Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland: Studienausgabe [2 ed.] 9783110875065, 9783110149937

"Als Fazit gilt: Es handelt sich bei dem Handbuch des Verfassungsrechts um ein überaus lesenswertes, anregendes und

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German Pages 1789 [1792] Year 1995

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Table of contents :
Vorwort
Die Autoren
1. Kapitel. Grundlagen
§ 1 Verfassung und Verfassungsrecht
§ 2 Die Entwicklung der Rechtslage Deutschlands von 1945 bis zur Wiedervereinigung 1990
§ 3 Die Verfassungsentwicklung seit 1945
§ 4 Europäische Integration und Grundgesetz – Maastricht und die Folgen für das deutsche Verfassungsrecht –
2. Kapitel. Grundrechte
§ 5 Bedeutung der Grundrechte
§ 6 Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht
§ 7 Kommunikations- und Medienfreiheit
§ 8 Gleichberechtigung von Männern und Frauen
§ 9 Ehe und Familie
§ 10 Eigentum
§ 11 Ausländer im Verfassungsrecht
3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes
§ 12 Prinzipien freiheitlicher Demokratie
§ 13 Das parlamentarische System
§ 14 Politische Parteien
§ 15 Verbände
§ 16 „Streitbare Demokratie“ und Schutz der Verfassung
4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes
§ 17 Der soziale Rechtsstaat
§ 18 Grundgesetz und Wirtschaftsordnung
§ 19 Tarifautonomie, Unternehmensverfassung und Mitbestimmung
§ 20 Sozialrecht. Sozialpolitik
§ 21 Technik und Umwelt
5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes
§ 22 Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes
§ 23 Bund und Länder nach der Finanzordnung des Grundgesetzes
§ 24 Der Bundesrat und seine Bedeutung
6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung
§ 25 Kulturelle Aufgaben des modernen Staates
§ 26 Freiheit der Kunst
§ 27 Freiheit der Wissenschaft
§ 28 Grundgesetz und Bildungswesen
§ 29 Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften
7. Kapitel. Staatliche Funktionen
§ 30 Gesetzgebung
§ 31 Regierung und Verwaltung
§ 32 Öffentlicher Dienst
§ 33 Rechtsprechung
§ 34 Verfassungsgerichtsbarkeit
8. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber
ERNST BENDA
HANS-JOCHEN VOGEL
WERNER MAIHOFER
Stichwortverzeichnis
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Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland: Studienausgabe [2 ed.]
 9783110875065, 9783110149937

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Handbuch des Verfassungsrechts Studienausgabe

Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland 2., neubearbeitete und erweiterte Auflage

herausgegeben von

Ernst Benda · Werner Maihofer · Hans-Jochen Vogel unter Mitwirkung von

Konrad Hesse · Wolfgang Heyde

Studienausgabe Teil 1

w DE

G

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1995

Unveränderter Nachdruck der Originalausgabe, 2. Auflage (1994)

Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland / hrsg. von Ernst Benda ... unter Mitw. von Konrad Hesse ; Wolfgang Heyde. — Nachdr., Studienausg. — Berlin ; New York : de Gruyter. NE: Benda, Ernst [Hrsg.] Nachdr., Studienausg. Teil 1. — Unveränd. Nachdr. der Orig.-Ausg., 2., neubearb. und erw. Aufl. - 1995 ISBN 3-11-014993-1

© Copyright 1995 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Schutzumschlag Entwurf: Thomas Beaufort, 20249 Hamburg Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, 10785 Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, 10963 Berlin

Vorwort Der tiefgehende geschichtliche Wandel unserer Zeit macht auch vor der Verfassung nicht halt. Zwar hat er nicht zu einer neuen Verfassung geführt: Das 45 Jahre hindurch bewährte Grundgesetz wird im wesentlichen die künftige gesamtdeutsche Verfassung bleiben. Fehlentwicklungen im Verfassungsleben bedürfen aber der Korrektur, bisherige Probleme unserer verfassungsmäßigen Ordnung sind zurückgetreten oder haben andere Züge angenommen, neue sind hinzugetreten, und diese betreffen oft nicht nur Einzel-, sondern auch Grundfragen der Verfassungsentwicklung, für welche abschließende Antworten noch nicht gefunden sind. Damit stellt sich die Aufgabe, angemessene Lösungen zu finden, welche geeignet sind, Kontinuität und Wirksamkeit der Verfassungsordnung auch im künftigen Wandel zu erhalten. Diese Aufgabe ist — unabhängig von der deutschen Einigung — eine solche vorausschauender und klar konzipierter Verfassungs- und Rechtspolitik. Es kommt gleichermaßen auf Bewahrung und Veränderung an: bewährte Grundlagen zu erhalten und zu festigen, zugleich jedoch die Herausforderungen der Gegenwart und der nahen Zukunft zu erfassen, zu analysieren und Vorkehrungen zu treffen, damit die verfassungsmäßige Ordnung den veränderten Lagen oder Funktionsbedingungen gerecht werden kann und auch unter anderen Vorzeichen als den bisherigen ein Leben in menschlicher Freiheit und Würde ermöglicht. Das gilt beispielsweise für die parteienstaatliche Entwicklung. Es gilt für die ökologischen und technologischen Zukunftsfragen und unsere Verantwortung für die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen. Es gilt vor allem für die Herausforderungen, die sich aus der Einfügung Deutschlands in die Europäische Union ergeben werden. Bereits die nach dem heutigen Stand absehbaren Schritte der europäischen Integration bleiben nicht ohne tiefgreifende Auswirkungen auf die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Sie werden es notwendig machen, Bedeutung und Inhalt des nationalen Verfassungsrechts in vielen Punkten neu zu bestimmen. Von dieser Notwendigkeit abgesehen, dürfte die Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Grundgesetzes auch andere Schritte erfordern als Änderungen des Verfassungstextes, etwa in gesetzlichen Regelungen, neuen Geschäftsordnungsbestimmungen oder auch nur einer veränderten Praxis auf der Grundlage des bestehenden Rechts. Dem sucht die zweite Auflage dieses Handbuchá in ihrer Gesamtanlage wie in der Bearbeitung der einzelnen Themenstellungen zu entsprechen: Sie behält das Konzept der Vorauflage grundsätzlich bei, modifiziert es jedoch unter den dargelegten Aspekten.

VI

Vorwort

Wie bisher wendet sich das Werk an einen weit gezogenen, nicht auf die Fachwelt beschränkten Leserkreis. Es geht ihm unverändert darum, sich der Grundlagen heutiger und künftiger Verfassungsordnung sowie des Konsenses hierüber zu vergewissern, dies umso mehr, als durch einzelne Vorschläge in jüngerer Zeit, das Grundgesetz insgesamt durch eine neue Verfassung zu ersetzen, Unsicherheit entstanden ist. Mit der Darstellung und Erläuterung geltenden (Bundes-)Verfassungsrechts verbinden sich daher in den folgenden Beiträgen und in abschließenden Äußerungen der Herausgeber kritische Überprüfungen und Stellungnahmen, welche der dargelegten Aufgabe dienen. Das Hauptgewicht liegt dabei auf den Grundprinzipien der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes sowie auf Problemkreisen, die gegenwärtig oder voraussichtlich in naher Zukunft die politische Diskussion beherrschen und verfassungsrechtlich von besonderer Bedeutung sein werden. Auf Vollständigkeit wurde wiederum verzichtet. Festgehalten wird weiterhin an dem Grundsatz einer pluralen Zusammensetzung des Kreises der Herausgeber und der Bearbeiter der einzelnen Beiträge; er folgt aus der insoweit unveränderten Konzeption des Handbuchs. Die Herausgeber tragen unbeschadet der Verantwortung der Bearbeiter eine Gesamtverantwortung für das Werk; sie haben in den Einleitungsabschnitten zu den Kapiteln 3 — 6 die Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes selbst behandelt. Nach wie vor ergab sich aus der Aufgabe des Handbuchs auch die Notwendigkeit einer „Pluralität" der Autoren. Diese repräsentieren zu einem guten Teil die Vielfalt heutiger Richtungen und Auffassungen; sie hatten in der Gestaltung und Stellungnahme die volle Freiheit, ihrer Auffassung Ausdruck zu geben. Auch wenn das nicht nur zu inhaltlichen, sondern auch zu Unterschieden in der Methodik der einzelnen Beiträge führt, ist ein gemeinsamer Grundzug doch deutlich erkennbar: die Uberzeugung, „daß eine allseitige Erfassung der Normen des Staatsrechts ohne Einbeziehung des Politischen gar nicht möglich ist" (Heinrich Triepel) und die Aufgabe darin besteht, „ein jedes (Verfassungs-)Institut sowohl positivistisch zu fixieren, als auch zu begreifen als einen im Strom der Geschichte stehenden Versuch der Lösung eines politischen Problems" (Richard Thoma). Zu den Veränderungen des Konzepts der ersten Auflage haben die zwischenzeitlichen Problemverschiebungen und die aus diesen folgende eingangs hervorgehobene Notwendigkeit geführt, den Blick vermehrt auf die Fragen klar konzipierter Verfassungs- und Rechtspolitik zu richten. Dem verfassungs- und rechtspolitischen Aspekt wird deshalb sowohl in den Einzelbeiträgen als auch in den abschließenden Äußerungen der Herausgeber stärkeres Gewicht als bisher zugemessen — dies allerdings beschränkt auf den Rahmen der jeweiligen Thematik; auf die darüber weit hinausgehenden heutigen Wünsche und Bestrebungen für eine Verfassungsrevision war nicht einzugehen. Den zwischenzeitlichen Entwicklungen suchen problemorientierte Änderungen und Ergänzungen bei der Auswahl und systematischen Einordnung der Beiträge gerecht zu werden; davon abgesehen, wurden einige Beiträge neu strukturiert, erweitert, gekürzt oder mit anderen Beiträgen verbunden.

VII

Vorwort

So sind im Rahmen des Einleitungskapitels die Ausführungen zu der Bedeutung der europäischen Integration für die deutsche Verfassungsordnung wesentlich erweitert worden (§ 4). In das Kapitel über Grundrechte wurden neben den allgemeinen Lehren, die sich nunmehr auf § 5 beschränken, einzelne wichtige Fragestellungen aufgenommen, teils ergänzend, wie Datenschutz und Gentechnik (§ 6), teils in veränderter Anordnung, wie die Kommunikations- und Medienfreiheit (§ 7), Ehe und Familie (§ 9) und die Garantie des Eigentums (§ 10), teils neu in Abschnitten über die Gleichberechtigung von Männern und Frauen (§ 8) und über Ausländer im Verfassungsrecht (§ 11). Bei den Beiträgen zur demokratischen Ordnung des Grundgesetzes wurde der einleitende Abschnitt erweitert und stärker unterbaut. Die Beiträge dieses Kapitels wurden mit der Erörterung der Problematik der „streitbaren Demokratie" und des Verfassungsschutzes verbunden (§ 16). Im Kapitel über die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes ist die Erörterung der Tarifautonomie, der Unternehmensverfassung und der Mitbestimmung nunmehr in einer Gesamtdarstellung zusammengefaßt (§ 19). Der wachsenden Tragweite der Fragen von Umwelt und Technologie trägt ein neu eingefügter Abschnitt Rechnung (§ 21). In den Darlegungen zur bundesstaatlichen Ordnung finden der gegenwärtige Wandel auf diesem Gebiet und die mit diesem verbundenen Fragen Berücksichtigung (§§ 22—24). Die Ausführungen zu kulturstaatlichen Elementen der verfassungsmäßigen Ordnung sind um zwei Abschnitte Kunst und Wissenschaft ergänzt worden (§§ 26 und 27). Eine Umstellung hat die Aufgliederung der staatlichen Funktionen im 7. Kapitel erfahren. Endlich sind die abschließenden Äußerungen der Herausgeber nunmehr als übergreifende rechts- oder verfassungspolitische Stellungnahmen konzipiert; sie suchen die Gesamtlinien und die für Verfassungsänderungen maßgebenden Kriterien in der Sicht des jeweiligen Herausgebers herauszuarbeiten. Dem Verlag Walter de Gruyter danken die Herausgeber wiederum für die verlegerische Betreuung und großzügige Förderung des Handbuchs. Im besonderen Maße gilt dieser Dank Frau Dr. Dorothee Walther; sie hat die — bei einem Sammelwerk nicht geringe — Mühe der Redaktionsarbeit auf sich genommen und damit, tatkräftig unterstützt von Frau Angelika und Herrn Uwe Berlit, wesentlich zum Gelingen des Vorhabens beigetragen. Karlsruhe, Überlingen, Bonn Im März 1994

Die

Herausgeber

Inhaltsverzeichnis Vorwort Die Autoren

V XI

1. Kapitel. Grundlagen § 1 Verfassung und Verfassungsrecht ( K O N R A D H E S S E ) § 2 Die Entwicklung der Rechtslage Deutschlands von 1945 bis zur Wiedervereinigung 1990 ( J O C H E N A B R . F R O W E I N ) § 3 Die Verfassungsentwicklung seit 1 9 4 5 ( K O N R A D H E S S E ) § 4 Europäische Integration und Grundgesetz — Maastricht und die Folgen für das deutsche Verfassungsrecht — ( W E R N E R VON SIMSON/JÜRGEN S C H W A R Z E )

3 19 35

53

2. Kapitel. Grundrechte § 5 Bedeutung der Grundrechte ( K O N R A D H E S S E ) § 6 Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht ( E R N S T B E N D A ) § 7 Kommunikations- und Medienfreiheit ( W O L F G A N G H O F F M A N N - R I E M ) . . § 8 Gleichberechtigung von Männern und Frauen ( I N G W E R EBSEN) § 9 Ehe und Familie ( E V A M A R I E VON M Ü N C H ) § 1 0 Eigentum (PETER Β ADURA) §11 Ausländer im Verfassungsrecht ( G E R H A R D ROBBERS)

127 161 191 263

293 327

391

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes Prinzipien freiheitlicher Demokratie ( W E R N E R M A I H O F E R ) Das parlamentarische System ( H A N S - P E T E R S C H N E I D E R ) § 14 Politische Parteien ( D I E T E R G R I M M ) §15 Verbände ( D I E T E R G R I M M ) § 16 „Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung § 12

427

§ 13

537

( E R H A R D DENNINGER)

599 657 675

χ

Inhaltsverzeichnis

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes Der soziale Rechtsstaat ( E R N S T BENDA) Grundgesetz und Wirtschaftsordnung ( H A N S - J Ü R G E N P A P I E R ) § 1 9 Tarifautonomie, Unternehmensverfassung und Mitbestimmung § 17

719

§ 18

799

(FRIEDHELM FARTHMANN/MARTIN COEN)

851

Sozialrecht. Sozialpolitik ( D E T L E F MERTEN) § 21 Technik und Umwelt ( H A S S O H O F M A N N )

§ 20

961

1005

5. Kapitel. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes ( H A N S - J O C H E N § 23 Bund und Länder nach der Finanzordnung des Grundgesetzes § 22

VOGEL)

(FRANZ KLEIN)

§ 24

1041 1103

Der Bundesrat und seine Bedeutung

(DIETHER POSSER)

1145

6. Kapitel. Kulturstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung Kulturelle Aufgaben des modernen Staates ( W E R N E R M A I H O F E R ) Freiheit der Kunst ( E R N S T GOTTFRIED MAHRENHOLZ) § 27 Freiheit der Wissenschaft (HELMUTH SCHULZE-FIELITZ) § 2 8 Grundgesetz und Bildungswesen (PETER GLOTZ/KLAUS F A B E R ) § 2 9 Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften ( P A U L M I K A T ) § 25 § 26

1201 1289

1339 1363 1425

7. Kapitel. Staatliche Funktionen Gesetzgebung ( E R I C H B Ü L O W ) Regierung und Verwaltung ( G U N N A R F O L K E § 3 2 Öffentlicher Dienst ( J O S E F ISENSEE) § 3 3 Rechtsprechung ( W O L F G A N G HEYDE) § 3 4 Verfassungsgerichtsbarkeit ( H E L M U T SIMON) § 30 § 31

1459 SCHUPPERT)

1499 1527 1579 1637

8. Kapitel. Abschließende Äußerungen der Herausgeber ERNST BENDA

1681

H A N S - J O C H E N VOGEL

1691

WERNER M A I H O F E R

1699

Stichwortverzeichnis

( A N G E L I K A UND U W E BERLIT)

1725

Die Autoren Dr. jur., Universitätsprofessor in der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München PETER B A D U R A ,

ERNST BENDA, Professor Dr. jur. h. c., Präsident des Bundesverfassungsgerichts a. D., Bundesminister a. D., Karlsruhe

Dr. jur., Ministerialdirektor im Bundesministerium der Justiz a. D.,

E R I C H BULOW,

Stuttgart M A R T I N COEN, Dr. jur., Ministerialrat in der Vertretung des Landes NordrheinWestfalens bei der Europäischen Union, Brüssel E R H A R D DENNINGER,

Dr. jur., Universitätsprofessor an der Universität Frankfurt

am Main INGWER EBSEN,

Dr. jur., Universitätsprofessor an der Universität Frankfurt am Main

Ministerialdirigent im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg, Potsdam K L A U S FABER,

Professor Dr. jur., Staatsminister a. D., Vorsitzender der SPD-Fraktion in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

FRIEDHELM FARTHMANN,

JOCHEN A B R . FROWEIN, Dr. jur., Dr. h. c., M. C . L . , Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg, Universitätsprofessor an der Universität Heidelberg PETER GLOTZ,

Professor Dr. phil., Mitglied des Deutschen Bundestages, München

Dr. jur., Universitätsprofessor an der Universität Bielefeld, Richter des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe DIETER G R I M M ,

Dr. jur., Dres. h. c., em. o. Professor an der Universität Freiburg i. Br., Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D. KONRAD HESSE,

WOLFGANG HEYDE,

Dr. jur., Ministerialdirektor im Bundesministerium der Justiz,

Bonn Dr. jur., Universitätsprofessor an der Universität Hamburg, Direktor des Hans-Bredow-Instituts für Rundfunk und Fernsehen an der Universität Hamburg

WOLFGANG H O F F M A N N - R I E M ,

XII

Die Autoren

HASSO HOFMANN,

Dr. jur., Universitätsprofessor an der Humboldt-Universität zu

Berlin JOSEF ISENSEE,

Dr. jur., Universitätsprofessor an der Universität Bonn

Dr. jur. utr., Honorarprofessor an der Universität Passau, Präsident des Bundesfinanzhofs, München FRANZ K L E I N ,

ERNST GOTTFRIED M A H R E N H O L Z ,

Professor Dr. jur., Vizepräsident des Bundesver-

fassungsgerichts a. D., Karlsruhe Dr. jur., Dr. h. c. mult., em. o. Professor an der Universität Bielefeld, Bundesminister des Innern a. D., Präsident des Europäischen Hochschulinstituts Florenz a. D., Honorarprofessor an der Universität Konstanz WERNER M A I H O F E R ,

DETLEF M E R T E N , Dr. jur., Dr. rer. pol., Universitätsprofessor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Dr. jur., Dr. h. c. mult., em. o. Professor an der Universität Bochum, Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen a. D., Düsseldorf PAUL M I K A T ,

EVA M A R I E VON M Ü N C H ,

Dr. jur., Journalistin, Vizepräsidentin des Goethe-Instituts,

Hamburg H A N S - J Ü R G E N PAPIER,

Dr. jur., Universitätsprofessor an der Universität München

Dr. jur., Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen a. D . , Mitglied des Bundesrates und des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat 1968-1988, Essen DIETHER POSSER,

G E R H A R D ROBBERS, HELMUT SIMON,

Dr. jur., Universitätsprofessor an der Universität Trier

Dr. jur., Dr. theol. h. c., Richter des Bundesverfassungsgerichts

a. D., Karlsruhe WERNER VON SIMSON,

Dr. jur., em. o. Professor an der Universität Freiburg i. Br.

HANS-PETER SCHNEIDER, Dr. jur., Dr. jur. h. c., Universitätsprofessor an der Universität Hannover, Direktor des Deutschen Instituts für Föderalismusforschung e. V., Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs und des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen HELMUTH SCHULZE-FIELITZ,

Dr. jur., Universitätsprofessor an der Universität der

Bundeswehr München GUNNAR FOLKE SCHUPPERT,

Dr. jur., Universitätsprofessor an der Humboldt-Uni-

versität zu Berlin JÜRGEN SCHWARZE,

Dr. jur., Universitätsprofessor an der Universität Freiburg i. Br.

H A N S - J O C H E N VOGEL,

der Justiz a. D., Bonn

Dr. jur., Mitglied des Deutschen Bundestages, Bundesminister

1. Kapitel

Grundlagen

§ 1 Verfassung und Verfassungsrecht KONRAD

HESSE

Übersicht

I. Aufgaben und Bedeutung . . . . 1. Grundaufgaben der Verfassung a) Integrationsfunktion . . . . b) Organisationsfunktion . . . c) Rechtliche Leitfunktion . . 2. Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens II. Zur Eigenart des Verfassungsrechts 1. Vorrang 2. Offenheit und verbindliche Festlegung 3. Selbstgewährleistung 4. Bedingungen tatsächlicher Geltung

Rdn. 2—12 4—9 5, 6 7, 8 9

Rdn. III. Die Verfassung im geschichtlichen Wandel 1. Verfassungswandlung und

10 — 12 13 — 21 14 15 — 18 19

22-- 3 8 22· - 2 4 25

a) Der heutige Staat und seine 26-- 2 9 b) Verfassung und gestalten30 der Staat c) Wandlungen der föderati31 d) „Internationalisierung" 32-- 3 7 38

20, 21

Das Verständnis der einzelnen Bestandteile und Probleme der Verfassung der Bun- 1 desrepublik Deutschland, denen die folgenden Kapitel gelten, setzt stets den Blick auf das Ganze dieser Verfassung voraus. Es bedarf der Ausgangspunkte und eines gewissen Rahmens, mit deren Hilfe sich der Inhalt der Normierungen des Grundgesetzes erschließen läßt. Es bedarf der Einsicht in Grundlagen und Grundzusammenhänge, ohne die sich die Gegenwarts- und Zukunftsfragen des Verfassungsrechts nur unvollkommen beurteilen lassen. Dieser Aufgabe dienen die auf einen knappen Uberblick beschränkten Ausführungen des vorliegenden Abschnitts. Sie gehen davon aus, daß die Verfassung eines konkreten politischen Gemeinwesens, ihr Inhalt, die Eigenart ihrer Normierungen und ihre Probleme geschichtlich begriffen werden müssen 1 . Nur die Einsicht in diese Geschichtlichkeit ermöglicht die volle Erfassung und zutreffende Beurteilung ver-

1

R. BÄUMLIN Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 7 ff.

4

1. Kapitel. Grundlagen

fassungsrechtlicher und verfassungspolitischer Fragen. Eine allgemeine und abstrakte Theorie, welche die Einbettung der Verfassung in die politisch-soziale Wirklichkeit und deren geschichtliche Besonderheiten außer Betracht läßt, vermag dies nicht zu leisten. Auch geschichtliches Verständnis kann freilich theoretischer Begründung und Ausformung nicht entraten. Nur muß solche Theorie auf die konkrete Verfassungsordnung und die Wirklichkeit bezogen sein, welche die Verfassung zu ordnen bestimmt ist.

I. Aufgaben und Bedeutung 2 „Jeder dauernde Verband bedarf einer Ordnung, der gemäß sein Wille gebildet und vollzogen, sein Bereich abgegrenzt, die Stellung seiner Mitglieder in ihm und zu ihm geregelt wird. Eine derartige Ordnung heißt eine Verfassung. Notwendig hat daher jeder Staat eine Verfassung ... Die Regel aber bildet bei Kulturvölkern eine rechtlich anerkannte, aus Rechtssätzen bestehende Ordnung. Die Verfassung umfaßt demnach in der Regel die Rechtssätze, welche die obersten Organe des Staates bezeichnen, die Art ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihren Wirkungskreis festsetzen, ferner die grundsätzliche Stellung des Einzelnen zur Staatsgewalt" 2 . 3 Diese allgemeine Kennzeichnung G E O R G J E L L I N E K S vermag eine erste Orientierung zu vermitteln3. Sie enthält die — wesentlichen — Aspekte der Organisation des Staates, seiner Organe, ihrer Kompetenzen und der Schranken staatlichen Handelns. Damit allein vermag sie indessen den Sinn und die Bedeutung einer geltenden, konkret-geschichtlichen Verfassung wie des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland nicht zu erschließen. Das ermöglicht erst die Einsicht in weitere — primäre — Funktionen der Verfassung, welche dieser in der Wirklichkeit des Lebens eines heutigen politischen Gemeinwesens neben ihrer Organisationsfunktion zukommen: ihre Integrationsfunktion und ihre rechtliche Leitfunktion4. 2

3

4

G . JELLINEK Allgemeine Staatslehre, Neudruck der 3. A u f l . 1 9 2 1 , S. 505. — Z u der Geschichte des Verfassungsgedankens und den Typen geschichtlicher Verfassungen ebd. S. 505 f f ; P. BADURA Artikel Verfassung, in: Evangelisches Staatslexikon, 3. A u f l . 1987, Sp. 3 7 3 8 f f ; K . STERN Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. A u f l . 1 9 8 4 , S. 61 f f ; H. HOFMANN Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: Recht — Politik — Verfassung, 1 9 8 6 , S. 261 f f ; D. GRIMM Verfassung, in: Die Zukunft der Verfassung, 1 9 9 1 , S. 11 f f ; DERS. D e r Verfassungsbegriff in historischer Entwicklung, ebd. S. 101 ff. Sie ist, soweit ersichtlich, keinen Einwänden ausgesetzt. A u s dem heutigen Schrifttum: BADURA Artikel Verfassung (Fn. 2) Sp. 3737 ff; DERS. Verfassung und Verfassungsgesetz, in: Festschrift für U. Scheuner, 1973, S. 19 f f ; STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 2) S. 69 f f ; GRIMM Verfassung (Fn. 2) S. 11 ff; J. ISENSEE Staat und Verfassung, in: H d B S t R Bd. 1, 1987, § 1 3 ; J. F. AUBERT La Constitution, son contenu, son usage, in: Referate zum 125. Schweizerischen Juristentag, 1 9 9 1 , S. 9 f f ; Κ . EICHENBERGER Sinn und Bedeutung einer Verfassung, ebd. S. 1 4 3 ff. Zu den heutigen verfassungstheoretischen Positionen: H. VORLÄNDER Verfassung und Konsens, 1 9 8 1 , bes. S. 2 7 5 ff. A u f die weithin übliche Unterscheidung zwischen „formeller" und „materieller" Verfassung w i r d

§1

Verfassung und Verfassungsrecht (HESSE)

5

1. Grundaufgaben der Verfassung Die Funktionen der Verfassung im Leben des Gemeinwesens gelten allem voran 4 zwei Grundaufgaben: der Bildung und Erhaltung politischer Einheit sowie der Schaffung und Erhaltung rechtlicher Ordnung. Beide hängen eng miteinander zusammen. a)

Integrationsfunktion

Die politische Handlungseinheit, die wir „Staat" nennen, ist heute nicht, wie in der 5 Umschreibung JELLINEKS vorausgesetzt, etwas, was ohne weiteres vorgegeben ist. Es bedarf der Herstellung dieser Einheit, und es bedarf ihrer Erhaltung, dies um so mehr, als sie sich nicht in dem einheitlichen Willen eines souveränen Volkes oder einer herrschenden Klasse verkörpert. Sie muß vielmehr im politischen Prozeß der modernen pluralistischen Gesellschaft gewonnen und gesichert werden: im Nebenund Gegeneinander zahlreicher Gruppen, in dem der Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Meinungen, Interessen und Bestrebungen, die Austragung und die Regelung von Konflikten gleichermaßen zur kategorisch gestellten Aufgabe wie zur Daseinsbedingung des Staates geworden sind. Wo es nicht mehr möglich ist, aus der Vielheit der einzelnen Willensrichtungen einen verbindlichen Gesamtwillen zu bilden, wo es nicht mehr gelingt, im Wege der Verständigung oder der Mehrheitsentscheidung politische Ziele zu setzen und zu verwirklichen, zerbricht der Staat als politische Handlungseinheit. Sein Entstehen und Bestehen beruht auf dem Erfolg des Prozesses staatlicher Integration, in dem mit Recht ein Grundelement seines Wesens gesehen worden ist5. Dieser Erfolg hängt im letzten von dem Grad der Zustimmung ab, die der 6 Staat findet. Es kommt darauf an, daß der Staat von den Menschen, die in ihm leben, getragen, verantwortet und wenn nötig auch verteidigt wird; nur in dem Maße, in dem das geschieht, läßt sich sagen, daß er ein gefestigter, ein „starker" Staat sei. Diese Bedingungen sind eine Frage zahlreicher außerrechtlicher Faktoren wie Tradition, politisches Bewußtsein oder führende Persönlichkeiten; sie sind in einem nicht näher bestimmbaren und wachsenden Maße, aber notwendig, auch eine Frage des Rechts. Denn jener Prozeß bedarf der rechtlichen Ordnung: Das Zusam-

5

im folgenden verzichtet. Unter dem ersten Begriff w i r d (nur) das Verfassungsgesetz verstanden, das sich v o n anderen Gesetzen durch seine erschwerte Abänderbarkeit unterscheidet. D e r zweite umfaßt ohne Rücksicht auf die A r t und Geltungsqualität der Normierung das gesamte f ü r das Leben und die Wirksamkeit des Staates grundlegende Recht, wobei klare Grenzen sich nicht ziehen lassen. Werden, wie hier, als „Verfassung" nur das Grundgesetz und sein Inhalt verstanden, dann ist die Unterscheidung entbehrlich. Ungeschriebenes Verfassungsrecht, beispielsweise Verfassungsgewohnheitsrecht, kann es v o n diesem Standpunkt aus nur als Entfaltung, Vervollständigung oder Fortbildung der Prinzipien der Verfassung und immer nur im Einklang mit diesen Prinzipien geben (vgl. dazu K . HESSE Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. A u f l . 1 9 9 1 , Rdn. 32 ff); als Beispiel ist etwa der Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens zu nennen. R. SMEND Verfassung und Verfassungsrecht ( 1 9 2 8 ) in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. A u f l . 1968, S. 1 3 6 ff.

6

1. Kapitel. Grundlagen

menwirken, das zur Bildung politischer Einheit führen und in dem staatliche Aufgaben erfüllt werden sollen, bedarf der Organisation und des geordneten Verfahrens 6 . Nicht minder kommt es darauf an, den Inhalt dieser Ordnung so zu gestalten, daß sie die Zustimmung der Menschen findet, die unter ihr leben sollen. Dieser Grundaufgabe dient die Verfassung, namentlich in ihren Grundrechten; sie läßt sich insoweit als rechtliche Ordnung des Prozesses staatlicher Integration begreifen. b)

Organisationsfunktion

7 Die Notwendigkeit rechtlicher Ordnung besteht nicht nur für die Bildung und Erhaltung politischer Einheit, sondern auch für das Handeln und Wirken der auf dieser Grundlage konstituierten staatlichen Organe. Insoweit bedarf es einer Normierung des staatlichen Aufbaus und der Erfüllung der staatlichen Aufgaben. Die Notwendigkeit der Wahrnehmung dieser Ordnungsaufgabe durch die Verfassung ist seit jeher geläufig. Es geht darum, Organe zu konstitutieren, denen nach ihrer sachlichen Eigenart unterschiedene, bestimmte und begrenzte Aufgabenbereiche staatlichen Wirkens und die Machtbefugnisse anvertraut werden, die zur sachgemäßen Wahrnehmung jener Aufgaben erforderlich sind: Die Verfassung begründet Kompetenzen und schafft damit im Umfang des jeweiligen Auftrags rechtmäßige staatliche Gewalt. Sie regelt, oft allerdings nur in Grundlinien, Verfahren, welche zu möglichst sachgemäßen Entscheidungen führen sollen. Sie ordnet die Funktionen der staatlichen Organe einander zu und sucht dadurch zu erreichen, daß diese einander sachgemäß ergänzen, daß Zusammenarbeit, Verantwortlichkeit, Kontrolle der Macht und deren Beschränkung sichergestellt werden, daß ein Mißbrauch von Kompetenzen verhindert wird. 8

Integrations- und Organisationsfunktion sind dabei in vielfältiger Weise aufeinander bezogen. Denn Inhalt und Erfolg des Wirkens der staatlichen Gewalten sind von dem Gelingen politischer Einheitsbildung abhängig; diese hängt ihrerseits von jenem Inhalt und Erfolg ab, der zu einem wesentlichen Teil dafür maßgebend ist, ob der Staat Zustimmung und Unterstützung findet, weshalb Richtung und Mittel des staatlichen Wirkens sich weitgehend an vorhandener oder zu erwartender Zustimmung und Unterstützung orientieren müssen. c) Rechtliche

Leitfunktion

9 Nicht nur in der Richtung auf den Staat besteht die Aufgabe rechtlicher Ordnung. Rechtlicher Ordnung bedarf in einem umfassenden Sinne das gesamte menschliche Zusammenleben innerhalb des Staatsgebietes, das ohne sie nicht möglich wäre. Dabei ist Ordnung nicht Selbstzweck, Ordnung um der Ordnung willen, sondern es kommt auf die Inhalte dieser Ordnung an: Sie soll „richtige" und deshalb legitime Ordnung sein. Als Maßstab solcher Richtigkeit läßt sich in der heutigen Zeit, die der Geschichtlichkeit allen Rechts inne geworden ist, nicht mehr auf ein außerhalb menschlichen Denkens und Handelns bestehendes Naturrecht zurückgreifen. Ebensowenig 6

H. HELLER S t a a t s l e h r e , 1 9 3 4 , S. 8 8 f f , 2 2 8 f f .

§ 1

Verfassung und Verfassungsrecht (HESSE)

7

ist es indessen gerechtfertigt, sich auf einen skeptischen Positivismus zurückzuziehen, für den ohne Rücksicht auf ihren Inhalt jede Regelung „Recht" ist, die von den zuständigen Instanzen als Recht gesetzt worden ist. Maßstäbe der Richtigkeit geschichtlichen Rechts bieten demgegenüber bewährte Rechtstradition, aber auch ihr Gegenteil: geschichtliche Erfahrungen, die erwiesen haben, was nicht „richtig" ist und darum nicht als Recht angesehen werden darf, wie ζ. B. die Vernichtung „rassisch wertlosen" oder „lebensunwerten" Lebens unter dem nationalsozialistischen Unrechtsregime. Darüber hinaus und im Zusammenhang damit ergeben sich Maßstäbe aus den Rechtsgrundsätzen, die sich im Kampf und in der Erfahrung der Generationen gebildet haben und durch sie bestätigt worden sind, im besonderen aus den Menschen- und Bürgerrechten sowie weiteren Grundsätzen, wie denen der Unabhängigkeit der Richter oder des rechtlichen Gehörs. Maßstäbe sind endlich die Leitbilder der lebenden Generation für die Gestaltung der Gegenwart und die der Zukunft. Die rechtliche Leitfunktion der Verfassung besteht darin, diese Maßstäbe aufzunehmen und sie — vor allem in den Grundrechten — für die Gesamtrechtsordnung verbindlich zu machen. Die Verfassung trägt gleichsam als Zwischen- oder Bindeglied zu ihrem Teil dazu bei, „richtige" rechtliche Ordnung zu gewährleisten. 2. Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens In der Erfüllung dieser grundlegenden Aufgaben politischer Einheitsbildung und 10 rechtlicher Ordnung wird die Verfassung zur rechtlichen Grundordnung nicht nur des Staates7, sondern auch für das nichtstaatliche Leben innerhalb des Staatsgebietes: zur rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens. Sie bestimmt zunächst die Leitprinzipien, die zur Bildung politischer Einheit 11 führen, nach denen diese sich vollziehen und nach denen staatliche Aufgaben wahrgenommen werden sollen; nach dem Grundgesetz sind dies die Unantastbarkeit der Würde des Menschen als oberstes Konstitutionsprinzip der verfassungsmäßigen Ordnung, die Prinzipien der Republik, der Demokratie, des sozialen Rechtsstaates und des Bundesstaates. In der näheren Konkretisierung dieser Prinzipien ordnet die Verfassung die Organisation und das Verfahren politischer Einheitsbildung und staatlichen Wirkens; sie zieht Schranken dieses Wirkens. Sie normiert Regeln, nach denen die staatlichen Organe zu bilden, nach denen die politische Gesamtrichtung zu bestimmen und schwebende Fragen zu entscheiden sind. Sie regelt die Kompetenzen dieser Organe und in Grundzügen das Verfahren, in dem diese wahrzunehmen sind. Sie schafft Verfahren zur Bewältigung von Konflikten innerhalb des Gemeinwesens. Darüber hinaus normiert die Verfassung Grundlinien rechtlicher Gesamtord- 12 nung, nicht nur des staatlichen Lebens im engeren Sinn. Sie positiviert Prinzipien und Maßstäbe für die Setzung und Anwendung der Sätze der Rechtsordnung. Sie ordnet die für das Gesamtleben wesentlichen Lebensbereiche zusammen, und zwar deshalb, weil diese Bereiche zum Leben des Gesamtkörpers gehören und in unauf7

So der Titel der bedeutsamen Schrift v o n W. KÄGI 1945.

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1. Kapitel. Grundlagen

hebbarem Zusammenhang mit der politischen Ordnung stehen. In diesem Sinne werden in der Verfassung auch Grundlagen von Lebensbereichen geordnet, die mit der Ordnung politischer Einheitsbildung und staatlichen Wirkens unmittelbar nichts zu tun haben, etwa die Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung: Ehe, Familie, Eigentum, Erbrecht, Grundlagen des Strafrechts, Grundsätze für die Ordnung des Bildungswesens, des religiösen, des Arbeits- oder des Soziallebens. In allem ist die Verfassung „der grundlegende, auf bestimmte Sinnprinzipien ausgerichtete Strukturplan für die Rechtsgestalt eines Gemeinwesens" 8 .

II. Zur Eigenart des Verfassungsrechts 13 Nicht nur durch seine Aufgaben und seinen Gegenstand unterscheidet sich Verfassungsrecht von anderen Rechtsgebieten. Wesentliche Besonderheiten liegen auch in seinem Rang, in der Art seiner Regelungen sowie den Bedingungen seiner Geltungsund Durchsetzungskraft in der sozialen Wirklichkeit. Diese Unterschiede sind für seine Wirkungsweise von grundlegender Bedeutung; die Einsicht in sie ist Voraussetzung für das Verständnis verfassungsrechtlicher Probleme und deren angemessener Lösung. 1. Vorrang 14 Dem Verfassungsrecht kommt der Vorrang vor allem übrigen innerstaatlichen Recht zu 9 . Dieser Vorrang ist Voraussetzung der Funktion der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des Gemeinwesens. Verfassungsrecht kann daher durch einfache Gesetze weder aufgehoben noch abgeändert werden; keine Bestimmung der Rechtsordnung und kein staatlicher Akt darf sich in Widerspruch zu ihm setzen; alle staatlichen Gewalten, auch die gesetzgebende, sind an die Verfassung gebunden (vgl. Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 GG). 2. Offenheit und verbindliche Festlegung 15 Diese Bindung ist, namentlich in einer Verfassung mit ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit wie dem Grundgesetz, nicht unproblematisch. Denn die Regelungen der Verfassung sind weder vollständig noch vollkommen. Weite Bereiche, auch solche des im engeren Sinne staatlichen Lebens, werden nur durch Bestimmungen von mehr oder minder großer Weite und Unbestimmtheit, manche sogar überhaupt nicht geordnet. Die Verfassung ist kein geschlossenes und allumfassendes System; sie enthält keine Kodifikation, sondern eine punktuelle Zusammenfassung von 8

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A. H O L L E R B A C H Ideologie und Verfassung, in: Ideologie und Recht, hrsg. von W. Maihofer, 1968, S. 46. Dazu R. WAHL Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20, (1981) S. 485 ff; GRIMM Verfassung (Fn. 2) S. 14. Zum Verhältnis von Verfassungsrecht und Völkerrecht vgl. etwa K . IPSEN/CH. G L O R I A Völkerrecht, 3. Aufl. 1990, S. 1071 ff, bes. S. 1082 ff. Zum Verhältnis von Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht vgl. § 4.

§ 1

Verfassung und Verfassungsrecht (HESSE)

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einzelnen Grundsätzen und Grundzügen der Gesamtordnung des Gemeinwesens, für die sie einen Rahmen bildet. Sie ist eine „offene" Ordnung. Diese Offenheit ist stets begrenzt. Aber soweit sie reicht, gibt sie — dies ist 16 vor allem ein wesentlicher Sinn und Inhalt demokratischer Ordnung — Raum für einen freien politischen Prozeß und sucht sie diesen zu gewährleisten. Die Verfassung ermöglicht daher durchaus unterschiedliche politische Konzeptionen, Zielsetzungen und deren Verfolgung. Sie ermöglicht es, veränderten technischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gegebenheiten Rechnung zu tragen, sich dem geschichtlichen Wandel anzupassen, und sie sichert damit eine Grundvoraussetzung ihres eigenen Bestands und ihrer Wirkkraft. Zugleich hat die Unbestimmtheit und Weite mancher Verfassungsnormen frei- 17 lieh zur Folge, daß verfassungsrechtliche Fragen oft schwerer zu beantworten sind als Fragen aus anderen Rechtsgebieten, die eine detaillierte normative Regelung gefunden haben. Namentlich das zugrunde gelegte Verständnis der Verfassung, im besonderen der Grundrechte, ist von erheblicher Bedeutung und kann zu unterschiedlichen Antworten führen. Da alle staatlichen Gewalten an die Verfassung gebunden sind, entscheidet sich hier die zentrale Frage, ob und in welchem Umfang der Gesetzgeber im konkreten Falle bei einer Regelung frei oder ob er verfassungsrechtlichen Bindungen unterworfen ist, deren Einhaltung der Kontrolle des Verfassungsgerichts unterliegt. Die relative Offenheit und Weite des Verfassungsrechts liefe allerdings Gefahr, 18 zur Auflösung in totale Dynamik zu führen, wenn sie nicht mit bestimmter und verbindlicher Festlegung gepaart wäre; beides, Offenheit und verbindliche Festlegung, sind Voraussetzung für die Erfüllung der Aufgaben der Verfassung. Demgemäß legt die Verfassung die Grundlagen der Ordnung des Gemeinwesens sowie Inhalte fest, die der ständig neuen Diskussion und Infragestellung entrückt sein sollen. Dem Gemeinwesen werden damit Halt und Richtpunkte gegeben, die notwendig sind, um der Fülle der Probleme Herr zu werden. Die Verfassung wirkt stabilisierend; sie wirkt zugleich entlastend, weil nur das entschieden werden muß, was noch nicht vorentschieden ist10, und ermöglicht damit erst die unentbehrliche Offenheit. Verbindlich festgelegt sind vor allem der staatliche Aufbau und Verfahren. Gerade die Verfahrensregelungen sind von oft unterschätzter Bedeutung, weil sie bei angemessener Gestaltung zur richtigen Entscheidung offener Fragen beitragen. Sie schaffen zudem eine feste Form, in der Entscheidungen getroffen werden sollen, und schließen damit regellose Machtkämpfe aus. Sie machen endlich den Vorgang der Entscheidungsbildung für die Beteiligten und die von der Entscheidung Betroffenen einsehbar und verstehbar. Je mehr die Verfassung selbst auf Entscheidungen verzichtet, desto wichtiger ist es, daß sie für diese ein geordnetes Verfahren bereitstellt. Erst auf diese Weise kann die Offenheit der Verfassung die ihr zukommende Funktion erfüllen. 10

D. GRIMM Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, in: Die Zukunft der Verfassung (Fn. 2) S. 323.

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1. Kapitel. Grundlagen

3. Selbstgewährleistung 19 Verfassungsrecht unterscheidet sich schließlich von dem Recht anderer Rechtsgebiete dadurch, daß es letztlich keine Instanz gibt, die seine Einhaltung erzwingen könnte; Verfassungsrecht muß sich selbst gewährleisten, und dies setzt eine Gestaltung voraus, die solche Selbstgewährleistung nach Möglichkeit zu sichern imstande ist. Die Ordnungs- und Befriedungsfunktion des staatlichen Rechts beruht zu einem wesentlichen Teil darauf, daß es, wenn nötig im Wege der Vollstreckung, durch staatlichen Zwang, durchgesetzt wird. Seine Befolgung ist also stets „von außen" gewährleistet. Anders bei den Regelungen der Verfassung. Deren Einhaltung ist weder durch eine über ihr stehende Rechtsordnung 11 noch durch überstaatlichen Zwang gesichert; die Verfassung ist auf ihre eigenen Kräfte und Garantien beschränkt. Sie sucht dieser Lage durch eine Gestaltung Rechnung zu tragen, die durch die Teilung und das Zusammenspiel der staatlichen Gewalten die Einhaltung des Verfassungsrechts immanent bewirken soll: Sie muß sozusagen ein in sich gravitierendes System bilden und die Bedingungen ihrer Durchsetzung in sich selbst tragen 12 . Aber dieses immanente Gleichgewicht bleibt immer prekär. Sofern ein Gericht besteht, das über die Frage der Einhaltung der Verfassung zu entscheiden hat, kann zwar verbindlich festgestellt werden, ob dies der Fall ist oder nicht, und aus dem Spruch des Gerichts können sich Konsequenzen ergeben, die auf eine Wiederherstellung oder Respektierung der verfassungsrechtlichen Lage hinwirken. Erzwingen läßt sich dies indessen nicht; es kommt letztlich darauf an, daß jedes staatliche Organ sich freiwillig den Bindungen der Verfassung unterwirft und daß alle ihre Verantwortlichkeit für die Befolgung der Verfassung erkennen und wahrnehmen. — Die Vorstellung eines über oder außerhalb dieser Immanenz stehenden „Hüters der Verfassung" 13 verfehlt die Problematik und kann daher in die Irre führen. 4. Bedingungen tatsächlicher Geltung 20 Darüber hinaus kann auch das kunstvollste Verfassungssystem seine Einhaltung nicht wirksam gewährleisten, wenn es an den Voraussetzungen seiner tatsächlichen Geltung fehlt, wenn die Verfassung nicht imstande ist, die Realität gelebter, geschichtliche Wirklichkeit formender und gestaltender Ordnung zu gewinnen. Diese Fähigkeit, die Bedingung dafür ist, daß die Verfassung ihre dargelegten Funktionen erfüllen kann, hängt weithin von außerrechtlichen Faktoren ab, welche die Verfassung ihrerseits nur beschränkt zu beeinflussen vermag. Zu ihnen gehören die Gegebenheiten der geschichtlichen Wirklichkeit, die zu ordnen die Verfassung bestimmt ist, der geistige, soziale, politische oder ökonomische Entwicklungsstand der Zeit. Je mehr Verfassungsrecht an diese Gegebenheiten anknüpft, die Kräfte und Tendenzen der Zeit in sich aufnimmt, desto eher wird es seine Wirkung entfalten können. Sucht

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Daran ändert sich auch nichts durch völkerrechtliche Bindungen des Staates und durch den Geltungs- und Anwendungsvorrang des Rechts der Europäischen Gemeinschaft. (Vgl. § 4). SMEND Verfassung (Fn. 5) S. 195 f. C. SCHMITT Der Hüter der Verfassung, 1931.

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es geschichtlich überholte Gestaltungsformen festzuhalten oder strebt es umgekehrt eine Utopie an, dann wird es unvermeidlich an den Realitäten scheitern. Nicht minder wesentlich ist daneben das Verhalten der Menschen, die am 21 Verfassungsleben beteiligt sind, die Bereitschaft der politisch Führenden wie der Geführten, die Inhalte der Verfassung als verpflichtend anzuerkennen. Nicht der Wille des historischen Verfassunggebers vermag zu bewirken, daß die Normierungen der Verfassung befolgt, daß die durch sie konstituierte politische Handlungseinheit Staat bejaht und verantwortlich mitgetragen wird, sondern dazu muß die Einigkeit der Väter und Mütter der Verfassung prinzipiell unter denen fortbestehen, die später unter der Verfassung zu leben haben. Es kommt darauf an, daß die von ihr normierte Ordnung als „richtige", als legitime Ordnung angesehen wird und darum integrierende Wirkung entfaltet. Der die aktuellen Gegensätze und Konflikte übergreifende grundsätzliche Konsens hierüber ist ein wesentlicher Faktor, von dem die Lebensund Wirkkraft des Verfassungsrechts abhängt 14 .

III. Die Verfassung im geschichtlichen Wandel 1. VerfassungsWandlung und Verfassungsänderung Jede Verfassung ist „Verfassung in der Zeit" 15 : Die soziale Wirklichkeit, aufweiche 22 ihre Regelungen bezogen sind, unterliegt dem geschichtlichen Wandel, und dieser läßt den Inhalt der Verfassung in keinem Falle unberührt. Bleibt er unberücksichtigt, wird also der Inhalt der Verfassung „versteinert", dann wird diese über kurz oder lang ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen können. Ebenso kann die Verfassung ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie uneingeschränkt den jeweils veränderten Gegebenheiten angepaßt wird; hier sind dann nicht mehr ihre Normierungen Maßstab der Verhältnisse, sondern die Verhältnisse werden zum Maßstab ihrer Normierungen. Dem läßt sich zwar bis zu einem gewissen Grade durch das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten für verfassungsändernde Gesetze entgegenwirken. Aber in beiden Fällen erweist sich die Macht der Fakten größer als die Macht des Rechts: im ersten geht die Zeit über die Verfassung hinweg, im zweiten pervertiert die Verfassung zu einem Spiegelbild der jeweils bestehenden Machtverhältnisse. Unter dem Aspekt der „Verfassung in der Zeit" kann die Verfassung ihre Aufgaben daher nur erfüllen, wo es gelingt, ihre normierende Kraft auch unter

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Vgl. dazu U. SCHEUNER Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in: Staatstheorie und Staatsrecht. Ges. Schriften, 1978, S. 135 ff; A . PODLECH Wertentscheidungen und Konsens, in: G. Jakobs (Hrsg.) Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. 29 ff. Eingehend zu den Bedingungen eines Konsenses über die Verfassung in der Gegenwart: VORLÄNDER Verfassung und Konsens (Fn. 3) bes. S. 157 ff ( 3 . - 5 . Kapitel). Dazu grundlegend: BÄUMLIN Staat, Recht und Geschichte (Fn. 1) bes. S. 9; P. HABERLE Zeit und Verfassung, in: DERS., Die Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 59 f; G. HUSSERL Recht und Zeit, 1955, S. 67 ff.; J. P. MÜLLER Recht und Zeit, in: Festschrift f ü r R. Bäumlin, 1 9 9 3 , S. 9 5 ff.

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1. Kapitel. Grundlagen

veränderten Verhältnissen zu bewahren, d. h. Kontinuität im geschichtlichen Wandel zu gewährleisten, was die Erhaltung der Identität der Verfassung voraussetzt. Von hier aus lassen sich weder die Verfassung im ganzen noch ihre einzelnen Sätze als toter Buchstabe, als etwas Statisch-Starres begreifen; gerade ihre Kontinuität kann zu einer Frage des Wandels werden. Dieser kann sich auf zwei Wegen vollziehen. 23

Ein Weg besteht in Änderungen des Inhalts der Verfassungssätze bei gleichbleibendem Text: in Verfassungswandlungen. Er ist dort gegeben, wo die Verfassung, wie namentlich in den Grundrechten, „offene" Normen enthält, d. h. Regelungen, die sich wegen ihrer allgemeinen, oft nur umrißhaften sprachlichen Formulierung erst auf Grund einer näheren Konkretisierung realisieren lassen. Eine solche Konkretisierung ist nur möglich, indem der Text der Norm auf den von ihr erfaßten Ausschnitt der geschichtlichen Wirklichkeit bezogen wird. Dieser konstituiert den Inhalt der Norm mit, der sich von den Realisierungsbedingungen der Norm nicht ablösen und unveränderlich halten läßt16; wandelt er sich, so wandelt sich auch der Inhalt der Norm. Deutlich zu Tage tritt solcher Wandel in erster Linie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, sowohl in einzelnen Entscheidungen17 als auch in dem Gesamtspektrum der Rechtsprechung zu den Grundrechten des Grundgesetzes, die allgemein die Tragweite und den Inhalt der Grundrechte weit über ihre ursprüngliche Bedeutung als Abwehrrechte hinaus entfaltet haben.

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Ihre im einzelnen oft nicht ganz leicht zu bestimmende Grenze findet die Verfassungswandlung im Text der Verfassung18: Eine veränderte Auslegung von Verfassungssätzen, die in eindeutigen Widerspruch zum Normtext treten würde, ist unzulässig. Jenseits dieser Grenze bedarf es zur Bewältigung neuer Problemlagen oder zu Reformen einer Änderung des Verfassungstextes: der Verfassungsänderung (vgl. Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG). In jedem Falle setzt Verfassungsänderung jedoch voraus, daß erhalten bleibt, was die Identität der Verfassung begründet, nach dem Grundgesetz die in Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze, die Gliederung des Bundes in Länder und deren grundsätzliche Mitwirkung bei der Gesetzgebung (Art. 79 Abs. 3). „Verfassungsänderungen", welche diese Identität aufheben und damit Diskontinuität bewirken würden, sind unzulässig. Es handelt sich in Wahrheit um Verfassunggebung, eine Ersetzung der bisherigen durch eine neue Verfassung, jenseits der Legalität der bisherigen Verfassung. 16

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Vgl. auch GRIMM Verfassung (Fn. 2) S. 22 f. Zum Ganzen näher: F. MÜLLER Juristische Methodik, 4. A u f l . 1990, S. 270 ff. Vgl. etwa B V e r f G E 53, 157, 290 ff (Sozialversicherungsrechtliche Positionen als Gegenstand des Schutzes durch die Eigentumsgarantie); 54, 148, 153 (Verfassungsrechtliche Gewährleistung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts); 65, 1, 41 ff (Datenschutz); 73, 118, 154 und 74, 297, 350 (Rundfunkfreiheit unter veränderten Bedingungen). Dazu näher: K . HESSE Grenzen der Verfassungswandlung, in: Festschrift für U. Scheuner, 1973, 5. 123 ff.

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2. Problemveränderungen Das Verfassungsmodell, an welches das Grundgesetz anknüpft, ist, wenn auch 25 mehrfach abgewandelt, das des 19. Jahrhunderts. In der konstitutionellen Monarchie dieser Zeit war es Aufgabe der Verfassung, die — als vorgegeben angesehene — prinzipiell allumfassende monarchische Staatsgewalt zu beschränken und dem Bürger wie der Gesellschaft im ganzen auf diese Weise selbstverantwortliche Freiheit zu gewährleisten. Dies geschah in erster Linie dadurch, daß Gesetzesbeschlüsse — einschließlich der Feststellung des Staatshaushaltsplanes — an die Zustimmung der Kammern gebunden wurden. Soweit Grundrechte für die Sicherung der Freiheit eine Rolle spielten, waren sie Abwehrrechte gegen die monarchische Staatsgewalt, die diese verpflichteten, Eingriffe in das geschützte Recht zu unterlassen. Grundrechtliche Freiheit war in dem gewährleisteten Umfang Freiheit vom Staat, Ausgrenzung einer staatlichen Einwirkung entzogenen Sphäre 19 . a) Der heutige Staat und seine Aufgaben Im demokratischen Lenkungs-, Leistungs- und Vorsorgestaat der Gegenwart stellen 26 sich die Aufgaben grundsätzlich anders. Es geht nicht mehr um Beschränkungen einer vorfindlichen unumschränkten 27 staatlichen Gewalt, sondern die Aufgabe besteht darin, demokratisch legitimierte, von vornherein begrenzte staatliche Gewalt zu konstituieren und sie in der Ordnung des politischen Prozesses funktions- und leistungsfähig zu erhalten. Es geht ferner darum, auch unter den modernen Bedingungen Freiheit und Leben in menschlicher Würde wirksam zu gewährleisten. Dazu bedarf es neben den organisatorischen Regelungen auch in der Demokratie der Grundrechte als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe. Aber das Prinzip der Ausgrenzung reicht nicht mehr aus: Das, was die Grundrechte gewährleisten sollen, hängt nicht nur vom Unterlassen solcher Eingriffe ab, sondern in weitem Umfang von staatlichem Tätigwerden, der Schaffung der Voraussetzungen eines freien und menschenwürdigen Lebens durch staatliche Planung, Lenkung und Vorsorge. Dabei darf die Aufgabe der „Vorsorge" nicht nur als aktuelle Daseinsvorsorge und soziale Fürsorge verstanden werden; sie umfaßt auch die Verantwortung für die Zukunft der Menschen, welche es notwendig macht, mögliche Folgewirkungen heutigen Verhaltens und heutiger Entwicklungen, beispielsweise der Staatsverschuldung, der Lagerung radioaktiver Abfälle oder der Gentechnologie, zu beachten und Vor-Sorge dafür zu treffen, daß künftige Generationen vor den damit verbundenen Belastungen, Gefahren oder Risiken bewahrt werden 20 . 19

Zur damaligen Funktion der Grundrechte vgl. etwa U. SCHEUNER Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts, in: Festschrift für E. R. Huber, 1973, S. 139 ff; E. R. HUBER Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem, in: Festschrift für U. Scheuner, 1973, S. 163 ff; R. WAHL Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, in: Der Staat 18, 1979, S. 3 2 1 ff.

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Dieser Aspekt der „Verfassung in der Zeit" wird als „Risikovorsorge" mit Recht hervorgehoben von GRIMM Die Zukunft der Verfassung (Fn. 2) S. 4 1 6 ff, mit weiteren Nachweisen. Zur Problematik grundsätzlich: P. SALADIN Verantwortung als Staatsprinzip, 1984, S. 99 ff.

1. Kapitel. Grundlagen

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Davon abgesehen vermag bloße Ausgrenzung einer staatlichen Eingriffen entzogenen Sphäre nicht vor den Gefahrdungen menschlicher Freiheit durch nichtstaatliche Mächte zu bewahren, die in der Gegenwart bedrohlicher werden können als die Gefährdungen durch den Staat. Soll eine Verfassung angesichts dieser Sachlage Freiheit gewährleisten, so bedarf es weitergehender Vorkehrungen als der Normierung der Freiheit vom Staat. Es kommt darauf an, die Schaffung jener Voraussetzungen und die Bereitstellung der dazu erforderlichen Leistungen zu sichern, ohne dabei durch eine übermäßige Ausdehnung zu allumfassender Fürsorge, Planung und Gestaltung selbstbestimmte und selbstverantwortliche Lebensgestaltung aufzuheben. Es bedarf in zunehmendem Maße der Zuordnung miteinander kollidierender Freiheitsbereiche. Und es kommt endlich darauf an, Freiheit gegen die Ausübung gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Macht zu schützen, was ebenfalls staatliches Tätigwerden erfordert. Eine freiheitliche, gerechte und leistungsfähige Ordnung entsteht also nicht mehr — wovon die ältere Vorstellung ausging — gleichsam automatisch aus der Aufteilung staatlicher Gewalt und deren Abstinenz gegenüber einer autonomen gesellschaftlichen Sphäre, sondern sie muß in einer zunehmend komplexer werdenden Welt aktiv bewirkt werden. 29 Das bedeutet eine Gewichtsverlagerung von den ordnungsbewahrenden hin zu ordnungsgestaltenden Aufgaben des Staates und den für die Wahrnehmung dieser Aufgaben typischen Handlungsformen. In diesem Zusammenhang können sich die überkommenen imperativen Mittel, insbesondere das Gesetz und der hoheitliche Einzelakt, als nicht zureichend erweisen. Zudem sind staatliche Maßnahmen oft nur bei einer Mitwirkung oder zumindest Billigung der Kräfte der Wirtschaft oder sozialer Machtgruppen realisierbar, und diese muß der Staat durch Verhandlungen zu erreichen suchen. Nach verbreiteter Auffassung mindert das alles seine Fähigkeit, gesellschaftliche Entwicklungen zu steuern21, obwohl gerade dies mehr und mehr zu seiner Aufgabe wird. b) Verfassung und gestaltender Staat 30 Dieser Wandel hat bereits zu wesentlichen Veränderungen im Verständnis der Verfassung und der Auslegung ihrer Regelungen geführt. In erster Linie gilt das für die Grundrechte, deren Bedeutung heute weit über diejenige individueller Abwehrrechte gegen den Staat hinausgewachsen ist (unten § 5). Insoweit ist die frühere Tragweite der Verfassung nicht nur erhalten, sondern trotz der veränderten Bedingungen der Gegenwart sogar gesteigert worden, eine Folge namentlich des Ausbaus und des Wirkens der Verfassungsgerichtsbarkeit. Gegenüber der modernen ordnungsgestaltenden Tätigkeit des Staates behält die Verfassung ihre Grenzfunktion; denn sie bestimmt klar, welchen Inhalt gestaltende Maßnahmen des Staates nicht 21

Dazu näher: D. GRIMM Verbände unten § 15 Rdn. 7 ff; DERS. Wandel der Staatsaufgaben (Fn. 2) S. 166 ff; DERS. Die Zukunft der Verfassung (Fn. 2) S. 418 ff, mit der Diagnose neokorporativer Züge des politischen Systems; BADURA Artikel Verfassung (Fn. 2) Sp. 3758; H. HOFMANN Aufgaben und Grenzen des Staatshandelns unter den Bedingungen der Gegenwart, in: Veröffentlichungen der Walter Raymond-Stiftung 27, 1989, S. 21 ff.

§1

Verfassung und Verfassungsrecht (HESSE)

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haben dürfen. Insoweit trägt sie wie bisher „die Bedingungen ihrer Wirksamkeit in sich selbst"22; sie kann in dieser Funktion negatorische, gerichtlich verfolgbare Ansprüche des Bürgers begründen. Nach der positiven Seite hin kann die Verfassung die ordnungsgestaltenden Tätigkeiten hingegen nicht unmittelbar leiten und wirksam machen: sie kann ihnen in Zielsetzungen und Direktiven nur Richtlinien und Impulse geben. Insofern ist die Verfassung auf die Normierung eines Programms staatlicher Gestaltung beschränkt, das noch der Ausführung bedarf, und das deshalb darauf angewiesen ist, insbesondere vom Gesetzgeber aufgenommen und je nach den Problemlagen und Möglichkeiten der Zeit verwirklicht zu werden23. Soweit es dabei um die Verwirklichung sozialer Ziele geht, kommt dieser allerdings eine gewisse Zwangsläufigkeit des Sozialstaats zu Hilfe, der verfassungsrechtliche Garantien seiner Durchsetzung eher entbehren kann als der Rechtsstaat, weil keine politische Leitung heute auf soziale Vorsorge und sozialen Ausgleich verzichten kann24. c) Wandlungen der föderativen Ordnung Problemveränderungen zeigen sich ferner in der bundesstaatlichen Ordnung der 31 Verfassung. Das Grundgesetz knüpft insoweit an die Grundgesetze des Deutschen Bundes und die deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts an, besonders deutlich in der Einrichtung des Bundesrates. Neben die frühere und heute in begrenztem Maße fortbestehende Aufgabe föderativer Ordnung, politische Einheitsbildung bei Wahrung der Eigenständigkeit der Bundesglieder, tritt unter den Voraussetzungen heutiger Staatlichkeit gebieterisch die Notwendigkeit der Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse mit ihrer unvermeidlichen Folge zunehmender Unitarisierung, welche durch Faktoren wie die ganz überwiegend auf der Ebene des Gesamtstaates organisierten politischen Parteien wesentlich gefördert wird 25 . Der Verfassung stellt sich damit die Aufgabe, Bundesstaatlichkeit auch unter den modernen Bedingungen ihrer Realisierung zu gewährleisten, was ein Stehenbleiben bei den älteren Formen bundesstaatlicher Ordnung ausschließt. Der bislang eingeschlagene Weg, Einbußen der Eigenstaatlichkeit der Länder im Bereich der Gesetzgebung durch eine Erweiterung der Zuständigkeiten des Bundesrates auszugleichen, dürfte kaum zu einer hinreichenden Lösung führen. Doch kann hier eine gewisse gegenläufige Kraft nicht außer Betracht bleiben: die wachsende Fülle und Komplizierung staatlicher Aufgaben macht eine Dezentralisierung ihrer Wahrnehmung unvermeidlich und wirkt damit auf eine Stärkung der in den Organen der Länder verkörperten politischen Entscheidungszentren hin. d) ,,Internationalisierm¿'

und

„Europäisierung'

Zu wesentlichen Problemveränderungen führt schließlich die heutige Öffnung des 32 Staates nach außen, seine „Internationalisierung" und seine „Europäisierung". 22 23 24 25

E. FORSTHOFF Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: V V D S t R L Bd. 12 (1954) S. 16. Hierzu näher § 5 Rdn. 31 ff. GRIMM Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform (Fn. 2) S. 325. Dazu näher: HESSE Grundzüge (Fn. 4) Rdn. 220 f.

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1. Kapitel. Grundlagen

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„Internationalisierung"26 ergibt sich aus der wachsenden Bedeutung auswärtiger Entwicklungen für das innerstaatliche Leben wie für das Wirken des Staates. Neben vielfältigen Einbindungen in internationale Vertragssysteme und den daraus resultierenden Verpflichtungen wird der Tatbestand deutlich an den Abhängigkeiten der innerstaatlichen Wirtschaft von der Weltwirtschaft und deren Entwicklung, den zahlreichen insoweit bestehenden Interdependenzen, die dazu führen, daß äußere und innere Angelegenheiten sich immer weniger voneinander trennen lassen. Ebenso wie diese Entwicklung die Möglichkeiten autonomen Handelns des Staates reduziert, ist sie einer Normierung durch die nationale Verfassung kaum zugänglich. Insofern büßt die Verfassung ein Stück ihrer umfassenden Geltung ein. 34 Sehr viel weitergehende Wirkungen ergeben sich für die Bundesrepublik aus ihrer „Europäisierung", dem Ubergang von Staatsaufgaben auf (supranationale) Instanzen der Europäischen Gemeinschaft, der an Gewicht gewinnt, je mehr die Gemeinschaft auf dem Wege zur Europäischen Union voranschreitet (unten § 4). 35 Insoweit verliert die Verfassung im Umfang des staatlichen Verzichts auf ausschließliche Hoheitsgewalt einen Teil ihrer bisherigen Tragweite und Bedeutung. Zugleich führt die fortschreitende europäische Integration zu Verschiebungen in der verfassungsmäßigen Ordnung. Das zeigt sich etwa an Kompetenzeinbußen der Länder im Bereich der bundesstaatlichen Ordnung. Es gilt für die parlamentarische Demokratie, sowohl im Bund wie in den Ländern: Die nationale politische Willensbildung durch das demokratisch gewählte Parlament wird zugunsten einer im wesentlichen exekutivischen Willensbildung durch die zuständigen Organe der Europäischen Gemeinschaft beschränkt; soweit europäisches Recht in Geltung ist, ist kein Raum mehr für nationales Recht. Ähnliches gilt für die Funktion der parlamentarisch verantwortlichen Bundesregierung. Diese wirkt zwar im Rat (Art. 4 EWGV) an der europäischen Willensbildung mit; doch kann eine solche Mitbestimmung der Verlust nationaler Eigenbestimmung nicht voll ausgleichen, dies namentlich dann, wenn der Rat mit der Mehrheit seiner Mitglieder entscheidet und die Bundesrepublik überstimmt wird. Insgesamt werden die Verfassung und die nationale Rechtsordnung zu einer europarechtlich überlagerten Teil-Grundordnung und Teil-Rechtsordnung, was unter anderem nicht ohne Auswirkungen auf das Wirken und die Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit bleiben kann. 36

Die Bedeutung dieser Entwicklung darf nicht unter-, sie darf indessen auch nicht überschätzt werden. Eine „Auflösung des Verfassungsrechts in Verfassungsgeschichte" wird es nicht geben. Welche Form auch immer die Europäische Gemeinschaft künftig erhalten wird: Ihr Bestand wird stets den Bestand der Mitgliedstaaten und mit diesen den Bestand ihrer Verfassungen voraussetzen27. Auch wird die künftige Europäische Union ihre Aufgaben nur wirksam erfüllen können, wenn 26

27

Diesen wichtigen Aspekt hat v o r allem K. EICHENBERGER Sinn und Bedeutung einer Verfassung (Fn. 3) S. 183 ff überzeugend herausgearbeitet. H. P. IPSEN 40 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschlands, in: J ö R NF 38 (1989) S. 37 ff; DERS. Europäische Verfassung und Nationale Verfassung, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1987, S. 50.

§1

Verfassung und Verfassungsrecht (HESSE)

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sie dezentralisiert aufgebaut ist und hierbei dem Grundsatz der Subsidiarität folgt, die Gemeinschaft also auf das beschränkt, was einheitlicher Regelung der EG bedarf28. Auch dann ist allerdings der tiefgehende Wandel unverkennbar: Die Entwicklung des Staates vom überkommenen souveränen, in sich geschlossenen Nationalstaat zum heutigen international verflochtenen und supranational eingebundenen Staat findet ihre Entsprechung in dem Verlust der Suprematie und der bisherigen Reichweite seiner Verfassung. Als Verfassung eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft muß die Verfassung die durch das europäische Recht gezogenen Grenzen respektieren; ihre Inhalte müssen den Verschränkungen mit der europäischen Gemeinschaftsverfassung Rechnung tragen und auf diejenigen des europäischen Rechts abgestimmt werden, um mitgliedstaatliches und europäisches Handeln in Konkordanz zu bringen. Nicht zufällig steht deshalb die deutsche Einigung in untrennbarem Zusam- 37 menhang mit der europäischen Einigung. Beide setzen einander voraus. Wie das geeinte Deutschland notwendiger Bestandteil des geeinten Europa, so ist die Einfügung Deutschlands in dieses Europa Grundbedingung der nunmehrigen geschichtlichen Wende, nach der es keine Auferstehung des früheren deutschen Nationalstaats mehr geben kann. 3. Verfassungspolitik Die vorstehenden, nur umrißhaft dargestellten Problemveränderungen machen deut- 38 lieh: Das überkommene Verständnis des Staates läßt sich ebensowenig aufrechterhalten wie ein Verständnis der Verfassung, das sich an dem Modell der nationalen Verfassung älteren Typs orientiert. Aus dieser Lage läßt sich nicht auf eine Dämmerung oder zumindest eine Krise des Verfassungsstaates schließen. Kein Zweifel kann indessen an der Herausforderung bestehen, welche sie für die Gegenwart bedeutet. Nach der bisherigen Phase der Konsolidierung, des Ausbaus, zugleich erster Fortbildung und Wandlung der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes wird es notwendig, den Blick vermehrt auf künftige Entwicklungen zu richten; es gilt, die neuen Problemstellungen in ihrer Bedeutung für die Grundrechte, für die durch die Verfassung konstituierten staatlichen Organe, ihre Aufgaben und ihr Verfahren zu erfassen, zu analysieren und Vorkehrungen zu treffen, damit die verfassungsmäßige Ordnung den veränderten Lagen oder Funktionsbedingungen gerecht werden kann, Wege zu suchen, die auch unter anderen Vorzeichen als den bisherigen ein Leben in menschlicher Freiheit und Würde ermöglichen. Die Aufgabe vorausschauender, klar konzipierter Verfassungspolitik, die sich damit kategorisch stellt, besteht unabhängig von der deutschen Einigung. Sie ist eine längerfristige, bei der die Notwendigkeit einer Abstimmung mit dem Fortgang der europäischen Integration eine wesentliche Rolle spielen wird. 28

Vgl. nunmehr Art. 3 b Abs. 2 des Unionsvertrages v o n Maastricht. Der Grundsatz wird vielfach als unzureichend angesehen. Statt dessen werden klare Kompetenzregelungen gefordert, die bestimmte Sachgebiete ausschließlich den Mitgliedstaaten und deren Kooperation vorbehalten. Vgl. dazu etwa E. STEINDORFF Verfassungsänderung durch die EG?, in: A ö R 1 1 6 (1991) S. 4 6 4 f.

