene allenfalls approximative Aussagen über das zukünftige Lastprofil möglich. In der Detailplanung entstehen durch den Strombezug neue Abhängigkeiten, die die übliche Prämisse kon­ stanter Produktionskosten in Frage stellen. Somit bedarf es erweiterter Planungsmo­ delle, die mit einer hohen zeitlichen Abbildungsgenauigkeit gelöst werden müssen. Die daraus abgeleiteten Produktionspläne ermöglichen detaillierte Aussagen über den Lastverlauf. Mit Hilfe des vorgestellten Bezugsrahmens kann die wachsende Anzahl der spe­ ziell für die genannten Herausforderungen entwickelten Ansätze in einen ganzheitli­ chen Zusammenhang gestellt werden (vgl. Tabelle 1). Die exemplarische Einordnung der ausgewählten Arbeiten in den Bezugsrahmen verdeutlicht zunächst die Vielzahl vielversprechender Modellierungs- und Lösungsansätze. Gleichermaßen werden in der Tab. 1: Einordnung der Ansätze in den Bezugsrahmen der Energieflexibilität.

x x x x

x

x x

x x x x x

x x x x

x

x

x x x

Produkte

x x

Mehrere Produkte

Ein Produkt

Nein

Parallele Maschinen

x x x x

x x x

x x x

x x

x x x x

x x

Ja

Produktionsstufen Mehrstufig

Einstufig

Kontinuierlich

Punktuell

Leistungsorientiert

x x

x

x

Produktionssystem

x

x

x

x x

Statisch

x x x x x

Stochastisch

x x x

x

Kurzfristig

Langfristig

Ashok (2010) Gong et al. (2016) Luo et al. (2013) Masmoudi et al. (2017) Mitra et at. (2012a) Mitra et al. (2012b) Mitra/Pinto/Grossmann (2014) Papier (2016) Shrouf et al. (2014) Sun et al. (2014) Tan/Duan/Su (2016) Zhang et al. (2016a) Zhang et al. (2016b)

Detailplanung

Ansatz

Programmplanung

Planungsaufgabe

Verbrauchsorientiert

Flexibilitätstreiber

x x x

x x x x x x

x x x

x x x

1078 | Lukas Strob, Kristian Bänsch und Thomas Volling

differenzierten Betrachtung der Planungsebenen die Forschungslücken deutlich, die es zu schließen gilt, um Energieflexibilität in der Produktionsplanung angemessen zu berücksichtigen. Es deuten sich vier Ansatzpunkte für die zukünftige Forschung an: Erstens sollten auf den jeweiligen Planungsebenen möglichst viele der spezifischen Herausforderun­ gen behandelt werden. Um einen größeren Beitrag zur Energieflexibilität zu leisten, sollten zukünftige Forschungsansätze eine zeitlich und sachlich höhere Abbildungs­ genauigkeit der Produktion anstreben und gleichermaßen Unsicherheiten durch die Verwendung stochastischer Planungselemente berücksichtigen. Zukünftige Ansätze der Detailplanung sollten eine multikriterielle Entscheidungsunterstützung mit einer hohen Abbildungsgenauigkeit bereitstellen, die die typischen Ersatzziele der kurz­ fristigen Planung mit finanziellen Zielen kombiniert und die neuen Abhängigkeiten berücksichtigt. Zweitens verspricht eine umfassendere Beachtung der ohnehin in den Planungsebenen verfügbaren Maßnahmen in der Entscheidungsunterstützung das Potential, einen größeren Beitrag zur Energieflexibilität zu leisten. Beispielhaft seien die Berücksichtigung von Rüstprozessen oder der Schichtplanung genannt. Drittens sollte die Entscheidungsunterstützung befähigt werden, neben kurzfristigen oder stochastischen Tarifen auch leistungsorientierte Flexibilitätstreiber verstärkt zu berücksichtigen. Viertens bietet eine Integration weiterer Planungsaufgaben, wie etwa die (Energie-)Beschaffungsplanung in die Produktionsplanung zusätzliches Forschungspotential.

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Andreas Kleine und Jonas Ostmeyer

Multikriterielle Produktionsplanung Dilemma energieflexibler Ablaufplanung 1 1.1 1.2 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 3.3 4 4.1 4.2 5

Unternehmerische Entscheidungen bei mehrfacher Zielsetzung | 1082 Multikriterielle Planungsprobleme | 1082 Entscheidungstheoretische Einordnung | 1083 Zielkonflikte in der Produktionsplanung | 1086 Konkurrierende unternehmerische Ziele | 1086 Zielkonflikte in der Produktionsplanung | 1088 Effiziente Produktionsentscheidungen | 1095 Konzept der Effizienz | 1095 Test auf effiziente Produktionsentscheidungen | 1098 Energieeffizienz | 1100 Ermittlung effizienter Produktionsentscheidungen | 1103 Kompromissoptimale Lösungen | 1103 Dilemma energieflexibler Ablaufplanung | 1106 Fazit | 1110 Literatur | 1111

Zusammenfassung. Beim Treffen von unternehmerischen Entscheidungen sind viel­ fach unterschiedliche Ziele zu berücksichtigen, die zumeist nicht im Einklang stehen. Auch in der Produktionsplanung sind derartige Zielkonflikte bestens bekannt. Die Ur­ sachen für die Konflikte sind vielschichtig, wie es z. B. bei der simultanen Verfolgung von ökonomischen und ökologischen Zielen oder dem Streben nach einem hohen Gewinn mit möglichst geringem Risiko zum Ausdruck kommt. Einer der bekanntes­ ten Zielkonflikte ist das Dilemma der Ablaufplanung, bei dem nach einer optimalen Bearbeitungsreihenfolge von Aufträgen unter Berücksichtigung von maschinen- und auftragsbezogenen Zielen gesucht wird. Mit der politisch motivierten Energiewende stellen sich zusätzliche Herausforderungen an die Ablaufplanung. Eine flexible An­ passung der Auftragsreihenfolge an die volatilen Strompreise kann zu neuen Kon­ flikten führen, dem Dilemma der energieflexiblen Ablaufplanung. Damit bieten sich Unternehmen aber auch neue Chancen, insbesondere in Bezug auf eine Senkung der Energiekosten. In dem vorliegenden Beitrag wird dieses Dilemma in den Kontext der multikriteriellen Produktionsplanung eingebettet. Wie sich effiziente Lösungen auf Grundlage eines gemischt-ganzzahligen linearen Optimierungsproblems bestimmen und testen lassen, wird exemplarisch gezeigt.

https://doi.org/10.1515/9783110473803-054

1082 | Andreas Kleine und Jonas Ostmeyer

1 Unternehmerische Entscheidungen bei mehrfacher Zielsetzung 1.1 Multikriterielle Planungsprobleme Das Management eines Unternehmens verfolgt in der Regel eine Vielzahl von Zielen gleichzeitig. Neben rein ökonomischen Zielen können auch soziale, technische, öko­ logische sowie ethische Ziele verfolgt werden. Ob ein Unternehmen erfolgreich ist, hängt davon ab, wie diese unterschiedlichen Ziele unter Berücksichtigung der be­ grenzten Ressourcen erreicht werden. Hierbei rücken verstärkt die Ressourcen zur Energiegewinnung in den Fokus. Das Management muss bereits bei der Planung alle Ziele im Blick haben. Es ist somit schon beim Treffen von unternehmerischen Ent­ scheidungen zu berücksichtigen, wie sich der Einsatz der knappen Ressourcen auf das gesamte Zielsystem auswirkt. Dabei steht das Management vor einem Dilemma, denn zumeist lässt sich keine Entscheidung treffen, die alle Ziele bestmöglich erreicht. Dieses Problem ist auch aus alltäglichen Entscheidungen bestens bekannt, denn bei einem preisgünstigen Pro­ dukt müssen sie in der Regel eine geringe Qualität akzeptieren. Es steht – von Aus­ nahmen abgesehen – kein Produkt zur Auswahl, das sowohl das günstigste als auch das von höchster Qualität ist. Dieses Dilemma gilt es, umso mehr bei unternehme­ rischen Entscheidungen zu berücksichtigen. So wird etwa die Entscheidung für ein Produktionsprogramm, das den maximalen Gewinn erwarten lässt, nicht notwendi­ gerweise auch das Produktionsprogramm sein, das unter ökologischen Aspekten ide­ al wäre. Hier ist es die Aufgabe des Managements, einen Kompromiss zu finden. Um Fehlentscheidungen zu vermeiden, muss eine im Sinne des Kompromisses optimale Alternative bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Dies führt zum Konzept der Effizi­ enz. So sollte ein Unternehmen sich für kein Produktionsprogramm entscheiden, das den gleichen Gewinn wie ein anderes Programm erwarten lässt, aber unter ökologi­ schen Aspekten schlechter zu beurteilen ist. Diese ineffizienten (dominierten) Alter­ nativen sind von der Auswahl auszuschließen.

Optimale Alternative(n) Effiziente Alternativen Alle zur Auswahl stehenden Alternativen

Abb. 1: Einschränkung der Menge von Alternativen bei multikriteriellen Entscheidungen.

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Verfolgt ein Unternehmen mehrere Ziele gleichzeitig, gilt es, sich zunächst einen Über­ blick zu verschaffen, welche Ziele relevant sind und welche Alternativen zur Errei­ chung dieser Ziele zur Auswahl stehen (vgl. Abschnitt 2). Von besonderem Interesse sind solche Alternativen, die bezüglich der betrachteten Ziele und Präferenzen des Managements effizient sind (vgl. Abschnitt 3). Aus dieser Menge wird in der Regel eine kompromissoptimale gewählt (vgl. Abschnitt 4). Dies ist genau die Aufgabe des Ma­ nagements eines Unternehmens, das diese unterschiedlichen Aspekte bei einer Ent­ scheidung für eine optimale Alternative beachten muss (vgl. Abbildung 1).

1.2 Entscheidungstheoretische Einordnung In der betriebswirtschaftlichen Entscheidungslehre, die sich generell mit unterneh­ merischen Entscheidungen beschäftigt, sind multikriterielle Problemstellungen ein fest etablierter Bestandteil (vgl. Bamberg/Coenenberg/Krapp 2008, S. 52 ff.; Dinkel­ bach/Kleine 1996, S. 33 ff.; Eisenführ/Weber/Langer 2010, S. 129 ff.; Klein/Scholl 2011, S. 347 ff.). Die Anzahl der Ziele ist jedoch nur ein Gesichtspunkt, der beim Treffen von Entscheidungen zu berücksichtigen ist. Es lassen sich darüber hinaus weitere ent­ scheidungstheoretische Aspekte unterscheiden, wie der folgende Überblick exempla­ risch zeigt: – Wie viele Ziele werden verfolgt? Während bei einem multikriteriellen Ansatz meh­ rere Ziele simultan im Blickpunkt stehen, betrachtet ein skalarer Ansatz nur ein Ziel isoliert. – Welche Informationen stehen zur Verfügung? Unter der Annahme vollständiger In­ formationen verfügt ein Entscheidungsträger zum Zeitpunkt der Entscheidung über alle relevanten Informationen. Dagegen sind bei Entscheidungen unter Risi­ ko nur Informationen über Wahrscheinlichkeiten beziehungsweise deren Vertei­ lungen und bei Entscheidungen unter Ungewissheit sogar nur mögliche Umwelt­ zustände bekannt. – Wie oft wird entschieden? Bei statischen Problemstellungen erfolgt einmalig ei­ ne Entscheidung für einen bestimmten Zeitraum. Dagegen sind bei dynamischen Problemen mehrere voneinander abhängige Entscheidungen zu aufeinanderfol­ genden Zeitpunkten zu treffen. Hierbei hat die erste Entscheidung Auswirkungen auf die zweite usw. und es gilt, diesen Zusammenhang zu jedem Zeitpunkt zu an­ tizipieren. – Wie viele Entscheidungsträger sind beteiligt? Von Individualentscheidungen sind Mehrpersonenentscheidungen abzugrenzen, bei denen Entscheidungsträger ge­ genüber anderen Gegenspielern individuelle Interessen verfolgen (Spieltheorie) oder eine gemeinsame Gruppen- beziehungsweise Teamentscheidung gesucht ist (Social-Choice-Theorie).

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Generell sind beim Treffen einer Entscheidung alle Kombinationen der oben aufgelis­ teten Aspekte denkbar. So lassen sich mehrere Ziele auch bei unvollkommenen Infor­ mationen in einem dynamischen Umfeld untersuchen. Allerdings soll hier der Fokus in erster Linie auf der simultanen Verfolgung mehrerer Ziele liegen. Im Hinblick auf die Abgrenzung zu Mehrpersonenentscheidungen wird bei den hier betrachten multikriteriellen Entscheidungen unterstellt, dass das Management eines Unternehmens alle Ziele gemeinsam teilt und insofern wie ein Individuum han­ delt. Diese Annahme ist wichtig und von Entscheidungssituationen zu unterschei­ den, die Gegenstand der Spieltheorie sind. Hierbei wird unterstellt, dass jeder Ent­ scheidungsträger (Spieler) individuell unterschiedliche Interessen verfolgt. Der Spie­ ler trifft eigenständig eine Entscheidung, die Auswirkungen auf das eigene Ergebnis, aber auch die Ergebnisse der anderen Beteiligten hat. In ihrem strategischen Handeln berücksichtigen die Spieler genau diese Auswirkungen auf die eigenen und auf die an­ deren Ziele. So kann beispielsweise das Verhalten der unterschiedlichen Beteiligten in einer Supply Chain untersucht werden (vgl. Cachon/Netessine 2004; Leng/Parlar 2005; Troßmann/Wenger 2015, S. 782). Jeder in der Wertschöpfungskette verfolgt sein individuelles Ziel, z. B. den eigenen Gewinn zu maximieren, dieser ist jedoch auch von den Entscheidungen der anderen Stakeholder abhängig. Für derartige Entscheidungs­ situationen ist die Spieltheorie ein etablierter Ansatz (vgl. Holler/Illing 2009; Winter 2015). Diese Situationen sind von der hier betrachteten multikriteriellen Planung ab­ zugrenzen, bei denen nach einer gemeinsam getragenen Entscheidung gesucht wird, die alle Kriterien bestmöglich berücksichtigt. Darüber hinaus gibt es Entscheidungssituationen, die in multikriterielle Problem­ stellungen überführt werden können. Dies gilt etwa für Entscheidungen bei Risiko, bei denen anstatt der Verteilung einer Zufallsvariable deren Momente zum Einsatz kom­ men. Diese Parameter schlagen sich jeweils in Kriterien (Zielen) nieder, so dass wieder ein multikriterielles Problem resultiert. So sind z. B. der Erwartungswert – als Maß für den zu erwartenden Gewinn – und die Standardabweichung – als Maß für das damit verbundene Risiko – zwei typische betriebswirtschaftliche Kriterien bei Entscheidun­ gen unter unvollkommenen Informationen. Die Alternative mit dem höchsten Erwar­ tungswert weist zumeist nicht das geringste Risiko auf und umgekehrt. Somit lassen sich derartige Problemstellungen wieder als multikriterielle Aufgaben auffassen (vgl. auch Erläuterungen zur Portfolioselektion in Abschnitt 2.1). Welche Alternative letzt­ lich ausgewählt wird, ist von den Präferenzen abhängig. Bei Entscheidungen unter un­ vollkommenen Informationen kommt es auf die Risikoeinstellung an, d. h. ob ein Ent­ scheidungsträger eher risikoscheu oder risikofreudig ist (vgl. zur ausführlichen Dis­ kussion über die Präferenzen beim Erwartungsnutzen Bamberg/Coenenberg/Krapp 2012, S. 98 ff.). Bei multikriteriellen Entscheidungen ist zwischen den Höhen- und Artenpräfe­ renzen zu unterscheiden. Die Höhenpräferenzen bringen zum Ausdruck, in welchem Ausmaß ein Ziel erreicht werden soll. Hierbei sind Optimierungsziele (Extremierungs­ ziele) von Satisfizierungszielen und Fixierungszielen abzugrenzen. Die Maximierung

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des Gewinns oder die Minimierung der Schadstoffemissionen sind zwei typische Bei­ spiele für Optimierungsziele. Bei der Maximierung ist ein höheres Ergebnis stets ei­ nem geringeren vorzuziehen und umgekehrt, bei der Minimierung stets ein kleineres Ergebnis. Im Unterschied dazu ist ein Satisfizierungsziel durch ein Anspruchsniveau charakterisiert, das einen erstrebenswerten Zustand beschreibt, wie beispielsweise ei­ nen Umsatz von mindestens 2 Mio. Euro. Jeder niedrigere Umsatz ist unbefriedigend; nur Umsätze, die dieses Anspruchsniveau erreichen, sind zufriedenstellend. Bei Fixie­ rungszielen beziehungsweise Approximationszielen gilt es, das erstrebenswerte An­ spruchsniveau exakt beziehungsweise möglichst exakt einzuhalten. Eine Lieferung sollte beispielsweise pünktlich erfolgen, eine Abweichung vom Liefertermin sowohl früher als auch später ist unerwünscht. Die Satisfizierungs- und Fixierungsziele lassen sich im Übrigen durch eine abschnittsweise definierte Höhenpräferenzfunktion wie­ der in zu maximierende beziehungsweise minimierende Ziel transformieren (vgl. Din­ kelbach/Kleine 1996, S. 24 ff.). Die Höhenpräferenzen bringen somit den erwünschten Zielerreichungsgrad zum Ausdruck. Dieser ist für jedes Ziel individuell zu spezifizie­ ren. Des Weiteren ist bei multikriteriellen Problemstellungen von Interesse, wie die un­ terschiedlichen Ziele im Verhältnis zueinander bewertet werden. Immer dann, wenn keine Entscheidung für eine Alternative möglich ist, die alle Ziele bestmöglich erfüllt, sind zusätzliche Präferenzangaben – auch Artenpräferenzen genannt – erforderlich. Ein klassisches Beispiel ist die Gewichtung von Zielen. Hierzu sind Angaben über das Verhältnis der Ziele notwendig. So kann z. B. das erste Ziel doppelt so wichtig sein wie das zweite. Auf Basis dieser Artenpräferenz lassen sich dann Entscheidungen zu Gunsten einer Alternative treffen. Auch bei Satisfizierungs- und Fixierungszielen sind Präferenzen in Form von Gewichten zwischen Zielen wichtig. In diesen Fällen geht es dann aber um die Bewertung von unerwünschten Abweichungen von den Anspruchs­ niveaus. Diese Idee verfolgt das Goal Programming, das die Summe der gewichteten unerwünschten Abweichungen von zuvor definierten Vorgaben, den Goals, minimiert (vgl. Abschnitt 4.1). Um derartig komplexe betriebswirtschaftliche Entscheidungen mit mehreren Zielen unterstützen zu können, kommen Entscheidungsmodelle mit dem Ziel zum Einsatz, die Realität vereinfachend, aber in der Struktur erhaltend abzubilden (vgl. Dinkelbach 1973). Bei den Ansätzen ist zu unterscheiden, ob sich alle Alternativen tabellarisch auflisten – wie etwa beim sogenannten Grundmodell der Entscheidungs­ theorie – oder sich aufgrund der Vielzahl alle Alternativen nur implizit durch ein lineares oder nichtlineares System von Restriktionen (Nebenbedingungen) beschrei­ ben lassen. Im letzteren Fall resultieren mathematischen Modelle, die sich heute zum einen aufgrund der technischen Entwicklung der Hardware zum anderen insbeson­ dere durch die Weiterentwicklung der Lösungsalgorithmen des Operations Research optimal oder mit Heuristiken hinreichend gut lösen lassen (vgl. Domschke et al. 2015). An dieser Stelle noch ein Hinweis auf eine spezielle Alternative aus der Menge al­ ler zulässigen Möglichkeiten, die sich ebenfalls großer Beliebtheit erfreut. Auch wenn

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scheinbar keine Entscheidung getroffen wird, so handelt es sich dennoch für die be­ wusste Wahl einer Alternative, der sogenannten Unterlassungsalternative. Das um­ gangssprachliche „Aussitzen“ oder „Weiter so wie bisher“ stellt somit auch eine Ent­ scheidung dar, die für die Unterlassungsalternative. Diese gilt es, wie jede Alternative im Hinblick auf die Auswirkungen auf die unterschiedlichen Ziele eines Unterneh­ mens zu beurteilen. In einem zeitlich dynamischen Umfeld muss eine Entscheidung für die Unterlassungsalternative nicht zwangsläufig den Status quo erhalten, sondern kann aufgrund sich ändernder Rahmenbedingungen die Erreichung von Zielen beein­ flussen.

2 Zielkonflikte in der Produktionsplanung 2.1 Konkurrierende unternehmerische Ziele Im Allgemeinen möchte jedes Unternehmen möglichst erfolgreich wirtschaften. Was darunter zu verstehen ist, hängt letztlich von der Perspektive des Betrachters ab. Viel­ fach werden in ökonomischen Zusammenhängen damit Erfolgsgrößen wie der Ge­ winn, Ertrag, Aufwand oder die Rentabilität beziehungsweise Produktivität eines Un­ ternehmens in Verbindung gebracht (vgl. Schweitzer/Schweitzer 2015, S. 20 ff.). Diese Erfolgsziele setzten eine Bewertung mit Preisen voraus und sind von Zielen abzugren­ zen, die sich zumeist auf operative Zielgrößen beziehen, wie z. B. der Einhaltung von Lieferzeiten, Vermeidung von Leerzeiten auf Maschinen, Reduzierung des Ausschus­ ses usw. Diese Ziele erfordern keine Bewertung mit Preisen, zumal diese vielfach nicht bekannt sind – wie etwa bei einem Imageschaden für eine verspätete Lieferung – oder nur schwer zu kalkulieren sind – wie etwa Opportunitätskosten für einen entgange­ nen Gewinn. Zusätzlich ist zu bedenken, dass für ein erfolgreiches Unternehmen nicht nur die unmittelbaren wirtschaftlichen Auswirkungen von Bedeutung sind, sondern auch so­ ziale, technische, ökologische und ethische Aspekte. So sollte die Mitarbeiterzufrie­ denheit möglichst hoch sein, Umweltauflagen nicht nur eingehalten, sondern um­ weltschädliche Emissionen reduziert werden, um nur zwei Beispiele zu nennen. Ob ein Unternehmen erfolgreich ist, hängt somit von vielen unterschiedlichen Aspekten ab und hat zur Konsequenz, dass bei Entscheidungen unterschiedliche Kriterien zu berücksichtigen sind. Dies betrifft besonders Entscheidungen darüber, welche Leis­ tungen beziehungsweise Produkte mit welchem Personal angeboten, wo und wie die­ se zur Verfügung gestellt, wie diese vermarktet und finanziert werden usw. Je nach­ dem, auf welcher unternehmerischen Ebene – aus Sicht der Unternehmensleitung oder einzelner Bereiche, Abteilungen – und mit welcher Perspektive – strategisch, taktisch oder operativ – eine Entscheidung zu treffen ist, können unterschiedliche Zielkategorien zum Tragen kommen.

Multikriterielle Produktionsplanung |

1087

Die zu berücksichtigenden Ziele lassen sich häufig nicht vereinbaren, d. h. die Ziele konkurrieren miteinander. Dies ist immer dann der Fall, wenn die Optimierung zweier Ziele zu unterschiedlichen Entscheidungen führen. Im Hinblick auf ein multi­ kriterielle Entscheidungsproblem gilt somit: Zwei Ziele mit den beiden Zielfunktionen z k und z l konkurrieren (z k , z l : X → R für k, l ∈ {1, . . . , K}), wenn es keine zulässige Alternative x󸀠 aus der Menge aller zulässigen Alternativen X (X ⊂ R n ) gibt, so dass beide Ziele optimal erfüllt werden. Konkurrieren bei einem Planungsproblem mindestens zwei Ziele, so liegt ein Zielkonflikt (Dilemma) vor. Wenn dagegen eine Entscheidung für eine Alternative möglich ist, die alle Ziele optimal erfüllt, so heißen diese Ziele komplementär oder auch gleichgerichtet. In die­ sem Fall gibt es eine bezüglich aller Ziele perfekte Lösung. Das Entscheidungsproblem ist mit dieser perfekten Alternative gelöst, so dass sich alle weitergehenden Überle­ gungen erübrigen. Da dies nur selten der Fall ist, konzentriert sich die Untersuchung auf Zielkonflikte. In der Betriebswirtschaftslehre gibt es viele Beispiele für derartige Zielkonflik­ te. Eines der bekanntesten Beispiele geht auf den Nobelpreisträger Markowitz (1959, S. 129 ff.) zurück und soll hier zunächst zur Illustration von konkurrierenden Zielen dienen. Bei Investitions- beziehungsweise Finanzierungsentscheidungen mit unvoll­ kommenen Informationen über die zukünftige Entwicklung einer Anlage haben In­ vestoren zumeist zwei konkurrierende Ziele im Blick. Einerseits wollen sie die Rendite maximieren und andererseits soll das damit verbundene Risiko möglichst klein sein, d. h. sie verfolgen die beiden Ziele: – Maximierung der Rendite (Ziel z1 gemessen am Erwartungswert), – Minimierung des Risikos (Ziel z2 gemessen an der Standardabweichung). Allerdings geht eine Entscheidung zugunsten einer Anlage mit einer hohen zu erwar­ teten Rendite häufig auch mit einem hohen Risiko einher. Ideal wäre es aber, in eine Alternative zu investieren, die eine hohe Rendite und zugleich ein geringes Risiko auf­ weist. Diese Möglichkeit steht jedoch nicht zur Auswahl. Dies stellt für Investoren ein Dilemma dar, denn der Konflikt zwischen den beiden Zielen – möglichst hohe Rendite bei geringstmöglichem Risiko – ist somit nicht auflösbar. So lässt etwa eine Entschei­ dung zugunsten einer Aktie eine hohe Rendite erwarten, aber ein Totalverlust ist eben auch nicht ausgeschlossen (vgl. A in Abbildung 2). Andererseits führt eine festverzins­ liche Anleihe mit einem vergleichsweise geringeren Risiko zu einer niedrigen Rendite, insbesondere in Zeiten niedriger Zinsen (vgl. B in Abbildung 2). Dieser Zielkonflikt ist seit langem bekannt. So hat Markowitz bereits in den fünf­ ziger Jahren des letzten Jahrhunderts hierauf im Rahmen der von ihm maßgeblich entwickelten Portfoliotheorie hingewiesen. Dabei konnte er zeigen, dass sich durch Mischung von unterschiedlichen Anlagen (vgl. gestrichelte Linie in Abbildung 2) un­ ter bestimmten Voraussetzungen das Risiko verkleinern – diversifizieren – lässt (vgl. C in Abbildung 2). Damit gibt es weitere Möglichkeiten in ein Portfolio zu investieren,

Rendite (Erwartungswert)

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A

C

B

Risiko (Standardabweichung) Abb. 2: Konkurrierende Ziele: Maximale Rendite versus minimales Risiko.

aber der zugrundeliegende Zielkonflikt bleibt bestehen. Daran ändert im Übrigen auch die Weiterentwicklung der Risikomaße, wie beispielsweise die zum Value at Risk oder zum Conditional Value at Risk nichts (vgl. Jorion 2007; Mansini/Ogryczak/Speranza 2015, S. 19 ff.). Diese Maße erlauben eine vermeintlich genauere Erfassung des Risi­ kos, lösen den Zielkonflikt aber ebenfalls nicht auf. Dieses Beispiel aus der Portfoliotheorie zählt zu einem der meist diskutierten Ziel­ konflikte in der Betriebswirtschaftslehre. Das Management von Unternehmen muss sich darüber hinaus mit einer Vielzahl weiterer Zielkonflikte auseinandersetzen. Ne­ ben Entscheidungen im Bereich der Investitions-, Finanz-, Personal-, oder Absatzpla­ nung gilt dies insbesondere auch für Entscheidungen in Produktion und Logistik.

2.2 Zielkonflikte in der Produktionsplanung 2.2.1 Konkurrierende Ziele in der Produktionsplanung Im Rahmen der Produktionsplanung sind Entscheidungen über das Produktionspro­ gramm, die Produktionsstätten und Technologie sowie den Produktionsprozess usw. zu treffen (vgl. Corsten/Gössinger 2016; Dyckhoff/Spengler 2010, S. 29 ff.). Bei jeder dieser Entscheidungen können mehrere konkurrierende Ziele verfolgt werden. Wel­ che Ziele dabei zu beachten sind, ob und wie diese im Konflikt stehen, hängt von dem konkret zu lösenden Entscheidungsproblem ab. So lässt sich das in Abschnitt 2.1 beschriebene multikriterielle Entscheidungs­ problem der Portfolioselektion unmittelbar auf die Produktionsplanung übertragen. Bei der Planung des Produktionsprogramms eines Unternehmens stellt sich eine ver­ gleichbare Problemstellung. Für ein Produktionsprogramm ist zumeist nicht mit Si­ cherheit bekannt, welche Deckungsbeiträge sich zukünftig erzielen lassen. Wie die Kurse der Aktien können die Preise der Rohstoffe und Produkte schwanken. Daher ist ein Unternehmen an einem Produktionsprogramm interessiert, das einerseits ei­

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nen möglichst hohen Gesamtdeckungsbeitrag gewährleistet und andererseits das da­ mit verbundene Risiko minimiert (vgl. Abbildung 2). Damit lässt sich die Problem­ stellung der Portfolioselektion unmittelbar auf Produktionsentscheidungen übertra­ gen. Interessanterweise findet dieses Problem jedoch in der Produktionsplanung im Vergleich zur Finanzplanung eine eher geringe Aufmerksamkeit (vgl. z. B. Kapitel 5 in Ewert/Wagenhofer 2014; Jahnke 1995). Eine Ursache könnte darin begründet sein, dass bei der Produktionsplanung im Vergleich zur Portfolioselektion eine Vielzahl von zusätzlichen Restriktionen zu beachten ist. Bei der Portfoliooptimierung sind zumeist nur Budgetrestriktionen und Beschränkungen bezüglich der einzelnen Anlagen zu be­ rücksichtigen, wie etwa Ober- und Unterschranken oder Anforderungen, die von der unterstellten beliebigen Teilbarkeit der Anlagen absehen (vgl. Maringer 2008). Bei der Produktion fließen viele zusätzlich zu berücksichtigende Rahmenbedingungen in die Planung ein. Neben den Kapazitätsrestriktionen müssen etwa die Zusammenhänge bei mehrstufigen Produktionsprozessen beachtet werden. Hieraus können zusätzli­ che Unsicherheiten resultieren: Maschinen fallen aus, Lieferungen treffen verspätet ein usw. Um die damit verbundenen Unsicherheiten abzubilden, kommen Ansätze zur An­ wendung, die mögliche Verletzungen derartiger Restriktionen begrenzen. Hierzu zählt beispielsweise der Chance Constrained-Ansatz, bei dem das Unternehmen eine Wahr­ scheinlichkeit angibt, mit der es noch gerade eine Verletzung einer Restriktion tole­ riert (vgl. Charnes/Cooper 1959). Die Lösung des Zielkonflikts – möglichst hoher Ge­ winn und möglichst geringes Risiko – wird in diesem Fall durch die Vorgabe eines Anspruchsniveaus gelöst. Dazu wird das Ziel – ein möglichst geringes Risiko einzuge­ hen – in eine Restriktion überführt. Dies ist ebenfalls eine beliebte Vorgehensweise, um ein multikriterielles Problem in ein skalares mit einem Ziel zu überführen. Damit ist das Problem klassischen Optimierungsmethoden zugänglich. Dies ist etwa auch bei der Planung einer optimalen Losgröße der Fall, wenn die Risiken aus der unsi­ cheren Nachfrage durch anzugebene Servicegrade (Anspruchsniveaus) gelöst werden (vgl. Thonemann 2005, S. 197 ff.). Im Revenue Management finden sich bei der Ka­ pazitätssteuerung ebenfalls Ansätze, die entweder auf Anspruchsniveaus wie beim Chance Contrained Programming oder einer Kombination aus dem Erwartungswert und einem Risikomaß basieren (vgl. Gönsch 2017). Darüber hinaus gibt es viele Entscheidungen, die in der Produktionsplanung zu treffen sind, die auch unter Vernachlässigung der Risiken durch mehrere konkurrie­ rende Ziele gekennzeichnet sind. Dies gilt etwa für Standortentscheidungen, also Ent­ scheidungen für Produktionsstätten, Lager oder Hubs. Neben den laufenden Kosten der Standorte spielen hierbei etwa auch Fragen nach dem Arbeitskräftepotential und deren Arbeitsbedingungen, dem politischen Umfeld, der Erreichbarkeit von Kunden usw. eine Rolle. Im Folgenden werden zwei bekannte, aber unverändert aktuelle Zielkonflikte der Produktionsplanung näher beleuchtet. Zum einen das sogenannte Dilemma der Ablaufplanung, das bereits seit Mitte des letzten Jahrhunderts große Aufmerksam­

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keit findet (Abschnitt 2.2.3). Zum anderen erfahren Umweltaspekte bereits seit langer Zeit eine besondere Beachtung bei der Produktionsplanung (Abschnitt 2.2.2). Hier­ bei standen zunächst generell die Schadstoffe im Fokus, die mit der Herstellung von Produkten einhergehen. Durch die von der Politik in Deutschland beschlossene Ener­ giewende und die damit verbundene Vorgabe, die regenerativen Energien bis Mitte 2050 sukzessive aufzubauen, findet eine zunehmende Fokussierung auf Umweltas­ pekte im Produktionskontext statt.

2.2.2 Erfolgs- vs. umweltorientierte Produktion Ein elementarer Ansatz der Produktionsplanung ist die auf Koopmans (1951) zurück­ gehende Aktivitätsanalyse. Dabei wird untersucht, mit welchen Inputs (Produktions­ faktoren) sich Outputs (Produkte) herstellen lassen. Eine Aktivität (Produktion) stellt eine zulässige Kombination der Inputs zur Herstellung von Outputs dar. Hierbei gibt es in der Regel viele unterschiedliche Möglichkeiten, Produkte herzustellen. Eine Pro­ duktionstechnologie beschreibt, unter welchen Annahmen die Herstellung erfolgt und wie sich Aktivitäten kombinieren lassen. Damit stellt sich die Frage nach der Vorteilhaftigkeit der Produktionen einer Technologie. Aus produktionstheoretischer Sicht ist zunächst jeder Input ein zu minimieren­ des und jeder Output ein zu maximierendes Ziel, denn ein Unternehmen möchte mit einem gegebenen Input möglichst viel Output herstellen oder möglichst wenig Input zur Herstellung eines benötigen Outputs verwenden. Die Problemstellung lässt somit ein multikriterielles Produktionsplanungsproblem interpretieren (vgl. Abbildung 3). Die zu minimierenden Inputs 1 bis r und zu maximierenden Outputs 1 bis s repräsen­ tieren letztlich die K = r + s Ziele. Diese grundlegende Betrachtungsweise von Produktionssystemen lässt sich um verschiedene Aspekte erweitern. So sind bei einer Wertschöpfungskette die jeweiligen Beziehungen zwischen den In- und Outputs der einzelnen Glieder des Produktions­ netzwerks zu untersuchten. Der Output eines Lieferanten stellt hierbei den Input von nachgelagerten Produzenten dar. Die entsprechenden Ziele werden folglich von den Teilnehmern einer Wertschöpfungskette unterschiedlich beurteilt und können zu Wi­ dersprüchen führen, deren Auflösung insbesondere Aufgabe spieltheoretischer Über­ legungen ist (vgl. Abschnitt 1.2). Output 1

Input 1 Input 2

Transformation Produktion

Input r Abb. 3: Produktionssystem mit r Inputs und s Outputs.

Output 2

Output s

Multikriterielle Produktionsplanung | 1091

Speziell der Einbezug der natürlichen Umwelt in ein Produktionssystem wird seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts intensiv diskutiert (vgl. Bogaschewsky 1995; Din­ kelbach/Rosenberg 2004; Dyckhoff 1993). Hierbei wird die klassische Betrachtungs­ weise von Input-Output-Systemen um die Auswirkungen auf die natürliche Umwelt erweitert. Die Überlegungen lehnen sich an die aus der Chemieindustrie bekannte Kuppelproduktion an, bei der bekanntlich aus dem Einsatz eines Inputs (Rohöl) meh­ rere Outputs (Benzin, Heizöl, Gase etc.) in einem bestimmten Verhältnis anfallen. In gleicher Weise integriert eine umweltorientierte Technologie bei der Produktion auf der Outputseite zwangsläufig anfallenden Schadstoffe – wie z. B. die CO2 -Emissionen. Nach dem Grad der Erwünschtheit unterscheidet daher Dyckhoff (1993) bei den Out­ puts zwischen dem klassischen Gut, das einen positiven Gebrauchswert besitzt, und einem sogenannten Übel, das als schädlich eingestuft wird. Ebenso gilt es, auf der In­ putseite zu unterscheiden zwischen den klassischen Produktionsfaktoren einerseits, wie den Hilfs-, Betriebs- und Rohstoffen, die auf dem Einsatz knapper Ressourcen beruhen, und der gewünschten Verwertung von umweltbelastenden Inputs anderer­ seits, wie etwa dem Recycling. Dies führt zu einer differenzierten Betrachtungsweise der Produktionssysteme. Es ist daher bei umweltorientierten Technologien genau ab­ zugrenzen, welche Outputs zu maximieren und welche zu minimieren sind, wobei grundsätzlich wieder ein multikriterielles Produktionsplanungsproblem resultiert. Auch wenn die Aktivitätsanalyse im Rahmen der Produktionstheorie aus techni­ scher Sicht eine wichtige Funktion hat, so ist für praktisches Problemstellung die er­ folgsorientierte Planung bedeutsam. Sie setzt auf einer aggregierten Stufe an und be­ wertet die klassischen Produktionsfaktoren und Produkte mit Preisen (vgl. Dyckhoff/ Spengler 2010, Kapitel 6). In der Bewertung spiegeln sich Artenpräferenzen für die In- und Outputs wider. Durch die mit Preisen gewichteten In- und Outputs resultie­ ren Kosten und Erlöse, die sich zu einem Deckungsbeitrag, Gewinn etc. aggregieren lassen. In diesem Fall ist eine individuelle Betrachtung der einzelnen Ziele, d. h. der einzelnen In- und Outputs, bei der Beurteilung einer Produktionstechnologie entbehr­ lich. Jede Aktivität einer Technologie zeichnet sich genau durch eine Erfolgskennzahl aus. Bei dieser erfolgsorientieren Produktionsplanung lassen sich somit alle zur Aus­ wahl stehenden Aktivitäten unmittelbar miteinander vergleichen. Bei einer umweltorientierten Betrachtungsweise ist es jedoch häufig schwierig, marktgerechte Preise anzugeben. Daher ist eine gesonderte Betrachtung der ökolo­ gischen Kriterien notwendig. Dies ist ein Grund, warum die die natürliche Umwelt belastenden Emissionen vielfach gesondert ausgewiesen werden. Es gibt zwar einen Handel für Zertifikate von CO2 -Emissionen, allerdings ist deren Kurs an der Börse durch politische Entscheidungen – wie eine sehr großzügige Grundausstattung der Unternehmen (Grandfathering) – vielfach verzerrt und daher umstritten. Zudem er­ fahren die ökologischen Aspekte eine besondere Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und daher eine besondere unternehmenspolitische Würdigung. Aus diesem Grund be­ trachtet das Management die Reduzierung von Emissionen häufig getrennt von den klassischen Erfolgszielen. Damit rückt der Zielkonflikt zwischen der Maximierung des

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Gewinns einerseits und der Reduzierung der Umweltbelastung andererseits in den Fo­ kus der unternehmerischen Produktionsplanung (vgl. Dinkelbach/Kleine 2001; Din­ kelbach/Rosenberg 2004, S. 98 ff. und S. 175 ff.). Eine kostengünstige Technologie geht zumeist mit einer erhöhten Umweltbelastung einher, eine geringere Umweltbelastung hingegen mit zusätzlichen Kosten. Die Lösung dieses Dilemmas ist eine der unterneh­ merischen Herausforderungen. Mit der politischen Vorgabe, bei der Energieerzeugung zukünftig verstärkt auf erneuerbare Energien zu setzen, gewinnen die damit verbun­ denen ökologischen und ökonomischen Konsequenzen und der resultierende Ziel­ konflikt an Bedeutung.

2.2.3 Dilemma der Ablaufplanung In der Produktionsplanung kann es nicht nur bei grundsätzlichen Entscheidungen über Produktionstechnologien oder Produktionsprogramme zu Zielkonflikten kom­ men, sondern auch auf operativer Ebene. Dies gilt beispielsweise für die Feinplanung von Produktionsaufträgen. Liegen mehrere Aufträge vor, die noch zu produzieren sind, so ist zu entscheiden, in welcher Reihenfolge die Aufträge auf den Maschinen der einzelnen Produktionsstandorte einer Wertschöpfungskette bearbeitet werden. Bei dieser Planung der Maschinenbelegung (Scheduling) können unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Einerseits sollen die Aufträge möglichst schnell durchgeführt wer­ den, andererseits Maschinen gleichmäßig ausgelastet sein, um Leerzeiten zwischen der Bearbeitung von Aufträgen auf einer Maschine zu vermeiden. Die Minimierung der Durchlaufzeit aller Aufträge konkurriert in der Regel mit einer Reduzierung der Leer­ zeiten. So führt eine möglichst zeitnahe Bearbeitung aller Aufträge zumeist zu uner­ wünschten Leerzeiten auf Maschinen. Dagegen kann eine Vermeidung von Leerzeiten eine Verzögerung von Aufträgen zur Folge haben. Der Konflikt zwischen diesen beiden Zielen ist in der Betriebswirtschaftslehre bestens bekannt. So hat bereits Gutenberg (1957) in den Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre in seinem ersten Band zur Produktion in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf diesen Zielkonflikt hingewiesen und dafür den Begriff „Dilemma der Ablaufplanung“ geprägt (vgl. Gu­ tenberg 1957, S. 152; und Überblick zur Diskussion Corsten/Gössinger 2016, S. 547 f.). Da die optimale Belegung der Maschinen für die betriebliche Praxis von hoher Relevanz ist, gehört die Ablaufplanung zu einem intensiv untersuchten Problem der Produktionsplanung (vgl. Jaehn/Pesch 2014). Die Bestimmung einer optimalen Ma­ schinenbelegung ist allerdings bereits bei isolierter Betrachtung von nur einem Ziel anspruchsvoll. Die Aufträge lassen sich auf vielfache Weise auf den Maschinen an­ ordnen, so dass die kombinatorischen Optimierungsmodelle zumeist nicht exakt, son­ dern nur mit Heuristiken näherungsweise lösbar sind. Zudem lassen sich die Problem­ stellungen der Ablaufplanung durch unterschiedliche Merkmale kennzeichnen, für die es zumeist spezielle Modellformulierungen mit entsprechenden Lösungsverfahren gibt (vgl. Pinedo 2016). Bei den klassischen Zielen der Ablaufplanung lassen sich vie­

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le Varianten auftragsbezogener und maschinenbezogener Kriterien formulieren (vgl. Dyckhoff/Spengler 2010, S. 287 ff.; Jaehn/Pesch 2014, S. 14 f.): – Minimierung der Gesamtdurchlaufzeit aller Aufträge (Zykluszeit, Makespan) ge­ messen am Fertigstellungstermin des letzten Auftrags, – Minimierung der (gewichteten) Summe aller Fertigstellungszeitpunkte, – Minimierung der maximalen Verspätung, – Minimierung der (gewichteten) Summe aller verspäteten Aufträge, – Maximierung der Kapazitätsauslastung beziehungsweise Minimierung der Leer­ zeiten usw. Neben diesen typischen Kriterien der Ablaufplanung können auch weitere problem­ spezifische Ziele in die Betrachtung einfließen. Wie in den Produktionssystemen fin­ den zunehmend auch energie- und umweltorientierte Ziele bei der Maschinenbele­ gungsplanung Berücksichtigung (vgl. Gahm et al. 2016). Die simultane Betrachtung mehrerer Ziele ist dann Gegenstand der multikriteriellen Ablaufplanung, die sowohl den Zielkonflikt als auch die Komplexität der Problemstellung untersucht (vgl. Geiger 2005; Lei 2009; T’Kindt/Billaut 2006). Zur Illustration des grundlegenden Dilemmas der Ablaufplanung dient zunächst ein einfaches Beispiel mit nur zwei Aufträgen und drei Maschinen an zwei unter­ schiedlichen Produktionsstätten. Es sei das Ziel, die gesamte Durchlaufzeit aller Aufträge (Zykluszeit) und die Leerzeiten an den jeweiligen Maschinen zwischen zwei Aufträgen zu minimieren. Die beiden Maschinen M1 und M2 an der ersten Produkti­ onsstätte sind parallel einsetzbar, die zweite Produktionsstätte verfügt nur über eine Maschine M3. Die beiden Aufträge A und B seien zunächst in der ersten Produktions­ stätte auf einer der beiden Maschinen M1 oder M2 und anschließend in der zweiten Produktionsstätte auf M3 zu bearbeiten. Auftrag A benötigt inklusive Transport zur zweiten Produktionsstätte 16 (Zeiteinheiten) auf M1 beziehungsweise 13 auf M2 und anschließend 2 auf M3, Auftrag B entsprechend 3 auf M1 beziehungsweise 9 auf M2 und 2 auf M3. Damit stellt sich die Frage, ob zunächst Auftrag A oder Auftrag B auf der ersten Maschine M1 oder der zweiten Maschine M2 in der ersten Produktionsstät­ te herzustellen ist, wobei ein „Überholen“ der Aufträge von der ersten zur zweiten Produktionsstätte erlaubt sei. Damit ergeben sich acht verschiedene Kombinationen, die beiden Aufträge auf den Maschinen anzuordnen. Die dazugehörigen Ablaufpläne mit der Einplanung des Auftrags A (hellgrau) und des Auftrags B (dunkelgrau) sowie die Leerzeiten (gestrichelt) sind in den Gantt-Diagrammen der Abbildung 4 für den Betrachtungszeitraum dargestellt. Wenn beide Aufträge auf der ersten Maschine produziert werden (A1-B1), dann er­ gibt sich die geringste Leerzeit. Die Zykluszeit ist allerdings deutlich geringer, wenn der Auftrag A auf M2 und Auftrag B parallel auf M1 begonnen wird (A2-B1 beziehungs­ weise B1-A2). Dies hat jedoch zur Konsequenz, dass sich die Leerzeit verachtfacht. Die beiden Ziele – Minimierung der Zykluszeit und Minimierung der Leerzeit – konkurrie­ ren offensichtlich in diesem Beispiel.

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5

A1-B1

A1-B2 B2-A1 A2-B1 B1-A2

A2-B2

B1-A1

B2-A2

10

15

20

24

M1 M2 M3 M1 M2 M3 M1 M2 M3 M1 M2 M3 M1 M2 M3 M1 M2 M3

Zykluszeit

Leerzeit

21

1

18

5

15

8

24

7

21

14

24

11

Abb. 4: Gantt-Diagramme für Maschinenbelegungen.

Das Dilemma zwischen den beiden Zielen macht Abbildung 5 deutlich, die die un­ terschiedlichen Maschinenbelegungspläne im Zielraum (Ergebnisraum) darstellt, mit der Zykluszeit an der Abszisse und der Leerzeit an der Ordinate. Es gibt keinen Ablauf­ plan, der sowohl zur kürzesten Zykluszeit als auch zur kürzesten Leerzeit führt. Aller­ dings ist auch zu erkennen, dass einige Ablaufpläne offensichtlich für eine Lösung 16 14

B1-A1

12 Leerzeit

B2-A2 10 8

A2-B1 A2-B2

6 A1-B2 4 2 A1-B1 0 10

15

20 Zykluszeit

Abb. 5: Dilemma der Ablaufplanung.

25

Multikriterielle Produktionsplanung |

1095

nicht in Betracht kommen. Werden beide Aufträge etwa auf Maschine M2 produziert (B2-A2 beziehungsweise A2-B2), so ist dies im Vergleich zur Alternative A1-B2 sowohl in Bezug auf die Zykluszeit als auch in Bezug auf die Leerzeit ungünstiger. Derarti­ ge – in Abbildung 5 hellgraue markierte – Alternativen kommen für eine Lösung des Problems nicht in die engere Auswahl. Dies lässt sich jedoch für die Alternative A1-B2 nicht sagen, die zwar im Hinblick auf die Pläne mit der kürzesten Zykluszeit (A2-B1) und der geringsten Leerzeit (A1-B1) ungünstiger ist, jedoch beim jeweils anderen Ziel besser. Dies führt zum Begriff der Effizienz.

3 Effiziente Produktionsentscheidungen 3.1 Konzept der Effizienz Eine Möglichkeit, die Vielzahl der zur Auswahl stehenden Ziele bei einem multikrite­ riellen Problem zu vergleichen beruht auf dem Konzept der Effizienz. Dies geht auf die grundlegenden Arbeiten von Pareto und speziell in der Produktionstheorie auf Koop­ mans (1951) zurück. In der Literatur finden sich daher auch die Bezeichnungen der Pareto-Effizienz beziehungsweise Pareto-Koopmans-Effizienz. Bei den folgenden Überlegungen zur Effizienz wird zur Vereinfachung zunächst angenommen, dass sämtliche Ziele zu minimieren seien. Dies stellt keine Einschrän­ kung der Betrachtungsweise dar, denn jedes zu maximierende Ziel kann in ein zu mi­ nimierendes transformiert werden. Dazu ist das Vorzeichen der zu maximieren Ziel­ funktion umzukehren. Dass dies plausibel ist, lässt sich unmittelbar an dem Ziel, den Gewinn zu maximieren, nachvollziehen. Tritt nicht ein Gewinn, sondern ein Verlust ein, dann ist es gleichwertig, diesen Verlust zu minimieren oder aber eben den nega­ tiven Gewinn zu maximieren. Insofern hat diese Beschränkung keine Auswirkung auf die grundsätzliche Betrachtungsweise der simultan zu verfolgenden Ziele. Eine Alternative ist in Bezug auf die zu minimierenden Ziele effizient, wenn sich keine andere aus der Menge aller Alternativen finden lässt, die „besser“ ist. Wie lässt sich aber feststellen, ob eine Alternative vorteilhaft ist? Hierzu gibt es verschiedene Möglichkeiten. Bei der Effizienz basiert der Vergleich auf allen zu optimierenden Zie­ len. Eine Alternative ist effizient bezüglich der betrachteten Ziele und der zur Auswahl stehenden Alternativenmenge, wenn es keine andere Alternative gibt, die bei mindestens einem Ziel besser und bei keinem schlechter ist. Für eine effiziente Alternative gilt somit: ∄x󸀠 ∈ X mit 󸀠

(1)

z k (x ) < z k (x)

für mindestens ein Ziel k ∈ K und

(2)

z k (x󸀠 ) ≤ z k (x)

∀ Ziele k = 1, . . . , K

(3)

1096 | Andreas Kleine und Jonas Ostmeyer

Mit diesem Konzept lässt sich für jede Alternative eines multikriteriellen Planungs­ problems angeben, ob diese effizient ist oder nicht (zu Spezialfällen vgl. Ehrgott 2005, S. 5). Neben der Pareto-Koopmans-Effizienz sind in der Literatur zahlreiche Varianten (schwache, eigentliche oder wesentliche Effizienz usw.) zu finden, die über die grund­ legenden Überlegungen hier hinausgehen (vgl. Ehrgott 2005, S. 23 ff.; Miettinen 1999, S. 10 ff.). Zur Illustration der Effizienz dient das aus Abschnitt 2.2.3 bekannte Beispiel zur Ablaufplanung. In der Abbildung 6 sind die drei mit einem schwarzen Punkt markier­ ten Ablaufpläne effizient. Für diese Alternativen (A2-B1, A1-B1 und A1-B2) findet sich keine andere Maschinenbelegung, die bei mindestens einem Kriterium besser ist, oh­ ne bei dem anderen schlechter zu sein. So ist es beispielsweise effizient, den Auftrag A zunächst auf Maschine M1 und parallel den Auftrag B auf Maschine M2 zu beginnen (A1-B2). Zwar ist es im Hinblick auf die Leerzeit günstiger beide Aufträge auf Maschine M1 in der Reihenfolge A und dann B zu beginnen (A1-B1), jedoch verlängert sich da­ mit die gesamte Durchlaufzeit. Ob eine Alternative effizient ist oder nicht, lässt sich bei zwei Zielen graphisch mit Hilfe eines Dominanzkegels überprüfen. In der Abbildung 6 ist dieser für die Alternativen B1-A1 und A1-B2 eingezeichnet. Jeweils ausgehend von einer Alternative zeigen die beiden Pfeile in die Richtung mit kleineren Zyklus- bezie­ hungsweise Leerzeiten. Befindet sich kein anderer Punkt (Alternative) in diesem Be­ reich, dann ist die betrachtete Alternative effizient, wie dies für die Alternative A1-B2 der Fall ist. Dagegen ist es ineffizient, zunächst beide Aufträge auf der ersten Maschine zu bearbeiten. Der Dominanzkegel ausgehend von B1-A1 enthält offensichtlich besse­ re Alternativen, wie z. B. den zuvor betrachteten Ablaufplan A1-B2 beziehungsweise A1-B1 (vgl. Abbildung 6).

16 14

B1-A1

12 Leerzeit

B2-A2 10 8

A2-B1 A2-B2

6 A1-B2 4 2 A1-B1 0 10

15

20 Zykluszeit

Abb. 6: Effiziente Ablaufpläne und Dominanzkegel.

25

Multikriterielle Produktionsplanung | 1097

Diese Effizienzbetrachtungen sind auf viele multikriterielle Problemstellungen anwendbar. Dies gilt etwa auch für das in Abschnitt 2.1 betrachtete Beispiel aus der Portfolioselektion, in dem das Risiko minimiert und die Rendite maximiert wird. In der Abbildung 2 liegen alle Mischungen aus den beiden Anlagen A und B auf dem entsprechenden Kurvenabschnitt, allerdings sind nur die Mischungen zwischen A und C effizient. So ist beispielsweise die „sichere“ Alternative B ineffizient, da es mit C eine zulässige Mischung gibt, die sowohl bezüglich des Risikos als auch bezüglich der zu erwartenden Rendite besser ist. Welche Alternativen effizient sind, hängt sowohl von der Menge der zur Auswahl stehenden Alternativen als auch der Ziele ab. Kommt bei der Untersuchung eine Al­ ternative hinzu, dann ist zu prüfen, ob diese in Bezug auf alle anderen effizient ist. Im Extremfall kann nur noch diese zusätzliche Alternative effizient sein und alle anderen ineffizient. Anders verhält es sich, wenn sich das Management entschließt, ein weiteres Ziel in der Planung zu integrieren. Generell gilt hierbei Folgendes: Bei der Ergänzung eines zusätzlichen Ziels bleibt eine effiziente Alternative stets effizient – vorausgesetzt die Alternativenmenge ändert sich nicht (zum Beweis vgl. Kleine 2002, S. 223): Eine bezüglich der Ziele (z1 , . . . , z K ) effiziente Alternative x ∈ X ist auch bezüglich der Ziele (z1 , . . . , z K , z K+1 ) effizient. Dies ist für das Management eines Unternehmens grundsätzlich eine beruhigende Nachricht. Alternativen, die in Bezug auf das ursprüngliche Planungsproblem effizi­ ent waren, verlieren diese Eigenschaft nicht, selbst wenn sie sich bei dem zusätzlichen Kriterium als sehr ungünstig erweisen. Es können jedoch zusätzliche Alternativen effi­ zient werden, insbesondere solche, die sich durch das neue Ziel auszeichnen. Dies ist auch für die multikriterielle Produktionsplanung von Bedeutung, wenn die Auswir­ kungen von zusätzlichen Zielen von Interesse sind, die bislang nur eine untergeord­ nete Rolle gespielt haben. So können speziell unter ökologischen Aspekten oder unter energiepolitischen Aspekten zusätzliche Kriterien in die Betrachtung einfließen. Die Menge der effizienten Alternativen vergrößert sich in diesem Fall. Dies sei wiederum am zuvor betrachteten Beispiel der Maschinenbelegungspla­ nung veranschaulicht. Das Management will bei der Produktionsplanung zusätzlich beachten, dass es sich bei Maschine M2 um eine neue Maschine mit einem relativ niedrigen Energieverbrauch handelt. Der Energieverbrauch liegt für M1 bei 1,2 kWh und M3 bei 0,6 kWh für jede Kapazitätseinheit, während dieser für M2 mit 0,2 kWh vergleichsweise gering sind. Außerdem ist beim Energieverbrauch zu berücksichti­ gen, dass während der Leerzeit die Maschinen in einem Stand-by-Modus laufen, der ebenfalls Energie verbraucht. Damit werden in dieser Wertschöpfungskette drei Ziele simultan verfolgt, die Minimierung der Zykluszeit, der Leerzeit und des Energiever­ brauchs, und es stellt sich die Frage, welche Alternativen nun effizient sind. Abbildung 7 zeigt die Vorteilhaftigkeit der unterschiedlichen Maschinenpläne in Bezug auf diese drei Ziele. Der linke Teil der Abbildung orientiert sich an der bekann­ ten Darstellung aus Abbildung 5 und 6. Jeder Ablaufplan ist wie zuvor durch einen

1098 | Andreas Kleine und Jonas Ostmeyer

16

Leerzeit

30 B1-A1 29,4

14

Zykluszeit Energie

25

Leerzeit

12 B2-A2 10,1

10 A2-B1 11

8 6

15 A2-B2 8,9

A1-B2 24,9

4 2

20

A1-B1 25,5

10 5 0

0 10

20

A1-B2 A2-B1 A1-B1 B1-A1 B2-A2 A2-B2

Zykluszeit Abb. 7: Effiziente Ablaufpläne bei drei Zielen.

Punkt gekennzeichnet, dessen Mittelpunkt bei der entsprechenden Zyklus- und Leer­ zeit liegt. Die Größe der Punkte bringt den Energieverbrauch zum Ausdruck. So fällt auf, dass die Produktion auf der neuen Maschine M2 zu einem geringeren Energieverbrauch führt und daher der Durchmesser dieser Alternativen vergleichs­ weise klein ist. Dies ist auch im rechten Teil der Abbildung 7 zu erkennen, in dem für jede Alternative, die Leerzeit, die Zykluszeit und der Energieverbrauch zu finden sind. Da der Energieverbrauch auf der zweiten Maschine sehr niedrig ist, sind neben den bereits als effizient identifizierten Maschinenplänen nun auch die Belegungen der beiden Aufträge in der Reihenfolge erst A und dann B über diese Maschine effizient (A2-B2). Sowohl die gesamte Durchlaufzeit als auch die Leerzeit ist im Vergleich zu den bislang effizienten Maschinenbelegungen A1-B1 und A1-B2 länger, allerdings ha­ ben diese einen höheren Stromverbrauch.

3.2 Test auf effiziente Produktionsentscheidungen Die exemplarischen Darstellungen im vorangehenden Abschnitt zeigen, dass bereits bei drei Zielen nicht mehr unmittelbar aus den Abbildungen ersichtlich ist, welche Al­ ternativen effizient sind. Kommen weitere Ziele hinzu, dann ist der Einsatz von analy­ tischen Instrumenten notwendig. Dies gilt umso mehr, wenn neben zusätzlichen Zie­ len auch zusätzliche Alternativen in die Betrachtungen einfließen. So stellt sich für Unternehmen mit der Entwicklung der erneuerbaren Energien etwa die Frage, ob ne­ ben dem bisherigen Fremdbezug von Strom auch eigene regenerative Anlagen oder eigene Kraftwerke in Erwägung zu ziehen sind.

Multikriterielle Produktionsplanung | 1099

In diesem Fall kann eine in die engere Auswahl gezogenen Alternative auf Effi­ zienz überprüft werden. Hierzu gibt es spezielle Optimierungsmodelle, sogenannte Effizienz-Tests. Diese Programme prüfen, ob es neben einer in Betracht gezogenen Al­ ternative x󸀠 eine andere zulässige Alternative x gibt, die mindestens genauso gut ist, d. h. z k (x) ≤ z k (x󸀠 ) für alle Ziele k gilt (k = 1, . . . , K). Wenn diese zudem bei einem oder mehreren Zielen eine Verbesserung ermöglicht, d. h. z k (x) < z k (x󸀠 ) für mindes­ tens ein k-tes Ziel gilt, dann ist die betrachtete Alternative x󸀠 ineffizient. In diesem Fall liegt eine andere zulässige Alternative im Dominanzkegel der zu untersuchenden Alternative (vgl. Abbildung 6). Findet sich im Dominanzkegel keine bessere Alterna­ tive, dann handelt es sich bei der zu prüfenden Alternative um eine effiziente. Um Verbesserungen von Zielen zu messen, kommen nichtnegative Hilfsvariable d k zum Einsatz (k = 1, . . . , K). Jede dieser Variablen erfasst für ein k-tes Ziel die Abweichung der Zielfunktionswerte zwischen der betrachteten Alternative x󸀠 und der Referenz x. Die Zielfunktion des Effizienz-Tests maximiert die Summe dieser Abweichungen: max ∑ d k

(4)

k

unter den Nebenbedingungen z k (x) + d k ≤ z k (x󸀠 ) dk ≥ 0 x∈X

∀k = 1, . . . , K

(5)

∀k = 1, . . . , K

(6) (7)

Eine Alternative x󸀠 ist genau dann effizient, wenn in diesem Programm für alle Varia­ blen d k = 0 gilt beziehungsweise der Wert der Zielfunktion gleich null ist (vgl. Benson 1978; Wendell/Lee 1977; Kleine 2002, S. 40). Es steht dann keine Alternative zur Aus­ wahl, die bei mindestens einem Ziel eine Verbesserung ermöglicht, ohne bei anderen Ziele schlechter abzuschneiden. Mit diesem Test-Programm lässt sich für jede beliebi­ ge Alternative feststellen, ob diese effizient ist oder nicht. Wird etwa in dem zuvor betrachteten Beispiel der Ablaufplanung mit den drei Zie­ len – Minimierung der Zykluszeit, der Leerzeit und des Energieverbrauchs – in Erwä­ gung gezogen, beide Aufträge über die Maschine M2 zu produzieren, und zwar zu­ nächst Auftrag A und dann Auftrag B (A2-B2), so lässt sich kein Ablaufplan finden, der in mindestens einem Ziel besser ist, ohne bei einem anderen schlechter zu sein. Es ergibt sich für alle drei Variablen d1 = d2 = d3 = 0, denn mit Ausnahme der Alter­ native selbst erfüllt keine andere Kombination der Aufträge die Anspruchsniveaus. Sollte sich beim Test herausstellen, dass eine Alternative ineffizient ist, dann lie­ fert die optimale Lösung des Tests einen Hinweis auf eine effiziente Alternative. Wird in dem zuvor betrachteten Beispiel der Ablaufplanung der Auftrag A nach B über die erste Maschine produziert (B1-A1), dann ist diese Alternative ineffizient. Als Lösung ergibt sich beim Test die effiziente Alternative A2-B1.

1100 | Andreas Kleine und Jonas Ostmeyer

3.3 Energieeffizienz Die bisherigen Ausführungen zur Effizienz gehen von einer bestimmten Anzahl von Zielen aus, an deren Erreichung das Management generell interessiert ist. Ein Pro­ duktionsplan ist somit immer effizient bezüglich der betrachteten Ziele und der zur Auswahl stehenden Alternativen. Aufgrund gesellschaftlicher struktureller Verände­ rungen können jedoch bestimmte Ziele im Zeitablauf sehr stark in den Fokus der un­ ternehmerischen Planung rücken. Dies geht dann zumeist mit eigenständigen Begrifflichkeiten einher. Mit der Integration der erneuerbaren Energien gewinnen beispiels­ weise der Energieverbrauch und damit die sogenannte Energieeffizienz an Bedeutung. Dabei ist das Management grundsätzlich an einem möglichst günstigen Energie­ verbrauch interessiert. Je nach Betrachtungsweise kann sich dies auf den Energie­ verbrauch von Prozessen, Maschinen, Unternehmensteilen oder Teile von Wertschöp­ fungsketten beziehen (vgl. Fysikopoulos et al. 2014). Der Begriff der Energieeffizienz wird in der Literatur durch das Verhältnis vom erzielten Output zum Energieverbrauch definiert (vgl. Gahm et al. 2016, S. 744). Kann ein bestimmter Output auf unterschiedli­ che Weise hergestellt werden, dann ist die Alternative mit dem geringsten Energiever­ brauch effizient, d. h. sie hat eine (normierte) Energieeffizienz von 100 %. Verbraucht eine andere Alternative im Vergleich zur effizienten doppelt so viel Energie, so weist diese nur eine Energieeffizienz von 50 % aus. Aus Sicht der multikriteriellen Produktionsplanung verfolgt das Management bei dieser Betrachtungsweise zwei Ziele: Zum einen die Minimierung des Energie­ verbrauchs und zum anderen die Maximierung des Outputs. In Anlehnung an die klassische Produktionstheorie wird die Untersuchung in diesem speziellen Fall auf ein einfaches Input-Output-System (vgl. Abbildung 3) mit einem Input – dem Ener­ gieverbrauch – und einem Output – die hergestellte Produktionsmenge oder die bereitgestellte Dienstleistung – fokussiert. Die so definierte Energieeffizienz, d. h. der Quotient aus Output zu Input, stellt eine typische Produktivitätskennzahl dar. Bei ei­ ner Produktivität von 100 % liegt somit Effizienz vor, anderenfalls Ineffizienz bezogen auf die beiden betrachteten Kriterien. Das Konzept lässt sich wiederum am zuvor betrachteten Beispiel der Maschinen­ belegungsplanung veranschaulichen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich eine Maschine (M2) durch einen sehr günstigen Stromverbrauch auszeichnet, stehen nun ausschließlich die beiden Ziele – Minimierung des Energieverbrauchs und Maxi­ mierung der Anzahl der Aufträge – im Mittelpunkt der Betrachtung. Der Output ist in diesem Fall bei allen Produktionsplänen gleich, denn alle Aufträge sind auszuführen. Energieeffizient ist demnach die Maschinenbelegung mit dem geringsten Energiever­ brauch. Einen sehr niedrigen Energieverbrauch weisen Ablaufpläne auf, bei denen die Aufträge über die neue Maschine M2 laufen. Hierbei ist es günstiger, zunächst Auftrag A und dann B zu produzieren, da dies zu einer kürzeren Leerzeit, d. h. kürzeren Zeit im Standby-Modus führt (vgl. Abbildung 4). Dieser Ablaufplan ist 100 % energieeffizi­ ent, d. h. in Bezug auf den Energieverbrauch zur Abwicklung der beiden Aufträge (vgl. Tabelle 1).

Multikriterielle Produktionsplanung |

1101

Tab. 1: Energieeffiziente Ablaufpläne. Ablaufplan

A1-B1

Energieverbrauch 25,5 Energieeffizienz 34,9 %

B1-A1

A1-B2

A2-B1

A2-B2

B2-A2

29,4 30,3 %

24,9 35,7 %

11,0 80,9 %

8,9 100 %

10,1 88,1 %

Im Unterschied zu der in Abschnitt 3.1 vorgestellten Effizienz, die nur eine Un­ terscheidung zwischen effizienten und ineffizienten Produktionsplänen erlaubt, sind bei dieser Betrachtungsweise alle ineffizienten Ablaufpläne zusätzlich durch eine Ef­ fizienzkennzahl beziehungsweise Produktivität – von kleiner als 100 % – charakteri­ siert. Erfolgt zum Beispiel zunächst die Produktion von Auftrag A auf der neuen Ma­ schine M2 und anschließend Auftrag B auf der alten Maschine M1, dann weist dieser Ablaufplan A2-B1 eine Energieeffizienz von 80,9 % auf. Im Vergleich zur energieeffi­ zienten Alternative A2-B2 wird 19,1 % mehr Energie benötigt, um die beiden Aufträge abzuwickeln. Der Energieverbrauch stellt in der Produktionsplanung ein zu minimierendes Ziel z k (k ∈ {1, . . . , K}) und der Output ein zu maximierendes Ziel zout dar. Das Verhältnis zout (x)/z k (x) soll über alle zulässigen Alternativen x ∈ X dabei möglichst groß sein, wobei eine effiziente Alternativen auf 1 beziehungsweise 100 % normiert ist. Damit ist ein Quotientenprogramm zu lösen, das im Operations Research aus der Data Envelop­ ment Analysis (DEA) seit langem bekannt ist. So haben Charnes, Cooper und Rhodes (1978) gezeigt, wie sich das zugrundeliegende Quotientenprogramm für eine gegebene Menge an Alternativen in ein lineares Programm transformieren lässt (vgl. zum Über­ blick auch Cooper/Seiford/Tone 2007, und zur Einordung in die Produktionstheorie Kleine 2002, S. 125 ff.). Diese Idee lässt sich auf die hier betrachte Energieeffizienz un­ mittelbar anwenden. Um die Energieeffizienz einer Alternative x󸀠 ∈ X zu bestimmen, ist folgendes Optimierungsprogramm für das k-te Energieziel zu lösen: min θ

(8)

unter den Nebenbedingungen z k (x) ≤ θ ⋅ z k (x󸀠 ) 󸀠

zout (x) ≥ zout (x ) x ∈ XTM

(9) (10) (11)

In der ersten Nebenbedingung wird bestimmt, um welchen Faktor θ der Energiever­ brauch der Alternative x󸀠 im Vergleich zu einer anderen Alternative (Referenz) gesenkt werden kann. Dabei stellt die zweite Nebenbedingung sicher, dass der Output der zu untersuchenden Alternative nicht geringer ist. Zum Vergleich werden alle positiv line­ ar kombinierbaren Alternativen herangezogen, d. h. eine Technologie XTM mit kon­ stanten Skalenerträgen unterstellt (vgl. Dyckhoff/Spengler 2010, S. 63 ff., S. 141 ff.). Die zu untersuchende Alternative ist genau dann energieeffizient, wenn im Optimum

1102 | Andreas Kleine und Jonas Ostmeyer θ∗ = 1 gilt. Für alle energieineffizienten Alternativen ergibt sich ein Wert für θ∗ von kleiner als 1. Im Unterschied zu den bisherigen Effizienzüberlegungen wird die DEA in der Re­ gel für die Messung der Effizienz von bereits getroffenen Entscheidungen verwendet (vgl. Kleine 2001). Die einzelnen zu vergleichenden Alternativen heißen in der DEA auch Decision Making Units (DMU), deren relative Effizienz zu bestimmen ist. Wie sich die Menge der Referenzen bestimmt, hängt davon ab, ob eine Technologie mit konstanten, fallenden, steigenden oder variablen Skalenerträgen unterstellt wird. Des Weiteren ist zu beachten, dass es sich hierbei um ein sogenanntes radiales Effizienz­ maß handelt, dass auf Farrell (1957) zurückgeht. Der optimale Wert des Faktors θ gibt an, wie jeder Input radial verringert werden muss, um effizient zu werden. Die Ermitt­ lung der radialen Effizienz ist auch auf mehr als einen Input und einen Output erwei­ terbar. Für die K zu minimierenden Ziele, die als Input interpretiert werden können, ist dazu die zweite Restriktion des Programms auf alle k = 1, . . . , K Ziele zu erweitern. Da nicht jede radial effiziente Alternative auch Pareto-Koopmans-effizient ist, muss zusätzlich die mit einer hinreichend kleinen positiven Zahl ε gewichtete Summe der absoluten Abweichungen maximiert werden (vgl. Cooper/Seiford/Tone 2007, S. 45): min θ − ε ⋅ (∑ d k + dout )

(12)

k

unter den Nebenbedingungen z k (x) + d k ≤ θ ⋅ z k (x󸀠 )

∀k = 1, . . . , K

󸀠

zout (x) − dout = zout (x ) dout , d k ≥ 0 x ∈ XTM

(13) (14)

∀k = 1, . . . , K

(15) (16)

Eine Alternative ist genau dann Pareto-Koopmans-effizient, wenn der optimale Ziel­ funktionswert dieses Programms gleich eins ist. In diesem Fall ist es nicht möglich, eine Referenz zu finden, bei der alle Inputs simultan reduziert werden können und keine absoluten Abweichungen auftreten, d. h. für die optimale Lösung gilt: θ∗ = 1 und d∗1 = . . . = d∗K = d∗out = 0. Stellt sich heraus, dass eine Alternative x󸀠 inef­ fizient ist, dann lässt sich mit Hilfe einer optimalen Lösung wiederum eine effizien­ te Referenz angeben. Dazu sind alle ermittelten Abweichungen auszugleichen, d. h. θ∗ ⋅ z k (x󸀠 ) − d∗k für alle zu minimierenden Ziele und z k (x󸀠 ) + d∗out für den Output. Im Hinblick auf die möglichen Referenzen, die zum Vergleich herangezogen wer­ den können, lassen sich zwar grundsätzlich die gleichen Annahmen bezüglich der Technologie treffen. Da die dazu notwendige Ermittlung aller effizienten Alternativen jedoch vielfach eine komplexe Aufgabe darstellt, lässt sich die Betrachtung speziell bei Planungsproblemen auch auf die Alternativenmenge selbst beschränken. Diese Annahme ist auch unter dem Begriff der Free Disposal Hull bekannt (vgl. Deprins/ Simar/Tulkens 1984; Tulkens 1993).

Multikriterielle Produktionsplanung | 1103

4 Ermittlung effizienter Produktionsentscheidungen 4.1 Kompromissoptimale Lösungen Grundsätzlich ist es zwar erstrebenswert, für ein multikriterielles Planungsproblem alle effizienten Möglichkeiten zu ermitteln, allerdings stellt die Ermittlung der Menge aller effizienten Alternativen vielfach eine anspruchsvolle Aufgabe dar. Insbesonde­ re bei kombinatorischen Planungsproblemen mit einer sehr großen Anzahl von Pla­ nungsalternativen ist bereits die Ermittlung einer optimalen Lösung bei nur einem Ziel ein komplexes Problem. Dies ist deutlich leichter, wenn nur wenige Planungsalterna­ tiven zur Auswahl stehen. Nach der Struktur der Alternativenmenge werden die multi­ kriteriellen Planungsproblem daher in zwei Klassen eingeteilt (vgl. Ehrgott 2005, S. 3): – Anzahl der Planungsalternativen ist explizit bekannt: Bei diesen Planungsproble­ men lassen sich alle Alternativen aufgrund der geringen Auswahlmöglichkeiten direkt auflisten. So gibt es vielfach bei konstitutiven Entscheidungen nur so we­ nige Alternativen, die einzeln bewertbar und damit direkt vergleichbar sind. – Menge der Planungsalternativen wird implizit durch Restriktionen beschrieben: Die Beschreibung der Alternativenmenge erfolgt durch Nebenbedingungen wie z. B. bei stetigen Problemen mit Fließgütern oder diskreten Problemen mit Stückgü­ tern beziehungsweise kombinatorischen Bedingungen. Bei den diskreten Ansät­ zen ist die Anzahl der Planungsalternativen so umfangreich, dass sich nicht alle Möglichkeiten direkt bestimmen und daher nur implizit beschreiben lassen. Dies gilt beispielsweise für praktische Probleme der Ablaufplanung. Neben den numerischen Herausforderungen ist zudem zu beachten, dass mit der Er­ mittlung aller effizienten Alternativen das Planungsproblem bei konkurrierenden Zie­ len nicht gelöst ist. Aus der Vielzahl aller effiziente Alternativen ist eine aus Sicht des Managements präferierte Lösung zu bestimmen, was die Angabe von zusätzlichen Präferenzen (Artenpräferenzen) erfordert. Für den Fall, dass die Menge der Alternativen explizit bekannt ist, wurden im Rahmen des Multi Attribut Decision Making spezielle Lösungsverfahren entwickelt. Hierzu zählen beispielsweise Outranking-Verfahren der sogenannten französischen Schule wie das PROMETHEE- oder das ELECTRE-Verfahren¹ mit zahlreichen Varian­ ten oder auch der Analytic Hierachy Process (vgl. zum Überblick Klein/Scholl 2011, S. 341 ff.; Zimmermann/Gutsche 1991, S. 202 ff.). Diese Ansätze basieren auf der Idee, die Planungsalternativen individuell zu bewerten, um hieraus eine Ordnung aller Al­ ternativen herzuleiten. Da dies nur für multikriterielle Planungsprobleme mit einer

1 Abkürzungen der Verfahren: ELECTRE für Elimination ET Choice Translation Reality, PROMETHEE für Preference Ranking Organisation METHod for Enrichment Evaluations.

1104 | Andreas Kleine und Jonas Ostmeyer

„überschaubaren“ Anzahl von Alternativen möglich ist, spielen diese Verfahren in der Produktionsplanung nur eine untergeordnete Rolle. In der Produktion ist es zumeist notwendig, eine Vielzahl von Anforderungen zu berücksichtigen. In den Problemstellungen ist die Beschreibung der Alternativen dann nur implizit durch Restriktionen möglich. Für diese speziellen Optimierungspro­ bleme gibt es ebenfalls unterschiedliche Lösungsansätze, die im Rahmen des Multi Objective Decision Making auch als Kompromissmodelle beziehungsweise Scalariza­ tion Techniques bekannt sind. Diese Optimierungsmodelle reduzieren das vektorielle Entscheidungsproblem auf ein skalares Problem mit einer Zielfunktion, um auf diese Weise einen Kompromiss als Lösung mit den Methoden des Operations Research zu liefern. Zu den Kompromissmodellen zählen unter anderem folgende Ansätze (vgl. Dinkelbach/Kleine 1996, S. 44 ff.; Ehrgott 2005, S. 65 ff.; Miettinen 1999, S. 61 ff.): – Zielgewichtung: Jedes Ziel wird mit einem Gewicht bewertet und die gewichtete Summe aller Ziele über die Alternativenmenge optimiert. – ε-Constrained-Methode: Es wird eine besonders wichtige Zielfunktion ausge­ wählt. Alle anderen Ziele werden in Restriktionen überführt, die ein Niveau ε erfüllen müssen. Das Optimierungsproblem ist mit der ausgewählten Zielfunk­ tion und den zusätzlichen Restriktionen über die Alternativenmenge zu lösen. – Abstandsminimierung zum Idealzielpunkt: Für jedes Ziel wird eine individuell op­ timale Lösung unter Vernachlässigung aller anderen Ziele bestimmt. Der gewich­ tete Abstand zu dem resultierenden Vektor all dieser Lösungen im Zielraum, dem sogenannten Idealzielpunkt, wird über die Alternativenmenge minimiert. Hierbei ist festzulegen, wie der Abstand zu messen ist, z. B. über die Summe aller Differen­ zen (Manhattan-Norm) oder durch die maximale Differenz (Tschebycheff-Norm). – Goal Programming: Im Unterschied dazu wird für jedes Ziel individuell ein An­ spruchsniveau (Goal) vorgegeben, das vom Management als erstrebenswert erachtet wird. Die gewichteten Abweichungen von diesen Anspruchsniveaus werden über die Alternativenmenge minimiert. Auch hierbei lassen sich unter­ schiedliche Abstandsnormen verwenden. Neben diesen Ansätzen gibt es noch eine Vielzahl weiterer Verfahren zur Bestimmung kompromissoptimaler Lösungen. Hierzu zählen interaktive Verfahren, bei denen eine kompromissoptimale Lösung schrittweise ermittelt wird, indem in jeder Iteration die Präferenzen konkretisiert werden. Auch der bereits kurz skizzierte Effizienz-Test ist ein Verfahren zur Bestimmung einer kompromissoptimalen Lösung. Hierbei handelt es sich um eine Kombination aus der Zielgewichtung und der ε-Constrained-Methode, wobei sich die Anspruchsniveaus aus der zu testenden Alternative ergeben. Die Zielgewichtung zählt zu den bekanntesten und am meisten verwendeten Me­ thoden zur Lösung von multikriteriellen Planungsproblemen. Dies liegt unter ande­ rem darin begründet, dass sich dieser Ansatz einfach anwenden lässt. Die Gewichtung von Zielen ist für das Management ein plausibles Vorgehen, zumal es diverse Ansätze zur Unterstützung bei der Bestimmung der Zielgewichte gibt (vgl. Eisenführ/Weber/

Multikriterielle Produktionsplanung | 1105

Langer 2010, S. 138 ff.). Ausgehend von nicht-negativen Gewichten w k (k = 1, . . . , K) ist dann das folgende skalare Optimierungsproblem zu lösen: min ∑ w k ⋅ z k (x)

(17)

k

unter der Nebenbedingung x∈X

(18)

Eine bezüglich der Zielgewichtung optimale Lösung hat zudem eine sehr angenehme Eigenschaft: Vorausgesetzt alle Zielgewichte sind positiv (w k > 0 für k = 1, . . . , K), dann ist diese optimale Lösung stets effizient. Die Zielgewichtung liefert somit un­ ter dieser Voraussetzung stets eine effiziente Lösung. Diesem Vorteil steht allerdings ein Nachteil gegenüber, der bei praktischen Anwendungen gelegentlich übersehen wird. Es ist grundsätzlich nicht garantiert, dass mit der Zielgewichtung auch alle effizienten Alternativen als kompromissoptimale Lösung resultieren. Unabhängig von der Wahl der Gewichte kann es somit vorkommen, dass einige effiziente Alter­ nativen mit der Zielgewichtung nicht erreichbar sind, sondern nur die sogenann­ ten wesentlich effizienten Lösungen (engl. properly efficient, vgl. Mietinnen 1999, S. 78). Insbesondere bei diskreten Produktionsproblemen kann dieser Fall eintre­ ten. Diese Besonderheit lässt sich am Beispiel der Ablaufplanung illustrieren. Das Ma­ nagement des Unternehmens sei an den beiden Zielen – Minimierung der Zykluszeit und Minimierung der Leerzeit – interessiert. Wird das Gewicht sehr hoch auf die Zy­ kluszeit gelegt, dann ist der Ablaufplan mit der geringsten gesamten Durchlaufzeit

16 14

B1-A1

12 Leerzeit

B2-A2 10 8

A2-B1 A2-B2

6 A1-B2 4 2 A1-B1 0 10

15

20 Zykluszeit

Abb. 8: Optimale Ablaufpläne bei Zielgewichtung.

25

1106 | Andreas Kleine und Jonas Ostmeyer

optimal (A2-B1). Umgekehrt führt eine hohe Gewichtung der Leerzeit zu dem Maschi­ nenbelegungsplan mit der maximalen Kapazitätsauslastung (A1-B1). Wird die Leerzeit zur Zykluszeit in einem ganz bestimmten Verhältnis gewichtet (7 zu 6, vgl. gestrichel­ te Linie in Abbildung 8), dann ist das Management zwischen den beiden Maschinen­ plänen indifferent. Sobald die Leer- oder Zykluszeit etwas stärker gewichtet wird, re­ sultiert wieder einer der beiden Ablaufpläne. Folglich kann der effiziente Ablaufplan A1-B2 bei der Zielgewichtung nie als Kompromisslösung resultieren. Mit anderen Wor­ ten, egal wie die beiden Ziele gewichtet werden, nie kommt bei der Zielgewichtung der effiziente Kompromissplan A1-B2 heraus. Dieser Einschränkung sollte sich das Ma­ nagement bei Anwendung der Zielgewichtung bewusst sein. Ob dieser Nachteil zum Tragen kommt, hängt offensichtlich von der Struktur der Alternativenmenge ab. Die Ursache für dieses Problem liegt in der Tatsache begründet, dass eine Zielge­ wichtung nur kompromissoptimale Lösungen im Ergebnis- beziehungsweise Zielraum findet, die auf der sogenannten konvexen Hülle liegen. Dieser Einschränkung unter­ liegt zum Beispiel eine Abstandsminimierung auf Grundlage der Tschebycheff-Norm, die die größte Differenz zu den jeweiligen individuellen Optima zmin des k-ten Ziels k minimiert: min y (19) unter den Nebenbedingungen y ≥ w k ⋅ (z k (x) − zmin k )

∀k = 1, . . . , K

x∈X

(20) (21)

Die Lösung dieses Kompromissmodells würde bei einer gleichen Gewichtung der Zie­ le im skizzierten Beispiel der Abbildung 8 zu der Maschinenbelegung A1-B2 führen. Diese Lösung spiegelt einen möglichen Kompromiss zwischen der minimalen Zyklusund Leerzeit wider.

4.2 Dilemma energieflexibler Ablaufplanung Die in Deutschland mit der Energiewende verbundene zunehmende Nutzung der er­ neuerbaren Energien hat zum Teil erhebliche Auswirkungen auf den Strompreis. Dies stellt Unternehmen mit einem hohen Energieverbrauch vor neue Herausforderungen. Die Strompreise können an einem Tag aufgrund der Energieeinspeisung aus der Windund Sonnenenergie erheblichen Schwankungen unterliegen. Es stellt sich daher die Frage, ob es sich für Unternehmen lohnt, die operative Produktionsplanung an die schwankenden Energiepreise anzupassen. Damit gewinnt das Energiemanagement für ein Unternehmen zunehmend an Bedeutung, speziell dann, wenn es über eige­ ne Anlagen zur Stromerzeugung verfügt. Mit dem Verkauf von Strom ergeben sich zu­ sätzliche Chancen und es ist zu prüfen, ob diese durch eine energieflexible Produktion ausgenutzt werden können.