§ 2 Die Entwicklung der Rechtslage Deutschlands von 1945 bis zur Wiedervereinigung 1990 JOCHEN ABR.

FROWEIN

Übersiebt

I. Einführung II. Die Kapitulation der deutschen Wehrmacht und die Besetzung des Reichsgebietes 1. Die Kapitulation 2. Die Besetzung Deutschlands 3. Die Übernahme der obersten Regierungsgewalt 4. Würdigung III. Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 1. Allgemeines 2. Das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zum Deutschen Reich

Rdn. 1—2

3 — 10 3 4—7 8 9—11

12-18 12

Rdn. 3. Das Verhältnis der Deutschen Demokratischen Republik zum Deutschen Reich IV. Die Wiedervereinigung Deutschlands 1. Die Vorgeschichte 2. Der Vollzug des Beitritts . . . 3. Die Beendigung der VierMächte-Rechte 4. Die Regelung der deutschen Grenzen 5. Die verfassungsrechtliche Konsequenz der Einigung . .

17, 18 19-33 19 20-22 23-26 27—29 30—33

13 — 16

I. Einführung Deutschland hat nur kurze Zeit als völkerrechtlich und verfassungsrechtlich klar 1 definierter Nationalstaat bestanden. Vor 1867/71 war der Deutsche Bund als Institution, die völkerrechtliche und staatsrechtliche Elemente verband, eine unter den damaligen Staaten Europas schwer einzuordnende Erscheinung 1 . Noch weit schwieriger war die Qualifizierung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das mit der Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz II. 1806 ein Ende fand 2 . Bei seiner rechtlichen Würdigung gebrauchte SAMUEL P U F E N D O R F den berühmten Satz: 1 2

Dazu E. R. HUBER Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. I, 1957, S. 663—670. Vgl. A. RANDELZHOFER Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648, 1967, insbes. 6 7 - 1 0 7 .

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1. Kapitel. Grundlagen

„Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als das deutsche Reich, wenn man es nach' den Regeln der Wissenschaft von der Politik klassifizieren will, einen irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper zu nennen, der sich im Laufe der Zeit ... aus einer regulären Monarchie zu einer so disharmonischen Staatsform entwickelt hat, daß es nicht mehr eine beschränkte Monarchie, ..., aber noch nicht eine Föderation mehrerer Staaten ist, vielmehr ein Mittelding zwischen beiden"3. 2 Von 1945 bis 1990 war die Rechtslage Deutschlands erneut ein Problem, dessen Behandlung Bibliotheken füllt und das die Staatskanzleien nicht nur der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, sondern auch der vier Hauptsiegermächte des zweiten Weltkrieges, der Vereinigten Staaten von Amerika, des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland, der Französischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vor schwierige Fragen stellte, bei denen oft politische und rechtliche Faktoren in einer schwer auflösbaren Gemengelage verbunden erschienen.

II. Die Kapitulation der deutschen Wehrmacht und die Besetzung des Reichsgebietes 1. Die Kapitulation 3 Nachdem Generaloberst Jodl am 7. Mai 1945 in Reims für das Oberkommando der Wehrmacht eine einseitige Kapitulationserklärung gegenüber dem Oberkommandierenden der Alliierten Streitkräfte an der Westfront und gegenüber dem sowjetischen Oberkommando abgegeben und gleichzeitig vereinbart hatte, daß eine förmliche Ratifikation erfolgen sollte, wurde am 8. Mai 1945 eine Kapitulationserklärung in Berlin unterzeichnet4. Sie war allein auf die unter deutscher Kontrolle stehenden Streitkräfte bezogen und enthielt lediglich in Ziffer 4 folgenden Vorbehalt: „This act of military surrender is without prejudice to, and will be superseded by any general instrument of surrender imposed by, or on behalf of the United Nations and applicable to Germany and the German armed forces as a whole" 5 . 2. Die Besetzung Deutschlands 4 Zum Zeitpunkt der Kapitulation war der größte Teil des Reichsgebietes von alliierten Streitkräften besetzt6. Bis zum 23. Mai 1945 bestand die von Hitler eingesetzte

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Die Verfassung des Deutschen Reiches, 1667, deutsche Übersetzung des lateinischen Originals, 1976, S. 106 f. Dokumente in Faksimile: H. GEROLD (Hrsg.) Gesetze des Unrechts, 1979, S. 43 — 48. In der ausdrücklich nicht als authentisch bezeichneten deutschen Fassung lautete der Abschnitt: „Diese Kapitulationserklärung ist ohne Präjudiz f ü r irgendwelche an ihre Stelle tretenden allgemeinen Kapitulationsbestimmungen, die durch die Vereinten Nationen und in deren Namen Deutschland und der Deutschen Wehrmacht auferlegt werden mögen.", ebd. S. 47. Vgl. dazu W. PAUL Der Endkampf um Deutschland 1945, 1976, insbes. S. 422 ff.

§2

Die Entwicklung der Rechtslage Deutschlands von 1945 bis 1990 (FROWEIN)

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Reichsregierung unter Leitung des Großadmirals Dönitz, die an diesem Tage an ihrem Sitz in Flensburg von britischen Besatzungsstreitkräften aufgelöst wurde 7 . Gemäß dem Londoner Protokoll vom 12. 9. 1944 wurde Deutschland in seinen 5 Grenzen vom 31. 12. 1937 besetzt8. Alle territorialen Veränderungen nach diesem Datum behandelten die Alliierten als nichtig oder nicht mehr gültig 9 . Deutschland wurde in drei Zonen und das Gebiet von Berlin geteilt. Je eine Zone sollte von den USA, Großbritannien und der Sowjetunion besetzt werden, während Berlin danach gemeinsames Besatzungsgebiet sein sollte. Ein Ergänzungsabkommen vom 26. 7. 1945 legte dann vier Zonen fest, wobei Frankreich die neugebildete Zone zugewiesen wurde10. Das Protokoll vom 12. 9. 1944 bezeichnete alles deutsche Gebiet östlich der genau festgelegten Grenze, die an der Lübecker Bucht beginnt, mit Ausnahme Berlins als „Besatzungsgebiet" der Sowjetunion, wobei Ostpreußen besonders genannt wird („including the province of East Prussia")11. Die dem Ergänzungsabkommen vom 26. 7. 1945 beigefügte Karte zeigt ebenfalls das gesamte deutsche Gebiet nach dem Stande vom 31. 12. 1937 östlich der Grenze der sowjetischen Zone außer Berlin als zu dieser Zone gehörig12. In dem „Protocol of the Proceedings of the Berlin Conference", meist kurz als 6 Potsdamer Protokoll oder Abkommen bezeichnet, wird dann in Abschnitt VIII vereinbart, daß ein Gebiet östlich der später so genannten Oder-Neiße-Linie mit Ausnahme des nördlichen Ostpreußen unter der Verwaltung des polnischen Staates stehen und für diesen Zweck nicht als Bestandteil der sowjetischen Besatzungszone angesehen werden soll13. Das nördliche Ostpreußen wird danach unter die „Verwal7

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Zur Regierung Dönitz: W. LÜDDE-NEURATH Regierung Dönitz, 3. Aufl. 1964; M. G. STEINERT Die 23 Tage der Regierung Dönitz, 1967. U N T S Bd. 227 (1956) Nr. 532, S. 279; I. von MÜNCH (Hrsg.) Dokumente des geteilten Deutschland, Bd. I, 1968, S. 25. J . A. FROWEIN Legal Problems of the German Ostpolitik, in: International and Comparative Law Quarterly (ICLQ) 23 (1974) S. 105, 113. D. RAUSCHNING (Hrsg.) Die Gesamtverfassung Deutschlands. Nationale und internationale Texte zur Rechtslage Deutschlands. 1962, S. 80. U N T S Bd. 227 (1956) Nr. 532, S. 279, 280f; von MÜNCH Dokumente (Fn. 8) Bd. I, S. 25 f. Map „D", in Faksimile im Anhang zu: Dokumente zur Berlin-Frage 1944—1962, herausgegeben vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V., Bonn, in Zusammenarbeit mit dem Senat von Berlin, 2. Aufl., 1962. Entsprechend die „Feststellung" der vier Regierungen „über die Besatzungszonen in Deutschland" v o m 5. 6. 1945, die offenbar als Bekanntmachung an das deutsche Volk gemeint war, ebenso wie die Erklärung über die Übernahme der obersten Regierungsgewalt unter demselben Datum. Text (englisch, französisch, russisch, deutsch): Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1 v. 30. April 1946, S. 11 bzw. S. 7. Dieses „Protokoll" wurde 1947 von den USA und Großbritannien veröffentlicht. Text: U. S. Department of State Pressemittleilung Nr. 238 v. 24. März 1947; Foreign Relations of the United States — Diplomatie Papers, The Conference of Berlin (The Potsdam Conference) 1945, Bd. II, 1960, S. 1478, 1490 ff. Die 1946 veröffentlichte „Mitteilung" über die Konferenz (vgl. unten bei und in Fn. 16) enthält unter I eine zusätzliche Einleitung. So erklärt sich, daß der erwähnte Abschnitt VIII („Polen") dort unter IX erscheint. Zur komplizierten Redaktionsgeschichte des „Protokolls" vgl. ebd. S. 1477 f, Fn. 42.

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1. Kapitel. Grundlagen

tung" der Sowjetunion gestellt 14 . Für beide Gebiete zeigt der Text eine eigentümlich widersprüchliche Qualifizierung 15 , behält aber ausdrücklich die endgültige Regelung einem Friedensvertrag vor. Eine „Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin" wurde im Ergänzungsblatt zum Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland veröffentlicht 16 . 7 Im Juli 1945 rückten Truppen der drei Westmächte in Berlin ein, und die Aufteilung der Besatzungszonen im übrigen wurde mit kleineren Abweichungen den besagten Abkommen entsprechend vorgenommen. Die Abweichungen, die vor allem aus technischen Gründen von den örtlichen Kommandeuren vereinbart wurden, so etwa die Übertragung des sogenannten Neuhauser Streifens östlich der Elbe an die sowjetische Besatzungszone, wurden meist formell durch den als oberstes Besatzungsorgan errichteten Kontrollrat bestätigt 17 . 3. Die Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch die Erklärung vom 5. 6. 1945 8 Mit einer am 5. 6. 1945 in Berlin veröffentlichten Erklärung übernahmen die Regierungen der vier Besatzungsmächte die oberste Gewalt bezüglich Deutschlands („supreme authority with respect to Germany") einschließlich aller Staats-, Gemeindeoder sonstigen lokalen Gewalt. Es wurde ausdrücklich hinzugefügt, daß das nicht die Annektierung („annexation") Deutschlands bedeute 18 . Entsprechend einer Erklärung vom selben Tage wurde die oberste Gewalt in Deutschland („supreme

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„administration", ebd. S. 1491. Es ist von „former German territories" die Rede, ebd. Ergänzungsblatt Nr. 1 v. 30. April 1946, S. 13 ff. Diese „Mitteilung" enthält die wichtigsten Artikel in vollem Wortlaut. Weitere Fundstellen für die englische Fassung „Report on the Tripartite Conference of Berlin": von MÜNCH Dokumente (Fn. 8) Bd. I, S. 32 ff; Foreign Relations (Fn. 13) S. 1499 ff; Department of State Bulletin Bd. XIII, 1945, S. 153 ff. - Auf einer amerikanischen Karte, die am 15. 8. 1945 veröffentlicht worden ist, findet sich „Polish Administration" als Eintragung für die Gebiete östlich von Oder und Neiße mit Ausnahme des nördlichen Ostpreußen, w o nur „USSR" eingetragen ist, Documents on Germany 1944—1961, Committee on Foreign Relations United States Senate, 1961, S. 18. Die von den Besatzungsmächten getroffenen Grenzregelungen waren lange Zeit vor allem für die Grenze zwischen Bundesrepublik Deutschland und D D R bedeutsam. Die nach dem Grundlagenvertrag eingesetzte Grenzkommission hatte durch ein Protokoll vom 29. 11. 1978 die Grenze in ihrem überwiegenden Teil festgestellt (vgl. Die Grenzkommission, Eine Dokumentation über Grundlagen und Tätigkeit, herausgegeben vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, 3. Aufl., 1980, S. 14). Offen blieb vor allem die Regelung an der Elbe (dazu D. RAUSCHNING Die Grenzlinie im Verlauf der Elbe, in: Recht im Dienst des Friedens, Festschrift für E. Menzel, 1975, S. 429, 437 f.) Das ergibt sich daraus, daß im Londoner Protokoll zwar eindeutig auf in der Mitte der Elbe verlaufende deutsche Verwaltungsgrenzen verwiesen wird, durch die Änderungen im Bereich des Neuhauser Streifens und an anderer Stelle aber Unklarheiten geschaffen worden waren, die später nicht beseitigt wurden. Eine Regelung des Grenzverlaufs in der Elbe ist von den Besatzungsmächten bei Vereinbarung der gesamten Änderungen des Grenzverlaufs gegenüber dem Londoner Protokoll offenbar nicht vorgenommen worden. Die Praxis war immer kontrovers. Amtsblatt des Kontrollrats, Ergänzungsblatt Nr. 1 v. 30. April 1946, S. 7; v. MÜNCH Dokumente (Fn. 8) Bd. I, S. 19, 20.

§2

Die Entwicklung der Rechtslage Deutschlands v o n 1945 bis 1 9 9 0 (FROWEIN)

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authority in Germany") von dem Oberkommandierenden jeder Besatzungszone für diese Zone ausgeübt und gemeinsam in Angelegenheiten, die Deutschland als Ganzes betreffen („in matters affecting Germany as a whole"). Die Oberkommandierenden bildeten nach dieser Erklärung gemeinsam den Kontrollrat. Unter dem Datum des 30. 8. 1945 wurde die Proklamation Nr. 1 über die „Aufstellung des Kontrollrates" erlassen, die „An das deutsche Volk!" adressiert war und offenbar die Übernahme der Regierungsgewalt und die Einrichtung des Kontrollrates dem deutschen Volk förmlich zur Kenntnis bringen sollte 19 . 4. Würdigung Die Besetzung Deutschlands war jedenfalls 1944/45 eine kriegerische Besetzung im 9 Sinne des Kriegsvölkerrechts. Ob sie in vollem Umfang an die in der Haager Landkriegsordnung (HLKO) enthaltenen Regeln über die Besetzung gebunden war, ist streitig. Von den Alliierten wurde häufig die Meinung vertreten, daß die HLKO nicht anwendbar sei20. Deutsche Stellungnahmen legten sie dagegen meist zugrunde 21 . Es ist sicher, daß die Ausübung der durch die Erklärung vom 5. 6. 1945 übernommenen Befugnisse weit über die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 43 HLKO hinausging. Ob sich vor allem die Maßnahmen zur „Aufhebung von Nazigesetzen" durch das Gesetz Nr. 1 des Kontrollrats 22 und ähnliche Besatzungsrechtsakte als Ausübung einer besonderen, vom deutschen Volk konkludent gebilligten Zuständigkeit zur Wahrnehmung seiner Interessen rechtfertigen lassen, kann dahinstehen. Vieles dürfte in der Lage des Jahres 1945 dafür sprechen. Eine kriegerische Besetzung ändert an dem Fortbestehen des besetzten Staates 10 nichts. Dennoch wurde vor allem mit Rücksicht auf die Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch die Besatzungsmächte zum Teil die Meinung vertreten, der deutsche Staat habe aufgehört zu bestehen23. Diese Auffassung hat keine Anerkennung gefunden. Bereits 1946 gab das britische Außenministerium in einem Gerichtsverfahren die Erklärung ab, daß Deutschland als Staat weiter bestehe, und das Gericht entschied auf dieser Grundlage 24 . Ebenso urteilten Gerichte neutraler Staaten, 19 20 21

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Amtsblatt des Kontrollrats Nr. v. 29. Okt. 1945, S. 4. Vgl. Nachweise bei R. STÖDTER Deutschlands Rechtslage, 1948, S. 154 ff. STÖDTER Deutschlands Rechtslage (Fn. 20) S. 121 — 180; Κ . E. v. TUREGG Deutschland und das Völkerrecht, 1948, S. 60. Gesetz Nr. 1 v. 20. 9. 1945, Amtsblatt des Kontrollrats Nr. 1 v. 29. Okt. 1945, S. 6. Vor allem H. KELSEN The Legal Status of Germany According to the Declaration of Berlin, A J I L 39 (1945) S. 518; M. VIRALLY Die internationale Verwaltung Deutschlands, 1948, S. 96 ff; DERS. L'administration internationale de l'Allemagne, 1948, S. 87; von deutscher Seite ebenso H. NAWIASKY Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 7 ff; f ü r die herrschende Ansicht vgl.: E. KAUFMANN Deutschlands Rechtslage unter der Besatzung, 1948; W. GREWE Ein Besatzungsstatut für Deutschland — Die Rechtsformen der Besetzung, 1948; STÖDTER Deutschlands Rechtslage (Fn. 20). R. v. BOTTRILL ex parte Küchenmeister, (1946) 1 All England Reports 635; (1947) K i n g s Bench 41.

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1. Kapitel. Grundlagen

etwa der Schweiz 25 . Trotz einiger abweichender französischer Erklärungen 26 kann die Meinung, daß der deutsche Staat nicht durch die Ereignisse von 1945 untergegangen ist, als der Staatspraxis der Alliierten und der wieder entstehenden deutschen Behörden zugrundeliegend angesehen werden 27 . Auf spätere Änderungen der Rechtsauffassung, vor allem der Sowjetunion, wird noch eingegangen werden 28 . 11

Am Ende des Jahres 1945 stellte sich die Lage Deutschlands so dar: Sein Territorium war durch alliierte Maßnahmen auf den Stand vom 31. 12. 1937 verkleinert 29 . Das Gebiet bis zu Oder und Neiße unterlag der Besetzung durch die vier Mächte, die gemeinsam im Kontrollrat die oberste Verantwortung für Deutschland ausübten. Das Gebiet östlich von Oder und Neiße unterstand einer besonderen polnischen und für das nördliche Ostpreußen sowjetischen Verwaltung, die nach dem Wortlaut des Potsdamer Abkommens als Vorstufe für Gebietsveränderungen gedacht war 30 . Obwohl diese Gebiete aus der sowjetischen Zone ausgeschieden waren, zu der sie ursprünglich gehört hatten, erstreckte sich die Verantwortung des Kontrollrates für Deutschland als Ganzes auch auf sie 31 .

III. Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 1. Allgemeines 12 Mit der Entstehung der beiden deutschen Staatsordnungen im Jahre 1949 trat die Entwicklung der Rechtslage Deutschlands in ein neues Stadium. Sowohl die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland als auch die der Deutschen Demokratischen Republik wurden von den jeweiligen Besatzungsmächten genehmigt und änderten an dem Fortbestehen des Besatzungsverhältnisses nach der Auffassung aller Beteilig-

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Schweizerisches Bundesgericht B G E 78, I, 124. Nachweise bei H. MOSLER/K. DOEHRING Die Beendigung des Kriegszustandes mit Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 37 (1963) S. 47, 48. Die formellen Erklärungen über die Beendigung des Kriegszustandes (Angaben bei MOSLER/ DOEHRING Beendigung Kriegszustand (Fn. 26)) setzen den Fortbestand richtigerweise voraus. Vgl. für deutsche Entscheidungen aus der Frühzeit: Deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1 9 4 5 - 1 9 4 9 , Fontes Iuris Gentium, A II 3, 1956, S. lOOff. Dazu unten III.3. Dabei soll hier nicht weiter erörtert werden, welche Territorialveränderungen nach diesem Termin völkerrechtlich als gültig anzusehen wären und ob die alliierten Maßnahmen insoweit rechtmäßig waren. Ihre Wirksamkeit ist nie in Frage gestellt worden. Das kommt sowohl für Nord-Ostpreußen als auch für das übrige Gebiet in den Abschnitten V und VIII des Protokolls klar zum Ausdruck, wenn auch v o r allem für das Polen zu übertragende Gebiet noch keine endgültige Klärung erfolgt war. Vgl. dazu im einzelnen S. KRÜLLE Die völkerrechtlichen Aspekte des Oder-Neiße-Problems, 1970, S. 66. R. SCHENK Die Viermächteverantwortung für Deutschland als Ganzes, insbesondere deren Entwicklung seit 1969, 1976, S. 69.

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Die Entwicklung der Rechtslage Deutschlands von 1945 bis 1990 (FROWEIN)

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ten zunächst nichts 32 . Von Bedeutung für die Rechtslage Deutschlands mußte die Klärung des Verhältnisses der beiden bestehenden staatlichen Ordnungen zu dem 1945 nach allgemeiner Auffassung nicht untergegangenen deutschen Staat sein. 2. Das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zum Deutschen Reich Bei der Schaffung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat war die Meinung 1 3 herrschend, daß der deutsche Staat fortbesteht und lediglich „neu organisiert" werden sollte33. Dies kommt vor allem in der Präambel eindeutig zum Ausdruck („um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben"). Die Organe der Bundesrepublik Deutschland haben von Anfang an die Auffassung vertreten, daß die Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich identisch ist 34 . Sie hat auf dieser Grundlage völkerrechtliche Rechtspositionen des Deutschen Reiches fortgesetzt 35 . Vor allem hat sie Verträge wieder angewendet 36 , ist für Deutschland in internationalen Organisationen aufgetreten 37 und hat Reichsvermögen im Ausland übernommen 38 . Das Bundesverfassungsgericht als das höchste vom Grundgesetz konstituierte deutsche Gericht hat die Identität — später als „Teilidentität" bezeichnet — der Bundesrepublik Deutschland mit dem Deutschen Reich in ständiger Rechtsprechung bestätigt 39 . Auch die Alliierten haben sich nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland 14 in Erklärungen zu der Rechtslage geäußert, ohne freilich das Identitätsproblem eindeutig zu behandeln. Am 18. 9. 1950 haben die Regierungen der Drei Mächte bestätigt, daß sie „die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als die einzige deutsche Regierung ansehen, die frei und legitim gebildet und daher berechtigt ist, als Repräsentantin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten für Deutschland zu sprechen" 40 . Die Erklärung, die häufig wiederholt worden ist, stellt für die Auslegung nicht unerhebliche Probleme. Es dürfte kein Zufall sein, daß die Wortwahl rechtliche 32

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Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure zum Grundgesetz v o m 12. 5. 1949, in: v o n MÜNCH Dokumente (Fn. 8) Bd. 1, S. 130, und Besatzungsstatut v. 10. 4. 1949, in K r a f t getreten am 21. 9. 1949, in: von MÜNCH Dokumente (Fn. 8) Bd. I, S. 71; für die D D R Erklärung des Vorsitzenden der sowjetischen Kontrollkommission zur Übergabe von Verwaltungsfunktionen an deutsche Behörden, in: von MÜNCH Dokumente (Fn. 8) Bd. I, S. 325. Dazu eingehend CARLO SCHMID Erinnerungen, 1979, S. 3 1 8 f f ; vgl. auch K . DOEHRING Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., 1980, S. 55 ff. Vgl. etwa das Memorandum des Auswärtigen Amtes v o n 1 9 6 1 , in: Z a ö R V 23 (1963) S. 452. Allgemein dazu G. RESS Die Rechtslage Deutschlands nach dem Grundlagenvertrag v o m 21. Dez. 1972, 1978, S. 2 1 7 f. A. BLECKMANN Die Wiederanwendung deutscher Vorkriegsverträge, in: Z a ö R V 33 (1973) S. 607 ff; R. SONNENFELD Succession and Continuation. A Study on Treaty-Practice in Post-War Germany, in: Netherlands Yearbook on International Law, 1976, S. 91, 1 1 2 f f , 1 1 6 f f . J . A. FROWEIN Das de facto-Regime im Völkerrecht, 1968, S. 163 f. G. RESS Die Bergung kriegsversenkter Schiffe im Lichte der Rechtslage Deutschlands, in: Z a ö R V 35 (1975) S. 364 ff. BVerfGE 6, 309, 338, 363 f - Reichskonkordat - ; 36, 1, 15 ff - Grundlagenvertrag - m. w. N. Memorandum des Auswärtigen Amtes (Fn. 34) S. 454; F. A. MANN Deutschlands Rechtslage 1 9 4 7 - 1 9 6 7 , in: J Z 1967, 6 1 8 ff.

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1. Kapitel. Grundlagen

Konsequenzen hinsichtlich einer völkerrechtlichen Vertretungsbefugnis der Bundesregierung für das Deutsche Reich gerade nicht eindeutig ermöglicht. Wenn es dort hieß, daß die Bundesregierung als Repräsentantin des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten für Deutschland sprechen könne, so deutete das eher auf das der Bundesregierung zugebilligte politische Mitspracherecht, nicht aber auf ein völkerrechtliches Vertretungsrecht hin41. Die beschränkte Bedeutung der Erklärung wurde auch aus einem unveröffentlichten Auslegungsprotokoll deutlich, das der Bundesregierung gleichzeitig übermittelt worden ist. Darin war ausgeführt, daß die Erklärung auf der fortdauernden Existenz des deutschen Staates beruhe, daß die Anerkennung der Bundesrepublik Deutschland vorläufigen Charakter habe, indem sie lediglich bis zur friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands Geltung besitze, und daß deshalb die Bundesregierung nicht als de jure-Regierung Gesamtdeutschlands anerkannt sei42. 15 Hieran hatte sich durch den Abschluß des Vertrages über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland zu den Drei Mächten in der Fassung vom 23. 10. 1954 (Deutschlandvertrag) nichts geändert. Der am 5. 5. 1955 in Kraft getretene Vertrag führte zur Aufhebung des Besatzungsregimes. Gemäß Art. 1 Abs. 2 hat die Bundesrepublik „demgemäß die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten". Diese Feststellung wurde jedoch durch Art. 2 eingeschränkt, wonach die Drei Mächte „die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung" behalten43. Es zeigte sich, daß damit die durch die Erklärung vom 5. 6. 1945 von den Alliierten übernommenen Zuständigkeiten auch von den Drei Mächten insofern weiterhin ausgeübt werden konnten, als sie Berlin und Deutschland als Ganzes, damit also auch das Verhältnis zur Sowjetunion als der vierten an der Übernahmeerklärung beteiligten Macht, betreffen44. Über die Ausübung der Vorbehaltsrechte hatten die drei Westmächte in Paris am 23. 10. 1954 ein Abkommen abgeschlossen, aufgrund dessen die vorbehaltenen Rechte von ihren Missionschefs in der Bundesrepublik ausgeübt wurden, die gemeinsam handelten, wenn sie die Angelegenheit als sie gemeinsam betreffend ansahen45. Soweit es um die Ausübung von Viermächtezuständigkeiten ging, war der sowjetische Botschafter bei der DDR der Partner der Botschafter der Drei Mächte. 41

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Vgl. M. VIRALLY La condition internationale de la République fédérale d'Allemagne Occidentale après les Accords de Paris, in: Annuaire Français de Droit International 1955, S. 31, 43 ff. M. BATHURST/J. L. SIMPSON Germany and the North Atlantic Community, 1956, S. 188; MANN J Z 1967, 622; E. MENZEL W i e souverän ist die BRD?, in: Z R P 1 9 7 1 , 178, 188; J. A . FROWEIN Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung des Warschauer Vertrages, in: Jahrbuch für Internationales Recht (JIR) 18 (1975) S. 11, 51 ff; auch M. WHITEMAN Digest of International Law, Bd. 2, 1 9 6 3 , S . 7 8 4 f. BGBl. 1955 II, S. 305, 306; v o n MÜNCH Dokumente (Fn. 8) Bd. I, S. 229, 230; zu dem Vorbehalt J. A . FROWEIN „Deutschland-Vertrag", in: Görres-Staatslexikon, Ergänzungsband, 1969, Sp. 576 ff. FROWEIN Deutschland-Vertrag (Fn. 43). Text in: Documents on Germany (Fn. 16) S. 172 f.

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Die Entwicklung der Rechtslage Deutschlands von 1945 bis 1990 (FROWEIN)

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Von 1949 bis 1990 betrachtete die Bundesrepublik Deutschland sich als mit dem 16 Deutschen Reich identische staatliche Körperschaft, freilich auf ihr Territorium begrenzt. 3. Das Verhältnis der Deutschen Demokratischen Republik zum Deutschen Reich Während nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik zunächst 1 7 nicht klar war, wie ihre Staatsorgane das Verhältnis zum Deutschen Reich beurteilten, wurde nach einiger Zeit der Untergang des Rechtssubjektes Deutsches Reich, zumeist auf das Datum vom 8. 5. 1945 bezogen, zur herrschenden, in der Staatspraxis zugrundegelegten Haltung 46 . Danach waren in Deutschland auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches zwei selbständige Nachfolgestaaten entstanden 47 . Diese Ansicht wurde von der Sowjetunion geteilt 48 . Das bedeutete freilich nicht, daß nach Auffassung der DDR und der Sowjetunion die durch die Besetzung Deutschlands und die Erklärung vom 5. 6. 1945 über die Übernahme der obersten Gewalt eingetretene Rechtslage bedeutungslos gewesen wäre. Der Vertrag zwischen der DDR und der Sowjetunion vom 16. 6. 1964 enthielt in Art. 9 die Bestimmung, daß Rechte und Pflichten aus geltenden zweiseitigen und anderen Abkommen einschließlich des Potsdamer Abkommens nicht berührt werden 49 . Damit blieb eindeutig auch das Rechtsverhältnis der Sowjetunion zu den drei anderen Alliierten aus den Abkommen über Deutschland vorbehalten. In dem Vertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR vom 7. 10. 1975 war das Potsdamer Abkommen nicht erwähnt, im übrigen aber enthielt Art. 10 dieselbe Schutzklausel für zwei- und mehrseitige Verträge 50 . Allein die Hinzufügung des Adjektivs „gültigen" konnte Anlaß für Spekulationen sein. Vor allem aber hatten die Sowjetunion und die DDR bei dem Abschluß des 1 8 Grundlagenvertrages mit der Bundesrepublik Deutschland am 21. 12. 1972 förmlich anerkannt, daß es weiterhin Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte gab, die ihren Rechtsgrund nur in den Ereignissen des Jahres 1945 und den in diesem Zusammenhang stehenden Verträgen zwischen den vier Alliierten finden konnten. Ebenso wie die Bundesrepublik die Existenz dieser Rechte gegenüber den drei Westmächten bestätigt hatte, übermittelte die DDR der Sowjetunion eine Note, wonach die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland feststellen, daß die „Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte und die entsprechenden diesbezüglichen vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken durch diesen Vertrag nicht berührt werden können" 51 . Das Ergebnis der Ostpolitik und des Grundlagenvertrages war eindeutig, daß weder die Sowjetunion 46

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Vgl. J. HACKER Der Rechtsstatus Deutschlands aus der Sicht der D D R , 1974, S. 1 3 7 f f , 154 ff mit Nachweisen. HACKER Rechtsstatus (Fn. 46) S. 1 3 7 - 1 3 9 . HACKER Rechtsstatus (Fn. 46) S. 139. von MÜNCH Dokumente (Fn. 8) Bd. I, S. 450, 453. GBl. D D R 1975 II, S. 238. BGBl. 1973 II, S. 429 (zum Inkrafttreten vgl. S. 559).

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1. Kapitel. Grundlagen

noch die DDR die Haltung einnehmen konnten, der Vier-Mächte-Status Deutschlands sei völkerrechtlich nicht existent. Zumindest in Gestalt dieser Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte bestand damit auch nach außen erkennbar ein Sonderstatus für Deutschland, der ein Nachweis für die Offenheit der deutschen Frage war.

IV. Die Wiedervereinigung Deutschlands 1. Die Vorgeschichte 19 Nachdem unter dem Generalsekretär und später Präsidenten Gorbatschow eine Liberalisierung in der Sowjetunion eingesetzt hatte, stellte sich die Frage, inwieweit die DDR ebenfalls auf Veränderungen hinsteuerte. Als der amerikanische Präsident Reagan Berlin 1987 besuchte und formulierte „Mr. Gorbatschow, tear down this wall", glaubte freilich niemand, daß das in zwei Jahren geschehen werde52. 1989 mehrten sich in der DDR die Demonstrationen. Ungarn öffnete im September seine Grenzen zu Österreich, was zu einer massiven Abwanderung von Bewohnern der DDR über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland führte53. Bei den Feiern zum 40. Bestehen der DDR im Herbst 1989 wurden die Spannungen dann immer deutlicher. Gorbatschow ließ in Ostberlin seine Bemerkung zu Honecker veröffentlichen: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben"54. Am 18. Oktober trat Honecker als Staatsratsvorsitzender zurück und am 9. November 1989 wurde die Mauer in Berlin geöffnet. Sehr schnell wurde deutlich, daß die Bevölkerung in beiden Teilen Deutschlands die Wiedervereinigung anstrebte. Die Wahlen in der DDR am 18. März 1990 bestätigten dieses Ziel in eindrucksvoller Weise55. Am 18. Mai 1990 wurde der Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion abgeschlossen, der bereits am 1. Juli 1990 in Kraft trat und das Gebiet der DDR in das Währungssystem der Bundesrepublik Deutschland einbezog und damit die Einheit auf den wichtigsten Gebieten vorbereitete56. In der Präambel wurde der beiderseitige Wunsch, damit einen ersten bedeutsamen Schritt in Richtung auf die Herstellung der staatlichen Einheit nach Art. 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zu unternehmen, bereits ausdrücklich festgelegt. 2. Der Vollzug des Beitrittes 20 Am 23. August 1990 beschloß die am 18. März 1990 frei gewählte Volkskammer der DDR, mit Wirkung für den 3. Oktober 1990 den Beitritt zur Bundesrepublik 52

53 54 55

56

Vgl. J. A . FROWEIN The Reunification of Germany, in: American Journal of International Law 86, 1992, S. 152 mit A n m . 2. K . KAISER Deutschlands Vereinigung, 1991, S. 35 f. J. THIES/W. WAGNER (Hrsg.) Das Ende der Teilung, 1990, S. 92. Vgl. M. MANTZKE Eine Republik auf Abruf. Die D D R nach den Wahlen v o m 18. März 1990, in: Europa-Archiv 1990, S. 287. BGBl. 1990 II, S. 537.

§ 2

Die Entwicklung der Rechtslage Deutschlands v o n 1945 bis 1990 (FROWEIN)

29

Deutschland gemäß Art. 23 GG. Für den Vorschlag votierten 294 Abgeordnete, 62 stimmten dagegen, 7 enthielten sich der Stimme. Der Beschluß lautete im Wortlaut: „Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23 zum 3. Oktober 1990. Sie geht davon aus, daß bis zu diesem Zeitpunkt die Beratungen zum Einigungsvertrag abgeschlossen sind, die Zwei + Vier-Verhandlungen einen Stand erreicht haben, der die außenund sicherheitspolitischen Bedingungen der Einheit regelt, und die Länderbildung soweit vorbereitet ist, daß die Wahl zu den Länderparlamenten am 14. Oktober 1990 durchgeführt werden kann."57 Schon sehr bald nach der friedlichen Revolution in der DDR im Herbst 1989 21 war deutlich geworden, daß die staatliche Vereinigung über den Beitritt der DDR gemäß Art. 23 GG erfolgen sollte. Alle wichtigen politischen Kräfte sprachen sich für diesen Weg aus, der in seinem Vollzug die wenigsten technischen Schwierigkeiten aufwarf. Der Beitritt wurde durch die Aufnahme der Verhandlungen über den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) vorbereitet. Der Vertrag wurde am 31. August 1990 abgeschlossen. Ihm wurde vom Deutschen Bundestag mit Gesetz vom 23. September 1990 (BGBl. 1990 II, S. 885) und mit Gesetz der Volkskammer vom 20. September 1990 (GBl. 1990 I, 1627) zugestimmt. Der Vertrag ist am 29. September 1990 in Kraft getreten (BGBl. 1990 II, S. 1360). Durch Gesetz vom 22. Juli 1990 waren in der DDR die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gebildet worden, die mit dem Wirksamwerden des Beitritts am 3. 10. 1990 zu Ländern der Bundesrepublik Deutschland wurden. Die 23 Bezirke von Berlin bildeten von diesem Zeitpunkt an das Land Berlin. Der Einigungsvertrag enthält detaillierte Regelungen über die Inkraftsetzung 22 des Bundesrechts in den neuen Ländern. Gemäß Art. 3 tritt das Grundgesetz mit dem Wirksamwerden des Beitritts in den neuen Ländern in Kraft. Lediglich gewisse Änderungen sind im Art. 4 des Einigungsvertrages mit verfassungsändernder Mehrheit festgelegt worden. Danach ist der alte Art. 23 aufgehoben worden. Außerdem kann Recht in den neuen Ländern bis zum 31. Dezember 1992 von Bestimmungen des Grundgesetzes abweichen, soweit und solange infolge der unterschiedlichen 57

GBl.

I,

S. 2 0 5 7 .

Zur

deutschen

Einigung

vgl.:

J. A.

FROWEIN, J .

ISENSEE, C .

TOMUSCHAT,

A . RANDELZHOFER Deutschlands aktuelle Verfassungslage, V V D S t R L 4 9 ( 1 9 9 0 ) ; T. MAUNZ/ R. ZIPPELIUS Deutsches Staatsrecht, 28. A u f l . , 1991, S. 4 1 7 f f ; K . HESSE G r u n d z ü g e des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. A u f l . , 1991, S. 36 f f ; K . STERN Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit, in: Verträge und Rechtsakte zur deutschen Einheit, hrsg. v o n K l a u s Stern und Bruno Schmidt-Bleibtreu, Bd. 2 , 1 9 9 0 , S. 1 ff; H . WEIS Verfassungsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der Einheit Deutschlands, in: A ö R 116 ( 1 9 9 1 ) S. 2 ff; K . D.

SCHNAPPAUF

Der

Einigungsvertrag,

in: D V B 1 .

1990,

S. 1 2 5 0 f; V.

BUSSE

Das

vertragliche Werk der deutschen Einheit und die Änderungen v o n Verfassungsrecht, in: D O V 1991, S. 345 ff.

30

1. Kapitel. Grundlagen

Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung noch nicht erreicht werden kann. Abweichungen dürfen aber nicht gegen den Wesensgehalt der Grundrechte gemäß Art. 19 Abs. 2 verstoßen und müssen mit den in Art. 79 Abs. 3 GG genannten Grundsätzen vereinbar sein. Eine längere Ubergangsfrist gilt für Abweichungen von den Abschnitten II, V i l i , V i l i a, IX, X und XI. Im übrigen gibt es detaillierte Regelungen über das Weitergelten von Recht der DDR und das Inkrafttreten von Bundesrecht. Gemäß Art. 9 gilt das im Zeitpunkt der Unterzeichnung des Vertrages geltende Recht der DDR, das nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes Landesrecht ist, weiter, soweit es mit dem Grundgesetz, Bundesrecht und Recht der Europäischen Gemeinschaft vereinbar ist und in dem Vertrag nichts anderes geregelt ist. 3. Die Beendigung der Vier-Mächte-Rechte 23 Am 12. September 1990 wurde in Moskau der Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland von den beiden deutschen Staaten und den Vier Mächten abgeschlossen, die am 5. Juni 1945 die oberste Gewalt für Deutschland übernommen hatten58. In Art. 1 wird festgelegt, daß das vereinte Deutschland die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins umfaßt. Seine Außengrenzen werden danach am Tage des Inkrafttretens des Vertrages „endgültig" sein. Art. 1 fügt hinzu: „Die Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten Deutschland ist ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa". Art. 2 legt fest, daß nach der Verfassung des vereinten Deutschland Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar sind. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen. Art. 3 enthält Regelungen über die Stärke der Deutschen Streitkräfte und den Verzicht auf ABC-Waffen. Gemäß Art. 4 werden die sowjetischen Streitkräfte bis zum Ende des Jahres 1994 abgezogen werden. Art. 5 legt fest, daß bis zum Abzug der sowjetischen Streitkräfte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ausschließlich deutsche Verbände der Territorialverteidigung stationiert sind, die nicht in Bündnisstrukturen integriert sind. Auch nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte werden ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger in den neuen Ländern weder stationiert noch verlegt werden. Gemäß Art. 6 wird das Recht des vereinten Deutschland, Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören, von diesem Vertrag nicht berührt. 24

Nach Art. 7 beenden die Französische Republik, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland und die Vereinigten Staaten ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin 58

BGBl. 1990 II, S. 1318.

§ 2

Die Entwicklung der Rechtslage Deutschlands v o n 1945 bis 1990 (FROWEIN)

31

und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis werden die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst. Abs. 2 des Art. 7 lautet: „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten"59. Der am 12. September 1990 unterzeichnete Vertrag ist am 15. März 1991 nach 25 der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden in Kraft getreten. Es handelt sich dabei um die ungewöhnliche Situation, daß die Unterzeichnung des Vertrages durch zwei deutsche Vertragspartner erfolgt ist, die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde dagegen durch das vereinte Deutschland. Durch eine am 1. Oktober 1990 in New York abgegebene Erklärung der Vier Mächte hatten diese unter Berücksichtigung der Unterzeichnung des Zwei + Vier-Vertrages ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes mit Wirkung vom Zeitpunkt der Vereinigung Deutschlands bis zum Inkrafttreten des Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland ausgesetzt60. Insofern bestand zwischen dem 3. Oktober 1990 und dem 15. März 1991 ein eigenartiger Schwebezustand, in dem die Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten rechtlich noch nicht beendet worden waren. Allerdings erscheint die Meinung zutreffend, daß auch bei einer Nichtratifizierung des Zwei + Vier-Vertrages, etwa durch die Sowjetunion, ein Wiederaufleben dieser Rechte ausgeschlossen gewesen wäre 61 . Durch die Zustimmung zur Deutschen Vereinigung unter Festlegung der äußeren Bedingungen hatten die Vier Mächte die Bedingung gesetzt, die zum Erlöschen der Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten führen mußte, deren völkerrechtliche Rechtfertigung allein darin lag, daß die deutsche Frage nicht gelöst war. Durch Notenwechsel vom 27./28. September 1990 ist eine Vereinbarung zwi- 26 sehen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten abgeschlossen worden, wonach der Deutschland-Vertrag vom 26. Mai 1952 in der Fassung vom 23. Oktober 1954 mit der Suspendierung der Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte gleichfalls suspendiert wird und mit dem Inkrafttreten des Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland außer Kraft tritt62. In demselbem Notenwechsel ist festgelegt worden, daß der Überleitungsvertrag mit Ausnahme bestimmter besonders genannter Vorschriften ebenso außer Kraft tritt. Durch Vereinbarung vom 8. Oktober 1990 wurde festgelegt, daß der Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Oktober 1954 vorläufig in Kraft bleibt, aber von den Vertragsparteien auf Antrag einer Partei überprüft wird 63 . Ebenfalls durch Notenwechsel ist die Stationierung von Streitkräften der Drei Mächte in dem früheren West-Berlin festgelegt 59 60 61 62 63

Hierzu J. A . FROWEIN u.a. The Reunification of Germany, in: Z a ö R V 51 (1991) 3 3 3 - 5 2 8 . BGBl. 1990 II, S. 1331. So FROWEIN Reunification (Fn. 59) 344 f. BGBl. 1990 II, S. 1386. BGBl. 1990 II, S. 1390.

32

1. Kapitel. Grundlagen

worden 64 . Im deutsch-sowjetischen Truppenabzugsvertrag vom 12. Oktober 1990 ist der Status der sowjetischen Truppen (jetzt russische Truppen) bis zu ihrem Abzug rechtlich weitgehend nach dem Modell der Stationierung westlicher Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland geregelt worden 65 . 4. Die Regelung der deutschen Grenzen 27 Art. 1 des Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland enthält eine sehr detaillierte Regelung für die deutschen Grenzen. Diese werden mehrfach als endgültig bezeichnet. Die Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten Deutschland wird als ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa herausgestellt. Gemäß Art. 1 Abs. 2 bestätigen das vereinte Deutschland und die Republik Polen die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag. Das ist durch den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze vom 14. November 1990 geschehen 66 . Gemäß Art. 1 dieses Vertrages bestätigen die Parteien die zwischen ihnen bestehende Grenze, deren Verlauf sich nach dem Abkommen vom 6. Juli 1950 zwischen der DDR und der Republik Polen sowie dem Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen bestimmt. Nach Art. 2 erklären die Vertragsparteien, daß die zwischen ihnen bestehende Grenze jetzt und in Zukunft unverletzlich ist und sie verpflichten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung ihrer Souveränität und territorialen Integrität. In Art. 3 erklären Deutschland und Polen, daß sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden. 28

Art. 1 Abs. 4 des Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland enthält die Bestimmung, daß die Regierungen der beiden deutschen Staaten sicherstellen werden, daß die Verfassung des vereinten Deutschland keinerlei Bestimmungen enthalten wird, die mit diesen Prinzipien unvereinbar sind. Dies gilt, wie ausdrücklich hinzugefügt wird, dementsprechend für die Bestimmungen, die in der Präambel und in den Art. 23 Satz 2 und 146 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland niedergelegt sind. Hier zeigt sich, daß die Änderung dieser Verfassungsbestimmungen von den Alliierten gefordert worden ist. Auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 4 des Vertrages über die abschließende Regelung für Deutschland sind die Änderungen des Grundgesetzes in der Präambel, Art. 23 und 146 zu erklären, die in Art. 4 des Einigungsvertrages vorgenommen worden sind. Damit sollte jede Möglichkeit ausgeschlossen werden, aus der Verfassung irgendwelche Gebote für Forderungen zu entnehmen, die sich auf die früher deutschen Ostgebiete beziehen könnten.

64 65 66

BGBl. 1990 II, S. 1251. BGBl. 1991 II, S. 258. BGBl. 1991 II, S. 1329.

§ 2

Die Entwicklung der Rechtslage Deutschlands v o n 1945 bis 1990 (FROWEIN)

33

Gemäß Art. 1 Abs. 5 nehmen die Regierungen der Vier Mächte die entsprechenden Verpflichtungen und Erklärungen der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik förmlich entgegen und erklären, daß mit deren Verwirklichung der endgültige Charakter der Grenzen des vereinten Deutschland bestätigt wird. Die Förmlichkeit, mit der der endgültige Charakter der Grenzen des Vereinten Deutschland bestätigt und als wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa bezeichnet wird, führt zu der Frage, welches die rechtliche Bedeutung dieser Bestimmungen ist. Da Deutschland gemäß Art. 7 Abs. 2 die volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten hat, kann nicht zweifelhaft sein, daß es Grenzverträge mit seinen Nachbarn abschließen kann, ohne daß daran die Vier Mächte in irgendeiner Weise zu beteiligen wären. Man wird aber auch anerkennen müssen, daß die Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen Deutschlands als „wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa" den Vier Mächten die Möglichkeit geben könnte, einem Grenzvertrag zu widersprechen, wenn darin in irgendeiner Weise eine Störung der Friedensordnung in Europa gesehen werden könnte. Das wäre etwa dann der Fall, wenn ein solcher Vertrag nicht eindeutig auf den freien Willen aller Beteiligten zurückginge 6 7 . Es ist nicht geklärt worden, welches der rechtliche Grund für den Erwerb der 2 9 früheren deutschen Ostgebiete durch Polen ist. Der deutsch-polnische Grenzvertrag wird als Vertrag über die Bestätigung der bestehenden Grenze bezeichnet. Es hängt davon ab, wie man die frühere Rechtslage würdigt, welches die Bedeutung der 1990 getroffenen Regelungen ist. Die überzeugendste rechtliche Erklärung der Vorgänge erscheint die, daß Polen aufgrund der alliierten Maßnahmen unmittelbar nach 1945 eine damals freilich klar völkerrechtswidrige Annexion der Gebiete vorgenommen hat, die später durch alle Beteiligten anerkannt worden ist. Die Bundesrepublik Deutschland hatte diese Anerkennung bereits durch den Warschauer Vertrag von 1970 vollzogen, aber ausdrücklich einen Vorbehalt hinsichtlich der Rechte der Vier Mächte erklärt. Mit der Zustimmung Deutschlands und der Vier Mächte ist nunmehr die zunächst einseitige polnische Maßnahme von allen als rechtlich wirksam, freilich nicht ex tunc, akzeptiert worden. 5. Die verfassungsrechtliche Konsequenz der Einigung Mit dem Beitritt der DDR ist das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung 3 0 geworden. Es gilt in der Qualität als Verfassung, in der es immer gegolten hat, seit es für die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 in Kraft getreten ist. Änderungen müssen das Verfahren des Art. 79 GG beachten. Freilich enthielt das Grundgesetz immer die Besonderheit, daß es in Art. 146 31 ein Enddatum markierte, indem es formulierte, daß es seine Gültigkeit an dem Tage verliere, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier

67

Dazu J . A . FROWEIN Reunification (Fn. 59) S. 343; DERS. Reunification of Germany (Fn. 52) 152, 155 f.

34

1. Kapitel. Grundlagen

Entscheidung beschlossen worden ist. Diese Regelung war für den Fall der Wiedervereinigung nach Beendigung des Besatzungsregimes gedacht68. Insofern konnte von der Grundvorstellung her nach der abgeschlossenen Wiedervereinigung von dieser Bestimmung Gebrauch gemacht werden. Freilich ist sie im Wiedervereinigungsprozeß in eigenartiger Weise verändert worden, indem der Relativsatz eingefügt worden ist „..., das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, ...". Damit scheint die Beziehung zur Wiedervereinigung, die in Art. 146 gesehen werden mußte, aufgehoben worden zu sein. Art. 5 des Einigungsvertrages zeigt aber, daß nach Auffassung der beiden deutschen Regierungen die Beziehung erhalten bleiben soll, weil sie den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschland empfehlen, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, insbesondere auch mit der Frage der Anwendung des Art. 146 des Grundgesetzes und, in deren Rahmen, einer Volksabstimmung. 32 Inzwischen ist durch die Einsetzung einer gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat der Prozeß einer Uberprüfung des Grundgesetzes eingeleitet worden. Einigkeit besteht bei allen wichtigen politischen Kräften darüber, daß das Grundgesetz eine bewährte Verfassung ist und grundsätzlich beibehalten werden soll. Damit stellt sich rechtlich lediglich die Frage, ob und wie Art. 146 geändert werden soll. Man kann Art. 146 unverändert als ein merkwürdiges Relikt der Entstehung dieser Verfassung im Jahre 1949 und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 im Grundgesetz belassen. Er wäre dann lediglich ein Hinweis darauf, daß ein Volk sich immer eine neue Verfassung geben kann. Aber das wäre doch schwer verständlich. Es könnte in dem Sinne interpretiert werden, als ob das Grundgesetz nicht vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden sei. 33 Insofern erscheint allein angemessen eine Streichung von Art. 146. Sie wäre durch die verfassungsändernden Mehrheiten gemäß Art. 79 GG vorzunehmen. Es ist aber die Frage, ob dazu nicht auch eine Volksabstimmung durchgeführt werden müßte. Da Art. 146 ausdrücklich „die freie Entscheidung des deutschen Volkes" für eine neue Verfassung voraussetzt, kann richtigerweise nur eine Entscheidung des Volkes selbst auch die Abschaffung der Bestimmung und damit die Bestätigung, daß das Grundgesetz durch freie Entscheidung des gesamten deutschen Volkes angenommen worden ist, bestätigen. Insofern erscheint eine Volksabstimmung notwendig69. 68

69

Vgl. Η. V. MANGOLDT Kommentar zum G G , 1953, Art. 146, Anm. 2, S. 668: Danach soll Art. 146 „die Verfassungsgebung in einem vereinten Deutschland, in einem Deutschland, das die gegenwärtige Zerrissenheit überwunden hat, von den Vorschriften des G G unabhängig ... machen. Das wieder geeinte deutsche Volk soll in freier Entscheidung, ohne an den formalen und materiellen Inhalt des G G gebunden zu sein, über seine endgültige Verfassung entscheiden können". So J. A . FROWEIN Verfassungslage Deutschlands (Fn.57) 7, 15 f. Die Frage ist sehr umstritten. HESSE Verfassungsrecht (Fn. 57) äußert sich nicht zu der Frage der Streichung von Art. 146 GG.

§ 3 Die Verfassungsentwicklung seit 1945 KONRAD

HESSE

I. Vorgeschichte und Entstehung des Grundgesetzes und der Verfassung der D D R 1. Die Ausgangslage 2. Die neuen Landesverfassungen 3. Uber den Landesbereich hinausgehende deutsche Einrichtungen 4. Das Besatzungsrecht 5. Die Entstehung des Grundgesetzes und der Verfassung der D D R II. Die Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik seit 1949 . .

Rdn. 1-15 2—4 5-9 10, 11 12 13-15 16-28

Rdn. 1. Vom „Grundgesetz" zur „Verfassung" 2. Bewahrung und Veränderung 3. Die Bedeutung des Grundgesetzes III. Das Grundgesetz als gesamtdeutsche Verfassung 1. Die Herstellung der deutschen Einheit 2. Beitrittsbedingte Änderungen des Grundgesetzes und Sonderregelungen des Einigungsvertrages IV. Verfassungsreform

17 18—25 26 — 28 29 — 36 29-31

32—36 37—42

I. Vorgeschichte und Entstehung des Grundgesetzes und der Verfassung der DDR Zweimal mußte in der jüngeren deutschen Geschichte ein Neuaufbau der gesamt- 1 staatlichen Ordnung nach einer militärischen Niederlage und dem Zusammenbruch des bisherigen politischen Systems vollzogen werden: 1919 mit der Weimarer Reichsverfassung und 1949 mit der Schaffung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland sowie der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Nach der bedingungslosen Kapitulation im Mai 19451 war ein vollständiger Verlust organisierter und handlungsfähiger deutscher Staatlichkeit eingetreten; der Einschnitt war also noch tiefer als derjenige von 1918. Beide Male wurde der Versuch unter-

1

Zu der umstrittenen Frage der Wirkungen der Kapitulation auf den Bestand des Reiches vgl. M. STOLLEIS Besatzungsherrschaft und Wiederaufbau 1945-1949, in: HdBStR Bd. 1, 1987, § 5, Rdn. 23.

1. Kapitel. Grundlagen

36

nommen, auf den Trümmern der alten Ordnung eine rechtsstaatliche Demokratie zu errichten. In der Weimarer Republik ist dieser Versuch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933 endgültig gescheitert. In der Bundesrepublik Deutschland ist er, wie die über vierzigjährige Geschichte des Lebens unter dem Grundgesetz erwiesen hat, geglückt. 1. Die Ausgangslage 2 Auf der Grundlage der Viermächteerklärung vom 5. Juni 1945 übernahmen die Besatzungsmächte die oberste Regierungsgewalt in Deutschland. Sie wurde durch den Alliierten Kontrollrat ausgeübt, der aus den Oberbefehlshabern der Streitkräfte der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion bestand. Das Deutsche Reich wurde in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Berlin wurde von allen vier Besatzungsmächten in je einem Sektor besetzt und durch eine aus den vier Kommandanten bestehende Behörde geleitet und verwaltet. In dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 stimmten die Vereinigten Staaten und Großbritannien grundsätzlich der endgültigen Ubergabe der Stadt Königsberg und des anliegenden Gebietes an die Sowjetunion zu; die übrigen deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie wurden unter die Verwaltung des polnischen Staates gestellt. 3 Die Teilung Deutschlands, die damit vollzogen wurde, bedeutete mehr als nur eine geteilte Staatlichkeit. Denn mit ihr wurde der tiefgreifende Antagonismus, der durch die Welt der Nachkriegszeit ging, zu einem deutschen Antagonismus. Die Grenze zwischen den beiden großen östlichen und westlichen Machtblöcken zog sich mitten durch Deutschland hindurch. Jede Besatzungsmacht projizierte das eigene Gesellschaftssystem auf ihre Zone und orientierte daran ihre Deutschlandpolitik. So gingen die unterschiedlichen Gesellschaftssysteme der Sieger auf die Besiegten über2. Zu der radikalsten Umgestaltung führte dies in der sowjetischen Besatzungszone, in der nach sowjetischem Vorbild ein sozialistisches System — der Realität nach freilich eine Einparteiendiktatur — geschaffen wurde, welche sich in ihren politischen, geistigen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und auch rechtlichen Ausprägungen fundamental von den Ausformungen der sich in Westdeutschland entwickelnden • freiheitlichen Demokratie unterschied. 4 Unter diesen Voraussetzungen hat sich der Neubau deutscher Staatlichkeit vollzogen, beginnend mit deutschen Verwaltungen auf der Gemeinde- und Kreisstufe, über die Errichtung neuer Länder und die Schaffung von Länderverfassungen, die Einrichtung deutscher Zonen- und gemeinsamer Zonenverwaltungen bis zur Entstehung der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer Verfassungen. 2. Die neuen Landesverfassungen 5 Am frühesten setzte die neue Verfassungsentwicklung in der amerikanischen Besatzungszone ein. Hier wurden durch Proklamation der Militärregierung drei Verwal2

Dazu STOLLEIS HdBStR Bd. 1 (Fn. 1) § 5 Rdn. 12.

§3

Die Verfassungsentwicklung seit 1945 (HESSE)

37

tungsgebiete mit der Bezeichnung Staaten geschaffen: Bayern, Württemberg-Baden und Hessen. 1946 wurden verfassunggebende Landesversammlungen gewählt; die von diesen beschlossenen Landesverfassungen, die, namentlich in ihrem Grundrechtsteil, weitgehend an die Weimarer Reichsverfassung anknüpften, wurden im November und Dezember 1946 durch Volksabstimmungen gebilligt. Ein knappes Jahr später folgte die Hansestadt Bremen. Die neuen Staaten übernahmen sämtliche den Deutschen überlassenen Staatsaufgaben, auch solche des Reiches. In der britischen Besatzungszone war die Bildung neuer Länder ungleich 6 schwieriger als in der amerikanischen, weil sie sich weniger an ältere Ländergliederungen anlehnen konnte. Aus den fünf ehemaligen Ländern und vier ehedem preußischen Provinzen, die das Besatzungsgebiet umfaßte, wurden im Jahre 1946 die Länder Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein geschaffen. Die Verfassungen dieser Länder sind — mit Ausnahme der vorläufigen Verfassung von Hamburg vom 15. Mai 1946 — erst nach Inkrafttreten des Grundgesetzes entstanden: Schleswig-Holstein gab sich am 13. Dezember 1949 eine Landessatzung3, Nordrhein-Westfalen die Verfassung vom 18. Juni 1950, Niedersachsen die Vorläufige Verfassung vom 13. April 19514, Hamburg die Verfassung vom 6. Juni 1952. Kennzeichnend für diese Verfassungen ist es namentlich, daß sie im Blick auf die Gewährleistungen des Grundgesetzes weitgehend oder ganz auf eigene Grundrechtsgarantien verzichtet haben. In der französischen Besatzungszone entstanden noch im Jahre 1945 die neuen 7 Länder Baden und Südwürttemberg-Hohenzollern. 1946 folgte das Land RheinlandPfalz. Diese Länder gaben sich 1947 Verfassungen. (West-)Berlin, das eine Sonderstellung einnahm, erhielt 1946 eine vorläufige und 1950 eine endgültige Verfassung. Das Saarland schließlich, das der Bundesrepublik erst 1957 politisch eingegliedert worden ist, gab sich im Jahre 1947 seine Verfassung. Die auf diese Weise entstandene staatliche Gliederung des westdeutschen Raumes 8 ist mit Ausnahme des auf der Grundlage des Art. 118 GG aus den Ländern Baden, Württemberg-Baden und Südwürttemberg-Hohenzollern 1951 neugebildeten Landes Baden-Württemberg erhalten geblieben. Baden-Württemberg hat sich im Jahre 1953 eine Verfassung gegeben. Die Verfassungen dieser Periode gelten bis heute, wenn auch mehrfach geändert, fort5. Von praktischer Bedeutung sind neben den Bestimmungen über die Staatsorganisation vor allem diejenigen Regelungen geblieben, die sich auf Gebiete der Gesetzgebungskompetenz der Länder beziehen, wie das Schulund das Kommunalrecht. Die zum Teil umfassenden Grundrechtsgewährleistungen sind zwar in Kraft geblieben (vgl. Art. 142 GG). Sie sind aber gegenüber den Grundrechten des Grundgesetzes nahezu gänzlich in den Hintergrund getreten. 3 4 5

Seit der Novelle v o m 1. 8. 1990 als Verfassung bezeichnet. Sie ist inzwischen ersetzt durch die Verfassung von 1993. Vgl. dazu CH. PESTALOZZA Die Verfassungen der deutschen Bundesländer (Textausgabe) 4. A u f l . 1991; W. GRAF VITZTHUM Die Entwicklung des gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, in: V V D S t R L Bd. 46 (1988) S. 7 ff.

1. Kapitel. Grundlagen

38

9

Während die neuen Länder in Westdeutschland und (West-)Berlin durchgängig als rechtsstaatliche Demokratien konstituiert wurden und vor allem die älteren Landesverfassungen die Orientierung an der Weimarer Reichsverfassung deutlich erkennen ließen, verbanden sich die Anfänge deutscher Verwaltung in der sowjetischen Besatzungszone von vornherein mit der dargelegten totalen Umwälzung 6 . Zwar wurden auch im Zuge dieser Entwicklung Länder geschaffen (Brandenburg, Mecklenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen), und diese erhielten zu Beginn des Jahres 1947 Verfassungen, die auf einem Entwurf der Sozialistischen Einheitspartei beruhten und sich dem Buchstaben nach ebenfalls an die Weimarer Verfassung anlehnten. Aber nennenswerte Bedeutung haben die ostdeutschen Länder und ihre Verfassungen nie erlangt. Zu einem Widerlager gegen die Tendenz straffer Zentralisierung konnten sie nicht werden. Durch das Demokratisierungsgesetz vom 23. 7. 1952 wurden die Landesregierungen und Landtage aufgehoben. Die Gebiete der Länder wurden in 14 Bezirke aufgeteilt. De facto waren die Länder damit untergegangen. 3. Über den Landesbereich hinausgehende deutsche Einrichtungen

10 Schon in der Zeit der Errichtung der deutschen Länder und bald danach sind auch deutsche Einrichtungen entstanden, deren Aufgaben über den Landesbereich hinausreichten. Im Juli 1945 wurden in der sowjetischen Besatzungszone deutsche Zentralverwaltungen für bestimmte Sachgebiete geschaffen. 1947 folgte die Deutsche Wirtschafts-Kommission, die später zum Kern des Regierungsapparats der Deutschen Demokratischen Republik wurde. Für die amerikanische Besatzungszone wurde im Oktober 1945 der Länderrat errichtet. In der britischen Zone entstanden Zonenzentralämter und im März 1946 ein Zonenbeirat. Die französische Besatzungszone hat keine umfassenden Zoneneinrichtungen gekannt. 11

Im Herbst 1946 begannen dann die amerikanische und die britische Besatzungsmacht, gemeinsame Zoneneinrichtungen für ihre beiden Zonen zu schaffen. Aus ihnen entstand 1947 die gemeinsame Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes („Bizone") mit den Organen eines Wirtschafts-, eines Länder- und eines Verwaltungsrates. Dieser Zusammenschluß ist ein Vorläufer der Bundesrepublik geworden. Nach Art. 133 GG ist der Bund in die Rechte und Pflichten des Vereinigten Wirtschaftsgebietes eingetreten. 4. Das Besatzungsrecht

12 Alle diese Ansätze neuer deutscher Staatlichkeit änderten freilich nichts an der obersten Gewalt der Besatzungsmächte und damit auch dem uneingeschränkten Vorrang des Besatzungsrechts: Nur dort, wo die Besatzungsmacht 7 dies verlangte, 6

7

Dazu und zum folgenden: H. ROGGEMANN Die DDR-Verfassungen, Einführung in das Verfassungsrecht der D D R , 4. Aufl. 1989, S. 23 ff; G. BRUNNER Das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Republik, in HdBStR Bd. 1, 1987, § 10, Rdn. 1 ff. Das gemeinsame Organ, der Alliierte Kontrollrat, wurde am 20. März 1 9 4 8 vertagt und ist seitdem nicht mehr zusammengetreten.

§3

Die Verfassungsentwicklung seit 1945 (HESSE)

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zuließ oder nicht intervenierte, mußten oder konnten die deutschen Stellen tätig werden; eine feste Grenze war den Befugnissen der Besatzungsmächte nicht gezogen. Diese brachte in der Bundesrepublik erst das Besatzungsstatut vom 12. Mai 1949, das jene Befugnisse festlegte, sowie das revidierte Besatzungsstatut vom 6. März 1951. Mit dem Inkrafttreten des Deutschlandvertrages am 5. Mai 1955 ist dann das Besatzungsregime beendet worden 8 . Die weitgehende Überlagerung durch das Recht und die Anordnungen der Besatzungsmächte ist auch für die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und die ersten Jahre der Bundesrepublik kennzeichnend gewesen. In ähnlicher Weise wurde in der Deutschen Demokratischen Republik das Besatzungsregime nach Inkrafttreten der Verfassung gelockert und schließlich durch die Deklaration der Regierung der Sowjetunion vom 25. 3. 1954 — vorbehaltlich der Verpflichtungen aus der fortbestehenden Viermächte-Verantwortung — für beendet erklärt 9 ; der DDR wurden formell die Rechte eines souveränen Staates eingeräumt. 5. Die Entstehung des Grundgesetzes und der Verfassung der DDR In der dargestellten Entwicklung war bereits die Differenz zwischen den Verhältnis- 13 sen in den westlichen Besatzungszonen und in der sowjetischen zutage getreten. Die Frage der deutschen Einheit war ungelöst. Es mußte befürchtet werden, daß die Bildung eines das Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen umfassenden deutschen Staates die Teilung Deutschlands perpetuieren würde. Dieser Umstand ist von wesentlicher Bedeutung für die Art der Entstehung und den Inhalt des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland geworden. Die Geschichte der Entstehung des Grundgesetzes 10 beginnt mit den Frankfurter 14 Dokumenten, die den 11 Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder am 1. Juli 1948 von den Besatzungsmächten übergeben wurden. Sie enthielten die Aufforderung, eine verfassunggebende Nationalversammlung einzuberufen, beauftragten die Ministerpräsidenten mit der Prüfung der Frage einer Änderung der Ländergrenzen und umfaßten Leitsätze für das zu erlassende Besatzungsstatut. Die Ministerpräsidenten setzten dem die Vorstellung eines bloßen Organisationsstatuts für die westliche Besatzungszonen entgegen. Sie gingen davon aus, daß auf alles verzichtet werden müsse, was auf einen vollkommenen Staat hinausliefe, weil anderenfalls die Aufhebung der deutschen Spaltung nicht möglich sein würde. Demgemäß schlugen sie die Bildung eines Parlamentarischen Rates zur Ausarbeitung eines Gesetzes für eine einheitliche Verwaltung des westlichen Besatzungsgebietes vor. Sie stießen damit auf Ablehnung; nur die Beschränkung auf die Einberufung eines Parlamentarischen Rates wurde zugestanden. Dieser trat am 1. September 1948 in Bonn zusammen. Er bestand aus 65 Mitgliedern, die von den Landtagen der 11 Länder gewählt worden 8

9 10

Dazu das Pariser Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland v o m 23. 10. 1954, BGBl. 1955 II, S. 215. Text in: I. v. MÜNCH Dokumente des geteilten Deutschland Bd. 1 1968, S. 329. Im einzelnen dokumentiert in: J ö R N. F. 1 (1951) S. 1 ff. Eine eingehende Darstellung bei R. MUBGNUG Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: HdBStR Bd. 1, 1987, § 6.

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1. Kapitel. Grundlagen

waren. In seiner Arbeit konnte er an den im August 1948 aufgestellten Entwurf des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee anknüpfen, eines Sachverständigengremiums, das von den Ministerpräsidenten bestellt worden war. Im Verlauf seiner bis zum Mai 1949 andauernden Beratungen arbeitete der Parlamentarische Rat ein Grundgesetz aus, das in seinen föderativen Regelungen weitgehend durch die Forderungen der mehrfach intervenierenden Besatzungsmächte bestimmt war 11 . Als vorläufige Ordnung suchte es die Lösung der deutschen Frage offenzuhalten 12 , ging aber, namentlich in der Gewährleistung von Grundrechten, doch über den Charakter eines Organisationsstatus hinaus. Am 8. Mai 1949, dem Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation, nahm der Parlamentarische Rat das Grundgesetz mit 53 gegen 12 Stimmen an. Ebenso wurde es nach Bestimmung der Besatzungsmächte in 10 westdeutschen Landtagen angenommen (vgl. Art. 144 Abs. 1 GG) 13 . Mit dem Ablauf des 23. Mai 1949 ist es in Kraft getreten (Art. 145 Abs. 2 GG). 15

Die erste Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik ging auf Bestrebungen zurück, in Anknüpfung an einen Entwurf der Sozialistischen Einheitspartei eine gesamtdeutsche Verfassung auszuarbeiten. Ein „Deutscher Volksrat" nahm den Entwurf eines von ihm gebildeten Ausschusses am 19. 3. 1948 an; er wurde von dem „Dritten deutschen Volkskongreß" gebilligt und von einem neuen „Deutschen Volksrat" am 7. 10. 1949 als Verfassung der DDR in Kraft gesetzt. Diese ist durch die sozialistische Verfassung der DDR vom 6. 4. 1968 ersetzt worden, welche ihrerseits durch das Gesetz vom 7. 10. 1974 eine Neufassung erfahren hat.

II. Die Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik seit 1945 16 Das Werk des Parlamentarischen Rates, das von nun an mehrere Jahrzehnte hindurch die Geschichte der Bundesrepublik prägen sollte, war kein revolutionärer, nicht einmal ein grundsätzlicher und umfassender Neubeginn, kein Aufbruch zu neuen Ufern, sondern eine Rückkehr an die sicheren Gestade deutscher und gemeineuropäischer Verfassungstradition. Indessen war der Grundgesetzgeber nicht frei wie die Nationalversammlungen von 1848 und 1919. Wie die Landesverfassungen hat das Grundgesetz daher den Inhalt früherer deutscher Verfassungen aufgenommen, war es, wenn man so will, nach rückwärts gewendet. Gleichwohl wich es in charakteristischer Weise von seinen Vorgängern ab, und diese Abkehr war weithin ebenfalls das Resultat einer Rückwendung, des Blicks auf die Geschehnisse, die Fehlschläge und Katastrophen der jüngeren Vergangenheit und der gebieterischen Konsequenz daraus: daß alles getan werden müsse, um gleichen oder ähnlichen Entwicklungen entgegenzuwirken. In dem Bestreben, die Fehler zu vermeiden, die — wirklich oder 11

12 13

Texte der Memoranden und Schreiben der Militärgouverneure und Außenminister bei E. R. HUBER Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit Bd. 2, 1 9 5 1 , S. 208 ff. In der endgültigen Fassung deutlich besonders in der Präambel, in Art. 23 und in Art. 146. Abgelehnt wurde das Grundgesetz im Bayerischen Landtag, der jedoch die Zugehörigkeit Bayerns zur Bundesrepublik bejahte.

§3

Die Verfassungsentwicklung seit 1945 (HESSE)

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vermeintlich 14 — zum Scheitern der Weimarer Republik geführt haben, in der entschiedenen Absetzung von dem Unrechtssystem des „Dritten Reiches" und in den daraus gezogenen verfassungsrechtlichen Folgerungen hat das Grundgesetz neben dem Sozialstaatsgebot jedoch (vielleicht unbewußt) mehr an Neuem geschaffen und ermöglicht, als die Kritik wahrhaben wollte, die ihm einen restaurativen Grundzug vorwarf. Das muß um so mehr gelten, als seine Bedeutung in der Folgezeit weit über das hinausgewachsen ist, was seine Väter und Mütter erstrebt hatten. 1. Vom „Grundgesetz" zur „Verfassung" Ein Wandel gegenüber der ursprünglichen Lage ergab sich zunächst und vor allem daraus, daß das Grundgesetz sehr bald seinen Charakter als Provisorium abgestreift hat. Ist es schon von vornherein mehr als eine Teilordnung, als das anfänglich angestrebte "Organisationsstatut" gewesen, so hat es sich in der Zwischenzeit auch als dauerhafte Ordnung erwiesen — die Zeit seiner Geltung beträgt inzwischen etwa das Dreifache derjenigen der Weimarer Verfassung. Diese Ordnung ist auch von größerer Lebens- und Wirkkraft als manche Kritiker vorausgesagt haben: Der Bundesrepublik sind unter ihr vier Jahrzehnte politischer Stabilität beschieden gewesen, wobei freilich offen ist, ob und inwieweit diese Stabilität institutionellen Regelungen, vor allem dem geltenden Wahlrecht mit seiner 5%-Klausel, zu verdanken ist15. Ein Wechsel der die Regierung stellenden politischen Kräfte hat sich mit der Bildung der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD im Jahre 1966, derjenigen von SPD und FDP im Jahre 1969 sowie dem Übergang zu der Koalition von CDU/ CSU und FDP im Jahre 1982 reibungslos vollzogen und das Modell alternativer Regierung Wirklichkeit werden lassen. Schließlich erscheint auch der Mangel geheilt, daß das Grundgesetz nicht von einer unmittelbar vom Volke gewählten Versammlung beschlossen oder einer Volksabstimmung unterworfen worden ist und deshalb dem Einwand unzureichender demokratischer Legitimation ausgesetzt war. Denn die Zustimmung der Mehrheit des Volkes zu seiner Verfassung ist inzwischen zwar nicht förmlich, aber doch der Sache nach gegeben: Auch wenn das Grundgesetz kein

14

Wie weit für dieses Scheitern institutionelle Mängel der Reichsverfassung ausschlaggebend gewesen sind, ist fraglich und umstritten. Kritisch etwa W. WEBER Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz, in: Spannungen und K r ä f t e im westdeutschen Verfassungssystem, 3. A u f l . 1970, S. 32 ff; U. SCHEUNER Die Anwendung des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung unter den Präsidentschaften von Ebert und Hindenburg, in: Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik, Festschrift für Heinrich Brüning, 1967, S. 249 ff; E. FRIESENHAHN Zur Legitimation und zum Scheitern der Weimarer Reichsverfassung, in: Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, hrsg. von K . D. Erdmann/H. Schulze, 1980, S. 81 ff; E.-W. BÖCKENFÖRDE Weimar — Vom Scheitern einer zu früh gekommenen Demokratie, in: D Ö V 1 9 8 1 , 946 ff.

15

Sicher ist sie jedenfalls nicht auf das zweimalige Verbot extremer politischer Parteien zurückzuführen, der Sozialistischen Reichspartei im Jahre 1952 (BVerfGE 2, I f f ) und der K o m m u n i stischen Partei Deutschlands im Jahre 1956 (BVerfGE 5, 85 ff). Zur Rolle der 5%-Klausel: U. SCHEUNER Das Grundgesetz in der Entwicklung zweier Jahrzehnte, in: A ö R 95 (1970) S. 374; U. WENNER Sperrklauseln im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1986. Zu der A b weichung bei der ersten gesamtdeutschen Wahl des Bundestages: B V e r f G E 82, 322 (337 ff).

1. Kapitel. Grundlagen

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Volks-, sondern eher ein Juristengesetz ist16, ist es doch, namentlich in seinen Grundprinzipien und den Grundrechten, von den Menschen grundsätzlich „angenommen" worden, die unter ihm leben; insoweit dürfte es tiefer in das Bewußtsein breiterer Bevölkerungskreise gedrungen sein als seine geschichtlichen Vorgänger. Die Unterschiede gegenüber einer echten Verfassung, die in der Bezeichnung „Grundgesetz" Ausdruck finden sollten, sind damit gegenstandslos geworden: Das Grundgesetz ist zur Verfassung der Bundesrepublik Deutschland geworden, wenn auch unter dem Vorbehalt ihrer Ablösung durch eine Verfassung, „die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist" (Art. 146 GG). 2. Bewahrung und Veränderung 18 Von diesem Wandel abgesehen ist das Grundgesetz in den Grundlinien seiner Konzeption erhalten geblieben; es zeigen sich insoweit in der Entwicklung seit 1949 einzelne Verlagerungen und neue Wege, die vor allem auf förmliche Verfassungsänderungen zurückgehen, aber keine tiefer gehenden Veränderungen des vom Parlamentarischen Rat festgelegten Grundschemas. Von insgesamt vermutlich größerer Bedeutung ist daneben der Prozeß kontinuierlicher Ausgestaltung und Festigung, das erweiterte Verständnis und die erweiterte Auslegung der Verfassung im Zusammenwirken mit ihrer unmittelbaren Verbindlichkeit, durch die das geltende Verfassungsrecht sowohl in der Tragweite seiner Regelungen als auch in seiner Wirkkraft über seine Ursprünge hinausgewachsen ist. Die hierdurch bewirkte Veränderung wird deutlich, wenn die Rolle des Verfassungsrechts in der Zeit der Vorgänger des Grundgesetzes mit derjenigen der Gegenwart verglichen wird. Sie ist vor allem ein Werk der Rechtsprechung, voran des Bundesverfassungsgerichts, aber auch der Wissenschaft gewesen. 19 Unter den bisher (Mai 1993) 38 Gesetzen zur Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes17 sind von größerer Tragweite das vierte von 1954 und das siebente von 1956 gewesen, die im Zusammenhang mit der Wiederbewaffnung die verfassungsrechtlichen Grundlagen für das Verteidigungswesen der Bundesrepublik geschaffen haben, ferner das 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes von 1968, das diesem eine umfangreiche Notstandsregelung einfügte — auch hier wieder maßgebend von dem Bestreben geleitet, die Mängel der Regelung des Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Verfassung zu vermeiden und den Gefahren einer allgemeinen Notstandsklausel zu wehren. 20 Die übrigen förmlichen Verfassungsänderungen und -ergänzungen haben ganz überwiegend der bundesstaatlichen Ordnung, im besonderen der Ordnung des Finanzwesens gegolten, freilich in diesem Zusammenhang mit dem 15. Gesetz zur 16

WEBER ( F n . 1 4 ) S.

17

Dazu G. ROBBERS Die Änderungen des Grundgesetzes, in: N J W 1989, 1325 ff. Eine eingehende und zusammenfassende, die einschlägige Gesetzgebung einbeziehende Darstellung bei H. HOFMANN Die Entwicklung des Grundgesetzes nach 1949, in: HdBStR Bd. 1, 1987, § 7. Umfassend

16.

z u d e n P r o b l e m e n : B . O . BRYDE V e r f a s s u n g s e n t w i c k l u n g ,

1 9 8 2 , b e s . S. 1 1 1 f f ; R . STEINBERG

Verfassungspolitik und offene Verfassung, in: J Z 1980, 389 ff m. w. N.

§3

Die Verfassungsentwicklung seit 1945 (HESSE)

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Änderung des Grundgesetzes von 1967 auch wichtige verfassungsrechtliche Grundlagen zur Erhaltung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geschaffen (Art. 109 Abs. 2 - 4 GG) 18 . In den zahlreichen Korrekturen an der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern und der Konzeption der Ordnung des Finanzwesens spiegeln sich die erheblichen Spannungen und Schwierigkeiten der föderativen Ordnung wider, zu denen die Starrheit der Regelung dieser Materien durch die ursprüngliche Fassung des Grundgesetzes geführt hatte19. Sie warfen die Grundfragen nach Aufgabe und Funktion der bundesstaatlichen Ordnung in der Gegenwart des modernen Sozialstaates auf, die der Verfassunggeber nicht im Auge gehabt hatte. Ansätze einer Bundesstaatsreform in dem Finanzreformgesetz von 1969 haben einer Lösung kaum nähergeführt. Die Herstellung einer Grundvoraussetzung hierfür, nämlich die Bildung leistungsfähiger Länder, wurde durch das 33. Änderungsgesetz von 1976 vertagt, das den obligatorischen Verfassungsauftrag zur Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 29 Abs. 1 GG) in eine bloße Ermächtigung verwandelt hat. Haben sich damit im Bereich der bundesstaatlichen Ordnung nicht unwesentliche Änderungen ergeben und steht insoweit eine grundsätzliche Lösung aus, so kann Ähnliches nicht oder zumindest nicht in gleichem Maße für die übrigen Bereiche der Verfassungsordnung gelten. Abgesehen von einigen Änderungen technischer Art (Änderung des Art. 39, 21 Streichung der Art. 45 und 49), der Konstitutionalisierung der Ausschüsse für Auswärtiges und Verteidigung sowie des Petitionsausschusses (Art. 45 a und c), der Einführung des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages (Art. 45 b) und des Gemeinsamen Ausschusses (Art. 53 a) sowie der Übertragung der Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte auf den Bundesverteidigungsminister (Art. 65 a) ist das Recht des III. —VI. Abschnittes des Grundgesetzes über die obersten Bundesorgane in seinem Bestand unverändert geblieben. Den neuen Lösungen des konstruktiven Mißtrauensvotums (Art. 67) und des Gesetzgebungsnotstands (Art. 81) ist eine ernstere Bewährungsprobe bisher erspart geblieben. Allerdings sind auch hier gegenüber der ursprünglichen Anlage der Verfassung 22 gewisse Gewichtsverlagerungen unverkennbar. Sie dokumentieren sich einerseits in der Rolle des Bundesrates, die im Gegensatz zu dem Gewicht des Reichsrates nach der Weimarer Reichsverfassung und des Bundesrates nach der Reichsverfassung von 1871 im Lauf der Entwicklung zunehmend stärker geworden ist, andererseits in einer Machtverschiebung zwischen Bundestag und Bundesregierung, in der Auswirkungen der europäischen Integration sowie Probleme des Parlamentarismus im modernen Staat deutlich hervortreten. Diese Veränderungen haben indessen nicht in gleich unmittelbarer Weise zu praktischen Schwierigkeiten geführt wie im Bereich der föderativen Ordnung; sie lassen sich auch kaum auf die verfassungsrechtliche

18 19

Dazu das Stabilitätsgesetz vom 8. 6. 1967 (BGBl. I S. 582) mit spät. Änderungen. Sehr kennzeichnend die Große Anfrage der Abgeordneten LENZ und Gen. vom 2. 6. 1968 und die Antwort des Bundesministers des Innern vom 20. 3. 1969, BT-Drucks. V/4002.

44

1. Kapitel. Grundlagen

Ausgestaltung zurückführen. Wenn heute das Parlament in der Erfüllung seiner Aufgabe demokratischer Gesamtleitung, Willensbildung und Kontrolle gegenüber der Regierung im Nachteil ist, dann beruht dies eher auf den Bedingungen seines und des Wirkens der Regierung im lenkenden und leistenden Staat der Gegenwart, namentlich auch auf den aus diesen Bedingungen resultierenden Erfordernissen längerfristiger Planung und wirtschaftlicher Steuerung. Deshalb ist bislang auch offen, ob und inwieweit sich der Verstärkung der Rolle der Exekutive durch institutionelle Regelungen des Verfassungsrechts begegnen läßt, ob nicht die Lösung der Probleme eher in einer grundsätzlichen Veränderung der Arbeitsweise des Parlaments zu suchen ist, die eine Änderung des insofern weiten Raum lassenden Verfassungsrechts nicht voraussetzt20. 23

Im wesentlichen unverändert sind auch die verfassungsrechtlichen Regelungen auf dem Gebiet der Rechtsprechung geblieben. Von einer gewissen Bedeutung sind hier der Wegfall des ursprünglich zur Wahrung der Einheit des Bundesrechts vorgesehenen obersten Bundesgerichts und seine Ersetzung durch einen gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes21 sowie die Aufnahme der Verfassungsbeschwerde in den Katalog des Art. 93 Abs. 1 GG durch das 19. Änderungsgesetz von 1969, mit der eine Rechtslage Verfassungskraft erlangt hat, die schon mit dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz von 1951 geschaffen worden war (§§ 90 f), und auf der zu einem nicht unwesentlichen Teil die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts und seiner Rechtsprechung beruht. Die übrigen Veränderungen in diesem Bereich beschränken sich auf Korrekturen technischer oder terminologischer Art.

24

Schließlich die Normierung von Grundrechten im Grundgesetz: Sie ist in ihrem ursprünglichen Bestand nahezu vollständig erhalten. Ergänzungen, Modifikationen und Änderungen von einigem Gewicht haben das 7. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes mit der Regelung von Grundrechtsbeschränkungen für Wehr- und Ersatzdienstleistende (Art. 17 a) und die Notstandsnovelle von 1968 gebracht. Insoweit ist vor allem hinzuweisen auf die ausdrückliche Gewährleistung des Rechts zum Arbeitskampf im Falle eines Notstandes (Art. 9 Abs. 3 Satz 3) und — nicht auf Notstandsfälle begrenzte — Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 19 Abs. 4 Satz 3)22. Mit der weitgehenden Bewahrung des äußeren Bestandes der Grundrechte hat sich indessen eine grundlegende Ausweitung und Verstärkung ihrer Tragweite verbunden, welche der heutigen Verfassungslage ihre prägenden Züge gegeben hat: Auf dem Gebiet der Grundrechte tritt der neben der Weiterentwicklung durch förmliche Verfassungsänderungen sich vollziehende innere Ausbau und die Ausgestaltung der Verfassungsordnung mit besonderer Deutlichkeit hervor, und er ist gerade hier von ausschlaggebender Bedeutung geworden. Insofern hat die Rechtsprechung, nament20

21 22

Vgl. SCHEUNER Grundgesetz (Fn. 15) S. 380; H.-P. SCHNEIDER Das parlamentarische System, in: Handbuch des Verfassungsrechts, 1. Aufl. 1983, S. 283 ff. 16. Änderungsgesetz zum Grundgesetz v o m 18. 6. 1968 (BGBl. I S. 657). Vgl. dazu B V e r f G E 30,1 (17 ff).

§3

Die Verfassungsentwicklung seit 1945 (HESSE)

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lieh des Bundesverfassungsgerichts, wesentlichen Anteil an der Fortbildung des Verfassungsrechts. Ohne wesentliche praktische Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der 25 Verfassungsordnung ist die Arbeit der vom Bundestag durch die Beschlüsse vom 8. Oktober 1970 und 22. Februar 1973 eingesetzten Enquête-Kommission für Fragen der Verfassungsreform geblieben. Ihr Auftrag war darauf beschränkt „zu prüfen, ob und inwieweit es erforderlich ist, das Grundgesetz den gegenwärtigen und voraussehbar zukünftigen Erfordernissen — unter Wahrung seiner Grundprinzipien — anzupassen". In Ausführung dieses Auftrags hat die Kommission im Dezember 1976 ihren Schlußbericht vorgelegt 23 . Der Bericht konzentriert sich auf die Fragenkomplexe „Parlament und Regierung" sowie „Bund und Länder". Unter dem ersten Aspekt werden vor allem Probleme der politischen Mitwirkungsrechte der Bürger, der Stellung des Bundestages, der Dauer und Beendigung der Wahlperiode, der parlamentarischen Kontrollrechte und der Einsetzung eines Bundeswirtschafts- und Sozialrates behandelt, unter dem zweiten namentlich Fragen der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen, der Finanzordnung, der Rahmenplanung und Investitionsfinanzierung sowie der Stellung des Bundesrates. Zu diesen Fragen hat die Kommission Empfehlungen einer Änderung des Grundgesetzes ausgearbeitet, mit deren Realisierung indessen kaum noch zu rechnen sein dürfte 24 . 3. Die Bedeutung des Grundgesetzes Wie die dargestellte Entwicklung zeigt, ist das Grundgesetz während eines nicht 26 unerheblichen Zeitraums in der Lage gewesen, seine Funktion als Verfassung der Bundesrepublik zu erfüllen. Insofern hat die geschichtliche Entwicklung manche skeptische Würdigung und daran anknüpfende Bedenken und Verfallsprognosen 25 bislang widerlegt. Allerdings ist das Grundgesetz auch keiner härteren Belastungsprobe ausgesetzt gewesen. So sehr indessen eine Verfassung auch in Krisenzeiten standhalten soll, ist sie doch in erster Linie für die Normallage geschaffen. In dieser hat sich das Grundgesetz im ganzen bewährt. Zu verdanken ist das namentlich dem Umstand, daß seine Regelungen bei allen Spannungen und Friktionen, vor allem im Bereich der föderativen Ordnung, es ermöglicht haben, den Gegebenheiten der Zeit gerecht zu werden: Das Grundgesetz gibt Raum für ein Verständnis der Verfassung

23 24

BT-Drucks. 7/5924. Vgl. auch den Zwischenbericht v o n 1973, BT-Drucks. VI/3829. Zur Würdigung der Arbeit der Kommission: R. WAHL Empfehlungen zur Verfassungsreform, in: A ö R

103

( 1 9 7 8 ) S. 4 7 7 ff (m. w. N.

S. 4 8 4

A n m . 20); R. GRAWERT Z u r

Verfassungsreform,

i n : D e r S t a a t 1 8 ( 1 9 7 8 ) S . 2 2 9 f f ; STEINBERG V e r f a s s u n g s p o l i t i k ( F n . 1 7 ) S . 3 9 0 f . 25

Vgl. etwa H. P. IPSEN Über das Grundgesetz, 1950; DERS. Über das Grundgesetz — nach 25 Jahren, in: D Ö V 1974, S. 289 ff, u. a. mit der Diagnose, daß der „Basiskonsens" der ersten Jahre des Grundgesetzes verloren gegangen sei (S. 293); W. WEBER (Fn. 14) S. 9 ff; DERS. Die Bundesrepublik und ihre Verfassung im dritten Jahrzehnt, in: ebd. S. 345 ff; DERS. Ist Verlaß auf unser Grundgesetz? 1975; H. KRÜGER Die deutsche Staatlichkeit im Jahre 1 9 7 1 , in: Der Staat 10 (1971) S. 471 ff, insgesamt freilich, ebenso wie E. FORSTHOFF Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, eher einen zunehmenden Verlust an Staatlichkeit in der Entwicklung der Bundesrepublik konstatierend.

46

1. Kapitel. Grundlagen

und ihrer Bestimmungen, das den politischen Gewalten ausreichende Gestaltungsfreiheit beläßt und es ihnen ermöglicht, in der Bestimmung der politischen Gesamtrichtung wechselnde Ziele zu verfolgen oder sich wechselnden Erfordernissen anzupassen; das gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts namentlich auf dem Gebiet der Wirtschaft26. Diese Offenheit und die Möglichkeit, dort, wo sie nicht ausreicht, das Grundgesetz zu ändern, sind entscheidende Voraussetzungen für die Bewältigung der Probleme von vier Jahrzehnten gewesen. 27 Freilich bewährt sich eine Verfassung nicht nur in der klugen Anpassung an das Gegebene. Sie legt auch Ziele und Richtlinien fest, und sie sucht der Verfolgung dieser Ziele und Richtlinien einen festen Rahmen zu geben. Eben das ist dem Grundgesetz in unerwartetem Ausmaß gelungen. Es hat nicht etwa nur mühselig mit der geistigen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Schritt gehalten, sondern es hat diese in weitem Umfang geleitet und geprägt: In seiner umfassenden Bedeutung für alle Bereiche des Rechts und damit für das gesamte Leben des Gemeinwesens liegt der wesentliche Charakterzug der neueren verfassungsrechtlichen Entwicklung. Dabei ist das, was das Grundgesetz als Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet: die Würde des Menschen, die in den Grundrechten garantierten Freiheiten und die Rechtsgleichheit, die Prinzipien der staatlichen Ordnung, hier vor allem diejenigen der Demokratie und des Rechtsstaates, und die vielfältigen Versuche, dies alles institutionell zu wahren und zu sichern, in der Bundesrepublik in höherem Maße eine Frage des Verfassungsrechts als in älteren Demokratien des Auslands, in denen dies in langer Tradition zu einem selbstverständlichen Bestandteil ihrer politischen Kultur geworden ist. So erscheint die Verfassung, besonders in ihren Grundrechten, als Proklamierung eines Wertoder Güter-, eines Kultursystems, ohne das kein Gemeinwesen bestehen kann27; sie gewinnt die Bedeutung einer geistigen Grundlegung der heutigen Staatlichkeit. Damit leistet das Grundgesetz nunmehr etwas, was es in seinen Anfangen noch nicht hatte leisten können und was der Weimarer Reichsverfassung nicht gelungen ist. 28 Diese hohe Bedeutung der Verfassung ist nicht unangefochten. Doch richten sich Kritik und Protest weniger gegen die verfassungsmäßige Ordnung und ihre Prinzipien selbst, als gegen tatsächliche Verhältnisse sowie politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen in der Bundesrepublik. In der Form solchen Protestes wird oft, ebenso wie in den Reaktionen auf ihn, ein Mangel an Vertrauen auf die demokratischen Prinzipien und mit ihm ein Defizit erkennbar, das geeignet ist, zu einer offenen oder schleichenden Verkürzung des freiheitlichen Gehalts der Verfassung zu führen. Daran wird deutlich, daß die Verfassung die außerrechtlichen Voraussetzungen und Gewährleistungen von Demokratie nur bedingt ersetzen kann, im besonderen diejenige einer breiten Schicht ausreichend informierter, demokratisch bewußter Bürger. Auch wenn dieser Mangel nicht dem Grundgesetz selbst zugerechnet werden kann, läßt er doch Grenzen der Wirkungsmöglichkeit von Verfas26 27

Zusammenfassend mit weiteren Nachw.: BVerfGE 50, 290 (337 f). R. SMEND Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 264 ff.

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Die Verfassungsentwicklung seit 1945 (HESSE)

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sungsrecht erkennen und muß deshalb bei der Einschätzung der heutigen Bedeutung des Grundgesetzes berücksichtigt werden.

III. Das Grundgesetz als gesamtdeutsche Verfassung 1. Die Herstellung der deutschen Einheit Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik am 29 3. Oktober 1990 hat die deutsche Teilung ihr Ende gefunden und ist das Grundgesetz zur Verfassung für ganz Deutschland geworden28. Für die Herstellung der Einheit hatte sich neben dem Beitritt nach Art. 23 Satz 30 2 GG der Weg des Art. 146 GG angeboten: der Beschluß einer Verfassung durch das deutsche Volk in freier Entscheidung, mit der das Grundgesetz seine nur für eine Übergangszeit bestimmte (Satz 1 der Präambel)29 Gültigkeit verloren hätte. Dieser Weg, der im Parlamentarischen Rat als gebotener Weg zu einer gesamtdeutschen Verfassung betrachtet worden war 30 , hätte unvermeidlich zu einer nicht unerheblichen Verzögerung des Einigungswerkes geführt; er ist daher nicht eingeschlagen worden31. Daß auch der Weg des Beitritts gewählt werden könne, hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 31. 7. 1973 ausgesprochen32. Der Vollzug des Beitritts nach Art. 23 Satz 2 GG setzte eine in freier Willens- 31 bildung zustandegekommene Erklärung des anderen Teils Deutschlands voraus. Mit ihr wurde der erklärende Teil automatisch Bestandteil der Bundesrepublik, die Art. 23 Satz 2 GG verpflichtete, das Grundgesetz durch einen Akt der Legislative in dem Gebiet des beitretenden Teils in Kraft zu setzen. Das Schloß vor dem Beitritt vereinbarte Regelungen nicht aus, wie sie in den dem Beitritt vorangehenden Verträgen: dem Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. 5. 1990 (BGBl. II S. 357) — Staatsvertrag —, dem Vertrag zur 28

Dazu und zum folgenden: H. WEIS Verfassungsrechtliche' Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, in: A ö R 1 1 6 (1991) S. I f f ; Κ . STERN Die Wiederherstellung der deutschen Einheit, in: Verträge und Rechtsakte zur deutschen Einheit, Hrsg. v. K . Stern und B. Schmidt-Bleibtreu, Bd. 2 1990, S. 20 ff; W. BINNE Verfassungsrechtliche Überlegungen zu einem „Beitritt" der D D R nach Art. 23 G G , in: J u S 1990, S. 446 ff; K . D. SCHNAPPAUF Der Einigungsvertrag, in: DVB1. 1990, S. 1249 ff; V. BUSSE Das vertragliche Werk der deutschen Einheit und die Änderungen von Verfassungsrecht, in: D Ö V 1 9 9 1 , S. 345 ff; E. KLEIN D e r E i n i g u n g s v e r t r a g , in: D Ö V 1 9 9 1 , S. 5 7 0 f f ; M . HERDEGEN D i e V e r f a s s u n g s ä n d e r u n -

gen im Einigungsvertrag, 1991. — Zu dem Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland s. oben § 2. 29 30 31

32

Zu seiner verfassungsrechtlichen Bedeutung: B V e r f G E 5, 85 (127); 77, 137 (149). Vgl. hierzu etwa die Darstellung bei WEIS Herstellung staatlicher Einheit (Fn. 28) S. 6 f. Vgl. die Präambel des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik v o m 18. 5. 1990 (BGBl. II S. 357). B V e r f G E 36, 1 (28).

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1. Kapitel. Grundlagen

Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des deutschen Bundestages vom 3. 8. 1990 (BGBl. II S. 822) - Wahlvertrag33 - und dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. 8. 1990 (BGBl. II S. 889) - Einigungsvertrag getroffen worden sind. Die Erklärung des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland hat die Volkskammer der DDR am 23. 8. 1990 beschlossen (abgedruckt in BGBl. I S. 2057). Durch Art. 3 des Einigungsvertrages (EV) in Verbindung mit Art. 1 des Einigungsvertragsgesetzes vom 23. 9. 1990 (BGBl. II S. 885) ist das Grundgesetz mit dem Wirksamwerden des Beitritts in den neuen Gebieten in Kraft gesetzt worden, soweit in dem Vertrag nichts anderes bestimmt ist34. 2. Beitrittsbedingte Änderungen des Grundgesetzes und Sonderregelungen des Einigungsvertrages 32 Diese Inkraftsetzung des Grundgesetzes bezieht sich freilich auf eine durch den Einigungsvertrag veränderte Fassung (Art. 3 EV): Art. 4 des Einigungsvertrages enthält „beitrittsbedingte Änderungen des Grundgesetzes", die zu einem Teil allgemeine Geltung haben, zu einem anderen Teil nur die neuen Gebiete betreffen. 33

Notwendig aus dem Beitritt ergeben sich die Folgerungen für das (obsolet gewordene) Wiedervereinigungsgebot, das auch als — mögliche — Grundlage territorialer Ansprüche auf Teile des früheren Reichsgebietes wegfallen mußte35. Demgemäß wurde die Präambel des Grundgesetzes neu gefaßt und Art. 23 GG aufgehoben. In der Präambel sind insbesondere die Worte: „von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren", der Hinweis auf den Ubergangscharakter des Grundgesetzes und der letzte Satz entfallen, nach dem das deutsche Volk aufgefordert blieb, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden (Art. 4 Nr. 1 EV). Ähnlich wie die Präambel und Art. 23 GG war auch Art. 146 GG als Positivierung des Wiedervereinigungsgebotes verstanden und mit dem Beitritt insoweit gegenstandslos geworden. Diese Bestimmung hat der Einigungsvertrag indessen nicht aufgehoben, sondern in Art. 4 Nr. 6 neu gefaßt. Danach verliert „dieses Grundgesetz, das nach der Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, „..." seine Gültigkeit an dem Tage, 33 34

35

Geändert durch den Vertrag vom 28. 8. 1990 (BGBl. II S. 831). Das Verfahren des Art. 59 Abs. 2 G G , in dem diese Änderungen im Wege eines Zustimmungsgesetzes mit den für Verfassungsänderungen erforderlichen Mehrheiten in den gesetzgebenden Körperschaften zustandegekommen sind, in dem Bundestag und Bundesrat dem Vertrag also nur (ohne Beratung oder Anderungsmöglichkeiten im einzelnen) im ganzen ihre Zustimmung erteilen oder verweigern konnten, hatte seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 23 Satz 2 in Verbindung mit dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes; es stand deshalb mit dem Grundgesetz in Einklang (BVerfGE 82, 316 (320)). Vgl. dazu W. H E I N T S C H E L V. H E I N E G G Die Mitwirkungsrechte der Abgeordneten des deutschen Bundestages und das Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, in: DVB1. 1990, S. 1270 ff. Vgl. Art. 1 des Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. 9. 1990 (BGBl. II S. 1318).

§3

Die Verfassungsentwicklung seit 1945 (HESSE)

49

an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist". Als „beitrittsbedingte" Änderung des Grundgesetzes erscheint in Art. 4 Nr. 3 34 EV ferner eine „Neufassung" des Art. 51 Abs. 2 GG, mit der das Stimmgewicht derjenigen Länder im Bundesrat, die mehr als 7 Millionen Einwohner haben (BadenWürttemberg, Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen) von bisher 5 auf 6 Stimmen erhöht worden ist. Allein das Gebiet der ehemaligen DDR betrifft die Ergänzung des Art. 135 a 35 GG durch Art. 4 Nr. 4 EV 36 sowie die Einführung des neuen Art. 143 in das Grundgesetz (Art. 4 Nr. 5 EV). Danach kann Recht im Gebiet der ehemaligen DDR längstens bis zum 31. Dezember 1992 von Bestimmungen des Grundgesetzes abweichen, soweit und solange infolge der unterschiedlichen Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung noch nicht erreicht werden kann; Abweichungen dürfen indessen nicht gegen Art. 19 Abs. 2 GG (Wesensgehalt der Grundrechte) verstoßen und müssen mit den in Art. 79 Abs. 3 GG genannten Verfassungsgrundsätzen (Art. 1 und 20 GG) vereinbar sein (Art. 143 Abs. 1). Abweichungen von den Abschnitten II, Vili, V i l i a, IX, X und XI des Grundgesetzes sind längstens bis zum 31. Dezember 1995 zulässig (Art. 143 Abs. 2)37. Unabhängig von Abs. 1 und 2 haben Art. 41 des Einigungsvertrages und Regelungen zu seiner Durchführung auch insoweit Bestand, als sie vorsehen, daß Eingriffe in das Eigentum auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nicht mehr rückgängig gemacht werden können (Art. 143 Abs. 3)38. Wie schon Art. 143 Abs. 1 und 2 GG zeigen, liegt den Ausnahmen von der 36 Regel des sofortigen Inkrafttretens in den neuen Bundesländern der Gedanke zugrunde, daß das Grundgesetz für die neu hinzugetretenen Teile Deutschlands nur stufenweise in Kraft gesetzt werden könne. Dazu enthält der Einigungsvertrag selbst weitere Bestimmungen. So wird Art. 131 GG nach Art. 6 des Vertrages „vorerst" nicht in Kraft gesetzt39 oder wird nach Art. 7 Abs. 1 EV die Finanzverfassung der Bundesrepublik auf das Gebiet der ehemaligen DDR nur insoweit erstreckt, als der Vertrag nichts anderes bestimmt (vgl. dazu Art. 7 Abs. 2 bis 6 EV).

36

37

38

39

Danach können bestimmte Verbindlichkeiten aufgehoben oder gekürzt werden, die sich aus der Lage nach dem Untergang der D D R ergeben. Das gilt allerdings nicht für DDR-Recht, welches als Landesrecht in K r a f t bleibt; dieses muß uneingeschränkt mit dem Grundgesetz vereinbar sein (Art. 9 Abs. 1 EV). Diese Bestimmung betrifft die weitreichenden Enteignungen, welche in den Jahren 1945 bis 1949 auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage vorgenommen worden sind. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts v o m 23. 4. 1991 verstößt Art. 143 Abs. 3 G G nicht gegen das Anderungsverbot des Art. 79 Abs. 3 G G . Doch gebietet der Gleichheitssatz, daß der Gesetzgeber für diese Enteignungen einen Ausgleich schafft (BVerfGE 84, 90). Demgegenüber die in Anlage I Kap. II Sachgebiet Β Abschn. 1 getroffene Regelung, nach der die Gesetze zu Art. 131 G G von dem Inkrafttreten als Bundesrecht gem. Art. 8 E V ausgeschlossen sind (— insoweit also offenbar endgültig).

50

1. Kapitel. Grundlagen

IV. Verfassungsreform 37 Über die dargelegten Verfassungsänderungen hinaus enthält Art. 5 EV eine Regelung für „künftige Verfassungsänderungen": Die Regierungen der beiden Vertragsparteien „empfehlen" den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes „zu befassen"; insbesondere werden genannt das Verhältnis von Bund und Ländern, eine Neugliederung für den Raum Berlin/Brandenburg, die Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz sowie die Frage der Anwendung des Art. 146 GG und in deren Rahmen eine Volksabstimmung. 38

Diese Bestimmung des Einigungsvertrages erweist sich als Versuch eines politischen Kompromisses in der lebhaft umstrittenen Frage, ob es bei der mit dem Beitritt verbundenen Erstreckung der Geltung des Grundgesetzes auf das gesamte Deutschland sein Bewenden haben soll oder ob es noch der Schaffung einer Verfassung bedarf, die vom deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist40. Das wird im Einigungsvertrag selbst nicht entschieden („empfehlen") sondern als Problem einer Verfassungsrevision betrachtet, mit deren Verfahren und Inhalt sich die gesetzgebenden Körperschaften „befassen" sollen. Juristisch enthält dieser Kompromiß Widersprüche, welche in der Staatsrechtslehre zu heftigen Auseinandersetzungen geführt haben.

39

Wenn Art. 5 EV nicht die Schaffung einer neuen Verfassung, sondern Verfassungsänderungen ins Auge faßt, so sind diese Änderungen Sache der gesetzgebenden Körperschaften, welche sie unter den Voraussetzungen des Art. 79 Abs. 1 GG (ausdrückliche Änderung oder Ergänzung des GG), im Verfahren des Art. 79 Abs. 2 GG (Zweidrittelmehrheiten der Mitglieder des Bundestages und der Stimmen des Bundesrates) und in den Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG (Unzulässigkeit von Verfassungsänderungen, welche die Identität der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes aufheben würden, vgl. oben § 1, Rdn. 24) zu beschließen haben41.

40

Dieser Weg ist eingeschlagen worden: Durch übereinstimmende Beschlüsse vom 28. und 29. November 1991 haben Bundestag und Bundesrat eine Gemeinsame Verfassungskommission eingesetzt, in die sie je 32 ihrer Mitglieder sowie 32 Stellvertreter entsandt haben. Aufgabe der Kommission ist es, über Verfassungsänderungen und -ergänzungen zu beraten, die den gesetzgebenden Körperschaften vorgeschlagen werden sollen; insbesondere soll sie sich mit den in Art. 5 EV genannten Grundgesetzänderungen befassen sowie mit Änderungen, die mit der Verwirklichung der Europäischen Union erforderlich werden. Für das Verfahren der Kommission gilt die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Die Kommission entscheidet

40

41

Vgl. dazu die Beiträge des Sammelwerks v o n B. GUGGENBERGER und T. STEIN (Hrsg.) Die Verfassungsdiskussion im J a h r der deutschen Einheit, 1 9 9 1 ; E. G . MAHRENHOLZ Die Verfassung und das Volk, 1992. S o auch die Denkschrift zum Einigungsvertrag (BT-Drucks. 11/7760) zu Art. 4 Nr. 6 (S. 359).

§3

Die Verfassungsentwicklung seit 1945 (HESSE)

51

mit Zweidrittel-Mehrheit. Zum Abschluß ihrer Arbeit (nach dem Einsetzungsbeschluß bis zum 31. März 1993) soll sie einen Bericht vorlegen. Dieser ist Grundlage für die Initiativen zur Änderung des Grundgesetzes aus der Mitte des Deutschen Bundestages, durch die Bundesregierung oder durch den Bundesrat42. Das Ergebnis der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission steht (Mai 41 1993) noch nicht im einzelnen fest. Die Beschlüsse der Kommission zum Thema „Grundgesetz" und Europa" sind bereits im 38. Änderungsgesetz zum Grundgesetz vom 21. Dezember 1992 (BGBl. I S. 2086) berücksichtigt (vgl. unten § 4). Im übrigen wird die Kommission, wie sich ihrer bisherigen Arbeit entnehmen läßt, nur einzelne punktuelle Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes vorschlagen, welche einen Zusammenhang mit der deutschen Einigung kaum erkennen lassen, namentlich Änderungen bei den Komplexen der Gesetzgebungskompetenzen und des Verfahrens der Bundesgesetzgebung. Weiterreichende Änderungen haben in der Kommission nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit ihrer Mitglieder gefunden; das gilt auch für die Frage einer Volksabstimmung über das geänderte Grundgesetz. Einer der wichtigsten Punkte, die Finanzordnung des Grundgesetzes, ist überhaupt ausgeklammert worden43. — Die besonders aktuellen und dringlichen Fragen einer Änderung oder Ergänzung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Asylrechts (Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG) und eines „out of area"-Einsatzes der Bundeswehr (Art. 87 a Abs. 2, Art. 24 Abs. 2 GG) sind auch neben den Beratungen in der Gemeinsamen Verfassungskommission Gegenstand der politischen Auseinandersetzung zwischen Regierungs- und Koalitionsparteien sowie innerhalb der Regierungskoalition geworden. Über die Asylrechtsänderung haben die gesetzgebenden Körperschaften bereits entschieden44. Es spricht manches dafür, daß mit gutem Grund einmal die Frage gestellt 42 werden wird, ob diese Reform zu einem Erfolg geführt hat45. Soweit sie zu Verbesserungen führt, geschieht dies jedenfalls um eine hohen Preis, und zwar den eines Verlustes an Ansehen und Autorität der Verfassung. Diese beruhen zu einem ent42

Der Bundesrat hat eine aus den Regierungschefs der Länder und je einem weiteren Regierungsmitglied bestehende Kommission gebildet, deren Arbeitsschwerpunkt auf der verfassungsrechtlichen Seite einer Stärkung des Föderalismus liegen sollte (BR-Drucks. 109/91). Diese Kommission hat in ihrem Bericht weitgehende Änderungen des Grundgesetzes vorgeschlagen, denen sich die Gemeinsame Verfassungskommission nur zu einem Teil angeschlossen hat (BR-Drucks. 360/92).

43

Zur Arbeit der Kommission: R . RUBEL, Das neue Grundgesetz. Zum Stand der Reformbemühungen, in: J A 1992, S. 265 ff; J A 1993, S. 12 ff. Zur vorläufigen Zulässigkeit der Beteiligung deutscher Soldaten an der Durchsetzung des Flugverbotes über Bosnien-Herzegowina vgl. das Urteil der Bundesverfassungsgerichts v o m 8. 4. 1993, DVB1. 1993, S. 547 ff. Vgl. D. GRIMM, Verfassungsreform in falscher Hand? Zum Stand der Diskussion um das Grundgesetz, in: Merkur Heft 525, S. 1059 ff, der mit Recht darauf hinweist, daß die Verfassungsrevision mit der Entscheidung f ü r die lediglich aus Mitgliedern v o n Bundestag und Bundesrat, also ausschließlich aus aktiven Parteipolitikern, bestehende Verfassungskommission dem Bonner Routinebetrieb überlassen worden sei; damit seien Augenblicksbedürfnisse und Wahltermine in den Vordergrund gerückt, während Probleme mit Spätfolgen oder grundsätzlichen Strukturschwächen der Verfassung zurückgetreten seien.

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45

52

1. Kapitel. Grundlagen

scheidenden Teil auf gewachsener Tradition (vgl. dazu oben Rdn. 17 und 27). Die Diskussion um das Grundgesetz hat den Eindruck begünstigt, daß alles verfügbar sei, daß an der Verfassung alles geändert werden könne und daß dies nicht mehr sei als eine Frage tagespolitischer Opportunität sowie der nach Art. 79 Abs. 2 GG erforderlichen Mehrheiten in den gesetzgebenden Körperschaften. Das ist nicht geeignet, die integrierende Funktion der Verfassung (oben § 1 Rdn. 4 ff) zu stärken, Anerkennung und Zustimmung zu fördern, namentlich bei der Bevölkerung in den neuen Bundesländern, die an dem bisherigen langjährigen Verfassungsleben nicht beteiligt war.

§ 4 Europäische Integration und Grundgesetz* Maastricht und die Folgen für das deutsche Verfassungsrecht WERNER VON SIMSON/JÜRGEN S C H W A R Z E

Übersicht Rdn. Vorbemerkungen I. Grundfragen der europäischen Integration 1. Gemeinsame Ausübung staatlicher Hoheitsrechte . . 2. Konfliktmöglichkeiten mit verbliebener staatlicher Hoheitsmacht a) Überstaatliche Zwangsläufigkeiten und nationale Verfassungsansprüche b) Wandlungen der Verfassungsinterpretation im europäischen Einigungsprozeß c) Wandlungen der Gewaltenteilung in der Europäischen Gemeinschaft II. Europäische Verfassungsentwicklung bis zum Binnenmarkt 1992 — aus der Sicht des Grundgesetzes 1. Die Entscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit 2. Gemeinsame Wertvorstellungen als Grundlage der europäischen Integration . a) Europarat - EMRK . .

1—3 4—38 4 — 15

16 — 38

19-23

24-32

33 — 38

39 — 90

39-43

44—53 44-49

Rdn. b) Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 3. Stationen der europäischen Verfassungsentwicklung — von der Verteidigungsgemeinschaft bis zum Binnenmarkt a) Der Kampf um den Wehrbeitrag b) Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft — politische Einigung durch wirtschaftliche Integration c) Die deutsche Bundesstaatlichkeit im europäischen Integrationsprozeß III. Verfassungsperspektiven jenseits des Binnenmarktes . . . . 1. Die Gestalt der Europäischen Union 2. Das Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten a) Subsidiarität b) Die Wirtschafts- und Währungsunion c) Zukünftige Betätigungsfelder der Europäischen Gemeinschaft

50-53

54-90 54-59

60 — 76

77-90 91 — 144 94-100 101 — 113 101, 102 103 — 108

109-113

* Das Manuskript wurde am 15. November 1992 abgeschlossen. Hinweise auf die jüngsten Änderungen des Grundgesetzes (z. B. Art. 23 GG) sind später in den Text eingefügt worden. Die Verfasser danken Herrn Assessor Dr. Armin Hatje für seine wertvolle Mitarbeit.

54

1. Kapitel. Grundlagen Rdn. 3. Institutionelle E n t w i c k l u n g der Gemeinschaft a) Die Befugnisse des Europäischen Parlaments im Rechtssetzungsverfahren b) Beteiligung der Regionen am Entscheidungsverfahren 4. Die v e r f a h r e n s m ä ß i g e Beh a n d l u n g der Maastrichter Beschlüsse im Lichte des deutschen Verfassungsrechts a) Die E i n f ü h r u n g eines k o m m u n a l e n Wahlrechts für E G - B ü r g e r b) Die Einführung der Wirtschafts- u n d Währungsunion c) F o l g e w i r k u n g e n der Wirtschafts- und Währungsunion d) A u s d e h n u n g der Gemeinschaftskompetenzen e) Die Einheitlichkeit des Z u s t i m m u n g s Verfahrens

114—119

114 — 118

119

120-136

122-124

125 — 127

128, 129

130, 131 132—136

Rdn. 5. Die z u k ü n f t i g e Rolle des Verfassungsstaats im europäischen Integrationsprozeß IV. Zukunftsperspektiven europäischer Integration und deutsches Verfassungsrecht 1. Irreduzible Bereiche deutscher Staatlichkeit a) Bundesstaatlichkeit . . . b) Verfassungsgrundsätze der Art. 1 und 20 . . . . 2. M ö g l i c h k e i t e n verfassungsmäßiger Einschränkung einer europäischen Hoheitsmacht a) Verfassungsvorbehalte u n d Kontrolle b) Neue Formen der A u f gabenbewältigung . . . . c) W i d e r r u f neuer K o m p e tenzzuweisungen 3. Gestaltungschancen im Prozeß der europäischen Verfassungsentwicklung . . 4. Schlußbetrachtung: Ä u ß e r ste Grenzen bei der europäischen Verfassungsreform

137-144

145 — 175 145, 146 147 148-156

157-167 157-160 161 — 164 165 — 167

168 — 173

174, 175

Vorbemerkungen 1 Die Frage, welchen Einfluß die europäische Integration auf die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ausübt, war bis vor wenigen Jahren eine Nebenfrage. Sie betraf im wesentlichen das Problem der Sicherung der Grundrechte. Hier war, nach einigem Hin und Her, ein zufriedenstellender Zustand erreicht worden. 1 Auch sonst traten kaum Zweifel an der Bewahrung der verfassungsmäßigen Integrität der Bundesrepublik hervor: die europäischen Gemeinschaftsbestrebungen schienen vereinbar mit dem, was das Grundgesetz über Wesen und Gestalt des deutschen Staates bestimmte. 2

Wie es nicht zuletzt die Beschlüsse der Regierungskonferenz von Maastricht widerspiegeln, hat sich dieser Zustand jetzt erheblich geändert. Die Europäische 1

B V e r f G E 73, S. 339 ff („Solange II"); siehe aus der Rechtsprechung des BVerfG zuletzt die Entscheidung v o m 28. J a n u a r 1992 z u m Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen zu den Vorlagebeschlüssen g e m ä ß Art. 100 G G - Urteil v o m 28. J a n u a r 1992 zu §§ 19, 25 I Nr. 5 A Z O 1 B v R 1025/82, 1 B v L 16/83, 1 B v L 10/91 - auszugsweise abgedruckt in N J W 1992, 964 ff; näheres weiter unten § 8.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

55

Gemeinschaft zieht mehr und mehr von den staatlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten an sich. Was ihr damit zufallt, kommt dem Einzelstaat — zumindest unter dem Gesichtspunkt beanspruchter Kompetenz — abhanden. Eine fortschreitende Entwicklung zeichnet sich ab, als deren Resultat wir uns fragen müssen, wieviel von dem Staat, den das Grundgesetz definiert und trägt, sich wird bewahren lassen. Damit wird das Verhältnis von verfassungsmäßiger Ordnung und europäischer 3 Integration zur Zentralfrage der auf uns zukommenden neuen Verfassungszustände. Vom Verfassungsauftrag des Grundgesetzes her ist zu bedenken, ob das, was der Staat nicht mehr in eigener Regie bewältigen kann, in der Gemeinschaft zu sichern und zu vollziehen ist. Dieses Bedenken kann aber nicht dadurch aufgefangen werden, daß der Staat eben nur soviel an Hoheitsrechten zur gemeinsamen Wahrnehmung in die Gemeinschaft einbringt, als diese ausüben kann, ohne die Aufgaben zu verfehlen, welchen der Staat bisher gerecht werden konnte. Denn der Staat kann manches, was zu seiner klassischen Definition gehörte, jetzt nicht mehr in unbedingter Selbständigkeit zuwege bringen. Vieles von den Rechten und Aufgaben, die er überträgt, kann nur noch von gruppenmäßig zusammengefaßten Gemeinschaften wahrgenommen werden. Denn die Ordnungsprobleme gehen hinaus über die dem einzelstaatlichen Befehl zugängliche Dimension; der Staat ist nur noch lebensfähig, wenn er sich überstaatlichen Bedingtheiten unterwirft. 2 Er hängt, was die Erfüllung wesentlicher, ihm bisher aufgetragener Ziele betrifft, davon ab, wieweit sich die Gemeinschaft den in überstaatliche Ausdehnung gewandelten Aufgaben gewachsen zeigt. Insoweit kann er heutzutage nicht mehr als ein unabhängiges, selbst verfaßtes Ganzes fortleben, sondern nur als Teil einer überwölbenden, einer gemeinsamen Verfassung gehorchenden Gesamtheit.

I. Grundfragen der europäischen Integration 1. Gemeinsame Ausübung staatlicher Hoheitsrechte Seit dem letzten Kriege sind bedeutungsvolle Schritte getan worden in Richtung auf 4 eine Integration der zentraleuropäischen Staaten. Die angestrebte Form dieser Integration bleibt immer noch im Unklaren. Die einen denken an eine bundesstaatliche Union, auf die man sich hinbewegen müsse, die anderen an ein Europa der Vaterländer, welche, jedes für sich, weiterhin die hauptsächlichen staatlichen Verantwortlichkeiten auf sich nähmen. 3 2

3

W. v. SIMSON Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, Berlin 1965, S. 1 8 6 ff; DERS. Was heißt in einer europäischen Verfassung „Das Volk"?, in: EuR 1991, S. 1, (15 ff.). Vgl. die Darstellung der unterschiedlichen Gemeinschaftskonzeptionen in: B. BEUTLER/R. BIEBER/J. PIPKORN/J. STREIL D i e E u r o p ä i s c h e G e m e i n s c h a f t — R e c h t s o r d n u n g u n d P o l i t i k , 1 9 8 7 ,

S. 63 ff; A . BLECKMANN Europarecht, 5. Aufl., 1990, Rdn. 4 9 6 ff, insb. Rdn. 497; W. v. SIMSON Wachstumsprobleme einer europäischen Verfassung, in: Festschrift für H. Kutscher, 1 9 8 1 , S. 481 f; DERS. Voraussetzungen einer europäischen Verfassung, in: J. Schwarze/R. Bieber (Hrsg.) Eine Verfassung für Europa, 1984, S. 91 ff; zu den Integrationstheorien vgl. außerdem R. HRBEK Die EG ein Konkordanz-System? Anmerkungen zu einem Deutungsversuch der politikwissenschaftlichen Europaforschung, in: R. Bieber/A. Bleckmann/F. Capotorti u. a. (Hrsg.) Das Europa der zweiten Generation, Gedächtnisschrift für Christoph Sasse, 1 9 8 1 , Bd. 1, S. 87.

56

5

1. Kapitel. Grundlagen

Die bisher zustande gekommenen rechtlichen Gebilde folgen einstweilen eher dem letzteren Konzept. Dennoch greifen diese Vertragswerke deutlich ein in die Selbstgenügsamkeit der verfassungsmäßigen Ordnung der beteiligten Staaten. Denn diese haben bestimmte Bezirke ihres politischen Handelns zu gemeinsamem, einheitlich programmiertem Handeln, und bestimmte Bereiche ihrer verfassungsmäßigen Selbstbeschränkung zu gemeinsamer Beschränkung zusammengefügt. Es zeigt sich dabei, daß die Verfassungszustände des einzelnen Staates nicht nur dessen eigene Wertbegriffe widerspiegeln, sondern zugleich ein gemeinsames europäisches Selbstverständnis.4 Dessen Bewahrung wird, in Form verschiedenartiger Verträge, zum gegenseitigen Anspruch.

6

Der Staat, der an dieser Gemeinsamkeit teilnimmt, gewinnt neue, ihm bisher nicht zustehende Rechte. Auch der einzelne Bürger ist daran beteiligt. Zugleich unterwirft sich der Staat neuen, mit diesen Rechten unlösbar verbundenen Pflichten. Der Erwerb dieser Rechte und die Bindung an diese Pflichten beruht auf völkerrechtlichen Verträgen sowie auf daraus hervorgegangenen Eigengesetzlichkeiten des werdenden Geschehens, auf das diese Verträge angelegt sind. 7 Das Ganze erscheint beherrscht von einer Sachlage, die in den Beziehungen der Staaten zueinander und zu den sie überwölbenden Organisationsformen zunehmend an Bedeutung gewinnt. Sie besteht darin, daß es in wesentlichen Dingen nicht mehr, wie früher stets, auf die Bildung eines übereinstimmenden und möglichst bestandsicheren Willens ankommt, sondern auf die keinen vernünftigen Zweifel zulassende Einsicht in bestimmte unausweichliche Tatsachen und Geschehensabläufe. Das Zustandekommen und Fortbestehen bestimmter, heute unentbehrlicher Einheitsformen ist in doppelter Hinsicht erst auf diese Weise wahrscheinlich oder überhaupt möglich geworden. Es bedarf dabei keiner politischen, gleichzeitig erreichten Entscheidung, sondern nur des Erkennens tatsächlich gegebener Umstände. Und es entsteht die für ein gegenseitiges Einvernehmen wichtige Gewißheit, daß keine Sinnesänderung der Beteiligten die Einheit, auf die man sich verläßt, wieder in Gefahr bringt. Denn es kommt nicht an auf wandelbare Ansichten, sondern nur auf Einsichten in ein Tatsachenbild, das geschichtliche Permanenz aufweist. Dies ist es, was in der praktischen Politik unserer Tage den Gegensatz einander widersprechender Herrschafts-

4

P. H A B E R L E Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, E u G R Z 1991, S. 261, 262 ff; zu den Auswirkungen dieses Prozesses vor allem auf die Staatslehre vgl. A. H O L L E R B A C H Globale Perspektiven der Rechts- und Staatsentwicklung, in: Freiburger Universitätsblätter Heft 111, März 1991, S. 33 ff; siehe ferner H.-J. G L A E S N E R Einflüsse der Mitgliedsstaaten auf die Entwicklung, insbesondere auf den Entwicklungsprozeß der Gemeinschaft, in: J. Schwarze/R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984, S. 167 ff; H. v. DER G R O E B E N Entwicklungsalternativen der Europäischen Gemeinschaft: Großer Sprung oder Rückentwicklung ?, in: Schwarze/Bieber (Hrsg.) (Fn. 3) S. 191 ff; M. H I L F Wege und Veranwortlichkeiten Europäischer Verfassungsgebung, in: Schwarze/Bieber (Hrsg.), (Fn. 3) S. 253 ff; J. A. F R O W E I N Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozeß, in: EuR 1983, S. 301, 316; zu den „Verfassungszuständen der EG-Mitgliedstaaten" vgl. G. N I C O L A Y S E N Europarecht I, 1991, S. 31 f; vgl. im deutschen Recht zu Auftrag und Ziel des Art. 24 G G etwa K. S T E R N Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. Aufl., 1984, S. 516 ff.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

57

systeme soweit seiner politischen Relevanz beraubt hat, daß früher ungeahnte überwölbende Gemeinsamkeiten, deren Herstellung allseits als unmittelbar lebensnotwendig in Erscheinung trat, zustande kommen konnten. 5 Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft kann von dieser Einsicht in zwin- 8 gende Notwendigkeiten als von einem Zustand ausgegangen werden, von dem es kein Zurück gibt. Zu dem Zwang, der von der unausweichlichen Aufgabenstellung der die Ge- 9 meinschaft bildenden Staaten ausgeht, tritt ein Weiteres hinzu. Die Gemeinschaft, ob sie will oder nicht, wird von außen her als eine Einheit gesehen, mit der man rechnet und die man zur Mitwirkung in der Weltpolitik aufruft. Das wurde sichtbar in der sogenannten Golfkrise. Als Mit- oder Gegenspieler der großen Mächte wurden nicht die einzelnen Staaten betrachtet, sondern die Gemeinschaft, von der man einhellige Entschlüsse und Stellungnahmen erwartete. 6 Es wurde zur Prestigefrage der Gemeinschaft, sich dem nicht zu verweigern. Sie konnte sich nicht für unzuständig erklären, ohne verschiedenen Reaktionen einzelner Mitgliedstaaten Raum zu geben und damit den Prozeß der Vereinheitlichung zu stören. Auf diese Weise wächst der Gemeinschaft eine Kompetenz zu, nicht aus einer Ermächtigung durch die Mitgliedstaaten, sondern aus einer politischen Sachlage, welche sie zwingt, diese Kompetenz in Anspruch zu nehmen. Wo der einzelne Staat in bestimmten Fragen nicht länger als der maßgebliche Gesprächspartner und als die zur sachlichen Entscheidung fähige Instanz angesehen wird, da entstünde ein Handlungsdefizit, wenn nicht die Gemeinschaft diese Rolle an sich zöge. So zeigt sich etwa, daß die Asylpolitik zur Gemeinsamkeit zwingt. Es kann 1 0 nicht jeder Mitgliedstaat das Tor zu einem Territorium öffnen, innerhalb dessen Freizügigkeit der Aufenthaltsberechtigten gewährt ist. Dem Problem der Völkerwanderung, welche auf Europa zukommt, kann nur die Gemeinschaft als Ganze gewachsen sein. Die Maastrichter Beschlüsse haben hier noch keine eigentliche Gemeinschaftszuständigkeit begründet, sondern nur eine gewisse intergouvernementale Verständigung herbeigeführt. Angesichts der europaweiten Dimension des Problems vermag hier nur eine gemeinschaftsrechtliche Lösung wirkliche Abhilfe zu schaffen. Es wird sich dabei fragen, ob die anderen Mitgliedstaaten sich der Regelung des Art. 16 Abs. 2 GG anschließen werden, oder ob in dieser Hinsicht die Bundesrepublik eine Einschränkung ihrer Verfassungsgarantie hinnehmen muß 7 .

5

6

7

Dazu näher W. v. SIMSON D e r politische Wille als Gegenstand der Europäischen Gemeinschaftsverträge, in: Festschrift f ü r O. Riese, 1964, S. 83, 87 ff. Vgl. Bericht der Bundesregierung über die Tagung der W E U und die Sitzung der E P Z zur Lage am G o l f , abgegeben v o m Bundesminister des Auswärtigen, H.-D. GENSCHER v o r dem Deutschen Bundestag am 23. A u g u s t 1990, in: E u r o p a - A r c h i v 1 9 9 1 , D 49 ff; zur Stellung der Gemeinschaft in den internationalen Beziehungen und im Völkerrecht siehe u. a. J. A . FROWEIN The competences of the EC in the field of external relations, in: J. Schwarze (Hrsg.) The External relations of the European Community, in particular E C - U S Relations, Baden-Baden 1989, S. 29; sowie J. SCHWARZE La position juridique de la Communauté Européenne dans les relations internationales, Diritto Comunitario e degli Scambi Internazionali, 1 9 9 1 , S. 5 ff. Vgl. Regierungserklärung v o n Bundeskanzler H. KOHL am 1 3 . 1 2 . 1 9 9 1 zu den Beschlüssen v o n

58

1. Kapitel. Grundlagen

11

Von dieser Sachlage ausgehend, ist nun das wichtigste Problem, wie der heranwachsende Gesamtorganismus lebenstüchtig werden und bleiben kann. Er bedarf dazu gewisser verfassungsbildender und verfassungstragender Elemente, die sich nicht, wie vielfach angenommen wird, von selbst verstehen, sondern die nur zu finden sind in einem sorgfältig bedachten und sachkundig ausgewogenen Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen, den Mitgliedstaaten. Diese müssen ihre Staatlichkeit solange und in demjenigen Ausmaß bewahren, wie die Gemeinschaft die haltgebenden Kräfte, die in den Mitgliedstaaten wirksam und die für das Ganze unentbehrlich sind, nicht selbst, und nicht dieses Ganze tragend, hervorbringen kann. Die Staaten brauchen die Gemeinschaft, sonst wäre es nie zu ihr gekommen. Aber die Gemeinschaft braucht, auf jetzt absehbare Zeit noch, nicht weniger die Staaten, sonst kann auch sie nicht leben und dauern. 12 Ist dies als Handlungsrahmen der Gemeinschaft erkannt, so folgt daraus, daß deren Entwicklung nicht darin bestehen kann, die Mitgliedstaaten mehr und mehr aufzusaugen, so daß am Ende nur ein Gesamtstaat das Feld beherrscht. Wir müssen uns klarmachen, daß ein solches Gebilde von sich aus nicht die zusammenhaltende Kraft aufbringen könnte, die es in den Stand setzte, den immer neu hervortretenden Eigenbestrebungen regionaler, eng verbundener, einen eigenen Lebenssinn verfolgender Gruppierungen zu widerstehen.8 Wo immer Freiheit herrscht, regen sich solche Sehnsüchte. Wir sehen es an den neu erwachenden Nationalitätsansprüchen in den Ländern, welche diese Kräfte nur in diktatorischer Unterdrückung hatten meistern können. Es zeigt sich, daß soviel wie möglich von den enger zusammenhängenden, deutlicher bestimmten Eigenheiten innerhalb der Gemeinschaft bewahrt bleiben muß, wenn diese den nötigen Zusammenhalt gewinnen soll. 13

Von gleicher Bedeutung ist es, daß nur auf diese Weise das Ganze im Sinne unseres bisherigen Verständnisses verfaßt, d. h. verfassungsrechtlichen Ansprüchen unterworfen werden kann. Gelänge dies nicht, so müßten wir das Entstehen des Gesamtstaates erkaufen mit dem Verlust der in Jahrhunderten errungenen freiheitlichen Beziehung der öffentlichen Gewalt zu dem Selbstbestimmungsrecht des einzelnen, ja zu dem, was das BVerfG im Begriff der Menschenwürde aufgehoben sieht.9 14 Auf der anderen Seite haben wir erkannt, daß das im Einzelstaat herangewachsene Verfassungsverständnis sich in den nunmehr gebotenen ausgreifenden Größen-

8

Maastricht, zitiert in: Das Parlament, Ausgabe Nr. 5 2 - 5 3 vom 20./27.12.1991, S. 3; vgl. P. G I L S D O R F Die Kompetenz der Gemeinschaft zur Angleichung asylrechtlicher Bestimmungen, in: EuR 1990, S . 65 ff; M. W O L L E N S C H L Ä G E R / U . B E C K E R Harmonisierung des Asylrechts in der EG und Art. 16 II S. 2 G G , in: EuGRZ 1990, S. 1 ff. W. V. SIMSON Kritik der politischen Vernunft, 1983, S. 40 ff; DERS. Die Verteidigung des Friedens, 1 9 7 5 , S. 27, 3 0 ff; DERS. V o l k (Fn. 2) E u R 1 9 9 1 , S. 1, 1 2 f.

9

Aus dem Schrifttum zum Begriff der Menschenwürde siehe K. HESSE Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl. 1991, Rdn. 116; vgl. BVerfGE 6, 32 (36); 10, 59(81); 12, 45(53); 21, 1(6); 30, L(25ff, 39 f); 45, 187(227); P. H A B E R L E Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HdBStR Bd. 1 1987, § 20 Rdn. 5 ff, 58 ff; W . G R A F V I T Z T H U M Die Menschenwürde als Verfassungsbegriff, in: J Z 1985, S . 201 ff.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

59

Verhältnissen nicht in seiner gewohnten Form bewahren läßt, eben deshalb nicht, weil es die unterscheidenden Eigenheiten voraussetzt, die in der Gemeinschaft aufgehen sollen. In dem hier erörterten Problemfeld erscheint es daher als eine der Gemeinschaft und den Einzelstaaten gemeinsame Aufgabe, eine tragbare Formel für das gegenseitige Verhältnis zu gewinnen. Es handelt sich dabei nicht um die Überbrückung einer gegensätzlichen Interessenlage. Was die Gemeinschaft verlangt, ist zugleich das Interesse des Mitgliedstaates, der sie braucht. Was der Staat für die Erhaltung seiner wesentlichen Gestalt benötigt, ist zugleich das Interesse der Gemeinschaft, die ohne die Kraft nicht auskommt, welche ihr der in sich jeweils verschiedene innere Gehalt des Mitgliedstaates einbringt. Es stellt sich daher die beide Einheiten gemeinsam betreffende Frage: Was muß 15 die Gemeinschaft an staatlichen Eigenheiten in ununterschiedener Einheit in sich aufnehmen, um ihren Aufgaben gerecht zu werden; was kann sie darüber hinaus vereinheitlichen, ohne die Substanz ihrer Mitgliedstaaten anzugreifen; was endlich muß sie bei den Staaten in unterschiedener Vielfältigkeit bestehen lassen, wenn sie sich tief genug gründen will, um in den Anfechtungen der Zukunft und in der streitmeidenden Duldsamkeit bestehen zu können, auf die ein derartiges Gebilde angewiesen ist? 2. Konfliktmöglichkeiten mit verbliebener staatlicher Hoheitsmacht Welchen Einfluß diese Aufteilung der rechtsbestimmenden Zuständigkeit auf die 1 6 verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik hat, ist vielfach erörtert worden. 10 Im Vordergrund stand dabei zunächst die Frage der Grundrechtsgarantien, auf die später noch einzugehen ist. 11 Als allgemeines Phänomen wurde sodann bald erkennbar, daß das Verhältnis 1 7 der europäischen, von außen her in die Bundesrepublik einwirkenden öffentlichen Gewalt zu den Anforderungen des Grundgesetzes sich mit fortschreitender Integration wandelt. Es ändert sich infolge der wachsenden Ausdehnung der gemeinschaftsrechtlichen, in der Bundesrepublik maßgebenden Befugnisse, von denen es sich fragt, wieweit ihnen durch das Grundgesetz Grenzen, wenn nicht auferlegt, so doch nahegelegt werden, und wieweit sie Änderungen des deutschen Verfassungsverständnisses voraussetzen. 12

10

B V e r f G E 37, 271 ff („Solange I"); dazu und zur späteren Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG vgl. nur HESSE Verfassungsrecht (Fn. 9) Rdn. 105 ff; TH. OPPERMANN Europarecht,

11

Zur Bedeutung der Grundrechte vgl. z. B. G. NICOLAYSEN Europarecht (Fn. 4) S. 53 f; de lege ferenda M. HILF Ein Grundrechtskatalog für die Europäische Gemeinschaft, EuR 1 9 9 1 , S. 19 ff, w o Hilf bejaht, daß „ein Grundrechtskatalog der Europäischen Union die Mitgliedsstaaten insoweit binden würde, als sie das Recht der Union vollziehen". Die Fragen der gegenseitigen Zuordnung von deutschem Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht sind insbesondere von der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer schon früh aufgegriffen und in kontinuierlichen Abständen immer wieder behandelt worden. Siehe zuerst G. ERLER/W. THIEME Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften, in: V V D S t R L Bd. 18 (1960); später P. BADURA/J. H. KAISER Bewahrung

1 9 9 1 , S . 1 9 4 f f , S. 7 0 9 f f ; v g l . f e r n e r S T E R N B d . 1 ( F n . 4 ) S . 5 4 0 f f .