Multikriterielle Produktionsplanung | 1107

Im Folgenden wird exemplarisch speziell eine energieflexible Ablaufplanung untersucht (vgl. unter anderem Buscher/Eiba/Schulz 2016; Ding/Song/Wu 2016; Gong et al. 2015). In dem Fallbeispiel, das sich an ein Unternehmen aus der metall­ verarbeitenden Industrie anlehnt, werden drei Ziele – Minimierung der Zykluszeit, der Energiekosten und der CO2 -Emmissionen – verfolgt. In dem multikriteriellen Ab­ laufproblem ist zu beachten, dass das Unternehmen über eine klimaneutrale Strom­ produktion verfügt, die ebenfalls zur Herstellung von Strom zur Verfügung steht. Es ergibt sich folgendes multikriterielles Modell: Cmax T

∑ (c t ⋅ sKt − p t ⋅ sVt ) ) min (t=1

(22)

T

(

∑ e ⋅ s Kt t=1

)

unter den Nebenbedingungen M

T

∑ ∑ x jmt = 1

∀j

(23)

∀j, m, t

(24)

∀j, m

(25)

∀t

(26)

∀t

(27)

∀t

(28)

∀j, m, t

(29)

m=1 t=1 J t+d j −1

∑ ∑ x kmτ ≤ 1 + J ⋅ (1 − x jmt ) k=1

τ=t

T

∑ ((t + d j − 1) ⋅ x jmt ) ≤ Cmax t=1 J

M

t

∑ ∑ ∑ aSjm ⋅ x jmτ = sKt + sGt

mit

t󸀠 = max{1; t − d j + 1}

j=1 m=1 τ=t 󸀠

sGt + sVt = b St Cmax , sGt , sVt , sKt

≥0

x jmt ∈ {0; 1}

In diesem Modell setzt sich der Zielvektor aus drei Zielen zusammen: – Minimierung der Zykluszeit Cmax , – Minimierung der Kosten des Stromkaufs sKt zum Preis c t abzüglich der Erlösen aus dem Stromverkauf sVt zu einem Preis p t über alle Perioden t, – Minimierung der CO2 -Emmissionen e des gekauften Stroms sKt über den gesamten Planungszeitraum. Die Restriktion (23) stellt sicher, dass jeder Auftrag j auf einer Maschine m genau zu einem Zeitpunkt t beginnt (x jmt = 1), d. h. alle Aufträge während des Planungszeit­ raums bearbeitet werden. Dass ein Auftrag k nicht gleichzeitig mit einem Auftrag j über eine Maschine läuft, garantiert die Nebenbedingung (24). Die maximale Durch­ laufzeit über alle Aufträge, die Zykluszeit Cmax , ergibt sich aus der Restriktion (25).

1108 | Andreas Kleine und Jonas Ostmeyer

Die Energiebilanzgleichung (26) stellt sicher, dass der durch alle Aufträge verbrauch­ te Strom aSjm auf den unterschiedlichen Maschinen durch den gekauften Strom sKt be­ ziehungsweise selbst produzierten und für die eigene Produktion genutzten Strom sGt zu jedem Zeitpunkt t gedeckt wird. Die Eigenproduktion von Strom ist gemäß (27) in jeder Periode nur in einem begrenzten Umfang b St möglich. Dieses Modell wird exemplarisch für zwölf Aufträge, die auf vier Maschinen im Laufe eines Werktages zu bearbeiten sind, gelöst. Um festzustellen, ob die Ziele für diese Konstellation konkurrieren, erfolgt eine Lösung mit Hilfe der Zielgewichtung. Hierzu werden sieben unterschiedliche Szenarien SZ1 bis SZ7 für die Zielgewichte be­ trachtet (vgl. Abbildung 9). In den ersten drei Gewichtungsszenarien erfolgt für jedes Ziel die Bestimmung eines individuell optimalen Ablaufplans, indem das jeweilige Ziel mit eins und die anderen Ziele mit einer hinreichend kleinen Zahl gewichtet wer­ den. Damit ist sichergestellt, dass jeweils eine effiziente Lösung resultiert. So steht im ersten Szenario SZ1 die Minimierung der Zykluszeit im Fokus des Interesses, im zwei­ ten Szenario SZ2 die Minimierung der Stromkosten und im dritten Szenario SZ3 die Minimierung der CO2 -Emmissonen. Die Abbildung 9 visualisiert die Ergebnisse für die unterschiedlichen Szenari­ en, wobei in den Säulen jeweils die Zielgewichtung zum Ausdruck kommt. Für die drei Ziele sind die jeweils zugehörigen Zielfunktionswerte abgetragen, für die Zy­ kluszeit (durchgezogene Linie), für die Stromkosten (gepunktete Linie) und für die CO2 -Emmissionen (gestrichelte Linie). Sowohl die Zielgewichte als auch die Aus­ prägungen der drei Ziele sind normiert, letztere über sogenannte Bandbreiten (vgl. Steuer 1986, S. 201). Durch die Wahl solcher Bandbreiten bringen die Zielgewichte unmittelbar die relative Bedeutung der Ziele zum Ausdruck. 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% SZ1

SZ2

SZ3

SZ4

SZ5

SZ6

SZ7

SA7

Zeitgewicht

Kostengewicht

Emissionsgewicht

Zeitziel

Kostenziel

Emissionen

Abb. 9: Szenarien für Zielgewichtung (SZ1–SZ7) und Abstandsminimierung (SA7).

Multikriterielle Produktionsplanung | 1109

Es besteht offensichtlich ein Dilemma bezüglich der drei Ziele: Bei einer Um­ setzung des Ablaufplans mit der kürzesten Zykluszeit lassen sich nicht die geringen Stromkosten und auch nicht die niedrigen CO2 -Emmissionen realisieren. Die unter­ schiedliche Belegung der Maschinen in den drei Szenarien SZ1–SZ3 ist aus Abbil­ dung 10 ersichtlich. Bei einer Minimierung der Zykluszeit endet der letzte Auftrag frühestmöglich, so dass am Ende des Planungszeitraums keine Maschine mehr be­ legt ist. Bei der Ermittlung eines energieeffizienten Ablaufplans gemäß Szenario SZ2 folgt die Maschinenbelegung dem Strompreis. Da der Preis am späten Vormittag und Abend relativ hoch ist, werden während dieses Zeitraums bei einer ausschließlichen Minimierung der Stromkosten die Maschinen möglichst gering ausgelastet. Des Weiteren fällt auf, dass bei der Zielgewichtung mit jeweils gleicher Gewich­ tung der Zykluszeit, der Stromkosten und der CO2 -Emissionen eine Lösung resultiert (SZ7), die mit der bei isolierter Betrachtung der Zykluszeit übereinstimmt (SZ1). Dies deutet darauf hin, dass es sich um eine robustere Lösung handelt. Diese Besonderheit gilt jedoch nur, wenn die Zielgewichtung als Ansatz zur Bestimmung einer kompro­ missoptimalen Lösung dient. Kommt anstatt der Zielgewichtung eine Abstandsmini­ mierung zum Einsatz, die die maximale Abweichung von den bestmöglichen Werten der Ziele minimiert, so ergibt sich eine andere Lösung. Der resultierende Ablaufplan SA7 (vgl. Abbildungen 9 und 10) bildet einen typischen Kompromiss ab. Unter Inkauf­ nahme einer verlängerten gesamten Durchlaufzeit lassen sich bei dieser Maschinen­ belegung die Stromkosten und CO2 -Emissionen reduzieren. Die exemplarischen Ausführungen zeigen den Zielkonflikt der Ablaufplanung beim Einbezug des Energieverbrauchs auf. Ob ein Dilemma vorliegt, ist wie bei jedem multikriteriellen Entscheidungsproblem von der Struktur des Problems abhängig.

4 3,5 3 2,5 2 1,5 1 0,5 0 1

2

3

4

5

6

7

8

9

10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Abb. 10: Anzahl gleichzeitig belegter Maschinen im Zeitablauf.

22

23

24

25

SA7 SZ3 SZ2 SZ1 26

1110 | Andreas Kleine und Jonas Ostmeyer

Dies gilt insbesondere für die Menge der zur Auswahl stehenden Alternativen. Je mehr Maschinenbelegungen möglich sind, d. h. je mehr Flexibilität im System vor­ handen ist, desto größer ist die praktische Bedeutung und zusätzliche Möglichkeiten ergeben sich, die Energiekosten zu reduzieren.

5 Fazit Die Produktionsplanung steht kontinuierlich vor neuen Herausforderungen. Grund­ sätzlich verfolgt ein Unternehmen dabei zumeist viele unterschiedliche Ziele. In die­ sem Zusammenhang ist das Management eines Unternehmens daran interessiert, sich für eine möglichst gute, d. h. effiziente Lösung zu entscheiden. Welche Lösungen ef­ fizient sind, lässt sich allerdings nicht pauschal beurteilen. Es ist zum einem davon abhängig, welche Alternativen zur Auswahl stehen und zum anderen welche Ziele ver­ folgt werden. So stand zum Ende des letzten Jahrhunderts das zunehmende Umwelt­ bewusstsein im Fokus der unternehmerischen Planung. Die Verfolgung von ökonomi­ schen und ökologischen Zielen führt häufig zu Konflikten, so dass es einen effizienten Kompromiss zu finden gilt. Auch mit der Energiewende und dem damit verbundenen Einsatz erneuerba­ rer Energien sind neue Perspektiven verbunden. So lässt sich die Umweltbelastung durch Wind- und Solaranlagen reduzieren, was aber auch zur Folge hat, dass Strom­ preise zum Teil erheblich schwanken. Dies führt zunächst zu technischen Effizienz­ verbesserungsmaßnahmen, wie z. B. zu Energieverbrauchsreduktionen bei Maschi­ nen. Derartige Maßnahmen sind nur eine Möglichkeit, direkt an Energieeffizienz zu gewinnen. Weiteres Potenzial – speziell in Produktionsunternehmen – ist darin be­ gründet, Produktionsabläufe so flexibel zu gestalten beziehungsweise die darin viel­ leicht vorzufindende Flexibilität so auszunutzen, dass nicht nur klassischen Zielen wie Kapazitätsauslastung oder Durchlaufzeiten Rechnung getragen wird. Vielmehr können nun auch Reduktionspotenziale bezüglich der entsprechenden Energiever­ bräuche/-kosten und Emissionen gehoben werden. Der vorliegende Beitrag zeigt für die Ablaufplanung, dass die Zusammenführung von klassischen Zielen und Ener­ gie-/Emissionszielen in ein neues Dilemma mündet: Das Dilemma energieflexibler Ablaufplanung. Um die in diesem Dilemma relevanten Wechselwirkungen zwischen den jeweiligen Zielgrößen zu verdeutlichen, wird ein gemischt-ganzzahliges lineares Optimierungsproblem mit mehreren Zielen – Minimierung der Auftragszeiten, der Energiekosten und der Umweltbelastung – vorgestellt und einige Szenario-Analysen durchgeführt. Hieran schließen sich weitere Fragen an: Wie groß sind die Flexibili­ tätspotentiale in der betrieblichen Praxis? Welche Bedeutung haben die Ziele für die Gesamtplanung von Unternehmungen? Diese werden individuell für den jeweiligen Bezugsrahmen zu untersuchen sein.

Multikriterielle Produktionsplanung | 1111

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Max Juraschek, Sebastian Thiede und Christoph Herrmann

Urbane Produktion Potenziale und Herausforderungen der Produktion in Städten 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 4

Urbane Fabriken – Produktion in der Stadt | 1114 Entwicklung der Produktion in Städten | 1114 Schnittstellen zwischen Stadt und Produktion | 1117 Akteure und Interessensgruppen in der Stadt | 1119 Analyse und Bewertung urbaner Produktion | 1121 Urban Factory Ecotones als Analogie zur Analyse urbaner Produktion | 1122 Der Stadt-Fabrik-Produkt-Nexus | 1125 Neue Wege der Visualisierung und Gestaltung | 1128 Computerspiele als Technologiebasis für Simulationen | 1128 Räumliche und haptische Modelle | 1130 Zusammenfassung und Ausblick | 1132 Literatur | 1133

Zusammenfassung. Ein signifikanter Anteil der weltweiten Wertschöpfung wird in Städten erwirtschaftet. Die Produktion im urbanen Umfeld umfasst eine Vielzahl von Handlungsfeldern und erfordert die Betrachtung vielfältiger materieller und immate­ rieller Wechselwirkungen. Historisch sind Produktion und urbaner Raum eng mitein­ ander verknüpft. Die urbane Produktion und die urbane Fabrik können nur im räum­ lichen und sozialen Kontext der umgebenden Stadt und der Historie des Standortes verstanden werden, wobei sich Städte durch eine multifunktionale Nutzungsstruktur mit einer hohen räumlichen Konzentration auszeichnen. Dies stellt Herausforderun­ gen an produzierende Unternehmen, bietet aber auch großes Potenzial für synergis­ tische Nutzungsszenarien und weitere Vorteile. Die Verbindung der beteiligten Diszi­ plinen wird bisher aber meist nur in Einzelfällen gesucht, obwohl eine ganzheitliche Herangehensweise vielversprechend ist für die Integration von Fabriken als positiver Stadtbaustein. Die Verbindung von Produktion und Logistik im urbanen Kontext er­ scheint dabei als ein Schlüsselelement.

https://doi.org/10.1515/9783110473803-055

1114 | Max Juraschek, Sebastian Thiede und Christoph Herrmann

1 Urbane Fabriken – Produktion in der Stadt 1.1 Entwicklung der Produktion in Städten Heutzutage lebt bereits mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten (vgl. United Nations Department of Economic and Social Affairs, 2014). Mit einer weiter steigen­ den Urbanisierung wird dieser Anteil nach Prognosen der UN zum Jahr 2050 auf über zwei Drittel ansteigen. Produktion und Wertschöpfung sind dabei integrale Bestand­ teile von Städten. Eine Vielzahl von Studien unterstreicht das Potenzial und die Kraft des urbanen Raums für wirtschaftliches Wachstum. Dabei kommt schon heute den Städten eine gewichtige ökonomische Rolle zu. Im Jahr 2014 wurde nahezu die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung in den 300 größten Stadtgebieten beziehungswei­ se Metropolregionen erwirtschaftet, obwohl hier nur ca. ein Fünftel der Weltbevölke­ rung lebt (vgl. Parilla et al. 2015). Die Konzentration der Bevölkerung ist dabei nicht für sich allein die Ursache für das hohe ökonomische Gewicht der Städte. Auch eine aus­ geprägte soziale Dynamik und ein hoher gesellschaftlicher Innovationsgrad (vgl. Car­ lino/Chatterjee/Hunt 2007) aber auch die dazugehörigen Herausforderungen sind hier verstärkt zu finden. Heutzutage sind Fabriken in Städten zumeist mit negativen Asso­ ziationen besetzt. Urbane Produktionsstandorte können aber in allen Dimensionen zu einer nachhaltigeren Stadt beitragen. Dabei bietet der urbane Raum für Unternehmen das Potenzial symbiotischer und katalytischer Verbindungen von Stadt und Fabrik. Historisch sind der urbane Raum und die Produktion eng miteinander verknüpft. Von der Entstehung der ersten Städte bis zu den Anfängen der Industrialisierung fand die Herstellung von Gütern typischerweise nah am Kunden statt. Im Mittelalter teilten sich Werk- und Wohntätigkeiten oft dasselbe Gebäude – der Handwerksbetrieb fand in der europäischen Stadt meist ebenerdig statt und darüber schloss sich der Wohnraum an. Die hergestellten Produkte waren vor der Einführung der Massenpro­ duktion auf den bestimmten Anwendungszweck zugeschnitten und oftmals Unikate. Mit dem Beginn der Industrialisierung und der damit einhergehenden flächendecken­ den Einführung der Arbeitsteilung sowie dem Einsatz von Maschinen konnten nicht nur die Produktionsmengen erheblich gesteigert werden. Auch die Auswirkungen von Produktionsstätten auf die Umgebung nahmen deutlich zu. Diese waren zumeist ne­ gativer Natur, wie zum Beispiel Lärm- oder Geruchsemissionen. In der Folge wurden die Produktion und die anderen Funktionen der Stadt räumlich getrennt. Einen Höhe­ punkt fand dieses Paradigma in der Charta von Athen aus den 30er Jahren des 20. Jahr­ hunderts, in der die Trennung der städtischen Funktionen Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr im Mittelpunkt stand. Das dabei geforderte Leitbild der gegliederten Stadt war maßgeblich mitbestimmend für die Stadtentwicklung und den Wiederaufbau in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. In diesem Umfeld finden sich heute viele produ­ zierende Unternehmen in deutschen Städten wieder (vgl. Reicher 2014). Die urbane Produktion und die urbane Fabrik können nur im räumlichen und sozialen Kontext

Urbane Produktion | 1115

der umgebenden Stadt und der Historie des Standortes verstanden werden. Der urba­ ne Raum im Sinne der urbanen Produktion ist dabei gekennzeichnet durch eine mul­ tifunktionale Nutzungsstruktur mit einer räumlichen Konzentration. Aufbauend auf Juraschek et al. (2016) sind urbane Fabriken in einem multifunktionalen Siedlungs­ gebiet verortet, das komplementäre Nutzungen für die Produktion in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander ermöglicht. Eine urbane Produktion ist daher in die räumlichen und funktionalen Strukturebenen einer Stadt eingebettet und mit diesen materiell und immateriell verbunden. Ausgehend vom Fabrikgebäude beziehungswei­ se dem Werksgelände als kleinste räumliche Ebene besteht eine enge Verflechtung mit dem umgebenden Quartier. An dieser Schnittstelle wirken materielle Austauschbezie­ hungen meist unmittelbar, wie zum Beispiel Schallemissionen aus der Fabrik auf die Nachbarschaft. Das Quartier selbst ist wiederum ein Element eines Stadtteils, in dem mehrere Quartierseinheiten zusammengefasst sind. Aus der Gesamtheit der Stadtteile setzt sich die eigentliche Stadt als räumliche und organisatorische Einheit zusammen. Dabei ist die Stadt eingebettet in eine Region, mit der eine Vielzahl unterschiedlicher Wechselbeziehungen bestehen. Für das Verständnis der Eigenschaften und Wirkun­ gen der urbanen Produktion ist es von hoher Bedeutung, die Verbindung und Zusam­ mensetzung der Strukturebenen des urbanen Raums zu verinnerlichen, da eine Kon­ fliktsituation mit der Nachbarschaft im Quartier seine Ursache in einer räumlich hö­ herliegenden Austauschbeziehung, zum Beispiel zwischen Stadt und Region, haben kann. Die räumlichen Ebenen ergeben zusammen eine Struktur, die durch verschiede­ ne Strukturmodelle beschrieben werden kann. An dieser Stelle sei nur kurz erwähnt, dass in der Regel Mischformen aus den grundlegenden konzentrischen, linearen und flächenhaften Stadtstrukturen auftreten und dass eine positive räumliche Einbindung einer urbanen Produktion unter Beachtung der vorherrschenden Stadtstruktur erfol­ gen sollte. Nach Reicher (2014) beeinflussen die Anordnung der urbanen Funktions­ elemente wesentlich die Funktionsabläufe einer Stadt. Zu den wichtigsten Funktions­ elementen zählen das Verkehrsnetz, die Einrichtungen der Versorgung wie Handels-, Bildungs-, Sozial- und Kultureinrichtungen, Bereiche als Freiraum und zur Erholung sowie Gewerbe und Industrie. Letztere tragen nicht nur zur Wertschöpfung und damit zur Bereitstellung von Arbeitsplätzen in einer Stadt bei, sondern sind auch ein starker Treiber von technologischer und gesellschaftlicher Innovation. Eine Stadt kann durch die Zahl dieser Funktionselemente und der Anordnung dieser charakterisiert werden. Dabei sind diese Funktionselemente Teil des Nutzungsgefüges einer Stadt. Unter Nutzung wird im städtebaulichen Kontext die Verwendung und Verwertung der zur Verfügung stehenden Flächen beziehungsweise des Raumes verstanden. Eine erste Unterscheidung kann getroffen werden in besiedelte Flächen, Verkehrsflächen, land­ wirtschaftliche Flächen und Waldflächen sowie Wasserflächen. Von besonderer Be­ deutung ist der besiedelte Raum einer Stadt, der seinen Nutzungsarten entsprechend in Raum zum Beispiel für Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Erholung oder Bildung un­ terschieden wird. In jedem urbanen Gefüge ist die Identifikation der Stadtbewohner mit ihrem Quartier, der Stadt und der Region von Bedeutung. Produktionsstandor­

1116 | Max Juraschek, Sebastian Thiede und Christoph Herrmann

Stadt

Urbane Produktion Logistik Herstellung der Produkte

Fabrik

Produkt Resultat der Produktion

Abb. 1: Elemente und Austauschebenen der urbanen Produktion.

te können dabei identitätsstiftend wirken und als Identitätsträger ein positives Bild gewinnen. Dieses positive Bild ist wiederum vorteilhaft in der Auseinandersetzung mit betroffenen Interessensgruppen, die im operativen Betrieb und der strategischen Planung eines Unternehmens im urbanen Raum einhergehen. Die urbane Produktion und ihre Elemente Stadt, Fabrik und Produkte stehen dabei in einem Spannungsfeld und sind vielfältig miteinander verbunden (vgl. Abbildung 1). Die Stadt bietet der Fabrik die Infrastruktur, in der die Wertschöpfung stattfinden kann. Die in der Fabrik hergestellten Produkte sind gleichzeitig auch der Daseinszweck der urbanen Produk­ tionsstätte. Dabei decken die Produkte den Konsumbedarf im urbanen Raum, der als Anwendungsraum für die Produkte dient. Aus der Fabriksicht lassen sich heute zwei generelle Typen der urbanen Produkti­ on ableiten: Die bewusst geplante urbane Fabrik, die die Potenziale der umgebenden Stadt für den eigenen operativen Erfolg nutzt, sowie die ungeplante urbane Fabrik, die ursprünglich außerhalb der Stadt errichtet wurde und die durch deren Wachstum nun in unmittelbarer Nachbarschaft zur Wohnnutzung oder anderen Funktionen der Stadt steht. Beide Typen stehen ähnlichen Herausforderungen gegenüber, unterscheiden sich aber in der Motivation und Zielstellung der Austauschbeziehung mit dem urba­ nen Raum. Insgesamt ist die urbane Produktion in der Regel mit einem höheren Auf­ wand und dementsprechend höheren Kosten verbunden. Mit dem technologischen Wandel und der fortschreitenden Digitalisierung und Weiterentwicklung der Produk­ tionstechnik können die negativen Auswirkungen einer Fabrik auf ihre urbane Um­ gebung gemindert oder sogar in positive Austauschbeziehungen gewandelt werden (vgl. Herrmann et al. 2015). Dabei entstehen auch neue Möglichkeiten für Unterneh­ men, die durch den Einsatz neuer Maschinen und Prozessen ihre Produktion wieder kompatibel mit dem urbanen Raum gestalten. So können neue Technologien diesen Unternehmen die Nutzung der vielfältigen Potenziale eines städtischen Standorts er­ möglichen.

Urbane Produktion

| 1117

1.2 Schnittstellen zwischen Stadt und Produktion Eine urbane Produktionsstätte interagiert mit der umgebenen Stadt durch materielle und immaterielle Austauschbeziehungen. Viele wirkungsentscheidende Eigenschaf­ ten einer urbanen Produktion werden bereits durch die verwendeten Produktions­ prozesse mitbestimmt. Dazu zählen insbesondere der Flächen- und Raumbedarf, das Emissionsverhalten und die Material- und Energieeffizienz auf Maschinenebene. Da­ bei ist das Produkt der Zweck und gleichzeitig die treibende Kraft hinter der Aktivität einer Fabrik. Für die Schnittstellenbetrachtung ergeben sich für die urbane Produkti­ on basierend auf der Ausgangssituation in der Regel zwei Zielstellungen. Zum einen die Minimierung der negativen Einflüsse durch die Fabrik auf ihre urbane Umgebung. Zum anderen können die Schnittstellen zwischen Stadt und Fabrik aber auch posi­ tiv für die urbane Produktion genutzt werden. Dabei sind insbesondere die gesetzli­ chen Rahmenbedingungen zu beachten. Die materiellen Ströme können Materialien und Rohstoffe, Energie, Wasser, Luft, Produkte und Nebenprodukte sowie Abfälle um­ fassen, wobei die immateriellen Ströme auf einer hohen Aggregationsebene betrach­ tet aus Wissen, Innovation und sozialen Elementen bestehen. Die Beschaffenheit der räumlichen und funktionalen Schnittstellen, durch die diese Austauschbeziehungen stattfinden, sowie deren Verortung in den Ebenen der Stadt sind dabei von besonde­ rer Bedeutung. In der Systembetrachtung für die urbane Produktion, dargestellt in Abbildung 2, ist eine Übersicht der wichtigsten Beziehung zwischen Stadt und Fabrik zusammengefasst. Die Bewegung der materiellen Flüsse wird zu einem großen Anteil durch die Transportlogistik erreicht. Der Personenverkehr, zum Beispiel von Mitarbeitern, ist in dieser Betrachtung zunächst nicht enthalten, kann aber auch einen signifikanten Einfluss auf die Einbindung einer urbanen Fabrik ausüben. Dabei bestimmen einige

Abb. 2: Austauschbeziehungen in der Systembetrachtung urbane Produktion (vgl. Juraschek et al., 2016).

1118 | Max Juraschek, Sebastian Thiede und Christoph Herrmann

Einflussfaktoren an der Schnittstelle von Produktion und Logistik Dimensionen

Physikal. & chem. Eigenschaften

Kapazität & Ausstoß

Material Produkt

Gewicht

Rechtliche Rahmenbedingungen

Form

Verfügbare Verkehrsmittel

Produktionsplanung Abfallerzeugung

Leistungsfähigkeit

Lagerstrategie

Produktionssystem Anbindung

Abb. 3: Haupteinflussfaktoren der operativen Austauschbeziehung urbaner Produktion an der Schnittstelle von Produktion und (Transport-)Logistik.

Haupteinflussfaktoren die Eigenschaften der Schnittstelle von Produktion und Lo­ gistik, wie in Abbildung 3 dargestellt. Die Dimensionen, also die Abmessungen der hergestellten Produkte beeinflussen maßgeblich den logistischen Aufwand zusam­ men mit dem Gewicht und der Form der Produkte. Durch die verwendeten Materialien und deren physikalischen und chemischen Eigenschaften ergeben sich die nutzbaren Transportmittel und geeigneten Transportbehältnisse. Bei flüssigen Stoffen liegen zum Beispiel andere Voraussetzungen an die Logistik vor als bei Schüttgut. Auch können rechtliche Rahmenbedingungen, zum Beispiel bei potenziellen Gefahrstof­ fen, den Transport und die Schnittstelle zwischen Produktion und Logistik mit be­ einflussen. Das Produktionssystem ist der Taktgeber für die durch die urbane Fabrik nachgefragte Transportlogistik. Maßgeblich durch die Produktionsplanung sowie die Produktionskapazität und den tatsächlichen Produktausstoß ergibt sich die notwen­ dige Transportleistung für Rohstoffe, Zwischen- und Endprodukte. Die eingesetzten Maschinen und Prozesse sowie die Gestaltung des Produktionssystems entscheiden durch ihre Effizienz über den Materialbedarf der Produktion für eine Produktmenge und über die Höhe der erzeugten Produktionsabfälle. Weiterhin spielt auch die Fer­ tigungstechnik der urbanen Fabrik und ihre Einbindung in die Wertschöpfungskette eine Rolle. Einen offensichtlichen Einfluss auf die Anforderungen der Schnittstelle zur Logistik sowohl in der räumlichen als auch in der zeitlichen Dimension übt die Strategie der Lagerhaltung aus. Mit geeigneten Lagerstrategien können Produktion und Logistik zeitlich entkoppelt und so Bündelungseffekte nutzbar gemacht werden. Ergänzt werden die Rahmenbedingungen der Gestaltung der Schnittstelle zwischen Produktion und Logistik durch die räumlichen Gegebenheiten auf dem Werksgelände. Diesen Einflussfaktoren von der Fabrikseite stehen die räumlichen und funktionalen

Urbane Produktion |

1119

Ebenen der umgebenen Stadt gegenüber. Dazu zählen neben der verfügbaren In­ frastruktur und Verkehrsmodi auch die Flächennutzung in der urbanen Umgebung und verwaltungstechnische Rahmenbedingungen, wie vorgegebene Zeitfenster für Lieferverkehre.

1.3 Akteure und Interessensgruppen in der Stadt Im Umfeld der urbanen Produktion sind eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure und Akteursgruppen zu finden. Auf Grund der hohen Dichte des urbanen Raums betref­ fen die Wirkungen eines urbanen Produktionsstandortes weitaus mehr Personen und Stakeholder, als dies im weniger besiedelten ländlichen Raum der Fall ist (vgl. Verein Deutscher Ingenieure e. V. 2015). Die Akteure können nach verschiedenen Kriterien gruppiert und verortet werden. Jede Akteursgruppe verfolgt ihr eigene Ziele und ist unterschiedlich motiviert. Dabei ist zu beachten, dass einzelne Stadtbewohner durch­ aus mehreren und verschiedenen Akteursgruppen angehören können. Die primären Interessen können wirtschaftlicher Art sein, wie die Erwirtschaftung eines Gewinns bei Unternehmen oder der Erhalt von Abgaben und Steuern im Fall von Städten, oder fokussiert auf soziale Zielvorstellungen bis hin zur Verfolgung eines gesellschaftlichen Optimums des Gemeinwohls. Je nach Anwendungsfall können die Ordnungskriterien räumlicher Natur sein, den Involvierungsgrad beschreiben oder die Möglichkeiten der Einflussnahme darstellen. Dabei können die Kriterien auch gemeinsam als Mischform auftreten. Die räumlichen Ebenen gehen aus von der Fabrik und dem Werksgelände, das als zentrale erste Ebene gilt (vgl. Abbildung 4). Daran schließt sich die zweite Ebe­ ne an, die die unmittelbare Nachbarschaft umfasst. Alle weiteren Akteure, die nur ei­

Stadt Wertschöpfung und Arbeit für die Bewohner

Stadtplanung Ebene

Verwaltung Ebene Einwohner

Anwohner

Fabrikbetreiber Sichern / Verbessern der Produktionsabläufe Neue Geschäftmodelle

PV

PV

PV

Ebene Fabrikbetreiber

1

3

2

Technologiebereitsteller Bereitstellung von Lösungen für die Produktion in urbanen Fabriken

Technologiebereitsteller

Logistik

Abb. 4: Hauptakteursgruppen und Akteursebenen der urbanen Produktion aus Fabriksicht.

1120 | Max Juraschek, Sebastian Thiede und Christoph Herrmann

ne mittelbare räumliche Beziehung zur urbanen Fabrik besitzen, sind in der dritten Ebene verortet. Im Kontext der urbanen Produktion sind in der Regel die folgenden Akteursgruppen zu beachten, aufgelistet nach der räumlichen Ebene ausgehend von der urbanen Fabrik: – Das Unternehmen beziehungsweise die Betreiber der urbanen Fabrik – Die Mitarbeiter der urbanen Fabrik – Technologiebereitsteller für die Produktion wie Maschinenhersteller oder Herstel­ ler für die technische Gebäudeausrüstung – Logistikanbieter und Dienstleister, die die materiellen Austauschbeziehungen realisieren – Anwohner im Quartier in unmittelbarer Nachbarschaft – Wohn- und Gewerbeeigentümer im Quartier in unmittelbarer Nachbarschaft – Das lokale Wertschöpfungsnetz, das räumlich und wirtschaftlich verbundene Un­ ternehmen enthält – Externe Dienstleister und Zulieferbetriebe – Einwohner des Stadtteils und der Stadt in mittelbarer Nachbarschaft – Wohn- und Gewerbeeigentümer des Stadtteils und der Stadt in mittelbarer Nach­ barschaft – Lokale Vereine, politische Parteien, Interessensgemeinschaften und Zusammen­ schlüsse der Zivilgesellschaft – Soziale Einrichtungen und Verbände – Einrichtungen und Träger von Bildungsaufgaben und Weiterbildungsangeboten – Die ausführenden Stellen der Stadtverwaltung, durch die die urbane Produktion überwacht wird – Die Wirtschaftsförderung als Vertretung der wirtschaftlichen Interessen der Stadt – Die Behörden der mittel- und langfristigen Stadtplanung und städtebaulichen Entwicklung – Regionale und überregionale Verwaltungseinheiten, Politikakteure und Interes­ sensverbände Eine Analyse der Akteure erfolgt nach der Haltung beziehungsweise Einstellung ge­ genüber der konkreten urbanen Produktionsstätte und den Möglichkeiten der Ein­ flussnahme auf die das Unternehmen betreffenden Rahmenbedingungen, Prozesse und Planungen. Dies erlaubt eine Einteilung in Gruppen und die Ableitungen ziel­ gerichteter Strategien. Akteure, die einen hohen Einfluss ausüben können und eine ablehnende Haltung zeigen, sollten in alle Prozesse involviert werden. Interessens­ gruppen, die ebenfalls der konkreten urbanen Fabrik ablehnend gegenüberstehen, aber wenig Einfluss auf andere Akteursgruppen ausüben können, sollten informiert werden. Der urbanen Produktion positiv geneigten Akteure, die keine oder nur gerin­ gen Einflussmöglichkeiten besitzen, sollten aktiviert werden und zu einer größeren Einflussnahme motiviert werden. Die Stakeholder mit einer zustimmenden Haltung

Urbane Produktion | 1121

und einer bereits hohen Einflussnahme, sollten im Sinne der urbanen Fabrik einge­ setzt werden. Beteiligungsverfahren und Partizipation an urbanen Transformationsprozessen sind Schlüsselelemente erfolgreicher Standortsicherung urbaner Fabriken sowie für Wandlung und Erweiterung einer urbanen Fabrik. Als Maxime soll hier die präven­ tive Informations- und Beteiligungspolitik gelten. Kommunikation mit den betroffe­ nen Akteuren im Kontext urbaner Produktion erst als Schadensbehebung im Kon­ fliktfall anzuwenden, führt meist zu einem Imageverlust und höheren Aufwendungen sowohl für die Beteiligungs- und Kommunikationsprozesse an sich, als auch durch ge­ gebenenfalls höhere rechtliche Auflagen, die durch die eingetretene Konfliktsituation verhängt werden können. Richtig angewendet kann ein präventiver Kommunikationsund Partizipationsprozess auch die Möglichkeiten des Crowd-Sourcing nutzbar ma­ chen. Der Einsatz der sogenannten Schwarmintelligenz der zu beteiligenden Akteu­ ren, die ihr Wissen und ihre Erfahrung einbringen können, kann für das Unternehmen nutzbare Ergebnisse erbringen. Dabei gilt es aber auch zu beachten, dass ein zu hohes Maß an Beteiligung, eine falsche Zielstellung oder die Einbindung nicht konstruktiver Akteure auch einen nachteiligen Effekt haben kann. Sollte es zu einem Konfliktfall kommen, ist die Einbindung Dritter als Vermittler der Kommunikationsprozesse oft­ mals sinnvoll. Spezialisierte Kommunikations- oder Planungsbüros können dabei als neutrale Parteien auftreten.

2 Analyse und Bewertung urbaner Produktion Die Verbindungen und gegenseitigen Einflüsse von Fabriken und Städten im Kontext der urbanen Produktion sind vielfältig und komplex. Um eine urbane Fabrik entsteht ein Geflecht aus Beziehungen auf unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Wir­ kungsebenen in den ökonomischen, ökologischen und sozialen Dimensionen. Viele Methoden für die Gestaltung und den Betrieb von Produktionsstätten fokussieren auf ein oder wenigen klar umrissenen Teilproblemen der Fabrikplanung. Im städtischen Raum besteht die Herausforderung, dass diese Methoden für eine urbane Produktion oftmals nicht direkt eingesetzt werden können. Limitierende Faktoren sind zumeist die vielzähligen Wechselbeziehungen und die aus der urbanen Dichte resultierende Nutzungsvielfalt. Besonders für die Analyse und Bewertung urbaner Produktion auf der Systemebene sind neue Methoden und Konzepte notwendig, die die Eigenschaf­ ten des urbanen Ökosystems und die Vielzahl der beteiligten Akteure beachten. Im Folgenden werden zwei dieser neuen Konzepte vorgestellt, die sich der urbanen Pro­ duktion einmal aus der Sicht der Ökosysteme und einmal aus der Produktperspektive nähern.

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2.1 Urban Factory Ecotones als Analogie zur Analyse urbaner Produktion Eine Stadt kann als ein eigenständiges Ökosystem beschrieben und in Analogie zu den natürlichen Ökosystemen analysiert werden. In der Natur sind Ökosysteme eine räum­ lich eingegrenzte Gemeinschaft unterschiedlicher Organismen, die in Verbindung mit ihrer abiotischen Umgebung in einem stabilen Systemzustand zusammenleben. Dabei werden unterschiedliche Aufgaben zur Unterhaltung dieses Systems durch speziali­ sierte Arten ausgeführt. In der Übergangszone zwischen den Artengemeinschaften be­ nachbarter Ökosysteme findet eine Durchmischung statt. Diese Übergangszonen wer­ den als Ökotone oder englisch Ecotones bezeichnet. Hier entsteht ein Spannungsfeld mit einer Durchmischung der Arten der angrenzenden Ökosysteme. Diese Durchmi­ schung ist von unterschiedlichen Parametern abhängig, wobei die räumlichen Eigen­ schaften und die Durchlässigkeit der Übergangszone den größten Einfluss besitzen. Das Spannungsfeld weist in der Natur bei hoher Durchmischung eine größere Diver­ sität verschiedener Arten und eine höhere Aktivität, biologische Produktion und gene­ tische Innovation auf als die angrenzenden Ökosysteme. Die Produktivität bezeichnet die Primärproduktion von Biomasse und gilt als eine wichtige Leistungskennzahl in der Ökologie. Weiterhin können unter den speziellen Bedingungen des Ökotons Arten existieren, die nur hier vorkommen können. Die Vielfältigkeit der Beziehungen zwi­ schen Ökosystemen und ihr Zusammenhang mit der räumlichen Beschaffenheit der Übergangszone ähneln denen, die zwischen einer urbanen Fabrik und der umgebe­ nen Stadt zu finden sind. Mit einer Betrachtung der Interaktionen zwischen Fabrik und Stadt über die Werksgrenze in Analogie zu natürlichen Ökosystemen kann die Basis für die posi­ tive Einbindung von Produktion in eine Stadt und die systematische Erschließung der Potenziale urbaner Produktion erreicht werden (vgl. Juraschek et al., 2016). Dies basiert auf einem verbesserten Verständnis der Wechselbeziehungen zwischen einer oder mehreren Fabriken und dem umgebenden urbanen Raum. Ähnlich wie die bio­ logische Produktivität ein Ökosystem beschreibt, ist diese im Fall eines Produktions­ systems ebenfalls zu beobachten und verbunden mit der Herstellung von Produkten unter der Nutzung biotischer und abiotischer Ressourcen. Nach ihrer Gestalt können Ökotone empirisch in wiederkehrende Erscheinungsformen unterteilt werden, die aber immer bedingt durch die Umgebungsbedingungen der benachbarten Ökosyste­ me ausgeprägt sein können. Die Identifikation der Ökotone wird häufig von der Ana­ lyse von Ökosystemen und ihrer Grenzen abgeleitet. Dabei können unterschiedliche Methoden eingesetzt werden, die sich insbesondere im zeitlichen und finanziellen Aufwand sowie der Exaktheit unterscheiden und gegebenenfalls vom spezifischen Anwendungsfall vorbestimmt sind. Ebenso vielfältig wie die Erscheinungsformen von Ökosystemen können Ökotone als deren Übergangszone eine Vielzahl von Ge­ stalten annehmen. Diese reichen von klar definierten, scharfen Grenzen wie zum Beispiel Klippen, die aus dem Meer herausragen, bis hin zu fließenden, unscharfen

Urbane Produktion

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Beispiele

Herausforderungen

Potenziale

Eigenschaften

Fabrik

Ökoton

Urbane

Übergangszonen, wie zum Beispiel ein Waldrand, an dem sich der Baumbestand im Übergang zu einer Wiese sukzessive ausdünnt. Eine Übersicht einiger beobachteter Erscheinungsformen von natürlichen Ökotonen ist in der Abbildung 5 dargestellt. Die Beschreibungsmethodik der Ökotone wurde bereits in verschiedenen Konzepten in andere Anwendungsfelder übertragen, wie zum Beispiel im Marketing (vgl. Pren­ dergast/Berthon, 2000) oder zur Beschreibung von Produkt-Service-Systemen (vgl. Herrmann et al. 2011). Nach Prendergast und Berthon (2000) gibt es vier Haupteigenschaften von Öko­ tonen, die beobachtet und zur Definition herangezogen werden können. Die Über­

  Sehr geringe Interaktion zwischen Fabrik und Stadt  Isolierte Produktion,  aber mit Umgebungsauswirkungen  Fabrik als Hindernis im urbanen Raum

Vornehmlich Einfluss der Stadt auf die Fabrik Nachfrage von Produkten und Dienstleistungen ausgehend vom urbanen Gebiet

 Vornehmlich Einfluss  der Fabrik auf die Stadt  Produktion für die urbane Bevölkerung   Personalisierte  Konsumprodukte  Dienstleistungen durch die Fabrik für die Stadt

Hoher Austausch /Kollaboration zwischen Stadt und Fabrik Formalisierte Kommunikation Urbane ProduktService-Systeme und (PSS) FabrikService-Systeme (FSS)

 Geteilte Räume /Funktionen  Hohe Vielfalt  Symbiotischer Austausch  Durchmischung von Stadt- und Geschäftsleben  Informelle Kommunikation und Netzwerke

Gezielte Kollaboration für definierte Ziele Hohe Innovationskraft

 Bessere Kundenbeziehung  Neue PSS & FSS  Hohe Innovationskraft  Positiver sozialer Einfluss  Urbane industrielle Symbiose

 Höhere Nutzung der Infrastruktur  Sichere, isolierte Produktion  Emissionsvermeidung für den urbanen Raum

 Kurze Entwicklungs-  zeiten und Innovationszyklen   PSS  Kurze Wege  Attraktiver Arbeitsstandort 

 Niedrige urbane Innovationskraft  Überlastung der Infrastruktur  Hohes Konfliktpotenzial zwischen Fabrik und Stadt  Geringes PSS/FSS Potential

 Ökonomische Entwicklung der Fabrik kann durch die Umgebung behindert werden

 Verwaltungskosten  Bedarf der  Akzeptanz gegenseitigen und Verzögerungen  Stadtentwicklung Beachtung  Bedarf der kann durch die  System anfällig für gegenseitigen Fabrik behindert äußere Störungen Beachtung werden  Potenzielle Konflikte  System anfällig für äußere Störungen zu Emissionen

 Produkte für die industrielle Anwendung (B2B)  Zulieferbetriebe

 Personalisierte Produkte für die Stadtbevölkerung  Kleidung, Schuhe, Brillengestelle

 Konsumprodukte für  die Stadtbevölkerung   Lebensmittel, Verbrauchsgüter 

Nutzung der urbanen  Infrastruktur Nachhaltige Produktion  personalisierter Produkte PSS

Fabrikverkäufe und  FabLabs und Events Makerspaces Nutzung städtischer  Öffentlich zugängige Infrastruktur Betriebseinrichtungen Innerstädtische  Offene Lernfabriken Businessparks

Abb. 5: Beispiele für Urban Factory Ecotones mit Beschreibung der Eigenschaften, Potenzialen und Herausforderungen (vgl. Juraschek et al., 2016).

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tragung auf urbane Produktion zeigt, dass hier eine ähnliche Unterschiedlichkeit der Gestalt und in der Diversität der Funktionen dieser Schnittstellen eine ähnliche Kom­ plexität gefunden werden kann. Die messbaren Parameter biologischer Ökotone sind neben der Produktivität die Vielfältigkeit der Arten und die Anzahl der Individuen in der Übergangszone. Korrespondierend dazu sind die beobachtbaren Indikatoren von „Urban Factory Ecotones“ Aktivität und Lebendigkeit. Aktivität beschreibt zusam­ menfassend alle Handlungen, die zu Wertschöpfung führen oder diese unterstützen. Dies umfasst sowohl Produktionsprozesse als auch Forschungs- und Entwicklungs­ arbeiten. Die Intensität der unterschiedlichen urbanen Nutzungen wird durch die Le­ bendigkeit beschrieben. Die Lebendigkeit wird am stärksten durch die hohe Bevölke­ rungsdichte in Städten und die hohe Durchmischung des urbanen Raums in Bezug auf die Nutzungsformen beeinflusst. Für die Urban Factory Ecotones ergeben sich analog zu den in der Natur vorkommenden Ökotonen vier Haupteigenschhaften (vgl. Jura­ schek et al., 2016): – Urban Factory Ecotones sind eine Zone der Interaktion zwischen dem benachbar­ ten urbanen System und dem Fabriksystem mit Mechanismen, die in den beiden Einzelsystemen vorkommen. Die Interaktion wird von außen aus der Stadt und der Fabrik bestimmt. – Urban Factory Ecotones sind eine in das urbane System und in das Fabriksystem hineinreichende Übergangszone. Diese Grenze hat eine oder mehrere beobacht­ bare Variablen. – Urban Factory Ecotones zeigen in der Regel eine höhere Interaktion und Innova­ tion auf, da sie Aktivitäten beider benachbarter Systeme und dem Ecotone eigene unterhalten können. – Urban Factory Ecotones sind externen Kräften ausgesetzt und von diesen beein­ flusst, sodass sich die Gestalt der Ecotones mit der Zeit verändert. Analog zu den Ökotonen in der Ökologie sind auch die Übergangszonen zwischen Stadt und Fabrik in ihrer Gestalt maßgeblich durch die Stoff-, Energie- und Informa­ tionsflüsse über die Systemgrenzen hinweg definiert. Ist die Übergangszone oder der Grenzbereich der beiden Systeme Stadt und Fabrik räumlich und funktional undurch­ lässig, so ist die Interaktion von Aktivität und Lebendigkeit beider Seiten sehr gering ausgeprägt oder nicht vorhanden. Hier ist keine auf Durchmischung basierende Inno­ vation zu finden. Dabei können aber Auswirkungen das benachbarte System beein­ flussen, die im Fall eines scharfen Grenzbereichs ohne Durchmischung oftmals ne­ gativer Art sind. Beispiel sind hier Lärmemissionen einer Fabrik in das angrenzende Stadtquartier oder die räumliche Beschränkung der Fabrik durch das Stadtquartier. Demgegenüber stehen Übergangszonen, die in räumlicher und funktionaler Di­ mension zwischen Fabrik und Stadt geteilt sind. Mit der Durchmischung der Elemen­ te beider Systeme im Grenzbereich kann hier eine hohe Interaktion resultieren, aus der durch die Vielfältigkeit der Aktivitäten Innovationen für beide angrenzenden Sys­ teme entstehen können. In einem Urban Factory Ecotone werden durch die Vielfäl­

Urbane Produktion

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tigkeit und Durchmischung neue Geschäftsmodelle für das Unternehmen ermöglicht und es können indirekt Innovationen sowie Forschungs- und Entwicklungsarbeiten unterstützt werden. Mit einer offenen Übergangszone kann die Attraktivität des um­ gebenden Stadtquartiers gesteigert werden und es entstehen neue Implementierungs­ möglichkeiten für Produkt-Service-Systeme (PSS) bis hin zu Fabrik-Service-Systemen (FSS). Beispielhaft kann eine Fabrik ein Ort werden, an dem die Stadtbewohner Ein­ richtungen und Anlagen für ihren eigenen Produktbedarf nutzen können oder inno­ vative Projekte verwirklichen können. Die Übertragung der beschreibenden Methode der Analyse von Ökotonen aus der Ökologie auf urbane Fabriken führt zu zwei aufeinanderfolgenden Hypothesen. Die erste besagt, dass in einer räumlich durchlässigen Übergangszone Interaktion zwi­ schen Stadt und Fabrik besteht. Darauf aufbauend ist die zweite Hypothese, dass die­ se Interaktion Innovation durch die entstehende Diversität und Dynamik unterstützt. Die beiden benachbarten Systeme Stadt und Fabrik stehen in einem grenzüberschrei­ tenden Austausch von Energie, Ressourcen, Menschen und Informationen. Als ge­ meinsame Art kommt in beiden Systemen der Mensch natürlicherweise vor. Basierend auf ökologischen Ökotonen und ihren Erscheinungsformen wurden in Juraschek et al. (2016) fünf beispielhafte Urban Factory Ecotones zur näheren Beschreibung identifi­ ziert. Diese sind in Abbildung 5 mit einer Beschreibung der Eigenschaften, Potenziale und Herausforderungen dargestellt.

2.2 Der Stadt-Fabrik-Produkt-Nexus Die Wirkungen einer urbanen Produktionsstätte auf die umgebende Stadt lassen sich in der Regel nur in einer gemeinsamen Betrachtung aus Stadt, Fabrik und Produkt be­ schreiben. Diese drei Teilsysteme sind maßgeblich verantwortlich für die Gestaltung einer urbanen Produktion und werden daher im Folgenden als „Stadt-Fabrik-Produkt Nexus“ bezeichnet. Das Wort Nexus (lateinisch für Gefüge oder Nabe) beschreibt die untrennbare Verbindung von Stadt, Fabrik und Produkt, da eine signifikante Ände­ rung eines dieser Elemente sich immer auf die anderen beiden auswirken wird. Mit dieser ganzheitlichen Betrachtungsmethode können die Fragestellungen, welche Pro­ dukte mit ihrer Produktion in die Stadt passen und welche Auswirkungen durch ur­ bane Produktionsstätten entstehen können, untersucht werden. Entscheidend für die Verträglichkeit einer urbanen Produktion sind die Wirkungen dieser auf das urbane System. Diese Auswirkungen können ökologischer, sozialer oder ökonomischer Natur sein. Die relevantesten dieser Auswirkungen sind in Abbildung 6 dargestellt. Alle Wir­ kungen sind mit den bei der Nutzung oder Herstellung von Produkten entstehenden Emissionen, Abfällen, Nebenprodukten, Rohstoffen oder Energieträgern und Medien verbunden. Entscheidend für die positiven oder negativen Wirkungen urbaner Pro­ duktion sind die beschreibenden Eigenschaften im Stadt-Fabrik-Produkt-Nexus.

Materialfluss

Sicherheit / Gesetze

Dimension

Gewicht

Form

Ökologisch

Lärm

Flächenbedarf

Humantoxizität

Versauerung Emissionen

Umwelttoxizität Aus- und Weiterbildung Wissensgenerierung

Qualitätswahrnehmung Image

Arbeitsqualität

Sozial Gesellschaft

Rohstoffe

Produkt Output

Material Input

Produktionsprozesse

Logistik Kundenvorteile & Personalisierung

Produktverfügbarkeit

Arbeitskosten

Ökonomisch

Infrastruktur

Bodenpreise

Energie & Medien

Produktionsprozesse

Wertschöpfung

Erlös

Markt

Verwertung

Recycling

Technische Qualitätsanforderungen Gebäudeausrüstung

Produktionsabfälle

Technologielevel

End of Life Wiedernutzung

Fabrikgebäude

Produktionssystem Maschinen

Abb. 6: Die beschreibenden Eigenschaften des Stadt-Fabrik-Produkt-Nexus und die damit zusammenhängenden Wirkungen auf das urbane System.

Strahlung

Personalisierung

Wartung

Nebenprodukte

Funktionale Komplexität

Design

Abfälle

Bedarf in Nutzung

Funktion Lebensdauer

Emissionen

Ressourcen- Photochemische bedarf Oxidantienbildung

Abfall

Ökosystemwirkungen

Wirkungen auf das urbane System

Produkte

Material

Physikalische und chem. Eigenschaften

Geometrie

Beschreibende Eigenschaften des Stadt-Fabrik-Produkt Nexus

1126 | Max Juraschek, Sebastian Thiede und Christoph Herrmann

Urbane Produktion

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Ausgehend von der Produktperspektive sind die ersten den Stadt-Fabrik-ProduktNexus beschreibenden Eigenschaften die geometrischen Parameter des Produkts. Da­ zu zählen neben den physikalischen Dimensionen auch das Gewicht und die Form des Produkts. Gemeinsam bestimmen diese nicht nur die Größe des Produkts und damit die Mindestgröße der benötigten Produktionsanlagen, sondern auch den logistischen Aufwand und die Gestaltung der unterstützenden Systeme sowie der Infrastruktur und Lagerflächen. Auf gleicher Ebene sind die materialbedingten Eigenschaften ver­ ortet. Hierzu zählen die physikalischen und chemischen Eigenschaften der im Produkt und der Produktion verwendeten Materialien, die Gestaltung des Materialflusses und die damit zusammenhängenden gesetzlichen Regelungen. Viele Wirkungen auf das urbane System werden auch durch die Funktion des urban hergestellten Produkts be­ stimmt. Der Ressourcenbedarf in der Nutzungsphase zusammen mit der Lebensdauer stellt zumeist eine negative Wirkung auf das urbane System dar. Durch die Ausübung der Funktion und das Produktdesign kann aber wiederum eine positive Wirkung entstehen. Weitere vorteilhafte Wirkungen im urbanen Kontext können schnell ver­ fügbare Produkte mit einem hohen Personalisierungsgrad entfalten, die verbunden mit einem Dienstleistungsangebot die hohe Dichte von möglichen Kunden in einer Stadt nutzen. Das Produktionssystem selbst und seine Ausgestaltung hat einen hohen Ein­ fluss auf das umgebende urbane Gebiet. Ausgehend von den Produktionsprozessen und dem technologischen Stand der Maschinen zusammen mit dem Effizienzgrad im Betrieb und der technischen Gebäudeausrüstung wird der spezifische Materialund Energieaufwand für die Erzeugung der Produkte bestimmt. Die Rohmaterialien und verwendeten Halbzeuge müssen zur Fabrik durch das Stadtgebiet transportiert werden. Ebenso stellen die Produktionsabfälle, Nebenprodukte und Produkte selbst einen logistischen Bedarf an die städtische Infrastruktur. Das Fabrikgebäude ist die Hülle des Produktionssystems und schützt dieses vor Umwelteinwirkungen, wie zum Beispiel Wettereinflüsse, und ermöglicht die Einhaltung konstanter Umgebungsbe­ dingungen für die Produktion. In die andere Richtung schirmt das Fabrikgebäude auch das umgebende urbane Gebiet von den negativen Wirkungen einer Produktion ab, wie zum Beispiel Lärmemissionen. Daher ist die Beschaffenheit der Gebäudehülle einer urbanen Fabrik von hoher Bedeutung. Auch quantitativ schwer messbare Wir­ kungen, wie die architektonische Wirkung einer Fabrik, werden maßgeblich durch die Gebäudehülle und ihre Gestaltung bestimmt. Am Ende des Lebenszyklus eines Produkts kann dieses verschiedenen Verwer­ tungsszenarien zugeführt werden. Es besteht die Möglichkeit der Weiternutzung, ge­ gebenenfalls nach einer Aufbereitung, der Materialrückgewinnung durch Recycling oder die Beseitigung, zum Beispiel durch Deponierung. Durch die Wahl des Verwer­ tungsszenarios, das durch das Produktdesign bereits vorgegeben sein kann, wird auch ein signifikanter Anteil der Wirkungen eines Produkts auf das urbane System entschie­ den. Mit der Konzentration von Wohlstand und Konsum in Städten sind auch die un­ terschiedlichsten Materialien und Rohstoffe in die urbanen Räume der Welt transpor­

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tiert worden, zumeist integriert in Produkten, die das Ende ihres Lebenszyklus erreicht haben oder erreichen werden. So bietet sich eine Stadt auch als Rohstoffquelle an. Die Nutzung dieser Sekundärmaterialien wird auch als „Urban Mining“ bezeichnet und kann in der Zukunft einen Teil der benötigten Ressourcen einer Stadt mit abdecken. Die im Stadt-Fabrik-Produkt-Nexus beschriebenen Eigenschaften und Wirkungen kön­ nen gezielt genutzt werden, um Produkte zu identifizieren, die sich für die urbane Pro­ duktion besser eignen als andere. Auch können im Produktentstehungsprozess gezielt Eigenschaften definiert werden, die in einer möglichst positiven Wirkung auf das ur­ bane System resultieren.

3 Neue Wege der Visualisierung und Gestaltung In Städten finden sich viele unterschiedliche Interessensgruppen. Fast jede urbane Aktivität beeinflusst und interagiert mit mehreren Akteuren, die unterschiedliche Motive und Ziele besitzen. Auch die Vorkenntnisse und das Vokabular unterscheiden sich je nach fachlichem Hintergrund von Person zu Person. Im Kontext der urbanen Produktion sind neue Wege für die Visualisierung von Daten und Zusammenhän­ gen notwendig, um diese zu kommunizieren und mit unterschiedlichen Akteuren zu bearbeiten. Es sollte dabei eine Austauschebene gesucht werden, die eine möglichst geringe Abstraktion von den realen räumlichen Gegebenheiten verlangt. Es können verschiedenste Softwarewerkzeuge und Hardwarekonfigurationen zum Einsatz kom­ men. Die aktuellen technologischen Entwicklungen und die fortschreitende Digitali­ sierung bieten hier ein großes Potenzial, um die Kommunikationen in und zwischen den Akteursgruppen durch eine geeignete Visualisierung zu unterstützen. Ebenso können durch den gezielten Einsatz innovativer Methoden und Technologien die Pla­ nungs- und Ausführungsprozesse rund um urbane Produktionsstandorte verbessert werden.

3.1 Computerspiele als Technologiebasis für Simulationen Simulationsprogramme werden häufig eingesetzt, um Systeme zu beschreiben, die ex­ perimentell auf Grund ihrer Komplexität, der dabei entstehenden Kosten oder durch ihr Gefährdungspotenzial nicht nachgebildet werden können. Im Kontext der urba­ nen Produktion sind alle drei Kriterien erfüllt, sodass hier häufig Planungsaufgaben und Entscheidungen modellbasiert erarbeitet werden. Es existieren eine Vielzahl von meist fachbezogenen Modellierungs- und Simulationswerkzeugen, zum Beispiel für die Produktionsplanung oder zur Auslegung von Verkehrsinfrastuktur. Diese sind in der Regel auf wenige Teilsysteme wie zum Beispiel die Verkehrsplanung beschränkt, bilden dafür aber den jeweiligen Schwerpunkt sehr realitätsnah ab und erlauben

Urbane Produktion |

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meist die szenarienbasierte Untersuchung. Ein Nachteil dieser Anwendungen ist eine meist hohe Komplexität für den Anwender, die es zumeist nur Fachexperten erlaubt diese Werkzeuge zu nutzen. Außenstehende oder Experten anderer Disziplinen kön­ nen die Ergebnisse oftmals nicht vollständig interpretieren, sodass eine Aufbereitung notwendig wird und der Einsatz im interdisziplinären Kontext erschwert ist. Eine Kopplung unterschiedlichen Simulationsanwendungen bietet ebenfalls eine große Herausforderung, da in der Regel unterschiedliche räumliche und zeitliche Maßstäbe betrachtet werden. Ein Ansatz diese Herausforderung zu bewältigen, ist die Nutzung von digitalen Spielen als Technologiebasis für fachbezogene Simulationsanwendungen. Die Ent­ wicklung taktischer Spiele für die Ausbildung und Unterhaltung (auch bekannt als „Serious Games“) reicht zurück bis in die Antike. Der Grundgedanke der Gamifica­ tion besteht darin, durch die Nutzung spieletypischer Elemente die Nutzermotivati­ on zu erhöhen und damit eine erhöhte Produktivität oder Lernleistung zu erzeugen. Es existieren eine Vielzahl von sogenannten digitalen Stadtaufbauspielen, in denen die „Spielenden Städte“ mit ihren unterschiedlichen Elementen gestalten und steu­ ern können. Ein zentraler Bestandteil ist dabei die Simulation verschiedener Auswir­ kungen der Stadtbestandteile, die als Bewertungsrahmen und Zielvorgabe der Spiele gelten. Spiele der „SimCity“ Serie werden bereits seit den 1990er Jahren in Bildung und Forschung genutzt. Die Spielmechanismen der Simulationsspiele sind dabei aber meist fokussiert auf die Nutzererfahrung, nicht auf die wissenschaftliche Genauigkeit der zu Grunde liegenden Modelle. Im Sinne der Spielziele werden Modelle stark ver­ einfacht oder zeitliche und räumliche Maßstäbe geändert. Mit dem rasanten Wachs­ tum der Unterhaltungsbranche fließen jedoch heutzutage sehr große Summen in die Entwicklung neuer Spiele, sodass aktuelle digitale Stadtaufbauspiele eine relativ rea­ litätsnahe Repräsentation der urbanen Welt bieten, da diese Realitätsnähe Teil der positiven Nutzererfahrung ist. Dem Spiel „Cities: Skylines“ zum Beispiel liegen be­ reits komplexe agentenbasierte Simulationen für Verkehr und Bewohnerverhalten zu Grunde. Ein großer Vorteil der Spiele ist das sehr ansprechende und in der Regel in­ tuitive Userinterface, das auch fachfremden Nutzern die Interaktion erlaubt und das Verständnis erleichtert. Die explorative Untersuchung der technischen Eignung von spielebasierten Simu­ lationen für die Visualisierung und Kommunikation von Zusammenhängen im Kon­ text der urbanen Produktion konnte einige Herausforderungen und Potenziale dieses Ansatzes identifizieren (vgl. Juraschek/Herrmann/Thiede, 2017). Es konnten 3D-Daten von Gebäuden in die Spiel-/Simulationsumgebung implementiert werden und die­ sen Gebäuden unterschiedliche Eigenschaften zugewiesen werden, wie zum Beispiel Lärmemissionen und -radius, eine Anzahl von Arbeitsplätzen, statische Energie- und Wasserbedarfe und auch eine architektonische Wirkung auf die Umgebung. In einem experimentellen Nachbau eines Quartiers der Stadt Braunschweig hat sich das intui­ tive und ansprechende Interface des Spiels als großer Vorteil für die Visualisierung und Kommunikation von Wirkzusammenhängen der urbanen Produktion erwiesen.

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Abb. 7: Bilder aus dem Spiel „Cities: Skylines“ (von links oben im Uhrzeigersinn): Screenshot aus einem Nachbau der Stadt Braunschweig, Simulation von Lärmemissionen durch Industrie und Ver­ kehr, Simulation der Verschmutzung, Verkehrsflusssimulation (vgl. Juraschek et al., 2017).

Ein Teil der Parameter und Subsysteme einer Stadt, die bereits implementiert waren, konnten so angepasst werden, dass eine qualitative Validierung möglich war. Die re­ sultierende Simulation reagierte reproduzierbar auf Veränderungen. Als Herausfor­ derungen wurden identifiziert, dass große Modelle und Städte eine hohe Hardware­ leistung benötigen und der Detaillierungsgrad einiger Modelle und Spielmechaniken gesteigert werden sollte. Besonders die zeitlichen und räumlichen Skalen, die unter anderem die relative Größe der Gebäude zueinander bestimmen, müssen teilweise an­ gepasst werden um die bauliche Realität widerzuspiegeln. In der Studie wurden sta­ tische Werte für Emissionen, Energiebedarf etc. der einzelnen Gebäude verwendet. Mit der Erweiterung um dynamische Werte wird auch eine Abbildung und Visualisie­ rung der Auswirkungen von Schichtmodellen und schwankenden Energiebedarfen in Stadtentwicklungsszenarien in einer leicht verständlichen Umgebung möglich.

3.2 Räumliche und haptische Modelle Städte und Fabriken umfassen räumliche, dreidimensionale Körper, deren Übertra­ gung in zweidimensionale Darstellungen häufig mit einer hohen Abstraktion einher­ geht. Mit jedem Abstraktionsschritt ist Wissen erforderlich, um die Verbindung zu den

Urbane Produktion |

Haptische Simulationsmodelle

Eigenschaften • Verbindet die digitale und reale Modellwelt durch ein haptisches Interface • Ein Simulationsmodell im Hintergrund erlaubt die sofortige Darstellung der Auswirkungen planerischer Änderungen im Modell

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Mixed Reality

Eigenschaften: • Ergänzen der realen Welt mit digitalen Inhalten • Ermöglicht neuartige Visualisierung und Datentransparenz sowie Kommunikation • Ermöglicht Kollaboration und die Darstellung von Szenarien im realen Kontext

Abb. 8: Neue Möglichkeiten für Visualisierung und Kommunikation im Kontext urbane Produktion.

realen Wirkzusammenhängen und der realen Erscheinung herzustellen. Es werden daher in der Stadtplanung und Architektur maßstäbliche dreidimensionale Modelle von Gebäuden oder Stadtquartieren eingesetzt, um die räumlichen Wirkungen darzu­ stellen und zu vermitteln. Für die Darstellung anderer Wirkungen, wie zum Beispiel Lärmemissionen, werden in der Regel zweidimensionale Karten genutzt. Beiden Dar­ stellungsformen ist gemein, dass diese häufig nur eine statische Darstellung erlauben, die gezeigten Wirkungen aber oftmals von einer zeitlichen und räumlichen Dynamik geprägt sind. Auch hier können neue Technologien die Vorteile verschiedener abstra­ hierter Darstellungsformen um weitere Inhalte ergänzen. Haptische Simulationsmo­ delle verbinden die oft eingesetzten räumlichen Modelle mit einem softwarebasier­ ten Simulationsmodell. Bildverarbeitungstechnologien ermöglichen so zum Beispiel die Übertragung von Änderungen in einem haptischen Planungsmodell in eine Simu­ lationssoftware, die dann in nahezu Echtzeit die Auswirkungen dieser Änderungen berechnet, auf dem haptischen Modell visualisiert und somit direkt in den Planungs­ prozess mit einspeist. So können haptische Modelle, die häufig zur Planung oder Kom­ munikation im urbanen Raum oder auch in einer Fabrik eingesetzt werden wie zum Beispiel bei der Siemens AG (2009), um eine Vielzahl von Anwendungen erweitert wer­ den. Beispielhafte Anwendungen sind die Berechnung und Visualisierung von Ver­ kehrsströmen und Emissionen abhängig von der räumlichen Gestaltung der Logistik­ anbindung einer Fabrik oder die Planung von Materialflüssen in einer Produktion. Großes Potenzial bietet auch der gezielte Einsatz von Mixed-Reality-Anwendun­ gen. Mit Geräten wie der Microsoft HoloLens lassen sich Hologramme für den Träger der Computerbrille erzeugen, die in die reale Welt eingeblendet werden und deren Eigenschaften mitberücksichtigen können. Dies ermöglicht neuartige, räumliche Vi­ sualisierungsformen und kann die Abstraktionshürde zwischen zweidimensionalen Darstellungen oder maßstabsveränderten Modellen überwinden. Auch ist eine Kolla­

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boration an digitalen räumlichen Objekten möglich. Erste Anwendungen, die aktuell im Übergang von einem Demonstrationsstatus in einen Produktivbetrieb sind, ermög­ lichen die räumliche Visualisierung von Konstruktionen und Umbauten am realen Ob­ jekt, die Abbildung von Planungsszenarien augmentiert in eine reale Umgebung oder die gemeinsame Arbeit an einem dreidimensionalen Gebäudeentwurf gemeinsam in einem Raum oder auch über Entfernung.

4 Zusammenfassung und Ausblick Produktion in Städten ist ein sehr komplexes Feld, in dem viele materielle und immaterielle Wechselwirkungen eine Rolle spielen. Eine urbane Produktionsstätte interagiert mit der umgebenen Stadt in vielfältigen Austauschbeziehungen. Viele wirkungsentscheidende Eigenschaften einer urbanen Produktion werden durch den Aufbau und der Betriebsweise des Produktionssystems mitbestimmt. Die urbane Produktion und ihre Elemente Stadt, Fabrik und Produkte stehen dabei in einem Spannungsfeld zueinander und sind auf unterschiedlichen Ebenen miteinander ver­ bunden. Die drei Teilsysteme beeinflussen maßgeblich die Gestaltung und den Betrieb einer urbanen Produktion und bilden gemeinsam den „Stadt-Fabrik-Produkt-Nexus“. Zwischen den Teilsystemen befinden sich räumliche und funktionale Übergangzo­ nen. Diese Zonen der Interaktion werden in ihrer Gestalt von der Stadt und der Fabrik bestimmt und haben eine oder mehrere beobachtbare Variablen. Dabei zeigen sie in der Regel eine höhere Interaktion und Innovation auf und sind externen Kräften ausgesetzt und von diesen beeinflusst, sodass sich ihre Gestalt mit der Zeit verändert. Von großer Bedeutung für die strukturierte Planung und den Betrieb von urbanen Produktionssystemen ist Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessensgrup­ pen in Städten. Fast jede urbane Aktivität beeinflusst und interagiert mit mehreren Akteuren, die jeweils unterschiedliche Motive und Ziele besitzen. Neue Technologien und aktuelle Entwicklungen im Bereich Visualisierung und Visual Analytics bieten hier ein großes Potenzial für die zielgruppengerechte Darstellung im Rahmen der Planung und können die Kommunikation in und zwischen den Akteursgruppen un­ terstützen. Ebenso können durch den gezielten Einsatz innovativer Methoden die Planungs- und Ausführungsprozesse rund um urbane Produktionsstandorte verbes­ sert werden. Die Verbindung der beteiligten Disziplinen – von der Maschinen- und Prozessebene bis zur Stadt- und Raumplanung – wird bisher meist nur in Einzelfällen berücksichtigt, obwohl eine ganzheitliche Herangehensweise große Potenziale für die Integration von Fabriken als positiver Stadtbaustein bietet. Hier besteht weiterer Handlungsbedarf, um die Planung und den Betrieb urbaner Produktion durch geeig­ nete Methoden und Werkzeuge sowie angepasste Technologien zu unterstützen bezie­ hungsweise überhaupt erst zu ermöglichen. Die Elektrifizierung von Fahrzeugen und die Entwicklung des autonomen Fahrens ermöglichen zudem eine „Transportwende“ und völlig neue Formen des Zusammenspiels von urbaner Produktion und Logistik.

Urbane Produktion | 1133

Literatur Carlino, G.A.; Chatterjee, S.; Hunt, R.M.: Urban Density and the Rate of Invention, in: Journal of Ur­ ban Economics, Vol. 61 (2007), pp. 389–419. Herrmann, C. et al.: Product-Service-Systems in Manufacturing. Ecotones as a Perspective for Sustai­ nability, in: International Conference on Sustainable Manufacturing. Issues, Trends and Prac­ tices, Pilani 2011, pp. 1–8. Herrmann, C. et al.: The Positive Impact Factory. Transition from Eco-Efficiency to Eco-Effectiveness Strategies in Manufacturing, in: Procedia CIRP, Vol. 29 (2015), pp. 19–27. Juraschek, M.; Herrmann, C.; Thiede, S.: Utilizing Gaming Technology for Simulation of Urban Pro­ duction, in: Procedia CIRP, Vol. 61 (2017), pp. 469–474. Juraschek, M. et al.: Urban Factories. Ecotones as Analogy for Sustainable Value Creation in Cities, in: Wulfsberg, J.; Redlich, T.; Moritz, M. (Hrsg.): 1. interdisziplinäre Konferenz zur Zukunft der Wertschöpfung, Hamburg 2016, S. 135–145. Parilla, J. et al.: Global Metro Monitor, in: Brookings 2015, verfügbar: https://www.brookings.edu/ research/global-metro-monitor/ (zuletzt geprüft am: 24.10.2017). Prendergast, G.; Berthon, P.: Insights from Ecology. An Ecotone Perspective of Marketing, in: Euro­ pean Management Journal, Vol. 18 (2000), pp. 223–232. Reicher, C.: Städtebauliches Entwerfen, Wiesbaden 2014. Siemens AG: Schnellere Fabrikplanung mit „digitalen“ Bauklötzen, Erstveröffentlichung: 2009, verfügbar: https://www.siemens.com/press/de/pressebilder/?press=/de/pressebilder/ innovationnews/2009/in20091006/in20091006-01.htm&content[]=IIA&content[]=DF& content[]=PD (zuletzt geprüft am: 23.08.2017). United Nations Department of Economic and Social Affairs: World Urbanization Prospects. The 2014 Revision. Highlights, New York 2014. Verein Deutscher Ingenieure e. V.: Handlungsfelder. VDI-Initiative Stadt:Denken. Bausteine für die Stadt der Zukunft, Erstveröffentlichung: 2015, verfügbar: https://www.vdi.de/fileadmin/vdi_ de/redakteur_dateien/fvt_dateien/NEU_VDI-Initiative_StadtDenken_-_Bausteine_fuer_die_ Stadt_der_Zukunft_web.pdf (zuletzt geprüft am: 24.10.2017).

Marcus Brandenburg und Hans-Otto Günther

Gestaltung nachhaltiger urbaner Mobilität Entwicklungspfade zu emissionsfreien Megastädten 1 2 3 3.1 3.2 4 5

Einleitung | 1135 Forschungsfragen | 1137 Modellierung innerstädtischer Mobilitätssysteme | 1139 Netzwerkrepräsentation urbaner Mobilität | 1139 Kennzahlensystem zur Erfassung der Nachhaltigkeit urbaner Mobilität | 1144 Das „Minimize-Time-to-Sustainability“-Konzept | 1145 Ausblick | 1149 Literatur | 1150

Zusammenfassung. Mit zunehmendem Anteil der Stadtbevölkerung auf zukünftig mehr als 70 % weltweit stellt die Gestaltung der urbanen Mobilität eine der gro­ ßen Herausforderungen unserer Zeit dar. Angesichts der negativen Konsequenzen herkömmlicher Formen der Mobilität, wie Verkehrsstaus, Unfallgefahren und Emis­ sionen, streben viele Metropolen eine nachhaltige Wandlung ihrer Verkehrssysteme an. Emissionsfreie Mobilität zumindest im engeren Citybereich stellt dabei den Ideal­ zustand dar. In diesem Beitrag wird, ausgehend von der besorgniserregenden Mobili­ tätslage vor allem in vielen außereuropäischen Großstädten, ein Konzept zur systema­ tischen Modellierung innerstädtischer Mobilitätssysteme entwickelt. Dieses Konzept richtet sich an Planer und verantwortliche politische Entscheidungsträger und soll zum einen die systematische Erhebung und Analyse der gegenwärtigen Mobilitäts­ systeme unterstützen. Zum anderen soll es dazu dienen, die zukünftige langfristige Entwicklung der urbanen Mobilität sinnvoll und zielgerichtet zu gestalten. Strukturel­ le Variablen dieses Konzepts sind die Flottenstärken und Kapazitäten der einzelnen Transportmodi einschließlich privater PKW und nicht-motorgestützter Fortbewegung sowie die Stärke der Verkehrsströme innerhalb einer Stadt beziehungsweise zwischen den Stadtbereichen und dem Umland. Zur Beurteilung des Mobilitätssystems einer Großstadt wird auf das sogenannte Triple-Bottom-Line-Konzept zurückgegriffen, das den Ausgleich ökonomischer, sozialer und umweltbezogener Ziele anstrebt. Auf die­ ser Grundlage kann ein multi-dimensionales Kennzahlensystem definiert werden, das alle relevanten Dimensionen der Nachhaltigkeit abbildet. Als Optimierungsstra­ tegie wird das „Minimize-Time-to-Sustainability“-Konzept vorgeschlagen, in dessen Mittelpunkt die Minimierung der Zeitspanne steht, innerhalb derer vordefinierte und durch Kennzahlen spezifizierte Nachhaltigkeitsziele erreicht werden.

https://doi.org/10.1515/9783110473803-056

Gestaltung nachhaltiger urbaner Mobilität | 1135

1 Einleitung Die Entwicklung urbaner Mobilitätssysteme stellt eine der größten Herausforderun­ gen unserer Zeit dar. Dies betrifft nicht nur allgemein den Lebenswert von Städ­ ten, sondern insbesondere die Reduktion von Umweltbelastungen wie Kohlendioxid (CO2 ), Stickoxiden (NO x ) und Feinstaub (particulate matters, PM), die durch den in­ nerstädtischen Transport hervorgerufen werden. Getrieben wird diese Entwicklung vor allem durch das anhaltende Wachstum der Weltbevölkerung (vgl. Gerland et al. 2014) sowie durch die seit Jahrzehnten zunehmende globale Urbanisierung. Wäh­ rend 1960 weltweit etwa doppelt so viele Menschen in ländlichen Bereichen wohnten wie in urbanen Siedlungsgebieten, wurde bereits 2010 ein Gleichstand erreicht (vgl. United Nations 2014). In Europa sowie in Nord- und Lateinamerika leben bereits heute drei von vier Menschen in urbanen Gebieten. Die weiteren Prognosen sagen bei stetig wachsender Weltbevölkerung einen Siedlungsanteil von 69 % weltweit in urbanen Gebieten voraus. In absoluten Zahlen bedeutet dies ein Anwachsen der weltweiten Stadtbevölkerung von 1,0 auf 6,5 Milliarden Menschen im Zeitraum von 1960 bis 2050. Verbunden ist diese Entwicklung mit einem drastisch ansteigenden Transportbedarf, der überwiegend noch durch den Einsatz fossiler Brennstoffe gedeckt wird. Hin­ zu kommt der steigende Privatbesitz von Automobilen insbesondere in asiatischen Ländern. Sinkende Lebensqualität in den Städten aufgrund unerträglicher Emissi­ onswerte begleitet durch vermeidbaren Lärm, längere Verkehrsstaus, erhöhten Stress und eine zunehmende Anzahl an Unfällen sind die Folge, falls keine substantielle Wandlung der innerstädtischen Transportsysteme erfolgt (vgl. Gwilliam 2002). Deutliche Alarmzeichen sind nicht nur in deutschen und asiatischen Großstädten sichtbar. Die Unternehmensberatung Arthur D. Little (vgl. van Audenhove et al. 2014) hat kürzlich einen urbanen Mobilitätsindex veröffentlicht, der in aggregierter Sicht unter Verwendung unterschiedlicher Kriterien die Qualität der urbanen Mobilität in Megastädten bewertet (vgl. Abbildung 1). Die in die Bewertung eingehenden Krite­ rien werden in dieser Studie in zwei Gruppen eingeteilt. Unter „Maturity“ wird im Wesentlichen der Entwicklungsstand der innerstädtischen Transportsysteme erfasst. Unter „Performance“ finden sich umweltbezogene Kriterien sowie Transportzeiten zur Arbeitsstätte, die Anzahl von Verkehrstoten und die Dichte registrierter PrivatPKW. Sämtliche der 19 Kriterien werden mit 2 beziehungsweise 4 beziehungsweise 6 Punkten gewichtet (zu Einzelheiten vgl. van Audenhove et al. 2014, S. 13). In der Studie erweisen sich die Verhältnisse in einigen Städten Asiens, des Nahen Ostens, aber auch der USA, als besonders kritisch, während europäische Städte und die asia­ tischen Metropolen Singapur und Hongkong vorteilhaft bewertet werden. Generell ist festzuhalten, dass die erforderlichen Wandlungsprozesse im Hinblick auf lebenswerte und emissionsarme Bedingungen sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken und einen systemweiten Anpassungsprozess erfordern, der unter anderem politische, technolo­ gische und stadtplanerische Gestaltungsspielräume einbezieht. Besondere Potentiale

1136 | Marcus Brandenburg und Hans-Otto Günther

Abb. 1: Urbaner Mobilitätsindex (vgl. van Audenhove et al. 2014, S. 14).

stellen dabei neue Technologien dar, z. B. Elektroantrieb für PKW und Busse oder au­ tonome Fahrsysteme, aber auch neue Geschäftsmodelle wie Car Sharing sowie die Änderung in den Mobilitätspräferenzen hin zum verstärkten Einsatz von Fahrrädern oder zu Fußwegen (vgl. Costain/Ardron/Habib 2012; Martin/Shaheen/Lidicker 2010). Die bei der systematischen Analyse und Gestaltung urbaner Mobilität verfolgten Ziele lassen sich gemäß dem aus der strategischen Nachhaltigkeitsplanung bekann­ ten Konzept der Triple Bottom Line (vgl. Elkington 1998) im Wesentlichen in drei Di­ mensionen einteilen. Die ökonomische Dimension erfasst alle Kosten des Betriebs und der Einrichtung beziehungsweise Weiterentwicklung öffentlicher Transportsys­ teme einschließlich der notwendigen Infrastrukturkosten für die Einführung innova­ tiver Transportsysteme. Hinzu kommen gegebenenfalls die indirekten ökonomischen Konsequenzen aufgrund von Verkehrsstaus oder der verminderten Attraktivität städ­ tischer Gebiete mit nicht ausreichender Verkehrsanbindung. Die zweite Dimension betrifft Umwelteinflüsse, die durch verkehrsbedingte Treibhausgas- und Feinstaub­ emissionen gemessen werden können. In der dritten Dimension des Triple-BottomLine-Konzepts werden die sozialen Aspekte der Entwicklung von urbanen Transport­ systemen zusammengefasst, wie Verkehrslärm, Unfallträchtigkeit, Flächenbedarf der Transportsysteme und ihre Servicequalität. Die nachhaltige Transformation urbaner Mobilitätssysteme wird wesentlich durch die Entwicklung externer Faktoren beeinflusst. An erster Stelle sind demographische Entwicklungen zu nennen, die maßgeblich den Transportbedarf bestimmen. Vor al­ lem Megastädte in Afrika (vgl. Kumar/Barrett 2008) sowie Mittel- und Südamerika (vgl. Mengarda/Niehaus del Solar 2014) weisen erhebliche Wachstumsraten auf. Ähn­ liche Entwicklungen werden für Städte in China und Indien prognostiziert (vgl. Can­ non 2004; Dimitrou 2006; Han 2010), während für städtische Agglomerate in Asien

Gestaltung nachhaltiger urbaner Mobilität |

1137

wie Tokyo oder Seoul eher eine stabile Bevölkerungsentwicklung erwartet wird (vgl. United Nations 2014). Hinsichtlich der Präferenz für bestimmte Transportmittel ist vor allem in Europa im letzten Jahrzehnt ein Wandel zugunsten emissionsarmer bezie­ hungsweise emissionsfreier Verkehrsmittel zu verzeichnen, der sich voraussichtlich auch in den nächsten Jahren fortsetzt (vgl. Nocera/Cavallaro 2011). Neue umwelt­ freundliche Antriebstechnologien für PKW und Busse ermöglichen einen Übergang zu einer emissionsarmen Deckung des innerstädtischen Transportbedarfs, vor al­ lem dann, wenn günstige Energiepreise eine wirtschaftliche Umsetzung derartiger Technologien ermöglichen (vgl. Kriener/Simons 2017). Schließlich tragen neue Ser­ vicekonzepte wie Car Sharing (vgl. Martin/Shaheen 2011; Firnkorn/Müller 2011) und vor allem regulative Maßnahmen wie Subventionen von Elektrofahrzeugen und inner­ städtische Mautgebühren sowie Zugangsbeschränkungen für Privatfahrzeuge in City­ bereichen zu einer nachhaltigen Mobilitätsentwicklung bei (vgl. Allen/Browne 2010; McKinnon 2010). Insgesamt stehen diese externen Faktoren in einem komplexen Wir­ kungszusammenhang, der sowohl die Prognose des Mobilitätsbedarfs als auch die Entwicklung entscheidungsunterstützender Systemansätze maßgeblich erschwert.