12

1. Kapitel. Grundlagen

60

Wer sich mit dieser Frage beschäftigt, muß folgende Gesichtspunkte in Betracht ziehen: 18

Einmal, welches überhaupt der Bewegungsspielraum ist innerhalb des Verhältnisses nationaler Verfassungsansprüche zu den überstaatlichen Zwangsläufigkeiten unserer Gegenwart (a); zweitens, wie es um den jetzigen Zustand dieses Verhältnisses bestellt ist (b); drittens, welche veränderte Interpretation bestimmter Normen des GG in dieser Situation geboten ist (c); viertens, auf welche Geltungskraft bestimmter Grundsätze jedes der beiden konkurrierenden Systeme, also die Bundesrepublik und die Gemeinschaft, für sich zwingend angewiesen ist, so daß deren Anerkennung als der jeweils unverzichtbare Mindestanspruch angesehen werden muß. 13 a) Überstaatliche

Zwangsläufigkeiten

und nationale

Verfassungsansprüche

19 Das Verhältnis der nationalen Verfassungsansprüche zu den Handlungsbefugnissen der Gemeinschaft ist nicht frei beweglich. Denn die Gemeinschaft ist keine feststehende Institution, sondern ein „eingerichteter Prozeß" in dem Sinne, in welchem Kant die Verfassung eines Gemeinwesens definiert. Sie ist angelegt auf eine fortschreitende Entwicklung 14 zu einem zunächst undeutlich beschriebenen Ziel, welches mit jedem Schritt an Deutlichkeit gewinnt. Dieser Zielsetzung haben sich die Mitgliedstaaten unterworfen. Sie ist zu einem gegenseitigen Rechtsanspruch geworden. Die Folge ist, daß jeder einzelne Schritt, vor allem auch jeder Zuwachs an Gemeinschaftskompetenz, weitere Schritte mehr oder weniger zwangsläufig macht. Der einzelne Mitgliedstaat kann sich ihnen nicht verweigern, ohne den ganzen Prozeß in Frage zu stellen. Trifft ein solcher Schritt auf verfassungsrechtliche Bedenken und hält ihn die Gemeinschaft dennoch für unentbehrlich, so kann der betreffende Staat, sofern der Gemeinschaftsbeschluß nicht Einstimmigkeit verlangt, nur wählen, ob er seine Bedenken zurückstellt oder ob er die Gemeinschaft verlassen will. 15 Und mit jedem Fortschritt, den die Gemeinschaft erreicht, wird es schwerer, ja schließlich ganz unmöglich, sich von der Mitgliedschaft zurückzuziehen. Sie wird mehr und mehr zur Lebensgrundlage der Mitgliedstaaten, und diese müssen ihr eigenes Verfassungsverständnis dieser Situation anpassen. Es zeigt sich immer deutlicher, daß der Mitgliedstaat der Gemeinschaft nicht bleiben kann, wer er ist. und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, in: V V D S t R L Bd. 23 (1966); CH. TOMUSCHAT/R. SCHMIDT Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, in: V V D S t R L Bd. 36 (1978); zuletzt H. STEINBERGER/E. KLEIN/D. THÜRER Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, in: V V D S t R L Bd. 50 (1991). 13

14

15

Vgl. zur näheren Bestimmung dieser äußersten Grenzmarkierungen für den Prozeß der europäischen Verfassungsentwicklung unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland Kap. IV. Vgl. auch H. P. IPSEN in: Europäische Verfassung — Nationale Verfassung, EuR 1987, S. 195, 201, w o dieser von einer „Wandelverfassung" und einer „auf Wandel angelegten Gemeinschaftsordnung" spricht. Zur Beschreibung der Gemeinschaft als einer sich „entwickelnden Verfassung" siehe ferner J. SCHWARZE Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft — Begriff und Grundlagen — in: Schwarze/Bieber (Hrsg.) Verfassung für Europa (Fn. 4) S. 15 ff m.w.N. Näher v. SIMSON Politischer Wille (Fn. 5) S. 83, 96 ff.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

61

Der gegenwärtige Zustand der verschiedenen Verfassungslagen läßt sich viel- 20 leicht am besten verstehen in einer Betrachtung einzelner Probleme, wie sie unten vorgenommen ist. Daraus wird ersichtlich, daß der Gemeinschaft in fortschreitender Entwicklung neue Verfassungselemente zuwachsen, welche damit der einzelstaatlichen Ausprägung verloren gehen. Die Gemeinschaft braucht sie, obgleich sie kein Staat ist.16 Der Mitgliedstaat kann nicht mehr selbst über diese Bestandteile des in ihm verfaßten Lebens verfügen. Er steht vor der Frage, wieweit er ohne sie auskommen und seine Eigenart bewahren kann. Ein wahres Verständnis dessen, worum es sich bei einem Staatswesen letztlich 21 handelt, belehrt uns darüber, daß ein Grundelement der Staatlichkeit, wie es sogleich beschrieben werden soll, prinzipiell nur in regionaler Vereinzelung entstehen und bewahrt werden kann. Es entzieht sich daher der Ausdehnung auf Bereiche, in denen seine Voraussetzungen sich nicht vorfinden. Die Rede ist von den unausgesprochenen, allgemein akzeptierten Selbstverständlichkeiten, die auf keiner bewußten Entscheidung beruhen, sondern darauf, was Hegel „das unmittelbare Bewußtsein" nennt, „das Grundgefühl der Ordnung, das alle haben". Der Zusammenhalt des Staates umfaßt nicht nur das gemeinsam Ausgedachte, bewußt Entschiedene, wie wir es in einer Verfassung vorfinden, sondern einen Bestand an unerklärten, treuherzigen Gewißheiten, hervorgegangen aus der gemeinsamen Geschichte, der Sprache und der inneren Erfahrung.17 Der Kreis, dem man sich zugehörig fühlt, verfügt über Erinnerungen an vollbrachte Heldentaten, an erlittenes Unrecht, an große Gestalten, deren Ruhm man für sich in Anspruch nimmt, ja neuerdings auch an Verbrechen, die man hat geschehen lassen und deren man sich schämt. Man kann dies durchaus als einen Staatsmythos ansehen.18 In diesem Klima, das ist hier das Wesentliche, können, um des Zusammenlebens willen, zahllose, sonst strittige Fragen in unentschiedener Schwebe gehalten bleiben und damit dem Staat das verschaffen, was sich als seine gefühlsmäßige Substanz bezeichnen läßt. Gefühlsmäßig heißt dabei nicht vernunftwidrig. Es heißt nur, daß es in diesem gegebenen Zusammenhang ein Persönlichkeitsbewußtsein, eine Fraglosigkeit gibt, welche, was das staatliche Einheitsgefühl angeht, auf jede weitere Diskussion verzichtet. Ohne solche Elemente gibt es keinen Staat, gibt es auch nichts, was als Union im eigentlichen Sinn auftreten könnte.19 Das stellt uns, was das Verhältnis der jetzt unaufhaltsam benötigten europäischen Institutionen zu deren Mitgliedstaaten angeht, vor die Frage, wieviel ' 6 Hierüber besteht Übereinstimung; siehe statt vieler NICOLAYSEN Europarecht (Fn. 4) S. 101; weiterhin HESSE Verfassungsrecht (Fn. 9), Rdn. 113; R. BERNHARDT in: Dreißig Jahre Gemeinschaftsrecht, Luxemburg 1983, S. 77 Rdn. 2. 17 Heinrich Heine formuliert diese Erfahrung an einem Beispiel meisterhaft wie folgt: „Italien sitzt elegisch träumend auf seinen Ruinen, und wenn es dann manchmal bei der Melodie irgendeines Liedes plötzlich erwacht und stürmisch emporspringt, so gilt diese Begeisterung nicht dem Liede selbst, sondern vielmehr den alten Erinnerungen und Gefühlen, die das Lied ebenfalls geweckt hat, die Italien immer im Herzen trug, und die jetzt gewaltig hervorbrausen"; zitiert nach: FRITZ J. RADDATZ Bilder einer Reise/Heinrich Heine in Italien, 1989, S. 72. Der Mythos muß aber nicht ausdrücklich ein Staatsmythos sein; vgl. v. SIMSON Volk (Fn. 2) S. 1 , 3 ff. " v. SIMSON Volk (Fn. 2) S. 1, 6 f.

18

62

1. Kapitel. Grundlagen

an unterschiedlicher Einzelstaatlichkeit die Gesamtorganisation bestehen lassen muß, um in ihr das zu finden, was sie nicht entbehren, selbst aber nicht verfügbar machen kann. Die Europäische Gemeinschaft in allen bisher in Betracht gezogenen Formen erscheint als ein durchaus rationales Gebilde, außerstande einstweilen, an ein gefühlsmäßiges, streitausscheidendes Einverständnis zu appellieren, wie es in den Einzelstaaten herangewachsen ist und dem Ganzen einen zeitübergreifenden Halt gibt. 22 Überhaupt besteht, wenn dies auch gelegentlich verkannt wird, ein deutlicher Zusammenhang zwischen einer möglichen Ausdehnung der Gemeinschaft auf weitere Mitgliedstaaten und dem Grad, in dem die Vereinheitlichung mit dem Ziel eines gemeinsamen Staatsbewußtseins erreicht werden könnte. Die bisher erfaßten Staaten haben sowohl in ihrer Geschichte als auch in ihrer geistigen Besonderheit soviel gemeinsam, daß kein einzelner Staat sein Wesen grundlegend ändern müßte, um die ins Auge gefaßte Einheitlichkeit zu ermöglichen. Bei den meisten sonst in Betracht gezogenen Staaten läßt sich das nicht sagen. Sie mögen vor Aufgaben stehen, die nur in der Gemeinsamkeit mit der bisherigen Europäischen Gemeinschaft zu lösen sind. Sie mögen sich in vielem mit dieser Gemeinschaft verbunden fühlen. Die erforderliche Wesensgleichheit, auf welche nicht erst eine gemeinsame Staatlichkeit, sondern bereits die heutige Europäische Gemeinschaft angewiesen ist, läßt sich aber durch Verträge nicht ohne weiteres herstellen. Sie muß geschichtlich heranwachsen, 20 und das geht nicht von einem Tag auf den anderen, wenngleich Verträge hierfür wichtige Anstöße und Grundlagen bieten können. Die weitere Ausdehnung der Gemeinschaft, sieht man von zwei oder drei nah verwandten Staaten ab, verlangt daher eine Wahl. Je größer und vielfältig unterschiedener die Gemeinschaft würde, um so lockerer und undeutlicher könnte ihre innere Übereinstimmung nur sein. Was die künftigen Optionen für die Fortentwicklung der Gemeinschaft anbelangt, so besteht hier also durchaus ein Gegensatz zwischen Vertiefung und Erweiterung. 21 Das Ziel einer endgültigen Politischen Union muß um so ferner rücken, je weiter der Kreis gezogen wird, auf den eine solche Union sich erstrecken soll. Die Bewahrung der in den einzelnen Mitgliedstaaten vorhandenen Verfassungstraditionen und ihre eventuelle Einfügung in eine Gesamtstaatlichkeit setzt eine schon bestehende Gleichartigkeit voraus, von der bezweifelt werden muß, ob sie eine in dieser Hinsicht wahllose Erweiterung des betroffenen Gebietes verträgt. 22

20

21

22

Vgl. in diesem Sinne W. v. HUMBOLDT zum Wesen der Verfassung: „Jede Verfassung, auch als ein bloß theoretisches Gewebe betrachtet, muß einen materiellen Keim ihrer Lebenskraft in der Zeit, den Umständen, dem Nationalcharakter vorfinden, der nur der Entwicklung bedarf. Sie rein nach den Prinzipien der Vernunft und Erfahrung gründen zu wollen, ist in hohem Maße mißlich" (Denkschrift über die deutsche Verfassung, Dezember 1813, abgedruckt in: W. v. HUMBOLDT Eine Auswahl aus seinen politischen Schriften, S. Kahler (Hrsg.), 1922, S. 91). Anders Bundespräsident R. v. WEIZSÄCKER in seiner Rede zur Eröffnung des akademischen Jahres des Europa-Kollegs Brügge, in: Bulletin der Bundesregierung v o m 24.9.1990, Nr. 114, S. 1 1 9 3 , 1195; vgl. zu dieser Problematik auch G. NICOLAYSEN Europarecht (Fn. 4), S. 78. In diesem Sinne ist erhebliche Skepsis gegenüber allen Plänen angebracht, die im Interesse der an sich wünschenswerten Einheit Gesamt-Europas eine vorschnelle Aufnahme aller Staaten Osteuropas in die Europäische Gemeinschaft vorsehen. Im übrigen müßte hier in jedem Fall

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

63

Dieser Ansicht wird manchmal entgegengehalten, daß ja in den Vereinigten 23 Staaten von Nordamerika Ähnliches gelungen sei.23 Dabei sind aber zwei wesentliche Unterschiede nicht zu verkennen. Einmal verfügten die betroffenen Einzelstaaten dort nicht über derart fest verwurzelte Eigentümlichkeiten, wie sie in einem weiteren Kreise europäischer Staaten vorhanden sind und dort das Gefühl gemeinsamer politischer Ordnung begründen. Und zweitens hat die heute bestehende Vereinigung in Nordamerika eine lange, von blutigen Kämpfen begleitete Zeit gedauert, eine Zeit, der das heute unentbehrlich gewordene Europa nicht gewachsen sein würde und nicht gewachsen sein will. Von der Vereinigung dieses Europas gilt wohl eher das französische Sprichwort: „Qui trop embrasse mal étreint", wer zuviel umfassen will, hält es nicht fest.24 b) Wandlungen der Verfassungsinterpretation

im europäischen

Einigungspro^eß

An den verschiedensten Beispielen läßt sich erkennen, daß die Übertragung bestimm- 24 ter, bisher den Einzelstaaten in souveräner Ausübung zustehender Rechte auf die Gemeinschaft eine veränderte Interpretation auch der bei den Einzelstaaten verbleibenden Verfassungsgrundsätze mit sich bringen muß. Dies gilt schon für den Satz des Art. 20 Abs. 2 GG: „Alle Staatsgewalt geht 25 vom Volke aus". Was die von der Gemeinschaft mit Wirkung in der Bundesrepublik ausgeübte öffentliche Gewalt betrifft, so könnte sie nur insoweit als vom deutschen Volke25 ausgehend angesehen werden, als dessen gewählte Vertreter die Gemeinschaft mit errichtet und mit den entsprechenden Kompetenzen ausgestattet haben. Dem eigentlichen Sinn des Art. 20 Abs. 2 GG würde diese Auffassung nicht gerecht. Denn dessen Aussage bezieht sich auf das deutsche Volk des Grundgesetzes als legitimierenden Ursprung des fortschreitenden hoheitlichen Handelns. Diese Rolle kommt ihm bei der Tätigkeit der Gemeinschaft nicht zu. Es fragt sich daher, von welchem „Volk" der Gemeinschaft deren Staatsgewalt ausgeht beziehungsweise kontrollierbar ist und wie weit damit den Anforderungen des Art. 20 Abs. 2 GG entsprochen wird. Es genügt hier festzustellen, daß diese Vorschrift des Grundgesetzes im Hinblick auf die Gemeinschaft einer neuen Interpretation bedarf.26 Nicht nur das deutsche, bei dem Inkrafttreten des Grundgesetzes allein in Betracht kommende Volk muß in dieser veränderten Auslegung gemeint sein, sondern das, was

23

überlegt werden, ob sich eine Verstärkung der Gemeinschaft nicht dadurch herbeiführen läßt, daß entwicklungsmäßig und strukturell wesensverwandte Staaten, die eine Mitgliedschaft anstreben, zunächst aufgenommen werden. Zu der auf der Basis von Art. 2 3 8 E W G V jetzt vorgenommenen Assoziierung Ungarns, Polens und der CSFR, in: Bulletin der E G , Kommission der E G (Hrsg.), Nr. 2/1991, S. 97 f. Zu einem Vergleich zwischen E G und U S A siehe das großangelegte Forschungsprojekt v o n M. CAPPELLETTI/J. WEILER/ M . SECCOMBE (HRSG.) I n t e g r a t i o n T h r o u g h L a w , F o r s c h u n g s b ä n d e seit

24

25

26

1986. Zur Gefahr des Verlustes an Integrationstiefe durch eine zu weitausgedehnte Gemeinschaftskompetenz siehe insb. J. H. KAISER Grenzen der EG-Zuständigkeit, in: EuR 1980, S. 97, 1 1 8 . Zur Interpretation des Begriffs „Staatsvolk" in diesem Sinne siehe BVerfG, Urteile v o m 31. Oktober 1990 - 2 BvF 2, 6/89 und 2 BvF 3/89 - B V e r f G E 83, 37 ff und 60 ff. Näher v. SIMSON Volk (Fn. 2), S. 1 - 8 .

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1. Kapitel. Grundlagen

die Gemeinschaft in dieser Hinsicht als ihr Handeln legitimierend in Anspruch nehmen kann. 26

Hierzu ist etwas zu bemerken, was in der politischen Diskussion teils bewußt, teils aber auch aus Verständnislosigkeit ganz in den Hintergrund getreten ist. In einer freien Gesellschaft, die nicht einem starren Dogma gehorcht, sondern die sich in dauernder Weiterentwicklung befindet, ist „das Volk", auf das es in Verfassungsfragen ankommt, etwas anderes als das zu einer bestimmten Zeit gerade vorhandene Volk. 27 Das Volk ist hier die Gesamtheit der heute und der in der Zukunft betroffenen Menschen. Die Staatsgewalt als solche geht dann insofern vom Volke aus, als eine zeitgenössische Meinung ihr Gestalt und Grenzen gibt, und als die folgende Zeit diesen Vorschlag aufnimmt und billigt. In welchem weitergehenden Sinne soll denn eine Generation in Anspruch nehmen, den folgenden Maß und Ziel zu setzen? Der wahre Gebieter ist heute ein wechselnder, der Entwicklung folgender Wille und, in zunehmendem Maße, die Zwangsläufigkeit einmal eingetretener Zustände.

27

Wandlungen zeichnen sich auch ab bei einem weiteren wichtigen Element des Verfassungsstaates, so wie er uns geläufig ist: der Gewaltenteilung. Sie ist bereits in dem gegenwärtigen Zustand der Bundesrepublik in manchem suspekt geworden.

28

Denn es läßt sich in modernen großräumigen Regierungsverhältnissen die Trennung von Gesetzgebung und Verwaltung jedenfalls in ihrer klassischen Form nicht mehr aufrechterhalten. Das Programm der Regierung kann im wesentlichen nur durch Gesetze ausgeführt werden. Diese setzen das Einbeziehen zukünftiger, zunächst noch nicht bekannter Umstände voraus und verlangen daher Ermächtigungen an Verwaltungsbehörden, die nur in Gesetzen rechtswirksam umschrieben werden können. Das bedeutet Regierung durch Gesetzgebung. Dem entspricht es, daß die gesetzgebenden Organe in Wahrheit ausführende Werkzeuge der Regierungspolitik sind und daß die Majorität in diesen Gremien, wenn sie die von ihr eingesetzte Regierung funktionsfähig halten will, regelmäßig keine andere Wahl hat, als ihr die notwendigen Gesetze zur Verfügung zu stellen. 28 Wie diese Gesetze beschaffen sein sollen, erfährt das Parlament durch das Initiativrecht der Regierung.

29

Sehr Ähnliches gilt selbstverständlich auch für die Tätigkeit der Gemeinschaftsorgane, denen eine immer umfangreichere Zuständigkeit für das Regierungshandeln in der Europäischen Gemeinschaft unaufhaltsam zuwächst. Die Gesetzgebung durch den Ministerrat besteht im wesentlichen darin, den Vorschlägen der Kommission, also der eigentlichen Regierung, rechtliche Bindung zu verschaffen. 29

30

Die Verwaltung bedient sich also der Gesetzgebung, die ihr gegenüber nicht selbständig, sondern die auf deren Initiative angewiesen ist und dieser nur durch

27

V. S I M S O N

28

Dazu nur HESSE Verfassungsrecht (Fn. 9), Rdn. 475—478. Zu den spezifischen Problemen der Gesetzgebung in der Gemeinschaft siehe näher die verschiedenen Beiträge in den Bänden J. SCHWARZE (Hrsg.) Gesetzgebung in der Gemeinschaft, 1985; DERS. (Hrsg.), Legislation for Europe 1992, 1989, S. l l f f .

29

ebd.

§ 4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

65

einstimmige Änderung 30 oder durch Ablehnung ihrer Vorschläge entgegentreten kann. Die Praxis der letzten Jahre zeigt allerdings, daß der Rat, und damit der direkte Einfluß der Mitgliedstaaten, in dem gemeinschaftlichen Entscheidungsverfahren stärker zur Geltung kommt, als der Vertragstext es vermuten lassen könnte. Die Gemeinschaft ist sich bewußt, daß ihre Maßnahmen auf die innere Zustimmung in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht verzichten können, und sie hat daher Verfahren entwickelt, durch die auf dem Wege zur Gesetzgebung diese Akzeptanz nach Möglichkeit gewonnen werden soll. 31 Bei alledem ist aber das Verhältnis von Gesetzgebung und Exekutive in der 31 Gemeinschaft derart verzahnt, daß von einer Gewaltentrennung in dem bisher üblichen Sinne nicht die Rede sein kann. Auch die demgegenüber diskutierte „neue Form demokratischer Gewaltenteilung", 32 welche die relevante Trennung in dem Gegensatz zwischen Regierung und Opposition sieht, ist auf der Ebene der Gemeinschaft nicht recht brauchbar. Wir müssen hier nach anderen Wegen suchen. Dabei kommt es darauf an, der Gesetzgebung, die in die Hände der Verwaltung 32 gefallen ist, ihrerseits eine Kontrollinstanz gegenüberzustellen. Was in den früheren Verhältnissen dem Parlament eine selbständige Stellung gegenüber der Exekutive einräumte, kann dort nicht länger in dem erforderlichen Maße zur Geltung kommen. An dieser Situation läßt sich weder im Einzelstaat noch in der Gemeinschaft etwas ändern. Was dort an Gegenpositionen im Verhältnis zur Exekutive bleibt, ist die Verfassung oder die verfassungsähnliche Stellung der Gemeinschaftsverträge. 33 Diese Einschränkung eines ungebundenen Verwaltungshandelns kann zwar allgemein einzuhaltende Grenzen setzen, genügt aber nicht, um dem laufenden Exekutivgeschehen diejenige Mitsprache des Wählerwillens entgegenzuhalten, um die es sich bei dem Prinzip der Gewaltenteilung handelt. Es fragt sich daher, welche Kontrollrechte dem Parlament zustehen müßten, um denjenigen Grad von Gewaltentrennung zu errei-

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33

Art. 149 Abs. 1 E W G V ; zur Bedeutung dieser institutionellen Regelung siehe etwa H. P. IPSEN Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, § 39 Rdn. 1 f; NICOLAYSEN Europarecht (Fn. 4), S. 8 4 f f , 161 ff. SCHWARZE (Hrsg.), Legislation f o r Europe 1 9 9 2 (Fn. 29), S. U f f ; OPPERMANN Europarecht (Fn. 10), S. 1 1 6 f , 2 1 0 f f ; NICOLAYSEN Europarecht (Fn. 4) S. 81, 8 4 f . Zu Problemen der Verwirklichung der Gemeinschaftsvorgaben auf nationaler Ebene siehe die 3 Bände des Forschungsprojekts „The 1 9 9 2 Challenge at national level", J. SCHWARZE U. a. (Hrsg.), Baden-Baden 1990/1991/1993; zur Gewaltenteilung in der E G siehe H . J . HAHN Funktionenteilung im Verfassungsrecht europäischer Organisationen, 1 9 7 7 , S. 4 2 ff. H. P. SCHNEIDER Das parlamentarische System, in: E. Benda/J. Vogel/W. Maihofer (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1. A u f l . 1983, S. 239(245). Zum Verständnis der EG-Verträge als Verfassung der Gemeinschaft siehe näher J. SCHWARZE Konzeption und Entwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechtes, in: Basler Juristische Mitteilungen 1992, S. 1, 5 f f ; DERS. Verfassungsentwicklung (Fn. 14), S. 15, 23 f f . Vgl. B V e r f G E 22, 2 9 3 (296), wonach der E W G - V e r t r a g „gewissermaßen die Verfassung der Gemeinschaft darstellt"; IPSEN Europäisches Gemeinschaftsrecht § 2 Rdn. 33 ff; J. SCHWARZE Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz als Ordnungspostulate der Europäischen Gemeinschaft, in: Rechtsstaat und Menschenwürde, Festschrift für W. Maihofer, A . Kaufmann/E.-J. Mestmäcker/H. F. Zacher (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1988, S. 529 ff, 531.

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1. Kapitel. Grundlagen

chen, der mit der Regierungsfähigkeit der heutigen politischen Großformen noch vereinbar sein kann. c) Wandlungen der Gewaltenteilung in der Europäischen

Gemeinschaft

33 In dem Prozeß europäischen Planens stehen sich dabei zwei jeweils unausweichliche Zielvorstellungen gegenüber. Einmal die Schaffung und Erhaltung eines zu einheitlichem Handeln und Auftreten fähigen, politisch organisierten Europas. Zu diesem gibt es auf die Dauer keine Alternative. Auf der anderen Seite besteht die Notwendigkeit, die damit verbundene gemeinsame Hoheitsgewalt den demokratischen Mitsprache- und Kontrollrechten zu unterwerfen, die zu einem europäischen Begriff politischer Existenz34 gehören. 34 Der bisherige Weg, die hier erforderliche Übereinstimmung zwischen funktionierender politischer Organisation und deren Abhängigkeit von dem Willen des „Volkes" zu erreichen, versagt vor der zerstreuten Vielfalt dessen, was hier als „Volk" in Betracht kommt, und vor der Unübersichtlichkeit dessen, was in europäischer Ausdehnung zu entscheiden und zu ordnen ist. Das unausgesprochene, gefühlsmäßige Einverständnis mit dem, was zu geschehen hat und mit denen, die das besorgen sollen, findet sich, wie erwähnt, in den Ausmaßen einer auf ganz Europa bezogenen Regierung und Verwaltung nicht vor. Das läßt eine allgemeine Legitimation der Hoheitsgewalt durch die gewohnte parlamentarische Einsetzung und Kontrolle als problematisch erscheinen. Besondere Varianten dieser Einflußnahme müssen deshalb gefunden werden, wenn ihr ein wirkliches Gewicht zukommen soll. Daß die Rolle der demokratischen Einbindung eines europäischen hoheitlichen Handelns dabei vom Europäischen Parlament ausgehen muß, ist kaum zweifelhaft. Denn es läßt sich keine andere Instanz denken, die gleichermaßen dazu legitimiert wäre. Dabei ist zu bedenken, daß eine detaillierte Mitwirkung des Parlaments bei der Gesetzgebung, wie sie als Teil der Verwaltung vor sich geht, die Gemeinschaft in ihrem täglichen Leben und in ihrem programmierten Fortschritt funktionsunfähig machen könnte.35 Schon jetzt ist die Gemeinschaft durch die verschiedensten Erfordernisse der Konsultation repräsentativer Körperschaften und sachverständiger Ausschüsse in erheblichem Maße behindert. Sollte sie sich für die Erfüllung ihres Bedarfs an fortlaufender Gesetzgebung auf das Parlament im einzelnen angewiesen sehen, so würde sich die Frage nach den Grenzen der Leistungsfähigkeit ihrer Entscheidungsverfahren stellen. Die bisherigen Schritte zur Verstärkung der parlamentarischen Kontrolle in der Gemeinschaft belassen es einstweilen dabei, das Parlament mehr und mehr an den eigentlichen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Nach der Einheitlichen Euro-

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35

Zu den essentiellen Erfordernissen parlamentarischer Demokratietradition als Errungenschaft des (west-)europäischen Verfassungsstaates vgl. J. A . FROWEIN Die rechtliche Bedeutung des Verfassungsprinzips der parlamentarischen Demokratie für den europäischen Integrationsprozeß, in: EuR 1983, S. 301, 302. Zur überbordenden gesetzgeberischen Aktivität der Gemeinschaft vgl. nur CH. TOMUSCHAT Normenpublizität und Normenklarheit in der Europäischen Gemeinschaft, in: Festschrift für H. Kutscher, 1981, S. 461 ff.

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päischen Akte (1986), die zur Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts ein besonderes Verfahren der Zusammenarbeit (Art. 100 a, 149 EWGV) eingeführt hatte, sollen nun auf Grund des Maastrichter Vertragsentwurfs dem Europäischen Parlament weitere Mitspracherechte im Gesetzgebungsverfahren eingeräumt werden (Art. 189 b EG-Vertrag)36, die sich in der politischen Praxis allerdings erst noch bewähren müssen. Der Erfolg jeder weiteren Ausdehnung der Mitentscheidungsrechte des Euro- 35 päischen Parlaments hängt maßgeblich davon ab, ob deren konkrete Ausgestaltung den geschilderten spezifischen Bedingungen moderner Gewaltenteilung in der Gemeinschaft Rechnung trägt. Hier fragt sich insbesondere, ob nicht neue Formen parlamentarischer Beteiligung zu einer wirkungsvolleren Kontrolle führen würden. Dabei kommt dem Gedanken einer Pauschalierung der Kontrollrechte, der an dieser Stelle nur angedeutet werden kann, eine besondere Bedeutung zu. Wir kennen dieses Prinzip der Pauschalierung bereits im Grundgesetz, das ζ. B. 36 dem Bundestag nur die Abwahl des Bundeskanzlers, nicht aber einzelner Minister gestattet (Art. 67, 64 GG), und auch diese nur, wenn er zugleich einen Nachfolger wählt. Ferner findet sich etwa im Bund- Länder-Verhältnis ein auf das Grundsätzliche beschränktes Kontrollrecht des Bundes über die Wahrnehmung seiner Zuständigkeiten durch die Länder,37 und auch die ermächtigende Gesetzgebung läßt Raum für einen Entscheidungsspielraum der Verwaltung, dessen Kontrolle sich darauf beschränkt, ob diese im Rahmen der ihr übertragenen Kompetenz geblieben ist, nicht aber, wie sie sie ausgeübt hat.38 Eine sinnvolle Form der Gewaltenteilung könnte man hiernach zunächst darin 37 sehen, dem Europäischen Parlament das Gesetzgebungsrecht und andere politische Leitentscheidungsrechte auf ganz bestimmten, grundsätzlich maßgebenden Gebieten zu übertragen, wobei die Ernennung der Kommission39 und die haushaltsrechtlichen Befugnisse40 neben der Mitwirkung an prinzipiell bedeutsamen Gesetzgebungsvorhaben im Vordergrund stehen. Bei der Gesetzgebung im einzelnen läßt sich sodann eher an ein Zustimmungsrecht des Parlaments unter allgemeinen Gesichtspunkten als an eine detaillierte Mitwirkung denken. So könnte man erwägen, dem Parlament die Befugnis zu geben, Einspruch zu erheben gegen Gesetzesvorschläge mit der 36

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Abgedruckt in: Vertrag über die Europäische Union, Rat der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.), Luxemburg 1992, S. 76 f. Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung bei HESSE Verfassungsrecht (Fn. 9), Rdn. 245. P. LERCHE in: T. Maunz/G. Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 1989, Art. 85 Rdn. 70 ff, insb. Rdn. 75 ff; vgl. auch HESSE Verfassungsrecht (Fn. 9), Rdn. 245. Vgl. künftig Art. 158 Abs. 2 des Vertrages über die Europäische Union, Rat der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.), Luxemburg 1992, S. 66; siehe auch Bulletin der Bundesregierung v o m 12. Februar 1992, Nr. 16, S. 113, 134, das einen vollständigen Text des Maastrichter Vertrages einschließlich der Protokolle und ergänzenden Erklärungen enthält. Bislang gelten auf diesem Gebiet die Art. 199 ff E W G V ; vgl. zu künftigen Konzepten P. SCHMIDHUBER Die Notwendigkeit einer neuen Finanzverfassung der EG, in: EuR 1 9 9 1 , S. 329 ff; zu den gegenwärtigen haushaltsrechtlichen Befugnissen des EP vgl. etwa T. BETTENDORF Die rechtlichen Befugnisse und politischen Möglichkeiten des Europäischen Parlaments bei der Aufstellung eines EG- Haushalts, Hamburg 1989.

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1. Kapitel. Grundlagen

Begründung, daß die betreffende Materie nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft falle oder daß sie von Gemeinschafts wegen keiner Regelung bedürfe. Die Zustimmung des Parlaments würde dann nur das Recht zur Gesetzgebung, nicht aber deren einzelne Ausgestaltung umfassen. Auch müßte es bei dem Recht des Parlaments bleiben, den Rat zur Wahrnehmung seiner Gesetzgebungspflichten anzuhalten, einem Recht, das der EuGH dem Parlament ausdrücklich zugesprochen hat.41 Bei den hier für die Zukunft zur Erwägung gestellten Abstufungen der parlamentarischen Mitsprache, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Pauschalierung, drängt sich naturgemäß der Einwand auf, dieses Konzept könnte jedenfalls auf bestimmten Gebieten auf ein bloßes Vetorecht zugunsten des Parlaments hinauslaufen. Daran mag einiges richtig sein. Immerhin gehen aber bereits von der Existenz eines Vetorechts Vorwirkungen aus, und es läßt sich in der Praxis durchaus entschlossen im Sinne einer Rahmenvorgabe für die politische Gestaltung durch die verantwortlichen Organe nutzen.42 38 Im übrigen stellt sich die Frage, ob es zu einem solcherart konzipierten pauschalierten Kontrollrecht auf bestimmten Gebieten angesichts der geschilderten Bedingungen heutiger Gewaltenteilung in der EG überhaupt Alternativen gibt, die in adäquater Zuordnung von Regierungs-, Gesetzgebungs- und Kontrollfunktionen eine wirksamere parlamentarische Mitsprache auf europäischer Ebene gestatten.43

II. Europäische Verfassungsentwicklung bis zum Binnenmarkt 1992 — aus der Sicht des Grundgesetzes 1. Die Entscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit 39 Sie findet sich bereits im ersten Satz der Präambel des Grundgesetzes. Danach ist es der Wille des deutschen Volkes, als gleichberechtigtes Mitglied in einem vereinten Europa dem Frieden zu dienen.44 Nachdem die deutsche Einheit am 3. Oktober 1990 staatsrechtlich vollendet werden konnte, hat die in der Präambel enthaltene europäische Option nichts an Bedeutung eingebüßt. Im Gegenteil hat die Einbindung der Bundesrepublik in den europäischen Integrationsprozeß die in der Präambel

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Vgl. EuGH, Rs 13/83, Europäisches Parlament ./. Rat der EG, Urteil v. 22.5.1985, Amtl. Slg. 1985, S. 1513 ff. Zu Beispielen, wie etwa das EP sein neu eingeführtes Zustimmungsrecht zu Assoziierungsabkommen (Art. 238 EWGV) gehandhabt hat, siehe R. BIEBER in: H. v. der Groeben/J. Thiesing/ C.-D. Ehlermann, Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Aufl. 1991, Art. 137 Rdn. 35. Zu anderen neuen Kontrollformen wie etwa der Einrichtung unabhängiger Gremien und zum irreduziblen Bestand von Verfassungsbedingungen im Verhältnis EG-Mitgliedstaaten siehe Kap. IV, 1 und 2. Dazu und zum folgenden J. SCHWARZE Das Grundgesetz und das europäische Recht, in: 40 Jahre Grundgesetz — Der Einfluß des Verfassungsrechts auf die Entwicklung der Rechtsordnung, Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen Band 50, 1990, S. 209, 210.

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Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

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ursprünglich ebenfalls erwähnte und nun hergestellte Einheit Deutschlands maßgeblich mitgefördert.45 Der in der Präambel zum Ausdruck gebrachte Wille zur europäischen Integration geht in seiner Wirkung über eine bloße „Declaration of policy" hinaus und ist, wie ehedem das Bekenntnis zur deutschen Einheit, als verpflichtender Verfassungsauftrag zu verstehen.46 Mit Art. 24 GG sowie den ergänzenden Organisationsnormen der Art. 32 und 40 59 GG stellt das Grundgesetz die Instrumente zur Erfüllung dieses Vorsatzes bereit. Seinem Wortlaut nach berechtigt Art. 24 GG den Bund, durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Die in der Präambel und in Art. 24 GG zum Ausdruck kommende „Verfassungsentscheidung für die internationale Zusammenarbeit"47 ermöglicht es der Bundesrepublik, sich an der Schaffung zwischenstaatlicher Organisationen zu beteiligen, die über eigene Hoheitsgewalt verfügen und deren Akte die Mitgliedsstaaten wie auch deren Staatsangehörige unmittelbar rechtlich zu binden vermögen. Mit dieser in der deutschen Verfassungsgeschichte neuartigen internationalen 41 Option48 hat das Grundgesetz innerstaatlich die Basis geschaffen, auf der sich spezielle überstaatliche Kooperationsformen entwickeln können, die über die Zusammenarbeit in internationalen Organisationen herkömmlichen Typs hinausreichen.49 Die vielfältigen Auslegungsbemühungen zu Art. 24 GG stellen sich bis heute 42 vor allem als Suche nach den verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration in überstaatlichen Zusammenschlüssen dar. Den Anstoß zur verfassungsrechtlichen Interpretation und Debatte gaben zumeist konkrete europapolitische Vorhaben oder — wie beim sog. Grundrechtskonflikt — divergierende Auffassungen deutscher und europäischer Organe zu einzelnen Fragen. Die Stationen europäischer Integration lassen die Wechselbeziehung zwischen der Verfassungsentwicklung auf europäischer Ebene und den Ansprüchen des Grundgesetzes deutlich erkennen. Das Bild wäre jedoch unvollständig, ließe man Organisationen wie den Euro- 43 parat und das politische Gesprächsforum der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE) unerwähnt, Einrichtungen, die zwar nicht annähernd 45

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Für die Herstellung der deutschen Einheit hat sich insbesondere der Präsident der E G - K o m mission J. DELORS entschlossen eingesetzt ("Die D D R hat ihren Platz in der Gemeinschaft", s. EG-Informationen, Nr. 12 1990). Vgl. auch C. W. A . TIMMERMANS German unification and Community law, in: CMLRev. 1990, S. 437 ff. B V e r f G E 5, 85 ff. K . VOGEL Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 42 f. Vgl. SCHWARZE Grundgesetz und europäisches Recht (Fn. 44), S. 210. Den prinzipiellen Unterschied zwischen besonders eng verflochtener Gemeinschaftsorganisation und traditionellen völkerrechtlichen Kooperationsformen hat der E u G H zuletzt in seinem Gutachten zum Europäischen Wirtschaftsraum v o m 14. Dezember 1991 besonders hervorgehoben, Gutachten 1/91, S. 35 ff, insb. Rdn. 20 ff. Das Konzept des Europäischen Wirtschaftsraums wird näher von H. G. KRENZLER Der Europäische Wirtschaftsraum als Teil einer gesamteuropäischen Architektur, in: Integration 2/92, S. 61 ff erläutert. Zum Unterschied v o n Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht siehe ausführlich J. SCHWARZE Das allgemeine Völkerrecht in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen, in: EuR 1983, S. 1 ff.

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1. Kapitel. Grundlagen

über eine der Europäischen Gemeinschaft entsprechende Integrationsdichte verfügen, die aber gleichwohl maßgebliche Beiträge zur Staatenkooperation in Europa leisten. Insbesondere im Europarat spiegeln sich die gemeinsamen Wertvorstellungen der europäischen Staaten wider, 50 aus denen allein eine fortschreitende Zusammenfassung hervorgehen kann. 2. Gemeinsame Wertvorstellungen als Grundlage der europäischen Integration a) Europarat — EMRK 44 Für die allgemeine Zusammenarbeit auf allen Gebieten entstand 1949 der Europarat, dem zur Zeit 31 Mitgliedstaaten angehören. 51 Am 6. November 1990 trat Ungarn als erstes Land des bisherigen „Ostblocks" dem Europarat bei. Die Bundesrepublik ist seit 1951 Mitglied. Der Zusammenschluß im Europarat hat nicht nur eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern geschaffen, er ist darüber hinaus auch als Bekenntnis zu den Grundwerten der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaats einschließlich des Schutzes der Menschenrechte von erheblichem Gewicht. 52 Im Rahmen des Europarats wurden zahlreiche Konventionen zwischen den Mitgliedstaaten abgeschlossen, von denen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 53 die bekannteste sein dürfte. 45

In ihrem materiellen Teil enthält die EMRK sowohl klassische Freiheitsrechte als auch Teilhaberechte sowie Verfahrensgarantien. 54 Über die Einhaltung dieser Rechte durch die Mitglieder der Konvention wachen die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, beide mit Sitz in Straßburg, die als national unabhängige Instanzen mit eigenen Entscheidungsbefugnissen ausgestattet sind.55

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Beteiligte Vertragsstaaten sowie die Menschenrechtskommission (Art. 19 EMRK) können den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Art. 38 EMRK) anrufen (Art. 48 EMRK). Natürliche Personen oder nicht-staatliche Organisationen oder Personenvereinigungen können die Kommission befassen, wenn sie sich nach Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittelverfahren durch eine Verletzung der

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R. BERNHARDT Thoughts on the interpretation of human-rights treaties, in: Protecting Human Rights: The European Dimension, Studies in honour of G. J. Wiarda, 1988, S. 70, 71 ff; vgl. auch J. A . FROWEIN European Convention on Human Rights (1950), in: Encyclopedia of Public International Law (EPIL), R. Bernhardt (Hrsg.), 1983, S. 184, 185 f. Bis Oktober 1993 haben 31 Staaten ihren Beitritt zum Europarat erklärt und die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet, außer Estland, Litauen und Slowenien, die lediglich Mitglieder des Europarates sind. J. A . FROWEIN European Convention on Human Rights (Fn. 50), S. 184, 1 8 9 f f . Konvention v o m 4. November 1950, in der Bundesrepublik verkündet „mit Gesetzeskraft" am 7. August 1952, BGBl. II 685/953, in K r a f t getreten am 3. Sept. 1953, BGBl. II 14; vgl. allgemein zur Europäischen Menschenrechtskonvention, J. A . FROWEIN/W. PEUKERT EMRK-Kommentar, 1985; zum Verhältnis E M R K und E G siehe dort Einführung Rdn. 13 f. Teilhaberechte: OPPERMANN Europarecht (Fn. 10), S. 45; Verfahrensgarantien in Art. 6 E M R K , v g l . FROWEIN/PEUKERT E M R K - K o m m e n t a r (Fn. 5 3 ) , S. 1 0 4 f f .

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OPPERMANN E u r o p a r e c h t (Fn. 1 0 ) , S. 3 4 f f ; FROWEIN E C H R ( F n . 5 0 ) , S. 1 8 4 , 1 8 6 f.

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Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

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in der Konvention anerkannten Rechte beschwert fühlen (Art. 25, 26 EMRK). Die Kommission soll sich zunächst um eine gütliche Regelung der Angelegenheit bemühen. Kommt diese nicht zustande, so kann sie die Beschwerde an den Ministerausschuß oder an den Europäischen Gerichtshof bringen. Hat die Beschwerde Erfolg, so führt dies regelmäßig allerdings nur zur Fest- 47 Stellung eines Verstoßes gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung.56 Eine direkte innerstaatliche Wirkung zugunsten des Verletzten tritt nicht ein,57 wenn auch die Erfahrung zeigt, daß die Staaten regelmäßig den vertragsgemäßen Zustand herstellen. 58 Neben den Rechtswirkungen einer erfolgreichen Beschwerde ist der faktische Schutz von erheblicher Bedeutung, den der einzelne durch die Veröffentlichung seiner Beschwerde und die damit verbundene Rechtfertigungslast des Staates erhält.59 Ferner erfahren wichtige Menschenrechte und Grundfreiheiten eine sachliche Erweiterung, indem sie dem einzelnen nicht nur in seinem Land, sondern in allen Vertragsstaaten zustehen. Innerhalb der Verfassungsordnung des Grundgesetzes gilt die EMRK nach 48 überwiegender Ansicht — wie andere völkervertragsrechtliche Pflichten auch — nur im einfachen Gesetzesrang.60 Eine Verfassungsbeschwerde kann nicht auf eine behauptete Verletzung der EMRK gestützt werden, es sei denn, es wird behauptet, daß bei der Auslegung der Vorschriften der Menschenrechtskonvention die Instanzgerichte das Willkürverbot des Grundgesetzes verletzt hätten.61 Insgesamt kommt der EMRK, trotz der aus ihrer völkerrechtlichen Natur 49 resultierenden Unvollkommenheiten, maßgebliche Bedeutung zu als Ausdruck eines europaweiten Konsenses in wichtigen Grundanschauungen, deren vorbehaltlose Akzeptanz durch alle Mitgliedstaaten Voraussetzung ist für eine demokratisch-rechtsstaatliche Integration in Europa.62 b) Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

(KSZE)

Als erstes bedeutsames Ergebnis der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit 50 in Europa" (KSZE) wurde am 1. August 1975 die sog. Schlußakte in Helsinki 56

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A r t . 3 1 , 32 E M R K , vgl. FROWEIN/PEUKERT E M R K - K o m m e n t a r (Fn. 53), S. 4 2 4 f f ; OPPERMANN Europarecht (Fn. 10), S. 37. Art. 50 E M R K regelt eine „Gerechte Entschädigung" der verletzten Partei im Falle der unvollkommenen Wiedergutmachung nach innerstaatlichem Recht, vgl. FROWEIN/PEUKERT E M R K K o m m e n t a r (Fn. 53), S. 449. K . P. SOMMERMANN D e r Schutz der Menschenrechte im Rahmen des Europarates, Speyerer Forschungsberichte Nr. 86, 1 9 9 0 , S. 26 ff. Eine Mitwirkungspflicht der betroffenen Staaten ergibt sich bereits im Zeitpunkt des Untersuchungsverfahrens und aus dem Versuch der gütlichen Einigung nach A r t . 28 E M R K , vgl. FROWEIN/PEUKERT E M R K - K o m m e n t a r (Fn. 53), S. 4 1 8 . OPPERMANN Europarecht, S. 34 Rdn. 69. B V e r f G E 64, 1 3 5 (157); 74, 1 0 2 (128). Vgl. zum Verhältnis v o n A r t . 19 IV G G zur E M R K SCHMIDT-ASSMANN in: Maunz/Dürig G G (Fn. 38) A r t . 19 IV Rdn. 37 m.w.N.; siehe ferner HESSE Verfassungsrecht (Fn. 9), Rdn. 278. OPPERMANN Europarecht (Fn. 10), § 2 Rdn. 78.

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1. Kapitel. Grundlagen

unterzeichnet.63 Das Dokument teilt sich in drei Komplexe, die jeweils einem der sog. Körbe der Verhandlungen entsprechen, nämlich Friedenssicherung, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Menschenrechte. Die völkerrechtliche Bedeutung der Schlußakte ist begrenzt, da nur allgemeine Prinzipien des Völkerrechtes oder bereits eingegangene vertragliche Verpflichtungen bekräftigt werden. 64 Die Initiative zu dieser Konferenz ging seinerzeit von der Sowjetunion aus, die vor allem ein Interesse daran hatte, den territorialen und politischen status quo in Europa als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges vertraglich abzusichern. Für die westlichen Teilnehmer standen dagegen die Menschenrechte und die wirtschaftliche Zusammenarbeit im Vordergrund. 51

Der anfanglich durchaus skeptisch beurteilte „KSZE-Prozeß" entwickelte sich jedoch im Verlauf mehrerer Folgetreffen zu einem wichtigen Gesprächsforum der beiden Supermächte, ihrer Verbündeten sowie der teilnehmenden neutralen Staaten. Vorläufige Höhepunkte der Entwicklung waren die Treffen 1990 in Paris, bei dem die Teilnehmerstaaten einschließlich der Sowjetunion eine Charta zur Wahrung der Menschenrechte unterschrieben haben, sowie das Treffen 1991 in Berlin, das mit der Vereinbarung eines „Krisenmechanismus" endete, der ein abgestuftes Verfahren der Konsultation im Krisenfall vorsieht. 65

52

Durch die fundamentalen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa, insbesondere durch den Zerfall der UDSSR in eine Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS), hat sich der politische Hintergrund der K S Z E in grundlegender Weise geändert. 66 Im Zentrum steht nun nicht mehr die Bewahrung einer bestimmten politischen Situation in Europa, sondern die Schaffung eines organisierten Gesprächsrahmens, innerhalb dessen die Mitglieder der K S Z E den teils rasanten, bisweilen sprunghaften Prozeß der Umgestaltung besser handhaben können, insbesondere dann, wenn krisenhafte Erscheinungen in einzelnen Regionen auftreten.

53

Der Golfkrieg sowie der Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens haben aber erneut deutlich gemacht, wie wichtig — neben der an traditionellen internationalen Kooperationsformen ausgerichteten K S Z E — die Europäische Gemeinschaft als Akteur in der Weltpolitik geworden ist. 67 Die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft wird dabei heute in nennenswertem Umfang auch von Faktoren bestimmt, auf die sie selbst keinen Einfluß hat, die sie aber zu einer gemeinsamen

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Vgl. Dokumentation der Schlußakte vom 1.8.1975, in: Europa-Archiv 1975, S. D 437 ff.

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V g l . OPPERMANN E u r o p a r e c h t ( F n . 10), § 3 R d n . 1 3 9 .

65

Charta von Paris, 21.11.1990, in: Europa-Archiv 1990, S. D 656 ff, Krisenmechanismus S. D 660; Erste Außenministerkonferenz der K S Z E im Juni 1991 in Berlin, vgl. Protokolle und Schlußfolgerung in: Europa-Archiv 1991, S. D 335 f f / D 356 f. Vgl. Europa-Archiv 1991, S. D 335 ff; vgl daneben U. NERLICH Einige nichtmilitärische Bedingungen europäischer Sicherheit, in: Europa-Archiv 1991, S. 547 ff; Dokumente zum Ende des östlichen Bündnissystems, in: Europa-Archiv 1991, S. D 575 ff; Dokumente zur neuen Strategie des westlichen Bündnisses, in: Europa-Archiv 1992, S. D 29. Vgl. Die Erklärung der Verteidigungsminister der E u r o - G r u p p e in der N A T O über ihre Tagung am 27. Mai 1991 in Brüssel, in: Europa-Archiv 1992, S. D 31 ff.

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§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

73

Reaktion zwingen. In der Weltpolitik bestehen, wie schon erwähnt, Erwartungen, daß die Gemeinschaft mit einer Stimme spricht. 3. Stationen der europäischen Verfassungsentwicklung — von der Verteidigungsgemeinschaft bis zum Binnenmarkt a) Der Kampf um den Wehrbeitrag Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 54 vom 27.5.1952,68 das erste Beispiel, an dem sich eine grundlegende Diskussion über die verfassungsrechtlichen Grenzen der Integrationsgewalt entzündet hat, sah die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Streitmacht der Mitgliedstaaten vor. Er sollte insbesondere internationale Hoheitsbefugnisse auf dem Gebiet der Wehrhoheit und Wehrverwaltung begründen. Die Frage der Vereinbarkeit eines solchen Vertrages mit dem Grundgesetz 55 führte zu einem Verfassungsstreit zwischen Regierungsparteien und Opposition, 69 wie überhaupt die Grenzlinienbestimmung für völkerrechtliche Kooperationsbemühungen und für die europäische Integration in nennenswertem Umfang Anlaß gab zu Verfassungsstreitigkeiten zwischen den verschiedenen politischen Richtungen. 70 Die Ergebnisse der in diesem Zusammenhang geführten verfassungsrechtlichen Debatte über die Interpretation der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 24 Abs. 1 GG werden aber jedenfalls in wesentlichen Zügen bis heute anerkannt.71 Der EVG-Vertrag scheiterte schließlich, wie bekannt, am Widerstand des französischen Parlaments. 72 Was zunächst die zu übertragenden Hoheitsrechte anlangt, so wird der Bund 56 als berechtigt angesehen, sowohl Bundes- als auch Länderhoheitsrechte 73 zum Gegenstand der Übertragung zu machen. Entsprechend der Dreiteilung der Staatsfunktionen können Befugnisse der Rechtssetzung, der Verwaltung und der Rechtsprechung auf die zwischenstaatliche Einrichtung übertragen werden. 74 Bereits damals wurde erkannt, daß der Begriff des „Übertragens" von Hoheits- 57 rechten insofern mißverständlich ist, als er einen dinglichen Übertragungsvorgang zu bezeichnen scheint.75 Entsprechend der heute allgemein vertretenen Ansicht ist 68 69

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BGBl. 1 9 5 4 II, S. 342. Siehe die umfassende Dokumentation „Der K a m p f um den Wehrbeitrag", Veröffentlichungen des Instituts f ü r Staatslehre und Politik e. V., 1. Halbband 1 9 5 2 , 2. Halbband 1 9 5 3 , Ergänzungsband 1958. R. GEIGER Grundgesetz und Völkerrecht, 1 9 8 3 , S. 3 2 f f und 89 ff. Siehe allgemein dazu CH. TOMUSCHAT in: K o m m e n t a r zum Bonner Grundgesetz, Zweitbearbeitung Hamburg 1 9 8 1 , A r t . 2 4 Rdn. 1 4 - 4 8 ; STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4), S. 5 2 0 ff. Beschluß der Assemblée Nationale Française v o m 3 0 . 8 . 1 9 5 4 . Im Wehrstreit w u r d e dies noch kontrovers diskutiert: TOMUSCHAT in: B K (Fn. 71), A r t . 2 4 Rdn. 25 m.w.N.; heute ist dies herrschende Ansicht; anderer Ansicht wohl aber L. GRÄMLICH Europäische Zentralbank, 1 9 7 9 , S. 166, 167. TOMUSCHAT i n : B K ( F n . 7 1 ) , A r t . 2 4 R d n . 2 4 m . w . N . ; S T E R N S t a a t s r e c h t B d . 1 ( F n . 4 ) , S . 5 2 1 . STERN S t a a t s r e c h t B d . 1 ( F n . 4 ) , S . 5 2 3 ; TOMUSCHAT i n : B K

Europäisches Gemeinschaftsrecht (Fn. 30), S. 56.

(Fn. 71), Art. 2 4 R d n .

15;

IPSEN

1. Kapitel. Grundlagen

74

der von Art. 24 GG erwähnte Übertragungsvorgang eher als ein mehrschichtiges Phänomen zu begreifen.76 Mit der Übertragung gibt der Staat seinen Anspruch auf Ausschließlichkeit eigener Hoheitsentfaltung in seinem Gebiet auf. Zugleich räumt er der zwischenstaatlichen Einrichtung entsprechende Kompetenzen auf seinem Territorium ein.77 Der neue Hoheitsträger kann so über eine eigene originäre Hoheitsgewalt gebieten, die einheitliche Konsistenz aufweist und nicht als Mosaik aus den Splittern der abgetretenen nationalen Hoheitsrechte aufzufassen ist.78 58 Am besten läßt sich der Übertragungsvorgang dementsprechend als „Einbringen zur gemeinsamen Ausübung" 79 beschreiben. Der einzelne Staat bringt an Hoheitsbefugnissen etwas ein, was einem neuen Hoheitsträger ermöglicht, über die jeweiligen Staatsgrenzen hinausgreifende gemeinsame Aufgaben wahrzunehmen, deren Bewältigung dem einzelnen nationalen Staat schon mangels der Reichweite der dafür notwendigen Kompetenzen unmöglich wäre. 59 Integration in diesem Sinne ist also die Schaffung einer Einheit aus einzelnen Teilen,80 deren Inhalt mehr ist als die Summe der vereinigten Teile. Die Übertragung von Hoheitsgewalt auf zwischenstaatliche Einrichtungen erfolgt nach Art. 24 Abs. 1 GG durch Gesetz. Im Parlamentarischen Rat wurde ein Antrag, nach welchem die Übertragung von Hoheitsrechten nur mit den Mehrheiten des Art. 79 Abs. 2 GG zuzulassen sei, abgelehnt.81 Nach herrschender Meinung genügt ein einfaches Bundesgesetz. Schließlich wurden bereits anläßlich des Streits um den Wehrbeitrag mit dem von H E R B E R T K R A U S verlangten Kriterium der „strukturellen Kongruenz"82 zwischen der Verfassung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und dem Grundgesetz die materiellen Grenzen der Integrationsgewalt angesprochen. Die Anerkennung des Prinzips der strukturellen Kongruenz als Verfassungsgebot, also die Forderung, daß eine zwischenstaatliche Einrichtung nach Art. 24 Abs. 1 eine dem Grundgesetz entsprechende demokratische, föderalistische und rechtsstaatliche Verfassung besitzen müsse, ist schon früh auf Widerspruch gestoßen. Heute wird die These vom Erfordernis struktureller Kongruenz als Ausdruck eines grundgesetzintrovertierten Denkens jedenfalls in ihrer Überspitzung allgemein abgelehnt.83 An ihrem Grundgedanken ist freilich richtig, daß schon Art. 79 Abs. 3 GG verlangt, eine gewisse Homogenität der Wertvorstellungen müsse in solchem Fall gegeben sein. Die in ihrem Kern auf demokratische Grundsätze, auf Freiheitlichkeit, auf Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit angelegte Verfassung der Bundesrepublik

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Siehe nur STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4), S. 523: „Chiffre für einen überaus komplexen Vorgang, der sowohl die A k t i o n des Übertragens und Empfangens als auch deren Ergebnis, die Supranationalität der übertragenen Hoheitsrechte, meint". IPSEN Europäisches Gemeinschaftsrecht (Fn. 30), S. 56.

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TOMUSCHAT i n : B K ( F n . 7 1 ) , A r t . 2 4 R d n .

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W. v. SIMSON Diskussionsbeitrag, in: V V D S t R L Bd. 31 (1973), S. 129. So R. SMEND Integration, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. A u f l . 1968, S. 482. J ö R n. f. 1 (1951), S. 226, 228. H. KRAUS in: Der K a m p f um den Wehrbeitrag, Bd. 2 (Fn. 69), S. 545, 550 ff. Dazu und zum folgenden TOMUSCHAT B K (Fn. 71), Art. 24 Rdn. 55 m.w.N.

80

81 82 83

19.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

75

gestattet es nicht, den Bürger einer Hoheitsgewalt auszuliefern, die sich solchen Zielen nicht verpflichtet weiß. b) Die Europäische Integration

Wirtschaftsgemeinschaft

— politische

Einigung durch

wirtschaftliche

Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) war die erste „supra- 60 nationale" Organisation nach dem Zweiten Weltkrieg. Der am 18. April 1951 zwischen der Bundesrepublik Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden geschlossene EGKS-Vertrag trat am 23. Juli 1952 in Kraft. 84 Wegen seiner ins einzelne gehenden Regelungen auch als „traité loi" bezeichnet, unterscheidet er sich deutlich von dem am 23. April 1957 abgeschlossenen Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der überwiegend weitgefaßte Handlungsermächtigungen enthält und deshalb zu Recht als „traité cadre" charakterisiert wird. 85 Zweifellos ist die Montanunion eine wichtige Vorstufe der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gewesen, doch bot erst der EWG-Vertrag die Grundlage für eine weiterführende Verfassungsentwicklung auf europäischer Ebene. Es gehört zu den wesentlichen Erfahrungen mit dem Gemeinschaftsrecht, daß 61 es sich nicht allein und nicht einmal vorrangig aus dem oft sehr undeutlichen Wortlaut der Gemeinschaftsverträge erschließt, sondern maßgeblich vor allem durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ausgebildet und geprägt worden ist. Die Entscheidungen des EuGH in den Fällen Van Gend & Loos zur unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts,86 die Urteile Costa ./. ENEL und Simmenthai II87 zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts sowie das AETR-Urteil 88 zur extensiven Auslegung von Gemeinschaftskompetenzen haben der europäischen Rechtsordnung ein eigenes Gesicht gegeben, das sich von den traditionellen Erscheinungsformen internationaler Organisationen deutlich abhebt. Den konzeptionellen Unterschied zwischen herkömmlicher völkerrechtlicher Kooperation und besonders enger EGIntegration hat der EuGH jetzt erneut in seinem Gutachten zum Europäischen Wirtschaftsraum vom 14. Dezember 1991 unterstrichen.89 Diese Differenzierung 84 85

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In der Bundesrepublik Ratifikation durch Gesetz v o m 29.4.1952, BGBl. II, S. 445. Die „Verträge von Rom" ( E W G - und EAG-Vertrag) wurden in der Bundesrepublik ratifiziert durch Gesetz v o m 27.7.1957, BGBl. II, S. 753; siehe zur Entstehungsgeschichte näher z. B. IPSEN Europäisches Gemeinschaftsrecht (Fn. 30), § 3 Rdn. 6 ff; zu den Charakterisierungen der Verträge als „traité loi" (traité de règles) und „traité cadre" vgl. BEUTLER/BIEBER/PIPKORN/STREIL Europäische Gemeinschaft (Fn. 3), S. 40.

Rs 26/62, Van Gend & Loos ./. Königreich

der Niederlande,

EuGH, Urteil vom 5. Februar 1963,

Amtl. Slg. 1963, S. 3 ff. Rs 6/64, Costa ./. ENEL, EuGH, Urteil v o m 15. Juli 1964, Amtl. Slg. 1964, S. 1251 ff; Rs 106/ 77, Simmentbai //, EuGH, Urteil v o m 9. März 1978, Amtl. Slg. 1978, S. 629 ff. Rat Rs 22/70, Kommission.!. (AETR), EuGH, Urteil v o m 31. März 1 9 7 1 , Amtl. Slg. 1 9 7 1 , S. 263 ff. Gutachten des Gerichtshofs v o m 14. Dezember 1 9 9 1 , Gutachten 1/91, erstattet aufgrund v o n Art. 228 Abs. 1 UAbs. 2 E W G V ; dazu ferner jetzt das weitere zu diesem Fragenkreis erstattete Gutachten des E u G H v o m 10. April 1992, Gutachten 1/92.

1. Kapitel. Grundlagen

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62

63

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65

wirkt sich auch und vor allem bei der Auslegung und Interpretation des Gemeinschaftsrechts als eigener Rechtsordnung aus.90 Der unmittelbare Zugriff der europäischen Gesetzgebung auf Rechtspositionen des einzelnen, vor allem im Rahmen des gemeinschaftlichen Wirtschaftsverwaltungsrechts, hat dabei namentlich in der Bundesrepublik zu einer intensiven Diskussion über den Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht geführt. 91 Auf diesem Gebiet spiegelt sich eine fruchtbare Beziehung zwischen deutschem Verfassungsrecht und Europarecht wider, aus der nach einer Phase des offenen Konflikts mittlerweile ein Verhältnis der Annäherung sowie der Konkordanz zwischen der deutschen Verfassungsrechtsprechung und der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs hervorgegangen ist. Spätestens durch den „Solange I"-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1974 ist auch einer breiteren Öffentlichkeit bewußt geworden, daß die Gemeinschaftsverfassung keinen umfassenden Grundrechtskatalog enthält, sondern lediglich in Einzelbestimmungen Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte für den Gemeinschaftsbürger garantiert. In dem erwähnten Beschluß hatte das Bundesverfassungsgericht den im wesentlichen durch Richterrecht bewirkten Grundrechtsschutz bekanntlich nicht genügen lassen und eine eigene Prüfungskompetenz „solange" bejaht, bis ein vom Europäischen Parlament beschlossener Grundrechtskatalog der Gemeinschaft erlassen sei, dessen Schutzniveau demjenigen des Grundgesetzes entsprechen müsse.92 Nicht ohne den Einfluß dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind dann maßgebliche Schritte zur Verbesserung des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft unternommen worden. In einer Gemeinsamen Erklärung vom 5. April 1977 haben Parlament, Rat und Kommission die Geltung und Achtung der Grundrechte in der Gemeinschaft bekräftigt.93 Der Gerichtshof selbst hat seine Rechtsprechung zum Schutz des einzelnen durch Herausbildung zahlreicher allgemeiner Rechtsgrundsätze des Verfassungs- und Verwaltungsrechts fortentwickelt.94 Nachdem bereits ein entsprechender Hinweis in die Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1986 aufgenommen 90

91

52

93

94

„Une structure institutionnelle et juridique originale", vgl. J . BOULOUIS Droit institutionnel des Communautés Européennes, 2. Aufl., Paris 1990, S. 48; „a sui generis law", vgl. D. LASOK/J. W. B R I D G E Law & Institutions of the European Communities, 5. Aufl. 1991, S. 82. Siehe BVerfGE 37, 271 ff („Solange I"); dazu und zur späteren Entwicklung der Rechtsprechung des BVerfG statt vieler HESSE Verfassungsrecht (Fn. 9), Rdn. 105; zur Problematik eines Europäischen Grundrechtskatalogs vgl. H I L F Grundrechtskatalog (Fn. 11), S. 19 ff. BVerfGE 37, 271 ff („Solange-I" Beschluß), dazu kritisch etwa H. P. IPSEN BVerfG versus EuGH re „Grundrechte", in: EuR 1975, S. 1 ff; zur späteren Änderung der Rspr. siehe die Nachweise weiter unten. Vgl. hierzu: Gemeinsame Erklärung von Parlament und Rat zum Schutz der Grundrechte vom 5 . April 1 9 7 7 , ABl. C 1 0 3 / 7 7 , S . 1 ; J. S C H W A R Z E Das Verhältnis von deutschem Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht auf dem Gebiet des Grundrechtsschutzes im Spiegel der deutschen Rechtsprechung, in: EuGRZ 1986, S. 293, 294 m.w.N.; BVerfGE 73, S. 339 („Solange II"); U . E V E R L I N G Brauchen wir „Solange III"?, in: EuR 1 9 9 0 , S. 1 9 5 , 2 0 2 ff. Vgl· J·

SCHWARZE

Europäisches Verwaltungsrecht, 1988, 2 Bände.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

77

worden war, 9 5 ist nun im übrigen aufgrund der Maastrichter Beschlüsse im Vertrag über die Gründung einer Europäischen Union eine ausdrückliche und rechtlich bindende Verpflichtung der geplanten Union vorgesehen, die Grundrechte zu achten, wie sie „in der am 4. November 1 9 5 0 in Rom unterzeichneten Europäischen K o n vention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben". 9 6 A b e r bereits heute sind auf Grund europäischen Richterrechts 9 7 neben wirtschaftsbezogenen Grundrechten, wie der Berufsfreiheit und dem Eigentumsschutz, rechtstaatlich-elementare Grundrechte auch mit explizitem Bezug zum Schutz der Persönlichkeit, wie ζ. B. die Würde des Menschen, 9 8 die Meinungsfreiheit, 99 die Religionsfreiheit, 1 0 0 der allgemeine Gleichheitssatz, 1 0 1 der Schutz der Persönlichkeits- und Privatsphäre 1 0 2 und das Prinzip des fairen Verfahrens im G e meinschaftsrecht anerkannt. 1 0 3 Die Methode seiner eigenen richterlichen Rechtsgewinnung 1 0 4 hat der Gerichtshof dabei insbesondere in dem grundlegenden Urteil Hauer aus dem Jahre 1 9 7 9 näher erläutert. Der E u G H orientiert seine Rechtsprechung maßgeblich an den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, so wie sie in den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten und in den internationalen Verträgen zum Schutz der Menschenrechte, besonders der E M R K , anerkannt und garantiert werden. Die so gewonnenen Regeln

95

56

57

Präambel der EEA vom 26. Februar 1986, BGBl II S. 1102, 1986, ABl. 1987, Nr. L 169/1: „Entschlossen, gemeinsam für die Demokratie einzutreten, wobei sie sich auf die in den Verfassungen und Gesetzen der Mitgliedsstaaten, in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Europäischen Sozialcharta anerkannten Grundrechte, insbesondere Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, stützen", haben die vertragsschließenden Parteien beschlossen... Vgl. Art. F Abs. 2 des Vertrages über die Europäische Union, Rat der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.), 1992, S. 9. Vgl. etwa J. SCHWARZE Verfassungsrecht und europäisches Gemeinschaftsrecht (Fn. 93), S. 117; siehe DERS., Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, in: EuGRZ 1986, S. 293, 2 9 4 m . w . N . ; v g l . a u c h d i e Z u s a m m e n s t e l l u n g b e i W . HUMMER/B. SIMMA/C. VEDDER/F. EMMERT

Europarecht in Fällen, 1991, S. 144 ff. Rs 29/69, Stauder ./. Stadt Ulm, EuGH, Urteil vom 12. November 1969, Amtl. Slg. 1969, S. 419. 99 Verb. Rs 43 u. 63/84, Flämische Bücher, EuGH, Urteil vom 17. Januar 1984, Amtl. Slg. 1984, S. 19 ff; ferner zu den Grenzen des Schutzes der Meinungsfreiheit kraft Gemeinschaftsrechts Rs C-159/90 S. Grogan ./. The Society for the protection of Unborn Children Ireland Ltd., EuGH, Urteil vom 4. Oktober 1991. 100 Rs 130/75, Frais ./. Rat, EuGH, Urteil vom 27. Oktober 1976, Amtl. Slg. 1976, S. 1589 ff. 10 ' Verb. Rs 17 u. 20/61, Klöckner u.a. ./. Hohe Behörde (Schrottumlage), EuGH, Urteil vom 13. Juli 1962, Amtl. Slg. 1962, S. 653 ff. 102 Rs 136/79, National Panasonic ./. Kommission, EuGH, Urteil vom 26. Juni 1980, Amtl. Slg. 1980, S. 2033 ff; verb. Rs 46/87 u. 227/88, Hoechst ./. Kommission, EuGH, Urteil vom 21. September 1989, Amtl. Slg. 1989, S. 2859 ff. 103 Rs 98/79, Pecastaing ./. Belgien, EuGH, Urteil vom 5. März 1980, Amtl. Slg. 1980, S. 691; Rs 222/86, G. Heßens ./. UNECTEF, EuGH, Urteil vom 15,Oktober 1987, Amtl. Slg. 1987, S. 4097; Rs 191/81, FEDIOL ./. Kommission, EuGH, Urteil vom 4. Oktober 1983, Amtl. Slg. 1983, S. 2913. 104 Dazu näher J. SCHWARZE Die Befugnis zur Abstraktion im europäischen Gemeinschaftsrecht, Baden-Baden 1976, S. 105 ff. 98

1. Kapitel. Grundlagen

78

fügt er den Zwecken der Gemeinschaft entsprechend („gemeinschaftsadäquat") in das europäische Gemeinschaftsrecht ein.105 67 Als Reaktion auf die fortentwickelte und verfeinerte europäische Grundrechtsrechtsprechung sah das Bundesverfassungsgericht sodann in einer Art „umgekehrtem Solange-Beschluß" seine Grundrechtszweifel als prinzipiell überwunden an und stellte entsprechend fest: „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften, einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzusetzen ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendung von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen."106 68

In jüngster Zeit hat das Thema der Beziehungen von deutschem Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht gleichwohl in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung und mehr noch in einzelnen Äußerungen des Schrifttums eine Neubelebung erfahren.107 Vor dem BVerfG sind zwei Anträge gescheitert, die darauf abzielten, durch Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes die Mitwirkung der Bundesregierung bei der Verabschiedung gemeinschaftsrechtlicher Gesetzgebungsakte zu untersagen.108 In der Literatur sind erneut Zweifel erhoben worden, ob der vom EuGH erarbeitete europäische Grundrechtsstandard ausreichend sei, um 105

106

107

Rs 44/79, Hauer ./. Land Rheinland-Ρfa¡z, EuGH, Urteil v o m 13. Dezember 1979, Amtl. Slg. 1979, S. 3727, 3728, Leitsatz 3 m. Anm. B. BEUTLER in: EuR 1980, S. 130, 131; vgl. zur Entwicklung der Rspr. des E u G H hinsichtlich der Grundrechte: BEUTLER/BIEBER/PIPKORN/ STREIL Europäische Gemeinschaft (Fn. 3), S. 2 1 9 ff; F. CAPELLI I principi generali come fonte di diritto, Diritto Comunitario e degli Scambi Internazionali 1986, S. 541 ff; H. RASMUSSEN Between Self-Restraint and Activism: A Judicial Policy for the European Court, in: ELR 1988, S. 28 ff. B V e r f G E 73, 339 (340) („Solange II"); B V e r f G E 75, 233; B V e r f G E 76, 93 ff (EuGH als gesetzlicher Richter); vgl. auch die Entscheidung zum Nachtarbeitsverbot BVerfGE, Urteil v o m 28.1.1992, zu § 19 A Z O , - 1 BvR 1025/82, 1 B v L 16/83, 1 BvL 1 0 / 9 1 - , in Auszügen abgedruckt in: N J W 1992, S. 964 ff. K . H. FRIAUF/R. SCHOLZ Europarecht und Grundgesetz, 1990, mit kritischer Besprechung P. BADURA in: A ö R

108

( 1 1 5 ) 1 9 9 0 , S . 5 2 5 ; R . STREINZ B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t l i c h e r

Grundrechts-

schutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, mit kritischer Besprechung CH. TOMUSCHAT in: D Ö V 1990, S. 672 f; ferner R. SCHOLZ Wie lange bis „Solange III"?, in: N J W 1990, S. 1990 ff; kritisch zu den erwähnten literarischen Äußerungen ebenfalls U. EVERLING Brauchen wir „Solange III"? (Fn. 93), S. 195 ff sowie CH. TOMUSCHAT,Aller guten Dinge sind III? — Zur Diskussion um die Solange-Rechtsprechung des BVerfG, in: EuR 1990, S. 340 ff. Vgl. die Entscheidungen des B V e r f G v o m 1 1 . 0 4 . 1 9 8 9 - Rundfunkrichtlinie - , B V e r f G E 80, 7 4 f , und v o m 12.05.1989 - Tabakrichtlinie - , EuR 1989, 2 7 0 f f , dazu G. NICOLAYSEN Tabakrauch, Gemeinschaftsrecht und Grundgesetz, in: EuR 1989, S. 2 1 5 ff.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz

(VON S I M S O N / S C H W A R Z E )

79

auf eine jedenfalls ergänzende Kontrolle durch das BVerfG bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrechtsakten in deutsches Recht verzichten zu können. 109 Aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts besteht aber kein Anlaß, den in 6 9 dem „Solange II"-Beschluß des BVerfG 1 1 0 erzielten Ausgleich zwischen den Erfordernissen der europäischen Integration und den Geboten des deutschen Grundgesetzes erneut in Frage zu stellen. 111 Auch erscheint es in einer rechtsvergleichenden Betrachtung wenig sinnvoll, hinter der Linie zurückzubleiben, die neuerdings auch von denjenigen nationalen Gerichten akzeptiert wird, die wie etwa der französische Conseil d'Etat dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts traditionell eher ablehnend oder jedenfalls zögernd gegenüberstanden. 112 Ein Einbruch in die eigene Rechts- und Verfassungsordnung wird um so 7 0 bedenklicher erscheinen, je mehr man sich vom Bilde eines potentiell allzuständigen Staates leiten läßt, der nach wie vor seine öffentlichen Angelegenheiten allein und in eigener Regie meistern könne. Wenn demgegenüber wahrgenommen wird, wieviele politische, wirtschaftliche und soziale Aufgaben heute nur noch in grenzüberschreitender internationaler Zusammenarbeit bewältigt werden können, wenn also die Vorstellung von der „überstaatlichen Bedingtheit des Staates"113 in das Bewußtsein tritt, so erscheinen auch Einbußen an eigener staatlicher Hoheitsentfaltung und die durch internationale Kooperation bedingte Unterwerfung unter ein internationales Rechtsregime weit weniger als Eingriffe in die Identität und Struktur des eigenen Verfassungssystems.114

109 1,0 111

112

1,3 114

Vgl. die Nachweise oben Fn. 107. BVerfGE 73, 339 ff; EuR 1987, S. 51 ff. Vgl. besonders U. E V E R L I N G Brauchen wir „Solange III"? (Fn. 93), S. 195 ff; auch der Präsident des BVerfG, R. H E R Z O G , hält die richterliche Kontrolle von EuGH und BVerfG jedenfalls bei der Auslegung der spezifisch wirtschaftlichen Grundrechte wie Art. 12 und Art. 14 (Berufs- und Eigentumsfreiheit) für einander ebenbürtig, vgl. seinen Beitrag „Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen des Binnenmarktes aus deutscher Sicht", in: Bitburger Gespräche 1990, Jahrbuch der Gesellschaft für Rechtspolitik, S. 1, 3. Ablehnung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts durch den Conseil d'Etat etwa in dessen Urteil vom 1.3.1968, EuR 1968, S. 317; neuerdings hat der Conseil d'Etat demgegenüber den Vorrang des Gemeinschaftsrechts bejaht. Siehe den Beschluß vom 20.10.1989 (Nicolo), Ree. 1990, S. 190; EuR 1990, 62; EuGRZ 1990, 99; dieser Beschluß ist inzwischen durch die Entscheidung Boisdet vom 24.9.1990, EuZW 1991, 124ff, bestätigt worden, wo der Conseil d'Etat den Vorrang von Verordnungen der Gemeinschaft bejaht hat. Dazu R. STOTZ Vorrang des Gemeinschaftsrechts, Anmerkungen zum Boisdet-Urteil des Conseil d'Etat, in: EuZW 1991, S. 110 ff; J . L . D E W O S T Vorrang internationaler Verträge auch vor nachfolgenden nationalen Gesetzen — Zum Urteil Nicolo des französischen Conseil d'Etat vom 20.10.1989, in: EuR 1990, S. 1 ff, siehe ferner zuletzt M. FROMONT Das Verhältnis zwischen dem nationalen Recht und dem EG- bzw. Völkerrecht in Frankreich, in: EuZW 1992, S. 46 ff; vgl. auch die den Vorrang des Gemeinschaftsrechts heute grundsätzlich bejahende Haltung des Italienischen Verfassungsgerichtshofs; dazu G. G A J A New developments in a continuing story: the relationship between EEC law and Italian law, in: CMLRev. 1990, S. 83 ff. W. v. SIMSON Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, Berlin 1965, S. 186 ff. Hierzu W. v. SIMSON Einmischung oder nicht? Zur Durchlässigkeit der europäischen Staatsgrenzen, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 774 ff.