2 Forschungsfragen Fragen nachhaltiger urbaner Mobilitätsentwicklung sind Gegenstand unterschied­ licher Wissenschaftsdisziplinen, unter anderem Verkehrswissenschaft und -geogra­ phie, Stadtplanung, Ingenieurwissenschaften (Verkehrssysteme), Industrial- und Sys­ tems Engineering, Managementwissenschaften und Operations Research. An dieser Stelle sei darauf verzichtet, einen umfassenden Überblick über den Stand der For­ schung in den genannten Wissenschaftsdisziplinen zu Fragen der urbanen Mobilität zu geben. Wir verweisen für eine umfassende Übersicht über die einschlägige Lite­ ratur auf Beiträge von, z. B. Agatz et al. (2012), Black, Paez und Suthanaya (2002), Camargo Pérez, Carillo und Montoya-Torres (2015), Chen und Cheng (2010), Farahani et al. (2013), Kennedy et al. (2005) oder Lagorio, Pinto und Colini (2016). Im Folgen­ den beschränken wir uns auf die systemwissenschaftliche Perspektive unter Betonung entscheidungsunterstützender Modelle für die langfristige, nachhaltige Entwicklung der innerstädtischen Mobilität. Bei der Planung nachhaltiger urbaner Transportnetzwerke sind kurzfristige Ent­ scheidungsprozesse mit langfristigen strategischen Zielsetzungen zu verbinden, wo­ bei unterschiedliche Sektoren und Interessengruppen unter Beachtung verschiede­ ner regulatorischer und rechtlicher Rahmenbedingungen koordiniert werden müs­ sen (vgl. Arsenio/Martens/Di Ciommo 2016; Martos et al. 2016; May 2013; McCormick et al. 2013). Dennoch befassen sich die vorliegenden wissenschaftlichen Veröffentli­ chungen überwiegend mit Einzelaspekten urbaner Mobilität, wohingegen umfassen­ de integrative Ansätze, die Verantwortlichen in Politik und Transportplanung Ent­

1138 | Marcus Brandenburg und Hans-Otto Günther

scheidungshilfe gewähren könnten, nur vereinzelt zu finden sind, z. B. in Jeon, Ame­ kudzi und Guensler (2013), Ma und Lo (2012), Miller et al. (2016), Nocera, Tonin und Cavallaro (2015) und Pternea, Kepaptsoglou und Karlaftis (2015). Sowohl in den rele­ vanten Wissenschaftsdisziplinen als auch in der öffentlichen Diskussion dominieren Einzelaspekte wie die Effizienz von Transportsystemen, die Minimierung von Kosten für Infrastruktur und Fahrzeugflotten sowie der operativen Kosten. Zuletzt haben um­ weltbezogene Aspekte verstärkt Beachtung gefunden, z. B. in Pye und Daly (2015), Yang, Lee und Chen (2016) oder Yedla, Shrestha und Anandarajah (2005). Anderer­ seits sind vielfältige fallbezogene Publikationen zu finden, in denen die Verkehrssys­ teme einzelner Städte und die Auswirkungen verkehrspolitischer Maßnahmen unter­ sucht werden, z. B. Cheng, Chang und Lu (2015), Hu et al. (2016), Li und Jones (2015) sowie Wang, Chen und Fujiyama (2015). Angesichts des zweifellos vorhandenen Defizits an integrativen Ansätzen in der wissenschaftlichen Literatur sehen wir die besondere Aufgabe dieses Beitrags darin, die konzeptionellen Grundlagen eines Analyse- und Entscheidungsunterstützungs­ systems für die nachhaltige Gestaltung urbaner Mobilität zu entwickeln. Ein solcher Ansatz muss insbesondere die folgenden Anforderungen erfüllen: – Anstelle einer reinen Bewertung einzelner Transporttechnologien muss ein kon­ kreter, langfristiger Entwicklungspfad aus dem gegenwärtigen Status des Trans­ portsystems einer Megastadt im Hinblick auf einen angestrebten nachhaltigen Zu­ kunftszustand aufgezeigt werden, der in einem angemessenen Zeithorizont reali­ sierbar ist. – Der konzeptionelle Ansatz muss die verschiedenen Dimensionen nachhaltiger Systementwicklung, also die ökonomischen, sozialen und umweltbezogenen Aspekte im Sinne des Triple-Bottom-Line-Konzeptes in angemessener Weise be­ rücksichtigen. – Die zur Verfügung stehenden und zukünftig erwarteten innovativen Verkehrs­ technologien müssen in die Betrachtung einfließen. – Der konzeptionelle Ansatz muss auf einer konkreten Datenbasis für den jewei­ ligen Untersuchungsfall aufbauen. Diese Datenbasis muss realistische demogra­ phische Daten und Prognosen, aktuelle Flottenstärken der verschiedenen Trans­ portmittel sowie entsprechende technische Parameter bereitstellen. – Restriktionen für die Umsetzung der entsprechenden Wandlungspfade, z. B. Zeit­ versatz für die Realisierung neuer Transporttechnologien einschließlich der be­ nötigten Infrastruktur, szenarische Annahmen bezüglich der Adoptionsrate alter­ nativer Transporttechnologien und Wandlungen der Transportpräferenz müssen in angemessener Weise in die Betrachtung einfließen. – Der konzeptionelle Modellansatz sollte generisch in dem Sinne sein, dass er sich auf verschiedene Anwendungsfälle übertragen lässt und unterschiedliche Ag­ gregationsgrade in der Abbildung der realen Gegebenheiten zulässt. Gleichzeitig sollte der Modellansatz konkret anwendbar und somit für Planer und politische Entscheidungsträger nutzenbringend sein.

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Zweckmäßigerweise sind Szenarien zu definieren, welche gedachte zukünftige Ent­ wicklungen umfassend beschreiben. Konkret lauten die zu untersuchenden For­ schungsfragen: – Wie können verantwortliche politische Entscheidungsträger und andere Stake­ holder bei der systematischen Analyse und Gestaltung der innerstädtischen Transportsysteme mit einem realistischen, integrativen Modellwerkzeug unter­ stützt werden, um eine nachhaltige, im Idealfall emissionsfreie innerstädtische Mobilität zu erreichen? – Welcher Zeitraum wird benötigt, um einen durch zweckmäßige Zielgrößen defi­ nierten Nachhaltigkeitszustand zu erreichen? In den Mittelpunkt wird daher die Minimierung dieses Zeithorizontes gestellt, der für die Erreichung des gewünsch­ ten Zukunftszustands erforderlich ist. – Wie lässt sich konkret der zugehörige Umwandlungspfad bezüglich der Wahl der zukünftigen Transportmittel, der Entwicklung der notwendigen Flottenstärken, des Investitionsbedarfs etc. beschreiben?

3 Modellierung innerstädtischer Mobilitätssysteme Zur Modellierung innerstädtischer Mobilitätssysteme wird im Folgenden ein Reprä­ sentationsschema entwickelt, auf dessen Grundlage eine systematische und struktu­ rierte Abbildung der Verkehrssysteme und ihrer Nutzer erfolgen kann. Dieses Schema kann sowohl für die Analyse gegenwärtiger innerstädtischer Mobilitätssysteme her­ angezogen werden als auch als Grundlage für die Entwicklung von Optimierungs- und Simulationsmodellen dienen. In Abschnitt 3.1 wird eine entsprechende Netzwerkreprä­ sentation entwickelt. Daran schließt sich in Abschnitt 3.2 die Darstellung von Leis­ tungsindikatoren an.

3.1 Netzwerkrepräsentation urbaner Mobilität Die Entitäten des im Folgenden dargestellten allgemeinen Netzwerkschemas sind Knoten, die mit Kanten zur Abbildung der relevanten Transportströme verbunden sind. Aus der allgemeinen Netzwerkdarstellung kann ein anwendungsspezifisches Netzwerk durch die Definition der Knoten und der gerichteten Kantenverbindungen abgeleitet werden. Dabei kann dem konkreten Anwendungsfall entsprechend ein un­ terschiedlicher Aggregationsgrad verfolgt werden. Zur Modellierung der langfristigen nachhaltigen Mobilitätsentwicklung reicht es im Allgemeinen aus, die wesentlichen Stadtbereiche anstelle von individuellen Verkehrswegen zu erfassen. Das vorgeschla­ gene generische Schema der Netzwerkrepräsentation ist in Abbildung 2 zusammen­ fassend dargestellt. Als Entitäten der Netzwerkrepräsentation werden Lokationen,

1140 | Marcus Brandenburg und Hans-Otto Günther Nutzerprofile • Clusterbildung und -stärke • Wandlung des Nutzerverhaltens • Präferenz von Transportmodi • Akzeptanz innovativer Verkehrsund Servicesysteme

Lokationen • geographische Koordinaten • ankommende und abgehende Verkehrsströme • Bevölkerungswachstum, Migration • Mobilitätsverhalten der Bewohner Kanten • gegenwärtige und geplante Verkehrssysteme • genutzte und alternative technische Optionen • verfügbare und zukünftige Transportmodi Transportmodi • realisierbare technische Optionen • Flottenkapazität • Transportkosten • Transportzeiten • Infrastrukturbedarf

Technische Optionen • Einrichtungs- und Betriebskosten • Emissionen • Verkehrssicherheit • Flächenbedarf

Abb. 2: Netzwerkrepräsentationsschema urbaner Mobilität.

Kanten (Verkehrsverbindungen), Transportmodi und ihre technischen Optionen so­ wie Nutzerprofile zur Abbildung der Mobilitätspräferenz verwendet. Alle Entitäten sind durch verschiedene Attribute gekennzeichnet. Hierzu zählen vor allem Kosten, Emissionen sowie die Wechselbeziehungen zu anderen Entitäten. Kernelement des Repräsentationsschemas sind die Lokationen, die zur Abbildung von Stadtarealen wie der City, dem Innenstadtbereich oder den Stadtteilzentren ver­ wendet werden. Lokationen können ebenso für Stadtumgebungen oder Nahbereiche z. B. zur Abbildung des Pendler- oder Besucherverkehrs definiert werden. Wesentli­ che Charakteristika von Lokationen sind beispielsweise die geographischen Koordi­ naten und die augenblickliche beziehungsweise prognostizierte Stärke der ankom­ menden und abgehenden Verkehrsströme. Von entscheidender Bedeutung sind Lo­ kationen für die Bestimmung des Transportbedarfs, der maßgeblich durch externe Faktoren wie Bevölkerungswachstum, die Verfügbarkeit von Verkehrssystemen, die Einführung neuartiger Verkehrssystemen und das Mobilitätsverhalten der Bewohner bestimmt wird. Kanten werden für die Abbildung der Transportströme zwischen den Lokationen definiert. Jede Kante wird durch Transportmodi bedient, die durch unterschiedliche bestehende oder zukünftige technische Optionen realisiert werden können. Hierunter fallen auch Flotten von privaten motorisierten Fahrzeugen sowie Fahrräder. Transportmodi entsprechen den grundlegenden Arten zur Umsetzung der inner­ städtischen Mobilität. Jeder Transportmodus kann durch unterschiedliche technische Optionen, z. B. Antriebsarten, realisiert werden. Relevante Charakteristika der Trans­ portmodi sind unter anderem ihre Kapazität, Einrichtungs- und Betriebskosten und

Gestaltung nachhaltiger urbaner Mobilität

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Emissionen. Bestimmte Transportmodi benötigen eine eigene Infrastruktur wie La­ destationen für elektrisch betriebene Fahrzeuge. In Abhängigkeit von der Länge des Transportwegs kommen zunehmend nicht-motorisierte Transportmodi wie Fußwege und Fahrräder anstelle von motorisierten Fahrzeugen in Frage. Jeder Transportmodus kann durch unterschiedliche technische Optionen realisiert werden. So können z. B. herkömmliche motorgestützte Antriebssysteme sowohl für PKW als auch für Stadtbusse durch elektrische Antriebe ersetzt werden. Weiterhin kann hinsichtlich der technischen Optionen nach Diesel-, Benzin-, Elektromotoren so­ wie Hybridantrieben differenziert werden. Relevante Charakteristika von technischen Optionen im Hinblick auf die nachhaltige urbane Mobilitätsentwicklung sind unter anderem die Betriebs- und Einrichtungskosten, Emissionen sowie die Auswirkungen auf Sicherheit und Akzeptanz als Verkehrsmittel. Zur Modellierung innerstädtischer Transportsysteme muss grundsätzlich zwi­ schen Massentransportsystemen, individuellen Fahrzeugen sowie nicht-motorisier­ tem Transport unterschieden werden: – Massentransportsysteme weisen einerseits herkömmliche Antriebssysteme auf (z. B. Stadtbusse, Straßenbahnen, U-Bahnen, S-Bahnen). Andererseits gibt es emissionsarme Antriebe wie gas- oder elektrisch betriebene Motoren. – Ebenso können individuelle Fahrzeuge einschließlich Leihwagen, Taxis, Gemein­ schaftsfahrzeuge sowohl mit herkömmlichen als auch mit emissionsarmen An­ trieben ausgestattet werden. – Für die nicht-motorisierte Mobilität stehen beispielsweise Fußwege und Fahrräder (gegebenenfalls auch mit elektrischem Hilfsmotor) zur Verfügung. Weiterhin sind Transportmodi durch Ressourcen beziehungsweise Kapazitäten ge­ kennzeichnet. Im Hinblick auf die Modellierung der Transportströme sind verkehrs­ wegspezifische und Poolressourcen zu unterscheiden. Der erste Typ von Ressourcen ist einer spezifischen Kante im Transportnetz zugeordnet, z. B. zur Verbindung zweier Stadtbezirke, und ist vor allem für Massentransportsysteme relevant. Poolressourcen dienen zur Modellierung von Privatfahrzeugen und können für alle Verkehrswege innerhalb des erfassten Netzwerkes eingesetzt werden In verkehrswissenschaftlichen Studien werden üblicherweise demographische Daten zur Erfassung und Prognose des Transportbedarfs zugrunde gelegt (vgl. z. B. Streit et al. 2015). In letzter Zeit ist jedoch ein gravierender Wandel der Mobilitäts­ präferenz von Stadtbewohnern zu verzeichnen, so dass demographische Faktoren al­ lein nicht ausreichen, um die Entwicklung des Mobilitätsbedarfs einzuschätzen (vgl. z. B. Shirmohammadli/Louen/Vallée 2016). Zu beobachten ist beispielsweise, dass in Großstädten immer weniger Jugendliche einen Führerschein erwerben und Stadt­ bewohner verstärkt auf Fußwege und Fahrradtransport zurückgreifen. Gleichzeitig nimmt die Nutzung von Car-Sharing-Systemen erheblich zu (vgl. Jorge/Correira 2013). In einer kürzlich durchgeführten empirischen Studie haben Kandt et al. (2015) das Transportverhalten von Stadtbewohnern vergleichend in Berlin und London un­

1142 | Marcus Brandenburg und Hans-Otto Günther

tersucht. Das Hauptergebnis der Untersuchung war die Identifikation von sechs Nut­ zerprofilen hinsichtlich des Mobilitätsverhaltens. – „Traditional car-oriented“: Hierunter fallen Nutzer, die eine deutliche Präferenz für den Transport mit privaten Automobilen aufweisen. Diese Nutzer sind haupt­ sächlich am Stadtrand beziehungsweise in der Stadtumgebung wohnhaft. – Als „Pragmatic transit-sceptics“ werden solche Nutzer klassifiziert, die zwar Pri­ vatfahrzeuge präferieren, sich aber aufgeschlossen gegenüber anderen Verkehrs­ mitteln zeigen. – „Green travel-oriented“ sind solche Nutzer, die eine ausgesprochene Neigung zum Umweltschutz aufweisen und den Einsatz von motortechnisch unterstützten Fahrzeugen tendenziell ablehnen. – „Pragmatic transit-oriented“: In dieses Cluster fallen Nutzer, die dem Transport mit motorisierten Fahrzeugen skeptisch gegenüber stehen, diesen aber nicht grundsätzlich ablehnen, sondern die Vor- und Nachteile der einzelnen Verkehrs­ systeme pragmatisch abwägen. – Als „Technology-focused“ werden solche Nutzer bezeichnet, die individuelle Transportmittel, z. B. Privat-PKW oder Fahrrad, bevorzugen, aber Massentrans­ portmittel ablehnen. Diese Nutzer sind vor allem in der Innenstadt und den angrenzenden Stadtgebieten wohnhaft. – Schließlich wurde ein Cluster „Innovative access-oriented“ identifiziert, in das Nutzer fallen, die für andere Transportmittel als Privat-PKW offen sind und zu innovativen Transportmitteln neigen. Insbesondere im Citybereich sind diese Nutzer anzutreffen. In einer konkreten Studie zur nachhaltigen Entwicklung des urbanen Mobilitätsver­ haltens kann auf derartige Nutzerprofile zurückgegriffen werden. Oft ist es jedoch aus­ reichend, weniger als sechs Nutzerprofile zu unterscheiden, z. B. Cluster von umwelt­ freundlichen, pragmatischen und traditionellen Nutzern zu bilden. Sowohl die Auf­ teilung der Bevölkerung einer Großstadt in derartige Cluster, die Differenzierung nach Stadtgebieten als auch die Prognose der Wandlung der Nutzerpräferenz sind von aus­ schlaggebender Bedeutung für eine systematische Entwicklungsplanung nachhalti­ ger Mobilität. Die beispielhafte Anwendung des skizzierten Netzwerkrepräsentationsschemas zeigt Abbildung 3. Darin werden fünf Stadtbereiche unterschieden: City sowie nördli­ cher, westlicher, südlicher und östlicher Stadtbereich (Lokationen 1–5). Daneben wer­ den eine westliche und eine östliche Stadtumgebung erfasst (Lokationen 6 und 7). Schließlich dienen die Lokationen 8 und 9 zur Abbildung des geschäftlichen und tou­ ristischen Besucherverkehrs und des innerstädtischen Frachtverkehrs. Die in Frage kommenden Transportmodi sind am Rande der Abbildung angedeutet. Die aggregier­ te Wiedergabe des Transportnetzwerkes in Abbildung 3 entspricht durchaus den Ge­ gebenheiten einer europäischen Großstadt. Nicht in der Abbildung wiedergegeben ist die Vielfalt der vorhandenen Transportsysteme und ihrer technischen Optionen.

Gestaltung nachhaltiger urbaner Mobilität |

1143

Frachtdepot

8 8 Nördliches Stadtgebiet

33

Östliches Westliches 22 Stadtgebiet Stadtgebiet

Innenstadt

Innenstadt

11

44

Westliches Stadtgebiet

Östliches Stadtgebiet

77 66 Westliches Umland

Östliches Umland

5

5 Südliches Stadtgebiet

Südliches Stadtgebiet 99 Besucher

Abb. 3: Beispielhafte Anwendung des Netzwerkrepräsentationsschemas.

Ebenso sind die innerhalb einer Lokation vorhandenen internen Verkehrswege und Transportströme nicht in der Abbildung reflektiert. Die wesentlichen Eingangsdaten des Transportnetzwerkes sind der Transportbe­ darf zwischen zwei Lokationen einschließlich des lokations-internen Transportbe­ darfs sowie ökonomische und emissionsbezogene Daten der verschiedenen Trans­ portmodi. Der Transportbedarf ist für die einzelnen Lokationen nach Nutzerprofilen zu differenzieren und über einen langfristigen Zeitraum zu prognostizieren. Daraus kann dann die Anzahl der Transportbewegungen pro Periode für die einzelnen Trans­ portmodi und Kanten zwischen den Lokationen abgeleitet werden. Die emissions­ bezogenen Daten sind aus den technischen Dokumentationen der Verkehrsmittel zu erheben und für innovative Technologien entsprechend zu prognostizieren. Während Bevölkerungszahlen für die einzelnen Stadtbereiche im Allgemeinen leicht aus öffentlich zugänglichen Statistiken zu erheben sind, ist die direkte Ab­ leitung des gegenwärtigen und vor allem des zukünftigen Transportbedarfs für die einzelnen Transportmodi nicht ohne Weiteres möglich. Zum einen müssen entspre­ chende Annahmen getroffen werden über die Verteilung der Nutzerprofile und deren langfristige Entwicklung sowie über das zu erwartende Bevölkerungswachstum in den einzelnen Stadtbezirken, das durch Migrationseffekte (z. B. zwischen Stadt- und Umlandbereichen) erheblich beeinflusst werden kann. Zum anderen sind zusätzlich die Effekte innovativer Transporttechnologien vorausschauend abzuschätzen.

1144 | Marcus Brandenburg und Hans-Otto Günther

3.2 Kennzahlensystem zur Erfassung der Nachhaltigkeit urbaner Mobilität Die Bewertung der langfristigen Nachhaltigkeitsentwicklung urbaner Mobilität mit allen Wandlungsprozessen vom gegenwärtigen Systemzustand zu einem als wün­ schenswert angesehenen zukünftigen Zustand erfordert eine mehrdimensionale Be­ trachtung, die nicht wie in einem Optimierungsmodell mit Hilfe einfacher mathemati­ scher Zielfunktionen vorgenommen werden kann. Auch die in der wissenschaftlichen Literatur verbreiteten Ansätze der Mehrzieloptimierung sowie der Berücksichtigung zusätzlicher Ziele, z. B. von CO2 -Emissionen, durch Nebenbedingungen sind hier we­ nig geeignet. Vielmehr bedarf es eines multidimensionalen Kennzahlensystems, das alle relevanten Aspekte des Wandlungsprozesses erfasst. Als Grundlage kann das Triple-Bottom-Line-Konzept mit der ökonomischen, der umweltbezogenen und der sozialen Dimension herangezogen werden, das vor allem im unternehmerischen strategischen Nachhaltigkeitsmanagement breite Anwendung gefunden hat. Es wurde unter anderem in der nachhaltigen Entwicklungsplanung für globale industrielle Lieferketten und Wertschöpfungsnetzwerke in der Automo­ bilindustrie erfolgreich eingesetzt (vgl. Kannegiesser/Günther 2014). Für jede dieser Dimensionen sind durch den menschlichen Planer Leistungskennzahlen (Key Perfor­ mance Indicators, KPIs) gemäß dem jeweiligen Zweck der Untersuchung zu definie­ ren. Diese Leistungskennzahlen geben wieder, in welchem Ausmaß ein als relevant erachtetes Ziel oder ein vordefinierter Sollwert, z. B. für ausgewählte Emissionen, er­ reicht wird. Ein sinnvoll aufgebautes Kennzahlensystem benötigt weder die systema­ tische Analyse von Interdependenzbeziehungen zwischen den einzelnen Zielen noch die Anwendung von Gewichten oder Aggregationsregeln. Die jeweiligen Leistungs­ kennzahlen beziehen sich sowohl auf die Bewertung des Istzustandes als auch des gewünschten zukünftigen Zustandes des betrachteten Systems. Daher sind sinnvolle Zielwerte für den angestrebten Nachhaltigkeitszustand zu definieren. Diese Zielwerte orientieren sich am zugrunde gelegten Betrachtungszeitraum der Systemstudie und sollten anspruchsvolle aber prinzipiell erreichbare Systemzustände reflektieren. Als „nachhaltig“ wird ein zukünftiger Systemzustand angesehen, der die definierten Wer­ te der Leistungskennzahlen umfassend erfüllt. Die Konkretisierung des Triple-Bottom-Line-Konzepts für die nachhaltige Ent­ wicklung urbaner Mobilität ist in Abbildung 4 im Überblick dargestellt. Als ökono­ mische Leistungskennzahlen werden Kosten, steuerliche Mehr- und Minderausgaben sowie Auswirkungen auf das Bruttosozialprodukt angesehen. Im Hinblick auf Um­ welteffekte geht es vorwiegend um die Reduzierung von Emissionen sowie die Min­ derung von Lärmbelastungen. Sozialbezogene Leistungskennzahlen betreffen die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Reduzierung von Unfällen, die Verringerung des Flächenbedarfs für Verkehrsmittel, gesundheitliche Auswirkungen sowie die Trans­ portzeiten und Servicegesichtspunkte vor allem bei Massenverkehrsmitteln.

Gestaltung nachhaltiger urbaner Mobilität |

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Ökonomische Dimension Wirtschaftliche Belange der Träger, Betreiber und Nutzer von Transportsystemen

Nachhaltigkeit

Soziale Dimension Wohlergehen der Nutzer und Anwohner; Transporteffizienz

Ökologische Dimension Umweltbelastungen und Ressourcenverbrauch

Abb. 4: Zieldimensionen urbaner Mobilität entsprechend dem Triple-Bottom-Line-Konzept.

In Tabelle 1 sind die einzelnen Leistungskennzahlen im Hinblick auf ihre Anwendung in einer Studie zur nachhaltigen Entwicklung der urbanen Mobilität konkretisiert. Dieses beispielhafte Kennzahlensystem muss für den individuellen Anwendungsfall entsprechend angepasst werden. Für den Einsatz eines Optimierungs- oder Simulati­ onsmodells reicht es im Allgemeinen aus, die besonders relevanten Kennzahlen aus­ zuwählen und vor allem für die ökonomischen Faktoren geeignete Aggregationen vor­ zunehmen.

4 Das „Minimize-Time-to-Sustainability“-Konzept Eine neuartige Optimierungsstrategie zur Umsetzung des Triple-Bottom-Line-Prinzips wurde von Kannegiesser, Günther und Autenrieb (2015) entwickelt und am Beispiel der langfristigen nachhaltigen Entwicklung von Industrie-Supply-Chains insbesonde­ re in der Automobilindustrie getestet. Diese sogenannte „Minimize-Time-to-Sustaina­ bility“-Strategie (TTS-Strategie) orientiert sich an der kürzestmöglichen Zeit, die zur Umsetzung vordefinierter Ziele erforderlich ist. Bei der Anwendung auf langfristige Wandlungsprozesse im Hinblick auf einen Nachhaltigkeitszustand werden diese Ziele zweckmäßigerweise durch ausgewählte Kennzahlen, wie in Abschnitt 3 beschrieben, konkretisiert. Erforderlich ist die Einbettung der TTS-Strategie in ein Optimierungsmodell, des­ sen strukturelle Entscheidungsvariablen die eigentlichen Entscheidungstatbestände, z. B. die Flottenstärken für einzelne Transportmodi oder die Transportströme auf den einzelnen Pfaden abbilden, während die TTS-Strategie mit den vordefinierten Soll­ werten der relevanten Systemkennzahlen durch Nebenbedingungen beziehungswei­

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Tab. 1: Beispielhaftes Kennzahlensystem zur Erfassung der Nachhaltigkeit urbaner Mobilität. Dimension

Bereich

Kennzahl

Einheit

Reduzierung von Verkehrsstaus Minimierung von Einrichtungs- und Betriebskosten Reduzierung von Umweltkosten, z. B. in Folge von Emissionen Verringerung von Infrastrukturkosten Reduzierung von Sozialkosten, z. B. Gesundheitskosten

% EUR EUR

Erhöhung der Beschäftigung im stadtinternen Transport Erhöhung der Produktivität Erhöhung der Wirtschaftlichkeit für Unternehmen im Transportsektor Auswirkungen verringerten Flächenbedarfs

EUR EUR EUR

Steuern

Erhöhte Einnahmen in Folge von Verkehrsgebühren

EUR

Klima

Reduzierung von CO2 -Emissionen

t

Reduzierung von Feinstaubemissionen Reduzierung von Verkehrslärm Reduzierung von NOx -Emissionen Reduzierung des Energie- und Ressourcenverbrauchs

t t t t

Reduzierung der Transportzeiten für Bewohner Sicherung angemessener Transportentgelte Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze

Stunden EUR #

Reduzierung von Unfällen und Verletzten Reduzierung von Todesfällen aufgrund von Unfällen und Emissionen Reduzierung von Krankheitstagen

# Todesfälle

Kosten

Ökonomisch

BSP

Ökologisch Umwelt

Beschäftigte

Sozial Gesundheit

Reduzierung des Flächenbedarfs für Anwohner Gesellschaft Verbesserung der Verkehrsanbindungen Verbesserung der Lebensqualität

EUR EUR

EUR

Tage m2 m –

se durch Hilfsvariablen abgebildet wird. Die Optimierung richtet sich dann darauf, die Werte der strukturellen Entscheidungsvariablen so zu bestimmen, dass sämtliche vor­ gegebenen Sollwerte der Kennzahlen in möglichst geringer Zeit erreicht werden. An­ ders als in dem aus dem Operations Research bekannten Goal Programming (vgl. z. B. Jones/Tamiz 2010) werden hier nicht die Abweichungen von vorgegebenen Sachzielen minimiert. Vielmehr richtet sich die Optimierung in einem mehrperiodigen Entschei­ dungsmodell auf die Zeitspanne, die zur Erreichung sämtlicher Sachziele erforderlich ist. Diese minimale Zeitspanne wird als „Minimum-Time-to-Sustainability“ bezeich­ net. Die wesentlichen Merkmale der vorgeschlagenen TTS-Strategie lassen sich wie folgt umschreiben:

Gestaltung nachhaltiger urbaner Mobilität

1.

2.

3.

4.

5.

| 1147

Zunächst sind die relevanten Systemkennzahlen k ∈ K auszuwählen, die als aus­ schlaggebend für die nachhaltige Entwicklung der urbanen Mobilität angesehen werden und die wesentlichen Dimensionen (ökonomisch, umweltbezogen und sozial) des Triple-Bottom-Line-Prinzips erfassen. Für jede der Systemkennzahlen sind Basiswerte Basek festzulegen. Die Basiswer­ te dienen als Referenzpunkte und entsprechen beispielsweise dem augenblickli­ chen Systemzustand. Alle Basiswerte werden auf den Wert 1,0 normalisiert. Danach sind für die ausgewählten Systemkennzahlen sinnvolle Zielwerte Target k als Relation zu dem zugehörigen Basiswert zu definieren. Beispielsweise kann die tolerable Kostenentwicklung auf den Zielwert 1,1 entsprechend 110 % des augenblicklichen Kostenwertes festgelegt und die angestrebte Reduktion von CO2 -Emmisionen um 70 % könnte durch den Zielwert 0,3 vorgegeben werden. Um extreme und unrealistische Entwicklungen der Zielwerte über die einzelnen Perioden des Optimierungsmodells zu vermeiden, sind entsprechende Obergren­ zen (Upper Bounds) UBk vorzugeben. Auf diese Weise wird bezüglich der einzel­ nen Kennzahlen ein Korridor für die Systementwicklung definiert, der die zuläs­ sige Entwicklungsrichtung des Systems umschreibt. Die TTS-Strategie mit den definierten Sollwerten der einzelnen Zielgrößen ist in das jeweilige Optimierungsmodell zu integrieren. Die Zielfunktion des Modells besteht darin, die Anzahl der Perioden bis zur Erreichung aller Sollwerte zu mini­ mieren.

Die sich in der Optimierung einstellenden Werte der strukturellen Entscheidungsva­ riablen schlagen sich gemäß der jeweiligen Modellparameter für Emissionen, Kosten, soziale Auswirkungen etc. in den Hilfsvariablen KPIkt für die jeweilige Systemkenn­ zahl k und Periode t nieder. Gemäß der folgenden Beziehung kann dementsprechend ̃ kt erfasste Lücke zu dem vorgegeben Zielwert der System­ die mit der Hilfsvariablen π kennzahl erfasst werden. ̃ kt ≥ π

(KPI kt − Target k ) (UBk − Target k )

mit: KPIkt ≤ UBk

Durch die Minimierung aller Werte der Hilfsvariablen gegebenenfalls verbunden mit über die einzelnen Perioden exponentiell ansteigenden Gewichtungsfaktoren für die ̃ kt wird die Erreichung des stabilen Systemzustandes im Sinne der Hilfsvariablen π „Minimum Time-to-Sustainability“ erreicht. Zu beachten ist, dass gemäß der TTS-Strategie eine einzelne Kennzahl bereits als nachhaltig angesehen wird, wenn ihr Sollwert erreicht und in den nachfolgenden Pe­ rioden eingehalten wird. Der Gesamtzustand des Systems gilt aber erst dann als nach­ haltig, wenn alle Zielgrößen ihre Sollwerte erreicht haben und dauerhaft, d. h. über al­ le weiteren Perioden des Betrachtungshorizontes, nicht mehr die vorgegebenen Soll­ werte überschreiten. Der Zeitpunkt, in dem die so definierte Nachhaltigkeit erreicht wird, kann als stabiler Zustand („Steady State“) angesehen werden. Sollte die Modell­

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1,0

Nachhaltigkeit nach 12 Perioden

Ökonomische Kennziffer

0,0

Perioden

1,0

Nachhaltigkeit nach 15 Perioden

Umweltbezogene Kennziffer

0,0

Perioden

1,0

Nachhaltigkeit nach 10 Perioden

Soziale Kennziffer

Perioden

0,0

Time-to-Sustainability

Nachhaltiger Systemzustand

Abb. 5: Illustration der Optimierungsstrategie „Minimize-Time-to-Sustainability“.

rechnung keinen solchen „Steady State“ ausweisen, so bedeutet dies, dass die gesetz­ ten Sollwerte der Kennziffern nicht innerhalb des gewählten Betrachtungshorizontes realisiert werden können, d. h. sich als zu anspruchsvoll erweisen. In diesem Fall kann die Modellrechnung mit geringeren Anspruchswerten wiederholt werden. Für die mathematische Umsetzung der TTS-Strategie wurden von Kannegiesser, Günther und Autenrieb (2015) drei unterschiedliche Modellierungen entwickelt, von denen sich die sogenannte „Overflow“-Variante als besonders effizient erwiesen hatte. Diese Umsetzung des TTS-Prinzips erfordert nur außergewöhnlich geringe Rechenzei­ ten, wobei sich die Gesamtrechenzeit wesentlich an der Struktur und Größe des eigent­ lichen Optimierungsmodells orientiert. Aufgrund der aggregierten Betrachtungsweise bei Anwendungen zur urbanen Mobilitätsentwicklung sind insgesamt nur recht gerin­

Gestaltung nachhaltiger urbaner Mobilität |

1149

ge Rechenzeiten zu erwarten. Auf die detaillierte formale Darstellung der TTS-Strate­ gie sei an dieser Stelle verzichtet. Abbildung 5 verdeutlicht die Anwendung der TTS-Strategie anhand eines fikti­ ven Beispiels. Es sei vereinfachend angenommen, dass je eine Kennzahl für die drei Dimensionen des Triple-Bottom-Line-Prinzips verwendet werden. Punktpfeile geben die Entwicklung der Kennzahlen über einen mehr als 15-periodigen Betrachtungszeit­ raum im Sinne der Abweichung von einer vordefinierten Zielgröße (Niveau 0,0) wie­ der. In dem betrachteten Beispiel erreicht die ökonomische Kennziffer ihren Sollwert nach 12 Perioden, die umweltbezogene Kennziffer nach 15 Perioden und die soziale Kennziffer nach 10 Perioden. Als „Time-to-Sustainability“ wird der Maximalwert die­ ser Zeiträume, also 15 Perioden, angesehen, d. h. das betrachtete System erreicht den gewünschten, durch die ausgewählten Kennziffern beschriebenen Sollzustand frü­ hestens nach 15 Perioden, ohne dass ein Rückfall in einen nicht-nachhaltigen Zustand eintritt. Der eigentliche Entwicklungspfad des untersuchten Systems ist aus den zuge­ hörigen strukturellen Entscheidungsvariablen (z. B. für Flottengrößen und Verkehrs­ ströme) des Optimierungsmodells abzulesen.

5 Ausblick Integrierte Ansätze zur nachhaltigen langfristigen Entwicklung der urbanen Mobili­ tät sind in der wissenschaftlichen Forschung erst in einem Anfangsstadium. Vielmehr konzentrieren sich die vorherrschenden Forschungsansätze überwiegend auf Einzel­ aspekte wie die Beurteilung und Weiterentwicklung von Transporttechnologien oder die Erhebung und Prognose des Mobilitätsverhaltens. Normative und zielorientierte Ansätze, die sich auf die aktive Gestaltung von Entscheidungstatbeständen richten, sind bisher die Ausnahme. Der emissionsarme und nach Möglichkeit emissionsfreie Transport von Menschen und Gütern im Innenstadtbereich ist angesichts neuer Technologien und Geschäfts­ modelle keinesfalls eine Utopie. Zur Umsetzung bedarf es allerdings der Koordinati­ on der Bemühungen von Entscheidungsträgern in den Kommunen, insbesondere in Transportbetrieben, der Stadtplanung und Politik. Der in diesem Artikel vorgestellte Ansatz ist dahingehend gerichtet, eine solche umfassende und an Nachhaltigkeitszie­ len ausgerichtete Koordination methodisch zu unterstützen. Dabei geht es vor allem darum, langfristige Entwicklungspfade im Hinblick auf eine emissionsfreie Mobilität aufzuzeigen und die notwendigen Realisierungszeiträume zu bestimmen. Da die Mega-Städte in den verschiedenen Ländern und Kontinenten unterschied­ liche Bedingungen aufweisen, wird ein generisches Werkzeug benötigt, das unabhän­ gig vom Einzelfall zur Anwendung kommen kann. Hierzu dient das vorgeschlagene netzwerkorientierte Repräsentationsschema urbaner Mobilität in Verbindung mit ei­ nem Kennzahlensystem, das alle relevanten Aspekte der Nachhaltigkeit erfasst und das „Minimize-Time-to-Sustainability“-Prinzip als Optimierungsstrategie einschließt.

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Frank Meisel

Emissionsorientierte Transportlogistik 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3 3.1 3.2 3.3 3.4 4

Einführung | 1153 Generelle Herausforderungen aller Verkehrsträger | 1154 Anreize für Emissionsreduktion | 1154 Emissionsabgrenzung | 1155 Emissionsbilanzierung | 1156 Sendungsbezogene Allokation | 1157 Handlungsfelder der Transportwirtschaft | 1157 Betrachtung ausgewählter Verkehrsträger | 1158 Straßenverkehr | 1158 Eisenbahnverkehr | 1159 Seeschifffahrt | 1159 Luftverkehr | 1160 Fazit und weiterführende Aspekte | 1161 Literatur | 1162

Zusammenfassung. Dieser Beitrag widmet sich der Reduktion von Emissionen in der Transportlogistik. Er beschreibt zum einen generelle Herausforderungen, wie beispielsweise die Bilanzierung und Allokation transportbedingter Emissionen, die für alle Verkehrsträger relevant sind. Zum anderen werden spezifische Aspekte des Straßen-, Eisenbahn-, See- und Luftverkehrs erläutert. Abschließend werden weiter­ führende Themenfelder genannt, die eine vertiefte Auseinandersetzung ermöglichen.

1 Einführung Güter- und Personenverkehre erzeugen in großem Umfang lokal wirkende Emis­ sionen wie Lärm und Feinstaub, aber auch überregional oder gar global wirken­ de (Treibhaus-)Gase wie Kohlendioxid, Stickstoffoxid, Schwefeldioxid und andere mehr. Der europäische Transportsektor ist beispielsweise verantwortlich für 26 % der in der EU erzeugten anthropogenen Treibhausgasemissionen (vgl. EEA 2017). Feinstaubbelastungen in Innenstädten, die Nichterfüllung von Abgasnormen durch Automobilhersteller sowie der Klimawandel rücken verkehrsbedingte Emissionen dabei zunehmend in die öffentliche Diskussion. Eine Reduktion des verkehrsbeding­ ten Schadstoffausstoßes kann durch technologische Entwicklungen, durch regula­ torische Vorgaben der Gesetzgeber sowie durch Veränderungen in der Erbringung von Transportdienstleistungen durch die Transportwirtschaft verfolgt werden. Unter Oberbegriffen wie „umweltorientierte Logistik“ oder „grüne Logistik“ werden diese https://doi.org/10.1515/9783110473803-057

1154 | Frank Meisel

Themenfelder umfassend beforscht (vgl. Dethloff/Seelbach 1998; Dekker/Bloemhof/ Mallidis 2012; Fahimnia 2015; McKinnon/Browne/Whiteing 2012; Psaraftis 2016). Das Ziel einer derart fokussierten Transportlogistik besteht im Erreichen einer akzepta­ blen Umweltleistung der Transportkette unter Berücksichtigung der traditionellen ökonomischen Leistungskriterien (vgl. Psaraftis 2016, S. XII). Mit der Betrachtung einer emissionsorientierten Transportlogistik wird in diesem Beitrag der Fokus auf Güterverkehre und deren Treibhausgasemissionen gelegt. Im nachfolgenden Abschnitt werden hierzu ausgewählte Herausforderungen einer emis­ sionsorientierten Transportlogistik erläutert, die für alle Verkehrsträger von Bedeu­ tung sind. In Abschnitt 3 werden für ausgewählte Verkehrsträger regulatorische Be­ sonderheiten, technologische Ansätze sowie Maßnahmen von Logistikunternehmen zur Emissionsverringerung umrissen. Abschnitt 4 benennt weitere Facetten des The­ mengebiets, die interessierten Lesern als Ausgangspunkt für eine vertiefte Auseinan­ dersetzung dienen können.

2 Generelle Herausforderungen aller Verkehrsträger 2.1 Anreize für Emissionsreduktion Aus Sicht von Logistikunternehmen stellt sich zunächst die Frage, ob eine Reduk­ tion transportbedingter Emissionen überhaupt anzustreben ist. Diese Frage stellt sich besonders dann, wenn Maßnahmen zur Emissionssenkung mit einer verringer­ ten Servicequalität oder erhöhten Kosten einhergehen und somit im Konflikt zum klassischen Ziel der Gewinnmaximierung stehen. Dabei existieren durchaus Anreize, die Emissionsreduktionen auch aus unternehmerischer Sicht attraktiv machen (vgl. Simchi-Levi 2010, S. 202). Aus Kundensicht wird zunehmend erwartet, dass Produkte und Dienstleistungen nachweislich umweltfreundlich erzeugt werden. Eine „grüne Transportlogistik“ kann diesbezüglich zur Abgrenzung gegenüber Konkurrenten bei­ tragen. Aus Benchmarking-Sicht können Emissionen über dem Branchendurchschnitt auf Ineffizienzen des eigenen Unternehmens hinweisen und somit zum Aufdecken unternehmensinterner Verbesserungspotentiale herangezogen werden. Aus Compli­ ance-Sicht besteht für Logistikunternehmen die Notwendigkeit, sich an gesetzliche Vorgaben oder auch an Regeln von Nichtregierungsorganisationen zu halten, um überhaupt Zugang zu Transportmärkten oder Marktsegmenten zu erlangen. Unternehmerische Anreize scheinen jedoch bislang kaum substantielle Emis­ sionsminderungen in der Logistikbranche zu bewirken. Weitere Anreize kann der Gesetzgeber beispielsweise durch Steuervergünstigungen für umweltfreundliche Energie- und Verkehrsträger setzen oder durch Investitionen in entsprechende In­ frastruktur (vgl. McKinnon 2012). Er kann aber auch per Gesetz den Einsatz emissi­ onsreduzierender Technologien (z. B. Abgasnachbehandlung) oder Treibstoffe (z. B.

Emissionsorientierte Transportlogistik

|

1155

Beimischung von Biodiesel) vorschreiben. Als umweltpolitische Steuerungsinstru­ mente können Preis-, Mengen- oder Zertifikatssteuerungen zum Einsatz kommen (vgl. Dethloff/Seelbach 1998). Eine Zertifikatssteuerung verfolgt beispielsweise der EUEmissionshandel, welcher bislang vorrangig für Energieerzeuger und ausgewählte Industriezweige verbindlich ist, in Teilen aber auch den Luftverkehr abdeckt (vgl. Abschnitt 3.4). Ungeachtet der Frage, ob Logistikunternehmen künftig aus Eigeninteresse „grü­ ner“ werden wollen oder ob sie durch regulatorische Vorgaben hierzu gezwungen werden, stehen sie vor der Aufgabe, die durch sie verursachten Emissionen zu er­ fassen, diese auf die erbrachten Transportleistungen im Einzelnen umzulegen und Maßnahmen zur Emissionsreduktion zu suchen. Diese Herausforderungen werden in den nachfolgenden Abschnitten kurz umrissen.

2.2 Emissionsabgrenzung Eine grundsätzliche Frage der emissionsorientierten Transportlogistik ist, welche Emissionsarten in die Betrachtung einbezogen werden und wie das System einge­ grenzt wird, dessen Emissionen betrachtet werden sollen. Konzentriert man sich hierbei auf Treibhausgase (Emissionsart) einer Transportdienstleistung (Systemgren­ ze), so stellt die DIN EN16258/2012 „Methode zur Berechnung und Deklaration des Energieverbrauchs und der Treibhausgasemissionen bei Transportdienstleistungen“ ein Regelwerk zu einer entsprechenden Definition und Abgrenzung transportbeding­ ter Emissionen bereit. Erläuterungen zu diesem Regelwerk finden sich unter anderem in Schmied und Knörr (2013). Ein Aspekt ist hierbei, dass die Nutzung fossiler Treibstoffe nicht nur das all­ gemein bekannte Kohlendioxid verursacht, sondern zahlreiche weitere Treibhaus­ gase in unterschiedlichen Mengenverhältnissen erzeugt. Jedoch ist für alle Treib­ hausgase entsprechend ihrer Wirkung auf den Treibhauseffekt eine Umrechnung in CO2 -Äquivalente (CO2 -Equivalents, CO2 e) möglich. Hierdurch kann die Umwelt­ wirkung einer Treibstoffart auf Grundlage der Emissionsmenge CO2 e je Mengenein­ heit des Treibstoffs bilanziert werden, ohne dass Einzelbetrachtungen verschiedener Treibhausgase erforderlich sind. So verursacht nach Schmied und Knörr (2013, S. 28), der Verbrauch eines Liter Diesels zum Betrieb eines Fahrzeugs 2,67 kg CO2 e. Diese unmittelbar aus dem Energieträgerkonsum resultierenden Emissionen werden als Tank-to-Wheel (TTW) Emissionen bezeichnet. Für eine objektive Betrachtung der Um­ weltwirkung eines solchen Verbrauchs sind zusätzlich die durch die Herstellung und Bereitstellung des Energieträgers verursachten Emissionen einzubeziehen. Diese so­ genannten Well-to-Tank Emissionen (WTT) liegen für Diesel bei 0,57 kg CO2 e/Liter. Die Summe aus WTT und TTW liefert die sogenannten Well-to-Wheel WTW Emissio­ nen. Für Diesel sind dies entsprechend 3,24 kg CO2 e/Liter. Die Betrachtung von TTW, WTT und WTW ermöglicht die Vergleichbarkeit verschiedenster Energieträger. Ins­

1156 | Frank Meisel

besondere kann so auch der Einsatz elektrisch betriebener Verkehrsmittel beurteilt werden, bei denen zwar keine TTW Emissionen entstehen, die Erzeugungsform der Elektrizität allerdings erheblichen Einfluss auf die Umweltwirkung hat. So verursacht die Erzeugung und Bereitstellung einer kWh des deutschen Strommixes ca. 0,58 kg CO2 e. Für Ökostrom liegt der Wert bei 0,29 kg CO2 e/kWh (vgl. Schmied/Knörr 2013, S. 58). Weitere Abgrenzungsformen – insbesondere auch für Emissionen die neben dem Energieverbrauch der Transportmittel entstehen – werden durch die Scopes 1 bis 3 des GHG Protocol definiert (vgl. z. B. Schmied/Knörr 2013, S. 21).

2.3 Emissionsbilanzierung Eine weitere Herausforderung stellt die Quantifizierung der durch einen einzelnen Transportprozess (z. B. die Belieferung mehrerer Kunden auf einer Verteiltour) ver­ ursachten Treibhausgasemission dar. Für Transportprozesse die bereits durchgeführt wurden, kann hierzu recht einfach der tatsächliche Energie- beziehungsweise Treib­ stoffverbrauch (beispielsweise gemessen in Liter Diesel) mit einem entsprechenden Emissionsfaktor (beispielsweise WTW-gCO2 e je Liter Diesel) gewichtet werden (vgl. Schmied/Knörr 2013, S. 38). Hingegen sind zum Zeitpunkt der Transportplanung die letztlich resultierenden Treibstoffverbräuche noch unbekannt. Soll nun im Rahmen der Transportplanung eine Entscheidung (Wahl des einzusetzenden Fahrzeugs, Modifikation der Kunden­ besuchsfolge etc.) hinsichtlich ihrer Umweltwirkung bewertet werden, so gilt es, die zu erwartenden Treibstoffverbräuche abzuschätzen. In der Literatur werden hierzu zahlreiche Schätzmodelle vorgeschlagen. Unterschieden werden Faktormodelle, ma­ kroskopische Modelle und mikroskopische Modelle (vgl. Demir/Bektaş/Laporte 2014, S. 778). Einfache Faktormodelle ähneln der verbrauchsbasierten Berechnung, verrech­ nen aber eine tabellierte Verbrauchsrate (z. B. in Liter Diesel je 100 Fahrzeugkilometer eines 24 t LKW in bergigem Terrain) mit der geplanten Fahrleistung und einem Emis­ sionsfaktor. Die Modelle sind zumeist wenig genau, da sie nur eine begrenzte Zahl von Einflussgrößen berücksichtigen. Genauere Prognosen lassen sich mit makro­ skopischen Modellen erzielen, die Verbrauchsraten unter Einbeziehung ausgewählter relevanter Einflussgrößen (beispielsweise der tatsächlichen Ladungsmenge auf einem Streckenabschnitt) berechnen. Mikroskopische Modelle, wie das CMEM Modell nach Scora und Barth 2006, fokussieren auf eine hochpräzise Verbrauchsschätzung. Unter Verwendung fein aufgelöster Streckeninformationen (Geschwindigkeitsprofil, Ge­ ländeform, etc.) und fahrphysikalischer Eigenschaften des Transportmittels werden detailliert Fahrwiderstände berechnet und resultierende Energie-/Treibstoffbedarfe abgeleitet. Durch den immensen Datenbedarf sind mikroskopische Modelle für den operativen Einsatz in der Transportwirtschaft eher ungeeignet. Einen Mittelweg be­ schreiten mesoskopische Modelle, die mit geringerem Datenbedarf als mikroskopische Modelle eine deutlich genauere Schätzung im Vergleich zu makroskopischen Model­ len ermöglichen (vgl. Kirschstein/Meisel 2015).

Emissionsorientierte Transportlogistik

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2.4 Sendungsbezogene Allokation Neben der Erfassung der transportbedingten Emissionen müssen Logistikunterneh­ men künftig in der Lage sein, diese Emissionen auf die transportierten Sendungen umzulegen. Insbesondere bei Sammelladungsverkehren, wo mehrere Sendungen ge­ meinsam durch ein Verkehrsmittel transportiert werden, stellt sich die Frage nach einer transparenten, verursachergerechten Aufteilung (Allokation) der gesamten Emis­ sionsmenge auf die einzelnen Sendungen. Der Bedarf für eine derartige Allokation entsteht dadurch, dass Versender und Empfänger zuvorderst ein Informationsbedürf­ nis bezüglich der durch ihre eigenen Sendungen erzeugten Umweltbelastungen besit­ zen. Diese Emissionen gehen unter anderem in den Product Carbon Footprint ein. Bereits heute sind Transportunternehmen durch die in Frankreich erlassenen De­ cret 2011–1336 und Decret 2017–639 verpflichtet, Emissionsmengen von Transporten, deren Start- oder Zielpunkt in Frankreich liegt, gegenüber ihren Kunden auszuwei­ sen. Die hierzu zu verwendenden Allokationsmethoden sind durch die Erlasse vorge­ geben. Die DIN/EN16258 eröffnet zahlreiche weitere Allokationsmethoden, welche auf eine einfache Anwendbarkeit in der Praxis abzielen (vgl. Schmied/Knörr 2013). Diese unterscheiden sich vorrangig in den Verteilungsschlüsseln, wobei Emissionsmengen auf Basis von Distanzen, Sendungsgewichten, Sendungsvolumina, Tonnenkilometern oder Anzahl an Stopps zu Sendungen allokiert werden können. In der Literatur wer­ den darüber hinaus auch spieltheoretisch fundierte Ansätze betrachtet (vgl. Kellner/ Otto 2012).

2.5 Handlungsfelder der Transportwirtschaft Um den aus Gesellschaft, Politik und privatwirtschaftlichen Interessen resultieren­ den Forderungen nach umweltverträglicheren Transportlösungen nachzukommen, können Logistikunternehmen zahlreiche Wege beschreiten. Durch unternehmeri­ sche Entscheidungen können sowohl auf strategischer, taktischer als auch operativer Ebene Maßnahmen initiiert werden, die zu einer Reduktion transportbedingter Emis­ sionen beitragen (vgl. Dekker/Bloemhof/Mallidis 2012). Eine signifikante Auswirkung auf die Umweltwirkung eines Transportlogistiksystems erfolgt beispielsweise durch Standortentscheidungen für Umschlags- oder Distributionszentren, durch die Ver­ kehrsträgerwahl, aber auch durch die Erneuerung oder Umstrukturierung der eigenen Fahrzeugflotte. Die Gestaltung des Dienstleistungsangebots hinsichtlich Linien- oder Bedarfsverkehren, Ganz- oder Teilladungsverkehren, Bedienfrequenzen etc. bestimmt in erheblichem Umfang die im operativen Geschäft erzeugten Fahrleistungen, Aus­ lastungsraten, Leerkilometeranteile und somit auch Emissionsmengen. Operative Entscheidungen des Transportmanagements, wie die Fahrzeugwahl bei heterogenen Fuhrparks, das Routing bei Sammel- und Verteilverkehren oder die Bildung mul­

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timodaler Transportketten, bestimmen letztendlich die tatsächlichen Energie- und Treibstoffverbräuche und damit die real anfallenden Emissionen. Die genannten Entscheidungsfelder sind gleichfalls im gewinn- und serviceori­ entierten Transportmanagement von Bedeutung. Das Zielsystem einer emissions­ orientierten Transportlogistik kann aber die Bevorzugung einer anderen Lösungsal­ ternative bewirken. In welchem Umfang hieraus tatsächlich eine Verbesserung der Umweltleistung folgt, muss zumeist im Einzelfall durch eine detaillierte Analyse ge­ prüft werden.

3 Betrachtung ausgewählter Verkehrsträger Dieser Abschnitt erläutert Aspekte einer emissionsorientierten Transportlogistik für die aus Umweltsicht bedeutendsten Verkehrsträger: Straßenverkehr, Eisenbahnver­ kehr, Seeschifffahrt und Luftverkehr.

3.1 Straßenverkehr Straßenverkehr ist verantwortlich für ca. 80 % der insgesamt durch Verkehr verur­ sachten CO2 -Emissionen (vgl. Psaraftis 2015, S. XIII). Die Emissionsmenge pro tkm variiert dabei in Abhängigkeit des verwendeten Fahrzeugs und der Einsatzbedingun­ gen erheblich zwischen ca. 60 bis 450 g CO2 e (vgl. Schmied/Knörr 2013, S. 13). Der Emissionsminderung dienen zahlreiche regulatorische und technische Maßnahmen, unter anderem zur Abgasnachbehandlung, zur Beimischung von Biokraftstoffen aber auch räumlich und zeitlich begrenzte Fahrverbote. Eine Verbesserung der Umweltleistung kann im operativen Transportmanage­ ment des Straßengüterverkehrs über eine geeignete Tourenplanung für die häufig als Sammel- und Verteilverkehre organisierten Transportdienstleistungen gesucht werden. Zahlreiche Forschungsarbeiten liefern hierzu Optimierungsmodelle, die im Gegensatz zur klassischen Kostenminimierung eine Minimierung transportbedingter Emissionen verfolgen (vgl. Demir/Baktas/Laporte 2014). Da aber sowohl Transport­ kosten als auch Emissionen mit einer Reduktion der Fahrleistung sinken, führen beide Zielsetzungen häufig zu ähnlichen Lösungen, die sich durch kurze Fahrstrecken und nahezu identische Emissionsmengen auszeichnen (vgl. Demir/Bektaş/Laporte 2014; Kopfer/Schönberger/Kopfer 2014). In größerem Umfang können Emissionen reduziert werden, wenn bei heterogenen Flotten auf die Wahl einer passenden Fahrzeuggröße geachtet wird (vgl. Kopfer/Schönberger/Kopfer 2014) oder wenn die Geschwindigkeit der Transportmittel emissionsminimierend angepasst wird (vgl. Bektaş/Laporte 2011). Modelle, die im Straßengüterverkehr die Geschwindigkeit als Entscheidungsgröße in die Tourenplanung einbeziehen, erscheinen allerdings praxisfern, da sowohl der Ver­

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kehrsfluss als auch die zulässigen Höchstgeschwindigkeiten im Straßenverkehr die Wahlfreiheit des Fahrzeugführers bezüglich der Geschwindigkeit stark beschränken. Die Geschwindigkeit als exogene Größe zu berücksichtigen ist hingegen angebracht, da beispielsweise in der City-Logistik stark schwankende tageszeitliche Verkehrsauf­ kommen und somit auch Fahrgeschwindigkeiten in der Tourenplanung berücksichtigt werden müssen, wenn Emissionen minimiert werden sollen (vgl. Ehmke/Campbell/ Thomas 2016). Ein weiterer wachsender Forschungsbereich mit Bezug zur umwelt­ orientierten Logistik widmet sich der Elektromobilität. Hierbei sind besonders die begrenzten Energiespeicher der Fahrzeuge und die hierdurch erforderlichen zeitin­ tensiven Ladevorgänge innerhalb der Tourenplanung zu berücksichtigen (vgl. z. B. Desaulniers et al. 2016).

3.2 Eisenbahnverkehr Der Eisenbahngüterverkehr kann mit ca. 20 g CO2 e/tkm geringe Emissionsraten erzie­ len (vgl. Schmied/Knörr 2013, S. 13). Dies ist zum einen darin begründet, dass dieser Verkehrsträger der bislang einzige ist, welcher flächendeckend elektrisch betrieben werden kann. Geringe Emissionsraten setzen allerdings voraus, dass Güterzüge mit „sauberem“ Strom gespeist werden, der in der Erzeugung geringe WTT-Emissionen verursacht. Des Weiteren ist eine hohe Kapazitätsauslastung erforderlich, da das er­ hebliche Leergewicht der Transportmittel einen hohen Grundenergiebedarf bewirkt, dessen Umweltwirkung auf die Ladungseinheiten umzulegen ist. Die Erzielung einer hohen Auslastung kann beim Transport von Massengütern Lagerhaltung im Quelloder Zielgebiet erforderlich machen (vgl. Meisel/Kirschstein/Bierwirth 2013). Da Ei­ senbahngüterverkehre zumeist als Bestandteil multimodaler Verkehre auftreten, sind die im Vor- und Nachlauf erzeugten Emissionen in eine ganzheitliche Umweltbewer­ tung der Transportkette einzubeziehen (vgl. Rudi et al. 2016).

3.3 Seeschifffahrt Der Güterseeverkehr weist ebenfalls geringe CO2 e-Emissionsraten auf, die häufig noch unter denen des Eisenbahngüterverkehrs liegen (vgl. Schmied/Knörr 2013, S. 13). Als besonders umweltschädlich wird aber der erhebliche Ausstoß an Schwefeloxiden SOx erachtet, der durch hohe Schwefelanteile in den zum Schiffsbetrieb eingesetzten Schwerölen verursacht wird. Innovationen im Schiffbau (z. B. Triple-E-Klasse) und in Abgasnachbehandlungstechnologien (Scrubber) können allgemein den relativen Treibstoffverbrauch sowie im Besonderen die Schwefeloxidemissionen reduzieren. Eine Reduktion kann aber auch über den Einsatz schwefelärmerer Treibstoffe erzielt werden. Die International Maritime Organization (IMO) weist seit 2006 räumlich be­ grenzte Emission Control Areas (ECAs) aus, innerhalb derer Schiffe mit schwefelarmen

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Treibstoffen betrieben werden müssen. So darf innerhalb der ECAs im Nord- und Ost­ seeraum sowie an den Küsten Nordamerikas Schiffstreibstoff mit höchstens 0,1 % Schwefelanteil eingesetzt werden. Zum Vergleich: der außerhalb von ECAs zulässi­ ge Wert liegt derzeit bei 3,5 % und soll ab 2020 bei 0,5 % liegen (vgl. IMO 2017). Die ECA-Regeln können ebenfalls Grenzen für Stickoxide und Feinstaub beinhalten. Des Weiteren kann der Treibstoffverbrauch durch zahlreiche operative Maßnah­ men reduziert werden (vgl. Psaraftis/Kontovas 2016, S. 301). Eine in der Forschung viel beachtete Möglichkeit betrifft die Festlegung der Schiffsreisegeschwindigkeit (sogenannte Speed Optimization), die im Unterschied zu anderen Verkehrsträgern bei Schiffen auf offener See innerhalb technologischer Grenzen frei wählbar ist. Speed Optimization kann unter Abwägung von Kosten-, Service- und Emissionszielen erfolgen. Das als Slow Steaming bezeichnete Herabsetzen der Geschwindigkeit zielt beispielsweise vorrangig auf eine Reduktion der Treibstoffkosten ab oder auf eine Reduktion von Transportkapazität in Marktsituationen mit Angebotsüberschuss. Ins­ besondere im Zusammenhang mit ECAs kann die kostenminimierende Geschwin­ digkeitswahl zu Fehlentwicklungen hinsichtlich der Umweltwirkung führen. Da schwefelarme Treibstoffe teurer sind als konventionelles Schweröl, kann eine kos­ tenorientierte Speed Optimization unter Zeitfenstervorgaben für das Anlaufen von Häfen bewirken, dass außerhalb von ECAs mit hoher Geschwindigkeit unter Schwer­ öl gefahren wird, um dann innerhalb der ECA durch langsame Fahrt schwefelarmen Treibstoff zu sparen, was insgesamt zu erhöhten Emissionsmengen führen kann (vgl. Fagerholt et al. 2015; Zis/Angeloudis/Bell 2015, S. 171). Als Konsequenz kann es für Schiffsbetreiber sogar attraktiv sein, bevorzugt nicht-ECA Häfen in ihre Liniendiens­ te aufzunehmen, was neben einer Verschlechterung der Umweltwirkung auch eine Wettbewerbsverzerrung darstellt.

3.4 Luftverkehr Im Unterschied zu anderen Verkehrsträgern wird im Luftverkehr Fracht zu einem gro­ ßen Teil im Laderaum von Passagiermaschinen transportiert. Diese sogenannte BellyFracht machte 2016 ca. 52 % der insgesamt im Luftverkehr transportieren Gütermenge aus, Tendenz steigend (vgl. Airbus 2017, S. 102). Die Emissionsraten sind mit ca. 1000 g CO2 e/tkm (Belly-Fracht) beziehungsweise 574 g CO2 e/tkm (Frachtflugzeug) erheblich (vgl. Schmied/Knörr 2013, S. 13). Der gemeinsame Transport von Gütern und Personen erschwert zusätzlich die Allokation der entstehenden Treibhausgasemissionen (vgl. McKinnon/Allen/Woodburn 2012, S. 159). Emissionen des Luftverkehrs können über Innovationen im Flugzeugbau wie neuartige Formgebungen oder Leichtbauweisen mit kohlefaserverstärkten Kunststof­ fen gemindert werden (vgl. Evans 2016, S. 458 ff.). Die Entwicklung von Flugzeugen mit größerer Transportkapazität reduziert durch Skaleneffekte die Emissionsmenge je Tonnen- beziehungsweise Personenkilometer (vgl. McKinnon/Allen/Woodburn 2012,

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S. 159). Lange Produktlebenszyklen in der Luftfahrtindustrie erschweren allerdings einen zügigen Ersatz bestehender Flotten (vgl. McKinnon/Allen/Woodburn 2012, S. 158). Hohe und volatile Treibstoffpreise bewegen Luftfahrtgesellschaften hingegen zu einer aktiven Suche nach operativen Maßnahmen, um ihren Treibstoffverbrauch zu senken. Eine solche Maßnahme kann die Mitnahme einer möglichst geringen Treibstoffreserve sein, womit das Gesamtgewicht des Flugzeugs und somit dessen Treibstoffverbrauch reduziert wird (vgl. Evans 2016, S. 470). Hohe Treibstoffpreise können somit – wenn auch durch Kostensenkung getrieben – zu einer Verbesserung der Umweltleistung führen (vgl. Miyoshi/Merkert 2015). Eine Besonderheit des Luftverkehrs ist, dass Flüge die in Europa starten und/oder landen seit 2012 durch die EU-Richtlinie 2009/29/EG in das europäische Emissionshan­ delssystem einbezogen sind. Auf Grund ungeklärter Zuständigkeiten lehnen mehrere nicht-EU Staaten diese Regelung aber ab (vgl. Evans 2016, S. 472). Die auf eine ganz­ heitliche Abdeckung des Luftverkehrs abzielende Initiative „Carbon Offsetting and Re­ duction Scheme for International Aviation (CORSIA)“ führt hierzu ab 2021 Begrenzun­ gen der jährlichen Emissionsmengen von Fluggesellschaften ein (ICAO 2017).

4 Fazit und weiterführende Aspekte Bereits heute existieren zahlreiche regulatorische Vorgaben, technologische Lösungs­ ansätze und unternehmerische Gestaltungsmöglichkeiten für eine umweltfreundli­ chere Transportlogistik. Zumeist handelt es sich hierbei um Insellösungen für einzel­ ne Verkehrsträger oder Segmente des Transportmarktes. Besonders die Entwicklung verkehrsträgerübergreifender Lösungs- und Bewertungsansätze scheint bislang un­ terrepräsentiert. Da sich der hier bereitgestellte Beitrag nur ausgewählten Aspekten gewidmet hat seien abschließend einige zusätzliche Felder erwähnt, die eine weiterführende Auseinandersetzung mit dem Themenfeld der emissionsorientierten Logistik ermög­ lichen. Neben dem Blick auf transportbedingte Emissionen sollten Emissionen aus Umschlags- und Lagerprozessen nicht aus dem Blick verloren werden. Eine Lebenszy­ klusanalyse von Logistik-Assets (Verkehrsmitteln, Einrichtungen etc.) führt ebenfalls zu einer umfassenderen Sicht auf die Umweltwirkung eines Logistiksystems. Weitere Herausforderungen wirft die Güterdistribution in urbanen Räumen auf, deren Um­ fang durch Verstädterung und wachsenden Online-Handel stark zunimmt. Tragfähige Konzepte der City-Logistik aber auch technologische Entwicklungen (z. B. autonome Fahrzeuge, Paketauslieferung durch Drohnen) können hier potentiell Lösungsansätze bieten. Im Interesse einer ressourcenschonenden, nachhaltigen Kreislaufwirtschaft ist neben der vorwärts gerichteten Güterdistribution auch die Logistik rücklaufender Güterflüsse (Reverse Logistik, Entsorgungslogistik) zunehmend relevant.

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Karsten Kieckhäfer

Planungsaufgaben und Entscheidungsunterstützung im Kontext der Elektromobilität 1 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2 3.3 4

Einleitung | 1165 Identifikation und Strukturierung relevanter Planungsaufgaben | 1167 Bezugsrahmen | 1167 Planungsaufgaben Automobilhersteller und Zulieferer | 1170 Planungsaufgaben Flotten- und Infrastrukturbetreiber | 1175 Entscheidungsunterstützung im Rahmen der strategischen Planung in der Automobilindustrie | 1177 Vorüberlegungen und Auswahl von Fallbeispielen | 1177 Fahrzeugportfoliogestaltung im Übergang zur Elektromobilität | 1179 Investitions- und Kapazitätsplanung für die Fertigung von Traktionsbatterien | 1183 Fazit | 1186 Literatur | 1187

Zusammenfassung. Das Themengebiet der Elektromobilität wird seit vielen Jahren als zentraler Bestandteil einer Lösung zur Verminderung der Umweltwirkungen des motorisierten Individualverkehrs verstanden. Die hierdurch hervorgerufene Transfor­ mation hin zur Nutzung von Pkw mit elektrischen Antriebskonzepten stellt nicht nur Automobilhersteller, sondern auch deren Zulieferer und Kunden vor vielfältige Her­ ausforderungen. In diesem Beitrag werden die damit im Zusammenhang stehenden Planungsaufgaben aufgearbeitet. Auf Seiten der Automobilhersteller stehen insbe­ sondere strategische Planungsprobleme der Produkt- und Portfoliogestaltung sowie der Netzwerkgestaltung (z. B. Festlegung der Fertigungstiefe sowie Technologie- und Kapazitätswahl) im Mittelpunkt. Auf Seiten der Flotten- und Infrastrukturbetreiber werden auf der Gestaltungsebene Fragestellungen der Infrastruktur- und Flottenpla­ nung sowie auf der Lenkungsebene Fragestellungen der Touren- und Ablaufplanung angesprochen. Anhand zweier Fallbeispiele zur Integration von Elektrofahrzeugen in das Produktportfolio sowie zur Investitions- und Kapazitätsplanung für die Fertigung von Traktionsbatterien erfolgt eine Veranschaulichung, wie auf strategischer Ebene mit Hilfe von Simulations- und Optimierungstechniken Entscheidungsunterstützung für Automobilhersteller geleistet werden kann.

https://doi.org/10.1515/9783110473803-058

Planungsaufgaben und Entscheidungsunterstützung im Kontext der Elektromobilität |

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1 Einleitung Etwa 23 % der weltweiten, anthropogen bedingten CO2 -Emissionen (vgl. IEA 2016, S. 12) und über 50 % der weltweiten Erdölnachfrage (vgl. OPEC 2014, S. 89) sind dem Verkehrssektor zuzurechnen. Während in anderen Sektoren die Treibhausgasemissio­ nen in den zurückliegenden Jahren gesenkt werden konnten, sind im Verkehrssektor weiterhin Zuwächse zu verzeichnen. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass der Verkehrssektor weltweit immer wieder zentraler Adressat umweltpolitischer Be­ mühungen und Diskussionen im Zusammenhang mit der Begrenzung von Klimawan­ del und Ressourcenverknappung ist. Im Mittelpunkt steht dabei die Elektromobili­ tät, von der sich eine weitgehende Substitution fossiler Energieträger und damit ein­ hergehend eine signifikante Senkung der CO2 -Emissionen erhofft wird. Gleichzeitig gelten Elektrofahrzeuge auf lokaler Ebene als wichtige Antwort auf Herausforderun­ gen, die mit der Senkung von Schadstoff- und Lärmemissionen einhergehen, um be­ stehende Gesundheitsgefahren zu reduzieren und die Lebensqualität in Städten zu steigern. Dies gilt umso mehr seit Bekanntwerden des sogenannten „Abgasskandals“ im Jahr 2015, in dessen Rahmen die fehlende Einhaltung von gesetzlich vorgeschrie­ benen Abgasgrenzwerten für Dieselfahrzeuge verschiedener Hersteller im Realbetrieb aufgedeckt wurde. Am stärksten zeigen sich die Anstrengungen zur Etablierung der Elektromobilität in der Automobilindustrie. Vielfach existieren politische Zielsetzungen für die Markt­ entwicklung von elektrisch angetriebenen Pkw. In Deutschland etwa soll bis zum Jahr 2020 ein Bestand von einer Million Elektrofahrzeugen mit externer Lademöglichkeit erreicht sein (vgl. Die Bundesregierung 2009, S. 18). Zudem gelten in allen bedeuten­ den Automobilmärkten Grenzwerte für die durchschnittlichen CO2 - beziehungswei­ se Treibhausgasemissionen der durch die Hersteller abgesetzten Fahrzeugflotte, die immer mehr nur durch den Absatz elektrisch angetriebener Fahrzeuge eingehalten werden können. Die Nichteinhaltung der Vorgaben wird üblicherweise mit Strafzah­ lungen sanktioniert, die die Wettbewerbsfähigkeit einzelner Hersteller gefährden kön­ nen. Bezogen auf die in der Europäischen Union geltenden Flottengrenzwerte ist für Volkswagen beispielsweise laut einer Studie von PA Consulting allein im Jahr 2020 mit einer Strafzahlung von 1,7 Milliarden Euro zu rechnen (vgl. Eisert 2017). Der USBundesstaat Kalifornien sieht darüber hinaus gesetzlich festgelegte Absatzquoten für Elektrofahrzeuge vor. Auch China plant, ab 2019 eine derartige Quote für Neufahrzeu­ ge einzuführen; in Europa und Deutschland ist diese zumindest Bestandteil des politi­ schen und gesellschaftlichen Diskurses. Selbst für ein generelles Verkaufsverbot von Neuwagen mit Benzin- oder Dieselmotor, ca. ab dem Jahr 2030, bestehen aktuell in einigen Ländern erste Überlegungen. Die beschriebenen politischen Rahmenbedingungen setzen etablierte Automobil­ hersteller verstärkt unter Druck, wettbewerbsfähige Elektrofahrzeuge, insbesondere Plug-in-Hybrid- und Batteriefahrzeuge zu entwickeln, zu produzieren und erfolgreich

1166 | Karsten Kieckhäfer

140

Anzahl Publikationen

120 100 80 60 40 20 0 2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

Abb. 1: Entwicklung der Anzahl wissenschaftlicher Publikationen zu Planungsaufgaben im Kontext der Elektromobilität zwischen 2008 und 2017 (Quelle: Eigene Darstellung)¹.

auf dem Markt anzubieten. Gleichzeitig sind etwa mit Herstellern wie Tesla neue Wett­ bewerber in den Markt eingetreten, die erste beachtliche Erfolge mit dem ausschließ­ lichen Angebot von Elektrofahrzeugen verzeichnen können. Elektrofahrzeuge unterscheiden sich in Bezug auf den Antriebsstrang maßgeblich von konventionell angetriebenen Fahrzeugen. Viele der mechanischen Komponen­ ten werden durch elektrische ersetzt. Insbesondere der Einsatz von Batterien zur Speicherung der Antriebsenergie hat dabei zur Folge, dass Elektrofahrzeuge hin­ sichtlich Preis, Reichweite und Infrastrukturverfügbarkeit Nachteile gegenüber Fahr­ zeugen mit Verbrennungsmotor aufweisen. Hierdurch bedingt treten im Kontext der Elektromobilität vielfältige Planungsprobleme in der Herstellungs-, Nutzungs- und Entsorgungsphase der Fahrzeuge auf, die unter anderem auch das Produktions- und Logistikmanagement betreffen. Diese Planungsprobleme werden immer häufiger in wissenschaftlichen Veröffentlichungen aufgegriffen (vgl. Abbildung 1) und hierfür oftmals, unter Rückgriff auf Methoden des Operations Research, Modelle zur Ent­ scheidungsunterstützung entwickelt. Vor diesem Hintergrund wird mit dem vorliegenden Beitrag das Ziel verfolgt, Planungsaufgaben im Kontext der Elektromobilität zu systematisieren und darzustel­ len, die direkten Bezug zum Produktions- und Logistikmanagement haben. Zudem 1 Ergebnis gemäß Scopus-Abfrage vom 26.09.2017 mit Suche nach TITLE-ABS-KEY((’’electric car*’’ OR ’’electric vehicle*’’) AND (’’optim*’’ OR ’’simul*’’ OR ’’Operations Research’’ OR ’’plan*’’ OR ’’model*’’)) in allen gemäß VHB-Jourqual 3 den Kategorien A+, A und B zugehöri­ gen Zeitschriften der Teildisziplinen Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Logistik, Marketing, Nach­ haltigkeitsmanagement, Operations Research, Produktionswirtschaft, Technologie, Innovation und Entrepreneurship, Wirtschaftsinformatik sowie Dienstleistungs- und Handelsmanagement.

Planungsaufgaben und Entscheidungsunterstützung im Kontext der Elektromobilität

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sollen ausgewählte strategische Planungsaufgaben und der Einsatz von Simulati­ ons- und Optimierungstechniken zur Entscheidungsunterstützung anhand von zwei Fallbeispielen konkretisiert werden. Hierzu wird im Folgenden in Abschnitt 2 zu­ nächst ein Bezugsrahmen zur Systematisierung der Planungsaufgaben erarbeitet, woraufhin diese aus Sicht der Automobilhersteller und Zulieferer sowie aus Sicht der Flotten- und Infrastrukturbetreiber beschrieben werden. Abschnitt 3 widmet sich den Fallbeispielen zur Integration von Elektrofahrzeugen in das Produktportfolio eines Automobilherstellers sowie zur Investitions- und Kapazitätsplanung für die Fertigung von Traktionsbatterien. Der Beitrag endet mit einem Fazit in Abschnitt 4.

2 Identifikation und Strukturierung relevanter Planungsaufgaben 2.1 Bezugsrahmen Elektrofahrzeuge können allgemein hinsichtlich ihres Grads der Elektrifizierung in Vollhybride, Plug-in-Hybride, Range-Extender, Batteriefahrzeuge sowie Brennstoff­ zellenfahrzeuge unterschieden werden. Vollhybride, Plug-in-Hybride und RangeExtender besitzen zwei Energiewandler (Verbrennungs- und Elektromotor) sowie zwei Energiespeichersysteme (Kraftstofftank und Batterie). Sie stellen somit Mischfor­ men aus konventionellen, auf einer Verbrennungskraftmaschine beruhenden sowie innovativen, elektrifizierten Antriebsstrukturen dar, wobei serielle, parallele sowie leistungsverzweigte Hybridantriebe denkbar sind. Vollhybridfahrzeuge sind nur in einem sehr begrenzten Maße für das rein elektrische Fahren ausgelegt. Im Gegen­ satz zu Plug-in-Hybriden und Range-Extendern kann die Batterie von Vollhybriden zudem nicht extern aufgeladen werden, sondern ausschließlich über den Verbren­ nungsmotor oder aber die Rückgewinnung von Bremsenergie. Plug-in-Hybride und Range-Extender unterscheiden sich insbesondere in der Auslegung des Antriebs. Er­ folgt der Antrieb auf Basis einer seriellen Antriebsstruktur rein elektrisch, gilt das Fahrzeug als Range-Extender, da der Verbrennungsmotor in diesem Fall allein zum Aufladen der Batterie und somit zur Erhöhung der Reichweite genutzt wird. Dem­ gegenüber stellen Batterie- und Brennstoffzellenfahrzeuge vollelektrische Fahrzeuge dar, die über keinen Verbrennungsmotor mehr verfügen. In Batteriefahrzeugen erfolgt die Speicherung der Energie in einer Batterie, welche an haushaltsüblichen Steckdo­ sen oder speziell dafür ausgelegten Ladeeinrichtungen aufgeladen werden kann. In Brennstoffzellenfahrzeugen wird die elektrische Energie mit Hilfe einer Brennstoff­ zelle aus der Reaktion von Wasserstoff mit Sauerstoff erzeugt. Die erzeugte Energie wird dabei zumeist nicht direkt zum Antrieb des Fahrzeugs verwendet, sondern zu­ nächst in einer Batterie zwischengespeichert (vgl. Wallentowitz/Freialdenhoven 2011, S. 58–89).

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Mit Bezug zum Produktions- und Logistikmanagement sind derzeit in der wissen­ schaftlichen Literatur und der unternehmerischen Praxis insbesondere Planungsauf­ gaben von Relevanz, die im Zusammenhang mit der Entwicklung, der Produktion, der Nutzung und der Entsorgung von Plug-in-Hybriden, Range-Extendern und Bat­ teriefahrzeugen stehen. Eine besondere Rolle kommt dabei der Traktionsbatterie zu, welche als Schlüsselkomponente für den Erfolg von Elektrofahrzeugen zu verstehen ist. Die Wahl der Batterietechnologie und der Speicherkapazität determiniert maßgeb­ lich die elektrische Reichweite der Fahrzeuge sowie deren Produktionskosten und den Verkaufspreis. Beispielsweise verfügt der aktuell von Volkswagen angebotene e-Golf über eine Lithium-Ionen-Traktionsbatterie mit einer Speicherkapazität von 35,8 kWh. Dies führt zu einer elektrischen Reichweite von 300 km im Testzyklus, erhöht den Ein­ stiegspreis im Vergleich zu einem Golf mit Ottomotor allerdings auch von 17.850 Euro auf 35.900 Euro. Das Tesla Model S wird in zwei Varianten angeboten, die über ei­ ne Speicherkapazität von 75 kWh beziehungsweise 100 kWh verfügen, wodurch eine Reichweite von bis zu 630 km im Testzyklus erreicht wird. Bei angenommenen Kos­ ten von 220 Euro pro Kilowattstunde Speicherkapazität ergeben sich alleine für das Batteriesystem somit Gesamtkosten in Höhe von bis zu 22.000 Euro. Hieraus abgeleitet sind die im Kontext der Elektromobilität relevanten Planungs­ aufgaben auf Seiten der Automobilproduktion und -logistik vornehmlich gestalteri­ scher Natur. Einerseits existieren große Herausforderungen im Bereich der Produktund Portfoliogestaltung, da insbesondere Batteriefahrzeuge gegenüber Benzin- und Dieselautos (noch) über nachteilige Eigenschaften in Bezug auf Preis, Reichweite und Lademöglichkeiten (Ladezeiten sowie Verfügbarkeit von Ladestellen) verfügen (vgl. Abbildung 2). Andererseits führen die neuen Komponenten des elektrischen Antriebs­ strangs (Batterie, aber auch Elektromotor und Leistungselektronik) dazu, dass Auto­ mobilhersteller und Zulieferer die Supply Chain in der Automobilindustrie neu ge­ stalten müssen. Dabei sind insbesondere grundlegende Entscheidungen zu treffen, welche der Komponenten zugekauft oder in Eigenfertigung hergestellt sowie welche Technologien und Kapazitäten für die Produktion der Fahrzeuge sowie deren Recy­ cling bereitgestellt werden sollen. Bedingt durch die angesprochenen Nachteile von Elektrofahrzeugen hinsicht­ lich Preis, Reichweite und Infrastruktur sind im Kontext der Elektromobilität auch während der Nutzungsphase Planungsaufgaben mit Bezug zum Produktions- und Logistikmanagement von hoher Relevanz. Diese betreffen hauptsächlich gewerbliche Betreiber von Fahrzeugflotten und Infrastruktur. Auf gestalterischer Ebene liegt der Fokus auf der optimalen Planung von Ladestelleninfrastruktur (vor allem Standor­ te und Kapazitäten), um geeignete infrastrukturelle Rahmenbedingungen für den Einsatz der Elektrofahrzeuge zu schaffen. Darauf aufbauend ist es Aufgabe der Flot­ tenplanung, Elektrofahrzeuge unter technischen und wirtschaftlichen Gesichtspunk­ ten in gewerbliche Fahrzeugflotten zu integrieren. Fragestellungen des optimalen Einsatzes der geschaffenen Potenziale betreffen auf der Lenkungsebene insbeson­ dere die Touren- und Ablaufplanung. Während sich die Ablaufplanung auf Seiten

Planungsaufgaben und Entscheidungsunterstützung im Kontext der Elektromobilität

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Elektrofahrzeugproduktion und -logistik Gestaltungsaufgaben Automobilhersteller und Zulieferer Supply Chain Entwicklung

Beschaffung

Produkt- und Portfoliogestaltung

Produktion

Entsorgung

Netzwerkgestaltung (insb. Make-or-BuyEntscheidungen, Technologie- und Kapazitätswahl)

Nutzung

Lenkung

Gestaltung

Planungsaufgaben Flottenbetreiber

Planungsaufgaben Infrastrukturbetreiber

Infrastruktur-/Standortplanung

Flottenplanung

Tourenplanung

Ablaufplanung

Folgenabschätzung (Politik und Unternehmen) Abb. 2: Bezugsrahmen Planungsaufgaben im Kontext der Elektromobilität mit Bezug zum Produkti­ ons- und Logistikmanagement (Quelle: Eigene Darstellung).

der Flottenbetreiber auf den Einsatz der Elektrofahrzeuge bezieht, stehen auf Sei­ ten der Infrastrukturbetreiber Fragestellungen der Disposition einzelner Ladesäulen im Mittelpunkt. Hier besteht eine direkte Schnittstelle zu energiewirtschaftlichen Pla­ nungsaufgaben (vgl. z. B. Broneske/Wozabal 2017; Flath et al. 2014; Kaschub/Jochum/ Fichtner 2016), wie unter anderem der Integration von Elektrofahrzeugen in ein in­ telligentes Stromnetz (Smart Grid) oder der Ausgestaltung von Stromtarifen im Sinne eines Nachfragemanagements. Derartige Planungsaufgaben liegen jedoch außerhalb des Betrachtungsbereichs des vorliegenden Beitrags. Übergeordnet nimmt zudem das Feld der Folgenabschätzung eine wichtige Rol­ le im Kontext der Elektromobilität ein. Im Sinne einer besseren Rechtsetzung (Better Regulation) dient die Folgenabschätzung grundsätzlich dazu, die kurz- und langfristi­ gen ökonomischen, ökologischen und sozialen Auswirkungen rechtlicher Regelungen beziehungsweise alternativer Politikoptionen ex ante, also bereits vor ihrer Umset­ zung, zu analysieren (vgl. Böhret/Konzendorf 2001, S. 1; European Commission 2009,

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S. 3–6). Entsprechend ist eine wichtige Planungsaufgabe seitens der Politik darin zu sehen, alternative (umwelt-)politische Maßnahmen zu gestalten sowie hinsichtlich ihrer Effektivität und Effizienz in Bezug auf die Förderung des Markterfolgs der Elek­ tromobilität zu bewerten. Hierbei können beispielsweise die in der Einleitung ange­ sprochenen Grenzwerte für CO2 -Flottenemissionen und Technologiemandate bezie­ hungsweise -verbote oder aber auch Subventionen, steuerliche Regelungen sowie Nut­ zungsbeschränkungen beziehungsweise Privilegierungen zum Einsatz kommen (vgl. Kieckhäfer et al. 2015). Gleichermaßen ist es für Unternehmen von großer Bedeutung im Rahmen der Planung eine Folgenabschätzung durchzuführen, um die wesentli­ chen Auswirkung von politischen Maßnahmen sowie etwaiger unternehmerischer Re­ aktionen aus Unternehmensperspektive beurteilen zu können.

2.2 Planungsaufgaben Automobilhersteller und Zulieferer Allgemein ist auf strategischer Ebene im Rahmen der Produkt- und Portfoliogestaltung einerseits über den Programminhalt sowie die Struktur und den Umfang des Portfoli­ os, andererseits über die technischen, funktionalen und ästhetischen Eigenschaften einzelner Produkte zu entscheiden. Der Programminhalt wird durch die Produkte fest­ gelegt, welche Bestandteil des Portfolios sind. Struktur und Umfang ergeben sich aus der Breite (Anzahl unterschiedlicher Produktlinien) und der Tiefe (Anzahl der Produk­ te innerhalb einer Produktlinie, welche typischerweise als Varianten bezeichnet wer­ den) eines Produktportfolios (vgl. Meffert/Burmann/Kirchgeorg 2008, S. 398–402). Grundsätzliche Handlungsoptionen im Rahmen der Portfoliogestaltung sind die Pro­ duktinnovation, die Produktvariation, die Produktdifferenzierung und die Produkt­ elimination. Die drei erstgenannten Handlungsoptionen führen zur Notwendigkeit der Entwicklung neuer Produkte, um Vorgaben der Portfolioplanung umzusetzen. Ne­ ben Entscheidungen über die Kern- und Zusatzeigenschaften eines Produktes, welche maßgeblich für die Funktionalität sind und der Differenzierung vom Wettbewerb die­ nen, stehen hierbei auch Entscheidungen im Fokus, die im Zusammenhang mit der Markteinführung des Produkts stehen. Hierzu zählen z. B. der Zeitpunkt der Markt­ einführung, die Ausgestaltung flankierender Werbemaßnahmen und die Preissetzung (vertiefend hierzu vgl. z. B. Homburg/Krohmer 2009, S. 536–600). Im Mittepunkt der Portfolio- und Produktgestaltung in der Automobilindustrie stehen Fragestellungen, welche Fahrzeugmodelle mit welchen Eigenschaften wann in welchen Marktsegmenten angeboten werden sollen. Hierbei sind Interdependenzen zwischen den Fahrzeugmodellen zu beachten, z. B. in Bezug auf das Gleichteilepoten­ zial oder aber Kannibalisierungseffekte. Klassischerweise wurden auf strategischer Ebene über lange Zeit die produktbezogenen Kriterien Aufbauart (z. B. Limousine) und Fahrzeuggrößenklasse (z. B. Kleinwagen) zur Definition der Fahrzeugmodelle und Marktsegmente herangezogen. Im Zuge der Einführung von Elektrofahrzeugen sind jedoch zusätzlich Entscheidungen über den einzusetzenden Antrieb zu treffen,

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da einerseits eine größere Anzahl von Antriebsalternativen zur Verfügung steht und andererseits die einzelnen Antriebe unterschiedliche Eigenschaften aufweisen (vgl. Kieckhäfer 2013, S. 43–46). Portfolioentscheidungen beruhen in der Automobilindustrie typischerweise auf alternativen Cycle-Plänen. Diese stellen sämtliche aktuellen und zukünftigen Fahr­ zeugmodelle in ihrer Gesamtheit über einen Planungszeitraum von etwa zehn Jahren samt der wichtigsten Meilensteine im Lebenszyklus (z. B. Entwicklungs- und Produkti­ onsbeginn) dar. Die Cycle-Pläne werden insbesondere anhand finanzieller und markt­ bezogener Kennzahlen (z. B. Kapitalrendite und Absatzvolumen einzelner Fahrzeug­ modelle), aber beispielsweise auch in Bezug auf die Auslastung von Entwicklungsund Produktionskapazitäten sowie die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben bewertet und gegeneinander abgewogen. Hierfür ist eine Vielzahl von Informationen notwen­ dig, etwa hinsichtlich erwarteter Absatz- und Investitionsvolumen, der Produktkosten sowie technischer und gesetzlicher Restriktionen. Die oben beschriebenen Interde­ pendenzen zwischen den Fahrzeugmodellen müssen dabei ebenso geeignet Beach­ tung finden wie bestehende Unsicherheiten hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung der genannten Größen (vgl. Raasch/Schneider/Friedl 2007). Im Zusammenhang mit der Produktgestaltung ist die Auslegung der Batterie von besonderer Bedeutung. Zum einen muss eine Balance zwischen einer ausreichen­ den elektrischen Reichweite von Elektrofahrzeugen und den hieraus resultierenden Produktkosten erreicht werden. Zum anderen determinieren Entscheidungen über die Gestalt der Batterie maßgeblich die Umweltbelastung von Elektrofahrzeugen. Im Rahmen der Planung ist insbesondere unterschiedlichen Fahrprofilen der Nutzer, der Entwicklung der Batterietechnologie und -kosten, den vorherrschenden Strompreisen und dem Strommix sowie der verfügbaren Ladeinfrastruktur Rechnung zu tragen (vgl. Garcia et al. 2017; Lin 2014; Redelbach/Özdemir/Friedrich 2014). Durch eine simulta­ ne Produkt- und Infrastrukturgestaltung (vgl. Abschnitt 2.3) können gegebenenfalls Synergiepotenziale erschlossen werden, da zwischen den beiden Planungsaufgaben Interdependenzen bestehen: Je höher (geringer) die Reichweite von Elektrofahrzeu­ gen, desto geringer (höher) der Bedarf an Ladeinfrastruktur (vgl. Nie/Ghamami 2013; Traut et al. 2012). Als zweite bedeutende Planungsaufgabe umfasst die strategische Netzwerkge­ staltung generell beispielsweise Fragestellungen der Festlegung von Lager- und Pro­ duktionskapazitäten, der Standortwahl, der Auslegung des Produktionssystems, der Gestaltung von Beschaffungs- und Distributionsstrukturen, der Festlegung der Fer­ tigungstiefe, der Auswahl von Lieferanten sowie der Gestaltung von Kooperationen. Ziel ist die Konfiguration eines Netzwerks, welches die wichtigsten Lieferanten und Kunden, eigene Produktionsstandorte und Distributionszentren sowie die elementa­ ren Materialflüsse von den Lieferanten bis zu den Kunden umfasst (vgl. Fleischmann/ Meyr/Wagner 2015; Rohde/Meyr/Wagner 2000). Die genannten Planungsaufgaben der Netzwerkgestaltung sind auch in der Auto­ mobilindustrie von hoher Relevanz, wobei eine Reihe industriespezifischer Charakte­

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ristika zu beachten sind (zur Vertiefung vgl. z. B. Meyr 2004; Volling et al. 2013; Wittek 2013, S. 9–74). Auf Grund der Vielfältigkeit der Aufgaben soll an dieser Stelle der Fo­ kus auf Herausforderungen in der Planung liegen, die im direkten Zusammenhang mit der Elektromobilität und hier insbesondere mit der Produktion und dem Recycling von Traktionsbatterien bestehen. Die Produktion der Traktionsbatterien lässt sich grob in zwei Schritte unterteilen. Im ersten Schritt erfolgt die Fertigung der Zellen mit den Teilprozessen Elektrodenfer­ tigung, Zellfertigung und Formierung. Die Zellen bilden die Basis eines jeden Batterie­ systems und bestimmen wesentlich dessen technologische Eigenschaften und Kosten. Im zweiten Schritt werden die Zellen mit weiteren Komponenten zunächst zu Modulen und anschließend zum eigentlichen Batteriesystem integriert. Die Zellfertigung gilt als der technologisch anspruchsvollste Schritt, welcher unter anderem hohe elektroche­ mische Kompetenzen bei der Gestaltung von hochautomatisierten Prozessen verlangt und mit der Fertigung von Solarmodulen und Flachbildschirmen zu vergleichen ist. Demgegenüber ähneln die nachfolgenden Schritte bekannten Montageprozessen in der Automobilindustrie (vgl. Huth 2014, S. 21–27). Im Zuge der Markteinführung von Elektrofahrzeugen muss die Fertigung der Trak­ tionsbatterie somit neu in die Wertschöpfungskette der Automobilindustrie integriert werden. Mit einer geplanten Jahresproduktion von 500.000 Lithium-Ionen-Batte­ riesystemen beziehungsweise 35 Gigawattstunden Batteriekapazität wird die größte Batteriefabrik der Welt derzeit von dem US-Automobilhersteller Tesla in Betrieb ge­ nommen. Schätzungen gehen davon aus, dass sich die Investition in eine Produk­ tionsanlage mit einer Jahreskapazität von 100.000 Lithium-Ionen-Batterien auf ca. 240 Millionen Euro beläuft. Etwa 80 % dieser Investition entfallen dabei auf die Zell­ fertigung (vgl. Huth 2014, S. 28 f.). Aus Sicht eines Automobilherstellers stellt sich das Entscheidungsproblem, in welche Fertigungsschritte und welche Technologien investiert werden soll sowie in welcher Höhe Fertigungskapazitäten bereitzustellen sind. Grundsätzlich bestehen die Optionen, die Fertigung vollständig eigenständig durchzuführen, das gesamte Bat­ teriesystem zuzukaufen oder sich allein auf die Systemintegration zu konzentrieren. Darüber hinaus sind auch Mischformen sowie eine Fertigung im Joint Venture denk­ bar (vgl. Huth 2014, S. 88–91). Die Eigenfertigung birgt die Chance, einen hohen Wertschöpfungsanteil im Unter­ nehmen zu halten und somit zur Sicherung von Arbeitsplätzen und zur Differenzie­ rung vom Wettbewerb beizutragen. Demgegenüber liegen die Risiken insbesondere in den hohen Investitionen in die Fertigungsanlagen, den teilweise fehlenden Kom­ petenzen im Bereich der Zellfertigung sowie vielfältigen Unsicherheiten. In der Be­ schaffung beziehen sich die Unsicherheiten insbesondere darauf, dass zur Produkti­ on von Lithium-Ionen-Traktionsbatterien wertvolle, teilweise knappe und geologisch konzentrierte Rohstoffe wie beispielsweise Lithium und Kobalt benötigt werden, die hohen Preisschwankungen unterliegen (vgl. Hoyer 2015, S. 28–39). Entsprechend sind geeignete Lieferanten auszuwählen und möglichst langfristige Verträge zur Sicherung

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der Rohstoffversorgung abzuschließen, sollten sich Automobilhersteller für die Eigen­ fertigung der Batteriesysteme entscheiden. Nachfrageunsicherheiten beziehen sich hauptsächlich auf das zu erwartende Absatzvolumen von Elektrofahrzeugen, da sich der Markt noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium befindet. Darüber hin­ aus bestehen Technologieunsicherheiten. Die derzeit eingesetzten Lithium-Ionen-Zel­ len werden mittel- bis langfristig von neuen Technologien wie z. B. Feststoff- oder Li­ thium-Schwefel-Zellen abgelöst werden, um weitere Steigerungen der Energiedichte der Batterien und der Fahrzeugreichweite erzielen zu können. Allerdings ist heute noch unklar, wann diese Technologien marktreif sind und bestehende Technologien im Sinne aufeinander folgender Technologie- und Produktlebenszyklen ablösen wer­ den (vgl. Huth 2014, S. 35–47). Somit bietet der Fremdbezug von kompletten Batteriesystemen oder zumindest der Batteriezellen von spezialisierten Zulieferern für Automobilhersteller den Vorteil, dass das Investitionsrisiko komplett beziehungsweise größtenteils auf die Zulieferer auslagert werden kann. Zudem kann auf bestehende Kompetenzen der Zulieferer im Bereich der Zellfertigung zurückgegriffen werden. Hierfür ist wiederum eine Lieferan­ tenauswahl vorzunehmen sowie eine Absicherung von Mengen und Preisen durch langfristige Kooperationen anzustreben. Als Konsequenz würde der Anteil der Auto­ mobilhersteller an der Gesamtwertschöpfung eines Elektrofahrzeugs deutlich gerin­ ger als für den Fall der Eigenfertigung ausfallen, sodass bestehende Arbeitsplätze mit einem zunehmenden Markterfolg der Elektromobilität gefährdet wären. Gleichzeitig besteht aus Sicht der Zulieferer die Chance, über die Aggregation von Bedarfen meh­ rerer Hersteller Skaleneffekte beim Aufbau von Produktionskapazitäten zu realisieren sowie Nachfrage- und Technologieunsicherheiten zu reduzieren. Getrieben durch gesetzliche Regelungen sowie ökonomische und ökologische Aspekte spielen im Rahmen der Netzwerkgestaltung auch Fragestellungen des Re­ cyclings eine wichtige Rolle, die den Themenfeldern Reverse Logistics und ClosedLoop Supply Chain Management zuzuordnen sind (vgl. den Beitrag von Spengler und Schmidt im vorliegenden Handbuch). So sieht beispielsweise die BatteriegesetzDurchführungsverordnung vor, dass mindestens 50 % der Masse der in Elektrofahr­ zeugen verbauten Traktionsbatterien stofflich zu verwerten ist. Darüber hinaus bieten geeignete Recyclingprozesse die Chance, die in einer Batterie enthaltenen Rohstof­ fe zurückzugewinnen. Diese können für das Beispiel einer Lithium-Ionen-Batterie mit einem Gewicht von 300 kg gemäß Marktpreisen von 2016 (vgl. Nickel-ManganKobalt-Technologie) insgesamt einen Wert von mehr als 700 € besitzen (vgl. Thies et al. 2018). Das Recycling der Batterien bietet allerdings nicht nur ein signifikantes Erlöspotenzial. Vielmehr kann hierdurch eine sekundäre Rohstoffquelle erschlossen werden, um die Sicherheit der Rohstoffversorgung zu erhöhen, Preisschwankungen auf den Rohstoffmärkten entgegenzuwirken und Umweltbelastungen zu senken (vgl. Hoyer 2015, S. 2 f.). Generell besteht ein Recyclingprozess für Lithium-Ionen-Batterien aus Elektro­ fahrzeugen aus einer Abfolge aus Sammel-, Transport-, Sortierungs-, Behandlungs-

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und Beseitigungsaktivitäten. Nach dem Ausbau der Batterien aus dem Fahrzeug er­ folgen typischerweise eine Entladung und die Sammlung der Batterien. Die Batterien werden nachfolgend bis auf Modul- oder Zellebene demontiert. Ziel der sich anschlie­ ßenden mechanischen Aufbereitung ist die Separation einzelner Materialien mit Hilfe von Zerkleinerungs-, Sortier- und Klassierverfahren. Daran können sich pyrometallur­ gische oder hydrometallurgische Verfahren anschließen, um einzelne Metalle, wie et­ wa Cobalt, Nickel oder Lithium, aufzubereiten und zurückzugewinnen. Einzelne Stof­ fe, die während des Prozesses anfallen, sind zudem einer Beseitigung zuzuführen (vgl. Hoyer 2015, S. 56–58). Im Mittelpunkt der Planung eines auf diesem Prozess beruhenden Recyclingnetz­ werks stehen wiederum Fragestellungen der Technologie- und Kapazitätswahl. Für jede einzelne Recyclingaktivität stehen verschiedene Technologien zur Verfügung. Bei der Entscheidung für oder gegen eine Technologie ist einerseits zu beachten, dass gewisse Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Behandlungsschritten bestehen können und im Markt Unsicherheiten hinsichtlich der zukünftig einzusetzenden Bat­ terietechnologie bestehen. Andererseits besitzt die Technologiewahl maßgeblichen Einfluss auf die Art, Menge und Qualität der zurückgewinnbaren Stoffe. Die einzelnen Technologien gehen dabei mit unterschiedlich hohen Investitionen und Betriebskos­ ten einher, welche ebenfalls stark von der Kapazitätswahl beeinflusst werden. Dieser kommt insbesondere auf Grund dynamischer und unsicherer Entwicklungen hinsicht­ lich des Altbatterieaufkommens und der Realisierung möglicher Größendegressions­ effekte eine wichtige Rolle zu. Im Rahmen der Planung ist entsprechend abzuwägen, ob dem durch die bestehenden technologischen und marktseitigen Unsicherheiten induzierten Investitionsrisiko entgegengewirkt werden soll, indem kleine Anlagen sequentiell installiert werden, oder ob zur Ausnutzung von Größendegressionseffek­ ten frühzeitig große Anlagen installiert werden sollen. Mit dieser Entscheidung eng verwoben sind Fragestellungen der Zentralisation beziehungsweise Dezentralisation des Netzwerks, die in den Bereich der Standortwahl fallen und insbesondere für die Sammlung der Batterien von Bedeutung sind. Der Transport der schweren, großen und gewissen Sicherheitsanforderungen unterliegenden Batterien geht mit hohen Kosten einher, sodass durch eine Dezentralisation der Sammlung die Transportwege bis zu einer ersten Behandlungsanlage möglichst kurz zu halten sind (vgl. Hoyer 2015, S. 74 f.). Die für die Batterie angestellten Überlegungen gelten in ähnlicher Weise für die weiteren Komponenten des elektrischen Antriebsstrangs, namentlich den Elektro­ motor und die Leistungselektronik. Auch hier müssen von den Automobilherstellern Make-or-Buy-Entscheidungen unter Beachtung von Wirtschaftlichkeit, Differenzie­ rungspotenzialen, Fertigungskompetenzen sowie Auswirkungen auf den Wertschöp­ fungsanteil und die Beschäftigungssituation getroffen werden. In der Folge sind im Rahmen der Netzwerkgestaltung in jedem Fall Fragestellungen der Lieferantenaus­ wahl und Kooperation und gegebenenfalls der Technologie- und Kapazitätswahl von Bedeutung. Der Elektromotor kann zudem seltene Erden enthalten. Diese Me­

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talle stammen derzeit nahezu ausschließlich aus China, sodass bei entsprechen­ dem Markterfolg der Elektromobilität zukünftig mit hohen Versorgungsrisiken und Preissteigerungen zu rechnen ist. Vor diesem Hintergrund stellt die Gestaltung ei­ nes entsprechenden Recyclingnetzwerks für Elektromotoren eine weitere wichtige Planungsaufgabe dar. Auf Grund vielfältiger Interdependenzen zwischen den genannten Einzelent­ scheidungen kann zudem eine integrierte Planung von Standorten, Technologien und Kapazitäten in einer (Closed-Loop) Supply Chain für konventionelle und elektri­ sche Fahrzeugmodelle zur simultanen Erreichung ökonomischer, ökologischer und sozialer Zielsetzungen vonnöten sein. Dies erlaubt beispielsweise die Analyse, welche Entscheidungen zu treffen sind, um die Kosten oder die Emissionen über die gesamte Supply Chain zu minimieren, und welche Arbeitsplatzeffekte damit einhergehen (vgl. Günther/Kannegiesser/Autenrieb 2015; Kannegiesser/Günther/Gylfason 2014).

2.3 Planungsaufgaben Flotten- und Infrastrukturbetreiber Fragestellungen der strategischen Planung der Ladeinfrastruktur betreffen sowohl In­ frastruktur- als auch Flottenbetreiber. Infrastrukturbetreiber stehen bei der Planung öffentlicher Ladeinfrastruktur in der Verantwortung (vgl. z. B. Jochem 2016). Demge­ genüber ist die Planung privater Ladeinfrastruktur für Betreiber gewerblicher Flot­ ten wie etwa Car-Sharing- oder Taxiflotten von hoher Relevanz (vgl. z. B. Brandstätter/ Kahr/Leitner 2017). Auf gestalterischer Ebene ist die Planungsaufgabe hauptsächlich darin zu sehen, die Standorte für die Ladeinfrastruktur und deren Kapazität festzulegen, um trotz be­ grenzter Reichweite und langer Ladezeiten den reibungslosen Einsatz von Batterie­ fahrzeugen zu gewährleisten. Hierbei ist den unsicheren und dynamischen Entwick­ lungen der Marktdiffusion von Elektrofahrzeugen, der begrenzten Batteriekapazität und der Übertragungsleistung der Ladetechnologie sowie dem Energieverbrauch der Fahrzeuge Rechnung zu tragen. All diese Faktoren besitzen maßgeblichen Einfluss auf den Energiebedarf und die Belegungszeiten und somit auf die nachgefragte Kapa­ zität (vgl. Chung/Kwon 2015; de Vries/Duijzer 2017; Wu/Sioshansi 2017). Als Ladein­ frastruktur kommen üblicherweise Ladestationen zum konduktiven Laden von Elek­ trofahrzeugen mit Hilfe einer Kabel- und Steckerverbindung in Frage. Darüber hinaus sind induktive Ladestationen (vgl. z. B. Liu/Wang 2017) oder Batteriewechselstationen (vgl. z. B. Mak/Rong/Shen 2013) denkbar. Ein ähnliches Planungsproblem ergibt sich für Plug-in-Hybride und Range-Exten­ der. Für diese Fahrzeuge ist zwar die Reichweitenrestriktion nicht gegeben, sodass sie im Grundsatz nicht auf die Ladeinfrastruktur angewiesen sind. Allerdings kann durch eine geschickte Infrastrukturplanung der elektrische Fahranteil der Fahrzeu­ ge deutlich erhöht werden, was sich auf Grund der im Vergleich zu den Kraftstoff­ preisen niedrigen Strompreise positiv auf deren Betriebskosten auswirkt (vgl. Arslan/ Karaşan 2016).

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Im Rahmen der Flottenplanung müssen beispielsweise Logistikunternehmen, Be­ treiber von Car-Sharing-Systemen oder Taxiunternehmen auf strategischer Ebene über die Größe und die Zusammensetzung ihrer Fahrzeugflotte im Zeitverlauf entscheiden. Dabei können sowohl Kauf- und Verkaufsentscheidungen als auch Leasingentschei­ dungen eine Rolle spielen (vgl. Neboian/Spindler 2015). Fragestellungen der Integration von Elektrofahrzeugen in die Fahrzeugflotte be­ ziehen sich zuallererst auf die optimale Flottenzusammensetzung. Hier ist unter anderem unter Beachtung von Kaufpreisen, Betriebskosten, Infrastrukturverfügbar­ keit, Tank- beziehungsweise Ladezeiten, Reichweite, zurückzulegenden Strecken und Transportmengen sowie gegebenenfalls umweltrechtlichen Auflagen darüber zu ent­ scheiden, inwieweit konventionelle Fahrzeuge durch welche Elektrofahrzeuge über die Zeit ersetzt werden sollen. Auf Grund der bestehenden Unterschiede zwischen den Fahrzeugtechnologien hinsichtlich Reichweite und Verfügbarkeit determiniert diese Entscheidung auch maßgeblich die notwendige Flottengröße. Wie bereits erläutert, sind viele der genannten Faktoren insbesondere für Elektrofahrzeuge mit Unsicher­ heiten belegt, denen in der Planung geeignet Rechnung getragen werden muss (vgl. Hiermann et al. 2016; Kleindorfer et al. 2012; Kuppusamy/Magazine/Rao 2017). Aufbauend auf der Flottenentscheidung besteht vor allem für Logistikunterneh­ men auf Lenkungsebene die Aufgabe der Tourenplanung. Hier ist grundlegend dar­ über zu entscheiden, welche Kunden in welcher Reihenfolge im Rahmen einer Tour mit einem gegebenen Fahrzeug zu beliefern sind, um die Kosten der Belieferung be­ ziehungsweise teilweise auch die mit der Belieferung verbundenen Umweltbelastun­ gen zu minimieren. Eine Tour ist dabei dadurch gekennzeichnet, dass sie einen oder mehrere Kundenaufträge umfasst und im selben Depot startet und endet (vgl. Gün­ ther/Tempelmeier 2014, S. 272 f.). Die Herausforderungen im Kontext der Elektromo­ bilität sind wiederum in der begrenzten Reichweite der Fahrzeuge zu sehen, sodass bei der Planung der Touren die Verfügbarkeit von Ladeinfrastruktur und Ladezeiten mit Berücksichtigung finden müssen (vgl. Desaulniers et al. 2016; Schneider/Stenger/ Goeke 2014). Fragestellungen der Ablaufplanung werden seitens der Flottenbetreiber dann re­ levant, wenn ein Umlaufplan für die Fahrten eines festen Fahrplans gefunden wer­ den soll. Zur Minimierung der Gesamtkosten ist eine Entscheidung dahingehend zu treffen, welche Fahrt, ausgehend von einem Depot, mit welchem Fahrzeug bedient werden soll, wobei für jedes Fahrzeug eine zulässige Sequenz an Fahrten gefunden werden muss. Diese Planungsaufgabe stellt sich insbesondere im öffentlichen Perso­ nentransport (vgl. Bunte/Kliewer 2009). Ähnlich zur Tourenplanung ergeben sich die Besonderheiten der Planung im Zusammenhang mit dem Einsatz von Elektrofahrzeu­ gen aus der begrenzten Verfügbarkeit der Fahrzeuge auf Grund von Reichweiten- und Laderestriktionen (vgl. Sassi/Oulamara 2017; Wen et al. 2016). Auch Betreiber von Ladestationen können mit Fragestellungen der Ablaufpla­ nung konfrontiert sein. Durch im Vergleich zu konventionellen Fahrzeugen längeren Ladezeiten und einer geringeren Anzahl an Ladestellen sowie etwaigen Beschrän­

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kungen in der übertragbaren Gesamtleistung ist bei hoher Auslastung der Ladesta­ tion darüber zu entscheiden, wann welches Fahrzeug mit welcher Leistung geladen werden soll. Ziel muss die Gewährleistung einer effizienten Nutzung der Ladeinfra­ struktur sein, um beispielsweise die Wartezeiten der Fahrzeuge oder die Abweichung zwischen gewünschter und tatsächlicher Lademenge in einem gegebenen Zeitfenster zu minimieren. Dabei ist zu beachten, dass Fahrzeuge auch nach Beendigung des Ladevorgangs einzelne Ladestellen noch blockieren und diese als Parkplatz nutzen können (vgl. Kim et al. 2017). Für Batteriewechselstationen existiert ein ähnliches Planungsproblem. Zwar fällt annahmegemäß die Zeit zum Wechsel der Batterie weit­ aus geringer aus als die Ladezeit einer Batterie, dafür steht an den Stationen nur eine begrenzte Anzahl an Wechselbatterien zur Verfügung. Um die Kundenanfragen be­ dienen zu können, müssen diese rechtzeitig wiederaufgeladen sein (vgl. Raviv 2012). Zwischen den zuvor beschriebenen Entscheidungen im Rahmen der Nutzungs­ phase bestehen gewisse Interdependenzen. So wird die Tourenplanung für Elektro­ fahrzeuge von den Standorten der Ladeinfrastruktur beeinflusst. Die Standortplanung hängt wiederum vom Energiebedarf der Fahrzeuge ab, welcher unter anderem durch die Wahl der Touren determiniert wird (vgl. Schiffer/Walther 2017). Die Infrastruktur­ planung hat zudem Einfluss auf die Flottenplanung, da eine hohe Infrastrukturver­ fügbarkeit die Integration von Elektrofahrzeugen in die Fahrzeugflotten fördert. Glei­ chermaßen sind umso mehr Ladestellen notwendig, je mehr Elektrofahrzeuge in die Flotte integriert werden (vgl. Kuppusamy/Magazine/Rao 2017; Li et al. 2016). Zwischen Flotten- und Tourenplanung besteht der direkte Zusammenhang, dass die potenziel­ len Touren maßgeblich von der Flottengröße und -zusammensetzung abhängen, wäh­ rend die gewählten Touren Einfluss auf die notwendige Flottengröße und -zusammen­ setzung besitzen (vgl. Hiermann et al. 2016). Derartige Abhängigkeiten zwischen den Entscheidungen sind im Rahmen der Planung geeignet zu adressieren.

3 Entscheidungsunterstützung im Rahmen der strategischen Planung in der Automobilindustrie 3.1 Vorüberlegungen und Auswahl von Fallbeispielen Auf Grund der Komplexität der vorgestellten Planungsaufgaben werden in der wissen­ schaftlichen Literatur unter Einsatz von Methoden des Operations Research vielfach Modelle zur Entscheidungsunterstützung entwickelt und angewendet. Der Fokus liegt dabei eindeutig auf Planungsaufgaben, die im Zusammenhang mit der Nutzung von Elektrofahrzeugen stehen, wie auch die in Abschnitt 2 zitierte Literatur nahelegt. Die größten Herausforderungen im Kontext der Elektromobilität sind jedoch auf Seiten der Automobilindustrie zu sehen. Insbesondere etablierte Automobilhersteller und Zulieferer sehen sich mit der Notwendigkeit einer umfassenden Transformation des

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Produktangebots und der Wertschöpfungsstrukturen konfrontiert, um trotz vielfäl­ tiger technologischer, regulatorischer, ökonomischer und marktseitiger Unsicherhei­ ten die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Hierbei müssen sie im Übergang zur Elek­ tromobilität allen Erwartungen nach noch über einen langen Zeitraum den Spagat zwischen konventionell und elektrisch angetriebenen Fahrzeugen schaffen. Demge­ genüber können sich neu in den Markt eintretende Wettbewerber, wie etwa Tesla, vollständig auf das Themenfeld der Elektromobilität konzentrieren. Vor diesem Hin­ tergrund werden nachfolgend Fallbeispiele aufgegriffen, in welchen Simulations- und Optimierungstechniken zum Einsatz kommen, um die strategische Planung im Kon­ text der Elektromobilität in der Automobilindustrie zu unterstützen. Das erste Beispiel bezieht sich auf die strategische Gestaltung zukünftiger Fahr­ zeugportfolios. Hier kommt insbesondere der Prognose von Marktanteilen der ein­ zelnen Fahrzeugmodelle beziehungsweise Marktsegmente eine zentrale Rolle zu. So werden die Entscheidungen über das zukünftige Marktangebot maßgeblich davon beeinflusst, welche Marktpotenziale einzelnen Marktsegmenten zugeschrieben wer­ den. Die Marktpotenziale sind neben Annahmen über die Gesamtmarktentwicklung wiederum von der erwarteten Entwicklung der Marktanteile der einzelnen Markt­ segmente abhängig. Zudem stellen die erwarteten Absatzzahlen eine wichtige Basis für die Berechnung finanzieller Kennzahlen dar, welche zur Bewertung alternativer Cycle-Pläne herangezogen werden (vgl. Kieckhäfer 2013, S. 49). Die Erstellung derartiger Marktanteilsprognosen ist mit vielfältigen Unsicherhei­ ten verbunden. Als Gründe hierfür sind unter anderem der lange Prognosehorizont, der hohe Neuigkeitsgrad der Elektrofahrzeuge und die bestehenden Interdependen­ zen zwischen den Fahrzeugmodellen zu nennen (vgl. Abschnitt 2.2). Zudem wird der Automobilmarkt als soziales System maßgeblich durch das Verhalten der einzelnen Marktakteure (insbesondere Hersteller, Kunden, Politik, Infrastrukturbetreiber) be­ einflusst. Trotz der hohen Unsicherheiten sind Prognosen zur Unterstützung der Port­ folio- und Produktgestaltung unumgänglich, damit Automobilhersteller ihr langfris­ tiges Fahrzeugangebot festlegen können. Den Unsicherheiten ist dabei im Rahmen der Planung geeignet Rechnung zu tragen, indem mehrere mögliche Entwicklungen betrachtet sowie bestehende Wirkungszusammenhänge und Systeminterventionen, z. B. in Form von Portfolioentscheidungen, explizit formal abgebildet und analysiert werden. Hierfür stellt die Marktsimulation eine geeignete Methode dar (vgl. Kieckhä­ fer 2013, S. 52–55). Hierunter ist das Folgende zu verstehen: „[Eine Marksimulation ist] ein experimenteller Ansatz zur Analyse von Kunden- und/oder Wett­ bewerbsreaktionen auf unternehmerische Handlungen sowie auf Einflüsse aus der Unterneh­ mensumwelt. Als unternehmerische Handlungen finden dabei insbesondere Entscheidungen hinsichtlich der Gestaltung absatzpolitischer Instrumente Beachtung. Die Kunden- beziehungs­ weise Wettbewerbsreaktionen basieren auf einem mathematischen Messmodell, welches zur Beschreibung der Wirkungszusammenhänge zwischen der Nachfrage, dem Angebot und ver­ schiedenen Faktoren aus der Unternehmensumwelt dient. Zu einer Entscheidungsunterstützung wird eine Marktsimulation dann, wenn im Rahmen eines Experiments die Auswirkungen ver­

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schiedener Gestaltungsoptionen und Szenarien auf abhängige Variablen der Nachfrage sowie auf weitere Unternehmensziele untersucht und hieraus Handlungsempfehlungen für unterneh­ merische Entscheidungen abgeleitet werden können.“ (Kieckhäfer 2013, S. 59 f.)

Welche Eigenschaften ein derartiges Simulationsmodell für den Automobilmarkt be­ sitzen muss und wie es zur Unterstützung der strategischen Planung von Produktport­ folios im Übergang zur Elektromobilität eingesetzt werden kann, wird in Abschnitt 3.2 erläutert. Das konkrete Fallbeispiel bezieht sich auf die Einführung und die Förderung der Marktdurchdringung von Elektrofahrzeugen im deutschen Pkw-Markt. Im Mittelpunkt des zweiten Fallbeispiels steht die Investitions- und Kapazitäts­ planung für die Fertigung von Traktionsbatterien für genau diesen Markt, sodass für die Planung direkt auf die im Rahmen der Produktportfolioplanung simulierten Markthochlaufkurven zurückgegriffen werden kann. In der Literatur sind Modelle zur Unterstützung der strategischen Planung von Produktionskapazitäten bereits seit über 50 Jahren zu finden, wobei oftmals mit Hilfe von klassischen Methoden des Operations Research wie der linearen Optimierung Investitionsprogramme ge­ plant werden (vgl. vertiefend z. B. Martínez-Costa et al. 2014). Um den dynamischen Entwicklungen der Zahlungsflüsse und dem Zeitwert des Geldes geeignet Rechnung zu tragen, wird vermehrt auf die Maximierung des Kapitalwerts abgezielt (vgl. etwa Hoyer/Kieckhäfer/Spengler 2015; Koberstein/Lukas/Naumann 2013). Die Handlungs­ flexibilität des Entscheidungsträgers hinsichtlich des Investitionszeitpunkts findet dabei jedoch keine Beachtung. Diese stellt eine Realoption für Unternehmen dar, welcher auf Grund der hohen Investitionen, der Markt- und Technologieunsicherhei­ ten und der flexibel wählbaren Kapazitäten ein Wert beigemessen werden kann (vgl. Kupfer et al. 2015). Die sich mit derartigen Fragestellungen beschäftigende Realoptionentheorie, wel­ che ebenfalls auf Methoden des Operations Research zurückgreift, ist Gegenstand der Forschung des Corporate Finance. Hiervon ausgehend wird in Abschnitt 3.3 aufge­ zeigt, wie sich Ansätze aus der Realoptionentheorie auf das vorliegende Planungs­ problem übertragen lassen, um die Handlungsflexibilität in Bezug auf die Wahl des Investitionszeitpunkts und die bereitzustellende Produktionskapazität bewerten und Entscheidungsunterstützung leisten zu können.

3.2 Fahrzeugportfoliogestaltung im Übergang zur Elektromobilität Um Fragestellung der strategischen Fahrzeugportfoliogestaltung sowie der Marktein­ führung von Elektrofahrzeugen beantworten zu können, ist das Marktsimulations­ modell AMaSi (Automotive Market Simulator) entwickelt sowie auf Grundlage einer umfangreichen empirischen Datenbasis für den deutschen Automobilmarkt parame­ triert und validiert worden. In dem Modell wird das Zusammenspiel der Entwicklung

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Input

des Angebots an konventionell und elektrisch angetriebenen Fahrzeugen, der Neu­ fahrzeugverkäufe und der Lade- und Tankstelleninfrastruktur abgebildet (vgl. Abbil­ dung 3). Darüber hinaus finden externe Rahmenbedingungen wie etwa die Entwick­ lung der Strom- und Treibstoffpreise Beachtung. Das hybride Modell vereint dabei die Vorteile systemdynamischer (System Dynamics) und agentenbasierter Simulations­ ansätze. Übergeordnete Zusammenhänge wie das Zusammenspiel von Infrastruktur und Fahrzeugbestand, die Entwicklung von Batterietechnologie und -kosten werden mit Hilfe von System Dynamics modelliert. Kaufentscheidungen werden über Agen­

Herstellerstrategie (Einführungszeitpunkte, Preissetzung,…)

Infrastrukturverfügbarkeit

Rahmenbedingungen (Energiepreise, politische Vorgaben, …)

Bestand

Simulationsmodell

Kaufentscheidung

FahrzeugFahrzeugangebot angebot

Bestimmung Größe der Auswahlmenge

Wirkung Werbemaßnahmen

Erfahrungsaustausch mit anderen Kunden

Aufnahme Fahrzeuge in Auswahlmenge

Bewertung der Fahrzeug

FahrzeugFahrzeugabsatz absatz

Auswahl und Kauf eines Fahrzeugs

Technologische Kompetenz Technologische Kompetenz System Dynamics

Output

Agentenbasiert

Marktentwicklung (Fahrzeugabsatz, -bestand, …)

Umweltwirkungen (Emissionen, Ressourcenverbrauch,…)

Abb. 3: Konzept des Marktsimulationsmodells AMaSi (vgl. in Anlehnung an Kieckhäfer/Wachter/ Spengler 2017; Wachter 2016, S. 106).

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ten abgebildet, die Neuwagenkäufer unterschiedlicher Kundensegmente repräsentie­ ren. Das Modell lässt es zu, Analysen entweder aus einer Industrieperspektive oder aber unter Beachtung des Wettbewerbs zwischen zwei konkurrierenden Herstellern durchzuführen. Der Fokus liegt dabei auf Untersuchungen des Einflusses von Herstel­ ler- und politischen Maßnahmen auf die Entwicklung der Absatz- und Bestandszah­ len von Elektrofahrzeugen (zur Vertiefung vgl. Kieckhäfer 2013, S. 81–130; Kieckhäfer/ Volling/Spengler 2014; Kieckhäfer/Wachter/Spengler 2017; Wachter 2016, S. 105–175). Zur Anwendung des Modells müssen vor einem Simulationslauf Einstellungen vorgenommen werden, wann welches elektrische Fahrzeugmodell als Kombination aus Antriebstechnologie (Vollhybrid, Range-Extender, Batterie, Brennstoffzelle) und Größenklasse (klein, kompakt, mittel, groß) von welchem Hersteller in den Markt ein­ geführt und wann welches konventionelle Fahrzeugmodell aus dem Produktportfolio eliminiert werden soll. In Bezug auf die Markteinführung von Elektrofahrzeugen ist über den begleitenden Einsatz von Werbemaßnahmen sowie über die Preissetzung zu entscheiden. Zudem können politische Maßnahmen (z. B. Gewährung einer Kauf­ prämie für Elektrofahrzeuge) zur Beeinflussung des Hersteller- und Kundenverhaltens angewendet werden. Dies ermöglicht die Beantwortung einer Vielzahl von Fragestel­ lungen, die im Zusammenhang mit der Produktportfoliogestaltung stehen, wie etwa (vgl. vertiefend hierzu Kieckhäfer 2013, S. 130–147; Kieckhäfer/Wachter/Spengler 2017; Wachter 2016, S. 176–201): – Inwieweit können Vollhybride und Range-Extender als Übergangstechnologien den Markterfolg von Batteriefahrzeugen vorbereiten? – Welchen Einfluss besitzt die Elimination von Fahrzeugmodellen mit Diesel- oder Ottomotor auf die Marktdiffusion von Elektrofahrzeugen? – Mit welchen Konsequenzen geht die Einführung von Brennstoffzellenfahrzeugen für die Entwicklung der Marktanteile von Elektrofahrzeugen einher? – Welche Preissetzungsstrategie (Skimming- vs. Penetrationsstrategie) ist im Wett­ bewerb als besonders erfolgsversprechend zu werten und welche begleitenden Werbemaßnahmen sind dabei einzusetzen? – Welche politischen Maßnahmen besitzen das größte Potenzial, den Markterfolg von Elektrofahrzeugen zu fördern? – Welchen Einfluss haben diese Maßnahmen auf die Produktportfoliogestaltung? In Bezug auf die letzten beiden Fragen konnte mit Hilfe des AMaSi-Modells beispiels­ weise, im Sinne einer Folgenabschätzung (vgl. Abschnitt 2.1), die Wirkung der in Deutschland im März 2016 diskutierten Kaufprämie für Elektrofahrzeuge bereits vor ihrer Einführung im Juli 2016 untersucht werden. Der Vorschlag sah vor, pro Fahrzeug eine Kaufprämie in Höhe von 5.000 Euro für private und in Höhe von 3.000 Euro für gewerbliche Käufer von Juli 2016 bis zum Jahr 2020 zu gewähren, wobei die Prämie jährlich um 500 Euro reduziert werden und ein Budget von 1,3 Milliarden Euro zur Ver­

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fügung stehen sollte.² Im Rahmen einer Simulationsstudie wurde der Einfluss dieses Diskussionsvorschlags auf die Marktdiffusion von Elektrofahrzeugen mit den Optio­ nen verglichen, keine Kaufprämie zu gewähren sowie zwischen Juli 2016 und 2020 den Kauf eines Elektrofahrzeugs konstant mit 10.000 Euro zu fördern (vgl. Abbildung 4). Dabei blieb die Budgetrestriktion unberücksichtigt. Um bestehenden Unsicherheiten Rechnung zu tragen, kamen zwei unterschiedliche Marktszenarien zum Einsatz: Ein Basisszenario, welches dem Trend bis 2016 folgt und ohne Förderung bis zum En­ de des Jahres 2020 zu einem Bestand von 366.000 Elektrofahrzeugen im deutschen Markt führt, sowie ein optimistisches Szenario, bei dem von einer schnelleren Stei­ gerung der Bekanntheit der Elektrofahrzeuge auf Grund von Werbemaßnahmen und Mundpropaganda ausgegangen wird, sodass bis zum Jahr 2020 ohne Kaufprämie ein Bestand von 628.000 Elektroautos erreicht werden kann. 1.000.000

Bestand Elektrofahrzeuge

ohne Kaufprämie 800.000

5.000 Euro (degressiv) optimistisches Szenario

10.000 Euro 600.000

Basisszenario

400.000

200.000

0 2010

2012

2014

2016

2018

2020

Abb. 4: Simulierter Markthochlauf für Elektroautos im deutschen Automobilmarkt für verschiedene Optionen zum Einsatz einer Kaufprämie und unter Beachtung zweier Marktszenarien (Quelle: Eigene Darstellung).

2 Letztendlich wurde eine leicht anders geartete Kaufprämie von der deutschen Bundesregierung be­ schlossen. Hiermit wird seit Juli 2016 die Anschaffung von Batterie- und Brennstoffzellenfahrzeugen mit 4.000 Euro pro Fahrzeug und von Plug-in-Hybriden mit 3.000 Euro pro Fahrzeug gefördert, solange der Listenpreis des Fahrzeuge 60.000 Euro nicht überschreitet. Das Gesamtbudget für diese Maßnah­ me beträgt 1,2 Milliarden Euro, das jeweils hälftig vom Bund und von der Automobilindustrie bereit­ gestellt wird (vgl. BAFA 2017a). Somit ähneln sich der diskutierte und der beschlossene Vorschlag sehr stark, sodass von einer vergleichbaren Wirkung auszugehen ist. Dies zeigt sich auch an den zwischen Juli 2016 und August 2017 gestellten Förderanträgen. Mit knapp 30.000 Stück ist die Anzahl der An­ träge bisher hinter den Erwartungen zurückgeblieben (vgl. BAFA 2017b).

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Unter den angenommen Randbedingungen wird das Ziel der Bundesregierung von einer Million Elektrofahrzeugen auf deutschen Straßen bis 2020 ohne Verkaufsför­ derung selbst im optimistischen Szenario somit deutlich verfehlt. Zudem zeigt sich, dass durch den Einsatz der Kaufprämie zwar zusätzliche Neufahrzeugkäufe stimuliert werden können, allerdings in einem begrenzten Ausmaß. Im Basisszenario werden bis zum Jahr 2020 etwa 23.000 beziehungsweise 93.000 Elektroautos mehr verkauft, im optimistischen Szenario etwa 47.000 beziehungsweise 171.000 Elektrofahrzeuge. Insgesamt werden in den durchgeführten Simulationsläufen dafür Prämien zwischen 830 Millionen Euro (Basisszenario, 5.000-Euro-Kaufprämie mit degressivem Verlauf) und 7,2 Milliarden Euro (optimistisches Szenario, 10.000-Euro-Kaufprämie) ausge­ schüttet. Insbesondere im optimistischen Szenario übersteigen die Kosten der Prämie das geplante Budget somit deutlich. Hierbei ist zu beachten, dass die Prämie an alle Käufer eines Elektrofahrzeugs ausgeschüttet werden muss und demnach auch an sol­ che, die sich auch ohne die Gewährung einer Prämie für ein Elektroauto entschieden hätten. Unter Beachtung der Simulationsergebnisse ist zu hinterfragen, ob das für die Kaufprämie bereitgestellte Budget nicht besser für andere Maßnahmen hätte genutzt werden sollen, um den Markterfolg der Elektromobilität zu fördern. Dies zumindest legen die Ergebnisse weiterer Simulationsstudien nahe. Hierzu zählen etwa die Förde­ rung des Aufbaus von Ladeinfrastruktur oder der Weiterentwicklung der Batterietech­ nologie zur Verbesserung der Reichweite und Senkung der Produktionskosten von Elektrofahrzeugen. Gleichermaßen konnte mit Hilfe des AMasi-Modells gezeigt wer­ den, dass gezielte Portfolioentscheidungen, wie beispielsweise die Elimination von einem oder mehreren konventionell angetriebenen Fahrzeugmodellen, einen weitaus stärkeren Einfluss auf die Marktdiffusion von Elektrofahrzeugen haben kann als die Kaufprämie. Durch eine derartige Entscheidung besteht jedoch für einzelne Herstel­ ler die Gefahr, eklatante Wettbewerbsnachteile zu erleiden, wenn nicht alle Konkur­ renten dem Vorgehen folgen. Daher ist der Anreiz für etablierte Automobilhersteller, diesen Weg einzuschlagen, als äußerst gering zu bewerten. Dies gilt zumindest, so­ lange keine der mittlerweile weltweit diskutierten Verkaufsverbote für Fahrzeuge mit Diesel- oder Ottomotor von der Politik durchgesetzt werden. Solch ein Verkaufsver­ bot wäre als gravierender ordnungsrechtlicher Eingriff in den Markt zu werten und hätte großen Einfluss auf die Produktportfoliogestaltung der Automobilhersteller (vgl. Kieckhäfer/Wachter/Spengler 2017).

3.3 Investitions- und Kapazitätsplanung für die Fertigung von Traktionsbatterien Zur Unterstützung der Investitions- und Kapazitätsplanung für die Fertigung von Trak­ tionsbatterien kann auf das in Lukas et al. (2017) beschriebene optionstheoretische Modell zur Bewertung von Investitionsoptionen zurückgegriffen werden. Das Modell

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entscheidet endogen über den Investitionszeitpunkt in eine Anlage für die Produk­ tion einer neuen Technologie und die zur Verfügung zu stellende Kapazität. Hierbei wird davon ausgegangen, dass die Entscheidung, ob und in welcher Höhe eine In­ vestition zu tätigen ist, einmalig von einem Unternehmen getroffen werden kann. Die Nachfrage für die spezifische Technologie ist annahmegemäß unabhängig von der In­ vestitionsentscheidung des Unternehmens. Sie kann entweder durch Eigenfertigung oder unter Rückgriff auf einen Zulieferer bedient werden. Das Modell baut auf klassischen Überlegungen zur Bewertung von Finanzoptio­ nen auf. Abweichend hiervon findet jedoch Beachtung, dass Produkte eine endliche Lebensdauer aufweisen und einem Lebenszyklus folgen. Somit besteht bei Einfüh­ rung einer neuen Technologie die Möglichkeit, dass Absatzzahlen für ein bestehen­ des Produkt kurzfristig drastisch zurückgehen. Darüber hinaus nimmt die Nachfrage nach einem Produkt über die Lebenszeit typischerweise zunächst zu, dann aber in der Sättigungs- und Degenerationsphase stetig ab. Für die Investitionsentscheidung des Unternehmens hat dies zur Folge, dass Cash-Flows aus dem Investitionsprojekt dem typischen Verlauf des Produktlebenszyklus folgen und auf Grund bestehender Nach­ frageunsicherheiten selbst mit Unsicherheiten belegt sind (vgl. Kupfer et al. 2015; Lu­ kas et al. 2017). Um die angesprochenen Punkte mit dem Modell abbilden zu können, wird auf ¯ die Differentialgleichung eines allgemeinen Ito-Prozesses zurückgegriffen und diese mit Hilfe des Bass-Diffusionsmodells auf den Produktlebenszyklus angepasst. Dar­ auf aufbauend wird der Wert der Investitionsoptionen als homogene Differentialglei­ chung n-ter Ordnung beschrieben, welche mit Hilfe der Crank-Nicholson-Methode nu­ merisch gelöst wird (zur Vertiefung vgl. Lukas et al. 2017). Auf Basis der berechneten Optionswerte können optimale Schwellwerte für die Investitionsmöglichkeit sowie die optimale Kapazität bei jeder möglichen Investition bestimmt werden. Da eine Investi­ tion genau dann durchgeführt werden sollte, sobald das beobachtete Marktpotenzial den Schwellwert erreicht, kann aus dem Schwellwert zudem der optimale Investiti­ onszeitpunkt abgeleitet werden (vgl. Kupfer et al 2015). Insgesamt stimmen die im Modell getroffenen Annahmen sehr stark mit der ak­ tuellen Situation hinsichtlich der Fertigung von Traktionsbatterien in der Automobil­ industrie überein. Automobilhersteller müssen darüber entscheiden, in welcher Grö­ ßenordnung sie in Produktionsanlagen für die Eigenfertigung von Traktionsbatterien für Elektrofahrzeuge investieren wollen. In diesem Zusammenhang bestehen viele Un­ sicherheiten hinsichtlich der Markt- und Technologieentwicklung und somit der zu­ künftig aus dem Investitionsprojekt zu erwartenden Cash-Flows (vgl. Abschnitt 2.2). Für die Nachfrage nach Elektrofahrzeugen und deren Produktlebenszyklus kann da­ bei unterstellt werden, dass diese sich unabhängig von der Investitionsentscheidung der Automobilhersteller entwickeln, da Batterien stets von einem oder mehreren Zu­ lieferern bezogen werden können (vgl. Lukas et al. 2017).

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Folglich ist das Modell als geeignet zu bewerten, um Entscheidungsunterstützung im Rahmen der Investitions- und Kapazitätsplanung für Traktionsbatterien zu leisten. Folgende Fragstellungen können dabei beispielsweise analysiert werden: – Wann sollten Automobilhersteller in die Fertigung von Traktionsbatterien inves­ tieren? – In welche Anlagenkapazität sollten Automobilherstellern investieren? – Welchen Einfluss besitzen Erwartungen an die zu erzielende Mindestkapitalren­ dite auf die optimale Entscheidung? – Welchen Einfluss haben Nachfragunsicherheiten auf den optimalen Investitions­ zeitpunkt und die optimale Produktionskapazität? – Welche Wirkung können Subventionen für den Zweck des Aufbaus von Ferti­ gungskapazitäten entfalten? Die ersten vier Fragestellungen dieser Auflistung werden in Lukas et al. (2017) auf­ gegriffen und für ein Anwendungsbeispiel aus dem deutschen Automobilmarkt be­ antwortet. Die hierfür notwendige Datenbasis beruht unter anderem auf simulierten Marktdiffusionsverläufen aus dem AMaSi-Modell, mit deren Hilfe unter Rückgriff auf die Regressionsanalyse die Parameter des Bass-Modells für unterschiedliche Szena­ rien der Marktdurchdringung von Elektrofahrzeugen bestimmt werden können. Hier zeigt sich die enge Verbindung der beiden vorgestellten strategischen Planungsaufga­ ben und der jeweiligen Modelle zur Entscheidungsunterstützung. In Bezug auf die Investitions- und Kapazitätsplanung für die Fertigung von Trak­ tionsbatterien weisen die Ergebnisse aus der Modellanwendung unter anderem dar­ auf hin, dass der optimale Schwellwert der Investition einen s-förmigen Verlauf auf­ weist und monoton entlang des Produktlebenszyklus ansteigt. Der Schwellwert ist dabei hinsichtlich der optimal zu installierenden Kapazität segmentiert. Zu Beginn der Marktdiffusion von Elektrofahrzeugen ist die Investition in Anlagen kleiner be­ ziehungsweise mittlerer Kapazität zweckmäßig für den Fall, dass die Cash-Flows den Schwellwert übersteigen. Je länger ein Unternehmen die Entscheidung verzögert, des­ to positiver muss sich der Markt für Elektrofahrzeuge entwickeln, um eine Investition in die Eigenfertigung von Traktionsbatterien zu rechtfertigen. In diesem Fall sollte di­ rekt in eine große Produktionsanlage investiert werden. Die Investition in Anlagen kleiner Kapazität bleibt dabei umso länger optimal, je geringer die Erwartungen des Unternehmens an die Kapitalrendite sind. Höhere Nachfrageunsicherheiten führen dazu, dass schon in der Einführungsphase der Elektrofahrzeuge Investitionen in ei­ ne große Produktionsanlage als optimale Entscheidung zu bewerten sind, sollte der Schwellwert überschritten werden (vgl. Lukas et al. 2017).

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4 Fazit Die Transformation hin zur Elektromobilität geht für alle Akteure im Mobilitätssektor mit großen Herausforderungen einher. Hiervon ist unter anderem auch das Produkti­ ons- und Logistikmanagement betroffen. Vor diesem Hintergrund werden im vorlie­ genden Beitrag Planungsaufgaben vorgestellt, die im Zusammenhang mit der Produk­ tion und Entsorgung von Elektrofahrzeugen sowie deren Nutzung in gewerblichen Flotten bestehen. Diese Planungsaufgaben werden maßgeblich davon beeinflusst, dass in Elektrofahrzeugen die wesentlichen Komponenten eines konventionellen An­ triebs (Verbrennungsmotor, Kupplung, Getriebe) entfallen und durch Elektromotor, Traktionsbatterie und Leistungselektronik ersetzt werden. Hierdurch bedingt sind in der Automobilindustrie Wertschöpfungsketten neu zu gestalten und Entscheidungen insbesondere darüber zu treffen, welche Komponenten des elektrischen Antriebs­ strangs zukünftig in Eigenfertigung hergestellt und welche zugekauft werden sollen. Damit einher gehen vor allem Fragestellungen der Investitions-, Kapazitäts- und Tech­ nologiewahl. Dies gilt nicht nur für den vorwärtsgerichteten Teil der Supply Chain. Auf Grund vieler wertvoller, knapper und zum Teil geographisch konzentrierter Roh­ stoffe, die in den Komponenten des elektrischen Antriebsstrangs enthalten sind, sowie gesetzlicher Regelungen zur stofflichen Verwertung dieser Komponenten, müs­ sen auch geeignete Recyclingnetzwerke etabliert werden. Zugleich besitzt der Einsatz von Batterien zur Speicherung der Antriebsenergie negative Auswirkungen auf Preis, Reichweite, Ladezeiten und Ladeinfrastruktur, sodass auf Seiten von Flotten- und Infrastrukturbetreibern neue Anforderungen bei der Planung der Ladeinfrastruktur sowie der Flotten-, Touren- und Ablaufplanung Berücksichtigung finden müssen. Quantitative Methoden der Entscheidungsunterstützung werden in der Litera­ tur insbesondere für solche Planungsaufgaben entwickelt, die die Nutzungsphase der Fahrzeuge betreffen. Demgegenüber findet der Einsatz von Simulations- und Optimierungstechniken zur Unterstützung der strategischen Planung seitens der Automobilindustrie weniger Beachtung. Gerade hier sind jedoch die größten Her­ ausforderungen festzustellen, da Automobilherstellern und Zulieferern im Kontext der Elektromobilität eine umfassende Transformation des Produktangebots und der Wertschöpfungsstrukturen gelingen muss, um im Wettbewerb bestehen zu können. Wie auch in diesem Zusammenhang trotz vielfältiger bestehender Unsicherheiten eine quantitative Entscheidungsunterstützung erfolgen kann, wird im vorliegenden Beitrag schlaglichtartig anhand zweier Fallbeispiele zur Gestaltung von Produkt­ portfolios in der Automobilindustrie sowie zur Investitions- und Kapazitätsplanung für die Fertigung von Traktionsbatterien aufgezeigt. Durch den Einsatz von Simu­ lations- und Optimierungsmodellen können wichtige Erkenntnisse gewonnen und Handlungsempfehlungen abgeleitet werden, um die Transformation hin zu elektrisch angetriebenen Fahrzeugen in der Automobilindustrie erfolgreich zu gestalten. Dafür besteht auf strategischer Ebene der größte Hebel, wobei viele der dargelegten Frage­

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stellungen im Kontext der Elektromobilität noch nicht abschließend beantwortet sind und somit auch in Zukunft Wissenschaft und Praxis beschäftigen werden. Einer besonderen Bedeutung sollte dabei die Integration ökonomischer, ökologi­ scher und sozialer Aspekte in die Entscheidungsfindung zukommen. Von der Elek­ tromobilität wird sich die Erreichung einer Vielzahl von Nachhaltigkeitszielen ver­ sprochen. Dies muss jedoch nicht zwangsläufig gegeben sein. Beispielsweise sind die Treibhausgasemissionen von Elektrofahrzeugen maßgeblich vom lokalen Strommix abhängig, sodass Elektrofahrzeuge ihr volles Potenzial nur bei der Nutzung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen entfalten können. Zudem können Zielkonflikte auf lokaler, regionaler und globaler Ebene auftreten. Bei der Produktion der Traktionsbat­ terien etwa kommen viele Metalle zum Einsatz, deren Gewinnung oftmals in politisch instabilen Regionen stattfindet und lokal beziehungsweise regional mit schwerwie­ genden ökologischen und sozialen Konsequenzen einhergeht. Der Einsatz von Elek­ trofahrzeugen zur Senkung von global wirkenden Treibhausgasemissionen und lo­ kal wirkenden Schadstoffen in einer Region, kann somit zu negativen ökologischen und sozialen Auswirkungen in einer anderen Region führen. Solche Aspekte sind im Rahmen der Planung geeignet zu adressieren, um zur Etablierung einer nachhaltigen Elektromobilität beizutragen.

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1190 | Karsten Kieckhäfer

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Jutta Geldermann

Integrierte Technikbewertung 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Zukunftsforschung und Technikfolgenabschätzung | 1192 Mögliche Technikfolgen in Produktions- und Logistiksystemen | 1194 Anlagengenehmigung und Beste verfügbare Techniken (BVT) | 1196 Das Prinzip der Nachhaltigkeit | 1198 Berücksichtigung der Nachhaltigkeit bei der integrierten Technikbewertung im Produktions- und Logistikmanagement | 1199 Multikriterielle Entscheidungsunterstützung zur integrierten Technikbewertung | 1200 Der Umgang mit Risiko im Kontext der Technikfolgenabschätzung | 1204 Öffentliche Akzeptanz und Risikokommunikation | 1206 Zusammenfassung | 1208 Literatur | 1208

Zusammenfassung. Technologischer Fortschritt und sich verändernde wirtschaft­ liche Rahmenbedingungen wie Regionalisierung und Globalisierung von Produk­ tions-, Handels- und Dienstleistungsbeziehungen wirken sich auf Investitionsent­ scheidungen im Produktions- und Logistikmanagement aus. Unternehmen müssen daher entscheiden, welche Technologien und Produktionsweisen am besten geeignet sind, eine dauerhafte und nachhaltige Entwicklung angesichts der gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen mit dem derzeitigen Wissensstand zu gewähr­ leisten. Eine integrierte Technikbewertung dient der Entscheidungsunterstützung vor diesem komplexen Hintergrund. Unterscheidbare Handlungsalternativen, sicht­ bare Wertmaßstäbe und daraus abgeleitete sowie möglichst objektiv kalkulierbare Entscheidungsgrundlagen bilden die Voraussetzung für eine breite Akzeptanz der industriellen Produktion in der Öffentlichkeit. Insbesondere bei industriellen Groß­ projekten, wie bei der Realisierung von Infrastrukturmaßnahmen oder dem Bau von neuen Produktionsanlagen. Auch die Kommunikation mit der Gesellschaft über ein­ gegangene Risiken spielt eine entscheidende Rolle. In diesem Beitrag werden zunächst der Hintergrund und Kontext der integrierten Technikbewertung beschrieben. Als ein methodischer Ansatz wird die multikrite­ rielle Entscheidungsunterstützung zur integrierten Technikbewertung vorgestellt. Zur Berücksichtigung von Unsicherheiten während der langen Nutzungsdauer von Technologien wird auf Aspekte des Risikomanagements eingegangen. Abschließend werden Hinweise für eine angemessene Kommunikation im Kontext der integrierten Technikbewertung gegeben.

https://doi.org/10.1515/9783110473803-059

1192 | Jutta Geldermann

1 Zukunftsforschung und Technikfolgenabschätzung Die Trend- und Zukunftsforschung umfasst die systematisierte Recherche und Aus­ wertung von Veränderungsprozessen. Als sogenannte Megatrends werden langfristi­ ge Entwicklungsperspektiven (über mehrere Jahrzehnte) formuliert und von verschie­ denen Verbänden und Institutionen veröffentlicht. In den letzten Jahren wurden vor allem zwei Megatrends mit besonderer Bedeutung für die Industrie genannt: – Die globale Bedeutung von Umwelt- und Ressourcenschonung, insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden Weltbevölkerung, und des Klimaschutzes nimmt weiter zu. – Die Entwicklung der Schwellenländer sowie vor allem die wachsende Rolle Asiens in der Weltwirtschaft beschleunigen die Globalisierung und die Verknappung der natürlichen Ressourcen. Zur Bewältigung der wirtschaftlichen Herausforderungen, die mit diesen Megatrends einhergehen, wird die Entwicklung von Schlüsseltechnologien forciert. Schlüssel­ technologien sind Treiber für Innovationen – vor allem in Anwendungsbereichen wie Automobil, Maschinenbau, Medizintechnik und Logistik. Technologie bezeichnet die Kenntnis von natur- beziehungsweise ingenieurwissenschaftlichen Wirkungszusam­ menhängen, die als Lösungsprinzip von Anwenderproblemen dienen kann. Unter Technik hingegen wird die Anwendung von Technologien zur Lösung von Problemen in wirtschaftlich verwertbaren Produkten beziehungsweise Leistung verstanden. Be­ sondere Bedeutung für das Produktions- und Logistikmanagement haben beispiels­ weise diese Schlüsseltechnologien: – Im Bereich der Materialwissenschaften beschäftigt sich die Nanotechnologie mit der Forschung und Konstruktion in sehr kleinen Strukturen (ein Nanometer (nm) entspricht einem millionstel Millimeter). Sie soll wichtige technologische Lösungsbeiträge zur Energieversorgung (Brennstoff- und Solarzellen), der Um­ welttechnik (Materialkreisläufe und Entsorgung) oder Informationstechnik (neue Speicher und Prozessoren) leisten. Viele neue Entwicklungen sind noch weitge­ hend grundlagenorientiert. Mit Blick auf die Energie- und Ressourceneffizienz in Produktion und Logistik sind Fragen nach einem nachhaltigen Umgang mit Ressourcen, Umwelt- und Gesundheitsverträglichkeit, Freisetzung und Rückhol­ barkeit, Fehlertoleranz und Reversibilität zu beantworten. – Innovative Entwicklungen der Informations- und Kommunikationstechnologien bilden die Grundlage für neue Produkte, Verfahren und Dienstleistungen in vielen industriellen und gesellschaftlichen Anwendungsbereichen. Unter dem Schlag­ wort „Industrie 4.0“ wird die Vernetzung der Produktions- und Logistikprozesse durch eine Digitalisierung, also die digitale Umwandlung und Darstellung von Informationen, vorangetrieben. Die „digitale Fabrik“ soll neuen wirtschaftlichen Nutzen ermöglichen, beispielsweise durch kundenindividuelle Produktion oder kürzere Lieferzeiten.

Integrierte Technikbewertung | 1193

Das frühzeitige Erkennen technischer Innovationen und Entwicklungen gilt als einer der entscheidenden strategischen Faktoren für die betriebliche, nationale und inter­ nationale Wettbewerbsfähigkeit. So ist es für Unternehmen wichtig, neue Entwick­ lungen in ihren Bereichen zu beobachten und zu entscheiden, mit welcher Technik produziert werden soll oder welche Logistikkonzepte genutzt werden sollen. Im Innovations- und Technologiemanagement werden verschiedene Instrumen­ te eingesetzt, z. B. Technologiefrüherkennung, Technologiemonitoring, Informationsund Technologietransfer, Technikfolgenabschätzung, Technikbewertung sowie Um­ setzungs- und Evaluationsanalysen. Ein strategisches Instrument zur Ermittlung aussichtsreicher Technologieansät­ ze und zur Verdeutlichung ihres Entwicklungspotenzials ist die Technologiefrüherken­ nung, die als eine Fakten- und Argumentationssammlung im Sinne eines „Für und Wi­ der“ innovativer Technologie betrachtet werden kann. In einem frühen Stadium von Forschung und Entwicklung sollen einerseits Risiken vermieden und eingeschränkt sowie andererseits chancenreiche Entwicklungen forciert werden. Weil mit Technisierung und industrieller Produktion neben der Schaffung von Le­ bensqualität und materieller Sicherheit in der Regel auch unerwünschte Nebeneffekte verbunden sein können, wird der technische Fortschritt ambivalent beurteilt. Nicht je­ der, der von den Folgen einer Technik betroffen ist, wird diese in der gleichen Weise bewerten (vgl. Renn 2007; Beck 2016). Häufig sind etliche Mitarbeiter im Unternehmen skeptisch gegenüber Veränderungen in den Betriebsabläufen, oder Anwohner in der Nachbarschaft von Produktionsanlagen oder Verkehrsverbindungen befürchten stär­ kere Belastungen durch eine Ausweitung der unternehmerischen Tätigkeiten. Solche Aspekte sind bei der integrierten Technikbewertung zu berücksichtigen, damit Un­ ternehmen nicht nach einer getroffenen Investitionsentscheidung mit Widerständen konfrontiert sind, wie etwa beim Bau des Bahnhofs „Stuttgart 21“ oder dem Ausbau von Stromleitungen als Folge des Ausbaus der Windkraftanlagen im Zuge der deut­ schen Energiewende. Der individuellen und kollektiven Wahrnehmung von Technikfolgen liegt ein Weltbild mit impliziten oder expliziten Schutz- und Entwicklungsanforderungen zu­ grunde. Die Technikfolgenabschätzung (kurz TA, engl. Technology Assessement) ist ein Teilgebiet der Technikphilosophie und -soziologie und befasst sich mit Folgen von Technik und Technisierung sowie ihrer gesellschaftlichen Bewertung. So umfassen die Arbeiten des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) (vgl. Grunwald 2012): – die Vorbereitung und wissensbasierte Unterstützung politischer technikrelevan­ ter Entscheidungen, – die Frühwarnung vor technikbedingten Gefahren und Früherkennung techni­ scher Nutzungspotenziale, – die Bewältigung von technikbedingten Konflikten durch Schlichtungsverfahren und sozialverträgliche Technikgestaltung, und – die Ermöglichung gesellschaftlicher Lernprozesse im Umgang mit Technik und in ihrer Aneignung.

1194 | Jutta Geldermann

Die Richtlinie des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) 3780 „Technikbewertung: Be­ griffe und Grundlagen“ (1991; 2000) stellt in knapper Form Grundbegriffe und ein theoretisches Bezugssystem bereit und nennt als Werte im technischen Handeln: Funktionsfähigkeit, Gesundheit, Wirtschaftlichkeit, Umweltqualität, Wohlstand, Persönlichkeitsentfaltung, Sicherheit und Gesellschaftsqualität. Zwischen diesen technikbezogenen Werten können Konkurrenzbeziehungen bestehen, so dass Ab­ wägungsprozesse und problembezogene Priorisierungen unvermeidlich sind. Daran wird deutlich, dass eine integrierte Technikbewertung die Berücksichtigung mehrerer Kriterien, die sehr unterschiedlich operationalisiert und quantifiziert werden, erfor­ dert. Dazu bieten Methoden der multikriteriellen Entscheidungsunterstützung (vgl. Abschnitt 6) eine geeignete Hilfestellung.

2 Mögliche Technikfolgen in Produktions- und Logistiksystemen Um Zusammenhänge und Problemdimensionen von Technikfolgen zu erkennen, müssen naturwissenschaftliche Kausalitäten untersucht und die tatsächlichen und möglichen Folgewirkungen auf Mensch und Umwelt analysiert werden (vgl. Hunger­ bühler/Ranke/Mettier 1999). Neben der Betrachtung des Normalbetriebs sind auch unerwünschte Technikfolgen im Störfall zu bedenken. Störfälle sind oft direkt oder in­ direkt mit einer Stoff- oder Energiefreisetzung verbunden, die über Ausbreitungspro­ zesse mit eventuellen Folgeereignissen zu entsprechenden Schäden führen können. Eine Übersicht über sämtliche Neben- und Folgewirkungen eines Technikeinsatzes ist jedoch kaum möglich. Mögliche Technikfolgen in Produktions- und Logistiksystemen lassen sich nach Intensität und Dauer einer Exposition unterteilen, auch wenn sie sich teilweise über­ schneiden (vgl. Abbildung 1). Sicherheitsprobleme betreffen ereignisorientierte Risi­ ken und zeichnen sich durch eine ausgeprägte Dynamik (kurze Zeitkonstanten) und hohe, aber meist lokale Expositionsintensitäten aus. Solche Störfallrisiken, z. B. Un­ fälle, Brände, Explosionen oder der Austritt giftiger oder radioaktiver Substanzen, werden mit dem Instrument der Prozessrisikoanalyse untersucht. Ziel der Prozessri­ sikoanalyse ist die Vorausschau und systematische Verhinderung von Störfällen, d. h. von Ereignissen mit Folgeschäden für Mensch, Umwelt oder Sachwerte. Im Rahmen einer iterativen Prozessentwicklung werden dadurch in verschiedenen Entwicklungs­ phasen Gefahren identifiziert, Risiken beschrieben und geeignete Maßnahmen zur Elimination beziehungsweise Reduktion der Risiken erarbeitet. Verbleibende Restri­ siken sind zu beurteilen und auf ein akzeptables Maß zu reduzieren. Bei der Applikation, dem Gebrauch und der Entsorgung von Produkten sind As­ pekte wie Qualität, Effizienz, Sicherheit und Umweltschutz von zentraler Bedeutung. Potenzielle Risiken und Belastungen für Mensch und Umwelt werden mit Hilfe einer

Integrierte Technikbewertung | 1195

Expositionsintensität Sicherheit

Gesundheitsschutz von Mitarbeitern und Verbrauchern Umweltschutz

Expositionsdauer

Methoden

Prozessrisikoanalyse

Produktrisikoanalyse

Ökobilanz für Produktionslebenszyklen

Abb. 1: Einordnung von Sicherheit, Gesundheits- und Umweltschutz nach Hungerbühler et al. (1999).

Produktrisikoanalyse untersucht. Das Prinzip der Produktrisikoanalyse beruht auf ei­ nem Vergleich der Wirkungsschwelle eines Stoffes mit Konzentrationen, denen die Schutzgüter Mensch und Umwelt ausgesetzt sind. Die Produktrisikoanalyse umfasst insbesondere die Expositionsanalyse (Abklären der auftretenden Einwirkungen auf Mensch und Umwelt) und die Wirkungsanalyse (Untersuchung der schädlichen Ef­ fekte). Die spezifischen Probleme des Umweltschutzes resultieren aus der Summe ei­ ner Vielzahl von inkrementellen Einwirkungen von freigesetzten Stoffen verteilt über Raum und Zeit. Entsprechende Wirkungen liegen bei tiefen und oft unbekannten Be­ lastungsschwellen sowie bei langen Expositionszeiten vor (z. B. bei Schadwirkungen von produktspezifischem Abwasser, Abluft, Abfall etc. aus Punktquellen sowie aus diffusen Quellen). Solche potenziellen Langzeitauswirkungen werden in der Ökobi­ lanz (engl. Life Cycle Assessment – LCA) erfasst. Mit der Formulierung einer interna­ tionalen Norm im Jahr 1996 (DIN EN ISO 14040 ff.) wurde ein allgemein anerkannter methodischer Rahmen für die Ökobilanz festgelegt. Sie dient der Abschätzung der mit einem Produkt verbundenen und potentiellen Umweltwirkungen, indem sie sich auf die Umweltaspekte und potentiellen Umweltwirkungen (z. B. Nutzung von Res­ sourcen und die Umweltauswirkungen von Emissionen) im Verlauf des Lebensweges eines Produktes von der Rohstoffgewinnung, über Produktion, Anwendung, Abfall­ behandlung, Recycling bis zur endgültigen Beseitigung (d. h. „von der Wiege bis zur Bahre“) erstreckt. Aus der Betrachtung der möglichen Technikfolgen in Produktions- und Logistik­ systemen ergeben sich fallspezifische und unternehmensindividuelle Bewertungskri­ terien für die integrierte Technikbewertung, die von verantwortungsvollen Unterneh­ men bei Investitionsentscheidungen ins Kalkül gezogen werden.

1196 | Jutta Geldermann

3 Anlagengenehmigung und Beste verfügbare Techniken (BVT) Beim Bau und Betrieb von Industrieanlagen ist eine Vielzahl von rechtlichen Rege­ lungen einzuhalten und zu erfüllen. In Deutschland unterliegen Anlagen, „die auf Grund ihrer Beschaffenheit oder ihres Betriebes besonders schädliche Umwelteinwir­ kungen verursachen können“, der Genehmigungspflicht nach dem Bundes-Immissi­ onsschutzgesetz (BImSchG). Betroffen sind zahlreiche Industrieanlagen z. B. aus der Energiewirtschaft, mineralverarbeitenden Industrie, chemischen Industrie, Abfallbe­ handlung, Holz- und Papierindustrie, Nahrungsmittelindustrie oder zur Oberflächen­ behandlung mit organischen Lösungsmitteln. Die Genehmigungspflicht dieser Anla­ gen ist in der 4. BImSchV (Bundes-Immissionsschutzverordnung) geregelt, und es werden „förmliche Genehmigungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung“ und „ver­ einfachte Verfahren“ unterschieden. Die zuständigen Genehmigungsbehörden prü­ fen, ob durch Bau- und Investitionsvorhaben nachteilige Umweltauswirkungen her­ vorgerufen werden können. Grundlage für die Genehmigungsentscheidung ist das Konzept der Besten ver­ fügbaren Techniken (BVT), die dem traditionell verwendeten Begriff des Standes der Technik entsprechen. Technik bedeutet dabei „sowohl die angewandte Technologie als auch die Art und Weise, wie die Anlage geplant, gebaut, gewartet, betrieben und stillgelegt wird“. Eingeführt wurde das Konzept der BVT durch die europäische IVURichtlinie 96/61/EG (Richtlinie über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung), um ein einheitliches möglichst hohes Umweltschutzniveau in allen EU-Mitgliedstaaten sowie einheitliche Umweltstandards und damit gleichwer­ tige Wettbewerbsbedingungen in Europa zu schaffen. Zur Stärkung der BVT-Vorgaben bei der Anlagengenehmigung, zur Durchsetzung der Anforderungen auch für Altan­ lagen und zur Verschärfung von Emissionsgrenzwerten hat die Richtlinie über Indus­ trieemissionen 2010/75/EU (IE-Richtlinie) die IVU-Richtlinie (96/61/EG sowie ihre No­ vellierung 2008/1/EG) inzwischen ersetzt. Die Europäische Kommission hat mehr als 30 „BVT-Merkblätter“ zu den besten verfügbaren Techniken für die betroffenen Industriezweige veröffentlicht, die bei der Anlagengenehmigung zu berücksichtigen sind. Darin werden Grenzwerte für Emis­ sionen in die Luft, in das Wasser und Grundwasser sowie in den Boden genannt. Weitere wichtige Aspekte sind Energieverbrauch, Emission von Partikeln in die Luft, Abfallreduzierung und -management (einschließlich der Verringerung des Rohstoff­ verbrauchs) sowie Anlagenstilllegung. Damit wird ein umfassender und (Umwelt-) medienübergreifender Umweltschutzansatz verfolgt. Die BVT-Merkblätter enthalten umfangreiche und nützliche Informationen für die Vorbereitung von Investitionsent­ scheidungen in den betroffenen Industriezweigen. Für die Bestimmung der besten verfügbaren Techniken wurde erstmals ein Ab­ laufschema für eine integrierte Technikbewertung entwickelt und exemplarisch im

Integrierte Technikbewertung | 1197

zu bewertende Techniken Ausschluss von Alternativen

Zweck des Bewertungsschritts:

First Screening

Ergebnis

Alternativen

Stoff- und Energiebilanz Entscheidung?

• Ermittlung der relevanten Stoff- und Energieströme • Erweiterung und Einschränkung des Untersuchungsraums • Datensammlung • Modellierung der relevanten Stoffund Energieströme

Ja

Ergebnis

• Berechnung von Wirkungspotentialen Im Rahmen einer Ökobilanz • Berechnung technischer und ökonomischer Kennzahlen

Aggregation?

Kennzahlenbildung Nein Nein Entscheidung?

Ja

Ergebnis

• • • •

Datenaufbereitung Gewichtung der Kennzahlen Multikriterielle Auswertung Sensitivitätsanalyse

Entscheidungsunterstützung - Gewichtung - Formale Auswertung - Graphische Darstellung - Interpretation

Entscheidung?

Legende: Strukturiertes Vorgehen Expertenurteil

Ergebnis

Abb. 2: Ablaufschema einer integrierten Technikbewertung nach Geldermann et al. (1999).

Sektor Eisen- und Stahlerzeugung angewendet (vgl. Geldermann et al. 1999). In An­ lehnung an die Phasen der Ökobilanz und an Problemlösungsansätze aus der System­ theorie bietet das Ablaufschema ein allgemein anwendbares Konzept zur Entschei­ dungsunterstützung, das an die spezifischen Anforderungen im konkreten Anwen­ dungsfall angepasst werden kann und dennoch ein konsistentes Vorgehen erlaubt. Durch den Einsatz von Methoden zur multikriteriellen Entscheidungsunterstützung ist es möglich, neben Kennzahlen aus der Ökobilanzierung auch technische und wirt­ schaftliche Kennzahlen sowie weitere Kriterien im Bewertungsprozess zu berücksich­ tigen. Dieser generische Ansatz zur integrierten Technikbewertung kann auch von Un­ ternehmen zur Unterstützung von weitreichenden Investitionsentscheidungen ange­ wendet werden.

1198 | Jutta Geldermann

4 Das Prinzip der Nachhaltigkeit Weitreichender als die Betrachtung der möglichen Technikfolgen in Produktions- und Logistiksystemen und als ein medienübergreifender Umweltschutz ist das Prinzip der Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit im ökonomischen Sinne bedeutet eine effiziente Allo­ kation der knappen Güter und Ressourcen. Im ökologischen Sinne bedeutet Nachhal­ tigkeit, die Grenze der Belastbarkeit der Ökosphäre nicht zu überschreiten und die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten. Das Prinzip der Nachhaltigkeit wurde vor allem durch die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (Brundtland-Kommis­ sion) der UN seit 1987 geprägt. Ziel ist eine dauerhaft zukunftsfähige Entwicklung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Dimension menschlicher Existenz. Diese sogenannten drei Säulen der Nachhaltigkeit stehen miteinander in Wechselwirkung und bedürfen langfristig einer ausgewogenen Koordination: – Ökologische Dimension: Beachten der Tragfähigkeit des Ökosystems Erde, insbe­ sondere von Boden, Wasser, Luft und Biosphäre in Bezug auf die Nutzung als Quelle von Ressourcen sowie als Senke für Abfälle, so dass die natürlichen Le­ bensgrundlagen nur in dem Maße beansprucht werden, wie diese sich regenerie­ ren. – Ökonomische Dimension: Effizienter Einsatz von Ressourcen in der Produktion zur Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität. Allgemein gilt eine Wirtschafts­ weise dann als nachhaltig, wenn sie dauerhaft betrieben werden kann und nicht zu Einbußen der nachkommenden Generationen führt. – Soziale Dimension: Orientierung an der Humanität als Leitgröße, d. h. an Werten wie Chancengleichheit, Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der kulturellen Identität sowie der Entwicklung demokratischer Institutionen. Ein Staat oder eine Gesellschaft sollte so organisiert sein, dass sich die sozia­ len Spannungen in Grenzen halten und Konflikte nicht eskalieren, sondern auf friedlichem und zivilem Wege ausgetragen werden können. Für die Beurteilung der sozialen Nachhaltigkeit von Produktionsprozessen stehen allerdings bislang noch keine abgestimmten und allgemein anerkannten Methoden zur Verfügung (vgl. Eigner-Thiel et al. 2013). Die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen im Sinne eines nachhaltigen Wirtschaftens wird mit dem Begriff „Corporate Social Responsibility“ (CSR) bezeich­ net und umfasst ebenfalls soziale, ökologische und ökonomische Aspekte. Diese sind in international anerkannten Referenzdokumenten zur Unternehmensverantwortung festgelegt, wie beispielsweise die grundlegenden Arbeits- und Sozialstandards in den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO, engl. International La­ bour Organization) oder den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen mit Empfehlungen zu den Bereichen Beschäftigung und Beziehungen zu den Sozialpart­ nern, Menschenrechte, Umwelt, Bekämpfung von Korruption, Verbraucherinteressen,

Integrierte Technikbewertung | 1199

Wettbewerb und Besteuerung. Die Leistung eines Unternehmens in Bezug auf sozia­ le, ökologische und ökonomische Aspekte wird auch als Triple Bottom Line (abgekürzt als „TBL“) in Anlehnung an die drei Säulen der Nachhaltigkeit bezeichnet.

5 Berücksichtigung der Nachhaltigkeit bei der integrierten Technikbewertung im Produktionsund Logistikmanagement Das Leitbild Nachhaltigkeit ist zwar inzwischen allgemein akzeptiert, aber diffus for­ muliert. Daher ist es nicht einfach dieses zu operationalisieren, so dass es in die Spe­ zifikation von Technikentwicklungen wie ein technisches oder ökonomisches Leis­ tungsmerkmal aufgenommen werden kann. Ferner stehen etliche Nachhaltigkeitsas­ pekte zueinander im Zielkonflikt. Technische Produkte oder Systeme sind nicht per se entweder nachhaltig oder nicht nachhaltig. Beim Versuch der Operationalisierung des Konzepts der Nachhaltigkeit wird deutlich, dass jegliche Indikatoren (wie Rohstoffverbrauch, Schadstoffkonzentratio­ nen oder Flächenversiegelung) faktisch nur innerhalb eines räumlich und zeitlich begrenzten Rahmens beobachtet werden können. Diese Beschränkung der Operatio­ nalisierung steht im Widerspruch zum globalen Prinzip der Nachhaltigkeit und führt oft zu Kontroversen (vgl. Jischa 2014). Offen bleibt außerdem die Frage der Gewichtung der drei Dimensionen der Nach­ haltigkeit in einer konkreten Technikbewertung. Allgemein gültige Kennzahlen oder feste Berechnungsgrundsätze können nicht von Wissenschaft oder Politik vorgege­ ben werden, sondern nur fallspezifisch bei der Auswahl von Produktionstechnolo­ gien formuliert werden. Dadurch wird die Auswahl von neuen Techniken zu einem schwierigen Entscheidungsproblem, weil vielfältige Auswirkungen nicht nur im eige­ nen Unternehmen, sondern auch in unternehmensübergreifenden Produktions- und Logistiksystemen zu beachten sind. Abbildung 3 gibt einen Überblick über Umfeld, Informationsquellen, Analyse­ instrumente und Evaluationskriterien für eine umfassende Analyse von Produktionsund Logistikprozessen. Im Rahmen einer integrierten Technikbewertung gilt es, die für das Unternehmen und seine spezifische Zielsetzung entscheidungsrelevanten In­ formationen zu ermitteln und auszuwerten. Weitreichende unternehmerische Entscheidungen sind gegenüber den relevanten Anspruchs- beziehungsweise Interessengruppen (engl. Stakeholder), unter anderem Mitarbeitern, Behörden, Gesetzgebern, Kunden und der übrigen Gesellschaft, zu ver­ treten. Als „Stakeholder“ sind im Allgemeinen Personen gemeint, die involviert sind oder sich für betroffen halten (vgl. French/Geldermann 2005). Dabei ist zu beachten, dass deren Ansichten nicht repräsentativ sein müssen für die „stille Mehrheit“, die

1200 | Jutta Geldermann

Global

Gemeinde Abteilung Industrieanlage

Quantitativ

Unternehmen Unternehmens- & Anlagendaten Thermodynamische Restriktionen Physikalische Restriktionen

Öko-Effizienz Umweltqualität Umweltauswirkungen Energieeinsparungen Unsicherheitsanalyse

Lokale & nationale ökonomische Daten

Prozesssimulation und -optimierung

Region

Lebensqualität

Massen- und Energiebilanzen

Sektor

Qualitativ

National

Nachhaltigkeit

Arbeitsverfahren Umfeld

Informationsquellen

Analyseinstrumente

Materialeinsparungen Profitabilität Kosten Produktionsdurchsatz Wärmeeffizienz Evaluationskriterien

Abb. 3: Ein konzeptioneller Rahmen zur Prozessanalyse (Quelle: Diwekar/Small 2002).

ein Mitwirken an der Politikgestaltung ablehnt. Damit weitreichende unternehmeri­ sche Entscheidungen nicht nachträglich am Widerstand von Stakeholdern scheitern, sollten im Rahmen einer integrierten Technikbewertung nachvollziehbare und trans­ parente Argumente für die Auswahl der präferierten Technik im Vergleich zu alterna­ tiven Lösungsansätzen identifiziert und dargestellt werden.