80

1. Kapitel. Grundlagen

71

Getreu dem eigenen Vorsatz im „Solange II"-Beschluß 115 ergibt sich für das BVerfG künftig die Konsequenz, entweder auf eine ergänzende Kontrolle am Maßstab der Grundrechte des deutschen Grundgesetzes mit Rücksicht auf die Grundrechtskontrolle durch den EuGH in concreto zu verzichten oder angesichts einstweilen kaum vorstellbarer neuer Entwicklungen von dem Vorbehalt allgemein Gebrauch zu machen und den Grundrechtsstandard des E u G H für die Zukunft nicht mehr zu akzeptieren. Im Einzelfall bleibt also für das BVerfG zu einer ergänzenden Korrektur grundsätzlich kein Raum.

72

Wenn das BVerfG im Beschluß zur Tabak-Etikettierungsrichtlinie entschieden hat, daß die Frage, ob der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung im Rahmen des ihm von einer EG-Richtlinie eingeräumten Gestaltungsspielraums deutsche Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte verletzt habe, „in vollem Umfang verfassungsgerichtlicher Uberprüfung" 116 unterliege, so ist diese Formulierung selbst interpretationsbedürftig.

73

Soweit es um die Vorgaben durch EG-Recht selbst geht, ist — wie auch das BVerfG in seinem Beschluß einräumt — allein der E u G H zur grundrechtlichen Überprüfung zuständig. Nur soweit innerhalb des vom Gemeinschaftsrecht eingeräumten Spielraums nationale Ausführungsmaßnahmen getroffen werden, bleibt für einen ergänzenden Rechtsschutz durch das BVerfG überhaupt Raum.

74

Dieser Raum verengt sich aber dadurch, daß der deutsche Gesetzgeber gerade durch die spezifische Art und Weise, wie er Gemeinschaftsvorgaben in innerstaatliches Recht umsetzt, deutsche Verfassungsgarantien verletzt haben müßte, um eine Korrektur und Kontrolle durch das BVerfG am Maßstab deutscher Grundrechte auszulösen.

75

Daß dies in der Praxis als äußerst selten einzuschätzen ist, beraubt diese Lösung nicht ihres rechtstheoretischen und rechtsdogmatischen Wertes.117

76

Wenn sich in einem solchen Fall der deutsche Gesetzgeber darauf beruft, er habe in Befolgung gemeinschaftsrechtlicher Gebote diese Umsetzung vorgenommen, ist das BVerfG vor Ausübung seiner eigenen materiellen Kontrolle freilich gehalten, zuvor die Auffassung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren darüber einzuholen, ob das Gemeinschaftsrecht so auszulegen ist, daß es dem nationalen Gesetz1,5 116 117

BVerfGE 73, 339. EuR 1989, 270. A. BLECKMANN Europarecht, 5. Aufl. 1990, Rdn. 167 ff; M. SCHWEITZER/W. HUMMER E u r o p a -

recht, 3. Aufl., 1990, S. 236. In seiner Entscheidung zum Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen hat das BVerfG kürzlich eine Vorlage gemäß Art. 100 G G mit der Begründung für entbehrlich erklärt, die einschlägige Rechtsprechung des E u G H habe bereits zur innerstaatlichen Unanwendbarkeit des entsprechenden Verbots in Deutschland geführt. Damit hat das BVerfG seine im „Solange II"-Beschluß eingeschlagene Linie eindrucksvoll bekräftigt und den Gleichklang von deutscher und europäischer Grundrechtsrechtsprechung bestätigt. BVerfG, Urteil vom 28.1.1992-1 1992,

S.

964

BvR

ff.

1025/82, 1 B v L 16/83, 1 B v L 10/91

-

in A u s z ü g e n a b g e d r u c k t in:

NJW

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

81

geber keinen anderen Weg läßt als den Verstoß gegen die eigenen Grundrechte. 118 Insoweit obliegt es dann dem EuGH, zu überprüfen, ob das Gemeinschaftsrecht überhaupt zu einer Verletzung deutscher Grundrechte bei der Umsetzung von Gemeinschaftsvorgaben zwingt oder ob nicht eine Interpretation des Gemeinschaftsrechts möglich ist, die eine Verletzung der deutschen Grundrechte von vornherein ausschließt. Dieses Verfahren ähnelt im Ergebnis der vom britischen House of Lords praktizierten Auslegungsmethode. Sie besteht darin, einen Konflikt mit dem Gemeinschaftsrecht dadurch zu vermeiden, daß nationales Recht als Regel jedenfalls so interpretiert wird, daß das (britische) Parlament einen Verstoß gegen europäische Grundsätze nicht gewollt haben könne. 119 c)

Die

deutsche Bundesstaatlichkeit

im europäischen

Integrationspro^eß

Es gehört zu den Folgen der Übertragung von Hoheitsrechten, daß die Gemein- 77 schaftsorgane im Rahmen der ihnen vertraglich eingeräumten Gesetzgebungsbefugnis in die Kompetenz der Bundesländer eingreifen können, ohne daß diesen dabei eine weitere Mitwirkungsbefugnis zustünde. Die mögliche Reichweite eines solchen Eingriffs wurde den Ländern spätestens durch das Grünbuch der EG-Kommission „Fernsehen ohne Grenzen" vor Augen geführt. 120 Es ist daher verständlich, daß besonders die möglichen Folgen für die bundesstaatliche Kompetenzverteilung als ein zentrales Problem im Zusammenhang mit der beabsichtigten Europäischen Politischen Union diskutiert werden. 121 Was die heutige Verfassungsrechtslage anbetrifft, so kann der Bund, wie zuvor erwähnt, 122 im Rahmen des Art. 24 Abs. 1 G G auch Länderkompetenzen übertragen. Das föderale Prinzip als „nur" innerstaatliches Zuordnungsprinzip zwischen Bund und Ländern stellt keine Schranke für die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen dar. 123 1,8

Ein Beispiel für ein solches Vorgehen bietet besonders das Urteil des E u G H im Fall Stauder gegen Stadt Ulm. Hier war nach Gemeinschaftsrecht darüber zu entscheiden, ob für die verbilligte Abgabe von Butter aus Gemeinschaftsbeständen an Sozialhilfeempfänger eine persönliche Namensangabe erforderlich war. Der Gerichtshof hat hier — nach allgemeiner Anerkennung der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht — in concreto einen Grundrechtsverstoß mit der Begründung verneint, die fragliche Gemeinschaftsregelung schreibe gar keine persönliche Namensnennung vor. Damit war auch der Vorwurf eines Eingriffs in die Menschenwürde bzw. das allgemeine Persönlichkeitsrecht ausgeschlossen. Rs 29/69, Stauder ./. Stadt Ulm, E u G H , Urteil v o m 12.11.1969, Amtl. Slg. 1969, S. 419 ff, E u R 1970, 39 m. Anm. C.-D. EHLERMANN.

119

Dazu etwa D. LASOK/J. W. BRIDGE Law and institutions of the European Communities, 5. Aufl. 1991, S. 427 f mit Nachweisen aus der Rspr; weitere Nachweise bei J . SCHWARZE Verfassungsentwicklung (Fn. 14), S. 15, 29; siehe ferner LORD BRIDGE OF HARWICH Attempts towards a European Constitution in the light of the British legal system in: Schwarze/Bieber (Hrsg.), Verfassung für Europa (Fn. 14), S. 115 ff und SIR GORDON SLYNN ebenda, S. 121. K o m D o k (84), S. 300 endg.; J . SCHWARZE (Hrsg.), Fernsehen ohne Grenzen, 1985; DERS. Rundfunk und Fernsehen im Lichte der Entwicklung des nationalen und des internationalen Rechts, 1986; s. in diesem Zusammenhang auch den Beitrag von W. HOFFMANN-RIEM Rundfunk in Europa zwischen Wirtschafts- und Kulturfreiheit, in: G . Nicolaysen/H. Quaritsch (Hrsg.), Lüneburger Symposium für H. P. Ipsen zur Feier des 80. Geburtstags, 1988, S. 75 ff.

120

121

Vgl. etwa CHR. STARCK Stärkere Bundesländer für Europa, in: F A Z ν. 25.2.1992, Nr. 47, S. 13.

122

STARCK

123

TOMUSCHAT B K

ebd. (Fn. 71), Art. 24 Rdn. 25; K .

STERN Staatsrecht B d . 1 ( F n . 4), S. 5 3 5 ff.

82

1. Kapitel. Grundlagen

78

Weit weniger eindeutig ist die Frage zu beantworten, ob und in welcher Form die Länder gegebenenfalls bei der Übertragung von Länderhoheitsrechten zu beteiligen sind. Damit ist zunächst der Aspekt der Mitwirkung des Bundesrates bei der Übertragung von Hoheitsrechten durch Gesetz gemäß Art. 24 Abs. 1 G G angesprochen. Der Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 G G sieht auch für den Fall der Übertragung von Hoheitsrechten der Länder eine Zustimmung des Bundesrates nicht vor. Dies steht im Gegensatz zu Art. 59 Abs. 2 S. 1 G G , der bei völkerrechtlichen Verträgen — im Rahmen des Vertragsgesetzes — die Möglichkeit eines Zustimmungsrechts des Bundesrates statuiert.124 Die Spannung zwischen den beiden Verfassungsvorschriften tritt dann hervor, wenn der Übertragung von Hoheitsrechten — wie regelmäßig — ein völkerrechtlicher Vertrag zugrunde liegt. Nach wohl überwiegender Ansicht, wenn auch mit dogmatisch unterschiedlichen Begründungen, geht in diesen Fällen Art. 24 Abs. 1 G G als die speziellere Regelung vor. Das bedeutet, daß das Übertragungsgesetz, auch bei der Übertragung von Länderhoheitsrechten, nicht von der Zustimmung des Bundesrates abhängt. Die Mitwirkung des Bundesrates ist auf die Möglichkeit des Einspruchs beschränkt. 125

79

Neben dem Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 G G spricht auch die Entstehungsgeschichte für die soeben wiedergegebene Auffassung. Der Antrag auf Einführung eines Zustimmungsvorbehaltes zugunsten des Bundesrates ist im Parlamentarischen Rat abgelehnt worden. 126 Angesichts dieses Interpretationsstandes zu Art. 24 Abs. 1 G G hat die Enquête-Kommission Verfassungsreform des Bundestages 1976 vorgeschlagen, in Art. 24 Abs. 1 G G einen Zustimmungsvorbehalt des Bundesrates bei der Übertragung von Länderkompetenzen einzuführen. 127

80

Die Grenzen, innerhalb derer Art. 24 Abs. 1 G G eine entwicklungsfähige Zusammenarbeit im Rahmen der europäischen Integration erlaubt, ergeben sich aus der Forderung des Bundesverfassungsgerichts, die Identität 128 der Verfassung selbst zu bewahren. In bezug auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern muß die 124

Siehe dazu im einzelnen O. ROJAHN in: I. von Münch, Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl., München 1983, Art. 59 Rdn. 30 f; vgl. auch G. RESS Das deutsche Zustimmungsgesetz zur E E A , in: E u G R Z 1987, S. 361 ff.

125

CH. TOMUSCHAT in: B K (Fn. 71), Art. 24 Rdn. 29; H. E . BIRKE D i e deutschen Bundesländer in

den Europäischen Gemeinschaften, Berlin 1973, S. 97 ff, 99; siehe ferner K. STERN Staatsrecht (Fn. 4), S. 534; IPSEN Europäisches Gemeinschaftsrecht (Fn. 30) S. 60; BADURA Buchbesprechung (Fn. 1 0 7 ) , S. 5 2 5 , 5 2 7 . 126 J ö R n.f. Bd. 1 (1951), S. 228, dazu im einzelnen BIRKE Bundesländer und E G (Fn. 125), S. 97. 127 BX-Drucks. 7/5924, Kap. 14, Abschn. 2.3. — abweichendes Sondervotum (keine Grundgesetzergänzung) W. KEWENIG. 128 „Solange I", Beschluß des BVerfG vom 29. Mai 1974, BVerfGE 37, 271 ff; „Solange II", Beschluß des BVerfG vom 22. Oktober 1986, BVerfGE 73, 339, 375 f; hierzu auch H. P. IPSEN in seiner Rede anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität des Saarlandes, Die europäische Integration in der deutschen Rechtswissenschaft, Festakt und Ehrenpromotion aus Anlaß des 40jährigen Bestehens des Europainstituts der Universität des Saarlandes, Ress/ Stein (Hrsg.) 1991, S. 45 (55): „Es fragt sich, ob das Bundesverfassungsgericht im anhängigen Verfahren von acht Ländern um die Rundfunkrichtlinie das bundesstaatliche Prinzip des Art. 79 III G G uneingeschränkt den Identitätsmerkmalen der Verfassung zurechnen und folglich die Übertragungskompetenz des Art. 24· I G G entsprechend begrenzen wird".

§4

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Formulierung des Bundesverfassungsgerichts wohl so verstanden werden, daß eine über Art. 24 Abs. 1 GG zu bewirkende Integration jedenfalls nicht zu einer Aufhebung der Gliederung der Bundesrepublik Deutschland in Länder und deren Degradierung als autonomer politischer Entscheidungseinheiten führen darf.129 Aber bereits unterhalb der Schwelle einer Auflösung der Bundesstaatlichkeit stellt sich die Frage, auf welchem Weg die Länder sich am Willensbildungsprozeß im Rahmen des gemeinschaftlichen Gesetzgebungsverfahrens beteiligen können. Eine unmittelbare Mitwirkung der Länder bei der Willensbildung der Gemeinschaftsorgane ist dabei allerdings nach der geltenden Vertragslage von vornherein auszuschließen. Insoweit gilt — in einer Formulierung von Hans Peter Ipsen —, daß die Gemeinschaften und ihre Organe mit „Landes-Blindheit geschlagen sind".130 Weder nach der Intention noch nach dem Wortlaut der Gemeinschaftsverträge nehmen diese von den Ländern der Bundesrepublik als staatlich-hoheitlichen Kompetenzträgern Kenntnis.131 Inwieweit den Ländern künftig auf der Ebene der Gemeinschaft eine eigenständig in Anspruch genommene Repräsentanz zusteht, wird später im Zusammenhang mit der Darstellung der Maastrichter Reformvorschläge behandelt. Es bleibt aber zu untersuchen, ob eine Mitwirkung der Länder bei der vorbereitenden Willensbildung des Bundes in der Wahrnehmung seiner Aufgaben als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft verfassungsrechtlich geboten ist. Von den Ländern wird teilweise die Ansicht vertreten, die Schaffung von Gemeinschaftsrecht, welches zu innerstaatlich unmittelbar anwendbaren Rechtsnormen führe, gehe weit über den durch Art. 32 Abs. 1 GG geschaffenen Rahmen hinaus.132 In der Konsequenz dieser Argumentation läge es, die Mitwirkung der Länder an Entscheidungen innerhalb der Bundesrepublik entsprechend den Regeln der Art. 30 ff., 70 ff. und 83 ff. GG zu beurteilen.133 Diese Auffassung muß sich freilich entgegenhalten lassen, daß das Recht der Europäischen Gemeinschaft anerkanntermaßen aus einer autonomen Rechtsquelle 129

G. RESS Die Europäischen Gemeinschaften und der deutsche Föderalismus, in: E u G R Z , 1986, S. 5 4 9 , 5 5 5 ; ä h n l i c h CH. TOMUSCHAT in: B K ( F n . 7 1 ) , A r t . 2 4 R d n . 6 8 a; K . STERN S t a a t s r e c h t

130

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(Fn. 4), Bd. 1, S. 536; G. SCHWAN Die deutschen Bundesländer im Entscheidungssystem der Europäischen Gemeinschaften, 1982, S. 84. H. P. IPSEN Als Bundesstaat in der Gemeinschaft, in: von Caemmerer/Schlochauer/Steindorff (Hrsg.), Probleme des europäischen Gemeinschaftsrechts, Festschrift f ü r W. Hallstein, Frankfurt 1966, S. 248, 256; in der Tendenz ebenso BADURA Buchbesprechung (Fn. 107), S. 525 ff. Zu den auf Grund der Maastrichter Beschlüsse neu eröffneten Möglichkeiten, Länderbelange über den zu schaffenden Regionalrat zur Geltung zu bringen, Art. 1 9 8 a des künftigen E G Vertrages, siehe unten Kap. III, 3, b). Zur Neufassung der Zusammensetzung des Rates siehe Art. 146 EG-Vertrag. SCHWAN B u n d e s l ä n d e r

im Entscheidungssystem

der

EG

(Fn.

129),

S. 9 9 ; D .

BLUMENWITZ

Europäische Gemeinschaft und Rechte der Länder, in: G S für Christoph Sasse (Fn. 3), S. 215, 227; M. SCHRÖDER Bundesstaatliche Erosionen in der europäischen Integration, in: J ö R 35 (1986), S. 83, 92; DERS. Föderalismus und Regionalismus in Europa, in: F. Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990, S. 117, 145 ff. SCHRÖDER Bundesordentliche Erosionen (Fn. 132), S. 93.

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1. Kapitel. Grundlagen

fließt und damit eindeutig vom innerstaatlichen Recht zu trennen ist.134 Für diese andersgelagerte rechtliche Konstellation ist die Anwendung der innerstaatlichen Kompetenzvorschriften hinsichtlich der Gesetzgebung weder vorgesehen noch angebracht. Insoweit kommt mangels vergleichbaren rechtlichen Tatbestandes auch eine analoge Anwendung des Art. 32 Abs. 3 GG, wie sie gelegentlich vertreten wird, 135 nicht in Betracht. Dies gilt um so mehr, als den Ländern hier nur eine Kompetenz im Bereich der auswärtigen Gewalt zugebilligt wird, die sich auf den Abschluß völkerrechtlicher Verträge beschränkt. Die Beschlußfassung in einer supranationalen Organisation wie der Europäischen Gemeinschaft kann jedoch nicht mit dem Abschluß eines völkerrechtlichen Vertrages gleichgesetzt werden.136 85

Die vom Grundgesetz gewollte internationale Zusammenarbeit in zwischenstaatlichen Einrichtungen i. S. d. Art. 24 GG würde jedenfalls entscheidend behindert, wenn der nach der Übertragung der Hoheitsrechte einsetzende Integrationsprozeß von verschiedenen Akteuren, dem Bund und den Ländern, unmittelbar gelenkt137 und ggf. widersprüchlich beeinflußt werden könnte.

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Dies schließt jedoch eine vorbereitende Mitwirkung der Länder bei der vom Bund vorgenommenen Festlegung der Haltung der Bundesrepublik in den Organen der Europäischen Gemeinschaft keineswegs aus, sondern läßt sie vielmehr bundesstaatsrechtlich erwünscht und ggf. sogar geboten erscheinen. Die Länder sind nach dem Grundsatz der Bundestreue138 verpflichtet, an der innerstaatlichen Umsetzung und zur Durchsetzung primären und sekundären Gemeinschaftsrechts mitzuwirken.139 Dieser Verpflichtung entspricht eine Pflicht des Bundes, bei allen bevorstehenden Beratungen und Verhandlungen im Rat, durch welche Länderinteressen berührt werden können, die Länder rechtzeitig zu informieren und anzuhören.140 Es ginge jedoch zu weit, aus der Pflicht der Bundestreue eine strikte rechtliche Bindung

134

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138

B V e r f G E 22, 293 (296); G. SCHWAN Bundesländer im Entscheidungssystem der E G (Fn. 129), S. 99, 100. SCHWAN Bundesländer im Entscheidungssystem der E G (Fn. 129), S. 107 f. RESS E G und Föderalismus (Fn 129), S. 549, 555. Dies schließt eine Interessenwahrnehmung durch Länderbüros etc. in Brüssel nicht aus; vgl. hierzu W. GRAF VITZTHUM Baden-Württemberg im bundesstaatlichen und internationalen Bezugsfeld, in: H. Maurer/R. Hendler (Hrsg.), Baden-Württembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, 1990, S. 600, 612. Allgemein zum Inhalt des Prinzips der Bundestreue B V e r f G E 1, 1 1 7 (131); 1, 299 (513 f); speziell zur Verpflichtung, an der Umsetzung völkerrechtlicher Verträge mitzuwirken, B V e r f G E 6, 309 ( 3 2 8 , 3 6 1 f ) ; MAUNZ in: M a u n z / D ü r i g , G G (Fn. 3 8 ) A r t . 3 7 R d n . 8 f f ; E . STEIN S t a a t s r e c h t , 1 9 8 8 ,

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S. 3 1 9 f f ; J. IPSEN Staatsrecht Bd. 1, 1989, S. 199 f. RESS E G und Föderalismus (Fn. 129), S. 549, 556; im Ergebnis ebenso, freilich mit anderer Begründung IPSEN Als Bundesstaat in der Gemeinschaft (Fn. 130), S. 248, 264: „nicht Bundestreue, sondern aus der Vergemeinschaftung des Gesamtstaates", a. A . SCHWAN Bundesländer im Entscheidungssystem der E G (Fn. 129), S. 167: Bundestreue nur als Auslegungsprinzip. RESS E G und Föderalismus (Fn. 129), S. 549, 556; IPSEN Als Bundesstaat in der Gemeinschaft (Fn. 130), S. 248, 254; ähnlich E. GRABITZ Die deutschen Länder in der Gemeinschaft, in: EuR 1987, S. 310, 316 f, der dies allerdings aus Art. 50 G G herleiten will.

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des Bundes an die Stellungnahme der Länder herzuleiten.141 Eine solche Interpretation würde der vom Bund gegenüber den anderen Mitgliedstaaten nach außen wahrzunehmenden Verantwortung in Gemeinschaftsangelegenheiten nicht gerecht. Als ungeschriebener Verfassungsgrundsatz füllt das Prinzip der Bundestreue die geschriebene Kompetenzverteilung des Grundgesetzes lediglich aus. Letztere ist im Bereich der europäischen Integration durch Art. 24 und 32 GG vorgenommen worden. Die nach Sinn und Entstehungsgeschichte auszulegende Kompetenzzuweisung an den Bund kann durch den ungeschriebenen Grundsatz der Bundestreue zwar ergänzt, nicht aber zugunsten der Länder wesentlich verschoben oder geändert werden.142 Insoweit kann aus dem Grundsatz der Bundestreue auch eine gelegentlich 87 vertretende „Kompetenzkompensation" nicht hergeleitet werden. 143 Das folgt bereits aus dem Begriff „Kompensation", der voraussetzt, daß ein Verlust a b z u gleichen ist. Soweit aber Art. 24 und Art. 32 GG auch eine Auslagerung von Länderhoheitsrechten ermöglichen, soll in der Abgabe solcher Rechte an die Gemeinschaft gerade kein kompensationspflichtiger Verlust liegen. Aus dem Gebot der Bundestreue144 läßt sich also nicht mehr herleiten als ein Informations- und Anhörungsanspruch, welcher den Ländern die Möglichkeit eröffnet, ihre Argumente und Ansichten vorzutragen und auf diesem Wege auf die Entscheidung des Bundes einzuwirken. Dem sollte die 1957 bei Abschluß des EWG-Vertrages vorgesehene pragmatische Lösung entsprechen, die eine Verfassungspraxis dahingehend in Aussicht nahm, daß bei Gemeinschaftsrechtsakten, welche Länderbelange berühren, die Länder zu unterrichten seien (Art. 2 Zustimmungsgesetz zum EWGVertrag).145 Die Festlegung einer reinen Unterrichtungspflicht hat die Länder freilich häufig 88 nicht zufriedengestellt. Der Spielraum zur Darlegung und Diskussion der Länderstandpunkte wurde von ihnen vielfach als zu eng empfunden. Nach längerer Diskussion anläßlich der Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 wurde das Konsultationsverfahren im entsprechenden Zustimmungsgesetz dann näher zugunsten der Länder ausgestaltet.146

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144 145

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RESS E G und Föderalismus (Fn. 129), S. 556. Ähnlich im Ergebnis auch RESS E G und Föderalismus (Fn. 1 2 9 ) , S. 5 5 6 . S C H R Ö D E R Bundesstaatliche Erosionen (Fn. 1 3 2 ) S. 8 3 ( 9 7 ) . Dazu neuestens eingehend H. B A U E R Die Bundestreue, 1992. BGBl. I I , 1 9 5 7 , S. 7 5 3 ; zur Geschichte vgl. G. S C H W A N Bundesländer im Entscheidungssystem der E G (Fn. 1 2 9 ) , S. 1 0 8 f; P. M A L A N C Z U K European affairs and the „Länder" states of the Federal Republic of Germany, in: CMLRev 1 9 8 5 , S. 2 3 7 , 2 4 2 ; D . B L U M E N W I T Z Europäische Gemeinschaft und Rechte der Länder (Fn. 132), S. 215, 217. BGBl. I I , 1986, S. 1102; dazu G. RESS Das deutsche Zustimmungsgesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte, in: E u G R Z 1987, S. 361 f; W . W E N G L E R Gedanken zum Mantelgesetz betreffend die Einheitliche Europäische Akte, in: W. Fiedler/G. Ress (Hrsg.), Verfassungsrecht und Völkerrecht, Gedächtnisschrift für W. K. Geck, 1989, S. 947 ff.

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1. Kapitel. Grundlagen

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Bemerkenswert ist dabei, daß die Bundesregierung gemäß Art. 2 Abs. 3 Zustimmungsgesetz147 nur aus unabweisbaren außen- und integrationspolitischen Gründen von der Stellungnahme des Bundesrates abweichen darf, soweit ein Vorhaben ausschließliche Gesetzgebungsmaterien der Länder betrifft. Dahinter steht das Bemühen der Länder, die Bundesregierung — ggf. auch rechtlich kontrollierbar — bei der Wahrnehmung ihrer Mitgliedschaftsrechte im Rat zu binden. Insgesamt dürfte dieses Verfahren dem Gebot der Bundestreue in vollem Umfang genügen. 148 Allerdings dürfte das Zustimmungsgesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte auch die Grenze dessen markieren, was unter dem Gesichtspunkt einer verfassungsgemäßen Mitsprache der Länder bei der Gestaltung der auswärtigen Beziehungen des Bundes noch zulässig erscheint. Die gelegentlich vorgebrachte Erwägung, die europäische Gemeinschaftspolitik sei von der Außenpolitik in Innenpolitik umgeschlagen, kann hier zu keiner anderen Bewertung führen. Sie setzt sich über die normative Trennung von deutscher Hoheitsgewalt und europäischer Gemeinschaftszuständigkeit hinweg und ist weder durch das deutsche Verfassungsrecht noch durch das Europarecht gerechtfertigt.

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Wenn von den deutschen Bundesländern aus Anlaß der Ratifizierung der Maastrichter Beschlüsse weiterreichende Forderungen erhoben wurden, erscheinen Bedenken angebracht, und zwar weniger im Hinblick auf das Bemühen der Länder, die ursprüngliche Gesetzeslage künftig mit Verfassungsrang auszustatten als gegen den Vorschlag, zu ihren Gunsten verfassungskräftig erweiterte Mitsprache- und Beteiligungsrechte einzuführen. 149 So verständlich es auch ist, daß die Bundesländer 147

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Art. 2 Abs. 3, 4 Zustimmungsgesetz EEA, BGBl. 1986 II, S. 1102 lautet in den entscheidenden Passagen wörtlich: Abs. 3: „Die Bundesregierung berücksichtigt diese Stellungnahme (die des Bundesrates, Anmerkung der Verfassser) bei den Verhandlungen. Soweit eine Stellungnahme ausschließliche Gesetzgebungsmaterien der Länder betrifft, darf die Bundesregierung hiervon nur aus unabweisbaren außen- und integrationspolitischen Gründen abweichen. Im übrigen bezieht sie die vom Bundesrat vorgetragenen Länderbelange in ihre Abwägung ein". Abs. 4: „Im Falle der Abweichung von der Stellungnahme des Bundesrates zu einer ausschließlichen Gesetzgebungsmaterie der Länder und im übrigen auf Verlangen teilt die Bundesregierung dem Bundesrat die Gründe dafür mit". Kritisch, weil die Rechte des Bundes übermäßig einschränkend, etwa RESS Zustimmungsgesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte (Fn. 146), S. 361 ff. Vgl. die Vorschläge in den Bundesratsdrucksachen 550/90 vom 24. August 1990, S. 6 und 680/ 91 vom 8. November 1991, S. 6, 7. Der Bundesrat forderte insbesondere, daß seinen Stellungnahmen Vorrang zukommen muß, wenn im Schwerpunkt die Zuständigkeiten der Länder berührt sind, ferner eine Länderbeteiligung im Ausschuß der Ständigen Vertreter und weiterer entsprechender Gremien einschließlich der bundesinternen Vorbereitung, soweit Interessen der Länder berührt sind, eine Vertretung der Bundesrepublik Deutschland im Rat durch die Länder dort, wo im Schwerpunkt die Zuständigkeiten der Länder berührt sind, sowie die Zustimmung des Bundesrates bei auf Art. 235 EWGV gestützten Maßnahmen, vgl. BR-Drucks. 680/91 v. 8.11.1991, S. 5 f. Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates am 21.12.1992 folgende Änderungen beschlossen (BGBl. I, S. 2086): 1. Nach Artikel 22 wird folgender Artikel 23 eingefügt: „Artikel 23 (1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und förderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem

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ihre Eigenstaatlichkeit und die ihnen verbleibenden Bereiche autonomer Aufgaben gegen deren Verlust an die fortschreitende Integration verteidigen wollen, so entstehen doch durch ausgedehntere Mitsprache- und Beteiligungsrechte erhebliche und letztlich überwiegende Gefahren für die notwendige Handlungsfähigkeit des Bundes bei der Teilnahme an der europäischen Gestaltung. 150 Im gesamtstaatlichen Interesse darf im Konflikt widerstreitender Verfassungsprinzipien (bundesstaatliche Mitsprache der Länder und Regierungsverantwortung des Bundes in Gemeinschaftsangelegenheiten) die erforderliche Flexibilität des Regierungshandelns beim Mitberaten und -entscheiden auf Gemeinschaftsebene nicht verlorengehen. Den Bund zugunsten der Länder nicht als maßgebliche Instanz in Gemeinschaftsangelegenheiten anzusehen,

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Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Art. 79 Abs. 2 und 3. (2) In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten. (3) Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union. Die Bundesregierung berücksichtigt die Stellungnahmen des Bundestages bei den Verhandlungen. Das Nähere regelt ein Gesetz. (4) Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären. (5) Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interessen der Länder berührt sind oder soweit im übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat, berücksichtigt die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates. Wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind, ist bei der Willensbildung des Bundes insoweit die Auffassung des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. In Angelegenheiten, die zu Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeminderungen für den Bund führen können, ist die Zustimmung der Bundesregierung erforderlich. (6) Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, soll die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen werden. Die Wahrnehmung der Rechte erfolgt unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. (7) Das Nähere zu den Absätzen 4 bis 6 regelt ein Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf." 2. Nach Artikel 24 Abs. 1 wird folgender Absatz 1 a eingefügt: „(1 a) Soweit die Länder für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind, können sie mit Zustimmung der Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen übertragen." So auch U . E V E R L I N G in: Kulturhoheit der Länder und Bildungspolitik der Europäischen Gemeinschaft, Landtag Baden- Württemberg (Hrsg.), 28. September 1990, S. 29, der insbesondere darauf hinweist, daß die Bundesrepublik Deutschland ihr Verfassungsziel einer europäischen Integration nur erreichen kann, wenn sie im Kreise der Mitgliedsstaaten zu einer flexiblen Kooperation in der Lage ist; zu Recht betont Everling, daß sich alle Verfassungsorgane diesem Ziel unterordnen müssen.

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1. Kapitel. Grundlagen

würde sich langfristig auch zu Lasten der Länder auswirken. Unter diesem Blickwinkel halten wir die Regelungen, die in Gestalt des neuen Art. 23 GG eingeführt wurden 151 sowie das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union, 152 für verfehlt. 153

III. Verfassungsperspektiven jenseits des Binnenmarktes 91 Der Binnenmarkt ist vielfach nur als eine Etappe auf dem Weg zu einer Politischen Union in Europa gedacht. Bereits von den Römischen Verträgen, insbesondere vom Gemeinsamen Markt des EWG-Vertrages, erhoffte man sich einen „spill-over"-Effekt in Richtung auf eine politische Integration der Mitgliedstaaten. 154 Die Einheitliche Europäische Akte hat Europa diesem Ziel ein beträchtliches Stück nähergebracht. 155 Aber auch sie weist, abgesehen von der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), 156 eine vorrangig ökonomische Zielsetzung 157 auf. 92

Mit den Beschlüssen der Regierungskonferenz von Maastricht 158 vom 10. Dezember 1991 wurde hingegen der Rahmen für zukünftige Entwicklungen weiter und ehrgeiziger gesteckt. Durch Vertrag soll das Ziel einer Europäischen Union verbindlich festgelegt werden. Allerdings versteht sich der beabsichtigte Vertrag über eine Europäische Union selbst wiederum nur als Teil eines fortlaufenden Einigungsprozesses, 159 der noch nicht abgeschlossen ist.

151 152

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Vgl. BGBl. 1992 I, S. 2086. Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union, BR-Drs. 630/92. Siehe auch R. SCHOLZ, Grundgesetz und europäische Einigung, in: N J W 1992, S. 2593 ff (2600), der einräumt, daß das angestrebte Verfahren nicht „konfliktfrei" angelegt ist.

' 5 4 NICOLAYSEN E u r o p a r e c h t ( F n . 4 ) S. 20; OPPERMANN E u r o p a r e c h t ( F n . 1 0 ) 1 9 9 1 , R d n . 2 4 —

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entsprechend der These vom „spill-over-Effekt" führt sektorale Integration zur Verflechtung immer weiterer Bereiche und schließlich zum Endstadium einer allgemein-politischen Föderation. Nach anfanglichen Zweifeln (siehe besonders P. PESCATORE Die Einheitliche Europäische Akte — eine ernste Gefahr für den Gemeinsamen Markt?, in: EuR 1986, 119 ff) hat sich hier später insgesamt eine positive Bewertung durchgesetzt; LADY D. ELLES The innovations introduced by the SEA: Some big steps forward, in: Schwarze (Hrsg.), Legislation for Europe 1992, BadenBaden 1987, S. 45 ff; A. DASHWOOD Majority voting in the Council, ebd. S. 79 ff; J.-L. DEWOST Le rôle de la Commission dans le processus législatif, ebd., S. 85 ff. G. JANNUZZI La Coopération Politique Européenne, in: J . Schwarze (Hrsg.), The external relations of the EEC, 1989, S. l l f f . Zur primär ökonomischen Zielsetzung etwa J . SCHWARZE Einführung, in: R. Bieber/ J . Schwarze (Hrsg.) Das europäische Wirtschaftsrecht vor den Herausforderungen der Zukunft, BadenBaden 1985, S. 9 ff; zu den verschiedenen Regelungsbereichen der EEA vgl. H.-J. GLAESNER Die EEA — Versuch einer Wertung, ebd., S. 9 ff. Text des Vertrages zur Gründung einer Europäischen Union vom 12. Februar 1992, Rat der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.), Luxemburg 1992. Zur Erklärung des europäischen Einigungsgeschehens als Prozeß siehe J . SCHWARZE Konzeption und Entwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts, in: Basler Juristische Mitteilungen, 1992, S . 1, 12.

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Um die grundsätzlichen Auswirkungen dieser europäischen Verfassungsreform 93 auf das deutsche Verfassungsrecht einschätzen zu können, soll zunächst die Gestalt der geplanten Europäischen Union näher beschrieben werden. Sodann ist darzulegen, in welchen Bereichen der Europäischen Gemeinschaft, die künftig das Kernstück der Europäischen Union ist, neue Zuständigkeiten zuwachsen müßten. Mit dem Kompetenzzuwachs der Gemeinschaft ist die Frage verknüpft, wie sich die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gemeinschaftsorganen, insbesondere zwischen Rat, Kommission und Europäischem Parlament entwickeln wird. Damit sind die maßgeblichen Gesichtspunkte benannt, anhand derer sich die europäische Verfassungsentwicklung einigermaßen verläßlich einschätzen läßt. Einstweilen liegen freilich als Ergebnis von Maastricht nur Beschlüsse der Regierungen der Mitgliedstaaten vor. Eine rechtlich bindende Kraft für die Verfassungsentwicklung in der Gemeinschaft können sie erst erhalten, wenn die beabsichtigten Vertragsänderungen von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind (Art. 236 EWGV). Hier kann es nicht darauf ankommen, für jede Spezialfrage oder jede in den Einzelheiten noch gar nicht absehbare Entwicklung eine detaillierte verfassungsrechtliche Beurteilung zu liefern. Vielmehr geht es allein darum, den Einfluß zu kennzeichnen, den die jetzt in ihren Grundzügen zu Tage tretende mittelfristige europäische Verfassungsentwicklung für das deutsche Verfassungsrecht haben wird. 1. Die Gestalt der Europäischen Union Die Europäische Union ist zwar noch nicht der europäische Bundesstaat, wie er 94 Walter Hallstein vorschwebte. 160 Dieser Begriff verleiht aber einer föderalen Ordnung Europas161 jedenfalls deutlichere Konturen. Die Europäische Union stellt nach den Maastrichter Beschlüssen eine Stufe „bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar, in der die Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden" (Art. A Unionsvertrag). Zusammen mit dem an anderer Stelle näher zu behandelnden Subsidiaritätsprinzip 162 gewinnt damit der Entwurf eines föderalistisch strukturierten Europas Gestalt, auch wenn der eigentliche Begriff mit Rücksicht auf seinen eher gegenteiligen Bedeutungsgehalt in Großbritannien im Unionsvertrag nun nicht ausdrücklich verwendet wird. 163 Den Kern der Union bilden die bestehenden Europäischen Gemeinschaften 95 Euratom (EAG), die Montanunion (EGKS) sowie die künftig in „Europäische Gemeinschaft" umbenannte Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Daneben soll eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Fragen der inneren Angelegenheiten

162 163

W. HALLSTEIN Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 39 ff. Zur Bedeutung des Föderalismus in Europa siehe u. a. E OSSENBÜHL (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, (Fn. 132) m.w.N. S. u. Rdn. 101 f. Die Verständigungsschwierigkeiten über den Inhalt des Prinzips Föderalismus führten dazu, daß der Begriff „föderal" (federal) in Maastricht von der Konferenz in den Eingangsartikeln f ü r die Politische Union gestrichen wurde. Vgl. Wortlaut des Vertrages über die Europäische Union, Rat der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.), Luxemburg 1992, S. 7, Titel I, Art. A .

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1. Kapitel. Grundlagen

und der Justiz sowie auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik ins Leben gerufen werden. Auf diesen drei Säulen ruht das gemeinsame Dach der Europäischen Union. Sie ist allerdings — im Gegensatz zu den Gemeinschaften — selbst nicht rechtsfähig. Die Tätigkeit der Gemeinschaftsorgane, mit Ausnahme des EuGH, erstreckt sich auch auf die Europäische Union. Politisches Leitungsgremium ist der Europäische Rat, der sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten der Kommission zusammensetzt. Unterstützt wird der Rat von den Außenministern und einem Kommissionsmitglied. 96 Trotz der organisatorischen und personellen Verschränkung der Union mit den Institutionen der drei Gemeinschaften tragen die für sie geltenden Beschlußverfahren stark intergouvernementale Züge. Dies kommt sowohl bei den vereinbarten Verfahren zur Koordinierung der Außen- und Sicherheitspolitik als auch bei der Zusammenarbeit in Fragen der inneren und Justizangelegenheiten zum Ausdruck. Hier wurde — jedenfalls zunächst — bewußt auf die weiterreichenden Verfahren und Handlungsformen der Europäischen Gemeinschaft verzichtet. Die Einbußen an staatlicher Souveränität sind insofern also begrenzt. 97 Insbesondere die Asylpolitik und Fragen der Einwanderung aus Drittstaaten sind lediglich „Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse" im Rahmen der Zusammenarbeit der Unionsmitglieder in den Bereichen Justiz und Inneres.164 Allerdings soll in Zukunft die Europäische Gemeinschaft darüber entscheiden, welche Angehörigen von Drittstaaten zur Einreise in die Europäische Gemeinschaft ein Visum benötigen (Art. 100 c EG-Vertrag). Dennoch haben sich damit die Hoffnungen mancher Staaten — wie etwa der Bundesrepublik Deutschland — auf eine weitergehende Einbeziehung dieser Sachgebiete in den Kreis der Gemeinschaftszuständigkeiten nicht erfüllt. Es erweist sich angesichts divergierender tatsächlicher und rechtlicher Ausgangslagen in den Mitgliedstaaten offenbar als sehr schwierig, insoweit eine gemeinsame Konzeption zu entwickeln und durchzusetzen. Im Vordergrund der gegenwärtig angestellten Überlegungen stehen gemeinsame Vorkehrungen, den Mißbrauch des Asylrechts zu verhindern, ohne dessen humanitäres Anliegen zu gefährden. Mittel- bis langfristig wird jedoch eine Harmonisierung des Asylrechts der Mitgliedstaaten unumgänglich sein. 98 Die Europäische Union begründet mit der „Unionsbürgerschaft"165 einen Status, der für den einzelnen ebenso wie für die Mitgliedstaaten von erheblicher Bedeutung ist. Sie soll im Vertrag über die Europäische Gemeinschaft näher ausgeformt werden. Unionsbürger soll sein, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Union besitzt. Jeder Unionsbürger hat u. a. prinzipiell das Recht, sich im Hoheitsgebiet aller Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Ferner kann er sich mit Petitionen an das Europäische Parlament wenden (Art. 138 d EG-Vertrag) sowie Beschwerden an einen vom Parlament zu ernennenden Bürgerbeauftragten richten

164 165

Titel VI, Art. Κ . 1 des Unionsvertrages. Vgl. Art. 8, 8a—e des Vertrages über die Europäische Union, Rat der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.), Luxemburg 1992, S. 15.

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(Art. 138 e EG-Vertrag). Darüber hinaus genießt er in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive kommunale Wahlrecht.166 Allerdings muß der Rat bis zum 30. Dezember 1994 noch die Modalitäten des Kommunalwahlrechts festlegen, wobei er Ausnahmeregelungen vorsehen kann, die durch besondere Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt sind. Für die Bundesrepublik ergab sich nun die Situation, die das Bundesverfas- 99 sungsgericht in seiner ablehnenden Entscheidung zum Ausländerwahlrecht in Schleswig-Holstein bereits in Betracht gezogen hatte.167 Danach wäre die EG-weite Einführung eines kommunalen Ausländerwahlrechts, für die Art. 28 Abs. 1 GG geändert werden müßte, an der Vorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG zu messen. Daran soll freilich nach Auffassung des Verfassungsgerichts im Ergebnis die Einführung eines Kommunalwahlrechts für Ausländer im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft nicht scheitern.168 Allerdings handelt es sich bei dem Hinweis des BVerfG nur um ein obiter dictum, das zudem nicht frei von dogmatischen Unklarheiten ist. Im Mittelpunkt der Entscheidung des BVerfG steht Art. 28 Abs. 1 GG, der bestimmt, daß das „Volk" in den Ländern, Kreisen und Gemeinden eine Vertretung haben muß. Nach Ansicht des Gerichts entspricht der Volksbegriff in Art. 28 Abs. 1 GG demjenigen in Art. 20 Abs. 2 GG.169 Die letztgenannte Bestimmung enthält nach Auffassung des Verfassungsgerichts nicht nur die allgemeine Umschreibung des Grundsatzes der Volkssouveränität. Vielmehr bestimme diese Vorschrift darüber hinaus, daß mit dem Begriff „Volk" das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland gemeint sei, das grundsätzlich durch die deutsche Staatsangehörigkeit von anderen Personengruppen abgegrenzt werde.170 Offen bleibt nun bei dieser Entscheidung des BVerfG, wie das Junktim zwischen der Eigenschaft als Deutscher und der Zugehörigkeit zum Staatsvolk gelockert werden kann. Denn zu den Verfassungsprinzipien, die Art. 79 Abs. 3 GG dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers entzieht, gehören — neben anderen — die Grundsätze des Art. 20 Abs. 2 GG. Da aber das „Volk" im Sinne von Art. 20 Abs. 2 GG durch die deutsche Staatsangehörigkeit definiert wird und in dieser Hinsicht mit dem „Volk" identisch ist, das gemäß 166

Die Auffassung von E.-W. BÖCKENFÖRDE Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 314, ein Ausländer sei, „politisch gesehen,... Gast" in der Bundesrepublik, wird sich spätestens mit Inkrafttreten des Unionsvertrages zumindest für EG-Ausländer nicht mehr halten lassen. Durch die Unionsbürgerschaft gewinnt die ökonomische und politische „Schicksalsgemeinschaft" der Europäer eine rechtliche Gestalt, die nahezu gleichwertig an die Seite der Staatsangehörigkeit tritt und deren Bedeutung zunehmend relativieren wird.

167

Entscheidung B V e r f G v o m 31. Oktober 1990, B V e r f G E 83, 37 ff. Die maßgebliche Passage der Entscheidung über das schleswig-holsteinische Gesetz zur Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes lautet wörtlich: „Nach alledem ist es dem Landesgesetzgeber verwehrt, auch Ausländern das Wahlrecht zu den Vertretungen des Volkes in den Gemeinden einzuräumen. Das schleswig-holsteinische Gesetz zur Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes v o m 9. Februar 1989 ist daher mit Art. 28 Abs. 1 Satz 2 G G unvereinbar und nichtig. Daraus folgt nicht, daß die derzeit im Bereich der Europäischen Gemeinschaften erörterte Einführung eines Kommunalwahlrechts für Ausländer nicht Gegenstand einer nach Art. 79 Abs. 3 G G zulässigen Verfassungsänderung sein kann." (BVerfGE 83, 37 (59)).

168

169 170

Vgl. B V e r f G E 83, 37 (53). B V e r f G E 83, 37 (50).

92

1. Kapitel. Grundlagen

Art. 28 Abs. 1 GG auch in den Ländern, Kreisen und Gemeinden die Legitimationsgrundlage des staatlichen Handelns bildet, bleibt letztlich dogmatisch unklar, 171 wie Art. 28 Abs. 1 GG geändert werden kann, ohne die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG zu verletzen. 100

Anläßlich des Ratifikationsverfahrens für den Vertrag von Maastricht wurde Art. 28 Abs. 1 GG dahingehend geändert, daß bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden auch Ausländer, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, wahlberechtigt und wählbar sind. 172 Diese Verfassungsänderung hält sich mithin im Rahmen dessen, was vom Bundesverfassungsgericht als Gegenstand einer zulässigen Ergänzung des Grundgesetzes angesehen wird. 2. Das Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten a)

Subsidiarität

101 Die föderale Ausrichtung der Union wird dadurch unterstrichen, daß die Wahrnehmung konkurrierender Zuständigkeiten durch die Europäische Gemeinschaft im geplanten Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag), der den bisherigen EWG-Vertrag ablösen soll, ausdrücklich unter dem Vorbehalt einer Subsidiaritätsklausel steht: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher, wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen, besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können". 102

Die Subsidiaritätsklausel 173 beschränkt den Handlungsspielraum der Union auf eine „compétence d'attribution". Sie legt damit dem Gemeinschaftsgesetzgeber eine erhöhte Rechtfertigungslast auf Er muß in jedem einzelnen Fall ausdrücklich und schlüssig darlegen, aus welchen Gründen die Gemeinschaft eine Regelungszuständigkeit in Anspruch nehmen will. Als allgemeines Prinzip erscheint diese Subsidia171

172

173

Der Hinweis BÖCKENFÖRDES Staat, Verfassung, Demokratie (Fn. 166), S. 3 1 3 Fn. 43, die Verfassungswidrigkeit der Kommunalwahlbestimmungen sei nicht aus Art. 20 Abs. 2 G G abgeleitet worden, erscheint angesichts des hier dargestellten klaren Argumentationsganges des BVerfG (E 83, 37 (53 f)) nicht überzeugend. Vgl. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v o m 21. Dezember 1992, BGBl. I, S. 2086; ein Kommunalwahlrecht für EG-Ausländer besteht bereits in Dänemark, Irland und den Niederlanden. Vgl. dazu mit ausführlichen rechtsvergleichenden Hinweisen den Bericht der EG-Kommission „Das Wahlrecht der Bürger der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft bei Kommunalwahlen", Bulletin der E G , Beilage 7/86, S. 31 ff sowie U. WÖLKER in: v. der Groeben/Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EWG-Vertrag, (Fn. 42) Vorbemerkung zu den Art. 48 —50, Rdn. 11. Siehe ferner den entsprechenden Richtlinien-Vorschlag der EG-Kommission für ein gemeinschaftsweites Kommunalwahlrecht, in: Bulletin der EG, Beilage 2/88. In einen Teilbereich — der gemeinsamen Umweltpolitik — ist das Subsidiaritätsprinzip bereits heute eingeführt; vgl. Art. 130r Abs. 4; zu den hier in der Sache sich stellenden Problemen eindringlich W. MAIHOFER Umweltpolitik in der Industriegesellschaft, in: A . F. Pavlenko/H. Sund (Hrsg.) Umwelt in Europa, 1991, S. 7 ff (insb. S. 19 f).

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

93

ritätsklausel durchaus geeignet, den Konflikt zwischen zunehmend zentralistischer Gemeinschaftsstruktur und föderalistischer Binnengliederung des deutschen Bundesstaates zu entschärfen. b) Die Wirtschafts-

und Währungsunion

Weitreichende politische und wirtschaftliche Auswirkungen sind von der Wirtschafts- 103 und Währungsunion zu erwarten, die im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft in drei Stufen bis spätestens zum 1.1.1999 verwirklicht werden soll. Danach soll eine Europäische Zentralbank (EZB) 174 die Verantwortung für eine gemeinsame europäische Währung übernehmen. Bereits mit Beginn der zweiten Stufe am 1.1.1994 wird das Europäische Währungsinstitut (EWI) seine Arbeit aufnehmen. Es soll u. a. die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Zentralbanken sowie die Koordinierung der Geldpolitiken der Mitgliedstaaten mit dem Ziel verstärken, die Preisstabilität aufrechtzuerhalten. Insbesondere hat das EWI die Aufgabe, die dritte Stufe vorzubereiten. Dafür soll es die Instrumente und Verfahren entwickeln, die dann zur Durchführung einer einheitlichen Geld- und Währungspolitik erforderlich sind. Vor Eintritt in die dritte Stufe muß der Rat anhand sog. Konvergenzkriterien feststellen, welche Mitgliedstaaten die ökonomischen Voraussetzungen für eine Teilnahme erfüllen. Großbritannien hat sich aus prinzipiellen Erwägungen vorbehalten, an einer Währungsunion nicht teilzunehmen, sofern es dies für geboten hält. 175 Dänemark wurde ebenfalls die Möglichkeit einer Freistellung eingeräumt, da nach innerstaatlichem Verfassungsrecht vor einem endgültigen Beitritt zur Währungsunion eine Volksabstimmung erforderlich sein könnte. 176 Sofern ein Mitgliedstaat an der Währungsunion teilnimmt, werden die nationalen Notenbanken in ein Europäisches System der Zentralbanken (ESZB) eingegliedert, das von den Beschlußorganen der EZB geleitet wird. Das vorrangige Ziel des ESZB ist es, Preisstabilität zu gewährleisten. Gemäß Art. 105 Abs. 2 des EG-Vertrages wird es die Aufgabe des ESZB sein, die Geldpolitik der Gemeinschaft festzulegen und auszuführen, Devisengeschäfte im Einklang mit den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen zu tätigen, die offiziellen Währungsreserven der Mitgliedstaaten zu halten und zu verwalten sowie das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme zu unterstützen. Nach Art. 107 des angestrebten EG-Vertrags genießen die EZB und die Natio- 104 nalen Notenbanken bei der Wahrnehmung ihrer gemeinschaftsrechtlich geregelten Befugnisse eine weitgehende Unabhängigkeit von anderen Organen und Institutionen ,74

175

176

Zu den Problemen ihrer Errichtung siehe etwa H. J. HAHN Vom europäischen Währungssystem zur europäischen Währungsunion, Reihe Vorträge und Reden aus dem Europa-Institut der Universität des Saarlandes, Nr. 196, 1990, S. 16 ff; vgl. ferner U. HÄDE Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, in: E u Z W 1992, S. 171 ff. Protokoll über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, Vertrag über die Europäische Union v o m 7. Februar 1992, Rat der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.), Amt f ü r europäische Veröffentlichungen, 1992, S. 191 — 193. Protokoll über einige Bestimmungen betreffend Dänemark, Vertrag über die Europäische Union, Rat der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.), A m t f ü r europäische Veröffentlichungen, 1992, S. 194.

94

1. Kapitel. Grundlagen

der Gemeinschaft sowie von den Regierungen der Mitgliedstaaten und anderen Stellen, von denen Einflußnahmen ausgehen könnten. 105

Ersichtlich haben sich hier deutsche Vorstellungen maßgeblich ausgewirkt. Allerdings bedeutet der schrittweise Übergang zu einer europäischen Geldpolitik mit einer gemeinsamen Währung, daß die Mitgliedstaaten in beträchtlichem Umfange auf die Ausübung ihrer Souveränität verzichten müssen. 177

106

Zwei Einflußzonen der Wirtschafts- und Währungsunion sind insoweit besonders hervorzuheben. Zum einen die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten. Mit Beginn der zweiten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Januar 1994 überwacht die Kommission die Entwicklung der Haushaltslage und die Höhe des öffentlichen Schuldenstandes in den Mitgliedstaaten 178 im Hinblick auf die Feststellung schwerwiegender Fehler (Art. 104 c Abs. 2 EG-Vertrag). Sofern in einem Mitgliedstaat ein übermäßiges Defizit besteht oder entstehen könnte, legt die Kommission dem Rat einen entsprechenden Bericht vor. Teilt der Rat die Einschätzung der Kommission, so richtet er an den betroffenen Mitgliedstaat Empfehlungen zum Abbau des Defizits, die in diesem Stadium nicht veröffentlicht werden (Art. 104 c Abs. 7 EG-Vertrag). Kommt der Mitgliedstaat den Empfehlungen nicht nach, hat der Rat das Recht, sie zu veröffentlichen. Mit Beginn der dritten Stufe, also spätestens am 1.1.1999 (Art. 109 f Abs. 4 EG-Vertrag), können dann neben anderen Sanktionen zusätzlich Geldbußen verhängt werden (Art. 104 c Abs. 11, 109 e Abs. 3 EG-Vertrag), sofern dem betreffenden Staat nicht eine Ausnahme gemäß Art. 109 k Abs. 1 u. 3 EGVertrag eingeräumt wird.

107

Zum anderen werden sich Stellung und Aufgabe der Deutschen Bundesbank grundlegend wandeln. Während die Bundesbank derzeit noch gemäß § 3 Bundesbankgesetz die Aufgabe hat, unabhängig von Weisungen der Bundesregierung (§ 12 BBankG), den Geldumlauf und die Kreditversorgung der Wirtschaft mit dem Ziel zu regeln, die Währung, d. h. die DM, zu sichern, wird sie im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion nach den Weisungen des Direktoriums der EZB handeln müssen (Art. 12.1 Protokoll über die Satzung ESZB und EZB). Zwar ist die Bundesbank bereits gegenwärtig bei der Gestaltung ihrer Währungspolitik durch internationale Absprachen verpflichtet, 179 jedoch besteht zu den anderen Notenbanken ein Gleichordnungsverhältnis, in dem bindende Weisungen nicht erteilt werden

177

Als Vorstufe zur Europäischen Währungsunion hat bereits das seit 1979 bestehende Europäische Währungssystem (EWS) den währungspolitischen Spielraum der beteiligten Mitgliedstaaten beträchtlich eingeengt. Zur Rechtsnatur und Entwicklungsgeschichte des E W S vgl. nur H. J. HAHN Währungsrecht, 1990, S. 1 8 0 f f m.w.N. Das System hat sich nach allgemeiner Ansicht bisher bewährt. Eine Währungsunion würde im Grunde nur insoweit darüber hinausgehen, als eine gemeinsame Währung die noch bestehende Elastizität der Wechselkurse aufheben und den Grenzen eine gemeinschafts'rechtliche Verfestigung und Institutionalisierung geben würde.

178

Zu den Grenzen der Verschuldung nach deutschem Verfassungsrecht (Art. 109 II, 1 1 5 G G ) siehe etwa K . H. FRIAUF Staatsrecht, in: HdBStR Bd. 4 1986, § 91 Rdn. 33 ff. Zur Bedeutung internationaler Notenbankabsprachen für den Verfassungsstaat siehe insb. R. SCHMIDT Der Verfassungsstaat im Geflecht internationaler Beziehungen, in: V V D S t R L Bd. 36 (1978), S. 65, 70.

179

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

95

können. Dieser Zustand, der die Autonomie der Bundesbank im Kern unangetastet läßt, wird sich mit der Teilnahme Deutschlands an der Wirtschafts- und Währungsunion grundlegend ändern. Weitgehende Autonomie in bezug auf mögliche äußere Einflußnahmen genießt dann das ESZB als Ganzes. Im Innenverhältnis sind die einzelnen Notenbanken als „Systemelemente" dagegen nicht mehr in bisheriger Form unabhängig. Allerdings entsenden die nationalen Notenbanken Vertreter in den Rat des 108 ESZB, der die Geldpolitik der Gemeinschaft festlegt. In diesem Rahmen wird über geldpolitische Zwischenziele, Leitzinssätze und die Bereitstellung von Reserven entschieden. Dies ändert freilich nichts daran, daß die Bundesbank ihre bisher durch § 12 BBankG gesicherte Autonomie zugunsten des ESZB aufgeben muß. Ob daraus die Notwendigkeit einer formellen Verfassungsänderung (Art. 88 GG) vor der Ratifikation des Unionsvertrages abzuleiten ist, soll im Zusammenhang mit den Verfahrensfragen der weiteren Verfassungsentwicklung untersucht werden (s. u. Rdn. 120 ff). c) Zukünftige Betätigungsfelder

der Europäischen

Gemeinschaft

Aus der Sicht der deutschen Bundesländer sind die Befugnisse der Gemeinschaft in 109 den Bereichen Bildung 180 (Art. 126 EG-Vertrag) und Kultur (Art. 128 EG-Vertrag) von besonderem Interesse, verfügen sie hier doch nach deutschem Verfassungsrecht über umfassende Zuständigkeiten. Befürchtungen, die Gemeinschaft werde sich auch dieser Felder bemächtigen und sie ihrem regelnden Zugriff unterwerfen, haben sich zumindest insofern nicht bewahrheitet, als es der EG ausdrücklich untersagt ist, die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten in den genannten Bereichen zu harmonisieren. Bei den Förderungsmaßnahmen, die von der Gemeinschaft im Bildungssektor 110 ergriffen werden können, etwa zum Ausbau der europäischen Dimension im Unterrichtswesen oder zur Stärkung der Mobilität von Studenten und Lehrkräften, hat sie die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für den Inhalt des Unterrichts und die Gestaltung des Bildungssystems sowie die Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen strikt zu beachten. Auf kulturellem Gebiet besteht folgende Situation. Hier soll die Gemeinschaft einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten leisten, wobei einerseits die nationale und regionale Vielfalt gewahrt werden muß, andererseits aber auch das gemeinsame kulturelle Erbe hervorzuheben ist (Art. 128 Abs. 1 EG-Vertrag). Die Gemeinschaft ist berechtigt, Förderungsmaßnahmen zu ergreifen, so etwa zur Verbesserung der Kenntnisse über Kultur und Geschichte der europäischen Völker, zum Schutz von Kulturgütern von europäischer Bedeutung sowie zugunsten des künstlerischen und literarischen Schaffens. Hier sind der audiovisuelle Bereich und der nichtkommerzielle Kulturaustausch eingeschlossen. Die Wahmeh-

180

Zur Bildungspolitik M. SCHRÖDER Europäische Bildungspolitik und bundesstaatliche Ordnung, 1990, S. 36 ff; ferner der Bericht „Kulturhoheit der Länder und Bildungspolitik der Europäischen Gemeinschaft" v o m 28. September 1990, Landtag von Baden-Württemberg (Hrsg.).

96

1. Kapitel. Grundlagen

mung dieser ohnehin sachlich begrenzten Kompetenzen durch die EG ist für die Bundesländer umso weniger bedrohlich, als auf dem Gebiet der Kultur für weiteres Handeln das Einstimmigkeitsprinzip durchgesetzt worden ist (Art. 128 Abs. 5 EGVertrag). Die EG wird in Zukunft auch auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik eine — wenn auch begrenzte — Zuständigkeit erlangen, die vor allem auf eine Förderung der mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit bei der Verhütung von schwerwiegenden Krankheiten einschließlich der Drogenabhängigkeit gerichtet ist (Art. 129 EGVertrag). Angestrebt wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau. Zu diesem Zweck können mit qualifizierter Mehrheit Förderungsmaßnahmen beschlossen werden, die jedoch nicht auf eine Harmonisierung der nationalen Rechts-und Verwaltungsvorschriften hinauslaufen dürfen. 111

In der Sozialpolitik zeigen sich — ähnlich wie bei der Wirtschafts- und Währungsunion — Ansätze einer Entwicklung zu einem Europa der zwei Geschwindigkeiten. 181 Großbritannien war nicht bereit, sich einer europäischen Sozialpolitik anzuschließen. Das von allen 12 Mitgliedstaaten unterzeichnete „Protokoll über die Sozialpolitik" ermächtigt daher die verbleibenden 11 Mitgliedstaaten, die eine gemeinsame Sozialpolitik anstreben, sich der Organe, Verfahren und Mechanismen der Europäischen Gemeinschaft zu bedienen, um untereinander die erforderlichen Beschlüsse zu fassen und für sich anzuwenden. Die angenommenen Rechtsakte sowie die finanziellen Auswirkungen etwaiger Förderungsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft gelten dann nicht für Großbritannien. Im Unterschied zur Wirtschaftsund Währungsunion hat sich Großbritannien hier also definitiv geweigert, Kompetenzen an die Gemeinschaft abzugeben. 182

112

Die Gemeinschaft kann Maßnahmen ergreifen, welche etwa die soziale Sicherheit und den sozialen Schutz der Arbeitnehmer, den Kündigungsschutz, einzelne Fragen der Mitbestimmung sowie finanzielle Beiträge der Gemeinschaft zur Beschäftigungsförderung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen. Bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen in diesem Bereich sind der Gemeinschaft indes ausdrückliche Grenzen gesetzt. So darf sie Fragen des Arbeitsentgelts ebensowenig regeln wie das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht. Darüber hinaus muß

181

182

Hier können sich institutionell-rechtliche Bedenken aus dem Gesichtspunkt einheitlicher Beschlußfassung in der Gemeinschaft ergeben. Zu diesem rechtlichen Gebot siehe EuGH, Gutachten zum Stillegungsfonds für die Binnenschiffahrt 1/76, erstattet am 26. April 1977, Amtl. Slg. 1977, S. 741 ff; vgl. ferner G. SCHUSTER Rechtsfragen der Maastrichter Vereinbarungen zur Sozialpolitik, in: E u Z W 1992, S. 178 ff. In einer ersten Bewertung der Ergebnisse von Maastricht zieht E. NOËL „Reflections on the Maastricht Treaty", 1992, S. 148, 151, hier eine interessante Parallele. Er verweist auf ein Zusatzprotokoll zu den Römischen Verträgen (1958), in welchem sich Frankreich seinerzeit zum Schutz seiner Währung vorbehalten hatte, entgegen den Bestimmungen über die Zollunion ein nationales System von Einfuhrsteuern und Ausfuhrbeihilfen aufrechtzuerhalten. Obwohl Frankreich die Unterzeichnung dieses Protokolls erst nach harten Verhandlungen erreichen konnte, ist es in der Praxis nie angewandt worden.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

der Rat bei R e g e l u n g e n ,

w e l c h e die b e i s p i e l h a f t e r w ä h n t e n

97 Bereiche

berühren,

e i n s t i m m i g beschließen. A u c h ist bei jeder M a ß n a h m e d e r V i e l f a l t d e r einzelstaatlichen G e p f l o g e n h e i t e n i n s b e s o n d e r e in den t a r i f v e r t r a g l i c h e n B e z i e h u n g e n R e c h n u n g zu t r a g e n . Schließlich e r l a u b e n die Beschlüsse v o n M a a s t r i c h t d e r G e m e i n s c h a f t , w e n n auch in i n t e r p r e t a t i o n s b e d ü r f t i g e r F o r m u n d n u r u n t e r b e s t i m m t e n V o r a u s s e t z u n g e n , die E i n f ü h r u n g e i n e r I n d u s t r i e p o l i t i k . ' 8 3 D i e in F r a n k r e i c h g e p r ä g t e V o r s t e l l u n g v o n der I n d u s t r i e p o l i t i k hat sich b e r e i t s in der V e r g a n g e n h e i t v i e l f a c h als S c h l ü s s e l b e g r i f f im R i n g e n

u m die w i r t s c h a f t s p o l i t i s c h e G e s t a l t u n d

R e f o r m der

Europäischen

Gemeinschaft erwiesen.184 D a industriepolitische K o n z e p t e und Instrumente vielfach in b e s t i m m t e v e r f a s s u n g s - u n d v e r w a l t u n g s r e c h t l i c h e G r u n d s t r u k t u r e n

eingebettet

sind b z w . diese in g e w i s s e r W e i s e w i d e r s p i e g e l n , 1 8 5 k a n n sich k ü n f t i g auch hier — u n a b h ä n g i g v o n d e r F r a g e , i n w i e w e i t ein b e s t i m m t e s w i r t s c h a f t s v e r f a s s u n g s r e c h t liches S y s t e m v o m G r u n d g e s e t z v o r a u s g e s e t z t w i r d 1 8 6 — ein m ö g l i c h e s K o n f l i k t f e l d zwischen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben187

und nationalem

Verfassungsrecht

ergeben.