6 Multikriterielle Entscheidungsunterstützung zur integrierten Technikbewertung Formal betrachtet ist eine integrierte Technikbewertung ein Entscheidungsproblem mit mehreren Kriterien, die teilweise zueinander im Zielkonflikt stehen, und mit mehreren Alternativen, die mit weitreichenden sowie langfristigen Konsequenzen verbunden sind. Zur Entscheidungsvorbereitung können Methoden der multikriteri­ ellen Entscheidungsunterstützung eingesetzt werden (vgl. Geldermann 2006; Gelder­ mann/Lerche 2014; Greco/Ehrgott/Figueira 2016). Basierend auf entscheidungstheo­ retischen Erkenntnissen sollen fundierte und nachvollziehbare Entscheidungen ermöglicht und dabei praktische Restriktionen wie Zeit und Aufwand berücksich­ tigt werden.

Integrierte Technikbewertung | 1201

Die sogenannten MADM-Methoden (MADM = Multi Attribute Decision Making) werden eingesetzt, um aus einer endlichen Anzahl diskreter Alternativen als Ergebnis entweder die beste Alternative zu identifizieren (Selektion), die Alternativen anhand der Kriterienausprägungen vorher definierten Gruppen zuzuordnen (Sortierung) oder eine Rangfolge zu bilden (Ordnung). Wichtige Voraussetzung für eine gelungene Entscheidungsunterstützung ist die Klärung der verfolgten Ziele. Ein Ziel stellt hierbei die Beschreibung eines zukünfti­ gen, vom Status quo verschiedenen und erwünschten Zustands dar, beispielsweise ein nachhaltigeres Produktions- oder Logistiksystem. Neben dem Zielsystem umfasst ein Entscheidungsmodell die Alternativen, Kriterien und Gewichtungen. Alternativen stellen die potenziellen Wahlmöglichkeiten dar, die für die Lösung des Entscheidungsproblems betrachtet werden. Bei der integrierten Technikbewer­ tung sind dies die zur Auswahl stehenden Technologien oder Investitionsvorhaben. Kriterien sind messbare Attribute, die für sämtliche Alternativen die Zielerrei­ chung, z. B. Nachhaltigkeit, konkretisieren. Neben dem Begriff Attribut werden auch die Bezeichnungen Leistungsparameter, Charakteristika, Kennzahlen oder Kriterien­ ausprägungen verwendet. Eine Kriterienhierarchie verdeutlicht die Struktur und die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Unterzielen und den damit verbundenen Kriterien. Um anhand der gesammelten Informationen zu den Alternativen und ihren Krite­ rienausprägungen zu einer Bewertung oder Entscheidung zu gelangen, sind die Prä­ ferenzen des Entscheiders zu berücksichtigen. So gibt die Höhenpräferenz an, inwieweit eine Maximierung oder Minimierung eines Kriteriums angestrebt wird und wie stark Unterschiede in den Kriterienausprä­ gungen gewertet werden. Die Artenpräferenz beschreibt die Wichtigkeit der einzelnen Ziele und der damit verbundenen Kriterien für das Gesamtproblem aus Sicht des Entscheiders. Dazu wird jedem Kriterium ein Gewichtungsfaktor zugeordnet, der dessen subjektiv empfunde­ ne Bedeutung in Relation zu den anderen Kriterien widerspiegelt. Die Summe der Ge­ wichte aller Kriterien muss 100 % ergeben. Zur Ermittlung der Kriteriengewichte gibt es verschiedene Vorgehensweisen, z. B. die direkte Vergabe oder die Verwendung von Punkten als Richtwerte wie bei SMART und SWING, die anschließend in Prozentwerte umgerechnet werden (vgl. Pöyhönen/Hämäläinen 2001). Trotz aller Bemühung um Objektivierung der Vergabe der Gewichtungsfaktoren werden subjektive Einflüsse beim Vergleich der Wichtigkeit von verschiedenen, oft konfliktären Kriterien auftreten (vgl. Hämäläinen 2015). Letztendlich handelt es sich bei der integrierten Technikbewertung um unternehmerische oder politische Ent­ scheidungen mit unterschiedlich ausgeprägten Meinungsbildungsprozessen. Zur Aggregation der Entscheidungstabelle, die Kriterienausprägungen zu jeder Alternative und die Gewichtung der Kriterien umfasst, gibt es viele verschiedene MADM-Methoden (vgl. Greco/Ehrgott/Figuera 2016). Nachfolgend wird nur der Ab­ lauf der am weitesten verbreiteten Methoden grob zusammenfassend skizziert, da

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zum genauen Verständnis ein detailliertes Nachvollziehen der konkret verwendeten Algorithmen notwendig ist. Wesentlich ist die Unterscheidung zwischen den MADM-Methoden der amerikani­ schen und der europäischen Schule, die sich primär durch die Annahme abgrenzen, inwieweit der Entscheidungsträger seine Präferenzen ausdrücken kann. Die ame­ rikanischen Methoden, z. B. AHP (Analytical Hierarchie Process), ANP (Analytical Network Process), MAUT (Multi Attribute Utility Theory), gehen davon aus, dass der Entscheider stets in der Lage ist, seine Präferenzen korrekt zu äußern, um darauf basierend eine subjektiv beste Alternative zu ermitteln. Die europäischen Methoden, z. B. PROMETHEE (vgl. Brans/Smet 2016) oder ELECTRE (vgl. Figueira/Mousseau/Roy 2016), basieren auf der Annahme, dass der Entscheider nicht eindeutig die Präferenzen angeben kann, so dass in diesen soge­ nannten Outranking-Verfahren durch paarweise Vergleiche auch widersprüchliche Informationen berücksichtigt und ausgewertet werden können. Über die aktive Aus­ einandersetzung mit dem Entscheidungsproblem soll der Entscheider zusätzliche Informationen gewinnen, um ein besseres Verständnis für das Problem als Ganzes zu entwickeln. In den meisten MADM-Methoden werden schlussendlich die Präferenzen des Ent­ scheiders mit Hilfe von Nutzen- oder Präferenzfunktionen abgebildet. Damit werden die Kriterienausprägungen, die in den unterschiedlichsten Maßeinheiten quantifiziert sein können, in dimensionslose Nutz- oder Präferenzwerte im Intervall [0, 1] über­ führt. Unter Verwendung der Gewichtungsfaktoren werden die Nutz- oder Präferenz­ werte einer Alternative weiter aggregiert, so dass sich schließlich eine Rangfolge der untersuchten Alternativen ergibt. Sensitivitätsanalysen und graphische Ergebnisdar­ stellungen erlauben ein tiefergreifendes Verständnis des Entscheidungsproblems. Voraussetzung für eine formal korrekte Abbildung des Zielsystems durch das Ent­ scheidungsmodell sind mehrere Anforderungen an die Kriterien. Zum einen müssen sie vollständig sein, d. h. dass sämtliche entscheidungsrelevante Ziele erfasst wurden. Zum anderen sollten sie möglichst redundanzfrei sein, sodass nicht mehrere Krite­ rien eine identische Aussage haben. Die Kriterien sollten zudem gut messbar sein, d. h. dass die Zielerreichung möglichst genau ermittelt werden kann. Zwischen den Kriterien soll zudem eine Präferenzunabhängigkeit vorherrschen, d. h. dass der Ent­ scheider seine Präferenz hinsichtlich der verschiedenen Ausprägungen äußern kann, ohne dass er hierfür die Ausprägungen hinsichtlich eines anderen Kriteriums kennt. Letztlich sollten die Kriterien einfach gehalten werden, indem die Anzahl an Krite­ rien möglichst gering ist und diese leicht verständlich ausformuliert werden. Diese formalen Anforderungen sind allerdings in realen Entscheidungsproblemen selten er­ füllbar. Beispielsweise wird der Treibstoffverbrauch zum Antrieb von Maschinen und Fahrzeugen bei der Technikbewertung sowohl in den ökonomischen Kriterien etwa als „Betriebskosten“ als auch bei den ökologischen Kriterien als „CO2 -Emissionen“ be­ rücksichtigt, und häufig erfordern emissionsärmere Techniken höhere Investitionen. Um den Datenerhebungsaufwand einzugrenzen, werden bei der integrierten Technik­

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bewertung meist nur die entscheidungsrelevanten Kriterien betrachtet, anhand derer eine Unterscheidung der betrachteten Alternativen möglich ist. Bei der multikriteriellen Entscheidungsunterstützung wird zwischen verschiede­ nen Akteuren unterschieden, die in den strukturierten Entscheidungsprozess invol­ viert sind. Diese Unterscheidung ist insbesondere bei der integrierten Technikbewer­ tung als komplexes Entscheidungsproblem wichtig: – Der Analyst gewährleistet die korrekte Anwendung der Methode und die Bedie­ nung der MADM-Software. Er ist neutral gegenüber dem zu erzielenden Ergebnis und hat die Aufgabe, den oder die Entscheider durch den Prozess zu führen und die korrekte Anwendung der Methode zu gewährleisten. Unterstützend können Moderationsmethoden angewendet werden, um die Kommunikation und den In­ formationsfluss in Workshops zur Durchführung der integrierten Technikbewer­ tung zu gewährleisten. – Der Entscheidungsträger kann ein Einzelner (z. B. der Käufer einer Maschine oder die Inhaberin eines Einzelunternehmens) oder eine Gruppe von Personen (z. B. die Geschäftsführung einer GmbH) sein. Bei Großinvestitionen, beispielsweise in der Energiewirtschaft oder bei Infrastrukturprojekten, werden Entscheidungen selten durch einzelne Personen getroffen, wenn etwa umfangreiche Genehmi­ gungsverfahren, teilweise mit Bürgerbeteiligung, vor der eigentlichen Investition zu durchlaufen sind. – Als Stakeholder werden die Personen bezeichnet, die sich von Konsequenzen der Entscheidung betroffen fühlen, aber die Entscheidung selber nicht beeinflussen können. Im Rahmen einer integrierten Technikbewertung sollten die Präferenzen der Stakeholder bei der Erstellung der Kriterienhierarchie und gegebenenfalls in verschiedenen Szenarioberechnungen berücksichtigt werden. Insbesondere das Marketing stellt zahlreiche methodische Ansätze zur Kundenanalyse bereit, wäh­ rend die Umweltpsychologie Fragen zur Beziehung zwischen Mensch und Umwelt ergründet. Methoden der multikriteriellen Entscheidungsunterstützung dienen vor allem der Strukturierung der Prozesse zur integrierten Technikbewertung. Sie stellen einen An­ satz dar, objektive Daten mit subjektiven Präferenzen bei gleichzeitiger Berücksichti­ gung mehrerer, teilweise konfliktärer Ziele zu verknüpfen, um Kompromisslösungen zu ermitteln. Damit kann der Entscheidungsprozess transparent gestaltet werden und allen Beteiligten ein besseres Verständnis für das komplexe Entscheidungsproblem vermittelt werden. Allerdings sind die meisten Methoden der multikriteriellen Entscheidungsunter­ stützung deterministisch, da sie für jede betrachtete Alternative eindeutig bestimm­ bare Kriterienausprägungen annehmen und der Prozess der Entscheidungsfindung vorrangig auf das Auflösen von Zielkonflikten ausgerichtet ist (vgl. Stewart/French/ Rios 2013). Zur Untersuchung von Unsicherheiten werden verschiedene Arten von Sensitivitätsanalysen sowie MADM-Methoden, die Intervalle oder Fuzzywerte der Kri­

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terienausprägungen auswerten können, eingesetzt. Damit können allerdings nur mo­ derate Unsicherheitsbereiche methodisch berücksichtigt werden, wie sie sich durch Messfehler oder Modellierungsungenauigkeiten etwa bei ökobilanziellen Wirkungs­ indikatoren ergeben. Wesentliche Risiken und Ungewissheiten, die über die nähere Betrachtung der technischen und ökonomischen Kennzahlen einer zu beurteilenden Technik hinausgehen, können mit Hilfe der Szenariotechnik untersucht werden. Um verschiedene Sichtweisen und Perspektiven in komplexen Entscheidungssituationen zu beleuchten, sollte die Szenariotechnik in moderierten Workshops angewendet wer­ den. Als Szenarien werden denkbare zukünftige Zustandsbeschreibungen definiert, die dann aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht werden. Zudem können diffus formulierte Zielvorgaben durch den Vergleich unterschiedlicher Szenarien transpa­ rent und nachvollziehbar werden (vgl. Jischa 2014).

7 Der Umgang mit Risiko im Kontext der Technikfolgenabschätzung Im Kontext der integrierten Technikbewertung sollten im Rahmen der Szenarioanaly­ se denkbare Risiken, die vom Technikeinsatz in Extremfällen ausgehen können, mit bedacht werden. Unwetter, Naturkatastrophen, Anschläge und Infrastrukturausfäl­ le sind seltene, aber plötzlich eintretende Ereignisse, die nur in begrenztem Umfang beeinflusst werden können, jedoch zu schwerwiegenden Folgen in Produktions- und Logistiksystemen führen können (vgl. Geldermann 2014). Art und Ausmaß der Aus­ wirkungen hängen sowohl von der Risikoart als auch von den technischen und orga­ nisatorischen Eigenschaften des jeweiligen Unternehmens und seiner Produktions­ prozesse ab. Häufig wird ein probabilistischer Risikobegriff verwendet, der das Risiko über eine Eintrittswahrscheinlichkeit eines (meist negativen) Ereignisses beschreibt. So kann beispielsweise in der Finanzmathematik das Risiko R n als Produkt der Ein­ trittswahrscheinlichkeit p n eines Ereignisses n und dem Schadensausmaß (Ausmaß der Auswirkungen) S n berechnet werden. In der Entscheidungstheorie wird der Risikobegriff explizit gegen den Begriff Un­ sicherheit abgegrenzt. Während bei Entscheidungen unter Risiko dem Entscheider die Wahrscheinlichkeitsverteilung möglicher Ausgänge vorliegt, ist diese bei Entschei­ dungen unter Unsicherheit nicht bekannt. In beiden Fällen ist die tatsächliche zukünf­ tige Entwicklung jedoch ungewiss. Statistische Wahrscheinlichkeitswerte lassen sich für sogenannte Normalrisiken ermitteln. Bei technischen Risiken zählen zum Normalrisiko auch Störfälle, d. h. Er­ eignisse, die in einer Anlage vorausgesehen und in der Auslegung berücksichtigt wer­ den können. Unfälle gehören dagegen in den Bereich des Restrisikos, das trotz der si­ cherheitstechnischen Auslegung von Anlagen stets verbleibt. Das Restrisiko setzt sich zusammen aus (vgl. Hungerbühler/Ranke/Mettier 1999)

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dem bewusst in Kauf genommenen Risiko, dem erkannten, aber falsch beurteilten Risiko und den nicht erkannten Gefahren.

Um Risiken und ihre möglichen Folgen zu reduzieren, ist ein industrielles Risikoma­ nagement wichtig. Im Wesentlichen umfasst es die drei Aspekte der Antizipation und Vorbeugung (engl. Prevention), der Krisenbewältigung (engl. Crisis Response) und der Sanierungsmaßnahmen (engl. Rehabilitation). Ziele des Risikomanagements sind die Vermeidung existenzbedrohender Risiken, die Minimierung eventuell auftretender Schäden sowie die Sicherung der Akzeptanz bei den Stakeholdern. Der komplette Risikomanagementprozess umfasst im Allgemeinen die folgenden Schritte: – Die Risikoanalyse umfasst die Risikoidentifikation und die Risikobewertung. Um Aussagen über den Handlungsbedarf bezüglich der Risiken und deren Priorisie­ rung treffen zu können, sind die identifizierten Risiken zu bewerten. Dabei wer­ den die mit den Risiken verbundenen Gefahrenpotenziale transparent gemacht und die Auswirkungen quantifiziert. Zentrale Punkte der Risikobewertung sind daher meist die Bestimmung der Eintrittswahrscheinlichkeit und des Schadens­ ausmaßes eines Risikos. – Zur Risikobewältigung kommen je nach Handlungsebene und Risikoart verschie­ dene Strategien und Maßnahmen zum Einsatz. Durch eine Wirtschaftlichkeitsbe­ trachtung wird der mit der jeweiligen Maßnahme verbundene Aufwand in Bezug zur erwarteten Risikominderung gesetzt, um die Effizienz der Implementierung von Maßnahmen abzuschätzen. Typische Strategien zur Risikobewältigung sind Risikovermeidung, Risikoverminderung, Risikodiversifikation, Risikotransfer und Ri­ sikovorsorge. – Die Risikoüberwachung dient der kontinuierlichen Überprüfung der Wirksamkeit und Aktualität des industriellen Risikomanagements, sowohl hinsichtlich der Einzelrisiken und deren dynamische Entwicklung als auch der Prozessabläufe des Risikomanagements selbst. Bei einer Risikoanalyse geht es darum, über das trotz aller Maßnahmen noch verblei­ bende Risiko Rechenschaft abzulegen. Gerade für Unfallszenarien und sehr seltene Ereignisse ist eine wissenschaftliche Risikobetrachtung problematisch, da die Ergeb­ nisse in Abhängigkeit von den zugrunde gelegten Szenario-Annahmen häufig stark divergieren. Während sich eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten mit dem Manage­ ment von operativen Prozessrisiken (z. B. Verfahrensrisiken, Umweltrisiken) oder Fi­ nanzrisiken befasst, stehen in anderen Studien und Untersuchungen der Umgang mit Naturrisiken, die Analyse von Infrastrukturrisiken oder die Untersuchung von Supply Chain Risiken im Mittelpunkt. Infrastrukturrisiken (wie Stromausfälle oder Unterbre­ chung der Wasserversorgung) können gravierende Auswirkungen auf die Funktion von Produktionsanlagen und Logistiksystemen haben. Infrastruktursysteme, deren Ausfall oder Störung schwerwiegende ökonomische, technische, ökologische oder so­

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ziale Folgen nach sich ziehen können, werden daher als kritische Infrastrukturen be­ zeichnet und bedürfen einer besonders sorgfältigen integrierten Technikbewertung. Welche Risiken bei einer integrierten Technikbewertung berücksichtigt werden sollen, kann nicht allgemeingültig vorgegeben werden, sondern orientiert sich an der Risikokultur, an unternehmens- oder situationsspezifischen Eigenschaften (z. B. betroffene Branche, gesetzliche Vorgaben, räumliche Ausdehnung), an der Betrach­ tungs- beziehungsweise Planungsebene (strategisch, taktisch, operativ) sowie an den generellen Zielen des Risikomanagements.

8 Öffentliche Akzeptanz und Risikokommunikation Wesentlicher Bestandteil einer gelungenen Entscheidungsunterstützung ist eine brei­ te Akzeptanz der gefundenen Kompromisslösung. Daher sind die Schaffung der Vor­ aussetzungen für die öffentliche Akzeptanz sowie die angemessene Kommunikation der mit der ausgewählten Technik verbundenen Risiken wichtige Aufgaben der inte­ grierten Technikbewertung für weitreichende Investitionsentscheidungen. Fortschreitender technischer Wandel und technische Innovationen sind teilweise mit Risiken behaftet, doch natürliche, gesellschaftliche oder technische Risiken ha­ ben seit jeher das menschliche Leben bedroht (vgl. Jischa 2014; Hungerbühler/Ranke/ Mettier 1999). Erst die fortschreitende Technisierung führte zu einer Gefahrenverla­ gerung von der Natur zur menschengeschaffenen Technik, so dass Sicherheit mehr und mehr zu einer Frage der technischen Experten und von technischen Normen wurde. Durch das Zusammenwirken unzähliger Einflussfaktoren werden technische Gesamtrisiken immer vernetzter und damit eine integrierte Technikbewertung in komplexen Produktions- und Logistiksystemen auch für Experten immer ungewisser. Darüber hinaus erschwert der gesellschaftliche oder weltweite Wertepluralismus ei­ ne einvernehmliche Technikbewertung. Die Zielvorstellung eines Wohlstands ohne Risiko hat sich als Utopie und die Technik in ihren Auswirkungen als ambivalent erwiesen. So wird Fortschritt ebenso wie Nicht-Fortschritt zum Risiko. Vor diesem Hintergrund stellt sich die grundsätzliche Frage, welches Risiko eine Gesellschaft angesichts des zu erwartenden Nutzens eingehen will. Die Beantwortung dieser Frage bewegt sich im Spannungsfeld zwischen dem Wünschbaren, dem technisch Machbaren und dem ökologisch und ökonomisch Trag­ baren. Dabei sind die abzuwägenden Risiken und Nutzen keine harten oder objekti­ ven Fakten, sondern entziehen sich einer objektiven Quantifizierung: Das Risikokal­ kül von Wahrscheinlichkeit und Tragweite mit Hilfe von Statistik und Modellierung ist zwar eine relativ gut operationalisierbare Form der Darstellung von Risiken. Da aber Risiken für unsere Wahrnehmung nur schwer zugänglich sind (vgl. Tversky/ Kahneman 1974; Gigerenzer et al. 1999), ist eine geeignete Risikokommunikation grundlegend für die Sicherung der Akzeptanz von komplexen Produktions- und Lo­

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gistiksystemen und das Vertrauens der Öffentlichkeit. Eine wichtige Voraussetzung für eine geeignete Risikokommunikation ist Transparenz in den Entscheidungen, wie sie durch eine strukturierte und dokumentierte multikriterielle Entscheidungsun­ terstützung sichergestellt werden kann. Bei der Kommunikation sind verschiedene Sichtweisen zu berücksichtigen (vgl. Hungerbühler/Ranke/Mettier 1999): – Aus technischer Sicht geht es bei der Risikokommunikation vor allem um techni­ sche Sachverhalte bezüglich Anlagen, Prozessen und Produkten und die Leitfra­ ge: Was kann passieren, mit welchen Ursachen und Folgen? – Aus gesellschaftlicher Sicht ist bei der Risikokommunikation zu beachten, dass Bürger in demokratischen Gesellschaften jeweils eigene Vorstellungen bezüglich Nutzen und Risiko der Technik haben. Oft gibt es nur wenig Grundwissen über naturwissenschaftlich-technische Zusammenhänge. Aus Sicht einer sozialwis­ senschaftlichen Nutzen-Risiko-Analyse steht die Frage nach der Wahrnehmung und Einschätzung von Nutzen und Risiko durch bestimmte Individuen und An­ spruchsgruppen im Vordergrund. Hier lautet die Leitfrage: Was darf passieren, und wie sind die Konsequenzen in der Gesellschaft verteilt? – Die psychologische Perspektive bei der Beurteilung von Risiken betrachtet auf der Stufe des Individuums eher qualitative Faktoren wie Freiwilligkeit, Kontrollier­ barkeit (vor allem die persönliche Kontrollmöglichkeit), Gewöhnung und Kata­ strophenpotenzial. – Zusätzlich nimmt die soziale Perspektive bei der kollektiven Risikowahrneh­ mung Schutzziele, Wertvorstellungen und Argumentationslogiken von den un­ terschiedlichen gesellschaftlichen Anspruchsgruppen sowie Verteilungseffekte in den Blick. Neben rein technik-bezogenen Kennzahlen sind folglich subjektive Wahrnehmungen für die Akzeptanz von Technologien entscheidend und idealerweise durch geeigne­ te Kriterien bei der integrierten Technikbewertung zu berücksichtigen. In der prakti­ schen Umsetzung sind schließlich verschiedene Ebenen zu unterscheiden: – Auf der Technikebene zeigen Experten das technische Risikokalkül und die tech­ nischen Sicherungsmöglichkeiten auf. – Auf der Wahrnehmungsebene eruieren natur- und sozialwissenschaftliche Exper­ ten konsensfähige Beurteilungsgrößen und Messkriterien für die möglichen Risi­ ken. – Auf der Entscheidungsebene soll über die Akzeptanz entschieden werden, indem die Vorstellungen der Anspruchsgruppen angemessen berücksichtigt werden.

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9 Zusammenfassung In diesem Beitrag wurde ein kurzer Überblick über die Herausforderungen der in­ tegrierten Technikbewertung gegeben. Aus methodischer Sicht stellt die integrierte Technikbewertung ein Entscheidungsproblem zur Auswahl einer Alternative anhand von mehreren zueinander im Zielkonflikt stehenden Kriterien dar. Das Prinzip der Nachhaltigkeit fordert, die zukünftige technische und industrielle Entwicklung so zu gestalten, dass ökonomische, ökologische und gesellschaftliche Zielsetzungen gleich­ rangig angestrebt werden. Weiterhin sind neben dem Normalbetrieb von Techniken in Produktions- und Logistiksystemen auftretende Risiken zu betrachten. Insgesamt müssen bei der Technikbewertung viele Aspekte berücksichtigt werden, was in dem ohnehin komplexen Bewertungsprozess zu einer zusätzlichen Schwierigkeit führt. Entscheidend für die öffentliche Akzeptanz von neuen Technologien und der indus­ triellen Produktion ist hingegen eine angemessene Kommunikation. Die integrierte Technikbewertung unter Berücksichtigung mehrerer Kriterien ermöglicht es Trans­ parenz und Nachvollziehbarkeit für alle Stakeholder zu schaffen. So wird dem Ent­ scheidungsträger eine fundierte und strukturierte Basis zur Entscheidungsfindung geboten.

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Gigerenzer, G. et al.: Das Reich des Zufalls. Wissen zwischen Wahrscheinlichkeiten, Häufigkeiten und Unschärfen, Heidelberg 1999. Greco, S.; Ehrgott, M.; Figueira, J.R. (Eds.): Multiple Criteria Decision Analysis. State of the Art Sur­ veys, 2nd edn., New York 2016. Grunwald, A.: Wissen für das Parlament. 20 Jahre Technikfolgenabschätzung am Deutschen Bundes­ tag, Berlin 2012. Hämäläinen, R.P.: Behavioural Issues in Environmental Modelling. The Missing Perspective, in: Envi­ ronmental Modelling and Software, Vol. 73 (2015), pp. 244–253. Hungerbühler, K.; Ranke, J.; Mettier, T.: Chemische Produkte und Prozesse. Grundkonzepte zum umweltorientierten Design, Berlin/Heidelberg 1999. Jischa, M.F.: Herausforderung Zukunft. Technischer Fortschritt und Globalisierung, 2. Aufl., Ber­ lin 2014. Pöyhönen, M.; Hämäläinen, R.P.: On the Convergence of Multiattribute Weighting Methods, in: Euro­ pean Journal of Operational Research, Vol. 129 (2001), pp. 569–585. Renn, O.: Risiko. Über den gesellschaftlichen Umgang mit Unsicherheit, München 2007. Stewart, T.J.; French, S.; Rios, J.: Integrating Multicriteria Decision Analysis and Scenario Planning. Review and Extension, in: Omega, Vol. 41 (2013), pp. 679–688. Tversky, A.; Kahneman, D.: Judgment under Uncertainty. Heuristics and Biases, in: Science, Vol. 185 (1974), pp. 1124–1131.

Lilly Meynerts und Uwe Götze

Life Cycle Assessment Ökologische Bewertung im Rahmen des Produktions- und Logistikmanagements 1 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4

Einleitung | 1210 Grundlagen des Life Cycle Assessment | 1211 Zur Entwicklung des Life Cycle Assessment | 1211 Grundsätze, Anwendungsfelder, Arten und Methodik des Life Cycle Assessment | 1212 Phasen des Life Cycle Assessment | 1218 Festlegung von Ziel und Untersuchungsrahmen | 1218 Sachbilanz | 1222 Wirkungsabschätzung | 1225 Auswertung | 1230 Grenzen und Herausforderungen | 1232 Vom Life Cycle Assessment zur Nachhaltigkeitsbewertung | 1234 Literatur | 1239

Zusammenfassung. Angesichts zunehmend spürbarer Wetterextreme, Umweltver­ schmutzung und Ressourcenverknappung stellt der Umwelt- und Klimaschutz derzeit eines der wesentlichsten Themen anhaltender Diskussionen dar. Insbesondere in den Bereichen der industriellen Produktion und Logistik, die dazu einen erheblichen Bei­ trag leisten können, sind daher innovative Konzepte zur Steigerung der ökologischen Effizienz unabdingbar. Vor diesem Hintergrund werden im vorliegenden Beitrag das Life Cycle Assessment als das etablierteste Instrument zur Bewertung der Umwelt­ leistung eingehend erläutert und gewürdigt sowie weiterführende Ansätze für die integrierte Bewertung aller drei Säulen der Nachhaltigkeit vorgestellt.

1 Einleitung Phänomene wie Klimawandel, Umweltverschmutzung und Verknappung von Res­ sourcen erheben die ökologische Effizienz zu einer hoch relevanten Zielgröße von Unternehmen und anderen Institutionen im Rahmen der Entwicklung, Ausgestal­ tung und Nutzung zukunftsfähiger Technologien, Produkte und Prozesse. Dies betrifft ganz besonders die Bereiche der industriellen Produktion sowie des Personen- und Güterverkehrs, welche entscheidende Anteile am Primärenergieverbrauch und Emis­

https://doi.org/10.1515/9783110473803-060

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sionsaufkommen Deutschlands aufweisen (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2017, S. 5). Damit einhergehend stellt die ökologische Effizienz auch für das Produktions- und Logistikmanagement eine Zielgröße mit großer und tendenziell wachsender Bedeutung dar. Um Technologien, Produkte und Prozesse sowie aus diesen bestehende Systeme mit Blick auf diese Zielgröße systematisch analysieren, Schwachstellen und Verbes­ serungspotenziale identifizieren sowie Alternativen vergleichen, verbessern und aus­ wählen zu können, ist eine Erfassung und Bewertung der mit ihnen verbundenen öko­ logischen Effekte erforderlich. Das hierfür entwickelte und heute zur Verfügung ste­ hende Instrumentarium wird weitgehend unter dem Begriff des Life Cycle Assessment (LCA; im deutschen Sprachraum auch Ökobilanzierung) subsumiert. Dies motiviert dazu, in diesem Beitrag zunächst die Entwicklung, Prinzipien, An­ wendungsfelder und Arten des LCA zu skizzieren und dann schwerpunktmäßig des­ sen Methodik, d. h. die einzelnen Schritte und die in ihnen einsetzbaren Instrumente, zu erörtern (Abschnitte 2 und 3). Zur Veranschaulichung wird dabei auf das Beispiel der ökologischen Bewertung alternativer Technologien zur Herstellung einer Fahrrad­ komponente zurückgegriffen. Zudem werden auch die typischen Grenzen der Aussa­ gekraft von LCA-Studien angedeutet. Zwischen der ökologischen Effizienz und ökonomischen Zielen liegen häufig komplementäre wie konfliktäre Beziehungen vor; im Konfliktfall besteht ein Span­ nungsfeld, in dem ökonomische Erwägungen der Realisierung ökologisch effizien­ ter(er) Lösungen entgegenstehen können. Zudem sollte das Streben nach ökologi­ scher Effizienz in die umfassendere Zielsetzung der – ökologischen, sozialen und ökonomischen – Nachhaltigkeit eingebettet werden. Dies lässt es geboten erschei­ nen, abschließend auch Ansätze zur integrierten lebenszyklusbezogenen Bewertung der ökologischen Effizienz und anderer Ziele zu präsentieren (Abschnitt 4).

2 Grundlagen des Life Cycle Assessment 2.1 Zur Entwicklung des Life Cycle Assessment Die konzeptionellen Ursprünge des Life Cycle Assessment lassen sich auf erste lebens­ zyklusbezogene ökologische Analysen von Produkten Ende der 1960er Jahre in den USA zurückführen (vgl. Stahl 1999, S. 3). Unter dem Begriff der „Resource and Environ­ mental Profile Analysis (REPA)“ wurden dort 1969 im Auftrag der Coca Cola Company erstmals unterschiedliche Getränkeverpackungen hinsichtlich der mit ihnen verbun­ denen Ressourcenverbräuche und Emissionen untersucht (vgl. Hunt/Sellers/Franklin 1992, S. 246). In Deutschland erfolgten erste Untersuchungen auf Basis der REPA 1972 für alternative Milchverpackungen (vgl. Klöpffer/Grahl 2009, S. 7). Daneben finden sich europaweit weitere ökologische Studien, deren Vorarbeiten teilweise bis in die

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1970er Jahre zurückreichen, unter anderem aus Großbritannien (vgl. Boustead 1996), Schweden (vgl. Lundholm/Sunström 1985) und der Schweiz (Bundesamt für Umwelt­ schutz (BUS) Bern 1984). Eine zentrale Rolle innerhalb der Entwicklung ökologischer Analyse- und Bewer­ tungsmethoden nimmt die Packstoffstudie des Schweizer Bundesamtes für Umwelt­ schutz¹ von 1984 ein. Im Gegensatz zu den eher erfassungsorientierten Vorgänger­ studien beziehungsweise -methoden wies diese bereits einen einfachen Ansatz zur Wirkungsabschätzung auf und erwähnte erstmalig den Begriff der „Ökobilanz“, wel­ cher sich mittlerweile als Pendant zum englischen Begriff des LCA im deutschsprachi­ gen Raum etabliert hat. Von besonderer Bedeutung waren daneben auch die Arbeiten des Centrum voor Milieukunde der Universität Leiden (CML) in den Niederlanden zu Beginn der 1990er Jahre, welche die Ökologieorientierung der bis dahin stärker tech­ nisch-funktional ausgerichteten Studien forcierten (vgl. Klöpffer/Grahl 2009, S. 1 ff.). Mit einer Reihe von seitens der Society of Environmental Toxicology and Chemi­ stry (SETAC) organisierten Workshops setzten ab 1990 Bestrebungen zur Harmonisie­ rung der bislang existierenden ökobilanziellen Analyse- und Bewertungsmethoden ein. Die 1993 im Ergebnis dessen erarbeiteten „Guidelines for Life-Cycle Assessment – A Code of Practice“ (SETAC 1993) bildeten die maßgebliche Grundlage für die noch im gleichen Jahr beginnenden Tätigkeiten der International Organization of Standardiza­ tion (ISO) zur Normierung der Methodik des LCA² (vgl. z. B. Russel/Ekvall/Baumann 2005, S. 1207; Stahl 1999, S. 4). Mittlerweile ist diese in den ISO-Normen 14040 und 14044, die seither mehrfach inhaltlich neu strukturiert und überarbeitet worden sind, standardisiert. Die ISO 14040 versteht sich als Rahmennorm, in welcher die Grund­ sätze und Rahmenbedingungen für die Erstellung von Ökobilanzen festgehalten sind (vgl. Deutsches Institut für Normung 2009, S. 6 ff.). Im Gegensatz dazu fasst die ISO 14044 tiefergehende Handlungsanweisungen und methodische Kernelemente zur strukturierten und umfassenden Durchführung des LCA zusammen (vgl. Deutsches Institut für Normung 2006, S. 7 ff.).

2.2 Grundsätze, Anwendungsfelder, Arten und Methodik des Life Cycle Assessment Gemäß ISO-Norm 14040 wird das LCA definiert als eine Methode, die „. . . sich auf die Umweltaspekte und potenziellen Umweltwirkungen (z. B. [die] Nutzung von Res­ sourcen und . . . Umweltauswirkungen von Emissionen) im Verlauf des Lebensweges eines Produktes von der Rohstoffgewinnung über Produktion, Anwendung, Abfallbe­ handlung, Recycling bis zur endgültigen Beseitigung . . . “ bezieht (Deutsches Institut 1 Später umbenannt in Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL) Bern. 2 Mit der Einführung des Begriffes LCA wurde der vormals für ökologieorientierte Bewertungen ver­ wendete Begriff REPA abgelöst (vgl. Dohnomae/Okumura/Shibata 1996, S. 63; Stahl 1999, S. 4).

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für Normung 2009, S. 4). Sie zielt damit darauf ab, sämtliche der mit einem Produkt³ über dessen Lebenszyklus in Zusammenhang stehenden Prozesse beziehungsweise Prozessmodule sowie zwischen diesen bestehende Flussbeziehungen (z. B. in- und outputseitige Energie-, Material-, Produkt-, Abfall-, Emissionsflüsse) systematisch zu erfassen, zu quantifizieren und hinsichtlich ihrer ökologischen Bedeutung zu beurtei­ len. Ein Prozessmodul beschreibt dabei die kleinste sinnvolle Einheit, für die sich Inund Outputdaten quantifizieren lassen, während das Konglomerat aus lebenszyklus­ bezogenen Prozessmodulen, Flüssen und Funktionen eines Produktes als Produkt­ system bezeichnet wird (vgl. Deutsches Institut für Normung 2009, S. 11 f.). Aus der oben genannten Definition gehen zwei zentrale methodische Grundsätze des LCA hervor – die Lebenswegbetrachtung sowie die umweltbezogene Ausrichtung von Ökobilanzen. Der Ansatz der umfassenden Betrachtung des Lebensweges von Produkten verfolgt das Ziel, eine mögliche Suboptimierung der Umwelteigenschaften von Produkten aufgrund der Verlagerung ökologischer Belastungen von einer Lebens­ zyklusphase in eine andere (oder einzelne Prozesse davon) zu vermeiden (vgl. Guinée et al. 2002, S. 6). Lösungen für auf bestimmte Lebenszyklusphasen oder -prozesse bezogene ökologische Probleme werden damit auch hinsichtlich der durch sie in anderen Lebenszyklusphasen oder -prozessen (gegebenenfalls indirekt) hervorgeru­ fenen Umweltwirkungen analysiert. Mit der expliziten umweltbezogenen Ausrichtung konzentriert sich das LCA ausschließlich auf eine Dimension der Nachhaltigkeit. So­ wohl die ökonomische als auch die soziale Dimension der Nachhaltigkeit werden aus Gründen der Komplexität und Überfrachtung bewusst von den Untersuchungen ausgeschlossen (vgl. Klöpffer/Grahl 2009, S. 2). Für holistische Nachhaltigkeitsbe­ urteilungen sind sie ergänzend mit anderen Methoden, wie beispielsweise dem Life Cycle Costing (LCC) (vgl. dazu z. B. Blanchard 1978; Wübbenhorst 1984) für ökonomi­ sche oder dem Social Life Cycle Assessment (SLCA) (vgl. dazu z. B. Dreyer/Hauschild/ Schierbeck 2006, Jorgensen et al. 2008) für soziale Bewertungen, zu erfassen (vgl. da­ zu auch Abschnitt 4). Zudem lässt sich das LCA als ein „relativer Ansatz“ beschreiben, dessen Daten und Analysen auf eine funktionelle Einheit bezogen werden, die als Ver­ gleichsgröße dient (vgl. Perriman 1993, S. 209 f.). Ein weiteres methodisches Merkmal ist, dass die in den einzelnen Phasen des LCA getroffenen Festlegungen und ermit­ telten Ergebnisse in den jeweils nachfolgenden Schritten aufgegriffen und sukzessive konkretisiert werden. In Abhängigkeit von den dabei gewonnenen Erkenntnissen ergeben sich möglicherweise Rückkopplungen zu vorgelagerten Schritten, wodurch eingangs getroffene Festlegungen und ermittelte Ergebnisse gegebenenfalls zu verfei­ nern beziehungsweise anzupassen sind und das LCA damit einen iterativen Charakter erhält. Darüber hinaus stellt der Grundsatz der Transparenz ein weiteres Leitprinzip des LCA dar, um trotz der der Erstellung von Ökobilanzen typischerweise immanen­

3 Als Produkt im Sinne der Norm werden sowohl Waren als auch Dienstleistungen verstanden (vgl. Deutsches Institut für Normung 2009, S. 8).

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ten Komplexität eine angemessene Auswertung und Interpretation der Ergebnisse zu ermöglichen. Die Ermittlung der Ergebnisse folgt dabei dem Grundsatz der Ganzheit­ lichkeit. Unter Berücksichtigung aller „. . . Attribute und Aspekte von natürlicher Um­ welt, menschlicher Gesundheit und Ressourcen . . . “ (Deutsches Institut für Normung 2009, S. 15) wird gemäß diesem auf medienübergreifende Betrachtungen abgezielt, die unter anderem eine Basis für die Identifikation und Abschätzung von potenzi­ ellen Wechselwirkungen darstellen (vgl. Klöpffer 2003, S. 158). Grundlegend sollen diese Betrachtungen auf wissenschaftlichen Ansätzen basieren: Innerhalb des LCA zu treffende Entscheidungen sollen sich primär an naturwissenschaftlichen oder – falls dies nicht möglich ist – ersatzweise an wirtschafts- oder sozialwissenschaftli­ chen Erkenntnissen und internationalen Übereinkommen orientieren (vgl. Deutsches Institut für Normung 2009, S. 14 f.). Ausgehend von der inhaltlichen Ausrichtung sowie den genannten methodischen Grundsätzen ergeben sich vielfältige Einsatzbereiche für das LCA. Wesentliche An­ wendungsfelder bezüglich verschiedener Formen der Entscheidungsunterstützung liegen dabei in (vgl. dazu sowie zu weiteren Anwendungsfeldern z. B. Deutsches In­ stitut für Normung 2009, S. 35 f.; Todd/Curran 1999, S. 5 f.; Udo de Haes 1993, S. 132): – der Identifikation und Analyse ökologischer Schwachstellen von Produkten (be­ ziehungsweise den damit über ihren Lebenszyklus in Zusammenhang stehenden Prozessen) und deren Ursachen, – der Bestimmung und Auswahl von Optimierungsmöglichkeiten zur Verbesserung der Umweltleistung von Produkten und zugehörigen lebenszyklusbezogenen Pro­ zessen, – der Entscheidungsunterstützung bei der Auswahl vergleichbarer Produkte sowie – der Unterstützung von Designentscheidungen im Rahmen der Entwicklung neuer (ökologisch nachhaltiger) Produkte, Prozesse etc. Mit der Bereitstellung einer umfassenden Basis an Information bezüglich der mit ei­ nem Produkt verbundenen lebenszyklusbezogenen Prozesse und deren Wirkungen kann das LCA daneben auch als Instrument im Bereich der in- und externen Kom­ munikation mit Stakeholdern, als Ausgangspunkt für Umweltmanagementaktivitäten und Umweltkennzeichnungen sowie zu Marketingzwecken Anwendung finden (vgl. Clift 1993, S. 155; Perriman 1993, S. 212). Regelmäßig eingesetzt, dient das LCA zudem dem Monitoring und der Dokumentation der Umweltgerechtigkeit von Produkten und Prozessen (vgl. Bierer et al. 2015, S. 1290). In Abhängigkeit von dem jeweils übergeordneten Zweck des Einsatzes des LCA ha­ ben sich über die Zeit verschiedene Arten des LCA herausgebildet. Diese lassen sich grundlegend nach ihrer Zielsetzung, ihrem Umfang sowie den betrachteten Objekten differenzieren. Hinsichtlich der Zielsetzung wird zwischen dem sogenannten „attri­ butional LCA“ und dem „consequential LCA“ unterschieden. Charakteristisch für at­ tributional LCA-Studien ist, dass die Beschreibung eines Produktsystems und der mit diesem in Zusammenhang stehenden Umweltwirkungen im Vordergrund steht, bei­

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spielsweise zu Zwecken der Schwachstellenidentifikation oder der Umweltkennzeich­ nung (vgl. Baumann/Tillman 2004, S. 63; Rebitzer et al. 2004, S. 705). Consequential LCA-Studien zielen hingegen darauf ab, zu beschreiben, inwiefern sich umweltrele­ vante Flüsse und Wirkungen ausgehend von bestimmten Entscheidungen bezüglich der Gestaltung des Produktsystems verändern werden (vgl. Finnveden et al. 2009, S. 3). Beiden Arten des LCA liegen somit leicht unterschiedlich gelagerte Fragestel­ lungen zugrunde. Dies führt wiederum zu leichten methodischen Unterschieden, die sich insbesondere auf Art und Umfang der im Rahmen des LCA jeweils zu modellie­ renden Prozesse und zu beschaffenden Daten beziehen. Während beim attributional LCA sämtliche Prozesse von der Rohstoffgewinnung bis hin zur Entsorgung des Pro­ dukts systematisch zu modellieren sind, werden beim consequential LCA vorrangig die Prozesse erfasst, die mutmaßlich von der zu treffenden Entscheidung beeinflusst werden (vgl. Rebitzer et al. 2004, S. 706). Mit Blick auf die Datenbeschaffung kann im Rahmen des attributional LCA durchaus mit generellen Werten gearbeitet werden, die sich auf die durchschnittlich von einem Produkt erzeugten Umweltbelastungen be­ ziehen. Bei Betrachtung veränderter Produktionsmengen lassen sich diese aufgrund weitestgehend linearer Zusammenhänge relativ einfach skalieren. Im Gegensatz dazu sind beim consequential LCA auch detaillierte Daten zu geringfügigen Prozess- und Produktionsmengenänderungen zu erheben, um die zugehörigen ökologischen Kon­ sequenzen adäquat bestimmen zu können (vgl. Finnveden et al. 2009, S. 3). In Bezug auf den Umfang von LCA-Studien erfolgt eine Differenzierung in „full LCA“ und „streamlined LCA“ (vgl. Rebitzer et al. 2004, S. 709). Das full LCA stellt da­ bei den umfassendsten Fall dar und steht für Untersuchungen, in denen sämtliche Prozesse des Lebenszyklus hinsichtlich aller Umweltwirkungen auf Basis spezifi­ scher, quantitativer und mit geringen Unsicherheiten behafteter Daten beurteilt wer­ den. Streamlined LCA bezieht sich demgegenüber auf vereinfachte beziehungsweise Teilanalysen. Vereinfachungen lassen sich dabei zum einen mit Blick auf den Umfang und zum anderen hinsichtlich des Prozesses zur Durchführung des LCA treffen. Aus methodischer Perspektive werden Vereinfachungen vor allem durch eine Begrenzung des Untersuchungsbereiches und die daraus resultierende Reduktion des Umfangs von Modellierungs- und Datenbeschaffungsprozessen erzielt (vgl. Todd/Curran 1999, S. 15). Im Extremfall führt das Streamlining zu Analysen, die sich im Gegensatz zum full LCA auf die Untersuchung lediglich einer bestimmten Phase des Lebenszyklus bezüglich einer einzigen Umweltwirkung beschränken und dazu mit hohen Unsi­ cherheiten behaftete, generische Daten qualitativer Art verwenden. In den meisten Fällen werden sich streamlined LCA-Studien jedoch eher zwischen dem genannten Extremfall und dem full LCA bewegen. Je nach konkretem Anwendungsfall, Studien­ ziel sowie spezifischer Datenverfügbarkeit weisen sie dann nur in gewissem Umfang Limitierungen hinsichtlich der berücksichtigten Lebenszyklusphasen und -prozesse, der analysierten Umweltwirkungen sowie der Sicherheit und dem Konkretisierungs­ grad der genutzten Daten auf (vgl. zu diesen und weiteren Formen der Vereinfachung des LCA Todd/Curran 1999, S. 30). Weitere Simplifizierungen, die weniger den Um­

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fang, sondern eher den Prozess der Durchführung des LCA betreffen, zielen vorrangig auf Erleichterungen bezüglich der Erhebung und Beschaffung von Daten sowie der Bestimmung von Umweltwirkungen ab. Erreicht werden kann dies vor allem durch den Einsatz spezieller Software und Datenbanken zur Ökobilanzierung (vgl. Todd/ Curran 1999, S. 15)⁴. Diese umfassen eine Vielzahl prozess- und sektorspezifischer Daten zur Herstellung von Materialien und Energieträgern sowie zu Transport- und Entsorgungsprozessen und stellen diverse Algorithmen und Methoden für die Er­ mittlung und Auswertung von Umweltwirkungen bereit, wodurch sie wesentlich zur Reduktion des Aufwandes bei der Erstellung von Ökobilanzen beitragen können. Insbesondere der Aufwand der Identifikation und Beschaffung relevanter Daten, zur tiefgründigen Einarbeitung in die Prozesse der Ermittlung von Umweltwirkungen so­ wie zur Auseinandersetzung mit ökologischen Ursache-Wirkungsbeziehungen wird dadurch erheblich vermindert. Neben dem Ziel und dem Umfang von LCA-Studien können diese auch mit Blick auf den konkreten Untersuchungsgegenstand beziehungsweise das betrachtete Ob­ jekt Unterschiede aufweisen. Grundlegend bezieht sich das LCA, wie oben bereits be­ schrieben, auf die ökologieorientierte Analyse von Produkten (Waren, Dienstleistun­ gen) beziehungsweise Produktsystemen. Zunehmend wird der Einsatz des LCA aber auch vor dem Hintergrund der Untersuchung ökologischer Wirkungen anderer Ob­ jekte diskutiert. Als wesentliche Untersuchungsgegenstände neben den Produktsys­ temen werden dabei gesehen: – Prozesse: Im Rahmen der Ökobilanzierung von Prozessen steht die Erfassung und Bewertung in- und outputseitig bestehender Stoff- und Energieflüsse von Prozes­ sen oder Prozessketten im Fokus (vgl. Stahl 1999, S. 5). Derartige Analysen dienen hauptsächlich dem Vergleich verschiedener Verfahren, beispielsweise im Bereich der Produktion oder Logistik. Sie bilden eine Basis für grundlegende Prozessneuund -weiterentwicklungen, für die Optimierung und Umgestaltung bestehender Prozesse und Prozessketten sowie für die Identifikation umweltbezogener pro­ zessualer Schwachstellen und Wettbewerbsvorteile (vgl. Jacquemin/Pontalier/ Sablayrolles 2012, S. 1035). – Organisationen/Unternehmen: Auf Organisationen beziehungsweise Unterneh­ men gerichtete Ökobilanzen zielen auf die Identifikation und Quantifizierung al­ ler inner- und außerhalb der Organisation erzeugten Umweltwirkungen ab, die im Zusammenhang mit dem Produktportfolio der Organisation stehen. Das im Ergeb­ nis solcher Betrachtungen entstehende ökologische Wirkungsprofil bezieht sich damit nicht nur auf die Umweltwirkungen der organisationsinternen Aktivitäten, sondern umfasst auch die ökologischen Konsequenzen der Aktivitäten sämtlicher

4 Beispiele für Ökobilanzierungssoftware sind unter anderem SimaPro oder GaBi, für Ökobilanzda­ tenbanken Ecoinvent oder ProBas. Zu weiteren Beispielen für Ökobilanzierungssoftware und -daten­ banken vgl. z. B. Klöpffer/Grahl (2009, S. 138 f.).

Life Cycle Assessment | 1217



an der Wertschöpfungskette zur Erzeugung und Bereitstellung des Produktport­ folios der Organisation beteiligten Zulieferer und Partner. Mit diesen Analysen werden insbesondere analytische Ziele, wie die Gewinnung von Erkenntnissen zu Umweltleistung, ökologischen Schwachstellen und Risiken der Organisation und Wertschöpfungskette, sowie strategische Ziele, wie die Erschließung von Kosten­ reduktionspotenzialen, die Erzielung organisationaler Prozessverbesserungen oder die Öko-Auditierung und Umweltberichterstattung zu Marketingzwecken, verfolgt (vgl. Martinez Blanco/Finkbeiner/Inaba 2015, S. 30 f.). Regionen: Ökobilanzen für Regionen beziehen sich auf definierte regionale oder lokale Gebiete (vgl. Stahl 1999, S. 6). Sie unterstützen die Entscheidungsfindung hinsichtlich bestimmter für diese Gebiete relevanter ökologischer Fragestellun­ gen, wie beispielsweise die Gestaltung von Verkehrsstrukturen (vgl. dazu z. B. Duan et al. 2016; Banar/Özdemir 2015).

Unabhängig von dem konkreten Untersuchungsgegenstand oder dem spezifischen Ziel einer LCA-Analyse folgen LCA-Studien typischerweise einem normierten Ablauf. Wie Abbildung 1 zeigt, unterteilt sich dieser in vier Phasen. Phase 1

Phase 4

Festlegung von Ziel und Untersuchungsrahmen

Phase 2

Sachbilanz

Auswertung

Phase 3

Wirkungsabschätzung

Abb. 1: Phasen des LCA (Quelle: Deutsches Institut für Normung 2009, S. 16).

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Die erste Phase, Festlegung von Ziel und Untersuchungsrahmen, dient der Bestimmung des Zwecks der Studie und der Spezifikation des zu analysierenden Produktsystems. Die in dieser Phase getroffenen Festlegungen determinieren maßgeblich die Breite und Tiefe der Untersuchungen und bilden damit die Grundlage für die sich in den nachfolgenden Phasen anschließenden Datenerhebungs-, Modellierungs- und Ana­ lysetätigkeiten (vgl. Deutsches Institut für Normung 2009, S. 5). Basierend auf den Festlegungen der ersten Phase erfolgt in Phase zwei die Erstel­ lung der Sachbilanz. In ihr werden sämtliche in das betrachtete Produktsystem bezie­ hungsweise dessen Prozessmodule ein- und ausgehenden Stoff- und Energieflüsse in strukturierter Form zusammengestellt und quantifiziert (vgl. Stahl 1999, S. 12). Die so erfassten In- und Outputströme werden innerhalb der dritten Phase, der Wirkungsabschätzung, hinsichtlich ihrer ökologischen Bedeutsamkeit bewertet. Sie werden dazu definierten Umweltwirkungskategorien zugeordnet, bezüglich ihrer Ein­ heiten in die Einheiten entsprechender Wirkungskategorieindikatoren überführt und letztlich in Form eines aggregierten Gesamtindikators oder eines ökologischen Wir­ kungsprofils zusammenfassend dargestellt (vgl. Guinée et al. 2002, S. 63). In der abschließenden Phase des LCA, der Auswertung, erfolgt dann die Inter­ pretation der im Rahmen der Sachbilanzerstelllung und der Wirkungsabschätzung gewonnenen Ergebnisse. Unter Berücksichtigung des eingangs festgelegten Studien­ ziels und Untersuchungsrahmens gilt es, Schlussfolgerungen zur Umweltgerechtig­ keit des betrachteten Produktsystems zu ziehen und Empfehlungen für ökologische Verbesserungen abzuleiten (vgl. Deutsches Institut für Normung 2009, S. 5). Die genannten Phasen des LCA sollen im nachfolgenden Abschnitt näher hin­ sichtlich ihrer methodischen Besonderheiten beleuchtet und auszugsweise am Bei­ spiel der ökologischen Bewertung alternativer Technologien zur Herstellung einer Fahrradkomponente veranschaulicht werden.

3 Phasen des Life Cycle Assessment 3.1 Festlegung von Ziel und Untersuchungsrahmen Mit der Spezifikation von Ziel und Untersuchungsrahmen wird innerhalb der ersten Phase des LCA, wie oben bereits erwähnt, der Rahmen der LCA-Studie festgelegt. Da­ bei sind hinsichtlich des Ziels der der Studie zugrundeliegende Anwendungsbereich, der beabsichtigte Erkenntnisgewinn sowie die Zielgruppe, d. h. die Adressaten der Studienergebnisse, zu konkretisieren. Zudem ist anzugeben, ob die Ergebnisse für ver­ gleichende Aussagen im Rahmen von Veröffentlichungen vorgesehen sind (vgl. Deut­ sches Institut für Normung 2006, S. 15 f.). Durch die Definition des Untersuchungsrahmens erfolgt weiterhin die Festlegung der wesentlichen Eigenschaften der LCA-Studie. Diesbezüglich sind vor allem die fol­

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genden Sachverhalte näher zu beschreiben (vgl. dazu z. B. Deutsches Institut für Nor­ mung 2006, S. 16 ff.; Guinée et al. 2002, S. 35 ff.; Klöpffer/Grahl 2009, S. 28 ff.): – Zu betrachtendes Produktsystem und zugehörige Systemgrenzen: Die Beschreibung des Produktsystems dient der Abgrenzung des Betrachtungsraums. Sie legt dar, welche Prozessmodule in die Untersuchungen einzubeziehen sind und bestimmt damit den Umfang der LCA-Studie. Zur Erfassung der Prozessmodule bietet sich die Erstellung von Systemfließbildern an, in denen relevante Prozessmodule, zwi­ schen diesen bestehende Wechselwirkungen sowie zugehörige In- und Outputs abgebildet werden können. Für vollständige Ökobilanzen umfassen derartige Darstellungen sämtliche Prozessmodule von der Rohstoffgewinnung bis hin zur Entsorgung. In Abhängigkeit von dem jeweiligen Studienziel, der Art der Studie, der Signifikanz einzelner Prozessmodule, In- und Outputs sowie aus Gründen der Komplexitätsreduktion sind jedoch mitunter Eingrenzungen zu treffen. Um bestimmte Prozessmodule, In- und Outputs von den Betrachtungen auszuschlie­ ßen, sind geeignete Abschneidekriterien zu definieren und zu dokumentieren. Die ISO-Norm 14044 verweist dazu insbesondere auf Kriterien wie die Masse, die Energie und die Umweltrelevanz. Einzelne In- und Outputströme können un­ ter anderem dann vernachlässigt werden, wenn sie kumulativ nicht „. . . mehr als einen festgelegten prozentualen Anteil . . . “ (Deutsches Institut für Normung 2006, S. 19) zum insgesamt erforderlichen Masse- oder Energieinput/-output des betrachteten Produktsystems oder nicht zu mehr als einem festgelegten Be­ trag zu den aufgrund ihrer Umweltrelevanz ausgewählten und zu betrachtenden Wirkungskategorien beitragen⁵. Zudem können bei vergleichenden LCA-Studien (consequential LCA) all jene Prozessmodule aus den Betrachtungen entfallen, in denen sich die zu analysierenden Alternativen vollkommen gleichen. Über diese Abgrenzungen hinaus sind auch in geographischer und zeitlicher Hinsicht Systemgrenzen zu setzen. Geographische Systemgrenzen beziehen sich auf die Regionen (Orte, Länder, Landstriche etc.), in denen aufgrund ihrer Beteiligung am Produktsystem (im Rahmen von Rohstoffgewinnung, Transport, Nutzung, Entsorgung) Umweltbelastungen durch erforderliche Inputs (z. B. Ressourcenver­ brauch) oder angefallene Outputs (z. B. Emissionen) entstehen. Systemgrenzen in zeitlicher Hinsicht betreffen zum einen die Festlegung eines Bezugszeitraums für die Datenerhebung und zum anderen die Bestimmung des Zeitraums, über den resultierende Umweltwirkungen zu betrachten sind (z. B. zum Abbau von Treibhausgasen). – Funktionen des Produktsystems und funktionelle Einheit: Neben dem Produktsys­ tem als solches sind auch dessen Funktionen zu bestimmen. Diese stellen die Art des Nutzens des Produktsystems im Sinne der Erbringung einer Leistung dar. Mit der Festlegung einer funktionellen Einheit wird anschließend das Nutzenausmaß

5 Zu einem konkreteren Beispiel für die Verwendung der Abschneidekriterien Masse und Energie vgl. Klöpffer/Grahl (2009, S. 31 f.).

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quantifiziert, auf welches sich die Betrachtungen beziehen sollen. Die funktionel­ le Einheit bildet damit eine Bezugsbasis für die im Rahmen der Studie ermittelten In- und Outputströme. Zugleich dient sie aber auch als Maß zur Herstellung der Vergleichbarkeit der Ergebnisse verschiedener Ökobilanzen. Alternative Produkt­ systeme mit annähernd gleichem Nutzen lassen sich so gegenüberstellen und ge­ geneinander abwägen. Zu verwendende Methoden: Innerhalb der ersten Phase des LCA sind auch die Me­ thoden, die im Rahmen der Studie Anwendung finden sollen, anzugeben. Dazu gehören unter anderem die zur Wirkungsabschätzung in Phase drei und zur Er­ gebnisauswertung in Phase vier fokussierten Methoden sowie geeignete Alloka­ tionsverfahren. Dem iterativen Charakter des LCA entsprechend sind bezüglich der in dieser ersten Phase getroffenen Festlegungen in Abhängigkeit von den im Verlauf der Studie gewonnenen Erkenntnissen mitunter in späteren LCA-Phasen Anpassungen vorzunehmen. Auf speziell in den einzelnen Phasen des LCA an­ wendbare Methoden wird innerhalb der nachfolgenden Abschnitte eingegangen. Anforderungen an Daten beziehungsweise Datenqualität: Art und Qualität der ver­ wendeten Daten sind von zentraler Bedeutung für die Interpretation der im Rah­ men der LCA-Studie ermittelten Ergebnisse und die Beurteilung ihrer Güte und Zuverlässigkeit. Daher sind zu Beginn der Studie Anforderungen unter anderem hinsichtlich der Aktualität, Genauigkeit, Vollständigkeit, Konsistenz und Reprä­ sentativität der zu erhebenden Daten zu definieren und Fragen bezüglich der Ver­ wendung von Primär- oder Sekundärdaten oder geeigneter Datenquellen zu klä­ ren. Annahmen, Einschränkungen, Werthaltungen: Etwaige Annahmen, Einschränkun­ gen oder Werthaltungen sind ebenfalls bereits von Beginn der Untersuchungen an zu dokumentieren. Ähnlich wie die Datenqualität beeinflussen auch sie die Ergebnisinterpretation am Ende der Studie.

Bei dem oben angesprochenen Beispiel zur Technologiebewertung bestand das Ziel der LCA-Studie im Vergleich alternativer Technologien für die Herstellung einer Fahr­ radkomponente – den sog. „Rocker“, der die hintere Schwinge eines vollgefederten Fahrrads mit dem Dämpfungssystem verbindet. Dabei sollte insbesondere eine an der Technischen Universität Chemnitz entwickelte Technologie zur Herstellung 3D-kon­ turierter thermoplastischer Sandwichstrukturen (t3S-Prozess) mit zwei üblicherweise zur Herstellung ähnlicher Strukturen genutzten Verfahren – dem Aluminium Warm­ umformen (AWF) und dem Nasslaminierverfahren (NLV) zur Erzeugung kohlenstofffaserverstärkter Kunststoffe (CFK) – verglichen werden. Die zu untersuchenden Tech­ nologien weisen deutliche Unterschiede hinsichtlich des Automatisierungsgrades, des erforderlichen Ressourceneinsatzes sowie der Entsorgungseigenschaften der er­ zeugten Strukturen am Ende der Nutzungsdauer (End of Life – EoL) auf und sollten daher bezüglich ihrer Umweltwirkungen analysiert werden. Die Studie erfolgte zur projektbegleitenden Identifikation ökologischer Schwachstellen und Optimierungs­ potenziale.

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Werkzeuge Energie Arbeit Ausrüstung

Werkzeuge Energie Arbeit Ausrüstung

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Materialbeschaffung Abfall Emissionen Rocker-/Teilfertigung

Teilmontage

Wiederverwendung t3S 20 %

Emissionen Werkzeuge Arbeit Energie Transport

Emissionen

Teilnutzung Teilzerlegung

Abfall Emissionen

Energie Transport

Werkzeuge Arbeit

AWF

NLV, t3S 80 %

Teil-EoL Recycling

Teil-EoL Recycling

Abfall Emissionen

Abb. 2: Betrachtete Prozessmodule und Systemgrenzen (Quelle: Ribeiro et al. 2016, S. 3309).

Hinsichtlich des zu betrachtenden Produktsystems waren, wie Abbildung 2 verdeut­ licht, sämtliche Lebenszyklusphasen des Rockers beginnend bei der Materialbeschaf­ fung über die Fertigung, Montage, Nutzung und Zerlegung bis hin zur EoL-Behand­ lung des Teils in die Analysen einzubeziehen. Die Phase der Materialbeschaffung fasst dabei die der Fertigung vorgelagerten Prozesse der Rohstoffgewinnung, des Trans­ ports und der Weiterverarbeitung beziehungsweise Veredelung zusammen. Mit Blick auf die resultierenden umweltbezogenen Belastungen sollten insbesondere die in je­ der der genannten Lebenszyklusphasen benötigten Ressourcen sowie entstehenden Abfälle und Emissionen untersucht werden. Die Umweltbelastungen waren dabei glo­ bal zu betrachten, da die Fertigung des Rockers im Fall der beiden üblichen Tech­ nologien (AWF, NLV) in China stattfindet, die Gesamtmontage des Fahrrads jedoch in Deutschland. Die wesentliche Funktion der betrachteten Technologien besteht in der Herstellung von Bauteilgeometrien – in dem Fall in Form des Rockers – mit be­ stimmten Materialien. Für den Vergleich der Technologien wurde ein Produktionsvo­ lumen von 5000 Stück pro Jahr als funktionelle Einheit festgelegt. Als Referenz für die­ sen Wert diente die aktuelle Nachfrage nach Fahrrädern mit CFK-Rockern, die mittels NLV hergestellt worden sind. Die mit der Herstellung dieser Stückzahlen auf Basis der jeweiligen Technologien verbundenen ökologischen Wirkungen sollten anhand des

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Eco-Indicator 99 (auf den in Zusammenhang mit weiteren Methoden zur Wirkungsab­ schätzung in Abschnitt 3.3 näher eingegangen wird) beurteilt werden (zu einer aus­ führlicheren Beschreibung des Fallbeispiels vgl. Ribeiro et al. 2016, S. 3307 ff.).

3.2 Sachbilanz Die Phase der Erstellung der Sachbilanz dient der Quantifizierung aller ökologisch relevanten In- und Outputströme des betrachteten Produktsystems. Den Ausgangs­ punkt dafür bildet das in Phase eins entwickelte Systemfließbild, welches die zu analysierenden Systemelemente und -zusammenhänge in eher grober Form abbildet. Durch detaillierte Stoff- und Energieflussanalysen sind die Systemelemente im Rah­ men der Sachbilanzerstellung weiter hinsichtlich der in ihnen zusammengefassten Prozessmodule aufzuspalten und bezüglich der den Prozessmodulen zugehörigen In- und Outputströme sowie der zwischen diesen bestehenden Flussbeziehungen zu konkretisieren (vgl. Klöpffer/Grahl 2009, S. 63). Die Modellierung und Quantifizierung der Systemelemente und -beziehungen vollzieht sich angesichts des kontinuierlich fortschreitenden Daten- und Informationsgewinns im Regelfall in iterativen Schritten und führt zuweilen auch zu Anpassungen der in der ersten Phase des LCA getroffenen Festlegungen. Aufgrund zu berücksichtigender Wechselwirkungen zwischen den Ele­ menten und mitunter bestehender Allokationsprobleme⁶ nimmt dieser Prozess meist schnell an Komplexität zu. Abbildung 3 stellt den Ablauf der Sachbilanzerstellung überblicksartig dar. Mit der Erfassung sämtlicher Daten zu allen Prozessmodulen des betrachteten Produktsystems ist die Sachbilanzerstellung die wohl aufwendigste Phase des LCA. In ihr sind je Prozessmodul unter anderem eine Vielzahl numerischer Daten zur nach Arten differenzierten Angabe – eingesetzter Mengen an Materialien, Energien, Hilfs- und Betriebsstoffen, Flä­ chen, – erzeugter Mengen an Produkten, Koppelprodukten und Produktionsabfällen, – entstandener Mengen an Emissionen in Luft, Wasser, Boden und anderen Um­ weltbelastungen (z. B. Lärm)

6 Allokationsprobleme treten insbesondere in Fällen auf, in denen bestimmte Prozesse eines Produkt­ systems auch von anderen Produktsystemen genutzt werden. Dazu gehören beispielsweise Prozesse, aus denen mehrere verschiedene Produkte hervorgehen (Multi-Output-Prozess, z. B. Raffinerie), be­ ziehungsweise Prozesse, in die mehrere verschiedene Produkte eingehen (Multi-Input-Prozess, z. B. Mülldeponie, Müllverbrennung), oder Recyclingprozesse, bei denen ein Produkt zu einem anderen Produkt aufbereitet wird (vgl. Baumann/Tillman 2004, S. 84). Zu Methoden, um in solchen Fällen die In- und Outputdaten eines Prozessmoduls (weitgehend) verursachungsgerecht zu alloziieren, vgl. z. B. Deutsches Institut für Normung (2006, S. 29); Guinée et al. (2002, S. 58).

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Festlegung von Ziel und Untersuchungsrahmen

Vorbereitung der Datenerhebung

Überarbeitetes Datenerhebungsblatt

Datenerhebungsblatt

Datenerhebung Gesammelte Daten Datenvalidierung

Geprüfte Daten Bezug der Daten auf ein Prozessmodul

Allokation

Geprüfte Daten je Prozessmodul

Bezug der Daten auf eine funktionelle Einheit Geprüfte Daten je funktioneller Einheit Datenzusammenfassung Zusätzlich benötigte Daten/Module

Errechnete Sachbilanz

Verbesserung der Systemgrenzen Abgeschlossene Sachbilanz

Abb. 3: Vorgehen zur Erstellung der Sachbilanz (Quelle: Deutsches Institut für Normung 2006, S. 25).

zu erheben. Zu Zwecken einer verursachungsgerechten Datenallokation sollten ergän­ zend dazu auch Angaben zu physischen oder monetären Relationen zwischen den be­ trachteten Flüssen erfolgen. Des Weiteren sind deskriptive, qualitative Informationen unter anderem zur Beschreibung von Prozesstechnologien einerseits und verwende­ ten Messprinzipien, -methoden und -umgebungen andererseits zu sammeln (vgl. z. B. Baumann/Tillman 2004, S. 101 ff.). Um den Prozess der Datenerhebung trotz der Fülle an zu beschaffenden Daten möglichst systematisch und strukturiert anzugehen, empfiehlt sich die vorbereiten­ de Erstellung von Datenerhebungsblättern (zu Beispielen für den Aufbau solcher Da­ tenerhebungsblätter vgl. z. B. Deutsches Institut für Normung 2006, S. 62 ff.; Klöpffer/ Grahl 2009, S. 129). Zudem sind in Abhängigkeit von dem mittels der Studie zu erzie­ lenden Erkenntnisgewinn, dem angestrebten Detailierungsgrad, der Einbindung des Auftraggebers der Ökobilanz in das Produktsystem und der Bereitschaft zur Daten­

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weitergabe seitens anderer an dem Produktsystem Beteiligter geeignete Datenquellen näher zu bestimmen. Primärdaten können dabei unter anderem aus unternehmens­ internen Unterlagen (Prozessdokumentationen, Maschinendatenblätter, Stücklisten, Verbrauchsabrechnungen etc.), von Komponentenherstellern/Modulzulieferern oder durch Experimente gewonnen werden. Wesentliche Quellen zur Erhebung von Sekun­ därdaten stellen öffentlich zugängliche Datenbanken und Statistiken sowie verfügba­ re Publikationen (Bibliothek/Internet) dar.⁷ Die erfassten Daten sind anschließend zu validieren. Vor dem Hintergrund des Gesetzes der Masse- und Energieerhaltung kön­ nen dazu zum einen Masse- und Energiebilanzen als Kontrollinstrument genutzt wer­ den. Zum anderen dienen auch Vergleiche mit anderen Datenquellen der Überprüfung der Datenvalidität (vgl. Guinée et al. 2002, S. 54). Sind alle relevanten Daten erfasst, erfolgt die Berechnung der mit dem betrach­ teten Produktsystem in Bezug auf die funktionelle Einheit einhergehenden umwelt­ belastenden In- und Outputmengen. Für die numerischen Daten, die häufig keinen direkten Bezug zur funktionellen Einheit aufweisen, sondern eher für bestimmte Zeit­ räume (z. B. ein Jahr) oder Mengeneinheiten (z. B. Charge, 1 kg) angegeben sind, sind dazu zunächst weitere Schritte der Transformation (Normalisierung, Allokation) er­ forderlich. Im Ergebnis werden die Daten damit auf einen spezifischen Mengenfluss des jeweiligen Prozessmoduls bezogen. Anschließend werden diese wiederum mit dem Referenzfluss der funktionellen Einheit verknüpft, welcher die zur Erbringung der funktionellen Einheit erforderliche Menge an Prozessoutputs angibt. Durch Aggre­ gation der so je Prozessmodul in Bezug auf die funktionelle Einheit ermittelten Fluss­ mengen werden schließlich die Flussmengen für das gesamte Produktsystem bezie­ hungsweise dessen Sachbilanz bestimmt (vgl. Deutsches Institut für Normung 2006, S. 27). Dem allgemeinen Vorgehen der Sachbilanzerstellung entsprechend erfolgte für das Beispiel der Technologiebewertung eine Konkretisierung der in Abbildung 2 dar­ gestellten Prozessmodule. Dabei wurden insbesondere für die Lebenszyklusphase der Fertigung des Rockers detaillierte Prozessmodelle aufgestellt (vgl. dazu Ribeiro et al. 2016, S. 3310), um die Unterschiede der zu vergleichenden Technologien, welche sich maßgeblich hinsichtlich der in dieser Phase benötigten Ressourcen und Ausrüstun­ gen niederschlagen, zu erfassen. Der entwickelte t3S-Prozess ist stark automatisiert und verbindet etablierte Prozesse des Warmformens halbfertiger faserverstärkter ther­ moplastischer Verbundwerkstoffe mit Prozessen des Spritzgießens. Die Herstellung des Rockers mit dieser Technologie erfordert daher spezielle Anlagentechnik und ei­ nen entsprechenden Energieeinsatz. Im Gegensatz dazu finden bei der Herstellung CFK-basierter Rocker mittels NLV diverse manuelle Prozesse statt, wodurch der Ener­ gieeinsatz im Vergleich zum t3S-Prozess deutlich geringer, die Durchlaufzeit jedoch

7 Zu diversen Methoden der Datengewinnung in Abhängigkeit von Datenverfügbarkeit und Daten­ quellen vgl. z. B. Rebitzer et al. (2004, S. 709 ff.).

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höher ist. Der Prozess des AWF weist insgesamt die geringsten Durchlaufzeiten auf, al­ lerdings ist das Gewicht der erzeugten Strukturen im Vergleich zu den beiden anderen Technologien tendenziell höher. Zudem unterscheiden sich die Technologien auch be­ züglich des mit ihnen im Rahmen der Montage verbundenen logistischen Aufwands. Während beim t3S-Prozess sowohl die Fertigung des Rockers als auch dessen Monta­ ge sowie die Gesamtmontage des Fahrrads in Deutschland erfolgen, finden bei den beiden anderen Technologien die Herstellung und die Montage des Rockers an den Rahmen des Fahrrads in China statt. Mit Blick auf die Gesamtmontage des Fahrrads in Deutschland fallen daher zusätzliche Prozesse für den Transport von Rocker und Rah­ men nach Deutschland an. Da die in den Phasen der Nutzung und Zerlegung des Ro­ ckers erforderlichen Prozesse im Wesentlichen unabhängig von den betrachteten Fer­ tigungstechnologien sind, wurde diesbezüglich auf detailliertere Analysen verzichtet. Allerdings variieren die mit den einzelnen Technologien verbundenen Prozesse der EoL-Behandlung. Im Falle des durch AWF erzeugten Aluminium-Rockers kann von einem vollständigen Recycling ausgegangen werden. Demgegenüber ist für die CFKbasierten Rocker im Falle des NLV aufgrund verwendeter Epoxidharze eher eine Ver­ brennung am Ende der Nutzungsdauer zu erwarten. Für den mittels des t3S-Prozesses hergestellten Rocker wird angenommen, dass 20 % des Materials recycelt werden kön­ nen und das restliche Material ebenfalls verbrannt wird. Zur Erhebung der In- und Outputdaten für die beschriebenen Prozesse wurden unterschiedliche Quellen und Methoden genutzt. Erkenntnisse über Material- und Energieverbräuche, Durchlaufzeiten und Ressourcenspezifika zur Fertigung des Ro­ ckers wurden primär auf Basis empirischer und theoretischer Relationen gewonnen. Verfügbare Ausrüstungen und Werkzeuge sowie erforderliche personelle Ressourcen und Infrastrukturen konnten aus dem industriellen Kontext abgeleitet werden. Die Quantifizierung der In- und Outputströme von Rohstoffgewinnungs-, Transport- und Veredlungsprozessen erfolgte hingegen auf Basis generischer Datensätze der Ecoin­ vent 3 Datenbank (vgl. Ribeiro et al. 2016, S. 3311 ff.).

3.3 Wirkungsabschätzung Innerhalb der Phase der Wirkungsabschätzung erfolgt die Bestimmung der mit den in Form der Sachbilanz ermittelten In- und Outputs verbundenen ökologischen Konse­ quenzen. Aus den Sachbilanzergebnissen werden damit potenzielle Umweltwirkun­ gen abgeleitet. Die Überführung der Sachbilanzergebnisse in eine definierte Menge potenzieller Umweltwirkungen ist erforderlich, um die ökologischen Effekte des be­ trachteten Produktsystems differenziert herauszuarbeiten. In Verbindung damit wird eine weitergehende Interpretation der Sachbilanzergebnisse, die bei Produktsyste­ men mit einer Vielzahl an In- und Outputs mitunter nur schwer überschaubar und bei gegenüberzustellenden Produktsystemen mit differierenden In- und Outputs kaum vergleichbar sind, ermöglicht (vgl. Klöpffer/Grahl 2009, S. 195 f.).

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Analog zu den bereits beschriebenen Phasen des LCA kann auch die Durchfüh­ rung der Wirkungsabschätzung in Teilschritte untergliedert werden. Die ISO-Norm 14040 differenziert dabei in verbindliche und optionale Bestandteile. Zu den verbind­ lichen Bestandteilen zählen (vgl. Deutsches Institut für Normung 2009, S. 29): – Auswahl von Wirkungskategorien, Wirkungsindikatoren und Charakterisierungs­ modellen, – Klassifizierung, – Charakterisierung. Im Rahmen des ersten Teilschrittes sind in Übereinstimmung mit dem Ziel der Studie und den ermittelten Sachbilanzergebnissen geeignete Wirkungskategorien, Wir­ kungsindikatoren und Charakterisierungsmodelle zu identifizieren. Unter einer Wir­ kungskategorie wird eine Klasse verstanden, „. . . die wichtige Umweltthemen re­ präsentiert und der Sachbilanzergebnisse zugeordnet werden können“ (Deutsches Institut für Normung 2006, S. 13). Sie wird durch den Wirkungsindikator quantifi­ ziert. Das Charakterisierungsmodell beschreibt die Beziehung zwischen den Sachbi­ lanzergebnissen und den Wirkungsindikatoren (vgl. Deutsches Institut für Normung 2006, S. 35)⁸. Zur Auswahl konkreter Wirkungskategorien, -indikatoren und Charak­ terisierungsmodelle finden sich in der Norm keine näheren Angaben. Es soll aber darauf geachtet werden, dass die gewählten Wirkungskategorien, -indikatoren und Charakterisierungsmodelle international anerkannt und wissenschaftlich begründet sind, die umweltrelevanten Bereiche des betrachteten Produktsystems abdecken und in sich weitestgehend unabhängig voneinander sind, um Doppelerfassungen zu ver­ meiden (vgl. Baumann/Tillman 2004, S. 136). Exemplarische Sammlungen diverser Wirkungskategorien, zu denen unter anderem die Ressourcenbeanspruchung, die Klimaänderung oder der Ozonabbau zählen, finden sich unter anderem in Baumann und Tillman (2004), S. 137 ff.; Guinée et al. (2002), S. 161; Klöpffer und Grahl (2009), S. 204. Der zweite Teilschritt, die Klassifizierung, dient der Zuordnung der Sachbilanz­ ergebnisse zu den gewählten Wirkungskategorien, d. h., hier werden die ermittelten In- und Outputs den Wirkungskategorien zugeordnet, die sie maßgeblich beeinflus­ sen⁹. Zu differenzieren sind dabei Sachbilanzergebnisse, die sich ausschließlich auf eine Wirkungskategorie beziehen, und solche, die entweder parallel oder seriell im Sinne einer Folgewirkung mehrere Wirkungskategorien tangieren (vgl. Deutsches In­ stitut für Normung 2006, S. 39). Sind die Sachbilanzergebnisse den Wirkungskategorien zugeordnet, erfolgt mit dem Teilschritt der Charakterisierung die Berechnung der Wirkungsindikatorwerte. 8 Zu einer Aufstellung von für bestimmte Wirkungskategorien jeweils relevanten Charakterisierungs­ modellen vgl. Hauschild et al. (2013, S. 688). 9 Beispielhaft dafür sei die Zuordnung fossiler Energieträger zur Wirkungskategorie Ressourcenbe­ anspruchung oder der Treibhausgase zur Wirkungskategorie Klimaänderung genannt.

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Die einer spezifischen Wirkungskategorie zugeordneten Sachbilanzergebnisse wer­ den dazu zunächst hinsichtlich ihrer Einheiten harmonisiert, indem sie anhand von Charakterisierungsfaktoren auf die Einheit des jeweiligen Wirkungsindikators bezo­ gen werden (vgl. Guinée et al. 2002, S. 89). Beispielsweise lassen sich die Mengen er­ mittelter Treibhausgase (z. B. CO2 , CH4 ) in die Einheit des Wirkungsindikatorwerts für die Wirkungskategorie Klimaänderung (kg CO2 -Äquivalente) umrechnen, indem man sie mit ihrem jeweiligen Charakterisierungsfaktor für das Treibhauspotenzial (z. B. 1 für CO2 ; 21 für CH4 ), welcher in kg CO2 -Äquivalenten angegeben wird, multipliziert (vgl. Guinée et al. 2002, S. 165; Klöpffer/Grahl 2009, S. 207)¹⁰. Durch Aggregation al­ ler einer Wirkungskategorie zugehörigen und umgerechneten In- und Outputs (hier Treibhausgase) wird schließlich der Wirkungsindikatorwert errechnet, welcher den Gesamtbeitrag des betrachteten Produktsystems zu der jeweiligen Wirkungskategorie angibt. Die Gesamtheit aller so ermittelten Wirkungsindikatorwerte stellt dann das ökologische Profil des Produktsystems dar (vgl. Guinée et al. 2002, S. 89). Zu Zwecken der Vorbereitung der abschließend erfolgenden Interpretation kön­ nen sich der Bestimmung der Wirkungsindikatorwerte ergänzend die nachfolgend genannten optionalen Teilschritte anschließen (vgl. Deutsches Institut für Normung 2006, S. 44): – Normierung: Mittels der Normierung lässt sich die relative Bedeutung der Wir­ kungsindikatorwerte bestimmen, indem sie jeweils ins Verhältnis zu entsprechen­ den Referenzwerten (z. B. das in einem Land insgesamt erzeugte Treibhauspoten­ zial) gesetzt werden. – Ordnung: Die Ordnung dient der Klassifikation und Zusammenfassung der ermit­ telten Ergebnisse, beispielsweise zu Präsentationszwecken. Sie geschieht meist in einer Form, die eine Rangbildung ermöglicht (z. B. nach Kriterien wie dem nor­ mierten Beitrag, dem Abstand zum angestrebten Zustand, dem räumlichen Bezug der Wirkungen). – Gewichtung: Durch die Gewichtung wird die relative Bedeutung der Umweltwir­ kungen in Abhängigkeit von subjektiven Werthaltungen angegeben. Sie ermög­ licht die Zusammenfassung der ermittelten Ergebnisse zu einem übergeordneten umweltbezogenen Punktwert¹¹. Die Bestimmung der Umweltwirkungen beziehungsweise die Ermittlung von Wir­ kungsindikatorwerten erfordert umfangreiche Kenntnisse bezüglich physikalischer, chemischer und biologischer Prozesse und die konsequente Einbeziehung der zwi­ schen den emittierten Schadstoffen und den resultierenden Umweltwirkungen be­ stehenden Ursache-Wirkungsketten. Vor diesem Hintergrund wurde eine Vielzahl

10 Zu umfangreichen Sammlungen von Charakterisierungsfaktoren vgl. z. B. Guinée et al. (2002, S. 163 ff.); Klöpffer/Grahl (2009, S. 256, 262, 268 ff.). 11 Zu diversen Gewichtungsmethoden vgl. z. B. Baumann/Tillman (2004, S. 142 f.).

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Methoden der Wirkungsabschätzung

Eindimensionale Methoden Inputbezogen 1 2

Outputbezogen 3

1 KEA Mehrdimensionale Methoden

2 MIPS

Midpoint

3 Carbon Footprint

19

Hybrid

5

8 IKP Methode

9 Ökologische Knappheit 10 Impact 2002+

11 LIME 12 ReCiPe

Anzahl Wirkungskategorien

7 UBA-Bewertungsmethode

16

9 11 10 11

11 9

4

4

6

7

8 12

13

3

15

2

13 Eco-Indicator 99

Anzahl Schadenskategorien

6 TRACI

5

12 10

4 CML-Methode 5 EDIP 2003

Endpoint 14

14 EPS 2000 15 USEtox

2

Abb. 4: Ausgewählte Methoden der Wirkungsabschätzung¹².

an Methoden entwickelt, die die Ermittlung und Bewertung diverser Umweltwirkun­ gen unterstützen und unter anderem eine bestimmte Auswahl an Wirkungskategorien und -indikatoren, zugehörigen Charakterisierungsmodellen und -faktoren sowie Prin­ zipien zur Normalisierung und Gewichtung der Ergebnisse bereitstellen. Abbildung 4 listet einige dieser Methoden auf und systematisiert sie dabei nach Anzahl und Art der damit zu beurteilenden Umweltwirkungen.