183

184

185

186

187

Vgl. Titel XIII, Art. 130 des Vertrages über die europäische Union: „1. Die Gemeinschaft und die Mitgliedsstaaten sorgen dafür, daß die notwendigen Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Gemeinschaft gewährleistet sind. Zu diesem Zweck zielt ihre Tätigkeit entsprechend einem System offener und wettbewerbsorientierter Märkte auf folgendes ab: — Erleichterung der Anpassung der Industrie an die strukturellen Veränderungen; — Förderung eines für die Initiative und Weiterentwicklung der Unternehmen der gesamten Gemeinschaft, insbesondere der kleinen und mittleren Unternehmen, günstigen Umfelds; — Förderung eines für die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen günstigen Umfelds; — Förderung einer besseren Nutzung des industriellen Potentials der Politik in den Bereichen Innovation, Forschung und technologische Entwicklung. 2. Die Mitgliedsstaaten konsultieren einander in Verbindung mit der Kommission und koordinieren, soweit erforderlich, ihre Maßnahmen. Die Kommission kann alle Initiativen ergreifen, die dieser Koordinierung förderlich sind. 3. Die Gemeinschaft trägt durch die Politik und die Maßnahmen, die sie aufgrund anderer Bestimmungen dieses Vertrages durchführt, zur Erreichung der Ziele des Absatzes 1 bei. Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses einstimmig spezifische Maßnahmen im Hinblick auf die Verwirklichung der Ziele des Absatzes 1 beschließen. Dieser Titel bietet keine Grundlage dafür, daß die Gemeinschaft irgendeine Maßnahme einführt, die zu Wettbewerbsverzerrungen führen könnte". Dazu vor allem W. VEELKEN Normstrukturen der Industriepolitik — Eine vergleichende Untersuchung nach deutschem und französischem Wirtschaftsrecht, 1991. Dazu W. VEELKEN Industriepolitik (Fn. 184) S. 137 ff; zur europäischen Fusionskontrolle zwischen industriepolitischen und wettbewerbsrechtlichen Vorstellungen vgl. C.-D. EHLERMANN Neuere Entwicklungen im europäischen Wettbewerbsrecht, in: EuR 1991, S. 307 (314 f). Vgl. das Mitbestimmungsurteil des BVerfG E 50, 290 ff; dazu statt vieler HESSE Verfassungsrecht (Fn. 9 ) Rdn. 441 ff. Zur Wirtschaftsverfassung der Gemeinschaft selbst s. W. v. SIMSON Die Marktwirtschaft als Verfassungsprinzip der Europäischen Gemeinschaften, in: Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften, Ringvorlesung der Staats-und Rechtswissenschaftlichen Fakultät Freiburg, 1967, S. 55, 62 ff.

113

98

1. Kapitel. Grundlagen

3. Institutionelle Entwicklung der Gemeinschaft a) Die Befugnisse des Europäischen Parlaments im

Rechtsset^ungsverfahren

114 Jede Kompetenzerweiterung der Europäischen Gemeinschaft läßt die Frage drängender werden, wie eine ausreichende demokratische Legitimation der europäischen Gesetzgebung sichergestellt werden kann. 188 Längst hat sich die Vorstellung als unzureichend erwiesen, das Sekundärrecht der Gemeinschaft sei lediglich Ausdruck der Sachzwänge, die sich bei der Errichtung eines Binnenmarktes ergeben und insofern von der parlamentarischen Zustimmung zu den Gründungsverträgen mittelbar legitimiert. Auch die Direktwahl des Europäischen Parlaments und der schrittweise Ausbau seiner Befugnisse können an dem nach wie vor unzureichenden demokratischen Legitimationszustand der Gemeinschaftsgesetzgebung wenig ändern. 189 Allerdings muß man berücksichtigen, daß die besonderen Verhältnisse dieses internationalen Zusammenschlusses eine unmittelbare Übernahme staatlicher Strukturprinzipien nicht ohne weiteres gestatten. Daraus folgt freilich nicht, daß das Prinzip parlamentarischer Demokratie schlechthin ungeeignet sei, das Legitimationsniveau der europäischen Rechtssetzung zu erhöhen.190 Bisher sind praktikable Alternativen zu einem weiteren Ausbau der parlamentarischen Mitbestimmung bei der europäischen Rechtssetzung nur schwer erkennbar. Die geplante Europäische Union steht deshalb vor der unausweichlichen Notwendigkeit, den Kompetenzzuwachs der Gemeinschaft mit einer allerdings sach- und strukturangemessenen Verstärkung der Rechte des Europäischen Parlaments zu begleiten. 115

Da unter den Mitgliedstaaten bezüglich der Erweiterung parlamentarischer Befugnisse keine Einmütigkeit besteht, sind die geltenden Regelungen vornehmlich das Ergebnis politischer Kompromisse. Dadurch wird ihre systematische Erfassung erschwert. 191 Hervorzuheben sind jedoch die folgenden Einflußmöglichkeiten, die dem Europäischen Parlament im Rechtssetzungsverfahren zur Verfügung stehen.

116

Ursprünglich hatte das Parlament im wesentlichen lediglich Anhörungsrechte in den Fällen, in denen es die Verträge ausdrücklich vorsehen. 192 Seit 1975 nimmt 188

189 190

191

192

Zum Demokratiedefizit in der Gemeinschaft J. SCHOO Kontrolle bei der Durchführung v o n Gemeinschaftsrecht aus der Sicht des Europäischen Parlamentes, in: J. Schwarze (Hrsg.), Gesetzgebung in der Europäischen Gemeinschaft, 1985, S. 97 ff; der E u G H hat freilich hervorgehoben, daß das Demokratieprinzip in der Gemeinschaft Geltung besitzt, Rs 138/79, Roquette Frères ./. Rat der Gemeinschaft, Urteil v o m 29. Oktober 1980, Amtl. Slg. 1980, S. 3333. P.-C. MÜLLER-GRAFF Die Direktwahl des Europäischen Parlaments, 1977, S. 26 ff, 39 f. A. A . v o r allem H. P. IPSEN zuletzt in seiner Rede anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität des Saarlandes (Fn. 128), S. 45 (56 ff). Vgl. dazu Rs 242/87, Kommission der Europäischen Gemeinschaften ./. Rat der Europäischen Gemeinschaften (Erasmus), Urteil v o m 30.5.1989, Amtl. Slg. 1989, S. 1 4 2 5 f f , 1453, Rz 13: „Insoweit ist darauf hinzuweisen, daß sich die Befugnisse der Organe und die Bedingungen ihrer Ausübung im System der gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeiten aus den einzelnen besonderen Vertragsbestimmungen ergeben, deren Unterschiede, insbesondere hinsichtlich der Mitwirkung des Europäischen Parlaments, nicht immer auf systematischen Kriterien beruhen." Vgl. R. BIEBER in: v. der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag ( F n . 4 2 ) A r t . 1 4 9 R d n . 7 f f ; s i e h e f e r n e r R . B I E B E R / J . - P . J A C Q U É / L . - J . CONSTANTINESCO/D. N I C K E L

Le Parlement Européen, Paris 1984, S. 162 ff.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

99

das Parlament zusammen mit dem Rat das Haushaltsrecht der Gemeinschaft wahr.193 Allerdings hat das Parlament das letzte Wort nur hinsichtlich solcher Ausgaben, die sich nicht zwingend aus den Verträgen oder dem Sekundärrecht ergeben. Diese Einschränkung soll verhindern, daß das Parlament im Haushaltsverfahren über sein Bewilligungsrecht mittelbar Einfluß auf ausgabenwirksame Rechtsakte nimmt, die der Rat im allgemeinen Rechtssetzungsverfahren zuständigkeitsgemäß erlassen hat.194 Durch die Einheitliche Europäische Akte wurde für mehrere Bereiche zusätzlich das sog. „Verfahren der Zusammenarbeit" eingeführt, das dem Europäischen Parlament die Möglichkeit gibt, einen Rechtssetzungsvorschlag abzuändern. Macht das Parlament von seinem Anderungsrecht Gebrauch, so kann der Rat den geänderten Vorschlag seinerseits nur unter erschwerten Voraussetzungen abändern. Dennoch bleibt die letzte Entscheidung beim Rat.195 Ergänzend und in Fortentwicklung dieses Verfahrens soll dem Parlament nun 1 1 7 namentlich bei der Rechtsangleichung gemäß Art. 100 a EWG-Vertrag (Verwirklichung des Binnenmarkts), bei der Herstellung der Freizügigkeit sowie in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Kultur ein sogenanntes Mitentscheidungsrecht („Verfahren nach Art. 189 b") eingeräumt werden. Neu an diesem Verfahren ist ein Vermittlungsausschuß, der zusammentritt, wenn sich das Europäische Parlament und der Rat über einen RechtssetzungsVorschlag nicht einigen können. Sollte bis zum Ende des Verfahrens zwischen den beiden Organen keine Einigung erzielt werden, kann das Parlament den Erlaß einer Rechtsvorschrift durch sein Veto verhindern. Ein eigenes Initiativrecht im Gesetzgebungsverfahren, wie verschiedentlich im Vorfeld der Maastrichter Regierungskonferenz gefordert, wird dem Europäischen Parlament dagegen auch künftig nicht zustehen. Insofern verfügt die EG-Kommission auch weiterhin über das Monopol der 1 1 8 Rechtssetzungsinitiative.196 Allerdings ist die Abhängigkeit der Kommission vom Vertrauen des Europäischen Parlaments größer geworden. Zum einen wurde ihr Mandat auf fünf Jahre verlängert und mit der Legislaturperiode des Parlaments synchronisiert. Zum anderen darf die Ernennung der Kommissionsmitglieder durch die Regierungen der Mitgliedstaaten zukünftig erst erfolgen, wenn das Parlament seine Zustimmung gegeben hat. Es bleibt abzuwarten, ob daraus tatsächlich ein größerer parlamentarischer Einfluß auf die Kommission allgemein und speziell auf 153

194

195

196

Zu den haushaltsrechtlichen Befugnissen R. BIEBER in: v. der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag (Fn. 42) Vorbemerkung zu A r t . 137 Rdn. 9, Art. 137 Rdn. 1 4 , 3 3 . F. JACOBS/R. CORBETT T h e E u r o p e a n P a r l i a m e n t , 1 9 9 0 , S . 1 8 7 , 1 9 1 f f ; S . M A G I E R A i n : E . G r a b i t z ,

EWG-Kommentar, Stand: Juni 1990, A r t . 203 Rdn. 27 ff; R. BIEBER in: v. der Groeben/Thiesing/ Ehlermann, Kommentar zum EWG-Vertrag (Fn. 42), A r t . 2 0 3 Rdn. 37 ff. A . DASHWOOD Majority voting in the Council, in: Schwarze (Hrsg.), Legislation for Europe 1992 (Fn. 29), S. 79 ff. Art. 189b Abs. 2 EG-Vertrag. Die Bindung des Rates an den Vorschlag der Kommission ist jedoch insoweit gelockert v/orden, als er im Verfahren der Mitentscheidung (Art. 189b), abweichend von der bisherigen Regel — die Einstimmigkeit vorsah (Art. 1 4 9 E W G V ) —, den Kommissionsvorschlag im Zusammenwirken mit dem Parlament mit qualifizierter Mehrheit ändern kann (Art. 189b Abs. 4 EG-Vertrag).

1. Kapitel. Grundlagen

100

die Ausübung ihrer Initiativbefugnisse erwächst. Ein deutlicher Fortschritt ist hingegen die ausdrückliche Anerkennung der passiven und aktiven Fähigkeit des Parlaments zur Teilnahme an Verfahren vor dem EuGH. Allerdings kann das Parlament nur Klagen erheben, die „der Wahrung seiner Prärogativen dienen" (Art. 173 Abs. 1 EG-Vertrag). 197 b) Beteiligung der Regionen am

Entscheidungsverfahren

1 1 9 Subsidiarität und föderale Struktur als grundlegende Prinzipien der Kompetenzverteilung und Organisation sind ein Ausdruck des Bestrebens, eine Monopolisierung der Entscheidungsgewalt bei der Europäischen Union und dort insbesondere bei der Europäischen Gemeinschaft zu verhindern. Vor allem die deutschen Bundesländer hatten im Vorfeld der Regierungskonferenz von Maastricht eine stärkere Einbeziehung der Regionen in den Entscheidungsprozeß der Gemeinschaft einschließlich einer Klagemöglichkeit vor dem EuGH gefordert. 198 Ein Klagerecht wurde den Regionen zwar nicht zugestanden,199 jedoch wurde ein Regionalausschuß nach dem Vorbild des Wirtschafts- und Sozialausschusses verabredet, der vor dem Erlaß eines Rechtsaktes in den vom Vertrag genannten Fällen gehört werden muß. 200 Auch wenn dadurch eine rechtlich bindende Einflußnahme auf das Gesetzgebungsverfahren nicht ausgeübt werden kann, dürfte die institutionelle Einbindung der Regionen zumindest das Gewicht ihrer Stellungnahmen erhöhen. Abzuwarten bleibt ferner, welchen Einfluß die Regionen durch die Möglichkeit gewinnen werden, einen Delegierten als Vertreter des betreffenden Mitgliedstaates in den Ministerrat zu entsenden (Art. 146 EG-Vertrag). Für die deutschen Bundesländer könnte danach ein Landesminister als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland an den Ratssitzungen teilnehmen, deren Gegenstand in besonderem Maße Länderkompetenzen und -interessen berührt. 4. Die verfahrensmäßige Behandlung der Maastrichter Beschlüsse im Lichte des deutschen Verfassungsrechts 120 Im Vordergrund der verfassungsrechtlichen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland stand die Frage, ob für die Zustimmung zum Vertrag über die Europäische Union Art. 24 Abs. 1 GG eine ausreichende Grundlage bot oder vor der Ratifizierung der Maastrichter Vereinbarungen Änderungen des Grundgesetzes erforderlich waren. Durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 197

198 199

200

Dies hatte der EuGH bereits im Wege richterlicher Rechtsfortbildung entschieden, Rs C-70/88, Europäisches Parlament ./. Rat der Gemeinschaft („Tschernobyl"), Urteil vom 22. Mai 1990, Amtl. Slg. 1990, 2041 ff. BR-Drucks. 550/90 vom 24.08.1990, S. 4, Erwägung Nr. 4 Änderung des Art. 173 I EWGV. Vgl. Kap. 4 „Ausschuß der Regionen": Art. 198a—c EG-Vertrag. Ein Klagerecht der Länder und Regionen wäre verfassungspolitisch ohnehin bedenklich, da es den Kreis der gemäß Art. 173 Abs. 1 EWG-Vertrag privilegierten Klageberechtigten beträchtlich erweitern würde. Zudem wäre die Versuchung für die Länder und Regionen groß, den Klageweg zum EuGH als Surrogat für den als unzureichend empfundenen politischen Einfluß zu nutzen. Vgl. Art. 198c Abs. 1 und 3 EG-Vertrag.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (von Simson/Schwarze)

101

21. Dezember 1992 2 0 1 wurde eine Reihe von Vorschriften der deutschen Verfassung geändert. Im folgenden wird zu untersuchen sein, ob diese Änderungen notwendig waren und welche Einflußmöglichkeiten die Bundesländer hatten. Durch den Vertrag sollen der Europäischen Union in beträchtlichem A u s m a ß

121

hoheitliche Befugnisse eingeräumt werden. In erster Linie sind hier die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft, vor allem das damit verbundene

kommunale

Wahlrecht für EG-Ausländer, sowie die angestrebte Wirtschafts- und Währungsunion zu nennen. Ein Sonderproblem im Verhältnis des Bundes zu den Ländern erwächst aus dem Umstand, daß der Europäischen Gemeinschaft Befugnisse in Bereichen eingeräumt werden sollen, die in die Zuständigkeit der Länder fallen. Hier war deshalb fraglich, ob, und wenn ja, in welcher Weise die Länder am Verfahren der Zustimmung zum Unionsvertrag zu beteiligen waren. a) Die Einführung eines kommunalen Wahlrechts für

EG-Bürger

Wie bereits oben erläutert wurde, soll jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem

122

Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, in dem betreffenden Staat das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen erhalten. 2 0 2 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist in der Verfassungsordnung des G r u n d gesetzes die Quelle der Legitimation aller staatlichen Gewalt, einschließlich der auf gemeindlicher E b e n e ausgeübten, das deutsche Volk, d. h. die Gesamtheit der (wahlberechtigten) deutschen Staatsbürger. 2 0 3 Die E i n f ü h r u n g des kommunalen Wahlrechts ändert in den Gemeinden die Legitimationsbasis der v o n ihnen wahrgenommenen Hoheitsbefugnisse. F o l g t man der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in dessen Urteilen zum Ausländerwahlrecht in Schleswig-Holstein und H a m b u r g , 2 0 4 so betrifft die mit dem Unionsvertrag angestrebte Ä n d e r u n g zumindest eine Facette der Ausgestaltung des demokratischen Prinzips im Grundgesetz und damit ein essentielles Element der deutschen Verfassung. D a s in seinem Urteil zum schleswig-holsteinischen Wahlgesetz enthaltene obiter dictum, die Einführung eines Kommunalwahlrechts für Ausländer könne Gegenstand „einer nach Art. 79 Abs. 3 G G zulässigen V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g " sein, 2 0 5 wird man — ungeachtet der oben bereits angesprochenen dogmatischen Unklarheiten — dahingehend verstehen müssen, daß für diesen Schritt eine formelle Verfassungsänderung gemäß Art. 79 Abs. 2 G G erforderlich ist. Unter dem Gesichtspunkt der Reichweite des Art. 24 Abs. 1 G G betrachtet ließe sich daraus folgern, daß dessen Grenzen u. a. dann erreicht sind, wenn die Legitimationsbasis des staatlichen Handelns, und sei es lediglich auf kommunaler Ebene, durch überstaatliches Recht verändert werden soll. Damit sind allerdings die Grenzen noch nicht erreicht, die 201 202 203 204 205

BGBl. I, S. 2086. Vgl. Art. 8b des EG-Vertrages. Vgl. insb. BVerfGE 83, 37 (50, 53); 83, 60 (71). Vgl. BVerfGE 83, 37 ff und S. 60 ff. Vgl. BVerfGE 83, 37 (59).

123

102

1. Kapitel. Grundlagen

das BVerfG mit der Bewahrung der Identität der Verfassung umschrieben hat. 206 Freilich sind Teilaspekte des Demokratieprinzips berührt, das zu den „identitätsstiftenden" Pfeilern der grundgesetzlichen Ordnung gehört. 124 In jedem Fall war es also notwendig, vor einer Zustimmung zum Vertrag über die Europäische Union das Grundgesetz gemäß Art. 79 Abs. 2 GG insoweit ausdrücklich zu ändern, als es um die Beteiligung von Ausländern an kommunalen Wahlen geht. Bundestag und Bundesrat mußten dieser Änderung mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. 207 b) Die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion 125 Femer war zweifelhaft, ob die Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an der geplanten Wirtschafts- und Währungsunion allein im Verfahren des Art. 24 Abs. 1 GG beschlossen werden konnte oder ob es auch hier einer vorherigen formellen Verfassungsänderung gemäß Art. 79 Abs. 2 GG bedurfte. 208 Es werden sich nicht nur die Stellung und Funktion der Deutschen Bundesbank wandeln. Auch der wirtschaftspolitische Entscheidungsspielraum von Regierung und Parlament wird künftig neuen Einschränkungen ausgesetzt sein. 126

Das wahrscheinliche Ausmaß des damit verbundenen Kompetenzverlustes läßt sich nur dann realistisch einschätzen, wenn man sich einerseits vor Augen hält, daß das Währungsgeschehen bereits heute einen Internationalisierungsgrad aufweist, der in kaum einem anderen Bereich staatlicher Tätigkeit wiederzufinden ist. 209 Insbesondere die Bundesbank agiert seit langem als Teilnehmerin eines weltumspannenden Systems der Geldmärkte, dessen Sachgesetzlichkeiten die staatliche Souveränität im Währungsbereich entscheidend relativieren. Die Abhängigkeit staatlichen Handelns im Währungssektor von überstaatlichen Einflüssen und Institutionen ist den entsprechenden Kompetenzen des nationalen Verfassungsrechts daher gleichsam immanent. 210 127 Andererseits werden sich die Stellung und Funktion der Deutschen Bundesbank grundlegend wandeln. Sie wird als integraler Bestandteil des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB), das unter der Leitung der Europäischen Zentralbank (EZB) steht, in ihrem von Art. 88 GG verfassungsrechtlich garantierten Status als 206 207

208

209

210

Vgl. nur B V e r f G E 73, 339 (375 f) („Solange II"). BGBl. I, S. 2086; danach hat Art. 28 Abs. 1 G G folgenden Wortlaut: „Bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden sind auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe v o n Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar." Dazu ausführlich T. SCHILLING Die deutsche Verfassung und die europäische Einigung, in: A ö R 1 1 6 (1991), S. 3 3 f f (insb. 5 3 f f ) , dessen Überlegungen allerdings aus der Zeit v o r Maastricht stammen. Siehe auch B. SCHMIDT-BLEIBTREU/F. KLEIN Kommentar zum Grundgesetz, 7. Aufl. 1990, Art. 88 Rdn. 5, wonach ein Bundesgesetz gem. Art. 24 Abs. 1 G G ausreichen soll, die Eingliederung der Bundesbank in ein europäisches Zentralbanksystem zu ermöglichen. Zur Internationalität des Währungsgeschehens vgl. HAHN Währungsrecht (Fn. 177), insb. S. 174 ff. Diesen Aspekt der Währungspolitik betont insb. MAUNZ, in: Maunz/Dürig G G (Fn. 38), Art. 88 Rdn. 16.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

103

nationale Währungs- und Notenbank berührt.211 Die wohl überwiegende Meinung lehnt eine verfassungsrechtliche Garantie der Unabhängigkeit der Bundesbank ab.212 Indes wird ihr Bestand jedenfalls insoweit angetastet, als sie aufhört, eine für die deutsche Währung und die Ausgabe deutscher Banknoten verantwortliche Institution zu sein.213 Ferner scheidet die Bundesbank weitgehend aus dem Aufgabenkreis der deutschen Exekutive aus.214 Aus dem eigenständigen, national verantwortlichen Akteur wird ein weisungsgebundenes „Systemelement" im Rahmen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Da zumindest diese Funktion, die der Bundesbank gewissermaßen ihre verfassungsrechtliche Identität verleiht, durch den Unionsvertrag aufgehoben und durch eine andere Aufgabe ersetzt werden soll, erschien die der Zustimmung zum Unionsvertrag vorausgehende ausdrückliche Änderung des Art. 88 GG unumgänglich.215 c) Folgewirkungen der Wirtschafts- und Währungsunion Darüber hinaus dürfen die Folgewirkungen einer Europäischen Wirtschafts- und 128 Währungsunion nicht übersehen werden. Sie reichen über den engeren Rahmen der Währungspolitik weit hinaus. So wird etwa von dem Gebot, übermäßige Haushaltsdefizite zu vermeiden (Art. 104 c EG-Vertrag), das Ausgabenverhalten der Mitgliedstaaten in allen Bereichen ihrer Zuständigkeit berührt. Die Finanzierung von Verteidigungsausgaben wird ebenso betroffen sein wie Aufwendungen für Sozialleistungen oder die Wirtschaftsförderung. In der Bundesrepublik stellt sich zusätzlich das Problem der Aufbaufinanzierung für die neuen Bundesländer, die bisher nur durch eine erhebliche Neuverschuldung des Bundes sichergestellt werden konnte.216 211

212

213

214

Vgl. zum Inhalt der Bestandsgarantie des Art. 88 GG E. BAUER in: I. von Münch, GrundgesetzKommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 1983, Art. 88 Rdn. 6; K. STERN Staatsrecht, Bd. 2, 1980, S. 468, der die Bundesbank in ihrer Existenz und in ihrem funktionalen Kern als „Währungs- und Notenbank" als verfassungsrechtlich geschützt ansieht. Siehe auch BVerwGE 41, 334, 350 m.w.N. Siehe BVerwGE 41, 334, 354ff; STERN Staatsrecht Bd. 2 (Fn. 211), S. 493ff m.w.N.; a. Α. H. FÖGEN Geld und Währungsrecht, 1969, S. 104, 105; T. SAMM Die Stellung der Deutschen Bundesbank im Verfassungsgefüge, 1967, S. 177 ff, 185, 186. Die Bundesbank verliert ihre Funktion als Notenbank nicht vollkommen, da sie auch im Rahmen des ESZB gemäß Art. 16 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank das Recht der Notenausgabe hat, freilich nur mit Genehmigung der EZB und auf die europäische Währung lautend. Zur Stellung der Bundesbank innerhalb der Exekutive vgl. MAUNZ in: Maunz/Dürig GG ( F n . 3 8 ) , A r t . 88 R d n . 7; HAHN W ä h r u n g s r e c h t ( F n . 1 7 7 ) , S . 2 5 5 ff.

2,5

216

Vgl. dazu das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 1992, BGBl. I, S. 2086, wonach in Art. 88 GG folgender Satz angefügt wird: „Ihre Aufgaben und Befugnisse können im Rahmen der Europäischen Union der Europäischen Zentralbank übertragen werden, die unabhängig ist und dem vorrangigen Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet." Bereits heute wird der Neuverschuldung des Bundes von Art. 115 GG eine Grenze gesetzt; danach dürfen die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen grundsätzlich nicht überschreiten; dazu ausführlich STERN Staatsrecht Bd. 2 (Fn. 211), S. 1277 ff. Für die Länderhaushalte ergeben sich aus den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Vermeidung übermäßiger Defizite ebenfalls Verschuldungsgrenzen, die enger gesteckt sein dürften als die von Art. 109 GG auferlegten Beschränkungen. Problematisch ist dabei, daß der Bund einerseits gegenüber der Gemeinschaft für etwaige Verstöße der Länder

104

129

1. Kapitel. Grundlagen

Für die verfassungsrechtliche Beurteilung erscheint indes maßgebend, daß trotz der Einbindung der Bundesrepublik in die beabsichtigte Wirtschafts- und Währungsunion mit ihren spezifischen Zielsetzungen dem deutschen Gesetzgeber die Sachkompetenzen auf den beispielhaft erwähnten unterschiedlichen politischen Gebieten verbleiben. Ferner sollte berücksichtigt werden, daß die Höhe der Staatsverschuldung auch ohne Währungsunion bereits heute ein Faktor der politischen Entscheidungsfindung ist, weil unter anderem auch der Wert der D-Mark an den internationalen Märkten vom Verschuldungsgrad der deutschen öffentlichen Hand abhängig ist. Insoweit dürfte unter dem Blickwinkel eintretender Folgen der Wirtschafts- und Währungsunion eine gesonderte Verfassungsänderung nicht erforderlich gewesen sein. d) Ausdehnung der

Gemeinschaftskompeten^en

130 Schließlich soll die Union Kompetenzen in Bereichen wie Kultur und Bildung erhalten, in denen die deutschen Bundesländer grundsätzlich die Zuständigkeit besitzen. Verständlicherweise sind die Länder besorgt, mit der Zuweisung entsprechender Befugnisse an die Europäische Gemeinschaft könne der Prozeß einer weiteren Kompetenzerosion zu ihren Lasten verstärkt werden. Allerdings sind, wie oben geschildert, die der Europäischen Gemeinschaft hier zugedachten Befugnisse nach Art und Ausmaß nicht geeignet, diese Befürchtungen zu rechtfertigen. Insbesondere ist eine Auflösung oder auch nur eine ernste Gefährdung der bundesstaatlichen Ordnung von der geplanten Kompetenzausstattung der Europäischen Union nicht zu erwarten. Unter dem Aspekt der Grenzen des Art. 24 Abs. 1 GG folgt daraus, daß die Identität der Verfassung unangetastet bleibt, oder anders gewendet, die Grenzen nicht überschritten werden, die sich vor allem aus Art. 79 Abs. 3 GG für die Zulässigkeit einer Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen gemäß Art. 24 Abs. 1 GG ergeben. 131

Es wäre daher möglich gewesen, die Zustimmung zum Vertrag von Maastricht — nach einer Anpassung des Grundgesetzes an den erwähnten Stellen — auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 GG zu erteilen. Danach hätte ein einfaches Bundesgesetz ausgereicht und die Beteiligung der Länder sich auf die Möglichkeit des Einspruchs beschränkt. 217 Indes war für die Billigung des Unionsvertrages entspre-

217

gegen die Regeln der gemeinschaftlichen Haushaltsdisziplin einzustehen hätte, andererseits aber nur über begrenzte und für diese Konstellation nicht geschaffene Einwirkungsmöglichkeiten auf die Länder verfügt; siehe dazu MAUNZ in: Maunz/Dürig G G (Fn. 38) Art. 109 Rdn. 40 u. 45; H. D. JARASS/B. PIEROTH GG-Kommentar, 2. Aufl. 1992, A r t . 109 Rdn. 4 ff. Deshalb wäre zu erwägen, ob im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Maastrichter Vereinbarungen nicht auch eine Änderung des Art. 109 G G beschlossen werden sollte. So auch T. OPPERMANN Die E G vor der Europäischen Union, in: N J W 1993, S. 5 ff (11 ff), der Art. 24 G G als Grundlage des Zustimmungsgesetzes für ausreichend hält; s. zur Frage der Länderbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren nach Art. 24 Abs. 1 G G etwa U. FASTENRATH Kompetenzverteilung im Bereich der auswärtigen Gewalt, 1986, S. 150 m.w.N., der eine Zustimmungsbedürftigkeit des Gesetzes gem. Art. 24 Abs. 1 G G auch für den Fall ablehnt, daß Länderhoheitsrechte übertragen werden.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

105

chend der neuen Vorschrift des Art. 23 Abs. 1 GG die Zustimmung des Bundesrates erforderlich. e) Die Einheitlichkeit

des

Zustimmungsverfahrens

Der Vertrag über die Europäische Union bildet eine Einheit, aus der im Zustim- 132 mungsverfahren nicht einzelne Teile herausgelöst werden können. Wäre etwa die Verfassungsänderung im Hinblick auf das kommunale Ausländerwahlrecht gescheitert, so wäre es nicht möglich gewesen, den Teil über die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die neuen Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft gleichsam separat zu billigen. Es konnte also nur dem gesamten Vertrag zugestimmt bzw. die Zustimmung versagt werden. 218 Diese Zustimmung war jedoch verfassungsrechtlich erst zulässig, nachdem das Grundgesetz in den erwähnten Punkten ausdrücklich geändert worden war. Indes war die für eine Beschlußfassung zur Verfügung stehende Zeit knapp 133 bemessen. Der Unionsvertrag sollte bereits am 1.1.1993 in Kraft treten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf ein Gesetz, das auf einer Verfassungsänderung beruht, erst ausgefertigt und verkündet werden, wenn das hierfür notwendige verfassungsändernde Gesetz zuvor in Kraft getreten ist. 219 Allerdings kann es unter besonderen Umständen ausreichen, wenn lediglich die Verkündung des Gesetzes dem Inkrafttreten der Verfassungsänderung nachfolgt. 220 Es war kein Grund ersichtlich, diesen Regeln bei einem Gesetz die Geltung zu 134 versagen, das die Zustimmung zu einem völkerrechtlichen Vertrag erklärt, der einer zwischenstaatlichen Einrichtung hoheitliche Befugnisse einräumt. Es wäre daher unzulässig gewesen, etwa aus Zeitgründen das Zustimmungsgesetz vor Inkrafttreten der Verfassungsänderungen zu verkünden. Es hätte die Gefahr bestanden, daß die Verfassungsänderungen scheitern und fortan den völkerrechtlich begründeten Pflichten keine entsprechenden, von der staatlichen Verfassungsordnung sanktionierten

218

Vgl. §§ 81 Abs. 4, Satz 2, 82 Abs. 2 GeschOBT; siehe auch ROJAHN in: v o n Münch, (Fn. 1 2 4 ) A r t . 5 9 R d n . 3 1 ; STERN S t a a t s r e c h t , B d . 1 ( F n . 4 ) S. 5 0 4 ; P. BADURA S t a a t s r e c h t ,

215 220

GG 1986,

Rdn. 120; N. ACHTERBERG Parlamentsrecht, 1984, S. 385; allerdings wird in der politischen Praxis erwogen, der Zustimmung zum Vertrag eine Entschließung des Bundestages beizufügen, etwa des Inhalts, daß die gesetzgebenden Körperschaften v o r Eintritt in die entscheidende dritte Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion noch einmal anzuhören seien. Einen Präzedenzfall böten etwa die Vorgänge um den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag v o m 22. Januar 1963, BGBl. 1963 II, S. 346 ff (349 ff); dazu A . VERDROSS/B. SIMMA Universelles Völkerrecht, 3. A u f l . , 1984, S. 455 Anm. 20; eine solche Entschließung hätte lediglich politischen Charakter und würde keine Rechtswirkungen im Hinblick auf die Ratifikation besitzen. Die Ratifikation kann rechtlich gesehen nur bedingungslos erfolgen. Andernfalls käme die Entschließung einem unzulässigen Änderungsantrag (§ 82 Abs. 2 GeschOBT) zu dem völkerrechtlichen Vertrag gleich. B V e r f G E 34, 9 (22 f). B V e r f G E 32, 199 (212); das Gericht hebt in seinem Urteil v o m 26. Juli 1 9 7 2 - B V e r f G E 34, 9 (24 f) — hervor, daß damit „die äußerste Grenze für das verfassungsmäßige Verfahren beim Erlaß eines Gesetzes unter dem Gesichtspunkt seiner Abhängigkeit von der 'Ermächtigungsnorm' gezogen worden [sei]".

106

1. Kapitel. Grundlagen

M ö g l i c h k e i t e n d e r B u n d e s r e p u b l i k g e g e n ü b e r g e s t a n d e n h ä t t e n , sich v e r t r a g s g e m ä ß zu v e r h a l t e n . D i e v o m G r u n d g e s e t z g e f o r d e r t e K o n f o r m i t ä t des staatlichen H a n d e l n s mit d e r V e r f a s s u n g ist a u c h i m B e r e i c h der a u s w ä r t i g e n B e z i e h u n g e n herzustellen. P r o z e s s u a l k o m m t dies e t w a darin z u m A u s d r u c k , d a ß eine V e r f a s s u n g s b e s c h w e r d e s o w i e eine a b s t r a k t e N o r m e n k o n t r o l l e a b w e i c h e n d v o n d e r R e g e l a u c h v o r I n k r a f t treten eines G e s e t z e s zulässig sind, w e n n d u r c h dieses G e s e t z e i n e m v ö l k e r r e c h t l i c h e n V e r t r a g die Z u s t i m m u n g erteilt w e r d e n soll. 2 2 1 D . h . b e v o r sich die B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d v ö l k e r r e c h t l i c h v e r p f l i c h t e t , m ü s s e n die v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e n V o r a u s s e t z u n g e n g e s c h a f f e n w e r d e n , die d e n S t a a t s o r g a n e n eine v e r f a s s u n g s g e m ä ß e E r f ü l l u n g dieser P f l i c h t e n e r m ö g l i c h e n . 2 2 2 135

A l l e r d i n g s hätte m a n e r w ä g e n k ö n n e n , o b es a n g e s i c h t s d e r b e s o n d e r e n B e d i n g u n g e n in der E u r o p ä i s c h e n G e m e i n s c h a f t nicht s a c h g e r e c h t g e w e s e n w ä r e , lediglich die V e r k ü n d u n g des Z u s t i m m u n g s g e s e t z e s d e m I n k r a f t t r e t e n der V e r f a s s u n g s ä n d e -

221

222

Zur Verfassungsbeschwerde vgl. BVerfGE 24, 33 (53 f); zur abstrakten Normenkontrolle siehe BVerfGE 1, 396 (413); 36, 1 (15). In seinem Urteil vom 30. Juli 1952 (BVerfGE 1, 396) führt das Gericht aus: „Hielte man die Normenkontrolle erst von der Ratifikation ab für zulässig und würde die Entscheidung ergeben, daß Verfassungsvorschriften verletzt worden sind, so bestünde die Gefahr, daß die Bundesrepublik völkerrechtliche Verpflichtungen nur unter Verletzung ihrer Verfassung erfüllen könnte. Die Folgen könnten weitere oder verfassungsrechtliche Konflikte sein, so daß die Normenkontrolle ihren Zweck verfehlen würde, durch Klärung der verfassungsrechtlichen Lage dem Rechtsfrieden zu dienen". Diese Lösung entspricht prinzipiell etwa den in Frankreich geltenden Grundsätzen. Hier hat der Staatspräsident dem Conseil Constitutionnel die Frage unterbreitet, ob und inwieweit vorherige Verfassungsänderungen erforderlich seien, damit die Maastrichter Vereinbarungen ratifiziert werden dürften. Inzwischen hat der französische Conseil Constitutionnel in seiner Entscheidung vom 9. April 1992, auszugsweise abgedruckt in: Le Monde v o m 11. April 1992, S. 8, vor der Ratifikation des Vertrages über die Europäische Union eine Verfassungsänderung unter den folgenden Gesichtspunkten für notwendig erklärt: Einführung eines Kommunalwahlrechts für Unionsbürger, die Teilnahme Frankreichs an der geplanten Wirtschafts- und Währungsunion sowie hinsichtlich der vorgesehenen gemeinschaftlichen Visumspolitik gegenüber Drittstaatsangehörigen. Die grundsätzliche Aussage des Conseil Constitutionnel zur Einschränkung der nationalen Souveräntität durch internationale Verträge bzw. Organisationen lautet folgendermaßen: „... le respect de la souveraineté nationale ne fait pas obstacle à ce que, sur le fondement des dispositions précitées du préambule de la Constitution de 1946, la France puisse conclure, sous réserve de réciprocité, des engagements internationaux en vue de participer à la création ou au développement d'une organisation internationale permanente, dotée de la personnalité juridique et investie de pouvoirs de décision par l'effet de transferts de compétences consentis par les Etats membres; ... Considérant toutefois qu'au cas où des engagements internationaux souscrits à cette fin contiennent une clause contraire à la Constitution ou portent atteinte aux conditions essentielles d'exercice de la souveraineté nationale, l'autorisation de les ratifier appelle une révision constitutionnelle...". Einen guten Überblick zur jeweiligen verfassungsrechtlichen Ausgangslage in allen EG-Mitgliedstaaten sowie eine sorgfaltige Analyse der einschlägigen Bestimmungen gibt N. LORENZ Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäischen Gemeinschaften, 1990. Auch das Gemeinschaftsrecht geht im übrigen davon aus, daß völkerrechtliche Verträge nur geschlossen werden dürfen, wenn ihr Inhalt mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang steht; zu diesem Zweck kann der EuGH zuvor um ein entsprechendes Gutachten ersucht werden (Art. 228 Abs. 1 UAbs. 2 E W G V ) , was zuletzt im Hinblick auf die Vereinbarkeit des Rechtsschutzsystems des angestrebten Vertrages über den Europäischen Wirtschaftsraum geschah, vgl. Gutachten des EuGH 1/91 vom 14.12.1991 sowie 1/92 vom 10. April 1992 (noch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlicht).

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

107

rung nachfolgen zu lassen, um eine Beschleunigung des gesamten Zustimmungsverfahrens zu erzielen. Die komplizierten politischen und ökonomischen Prozesse in großräumigen Ordnungen wie der EG lassen sich unter den heute herrschenden Bedingungen des rapiden Wandels nur steuern, wenn die Beteiligten in ihrem Verhältnis zueinander über ein Höchstmaß an Flexibilität verfügen. 223 Es bedarf im übrigen kaum einer Betonung, daß die Mitgliedstaaten der EG bereits durch die bisherigen Schritte auf dem Wege zur europäischen Integration einen engen Verbund geschaffen haben, in dem das eigene politische Verhalten nicht mehr völlig autonom bestimmt werden kann, sondern stets die Wirkungen auf die Partner mit in Betracht zu ziehen hat. Daraus folgt indes nicht, daß die Bundesrepublik etwa gemäß Art. 5 EWG-Vertrag aus Gründen der Gemeinschaftstreue224 verpflichtet gewesen wäre, den Unionsvertrag zu ratifizieren. Die Bundesregierung mußte jedoch alle notwendigen Schritte einleiten, die für eine verfassungskonforme Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften erforderlich sind, unabhängig davon, ob diese Zustimmung letztlich erteilt worden wäre. Tatsächlich wurde das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes am 21. Dezember 1992 endgültig verabschiedet und am 21. Dezember 1992 im Bundesgesetzblatt verkündet.225 Die Verkündigung des Zustimmungsgesetzes vom 28. Dezember 1992 zum Vertrag über die Europäische Union erfolgte am 30. Dezember 1992226. Für die Länder ergaben sich aus der vorstehend skizzierten Verfahrensgestal- 136 tung beträchtliche Einflußmöglichkeiten. Sie mußten den erforderlichen Verfassungsänderungen über den Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. Darüber hinaus war die Zustimmung des Bundesrates gemäß Art. 23 Abs. 1 GG n. F. zum Vertragsgesetz erforderlich. Insgesamt sind die Länder also in hohem Maße am Entscheidungsprozeß über das Inkraftsetzen des Vertrages von Maastricht beteiligt gewesen.

223

Daß die „Eilbedürftigkeit" v o n Gesetzgebungsvorhaben bei der Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens berücksichtigt werden darf, unterstreicht B V e r f G E 34, 9 (22 f). Ferner hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß v o m 18. September 1 9 9 0 betreffend das Zustimmungsverfahren zum Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erkennen lassen, daß „historische Chancen" und besondere politische Sachlagen bei der Gestaltung von Zustimmungsverfahren für den Abschluß v o n Verträgen des Bundes auch verfassungsrechtlich Beachtung verdienen, wenngleich das Gericht ausdrücklich die Frage unbeantwortet lassen wollte, ob die Bundesregierung in Wahrnehmung ihrer Zuständigkeit für auswärtige Angelegenheiten in völkerrechtlichen Verträgen Änderungen des Grundgesetzes vereinbaren darf, vgl. B V e r f G E 83, 3 1 6 (320).

224

Der Präsident des E u G H O. DUE hebt in einer kürzlich erschienenen Abhandlung (Der Grundsatz der Gemeinschaftstreue in der Europäischen Gemeinschaft nach der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs. (Schriften des Zentrums f ü r Europäisches Wirtschaftsrecht) 1992, S. 18) die Ähnlichkeit zwischen Gemeinschaftstreue (Art. 5 E W G V ) und „Bundestreue" hervor. Er betont zugleich, daß der Gerichtshof sich von dem Bemühen habe leiten lassen, die Zuständigkeitsverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten unter Rückgriff auf das Prinzip der Gemeinschaftstreue nicht zu ändern.

225

BGBl. I, S. 2086. BGBl. II, S. 1251.

226

108

1. Kapitel. Grundlagen

5. Die zukünftige Rolle des Verfassungsstaats im europäischen Integrationsprozeß 1 3 7 Mit der Europäischen Union erreicht die „überstaatliche Bedingtheit" 2 2 7 der deutschen Verfassungszustände eine rechtliche und tatsächliche Dimension, über deren umfängliche Auswirkungen heute noch keine vollständige Klarheit besteht. Unstreitig dürfte indes die Einschätzung sein, daß insbesondere die Wirtschafts- und Währungsunion in einem bisher nicht gekannten Ausmaß der staatlichen Souveränität neue Grenzen setzt. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich auf dem Felde der Finanzverfassung ab, wenn der Gemeinschaft künftig immer höhere Einnahmen zugestanden werden sollten 228 bzw. manche Mitgliedstaaten sich sogar anschicken, die Ratifizierung der Maastrichter Vereinbarungen von einer vorherigen Einigung über ein künftiges (erweitertes) Finanzierungssystem der Gemeinschaft abhängig zu machen. Hier könnte sich mittelfristig u. a. auch die Notwendigkeit ergeben, eine eigentliche Gemeinschaftssteuer einzuführen, deren Erhebung der Budgetkontrolle des Europäischen Parlaments unterworfen sein müßte. 229 138

Allerdings sollten die Probleme eines solchen gemeinschaftseigenen Steuersystems nicht unterschätzt werden. Zwar müßte die Gemeinschaft dann ihr Finanzgebaren voraussichtlich intensiver legitimieren und stärker um öffentliche Zustimmung werben als dies bisher der Fall ist. Indes ergäbe sich ein erhöhter Koordinationsbedarf zwischen den verschiedenen Finanzhoheitsträgern in Europa. Dabei wären nicht nur die fiskalischen Belange aufeinander abzustimmen, sondern es wäre auch das komplexe Geflecht außerfiskalischer Zielsetzungen der staatlichen und der gemeinschaftlichen Abgabensysteme zu berücksichtigen. Schließlich bedingt die Schaffung einer originären gemeinschaftlichen Besteuerungskompetenz unter der Kontrolle des Europäischen Parlaments grundlegende Veränderungen im Institutionengefüge der Gemeinschaft. Das Parlament müßte dann zumindest gleichberechtigt an der allgemeinen Rechtssetzung beteiligt werden, da sich andernfalls die Konfliktträchtigkeit der heute bestehenden Aufspaltung zwischen seiner eingeschränkten Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren und seinen weitergehenden Haushaltsbefugnissen noch verstärken dürfte.

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Während sich die Diskussion in der deutschen Staatsrechtslehre in den vergangenen Jahren vor allem auf Probleme des Grundrechtsschutzes in der Europäischen

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Dazu v. SIMSON Souveränität (Fn. 113), S. 252 ff. Zu den weitgesteckten Zielen der EG-Kommission in diesem Zusammenhang siehe die Rede von Kommissionspräsident J. DELORS vom 12.2.1992 vor dem Europäischen Parlament sowie die Mitteilung der Kommission „Von der Einheitlichen Akte zu der Zeit nach Maastricht: Ausreichende Mittel für unsere ehrgeizigen Ziele", in: Bulletin der EG, Beilage 1/92. Zur Frage u. a. der Gemeinschaftssteuer siehe P. M. SCHMIDHUBER Die Notwendigkeit einer neuen Finanzverfassung der EG, in: EuR 1991, S. 329, 336 f; für eine Gemeinschaftssteuer hat sich u. a. der seinerzeitige französische Finanzminister M. Bérégovoy ausgesprochen, siehe dazu den Bericht „France: un enjeu de politique intérieure", in: Le Monde vom 3. März 1992, S. 10; siehe auch P. FISCHER Wider die neue Europa-Wehleidigkeit der Deutschen, in: Europa-Archiv 1992, S. 187 ff, (193 f), der eine Gemeinschaftssteuer als integrationspolitischen Fortschritt bewertet.

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Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

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Gemeinschaft konzentriert hat, werden sich nun also vermehrt Fragen nach der Wirtschafts-, Währungs- und Finanzverfassung und wegen deren heutiger zentraler Bedeutung sogar nach dem Schicksal der deutschen Staatlichkeit insgesamt im Rahmen der europäischen Verfassungsentwicklung stellen. Dabei steht zum einen die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten im Vordergrund. Insofern sind Befürchtungen durchaus ernst zu nehmen, die Gemeinschaftsorgane könnten durch eine extensive Nutzung ihrer Zuständigkeit ein zentralistisch strukturiertes und bürokratisch geprägtes Europa schaffen, in dem der dominierende Einfluß vom Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs und von der EG-Kommission ausgeht. 2 3 0 Auch gewinnt die Kontrolle über das Gemeinschaftshandeln eine völlig neue zeitliche Dimension, wenn bereits heute in bindender Weise über Planungszeiträume bis in das Jahr 1999 entschieden werden soll. 231 Andererseits sind im gegenwärtigen Konzept auch Elemente enthalten, die einer zentralistischen Tendenz entgegenwirken dürften. So ist es durchaus wahrscheinlich, daß nicht alle Mitgliedstaaten in die 3. Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion eintreten können. Um einen Kern mit einer einheitlichen europäischen Währung wird sich dann ein Randgebiet von Staaten bilden, die nach wie vor auf ihre nationalen Währungen angewiesen sind. Die Entwicklung zu einem Europa der zwei Geschwindigkeiten, auch auf anderen Gebieten, ließe sich dann nur noch schwer aufhalten, obwohl sie in der Tendenz einem maßgeblichen Prinzip der institutionellen Struktur der Gemeinschaft zuwiderläuft. 2 3 2 Bei allem darf aber die weiterbestehende Rolle und Funktion der Mitgliedstaaten 1 4 0 im europäischen Einigungsprozeß nicht unterschätzt werden. Die Gemeinschaft verfügt auch nach den nun vorliegenden Verfassungsplänen weder über die dazu erforderlichen weitreichenden Kompetenzen noch über die personelle sowie die technisch-administrative Kapazität, einen europäischen Zentralstaat zu schaffen und seinen Anforderungen zu genügen. 2 3 3 Schließlich sind es auch in der Zukunft die Regierungen der Mitgliedstaaten, die im Rat über den Inhalt und das Ausmaß der europäischen Gesetzgebung beschließen. Die nationalen Parlamente müssen sich zwar darauf einstellen, weitere Entscheidungskompetenzen an die Europäische Ge230

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Eindringlich in diesem Sinne E. STEINDORFF Verfassungsänderung durch die EG?, in: A ö R 1 1 6 (1991), S. 460 ff. Siehe dazu besonders H. TIETMEYER Währungsunion — ein Weg ohne Umkehr, in: Integration 1/92, S. 17 ff. Der Maastrichter Vertragsentwurf ist dabei von den deutlichen Bemühungen geprägt, durch Aufstellung objektiver Konvergenzkriterien den Prozeß zur Europäischen Währungsunion berechenbar zu machen. Vgl. Art. 109j Abs. 1 EG-Vertrag und das beigefügte Protokoll über die Konvergenzkriterien. Zum Problem der Planungskontrolle im nationalen Rahmen siehe besonders W. GRAF VITZTHUM Parlament und Planung, 1978 und TH. WÜRTENBERGER Staatsrechtliche Probleme politischer Planung, 1979. Dazu Gutachten des E u G H 1/76, Stillegungsfonds für die Binnenschiffahrt, erstattet am 26. April 1977, Amtl. Slg. 1977, S. 741 ff. Hierzu würde Art. 24 G G auch in keinem Fall eine Ermächtigungsgrundlage bieten können, siehe nur STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4), S. 521: „Art. 24 Abs. 1 G G läßt in Verbindung mit der Präambel (gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa) daher rechtlich zwar nicht die Mitwirkung an der Gründung eines Einheitsstaates zu; öffnet aber wohl den Weg zu einem europäischen Bundesstaat ..."

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1. Kapitel. Grundlagen

meinschaft abzugeben, doch wachsen ihnen — mit dem Kompetenzverlust einhergehend — weitere Kontrollaufgaben gegenüber den Regierungen zu, soweit es um deren Abstimmungsverhalten in den europäischen Organen geht. Zur effektiven Wahrnehmung der parlamentarischen Kontrolle gehört freilich, daß sich die nationalen Parlamente diesen gesteigerten Anforderungen tatsächlich bewußt sind und den erhöhten Kontrollbedürfnissen künftig gegebenenfalls in neuen Verfahrensformen entsprechen.234 141

Unseres Erachtens ist der nun von der Bundesregierung eingeschlagene Weg,235 der den Vorstellungen der Verfassungskommission entspricht, durch Neufassung des Art. 23 neben Art. 24 eine besondere Basis für die Übertragung von Hoheitsrechten auf eine Europäische Union zu schaffen, wenig sachgerecht.

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Zunächst einmal bleibt ungeklärt, welcher Anwendungsbereich danach für Art. 24 GG verbleibt. Außerdem stellt sich die Frage, ob deutsches Verfassungsrecht sich von europäischer Begriffsbildung und dort insbesondere von dem unklaren Terminus der „Europäischen Union" abhängig machen sollte.236 Umgekehrt kann das Grundgesetz kaum den Anspruch erheben, daß innerhalb der Europäischen Union die Strukturprinzipien des Grundgesetzes spiegelbildlich und ohne jegliche Modifikation Berücksichtigung finden.237 Der europäische Integrationsprozeß wird aus den Verfassungsprinzipien aller Mitgliedstaaten gespeist, die grundsätzlich gleichberechtigt sind, so daß kein Mitgliedstaat die unabänderliche und unbedingte Geltung seines Verfassungsrechts als Kernbestandteil einer europäischen Verfassung verlangen kann. In der Sache werden im übrigen durch die Verfassungsänderung die Gewichte zu Unrecht zu Lasten des Bundes als verantwortlichem Akteur auf dem Gebiet der Europapolitik verschoben.238 234

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Zu den unterschiedlichen Formen, in denen die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten das europäische Integrationsgeschehen kontrollieren, siehe K. P O H L E Parlamente in der E G — Formen der praktischen Beteiligung, in: Integration 2/92, S. 72 ff m.w.N. Vgl. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 1992, BGBl. I, S. 2086; siehe ferner zu den Arbeiten der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat S C H O L Z Grundgesetz und europäische Einigung (Fn. 153), S . 2593 ff (insb. S . 2595 ff). Kritisch auch U. E V E R L I N G Zurück zum Staatenverein?, in: FAZ ν. 15.10.1992, S. 7. Zumindest erweckt die Begründung des Gesetzesentwurfs (BR-Drucks. 501/92) den Eindruck, als sollten Prinzipien der deutschen Verfassung auch für die Europäische Union maßgebend sein, wenn es dort heißt: „Die Integrationsgemeinschaft der Europäischen Union, an deren Schaffung und weiterem Ausbau die Bundesrepublik Deutschland mitwirken soll, soll demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen sowie dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet sein und einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewähren. Damit wird zu Beginn der von Maastricht markierten neuen Etappe der europäischen Integration verfassungskräftig nach innen sowie gegenüber den Partnerstaaten dokumentiert, welche Strukturen die Bundesrepublik Deutschland im vereinten Europa anstrebt, nach welchen innerstaatlichen Regeln sich die weitere Integration vollziehen soll und wie insbesondere die Bundesländer daran teilnehmen." Ahnliche Schlußfolgerungen legen auch die Ausführungen von S C H O L Z G G und europäische Einigung (Fn. 153), S. 2598, nahe; demgegenüber sieht E V E R L I N G in der Struktursicherungsklausel zu Recht eine Wiederbelebung der als überwunden geglaubten Forderung nach „struktureller Kongruenz" von staatlicher und gemeinschaftlicher Verfassungsordnung, Staatenverein (Fn. 236), S. 7. Siehe zu den Folgen oben Rdn. 90.

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Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

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Die Verfassungsänderung bewirkt ferner, daß jeder bedeutsame Ausbau der 143 Zuständigkeit der Europäischen Union innerstaatlich den verfahrensmäßigen Bedingungen einer Verfassungsänderung unterworfen wird (Art. 23 I letzter Satz). 239 Unbedacht bleibt dabei, daß ein solcher Schritt Gegenreaktionen in anderen Mitgliedstaaten auslösen und in letzter Konsequenz zu einer „Renationalisierung" der Europapolitik führen könnte. 240 Damit löst sich die Verfassungsänderung von den Vorstellungen, die ursprünglich zur Aufnahme der „Verfassungsentscheidung für die internationale Zusammenarbeit" 241 in Art. 24 GG geführt haben. Diese Vorschrift hat sich als Klammer zwischen Grundgesetz und europäischer 144 Integration durchaus bewährt. Sie ist in ihrer Auslegung durch das BVerfG 242 geeignet, Fortentwicklungen der Gemeinschaft, wie sie in den Maastrichter Vereinbarungen vorgesehen sind, verfassungsrechtlich abzusichern. Dies führt zu der Konsequenz, daß man über die notwendigen punktuellen Verfassungsänderungen (Art. 28, Art. 88 GG) hinaus die Maastrichter Vereinbarungen weder zum Anlaß hätte nehmen müssen noch sollen, neben Art. 24 eine völlig neue Grundlage für weitere Schritte auf dem Wege zu einer europäischen Integration zu schaffen. Daß dies nicht ausgeschlossen hätte, zusätzlich das Mitspracherecht der Länder in dem oben skizzierten engeren Rahmen 243 im Grundgesetz zu verankern, bleibt davon unberührt.

IV. Zukunftsperspektiven europäischer Integration und deutsches Verfassungsrecht 1. Irreduzible Bereiche deutscher Staatlichkeit Das Grundgesetz zählt in Art. 79 Abs. 3 einzelne Maßnahmen auf, die als Änderung 145 des GG unzulässig sind. Damit ist nicht gemeint, daß niemand das Recht habe, 239

Der neue Art. 23 Abs. 1 G G unterscheidet zwischen der Übertragung von Hoheitsrechten, die der Bund durch ein einfaches Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates vornehmen kann, und der „Begründung der Europäischen Union" sowie „Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen", die eine Zustimmung beider Organe mit verfassungsändernden Mehrheiten (Art. 79 Abs. 2 G G ) erfordern, sofern dadurch das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden. Indes gibt die Gesetzesbegründung (Fn. 237) kaum Aufschluß darüber, in welchen Fällen das Verfahren des A r t . 23 Abs. 1 S. 2 G G (einfacher Gesetzesbeschluß) Anwendung finden soll: „Anwendungsfälle f ü r die Hoheitsrechtsübertragung nach Satz 2 könnten sich dann ergeben, wenn Änderungen des Unions-Vertrages zu ratifizieren sind, die von ihrem Gewicht her der Gründung der Europäischen Union nicht vergleichbar sind und insoweit nicht die 'Geschäftsgrundlage' dieses Vertrages betreffen." Jedoch führt bereits jede Übertragung von Hoheitsrechten zu einer materiellen Änderung des Grundgesetzes, da zumindest d e Zuständigkeitsordnung modifiziert wird. Welcher Anwendungsbereich danach für Art. 23 Abs. 1 S. 2 G G verbleiben wird, ist also sehr fraglich.

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So auch die Befürchtung von EVERLING Staatenverein (Fn. 236), S. 8. K . VOGEL Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes f ü r eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 42 f. Vgl. B V e r f G E 73, 339 ff (375 f). Siehe oben Rdn. 78 ff.

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1. Kapitel. Grundlagen

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derartige Maßnahmen zu ergreifen. Sie würden aber, das ist der Sinn der Vorschrift, das Grundgesetz aufheben, sind also unzulässig im Rahmen und unter Bewahrung des Grundgesetzes.244 146 Der deutsche Staat ist der Staat des Grundgesetzes. Will also die Gemeinschaft sich nicht über die Tatsache der deutschen Staatlichkeit hinwegsetzen, so muß sie als mindestes das achten, was Art. 79 Abs. 3 GG als deren unverzichtbaren Inhalt hervorgehoben hat. a)

Bundesstaatlichkeit

147 Zu den in Art. 79 Abs. 3 GG angesprochenen Einrichtungen gehört die Gliederung des Bundes in Länder sowie die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung. Ersichtlich steht das Erfordernis der Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung im Sinnzusammenhang bundesstaatlicher Machtbalance und -kontrolle. Es soll also sicherstellen, daß die Länder nicht von der grundsätzlichen Mitsprache an der Gesetzgebung im Bundesstaat des Grundgesetzes ausgeschlossen werden.245 Wenn nun aber in einem verfassungspolitisch jedenfalls nicht vorhergesehenen Maße Gesetzgebungsrechte vom Bund an europäische Instanzen abgegeben werden und davon in nennenswertem Umfang auch Bereiche (innerstaatlicher) Landeskompetenz betroffen sind, darf dadurch das prinzipielle Mitwirkungsrecht der Länder an der Gesetzgebung nicht völlig ausgehöhlt und jeder Relevanz beraubt werden. Als Mindestgarantie verlangt bereits der Grundsatz der Bundestreue, wie oben dargelegt, vorgängige Informations- und Anhörungsrechte der Bundesländer bei Gesetzesvorhaben der Gemeinschaft, in deren Planung und Beschlußfassung für den Bund die Regierung eingeschaltet ist.246 Freilich darf dadurch auch der Bund nicht an effektiver Mitentscheidung im Rahmen der europäischen Gremien und Organe zum Wohle gesamtstaatlicher Interessen gehindert werden. Weitergehende Ansprüche der Länder würden ihrerseits gegen den Grundsatz der Bundestreue verstoßen. Hier kommt es darauf an, in praktischer Konkordanz die Entscheidungskompetenz des Bundes trotz und auf Grund vorheriger Information und Anhörung der Bundesländer zu sichern. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob der neue Art. 23 GG247 sich in praktischer Hinsicht bewähren wird. Er schafft ausgesprochen komplizierte Abstimmungsverfahren zwischen Bund und Ländern und beschwört die Gefahr herauf, eine wirksame Interessenvertretung des Gesamtstaates Bundesrepublik Deutschland auf EG-Ebene zu Lasten von Bund und Ländern zu behindern248.

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P. KIRCHHOF Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in: HdBStR Bd. 1, 1987, § 19 Rdn. 44 ff., 66 ff; vgl. HESSE Verfassungsrecht (Fn. 9) Rdn. 7 0 0 f f , insb. Rdn. 702 f. MAUNZ in: Maunz/Dürig G G (Fn. 38), Art. 79 Nr. 7 b; B.-O. BRYDE in: I. von Münch (Hrsg.), G G (Fn. 124) Art. 79 III Rdn. 32; H.-U. EVERS in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 79 III Rdn. 217 ff. Siehe Rdn. 77 ff. BGBl. 1992 I, S. 2086. Siehe dazu näher J. SCHWARZE Das Staatsrecht in Europa, J Z 1993, S. 85 ff.

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Europäische Integration und Grundgesetz

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b) Verfassungsgrundsät^e der Art. 1 und 20 Art. 79 Abs. 3 bestimmt ferner, daß das G G seine Geltung verlöre, wenn die in den 148 Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt, d. h. nicht aufrechterhalten würden. Im Rahmen des G G kann also ein derartiges Vorgehen nicht stattfinden. Daraus ist zu schließen, daß auch ein entsprechendes Handeln der Gemeinschaft dem Grundgesetz, und damit der wesentlichen Substanz des deutschen Staates, den Boden entziehen müßte. Das führt uns dazu, drei Abstufungen möglicher Eingriffe der Gemeinschaft in das deutsche Verfassungsleben zu unterscheiden: aa) Der stärkste Eingriff wäre eine für den Staat des G G verbindlich gemachte 149 Maßnahme, welche die erwähnten Garantien des Art. 79 Abs. 3 außer Kraft setzte. Sie mag geschehen. Dann aber hörte der Staat der Bundesrepublik auf zu existieren. Das BVerfG hat den Bestand dessen, was unauflöslich mit der „verfassungsmäßigen Ordnung" der Bundesrepublik verbunden ist, über den Wortlaut des Art. 79 Abs. 3 hinaus erweitert, 249 und zwar durch eine extensive Auslegung des im Grundgesetz verwendeten Begriffs der Menschenwürde. 250 Es stellt fest, daß die Menschenwürde durch eine wertgebundene Ordnung geschützt wird, durch welche die Eigenständigkeit, die Selbstverantwortlichkeit und die Würde des Menschen in der staatlichen Gemeinschaft gesichert werden. Gesetze, selbst wenn sie formell ordnungsmäßig ergangen sind, müssen daher auch materiell mit diesen obersten Grundsätzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar sein. Zu diesen Grundsätzen gehören, wie das BVerfG hervorhebt, auch die „ungeschriebenen elementaren Verfassungsgrundsätze und die Grundentscheidungen des GG", 2 5 1 vornehmlich der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und das Sozialstaatsprinzip. Daraus ergibt sich, wie das BVerfG ausführt, „daß dem einzelnen Bürger eine Sphäre privater Lebensgestaltung verfassungskräftig vorbehalten ist, also ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit besteht, der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen ist". 252 Soll diese Feststellung nicht sinnlos werden, so müssen wir das in die Bundesrepublik mit Gesetzeskraft einwirkende Beschlußrecht der Europäischen Gemeinschaft als zur „öffentlichen Gewalt" im Sinne der Ausführungen des BVerfG gehörig ansehen. Wir haben es also als erstes mit der Möglichkeit von Maßnahmen der Gemeinschaft zu tun, welche, um den Ausdruck des Art. 19 Abs. 2 G G zu verwenden, den „Wesensgehalt" unserer Verfassungsstaatlichkeit antasten würden. bb) In zweiter Linie kommen Maßnahmen in Betracht, die nur bei einer 150 veränderten Interpretation bestimmter Verfassungsbegrifje mit dem Grundgesetz vereinbar wären. Bei der Definition der Gewaltentrennung und der möglichen Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung ist dies bereits zur Sprache gekommen. 253 249 250 251 252 253

BVerfGE 6, 32 ff, - Fall Elfes. BVerfGE 6, 32. BVerfGE 6, 32, 41. BVerfGE 6, 32, 41. Siehe oben Rdn. 24 ff. sowie Rdn. 145 f.

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1. Kapitel. Grundlagen

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cc) Ein drittes Problem ergibt sich aus dem unaufhaltsamen Anwachsen der materiellen Zuständigkeit der Gemeinschaft für die Regelung von Aufgaben, deren Erfüllung im bisherigen Verständnis zu den wesentlichen Pflichten, ja zu der Existenzvoraussetzung des Staates gehörte. Worauf es hier vor allem ankommt, ist, daß die betreffende Leistung effektiv erbracht wird, sei es durch den Staat, sei es durch die Gemeinschaft, die dessen Zuständigkeit an sich zieht. 254

152

War es bisher die Pflicht des Staates, diese lebenswichtigen Aufgaben zu erfüllen, so ist es jetzt seine Pflicht, sich zu versichern, daß sie von der Gemeinschaft wirkungsvoll und nach allgemein anerkannten Rechts- und Verfassungsprinzipien wahrgenommen werden. Gelingt es nicht, diesen Zustand herzustellen, so bedeutet dies das Ende der „verfassungsmäßigen Ordnung" des Grundgesetzes und damit des deutschen Staates, so wie er bis jetzt verstanden wurde.

153

Genügt hingegen der Staat seiner Pflicht, die Erreichung bestimmter Leistungsziele, die er der Europäischen Gemeinschaft zur gemeinschaftlichen Wahrnehmung überträgt, dort effektiv zu sichern, so hebt er sein eigentliches Wesen nicht auf, sondern findet sich in der Lage, innerhalb der einer überregionalen Verantwortung zugewiesenen Aufgaben den übrigen verfassungsmäßigen Anforderungen zu genügen und sich damit als individueller Bestandteil des Ganzen behaupten zu können. Daß er damit zugleich der Gemeinschaft einen unentbehrlichen Dienst leistet, ist bereits zur Sprache gekommen. Die Gemeinschaft kann nicht leben ohne die Bindungskräfte, die sie selbst nicht hervorbringen, sondern die sie nur bei den Mitgliedstaaten vorfinden und sich dienstbar machen kann. Vielleicht, daß langsam einmal die irrationalen Gewißheiten, auf die es hier ankommt, in der Gemeinschaft selbst heranwachsen werden. Der Grad, in dem sie auf die Verschiedenheiten unter den Mitgliedstaaten verzichten kann, hängt hiervon ab. Evidente gemeinsame Gefahrenlagen, unausweichliche, alles andere beiseite drängende Überlebensaufgaben, ein in gemeinsamer Leistung begründetes Selbstgefühl mögen diesen Zustand befördern. Einstweilen ist er nicht erreicht und kann deshalb die Fliehkräfte, denen eine solche Gemeinschaft ständig ausgesetzt ist, nicht binden. Soviel zu der Frage des Eingriffs europäischer Hoheitsgewalt in die Grundlagen unseres Verfassungslebens. Die Dynamik der augenblicklich vehementen Einigungsbewegung bringt nun aber zwei gleichermaßen bedenkliche Gefahren mit sich, die erkannt und gemeistert werden müssen.

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Einmal droht das der Gemeinschaft zuwachsende Aufgabengebiet die Leistungskraft der für deren Bewältigung einzig in Betracht kommenden Instanz, nämlich der europäischen Bürokratie, zu überfordern. 255 Dies ist ein viel zu wenig bedachtes Problem. Gewiß kann die für die Gemeinschaftsverwaltung wie für die Gesetzesund sonstige politische Initiativen verantwortliche Kommission bislang als ein un-

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Ein wichtiges Beispiel für derartige unabdingbare Leistungen ist die Bekämpfung internationaler Verbrechensorganisationen. STEINDORFF Verfassungsänderung durch die EG? (Fn. 230) S. 460 ff.

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bestreitbares Verdienst für sich in Anspruch nehmen, mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln supranationaler Wirtschaftsverwaltung den Fortgang der Integration nach Kräften gefördert zu haben. Wie ein gemeinschaftlicher Beamtenapparat den ihm in der neueren Planung zugewiesenen Aufgaben gewachsen sein und wie er einer demokratischen Kontrolle zugänglich sein soll, das sind offene Fragen. Zum zweiten naht der Zeitpunkt, an dem die erwähnten Gefahren, denen die 155 Staatlichkeit der einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft durch deren fortschreitendes Wachsen ausgesetzt wird, als Grenzen dieses Wachstums anerkannt werden müssen. Alle weiteren Maßnahmen der Vereinheitlichung sind daran zu messen, ob sie den irreduziblen Bereich, auf den der Mitgliedstaat für seine Existenz und für seine Rolle in der Gemeinschaft angewiesen ist, nachteilig oder gar auflösend berühren. Es müssen dabei nicht nur die essentiellen Elemente der Staatlichkeit einbezogen werden, sondern zugleich die Leistung, welche der Mitgliedstaat der Gemeinschaft einbringt und auf die auch diese nicht verzichten kann. Es handelt sich, wie oben des näheren ausgeführt, um die Verwurzelung des Gemeinwesens in der Vorstellung, die sich der einzelne Bürger von der öffentlichen Ordnung und ihren Rechten macht. Soweit sich der Bürger mit dieser Ordnung als einer selbst gewollten eins fühlt, kann vieles, was sonst zu dauerndem Streit und zu zentrifugalen Bestrebungen führen würde, in toleranter Undeutlichkeit unentschieden bleiben. Keine auf geschichtliche Dauer angewiesene Gemeinschaft kann, wenn sie Freiheit gewähren soll, diese Gesinnungslage entbehren. So spielt die stillschweigende Hinnahme dessen, was in Ausübung öffentlicher Gewalt geschieht, eine maßgebliche Rolle. Die Regierung der Europäischen Gemeinschaft ist dem einzelnen noch zu fern, als daß er sich ihr in diesem Sinne verbunden fühlen könnte. Er kann es nur, indem er dem zustimmt, was sein Staat, zu dem er diese Beziehung hat, in die Entscheidungen der Gemeinschaft einbringt. Fällt der Staat als mitwirkendes Subjekt fort, so entsteht ein Leerraum, von dem niemand weiß, wie er auszufüllen wäre. Weitere essentielle Aufgabenzuweisungen an die Gemeinschaft setzen also vor- 156 aus, daß sich auf Gemeinschaftsebene selbst Verfassungszustände herangebildet haben, die unseren gegenwärtigen Vorstellungen auf diesem Gebiet ebenbürtig sind. Andernfalls würden Rückschritte eintreten, die nicht ernst genug genommen werden können. 2. Möglichkeiten verfassungsmäßiger Einschränkung einer europäischen Hoheitsmacht Dies führt nun dazu, jedenfalls einzelne Möglichkeiten anzudeuten, wie sich die europäische Hoheitsmacht verfassungsmäßig einbinden und umgrenzen ließe. a) Verfassungsvorbehalte

und Kontrolle

Als erstes bietet sich an, den Umfang der einer europäischen Regierung zukommen- 157 den Kompetenz prinzipiell unter gewisse Verfassungsvorbehalte zu stellen. Die vermutete Allzuständigkeit, wie wir sie beim Staat kennen, würde die europäische öffentliche Gewalt ein für allemal einer verfassungsorientierten Kontrolle entziehen.