12 Zu den einzelnen Methoden der Wirkungsabschätzung siehe auch: KEA (Kumulierter Energieauf­ wand): Verein Deutscher Ingenieure (1997, S. 11 ff.); MIPS (Materialintensität pro Serviceeinheit): Ritt­ hoff/Rohn/Liedtke (2002, S. 10 ff.); Carbon Footprint: Deutsches Institut für Normung (2014, S. 28 ff.); CML-Methode: Dreyer/Niemann/Hauschild (2003, S.191 ff.); EDIP 2003 (Environmental Design for In­ dustrial Products): Dreyer/Niemann/Hauschild (2003, S.191 ff.); TRACI (Tool for the Reduction and As­ sessment of Chemical and Other Environmental Impacts): Bare (2012, S. 6 ff.); UBA-Bewertungsmetho­ de (Methode des Umweltbundesamts): Umweltbundesamt (1999, S. 11 ff.); IKP Methode (Methode des Institut für Kunststoffkunde und Kunststoffprüfung, Stuttgart): Saur/Eyerer (1996, S. 213 ff.); Metho­ de der ökologischen Knappheit: Bundesamt für Umwelt (2009, S. 44 ff.); Impact 2002+: Humbert et al. (2012, S. 3 ff.); LIME (Life-cycle Impact assessment Method based on Endpoint modelling): Itsubo/ Inaba (2003, S. 305); ReCiPe: Goedkoop et al. (2009, S. 5 ff.); Eco-Indicator 99: Goedkoop/Spriensma

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Bezogen auf die Anzahl der betrachteten Umweltwirkungen lassen sich im We­ sentlichen ein- und mehrdimensional ausgerichtete Methoden voneinander unter­ scheiden. Mittels eindimensionaler Methoden werden die von einem Produktsystem ausgehenden ökologischen Konsequenzen lediglich hinsichtlich einer als maßgeblich relevant erachteten Umweltwirkung beurteilt. Der Art nach differieren diese wieder­ um danach, inwiefern sie die Wirkung spezifischer Inputs oder Outputs bewerten. Während beispielsweise die Methode des Kumulierten Energieaufwands (KEA) der primärenergetischen Bewertung aller über den Lebenszyklus des Produktsystems er­ forderlichen Energieinputs dient (vgl. Verein Deutscher Ingenieure 1997, S. 4), werden mithilfe des Carbon Footprint sämtliche CO2 -Emissionen und andere Treibhausgase, die in Verbindung mit dem Produktsystem erzeugt werden, hinsichtlich der Wirkungs­ kategorie Klimawandel beurteilt (vgl. Deutsches Institut für Normung 2014, S. 13). Im Gegensatz zu eindimensionalen Methoden sind mehrdimensionale Methoden auf die Beurteilung von zwei oder mehr Umweltwirkungen gerichtet. Nach der Art der betrachteten Umweltwirkungen werden sie in midpoint- und endpointorientierte Me­ thoden differenziert. Midpointorientierte Methoden beziehen sich auf Wirkungskate­ gorien (z. B. Klimaänderung, Versauerung, Sommersmogbildung), die innerhalb der Ursache-Wirkungskette irgendwo vor den Wirkungsendpunkten liegen, welche die fi­ nal zu schützenden Güter (z. B. Wälder, Korallenriffe) repräsentieren (vgl. UNEP 2003, S. 7 f.). Endpointorientierte Methoden fokussieren hingegen die Wirkungsendpunkte und beurteilen Umweltwirkungen mit Blick auf relevante Schadenskategorien (Res­ sourcenbeanspruchung, menschliche Gesundheit, Ökosystemqualität), denen diese Schutzgüter direkt zugeordnet werden können (vgl. Bare et al. 2000, S. 319). Über die­ se beiden Klassen mehrdimensionaler Methoden hinaus finden sich weiterhin Metho­ den, welche die Modellierung von Umweltwirkungen sowohl auf Midpoint- als auch auf Endpoint-Niveau unterstützen und somit eine Hybridform darstellen (vgl. Hau­ schild et al. 2013, S. 685). Für die ökologische Beurteilung der drei beschriebenen Technologien zur Herstel­ lung des Rockers wurde, wie oben bereits erwähnt, die Methode des Eco-Indicator 99 (EI ’99) verwendet. Der EI ’99 ist eine endpoint- beziehungsweise schadensorientierte Methode der Wirkungsabschätzung und ermittelt die Umweltwirkungen in Bezug auf die Schadenskategorien Ressourcenverfügbarkeit, Ökosystemqualität und menschli­ che Gesundheit. Durch die Gewichtung und Aggregation dieser drei Schadenskatego­ rien wird die Umweltrelevanz des betrachteten Produktsystems letztlich in Form einer Spitzenkennzahl, des Eco-Indicators, ausgedrückt (vgl. Goedkoop 2000, S. 2). Im Falle des vorliegenden Bewertungsproblems wurde eine wissenschaftlich allgemein akzep­ tierte Standardgewichtung von 40 % menschliche Gesundheit, 40 % Ökosystemquali­ tät und 20 % Ressourcenverfügbarkeit gewählt (vgl. Ribeiro et al. 2016, S. 3315). Die auf

(2001, S. 3 ff.); EPS 2000 (Environmental Priority Strategies): Steen (1999, S. 21 ff.); USEtox: Rosenbaum et al. (2008, S. 534).

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Tab. 1: Umweltwirkungen mittels alternativer Technologien hergestellter Rocker (EI ’99 Punkte/ Stück) (Quelle: Ribeiro et al. 2016, S. 3316). Alternativen

Lebenszyklusphase AWF

NLV

t3S

Materialbeschaffung Bauteil 0,0906 0,1879 0,1049 Materialbeschaffung Werkzeug 0,0503 0,0503 0,0503 Fertigung (Energie) 0,3306 0,1773 0,3728 Transport 0,0014 0,0014 0,0004 Nutzung – – – EoL –0,0819 0,0013 –0,0006 Summe 0,391 0,4182 0,5278

dieser Basis für die mittels der drei unterschiedlichen Technologien hergestellten Ro­ cker ermittelten Ergebnisse sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Sie verdeutlichen die in Bezug auf die einzelnen Lebenszyklusphasen sowie insgesamt jeweils über alle drei Schadenskategorien resultierenden Öko-Punktewerte je Stück bei einer Gesamtpro­ duktionsmenge von 5000 Stück pro Jahr. Je geringer der Gesamtpunktwert ist, desto umweltverträglicher ist die jeweilige Alternative. Die für die EoL-Phase angegebenen negativen Werte bei Herstellung des Rockers mittels des AWF sowie des t3S-Prozesses stellen folglich einen ökologischen Vorteil dar. Dieser resultiert aus der für die genann­ ten Alternativen bestehende Möglichkeit des Recyclings und der Wiederverwendung eingesetzter Materialien, durch die der Gesamtbedarf an Rohmaterial sinkt.

3.4 Auswertung Die Auswertung dient der abschließenden Interpretation der ermittelten Ergebnisse und der Ableitung von dem Ziel und dem Untersuchungsrahmen der Studie entspre­ chenden Schlussfolgerungen und Empfehlungen. Sie umfasst die Teilschritte: – Identifikation signifikanter Parameter, – Beurteilung von Vollständigkeit, Sensitivität und Konsistenz, – Ableitung von Schlussfolgerungen, Erläuterung von Einschränkungen, Dedukti­ on von Empfehlungen (vgl. Deutsches Institut für Normung 2006, S. 45). Innerhalb des ersten Teilschrittes sind die ermittelten Ergebnisse zu strukturieren und signifikante Parameter zu identifizieren. Unter signifikanten Parametern werden dabei unter anderem bestimmte Sachbilanzdaten, Wirkungskategorien oder Lebenswegab­ schnitte und Prozessmodule verstanden, die die Umweltverträglichkeit des betrachte­ ten Produktsystems maßgeblich determinieren beziehungsweise bezüglich derer be­ stehende Unsicherheiten hinsichtlich verwendeter Daten, getroffener Annahmen und

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methodischer Festlegungen besonders starke Auswirkungen auf das Ergebnis der Stu­ die haben (vgl. Klöpffer/Grahl 2009, S. 359). Um Vertrauen sowohl in die ermittelten Ergebnisse der Sachbilanzerstellung und Wirkungsabschätzung als auch in die im vorangegangen Teilschritt identifizierten si­ gnifikanten Parameter zu entwickeln und deren Zuverlässigkeit zu sichern, erfolgt im Teilschritt der Beurteilung eine Prüfung der folgenden Punkte (vgl. Deutsches Institut für Normung 2006, S. 51 ff.): – Vollständigkeit: In Bezug auf die Vollständigkeit ist zu prüfen, ob sämtliche zur Erfüllung des Ziels und bezüglich des Untersuchungsrahmens benötigten Daten und Informationen vorliegen. Sollten Datenlücken bestehen oder Informationen unvollständig sein, sind – sofern diese aus Relevanzgründen nicht vernachlässig­ bar erscheinen – mit Blick auf die Phasen 2 und 3 des LCA entsprechende Ergän­ zungen und Überarbeitungen vorzunehmen oder aber Ziel und Untersuchungs­ rahmen an die Sachlage anzupassen. – Sensitivität: Mittels der Sensitivitätsprüfung wird die Empfindlichkeit der Ergeb­ nisse gegenüber Änderungen in den Rahmenbedingungen überprüft. Das Ziel ist es dabei, zu bestimmen, inwiefern sich Unsicherheiten (z. B. bezüglich der Daten, Annahmen, Allokationsregeln, Wirkungsindikatorberechnung) auf die Ergebnis­ se der Studie auswirken, für welchen Wertebereich die ermittelten Ergebnisse Gül­ tigkeit besitzen und ab welchen kritischen Werten für einzelne Parameter sich die Ergebnisse stark verändern. – Konsistenz: Hinsichtlich der Konsistenz ist die Übereinstimmung von getroffe­ nen Annahmen, gewählten Methoden und verwendeten Daten mit dem Ziel und dem Untersuchungsrahmen der Studie zu prüfen. In dem Zusammenhang ist insbesondere auf eine einheitliche Verwendung von zeitlichen, regionalen und anderen Systemgrenzen, Allokationsregeln, Wirkungsabschätzungsbestandtei­ len über sämtliche Elemente und Phasen der LCA-Studie hinweg zu achten. Unter Berücksichtigung der in den ersten beiden Teilschritten der Auswertung ge­ wonnenen Erkenntnisse sind abschließend Schlussfolgerungen (z. B. relevanteste ökologische Schwachstellen) aus den ermittelten Ergebnissen zu ziehen und mit der vorgesehenen Anwendung in Einklang stehende Empfehlungen (z. B. Optimierungs­ maßnahmen) abzuleiten. Methodische und anderweitig getroffene oder bestehende Einschränkungen sind in dem Kontext nochmals zusammenzufassen und ebenfalls in die Ableitung von Schlussfolgerungen und Empfehlungen einzubeziehen (vgl. Deutsches Institut für Normung 2006, S. 53). Hinsichtlich der zur Herstellung des Rockers verglichenen Technologiealternati­ ven verdeutlichen die in Tabelle 1 dargestellten Ergebnisse die ökologische Vorteil­ haftigkeit des mittels des AWF erzeugten Rockers. Trotz höherer Umweltbelastungen im Bereich der Materialbeschaffung weist das NLV angesichts der manuellen Prozes­ se und der daraus resultierenden Energieeinsparungen im Rahmen der Fertigung des Rockers insgesamt jedoch nur geringfügig höhere Umweltwirkungen als das AWF auf.

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Der t3S-Prozess birgt im Gegensatz dazu aufgrund seines hohen Automatisierungs­ grads die größten ökologischen Belastungen. Zudem ist zu erkennen, dass sich die Umweltwirkungen der drei Alternativen insbesondere hinsichtlich des erforderlichen Material- und Energieeinsatzes zur Fertigung des Rockers sowie bezüglich der Recy­ cling- und EoL-Prozesse voneinander unterscheiden. Unter der Annahme, dass sich diese Faktoren proportional zum Produktionsvolumen verhalten, hätten Veränderun­ gen bezüglich der jährlich gefertigten Stückzahlen kaum Auswirkungen auf die stück­ bezogenen Umweltwirkungen und die damit verbundene Rangfolge der Alternativen. Daneben wurden die Auswirkungen des gewählten Gewichtungsschemas, welches die Gesamtergebnisse stark beeinflusst und subjektiven Wahrnehmungen unterworfen ist, geprüft. Dazu wurden zwei Gewichtungsschemata genutzt, die die Umweltwir­ kungen im Vergleich zu dem im Grundszenario gewählten moderaten Niveau für eine kürzere beziehungsweise längere Frist betrachten. Trotz Änderungen in Bezug auf die absoluten Ergebniswerte blieben dabei die Relationen zwischen den betrachtete Alter­ nativen unverändert. Hinsichtlich des in der Entwicklung befindlichen t3S-Prozesses ist damit zu schlussfolgern, dass insbesondere Maßnahmen zur Steigerung der anla­ genspezifischen Energieeffizienz sowie zur Erhöhung der Recyclingfähigkeit der ein­ gesetzten Materialien fokussiert werden sollten, um dessen Umweltwirkungen zu ver­ mindern und ökologische Vorteile gegenüber bislang etablierten Verfahren erzielen zu können.

3.5 Grenzen und Herausforderungen Wie für Bewertungsmethoden üblich, bestehen auch hinsichtlich des LCA gewisse Grenzen beziehungsweise Herausforderungen. Generelle Herausforderungen für LCAStudien, die zum einen mit steigender Komplexität der betrachteten Systeme und zum anderen mit steigender Anzahl zu berücksichtigender Szenarien tendenziell zuneh­ men, sind vor allem in den Bereichen der Handhabbarkeit und der Datenbeschaffung (z. B. bezüglich geeigneter Datenquellen und der Datenqualität) zu sehen (vgl. Udo de Haes 1993, S. 132). Belegt werden diese Herausforderungen insbesondere durch die Vielzahl existierender Streamlining-Ansätze (vgl. Todd/Curran 1999, S. 15 ff.) so­ wie die Bestrebungen zur Entwicklung spezifischer Datenbanken und Software, die auf Vereinfachungen und damit auf die Erhöhung der Praktikabilität des LCA abzie­ len. Ebenso herausfordernd gestaltet sich die Berücksichtigung der Vielzahl mitunter zu betrachtender Lebenszyklen. In vielen Fällen dürfte nicht nur der übergeordnete Lebenszyklus des Gesamtsystems von Bedeutung sein, sondern auch die Analyse der Lebenszyklen der einzelnen Systemelemente. Diese können hinsichtlich ihrer Dauer und Charakteristik stark variieren und bedingen sich häufig zum Teil gegenseitig. Dar­ über hinaus bezieht sich das LCA explizit auf die Bestimmung potenzieller Umweltwir­ kungen und versteht sich damit nicht im Sinne einer Risikoanalyse. Reale Wirkungen

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sowie Wahrscheinlichkeiten für ihr Eintreten werden in dem Zusammenhang nicht ermittelt (vgl. Klöpffer 2008, S. 80). Eine weitere Herausforderung, die insbesondere im Hinblick auf die Harmoni­ sierung des LCA mit lebenszyklusbezogenen ökonomischen Bewertungen in Augen­ schein fällt, ist die Berücksichtigung von Veränderungen im Zeitablauf. Während derartige Veränderungen im Rahmen ökonomischer Bewertungen unter Verwendung dynamischer Verfahren der Investitionsrechnung explizit erfasst werden, basiert das LCA auf der Ermittlung von Umweltwirkungen, die auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogen werden (vgl. z. B. Norris 2001, S. 60). Allerdings sind sowohl die erzeugten Umweltwirkungen unter anderem in Abhängigkeit von verwendeten Technologien, verfügbarem Energiemix und produzierten Stückzahlen als auch die ihrer Bewertung zugrundeliegenden Prämissen (z. B. Charakterisierungsfaktoren, relative Bedeutung von Wirkungskategorien, Sensitivität des Ökosystems, klimatische Bedingungen) zeitlich bedingten Änderungen unterworfen (zu diesen und weiteren Änderungen im Zeitverlauf vgl. Hellweg/Hofstetter/Hungerbühler 2003, S. 10 f.). Um derartige Effekte in ökologische Bewertungen einzubeziehen, wurde mit Blick auf eine entsprechende Dynamisierung des LCA in Anlehnung an ökonomische Bewertungen insbesondere die Übertragbarkeit des Ansatzes der Diskontierung diskutiert (vgl. dazu Hellweg/ Hofstetter/Hungerbühler 2003, S. 8 ff.). Die in Form der Diskontierung unterstellte Zeitpräferenz, wonach zukünftige negative ökonomische Wirkungen gegenwärtigen gegenüber vorgezogen werden, erscheint bezogen auf die Erzeugung von Umwelt­ wirkungen jedoch ethisch fraglich und daher nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt. Stattdessen wird zur Berücksichtigung zeitlicher Veränderung im Rahmen des LCA die Bildung von Szenarien als eine wesentliche Möglichkeit der Dynamisierung ge­ sehen (vgl. Hellweg/Hofstetter/Hungerbühler 2003, S. 11; Rebitzer 2005, S. 98; Pehnt 2006, S. 62 ff.). Grenzen beziehungsweise Herausforderungen bestehen dabei aller­ dings bezüglich der Menge unterschiedlicher Szenarien, die in Abhängigkeit von be­ trachteten Zeiträumen und der spezifischen Veränderlichkeit relevanter Parameter zu entwickeln sind, sowie der Auswertung der für die Szenarien ermittelten Ergebnisse, insbesondere im Falle vergleichender LCA-Studien. Darüber hinaus kann eine wesentliche Einschränkung, wie oben bereits ange­ deutet, auch in der ausschließlichen Fokussierung auf ökologische Effekte gesehen werden. Die mit einem System verbundenen ökonomischen und sozialen Wirkungen bleiben damit unberücksichtigt. Für Entscheidungen bezüglich der Gestaltung und Auswahl von Produkten, Prozessen etc. im industriellen Bereich sind diese jedoch ebenfalls von zentraler Bedeutung (vgl. Klöpffer 2008, S. 89). Eine Herausforderung besteht daher in der Verknüpfung LCA-basierter Bewertungen mit Instrumenten zur Bewertung ökonomischer und sozialer Zielgrößen, um Entscheidungen mit Blick auf die Nachhaltigkeit insgesamt und unter Berücksichtigung relevanter Trade-Offs, die zwischen den verschiedenen Bewertungsdimensionen bestehen, vorzubereiten. Auf Ansätze dafür wird nachfolgend näher eingegangen.

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4 Vom Life Cycle Assessment zur Nachhaltigkeitsbewertung Einleitend wurde bereits erwähnt, dass gerade zwischen ökologischen und ökonomi­ schen Zielgrößen häufig relevante Zielbeziehungen existieren und zudem die ökolo­ gische Effizienz nur eine Perspektive des Strebens nach Nachhaltigkeit darstellt. Vor diesem Hintergrund sollen nun Ansätze zur integrierten lebenszyklusbezogenen öko­ logischen und sozialen Bewertung (unter Berücksichtigung des Social Life Cycle As­ sessment), ökologischen und ökonomischen Bewertung (beziehungsweise einer Inte­ gration des LCA und Life Cycle Costing (LCC)) sowie einer umfassenden „Gesamtbe­ wertung“ der Nachhaltigkeit überblicksartig vorgestellt werden. Integration lebenszyklusbezogener ökologischer und sozialer Bewertungen: Mit dem Fokus auf die Erfassung lebenszyklusbezogener sozialer und sozio-ökonomi­ scher Effekte eines Produktsystems haben sich in Analogie zur Bewertung ökologi­ scher Wirkungen eine Reihe an Ansätzen entwickelt, die sich unter dem Begriff des Social Life Cycle Assessment (SLCA) subsumieren lassen (vgl. z. B. Dreyer et al. 2006, S. 88 ff.; Hauschild/Dreyer/Jorgensen 2008, S. 21 ff.; UNEP 2009, S. 43 ff.). Diese ori­ entieren sich mehrheitlich an dem in Abbildung 1 aufgeführten Phasenmodell des ökologischen LCA und eignen sich sowohl für die isolierte Bewertung sozialer Wir­ kungen als auch für die kombinierte Betrachtung von sozialen und ökologischen Kon­ sequenzen (vgl. UNEP 2009, S. 37). Dem methodischen Ursprung des SLCA entspre­ chend werden ähnlich wie beim ökologischen LCA ausgehend von einer Definition des Ziels einer Studie und des in Bezug auf eine funktionelle Einheit zu betrachtenden Systems relevante Daten erhoben und über Wirkungskategorien auf Midpoint- und Endpoint-Niveau in auswertbare Indikatoren überführt, in denen sich die Erfüllung gesellschaftlicher Werte und Ziele verschiedener Lebensbereiche widerspiegelt (vgl. Halog/Manik 2011, S. 473 f.). Hinsichtlich der dabei zu erfassenden Wirkungs- beziehungsweise Schadenska­ tegorien finden sich diverse Systematisierungsansätze (vgl. z. B. Dreyer/Hauschild/ Schierbeck 2006, S. 93; Hauschild/Dreyer/Jorgensen 2008, S. 22; UNEP 2009, S. 49). Al­ len gemein ist, dass sie sämtliche der mit dem Produktsystem in Zusammenhang ste­ henden Stakeholder berücksichtigen und demgemäß Effekte für Arbeitnehmer (z. B. Arbeitssicherheit, körperliche Belastung, Mindestlohn), Konsumenten (z. B. Gesund­ heit, Privatsphäre), Gemeinden (z. B. sichere Lebensbedingungen), an der Wertschöp­ fungskette beteiligte Akteure (z. B. fairer Wettbewerb, Respekt geistigen Eigentums) sowie die Gesellschaft im Allgemeinen (z. B. Beitrag zur ökonomischen Entwicklung, Korruption) umfassen¹³. Für die Ermittlung dieser Wirkungen sind im Gegensatz zu

13 Zu einer vergleichenden Gegenüberstellung diverser Ansätze für zu erfassende Wirkungs- bezie­ hungsweise Schadenskategorien vgl. Jorgensen et al. (2008, S. 99).

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ökologischen LCA-Studien häufig eher qualitative Daten zu erheben, die sich zudem stärker auf lokale Gegebenheiten sowie die spezifischen Bedingungen und Prinzipien innerhalb einzelner Organisationen und weniger auf einzelne Prozesse beziehen (vgl. Benoît et al. 2010, S. 159)¹⁴. Trotz der Nähe des allgemeinen Vorgehens des SLCA zu dem des etablierten öko­ logischen LCA befindet sich das SLCA methodisch in einem vergleichsweise frühen Entwicklungsstadium. Bislang besteht nach wie vor Bedarf an der Entwicklung ge­ eigneter Methoden unter anderem für die Datenbeschaffung oder die Charakterisie­ rung und Gewichtung sozialer Wirkungen¹⁵. Spezifische Datenbanken und Software, die die Bestimmung sozialer Wirkungen unterstützen, existieren ebenfalls nur in ge­ ringem Ausmaß.¹⁶ Zudem mangelt es an methodischer Unterstützung bezüglich der Integration von SLCA und ökologischem LCA. Auf die kombinierte Anwendung bei­ der wird zwar, wie oben bereits erwähnt, hingewiesen, allerdings finden sich – mit Ausnahme des gemeinsamen Phasenmodells – kaum Ausführungen zur Verbindung beider Bewertungen (z. B. im Rahmen der Datenerhebung oder Ergebnisauswertung) und zu potenziell bestehenden Synergien. In dem Kontext werden primär zwischen beiden Bewertungen bestehende Gemeinsamkeiten und Unterschiede diskutiert (vgl. dazu Benoît et al. 2010, S. 159; UNEP 2009, S. 38 ff.). Methodische Zusammenführun­ gen werden hingegen bisher nicht erörtert. Integration lebenszyklusbezogener ökologischer und ökonomischer Bewertungen: Für die Durchführung lebenszyklusbezogener ökonomischer Analysen und Bewertun­ gen hat sich das Life Cycle Costing in Verbindung mit der dynamischen Investitions­ rechnung etabliert. Dieses zielt auf die Ermittlung aller mit einem Objekt (Produkte, Prozesse etc.) über dessen Lebenszyklus in Zusammenhang stehenden ökonomischen Wirkungen und Trade-Offs ab (vgl. Brown/Yanuck 1985, S. 1). Angesichts der bestehen­ den Zielbeziehungen, aber auch von Überschneidungen, die zwischen LCA und LCC unter anderem bezüglich der Bewertungsobjekte, des Zeitbezugs, der erforderlichen Daten sowie der Modellierungsaktivitäten bestehen, sind in den vergangenen Jahren vermehrt Ansätze entstanden, die einen kombinierten Einsatz von LCA und LCC an­ streben. Viele von diesen betrachten, wie in Abbildung 5 dargestellt, LCA und LCC als gleichrangige, nebeneinander durchzuführende Methoden oder verwenden eine der beiden Bewertungen als Basiskonzept und binden Aspekte der jeweils anderen Be­ wertungsdimension darin ein.

14 Zu Ausführungen bezüglich der für das SLCA erforderlichen Daten vgl. z. B. Benoît Norris (2014, S. 262). 15 Zu einer Übersicht bestehender Ansätze insbesondere für die Bestimmung geeigneter Wirkungsin­ dikatoren, die Datenbeschaffung, die Klassifizierung und die Charakterisierung vgl. Jorgensen et al. (2008, S. 97 ff.). 16 Zu weiteren Grenzen des SLCA sowie bestehendem Forschungsbedarf vgl. z. B. UNEP (2009, S. 76 ff., 82 ff.).

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Ansätze für einen kombinierten Einsatz von LCA und LCC

parallele Verwendung von LCA und LCC

Verwendung eines Basiskonzepts

LCA als Basiskonzept • Festlegung einheitlicher Systemgrenzen • holistische Auswertung der LCA- und LCC-Bewertungsergebnisse

• Ergänzung einer monetären Wirkungskategorie

LCC als Basiskonzept • Monetarisierung interner umweltbezogener Wirkungen

• Monetarisierung der • Monetarisierung exLCA-Ergebnisse terner umweltbezogener Wirkungen Abb. 5: Ansätze für einen kombinierten Einsatz von LCC und LCA (Quelle: Meynerts/Götze/Claus 2016, S. 76).

Charakteristisches Merkmal der Ansätze, die auf einer parallelen Verwendung von LCA und LCC basieren, ist die Beibehaltung der dimensionsspezifischen Rechen- und Zielgrößen (vgl. z. B. Huppes/Ishikawa 2005, S. 27 ff.; Kicherer et al. 2007, S. 538). Da­ durch lassen sich sowohl die ökonomische als auch die ökologische Bewertungsdi­ mension vollständig abbilden. Angesichts einer weitestgehend voneinander isolier­ ten Durchführung der LCA- und LCC-Bewertung beschränken sich die integrativen Elemente innerhalb dieser Ansätze jedoch im Wesentlichen auf die Festlegung ein­ heitlicher Systemgrenzen für beide Bewertungen sowie die holistische Beurteilung der jeweils ermittelten Bewertungsergebnisse. Aus dieser eher geringfügigen bewertungs­ übergreifenden Abstimmung können in der Folge Inkonsistenzen bezüglich der dem LCA und LCC zugrunde gelegten Annahmen und Daten (z. B. hinsichtlich betrachteter Systemelemente und Wirkungsbeziehungen) sowie Doppelarbeiten (z. B. zur System­ modellierung, Datenerhebung) resultieren (vgl. dazu auch Bierer et al. 2015, S. 1290). Solche Effekte lassen sich bei einer Verwendung von LCC oder LCA als Basiskon­ zept vermeiden. Für die Integration der jeweils anderen Bewertungsdimension grei­ fen Ansätze, die dieses Prinzip verfolgen, jedoch hauptsächlich auf die Monetarisie­ rung ökologischer Wirkungen zurück (vgl. z. B. Hunkeler/Lichtenvort/Rebitzer 2008, S. 35 ff.; Steen 2005, S. 109 ff.). Im Ergebnis resultieren daraus entweder LCA-Analy­ sen, die zusätzlich zu den ökologischen Indikatoren auch umweltbezogene Zahlun­ gen ausweisen, oder LCC-Analysen, die um spezifische umweltbezogene Zahlungen (z. B. für emissionsbedingte Abgaben oder Steuern, Umweltmanagementaktivitäten) ergänzt sind. In beiden Fällen wird die jeweils andere Bewertungsdimension damit nicht vollständig repräsentiert (vgl. Meynerts/Götze/Claus 2016, S. 77).

Life Cycle Assessment | 1237

Um den genannten Schwächen der in Abbildung 5 dargestellten Arten von Ansät­ zen zur Integration von LCA und LCC zu begegnen, wurde der im Folgenden skizzierte und in Abbildung 6 veranschaulichte Integrationsansatz entwickelt. Unter Beibehal­ tung der dimensionsspezifischen Rechen- und Zielgrößen zielt dieser einerseits auf die vollständige Abbildung beider Bewertungsdimensionen ab. Andererseits soll er durch eine stärkere inhaltlich-methodische Zusammenführung von LCA und LCC zur Erhöhung der Konsistenz innerhalb integrativer Studien beitragen. Den Ausgangspunkt zur stärkeren Vernetzung der ökologischen und ökonomi­ schen Bewertung stellt dabei das in Abbildung 6 verdeutlichte Vorgehensmodell dar. Dieses dient sowohl der LCA- als auch der LCC-Analyse in sämtlichen Bewertungs­ schritten als weitestgehend einheitlich verwendbare Bezugsbasis. Innerhalb der ein­ zelnen Schritte werden die jeweiligen Inhalte damit so erfasst und aufeinander abge­ stimmt, dass sie den spezifischen Anforderungen und Auswertungsrechnungen bei­ der Bewertungsdimensionen gleichermaßen zuträglich sind. Getrennt voneinander werden lediglich die Inhalte erhoben und analysiert, die primär für eine der beiden Bewertungen relevant sind und die jeweils andere nicht tangieren. Auf diese Weise sollen zum einen Bewertungsprämissen harmonisiert und zum anderen zwischen LCA und LCC existierende Synergieeffekte, die zu einer Reduktion des Gesamtbewertungs­ aufwands beitragen, erschlossen werden (vgl. dazu auch Meynerts/Götze/Claus 2016, S. 77). Lebenszyklusmodellebene - Gesamtproblem L0



Festlegung von Ziel und Rahmen der Untersuchung

Submodellebene - Partialprobleme -

L1 Definition der Systemgrenzen

S1

L2

Bestimmung von Zielgröße(n) und Präferenzrelationen

S2

L3

Strukturelle Analyse und Modellierung des Systems

Eigenständige Modellierungsund Bewertungsprozesse zur Analyse von:

S4

• Lebenszyklusphasen/-prozessen mit nur ökonomisch oder ökologisch relevanten Wirkungen

Differenzierte Bestimmung von Zielgrößenelementen

S5

• differierenden Umweltszenarien/ -faktoren (z. B. Preise nur für LCC)

L6

Ermittlung der bzw. des Werte(s) der Zielgröße(n)

S6

L7

Interpretation der Ergebnisse und Sensitivitätsanalysen

S7

Analyse von UmweltfakL4 toren/-szenarien L5

Identifikation von Partialproblemen

S3

• spezifischen Wirkungskategorien (z. B. Klimaänderung) oder monetären Effekten (z. B. Kapitalwert)

• alternativen Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen und • zur Erhebung von Daten, die nur ökonomisch oder ökologisch von Bedeutung sind

Abb. 6: Vorgehensmodell zur Durchführung integrativer LCC-LCA-Studien (Quelle: Bierer et al. 2015, S. 1291).

1238 | Lilly Meynerts und Uwe Götze

Das Vorgehen zur integrierten Analyse und Bewertung der ökonomisch-ökologischen Vorteilhaftigkeit umfasst, wie in Abbildung 6 zu erkennen, diverse Einzelschritte. Diese sind sachlogisch entsprechend den zur Bewertung erforderlichen Teilaktivitä­ ten strukturiert und dabei auch entscheidungstheoretisch fundiert, indem spezifisch Bezug auf die einzelnen konstitutiven Elemente von Entscheidungsmodellen (Zielgrö­ ßen, Alternativen, Umweltzustände, Ergebnisse) genommen wird. Prinzipiell analog, aber auf unterschiedlichem Detailierungsgrad können die Teilaktivitäten auf zwei Ar­ ten von Modellierungsebenen durchgeführt werden – der Lebenszyklus- und der Sub­ modellebene. Die Submodellebene soll dazu beitragen, die aus dem zu betrachtenden Objekt beziehungsweise System resultierende Komplexität beherrschbar zu machen. Spezifische Partialprobleme (z. B. Bewertung bestimmter Gestaltungsalternativen oder einzelne ökologisch oder ökonomisch ausgerichtete Bewertungsaufgaben, vgl. auch Abbildung 6) lassen sich darüber systematisch aus dem Gesamtproblem heraus­ lösen und in eigenständigen Modellierungs- und Bewertungsprozessen im Detail ana­ lysieren. Für die Vorbereitung von Entscheidungen, die das Gesamtproblem betreffen, werden die dabei gewonnenen Ergebnisse anschließend in konsistenter Form auf Le­ benszyklusmodellebene zusammengeführt (vgl. Bierer/Meynerts/Götze 2013, S. 416). Auch für das oben genannte Beispiel der Technologiebewertung sind derart inte­ grierte Bewertungen, die nicht nur die ökologische, sondern auch die ökonomische Dimension sowohl dimensionsspezifisch als auch -übergreifend in konsistenter und umfassender Form analysieren, erfolgt. Zu den in Ergänzung zu den in Tabelle 1 auf­ geführten ökologischen Bewertungsergebnissen ermittelten ökonomischen Bewer­ tungsergebnissen sowie der auf diesen basierenden holistischen Gesamtbewertung vgl. Ribeiro et al. (2016), S. 3313 ff. Integrative Bewertung der Nachhaltigkeit: Die obigen Ausführungen zur Integra­ tion lebenszyklusbezogener ökologischer und sozialer beziehungsweise ökologischer und ökonomischer Bewertungen verdeutlichen die zentrale Bedeutung einer einheit­ lichen Vorgehensweise bei der Durchführung dimensionsübergreifender Bewertun­ gen: Sie bildet eine wesentliche Basis zur Entwicklung weitestgehend aufeinander ab­ gestimmter und gemeinsam nutzbarer System- und Datenmodelle und trägt dadurch tendenziell zur Erhöhung der Konsistenz sowie zur Reduktion des erforderlichen Auf­ wands im Rahmen der Gesamtbewertung bei. Für die Beurteilung der Nachhaltigkeit unter Bezugnahme auf alle drei Bewertungsdimensionen – ökologisch, ökonomisch, sozial – gilt dies analog. Das in Abbildung 6 dargestellte Vorgehensmodell, dessen Ein­ zelschritte im Speziellen auf die methodischen Besonderheiten der Harmonisierung ökologischer und ökonomischer Bewertungserfordernisse ausgerichtet sind, kann da­ zu einen geeigneten Ausgangspunkt darstellen. Durch eine weitere Aufspaltung der Submodellebene und die Ergänzung der sozialen Perspektive lassen sich damit so­ wohl in sich als auch übergreifend konsistente Bewertungen aller drei Dimensionen der Nachhaltigkeit realisieren (zu einer beispielhaften Anwendung des Vorgehensmo­ dells zur Bewertung aller drei Nachhaltigkeitsdimensionen vgl. Mikus/Götze/Schildt 2016, S. 28 ff.).

Life Cycle Assessment | 1239

Die dabei für die einzelnen Dimensionen ermittelten Zielgrößen können anschlie­ ßend anhand verfahrensspezifischer Beurteilungsregeln zunächst separat ausgewer­ tet und zur Ableitung von Aussagen hinsichtlich der dimensionsbezogenen Nachhal­ tigkeit beziehungsweise Vorteilhaftigkeit betrachteter Gestaltungsalternativen heran­ gezogen werden. Sofern keine der analysierten Alternativen mit Blick auf mindestens eine Zielgröße eine bessere Ausprägung und bezüglich der restlichen Zielgrößen mindestens gleich gute Ausprägungen im Vergleich zu allen anderen Alternativen aufweist, kann die Vorteilhaftigkeit jedoch nicht eindeutig bestimmt werden. Eine Möglichkeit, um in solchen Fällen ein Maß für die Beurteilung der Nachhaltigkeit zu bestimmen, stellen die Verfahren der multikriteriellen Entscheidungsfindung (MCDM) dar. Durch die Gewichtung und Aggregation der ermittelten Zielgrößenergebnisse wird mittels dieser Verfahren, zu denen unter anderem die Nutzwertanalyse, der Ana­ lytic Hierarchie Process oder die Multiattributive Nutzentheorie gehören (zu diesen und weiteren MCDM-Verfahren vgl. z. B. Hwang/Yoon 1981, S. 24 ff.), ein dimensions­ loser Spitzenwert gebildet, der dann als Gesamtmaß für die Nachhaltigkeit eines zu bewertenden Objekts beziehungsweise Systems interpretiert werden kann. Eine Alternative zur rein rechnerischen Ermittlung eines Gesamtnachhaltigkeits­ wertes auf Basis der MCDM-Verfahren sind grafische Lösungsansätze. Sie können ge­ nutzt werden, um die mit den Systemalternativen verbundenen Nachhaltigkeitsleis­ tungen zu visualisieren. In Form sogenannter „Ternary Diagramme“ werden so die Korridore erkennbar, in denen eine bestimmte Alternative in Abhängigkeit von der gewählten Gewichtung der drei Dimensionen die nachhaltigste Lösung darstellt (vgl. dazu Peças/Ribeiro/Henriques 2013, S. 243 f.). Die in einem bestimmten Fall zu präfe­ rierende Alternative lässt sich damit leicht ablesen.

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| Teil G: Digitalisierung von Produktion und Logistik

Roland Rollberg

Integrierte Produktionsplanung und -steuerung in Wertschöpfungsnetzwerken mit APS und MES 1 2 3 4 5 6 7

Gegenstand der Produktionsplanung und -steuerung | 1245 Simultane, sukzessive und hierarchisch integrierte Produktionsplanung | 1247 Integrierte Produktionsplanung in Einzelunternehmen und in Wertschöpfungsnetzwerken | 1250 Integrierte Produktionsplanung mit Advanced Planning Systems (APS) | 1252 Produktionssteuerung mit Manufacturing Execution Systems (MES) | 1257 Integrierte Produktionsplanung und -steuerung vor dem Hintergrund der Zukunftsvision „Industrie 4.0“ | 1260 Zusammenfassung | 1262 Literatur | 1263

Zusammenfassung. Interdependenzen zwischen den produktionswirtschaftlichen Teilproblemen begründen die Notwendigkeit einer integrierten Produktionsplanung und -steuerung (PPS) sowohl in Einzelunternehmen als auch in Wertschöpfungs­ netzwerken. Hierfür stehen in Ergänzung zu konventionellen PPS-Systemen moderne Advanced Planning Systems (APS) und Manufacturing Execution Systems (MES) zur Verfügung. Während APS als integrative Supply-Chain-Management-Software die Idee einer hierarchisch integrierten Produktionsplanung unter Berücksichtigung mo­ netärer Ziele und potentieller Engpässe verwirklichen, erlauben MES als moderne Fertigungsleitsysteme und Zwischenstufe auf dem Weg zur Zukunftsvision „Industrie 4.0“ eine echtzeitfähige Produktionssteuerung nach den Prinzipien des Supply Chain Event Management.

1 Gegenstand der Produktionsplanung und -steuerung Mit Produktion ist die zielgerichtete Kombination und Transformation von Elemen­ tarfaktoren zum Zwecke der Leistungserstellung gemeint (vgl. Gutenberg 1983, S. 5). Produktionsplanung steht allgemein für die systematische Analyse der produktions­ wirtschaftlichen Möglichkeiten zur Erreichung eines erwünschten Sollzustands un­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-061

1246 | Roland Rollberg

ter Berücksichtigung unveränderlicher Gegebenheiten und potentieller Entwicklun­ gen und gipfelt in einer rationalen Entscheidung für eine oder mehrere der betrach­ teten Optionen. Damit der Produktionsplan nicht nur Konzept bleibt, sondern auch tatsächlich realisiert wird, müssen die Planungsergebnisse in konkrete Handlungs­ anweisungen überführt werden (vgl. Gutenberg 1983, S. 148). Hierfür ist die zwischen Produktionsplanerstellung und -realisation angesiedelte, mit der Durchsetzung des Vollzugs der Produktionsplanung betraute Produktionssteuerung zuständig. Ihr ob­ liegt auch die Kontrolle und Sicherung der Planrealisation sowie die Plankorrektur bei verbessertem Informationsstand. Die Produktionssteuerung rückt damit in die Nähe der Improvisation und ist im Vergleich zur zukunftsgerichteten Produktionsplanung eher gegenwartsorientiert. Die Produktionsplanung lässt sich danach differenzieren, ob sie sich auf die ein­ zusetzenden Faktoren, auf den Kombinations- und Transformationsprozess oder auf die zu erbringenden Leistungen bezieht (vgl. Corsten/Gössinger 2016, S. 28 f.; Guten­ berg 1983, S. 149). Aufgabe der Produktionsprogrammplanung ist die zielsetzungsge­ rechte Festlegung der in den einzelnen Perioden des Planungszeitraums zu erzeugen­ den Produkte nach Art und Menge sowie die Beantwortung der Frage, inwieweit die Gesamtleistung selbst erbracht oder von fremden Unternehmen bezogen werden soll. Die Produktionsfaktorplanung hat die Bedarfsmengen und -termine der für die Leis­ tungserstellung benötigten Einsatzfaktoren zu bestimmen (Material- und Kapazitäts­ bedarfsermittlung) sowie im Falle erforderlicher Repetierfaktoren Zahl und Umfang der bei Eigenfertigung aufzulegenden Produktionslose (Losgrößenplanung) und der bei Fremdbezug auszulösenden Bestellungen (Bestellmengenplanung) festzusetzen. Werden Potentialfaktoren betrachtet, verschwimmen die Grenzen zwischen der Pro­ duktionsfaktor- und der Produktionsprozessplanung. Letztere gibt Auskunft über Art und Anzahl sowie optimale Arbeitsdauern und -geschwindigkeiten der einzusetzen­ den Maschinen (Produktionsaufteilungsplanung), über grobe Start- und Endtermine der zu bearbeitenden Aufträge (Auftragsterminplanung), über die Bearbeitungsrei­ henfolge der vor einer Maschine wartenden Aufträge (Auftragsreihenfolgeplanung) und über die genauen Belegungstermine der Potentialfaktoren durch einzelne Auf­ träge (Maschinenbelegungsplanung). Zwischen den einzelnen produktionswirtschaftlichen Teilplanungen bestehen zahlreiche Interdependenzen, was die folgenden drei Beispiele verdeutlichen sol­ len (vgl. z. B. Adam 1990, S. 679 ff.; Adam 1998, S. 121 ff.; Rollberg 2002, S. 131 f.). So benötigt die Programmplanung Informationen über Stückkosten und Produkti­ onskoeffizienten, die erst nach erfolgter Produktionsaufteilungsplanung als Teil der Prozessplanung vorliegen. Erst dann ist genau bekannt, welche Potentialfaktoren wie lange mit welcher Intensität einzusetzen sind. Doch eine Aufteilungsplanung ist nur möglich, wenn das auf die Potentialfaktoren aufzuteilende Produktionsprogramm bereits feststeht. Aus der Aufteilungsplanung als Teil der Prozessplanung muss wie­ derum bekannt sein, auf welcher Produktionsanlage ein ausgewähltes Erzeugnis gefertigt werden soll, bevor mit der Losgrößenplanung als Teil der Faktorplanung begonnen werden kann, weil die optimale Losgröße von den anlagenspezifischen

Integrierte Produktionsplanung und -steuerung in Wertschöpfungsnetzwerken | 1247

Rüstkosten abhängt. Gleichzeitig darf die Aufteilungsplanung nicht isoliert von der Losgrößenplanung erfolgen, wenn sich beispielsweise die anlagenspezifischen Rüst­ kosten zweier Maschinen deutlich voneinander unterscheiden. In dieser Situation kann es unter Umständen vorteilhaft sein, auf das teurer produzierende Aggregat mit den dafür günstigeren Rüstkosten zurückzugreifen. Interdependenzen zwischen der Losgrößenplanung als Teil der Faktorplanung und der Programmplanung erge­ ben sich vor allem im Falle knapper Kapazitäten. Dann führt ein Abweichen von der isoliert betrachtet optimalen Losgröße zugunsten umfangreicherer Lose zu zwei Effekten: Einerseits kommt es zu steigenden Kosten, weil die Rüstkosten in geringe­ rem Umfange abnehmen als die Lagerkosten zunehmen, andererseits zu sinkenden Opportunitätskosten durch zusätzliche Erlöse bei Endprodukten und eingesparte Dif­ ferenzen zwischen Beschaffungs- und Herstellkosten bei Zwischenprodukten, weil (zumindest anfangs) unproduktive Rüstzeiten in produktive Fertigungszeiten um­ gewandelt werden können. Nur eine simultane Programm- und Losgrößenplanung vermag unter diesen Umständen die optimale Aufteilung der Kapazitäten auf Rüstund Produktionszeiten zu bestimmen. Die Interdependenzen zwischen den Teilplänen erfordern eine integrierte Produk­ tionsplanung. Sie muss die Frage beantworten, unter Einsatz welcher bereits im Unter­ nehmen befindlichen Potentialfaktoren und zum Teil erst noch zu beschaffenden Re­ petierfaktoren welche Zwischen- und Endprodukte in welchen Mengen wie und wann in den einzelnen Perioden des Planungszeitraums unter Einhaltung gegebener Ab­ satz-, Beschaffungs-, Kapazitäts- und gegebenenfalls auch Budgetbedingungen selbst hergestellt werden sollen.

2 Simultane, sukzessive und hierarchisch integrierte Produktionsplanung Das theoretische Ideal einer integrierten Produktionsplanung ist die Simultanplanung auf der Basis eines alle produktionswirtschaftlichen Fragestellungen und Zusam­ menhänge erfassenden Totalmodells (vgl. z. B. Hoitsch 1993, S. 551 ff.; Rollberg 2002, S. 133 ff.; Steven 1994, S. 12 ff.). Nur ein Totalmodell der Produktionsplanung erlaubt es, Programm-, Faktor- und Prozessplanung unter Berücksichtigung aller relevan­ ten Interdependenzen gleichzeitig einer zielsetzungsgerechten konsistenten Lösung zuzuführen. Ein alle produktionswirtschaftlichen Zusammenhänge erschöpfend ab­ bildendes Totalmodell wird es aufgrund der beschränkten menschlichen Informa­ tionsgewinnungs- und -verarbeitungskapazität jedoch niemals geben. Jedes Modell bleibt letztlich ein Partialmodell, das die Komplexität des Planungsproblems auf ein mehr oder minder handhabbares Maß reduziert. Und selbst wenn es gelänge, ein hinreichendes Totalmodell der Produktionsplanung zu formulieren, so wäre es in Ermangelung effizienter Algorithmen nicht (oder zumindest nicht in vertretbarer Zeit und mit vertretbarem Aufwand) lösbar.

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Wegen der Unmöglichkeit einer simultanen Produktionsplanung mit einem all­ umfassenden Totalmodell setzte sich in der Praxis zunächst das Prinzip der Sukzessiv­ planung mit Partialmodellen durch (vgl. z. B. Adam 1992, S. 12 ff.; Adam 1998, S. 597 ff.; Scheer 1990, S. 24 ff.; ferner Rollberg 2002, S. 139 ff.). Dieses Prinzip fand auch Ein­ gang in die ersten Produktionsplanungs- und -steuerungssysteme (PPS-Systeme) der 1960er bis 1980er Jahre, die anfangs nur der Materialbedarfsermittlung („Material Requirements Planning“ MRP oder MRP I) und später zudem einer rudimentären Fer­ tigungskapazitätsplanung („Manufacturing Resource Planning“ MRP II) dienten (vgl. z. B. Kurbel 2016, S. 1 f., 41 ff., 97 ff.). Nach AWF besteht die Aufgabe von PPS-Systemen in der „organisatorischen Planung, Steuerung und Überwachung der Produktions­ abläufe von der Angebotsbearbeitung bis zum Versand unter Mengen-, Termin- und Kapazitätsaspekten“ (Ausschuß für Wirtschaftliche Fertigung 1985, S. 8; im Original zum Teil fett gedruckt). Dabei wird das komplexe Problem der Produktionsplanung und -steuerung in hierarchisch angeordnete Teilprobleme zerlegt und mit Hilfe von Partialmodellen in einer vorgegebenen Reihenfolge ohne etwaige Rückkopplungsme­ chanismen gelöst. Die Planungsphase besteht aus der Produktionsprogramm-, der Mengen- sowie der Termin- und Kapazitätsplanung, die Steuerungsphase aus der Auftragsveranlassung und der Auftragsüberwachung. Eine reine Sukzessivplanung ist aber nur dazu geeignet, Dependenzen, nicht jedoch Interdependenzen adäquat zu berücksichtigen. Unvorhergesehene Engpässe auf untergeordneten Hierarchieebenen werden somit in übergeordneten Planungsstufen konsequent ignoriert. Inkonsistente Teilpläne sind die Folge, die in untergeordneten Ebenen Abweichungen von den Plan­ vorgaben übergeordneter Ebenen erzwingen, womit vorgelagerte Planungen nicht selten zu „Makulatur“ werden. Zudem stehen in klassischen PPS-Systemen nicht mo­ netäre Erfolgsziele unter Berücksichtigung von Knappheiten, sondern Mengen- und Zeit„aspekte“ bei anfänglicher Vernachlässigung etwaiger Engpässe im Mittelpunkt der Betrachtungen. Statt Optimalität wird lediglich die Zulässigkeit der „Pläne“ an­ gestrebt. Vom Prinzip der Sukzessivplanung wurde weder in den 1980er Jahren bei der informationstechnologischen Integration der betriebswirtschaftlichen und tech­ nischen Bereiche der Produktion („Computer Integrated Manufacturing“ CIM; vgl. Scheer 1990) noch in den 1990er Jahren bei der informationstechnologischen Inte­ gration der verschiedenen betriebswirtschaftlichen Funktionsbereiche eines Unter­ nehmens („Enterprise Resource Planning“ ERP; vgl. z. B. Kurbel 2016, S. 2 f., 203 ff.) abgewichen (vgl. Herrmann/Rollberg 2013, S. 20). Um dem Dilemma zu entgehen, dass die theoretisch wünschenswerte Simultan­ planung mit einem Totalmodell praktisch nicht durchführbar ist und die praktizierte Sukzessivplanung mit konventionellen PPS-Systemen theoretisch nicht zu überzeu­ gen vermag, ist mit der hierarchisch integrierten Produktionsplanung ein theoretischpraktischer Kompromiss zwischen Planungsideal und Planungsrealität zu schließen (vgl. z. B. Hax/Meal 1975; Stadtler 1988; Steven 1994; ferner Rollberg 2002, S. 142 ff.). Vertikale und horizontale Dekomposition und Koordination von Entscheidungsfel­ dern sowie Aggregation und Disaggregation von Daten und Variablen sind Wesens­

Integrierte Produktionsplanung und -steuerung in Wertschöpfungsnetzwerken | 1249

merkmale der hierarchischen Produktionsplanung. Während die Unternehmenslei­ tung mit Hilfe eines aggregierten Totalmodells zunächst die strategische Maßnahmen­ planung für das Gesamtunternehmen vornimmt, widmen sich mit zunehmend de­ taillierteren Partialmodellen die Produktionsbereichsleitung und die Fertigungsseg­ mentverantwortlichen unter Einhaltung der strategischen Vorgaben der bereichswei­ ten Hauptproduktionsprogrammplanung, der segmentspezifischen Auftragsgrößenund Ressourceneinsatzplanung sowie der Produktionssteuerung. Ein vielbeachtetes Konzept der hierarchisch integrierten Produktionsplanung und -steuerung unter Berücksichtigung von Engpässen und monetären Zielen wurde von Drexl et al. 1994 in Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche For­ schung unter dem Titel „Konzeptionelle Grundlagen kapazitätsorientierter PPS-Sys­ teme“ veröffentlicht. Es kann als theoretisches Fundament der im vierten Abschnitt vorgestellten Advanced Planning Systems (APS) interpretiert werden und unterschei­ det folgende drei Hierarchieebenen (vgl. im Folgenden ausführlich Drexl et al. 1994, S. 1028 ff.). Die strategische¹ Unternehmensplanung dient der Abstimmung des Produktions­ plans mit dem Absatz-, Beschaffungs-, Investitions- und Finanzierungsplan unter Be­ rücksichtigung der zwischen den Unternehmensbereichen bestehenden Interdepen­ denzen. Aus produktionswirtschaftlicher Sicht bezieht sich eine derartige aggregierte Gesamtplanung auf das gesamte Produktprogramm und alle Fertigungsbetriebe des Unternehmens. Die Auswertbarkeit des hierzu erforderlichen „Totalmodells“ ist inso­ fern gesichert, als zur Bestimmung der grundsätzlichen Marschrichtung keine großen Anforderungen an die Genauigkeit und Differenziertheit der Variablen und Eingangs­ daten zu stellen sind. So reicht es beispielsweise aus, „Globalvariable“ und „Global­ eingangsdaten“ zu erfassen, die sich auf ganze Produktfelder oder die Kapazitäten ganzer Produktionsstätten beziehen. In der operativen Produktionsbereichsplanung sind die in der strategischen Unter­ nehmensplanung festgelegten globalen produktfeldbezogenen Größen in konkretere fertigungssegmentspezifische Produktionsprogramme zu überführen. Um berechtig­ terweise von einer „kapazitierten“ Hauptproduktionsprogrammplanung sprechen zu dürfen, müssen bei der deckungsbeitragsorientierten Auswahl der Hauptprodukte nach Art und Menge die Kapazitäten der einzelnen Segmente explizit berücksichtigt werden. Gegenstand der taktischen Fertigungssegmentplanung und -steuerung ist die Über­ führung der zentral geplanten segmentspezifischen Produktionsprogramme in de­ zentral zu verwirklichende Fertigungs- und Beschaffungsaufträge, die zeitlich durch­ setzbar und möglichst kostengünstig sind. Unter Beachtung gegebener Erzeugnis-

1 Im Folgenden werden die Adjektive „strategisch“, „operativ“ und „taktisch“ zur Kennzeichnung der hierarchischen Abstufung verschiedener Planungsebenen in der etymologisch gebotenen Reihenfolge verwandt. Zur genaueren Erläuterung vgl. Rollberg (2012, S. 6).

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und Prozessstrukturen sowie Liefertermine und Kapazitäten der einzelnen Arbeits­ stationen eines Segments sind für alle End- und Zwischenprodukte sowie Teile und Rohstoffe relativ genau terminierte und möglichst wirtschaftliche Losgrößen und/ oder Bestellmengen zu ermitteln. Mit den verschiedenen Losgrößen und Losauflagezeitpunkten stehen dann auch die Start- und Endtermine der erforderlichen Ar­ beitsgänge fest. Letztlich werden in der detaillierten Auftragsgrößen- und Ressour­ ceneinsatzplanung mit Hilfe segmentspezifischer Partialmodelle unter Verwendung möglichst exakter und zuverlässiger disaggregierter Daten simultan die Niveaus aller relevanten „Detailvariablen“ festgelegt. Die sich anschließende segmentspezifische Produktionssteuerung gewährleistet die Durchsetzung und Sicherstellung des Voll­ zugs der Produktionsplanung. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal der hierarchisch integrierten Produk­ tionsplanung von der reinen Sukzessivplanung ist die vertikale Koordination der Teilpläne nicht nur „von oben nach unten“, sondern auch „von unten nach oben“, um die durch die vertikale Dekomposition zerschnittenen Interdependenzen zumin­ dest ansatzweise zu berücksichtigen und so Konsistenz zwischen den produktions­ wirtschaftlichen Teilplänen herzustellen. Erst durch die vertikale Koordination mit Rückkopplungsschleifen wird die hierarchische Produktionsplanung zur hierarchisch integrierten Produktionsplanung, wie sie auch in den modernen APS wiederzufinden ist.

3 Integrierte Produktionsplanung in Einzelunternehmen und in Wertschöpfungsnetzwerken Die vom Absatzmarkt verlangte, Einzelunternehmen jedoch oftmals überfordern­ de Produktkomplexität führt zu einer zunehmenden Konzentration auf betriebliche Kernkompetenzen. Entsprechend spezialisierte Unternehmen müssen eng miteinan­ der kooperieren, um ihre Leistungen zu koordinieren und zu überlegenen Produkten zu kombinieren. Aus diesem Grunde kommt es zu vertikalen strategischen Allianzen in Form von Wertschöpfungspartnerschaften zwischen Unternehmen, „die ihre Akti­ vitäten auf bestimmte Stufen der Wertkette konzentrieren und entlang der Wertkette kooperieren“ (Sydow 1992, S. 64). Dabei ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Unter­ nehmen mit mehreren Partnern zusammenarbeitet und somit Teil mehrerer „Wertket­ ten“ wird. Folglich korrespondiert die strategische Notwendigkeit einer kundenori­ entierten Kopplung der Kernkompetenzen verschiedener Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette mit einer organisatorischen Verknüpfung der Strukturen und Prozesse dieser Unternehmen zu einem Wertschöpfungsnetzwerk (vgl. Rollberg 2011, S. 8; Schinzer 1999, S. 857 f.). Das Verhältnis zwischen Netzwerk und Netzwerkunter­ nehmen ist strukturell grundsätzlich vergleichbar mit dem zwischen Unternehmen und Fertigungssegmenten. Inhaltlich bestehen freilich große Unterschiede zwischen

Integrierte Produktionsplanung und -steuerung in Wertschöpfungsnetzwerken |

1251

Netzwerken und Unternehmen, weil Netzwerkunternehmen im Gegensatz zu Ferti­ gungssegmenten wirtschaftlich und rechtlich selbständig sind und nicht nur für das Netzwerk, sondern auch für den netzwerkexternen Markt produzieren. Das theoretische Ideal einer integrierten Produktionsplanung in Netzwerken ist die Netzwerktotalplanung. Sie lässt sich als integrierte Planung aller produktionswirt­ schaftlichen Maßnahmen aller Wertschöpfungspartner unter Berücksichtigung aller relevanten Zusammenhänge und aller relevanten Daten naheliegenderweise nicht realisieren. Neben das nunmehr verschärfte Komplexitätsproblem tritt jetzt auch noch ein Vertrauensproblem, denn wirtschaftlich und rechtlich selbständige Unternehmen werden nicht bereit sein, gegenüber dem mit der Netzwerkplanung befassten fokalen Unternehmen „alles“ offenzulegen. Vielmehr werden die einzelnen Wertschöpfungs­ partner dem fokalen Unternehmen bestenfalls die Informationen übermitteln, die für eine Koordination der Aktivitäten mit Netzwerkbezug erforderlich sind. Aufgabe des fokalen Unternehmens kann somit lediglich eine netzwerkweite Pro­ duktionsplanung als integrierte Planung nur der auf die gemeinsame Wertschöpfung bezogenen produktionswirtschaftlichen Maßnahmen aller Netzwerkunternehmen sein. Ergänzend hat sich jeder Kooperationspartner seiner eigenen netzwerkunter­ nehmensspezifischen Produktionsplanung zu widmen, die sich als integrierte Planung aller produktionswirtschaftlichen Maßnahmen nur des einen Unternehmens sowohl auf seine Produkte mit als auch auf solche ohne Netzwerkbezug erstrecken muss. Die vorgenommene Differenzierung zwischen netzwerkweiter und netzwerkun­ ternehmensspezifischer Produktionsplanung hat keine Auswirkungen auf die Zweck­ mäßigkeit des einzusetzenden Planungsprinzips. Das Postulat, eine hierarchisch inte­ grierte Produktionsplanung zu praktizieren, gilt demnach sowohl für die einzel- und die netzwerkunternehmensspezifische als auch für die netzwerkweite Produktions­ planung. Die Betrachtung von Wertschöpfungsnetzwerken führt allerdings zu einer weitergehenden Hierarchisierung, weil zusätzlich ein Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen der netzwerkweiten und der netzwerkunternehmensspezifischen Produkti­ onsplanung zu berücksichtigen ist². Eine hierarchisch integrierte Produktionsplanung in Wertschöpfungsnetzwerken ist auch Gegenstand des sogenannten Supply Chain Management (SCM) (zum SCM vgl. z. B. Corsten/Gössinger 2008; Stadtler 2015a) oder präziser „Supply Network Manage­ ment“ (vgl. Buscher 2003; Knolmayer et al. 2009, S. 4). Hierbei handelt es sich um die integrierte Analyse, Planung und Steuerung der Geschäftsprozesse innerhalb eines Netzwerks von rechtlich und wirtschaftlich unabhängigen Unternehmen, die ihre Ak­ tivitäten auf bestimmte Glieder der Wertschöpfungskette konzentrieren und entlang der Wertschöpfungskette an der Entwicklung, Produktion und Verwertung von Sach-

2 Ein konkreter Vorschlag zur hierarchischen Koordination dieser Produktionsplanungen findet sich beispielsweise in Gössinger (2001).

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und Dienstleistungen zielorientiert und partnerschaftlich zusammenarbeiten³. Tak­ tisches „Ziel des SCM ist, dass die Information über eine Bestellung durch den End­ kunden in Echtzeit allen Akteuren der gesamten Supply Chain zur Verfügung steht, die Bestellung bei diesen also sofort Folgeprozesse wie die Auffüllung von Bestän­ den, die Planung der Produktion und die Meldung der Lieferfähigkeit an den Kunden auslösen“ (Sydow/Möllering 2015, S. 216). Schließlich bleibt zu konstatieren, dass die Produktionsplanung in einem Einzel­ unternehmen mit mehrstufigen Produktionsprozessen als Spezialfall der Produktions­ planung in einem Wertschöpfungsnetzwerk betrachtet werden kann – und zwar als Produktionsplanung in einem Wertschöpfungsnetzwerk, das bis auf das fokale Unter­ nehmen ausschließlich aus Unternehmen ohne Zugang zum netzwerkexternen Markt besteht. Insofern ist davon auszugehen, dass eigens für die Produktionsplanung in Netzwerken entwickelte Informations- und Kommunikationssysteme, wie die im Fol­ genden im Mittelpunkt der Betrachtung stehenden APS, auch für die Produktionspla­ nung in Einzelunternehmen geeignet sind.

4 Integrierte Produktionsplanung mit Advanced Planning Systems (APS) Aus den Planungsdefiziten konventioneller MRP- und ERP-Systeme sowie aus der zu­ nehmenden vertikalen Kooperation zwischen Wertschöpfungspartnern erwuchs der dringende Bedarf nach einer Planungssoftware, die unter Berücksichtigung monetä­ rer Ziele und potentieller Engpässe sowie etwaiger Interdependenzen zwischen den produktionswirtschaftlich relevanten Teilproblemen zumindest eine ansatzweise in­ tegrierte und möglichst unternehmensübergreifende Produktionsplanung gestattet. Deutlich gesteigerte Rechnerleistungen und der Preisverfall auf dem Markt für Spei­ cherchips waren Ende des 20. Jahrhunderts die Ursache dafür, dass hardwareseitig eine arbeitsspeicherresidente Verwaltung aller für die Planung erforderlichen Daten, die langsame Zugriffe auf die Festplatte während der Planung verzichtbar macht, bezahlbar wurde (vgl. Kilger 1998, S. 54). Hauptspeicherresidenz beschleunigte den Planungsprozess erheblich; früher prohibitiv lange Rechenzeiten beanspruchende Lösungsalgorithmen wurden effizient, und der modellierbare Problemumfang nahm deutlich zu. All dies führte zur Entwicklung von Advanced Planning Systems (APS) als technische Konkretisierung des bereits vorgestellten theoretischen Konzepts der hierarchisch integrierten Produktionsplanung und als sogenannte „integrative Sup­ ply-Chain-Management-Software“ (Corsten/Gössinger 2008, S. 160). 3 Diese Definition ist das Ergebnis einer Kombination aus zum Teil wörtlich übernommenen Passa­ gen der Wertschöpfungspartnerschaftsdefinition von Sydow (1992, S. 64), der „Supply Chain Manage­ ment“-Definition von Hahn (2002, S. 1064) und der „Supply Network Management“-Definition von Buscher (2003, S. 57 f.); vgl. auch Rollberg (2011, S. 6).

Integrierte Produktionsplanung und -steuerung in Wertschöpfungsnetzwerken |

langfristig

Beschaffung

Produktion

Distribution

1253

Absatz

Strategische Netzwerkplanung

mittelfristig

Hauptproduktionsprogrammplanung Absatzplanung

kurzfristig

Produktionsgrobplanung

Distributions planung

Materialbedarfsplanung

Auftragsannahme Produktionsfeinplanung

Transportplanung

Verfügbarkeitsprüfung

Abb. 1: Supply-Chain-Planungsmatrix (vgl. Rohde/Meyr/Wagner 2000, S. 10).

Grundsätzlich ergeben sich die Aufgaben der APS aus der „Supply-Chain-Planungs­ matrix“ (vgl. Abbildung 1; Meyr/Wagner/Rohde 2015; Rohde/Meyr/Wagner 2000). Die Planungsaufgaben sind horizontal nach betrieblichen Funktionsbereichen (Beschaf­ fung, Produktion, Distribution, Absatz) und vertikal nach der Fristigkeit der Planung (lang-, mittel-, kurzfristig) unterteilt. Dementsprechend ergeben sich in der Matrix kachelartig angeordnete Planungsmodule, die untereinander in wechselseitiger Be­ ziehung stehen. Während die strategische Netzwerkplanung, die Absatzplanung, die Auftragsannahme und Verfügbarkeitsprüfung, die Hauptproduktionsprogrammpla­ nung, die Distributionsplanung und die Transportplanung eine netzwerkweite Per­ spektive einnehmen, beziehen sich die Materialbedarfs- sowie Produktionsgrob- und -feinplanung auf das einzelne Netzwerkunternehmen. Im Folgenden sind die Aufga­ ben der einzelnen Planungsmodule kurz zu erläutern (zur folgenden Charakterisie­ rung der APS-Planungsmodule vgl. Fleischmann/Meyr/Wagner 2015, S. 76 ff.; Meyr/ Wagner/Rohde 2015). Die strategische Netzwerkplanung ist mit der Netzwerkkonfiguration im weitesten Sinne befasst und erstreckt sich auf die Festlegung grundsätzlich zu beackernder Pro­ duktfelder und daraus resultierender aggregierter langfristiger Absatz-, Produktionsund Materialprogramme, auf die Auswahl von Lieferanten und Kooperationspartnern sowie auf die Gestaltung der Produktions- und Distributionsstruktur und -kapazitä­ ten.

1254 | Roland Rollberg

Gegenstand der mittelfristigen Absatzplanung ist zunächst die Prognose endpro­ duktgruppen- und periodenspezifischer Absatzpotentiale unter Berücksichtigung ver­ schiedener absatzpolitischer Maßnahmenkombinationen. Darauf aufbauend sind die erfolgversprechendsten Kombinationen auszuwählen sowie die mit ihnen korrespon­ dierenden und später an die Hautproduktionsprogrammplanung zu übermittelnden aggregierten Absatzpotentiale zu bestimmen. Dreh- und Angelpunkt der hierarchisch integrierten Produktionsplanung mit APS aber ist die aggregierte mittelfristige Hauptproduktionsprogrammplanung zur de­ ckungsbeitragsmaximalen Festlegung der netzwerkweiten Produktionsmengen unter Beachtung gegebener Absatzpotentiale sowie grundsätzlich verfügbarer und zusätz­ lich bereitstellbarer Repetierfaktormengen und Potentialfaktorkapazitäten (vgl. Cors­ ten/Gössinger 2008, S. 166; Fleischmann/Meyr/Wagner 2015, S. 80; Kurbel 2016, S. 439). Hierzu lässt sich ein lineares oder gemischt-ganzzahlig lineares Optimie­ rungsmodell der netzwerkweiten Produktionsprogrammplanung aufstellen, das den Deckungsbeitrag oder Gewinn des gesamten Wertschöpfungsnetzwerks unter Einhal­ tung entsprechender Nebenbedingungen maximiert. Durch Verkettungsrestriktionen sind die Beschaffungs-, Produktions- und Distributionsmengen der einzelnen Wert­ schöpfungspartner so miteinander zu koppeln, dass das Programm für jede Periode des Planungszeitraums aufeinander abgestimmte wertschöpfungsstufenspezifische Produktions-, Absatz-/Distributions- und Lagermengen explizit sowie netzwerkintern zu beanspruchende Kapazitäten und netzwerkextern zu beschaffende Faktormengen implizit ausweist. Im Vorfeld müssen freilich die netzwerkinternen Absatzpreise und der Umfang der von den jeweiligen Unternehmen für das Netzwerk zu reservieren­ den Kapazitäten und Beschaffungspotentiale ausgehandelt werden. Die Ermittlung dieser Kontingente begründet in der Regel eigene unternehmensspezifische Opti­ mierungsprobleme unter Berücksichtigung auch der Absatzmöglichkeiten auf dem netzwerkexternen Markt. Die vom fokalen Unternehmen festgelegten aggregierten wertschöpfungsstufenspezifischen Produktionsmengen sind anschließend den einzelnen Netzwerk­ unternehmen mitzuteilen. Sie können sodann ihre disaggregierten unternehmens­ spezifischen Planungen einläuten, die sich auf alle vom jeweiligen Unternehmen herzustellenden Erzeugnisse sowohl für den netzwerkinternen als auch für den netz­ werkexternen Markt erstrecken. Insofern müssen jetzt nicht mehr unbedingt moderne APS zum Einsatz gelangen; das Einzelunternehmen kann grundsätzlich auch mit ei­ nem konventionellen MRP- oder ERP-System weiterarbeiten (vgl. auch Meyr/Wagner/ Rohde 2015, S. 101). Zu Beginn der Produktionsgrobplanung muss jedes Unternehmen zunächst aus dem vorgegebenen netzwerkweiten Produktionsprogramm ableiten, wie viel von den reservierten Kontingenten in den einzelnen Perioden tatsächlich abgerufen wird. Mit Hilfe eines in der Regel linearen Optimierungsmodells der netzwerkunterneh­ mensspezifischen Produktionsprogrammplanung lassen sich dann unter Berücksich­ tigung der netzwerkexternen Absatzpotentiale sowie der nicht reservierten und der reservierten, aber nicht abgerufenen Kapazitäten und Beschaffungspotentiale die de­

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ckungsbeitragsmaximalen Produktions- und Absatzmengen der einzelnen Perioden für den netzwerkexternen Markt bestimmen. Im Anschluss an die Programmpla­ nung schließt sich die für APS typische kosten- und kapazitätsorientierte mehrstufige Losgrößenplanung an, die mit der Materialbedarfsplanung einerseits und mit der Produktionsaufteilungs-, Auftragsreihenfolge- und Maschinenbelegungsplanung als wesentlichen Elementen der Produktionsfeinplanung andererseits eng rückgekoppelt sein muss. In einem iterativen Prozess kommt es so zu einer Annäherung an das Ideal der kostenorientierten Lossequenzplanung als simultaner Losgrößen- und Maschi­ nenbelegungsplanung. Die Aufgaben der Materialbedarfsplanung entsprechen weitgehend denen der Mengenplanung in klassischen PPS-Systemen. Zum einen sind die Bruttosekundär­ bedarfe an Repetierfaktoren künftiger Perioden entweder auf der Grundlage gegebe­ ner Primärbedarfe durch Stücklistenauflösung programmgebunden oder ausgehend von früheren Verbrauchswerten mit Hilfe von Hochrechnungen verbrauchsgebunden zu bestimmen. Zum anderen sind diese Bruttosekundärbedarfe nach Reduzierung um Lagerbestände und ausstehende Bestellungen in grob terminierte Nettosekun­ därbedarfe und konkrete Bestellmengen zu überführen. Dabei werden in APS die Sekundärbedarfe potentieller Engpassfaktoren nicht mehr getrennt von den Kapa­ zitätsplanungen in der Produktionsgrob- und -feinplanung betrachtet (vgl. auch im Folgenden Stadtler 2015b, S. 214). Nur bei der Terminierung der Sekundärbedarfe un­ kritischer Faktoren wird unter Berücksichtigung der bereits eingeplanten kritischen Arbeitsgänge auf eine feste Vorlaufzeitverschiebung zurückgegriffen. Des Weiteren unterstützen manche APS im Rahmen der Materialbeschaffung von netzwerkexter­ nen Anbietern auch die Auswahl der Lieferanten, die sich hinsichtlich gewährter Mengenrabatte oder nicht zu unter- oder überschreitender Bestellmengen voneinan­ der unterscheiden können (vgl. Meyr/Wagner/Rohde 2015, S. 101). Ergänzt werden die netzwerk- und einzelunternehmensspezifischen produkti­ onswirtschaftlichen Teilplanungen von einer netzwerkweiten mittelfristigen Distribu­ tions- und kurzfristigen Transportplanung, wobei sich letztere je nach Aufgabenteilung zwischen Lieferant und weiterverarbeitendem Unternehmen auch auf Beschaffungs­ vorgänge beziehen kann. Auf unterschiedlichen Aggregationsniveaus widmen sie sich der kapazitätsorientierten Transport- und Tourenplanung unter Kostengesichts­ punkten, einschließlich wertschöpfungsstufenspezifischer Lagerbestandskontrolle, Transportmittelauswahl und Ladungskommissionierung. Schließlich zeichnen sich die netzwerkbezogene Auftragsannahme und Verfüg­ barkeitsprüfung durch einen netzwerkweiten Blick auf die wertschöpfungsstufen­ spezifischen Lagermengen zu den jeweiligen Bedarfsterminen aus. Hierdurch ist es möglich, den Kunden präzise Liefertermine zuzusichern, nicht nur wenn die nach­ gefragten Endproduktmengen aus bereits eingeplanten Produktionsaufträgen heraus reserviert werden können (ATP für „Available-to-Promise“), sondern auch wenn neue Produktionsaufträge zu initiieren sind und lediglich Materialien und Kapazitäten reserviert werden können, wie bei Auftragsfertigern üblich (CTP für „Capable-to-Pro­ mise“) (vgl. Sydow/Möllering 2015, S. 261).

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Gemäß der Idee der hierarchisch integrierten Produktionsplanung ist in APS ein vertikaler Informationsfluss nicht nur „von oben nach unten“, sondern auch „von un­ ten nach oben“ vorgesehen, um neben übergeordneten Planvorgaben auch von unter­ geordneten Ebenen angestoßene Plankorrekturen oder Neuplanungen auf übergeord­ neten Ebenen zuzulassen. Darüber hinaus ist der horizontale Informationsfluss dem Materialfluss sowohl entgegen- als auch gleichgerichtet, um das Wertschöpfungsnetz­ werk gleichzeitig markt- und ressourcenorientiert auszurichten. Überdies muss sich der Informationsfluss nicht unbedingt auf Nachbarmodule beschränken (zu den In­ formationsflüssen vgl. Fleischmann/Meyr/Wagner 2015, S. 82 und die Beispiele auf S. 84 ff., 89 ff.). Anstatt Knappheiten zu ignorieren oder „halbherzig“ erst spät im Planungspro­ zess zu berücksichtigen, erfassen APS von Anfang an potentielle Engpässe direkt über das Restriktionsgefüge innerhalb einer Planungsebene und indirekt über hierarchi­ sche Rückkopplungen auch zwischen den Ebenen. Insofern verwirklichen APS auch die Idee der Engpassplanung, die sich stets am „Minimumsektor“ (vgl. Gutenberg 1983, S. 164 f.) orientiert. Das Erkennen von Engpässen versetzt die Wertschöpfungspartner zudem in die Lage, bestehende Restriktionen langfristig zu lockern, um die Wettbe­ werbsfähigkeit des Wertschöpfungsnetzwerks zu erhöhen (vgl. Stadtler/Kilger/Meyr 2015, S. 502). Zur Umsetzung der hierarchisch integrierten, engpassorientierten Planung nut­ zen APS in Abhängigkeit von der jeweiligen Planungsstufe sowohl klassische als auch moderne mathematische Planungsverfahren (vgl. z. B. Corsten/Gössinger 2008, S. 170 ff.). Dabei wird zur Lösung der Probleme auf oberen Planungsebenen verstärkt auf die seit Jahrzehnten bekannten Algorithmen der linearen und der gemischt-ganz­ zahligen linearen Optimierung zurückgegriffen. Lineare und gemischt-ganzzahlige lineare Modelle sind bestens dazu geeignet, die groben Problemstellungen einer eher lang- bis mittelfristigen Planung (wie beispielsweise der Hauptproduktions­ programmplanung) mit ihren zahlreichen Nebenbedingungen adäquat abzubilden. Dagegen wird auf unteren Planungsebenen vor allem mit modernen Metaheuristiken gearbeitet, um die dort häufig zu bewältigenden kombinatorischen Optimierungspro­ bleme (beispielsweise der Auftragsreihenfolge- und Maschinenbelegungsplanung) mit ihrer nur schwachen mathematischen Struktur schnell einer „möglichst guten“ Lösung zuzuführen. APS stellen keine Alternative, sondern eine Ergänzung zu den konventionellen MRP- und ERP-Systemen dar, weil APS ohne die in MRP-/ERP-Systemen hinterleg­ ten Daten nicht funktionsfähig sind und MRP-/ERP-Systeme die Planungsergebnisse der APS weiterverarbeiten und an die Ausführungsebene weiterleiten. Da das Ver­ hältnis zwischen Netzwerk und Netzwerkunternehmen strukturell vergleichbar mit dem zwischen Unternehmen und Fertigungssegmenten ist, gelangen APS auch in Einzelunternehmen in Ergänzung zum jeweiligen MRP-/ERP-System zum Einsatz. Noch immer werden APS sogar mehr zur integrierten Planung von intra- als von in­ terorganisationalen Wertschöpfungsnetzwerken eingesetzt (vgl. Stadtler/Kilger/Meyr

Integrierte Produktionsplanung und -steuerung in Wertschöpfungsnetzwerken | 1257

2015, S. 505). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass innerhalb eines Unternehmens die Interessenkonflikte und Geheimhaltungsbedürfnisse weniger stark ausgeprägt sind als zwischen selbständigen Netzwerkunternehmen und dass sich eine eher homo­ gene MRP-/ERP-Softwarelandschaft einfacher um ein betriebsübergreifendes APS ergänzen lässt. Werden APS nicht für die Planung in interorganisationalen Wert­ schöpfungsnetzwerken, sondern in Einzelunternehmen genutzt, so lassen sich die drei grundsätzlichen Ebenen der im Abschnitt 2 beschriebenen hierarchisch inte­ grierten Produktionsplanung in der APS-Architektur mühelos wiedererkennen: Die strategische Unternehmensplanung entspricht der strategischen Netzwerkplanung, die operative Produktionsbereichsplanung der Hauptproduktionsprogrammplanung und die taktische Fertigungssegmentplanung der Materialbedarfs- sowie Produk­ tionsgrob- und -feinplanung. Die Produktionsfeinplanung stellt den Übergang zur Produktionssteuerung dar, die für die Durchsetzung und Sicherstellung des Vollzugs der Produktionsplanung verantwortlich zeichnet.

5 Produktionssteuerung mit Manufacturing Execution Systems (MES) Manufacturing Execution Systems (MES) sind das Verbindungsglied zwischen MRP-/ ERP-Systemen und den auszuführenden Produktionsprozessen (vgl. Olbrich/Louis 2012 sowie vertiefend Kletti 2015; Thiel 2011). MES übernehmen die Aufgaben der Steuerungsphase dieser Systeme und versorgen sie gleichzeitig mit Echtzeitdaten über verfügbare Ressourcen und den Produktionsfortschritt. Analog zur Planung des Materialbedarfs, der Auftragsgrößen und der Produktionsprozesse im APS vollzieht sich die Produktionssteuerung mit einem MES zunächst auf Netzwerkunternehmens­ ebene. Der Überlappungsbereich von APS und MES ist die Produktionsfeinplanung. Während die Auftragsreihenfolge- und Maschinenbelegungsplanung auf Betriebs­ mittelgruppenebene aus den MRP-/ERP-Systemen in die APS abgewandert sind und sich dort zu einer konsequent kapazitätsorientierten Ablaufplanung weiterentwickelt haben, obliegen die nach der Auftragsfreigabe angesiedelte Auftragsreihenfolgeund Maschinenbelegungsplanung auf Einzelbetriebsmittelebene wie auch die sich anschließende echtzeitfähige Produktionsüberwachung und -steuerung den MES. Damit erinnern MES auffällig an mit der Produktionsfeinplanung und -steuerung betraute elektronische Fertigungsleitstände, die bereits in den 1980er Jahren konven­ tionelle PPS-Systeme unterstützten (vgl. Marczinski 2008, S. 62). Derartige Leitstände wurden schon früh mit Betriebsdatenerfassungssystemen (BDE-Systemen) verknüpft, die zeit- und ereignisnahe Ist-Daten hinsichtlich des Produktionsfortschritts und des Faktoreinsatzes zur Verfügung stellten, um so eine Anpassung der Fertigung an aktuelle Gegebenheiten zu ermöglichen (vgl. Scheer 1990, S. 27). Zusätzlich um Maschinendatenerfassungssysteme (MDE-Systeme) und Funktionalitäten der tech­

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Produktionsfeinplanung & -steuerung

Instandhaltung

Leistungsanalyse

Datenerfassung, -verarbeitung, -übermittlung, -archivierung

Qualitätssicherung

Personalplanung

Abb. 2: MES-Funktionalitäten (vgl. Herrmann/Rollberg 2013, S. 21).

nischen Steuerung ergänzte Leitstände werden als Fertigungsleitsysteme bezeichnet (vgl. Kurbel 2016, S. 352). Sie erlauben neben der betriebswirtschaftlich-dispositiven Auftragsüberwachung und -steuerung auch die technische Überwachung und Steue­ rung der einzelnen Betriebsmittel („Computer Aided Manufacturing“ CAM) sowie die rechnergestützte Qualitätssicherung („Computer Aided Quality Assurance“ CAQ) und Instandhaltung im CIM. MES sind damit letztlich moderne Fertigungsleitsysteme mit folgenden Aufgaben (vgl. Abbildung 2; Herrmann/Rollberg 2013, S. 21 f.). Die Hauptaufgabe eines MES besteht in der zeit- und ereignisnahen Datenerfas­ sung, -verarbeitung, -übermittlung und -archivierung mit Hilfe von BDE- und MDESystemen, um in Echtzeit auf Störungen und Eilaufträge reagieren und so einen weitgehend reibungslosen Produktionsablauf gewährleisten zu können (vgl. Kletti 2015, S. 19 ff., 31 ff., 67 ff., 82 ff.). Die Echtzeitdaten werden unmittelbar im MES zu Steuerungszwecken genutzt und an MRP-/ERP-Systeme weitergeleitet, um im Sinne einer „Feedforward“-Rückkopplung (vgl. Schneeweiß 1992, S. 83 f.) auch für Pla­ nungszwecke auf übergeordneten Ebenen zur Verfügung zu stehen. Unter Rückgriff auf die bereits archivierten Daten und einen vom MRP-/ERP-System übermittelten grob terminierten Auftragsbestand sind MES im Rahmen der Produktionsfeinplanung und -steuerung mit der Produktionsaufteilungs-, Auftragsreihenfolge- und Maschi­ nenbelegungsplanung, je nach Arbeitsteilung zwischen MRP-/ERP-System und MES gegebenenfalls auch mit der Auftragsveranlassung sowie mit der Auftragsüberwa­ chung befasst (vgl. Thiel/Meyer/Fuchs 2008, S. 93 ff.). Hierzu sind Informationen

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über den Zustand und die Verfügbarkeit der benötigten Potentialfaktoren erforder­ lich. Für die Einsatzbereitschaft der Maschinen und die diesbezüglichen Informatio­ nen ist die Instandhaltung zuständig, die Inspektions- und Wartungskalender führt sowie die vorbeugende und schadensbedingte Erneuerung von Anlagenteilen verwal­ tet (vgl. Kletti 2015, S. 120 ff.; Thiel/Meyer/Fuchs 2008, S. 127 f.). Über Informationen zu den Qualifikationen, zu den voraussichtlichen Anwesenheits- und Schichtzeiten sowie aus Personalzeiterfassungssystemen (PZE-Systemen) zu in der Vergangenheit geleisteten Arbeitszeiten der Mitarbeiter verfügt die Personalplanung, die mit der Er­ stellung von Einsatzplänen betraut ist (vgl. Kletti 2015, S. 131 ff.; Thiel 2011, S. 119 f.). Die Qualitätssicherung ist sowohl präventiv als auch reaktiv ausgerichtet und be­ zieht sich auf Produkte und Prozesse sowie zur Vermeidung von Qualitätseinbußen durch minderwertige Werkstoffe auch auf die eingehenden Lieferungen (vgl. Kletti 2015, S. 150 ff.). Schließlich versorgen MES die verschiedenen Unternehmensberei­ che, das Unternehmenscontrolling und die Unternehmensleitung mit spezifischen Leistungsübersichten und -berichten (vgl. auch im Folgenden Thiel 2011, S. 189 ff., 682 f.). Dabei werden nicht nur technische Daten aufbereitet und kommuniziert. Viel­ mehr umfassen die Leistungsanalysen durch Verknüpfung technischer und monetärer Größen auch Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen, Kostenkalkulationen und entschei­ dungsorientierte Soll-Ist-Vergleiche beispielsweise zur kurzfristigen Steuerung der Kostenentwicklung von in der Fertigung befindlichen Aufträgen. Aufgrund gestiegener Rechnerleistungen ist die von MES im Vergleich zu frü­ heren Fertigungsleitsystemen beherrschbare Produktionskomplexität größer, ihre Steuerungsergebnisse sind besser, und ihre Handhabung ist einfacher. Auch die tech­ nischen Möglichkeiten der Aufgabenintegration sind gewachsen. Der konsequente Einsatz echtzeitfähiger faktorspezifischer Informationssysteme (BDE, MDE, PZE) und von Simulationswerkzeugen zur Unterstützung des Disponenten bei der Produkti­ onsfeinplanung und der störungsbedingten Umdisponierung führt zu einer deutlich besseren Produktionssteuerung mit MES als mit MRP-/ERP-Systemen (vgl. Thiel 2011, S. 680 ff.). Doch letztlich geht es weiterhin nur um Zulässigkeit der „Pläne“ und im Falle aufgetretener Störungen um Improvisation. Nur wenn das MRP-/ERP-System nicht nur das MES mit den Produktionsplänen aus dem APS, sondern auch das APS mit relevanten Ist-Daten aus dem MES versorgt, ist eine wirkungsvolle Rückkopplung aus der Steuerungs- in die Planungsphase mög­ lich (vgl. Herrmann/Rollberg 2013, S. 24 f.). Hierzu sind im Sinne eines Event Ma­ nagement die Echtzeitdaten des MES automatisch mit zuvor definierten kritischen Grenzwerten zu vergleichen und alarmierende Soll-Ist-Abweichungen als Ereignisse („Events“), die einen Handlungsbedarf auslösen, an den jeweiligen Entscheidungs­ träger zu melden (vgl. auch im Folgenden Schneider/Rücker/Nägelein 2015, S. 17 ff.). Im Vorfeld sollte ein Katalog aufgestellt werden, der zumindest für ausgewählte typi­ sche Störfälle jeweils verschiedene Gegenmaßnahmen ausweist. Grundsätzlich kann unmittelbar auf der Ausführungsebene (beispielsweise Anordnung von Überstunden bei Verspätungen), auf der Steuerungsebene (beispielsweise alternative Belegungs­

1260 | Roland Rollberg

pläne bei einem Maschinenausfall) und auf der Planungsebene (Neuplanung) auf Störungen reagiert werden. Die Auswirkungen der einzelnen Gegenmaßnahmen auf der Ausführungs- und auf der Steuerungsebene sind im MES und auf der Planungs­ ebene im APS zu simulieren und zu bewerten, wobei die nächsthöhere Ebene nur zu betrachten ist, wenn sich auf der vorgelagerten Ebene keine zufriedenstellende Lösung finden lässt. Mit der aus Sicht des Disponenten erfolgversprechendsten Maß­ nahme der niedrigstmöglichen Ebene ist das Problem zu beheben. Die netzwerkweite Produktionssteuerung, für die zweckmäßigerweise ebenfalls das fokale Unternehmen verantwortlich zeichnet, unterscheidet sich von der netz­ werkunternehmensspezifischen Produktionssteuerung lediglich durch die unterneh­ mensübergreifende Perspektive. Ansonsten folgt im sogenannten Supply Chain Event Management das Zusammenspiel zwischen konventionellen MRP-/ERP-Systemen und modernen APS und MES demselben Muster wie in einem Einzelunternehmen. Aller­ dings verlangt die Netzwerksicht zusätzlich zu den bereits vorhandenen Datenerfas­ sungssystemen der MES ein „Tracking & Tracing“-System, das eine netzwerkweite Ver­ folgung, Lokalisierung und Statusbestimmung logistischer Objekte in Echtzeit und ei­ ne netzwerkweite Nachvollziehbarkeit vergangener Abläufe erlaubt (vgl. Kletti 2015, S. 89 f.; Kurbel 2016, S. 436 ff.; Thiel 2011, S. 420 ff.). Zudem müssen im gesamten Wert­ schöpfungsnetzwerk Kontrollpunkte („Meilensteine“) eingerichtet werden, an denen verstärkt mit kritischen Ereignissen zu rechnen ist.