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1. Kapitel. Grundlagen

Die europäische Kompetenz muß daher, wie schon jetzt, eine compétence d'attribution (Art. 4 Abs. 1, Satz 2 EWGV) 2 5 6 bleiben. Dies ist dann der geeignete Ort, Verfassungsgrundsätze zur Geltung zu bringen. Eine künftige Generalklausel könnte diesen Dienst leisten. Sie müßte ausdrücken, von welchen Bedingungen jede hoheitliche Maßnahme der Gemeinschaft abhängig ist und wessen Einverständnisses sie bedarf, um gültig zu sein. Die Einhaltung dieser Bedingungen müßte einklagbar sein. Dabei versteht sich, daß natürliche Personen und ihresgleichen von der Maßnahme, welche sie anfechten wollen, direkt betroffen sein müßten. 158

Ferner ließe sich daran denken, zur Wahrung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Gerichtshofs einen besonderen Kontrollausschuß bei dem Europäischen Parlament einzurichten, dessen Zustimmung erforderlich wäre, wenn ein entsprechender Personenkreis die mangelnde Übereinstimmung einer hoheitlichen Maßnahme der Gemeinschaft mit dem Umfang der ihr übertragenen Kompetenzen vor Gericht bringen wollte. Jeder Mitgliedstaat müßte, wie sich gleichfalls versteht, den EuGH direkt anrufen können. Auch wäre vorstellbar, ein Einspruchsverfahren bei dem Ministerrat oder der Kommission einzurichten und die Anrufung des Parlamentsausschusses erst zuzulassen, wenn dies erfolglos stattgefunden hat. Ein solches, dem eigentlichen Gerichtsschutz 257 vorgeschaltetes Verfahren würde sich an dem Beispiel der E M R K orientieren, welche den Zugang zum Gerichtshof für natürliche Personen, nichtstaatliche Organisationen oder Personenvereinigungen davon abhängig macht, daß die Europäische Kommission für Menschenrechte ein entsprechendes Gesuch annimmt. Auch das BVerfG hält ähnliche Voraussetzungen der Zulässigkeit vornehmlich von Verfassungsbeschwerden, wie sie ja auch bei dem Supreme Court der Vereinigten Staaten gelten, für erwägenswert. 2 5 8

159

Was den Inhalt der erwähnten Generalklausel angeht, so wäre zunächst an die Garantie der Grundrechte zu denken. Es kämen nicht nur Grundrechte einzelner Betroffener in Frage, sondern auch fundamentale, der Gemeinschaft vorenthaltene Rechte der Mitgliedstaaten (retained powers), deren Verletzung durch die Gemeinschaft danach ultra vires wäre. Als grundlegender Inhalt der Generalklausel wäre aber das nun auch durch die Maastrichter Gipfelbeschlüsse 259 ausdrücklich anerkannte Prinzip der Subsidiarität 260 anzusehen. Dies bedarf hier einer näheren Erörterung. 256

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Vgl. G. ISAAC Droit communautaire général, 1989, S. 34, 120; J . BOULOIS Droit institutionnel des Communautés Européennes, 1991, S. 1 0 9 ff. Zur Bedeutung des Rechtschutzes vgl. etwa J. SCHWARZE Stellung und Funktion des Europäischen Gerichtshofes im Verfassungssystem der Europäischen Gemeinschaft, in: ders. (Hrsg.) Fortentwicklung des Rechtsschutzes in der Europäischen Gemeinschaft, 1987, S. 13 ff; sowie J. SCHOO Das Europäische Parlament und sein Verfassungsgericht, E u G R Z 1990, S. 525 ff. H. KUTSCHER Maßnahmen zur Minderung der Geschäftslast des Bundesverfassungsgerichts, in: Schwarze (Hrsg.), Fortentwicklung des Rechtschutzes (Fn. 257), S. 141, 151 ff. Vgl. Vertrag über die Europäische Union, Rat der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.), Luxemburg 1992, Art. 3b II. Zum Subsidiaritätsprinzip im allgemeinen: R. HERZOG Subsidiaritätsprinzip, in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., 1987, S. 3564 ff; A . HOLLERBACH/A. RAUSCHER Subsidiarität, in: Staatslexikon, Görres-Gesellschaft (Hrsg.), 1989, S. 386 ff; zum europäischen Recht F.-L. KNEMEYER Subsidiarität — Föderalismus, Dezentralisation, in: ZRP 1990, S. 1 7 3 ff; I. PERNICE Befugnisse der E G auf dem Gebiet des Umwelt- und Technikrechts, in: DVB1. 1989, S. 1 ff; Κ . HAILBRONNER Die deutschen Bundesländer in der EG, in: J Z 1990, S. 149 ff.

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Wieweit dieses besonders durch die päpstliche Encyklika Quadragesimo Anno 1 6 0 (1931)261 bedeutsam gewordene Prinzip philosophisch begründet und allgemein zutreffend ist, braucht uns nicht zu beschäftigen. Im Zusammenhang der Beziehung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten ist es aus einem ganz spezifischen Grunde unentbehrlich. Die Gemeinschaft als übergeordnete Einheit ist für ihr eigenes Bestehen darauf angewiesen, daß die Mitgliedstaaten in ihrer größeren Dichte und ihrer Nähe zu den einzelnen so weit wie möglich erhalten bleiben. Sie braucht, wie oben dargestellt, die Verwurzelung des öffentlichen Lebens in den engeren, übersichtlichen Lebensformen der Staaten, wenn sie selbst dauern und zusammenhalten soll. Sie braucht sie aber auch aus einem anderen Grunde: Sie ließe sich nicht demokratisch kontrollieren und einschränken, wenn ihr der subsidiäre Aufbau abhanden käme. Was daher auch immer gegen das Subsidiaritätsprinzip im allgemeinen vorzubringen sein mag, für die spezielle Aufgabe der Bewahrung von Verfassungszuständen in einer Europäischen Gemeinschaft ist es nicht zu entbehren. 262 Will man dieses Prinzip nicht gelten und das ganze System beherrschen lassen, so bedeutet dies den weitgehenden Verzicht auf die effektive Einschränkung der europäischen Hoheitsmacht. Ihr verfaßtes Dasein läßt sich nur herstellen, wenn diese Macht verteilt und wenn die Einhaltung dieser Verteilung kontrollierbar 263 gemacht wird. Gerade in diesem Punkt würde sich für die hier zur Erwägung gestellten neu einzurichtenden Kontrollausschüsse ein besonderes Aufgabengebiet ergeben. b) Neue Formen der

Aufgabenbewältigung

Neben der Ausdehnung demokratischer Kontrolle in einem gemeinschaftsadäquaten 161 Sinne wäre eine weitere, uns bisher kaum vertraute Technik in Betracht zu ziehen, um die sonst fast unüberwindlichen Schwierigkeiten der verfassungsrechtlichen Einbindung der ins Auge gefaßten europäischen Hoheitsmacht zu meistern. Es wäre daran zu denken, bestimmte Sachgebiete auszusondern und sie, unter präziser Zielangabe, weisungsunabhängigen Stellen zur Sicherung dieses Zieles zuzuweisen. Das Bundesbankgesetz bietet dafür ein Beispiel. 264 Hier wird ein bestimmtes sachliches Ziel sozusagen von politischen, etwa davon 162 abweichenden Einflüssen freigestellt. Es steht für sich, und eine sachverständige Instanz ist mit seiner Erreichung beauftragt. Diese Instanz hat keine weiteren Befugnisse. Sie soll gewisse Alternativen auf dem Gebiet der Währungspolitik dem Einfluß der Regierung und damit der politischen Verfügungsmacht entziehen. Das 261

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263

264

Zitiert von: HERZOG Subsidiaritätsprinzip (Fn. 260), S. 3 5 6 4 f; HOLLERBACH/RAUSCHER Subsidiarität (Fn. 260), S. 386. In diesem Sinne nachdrücklich Staatssekretär H. KÖHLER im Interview mit der Zeitschrift Der Spiegel 15/1992 v. 6.4.1992, S. 41, 45, 47. Dazu H. STEINBERGER Der Verfassungsstaat als Glied einer Europäischen Gemeinschaft (Fn. 12), S . 9 ff, 21, 3 0 . Zur Unabhängigkeit der Bundesbank siehe oben Rdn. 101 f. Ein ähnlicher Gedanke — wenn auch in abgeschwächter Form — liegt der Einrichtung von Beschlußabteilungen beim Bundeskartellamt zugrunde, die zumindest in der Praxis über eine weitgehend gerichtsähnliche, sachliche Unabhängigkeit verfügen. Vgl. dazu F. RITTNER Wirtschaftsrecht, 2. Aufl., 1987, S. 457 m.w.N.

1. Kapitel. Grundlagen

118

Verfahren hat sich bewährt, so sehr auch die Regierungen immer wieder versuchen, sich von dieser heilsamen Fessel zu befreien. 163 Dieser Gedanke erhält eine ganz neue Bedeutung für das Problem des Gewinnens verfassungsmäßiger Zustände265 in der geplanten und als unvermeidlich erkannten europäischen Zusammenfassung. Das Einbringen politischer Zuständigkeiten in gemeinsame Wahrnehmung könnte auf diese Weise den Mitgliedstaaten entscheidend erleichtert werden. 266 Sie brauchten nicht zu fürchten, mittels dieser Kompetenzen über ihren Kopf hinweg regiert zu werden. 164

Es ist sehr zu überlegen, ob eine derartige Ausgrenzung der Zuständigkeit auf bestimmten Gebieten nicht vielleicht die einzige Möglichkeit böte, die damit entstehende politische Macht verfassungsmäßig einzubinden und damit ihr Einbringen in die europäische Gemeinsamkeit akzeptabel zu machen. c) Widerruf neuer

Kompetensguweisungen

165 Ein weiteres bedeutsames Problem ist darin zu sehen, daß fast jede Kompetenz, die der Staat auf die Gemeinschaft überträgt, eine zwingende Anziehungskraft zur Übertragung weiterer Kompetenzen ausübt. Hat der Staat die Gemeinschaft einmal ermächtigt, bestimmte Sachgebiete in gemeinsamer Wahrnehmung zusammenzufassen, so kann er die Erfüllung der damit verbundenen Aufgaben nicht dadurch hindern, daß er sich weigert, die dafür weiter benötigten Kompetenzen zu gewähren. Was dies bedeutet, ist oft nicht im voraus ersichtlich. Am Ende ist dann das, was geschieht, nicht so sehr gewollt, als vielmehr die unvorhergesehene Folge früherer Entscheidungen. Es fragt sich, ob hier ein Weg gefunden werden kann, der eine gewisse Kontrolle der Folgewirkung einmal getroffener Entscheidungen zuläßt, indem ζ. B. die zunächst erteilte Kompetenzzuweisung aufgehoben wird, weil man deren erst später in Erscheinung tretende Folgen nicht auf sich nehmen will. 166

Freilich gilt für nahezu das gesamte Gemeinschaftsgeschehen, daß dem hier geltenden Prinzip fortschreitender Entwicklung besonders die Schaffung von Tatsachenlagen zugute kommt, auf denen weitere Entschlüsse später aufbauen können. Die von faits accomplis ausgehende Wirkung ließe sich jedenfalls dann ausräumen, wenn man sich bei der Zuweisung von neuen Gemeinschaftskompetenzen bewußt 265

266

Zum Zwecke der Kontrolle der Staatsgewalt ist der Gedanke einer unabhängigen Instanz dem deutschen Verfassungsrecht etwa in Gestalt des Wehrbeauftragten bekannt (Art. 45 b G G ) . Dem gleichen Prinzip folgen die Maastrichter Beschlüsse, wenn sie künftig die Einrichtung eines unabhängigen Bürgerbeauftragten beim Europäischen Parlament vorsehen (Art. 138e Abs. 3 EG-Vertrag). Als weiteres Beispiel einer zweckgebundenen autonomen Kompetenzzuweisung wäre an das Internationale Komitee v o m Roten Kreuz zu denken. Die Zusammensetzung des Komitees — alle 25 Mitglieder sind Schweizer — garantiert die Unabhängigkeit und Neutralität bei der Umsetzung des einschlägigen Völkerrechts, insbesondere den Genfer Konventionen. Das K o mitee führt von sich aus keine Untersuchungen von Verstößen gegen die Konventionen durch, sondern bringt Verstöße den beteiligten Nationen zur Kenntnis, wenn ein anderweitiger Meinungsaustausch unmöglich ist. A u f Wunsch der Beteiligten könnte das Komitee dann eine Erforschung des Sachverhalts einleiten; vgl. D. BINDSCHEDLER-ROBERT „Red Cross", in: R. Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. V, 1983, S. 248 f.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

119

einer Technik der Übertragung zur Erprobung bediente, mit der Folge, daß die Mitgliedstaaten die betreffenden Kompetenzen wieder an sich ziehen könnten, wenn sich der Versuch gemeinschaftsweiter Wahrnehmung nachträglich als untauglich erwiese. 267 So ist ja auch die Unabhängigkeit der deutschen Bundesbank nur durch reversibles einfaches Gesetz eingerichtet. Neben diesen unmittelbar auf Gemeinschaftsebene zu erwägenden neuen For- 167 men der Kontrolle wachsender Gemeinschaftsgewalt bietet sich künftig auch eine Akzentverlagerung bei der Auslegung des eigenen Verfassungsrechts im Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht an. 3. Gestaltungschancen im Prozeß der europäischen Verfassungsentwicklung Mehr als in der Vergangenheit in der deutschen Staatsrechtslehre und Staatspraxis 168 üblich, sollte das Verhältnis von Grundgesetz und europäischem Recht nicht nur unter dem Blickwinkel betrachtet werden, wo die verfassungsrechtlichen Grenzlinien für den Integrationsprozeß verlaufen, sondern auch unter dem Aspekt, welche Gestaltungschancen darin liegen, nationale Verfassungsvorstellungen in den Prozeß des Ringens um Struktur und Recht der Europäischen Gemeinschaft einzubringen. 268 Das deutsche Grundgesetz bietet in seinen Leitprinzipien der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Grundrechte, der Sozialstaatlichkeit und vor allem des Föderalismus ein Reservoir an Instrumenten und Ideen, das es bei zukünftigen Schritten auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung zu nutzen gilt. Besonders für den letzten Punkt — der möglichen Anknüpfung an Prinzipien 169 des Föderalismus bei der Gestaltung des Europas von morgen — läßt sich Bundespräsident R. von Weizsäcker in seiner Rede vom 24. Mai 1989 zum 40. Jahrestag des Grundgesetzes zitieren, wo er darauf hinweist, daß wir — die Deutschen — es auf Grund der Erfahrungen mit dem Föderalismus leichter haben als andere, wenn nach einem ähnlichen Modell eine neue politische Architektur in Europa entsteht. 269 Es läßt sich ferner beobachten, daß die Rechtsentwicklung in Europa sich heute 170 als wechselseitiges, der gegenseitigen Beeinflussung zugängliches Verhältnis von nationalem und europäischem Recht darstellt. Dies bedeutet, daß deutsche Rechtsvorstellungen nicht nur bei der Entwicklung und Formulierung europäischen Rechts

261

In den Beschlüssen von Maastricht wurde für den Übergang in die dritte Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion das folgende Modell gewählt: Mit Ausnahme v o n Großbritannien und Dänemark verpflichten sich die Mitgliedsstaaten auf die Unumkehrbarkeit des Übergangs in eine dritte Stufe. In dem neu eingefügten Art. 109j werden vier Kriterien aufgeführt, anhand derer geprüft werden soll, ob die einzelnen Mitgliedstaaten die Voraussetzungen f ü r die Einführung einer einheitlichen Währung erfüllen. Zu den vier Kriterien zählen: Hoher Grad an Preisstabilität, dauerhaft tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand, Einhaltung der normalen Bandbreiten des Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems, Dauerhaftigkeit der von dem Mitgliedstaat erreichten Konvergenz. Vgl. Art. 109j und das Protokoll über den Übergang zur Dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Vertrag über die Europäische Union, Rat der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.), Luxemburg 1992, S. 40, 191.

268

Dazu näher SCHWARZE Grundgesetz und europäisches Recht (Fn. 44), S. 209, 230. Vgl. Bulletin der Bundesregierung v o m 25.5.1989, Nr. 51, S. 4 4 5 ff, 446.

269

120

1. Kapitel. Grundlagen

wirksam werden können, sondern daß das aus nationalen Rechtsquellen gespeiste, neu gebildete europäische Recht mittlerweile auch wieder auf das heimische Recht zurückzuwirken vermag. 270 Eine künftige Interpretation unseres Verfassungsrechts muß also jedenfalls prinzipiell auch für einen „Re-Import" möglicherweise weiterentwickelter europäischer Verfassungsprinzipien offen sein. 171

Schließlich ist davon auszugehen, daß heute, insbesondere durch die Entscheidung Solange II, den umgekehrten „Solange"-Beschluß, 271 ein adäquates Verhältnis von deutschem Verfassungsrecht und europäischem Recht erreicht ist. Hinter den dort gesetzten Standard sollte es ohne Not kein Zurück mehr geben. Diese Linie halten auch die erwähnten, kürzlich in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ergangenen Beschlüsse zur Femsehrichtlinie 272 und zur Richtlinie über die Etikettierung von Tabakerzeugnissen 273 ein. Das BVerfG hat hier mit Recht davon abgesehen, den Handlungsspielraum der Bundesregierung bei den Gesetzesberatungen im Ministerrat mittels verfassungsprozessualer Rechtsbehelfe im vorhinein einzuengen. Es hat damit das deutsche Verfassungsrecht mit Rücksicht auch auf die Funktionsbedingungen der europäischen Institutionen ausgelegt. 274

172

Eine solche Verfassungsinterpretation, die auf die Funktionsbedingungen der EG Bedacht nimmt, scheint auch für die zukünftige Gemeinschaftsentwicklung notwendig zu sein. Es kann dabei auf keinen Fall darum gehen, jedes Detail im Namen der Gemeinschaft zu vereinheitlichen oder auf die Gemeinschaft Aufgaben zu übertragen, die sie jedenfalls einstweilen nicht effektiv wahrnehmen kann bzw. für die die Mitgliedstaaten, deren Länder und Regionen, auf Grund der größeren Bürger- und Sachnähe besser gerüstet sind. Die Geschichte Europas ist neben dem Streben nach Einheit immer zugleich auch der Ausdruck der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Vielfalt gewesen, die seine Eigenart und Stärke begründet hat und deren auch die Europäische Gemeinschaft von morgen nicht entraten kann. 275 Bei verfassungspolitischen Überlegungen im Rahmen der EG kommt deshalb neben dem Gedanken föderaler Gestaltung 276 vor allem dem erwähnten und nun 270

271 272 273 24

275

276

Dazu näher SCHWARZE Europäisches Verwaltungsrecht Bd. 2 (Fn. 94) Schlußkapitel, S. 1379, 1381. Zu den Wechselbeziehungen zwischen europäischen und nationalen Rechtsgarantien zuletzt eindrucksvoll E. GARCIA DE ENTERRIA La batalla por las medias cautelares, 1992. B V e r f G E 73, 339. B V e r f G E 80, 74 - Urteil v o m 1 1 . 4 . 1 9 8 9 - 2 B v G 1/89. Beschluß BVerfG v o m 12.5.1989 - 2 B v Q 3/89 - , EuR 1989, 2 7 0 f f . Vgl. in diesem Zusammenhang auch die jüngst ergangene Entscheidung des BVerfG ( N J W 1992, 964 ff) zum Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen, in der das Verfassungsgericht eine konkrete Normenkontrolle (Art. 100 I G G ) mit Rücksicht auf eine einschlägige Entscheidung des E u G H für entbehrlich erklärt hat (siehe oben Fn. 1). Vgl. dazu etwa W. MAIHOFER Culture politique et identité européenne, in: J. Schwarze/H. Schermers (Hrsg.), Structure and Dimensions of European Community Policy, 1988, S. 215, 221 ff. Zum Prinzip föderaler Gestaltung etwa R. HRBEK/U. THAYSEN Die deutschen Länder und die Europäische Gemeinschaft, 1986; nachdrücklich in diesem Sinn auch M. R. LEPSIUS Europa auf Stelzen, in: Die Zeit Nr. 25 v. 16. Juni 1989; siehe ferner U. EVERLING Der Beitrag des deutschen Rechts zur Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: G. Nicolaysen/H. Quaritsch (Hrsg.), Lüneburger Symposium für H. P. Ipsen zur Feier des 80. Geburtstages, 1988, S. 63, 67 f.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

121

künftig ausdrücklich im Gemeinschaftsrecht verankerten Subsidiaritätsprinzip 277 bei der Entscheidung über die bessere Aufgabenerledigung durch Gemeinschaft oder Mitgliedstaaten eine maßgebliche Rolle zu. Soll das Subsidiaritätsprinzip freilich mehr als eine politische Leitvorstellung sein, muß es als Grundsatz des gemeinschaftlichen Verfassungsrechts jedenfalls seiner Eigenart entsprechend auch rechtlich kontrollierbar 278 sein. Wenn man dem Gerichtshof nicht die Aufgabe eines politischen Schiedsrichters in Kompetenzstreitigkeiten zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten zuschieben will, mit der er überfordert wäre und die ihn selbst um seine Autorität bringen müßte, scheint nur der Weg gangbar zu sein, das Subsidiaritätsprinzip verfahrensmäßig handhabbar und insoweit einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich zu machen. Dies könnte etwa dadurch geschehen, daß — wie sonst im nationalen Verfassungsrecht für die Kosten eines Gesetzesvorschlags vorgesehen 2 7 9 — für jeden Vorschlag einer gemeinschaftsrechtlichen Gesetzgebung zwingend eine Begründung zu fordern wäre, warum eine gesetzgeberische Maßnahme auf Gemeinschaftsebene für erforderlich gehalten wird. Der Gemeinschaftsgesetzgeber wäre dann jedenfalls an seinem eigenen Vorsatz zu messen 280 und die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips auch gerichtlich daraufhin zu kontrollieren, ob der Gesetzgebungsvorschlag jedenfalls den selbstgesetzten Entscheidungsnotwendigkeiten entspricht. Daß in diesem Zusammenhang auch besondere Ausschüsse etwa des Europäischen Parlaments eine wichtige neue verfassungspolitische Kontrollfunktion erfüllen könnten, ist bereits an anderer Stelle erwähnt worden. Vgl. Art. 3b: „I. Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. II. In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedsstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. III. Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrags erforderliche Maß hinaus". Siehe Vertrag über die Europäische Union, Rat der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.), Luxemburg 1992, S. 13. Das Europäische Parlament hatte bereits in seinem Vertragsentwurf von 1984 die Einführung des Subsidiaritätsprinzips vorgeschlagen: vgl. Präambel, Art. 12 Ziff. 2 des Parlamentsentwurfs für eine Europäische Verfassung sowie Ziff. 3 der Erläuterungen, beides abgedruckt in: J . Schwarze/R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1981, S. 571 ff; siehe auch E CAPOTORTI/M. HILF/J.-P. JACQUE Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Union, Kommentar, 1986, S. 83 f. 278 Dazu STEINDORFF Verfassungsänderung durch die EG? (Fn. 230), 1991, S. 460, 463 ff; vgl. auch STEINBERGER Der Verfassungsstaat als Glied einer Europäischen Gemeinschaft (Fn. 12), S. 9, 21 ff. 279 Vgl. Η. SCHNEIDER Gesetzgebung, 2. Aufl., Heidelberg 1991, Rdn. 113 und Prüffragen für Rechtsvorschriften des Bundes, Anhang III S. 428. 2e" Zu dieser Technik des EuGH in den ursprünglichen japanischen Kugellagerfällen, vgl. nur Rs 113/77, NTN Toyo Bearing ./. Kommission, Amtl. Slg. 1979, S. 1191,1209 Rdn. 21. Der Gesetzgeber ist unter der Geltung einer bestimmten rechtlichen Regelung auch selbst an die von ihm beschlossenen Grundsätze gebunden; wollte er diese (Selbst-)Bindung nicht gegen sich gelten lassen, so würde er Störungen im Rechtssetzungssystem hervorrufen und die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz verletzen. 277

122

173

1. Kapitel. Grundlagen

Für die innere Struktur der Gemeinschaft zeigt sich gegenwärtig kaum ein anderer Weg, als die Rechte des Europäischen Parlaments im Integrationsprozeß zu verstärken. Gewiß würde eine solche Verstärkung der Legislativrechte des Europäischen Parlaments auch seine eigene Rolle und insbesondere die Aktivität seiner Mitglieder im Sinne größerer Verantwortlichkeit für das Gemeinschaftsgeschehen nachhaltig verändern. H A N S P E T E R I P S E N S Vorwurf einer „etatistischen Verengung" künftiger Gemeinschaftsreform kann insoweit nicht für begründet gehalten werden.281 Parlamentarische Verantwortung und Kontrolle als seit langem politischpragmatisch bewährte Prinzipien sind nicht nur auf den Nationalstaat beschränkt, sondern vermögen sich als ein generelles Konzept für die Machtorganisation und -kontrolle, jedenfalls wenn sie strukturangemessen ausgestaltet sind, auch im Rahmen der staatsübergreifenden europäischen Gemeinschaftsbildung als sinnvoll erweisen.282 In diesem Sinne verdient die jüngst vom EuGH vorgenommene Interpretation des Gemeinschaftsrechts, bei mehreren in Betracht kommenden vertraglichen Grundlagen für einen Gemeinschaftsrechtsakt im Zweifel für diejenige zu optieren, bei der die demokratischen Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments am weitesten reichen, volle Zustimmung.283 So wichtig solche systemimmanenten Auslegungsfortschritte auch sind, reichen sie allerdings angesichts des offensichtlichen Aufgabenzuwachses für die Gemeinschaft verfassungspolitisch für sich allein nicht aus. Hier sind gesteigerte Kontrollformen auf Gemeinschaftsebene unabdingbar und müssen im Maße der zusätzlich in Anspruch genommenen Kompetenzen im Verfassungssystem der Gemeinschaft, d. h. in den Verträgen, verankert werden.284 4. Schlußbetrachtung: Äußerste Grenzen bei der europäischen Verfassungsreform

174 Die unübersteigbaren verfassungsrechtlichen Grenzen für künftige Entwicklungsschritte der EG hat das BVerfG mit der Formel, daß „im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, nicht aufgegeben" werden dürfe,285 in adäquater Weise bestimmt. Diese Formulierung ist hinreichend flexibel, um die künftige Entwicklung auf Gemeinschaftsebene nach dem Maßstab des deutschen Verfassungsrechts angemessen zu beurteilen. Wir brauchen hier von selten unseres Verfassungs-

281

282 283 284

285

H. P. IPSEN Europäische Verfassung — nationale Verfassung, in: Gesellschaft für Rechtspolitik, Trier (Hrsg.), Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1987, 1987, S. 37, 42; vgl. auch ders. in seiner Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität des Saarlandes (Fn. 128), S. 45 (56 ff). SCHWARZE Grundgesetz und europäisches Recht (Fn. 44), S. 233. Rs C-70/88, Parlament ./. Rat, EuGH, Urteil vom 22.5.1990, Amtl. Slg. 1990, S. 2041 ff. Nachdrücklich für eine künftige Erweiterung der demokratischen Mitwirkungs- und Kontrollrechte das Europäische Parlament in seiner Entschließung zu der Maastrichter Regierungskonferenz A 3—0123/92 vom 7.4.1992. Siehe auch den Bericht des Institutionellen Ausschusses (Berichterstatter D. MARTIN) vom 26. März 1992. BVerfGE 73, 339 - „Solange II"-Beschluß vom 22. Oktober 1986.

§4

Europäische Integration und Grundgesetz (VON SIMSON/SCHWARZE)

123

rechts — auch für den Dialog der verschiedenen Verfassungsrechte in der Gemeinschaft — mehr Offenheit, als sie in manchen verfassungsdogmatischen Debatten in der Vergangenheit anzutreffen war, ein größeres Vertrauen auch auf die Gestaltungschancen, die sich für uns, gestützt auf bewährte Prinzipien unseres Verfassungsrechts, bei den gemeinsamen Überlegungen um die Fortentwicklung des europäischen Rechts ergeben. Eines bleibt freilich für die verfassungsrechtliche Beurteilung unausweichlich. 175 Die auf die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zukommenden Aufgaben gehen weit über ihr jeweiliges einzelstaatliches Leistungsvermögen hinaus. Dies kann für die Interpretation unseres Verfassungsrechts nicht ohne Bedeutung bleiben. Ein Umdenken ist gefordert. Die Einwirkung überstaatlicher Gremien und Organe auf das nationale politische Geschehen wird jetzt noch häufig als Einbruch in die staatliche Entscheidungszuständigkeit empfunden. Dies umso eher, als das Bild des allmächtigen souveränen Nationalstaates nach wie vor als dominierend hervortritt. Diese Vorstellung gehört aber heute, angesichts unabweisbarer internationaler Politik- und Wirtschaftsverflechtungen und vielfach nur noch in übernationaler Verantwortung lösbarer Aufgaben unwiderruflich der Vergangenheit an. Statt der Klage über einen Kompetenzverlust des ohnehin vielfach in alleiniger Verantwortung nicht mehr handlungsfähigen Staates verdienen deshalb dessen Gestaltungs- und Mitwirkungsrechte im Ringen um die künftige Verfassung der Staatengemeinschaft vorrangige Beachtung und Aufmerksamkeit. Auf die Stellung der Bundesrepublik in der E G bezogen bedeutet dies, daß die mit der Herstellung der deutschen Einheit verbundene interne Verfassungsentwicklung stets mit Blick auf die Grunderfordernisse europäischer Integration betrieben werden sollte, nicht nur um dem eigenen Verfassungsrecht hier den adäquaten Stellenwert zuzuweisen und zu sichern, sondern auch um dessen Leitprinzipien in den Prozeß fortlaufender Bemühungen um die verfassungsmäßige Kontrolle wachsender europäischer Hoheitsmacht einzubringen und ihnen zur Geltung zu verhelfen. Zwischen deutscher und europäischer Verfassungsauslegung und -reform besteht also bereits heute ein Verhältnis sachlicher Verbindung und Abhängigkeit. Es ist der maßgebliche Gesichtspunkt der uns aufgegebenen Verfassungsentwicklung.

2. Kapitel

Grundrechte

§ 5 Bedeutung der Grundrechte KONRAD

HESSE

Übersicht Rdn. I. Die Grundrechte in der Welt von heute II. Zur Entwicklung der Grundrechte in Deutschland . . . . III. Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland 1. Die Grundrechte des Grundgesetzes 2. Grundrechte der Landesverfassungen 3. Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention und internationaler Verträge IV. Aufgaben und Funktionen der Grundrechte 1. Die Mehrschichtigkeit der Grundrechte 2. Grundrechte als individuelle Abwehr- und Mitwirkungsrechte 3. Grundrechte als objektive Prinzipien V. Fragen der Fortentwicklung des Grundrechtsschutzes . . . 1. Neue Problemstellungen

Rdn.

1—4 4 —6 7 — 12 8 9, 10

VI.

11, 12 VII. 13—23 13, 14 VIII. 15, 16 17 — 23 24 — 52 24 — 27

IX.

2. Grundrechte als Teilhabeoder Leistungsrechte . . . 3. Soziale Grundrechte . . . . 4. Staatszielbestimmungen . 5. Grundrechtsverwirklichung und -Sicherung durch Organisation und Verfahren 6. Schutzpflicht des Staates Berechtigte und Verpflichtete 1. Berechtigte 2. Verpflichtete; das Problem der „Drittwirkung" von Grundrechten Ausgestaltung und Begrenzung von Grundrechten . . . 1. Ausgestaltung 2. Begrenzung Schutz der Grundrechte . . . 1. Sicherung gegen Aufhebung, Durchbrechung und innere Aushöhlung . . . . 2. Der Schutz durch die rechtsprechende Gewalt . Zur Würdigung der Entwicklung

28 — 30 31, 32 33 — 41

42-48 49 — 52 53 — 61 53-55 55 — 61 62 — 69 62, 63 64—69 70-78 71—73 74 — 78 79-82

I. Die Grundrechte in der Welt von heute Ein wichtiges Kennzeichen der gegenwärtigen Weltentwicklung ist die wachsende 1 Bedeutung der Grundrechte1. Sie manifestiert sich in den Bemühungen der Vereinten 1

Eine ausführliche Darstellung hierzu bei K. S T E R N Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III 1, 1988, S. 209 ff; vgl. auch K. IPSEN Völkerrecht, 1990, S. 626 ff.

128

2. Kapitel. Grundrechte

Nationen, die zu der Deklaration der Menschenrechte vom 10. Dezember 19482 und in neuerer Zeit zu den Internationalen Pakten über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte geführt haben 3 . Sie zeigt sich in der Aufnahme von Grundrechten in die neuesten Staatsverfassungen wie etwa diejenigen Portugals und Spaniens, neuerdings auch der osteuropäischen Staaten 4 . Sie wird deutlich in der Anerkennung von Grundrechten im Recht der Europäischen Gemeinschaft 5 sowie in dem steigenden Gewicht, das der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Rechtsprechung des zur Sicherung dieser Rechte geschaffenen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zukommt. Sie wird endlich sichtbar in den Zielen und der Tätigkeit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), deren Schlußakte vom 1. August 1975 zwar kein verbindliches Völkerrecht geschaffen, aber für die Menschenrechtsbewegungen in den früheren Ostblockstaaten wesentliche Bedeutung erlangt hat 6 . 2

Diese weltweite Grundrechtsentwicklung schließt inhaltliche Unterschiede ebensowenig aus wie Unterschiede im Verständnis der Grundrechte und den Modalitäten ihrer Gewährleistung. So konnte ein und dasselbe Grundrecht im Kontext einer sozialistischen Verfassung etwas durchaus anderes bedeuten als im Text der Verfassung einer westlichen Demokratie 7 ; und während die Grundrechte in Westeuropa und Nordamerika auch heute prinzipiell in ihrer ursprünglichen (klassischen) Bedeutung als individuelle Freiheits- und politische Rechte verstanden werden, treten mit unterschiedlichem Gewicht andere Bedeutungsschichten hervor: soziale Rechte, Teilhabe- oder Leistungsrechte zur Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse der Bevölkerung, darüber hinaus, im besonderen in Staaten der Dritten Welt, Rechte auch von Gruppen und Staaten wie das Recht auf Entwicklung, Frieden und Schutz der Umwelt oder das Recht auf Teilhabe am „gemeinsamen Erbe der Menschheit"; die Menschenrechte erfahren hier also eine Kollektivierung 8 . 2

3

4

5

6 7 8

Diese Deklaration enthält allerdings nur Richtlinien, nicht unmittelbar verpflichtendes Völkerrecht und ist darum auch innerstaatlich nicht gem. Art. 25 G G verbindlich. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966 (BGBl. 1973 II S. 1534; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. 12. 1966 (BGBl. 1973 II S. 1570). Vgl. dazu P. HABERLE Verfassungsentwicklungen in Osteuropa — aus der Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre, in: AöR 1 1 7 (1992) S. 169 ff. Vgl. dazu unten § 4; STERN Staatsrecht Bd. III/l (Fn. 1) S. 292 ff; M . A. DAUSES Der Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, in: JöR NF 31, 1982, S. 1 ff; J. SCHWARZE Der Schutz der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, in: E u G R Z 1986, S. 293 ff; M. ZULEEG Der Schutz der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht, in: D ö V 1992, S. 937 ff. Vgl. dazu STERN Staatsrecht Bd. III/l (Fn. 1) S. 265 ff. Zu den Gründen hierfür: STERN Staatsrecht Bd. III/l (Fn. 1) S. 224 ff. Diese verschiedenen Deutungen werden als Grundrechte der ersten, zweiten und dritten Generation (Dimension) bezeichnet (etwa W. BRUGGER Menschenrechte im modernen Staat, in: A ö R 114 (1989) S. 539 ff); A. HOLLERBACH Art. Recht, Staatslexicon, 7. Aufl., Bd. 6, S. 41 f. Wie jedoch mit Recht betont worden ist, enthält eine solche Kategorisierung kein Indiz dafür, daß sich der Schutz der Menschenrechte vom Individual- über den gleichgewichtigen Kollektiv- und Individualschutz hin zu reinen kollektiven Rechten verlagere (IPSEN Völkerrecht (Fn. 1) S. 643), daß jene kollektiven Postulate nicht Weiterentwicklungen sind, sondern gerade Ausdruck einer mundanen Teilung (H. HOFMANN Menschenrechtliche Autonomieansprüche, in: J Z 1992, S. 165).

§5

Bedeutung der Grundrechte (HESSE)

129

Die Modalitäten der Gewährleistung von Grundrechten können selbst dann verschieden sein, wenn im Inhalt und Verständnis dieser Rechte Übereinstimmung besteht wie im engeren Bereich der westlichen Demokratien. Hier reichen die Lösungen von der Normierung eines detaillierten Grundrechtskatalogs in der Verfassung (wie etwa in der Bundesrepublik) über die Bezugnahme auf eine historische Menschenrechtserklärung (so in Frankreich) bis hin zu einer Geltung der Grundrechte als ungeschriebene Gewährleistungen (so im wesentlichen in Großbritannien); in ähnlicher Weise unterscheiden sich die Ausgestaltung im einzelnen, das Ausmaß der Bindung des Gesetzgebers oder die richterliche Kontrolle der Einhaltung von Grundrechten. In allen diesen Verschiedenheiten zeigt sich, daß sich universelle nicht mit 3 uniformer Grundrechtsgeltung gleichsetzen läßt. Der Grund hierfür ist geläufig: Der konkrete Inhalt und die Bedeutung der Grundrechte für ein staatliches Gemeinwesen hängen von zahlreichen außerrechtlichen Faktoren ab, im besonderen der Eigenart, der Kultur der Völker und ihrer Geschichte. Nur die Einbeziehung dieses Aspektes in die Betrachtung ermöglicht deshalb ein sachgemäßes Verständnis der Aufgabe, der Ausformung und Wirksamkeit der Grundrechte in der Ordnung eines konkreten Gemeinwesens.

II. Zur Entwicklung der Grundrechte in Deutschland Die Grundrechte, die im ausgehenden 18. Jahrhundert mit den großen Erklärungen 4 der Menschenrechte, den bills of rights in Amerika und den französischen Deklarationen von 1789 — 1795 ihren Siegeszug angetreten hatten 9 , haben im 19. Jahrhundert nur zögernd in die Verfassungen der deutschen Einzelstaaten Eingang gefunden, so etwa in die Verfassungen Bayerns und Badens von 1818, die Verfassung Württembergs von 1819 oder — wesentlich später — die preußische Verfassung von 1850. Aber auch dort, wo sie Bestandteil der Verfassung geworden waren, haben sie keine nennenswerte praktische Rolle gespielt 10 . Zu grundlegender Wirksamkeit sollten sie erstmals bei dem Versuch einer Reichsgründung nach der Revolution von 1848 gebracht werden. Die Frankfurter Nationalversammlung begann die Arbeit an der neuen Reichsverfassung mit der Beratung und Verabschiedung eines umfassenden Grundrechtsteils, der zur Grundlage der nationalen Einheit des Deutschen Volkes werden sollte. Dieser Versuch ist gescheitert. Das Deutsche Reich, das dann 1871 begründet wurde, beruhte nicht auf der Grundlage der Rechte des Volkes, sondern 9

10

Zur Geschichte der Grundrechte: G. JELLINEK Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 3. Aufl. 1919; G. OESTREICH Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, 2. Aufl. 1978; STERN Staatsrecht Bd. III/l (Fn. 1) S. 51 ff, bes. S. 82 ff; H. HOFMANN Die Grundrechte 1 7 8 9 - 1 9 4 9 - 1 9 8 9 , in: N J W 1989, S. 3 1 7 f f . U. SCHEUNER Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts, in: Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 633 ff; R. WAHL Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, in: Der Staat 18, 1979, S. 321 ff.

130

2. Kapitel. Grundrechte

auf den Rechten der Fürsten; folgerichtig enthielt die Reichsverfassung von 1871 keine Grundrechte. 5 Mit dem Übergang zur republikanischen und demokratischen Staatsform nach der Revolution von 1918 gewannen die Grundrechte erstmals Eingang in die Reichsverfassung. In der Nationalversammlung von 1919 wurde der Gedanke vertreten, daß ihnen nach dem Ende der Monarchie allem voran integrierende Bedeutung zukommen müsse; der auf diesem Gedanken fußende Entwurf F R I E D R I C H N A U MANNS 1 1 hatte die Gestaltung des Grundrechtsteils der Reichs Verfassung nicht unwesentlich beeinflußt. Aber zu umfassender Entfaltung und Wirksamkeit sind die Grundrechte auch während der Zeit der Weimarer Republik nicht gelangt. Zu stark wirkte die Vergangenheit nach, und für die vorherrschende Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum galt nichts anderes: Sie erblickte den rechtlichen Gehalt der Grundrechte — in Fortführung namentlich der Lehren GEORG JELLINEKS, die das Wesentliche der Grundrechte in ihrer Eigenart als Ausformungen staatlicher Selbstbeschränkung und staatlicher verliehener Willensmacht gesehen hatten12 — in einer bloßen Modifikation des bestehenden spezialgesetzlichen Zustande und legte demgemäß die Grundrechte eher privat- und verwaltungsrechtlich als staatsrechtlich aus. Von hier aus wurden die Grundrechte im Prinzip als Ausdruck des Rechts auf Freiheit von ungesetzlichem Zwang angesehen. Rechtliche Sicherungen gegen eine Durchbrechung, Aushöhlung, Änderung oder Aufhebung fehlten; sie wären mit diesem Grundrechtsverständnis unvereinbar gewesen. Zwar wurde von einem Teil der deutschen Staatsrechtslehre die Bedeutung der Grundrechte in zunehmendem Maße erkannt und herausgearbeitet; aber diese gegen den herrschenden Formalismus und Positivismus sich wendenden Richtungen13 haben sich bis zum Jahre 1933 nicht durchsetzen können. So konnten die Grundrechte die Beseitigung der demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsordnung durch den Nationalsozialismus nicht aufhalten, ja nicht einmal in nennenswertem Umfang hindern. Was folgte, war die beispiellose Mißachtung der Menschen- und Bürgerrechte in den zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft bis zur bedingungslosen Kapitulation des Reiches im Jahre 1945. 6

In dieser, hier nur in aller Kürze skizzierten Entwicklung unterscheidet sich Deutschland namentlich von den großen westlichen Demokratien. Sie erklärt die Besonderheit der Grundrechtssituation in der Bundesrepublik: Bei ihrer Entstehung fehlte das kostbare Gut einer Tradition, kraft deren der Gehalt der Grundrechte unanfechtbare Grundlage politischen Lebens ist und die das Bewußtsein von Regierenden und Regierten prägt. Dies und die Erfahrung eines totalitären, Humanität

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12 13

Antrag Nr. 82 — Versuch volksverständlicher Grundrechte v o n Abg. D. NAUMANN Verhandlungen der Nationalversammlung Bd. 336, S. 171 ff. System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. A u f l . 1905, bes. S. 81 ff. Zu nennen sind namentlich E. KAUFMANN Die Gleichheit v o r dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, in: V V D S t R L Bd. 3 (1927) S. 2 ff; R. SMEND Das Recht der freien Meinungsäußerung, 1928, jetzt in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. A u f l . 1968, S. 91 ff; C. SCHMITT V e r f a s s u n g s l e h r e , 1 9 2 8 , S. 1 6 3 ff.

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Bedeutung der Grundrechte (HESSE)

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und menschliche Freiheit verachtenden Regimes haben nach 1945 zu dem Bestreben geführt, in der neuen Ordnung Humanität und Freiheit, die nicht als selbstverständliche Grundlage der Staatlichkeit betrachtet werden konnten, so zuverlässig wie möglich zu begründen und zu festigen. So ist diese neue Ordnung im Eingangsartikel des Grundgesetzes auf das unbedingte und unverfügbare oberste Prinzip der Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) und die Anerkennung unverletzlicher und unveräußerlicher Menschenrechte gegründet (Art. 1 Abs. 2 GG). Grundrechte und die Möglichkeiten ihrer Beschränkung sind im einzelnen durch positives Verfassungsrecht normiert; das Grundgesetz sucht die rechtliche Geltung der Grundrechte so fest wie möglich zu sichern, und es unterwirft ihre Beachtung einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle. Das, was im Text des Grundgesetzes angelegt ist, hat die Rechtsprechung, vor allem diejenige des Bundesverfassungsgerichts, in umfassender Weise entfaltet, ausgebaut und fortentwickelt. Der gleichen Aufgabe hat sich in wechselndem Geben und Nehmen mit der Rechtsprechung die deutsche Staatsrechtswissenschaft angenommen, die heute andere Wege geht als diejenige der Weimarer Zeit. Insgesamt hat dies zu einer Situation geführt, in der die Grundrechte nicht nur das staatliche, sondern das gesamte Rechtsleben in der Bundesrepublik bestimmen und prägen. Ihnen kommt eine in der deutschen Verfassungsgeschichte bisher unbekannte Bedeutung zu. Diese Lage ist im folgenden näher darzustellen.

III. Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland Die Grundrechtsverbürgungen im geltenden Recht der Bundesrepublik Deutschland 7 beruhen auf unterschiedlichen Grundlagen. Grundrechte sind sowohl im Grundgesetz als auch in der Mehrzahl der deutschen Landesverfassungen gewährleistet, haben insoweit also die Qualität von Bundes- oder Landesverfassungsrecht. Daneben treten Grundrechte, welche in völkerrechtlichen Regelungen enthalten und innerstaatlich als (einfaches) Bundesrecht anwendbar sind, insbesondere die Europäische Konvention zum Schutze der Menschen rechte und Grundfreiheiten14. Die jeweilige Anwendbarkeit und das Verhältnis dieser — inhaltlich weitgehend übereinstimmenden — Verbürgungen zueinander sind klar geregelt, so daß im konkreten Fall Kollisionen kaum entstehen können. 1. Die Grundrechte des Grundgesetzes Als erste gesamtstaatliche deutsche Verfassung stellt das Grundgesetz den Katalog 8 von Grundrechten an den Anfang der Verfassung (Art. 1 — 19); es verleiht damit einem Grundzug der neuen demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung Ausdruck: der konstituierenden Bedeutung der Grundrechte für diese Ordnung nach " Zu den Grundrechten der Europäischen Gemeinschaft (die Gemeinschafts-, nicht deutsches Recht enthalten) vgl. Fn. 5.

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2. Kapitel. Grundrechte

der Zeit der Mißachtung und schwerer Verletzungen der Menschenrechte durch das nationalsozialistische Regime. Dieser Katalog ist freilich nicht abschließend. Auch in den weiteren Abschnitten des Grundgesetzes sind Rechte gewährleistet, die als Grundrechte anzusehen sind (z. B. Art. 33, 101 oder 103), und die im früheren deutschen Staatsrecht auch Aufnahme in die Grundrechtskataloge der Verfassungen gefunden hatten. In ihrer Gesamtheit beschränken sich die Grundrechte des Grundgesetzes jedoch im wesentlichen auf die klassischen Menschen- und Bürgerrechte. Die Schöpfer des Grundgesetzes haben bewußt davon abgesehen, über jene Rechte hinausgehende Regelungen des wirtschaftlichen, des sozialen und des kulturellen Lebens in der Form grundrechtlicher Gewährleistungen aufzunehmen, wie sie — nach der herrschenden Auffassung allerdings nur als unverbindliche, an den Gesetzgeber gerichtete Programme — in der Reichsverfassung von 1919 enthalten waren 15 . 2. Grundrechte der Landesverfassungen 9 Die vor dem Grundgesetz in Kraft getretenen Landesverfassungen (Bayern, Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland) enthalten umfassendere Grundrechtskataloge als das Grundgesetz; gleiches gilt für die Verfassungen der neuen ostdeutschen Bundesländer. Von den nach dem Grundgesetz entstandenen westdeutschen Landesverfassungen haben diejenigen von Nordrhein-Westfalen (Art. 4) und Baden-Württemberg (Art. 2) die Grundrechte des Grundgesetzes im Wege einer Verweisung inkorporiert; beide gewährleisten zugleich weitergehende Grundrechte. Keine Grundrechte enthalten die Verfassungen von Hamburg und Schleswig-Holstein (hier neuerdings mit zwei Staatszielbestimmungen zur Gleichstellung von Frauen und zum Umweltschutz). In diesen Ländern hat es bei der Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes sein Bewenden. Soweit die Landesverfassungen in Ubereinstimmung mit dem Grundgesetz Grundrechte gewährleisten oder Grundrechte des Grundgesetzes inkorporiert haben, bleiben diese (als Landesrecht) in Kraft (Art. 142 GG). Soweit das Landesverfassungsrecht weitergehende Grundrechte als das Grundgesetz normiert, darf es sich wegen des Vorrangs des Bundesrechts (Art. 31 GG) nicht in Widerspruch zu der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes setzen. 10

Nennenswerte Bedeutung gewinnen die landesverfassungsrechtlichen Grundrechtsgewährleistungen nur dort, wo sie in die ausschließliche Zuständigkeit der

15

Im Rahmen des vorliegenden Abschnitts sind lediglich die allgemeinen Grundrechtsfragen in Kürze zu erörtern, die hiermit zusammenhängen. Der Inhalt der einzelnen Grundrechte wird zu einem Teil in den folgenden Abschnitten sowie im Rahmen des 6. und des 7. Kapitels behandelt. Im übrigen wird, der Konzeption dieses Handbuchs entsprechend, auf eine Darstellung verzichtet; es muß insoweit auf die Lehrbücher des Staatsrechts, die Kommentare zum Grundgesetz und die dort nachgewiesene Rechtsprechung und Spezialliteratur verwiesen werden. Besonders umfassend unterrichtet das Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989. Knappe Darstellungen enthalten die (Kurz-)Lehrbücher von TH. MAUNZ/R. ZIPPELIUS Deutsches Staatsrecht, 28. Aufl. 1991; E. STEIN Staatsrecht, 13. Aufl. 1991; K . HESSE Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl., 1991 sowie die Kommentare von I. v. MÜNCH (Hrsg.) Bd. 1, 4. Aufl. 1992; Bd. 3, 2. Aufl. 1983 und H. D. JARASS/B. PIEROTH Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1992.

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Länder fallende Grundrechtsentscheidungen enthalten, wie das namentlich auf den Gebieten des Schul- und des Hochschulrechts der Fall ist. Gleiches kann gelten, wenn zur gerichtlichen Durchsetzung jener Gewährleistungen (landesrechtlich) ein eigenes verfassungsgerichtliches Verfahren vorgesehen ist. Diesen Weg ist namentlich die bayerische Verfassung gegangen (Art. 120); gleiches gilt inzwischen auch für die Verfassungen von Berlin (Art. 72), Brandenburg (Art. 112 f), Sachsen (Art. 81) und Sachsen-Anhalt (Art. 75 f) sowie (nach den Entwürfen) von Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen. 3. Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention und internationaler Verträge Die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten 16 will nach ihrer Präambel die universelle und wirksame Anerkennung der in ihr erklärten Rechte gewährleisten und durch diese Gewährleistung die europäische Integration fördern. Sie normiert in Abschnitt I einzelne Menschenrechte und die Möglichkeiten ihrer Begrenzung; in den Abschnitten II — IV sucht sie die Einhaltung der Verpflichtungen, die sich für die Unterzeichnerstaaten aus der Konvention ergeben, durch die Einrichtungen einer Kommission für Menschenrechte und eines Gerichtshofs für Menschenrechte sicherzustellen. Die Konvention ist nicht „allgemeine Regel des Völkerrechts"; sie hat daher am Vorrang dieser Regeln (Art. 25 Satz 2 GG) nicht teil. Anders als in Österreich, wo sie Verfassungsrang hat, und in der Schweiz, wo sie auch die Gesetzgebung von Bund und Kantonen bindet und Verletzungen mit der staatsrechtlichen Beschwerde geltend gemacht werden können, gilt sie, wie erwähnt, mit der Kraft eines einfachen Bundesgesetzes. Dieser Unterschied der formellen Geltungskraft ändert jedoch nichts an der sachlichen Bedeutung der Rechte der Konvention, die im Zeichen der heutigen, über den nationalen Bereich hinausführenden Grundrechtsentwicklung eine gegenseitige Isolierung nationaler und europäischer Grundrechte ausschließt. Wie das Bundesverfassungsgericht mit Recht hervorgehoben hat, sind deshalb bei der Auslegung des Grundgesetzes Inhalt und Entwicklungsstand der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen; insoweit dient auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte des Grundgesetzes 17 .

16

17

Vgl. dazu STERN Staatsrecht Bd. III/L (Fn. 1) S. 2 7 3 f f ; K . J . PARTSCH Die Rechte und Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Die Grundrechte, hrsg. v o n Bettermann/ Neumann/Nipperdey I, 1, 1966, S. 125 f f ; H. GURADZE Die Europäische Menschenrechtskonvention. K o n v e n t i o n zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nebst Zusatzprotokollen, 1968; H. GOLSONG Der Schutz der Grundrechte durch die E M R K und seine Mängel, in: Mosler/Bernhardt/Hilf (Hrsg.) Grundrechtsschutz in Europa, 1976, S. 7 f f ; J . FROWEIN/W. PEUKERT Europäische MenschenRechtsKonvention, 1985. B V e r f G E 74, 3 5 8 (370). Das gilt auch f ü r das Verfahren der Verfassungsbeschwerde, o b w o h l diese auf eine behauptete Verletzung der E M R K nicht gestützt werden kann ( B V e r f G E 74, 102 (128).

2. Kapitel. Grundrechte

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12

Daneben gelten in der Bundesrepublik — innerstaatlich ebenfalls als einfaches Bundesrecht — die Bestimmungen der Europäischen Sozialcharta (die nur völkerrechtliche Verpflichtungen der Staaten, nicht individuelle Rechte der Bürger begründet) und die Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (vgl. Rdn. 3) 18 . Praktisch wesentliche Bedeutung für den innerstaatlichen Grundrechtsschutz dürfte ihnen nicht zukommen.

IV. Aufgaben und Funktionen der Grundrechte 1. Die Mehrschichtigkeit der Grundrechte 13 Grundrechte sollen elementare Voraussetzungen eines Lebens in Freiheit und menschlicher Würde schaffen und erhalten. Das läßt sich nur erreichen, wenn die Freiheitlichkeit des Gemeinschaftslebens ebenso gewährleistet ist wie die individuelle Freiheit. Beide sind untrennbar aufeinander bezogen. Freiheit des Einzelnen kann es nur in einem freiheitlichen Gemeinwesen geben; umgekehrt setzt diese Freiheitlichkeit Menschen und Bürger voraus, welche fähig und willens sind, über ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu bestimmen und selbstverantwortlich an den Angelegenheiten des Gemeinwesens mitzuwirken. 14

Dieser Zusammenhang prägt die Eigenart, die Struktur und die Funktion der Grundrechte: Sie gewährleisten nicht nur subjektive Rechte des Einzelnen, sondern auch objektive Grundprinzipien demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsordnung, Grundlagen des durch sie konstituierten Staates und seiner Rechtsordnung. In diesem Doppelcharakter weisen sie verschiedene Bedeutungsschichten auf, die einander jeweils bedingen, stützen und ergänzen. Grundrechte wirken legitimierend, Konsens schaffend und erhaltend; sie sichern individuelle Freiheit und beschränken staatliche Macht, sind bedeutsam für demokratische und rechtsstaatliche Verfahren, beeinflussen jeweils im Umfang ihrer Tragweite die allgemeine Rechtsordnung und erfüllen darin zu einem entscheidenden Teil die Integrations-, Organisations- und rechtliche Leitfunktion der Verfassung (vgl. oben § 1, Rdn. 5 ff). 2. Grundrechte als individuelle Abwehr- und Mitwirkungsrechte

1 5 Die grundrechtlichen Gewährleistungen des Grundgesetzes und die besonderen Sicherungen ihrer Geltung haben vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung in Deutschland voran die Abwehr staatlicher Eingriffe in die individuelle Lebenssphäre zur Aufgabe. Dies ist auch der Ausgangspunkt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 19 , den es bis in die Gegenwart festgehalten hat: Nach 18

Dazu STERN Staatsrecht Bd. III/L (Fn. 1) S. 2 6 1 f f ; IPSEN Völkerrecht (Fn. 1) S. 641 f f ; CHR.

Die Bundesrepublik und die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen. Vereinte Nationen 1978 S. 1 ff; W.-K. GECK Der internationale Stand des Schutzes der Freiheitsrechte: Anspruch und Wirklichkeit, in: ZaöRV 38 (1978) S. 182, bes. S. 205 ff. Vgl. BVerfGE 7, 198 (204 f). TOMUSCHAT

19

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ihrer Geschichte und ihrem heutigen Inhalt sind die Grundrechte in erster Linie individuelle Rechte, Menschen- und Bürgerrechte, die den Schutz konkreter, besonders gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand haben 20 . Das Gericht hat sich von Anfang an den Ausbau des effektiven Schutzes dieser Rechte zur Aufgabe gemacht. Durch die Klärung und Festlegung des normativen Inhalts und der Tragweite der einzelnen Grundrechte, ihres Verhältnisses zueinander und der Voraussetzungen ihrer Begrenzung (vgl. Rdn. 64 ff) hat es eine gegenüber der Vergangenheit wesentlich gesteigerte tatsächliche Wirksamkeit der Grundrechte durchgesetzt. Es hat sich dabei von der Einsicht leiten lassen, daß der Schutzumfang eines Grundrechts nur im Blick auf die Gegebenheiten der sozialen Wirklichkeit zu erfassen sei, daß mithin ein Wandel dieser Gegebenheiten bei der Auslegung nicht unberücksichtigt bleiben könne, ein Tatbestand, der beispielsweise bei der Bestimmung der Tragweite der Eigentumsgarantie 21 oder der Rundfunkfreiheit 22 Bedeutung erlangt hat. In dieser geläufigen und allgemein anerkannten Bedeutung erschöpft sich der 1 6 Sinngehalt der Grundrechte als subjektive Rechte nicht. Der abwehrenden, negatorischen Bedeutung der Grundrechte korrespondiert vielmehr eine kaum minder wichtige positive Bedeutung: Es geht darum, daß die Menschen von dieser Freiheit auch Gebrauch machen. Erst in solcher Aktualisierung können Selbstbestimmung des Einzelnen und selbstverantwortliche Mitwirkung am politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben Wirklichkeit, kann die freiheitliche Ordnung des Gemeinwesens Leben gewinnen. Besonders deutlich zeigt sich das am Recht der freien Meinungsäußerung, welches für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung „schlechthin konstituierend" ist, weil es erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen ermöglicht, der ihr Lebenselement ist 23 ; insofern kann gerade dieses Grundrecht den Charakter eines Mitwirkungsrechts annehmen. Solche „positive" Freiheit kann freilich nicht bedeuten, daß sie zu einem bestimmten Gebrauch der Freiheit verpflichtet, mit der Folge, daß jeder andere Gebrauch nicht mehr geschützt wäre. Ebenso wie es der Verfassung um die Aktualisierung der Inhalte der Grundrechte geht, ist es ihr um die Freiheit dieser Aktualisierung zu tun, die nur gegeben ist, wo Alternativen bestehen. Deshalb ist stets nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu bekennen, eine Meinung zu äußern, einer Partei oder Gewerkschaft beizutreten, gewährleistet, sondern ebenso die Freiheit, dies nicht zu tun. 3. Grundrechte als objektive Prinzipien Der Gedanke, daß die Grundrechte nicht nur subjektive Rechte, sondern zugleich 17 objektive Prinzipien der Verfassungsordnung enthalten, gehört von Anbeginn an zur Tradition der Menschenrechte. In Deutschland hat er indessen nur bei den 20 21 22 23

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

50, 290 (337). 53, 257 (289 ff, bes. S. 294). 73, 118 (154 ff); 74, 297 (350 f). 7, 198 (208).

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2. Kapitel. Grundrechte

Beratungen der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 eine Rolle gespielt. Später ist er wieder verloren gegangen; das bis in die Zeit der Weimarer Republik vorherrschende formale Grundrechtsverständnis war nicht imstande, ihn zu erfassen. Anerkennung hatte nur die Lehre von den institutionellen und Institutsgarantien gefunden, die in Gewährleistungen wie denen der Ehe und Familie, des Eigentums, aber auch der Wissenschaftsfreiheit oder der kommunalen Selbstverwaltung nicht subjektive Rechte, sondern verfassungsrechtliche Garantien dieser Rechtsinstitute oder Institutionen als solcher erblickte24. 18

Weit über solche Einzelansätze hinaus geht die heutige Deutung der Grundrechte als objektiver Prinzipien nicht nur der Verfassungs-, sondern der gesamten Rechtsordnung. Dabei steht die objektive Bedeutung der Grundrechte nicht unvermittelt neben der primären subjektiv-rechtlichen, der Bedeutung als Menschen- und Bürgerrechte. Es besteht vielmehr ein Verhältnis wechselseitiger Bezogenheit und Ergänzung.

19

Der Bedeutung der Grundrechte als subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegen unberechtigte staatliche Eingriffe korrespondiert ihre objektiv-rechtliche Bedeutung als negative Kompetenzvorschriften. Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungskompetenzen finden immer ihre Grenze an den Grundrechten; diese entziehen den von ihnen geschützten Bereich der staatlichen Zuständigkeit und verbieten insoweit einen Zugriff.

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Der Bedeutung der Grundrechte als subjektiver Rechte, die um ihrer Aktualisierung willen gewährleistet sind, entspricht ihre Bedeutung als Grundbestandteile der demokratischen, der rechtsstaatlichen und — dies allerdings zu einem geringeren Teil — der bundesstaatlichen Ordnung, die ihrerseits erst Wirklichkeit gewinnen können, wenn sie durch Aktualisierung der Grundrechte als subjektiver Rechte mit Leben erfüllt werden. So wirken die Grundrechte im Rahmen der rechtsstaatlichen Ordnung als Grenzen staatlichen Handelns, als Garantien von Grundlagen der rechtlichen Ordnung, insbesondere auch zentraler Institute der Privatrechtsordnung; sie verpflichten zum Schutz der gewährleisteten Inhalte, namentlich durch geeignete Verfahren. Ebenso findet die demokratische Ordnung des Grundgesetzes ihre rechtliche Gestalt weithin in Grundrechten, den Grundsätzen allgemeiner, freier, gleicher und geheimer Wahlen, der Chancengleichheit politischer Parteien, der Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Diese Grundrechte normieren und sichern die freie und gleiche Beteiligung der Bürger an der politischen Willensbildung, darüber hinaus den Schutz der Tätigkeit und der gleichen Chance politischer Minderheiten und die Bildung der öffentlichen Meinung: insgesamt die Freiheit und Offenheit des politischen Prozesses als den entscheidenden Wesenszug der Demokratie des Grundgesetzes. Im Rahmen der bundesstaatlichen Ordnung schließlich schaffen die Grundrechte einen einheitlichen 24

Insbesondere C. SCHMITT Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung (1931) in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 140 ff.

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verfassungsrechtlichen Standard an Rechten und Prinzipien, der eine gewisse Homogenität begründet und in dieser Wirkung zu den Grundlagen heutiger Bundesstaatlichkeit gehört. Über diese Bedeutung für das staatliche Leben hinaus reicht die allgemeine 2 1 Deutung der Grundrechte als objektive Prinzipien der Gesamtrechtsordnung, wie sie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt hat. Sie hat ihre Ausformung in dem grundlegenden Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958 erfahren 25 . Danach sind die Grundrechte zwar in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern. Zugleich habe das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein wolle, in seinem Grundrechtsabschnitt aber auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet, und hierin komme eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck. Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde finde, müsse als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfingen von ihm Richtlinien und Impulse. Das Entscheidende dieses erweiterten Grundrechtsverständnisses war die Abkehr von der bis dahin vorherrschenden formalen Grundrechtsauffassung und die Hinwendung zu einer inhaltlichen, welche die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte umfaßt und diese insofern als oberste, einer Relativierung entzogene Prinzipien der Rechtsordnung begreift. Die Begründung dieser Auffassung hat Kritik gefunden 2 6 ; auch bestehen Differenzen in der Frage, wie sich die beiden „Seiten" der Grundrechte zueinander verhalten. Der Gedanke jedoch, daß die Grundrechte oberste normative Prinzipien der Rechtsordnung enthalten, hat sich heute allgemein durchgesetzt. Diese Auffassung führt zu Auswirkungen von großer Tragweite, welche in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf dem Gebiet der Grundrechte allenthalben hervortreten. 25 26

B V e r f G E 7, 198 (204 ff). Es wird eingewendet, daß der Rekurs auf — in der pluralistischen Gesellschaft umstrittene — „Werte" eine Interpretation der Grundrechte nach klaren und einsehbaren Regeln nicht ermögliche, zu einem Einfließen subjektiver Wertungen des Richters und damit zu Einbußen f ü r die Rechtssicherheit führe (zusammenfassend und am eingehendsten: H. GOERLICH Wertordnung und Grundgesetz, 1973). Doch hat die Rechtsprechung hier — unter dem lebendigen Eindruck der Erfahrungen der vorangegangenen Jahrzehnte — nur das ausgesprochen, was der historische Sinn und unverzichtbare Kern der durch die neue Ordnung konstituierten Grundrechte sein und bleiben mußte: den Bezug dieser Rechte auf die Menschenrechte als deren Grundlage und legitimierende Quelle. Für die Interpretation einzelner Grundrechte war der Gedanke des „Wertsystems" ein (in gewisser Weise heuristischer) Ansatz angesichts einer Lage, in der es noch weitgehend an einer Erarbeitung des konkreten normativen Inhalts und der Tragweite der Einzelgrundrechte, ihres Verhältnisses zueinander und der Voraussetzungen ihrer Begrenzung fehlte. Diese Erarbeitung ist das Werk der seitherigen, im ganzen kontinuierlichen Rechtsprechung gewesen; sie hat einen festen Bestand v o n Gesichtspunkten und Regeln entwickelt, der es ermöglicht, einzelne Grundrechtsfragen mit Hilfe eines angemessenen juristischen Instrumentariums zu entscheiden und den unvermittelten Rückgriff auf „Werte" weitgehend zu vermeiden.

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2. Kapitel. Grundrechte

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Die Grundrechte beeinflussen das gesamte Recht, einschließlich des Organisations- und Verfahrensrechts, nicht nur, soweit es die Rechtsbeziehungen des Bürgers zu den öffentlichen Gewalten zum Gegenstand hat, sondern auch, soweit es Rechtsbeziehungen von Privatpersonen untereinander regelt. Insofern sind sie sowohl für den Gesetzgeber als auch für die rechtsanwendenden Instanzen maßgebend, die bei der Setzung, Auslegung und Anwendung der Rechtsnormen dem Einfluß der Grundrechte Rechnung zu tragen haben27. Für das Privatrecht — für andere Rechtsgebiete gilt im wesentlichen Entsprechendes — hat das Bundesverfassungsgericht diesen Einfluß dahin umschrieben, daß sich der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften entfaltet. Diesen fließe von dem grundrechtlichen Wertsystem her ein spezifisch verfassungsrechtlicher Gehalt zu, der fortan ihre Auslegung bestimme. Ein Streit aus solchen grundrechtlich beeinflußten Verhaltensnormen des bürgerlichen Rechts bleibe materiell und prozessual ein bürgerlicher Rechtsstreit; ausgelegt und angewendet werde bürgerliches Recht, wenn auch dessen Auslegung der Verfassung zu folgen habe 28 . Verfassungsrecht und einfaches Recht greifen damit ineinander, mit der Folge, daß der Umfang verfassungsgerichtlicher Kontrolle der getroffenen Entscheidung zum Problem werden kann.

23

Über diese Auswirkungen hinaus ist das Verständnis der Grundrechte als oberster objektiver Normen der Rechtsordnung von grundsätzlicher, nicht nur theoretischer Bedeutung für die Aufgaben des Staates. Denn die Bindung der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) enthält von diesem Ausgangspunkt aus nicht nur eine (negative) 27

B V e r f G E 7, 198 (205 f). Allerdings dürfen gewisse Gefahren dieser Rechtsprechung nicht verkannt werden. Diese müssen entstehen, wenn die Grundrechte, einer verbreiteten Tendenz entsprechend, als Kern der gesamten Rechtsordnung verstanden werden, mit der Konsequenz, daß jede Rechtsfrage im Prinzip zu einer Grundrechtsfrage werden kann, über die letztlich das Verfassungsgericht zu entscheiden hat. Hier kommt es darauf an, sozusagen die Kirche im D o r f zu lassen und festzuhalten, daß die Grundrechte geschichtlich wie auch heute nicht etwa den Inhalt der allgemeinen Rechtsordnung in Grundlinien vorzeichnen; sie enthalten vielmehr nach wie vor einzelne punktuelle Gewährleistungen, welche dem Schutz elementarer, besonders gefährdeter Voraussetzungen eines Lebens in Freiheit und menschlicher Würde gelten. Darauf beschränkt sich ihre — vor allem für den Gesetzgeber maßgebende — rechtliche Leitfunktion. J e weiter der Geltungs- und Anwendungsbereich der Grundrechte ausgedehnt wird, wie durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 2 Abs. 1 G G (vgl. B V e r f G E 6, 32 (36 ff); 80, 137 (152 ff), desto mehr wächst die Gefahr einer Überanstrengung der Verfassung, einer Entwertung zu kleiner Münze und mit ihr von Fehlentwicklungen, im besonderen eines Verlustes der Freiheit und Eigenverantwortlichkeit demokratischer Gesetzgebung und einer Beeinträchtigung der Aufgaben der zuständigen Fachgerichte. Die — im bürgerlichen oder Strafrecht auf einer langen und prägenden Geschichte beruhende — Eigenständigkeit der einzelnen Rechtsgebiete drohte verloren zu gehen, zum Nachteil sachgemäßer Regelung und Weiterentwicklung dieser Gebiete, für die es auf die besonderen sachlichen Gegebenheiten ankommt, welche sich mit grundrechtlichen Maßstäben nicht ohne weiteres erfassen läßt. — Vertiefend zu den Fragen der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte (die sich freilich weder praktisch noch theoretisch auf starre Alternativen zuspitzen lassen dürften): E.-W. BÖKKENFÖRDE Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen L a g e der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat 29, 1990, S. 1 ff.