6 Integrierte Produktionsplanung und -steuerung vor dem Hintergrund der Zukunftsvision „Industrie 4.0“ Insbesondere für die Erfassung von Betriebsdaten zur netzwerkweiten Fortschritts­ kontrolle und Rückverfolgung von Aufträgen bietet sich die sogenannte Radiofre­ quenz-Identifikation (RFID) an (vgl. auch im Folgenden Kurbel 2016, S. 511 ff.). Hierbei sind die zu überwachenden Objekte mit Transpondern (RFID-Etiketten), bestehend aus Mikrochip und Antenne, versehen, um von RFID-Lesegeräten oder -stationen identifiziert werden zu können. Passive Transponder verfügen weder über eine eigene Energiequelle noch über eine eigene Steuerung und werden vor einer Datenauslesung über vom RFID-Leser ausgesendete elektromagnetische Wellen aktiviert. Dagegen be­ sitzen aktive Transponder eine Batterie, die sie in die Lage versetzt, selbst Daten zu senden und gegebenenfalls sogar neue Daten zu speichern (vgl. Chemnitz/Schreck/ Krüger 2015, S. 17). Objekte lassen sich freilich nicht nur mit mehr oder weniger leistungsfähigen Transpondern zu ihrer Identifikation und Lokalisierung, sondern auch mit größeren Speichern, Mikroprozessoren oder Mikrocontrollern als „eingebetteten Systemen“

Integrierte Produktionsplanung und -steuerung in Wertschöpfungsnetzwerken | 1261

ausstatten, die sie zu „Smart Objects“ machen. Werkstücke sind bereits „smart“, wenn sie auf einem Speicherchip ihre Arbeitspläne sowie Zustandsinformationen über ihren Bearbeitungsstatus und ihre qualitativen Eigenschaften mit sich führen (vgl. Herkommer/Hieble 2014, S. 45; Peßl/Ortner/Schweiger 2014, S. 60 f.). Dagegen zeichnen sich „smarte“ Betriebsmittel durch eingebettete Systeme aus, die aus Hardund Softwarekomponenten sowie aus Sensoren und Aktoren bestehen. Sie sind in der Lage, vordefinierte Umweltreize mit Sensoren wahrzunehmen und mit installierten Programmen über Wenn-dann-Befehle mit zweckmäßigen Reaktionen zu verknüpfen und in Signale umzuwandeln, die ausgewählte Aktoren die entsprechenden Reak­ tionen automatisch ausführen lassen (zum Design von „Smart Objects“ und „Smart Systems“ vgl. auch im Folgenden ausführlich Noennig et al. 2016). Werden in die Pro­ gramme von „Smart Objects“ zusätzlich Sensor- und Aktorpotentiale anderer „Smart Objects“ integriert, entstehen „Smart Systems“, in denen die einzelnen Objekte auf Programmebene miteinander kommunizieren. Dies erlaubt komplexere Reiz-Reakti­ onsverknüpfungen und damit eine weitergehende Automation der Produktionssteue­ rung. Unter Einsatz der Internet-Technologie miteinander vernetzte „Smart Systems“ werden als Cyber-physische Systeme (CPS) oder konkreter als Cyber-physische Pro­ duktionssysteme (CPPS) bezeichnet (vgl. z. B. Chemnitz/Schreck/Krüger 2015, S. 17; Herkommer/Hieble 2014, S. 44; Peßl/Ortner/Schweiger 2014, S. 60). Eine „Smart Factory“ besteht aus CPS und anderen „Smart Objects“. In ihr ist die physische Welt der Maschinen, Werkstoffe und Produkte mit der virtuellen Welt der Daten, Kodes und Programme zu einer Einheit verschmolzen (vgl. Blohm et al. 2016, S. 463). Die Objekte der physischen Welt oder genauer die in ihnen eingebetteten Rech­ ner, die jeweils über eine eigene IP-Adresse verfügen, können im globalen Internet der Dinge miteinander kommunizieren und sind damit nicht mehr nur identifizierbar und lokalisierbar, sondern sogar aus der Ferne und über Unternehmensgrenzen hinweg adressierbar, kooperationsfähig und steuerbar, was auch die netzwerkweiten Automa­ tisierungsmöglichkeiten weiter steigert (vgl. Kurbel 2016, S. 527; Westkämper/Löffler 2016, S. 157 ff. und 172 ff.). Dieses Szenario wird seit einiger Zeit unter dem Schlagwort Industrie 4.0 disku­ tiert, was zum Ausdruck bringt, dass mit den CPS und dem Internet der Dinge eine vierte industrielle Revolution eingeläutet worden sein soll – nach der Mechanisierung der Produktion Ende des 18. Jahrhunderts, der Elektrifizierung der Produktion Ende des 19. Jahrhunderts und der Automatisierung der Produktion zu Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts (vgl. z. B. Barthelmäs et al. 2017, S. 38 ff.; Drath/Horch 2014, S. 56). Letztlich aber wird der Weg der Digitalisierung und Automatisierung der dritten indus­ triellen Revolution lediglich mit leistungsfähigeren oder gänzlich neuen Technologi­ en weiter beschritten. Dieser Weg führte bereits im vergangenen Jahrhundert von der Einführung speicherprogrammierbarer Mikroprozessoren in der Fertigung über nu­ merisch gesteuerte Bearbeitungsmaschinen und zentrale EDV-gestützte Produktions­ steuerungs- und -überwachungssysteme bis hin zur Idee der informationstechnolo­ gischen Integration aller betriebswirtschaftlichen und technischen Bereiche der Pro­

1262 | Roland Rollberg

duktion (CIM). Insofern wäre es angebrachter, diese evolutorische Entwicklung hin zur internetgestützten unternehmensin- und -externen Vernetzung von Produktions­ faktoren mit Industrie 3.1 oder CIM 2.0 zu umschreiben (vgl. Barthelmäs et al. 2017, S. 53; Mertens 2014). Grundsätzlich ist zu erwarten, dass eine umfassende Vernetzung von CPS, die echtzeitnah Daten über Sensoren erfassen und verarbeiten, die Informationen unter­ einander austauschen, die vorprogrammierte Entscheidungen treffen und über Akto­ ren automatisch ausführen und die sich über RFID und das Internet der Dinge steu­ ern lassen, zu einer weiteren Dezentralisierung der Produktionssteuerung führen wird. Wenn zudem Werkstücke über RFID und das Internet jederzeit eindeutig identifizierund lokalisierbar sind, wenn sie ihre Vergangenheit, ihren gegenwärtigen Zustand, ihren künftigen Weg durch das Produktionsnetz sowie alternative Wege im Falle von Störungen „kennen“ und gegebenenfalls Steuerungsimpulse aussenden können, lässt sich die Produktionssteuerung immer weiter automatisieren. Am Ende steht die Visi­ on eines sich selbst organisierenden und steuernden Wertschöpfungsnetzwerks, in dem CPS einen Großteil der Steuerungsaufgaben selbst übernehmen (vgl. Corsten/ Gössinger 2016, S. 614; Kurbel 2016, S. 525 f.). Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich diese Vision in der Zukunft verwirklichen lässt. Freilich ist weder eine automatisierte Steuerung in MES noch eine autonome Steuerung in CPS ohne eine Orientierung an Vorgaben aus einem übergeordnetem Planungssystem denkbar (vgl. Kuprat/Mayer/Nyhuis 2015, S. 13 f.). Demzufolge bleibt die hierarchisch integrierte Produktionsplanung mit APS auch künftig unverzichtbar. Eine wesentliche Aufgabe der APS ist dabei die zielsetzungsgerechte Kapazitätspla­ nung, die sich nunmehr auf die netzwerkweit verteilten CPS bezieht. Dabei nimmt die Qualität und Aktualität der Produktionsplanung durch die rückgemeldeten Echt­ zeitdaten aus den CPS zu, da sie für eine „kontinuierlich sich selbst aktualisierende Planungsdatenbasis“ (Kuprat/Mayer/Nyhuis 2015, S. 11) sorgen.

7 Zusammenfassung Gegenstand der Produktionsplanung und -steuerung ist die Produktionsprogramm-, -faktor- und -prozessplanung sowie die Auftragsveranlassung und -überwachung. Um die zahlreichen Interdependenzen, die zwischen den produktionswirtschaftli­ chen Teilplänen bestehen, zu berücksichtigen, muss integriert geplant werden. Das theoretische Ideal einer integrierten Produktionsplanung ist die Simultanplanung mit einem Totalmodell und lässt sich aufgrund von Komplexitätsproblemen prak­ tisch nicht durchführen. Demgegenüber ist die in der Vergangenheit praktizierte reine Sukzessivplanung mit konventionellen PPS-Systemen nicht integriert und da­ her theoretisch nicht überzeugend. Als theoretisch-praktischer Kompromiss zwischen Planungsideal und Planungsrealität bietet sich deshalb die hierarchisch integrierte

Integrierte Produktionsplanung und -steuerung in Wertschöpfungsnetzwerken | 1263

Produktionsplanung an, die als Sukzessivplanung mit Rückkopplungsschleifen zwi­ schen den einzelnen Hierarchieebenen für hinreichende Planungsintegrität sorgt. Dies gilt für die Produktionsplanung in einem Einzelunternehmen wie in einem Wert­ schöpfungsnetzwerk, in dem ein fokales Unternehmen ausschließlich die auf die ge­ meinsame Wertschöpfung bezogenen produktionswirtschaftlichen Maßnahmen aller Netzwerkunternehmen und das einzelne Netzwerkunternehmen all seine produk­ tionswirtschaftlichen Maßnahmen sowohl mit als auch ohne Netzwerkbezug plant. Für die Umsetzung einer hierarchisch integrierten Produktionsplanung in Wertschöp­ fungsnetzwerken und Einzelunternehmen stehen APS in Ergänzung zu bestehenden MRP- oder ERP-Systemen zur Verfügung, die mit Hilfe mathematischer Planungsver­ fahren monetäre Erfolgsziele unter Berücksichtigung von Restriktionen verfolgen. Verbindungsglied zwischen MRP- oder ERP-Systemen und auszuführenden Produk­ tionsprozessen sind MES als moderne Fertigungsleitsysteme, die eine echtzeitfähige Produktionssteuerung nach den Prinzipien des (Supply Chain) Event Management erlauben. MES können als Zwischenstufe auf dem Weg zur Zukunftsvision „Industrie 4.0“ betrachtet werden (vgl. Scheer 2017, S. 39), weil die in diesem Kontext diskutier­ ten Technologien, wie beispielsweise RFID und Sensorik, bereits Teil der MES sind oder, wie CPS und das Internet der Dinge, zu einer weitergehenden Automatisierung und Dezentralisierung der Produktionssteuerung führen werden.

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Integrierte Produktionsplanung und -steuerung in Wertschöpfungsnetzwerken | 1265

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Robert Obermaier

„Industrie 4.0“ – Stand und Perspektiven digital vernetzter Produktions- und Produktsysteme 1 2 3 4 4.1 4.2 4.3 5 6 7 8

Problemstellung | 1266 Cyber-physische Systeme und Technologien | 1268 Digital vernetzte Produktionsfaktoren | 1270 Digital vernetzte Produktionsplanung und -steuerung | 1272 Computer Integrated Manufacturing: Vision und Realisierung | 1272 Manufacturing-Execution-Systeme | 1275 Wirtschaftlichkeitseffekte | 1278 Mass Customization und digitale Kundenintegration | 1278 Digital vernetzte Produkt-Servicesysteme | 1281 Digitale Prozess- und Produktdatenplattformen | 1283 Fazit | 1284 Literatur | 1285

Zusammenfassung. „Industrie 4.0“ bezeichnet eine Form industrieller Wertschöp­ fung, die durch Digitalisierung, Automatisierung sowie Vernetzung aller an der Wert­ schöpfung beteiligten Akteure charakterisiert ist und auf Prozesse, Produkte oder Geschäftsmodelle von Industriebetrieben einwirkt. Der vorliegende Beitrag stellt dar, wie Unternehmen die sich aus den technischen Möglichkeiten ergebenden Potentiale betriebswirtschaftlich nutzen können, geht jedoch auch auf zentrale Herausforderun­ gen wie den Aufbau der notwendigen IT-Infrastruktur sowie die damit verbundene Datenanalyse ein.

1 Problemstellung Der Terminus „Industrie 4.0“ steht ursprünglich für ein Zukunftsprojekt der deutschen Bundesregierung, mit dem die digitale Vernetzung klassischer Fertigungsindustrien vorangetrieben werden soll, um für die Zukunft wettbewerbsfähige industrielle Struk­ turen auf-, um- oder auszubauen und so „die deutsche Industrie in die Lage zu verset­ zen, für die Zukunft der Produktion gerüstet zu sein“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2014). Angestoßen durch eine Promotorengruppe, die den Begriff „In­ dustrie 4.0“ erstmals auf der Hannover Messe 2011 in die Öffentlichkeit trug, wurde auf einen möglichen, durch das sogenannte Internet of Things (IoT) angestoßenen Para­ digmenwechsel in der Industrie aufmerksam gemacht, der das Potential habe, eine so­ https://doi.org/10.1515/9783110473803-062

Stand und Perspektiven digital vernetzter Produktions- und Produktsysteme | 1267

Von Industrie 1.0 bis Industrie 4.0

Zweite Industrielle Revolution

Dritte Industrielle Revolution

Vierte Industrielle Revolution

durch Einführung mechanischer Produktionsanlagen mit Hilfe der Wasser- und Dampfkraft

durch Einführung arbeitsteiliger Massenproduktion mit Hilfe elektrischer Energie

durch den Einsatz von Elektronik und IT zur weiteren Automatisierung der Produktion

auf Basis von cyber-physischen Systemen

4

3

2

Erster mechanischer Webstuhl, 1784 1800

Erstes Fließband, Schlachthöfe von Cincinnati, 1870 1900

Erste speicherprogrammierbare Steuerung (SPS), Modicon 084, 1969 2000

Grad der Komplexität

Erste Industrielle Revolution

1

Heute

Zeit

Abb. 1: Von „Industrie 1.0“ bis „Industrie 4.0“ (vgl. Wahlster 2015).

genannte vierte industrielle Revolution auszulösen (vgl. Kagermann/Lukas/Wahlster 2011; in etwa zeitgleich wurde in den USA eine ähnliche Initiative mit dem Schlagwort „Industrial Internet“ angestoßen). Deren Kern stellte, nach den bisherigen Entwick­ lungsstufen (1) Mechanisierung durch Ersatz von Muskelkraft durch Wasserkraft und Dampf, (2) Automatisierung durch Einsatz elektrischer Energie und Arbeitstei­ lung und (3) Digitalisierung durch Einsatz von Informationstechnologie, nun (4) die Vernetzung von industrieller Infrastruktur (Maschinen, Werkstücke, Produkte und Menschen) zu sogenannten cyber-physischen Systemen (CPS) dar (vgl. Abbildung 1). Institutionalisiert wurden diese Bemühungen in Deutschland im Rahmen einer „Plattform Industrie 4.0“, auf der sich mehrere Industrie- und Forschungsverbän­ de unter Leitung des Bundeswirtschafts- und des Bundesforschungsministeriums zusammengefunden haben. Folgendes „offizielles“ Begriffsverständnis wurde ver­ lautbart: „Der Begriff Industrie 4.0 steht für die vierte industrielle Revolution, einer neuen Stufe der Or­ ganisation und Steuerung der gesamten Wertschöpfungskette über den Lebenszyklus von Pro­ dukten. Dieser Zyklus orientiert sich an zunehmend individualisierten Kundenwünschen und erstreckt sich von der Idee, dem Auftrag über die Entwicklung und Fertigung, die Auslieferung eines Produkts an den Endkunden bis hin zum Recycling, einschließlich der damit verbundenen Dienstleistungen. Basis ist die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit durch Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Instanzen sowie die Fähigkeit, aus den Daten den zu jedem Zeitpunkt optimalen Wertschöpfungsfluss abzuleiten. Durch die Verbindung von Menschen, Objekten und Systemen entstehen dynamische, echtzeitoptimierte und selbst organisierende, unternehmensübergreifende Wertschöpfungsnetzwerke, die sich nach unterschiedlichen Krite­ rien wie bspw. Kosten, Verfügbarkeit und Ressourcenverbrauch optimieren lassen“ (Plattform Industrie 4.0 2014).

1268 | Robert Obermaier

Der erste Teil dieser Begriffsumschreibung bezweckt die Verschränkung von techni­ scher Produktplanung und -realisierung (Design und Konstruktion) mit betriebswirt­ schaftlicher Produktionsplanung und -steuerung (Produktion und Logistik) über die gesamte Wertschöpfungskette. Die explizite Kundenintegration zielt darauf ab, die „klassische“ industrielle Planungslogik zu überwinden, nach der kurzfristig eher die Kundenbedürfnisse an das (gegebene) Produktprogramm anzupassen seien. Mit an­ deren Worten geht es darum, auch kurzfristig kundenindividuelle Produkte nach in­ dustriellem Maßstab herstellen zu können, was zwangsläufig Auswirkungen auf das Geschäftsmodell und die strategische Produkt- und Produktionsplanung von Indus­ triebetrieben haben wird. Der zweite Teil stellt die Vernetzung aller an der Wertschöp­ fung beteiligten Akteure zu sogenannten CPS in den Mittelpunkt, um so die physische Welt mit dem Internet zu verbinden. Aus dem so erzeugten digitalen Modell soll eine datenbasierte Entscheidungsunterstützung möglich werden, um so auf die Ebene der industriellen Wertschöpfung zurückzuwirken. Mittlerweile hat sich der Begriff „Industrie 4.0“ rasant verbreitet, und es kursieren trotz (oder gerade wegen) seiner Unbestimmtheit verschiedenste Auffassungen da­ zu. Für die folgenden Ausführungen soll unter „Industrie 4.0“ eine Form industrieller Wertschöpfung verstanden werden, „die durch (weitgehende) Digitalisierung, Auto­ matisierung sowie Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure charak­ terisiert ist und auf Prozesse, Produkte oder Geschäftsmodelle von Industriebetrieben einwirkt“ (Obermaier 2016, S. 8). Dieses Begriffsverständnis gibt damit auch den Rah­ men dieser Arbeit vor, die nach einer Analyse der technologischen Ursachenebene von Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung auf die industrielle Wirkungsebene von Prozessen, Produkten und Geschäftsmodellen blickt.

2 Cyber-physische Systeme und Technologien Seit jeher ist bekannt, dass Technologien wesentliche Treiber industrieller Revolutio­ nen gewesen sind. Ungeachtet der vorgenannten Stufeneinteilung ist ein durchgängi­ ges Element jeder industriellen Revolution der Ersatz menschlicher Arbeit durch Ka­ pital in Form sogenannter General-Purpose-Technologien (GPT). Diese durchdringen, wie die historischen Beispiele Dampfmaschine, Elektromotor oder Computer zeigen, mit der Zeit verschiedene Wirtschaftsbereiche und eröffnen weitere, derivative Inno­ vationspotentiale hinsichtlich anderer Technologien und der sie einsetzenden Unter­ nehmen (vgl. Simon 1987). Zu den im Zentrum von „Industrie 4.0“ stehenden General-Purpose-Technologi­ en sind die sich seit einigen Jahrzehnten ausbreitende Internettechnologie und die sich daraus derivativ entwickelnden CPS zu zählen. Ausgangspunkt zum Verständnis CPS sind jegliche Objekte („things“), die auf der Basis sogenannter eingebetteter Sys­ teme („embedded systems“) mit Fähigkeit zur Selbststeuerung ausgestattet sind und mittels Sensoren Daten erfassen, mittels eingebetteter Software aufbereiten und mit­

Stand und Perspektiven digital vernetzter Produktions- und Produktsysteme |

1269

Tab. 1: „Industrie 4.0“-Technologien (in Anlehnung an AGIPLAN 2015). Technologiefeld

Anwendung mit geringem Reifegrad

Internet- und Kommuni­ Echtzeitfähige, drahtkationstechnologie lose Kommunikation Selbstorganisierende Kommunikationsnetze Kommunikationsstandards Automatisierung, Autonome Robotik Fertigungstechnologie Humanoide Robotik und Robotik Cloud Robotik Deep Learning Sensorik und Aktorik Miniaturisierte Sensorik Intelligente Sensorik

Anwendung mit mittlerem Reifegrad

Anwendung mit hohem Reifegrad

Horizontale und vertikale Systemintegration

Echtzeitfähige Bus-Technologie Drahtgebundene Hoch­ leistungskommunikation IT-Sicherheit Mobile Kommunikation Mehrachsroboter

Additive Fertigungsverfahren Sensitive Robotik

Vernetzte Sensorik Sensorfusion Sicherheitssensorik Intelligente Aktoren Vernetzte Aktoren Sichere Aktoren Energy Harvesting Eingebettete Systeme, Miniaturisierte Analytik und eingebettete Systeme Multi-AgentenSystemtechnik Simulationsumgebung Systeme Maschinelles Lernen Multikriterielle Mustererkennung Situationsbewertung Mensch-MaschineSchnittstellen

Verhaltensmodelle Kontextbasierte Informations­ repräsentierung SemantikVisualisierung

Sprachsteuerung Gestensteuerung Wahrnehmungs­ gesteuerte Schnittstellen Fernwartung Augmented Reality Virtual Reality



Intelligente eingebettete Systeme Identifikationsmittel Big-Data-Speicher- und Analyseverfahren Cloud-Computing Intuitive Bedienelemente IT-Sicherheit (Zugang, Identifikation)

tels Aktoren auf reale Vorgänge einwirken, über eine Dateninfrastruktur, wie z. B. das Internet, kommunizieren und über Mensch-Maschine-Schnittstellen verfügen und ih­ rerseits selbst wiederum mit anderen CPS zu einem „Internet of Things“ (IoT) vernetzt werden können (vgl. Obermaier 2016, S. 8). Die im weiteren Kontext von „Industrie 4.0“ relevanten Technologien sind da­ her grundsätzlich solche, die zur Etablierung von CPS beitragen können. Sie werden im Folgenden durch die fünf Technologiefelder (1) Internet- und Kommunikations­ technologie, (2) Automatisierung, Fertigungstechnologie und Robotik, (3) Sensorik und Aktorik, (4) Eingebettete Systeme, Analytik und Systemtechnik sowie (5) MenschMaschine-Schnittstellen zusammengefasst und hinsichtlich des derzeitigen techno­ logischen Reifegrads (sogenannter Technology Readiness Level) entsprechender An­ wendungen eingeschätzt (vgl. Tabelle 1).

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3 Digital vernetzte Produktionsfaktoren Überträgt man die genannten „Industrie 4.0“-Charakteristika unter Rückgriff auf kon­ krete Technologieinnovationen auf betriebliche Produktionsfaktoren, so lassen sich Auswirkungen von „Industrie 4.0“ auf das Produktivsystem von Industriebetrieben und (in der Kombination) entsprechende Anwendungsszenarien herausarbeiten. Zu den Betriebsmitteln gehören sämtliche materiellen und immateriellen Gü­ ter und Dienstleistungen, die Leistungspotentiale besitzen und diese im Rahmen von Leistungserstellungsprozessen längerfristig zur Verfügung stellen. Die im Kontext von „Industrie 4.0“ relevanten Technologien lassen sich durch die Felder Automatisierung und Robotik, additive Fertigungstechnologie (z. B. 3D-Druck), Sensorik, Aktorik, ein­ gebettete Systeme, Software und Systemtechnik (z. B. Simulation, Big-Data-Analytik, Cloud-Services) sowie Vernetzung mittels Internet- und Kommunikationstechnolo­ gie („Internet der Dinge“) beschreiben. Beispielhaft ausgedrückt bedeutet das, dass Betriebsmittel über eingebettete Systeme und deren Vernetzung „intelligenter“ wer­ den, indem sie Fähigkeiten wie Condition Monitoring, teilweise Selbststeuerung oder Ähnliches entwickeln. Meist kommt dies durch das Adjektiv „smart“ zum Ausdruck. Auch Werkstoffe, die als Verbrauchsfaktoren Bestandteil der Produkte werden, können durch den Einsatz von Sender-Empfänger-Systemen (z. B. RFID) zu „intelli­ genten“ Bauteilen werden. Diese sind in der Lage, Informationen über ihre Eigen­ schaften und erforderliche Arbeitsschritte (Arbeitspläne) auf einem Datenträger mit sich zu führen, um effizient transportiert, gelagert, be- oder verarbeitet beziehungs­ weise montiert zu werden. Der damit im Kontext von „Industrie 4.0“ diskutierte Paradigmenwechsel sieht das entstehende Produkt als Akteur, das im Rahmen ei­ ner dezentralen Fertigungssteuerung den Betriebsmitteln die erforderlichen Prozesse abverlangt, anstatt von einer zentralen Fertigungssteuerung durch die Prozesse „ge­ schoben“ zu werden. Zum Elementarfaktor menschliche Arbeit zählen die in unmittelbarer Beziehung zur Leistungserstellung und den anderen betrieblichen Funktionen stehenden Tätig­ keiten. Auch hier sind es zunächst wieder neue Technologien, die besondere Formen insbesondere von Mensch-Maschine-Interaktion in Zusammenhang mit den eben beschriebenen „smarten“ Betriebsmitteln erlauben. Diese können weitergehende Automatisierung bereitstellen, im Bedarfsfall (z. B. wenn Daten fehlen oder explizit Mitarbeiterexpertise benötigt wird) aber den Mitarbeiter z. B. für Verfahrenswahlent­ scheidungen oder Ähnliches einschalten. Beginnend von intuitiven Bedienelemen­ ten, kontextbasierter Informationsdarstellung, über Sprach- und Gestensteuerung oder wahrnehmungsgesteuerten Schnittstellen bis hin zu Augmented-Reality-Syste­ men stehen Technologien bereit, die Mitarbeiter einerseits von automatisierbaren Routinen entlasten, sie aber andererseits durch Assistenzsysteme bei ihren Tätigkei­ ten unterstützen und so effizientere Arbeits- und Produktionsprozesse ermöglichen. Der Aufbau entsprechender Kompetenzen bei den Mitarbeitern gilt dabei unumstrit­

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ten als wesentliche Herausforderung im Zuge der Digitalisierung von Industriebetrie­ ben (vgl. Davenport/Kirby 2015). Jeweils für sich genommen sagt die Verfügbarkeit dieser Technologien noch nichts über deren betriebswirtschaftlichen Nutzen aus. Erst die explizite Nutzbarmachung im Rahmen der betrieblichen Leistungserstellung eröffnet Potentiale für die Steige­ rung von Produktivität und Wirtschaftlichkeit des Industriebetriebs. Hinzu kommt, dass die meisten der zur Diskussion stehenden Technologien erst und vor allem in Kombination eine Reihe neuartiger Funktionalitäten im Bereich der industriellen Produktion ermöglichen. Eine zentrale Rolle spielen dabei die bereits dargestellten CPS, die eine dezentrale, intelligente Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteilig­ ten Akteure ermöglichen. Das verwendete Adjektiv „intelligent“ soll andeuten, dass der Einsatz und die Kombination der Technologien primär dem Zweck besserer Ent­ scheidungen dienen. Basis dieser Entscheidungsunterstützung ist die wechselseitige Synchronisation zwischen physischer Realität und digitalem Modell, die eine Über­ wachung, Steuerung und Optimierung von Wertschöpfungsprozessen auf Basis von Daten nahezu in Echtzeit ermöglichen soll. Hierbei spielen Analyse- und Entschei­ dungsunterstützungssysteme, die auf sogenannter Big-Data-Analytik und Künstlicher Intelligenz beruhen, eine besonders herausgehobene Rolle. Damit wird die Bedeutung von „Industrie 4.0“ endlich für den dispositiven Faktor offenbar. Die Kombination neuartiger Technologien mit den Elementarfaktoren und deren Vernetzung zu CPS erlaubt wesentliche Verbesserungen für die Entscheidungs­ unterstützung dispositiver Faktoren, also all jener Instanzen (und den ihnen zuge­ ordneten Unterstützungsbereichen) mit Entscheidungsbefugnis; insbesondere durch: (1) Datenerfassung und -verarbeitung in Echtzeit, (2) horizontale und vertikale Vernet­ zung (durch Internettechnologie) und (3) den Einsatz von Assistenzsystemen sowie (4) die Dezentralisierung der Steuerungsaufgabe. Als wesentlicher Vorzug gilt neben der Bereitstellung und Nutzung entschei­ dungsrelevanter Informationen, ein kontinuierliches „Echtzeitabbild“ der Fertigung zu erhalten, mit dem eine Produktionssteuerung basierend auf Soll-Ist-Vergleichen mit intelligenten Monitoring-, Datenanalyse- und Entscheidungsunterstützungspro­ zessen möglich wird („Smart factory“). Zu beachten ist zum einen, dass der dispositive Faktor den jeweils relevanten Informationsbedarf definieren muss und zum anderen, dass der Aufbau entsprechender Informationsversorgungssysteme sowie die Ent­ wicklung und der Einsatz von Analysewerkzeugen angesichts der zu erwartenden Datenmengen („Big Data“) eine besondere Herausforderung (z. B. für das Produkti­ onscontrolling) darstellen.

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4 Digital vernetzte Produktionsplanung und -steuerung 4.1 Computer Integrated Manufacturing: Vision und Realisierung Primär betriebswirtschaftlich orientierte Systeme der Produktionsplanung und -steuerung (PPS) dienen als Entscheidungsunterstützungssysteme für den Ferti­ gungsbereich, um den mengen- und zeitmäßigen Produktionsablauf unter Beachtung verfügbarer Ressourcen zu planen und zu überwachen, so dass vorgegebene Ziele er­ reicht werden. Der aufgrund erheblicher Interdependenzen im Grunde simultan zu lösende Problemkomplex wird in den meisten vorliegenden Systemen hierarchisch dekomponiert und in sukzessiv ablaufenden Planungsmodulen verarbeitet. Diese sind in der Praxis seit längerem Bestandteil IT-basierter Lösungen zur Produktions­ planung und -steuerung. Parallel dazu sind primär technisch orientierte Planungsaufgaben zu erledigen. Ausgehend von der Produktentwicklung und Konstruktion ist die Arbeitsplanung durchzuführen und sind NC-Programme zu erstellen. Des Weiteren sind die Ferti­ gungsanlagen und die innerbetriebliche Logistik zu steuern. Diese Aufgaben sind zumeist durch entsprechende IT-Systeme unterstützt. Entsprechend entstanden di­ verse „CA-Begriffe“, wie z. B. Computer-aided Engineering (CAE), Computer-aided Design (CAD), Computer-aided Process Planning (CAP), Computer-aided Manufactu­ ring (CAM) und Computer-aided Quality Ensurance (CAQ). Um die entsprechenden betrieblichen Abläufe zu unterstützen und zu verbes­ sern, wurde eine integrierte Informationsverarbeitung zwischen prozessual zusam­ menhängenden betrieblichen Einheiten (Menschen, Organisationseinheiten, EDVSystemen, Produktionsanlagen) gefordert; gerade auch, um diverse Schnittstellenund Koordinationsprobleme isolierter Teillösungen zu vermeiden. Unter dem Stichwort des Computer Integrated Manufacturing (CIM) zielten die Bemühungen darauf ab, eine integrierte Informationsverarbeitung aller mit der Leis­ tungserstellung zusammenhängenden Planungs- und Steuerungsaufgaben zu errei­ chen, die in den primär technischen Funktionsstrang Konstruktion, Arbeitsplanung bis hin zur Programmierung der Fertigungsmaschinen sowie den primär betriebs­ wirtschaftlichen Funktionsstrang der Produktionsplanung und -steuerung (PPS) ein­ schließlich Qualitätssicherung unterschieden werden können (vgl. Scheer 1987). Während diese beiden Stränge im Stadium der Planung noch getrennt voneinan­ der – sinnvollerweise aber unter Rückgriff auf integrierte Datenbanken (z. B. Stück­ listen, Arbeitspläne, Betriebsmitteldaten) – durchlaufen werden, ist, sobald das Sta­ dium der Planung abgeschlossen ist und die Steuerung der physischen Produktion beginnt, eine engere Verzahnung der nachfolgenden Steuerungsaufgaben erforder­ lich. Daraus ergibt sich das bekannte Y-Modell des Computer Integrated Manufactu­ ring (vgl. Abbildung 2).

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Stücklisten

Arbeitspläne

Kundenauftragsbearbeitung

Betriebsmittel

Produktanforderung

Kalkulation Produktentwurf Primärbedarfsplanung

Konstruktion

Materialwirtschaft Arbeitsplanung Kapazitätsabgleich

Kontrolle (Mengen, Zeiten, Kosten)

Lagersteuerung Montagesteuerung

Qualitätssicherung

CAM

Instandhaltung Datenanalyse (Monitoring)

Shop floor

Transportsteuerung

Produktrealisierung

Betriebsdatenerfassung

Steuerung von NC-Maschinen und Robotern

CAQ

Produktionssteuerung

Feinsteuerung

NC-Programmierung

CAM

Auftragsfreigabe

Auftragsabwicklung (SCM-Strecke)

Abb. 2: Y-Modell des Computer Integrated Manufacturing (vgl. Kiener et al. 2018, in Anlehnung an Scheer 1987).

Läuft die betriebswirtschaftliche Produktionsplanung zumeist im Rahmen von eta­ blierter ERP-Software ab (linker Ast des Y-Modells), sind die technischen Aufgaben, vornehmlich jene der Produktplanung, in sogenannten Product-Lifecycle-Manage­ ment-Systemen (PLM) integriert (rechter Ast des Y-Modells). Die Realisierung dieser integrierten Informationsverarbeitung fokussiert den die Produktion steuernden (Zentral-) Rechner und stellt zwangsläufig besonders hohe Anforderungen an die Betriebsorganisation. Nach Auftragsfreigabe ist eine getrennte Betrachtung von betriebswirtschaftlichen und technischen Aufgaben kaum möglich; und so ist die damit verbundene Herausforderung einer integrierten Informationsver­ arbeitung nochmals größer. Aus heutiger Sicht ist zu konstatieren, dass der Anspruch des CIM-Konzepts in der Praxis bislang nicht erreicht wurde. Eine (vertikale) Integra­ tion von betriebswirtschaftlichen Planungs- und Steuerungsaufgaben mit den primär

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Abb. 3: Schnittstellenprobleme in der Fertigung (vgl. Obermaier 2016, S. 18).

technisch orientierten Aufgaben der Produktion gelang nur in begrenztem Ausmaß. Unverändert finden sich überwiegend informationstechnische Insellösungen. Die Ur­ sachen dafür sind vielfältig. Häufig liegt es an einer schrittweisen Implementierung von nicht oder nur in geringem Umfang aufeinander abgestimmten Systemen. Ein durchgängiger Datenfluss in der Fertigung scheitert zumeist an der Vielzahl und Vielfalt der beteiligten Kommunikationsschnittstellen (vgl. Abbildung 3). Im Ex­ tremfall kommuniziert jeder Akteur in einer Fertigung mit Hilfe von unterschiedlichen Schnittstellen mit jedem anderen Akteur. Die Anzahl an Schnittstellen S einer bilate­ ral stattfindenden Kommunikation zwischen n Akteuren einer Fertigung folgt logisch folgendem quadratischen Zusammenhang: S(n) = n ⋅ (n − 1) Dass die Vielzahl der so entstehenden Schnittstellen zwischen den beteiligten Akteuren Kommunikationsprobleme mit sich bringt, liegt auf der Hand. Je mehr Kommunikationen ablaufen beziehungsweise je mehr Schnittstellen in einem Kom­ munikationsprozess auftreten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für auftretende Probleme. Zudem ist der Aufwand für die technische Definition und Dokumentation entsprechender Schnittstellen sowie für deren Implementierung und Pflege erheblich. Damit bestehen Potentiale fort, mit dem Übergang zu einem vernetzten Gesamtsystem eine engere Abstimmung von betriebswirtschaftlicher und technischer Informations­ verarbeitung im Fertigungssektor zu erreichen und so Produktivitätssteigerungen zu realisieren.

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4.2 Manufacturing-Execution-Systeme Über die integrierte Datenverarbeitung hinaus steht im Kontext von „Industrie 4.0“ vor allem die digitale Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure zu sogenannten CPS im Vordergrund; sowohl horizontal (auf der Ebene der Leistungs­ erstellung) als auch vertikal (über die Ebenen der Produktionsplanung- und -steue­ rung). Dazu aber müssen bislang isoliert voneinander existierende Systeme industri­ eller Infrastruktur miteinander und mit dem Menschen in Verbindung treten können und über Sensorik und Aktorik sowohl ein Echtzeitbild der industriellen Fertigung liefern als auch mittels eingebetteter Systeme Steuerungseingriffe, mit dem Ziel einer effektiven Kopplung mit der Produktionsplanung und einer effizienten Produktions­ steuerung auf dem sogenannten Shop floor, erlauben. Als grundlegender Lösungsansatz zur Vernetzung industrieller Infrastruktur ste­ hen sogenannte Manufacturing-Execution-Systeme (MES) zur Verfügung (vgl. Ober­ maier/Hofmann/Kellner 2010). Solche Systeme integrieren unter Nutzung der Inter­ nettechnologie alle in einer Fertigung Beteiligten. Dabei fungiert ein MES als Bin­ deglied sowohl zwischen dem PPS- oder ERP-System und der physischen Fertigung (vertikale Integration) als auch zwischen den einzelnen am Fertigungsprozess betei­ ligten Akteuren (horizontale Integration) auf Shop-floor-Ebene (vgl. Abbildung 4). Im Rahmen der vertikalen Integration wird z. B. ein vom PPS-System ausgelöster Fertigungsauftrag durch das MES übernommen und auf Shop-floor-Ebene gesteuert, bis er abgeschlossen ist. Während das PPS-System Aufträge untereinander plant, ko­ ordiniert und terminiert (z. B. durch Vergabe von Start-/Endterminen), kommt dem MES eine Steuerungsaufgabe innerhalb der Abarbeitung der einzelnen Aufträge zu. Zudem werden sowohl Teilschritte als auch abgeschlossene Aufträge zurückgemeldet. Durch diese Rückmeldung wird erreicht, dass das PPS-System seine Auftragsplanung auf Echtzeitdaten aufbauen kann und nicht auf Grundlage geplanter Daten rechnen muss. So wird es möglich, dass das PPS-System Aufträge unter Berücksichtigung von aktuell im Bedarfszeitpunkt erhobenen Informationen vergibt (z. B. aktueller Prozessstatus, Maschinenkapazität oder Bestand der Werkzeugmagazine einzelner Maschinen). Im Rahmen der horizontalen Integration werden die Maschinen durch das MES auf Shop-floor-Ebene informationstechnisch vernetzt. Eine wesentliche Aufgabe liegt in der Bereitstellung der nötigen Schnittstellen, um eine Kommunikation zwischen den regelmäßig mit proprietären Datenformaten arbeitenden Maschinen zu ermögli­ chen. Aus dem Zusammenspiel von vertikaler und horizontaler Integration des MES ge­ lingt eine Anbindung an die Fertigungssteuerung im sogenannten Shop floor, die auf Istdaten basierende Soll-Ist-Vergleiche zulässt und so eine Fertigungssteuerung er­ möglicht. Das MES fungiert dabei als zentrale Informationsdrehscheibe („information hub“) in der Fertigung (vgl. Abbildung 5). Die einzelnen Akteure melden ihre An­

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Produktionsplanung und -steuerung SAP R/3

MES

Vertikale Integration

Rückmeldungen / BDE • Auftragsabwicklung • Werkzeugladung der NC-Maschinen

PP-PlandatenS • Aufträge • Termine • Maschinenbelegung

PPS/ERP

MES

NC-Programmierung

Lagersteuerung Lager, Lagersystem

Werkzeugeinstellung Messgeräte

Qualitätskontrolle Prüfmaschinen

Fertigungssteuerung NC-Maschinen

Auftragsabwicklung Shop floor Horizontale Integration

Abb. 4: Manufacturing-Execution-Systeme in der IT-Gesamtarchitektur von Industriebetrieben.

Abb. 5: Manufacturing-Execution-Systeme als Informationsdrehscheibe einer vernetzten Fertigung (vgl. Obermaier 2016, S. 19).

Stand und Perspektiven digital vernetzter Produktions- und Produktsysteme | 1277

fragen dem MES, das die geforderten Informationen bei den entsprechenden Ak­ teuren abfragt, diese Informationen gegebenenfalls verknüpft und das Ergebnis der anfragenden Stelle überträgt. Auf diese Weise wird zudem die Anzahl der Kommu­ nikationsschnittstellen der beteiligten Akteure einer Fertigung um ein Vielfaches reduziert, da diese nicht mehr jeweils bilateral, sondern über das MES erfolgt (vgl. Obermaier/Hofmann/Kellner 2010). Die Anzahl der Schnittstellen S einer zentralen Kommunikation beträgt dabei nur noch: S(n) = 2n Der Rückgang an Kommunikationsschnittstellen gegenüber bilateraler Kommunika­ tion hilft, den Wartungsaufwand und die Fehleranfälligkeit der Datenübermittlung erheblich zu senken und so eine integrierte Informationsverarbeitung zu realisieren. Im Kontext von „Industrie 4.0“ wird durchaus diskutiert, inwieweit MES als Zwi­ schenebene einer hierarchischen IT-Architektur dauerhaft Bestand haben werden, falls Akteure auch unmittelbar miteinander kommunizieren können und die Steue­ rung vollständig dezentral verläuft. Diese Produktionsvision, nach der der Produkti­ onsauftrag (beziehungsweise das Produkt) die Produktion steuert, ist mit dem Begriff der sogenannten Smart Factory verbunden. Darunter wird eine Produktionsumge­ bung verstanden, in der sich Fertigungsanlagen und Logistiksysteme als CPS weitge­ hend ohne menschliche Eingriffe selbst organisieren. Zentrale Idee der Smart Factory ist die Kommunikation zwischen Produkt (z. B. Werkstück) und Fertigungsanlage. Demnach trägt das Produkt seine Fertigungsinformationen (z. B. Arbeitspläne) in ma­ schinell lesbarer Form, z. B. auf einem RFID-Chip; außerdem kennt das Produkt seine Eigenschaften und kann anhand dieser Daten seinen Weg durch die Fertigungsanlage und die einzelnen Fertigungsschritte selbst steuern („selbststeuerndes Werkstück“). Während die klassische PPS-Logik zentral angelegt war und in einem sukzes­ siv-deterministischen Ansatz Fertigungsaufträge „abarbeitet“, haben vielfältige Stö­ rungen und Unsicherheiten in realen Produktionsumgebungen diesen klassischen Ansatz bald an seine Grenzen geführt. Bald wurden daher dezentrale PPS-Systeme diskutiert, die den Fokus insbesondere auf Materialflussorientierung legten. Ande­ re Konzepte der fraktalen, modularen oder virtuellen Fabrik haben versucht, die Fertigung in kleinere Einheiten zu zerlegen und mit lokaler Autonomie zur dezentra­ len Selbststeuerung auszustatten. Die damit verbundene Loslösung vom zentralen Ansatz hin zu einer völligen Dezentralisierung bedeutet als wesentliche Herausforde­ rung die Optimierung des Gesamtsystems aus dezentralen, lokalen Optima. Welche Aufgaben weiterhin zentral zu lösen wären, ist eine offene Frage. Ebenso, ob da­ mit nicht dieselben Probleme zurückkehren, die sich aus dem vergangenen Versuch einer zentral angelegten Optimierung ergeben. Theoretisch wäre eine dezentral an­ gelegte Optimierung denkbar, wenn alle beteiligten Akteure ihren jeweiligen Zustand kennen (könnten) und die Zielfunktion eindeutig definiert ist. Praktisch ist jedoch eine enorme Komplexitätssteigerung zu erwarten, die das (neue) Extrem der völligen Dezentralisierung so unwahrscheinlich erscheinen lässt, wie das andere (ältere) Ex­

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trem der Zentralisierung. Der optimale Dezentralisierungsgrad der IT-Struktur in der Produktion stellt sich daher nicht nur als praktische, sondern auch als interessante theoretische Problemstellung (nicht nur) für Industriebetriebe heraus. Eine mögliche Lösung zwischen diesen beiden Extremen scheinen modular konzipierte MES zu sein, die für jeweilige betriebliche Teilbereiche lokale Optima erzeugen und als dezentrale Assistenzsysteme fungieren.

4.3 Wirtschaftlichkeitseffekte Hinsichtlich der (ökonomisch messbaren) Konsequenzen vermehrten IT-Einsatzes in der Industrie herrscht Ungewissheit trotz einer Vielzahl an Studien. Dieses als „SolowParadox“ bekanntgewordene Phänomen besagt, dass IT-Investitionen zwar sichtbar, aber in ihrer ökonomischen Wirkung kaum messbar seien (vgl. Solow 1987). Nichts­ destotrotz schießen mit Blick auf „Industrie 4.0“ seit einiger Zeit vor allem von Bera­ tungshäusern optimistische Schätzungen ins Kraut. Einschränkend ist zu derartigen Studien anzumerken, dass es sich methodisch um eher simple Hochrechnungen und selektive Einschätzungen handelt, die nicht frei von Eigeninteressen sind. Eine erste wissenschaftliche Analyse von Wirtschaftlichkeitseffekten vor und nach Einführung eines MES in einem Industriebetrieb liefert eine Studie von Ober­ maier und Kirsch (2016). Dabei zeigt sich, dass nicht-wertschöpfende Prozessschritte im Bereich der Werkzeugeinstellung um rund 40 % und Rüstzeiten um durchschnitt­ lich 38 % reduziert werden können. Neben der zeitlichen Reduktion pro Werkzeug­ rüstvorgang konnte auch die erforderliche Menge zu beladender Werkzeuge gesenkt werden. Zudem konnte eine Bestandsreduktion an unmittelbar im Maschinenpark im Umlauf befindlichen Komplettwerkzeugen festgestellt werden, welche sich in einer reduzierten Kapitalbindung ausdrücken sollte. In den indirekt zur Wertschöpfung beitragenden Disziplinen der CAD/CAM-NC-Programmierung und Werkstattorientier­ ten Programmierung (WOP) konnten die Prozesse um 13 % beziehungsweise 28 % der anfallenden Aktivitäten reduziert werden. Neben diesen quantitativen Wirkungen treten auch eine Reihe qualitativer Prozessverbesserungen auf, die sich in höherer Prozessstandardisierung, -transparenz, -sicherheit und Qualität niederschlagen.

5 Mass Customization und digitale Kundenintegration Während die bisherige Darstellung von „Industrie 4.0“ stark auf den industriellen Fer­ tigungsbereich mit dem Ziel Effizienzsteigerung fokussiert war, bestehen weitaus um­ fassendere Anwendungsmöglichkeiten mit Blick auf die gesamte Wertschöpfungsket­

Stand und Perspektiven digital vernetzter Produktions- und Produktsysteme |

Fertigungsstrategie

Development

Design

Beschaffung

TeileVormonfertigung tage

Endmontage

Make-to-Stock

Vertrieb

OPP

Assemble-to-Order

OPP

Subassemble-to-Order

OPP

Make-to-Order

OPP

Purchase-andMake-to-Order

OPP OPP

Design-to-Order Engineer-to-Order

1279

OPP

Abb. 6: Fertigungsstrategien und Order Penetration Point.

te. Hier soll nun insbesondere der Prozess der kundenindividuellen Produktentwick­ lung betrachtet werden. Der Trend zu immer stärker individualisierten Produkten ist seit einiger Zeit un­ übersehbar und hat im Bereich der industriellen Fertigung unter dem Stichwort der Mass Customization einige Aufmerksamkeit erlangt (vgl. Pine 1993). Dabei verlangt ei­ ne stärkere Individualisierung bei der Entwicklung von Produkten eine möglichst fle­ xible Fertigung, die jedoch die entstehenden Komplexitätskosten soweit als möglich zu vermeiden in der Lage ist. Im Bereich der Fertigung gilt es dabei, die entstehen­ den Rüstkosten möglichst gering zu halten, um den Nutzen der Fertigungsautomati­ sierung realisieren und zu wettbewerbsfähigen Kosten produzieren zu können (vgl. Obermaier/Hofmann 2012). Allerdings ist eine kosteneffiziente und flexible Fertigung nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, um das Konzept der Mass Customization erfolgreich umzusetzen. Hierzu sind zum einen eine Anpassung der Fertigungsstrategie und zum anderen eine stärkere Kundenintegration erforderlich. Es wird traditionell zwischen kundenanonymer (Make-to-stock) und kunden­ auftragsbezogener (Make-to-order) Fertigungsstrategie unterschieden. Mischformen sowie darüber hinausgehende Formen lassen sich über das Konzept des sogenannten Order Penetration Point (OPP) verdeutlichen. Dieser Kundenauftragsentkopplungs­ punkt markiert nämlich den Übergang von einer prognosegetriebenen hin zu einer mehr kundenauftragsbezogenen Fertigungsstrategie. Während die durchgezogene Linie in Abbildung 6 den auftragsgebundenen und die gestrichelte Linie den prognoseabhängigen Anteil der Wertschöpfungsaktivitäten beschreibt, bezeichnet der OPP diesen Kundenauftragsentkopplungspunkt. Dabei ist zu beachten, dass in der Regel nur der kundenauftragsbezogene Teil Individuali­ sierung beim Produkt zulässt, welcher außerdem zeitkritisch ist. Das bedeutet, dass dieser Teil der Wertschöpfung möglichst schnell und deshalb in der Regel möglichst lokal erfolgen muss (vgl. Kiener et al. 2018, S. 121). Neben entsprechend leistungs­

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fähigen Supply-Chain- und Logistiksystemen sind zur „Verschiebung“ des OPP in Richtung zunehmend auftragsgebundener Aktivitäten im Bereich der Fertigung auch sogenannte additive Fertigungstechnologien wie 3D-Druck relevant. Während her­ kömmliche subtraktive Fertigungsverfahren mittels Werkzeugen durch (entfernende) Bearbeitung (Drehen, Fräsen, Bohren etc.) eines Rohmaterials ein Werkstück erzeu­ gen, zeichnen sich additive Verfahren dadurch aus, dass aufbauend aus formlosem (z. B. Flüssigkeiten, Pulver) oder formneutralem (band-, drahtförmig) Material mittels chemischer oder physikalischer Prozesse ein Werkstück erzeugt wird. Die bekannteste Maschinenklasse stellen dabei die sogenannten 3D-Drucker dar, die dreidimensiona­ le Werkstücke schichtweise aufbauen. Der hier ebenfalls häufig gebrauchte Begriff des Rapid Manufacturing bezeichnet dabei allgemein Methoden und Produktions­ verfahren zur schnellen und flexiblen Herstellung von Bauteilen und Serien mittels werkzeugloser Fertigung direkt aus den Konstruktionsdaten. Zusätzlich ist eine stärkere Integration der Kunden in den Prozess der Produkt­ entwicklung erforderlich. Im Zentrum stehen hierbei vor allem digitale Konfigurati­ onsplattformen, bei denen der Kunde aus vorgegebenen Gestaltungsparametern (Bau­ kastenprinzip) individualisierte Produktvarianten erzeugen kann. Es ist offensicht­ lich, dass die Konfigurationsmöglichkeiten mit den Fertigungsprozessen abgestimmt sein müssen. Das bedeutet im Regelfall, dass bei gegebener Fertigungsflexibilität eine maximale Variationsmöglichkeit gesucht wird, während bei vorgegebener Variations­ möglichkeit die Fertigungsflexibilität anzupassen ist. Die Automobilindustrie ist seit Jahren in der Lage, über internetbasierte Produkt­ konfiguration nach dem Baukastenprinzip Fahrzeuge zusammenzustellen, die den Möglichkeiten ihrer Fertigungsanlagen entsprechen. Ein weiteres Beispiel stellt my­ Muesli dar, das aus Billionen möglicher Mischverhältnisse für online konfiguriertes, individuelles Müsli eine hochflexible Fertigungsanlage bereithält, um jede mögliche Kombination automatisiert herstellen zu können. Die Online-Plattform SketchUp bie­ tet die Möglichkeit zur 3D-Modellierung, bei der von Nutzern relativ einfach beliebige CAD-Programme online erstellt, gespeichert, getauscht und heruntergeladen werden. In Verbindung mit Herstellern könnten diese Entwürfe in reale Produkte umgesetzt werden, wozu lediglich eine Übermittlung des CAD-Programms an Produzenten nötig ist, auf deren Maschinenkapazität zugegriffen werden kann. Eine entsprechend inte­ grierte Plattformlösung von der CAD-Software bis zum Versand des fertigen Produkts an den Nutzer bietet z. B. eMachineshop. Hier können, beginnend mit einem zur Verfü­ gung stehenden CAD-Programm, beliebige Bauteile entworfen, produziert und an die Kunden versandt werden. LEGO ideas ist eine digitale Customer-Engagement-Platt­ form, die Kunden den Entwurf, die Evaluation und schnelle Einführung (oder auch Elimination) von Produktideen ermöglicht und diese im Erfolgsfall an den Umsatzer­ lösen beteiligt.

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6 Digital vernetzte Produkt-Servicesysteme Das bislang dargelegte Verständnis von „Industrie 4.0“ ist auf eine Steigerung der Prozesseffizienz durch Digitalisierung und Vernetzung auf Prozessebene und eine da­ mit einhergehende Flexibilisierung sowie stärkere Kundenintegration der Fertigungs­ strukturen ausgerichtet. Eine weitere Stoßrichtung von „Industrie 4.0“ hat demgegen­ über digital vernetzte Produkte und produktbegleitende Dienstleistungen im Fokus. Intelligente, vernetzte Produkte bestehen aus drei Kernelementen: den herkömm­ lichen physischen Komponenten, eingebetteten intelligenten („smarten“) Komponen­ ten und Vernetzungskomponenten. Produkte, die mit dem Internet vernetzt und mit „smart components“ ausgestattet sind, können gegenüber nicht-vernetzten Geräten völlig neue Funktionalitäten bieten, wobei umso mehr Funktionalität generiert wer­ den kann, je umfangreicher die Vernetzung angelegt ist. Es können dabei vier Funktio­ nalitätsstufen vernetzter Produkte unterschieden werden: (1) Überwachung, (2) Steue­ rung, (3) Optimierung und (4) Autonomie (vgl. Porter/Heppelmann 2014). Überwachung erlaubt, den Betriebszustand, die Funktionsfähigkeit und die Um­ gebung eines Geräts über Sensoren und externe Datenquellen zu erfassen. Dadurch wird es möglich, Benutzer auf geänderte Betriebszustände und erforderliche War­ tungsmaßnahmen hinzuweisen. Ebenso kann aber auch die Nutzung des Geräts selbst Gegenstand einer Überwachung sein, um so z. B. mehr über das Nutzungs­ verhalten herauszufinden. Diese Informationen haben Einfluss auf die Entwicklung von Produkten oder das produktbegleitende Serviceangebot. Die Steuerung von intelligenten, vernetzten Geräten kann sowohl durch externe Signalübermittlung als auch durch integrierte Selbststeuerungsalgorithmen erfolgen. Dabei kann z. B. auf Betriebszustände oder Umgebungseinflüsse reagiert werden. Zu­ dem erlaubt es eine weitergehende Produktindividualisierung durch interaktives Ler­ nen aus der Nutzung des Gerätes. Dadurch erlauben intelligente, vernetzte Produkte eine softwarebasierte Individualisierung (statt hardwarebasierter Produktvarianten), während die standardisierte Hardware massenweise kostengünstig produziert werden kann. Die Möglichkeit zur Optimierung basiert auf den entstehenden Überwachungsda­ ten vernetzter Geräte. Dadurch kann unter Einsatz von integrierter (oder durch Vernet­ zung verfügbarer) Software z. B. die Leistung, die Auslastung oder die Effizienz eines Produkts gesteigert werden. Ein prominenter Anwendungsfall ist die sogenannte Pre­ dictive beziehungsweise Preventive Maintenance. Hier sollen Daten laufend gemes­ sener Aggregatszustände Muster erkennen, die Anomalien im Systemverhalten auf­ decken und damit einen bevorstehenden Maschinenausfall vorhersagen können, um frühzeitige Wartungsmaßnahmen ergreifen und einem Ausfall damit vorbeugen zu können. Die Kombination von Überwachung, Steuerung und Optimierung erlaubt es zu­ dem, intelligente, vernetzte Produkte zunehmend mehr Autonomie übernehmen zu

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lassen. Autonome Produkte erkennen ihre Einsatznotwendigkeit selbst, steuern und optimieren ihre Funktion und überwachen dabei ihren Zustand. Beispiele dafür sind die in Haushalten bereits erfolgreich im Einsatz befindlichen Mähroboter. Diese mä­ hen selbständig, umfahren Hindernisse, nehmen Steigungen, laden bei Bedarf ihre Akkus selbst wieder auf, melden Wartungsbedarf und aktualisieren das Betriebssys­ tem. Die durch Vernetzung möglichen zusätzlichen Funktionalitäten eröffnen Unter­ nehmen die Möglichkeit, produktbegleitende Dienstleistungen („Smart Services“) an­ zubieten. Diese basieren darauf, dass intelligente und vernetzte Produkte auch nach dem Verkauf „Kontakt“ zum Hersteller halten und so eine weitergehende Wertschöp­ fung ermöglichen, indem die Hersteller ihre Produkte über den gesamten Lebenszy­ klus begleiten und dem Nutzer laufend Zusatzdienste (Überwachung, Steuerung, Op­ timierung und Autonomie) im Rahmen ihres Produkt- und Serviceangebotes anbieten können. Als Beispiele gelten Industrieanlagen wie Turbinen, die über Sensoren laufend überwacht werden, um aus den gewonnenen, massiv anfallenden Nutzungsdaten ei­ ner Vielzahl von Anlagen über Big-Data-Analytik Erkenntnisse zu gewinnen, die dazu genutzt werden können, die Anlagenleistung zu erhöhen oder die Auslastung durch vorausschauende Instandhaltung (Predictive Maintenance) zu verbessern. Dieser zu­ sätzliche Kundennutzen kann abgeschöpft werden, indem die Kunden eine Servicege­ bühr für dieses Contractual Service Agreement (CSA) zur optimierten Anlagennutzung bezahlen. Wesentlicher Bestandteil dieser CSA ist eine Risikoteilung zwischen Her­ steller und Kunde und eine Reduktion der Total Cost of Ownership (TCO), denn den Kunden wird eine Aufrechterhaltung der Betriebsbereitschaft (einschließlich Diens­ ten wie Preventive Maintenance und Instandhaltung) garantiert, während der Her­ steller dafür laufende Servicegebühren erhält. Eine weitergehende Entwicklung besteht in Betreibermodellen nach dem Muster „the product as a service“. Dabei betreiben Hersteller von Maschinen und Anlagen diese selbst, während die Kunden nur für die empfangene Leistung bezahlen. Die Annahme hinter diesen Modellen ist, dass der Hersteller den Betrieb seiner Anlagen durch Digitalisierung und Vernetzung besonders effizient bewerkstelligen kann, wäh­ rend der Kunde sein gebundenes Kapital reduziert und statt für ein Produkt lediglich für eine Dienstleistung bezahlt. Beispiele für derartige Modelle gibt es schon einige: Rolls Royce verkauft seine Triebwerke nicht mehr mit den Flugzeugen, sondern rech­ net mit den Fluggesellschaften über die Flugstunden ab und übernimmt dafür lau­ fende Wartung, Instandhaltung und Reparatur. Hersteller von Kompressoren verkau­ fen nach diesem Modell Druckluft statt Geräte, Hersteller von Bohrmaschinen ent­ sprechend gebohrte Löcher (beziehungsweise Einsatzstunden; Schlagwort „power by the hour“). Damit transformiert sich das Geschäftsmodell von Industriebetrieben weg vom Verkauf physischer Produkte hin zu einem Angebot entsprechender Dienstleis­ tungen („Servitization“).

Stand und Perspektiven digital vernetzter Produktions- und Produktsysteme | 1283

7 Digitale Prozess- und Produktdatenplattformen Die im Rahmen von „Industrie 4.0“ erforderliche weitergehende Digitalisierung und Vernetzung von Akteuren und Produkten in Wertschöpfungssystemen stellt offen­ sichtlich enorme Herausforderungen an die bereitzustellenden IT-Systeme. Während Ausgangspunkt der Überlegungen im Bereich der PPS-Systeme eine in­ tegrierte Informationsverarbeitung war, die zu einer echtzeitfähigen Fertigungssteue­ rung auszudehnen ist, sind herkömmliche transaktionsbasierte ERP-Systeme dazu nicht zwingend in der Lage. Daher erfordert der prozessorientierte Pfad in Richtung „Industrie 4.0“ den Aufbau einer digitalen Prozessdatenplattform, mit der laufend Prozessdaten gewonnen und analysiert werden, um eine echtzeitbasierte Fertigungs­ steuerung zu ermöglichen. Digitale Produktplattformen, die (a) als Customer-Engagement-Plattformen Pro­ duktinnovationen nach dem Muster der Open Innovation befördern (vgl. Chesbrough 2003), (b) eine kundenindividuelle Produktentwicklung oder -konfiguration digital unterstützen oder (c) für digital vernetzte Produkte die laufende Produktnutzung überwachen, steuern und verbessern beziehungsweise produktbegleitende Dienst­ leistungen ermöglichen sollen, ermöglichen insbesondere über den Bereich der Pro­ duktion hinausgehende neue digitale Geschäftsmodelle. Diese plattformbasierten Formen der Kunden- und Produktintegration teilen den Grundgedanken einer Aufteilung des Geschäftsmodells auf mehrere Akteure: Platt­ formanbieter, Dienstanbieter, Plattform-Enabler und Endkunden (vgl. Tabelle 2). Was die Entwicklung der „richtigen“ Zusatzdienste angeht, stehen Unternehmen vor den Fragen, welche Funktionalitäten angeboten werden sollen, ob dafür intern ausrei­ chend Kompetenz vorhanden ist oder ob z. B. ein offenes Plattformsystem oder ein geschlossenes System angeboten werden soll. In der Automobilindustrie ist z. B. Ford mit OpenXC dabei, eine Plattform zu eta­ blieren, die als Kombination aus Open-Source-Hardware und -Software Autos mit An­ wendungen erweiterbar und individualisierbar machen soll. Den Entwicklern wird Tab. 2: Plattform-Akteure. Akteur

Plattform-Anbieter

Dienste-Anbieter

Endkunde (Daten-Anbieter)

Plattform-Enabler

Beispiel

Hersteller (z. B. Apple, Ford) Steigerung der Menge an verfügbaren Daten

App-Programmierer

User, Autofahrer

OpenXC, Bluetooth

Definition des zu bedienenden Kundennutzens (value proposition)

Auswahl der Plattform

Ausrichtung der Kommunikation der Devices auf ausgewählte Plattformen

Kern­ aufgaben

Auswahl der Anbieter, die Mehrwert auf Plattform generieren können

Bestimmung der Plattform, die den besten Mehrwert Auswahl der Plattformen mit den aus den Daten generiert besten Aussichten

1284 | Robert Obermaier

über einen offenen Standard Zugang zu anfallenden Daten geboten, auf deren Ba­ sis Zusatzdienste in Form von Anwendungen programmiert und angeboten werden können. Branchenübergreifend bietet Siemens mit IoT Mindsphere eine offene, inter­ netbasierte Plattform zur Integration von Maschinen und physischer Infrastruktur mit datenbasierten Diensten. Auch die Bosch IoT Suite ist eine auf offenen Standards und Open Source basierende Plattform.

8 Fazit „Industrie 4.0“ bezeichnet eine Form industrieller Wertschöpfung, die durch Digita­ lisierung, Automatisierung sowie Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure charakterisiert ist und auf Prozesse, Produkte oder Geschäftsmodelle von Industriebetrieben einwirkt. Die Gestaltungsoptionen für Unternehmen lassen sich grundsätzlich in zwei Richtungen hin unterscheiden. Zum einen können Unternehmen die sich aus den technischen Möglichkeiten von Automatisierung, Digitalisierung und einer intelligenten Vernetzung industriel­ ler Infrastruktur ergebenden Potentiale betriebswirtschaftlich nutzen und durch eine Steigerung der Prozesseffizienz an Wettbewerbsfähigkeit zulegen. Dies kann operativ, aber auch strategisch (im Sinne einer Flexibilisierung von Wertschöpfungsstrukturen und stärkerer Kundenintegration) angelegt sein; z. B. durch eine Flexibilisierung der Produktion und damit verbundener Individualisierung der Produkte durch Verschie­ bung des Order Penetration Point. Zum anderen können Unternehmen intelligente vernetzte Produkte und damit verbundene Dienstleistungen entwickeln. Die Kernidee dieses Vorgehens beruht auf dem Konzept digitaler Ubiquität, d. h. der grenzenlosen Möglichkeit zur digitalen Ver­ netzung von Objekten. Das damit verbundene wettbewerbsrelevante Paradigma ist nicht primär die Verdrängung bestehender Lösungen, sondern die Digitalisierung, Vernetzung und Neukonfiguration bestehender Produkte und Dienste. Die Realisierung der Produktionsvision „Industrie 4.0“ kann schrittweise erfol­ gen. Ausgehend von einer intelligenten Vernetzung industrieller Infrastruktur bieten sich Möglichkeiten zur Verbesserung der Effizienz industrieller Wertschöpfungspro­ zesse aber auch zu weitergehender Kundenintegration. Mit Blick auf Produkte und Dienstleistungen geht es darum, diese mit intelligenter Vernetzung auszustatten und so Mehrwertdienste zu etablieren. Darauf aufbauend lassen sich innovative Erlös- und Geschäftsmodelle entwickeln. Als zentrale Herausforderung gilt der Aufbau der notwendigen IT-Infrastruktur, sei es in Richtung digitaler Prozess- oder Produktplattformen, sowie den damit ver­ bundenen Datenanalysefähigkeiten. Hierbei wird sich zeigen, ob bislang etablierte Industrieunternehmen fähig sein werden, in dieser bevorstehenden digitalen Trans­ formation bestehen zu können oder ob eher Unternehmen aus dem Bereich der IT ihre Kompetenzen in Richtung industrielle Produktion entwickeln werden.

Stand und Perspektiven digital vernetzter Produktions- und Produktsysteme | 1285

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Wolfgang Kersten

Geschäftsmodelle in der Industrie 4.0 1 2 3 3.1 3.2 3.3 4 4.1 4.2 5

Neue Geschäftsmodelle als Herausforderung der Industrie 4.0 | 1286 Technologische Basis der Industrie 4.0 und der digitalen Transformation | 1288 Geschäftsmodelle und Geschäftsmodellinnovation | 1289 Begriff des Geschäftsmodells | 1289 Operationalisierung und Innovation von Geschäftsmodellen | 1292 Ansatzpunkte zur Veränderung von Geschäftsmodellen durch Industrie 4.0 | 1295 Beispiele innovativer Geschäftsmodelle in der Industrie 4.0 | 1299 Sensor- und datenanalysebasiertes Geschäftsmodell | 1299 Plattformbasierte Geschäftsmodelle | 1300 Fazit und Ausblick | 1301 Literatur | 1302

Zusammenfassung. Industrie 4.0 schafft neue Möglichkeiten für produzierende Un­ ternehmen. Der Erfolg von Industrie 4.0 hängt allerdings nicht nur von Verbesserun­ gen der Flexibilität und Produktivität in der eigenen Fertigung ab. Vielmehr bietet die Industrie 4.0 die Chance zu einer ganzheitlichen Weiterentwicklung des unter­ nehmenseigenen Geschäftsmodells. Um die Gestaltungsmöglichkeiten zu analysie­ ren, wird der Geschäftsmodellbegriff operationalisiert und mit den Veränderungen der Industrie 4.0 und der digitalen Transformation verknüpft. Exemplarisch wird auf­ gezeigt, wie neuartige Geschäftsmodelle in der Industrie 4.0 aussehen können.

1 Neue Geschäftsmodelle als Herausforderung der Industrie 4.0 Der leistungsstarke globale Wettbewerb hat dazu geführt, dass Produktion und Logis­ tik seit Jahrzehnten technologisch und organisatorisch stetig weiterentwickelt und op­ timiert wurden. Die Ansätze dazu reichten von neuen Produktionsverfahren über eine höhere Automatisierung bis hin zu neuen Organisations- und Steuerungsprinzipien. Hinzu kam eine immer stärkere Durchdringung mit Informations- und Kommunikati­ onstechnologie. Parallel dazu wurden Produktion und Logistik zunehmend als Erfolgs­ faktoren im Wettbewerb betrachtet. Als Ziel stand die Optimierung der Prozesse im Hin­ blick auf geringere Kosten, kürzere Durchlaufzeiten und höhere Flexibilität bei der Lie­ ferung von Produkten im Vordergrund. Hierdurch konnten vielfach Wettbewerbsvor­ teile erzielt und die eigene Wettbewerbsposition zumindest gesichert oder ausgebaut https://doi.org/10.1515/9783110473803-063

Geschäftsmodelle in der Industrie 4.0

| 1287

werden, sodass Produktion und Logistik ein zentrales Gestaltungselement der Unter­ nehmensstrategie wurden (vgl. z. B. Skinner 1969; Wildemann 1986; Hayes et al. 2005). Trotz der vielfältigen Verbesserungen im Wertschöpfungsprozess sowie der struk­ turellen Veränderungen in den Lieferketten blieben viele industrielle Geschäftsmo­ delle im Kern bestehen und wurden vor allem hinsichtlich ihrer Erfolgsfaktoren opti­ miert und durch weitere Leistungen ergänzt. Insbesondere mit dem Aufkommen von E-Business zu Beginn der 2000er Jahre begann jedoch eine intensive Diskussion über erfolgversprechende neue Geschäftsmodelle und dafür erforderliche Veränderungen. Einzelne Branchen wandelten sich in schneller Folge bezüglich ihrer Geschäftsmodel­ le – zum Teil sogar mehrfach. Bekannte Beispiele reichen vom Handel über die Musikund Buchindustrie bis hin zur Hotelbranche und Transportdienstleistungen. So ver­ änderte sich z. B. in der Musikindustrie einerseits mehrfach der physische Tonträger (Schallplatte, CD, Audio DVD, Super Audio CD, Blu-Ray), andererseits wurde die Musik durch Komprimierung digital distribuierbar (MP3). Parallel dazu wurde der Vertriebs­ kanal für physische Tonträger zusätzlich zum stationären Handel um den Online-Han­ del ergänzt, während sich beim digitalen Musikprodukt neben dem ursprünglichen Verkaufs-Modell (Music Store) das auf einer Flatrate basierende Streaming-Modell eta­ blierte. Insbesondere mit dem Streaming-Modell eröffnete sich zusätzlich die Möglich­ keit werbefinanzierter Einstiegsangebote (Freemium-Modell). Das Beispiel der Musikindustrie verdeutlicht sowohl die hohe Komplexität durch die Parallelität verschiedener Geschäftsmodelle als auch die Gefährdung etablierter Anbieter- und Wertschöpfungsstrukturen. Mit der Digitalisierung positionierten sich neue Akteure wie z. B. Streaming-Anbieter mit neuen Angebotsformen und Distributi­ onskanälen im Marktgeschehen. Dies führte zu Verschiebungen in der Gewinnvertei­ lung zugunsten der neuen Akteure und einer veränderten Profitabilität der bisherigen Marktteilnehmer. Gleichwohl existieren neue und alte Geschäftsmodelle in der Mu­ sikindustrie wie auch in anderen Branchen bis heute nebeneinander. Für Unternehmen besteht deshalb die Herausforderung, rechtzeitig zu erkennen, wie das eigene Geschäftsmodell weiterentwickelt, ergänzt oder erneuert werden kann, bevor neue Akteure mit alternativen Geschäftsmodellen die Spielregeln im Wettbe­ werb disruptiv verändern. Oftmals fehlt in etablierten Unternehmen jedoch das Vor­ stellungsvermögen, wie ein grundsätzlich anderes Geschäftsmodell aussehen könn­ te. Oder es fehlt der Mut, Innovationen umzusetzen, die das bislang erfolgreiche Ge­ schäftsmodell beeinträchtigen oder ersetzen können. Christensen hat bereits 1997 auf dieses sogenannte Innovator’s Dilemma hingewiesen (vgl. Christensen 2016, S. 225 ff.). Eine ähnliche Situation zeichnet sich aktuell für produzierende Unternehmen und Logistikdienstleister vor dem Hintergrund der Industrie 4.0 ab: Eigenschaften wie verlustfreie Signalübertragung, unbegrenzte Replizierbarkeit von Informationen und Bereitstellung von Informationen für zusätzliche Kunden zu marginalen Kosten erklären die Veränderungskraft digitaler Technologien (vgl. Iansiti/Lakhani 2014, S. 93 f.). Industrie 4.0 erlaubt auf dieser Basis veränderte und neue Geschäftsmodelle. Zudem werden neuen Akteuren aus dem IT- und Dienstleistungsbereich Marktzugän­ ge über innovative Wertschöpfungsstrukturen ermöglicht.

1288 | Wolfgang Kersten

2 Technologische Basis der Industrie 4.0 und der digitalen Transformation Um Geschäftsmodelle in der Industrie 4.0 betrachten zu können, ist Klarheit erforder­ lich, welches Verständnis von Industrie 4.0 zugrunde gelegt wird. Im engeren Sinne wird der Begriff Industrie 4.0 als weitere revolutionäre Stufe in der industriellen Ent­ wicklung eingeordnet (vgl. Kagermann/Wahlster/Helbig 2013, S. 17). Als Kerntechno­ logie werden sogenannte Cyber-Physische Systeme (CPS) gesehen, die eine weltweite Vernetzung sowie eine veränderte Art der Steuerung von Produktionsabläufen ermög­ lichen. An die Stelle einer zentralen Steuerung von Produktionsaufträgen tritt eine dezentrale, autonome Steuerung. Im Idealfall bringt der Produktionsauftrag alle zur Bearbeitung notwendigen Informationen mit sich und dirigiert sich selbst durch die Produktion. Hierdurch entstehen enorme Flexibilitätspotentiale, die produzierenden Unternehmen eine weitaus bessere Einstellung auf die Volatilität der Märkte und die vom Kunden geforderte Variantenvielfalt ermöglichen – bei höherer Ressourcenpro­ duktivität und -effizienz. Hinzu kommt die Möglichkeit zur Entwicklung neuer Dienst­ leistungen sowie die Gestaltung demographiesensibler Arbeitsplätze. Ziel ist die Si­ cherung der Wettbewerbsfähigkeit des Hochlohnstandorts Deutschland (vgl. Kager­ mann/Wahlster/Helbig 2013, S. 19 ff.). Obwohl diese Veränderungen bereits große Chancen für Unternehmen im Wett­ bewerb bieten, reicht eine Betrachtung der Industrie 4.0 im engeren Sinne für die Analyse von Geschäftsmodellen nicht aus. Parallel zu den Cyber-Physischen Syste­ men kommt eine große Anzahl innovativer IT-gestützter Technologien im Rahmen der sogenannten digitalen Transformation auf die Unternehmen zu. Um die Vielzahl unterschiedlicher Technologien systematisch zu erfassen, lassen sich die im Rahmen von Industrie 4.0 und digitaler Transformation zu berücksichtigenden Technologien in Technologieklassen strukturieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich auf­ grund der dynamischen Technologieentwicklung nur um eine Momentaufnahme han­ deln kann (Tabelle 1; vgl. Kersten et al. 2017, S. 25–32): Eine umfassende empirische Analyse von sechs Technologieklassen in 363 Un­ ternehmen aus den Branchen Produktion, Logistik und Handel ergab, dass vor al­ lem Technologien zur „Datenerhebung“ (insbesondere Sensorik) und „Datenanalyse“ (insbesondere prädiktive Analyse) sowie zum „Informationsaustausch“ (insbesonde­ re mobiler Datenzugriff) in nächster Zeit hohe Zuwachsraten in der industriellen An­ wendung haben werden. Aber auch für Technologien der Klassen „Autonome Sys­ teme“ (insbesondere Fahrerlose Transportsysteme) und „Assistenzsysteme“ (insbe­ sondere Augmented Reality sowie Wearables) werden in naher Zukunft zunehmende Wachstumspotenziale erwartet (vgl. Kersten et al. 2017, S. 25). Gerade diese Vielfalt an unterschiedlichen innovativen Technologien in ihrem Zu­ sammenspiel ist es, die gänzlich neue und vielfach disruptive oder zumindest wei­ terentwickelte Geschäftsmodelle ermöglicht. Dabei ist zu beachten, dass die digitale

Geschäftsmodelle in der Industrie 4.0

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Tab. 1: Technologien der Industrie 4.0 und der digitalen Transformation. Autonome Systeme Drohnen Selbstfahrende Landfahrzeuge Fahrerlose Transportsysteme Roboter IT-Services Blockchain Infrastructure as a Service (IaaS) Platform as a Service (PaaS) Software as a Service (SaaS) Kundenbindungsprogramme Enterprise-ResourcePlanning-Systeme (ERP) Warehouse Management-Systeme (WMS) Datenanalyse Prädiktive Wartung Prädiktive Analyse

Datenerhebung RFID zur Objektverfolgung Lokalisierungstechnologien Sensorik zur Überwachung 2D-Codes Assistenzsysteme Augmented Reality oder Pick by Vision Einsatz von Wearables Pick by Voice Pick by Light Mobiler Datenzugriff für Mitarbeiter Informationsaustausch Unternehmensübergreifende Maschine-zu-Maschine-Kommunikation Analyse von Daten aus Social-Media-Plattformen Mobiler Datenzugriff für Kunden Webbasierte Kommunikationsplattformen

Transformation mit diesen Technologien nicht an den Grenzen des Unternehmens en­ det, sondern die gesamte Wertschöpfungskette umfasst. Unternehmen, die an die in der Industrie 4.0 entstehenden digitalen Prozessketten nicht anschlussfähig sind, lau­ fen Gefahr, mittel- bis langfristig aus den Wertschöpfungsketten herauszufallen (vgl. Kersten et al. 2017, S. 36). Darüber hinaus reduziert die digitale Transformation Markteintrittsbarrieren und schafft neue Marktzugänge, sodass branchenfremde Unternehmen in etablierte Wert­ schöpfungsketten eindringen und sich z. B. mit Hilfe von Online-Plattformen als In­ termediäre positionieren können. Start-up-Unternehmen analysieren gezielt, welche (gegebenenfalls neuen) Produkt- und Servicewünsche der Kunden mithilfe der Tech­ nologien und der Prozesse der Industrie 4.0 adressiert werden können. Im Ergebnis werden die neuen technischen Möglichkeiten konsequent zur bequemeren, schnel­ leren, flexibleren oder auch kostengünstigeren Befriedigung bestehender oder neu geweckter Kundenwünsche genutzt, wobei die hohe Geschwindigkeit der Umsetzung von der Idee bis zum Markteintritt ein weiteres charakteristisches Merkmal der digi­ talen Transformation ist (vgl. Delfmann et al. o. J., S. 7).

3 Geschäftsmodelle und Geschäftsmodellinnovation 3.1 Begriff des Geschäftsmodells Der Begriff des Geschäftsmodells wird in der Betriebswirtschaftslehre und angrenzen­ den Wissenschaftsdisziplinen seit Jahren vielfältig diskutiert. Zott, Amit und Massa

1290 | Wolfgang Kersten

(2011, S. 1019 f.) konnten in einer umfangreichen Analyse der wissenschaftlichen Li­ teratur aufzeigen, dass von 1995 bis 2011 mehr als 1100 wissenschaftliche Beiträge in internationalen Fachzeitschriften erschienen sind, die sich mit dem Begriff „Ge­ schäftsmodell“ beschäftigen. Das Verständnis des Begriffs „Geschäftsmodell“ bleibt jedoch unscharf (vgl. Al-Debei/Avison 2010, S. 359). Die Sichtweisen unterscheiden sich je nach Fachdisziplin der Autoren sowie nach der spezifischen Anwendungsdo­ mäne. Aber auch innerhalb der einzelnen Fachdisziplinen gibt es erhebliche Band­ breiten im Begriffsverständnis. Obwohl die Verwendung des Begriffs „Geschäftsmodell“ beziehungsweise „Busi­ ness Model“ in der Literatur bis 1960 zurückreicht, stellt die Entwicklung des E-Busi­ ness einen wesentlichen Ausgangspunkt für die aktuelle wissenschaftliche Diskus­ sion dar (vgl. Osterwalder 2004, S. 23). Timmers (1998, S. 4) definiert im Hinblick auf die sich herausbildenden Geschäftsmodelle im Internet ein Geschäftsmodell als Architektur der Leistungs- und Informationsflüsse einschließlich einer Beschreibung der Akteure, ihres Nutzens sowie der Ertragsquellen. In der Literatur werden in der Folge diverse weiterführende Abgrenzungen und Konkretisierungen vorgenommen. Schwerpunkte sind u. a.: – Die Nutzung des Geschäftsmodells als Gestaltungsrahmen zur zielorientierten Umsetzung der Unternehmensstrategie in internetgestützte Wertschöpfungspro­ zesse (transaktions- und prozessorientierte Perspektive; vgl. z. B. Amit/Zott 2001 sowie Veit et al. 2014), – die Positionierung und Nutzung des Geschäftsmodells in Relation zur Unterneh­ mensstrategie (strategieorientierte Perspektive; vgl. z. B. Magretta 2002; Seddon et al. 2004) sowie – die Ausgestaltung des Geschäftsmodells zur erfolgreichen Umsetzung von Inno­ vationen (innovationsorientierte Perspektive; vgl. z. B. Chesbrough/Rosenbloom 2002; Chesbrough 2010). Tabelle 2 verdeutlicht, dass das Geschäftsmodell-Verständnis der einzelnen Autoren und Disziplinen hinsichtlich der wesentlichen Komponenten zunehmend konver­ giert (vgl. auch Veit/Steininger 2012, S. 5). Die Gestaltung des Wertschöpfungspro­ zesses, das Nutzenversprechen und die Ertragsmechanik lassen sich als gemeinsame Kernelemente von Geschäftsmodellen identifizieren (vgl. z. B. Johnson/Christensen/ Kagermann 2008, S. 52 f.; Teece 2010, S. 191; Gassmann/Frankenberger/Csik 2013, S. 7). Geschäftsmodelle sollen deshalb nachfolgend als die Architektur des Wertschöp­ fungsprozesses zur Schaffung von Nutzen für Kunden und Wertschöpfungspartner sowie das darauf basierende Modell zur Erzielung von Erträgen verstanden werden. Industrie 4.0-Geschäftsmodelle entstehen, wenn Wertschöpfungsarchitektur, Nutzenversprechen und Ertragsmechanik durch Nutzung von Industrie 4.0-Technologien deutlich verändert werden (vgl. dazu die Definition von Veit et al. (2014, S. 59) zu digitalen Geschäftsmo­ dellen).

Geschäftsmodelle in der Industrie 4.0 |

1291

Tab. 2: Geschäftsmodell – Entwicklung des Begriffsverständnisses. Timmers (1998, S. 4)

„Definition of a business model: an architecture of the product, service and information flows, including a description of the various business actors and their roles; and a description of the potential benefits for the various business actors; and a description of the sources of revenues.“

Amit/Zott (2001, S. 511)

„A business model depicts the content, structure, and governance of transactions designed so as to create value through the exploitation of business opportunities.“

Chesbrough/Rosenbloom (2002, S. 529)

„A successful business model creates a heuristic logic that connects technical potential with the realization of economic value. The business model unlocks latent value from a technology, but its logic constrains the subsequent search for new alternative models for other technologies later on.“

Magretta (2002, S 88)

„They are, at heart, stories that explain how enterprises work. A good business model answers ... Who is the customer? And what does the customer value? It also answers...How do we make money in this business? What is the underlying logic that explains how we deliver value to customers at an appropriate cost?“

Johnson/Christensen/Kagermann „A business model, ..., consists of four interlocking elements, (2008, S. 51) that, taken together, create and deliver value“: customer value proposition, profit formula, key resources, and key processes. Osterwalder/Pigneur (2010, S. 14)

„A business model describes the rationale of how an organization creates, delivers, and captures value.“

Teece (2010, S. 191)

„A business model describes the design or architecture of the value creation, delivery and capture mechanism.“

Gassmann/Frankenberger/Csik (2013, S. 7)

Zusammenfassend ist ein Geschäftsmodell darüber definiert, wer die Kunden sind, was verkauft wird, wie man es herstellt und wie man einen Ertrag erzielt.

Veit et al. (2014, S. 56 und S. 59)

„Geschäftsmodelle kommen, insbesondere in IT-getriebenen und digitalen Unternehmen, als Werkzeug für die Abbildung, Innovation und Evaluation der Geschäftslogik zum Einsatz.“ „Ein Geschäftsmodell ist digital, wenn Veränderungen digitaler Technologien mit fundamentalen Auswirkungen auf die Durchführung des Geschäftsbetriebs sowie auf die generierten Einnahmen eines Unternehmens einhergehen.“

Geschäftsmodelle sind nicht identisch mit der Unternehmensstrategie sondern knüp­ fen daran an (vgl. Margretta 2002, S. 90 f.) und entwickeln daraus einen konkreten Rahmen (Architektur), auf dessen Basis einzelne Geschäftsprozesse z. B. in der Auf­ tragsabwicklung, Produktion und Logistik detailliert modelliert werden können. In­ sofern kommt Geschäftsmodellen eine wesentliche Schnittstellenfunktion zwischen Strategie und Geschäftsprozessen zu.

1292 | Wolfgang Kersten

3.2 Operationalisierung und Innovation von Geschäftsmodellen Wesentliche Voraussetzung für die Anwendung von Geschäftsmodellen im Unterneh­ menskontext ist eine Konkretisierung der einzelnen Elemente. Eine detaillierte und in Wissenschaft und Praxis vielfach genutzte Operationalisierung von Geschäftsmo­ dellen erfolgt durch Osterwalder und Pigneur (2010) mit dem Business Model Canvas sowie durch Gassmann, Frankenberger und Csik (2013) mit dem St. Galler Business Model Navigator. Osterwalder und Pigneur sehen ein Geschäftsmodell als konzeptionelles Werk­ zeug, das aus miteinander vernetzten Bausteinen besteht. Die enthaltenen neun Bau­ steine wurden aus einer Synopse der analysierten Geschäftsmodelldefinitionen in der Literatur (vgl. Osterwalder 2004, S. 45 f.) abgeleitet und in Kooperation mit 470 Praxis­ vertretern weiterentwickelt (vgl. hierzu und im Folgenden Osterwalder/Pigneur 2010, S. 16 ff.): Ausgangspunkt des Geschäftsmodelldesigns ist der Baustein Kundensegmente, der die zu bedienenden Kundengruppen (Personen oder Institutionen) definiert und als Grundlage für das Verständnis der Kundenanforderungen dient. Darauf aufbauend wird das Nutzenversprechen formuliert, das z. B. in der Lösung eines Problems einer spezifischen Kundengruppe bestehen und sich sowohl quantitativ als auch qualitativ ganz oder teilweise von am Markt verfügbaren Angeboten unterscheiden kann. Der dritte Baustein eines Geschäftsmodells sind die Kanäle für Kommunikation, Vertrieb und Distribution, über die die Kunden erreicht werden sollen. Die Kundenbeziehun­ gen, die mit jeder Kundengruppe aufgebaut und gepflegt werden, stellen den vierten Baustein dar. Aus dem erfolgreichen Angebot eines Nutzenversprechens an einzelne Kundengruppen lassen sich die Einnahmeströme ableiten. Dafür ist zu analysieren, wofür, in welcher Höhe und in welcher Form die Kunden bereit sind, für eine bestimm­ te Leistung zu bezahlen (vgl. Osterwalder/Pigneur 2010, S. 20–33). Weitere wesentliche Bausteine des Geschäftsmodells ergeben sich auf der Wert­ schöpfungsseite. Hier geht es zum einen um interne oder externe Schlüsselressourcen, die zur Erstellung der versprochenen Leistung befähigen, und damit für die Funkti­ onsfähigkeit des Geschäftsmodells unabdingbar sind. Zum anderen sind in Abhän­ gigkeit von der Branche und der jeweiligen Kundengruppe die zur Leistungserstel­ lung erforderlichen Schlüsselaktivitäten zu definieren. Hierzu ist ein Netzwerk von Lieferanten und Wertschöpfungspartnern zu definieren, die über verschiedene For­ men der Partnerschaft wie z. B. klassische Lieferantenbeziehungen oder auch strate­ gische Allianzen als Schlüsselpartner eingebunden werden. Als neunter und letzter Baustein eines Geschäftsmodells ist die Kostenstruktur zu definieren, die abgeleitet werden kann, wenn zuvor die Schlüsselressourcen, Schlüsselaktivitäten und Schlüs­ selpartnerschaften definiert worden sind (vgl. Osterwalder/Pigneur 2010, S. 34–41). Osterwalder und Pigneur (2010, S. 42–44) haben diese neun Bausteine zu ei­ nem sogenannten Business Modell Canvas zusammengeführt (vgl. Abbildung 1). Der Begriff Canvas (Leinwand) symbolisiert, dass Geschäftsmodelle wie ein Kunstwerk

Geschäftsmodelle in der Industrie 4.0

Schlüssel partner

Schlüssel aktivitäten

Schlüssel ressourcen

Kostenstruktur

Nutzenversprechen

Kundenbeziehungen

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Kundensegmente

Kommunika tions-, Vertriebs - und Distributions kanäle

Einnahmeströme

Abb. 1: Business Model Canvas (Quelle: Osterwalder/Pigneur 2010, S. 44, eigene leicht modifizierte Übersetzung).

kreativ zu entwickeln sind. Der Business Model Canvas ermöglicht das Variieren der neun Bausteine unter Berücksichtigung der inhaltlichen Zusammenhänge. Damit eignet sich das Canvas-Konzept, um innovative Geschäftsmodelle zu entwickeln und immer wieder zu hinterfragen. Hierzu werden die Bausteine in mehreren Iterations­ schleifen und auch in verschiedenen Varianten durchlaufen, bis ein funktionsfähiges und in sich schlüssiges Geschäftsmodell entstanden ist. Ein weiterer praxisorientierter Ansatz zur Operationalisierung von Geschäftsmo­ dellen ist der St. Galler Business Model Navigator. Gassmann, Frankenberger und Csik (2013) haben damit eine im Vergleich zum Business Modell Canvas vereinfachte und trotzdem ganzheitliche Beschreibung von Geschäftsmodellen entwickelt. Aus ihrer Sicht kann aufgrund dieser Vereinfachung fokussierter diskutiert werden. Ihre Be­ schreibung von Geschäftsmodellen umfasst folgende vier Dimensionen, die jeweils anhand einer Leitfrage prägnant charakterisiert werden: Zunächst sind die zu adressierenden Kundensegmente zu definieren, da der Kun­ de stets im Zentrum eines Geschäftsmodells steht. Die erste Leitfrage lautet deshalb „Wer sind unsere Zielkunden?“. Im zweiten Schritt ist die Leistungsdimension des Geschäftsmodells (das Nutzenversprechen) zu beschreiben. „Was bieten wir unseren Kunden an?“, lautet die Leitfrage dazu. Die dritte Dimension analysiert anhand der Frage „Wie stellen wir die Leistung her?“ den Prozess der Leistungserstellung (die Wertschöpfungskette). Die vierte und letzte Dimension betrachtet die Ertragsmecha­ nik des Geschäftsmodells, also auf welche Weise Gewinne erzielt werden sollen: „Wie wird Wert erzielt?“ (vgl. Gassmann/Frankenberger/Csik 2013, S. 5 f.).

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Add-on Flatrate Freemium Was? Nutzen verspre chen

...

Wer? Zielkunden Wert? Ertrags mecha nik

55 Geschäfts modellmuster Wie? Wertschöpfung

Abb. 2: Ideenfindung im St. Galler Business Model Navigator (Quelle: Gassmann/Frankenberger/ Csik 2013, S. 6 und S. 33, modifizierte Darstellung).

Anhand dieser Dimensionen und Fragen kann ein Geschäftsmodell analysiert und innovativ weiterentwickelt werden. Als Faustregel geben Gassmann, Frankenber­ ger und Csik (2013, S. 9) an, dass mindestens zwei der vier Geschäftsmodell-Dimen­ sionen verändert werden müssen, um eine echte Geschäftsmodellinnovation zu er­ zielen. Ihre Analyse branchenrelevanter Geschäftsmodellinnovationen der letzten 50 Jahre führte zu dem Ergebnis, dass sich einzelne Elemente der Geschäftsmodelle in unterschiedlichen Kombinationen immer wieder wiederholen. Mehr als 90 % der untersuchten Geschäftsmodellinnovationen enthalten aus anderen Geschäftsmodell­ innovationen bekannte Elemente, die angepasst und rekombiniert worden sind. Im Ergebnis konnten 55 Muster erfolgreicher Geschäftsmodellinnovationen identifiziert werden, an denen sich Unternehmen bei der Neuformulierung ihres Geschäftsmodells orientieren können. Die Spannbreite der identifizierten Muster mit Digitalisierungs­ bezug reicht von „Add-on“ über „Flatrate“ und „Freemium“ bis hin zu „Lock-in“ und „Self-Service“ (vgl. dazu Gassmann/Frankenberger/Csik 2013, S. 75 ff. sowie alle Muster im Überblick S. 267–280). Mit der Operationalisierung der Geschäftsmodelle durch Osterwalder und Pi­ gneur sowie Gassmann, Frankenberger und Csik liegt eine Basis vor, die zur systema­ tischen Entwicklung neuer oder erweiterter Geschäftsmodelle genutzt werden kann. Auf diese Weise können sowohl inkrementelle als auch radikale Weiterentwicklun­ gen des Geschäftsmodells generiert werden (vgl. Schallmo/Rusnjak 2017, S. 8). Der Unterschied besteht darin, dass die dominante Branchenlogik bei der inkrementel­ len beziehungsweise evolutionären Weiterentwicklung bestehen bleibt, während sie bei der radikalen beziehungsweise revolutionären Geschäftsmodellinnovation stark verändert wird. Bezogen auf Geschäftsmodelle in der Industrie 4.0 bedeutet dies, dass evolutionäre Geschäftsmodellentwicklungen die Technologien der Industrie 4.0

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eher zur Effizienz- und Flexibilitätssteigerung nutzen sowie Produkte und Leistungen digital aufwerten oder ergänzen. Bei revolutionären Geschäftsmodellinnovationen liegt der Fokus dagegen auf einem neuartigen Nutzenversprechen, das z. B. über die Etablierung eines neuen Ökosystems und häufig in Verbindung mit neuen Wertschöp­ fungspartnern erreicht wird (vgl. Demont/Paulus-Rohmer 2017, S. 99 f.). Vielen Unternehmen fällt es jedoch schwer, über grundsätzliche Alternativen zu der jeweils bestehenden Branchenlogik nachzudenken. Die eingangs gezeigten Bei­ spiele lassen jedoch erkennen, dass dies unumgänglich ist. Eine mögliche Vorgehens­ weise besteht darin, nicht nur in der eigenen oder einer ähnlichen Branche nach Ge­ schäftsmodellmustern zu suchen, sondern das eigene Geschäft mit innovativen Ge­ schäftsmodellen aus anderen Branchen zu konfrontieren (vgl. Gassmann/Csik 2012, S. 44 ff.). Hierbei ist die Frage hilfreich, wie Geschäftsmodellinnovatoren aus anderen Branchen das Geschäftsmodell in der eigenen Branche ausgestalten würden. Mit Blick auf die Industrie 4.0 und die digitale Transformation kommen hier z. B. erfolgreiche Technologieunternehmen wie Amazon, Apple, Facebook oder Google in Betracht. Die Frage lautet dann also: wie würden Amazon, Apple, Facebook oder Google etc. das Geschäftsmodell in unserer Branche ausgestalten (vgl. ähnlich Gassmann/Csik 2012, S. 46). Dies lässt sich nicht nur allgemein auf der Unternehmensebene sondern auch auf der Ebene konkreter Geschäftsmodellmuster durchführen. Beispielsweise finden sich bei Unternehmen oder Plattformen wie XING und Wunderlist Freemium-Model­ le, bei Google und Facebook Hidden-Revenue-Modelle, bei Spotify und Deezer Flat­ rate-Modelle sowie bei Amazon Kindle ein Lock-in-Modell. Besonders interessant im Hinblick auf die Industrie 4.0 sind auch die Plattformmodelle von Airbnb, Uber und Ebay sowie die Ökosysteme von Google Android und Apple iOS. In diesen und an­ deren Geschäftsmodellbeispielen finden sich vielfältige Anregungen, um das eigene Geschäftsmodell und die bestehende Branchenlogik aus der Perspektive der Digitali­ sierung zu hinterfragen.

3.3 Ansatzpunkte zur Veränderung von Geschäftsmodellen durch Industrie 4.0 Ausgangspunkt der Analyse möglicher Veränderungen von Geschäftsmodellen durch die Industrie 4.0 sind die in Abschnitt 3.2 dargestellten Ansätze zur Operationalisie­ rung von Geschäftsmodellen. Deren Dimensionen, Leitfragen und Bausteine werden in Abbildung 3 zu einer integrierten Darstellung zusammengeführt, so dass sich ex­ emplarisch Veränderungen zuordnen lassen, die mit den neuen Technologien der In­ dustrie 4.0 einhergehen: Im kundenbezogenen Bereich (Wer?) ergeben sich Möglichkeiten zur Erweiterung der Kundensegmente durch die technischen Möglichkeiten zur Individualisierung und wirtschaftlichen Bedienung kleinster Nischenmärkte. Auch in den Kundenbezie­ hungen sind in der Industrie 4.0 Veränderungen möglich. Diese reichen von datenge­

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Wer? Zielkunden Kundensegmente Individualprodukte Nischenmärkte ... Kundenbeziehungen Datengestützte Services Kundenintegration in Produktion und Entwicklung ... Kanäle für Kommunikation, Vertrieb und Distribution Direktbestellung durch Maschine Online-Vertrieb Konfiguratoren Plattformen ...

Was? Nutzenversprechen Nutzenversprechen Individualisierung Transparenz Flexibilität Reaktionsfähigkeit Smarte Produkte Ökosysteme ...

Wie? Wertschöpfungskette SchlüsselPartner Neue Partner für IT, digitale Infrastruktur und Cloud-Services Innovatoren wie Start-upUnternehmen, Universitäten/ Hochschulen und Forschungseinrichtungen ... SchlüsselAktivitäten Datenerfassung Datennutzung ...

Wert? Ertragsmechanik Einnahmequellen Serviceleistungen Plattformgeschäfte Teilen von Kapazitäten ...

KostenStrukturen Produktivitätssteigerung Qualitätsverbesserung Losgröße 1 ...

SchlüsselRessourcen Sensorik Mobile Endgeräte Augmented Reality Qualifizierte Mitarbeiter und Führungskräfte Kow-how ...

Abb. 3: Exemplarische Veränderungen in den Geschäftsmodelldimensionen durch Industrie 4.0 (Quelle: eigene Darstellung aufbauend auf Gassmann/Frankenberger/Csik 2013, S. 6 und 46 sowie Osterwalder/Pigneur 2010, S. 44).

stützt verbesserten Serviceangeboten bis hin zur direkten Einbeziehung der Kunden in den Produktions- und Entwicklungsprozess. Vor allem aber sind die Kanäle zum Kunden direkt von den neuen digitalen Technologien betroffen. Dies reicht von Bestel­ lungen, die automatisiert durch Maschinen ausgelöst werden, über Konfiguratoren bis hin zum Angebot eigener oder der Nutzung fremder Plattformen. Auch der Bereich des Nutzenversprechens (Was?) wird durch die Industrie 4.0 vielfältig beeinflusst. Hier geht es beispielsweise um Individualisierungsmöglichkei­ ten, um höhere Transparenz im Produktions- und Lieferprozess sowie um höhere Fle­ xibilität und Reaktionsfähigkeit. Weitere mögliche Elemente eines neuartigen Nutzen­

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versprechens in der Industrie 4.0 sind „smarte Produkte“, die beispielsweise eine ver­ besserte Funktionalität oder eine vereinfachte Bedienbarkeit ermöglichen. Aber auch der Aufbau eines Ökosystems mit der Möglichkeit für den Kunden auf passende An­ gebote von Partnern wie z. B. Anwendungsprogramme, Daten oder Serviceleistungen zugreifen zu können, kann Bestandteil eines neuartigen Nutzenversprechens sein. Erwartungsgemäß wird der Bereich, der sich mit der Frage der Leistungserstellung (Wie?) beschäftigt, besonders stark durch Industrie 4.0 und digitale Transformation beeinflusst. So stellt sich bei den Schlüsselpartnern für produzierende Unterneh­ men die Frage, welche neuen Schlüsselpartner zu berücksichtigen sind. Dies können neben den bereits etablierten Partnerschaften aus der bestehenden Wertschöpfungs­ kette z. B. verstärkt IT-Unternehmen, Anbieter digitaler Infrastruktur und Cloudbasierter-Dienstleistungen sein. Als weitere Gruppe möglicher neuer Schlüsselpartner kommen Innovatoren wie z. B. Start-up Unternehmen, Universitäten und Forschungs­ einrichtungen hinzu. Neben der Identifikation geeigneter Partner sind auch tragfähi­ ge Prozesse für die Zusammenarbeit abzustimmen. Häufig ist dabei ein erheblicher Unterschied in Arbeitsweisen und Unternehmenskultur (Hardware- vs. Internetkul­ tur; vgl. Fleisch/Weinberger/Wortmann 2015, S. 459 f.) zu den neuen Partnern zu berücksichtigen. Bei den Schlüsselaktivitäten kommen mit Industrie 4.0 insbeson­ dere Prozesse der internen und externen Erfassung, Auswertung und Nutzung von Zustandsdaten der Maschinen, Anlagen und Transportmittel hinzu. Aber auch die Nutzung weiterer interner und externer Datenbestände im Sinne von Data Analytics wird in Geschäftsmodellen der Industrie 4.0 zum Schlüsselprozess. Bei den Schlüs­ selressourcen kann beispielsweise die Aufrüstung von Anlagen und Transportmitteln mit Sensoren sowie die Ausstattung mit mobilen Endgeräten oder Devices für Aug­ mented beziehungsweise Virtual Reality von Bedeutung sein. Hinzu kommen Tech­ nologien wie Roboter, Fahrerlose Transportsysteme und 3D-Druck. Ganz besonders zu berücksichtigen ist aber auch, dass entsprechend qualifizierte Mitarbeiter und Führungskräfte verfügbar seien müssen (vgl. z. B. Delfmann et al. o. J., S.16; von See/ Kersten 2017, S. 103 f.). Auswirkungen der Industrie 4.0 ergeben sich auch für den vierten und letzten Bereich, der die Ertragsmechanik abbildet (Wert?). Möglich sind zusätzliche Einnah­ men aus neuen Serviceleistungen, Plattformgeschäften und dem automatisierten Tei­ len freier Produktionskapazitäten. Besondere Bedeutung bei den Kostenstrukturen kommt den Produktivitätssteigerungen zu, die parallel zur Flexibilitätserhöhung rea­ lisiert werden können (vgl. Wildemann 2018, S. 60). Insgesamt ist zu erkennen, dass viele Elemente, die durch Industrie 4.0 in neue Geschäftsmodelle einfließen können, durchaus bekannt sind, aber durch die neuen technologischen Möglichkeiten auf ein neues Leistungsniveau gebracht werden. Bei der Ausgestaltung eines Industrie 4.0-Geschäftsmodells kommt aufgrund der vielfäl­ tigen Herausforderungen dem Partnernetzwerk besondere Bedeutung zu. Der VDI hat deshalb den VDI Industrie 4.0 Canvas entwickelt, der dazu geeignet ist, digitale Ge­ schäftsmodelle abzubilden und dabei zusätzlich die Perspektive komplexer Partner­

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Externes Nutzenversprechen Verlässlichkeit − Zuverlässigkeit der Mitwirkung − Nachhaltigkeit von Qualität und Verfügbarkeit

Wertbeitrag − Beitrag zur Wertschöpfung im Netzwerk − Mehrwert der Einbindung

Interne Prozesse

Integration − Technische und organisatorische Voraussetzungen − Rechtliche und ethische Voraussetzungen Partner: Rolle: Werttreiber − Relevante Fähigkeiten, Prozesse und Ressourcen − Erfahrung und Eignung für das Netzwerk

Input-OutputStröme Abb. 4: Partneranalyse im VDI Industrie 4.0 Canvas (Quelle: VDI/VDE 2016, S. 20, modifizierte Dar­ stellung).

strukturen und Ökosysteme einzubringen (vgl. VDI/VDE 2016, S. 17 f.). Dazu werden die vier Dimensionen Wertbeitrag, Werttreiber, Verlässlichkeit und Integration defi­ niert: Für die Erstellung des VDI Industrie 4.0 Canvas wird danach gefragt, – welchen Beitrag ein Partner zur Wertschöpfung im Netzwerk leistet (Wertbeitrag), – welche Fähigkeiten, Prozesse und Ressourcen ein Partner mitbringt, um seinen Wertbeitrag zu leisten (Werttreiber), – wie zuverlässig die Mitwirkung des Partners im Netzwerk im Hinblick auf Verfüg­ barkeit und Qualität ist (Verlässlichkeit) und – welche technischen, organisatorischen und personellen Voraussetzungen ein Partner für seine Einbindung in das Wertschöpfungsnetzwerk mitbringt (Integra­ tion) (vgl. VDI/VDE 2016, S. 20 ff.). Diese Analyse wird für jeden Partner im Netzwerk erstellt. Darüber hinaus werden die Austauschbeziehungen zwischen den einzelnen Partnern in Form von Wertströmen visualisiert (vgl. VDI/VDE 2016, S. 27 ff.). Damit fokussiert der VDI Industrie 4.0 Canvas auf die Analyse und Gestaltung netzwerkartiger Geschäftsmodellstrukturen und bil­ det diese unter Einbeziehung wesentlicher Dimensionen des Business Model Canvas auf der Ebene der Netzwerkpartner differenziert ab. Dies stellt für die Entwicklung von Geschäftsmodellen in der Industrie 4.0 eine gute spezifische Ergänzung zu den globa­ leren Ansätzen Business Model Canvas und St. Galler Business Model Navigator dar.

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4 Beispiele innovativer Geschäftsmodelle in der Industrie 4.0 Die digitale Transformation und die Umsetzung der Industrie 4.0 in produzierenden Unternehmen und insbesondere im Mittelstand steht vielfach noch am Anfang. Nur et­ wa 2–3 % der Unternehmen aus Produktion und Logistik haben bislang ihr Geschäfts­ modell umfassend digitalisiert. Ein weiteres Drittel hat zumindest damit begonnen (vgl. Kersten et al. 2017, S. 56). Dennoch finden sich bereits jetzt erfolgreiche Beispie­ le für Geschäftsmodellinnovationen in Verbindung mit Industrie 4.0, die nachfolgend anhand des Maschinenbaus exemplarisch betrachtet werden.

4.1 Sensor- und datenanalysebasiertes Geschäftsmodell Dass Veränderungen des Geschäftsmodells durch neue Wettbewerber von außen er­ forderlich werden können, zeigt das Beispiel von General Electric (GE). General Elec­ tric sah sich zu Beginn dieses Jahrzehnts der Gefahr ausgesetzt, die wichtigsten Kun­ den an branchenfremde Wettbewerber wie IBM und SAP sowie Start-up-Unternehmen auf dem Gebiet der Analyse großer Datenmengen zu verlieren. General Electric führte daraufhin 2011 die sogenannte Industrial Internet Initiative ein und rüstete Maschinen mit Sensoren aus, die mit einer Cloud-basierten-Plattform verbunden sind. Gleichzei­ tig investierte GE mit einer engen Kooperation und Beteiligung intensiv in den Auf­ bau von Fähigkeiten zur Datenanalyse (vgl. Iansiti/Lakhani 2014, S. 91 f.; Schallmo/ Rusnjak 2017, S.12 f.). Der Schwerpunkt der neuen GE-Geschäftsmodelle liegt auf der Sammlung und Analyse von Daten, auf deren Basis spezifische Vertragsmodelle und Serviceangebote für die Kunden entwickelt werden. So wurde beispielsweise mit dem Energiekonzern E.ON eine Vereinbarung abgeschlossen, die anstelle von Erweiterun­ gen der E.ON-Windparks Investitionen in Sensoren und Hardware vorsah, um Echt­ zeitanalysen der Daten und über eine entsprechende Steuerung eine höhere Effizienz der Windenergieanlagen zu ermöglichen. GE verzichtete also bewusst auf den Ver­ kauf von Windenergieanlagen-Hardware, um den Kunden E.ON durch datenbasierte Dienstleistungen langfristig zu binden. Einnahmen werden über eine Beteiligung an dem Nutzen, der bei E.ON entsteht, erzielt und als Prozentsatz der erzielten Leistungs­ verbesserungen berechnet (vgl. Obermaier 2016, S. 27). Vergleichbare Modelle hat GE auch in anderen Sparten wie z. B. der Flugzeugtur­ binen-Sparte implementiert, in der ebenfalls datenbasiert nach Flugleistung abge­ rechnet wird. Ein besonderes Augenmerk bei der Umsetzung des neuen Geschäftsmo­ dells legte GE auf den Aufbau entsprechender Kapazitäten zur Software-Entwicklung und Datenanalyse und das Ausrollen dieser Software-Initiative auf alle Geschäfts­ bereiche (vgl. Iansiti/Lakhani 2014, S. 94 ff.). In diesem Beispiel erfolgen Verände­ rungen in allen vier Geschäftsmodelldimensionen. Grundsätzlich lässt sich diese

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Geschäftsmodellinnovation als revolutionär einstufen, da die dominante Branchen­ logik signifikant verändert wird. Allerdings bleibt das klassische Neuanlagen- und Retrofit-Geschäft parallel dazu bestehen. Eindrucksvoll ist zudem, mit welcher Konse­ quenz der Umbau von GE im eigenen Unternehmen und in der Wertschöpfungskette vorangetrieben wurde, um Geschäftsmodellinnovationen in der Industrie 4.0 breit umsetzen zu können.

4.2 Plattformbasierte Geschäftsmodelle Einen großen Schritt in Richtung eines innovativen plattformbasierten Geschäftsmo­ dells geht aktuell der Werkzeugmaschinenhersteller TRUMPF, der sich u. a. auf Stanz-, Nibbel- und Laserschneidmaschinen spezialisiert hat. Eine besondere Problematik beim Laserschneiden ist, dass die Prozessparameter wie Vorschubgeschwindigkeit und die Parameter der Laserstrahlung wie Leistung und Pulsdauer an das zu bear­ beitende Material und die erforderliche Genauigkeit angepasst werden müssen. Opti­ mierte Prozessparameter führen zu erhöhter Wirtschaftlichkeit des Fertigungsprozes­ ses und einer verbesserten Nutzung der vorhandenen Anlagenkapazität, setzen beim Anlagenbetreiber allerdings erhebliches Know-how beziehungsweise aufwendige ei­ gene Versuchsreihen voraus (vgl. Grünert/Sejdic 2017, S. 38). TRUMPF greift diesen Be­ darf mit seiner Geschäftsmodellinnovation eines Technologiedaten-Marktplatzes auf. Neben der klassischen Wertschöpfungskette, bei der der Werkzeugmaschinenherstel­ ler seine Maschinen an produzierende Unternehmen verkauft, wird mit dem Techno­ logiedaten-Marktplatz eine digitale Serviceplattform geschaffen. Bei dieser Service­ plattform können sich weitere Marktteilnehmer registrieren und gegen Entgelt die von ihnen für spezifische Anwendungsfälle optimierten Prozessparameter zur Verfügung stellen. TRUMPF hat wegen der erforderlichen IT-Infrastruktur und Kompetenzen den Marktplatz als eigenes Unternehmen unter dem Namen AXOOM ausgegründet (vgl. Grünert/Sejdic 2017, S. 39–42). Mittlerweile ist über die Technologiedaten hinaus eine digitale Serviceplattform entstanden, die sowohl für Anwenderunternehmen aus der produzierenden Industrie als auch andere Anbieter offen ist. Wie bei mobilen Plattfor­ men gibt es Möglichkeiten, eigene Apps zu erstellen und über diese Plattform anzu­ bieten, so dass sich ein spezifisches Ökosystem entwickeln kann. Damit verändert die­ se Geschäftsmodellinnovation die Branchenlogik deutlich und ergänzt das klassische Maschinengeschäft. Auch in diesem Beispiel führt die Geschäftsmodellinnovation zu Veränderungen in allen vier Geschäftsmodelldimensionen und beeindruckt durch die konsequente Umsetzung mit Ausgründung einer Tochtergesellschaft. Ebenfalls eine plattformbasierte Geschäftsmodellinnovation hat der Landma­ schinenhersteller Claas mit der von ihm initiierten Plattform 365FarmNet eingeführt. Über diese Plattform wird Landwirten der Einstieg in das sogenannte „Smart Far­ ming“ ermöglicht. Dabei ist der Grundbaustein, die sogenannte Ackerschlagkartei, für die Landwirte kostenlos. Weitere Bausteine können die Landwirte gegen ein mo­

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natliches Entgelt hinzubuchen. Im Kern handelt es sich also um ein Software as a Service (SaaS)-Modell, das nach dem Freemium-Prinzip funktioniert. Voraussetzung für den Erfolg war die Ausgründung, die die Kooperation mit anderen Anbietern über ein Plattformmodell ermöglicht, das zusätzlichen Nutzen für die Kunden schafft (vgl. Demont/Paulus-Rohmer 2017, S. 122). Mit zunehmender Erweiterung und Nutzung der Plattformangebote entsteht nicht nur für die Landwirte ein Zusatznutzen, sondern es wird auch ein für die Anbieter wünschenswerter Lock-In-Effekt erzielt, da ein Wech­ sel nur noch mit erheblichem Aufwand möglich ist. Die Firma Claas schafft sich mit der Tochtergesellschaft 365FarmNet also neben dem klassischen Landmaschinen­ geschäft durch ein innovatives Geschäftsmodell ein zusätzliches entwicklungsfähi­ ges Geschäftsfeld, das deutlich über die bislang hardwaredominierte Branchenlogik hinausgeht. Zugleich werden wertvolle Erfahrung mit dem digitalen Zugang zu den Kunden gesammelt. Auch in diesem Fall werden Veränderungen in allen vier Ge­ schäftsmodelldimensionen vorgenommen.

5 Fazit und Ausblick Die Beispiele zu Geschäftsmodellen in der Industrie 4.0 belegen, dass erfolgreiche Ge­ schäftsmodellinnovationen durch Industrie 4.0 möglich sind. Auch wenn der Nutzen von Industrie 4.0 vielfach eine Erkenntnis a priori darstellt (vgl. Delfmann et al. o. J., S. 6), ist es erforderlich, dass sich produzierende Unternehmen aktiv mit den Möglich­ keiten der neuen Technologien auseinandersetzen. Die betrachteten Beispiele zeigen, dass erfolgreiche Geschäftsmodelle einen umfangreichen Kompetenz- und Ressour­ cenaufbau voraussetzen. Dies benötigt Zeit, führt aber auch dazu, dass Erfahrung mit den neuen Technologien und Prozessen gesammelt werden. Entscheidend ist, dass die Industrie 4.0 nicht nur aus der bestehenden Branchenlogik heraus betrachtet wird, sondern die Geschäftslogik digitalisierter Märkte und ihrer Akteure verstanden wird. Der Business Model Canvas, der St. Galler Business Model Navigator sowie der VDI Industrie 4.0 Canvas bieten hierzu mit den entsprechenden Leitfragen eine struktu­ rierte Vorgehensweise. Zu beachten ist allerdings, dass innovative Geschäftsmodelle der Industrie 4.0 in den meisten Unternehmen voraussichtlich nicht ohne Weiteres in den bestehenden Strukturen umgesetzt werden können. Vielmehr ist ein breit ange­ legter Wandel des Unternehmens erforderlich, der Führungskräfte, Mitarbeiter und Organisation vorbereitet und auch die Risiken digitaler Prozesse in der Industrie 4.0 konzeptionell adressiert.

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Kai-Ingo Voigt, Julian Müller, Johannes Veile und Lukas Maier

Logistik 4.0 1 2 3 3.1 3.2 4

Einleitung | 1304 Industrie 4.0 als Grundlage für Logistik 4.0 | 1305 Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die Logistik | 1308 Intralogistik | 1309 Interlogistik | 1315 Zusammenfassung | 1317 Literatur | 1318

Zusammenfassung. Logistik 4.0 bietet ökonomische Potentiale für die Intra- und die Interlogistik, da eine Steigerung in Effizienz, Geschwindigkeit, Flexibilität und Reakti­ onsfähigkeit sowie Qualität von Logistikprozessen erreicht werden kann. Logistik 4.0 kann dabei helfen Fehllieferungen und Leerfahrten zu vermeiden sowie Transport­ routen zu optimieren oder ganz zu vermeiden und damit auch aus ökologischer Sicht zu Vorteilen verhelfen. Sozial stehen vor allem die Verbesserung der Arbeitsbedingun­ gen, die Unterstützung der Arbeiter bei manuellen Tätigkeiten sowie die Verringerung der repetitiven und monotonen Tätigkeiten im Fokus. Insgesamt lässt sich deshalb die Logistik 4.0 mit den in diesem Beitrag dargelegten Potentialen auf die Tripple-BottomLine der Nachhaltigkeit beziehen, wobei in allen drei Dimensionen, Ökonomie, Ökolo­ gie und Soziales, einzelne Potentiale kombiniert und somit in ihrer Wirkung verstärkt werden können.

1 Einleitung Das Thema Industrie 4.0 beschäftigt die Wissenschaft und Praxis gleichermaßen und eine zunehmende Zahl an Projekten und Publikationen in diesem Themenfeld ist zu beobachten. In den meisten Fällen wird die Thematik bisher vor allem auf die Produk­ tion bezogen und rein unternehmensintern betrachtet. Es sollte jedoch nicht verges­ sen werden, dass die prognostizierten Potentiale infolge der intelligenten Vernetzung der Wertschöpfungsprozesse nur dann vollständig erschließbar sind, wenn diese Ver­ netzung auch zwischen Unternehmen geschaffen wird. Eine Vernetzung sollte nicht nur zwischen einzelnen Unternehmen, sondern zwischen gesamten Wertschöpfungs­ ketten geschaffen werden (vgl. Kagermann/Wahlster/Helbig 2013; Lasi et al. 2014). Da­ für sind die Inter- wie auch die Intralogistik gleichermaßen tangiert, da diese sowohl Schnittstellen als auch Medien für Material- und Informationsflüsse zwischen Unter­ nehmen darstellen. Dieser Beitrag widmet sich der Frage, wie sich Technologien im Rahmen des Konzeptes Industrie 4.0 auf die Logistik anwenden lassen. Entsprechend https://doi.org/10.1515/9783110473803-064

Logistik 4.0 |

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werden die Auswirkungen auf die Intralogistik sowie die Interlogistik durch Industrie 4.0-Technologien betrachtet. Dabei werden Beispiele aus Forschung und praktischer Anwendung angeführt, auch zu dem englischsprachigen Pendant „Smart Logistics.“

2 Industrie 4.0 als Grundlage für Logistik 4.0 Im Zeitalter der Industrialisierung führten technische Innovationen wiederholt zu Paradigmenwechseln, die ex post als „Industrielle Revolutionen“ bezeichnet werden (vgl. Lasi et al. 2014). Ende des 18. Jahrhunderts läutete die Nutzung von Wasser- und Dampfkraft für mechanische Produktionsanlagen die erste industrielle Revolution ein. Die arbeitsteilige Massenproduktion und die Elektrifizierung waren Kennzeichen der zweiten industriellen Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine zuneh­ mende Automatisierung sowie der fortschreitende Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) ab den 1970er Jahren begründeten die dritte in­ dustrielle Revolution (vgl. Bauernhansl 2014; Drath/Horch 2014; Kagermann/Lukas/ Wahlster 2011). Als zentraler Baustein der Automatisierung auf Unternehmensebene fungieren dabei Enterprise-Resource-Planning (ERP)-Systeme zur Unterstützung von Verwaltung und Planung (vgl. Milberg/Neise 2006; Schlick et al. 2014). Die High-Tech-Strategie der Bundesregierung beschreibt mit „Industrie 4.0“ den Beginn einer vierten industriellen Revolution seit diesem Jahrzehnt (vgl. Kagermann/ Wahlster/Helbig 2013). Dabei wird ein technologischer Wandel a priori eingeläutet, während vorherige industrielle Revolutionen erst im Nachhinein als solche bezeich­ net wurden (vgl. Drath/Horch 2014). Industrie 4.0 ist dabei als Zukunftsvision zu ver­ stehen, deren Potential erst durch ihre praktische Realisierung gehoben werden kann (vgl. Drath/Horch 2014, Lasi et al. 2014). Da die technischen Grundlagen, die zur Um­ setzung benötigt werden, bereits seit einiger Zeit existieren, die praktische Umsetzung sich jedoch erst nach und nach entwickelt, ist Industrie 4.0 in einigen Aspekten mehr als Evolution denn als Revolution anzusehen (vgl. Sendler 2013). Erstmalig eingeführt wurde der Begriff „Industrie 4.0“ durch die Promotorengrup­ pe „Kommunikation der Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft“ im Januar 2011 in ihren Handlungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 der deutschen Bundesregierung im Rahmen der Hightech-Strategie 2020 (vgl. Kagermann/Wahlster/ Helbig 2013). Die Verbreitung des Begriffes wurde durch die Publikation von Kager­ mann, Lukas und Wahlster (2011) im zeitlichen Umfeld der Hannover Messe und durch die 2013 erschienenen Umsetzungsempfehlungen im Zuge des Abschlussberichts des Arbeitskreises Industrie 4.0 unterstützt (vgl. Kagermann/Wahlster/Helbig 2013). In­ dustrie 4.0 beschreibt dabei eine „echtzeitfähige, intelligente, horizontale und verti­ kale Vernetzung von Menschen, Maschinen, Objekten und IKT-Systemen“ (vgl. Bauer et al. 2014). Ramsauer (2013) ergänzt, dass Industrie 4.0 ein neues Leitbild für die in­ dustrielle Wertschöpfung darstellt, welches aus den aktuellen Innovationen der Infor­

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mations- und Kommunikationstechnologien und deren Nutzung in der industriellen Produktion hervorgeht. Für die technische Realisierung der Vernetzung im Rahmen von Industrie 4.0 sind eine Reihe neuer Technologien notwendig. Darunter fallen im Kontext der Logistik ins­ besondere der Einsatz von Cyber-Physischen Systemen (CPS), die Nutzung von Iden­ tifikationstechnologien, wie beispielsweise Radio Frequency Identification (RFID) so­ wie von Cloud Computing und digitalen Plattformen. Diese Begriffe werden im Fol­ genden kurz erläutert. CPS sind ein zentraler Bestandteil von Industrie 4.0. CPS beruhen auf Objekten wie beispielsweise Behältern, Materialien oder ganzen Produktionsanlagen, die durch die Ausstattung mit Sensoren, Mikrocontrollern und Kommunikationssystemen zu so­ genannten „Embedded Systems“ werden. Durch die Sensoren ist es möglich, Daten zu sammeln, die durch den eingebauten Mikrocontroller auch gleich verarbeitet werden (vgl. Bauer et al. 2014). Im Mittelpunkt steht dabei, dass die intelligenten, auch als „sozial“ bezeichneten, Maschinen und andere intelligente Objekte untereinander In­ formationen austauschen. Diese Informationen können beispielsweise Aufträge, Zu­ stände, Abläufe oder auch Termine sein, welche ausgetauscht werden, um die Auslas­ tung und die Qualität zu verbessern oder auch Wartezeiten zu reduzieren (vgl. Bauer et al. 2014). Die Möglichkeit, Informationen aufzunehmen und gleichzeitig zu verar­ beiten, zeichnet die Objekte als intelligente Objekte aus (vgl. Hirsch-Kreinsen 2014; Spath 2013). Durch die Vernetzung von Menschen, Gütern und Maschinen entstehen Systeme, die dann als CPS bezeichnet werden. Diese Systeme können sich untereinan­ der temporär für Aufgaben zusammenschließen und auch wieder trennen (vgl. Bauer et al. 2014). Entsprechend definiert Lee (2008) CPS als eine Zusammenführung von virtuellen und physischen Prozessen. Diese Definition erweitert Broy (2010) um die Verbindung zwischen physischer und digitaler Welt und er beschreibt diese als eine „Verbindung eingebetteter Systeme mit den Möglichkeiten weltweiter Netze“. Dadurch entstehen Verknüpfungen von Informations- und Softwaretechnologien mit mechani­ schen und elektronischen, zuvor rein passiven Teilen (vgl. Ramsauer 2013), die nun in intensivem Austausch mit ihrer Umgebung stehen und mit ihr interagieren (vgl. Majs­ torović et al. 2015). Digitale Identifikationstechnologien stellen einen weiteren entscheidenden Bau­ stein für die Logistik 4.0 dar. Hierbei ist eine der am häufigsten genutzten Technologi­ en RFID, welche allerdings keine neue Technologie darstellt, da die ökonomische Nut­ zung von Vorgängerlösungen bereits in den 1960er Jahren begann. RFID ist eine Infra­ struktur, durch die Fertigungs- und Prozessinformationen abgerufen und verfolgt wer­ den können (vgl. Zhang et al. 2012). Ursprünglich wurde die Technologie lediglich zur Identifikation von Objekten im Fertigungsprozess genutzt. Die Daten wurden aus einer zentralen Datenbasis abgerufen. Es bestand eine strikte Trennung zwischen Materialund Datenfluss. Durch eingebettete Systeme können in der Industrie 4.0 die Daten direkt am Objekt („data-on-tag“) gespeichert werden, anstatt diese in einer Zentral­ einheit abzulegen („data-on-network“) (vgl. Günthner/Chisu/Kuzmany 2010). Damit

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besteht eine direkte Kopplung von Material- und Informationsfluss (vgl. ten Hompel/ Kerner 2015). Durch RFID werden Objekte im Materialfluss eindeutig identifizierbar und lokalisierbar (vgl. Ramsauer 2013), weshalb Aufträge leicht verfolgt werden kön­ nen. Manuelle Eingriffe sind kaum noch notwendig, wodurch es zu weniger Verzöge­ rungen und Wartezeiten kommt (vgl. Zhong et al. 2015). Weitere wesentliche Vorteile liegen darin, dass durch RFID eine erhöhte Transparenz in der Fertigung besteht, wes­ halb Probleme in der Wertschöpfungskette früher erkannt werden, und ein schnellerer Materialfluss durch das kontaktlose Auslesen und die gleichzeitige Erfassung meh­ rerer Objekte erreicht werden kann (vgl. Liu 2011; Twist 2005; Zhong et al. 2015). Im Bereich der Logistik können zudem Ladungen und Wege effizienter werden, indem beispielsweise die Reihenfolge der Auftragsbearbeitung, Routen, Fahrzeuge oder die Picking-Strategie optimiert werden (vgl. Liu 2011; Twist 2005; Zhong et al. 2015). Di­ gitale Identifikationstechnologien führen insgesamt zu einem schnelleren, automati­ sierten und optimierten Prozess, wodurch die Produktivität gesteigert und die Kosten gesenkt werden können. Cloud Computing eröffnet die Möglichkeit, Daten zu jedem beliebigen Zeitpunkt von jedem beliebigen Ort abzurufen. Grundsätzlich stellt eine Cloud eine Plattform dar, mit deren Hilfe Daten gespeichert werden können (vgl. Bauer et al. 2014). Zudem können in der Cloud Dienstleistungen oder Anwendungen zu Verfügung gestellt wer­ den (vgl. Bauer et al. 2014). Eine Cloud kann dazu dienen, Daten zu sammeln, auf­ zubewahren, zu analysieren und zu verarbeiten (vgl. Li/Li 2017). Diese Daten kön­ nen dann als Planungsgrundlage Anwendung finden, Entscheidungen vorbereiten, aber auch zur Prozessausführung genutzt werden (vgl. Butner 2010). Ein wesentli­ cher Vorteil durch die Cloud liegt in der Transparenz der Daten. Diese können über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg genutzt werden und können Echtzeit-Infor­ mationen über den aktuellen Status des Prozesses sowie über den Materialfluss ent­ halten (vgl. Chien et al. 2012). Dies erlaubt eine bessere Planung unter höherer Si­ cherheit und eine Prozessauslösung auf Basis von Echtzeit-Daten (vgl. Butner 2010). Unter Echtzeit-Informationsfluss wird eine mit dem angeschlossenen Prozess „schritt­ haltende Datenverarbeitung“ verstanden (vgl. Libert/Roidl 2010). Zudem befähigt die Cloud-Lösung Unternehmen dazu, große Datenmengen zu verarbeiten (vgl. Bauer et al. 2014). Witkowski (2017) beschreibt Volumen, Vielfalt, Geschwindigkeit und Wert als vier Dimensionen von „Big Data“, die in diesem Zusammenhang entstehen. Die Datenmengen stammen aus Prozessen und Vorgängen sowie von allen beteiligten Per­ sonen und Vorrichtungen (vgl. Brzozowska 2016), weshalb sich ein hohes Datenvo­ lumen und eine große Datenvielfalt ergeben. Darüber hinaus ergänzen ten Hompel, Kirsch und Kirks (2014), dass ein hohes Datenvolumen auf die „Verzahnung software­ technischer Komponenten mit mechanischen und elektronischen Teilen“ zurückzu­ führen ist. Die Geschwindigkeit rührt von der Echtzeit-Verfügbarkeit der Informatio­ nen her (vgl. Witkowski 2017). Die Dimension „Wert“ subsumiert die Relevanz bezie­ hungsweise die Nutzbarkeit der Daten (vgl. Witkowski 2017). Die Aufgabe der Cloud besteht darin, die richtigen Informationen zur richtigen Zeit im richtigen Format und

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der richtigen Person am gewünschten Ort verfügbar zu machen (vgl. Zhang et al. 2012). Dies kann beispielsweise mittels einer digitalen Plattform geschehen, auf der mehrere Akteure in einer Wertschöpfungskette untereinander vernetzt werden und somit auch die Prozesse vereinfacht werden und Synergiepotentiale entstehen.

3 Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die Logistik Industrie 4.0 wird zunehmend nicht nur im Zusammenhang mit der Produktion ver­ wendet, sondern hält auch Einzug in produktionsnahe Logistikprozesse. Im weiteren Sinne wird die Idee hinter Industrie 4.0 auch auf die gesamte Logistik angewandt, da nur durch eine intelligente Vernetzung über Unternehmensgrenzen hinweg, und damit unweigerlich auch der Logistik, die Potentiale des Konzeptes Industrie 4.0 voll erschließbar sind. In der Wissenschaft hat sich in diesem Zusammenhang der Begriff „Logistik 4.0“ entwickelt. Analog zu der Industrie 4.0 lassen sich in der Logistik 4.0 die entstehenden Auswirkungen bislang noch nicht vollständig absehen. Allerdings wird davon ausgegangen, dass die grundlegenden Aufgaben der Logistik auch in Zukunft gleichbleiben und weiterhin eine bestmögliche Lieferfähigkeit und -verlässlichkeit zu möglichst geringen Kosten angestrebt wird (vgl. Strandhagen et al. 2016). Es existieren zahlreiche Definitionen zum Thema Logistik 4.0. Ten Hompel und Kerner (2015) interpretieren Logistik 4.0 als Lösung, um die gesteigerte industrielle Komplexität zu beherrschen. Sie beschreiben die Übertragung des Prinzips des Inter­ net der Dinge auf die Logistik, um starre Logistiksysteme zu ersetzen. Strandhagen et al. (2016) hingegen rücken die Wertschaffung durch innovative Logistikkonzepte in den Vordergrund. Basierend auf Identifikationstechnologien und der Integration von Informationstechnik (IT) sowie der Automatisierung kann ein Kostenvorteil gegen­ über traditionellen Logistiksystemen entstehen. Zudem kann ein Wertvorteil geschaf­ fen werden, da innovativere Produkte und neue Geschäftsmodelle entstehen können (vgl. Arnold/Kiel/Voigt 2016; Voigt/Buliga/Michl 2017). Maslarić, Nikoličić und Mirče­ tić (2016) berufen sich auf das Konzept des „Physical Internet“. Dieses umfasst im We­ sentlichen ein offenes, globales und kooperatives Logistiksystem ohne hierarchische Strukturen mit maximaler Kompatibilität aller Wertschöpfungspartner und System­ komponenten. Es kann im Zusammenhang mit Logistik 4.0 zwischen der innerbetrieblichen und der unternehmensübergreifenden Logistik unterschieden werden, die jedoch immer stärker miteinander verschmelzen. Diese Einteilung bietet außerdem einen guten An­ satz, um das Konzept Logistik 4.0 umfassend und übersichtlich darzustellen (siehe Abbildung 1). Zur weiteren Differenzierung wird im nachfolgenden Abschnitt die in­ terne Logistik nochmals in die Bereiche Informationssysteme, Materiallagerung sowie Materialtransport, die unternehmensübergreifende Logistik in den externen Trans­ port sowie die horizontale Integration untergliedert.

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Auswirkungen der Logistik 4.0

Unternehmensübergreifende Logistik

Interne Logistik

Informationssysteme

Materialtransport

Materiallagerung

Prozessänderung

Horizontale Integration

Externer Transport

Abb. 1: Auswirkungen der Logistik 4.0.

3.1 Intralogistik 3.1.1 Informationssysteme Die Gestaltung der unternehmensinternen Informationssysteme ist beim Aufbau ei­ nes vernetzten Logistiksystems von großer Bedeutung. Insbesondere Cloud Compu­ ting kommt in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung zu. So sehen Bauer et al. (2014) die Vorteile der Benutzung einer Cloud in der Logistik vor allem darin, dass größere Datenmengen als bei herkömmlichen Server-Systemen verarbeitet und auch Anwendungen zentral verwaltet werden können. Die Aufgaben der Cloud liegen hier­ bei vor allem in den Bereichen Planung, Organisation und Steuerung. Außerdem wird das klassische Supply Chain Management (SCM) durch Cloud-basierte IT-Services er­ weitert (vgl. ten Hompel/Kirsch/Kirks 2014). Stock und Seliger (2016) gehen davon aus, dass zukünftig alle Informations- und Kommunikationstechnologien über eine Cloud vernetzt sind. Sie stellen außerdem die Bedeutung der vertikalen Integration heraus, die eine intelligente Vernetzung aller Bereiche umfasst. Für Strandhagen et al. (2016) liegt der Schlüssel für eine erfolgreiche Produktionslogistik im Sinne der Logistik 4.0 darin, vertikal integrierte IT-Systeme zu nutzen. So ermöglicht eine Vernetzung des Fertigungsmanagements mit dem unternehmensinternen ERP-System eine ganzheit­ liche Sicht über die eigene Produktion. Dieses ERP-System kann in die Cloud übertra­ gen werden, wodurch es zu einer Entkoppelung der normativen und operativen Ebene kommt (vgl. ten Hompel/Henke 2014; ten Hompel/Kerner 2015; Wehberg 2016). In Zu­ sammenhang mit Logistik kann eine Cloud diejenige übergeordnete Verwaltung dar­ stellen, welche vor allem Ziele und Strategien enthält und über welche die Abwicklung von Aufträgen, Bestellungen und Finanzen läuft (vgl. Wehberg 2016). Die Etablierung entsprechender Plattformen innerhalb unterschiedlicher Unternehmen stellt hierbei ein Mittel zur praktischen Umsetzung dar.

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Es wird davon ausgegangen, dass in der Logistik der Zukunft anwendungsspezi­ fische Aufgaben von einzelnen CPS erledigt werden. Insbesondere bei Aufgaben mit hohem Komplexitätsniveau wird der Anteil an autonom getroffenen Entscheidungen steigen. Die Ergebnisse einer Simulation auf Basis vergangener Produktionsdaten von Scholz-Reiter, Görges und Philipp (2009) zeigen, dass für jedes Komplexitätsniveau die logistische Zielerreichung durch einen höheren Autonomiegrad der CPS verbes­ sert wurde, wobei sich der Effekt bei höherem Komplexitätsniveau verstärkt. Damit die CPS ihre Aufgaben auch autonom und effizient ausführen können, ist laut Scholz-Rei­ ter, Rohde und Kunaschk (2011) das Design der Schnittstellen von großer Bedeutung, da die entstehenden Netze eine hohe Robustheit gegen Störungen aufweisen müssen. Gleichzeitig betonen Veigt, Lappe und Hribernik (2013), dass diese einen hohen Grad an Interoperabilität besitzen müssen. Auch Kirch, Poenicke und Richter (2017) spre­ chen diese Thematik an, da z. B. für den Einsatz von RFID-Technologien Standards nötig wären, um eine Kompatibilität zu gewährleisten. In der Logistik kann die RFID-Technologie durch den Einsatz des Data-on-ChipPrinzips zur Dezentralisierung der Datenhaltung beitragen (vgl. Günthner/Chisu/ Kuzmany 2010). Dies ist notwendig, da eine zentrale Datenspeicherung und Verarbei­ tung mit intelligenten Algorithmen in Zukunft nicht mehr für eine optimale Steuerung ausreichen wird (vgl. Prestifilippo 2017). Diese fortschreitende Dezentralisierung wird unterstützt durch die nach dem Moore‘schen Gesetz immer leistungsstärkere Hard­ ware. So ist zu erwarten, dass die Leistungsfähigkeit digitaler Hardware exponentiell steigen wird (vgl. Broy 2010). Big-Data-Verfahren können helfen, die Daten umfassend zu analysieren (vgl. Kirch/Poenicke/Richter2017; Klötzner/Pflaum 2017; Witkowski 2017). Für Brzozowska (2016) ist diese Dateninterpretation die Grundlage für die Entwicklung neuer Ma­ nagementmethoden zum Einsatz in der Logistik. Hierbei kann die dezentrale Materi­ alflusssteuerung auf Grundlage eines Multiagentensystems ablaufen. Dies entspricht der Aussage von Günthner, Klenk und Tenerowicz-Wirth (2014), welche die Abschaf­ fung der bisher existierenden hierarchischen Steuerungspyramide beschreiben. Diese wird durch ein Netz aus kooperierenden Entitäten ersetzt, die mittels Maschine-zuMaschine-Kommunikation die dezentrale Steuerung des Materialflusses übernehmen. Somit ist in Zukunft nicht mehr jeder Prozess deterministisch und a priori festgelegt, sondern kann besser durch stochastische Methoden erfasst werden (vgl. ten Hompel/ Henke 2014). In Zukunft werden Hierarchieebenen aufgelöst und zu einem durchgängigem IT-System weiterentwickelt (vgl. Lieberoth-Leden et al. 2017; Prasse/Nettstraetter/ten Hompel 2014). Die Echtzeitanforderung stellt bei Libert und Roidl (2010) eine zwin­ gende Voraussetzung für die Entwicklung eines dezentralen Materialflusssystems dar, wie es auch zur skalierbaren Steuerung von verteilten CPS benutzt werden kann (vgl. Pantförder et al. 2017). Diese Systeme weisen allerdings noch Schwachpunkte auf, da die verwendeten Strukturen weder für eine große Menge an Daten noch für die nötigen Sicherheitsstandards ausgelegt sind (vgl. Brzozowska 2016). Auch die

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Frage des Datenschutzes und die hohen Kosten sind Kritikpunkte an den bisher exis­ tierenden Konzepten (vgl. Windelband 2014). Aufgrund dieser Kosten glauben auch Schuhmacher und Hummel (2016), dass die Umstellung auf ein dezentrales System noch mindestens ein Jahrzehnt dauern wird.

3.1.2 Materialtransport Auch der interne Materialtransport wird Änderungen infolge der industriellen Vernet­ zung unterliegen. Zwar wird es weiterhin das Ziel sein, Materialien und Werkstücke zur richtigen Zeit sowie mit minimalen Kosten an ihren Bestimmungsort zu bringen, allerdings wird sich die Art und Weise, wie dies geschieht, ändern. Große-Puppen­ dahl et al. (2016) unterscheiden grundsätzlich zwischen stetigen und unstetigen För­ dertechniken. Erstgenannte werden durch fahrerlose, autonom handelnde Transport­ fahrzeuge (FTS) charakterisiert (vgl. Bousonville 2017; Paprocki 2017; Stock/Seliger 2016). FTS können über einen unterschiedlichen Grad an Autonomie verfügen. So stellt Bousonville (2017) drei verschiedene Navigationskonzepte vor, die von einer li­ niengeführten über eine rasterbasierte bis hin zu einer Navigation durch angebrach­ te Reflektormarken reichen. All diese Navigationssysteme erfordern bauliche Ände­ rungen an der Produktionsstätte und sind in ihrer Flexibilität und Autonomie ein­ geschränkt. Schuhmacher und Hummel (2016) stellen ein Konzept vor, bei dem sich die autonomen Transportsysteme durch eine lasergestützte Navigation auch in einem sich ändernden Umfeld bewegen können. Dieser Grad an Autonomie ist notwendig, damit sich die FTS auch in einem kontinuierlich ändernden Umfeld bewegen können (vgl. Paprocki 2017). Ten Hompel und Kerner (2015) zeigen, dass diese Herausforde­ rung auch über eine Schwarmkoordination der FTS und den SLAM Ansatz (Simulta­ neous Localization and Mapping) gelöst werden kann. Dies bedeutet, dass die einzel­ nen Fahrzeuge voneinander lernen, indem sie selbstständig Informationen über neue Standorte und Stationen austauschen. Große-Puppendahl et al. (2016) und Günth­ ner, Klenk und Tenerowicz-Wirth (2014) gehen von mehreren baugleichen, modula­ ren Transportsystemen aus, welche keine Unterstützung beim Handling der Materia­ lien benötigen und als Gesamtsystem flexibel und skalierbar sind. Eine Steuerung durch Schwarmintelligenz birgt Risiken, da es zu Instabilitäten oder Kettenreaktio­ nen kommen kann (vgl. ten Hompel/Kerner 2015). Unstetige Fördersysteme zeichnen sich durch eine hohe Flexibilität und Skalierbarkeit aus (vgl. ten Hompel/Henke 2014; Straub et al. 2017). Neben dem Einsatz von autonomen Systemen für den Transport sowie für Beund Entladevorgänge können Roboter für Standardaufgaben, wie beispielsweise das Handling von Paletten eingesetzt werden (vgl. Prasse/Nettstraetter/ten Hompel 2014; Rohde 2016; Straub et al. 2017). Scholz-Reiter, Rohde und Kunaschk (2011) hingegen betonen, dass der Einsatz von Robotik in der Logistik aufgrund der hohen Hetero­ genität der Aufgaben schwierig ist und bereits Standardaufgaben mit sehr hohem

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Programmieraufwand verbunden sind. Aufgrund dieses hohen Aufwandes geht Bou­ sonville (2017) davon aus, dass zahlreiche Transportaufgaben auch weiterhin von Menschen ausgeführt werden. Auch Paprocki (2017) spricht von einer langen Zeit andauernder Koexistenz von manuellen und automatisierten Vorgängen. Mögliche Gründe für einen lang andauernden Transformationsprozess sehen Tödter et al. (2015) vor allem in der Angst vor zu hohen oder schwer kalkulierbaren Kosten und in einem hohen Planungsaufwand. Der Sicherheitsaspekt bei der Verzahnung von menschli­ chen und auf CPS basierenden Akteuren wird auch von Lieberoth-Leden et al. (2017) und Freitag et al. (2015) aufgegriffen. Erstgenannte sehen in der Vernetzung von Flur­ förderfahrzeugen die Möglichkeit, die Sicherheit durch neue Fahrassistenzsysteme zu erhöhen. Weiterhin können durch den Einsatz von Augmented Reality (AR) in der Logistik Informationen, die das Handling einfacher machen, direkt in das Sichtfeld des Menschen eingeblendet werden. Im Falle einer kontinuierlichen Erfassung von Positionsdaten, etwa mithilfe einer 3D-Kamera, kann die Leistungsfähigkeit weiter erhöht werden. Auch stetige Fördersysteme in der Logistik sollen eine flexible und modulare Ge­ staltung bekommen, so dass eine volle Flexibilität bezüglich der Prozesse und des Lay­ outs möglich ist (vgl. Freitag et al. 2015). Der Aufbau dieser Systeme lässt sich allein durch ein Softwareupdate verändern, ohne dass ein mechanisches Eingreifen nötig ist. Dieses System aus dezentral gesteuerten Modulen wird auch von Große-Puppen­ dahl et al. (2016) betont, wobei sie in einer Simulation feststellen, dass die geforderte Skalierbarkeit derzeit noch Schwächen aufweist.

3.1.3 Materiallagerung Ein Kernbereich der Intralogistik ist die Materiallagerung, welche ebenfalls Änderun­ gen durch die Transformation zur Logistik 4.0 erfahren wird. So besteht die Möglich­ keit, Regale und Behälter mit Sensorik auszustatten. Witkowski (2017) sieht in der Schaffung intelligenter Regale die Grundlage für die Lagersysteme der Logistik 4.0. Die in den Lagerhäusern angebrachten Sensoren können in Zukunft Umgebungsda­ ten aufnehmen und dadurch die Lagerbedingungen selbstständig überwachen und regulieren (vgl. Brzozowska 2016). Ein Regal kann auch durch den Einsatz von RFIDSensoren zu einem intelligenten Regal werden. Ein solches RFID-basiertes Lager ist weniger anfällig für Fehler, auch der zeitliche Aufwand für Qualitätskontrollen darin sinkt. Die intelligenten Regale können durch die Kommunikation mit dem RFID-Tag des Behälters oder dem Tag der Ware selbst feststellen, ob diese am richtigen Platz steht und, falls dies nicht der Fall ist, den Missstand anzeigen (vgl. Twist 2005). In ei­ ner Simulation eines flexiblen Lagersystems mit „free pick and drop“ zeigen Zhou et al. (2017), dass der Einsatz eines RFID-Systems zu deutlich geringeren internen Trans­ portzeiten und -kosten führen kann. Besonders bei der Anwendung bei Gefahrgütern sehen Trab et al. (2016) einen großen Vorteil. So könnte ein Regal selbstständig an­

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hand der auf dem Behälter gespeicherten Informationen erkennen, ob eine Ware auf einem Lagerplatz gelagert werden darf oder nicht. Ist dies der Fall, kann eine auto­ matische Buchung in das Warehouse-Management-System erfolgen. Wenn der Lager­ platz jedoch nicht für die Lagerung dieses Objektes ausgelegt ist, kann der Lagerplatz die Einlagerung ablehnen und dies per optischem oder akustischem Signal anzeigen. Dieses System kann auch auf Mitarbeiter übertragen werden, welche beispielsweise je nach Umgebung bestimmte Schutzkleidung vorweisen müssen, um im Lager oder mit bestimmten Stoffen arbeiten zu können. Der zentrale Vorteil von intelligenten Regalen besteht vor allem in der optimalen Auslastung der Lagerfläche und der geringeren Pro­ zesszeit der Ein- und Auslagerung (vgl. Liu 2011). Eine weitere Möglichkeit liegt dar­ in, Regale zu eigenen Transporteinheiten weiter zu entwickeln. Günthner, Klenk und Tenerowicz-Wirth (2014) beschreiben zum einen Regale, die integrierte Roboter besit­ zen, welche Ein- und Auslagervorgänge übernehmen, zum anderen zeigen sie mobile Regale auf, die sich ähnlich wie Kleinladungsträger selbstständig bewegen können. Behälter, Verpackungen oder Lademittel können mit intelligenter Sensorik aus­ gestattet und zu intelligenten Objekten weiterentwickelt werden, welche Umgebungs­ einflüsse selbstständig erfassen und verarbeiten können (vgl. Siestrup/Zeeb 2017; ten Hompel et al. 2014). Intelligente Behälter kennen nicht nur ihren Inhalt, son­ dern auch ihre Position (vgl. Prasse/Nettstraetter/ten Hompel 2014; Roidl et al. 2014). Da sie auch ihre nächsten Zielorte kennen, können sie mittels Maschine-zu-Maschi­ ne-Kommunikation selbstständig ihren Weg finden. Bousonville (2017) sieht zwar die Vorteile der intelligenten Behälter, konstatiert jedoch, dass diese Technologie bisher noch keine großflächige industrielle Anwendung findet. Neben den kürzeren Prozesszeiten und der geringeren Anzahl an Fehlern im Lager lassen sich durch den Einsatz von intelligenten Behältern auch Einsparungen erzielen, da weniger Behälter benötigt werden, zudem erfolgen die Protokollierung, Vollständigkeitskontrolle und Identifikation automatisch (vgl. Lieberoth-Leden et al. 2017; ten Hompel/Henke 2014). Eine weitere Herausforderung dieser Lagersysteme ist, dass bisher noch keine intel­ ligenten Behälter für Prozessindustrien wie beispielsweise die Chemische Industrie, entwickelt worden sind (vgl. Große-Puppendahl et al. 2016).

3.1.4 Prozessänderungen Durch den Einsatz neuer Technologien und Informationssysteme ergibt sich die Mög­ lichkeit, Logistikprozesse stärker flexibel zu gestalten. Ein Beispiel hierfür ist das Kommissionieren, das auch in Zukunft von Menschen durchgeführt werden wird (vgl. Günthner/Klenk/Tenerowicz-Wirth 2014). Um die Fehleranfälligkeit zu reduzieren, können dem Kommissionierer in Zukunft Hilfestellungen gegeben werden. So kann ein Handschuh mit integriertem RFID-Reader automatisch abgleichen, ob in den richtigen Behälter gefasst wird. Eine Software gleicht den Kommissionierauftrag mit den vom Handschuh übermittelten Daten ab und kann im Falle einer Abweichung

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ein optisches oder akustisches Signal geben, womit die Anzahl an Fehlern durch die Benutzung des Systems reduziert werden kann. Ein anderer Ansatz ist Pick-by-Vision. Dabei werden dem Kommissionierer über ein Head-mounted-Display Informationen in das Blickfeld eingeblendet. Darüber hinaus kann durch den Einsatz einer Kame­ ra und AR eine automatische Überprüfung vorgenommen werden. Auch bei dieser Methode wurde bereits eine geringere Fehleranzahl festgestellt (vgl. Lieberoth-Leden et al. 2017; Richter et al. 2015). Lieberoth-Leden et al. (2017) beschreiben diese An­ wendung insbesondere in Zusammenhang mit einer Datenbrille. Außerdem zeigen sie eine mögliche Unterstützung durch Pick-by-Voice auf. Das Tragen eines Head­ sets in der Produktionshalle stellt jedoch ein Sicherheitsrisiko für die Mitarbeiter dar und monotone Ansagen senken die Motivation. Ein Ansatz die Mitarbeitermotivation beim Kommissionieren zu erhöhen ist Gamification. Günthner, Klenk und Tenero­ wicz-Wirth (2014) beschreiben beispielsweise die Möglichkeit eines Punktesystems, in welchem jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter einen Avatar besitzt, der aufgrund seiner realen Arbeitsleistung Punkte erhält, welche er im „Spiel“ einsetzen kann. Ne­ ben der Auto-ID-Funktion, die RFID beim Kommissionieren übernehmen kann, sieht Twist (2005) auch die Möglichkeit der Navigation des Kommissioniers zum richti­ gen Produkt durch RFID-Signale, wodurch die Prozesszeit deutlich verkürzt werden kann. Dieser Vorgang kann jedoch auch umgekehrt durch den Einsatz mobiler Regale durchgeführt werden (vgl. Straub et al. 2017). Nicht nur die operative Arbeit des Kommissionierens, sondern auch die Pla­ nung und Simulation von Logistikprozessen kann durch neue Technologien geändert werden (vgl. Lieberoth-Leden et al. 2017). So können neben AR auch Virtual-Reality (VR)-Tools fachfremden Personen helfen, die Planungen besser verstehen und gleich­ zeitig bereits in frühen Planungsphasen ein tieferes Verständnis für die Prozesse und Alternativen zu entwickeln. Der Einsatz von 3D-VR-Simulationen bei der Planung von dynamischen Prozessumgebungen wird empfohlen, da es dann möglich ist, gleich­ zeitig technische Gegebenheiten, die Umgebung und die Prozesse zu berücksichtigen (vgl. Richter et al. 2015). Ein weiterer Prozess, der durch die Transformation zur Logistik 4.0 neu gestal­ tet werden kann, ist das Management von C-Teilen über ein Kanban-System. So kann ein intelligenter Behälter bei Unterschreiten eines Mindestbestands selbstständig ei­ ne Bestellung anstoßen (vgl. ten Hompel et al. 2014; Freitag et al. 2015). Durch die vom Behälter gesammelten Daten ist es möglich, die Materialversorgung am historischen Verbrauch zu orientieren, was zu einer Reduktion an benötigten Zyklen und einer bes­ seren Auslastung führen kann (vgl. ten Hompel et al. 2014; Freitag et al. 2015).

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3.2 Interlogistik 3.2.1 Horizontale Integration Neben der unternehmensinternen, „vertikalen“ Integration ist auch die unterneh­ mensübergreifende, „horizontale“ Integration von Logistik 4.0 beeinflusst, wodurch sich dann erst die vollständigen Potentiale von Industrie 4.0 entfalten können (vgl. Kagermann/Wahlster/Helbig 2013). Die horizontale Integration bedeutet nicht nur einen Austausch der Informationen über den Warentransport, sondern von Infor­ mationen über alle Prozesse des gesamten Produktlebenszyklus hinweg (vgl. Butner 2010; Lieberoth-Leden et al. 2017; Stock/Seliger 2016). Es sollen dabei sowohl Kunden als auch Lieferanten über ihre IT-Systeme miteinander in Echtzeit vernetzt werden (vgl. Butner 2010). Dies ermöglicht eine größere Flexibilität, da durch die direkte Ver­ netzung Zulieferer je nach Auftragslage kurzfristig zu- oder abbestellt werden können. Diese Zulieferer werden auch als „Smart Suppliers“ bezeichnet, da diese in Echtzeit Informationen bekommen und teilen (vgl. Shrouf/Ordieres/Miragliotta 2014). Die In­ tegration aller Prozesse sowie eine möglichst hohe Transparenz haben zur Folge, dass Schuhmacher und Hummel (2016) nicht mehr von einer „Supply Chain“, sondern ei­ nem „Supply Network“ sprechen. Dazu ist eine hohe Transparenz erforderlich (vgl. Danila et al. 2016). Dies kann am besten durch den Austausch der Daten über eine web-basierte Lösung erfolgen (z. B. Cloud-Computing), durch welche der Kunde den Produktionsfortschritt seines Lieferanten einsehen und so frühzeitig auf eventuelle Störungen reagieren kann. Der Einsatz einer web-basierten Lösung, wie sie durch ei­ ne Cloud erfolgen kann, wird auch bei Günthner, Klenk und Tenerowicz-Wirth (2014) und Qu et al. (2016) beschrieben. Es konnte zum einen gezeigt werden, dass ein in­ tegriertes Informationssystem einen positiven Zusammenhang mit einer besseren Produktionsleistung aufweist, und zum anderen, dass IT-Systeme die über Unterneh­ mensgrenzen hinweg integriert sind, zu einer besseren Koordination von Produktion und Supply Chain Management führen (vgl. Bharadwaj/Bharadwaj/Bendoly 2007). Die Transparenz und der Informationszugriff in Echtzeit wird als Grundlage für ein optimiertes Management von Just-in-Time (JIT)-Prozessen gesehen (vgl. Zhang et al. 2012). Die Verbesserung in der Synchronisation von JIT-Prozessen findet sich auch bei Paprocki (2017), der den Grund hierfür im maschinellen Informationsaustausch sieht, durch welchen weniger menschliche Fehler auftreten. Hofmann und Rüsch (2017) beziehen die daraus resultierenden Verbesserungspotenziale nicht nur auf ei­ ne Optimierung der JIT, sondern der Just-in-Sequence (JIS) und verweisen zusätzlich auf eine Reduzierung des Bullwhip-Effektes. Allerdings stehen Logistikunternehmen der erhöhten Transparenz, der Frage der Datensicherheit und des Dateneigentums skeptisch gegenüber (vgl. Müller/Erdel/ Voigt 2017). Weiterhin werden die hohen Kosten für Vernetzung aller Supply-ChainPartner kritisch gesehen. In diesem Zusammenhang sehen auch Siestrup und Zeeb (2017) die Datensicherheit und die rechtlichen Rahmenbedingungen für Cloud-Lösun­

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gen als Herausforderungen an, da beide Punkte noch nicht eindeutig genug geregelt sind, insbesondere wenn die Cloud von einem Drittanbieter betrieben wird. Richter et al. (2015) fordern daher ein Zertifizierungssystem für IT-Prozesse, um die rechtlichen Verbindlichkeiten beim Austausch dieser Daten zu regeln. Neben den rechtlichen Fra­ gestellungen bestehen auch im technischen Bereich noch Herausforderungen. Kager­ mann, Wahlster und Helbig (2013) gehen davon aus, dass eine end-to-end-Integration aller Prozesse mit allen Supply Chain Partnern nur möglich ist, wenn neben der Siche­ rung des eigenen Know-hows auch internationale Standards bezüglich der IT-Systeme vorherrschen. Eine Einigung auf verbindliche, internationale Standards bei der Infor­ mationslogistik und den Erfassungstechnologien wird auch von Richter et al. (2015) und Siestrup und Zeeb (2017) gefordert.

3.2.2 Externer Transport Nachdem bereits die Auswirkungen auf den internen Transport in Abschnitt 3.1.2 be­ trachtet wurden, folgt nun eine Übersicht bezüglich des externen sowie unterneh­ mensübergreifenden Transportes im Rahmen der Logistik 4.0. Insgesamt könnte In­ dustrie 4.0 zur Verminung von Transporten, beispielsweise durch Rückverlagerung von Wertschöpfungsaktivitäten in die Industrienationen und somit hin zu den Ver­ brauchern führen (vgl. Müller/Dotzauer/Voigt 2017). D’Souza und Williams (2017) ge­ hen davon aus, dass die Logistik 4.0 neue Liefermethoden durch den Einsatz von selbstfahrenden Fahrzeugen oder auch Drohnen schaffen wird, welche zu einer hö­ heren Effizienz führen. Der Einsatz von autonomen Fahrzeugen außerhalb des Fir­ menstandortes findet sich auch bei Paprocki (2017) und Brzozowska (2016) wieder, wobei dies vor allem auf langen Strecken und sehr gut ausgebauten Straßen denk­ bar ist. Paprocki (2017) geht insbesondere bei der Ersatzteillogistik von einem Rück­ gang des Transportaufkommens durch die Möglichkeiten des Additive Manufacturing aus. Mittels eines 3D-Druckers, der zwar vom Lieferanten gesteuert wird, sich aber in der Produktionsstätte des Kunden befindet, können Ersatzteile direkt auf Nachfrage und ohne Transportprozesse produziert werden. Die Möglichkeit der Ersatzteillogistik mittels eines 3D-Druckers wird auch bei Straub et al. (2017) sowie bei Hoffmann und Oettmeier (2017) aufgegriffen. Ein weiterer Ansatz ist es, Transportfahrzeugen mit Sensorik auszustatten, durch welche das Fahrzeug in Echtzeit verfolgt werden kann und die gleichzeitig den Zustand der Güter überwacht (vgl. Li/Li 2017). Durch die Verfolgbarkeit des Trans­ portfahrzeugs ist es dem Kunden möglich, die Wareneingangsprozesse exakt mit der Ankunft des Transporters zu synchronisieren, wodurch Warte- oder Stillstandszei­ ten minimiert beziehungsweise vollkommen vermieden werden (vgl. Liu 2011). Auch Brzozowska (2016) beschreibt die Vernetzung zwischen Kunden und Lieferanten, wo­ durch Echtzeitdaten über den Zustand der Ware erhalten werden können. Zusätzlich kann der Kunde durch die Echtzeitinformationen den Verkehr an seinem Warenein­

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gang besser steuern. Ein besonderes Beispiel für ein vernetztes Transportmittel findet sich bei Große-Puppendahl et al. (2016). Darin wird ein Luftfrachtcontainer beschrie­ ben, der Umgebungsdaten sammeln kann, über eine Echtzeitverfolgung lokalisierbar ist und autonom Entscheidungen treffen kann. So ist dieser Luftfrachtcontainer ei­ genständig in der Lage, Frachtflüge zu buchen und mittels eines Displays und einer App mit dem Menschen zu kommunizieren. Bei verkehrsmittelübergreifender Vernetzung globaler Logistikströme werden im Rahmen von Logistik 4.0 vor allem Potentiale für die Logistik in Häfen genannt, die beim Umschlag von Gütern zwischen verschiedenen Verkehrsträgern und dem Übergang zwischen internationaler und Binnenlogistik wirksam werden (vgl. Fer­ retti/Schiavone 2016; Goudarzi/Tabatabaee Malazi/Ahmadi 2016; Shi/Tao/Voß 2011; Xu 2010). Hierbei können Leerfahrten minimiert, Belegung und Umschlagprozesse optimiert sowie die Effizienz maximiert werden. Insbesondere bei der Container­ logistik, bei welcher es noch zu vielen Leerfahrten kommt und die derzeit vor der Herausforderung steht, kostendeckend zu arbeiten, können durch intelligente Ver­ netzung ökonomische Vorteile entstehen (vgl. Zhang/Lu/Wang 2014). Damit ist auch eine Erhöhung der gelieferten Qualität durch die Lieferkette möglich, beispielsweise durch die Erfassung von Beschädigungen durch Sensoren, frühzeitige Erkennung von Terminverzögerungen sowie von Fehllieferungen (vgl. Qiu et al. 2015).

4 Zusammenfassung Insgesamt bietet Logistik 4.0 ökonomische Potentiale für die Intra- und die Interlogis­ tik, da eine Steigerung in Effizienz, Geschwindigkeit, Flexibilität und Reaktionsfähig­ keit sowie Qualität von Logistikprozessen erreicht werden kann. Außerdem kann die Logistik 4.0 dabei helfen Fehllieferungen und Leerfahrten zu vermeiden sowie Trans­ portrouten zu optimieren oder ganz zu vermeiden. Logistik 4.0 kann damit auch aus ökologischer Sicht zu Vorteilen verhelfen. Sozial stehen vor allem die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die Unterstützung der Arbeiter bei manuellen Tätigkeiten so­ wie die Verringerung der repetitiven und monotonen Tätigkeiten im Fokus. Insgesamt lässt sich deshalb die Logistik 4.0 mit den in diesem Beitrag dargelegten Potentialen auf die Tripple-Bottom-Line der Nachhaltigkeit beziehen, wobei in allen drei Dimen­ sionen, Ökonomie, Ökologie und Soziales, einzelne Potentiale kombiniert und somit in ihrer Wirkung verstärkt werden können. Selbstverständlich sind dabei auch teil­ weise negative Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Dimensionen der Nach­ haltigkeit zu beachten und fallspezifisch untereinander abzustimmen. Außerdem kann Logistik 4.0 dabei helfen, die Kategorien der 6R- beziehungsweise 7R-Regel noch besser zu erfüllen: Das richtige Produkt durch entsprechende Nachver­ folgbarkeit im richtigen Zustand durch integrierte Sensoren zur richtigen Zeit und am richtigen Ort durch Prozessüberwachung in Echtzeit in den richtigen Mengen durch

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intelligente Ladungsträger und bedarfsorientierte Prognosen zu möglichst geringen Kosten durch unternehmensübergreifende Prozessoptimierung sowie mit den richti­ gen Informationen durch den Datenaustausch in Echtzeit. Damit werden die klassi­ schen Anforderungen der Logistik durch unterschiedliche technologische Lösungen adressiert und durch die digitale Vernetzung untereinander abgestimmt, um deren Gesamteffizienz der logistischen Prozesse zu erhöhen. Es bleiben jedoch Herausforderungen zu bewältigen, wie noch unklare rechtliche Rahmenbedingungen, Fragen der Datensicherheit und des Dateneigentums, die tech­ nische, organisatorische und finanzielle Umsetzungsanstrengungen erfordern. Diese sind insbesondere notwendig, um dem Konzept Logistik 4.0 auch in der unterneh­ mensübergreifenden Umsetzung zum Erfolg zu verhelfen. Es bleibt festzuhalten, dass genau dieser unternehmensübergreifende Ansatz verstärkt betrachtet und umgesetzt werden muss, da Logistik 4.0 genau an den Schnittstellen und Prozessen zwischen Unternehmen ansetzt. Nur so können aus einzelnen Insellösungen Gesamtsysteme entstehen, die sich autonom untereinander abstimmen und somit die tatsächlichen Potentiale entlang einer gesamten Wertschöpfungskette entfalten können. Die ent­ stehenden Daten können wiederum durch Analysemethoden untersucht werden, um Logistikprozesse über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg noch weiter zu opti­ mieren, wodurch auch neue Geschäftsmodelle denkbar sind. Somit entsteht ein stän­ diges Wechselspiel zwischen der digitalen Vernetzung der Wertschöpfungskette und der Optimierung als Ergebnis von Datenanalysen, das nur durch unternehmensüber­ greifende Zusammenarbeit optimale Ergebnisse erzielen kann.

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