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B V e r f G E 7, 198 (205 f).

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Bedeutung der Grundrechte

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Verpflichtung des Staates, Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche zu unterlassen, sondern auch eine (positive) Verpflichtung, alles zu tun, um Grundrechte zu verwirklichen, auch wenn hierauf ein subjektiver Anspruch der Bürger nicht besteht.

V. Fragen der Fortentwicklung des Grundrechtsschutzes 1. Neue Problemstellungen Eine solche positive Verpflichtung ist wesentliches Element einer Fortentwicklung 24 und Entfaltung der Grundrechte, wie sie durch den geschichtlichen Wandel und die mit diesem verbundene Veränderung der Bedingungen menschlicher Freiheit in der Gegenwart und der übersehbaren Zukunft nahegelegt ist (vgl. dazu oben § 1, Rdn. 26 ff): den Wandel des modernen Staates zum Sozialstaat und den Umstand, daß menschliche Freiheit nicht nur durch den Staat, sondern auch durch nichtstaatliche Mächte gefährdet ist, die in der Gegenwart bedrohlicher werden können als die Gefährdungen durch den Staat. Die Freiheit des Bürgers ist unter heutigen Verhältnissen nicht allein eine Frage 25 des Freiseins von staatlichen Eingriffen. Freie und autonome Lebensgestaltung hängt vielmehr von Voraussetzungen ab, über die der Einzelne nur zum Teil, oft sogar überhaupt nicht verfügt. Diese Voraussetzungen zu schaffen und zu erhalten ist heute weithin Aufgabe des Staates, der zum planenden, lenkenden, gestaltenden Staat, zum Staat der „Daseinsvorsorge" und der sozialen Sicherung geworden ist. Soweit daher menschliche Freiheit im Blick auf den Staat nicht mehr nur von einem Unterlassen staatlicher Eingriffe in die individuelle Sphäre, sondern von umfassendem staatlichem Tätigwerden abhängt, läßt sie sich durch Grundrechte als Abwehrrechte nicht mehr gewährleisten. Es erhöht diese Bedeutung des Staates für die Freiheit, wenn in der heutigen begrenzten und zunehmend komplexer werdenden Welt mit ihren knapper werdenden lebenswichtigen Ressourcen viele Freiheitsräume sich nicht erweitern lassen oder sogar dazu tendieren, enger zu werden. Denn in gleichem Maße droht die Freiheit der einen mit der Freiheit der anderen zu kollidieren: Weit mehr als früher bedarf es der Abgrenzung, Begrenzung und Zuordnung der Freiheitsbereiche, die ebenfalls zur staatlichen Aufgabe geworden sind. Besonders deutlich tritt das bei den wirtschaftlichen Freiheiten, aber auch etwa auf dem Gebiet des Bildungswesens hervor; ebenso führt im Bereich der Freiheit der Kommunikation die Entwicklung der modernen Medien, der Presse und des Rundfunks, zu der Notwendigkeit einer Abgrenzung und Zuordnung divergierender Freiheitsansprüche. Auch der zweite Grundtatbestand der Gefährdung menschlicher Freiheit durch 26 nicht-staatliche Mächte führt zu neuen Problemstellungen. Freiheit läßt sich wirksam nur als einheitliche gewährleisten. Sofern sie nicht nur eine Freiheit der Mächtigen sein soll, bedarf sie des Schutzes auch gegen gesellschaftliche Beeinträchtigungen. Wird diese Fragestellung als eine grundrechtliche verstanden, so ermöglicht auch

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2. Kapitel. Grundrechte

insofern eine Deutung der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat keine Lösung. 27 Unter beiden Aspekten: der veränderten Problematik der Freiheit im Blick auf den Staat und auf gesellschaftliche Mächte, läßt sich daher grundrechtliche Freiheit nicht mehr nur als eine staatsfreie Sphäre des Individuums verstehen, die der Staat lediglich zu respektieren hat. Soll diese Freiheit reale Freiheit sein, so setzt sie in weitem Umfang Grundrechtsverwirklichung durch den Staat voraus. Der Staat erscheint damit nicht mehr nur als potentieller Feind der Freiheit, sondern er muß auch zu ihrem Helfer und Beschützer werden. Freilich ist diese Rolle ihrerseits nicht frei von Gefahr. Denn durch eine unbegrenzte Ausweitung staatlicher Verantwortung und staatlicher Aktivitäten, die in eine allumfassende staatliche Fürsorge, Planung und Gestaltung mündet, würde selbstverantwortliche Lebensgestaltung aufgehoben werden. Insoweit nähern sich dann verfassungsrechtliche Gewährleistungen, welche jene Aufgaben erfüllen sollen, „Grundrechten der zweiten Generation" (vgl. Rdn. 2). Neben der Besonderheit, daß sie insofern den Staat nicht nur zu einem Unterlassen, sondern auch zu einem Tun verpflichten, lassen sie die Frage entstehen, ob und inwiefern der objektiv-rechtlichen Verpflichtung des Staates ein subjektives Recht der Menschen und Bürger entspricht, ein solches Tätigwerden des Staates zu beanspruchen. 2. Grundrechte als Teilhabe- oder Leistungsrechte 28 Als eine Lösung der Problematik grundrechtlicher Sicherung der Voraussetzungen eines Lebens in Freiheit und menschlicher Würde scheint sich nach geltendem Verfassungsrecht eine Umdeutung oder Erweiterung der Freiheitsrechte zu Teilhabeoder Leistungsrechten anzubieten, die einen Anspruch auf Schaffung und Erhaltung jener Voraussetzungen begründen. 29

Keine Schwierigkeiten bietet dabei die Frage „derivativer" Teilhabeansprüche·. Werden einzelne Personen oder Personengruppen in bestehenden Leistungssystemen, ζ. B. der Sozialversicherung, der Kriegsopferversorgung oder der Ausbildungsförderung, nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt und ist die darin liegende Differenzierung gegenüber den in das System einbezogenen Personengruppen mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 GG) nicht vereinbar, so kann sich aus diesem Grundrecht — gegebenenfalls in Verbindung mit einem einschlägigen Freiheitsrecht und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) — ein Anspruch auf gleiche Teilhabe ergeben. Die Realisierung dieser Ansprüche setzt grundsätzlich eine Ergänzung des maßgebenden Gesetzes voraus; der Bürger kann indessen erreichen, daß das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes feststellt und der Gesetzgeber insoweit verpflichtet wird, den Gleichheitsverstoß zu beseitigen. Solche derivative Teilhabeansprüche unterscheiden sich nicht wesentlich von den herkömmlichen Grundrechtsansprüchen: Es handelt sich um die geläufige Konstellation der „Abwehr" einer Ungleichbehandlung, die in der Sache auf ein Teil-

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haberecht hinauslaufen kann. Teilhabeansprüche dieser Art sind in Rechtsprechung und Schrifttum uneingeschränkt anerkannt29. Die eigentliche Problematik von Grundrechten als Teilhaberechten stellt sich 30 erst bei der Frage, ob Grundrechte im Zeichen der erwähnten Veränderungen der Bedingung menschlicher Freiheit als „originäre" Teilhaberechte verstanden werden können oder sogar müssen, ob sie also über die gleiche Zuteilung in bestehenden Leistungssystemen hinaus Teilhabeansprüche auch dann begründen, wenn die Voraussetzungen der Erfüllung dieser Ansprüche erst geschaffen werden müßten. Die grundsätzliche Möglichkeit eines solchen Verständnisses hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 18. Juli 1972 über die Zulässigkeit von Beschränkungen des Hochschulzugangs nicht ausgeschlossen30: Je stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwende, desto mehr trete im Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen. Dies gelte besonders im Bereich des Ausbildungswesens; denn das Recht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte (Art. 12 Abs. 1 GG) wäre ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos. Ob bei dieser Sachlage aus den grundsätzlichen Wertentscheidungen und der Inanspruchnahme des Ausbildungsmonopols durch den Staat ein objektiver sozialstaatlicher Verfassungsauftrag zur Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten folge, und ob sich aus diesem Verfassungsauftrag unter besonderen Voraussetzungen ein einklagbarer Individualanspruch des Staatsbürgers auf Schaffung von Studienplätzen herleiten lasse, bedürfe im vorliegenden Falle indessen keiner Entscheidung. In jedem Falle stünden solche Teilhaberechte unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen könne. Hier wie auch in späteren Entscheidungen ist die Frage also in der Schwebe gelassen. Das Urteil vom 18. Juli 1972 hebt selbst Einwände hervor, denen eine generelle Umdeutung von Freiheitsrechten in originäre Teilhaberechte begegnen muß. Die Regelung materieller Ansprüche auf Leistung und der mit ihnen verbundenen Fragen kann nach der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes nur eine Aufgabe des Gesetzgebers, nicht der rechtsprechenden Gewalt sein. Individuelle Ansprüche auf Leistungen müssen hinreichend bestimmt sein und setzen typischerweise eine Konkretisierung durch Gesetze voraus, die sich durch einzelne Richtersprüche nicht ersetzen läßt. Vor allem aber würde die demokratische Ordnung des Grundgesetzes als Ordnung eines freien politischen Prozesses entscheidend verkürzt, wenn der politischen Willensbildung nicht nur verfassungsmäßige Ziele und Richtlinien, sondern eine Mehrzahl so und nicht anders einzulösender verfassungsrechtlicher Verpflichtungen vorgegeben wären. Dies würde an die Stelle von Politik — gerichtlich 29

30

Z . B . BVerfGE 45, 376 (386ff); W. MARTENS Grundrechte im Leistungsstaat, in: V V D S t R L Bd. 30 (1972) S. 21 ff; D. MURSWIEK Grundrechte als Teilhaberechte. Soziale Grundrechte, in: HdBStR Bd. 5, 1992, § 112, Rdn. 68 ff. BVerfGE 33, 303 (330 ff); vgl. auch BVerfGE 35, 79 (115 f).

2. Kapitel. Grundrechte

142

kontrollierten — Verfassungsvollzug treten lassen und damit den Bereich parlamentarischer Willensbildung als Grundbestandteil einer offenen demokratischen Ordnung entscheidend einengen. Der systematische Widerspruch zwischen Grundrechten als originären Teilhaberechten und demokratischer Ordnung zieht infolgedessen originären verfassungsrechtlichen Teilhaberechten in einer solchen Ordnung Grenzen 31 . Sie sind nicht geeignet, der Problematik von Grundrechten im Leistungsstaat gerecht zu werden. 3. Soziale Grundrechte 31 Es ist deshalb kaum ein Zufall, wenn sich die neuere Diskussion in verstärktem Maße der Frage nach der Bedeutung und der möglichen Wirkkraft „sozialer Grundrechte" im Sinne einer Gewährleistung der Grundlagen individueller menschlicher Existenz zugewendet hat 32 . Soziale Grundrechte sind in einzelne westdeutsche Landesverfassungen aufgenommen worden 33 , haben dort indessen wegen des Vorrangs des Bundesrechts kaum praktische Bedeutung erlangt. Eine Aufnahme in das Grundgesetz — wenngleich in der Form von Staatszielbestimmungen — ist im Zusammenhang mit der durch die Einigung Deutschlands veranlaßten Verfassungsreform gefordert worden 34 . 32

Es begründet die — der soeben erwähnten ähnliche — Problematik dieser Rechte, daß sie von prinzipiell andersartiger Struktur sind als die herkömmlichen Freiheits- und Gleichheitsrechte. Soziale Grundrechte wie ein Recht auf Arbeit, auf angemessenen Wohnraum oder soziale Sicherung lassen sich nicht schon dadurch realisieren, daß sie respektiert und geschützt werden, sondern verlangen von vornherein und jedenfalls in höherem Maße als die überkommenen Grundrechte staatliche 31

32

33

34

Dazu E . F R I E S E N H A H N Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, in: Verhandlungen des 5 0 . Deutschen Juristentages I I , 1 9 7 4 , S . G 2 9 ff; vgl. auch M U R S W I E K (Fn. 2 9 ) Rdn. 8 6 ff. Vgl. etwa J . P. M Ü L L E R Soziale Grundrechte in der Verfassung? 2. Aufl., 1981; P. B A D U R A Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschland, in: Der Staat 14 (1975) S. 17ff; J . ISENSEE Verfassung ohne soziale Grundrechte, in: Der Staat 19 (1980) S. 367 ff; W . L O R E N Z Bundesverfassungsgericht und soziale Grundrechte, in: Jur.Blätter 1981, S. 16 ff; E . - W . B Ö C K E N F Ö R D E Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, in: Von der bürgerlichen zur sozialen Rechtsordnung. 5. Rechtspolitischer Kongreß der SPD 1980, hrsg. von Böckenförde/Jekewitz/Ramm Dokumentation: 2. Teil S. 7 ff; W . S C H M I D T Soziale Grundrechte im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Der Staat, Beiheft 5, 1981, S. 9 ff; M U R S W I E K HdBStR Bd. 5 (Fn. 29) § 112 Rdn. 40 ff. Z . B . Bayerische Verfassung Art. 166ff; Hessische Verfassung Art. 27ff; entsprechende Gewährleistungen finden sich in den neuen ostdeutschen Landesverfassungen, hier freilich in Formulierungen, welche der im folgenden darzulegenden Problematik Rechnung zu tragen suchen. Eine gewisse Vorbildfunktion kommt dabei dem Verfassungsentwurf des „Runden Tisches" für eine Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom April 1990 zu, der u. a. ein Recht auf Arbeit, ein Recht auf angemessenen Wohnraum und ein Recht auf soziale Sicherung vorgesehen hat (Art. 27 Abs. 1, 25 Abs. 1, 27 Abs. 2). Ähnlich der Verfassungsentwurf des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder vom 29. 6. 1991 (Art. 12 a, 13 a und 12 b) hier jedoch ausschließlich als Schutzverpflichtung des Staates. Zu dem Entwurf des „Runden Tisches": U. P R E U B Auf der Suche nach der Zivilgesellschaft. Der Entwurf des Runden Tisches, in: B. G U G G E N B E R G E R / T . S T E I N (Hrsg.) Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, 1991, S. 362 f.

§5

Bedeutung der Grundrechte (HESSE)

143

Aktionen zur Verwirklichung des in ihnen enthaltenen Programms. Dies fordert regelmäßig nicht nur ein Tätigwerden des Gesetzgebers, sondern auch der Verwaltung; es kann zu einer Beeinträchtigung der Freiheitsrechte anderer führen. Soziale Grundrechte sind daher nicht in der Lage, im Sinne der Grundrechtsauffassung des Grundgesetzes unmittelbar gerichtlich verfolgbare Ansprüche des Bürgers zu begründen. Praktische und konkrete Bedeutung können sie nur insoweit erlangen, als sie den Staat verbindlich zu ihrer Realisierung verpflichten, wie dies z. B. Art. 26 des Entwurfs einer neuen Bundesverfassung der Schweiz vorsieht 35 . Erst nach einer Regelung durch den Gesetzgeber können sich aus dieser abgegrenzte und verfolgbare Rechtsansprüche ergeben. Soweit das Programm sozialer Grundrechte realisiert ist, können diese Rechte, vor allem auf dem Gebiet der sozialen Sicherung, die Wirkung einer Verfassungsgarantie des sozialen Besitzstandes erlangen. Grundsätzlich können soziale Grundrechte jedoch nicht den Charakter individueller subjektiver Rechte annehmen. Im Ergebnis unterscheiden sie sich deshalb kaum von „Staatszielbestimmungen", die heute im Mittelpunkt der Erörterung stehen. 4. Staatszielbestimmungen Staatszielbestimmungen 36 finden sich bereits im geltenden Verfassungsrecht des 33 Grundgesetzes. Die Aufnahme weiterer Staatszielbestimmungen gehört zu den in Art. 5 des Einigungsvertrages im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen, mit denen sich die gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands befassen sollen (vgl. oben § 3, Rdn. 37 ff). „Als Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätig- 34 keit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben — sachlich umschriebener Ziele — vorschreiben" 37 , unterscheiden sich Staatszielbestimmungen von den Gesetzgebungsaufträgen des Grundgesetzes, welche (nur) den Gesetzgeber zu ergänzenden oder ausgestaltenden Regelungen verpflichten (z. B. Art. 21 Abs. 3, 38 Abs. 3 GG). Von sozialen Grundrechten unterscheiden sie sich schon dadurch, daß sie keine individuellen Rechte begründen; ebenso wie die „klassischen" Freiheitsund Gleichheitsrechte enthalten sie objektives Verfassungsrecht. Im Gegensatz zu jenen Rechten haben sie jedoch dirigierenden, dynamischen Charakter: Sie sollen nicht einen bestehenden Zustand gewährleisten, sondern Aufgaben und Richtung künftigen Staatshandelns festlegen. Für dieses schaffen sie eine Zielvorgabe. Insoweit 35

36

37

Vgl. dazu den Schlußbericht der Arbeitsgruppe Wahlen für die Totalrevision der (schweizerischen) Bundesverfassung, Bd. VI, 1973, S. 180 ff und den Bericht der Expertenkommission f ü r die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, 1977, S. 59 ff. Aus der umfangreichen Literatur vgl. die grundlegenden Arbeiten von SCHEUNER Staatszielbestimmungen (Fn. 10) S. 223 ff; H. H. KLEIN Staatsziele im Verfassungsgesetz — Empfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen? in: DVB1. 1991, S. 729 ff; D. MERTEN Über Staatsziele, in: D Ö V 1993, S. 368 ff. Bericht der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen Gesetzgebungsaufträge, Hrsg. Der Bundesminister des Innern, Der Bundesminister der Justiz, 1983, S. 13. Zur Arbeit der Kommission: E. WIENHOLTZ Arbeit, Kultur und Umwelt als Gegenstand verfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen, in: A ö R 109 (1984) S. 532 ff.

144

2. Kapitel. Grundrechte

binden sie die staatlichen Gewalten, lassen diesen jedoch hinsichtlich des Zeitpunktes und der Mittel der Realisierung weitgehende Freiheiten. Die normative Bindungswirkung von Staatszielbestimmungen bleibt mithin hinter derjenigen von Grundrechten zurück; jenseits dieser Bindung besteht gesetzgeberische und politische Gestaltungsfreiheit 38 . In dieser begrenzten Tragweite können Staatszielbestimmungen eigenständige Bedeutung nur gewinnen, soweit das, was sie leisten sollen, nicht bereits auf andere Weise verwirklicht wird. 35

Weil Staatszielbestimmungen keine individuellen Rechte begründen, vermeiden sie insoweit die Schwächen und Gefahren von Teilhabe- und sozialen Grundrechten. Sie lassen sich als Mittel betrachten, Notwendigkeiten Rechnung zu tragen, welche sich aus den modernen Problemveränderungen ergeben (vgl. Rdn. 25): Die Menschen finden in der Verfassung Regelungen, welche Grundlagen ihres eigenen Lebens betreffen; das kann ihnen die Verfassung näher bringen und darum integrierend wirken. Die verfassungsrechtlich festgeschriebenen Ziele erhalten Vorrang vor politischen Zielsetzungen; infolgedessen werden sie bei Entscheidungen des Gesetzgebers im Falle von Zielkonflikten — etwa zwischen dem Schutz der Umwelt einer-, der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen andererseits — zu zwingend zu berücksichtigenden Faktoren der erforderlichen Abwägungs- und Optimierungsprozesse. Das gleiche gilt für Entscheidungen der Verwaltung und der Rechtsprechung. Für die Verwaltung enthalten sie einen Handlungsauftrag; in den Bereichen beider Funktionen werden sie maßgebend für die Interpretation des Rechts, insbesondere für die Auslegung unbestimmter und Ermessensbegriffe sowie die Abwägung zwischen widerstreitenden Belangen. Schließlich führen Staatszielbestimmungen zu einer Erweiterung der Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Denn in dem Maße, in dem sie normativ binden, unterliegt die Einhaltung dieser Bindungen der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts, die vor allem in den Verfahren der konkreten und abstrakten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1, 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) wahrzunehmen ist. Allerdings sind diese Wirkungen teils ungewiß, teils haben sie ihren Preis.

36

Ungewiß sind sie, weil Staatszielbestimmungen für sich allein nichts bewirken, sondern darauf angewiesen sind, daß sie vom Gesetzgeber aufgenommen und je nach den Problemlagen und Möglichkeiten der Zeit in unmittelbar geltendes Recht umgesetzt und realisiert werden. Dies setzt zunächst voraus, daß der Staat hierfür überhaupt zuständig ist, was im Hinblick auf die europäische Entwicklung keineswegs mehr selbstverständlich ist; vor allem für die Realisierung wirtschaftlicher und sozialer Staatsziele wird dem Bund und noch mehr den Ländern häufig die Zuständigkeit fehlen. Aber auch dort, wo eine Zuständigkeit des Staates gegeben ist, kann die Realisierung von Staatszielen die Kapazität des Staates übersteigen, weil er über die Mittel der Realisierung oft nicht selbst verfügt. Er verspricht dann etwas, was er nicht halten kann, und so können die Erwartungen, die sich an Staatszielbestimmungen in der Verfassung knüpfen, leicht enttäuscht werden, womit deren integrie38

SCHEUNER S t a a t s z i e l b e s t i m m u n g e n (Fn. 3 6 ) S. 2 3 6 .

§5

Bedeutung der G r u n d r e c h t e (HESSE)

145

rende Wirkung in ihr Gegenteil umschlagen kann — ein Aspekt, welchem heute nach den Erfahrungen der Bevölkerung Ostdeutschlands mit den Verheißungen der früheren DDR-Verfassungen erhebliches Gewicht zukommt. Es entsteht die Gefahr, daß mit programmatischen Sätzen dieser Art die Leistungsfähigkeit der Verfassung überschritten wird, auch wenn eine gewisse Zwangsläufigkeit des Sozialstaats ihnen zu Hilfe kommen mag, weil keine politische Leitung heute auf soziale Fürsorge, Vorsorge und sozialen Ausgleich verzichten kann39. Der Preis, dessen Höhe von der Zahl der Staatszielbestimmungen und dem 37 Ausmaß ihrer normativen Verbindlichkeit abhängt, besteht auch hier, ähnlich wie bei originären Teilhabe- und sozialen Grundrechten, in einer Schwächung der demokratischen Komponente der Verfassung: Das, was durch die Staatszielbestimmungen verfassungsrechtlich entschieden ist, ist der Entscheidung der politischen Gewalten enzogen; freilich braucht es auch nicht mehr entschieden zu werden, worin eine entlastende und stabilisierende Wirkung liegen kann. Und auch hier ist eine gewisse Verschiebung der Gewichte zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgerichtsbarkeit unverkennbar, wenngleich die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, wie gezeigt, in weitem Umfang gewahrt bleibt. Staatszielbestimmungen in dem dargelegten Sinne enthält das Grundgesetz in 38 dem Friedensgebot des Art. 26, in dem Gebot, den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen (Art. 109 Abs. 2 GG), in einzelnen Kompetenzvorschriften, vor allem aber in dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG)40. Der allgemeine Auftrag, den die Formel vom sozialen Rechtsstaat enthält, begründet die Pflicht der staatlichen Organe, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen41; er überläßt jedoch die Zielsetzungen im einzelnen und die Art ihrer Realisierung der Entscheidung im demokratischen Prozeß42. Die Formel vom sozialen Rechtsstaat begründet von vornherein keine unmittelbaren Individualansprüche, ist aber u. a. für die Auslegung der Grundrechte von wesentlicher Bedeutung, die als derivative Teilhaberechte solche Ansprüche begründen können. Im Vordergrund der gegenwärtigen Erwägungen zur Aufnahme von Staatszie- 39 len in das Grundgesetz steht der Umweltschutz43, der in Europa in die Verfassungen Griechenlands, der Niederlande, Portugals, der Schweiz und Spaniens aufgenommen worden, Bestandteil des europäischen Rechts ist und auch in einige deutsche Landesverfassungen Eingang gefunden hat. Wie oben gezeigt, bestehen ferner Bestrebungen, den Schutz der elementaren Lebensgrundlagen und -bedürfnisse der Men39

40

41 42 43

D. GRIMM Verfassungsfunktion und G r u n d g e s e t z r e f o r m , in: Die Z u k u n f t der Verfassung, 1 9 9 1 , S. 325. Dazu näher: SCHEUNER Staatszielbestimmungen (Fn. 3 6 ) S. 2 3 2 f f ; KLEIN Staatsziele im Verfassungsgesetz (Fn. 3 6 ) S. 734 f. Ζ. B. B V e r f G E 22, 1 8 0 (204). Vgl. dazu etwa B V e r f G E 18, 2 5 7 (273); 29, 221 (235). Dazu näher: KLEIN Staatsziele im Verfassungsgesetz (Fn. 3 6 ) S. 7 3 1 m. w. Nachw. — S o w e i t der Staat durch A r t . 2 Abs. 2 Satz 1 G G (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) zu Maßnahmen gegen v o n Dritten verursachte Umweltschäden verpflichtet ist (vgl. Rdn. 50) ist Umweltschutz bereits heute ein grundgesetzliches G e b o t .

146

2. Kapitel. Grundrechte

sehen: die Sorge für ausreichende Wohnung, Schutz vor Arbeitslosigkeit, die Sicherung im Alter und bei Krankheit, die Pflege von Bildung und Kultur durch Staatszielbestimmungen zu verbessern (vgl. Fn. 34). Die neuen Bundesländer haben Staatszielbestimmungen dieser Art — in unterschiedlicher Formulierung — in ihre Verfassungen aufgenommen 44 . 40 Für die verfassungsmäßige Normierung eines Staatsziels im Grundgesetz, welches die natürlichen Grundlagen des Lebens unter den besonderen Schutz des Staates stellt, sprechen gute Gründe 45 . Der Schutz der Umwelt ist heute offenkundig und unbestritten zu einer primären Staatsaufgabe geworden. Nach lang andauernder rechtspolitischer Diskussion, in deren Verlauf eine entsprechende Staatszielbestimmung in der vergangenen Legislaturperiode bereits konkrete Gestalt angenommen hatte, hat dieses Staatsziel in der Gemeinsamen Verfassungskommission (oben § 3, Rdn. 40) zunächst jedoch nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit gefunden. 41

Hingegen wäre die Einführung näher benannter sozialer Staatszielbestimmungen, wie sie ebenfalls für das Grundgesetz angestrebt wird, nicht frei von Bedenken. Vorzuziehen ist wie bisher der allgemeine Sozialstaatsauftrag, der in seiner Offenheit und Elastizität bereits den Inhalt solcher Bestimmungen umfaßt. Er ermöglicht es, den jeweiligen Bedürfnissen und Koordinierungsaufgaben besser gerecht zu werden und zugleich die Freiheit demokratischer Entscheidung zu bewahren. Da er auf eine nähere Benennung der anzustrebenden sozialen Ziele verzichtet, mindert er zudem die Gefahr, falsche Erwartungen zu wecken 46 . 5. Grundrechtsverwirklichung und -Sicherung durch Organisation und Verfahren

42 Die Gedanken der Teilhaberechte und die sozialen Grundrechte können hiernach nur begrenzte Bedeutung für die Wirksamkeit und den Schutz der Grundrechte in der Gegenwart gewinnen; ebenso wären weitere Staatszielbestimmungen nur bedingt geeignet, die Aufgaben zu bewältigen, welche sich aus den eingangs dargelegten Problemveränderungen (Rdn. 25) ergeben. Um so wichtiger ist ein anderer, bisher freilich wenig beachteter Zusammenhang: derjenige von Grundrechten, Organisation und Verfahren 47 . Dieser Zusammenhang, dem das Bundesverfassungsgericht in seiner 44 45

Brandenburg, A r t . 45, 47, 48; Sachsen, A r t . 7; Sachsen-Anhalt A r t . 38 ff. Bericht der Sachverständigenkommission (Fn. 37) Rdn. 130, 141 ff; WIENHOLTZ Arbeit, K u l t u r und U m w e l t als Gegenstand verfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen (Fn. 37) S. 5 4 6 f f , 553; KLEIN Staatsziele im Verfassungsgesetz (Fn. 36) S. 737.

44

Eine Staatszielbestimmung, die dem Staat die (Mit-)Verantwortung f ü r A r b e i t (und Ausbildung) ausdrücklich zuspricht, hat die Sachverständigenkommission empfohlen; doch hat sich f ü r einen gemeinsamen Vorschlag einer Verfassungsänderung keine Ubereinstimmung ergeben (Bericht (Fn. 37) Rdn. 87). Gegen die A u f n a h m e einer solchen Staatszielbestimmung: WIENHOLTZ Arbeit, K u l t u r und U m w e l t als Gegenstand verfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen (Fn. 37) S. 537 ff.

47

Eine umfassende Untersuchung bietet H. GOERLICH Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1 9 8 1 . Vgl. ferner etwa: H. BETHGE Grundgrechtsverwirklichung und Grundrechtssicherung durch Organisation und Verfahren, in: N J W 1982, S. 1 f f ; F. OSSENBÜHL Grundrechtsschutz im und durch Verfahrensrecht, in: Festschrift für K u r t Eichenberger, 1 9 8 2 , S. 1 8 3 f f ; R LERCHE/

§5

Bedeutung der Grundrechte (HESSE)

147

jüngeren Rechtsprechung zunehmendes Gewicht beigemessen hat, ist nicht nur von allgemeiner Bedeutung für die Verwirklichung und Sicherung der Grundrechte; er ermöglicht es auch, besser als jene Rechte und Bestimmungen, der veränderten Problematik der Wirksamkeit der Grundrechte im modernen Staat gerecht zu werden und trägt damit zur Behebung von Defiziten der Gewährleistung grundrechtlicher Freiheit bei. Um ihre Funktion in der sozialen Wirklichkeit erfüllen zu können, bedürfen 43 Grundrechte in mehr oder minder großem Umfang der konkretisierenden Ausgestaltung durch die Rechtsordnung (vgl. Rdn. 62): Es bedarf nicht nur näher bestimmender inhaltlicher Normierungen, sondern auch der Bereitstellung von Organisationsformen und Verfahrensregelungen, um den grundrechtlich normierten Rechtszustand zu einem Zustand der sozialen Wirklichkeit werden zu lassen. Erhöhte Bedeutung gewinnt diese Notwendigkeit unter den Bedingungen der Gegenwart, unter denen menschliche Freiheit wesentlich auf staatliche Unterstützung, Vorsorge und Verteilung angewiesen ist und unter denen es in zunehmendem Maße der Abgrenzung, Begrenzung und Zuordnung der Bereiche menschlicher Freiheit bedarf (vgl. Rdn. 25). Hier erweisen sich Organisation oder Verfahren oft als Mittel, ein grundrechtsgemäßes Ergebnis herbeizuführen und damit Grundrechte auch im Zeichen jener Bedingungen wirksam zu sichern48. Bedürfen also die Grundrechte in weitem Maße der Organisation und des 44 Verfahrens, so wirken sie zugleich ihrerseits auf das Organisations- und Verfahrensrecht ein, das auf diese Weise zur Grundrechtsverwirklichung und -Sicherung beiträgt. Dies ist ohne weiteres deutlich bei Grundrechten, deren unmittelbarer Gegenstand die Gewährleistung von Organisations- oder Verfahrensgrundsätzen ist, wie etwa bei der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), den Grundrechten auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) oder bei den Voraussetzungen und Verfahrensgarantien, die Art. 104 GG für Freiheitsbeschränkungen und -entziehungen normiert. Aber auch die materiellen Grundrechte wirken auf das Verfahren ein. Deshalb besteht das Bundesverfassungsgericht auf einer grundrechtskonformen Anwendung des Verfahrensrechts. Darüber hinaus hat es im Interesse der Grundrechtsverwirklichung und -Sicherung aus materiellen Grundrechten besondere verfahrensrechtliche Anforderungen entwickelt, namentlich die Notwendigkeit eines effektiven (Grund-)Rechtsschutzes, auf den der Einzelne einen Anspruch hat49. Diese Aspekte greifen ineinander. Sie können hier nicht im einzelnen verfolgt werden. In aller Kürze ist nur auf einige Punkte hinzuweisen; die für die Problematik der Grundrechte im modernen Sozialstaat von Bedeutung sind.

48

45

W. SCHMITT GLAESER/E. SCHMIDT-ABMANN Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984; E. DENNINGER Staatliche Hilfe zur Grundrechtsausführung durch Verfahren, Organisation und Finanzierung, in: HdBStR Bd. 5, 1992, § 113. Grundsätzlich hierzu: P. HABERLE Grundrechte im Leistungsstaat, in: V V D S t R L Bd. 30 (1972) bes. S. 86 ff, 121 ff. Vgl. insbes. B V e r f G E 53, 30 (65 f) und die umfassende Übersicht in der abweichenden Meinung ebd. S. 72 ff; ferner B V e r f G E 63, 131 (143); 73, 280 (296).

148

2. Kapitel. Grundrechte

45

Organisation und Verfahren können sich unmittelbar als Mittel der Verwirklichung und Sicherung von Grundrechten erweisen. Sehr klar tritt das bei der Rundfunkfreiheit hervor: In ihren Schutzrichtungen als Freiheit der Sendeunternehmen im Verhältnis zum Staat sowie als Gewährleistung eines Angebots von Sendungen, das freie, wahrheitsgemäße und umfassende Information und Meinungsbildung ermöglicht, läßt diese sich ebenso wie in ihrer Bedeutung für die Frage des „Zugangs" zum Rundfunk und der Errichtung neuer Sendeunternehmen nicht ohne organisatorische und Verfahrensregelungen verwirklichen, deren Wirkungen zu einem dem Inhalt des Grundrechts gemäßen Ergebnis führen. Folgerichtig hat das Bundesverfassungsgericht die verfassungsmäßige Gewährleistung durch bestimmte Anforderungen an die Rundfunkorganisation konkretisiert und damit Grundlagen für die Gestaltung des Rundfunks in der Bundesrepublik festgelegt 50 . Ahnliches gilt unter modernen Verhältnissen für die Freiheit der Wissenschaft, die als Freiheit der Forschung weithin auf kostspielige, vom Staat bereitgestellte Einrichtungen angewiesen ist. Hier hat das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben, daß ein effektiver Grundrechtsschutz adäquate organisationsrechtliche Vorkehrungen erfordere, die sowohl dem Grundrecht des einzelnen Wissenschaftlers auf Freiheit der Forschung und Lehre als auch der Funktionsfähigkeit der Institution „freie Wissenschaft" hinreichend Rechnung tragen 51 .

46

Organisations- und Verfahrensregelungen sind ferner ein geeignetes Mittel, widerstreitende Verfassungspositionen zum Ausgleich zu bringen. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht ζ. B. im Falle des Widerstreits zwischen „positiver" und „negativer" Religionsfreiheit ausgesprochen, daß eine Lösung sich nur unter Würdigung der kollidierenden Interessen durch Ausgleich und Zuordnung der maßgeblichen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte finden lasse; diese obliege dem demokratischen Landesgesetzgeber im öffentlichen Willensbildungsprozeß52.

47

Was hier allgemein gilt, muß im besonderen Maße gelten, wenn in der heutigen enger werdenden Welt die Freiheit der einen zunehmend mit der Freiheit der anderen in Konflikt zu geraten droht: Es müssen Regelungen getroffen werden, welche die Freiheitsbereiche einander sachgemäß zuordnen und sicherstellen, daß Grenzziehungen nicht nur zu Lasten einer Seite gehen. Das können im wesentlichen nur Verfahrensregelungen sein, wie sie sich namentlich in Rechtsbereichen finden, die den Gebrauch des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 G G ) betreffen. Erst Regelungen dieser Art ermöglichen und sichern einen angemessenen Ausgleich zwischen den verschiedenen Positionen und damit die Verwirklichung der betroffenen Grundrechte.

48

Nicht anders verhält es sich schließlich in Lagen einer Verknappung von Freiheitsvoraussetzungen. Die damit sich verbindenden Verfassungsrechtsfragen sind bislang namentlich bei dem Mangel an Studienplätzen aufgetreten; es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß sie schon in naher Zukunft auch in anderen Bereichen Bedeutung

50 51 52

B V e r f G E 12, 205 (261 ff); 31, 314 (325 ff); 57, 295 (319 ff); 73, 118 (152 ff); 83, 238 (295 ff). B V e r f G E 35, 79 (120 ff); 43, 242 (267). B V e r f G E 41, 29 (50).

§5

Bedeutung der Grundrechte (HESSE)

149

gewinnen werden. Auch hier läßt sich nur durch geeignete Organisations- und Verfahrensregelungen sicherstellen, daß nicht die einen alles, die anderen nichts erhalten und daß die verbleibenden Freiheitschancen gerecht verteilt werden. Es kommt, wie das Bundesverfassungsgericht im Falle der Verteilung von Studienplätzen ausgesprochen hat, darauf an, zu gewährleisten, daß jeder Berechtigte zumindest eine Chance hat, von seinem Grundrecht Gebrauch machen zu können und auf diese Weise der Gefahr einer inhaltlichen Entwertung des Grundrechts zu begegnen 53 . Insoweit dienen sachentsprechende organisations- und verfahrensrechtliche Regelungen der Verwirklichung von „Teilhabe". Sie erweisen sich als wirksame Mittel, einen chancengleichen Zugang oder eine chancengleiche Verteilung von Leistungen und die volle Ausschöpfung der vorhandenen Leistungsmöglichkeiten zu gewährleisten. 6. Schutzpflicht des Staates Der zweite grundlegende Aspekt der modernen Grundrechtsproblematik: die Not- 49 wendigkeit staatlichen Schutzes gegen Beeinträchtigungen oder Gefährdungen menschlicher Freiheit, welche nicht vom Staat ausgehen (vgl. Rdn. 26), hat in der neueren Entwicklung zu einer Fortbildung geführt, welche sich bislang erst in Ansätzen abzeichnet. Die Verfassungsrechtsprechung hat die Geltung der Grundrechte in einem stellenweise noch offenen Ausmaß auf Rechtsbeziehungen ausgedehnt, an denen der Staat nicht unmittelbar beteiligt ist 54 . Ausgangspunkt hierfür ist das Verständnis der Grundrechte als objektive Prin- 50 zipien (vgl. Rdn. 23), die es dem Staat gebieten, alles zu tun, um Grundrechte zu verwirklichen. Demgemäß kann sich unmittelbar aus Grundrechten eine staatliche Pflicht ergeben, ein durch diese geschütztes Rechtsgut vor rechtswidrigen Verletzungen und Gefährdungen durch andere, vor allen durch Private, aber auch durch andere Staaten, also durch „Personen und „Mächte" zu bewahren, die selbst nicht Adressaten der Grundrechte des Grundgesetzes sind 55 . Praktische Bedeutung hat diese Pflicht in erster Linie für das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), so für den Schutz ungeborenen Lebens56, den Schutz vor Beeinträchtigungen, die sich aus der Nutzung der Kernenergie ergeben 57 , den Schutz vor Beeinträchtigungen durch Flug- und Verkehrslärm 58 oder vor der Gefährdung durch die Stationierung von Chemiewaffen 59 . 53 54

B V e r f G E 33, 303 (345); 43, 291 (314, 3 1 6 f). St.Rspr., vgl. B V e r f G E 77, 1 7 0 (214 f) m. w. Nachw. Aus der Literatur: J. ISENSEE Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983 S. 27 ff; DERS.: Schutzpflichten, in: HdBStR Bd. 5, 1992, § 1 1 1 , bes. Rdn. 1—8, 77 ff; D. MURSWIEK Die staatliche Verantwortung f ü r die Risiken der Technik, 1985; R. ALEXY Theorie der Grundrechte, 1985, S. 4 1 0 ff; G. HERMES Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit. Schutzpflicht und Schutzanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 G G , 1987, bes. S. 1 8 7 ff; G .

ROBBERS S i c h e r h e i t

als M e n s c h e n r e c h t ,

1987,

S. 1 2 1 f f ; R .

WAHL/J.

Schutz durch Eingriff, in: J Z 1990, S. 553 ff. 55 56 57 58 59

E. KLEIN BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

Grundrechtliche Schutzpflichten des Staates, in: N J W 1989, S. 1633. 39, 1 (42 ff). 49, 89 (142); 53, 30 (57). 56, 54 (73); 79, 174 (201 f). 77, 1 7 0 (214 f).

MASINO

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2. Kapitel. Grundrechte

51

Insoweit verpflichten die Grundrechte unter der dargelegten Voraussetzung eindeutig zu staatlichem Tätigwerden; sie regeln also die Frage des „Ob" dieses Tätigwerdens. Doch läßt sich ihnen in aller Regel nicht entnehmen, welche Vorkehrungen zu treffen sind, um der Schutzpflicht zu genügen. Bei der Entscheidung, wie die Schutzpflicht erfüllt werden soll, kommt mithin den zuständigen staatlichen Organen grundsätzlich eine weite Gestaltungsfreiheit zu, die auch Raum für die Berücksichtigung etwa konkurrierender öffentlicher oder privater Belange läßt60. Im äußersten Falle kann die Entscheidung sich allerdings auf ein bestimmtes Mittel reduzieren, wenn der von der Verfassung gebotene Schutz auf andere Weise nicht zu erreichen ist61.

52

Dieser objektiv-rechtlichen Schutzpflicht des Staates entspricht nach einer neueren Entscheidung ein klagbarer Individualanspruch der von der Beeinträchtigung Betroffenen: Verletzt der Staat seine Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, so liegt darin zugleich eine Verletzung des grundrechtlichen Anspruchs, der indessen im Blick auf die Gestaltungsfreiheit der öffentlichen Gewalt nur darauf gerichtet ist, daß diese „Vorkehrungen zum Schutz der Grundrechte trifft, die nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind"62. Auch im Rahmen dieser weitgespannten Formel wird sich indessen aus den konkreten Umständen eine Reduzierung der Gestaltungsfreiheit der zuständigen Organe ergeben können, so daß sich in dem Maße, in dem dies der Fall ist, auch ein über das bloße „Ob" hinausgehender Anspruch hinsichtlich des „Wie" der Erfüllung der Schutzpflicht ergeben kann.

VI. Berechtigte und Verpflichtete 1. Berechtigte 53 Soweit die Grundrechte des Grundgesetzes individuelle Rechte gewährleisten, sind sie entweder Menschenrechte, deren Geltung nicht auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt ist, oder Bürgerrechte, die nur Deutschen im Sinne des Grundgesetzes zukommen (vgl. Art. 116 Abs. 1 GG). Dies ergibt sich eindeutig aus der Textfassung der einzelnen Grundrechte. Nennenswerte praktische Bedeutung kommt der Differenzierung allerdings nicht zu: Auch Ausländern ist das durch spezielle Freiheitsrechte nur „Deutschen" gewährleistete Verhalten (etwa sich zu versammeln oder einen Verein zu gründen) nicht versagt. Es ist zudem nach Maßgabe des allgemeinen Freiheitsrechtes des Art. 2 Abs. 1 GG, das nach der Rechtsprechung die allgemeine Handlungsfreiheit umfaßt, verfassungsrechtlich geschützt. Davon abgesehen ist der

60 61 62

BVerfGE 39, 1 (44); 46, 160 (164 f); 77, 170 (214 f); 79, 174 (201 f). Vgl. BVerfGE 39, 1 (46 f). BVerfGE 77, 170 (214f); vgl. auch BVerfGE 79, 174 (201 f).

§5

Bedeutung der Grundrechte (HESSE)

151

Inhalt von Grundrechten, die nach dem Grundgesetz nur für Deutsche gelten, in aller Regel durch internationale oder europäische Grundrechte allen Menschen gewährleistet (ζ. B. durch Art. 11 Abs. 1 E M R K — Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit). Die Innehabung von Grundrechten setzt mit Ausnahme des aktiven und pas- 5 4 siven Wahlrechts (Art. 38 Abs. 2 G G ) keine Volljährigkeit („Grundrechtsmündigkeit") voraus — was die Notwendigkeit gesetzlicher Vertretung bei der Geltendmachung von Grundrechten Minderjähriger nicht ausschließt. Diese können jedoch im Interesse des Jugendschutzes einzelnen Beschränkungen unterworfen werden (Art. 5 Abs. 2, 11 Abs. 2, 13 Abs. 3 GG). Diesen Kreis der Berechtigten dehnt Art. 19 Abs. 3 G G auch auf inländische 5 5 juristische Personen aus, soweit Grundrechte ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Das ist bei juristischen Personen des Privatrechts weitgehend angenommen worden; die Rechtsprechung hat darüber hinaus auch (zivilrechtlich) nicht rechtsfähige Personengruppen nach der Bedeutung des jeweiligen Grundrechts für diese Personengruppen als grundrechtsfähig angesehen, beispielsweise (nicht als eingetragene Vereine organisierte) politische Parteien 63 oder offene Handelsgesellschaften 64 . Die wichtigste Folge ist die Befugnis dieser Gruppen, eine Verfassungsbeschwerde zu erheben. Dagegen können sich juristische Personen des öffentlichen Rechts, namentlich der Staat oder seine Einrichtungen grundsätzlich nicht auf Grundrechte berufen, jedenfalls, soweit sie öffentliche Aufgaben erfüllen; anderes gilt nur für die Verfahrensgrundrechte der Gewährleistung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 G G ) und des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn jene Erfüllung vollzieht sich nicht in Wahrnehmung ursprünglicher Freiheiten, sondern aufgrund von Kompetenzen, welche vom positiven Recht begründet, inhaltlich bemessen und begrenzt sind. Deren Regelung und Schutz sowie die Entscheidung daraus sich ergebender Konflikte sind nicht Gegenstand der Grundrechte, weil der unmittelbare Bezug zum Menschen fehlt. Ausnahmen gelten, wenn eine juristische Person des öffentlichen Rechts unmittelbar einem grundrechtlich geschützten Lebensbereich zugeordnet ist und als eigenständige, vom Staat unabhängige oder jedenfalls distanzierte Einrichtung Bestand hat, wie das bei Kirchen, Universitäten und Rundfunkanstalten der Fall ist 65 .

63 64 65

BVerfGE 7, 99 (103); 14, 121 (129 f); 27, 152 (158). BVerfGE 4, 7 (12); 10, 89 (99). Vgl. dazu BVerfGE 21, 362 (367 ff). Eine ausführliche Übersicht über die Rechtsprechung enthält BVerfGE 61, 82 (100 ff). Sie ist fortgeführt und ergänzt in B V e r f G E 68, 193 (205 ff); 70, 1 (15 f); 75, 192 (195 ff); 78, 101 (102 f). Aus der Literatur: A. VON MUTIUS in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Zweitbearbeitung) Art. 19 Abs. III G G Rdn. 78 ff; H. BETHGE Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen. — Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 104 (1979)

Rdn.

29

ff.

S. 5 4 ff, 2 6 8 ff; W. RÜFNER G r u n d r e c h t s t r ä g e r ,

in:

HdBStR

B d . 5,

1992,

§116

152

2. Kapitel. Grundrechte

2. Verpflichtete; das Problem der „Drittwirkung" von Grundrechten 56 Adressat der Grundrechte und durch sie verpflichtet ist der Staat, der an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden ist (Art. 1 Abs. 3 GG). Dies gilt nicht nur, wenn der Staat als Staatsgewalt des Bundes oder eines Landes in Erscheinung tritt, sondern auch wenn er sich zur Erfüllung seiner Aufgaben eines selbständigen Rechtsträgers bedient, von den Gebietskörperschaften, insbesondere den Gemeinden, über die sonstigen Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts bis hin zu privaten Personen oder Organisationseinheiten, welche der Staat zur Wahrnehmung seiner Aufgaben in Dienst genommen hat. Auf die Rechtsform des Tätigwerdens kommt es dabei nicht an. Auch wenn der in diesem weiten Sinn verstandene Staat sich zur unmittelbaren oder mittelbaren Erfüllung seiner Aufgaben der Rechtsformen des Privatrechts bedient, bleibt er an die Grundrechte gebunden. 57

Noch keine gesicherte Antwort gefunden hat die Frage, ob Grundrechte auch andere Adressaten: Inhaber wirtschaftlicher oder sozialer Macht, möglicherweise sogar Private schlechthin verpflichten. Bedeutung erhält diese Problemstellung im Blick auf den Tatbestand, daß menschliche Freiheit nicht nur durch den Staat, sondern auch im Rahmen privater Rechtsbeziehungen beeinträchtigt oder gefährdet werden kann, und daß sie sich wirksam nur als einheitliche gewährleisten läßt (vgl. Rdn. 26 f). Demgemäß wird seit langem erörtert, ob und inwieweit den Grundrechten eine „Drittivirkung" zukommt 66 .

58

In seinem Text hat das Grundgesetz nur der Koalitionsfreiheit unmittelbare Wirkung gegen Dritte beigelegt (Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG). Im übrigen fehlen ausdrückliche verfassungsrechtliche Regelungen; die Frage muß mithin im Blick auf die Aufgabe und die Funktion der Grundrechte in der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes beantwortet werden. Als individuelle Abwehr-, Mitwirkungsund (derivative) Teilhaberechte (vgl. Rdn. 15, 29) richten sich die Grundrechte ebenso wie in ihrer objektivrechtlichen Bedeutung als negative Kompetenzvorschriften und Grundlagen von Schutzpflichten allein gegen den Staat. Als leitende Prinzipien der Gesamtrechtsordnung (vgl. Rdn. 21) können die Grundrechte zwar für die Gestaltung privater Rechtsverhältnisse maßgeblich sein, aber keine subjektiven Rechte von Beteiligten an jenen Rechtsverhältnissen auf ein grundrechtsgemäßes Verhalten des anderen Teils begründen.

59

Deshalb ist, wie heute ganz überwiegend anerkannt ist, eine unmittelbare Wirkung der Grundrechte gegen Dritte (mit der Ausnahme des Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG) zu verneinen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geht dem66

Grundlegend dazu: G . DÜRIG Grundrechte und Zivilrechtsprechung, in: Festschrift f ü r H. Nawiasky, 1 9 5 6 , S. 1 5 7 f f ; DÜRIG in: Th. Maunz/G. D ü r i g , Grundgesetz-Kommentar, A r t . 1 Abs. 3 Rdn. 1 2 7 f f , A r t . 2 Abs. 1 Rdn. 56 f f ; und W. LEISNER Grundrechte und Privatrecht, 1 9 6 0 , bes. S. 3 0 6 ff. A u s neuerer Zeit: W. RÜFNER D r i t t w i r k u n g der Grundrechte, in: Gedächtnisschrift f ü r W o l f g a n g Martens, 1 9 8 7 , S. 2 1 5 f f ; DERS. Grundrechtsadressaten, in: H d B S t R Bd. 5, 1 9 9 2 , § 1 1 7 Rdn. 5 4 f f . C . W . CANARIS Grundrechte und Privatrecht, in: A c P 1 9 8 4 , S. 2 0 1 ff.

§5

Bedeutung der Grundrechte (HESSE)

153

gegenüber einen anderen Weg. Sie beschränkt sich auf eine mittelbare „Drittwirkung", indem sie davon ausgeht, daß der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Gebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften, insbesondere in Generalklauseln und unbestimmten Begriffen, entfalte. Die mittelbare „Drittwirkung" der Grundrechte besteht in ihrem Einfluß auf die anzuwendenden Vorschriften des bürgerlichen Rechts, der bei deren Auslegung zu berücksichtigen ist (vgl. Rdn. 22). Verfehlt ein Gericht diese Maßstäbe, so verletzt es als Träger öffentlicher Gewalt die außer acht gelassenen Grundrechtsnormen, auf deren Beachtung der Bürger einen verfassungsrechtlichen Anspruch hat67. Nach dieser Lösung ist Verpflichteter der Grundrechte auch hier der Staat. 60 Gleichwohl birgt sie die Grundbedenken gegen jede „Drittwirkung". Denn die mit ihr verbundene Überlagerung des Privatrechts durch Verfassungsrecht kann zu einer empfindlichen Einschränkung der Privatautonomie, mithin zu einer nicht unerheblichen Einschränkung selbstverantwortlicher Freiheit führen und insoweit Eigenart und Bedeutung des Privatrechts prinzipiell verändern. Hinzu kommt, daß im Verhältnis Privater untereinander alle Beteiligten am Schutz der Grundrechte teilhaben, während den öffentlichen Gewalten in ihrem Verhältnis zum Bürger ein solcher Schutz nicht zukommt und ein Grundrechtskonflikt nicht entstehen kann. Der Richter steht daher oft vor der schwierigen Aufgabe, im Einzelfall die Art und das Ausmaß des Einflusses mehrerer Grundrechte in einem Ausgleich oder einer Abwägung anhand der weiten und unbestimmten Maßstäbe der Grundrechte selbst zu finden. Das droht in Widerspruch zu der Aufgabe eines rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Privatrechts zu geraten, welches die Gestaltung von Rechtsbeziehungen und richterliche Problemlösung grundsätzlich mit Hilfe klarer, detaillierter und bestimmter Regelungen ermöglichen soll68. Der Vorteil umfassender Grundrechtsgeltung und -Verwirklichung wird erkauft um den Preis einer gewissen Rechtsunsicherheit und eines Verlustes an Eigenständigkeit des Privatrechts. Infolgedessen kommt es darauf an, daß die Verpflichtung des Staates, Grund- 61 rechte auch gegen nicht-staatliche Beeinträchtigungen zu schützen, primär als eine Aufgabe des Gesetzgebers begriffen wird. Dieser hat in erster Linie Regelungen zu treffen, welche der Verhinderung wirtschaftlichen oder sozialen Machtmißbrauchs dienen; er hat im Bereich des Privatrechts den Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Prinzipien der Gesamtrechtsordnung zu konkretisieren sowie grundrechtlich geschützte Positionen gegeneinander abzugrenzen. Nur dort, wo der Gesetzgeber dieser Aufgabe nicht nachgekommen ist oder nachkommen kann, bleibt dann Raum für eine mittelbare „Drittwirkung" im Rahmen gerichtlicher Entscheidungen. 67

68

BVerfGE 7, 198 (204 ff). — Welcher Herkunft und welchen genauen Inhalts dieser Anspruch des betroffenen Bürgers auf eine Nachprüfung des objektiven Einflusses eines Grundrechts im Wege der Verfassungsbeschwerde ist, bleibt ungeklärt (so mit Recht HERMES Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit (Fn. 54) S. 1 1 0 f). — Zur Bedeutung der Grundrechte für die Auslegung von rechtsgeschäftlichen Erklärungen und Vereinbarungen auf dem Gebiet des Privatrechts vgl. B V e r f G E 73, 161 (168 f, 270 ff). Dazu und zum folgenden näher: K . HESSE Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 23 ff.

154

2. Kapitel. Grundrechte

VII. Ausgestaltung und Begrenzung von Grundrechten 1. Ausgestaltung 62 Das Grundgesetz gewährleistet Grundrechte jeweils nur in wenigen knappen Sätzen. Diese können praktische Wirksamkeit vielfach erst im Zusammenhang mit näheren rechtlichen Ordnungen der Lebensverhältnisse und Lebensbereiche entfalten, für die sie gelten sollen: Sie bedürfen einer Ausgestaltung, die in erster Linie Aufgabe der Gesetzgebung ist; diese ist hierbei an die durch die Grundrechte vorgegebenen Rahmen und Richtlinien gebunden. 63

In mehreren Fällen gibt die Verfassung selbst einen Auftrag zur Ausgestaltung, indem sie den Gesetzgeber verpflichtet, „das Nähere" zu regeln (z. B. Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG für das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung). Auch unabhängig von einem solchen Auftrag kann rechtliche Ausgestaltung sich als notwendig erweisen, besonders deutlich, wo Grundrechte den Bestand eines Rechtsinstituts gewährleisten, wie das für den Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und die Garantie des Eigentums und des Erbrechts (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) gilt, deren Inhalt „durch die Gesetze bestimmt" wird (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Ausgestaltend tätig wird der Gesetzgeber bei der Aufgabe, den Rechtsgehalt der Grundrechte im Privatrecht zu konkretisieren (vgl. Rdn. 61). Ebenso erfordern beispielsweise die Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG), die Freiheit der Presse, des Rundfunks oder der Wissenschaft (Art. 5 Abs. 1 und 3 GG), die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 und 3 GG) rechtliche Regelungen, in denen die gewährleistete Gleichheit oder Freiheit sowohl in materiellen als auch in Regelungen des Organisations- und Verfahrensrechts (vgl. Rdn. 43) konkrete Gestalt gewinnt. 2. Begrenzung

64 Von solcher Ausgestaltung zu unterscheiden ist die Begrenzung von Grundrechten, die namentlich für die Freiheitsrechte eine wesentliche Rolle spielt. Unbeschränkte Freiheit oder unbeschränkter Gebrauch des Eigentums können dazu führen, daß andere Belange beeinträchtigt werden, seien es die Rechte Dritter, seien es wesentliche Belange der Allgemeinheit. Es bedarf daher einer Zuordnung von grundrechtlichen Gewährleistungen und anderen Rechtsgütern, durch welche ein Ordnungszusammenhang hergestellt wird, in dem sowohl die grundrechtlichen Gewährleistungen als auch jene anderen Rechtsgüter Wirklichkeit gewinnen. Zur Erfüllung dieser Aufgabe sieht die Verfassung Begrenzungen von Grundrechten vor. Erst unter Berücksichtigung der danach zulässigen Grenzen ergibt sich im konkreten Fall die Tragweite eines Grundrechts. 65

Nach dem Grundgesetz können sich Begrenzungen zunächst aus der Verfassung selbst ergeben. Dies kann in der gewährleistenden Norm selbst, „immanent" geschehen (z. B. in der Beschränkung des Grundrechtsschutzes durch die Versammlungsfreiheit auf „friedliche Versammlungen" (Art. 8 Abs. 1 GG), oder in anderen Ver-

§5

Bedeutung der Grundrechte

(HESSE)

155

fassungsnormen, sei es ausdrücklich (z. B. Art. 9 Abs. 2 GG, nach dem Vereinigungen verboten sind, deren Ziele oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten), sei es der Sache nach, nämlich dann, wenn einem Grundrecht durch andere Grundrechte oder sonstige Normen der Verfassung Grenzen gezogen sind (ζ. B. der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG)). Freilich kann die Verfassung nicht im voraus alle Grenzen der Grundrechte 66 selbst festlegen. Sie überläßt diese Aufgabe daher vielfach nach Maßgabe der notwendigen Differenzierungsmöglichkeiten dem Gesetzgeber, indem sie der grundrechtlichen Gewährleistung einen Geset^esvorbehalt anfügt, durch den der Gesetzgeber ermächtigt wird, Grundrechte selbst („durch Gesetz") zu begrenzen oder der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt durch Umschreibung tatbestandlicher Voraussetzungen eine Begrenzung zu ermöglichen (z. B. — hier in der Reichweite der Ermächtigung näher bestimmt — Art. 11 Abs. 2 GG für die Freizügigkeit oder — ohne eine solche Qualifizierung — Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG für die Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person). Auch die Regelungsvorbehalte in Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG ermächtigen zur Beschränkung der gewährleisteten Grundrechte; sie enthalten aber in erster Linie eine Ausgestaltungsermächtigung. Da Gesetzes- und Regelungsvorbehalte nur den Gesetzgeber zur Beschränkung von Grundrechten ermächtigen, ist eine selbständige Begrenzung von Grundrechten durch die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt unzulässig. Der Gesetzgeber muß die Voraussetzungen der Begrenzung so genau bestimmen, daß die Befugnis zur Begrenzung nicht ganz in das Verwaltungs- oder in das richterliche Ermessen gestellt wird 69 . Die damit sich ergebenden Befugnisse zu einer Beschränkung der Grundrechte 67 sind freilich ihrerseits nicht unbegrenzt. Das folgt aus der dargelegten Aufgabe (vgl. Rdn. 64) und wird durch die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG bestätigt. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat daher (ohne ausdrücklich auf diese Garantie zurückzugreifen) die Möglichkeit einer Beschränkung von Grundrechten entscheidend eingeengt: Auch wenn Grundrechte unter dem Vorbehalt einer gesetzlichen Beschränkung bestehen, sind diese nicht der freien Disposition des Gesetzgebers anheimgegeben. Einschränkungen sind nur insoweit zulässig, als sie im Interesse des Gemeinwohls vorgenommen werden, mit sachgerechten und vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls begründet werden können und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (im weiteren Sinne) entsprechen. Die Begrenzung muß danach geeignet sein, den angestrebten (öffentlichen) Zweck zu erreichen. Das Mittel muß weiterhin erforderlich sein, was dann der Fall ist, wenn nicht ein gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder doch weniger fühlbar einschränkendes Mittel hätte gewählt werden können. Schließlich muß bei einer Gesamtabwägung 69

Vgl. dazu etwa BVerfGE 20, 150 (157 ff); 52, 1 (41); 62, 169 (182f).

2. Kapitel. Grundrechte

156

zwischen der Schwere des Eingriffs und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt sein70. 68 Ob die in einem Gesetz angeordneten Maßnahmen geeignet und erforderlich sind, den angestrebten Zweck zu erreichen, läßt sich im Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes oft nicht mit Gewißheit vorhersehen. Es bedarf hierzu einer Prognose, deren Unsicherheit um so größer wird, je weiterreichend und komplexer die Zusammenhänge sind, auf die sie sich bezieht. Bei der Kontrolle einer solchen Prognose billigt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu, deren Umfang sich nach der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter bemißt; das Gericht legt also differenzierte Maßstäbe zugrunde, die von einer Evidenz- über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Nachprüfung reichen71. Auf diese Weise ergibt sich in der Regel ein Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers, welcher der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nicht unterliegt; es wird so vermieden, daß das Gericht politischer Zielsetzung und Gestaltung nicht mehr den ihnen zukommenden Raum läßt. 69 Über die dargelegten, für jedermann geltenden Möglichkeiten einer Begrenzung von Grundrechten hinaus können Grundrechte für Personen eingeschränkt werden, die sich in einem Sonderstatusverhältnis befinden, beispielsweise Beamte, Soldaten oder Schüler72. Sonderstatusverhältnisse und die Ordnungen, in denen sie rechtliche Gestalt gewinnen, könnten ihre Aufgaben im Leben des Gemeinwesens oft nicht erfüllen, wenn der allgemeine Grundrechtsstandard auch in diesen Verhältnissen erhalten bliebe. Allerdings gilt für die Grundlagen und die Formen solcher Beschränkungen das Gleiche wie im allgemeinen Staat-Bürger-Verhältnis: Auch insoweit müssen Grundrechtsbeschränkungen sich auf das Grundgesetz selbst oder ein kraft Gesetzesvorbehalts erlassenes Gesetz zurückführen lassen und gesetzlich normiert sein. Doch darf der Gesetzgeber die besonderen Notwendigkeiten und die Eigengesetzlichkeit der jeweiligen Sonderstatusverhältnisse berücksichtigen und um deren Funktion willen auch besondere Grundrechtsbegrenzungen normieren, etwa die Meinungsäußerungsfreiheit der Beamten durch die Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit beschränken (vgl. auch Art. 17 a Abs. 1 GG). Auch hierbei haben die Grundrechte freilich nicht einfach jenen Notwendigkeiten zu weichen; sondern ihre Berücksichtigung ist stets im Rahmen des Möglichen geboten, mag dies auch für den Dienst- oder Anstaltsbetrieb Erschwerungen oder Lasten mit sich bringen.

VIII. Schutz der Grundrechte 70 In dem Bestreben, die rechtliche und tatsächliche Geltung der Grundrechte umfassend und wirksam zu sichern, geht das Grundgesetz weit über das überkommene Verfas70 71 72

St.Rspr., vgl. etwa BVerfGE 30, 292 (316). BVerfGE 50, 290 (332 f). Vgl. dazu W . LOSCHELDER Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlichrechtlichen Sonderbindung, 1982, bes. S. 371 ff; DERS. Grundrechte im Sonderstatus, in: HdBStR Bd. 5, 1992, § 123.

§5

Bedeutung der Grundrechte

(HESSE)

157

sungsrecht hinaus. Es sucht damit Entwicklungen vorzubeugen, wie sie im Scheitern der Weimarer Republik und den Jahren des nationalsozialistischen Regimes zutage getreten sind. 1. Sicherungen gegen Aufhebung, Durchbrechung und innere Aushöhlung Einer Aufhebung von Grundrechten im Wege der Verfassungsänderung steht Art. 79 71 Abs. 3 GG entgegen, nach dem Änderungen des Grundgesetzes unzulässig sind, welche die in Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berühren. Diese Grundsätze: die Würde des Menschen (Art. 1) und die Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaates (Art. 20) würden durch eine Aufhebung „berührt", weil nahezu alle Grundrechte essentielle Bestandteile dieser Prinzipien sind (vgl. Rdn. 20), so daß ihre Beseitigung jene Prinzipien selbst und die Ordnung aufheben würden, die auf ihnen beruht. Änderungen des Textes von Grundrechten, bei denen der Inhalt und die Wirkungen des Grundrechts erhalten bleiben, sind dagegen nicht ausgeschlossen. Auf eine zumindest teilweise Aufhebung würde es auch hinauslaufen, wenn 72 eine Durchbrechung von Grundrechten zulässig wäre, wie dies zur Zeit der Weimarer Verfassung anerkannt war. Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt (Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG). Damit schließt es Grundrechtsdurchbrechungen aus: Gesetze dürfen von einem Grundrecht auch dann nicht abweichen, wenn sie mit den für Verfassungsänderungen erforderlichen Mehrheiten beschlossen werden. Anders als nach Art. 48 Abs. 2 WRV ist nach dem Grundgesetz auch eine zeitweilige Außerkraftsetzung von Grundrechten im Falle eines äußeren oder inneren Staatsnotstands unzulässig. Zur Sicherung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sieht das Grundgesetz nur die Möglichkeit der Verwirkung bestimmter Grundrechte vor (Art. 18 GG). Dies kann lediglich gegenüber Einzelpersonen und nur durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden. Die genannten Bestimmungen würden nicht ausreichen, einer schleichenden 73 Entwertung und inneren Aushöhlung von Grundrechten zu begegnen, die sich aus einer mißbräuchlichen Inanspruchnahme von Grundrechten ergeben müßten. Um einer solchen entgegenzuwirken, schließt Art. 19 Abs. 1 GG grundrechtseinschränkende Individualgesetze aus; grundrechtsbegrenzende Gesetze müssen ferner das eingeschränkte Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen. Schließlich darf in keinem Falle ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden (Art. 19 Abs. 2 GG). Die praktische Bedeutung dieser Sicherungen ist begrenzt. Ausschlaggebend für die Sicherung gegen eine Entwertung der Grundrechte durch übermäßige Begrenzungen ist das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtsbeschränkungen (vgl. Rdn. 67). Wird diesem Erfordernis Genüge getan, so ist damit ein Eingriff in den Wesensgehalt eines Grundrechts ausgeschlossen. Die Bedeutung des Art. 19 Abs. 2 GG beschränkt sich mithin darauf, das Gebot der Verhältnismäßigkeit deklaratorisch zu positivieren.

2. Kapitel. Grundrechte

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2. Der Schutz durch die rechtsprechende Gewalt 74 Entscheidend für die umfassende Sicherung und Durchsetzung der Grundrechte ist heute ihr Schutz durch die Gerichte. In der Zeit der Reichsverfassung von 1919 bestanden nur eingeschränkte Möglichkeiten einer gerichtlichen Durchsetzung von Grundrechten mit der Folge, daß die praktische Bedeutung der Grundrechte gering blieb. Nach dem Grundgesetz ist diese Durchsetzung eine lückenlose; sie hat dazu geführt, daß die Grundrechte nicht nur das staatliche, sondern das gesamte Rechtsleben — gelegentlich bis ins einzelne — prägen. 75

Verfassungsrechtlich garantiert ist der gerichtliche Rechtsschutz der Grundrechte durch die Bestimmung des Art. 19 Abs. 4 GG. Danach steht dem Bürger bei einer Verletzung seiner Rechte durch die öffentliche — in diesem Zusammenhang die vollziehende — Gewalt der Rechtsweg offen; ihm ist der Zugang zu einem Gericht — allerdings kein Instanzenzug — stets gewährleistet. Unabhängig hiervon obliegt den Gerichten in allen Verfahren auch die Beachtung und der Schutz der Grundrechte. Rechtsmittelgerichte haben Grundrechtsverstöße der Vorinstanz zu beheben. Grundrechtswidrige Gesetze, auf die es für die Entscheidung ankommt, dürfen die Gerichte nicht anwenden; sie haben grundsätzlich das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen (vgl. auch unten § 33).

76

In letzter Verantwortung ist der gerichtliche Schutz der Grundrechte Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, dem hierbei weitreichende Kompetenzen zukommen. Von Bedeutung ist vor allem das Verfahren der Verfassungsbeschwerde. Diese kann jedermann mit der Behauptung erheben, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101 und 103 enthaltenen Rechte verletzt zu sein (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG). Nähere Vorschriften enthalten die §§ 90 ff BVerfGG.

77

Anders als nach Art. 19 Abs. 4 GG kann die Verfassungsbeschwerde sich auch gegen Akte der gesetzgebenden und der rechtsprechenden Gewalt richten, unmittelbar gegen ein Gesetz allerdings nur unter der Voraussetzung eigener, gegenwärtiger und unmittelbarer Betroffenheit des Beschwerdeführers 73 . Die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen Akte der vollziehenden Gewalt und gerichtliche Entscheidungen setzt grundsätzlich die Erschöpfung des Rechtswegs voraus (§ 90 Abs. 2 BVerfGG). Gegen gerichtliche Entscheidungen eröffnet die Verfassungsbeschwerde keinen weiteren Instanzenzug. Die Feststellung des Tatbestands, die Auslegung und Anwendung der maßgeblichen unterverfassungsrechtlichen Rechtsvorschriften — des „einfachen Rechts" — obliegen grundsätzlich den zuständigen Fachgerichten. Das Bundesverfassungsgericht ist darauf beschränkt zu prüfen, ob die angegriffene Entscheidung Verfassungsrecht verletzt 74 . Ist das nicht der Fall, so kann es die Entscheidung auch dann nicht beanstanden, wenn sie — einfachrechtlich — fehlerhaft ist. 73 74

BVerfGE 1, 97 (101 f) st.Rspr. BVerfGe 18, 85 (92) st.Rspr.

§5

Bedeutung der Grundrechte (HESSE)

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Alle Verfassungsbeschwerden bedürfen der Annahme zur Entscheidung (§ 93 a 78 BVerfGG). Diese kann in dem Regelfall des § 93 b Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG durch einstimmigen Beschluß einer aus drei Richtern bestehenden Kammer abgelehnt werden, wenn die Beschwerde unzulässig ist oder aus anderen Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (vgl. dazu unten § 34).

IX. Zur Würdigung der Entwicklung Insgesamt wird damit das Ausmaß deutlich, in dem die Grundrechte nicht nur das 79 staatliche, sondern das gesamte Rechtsleben in der Bundesrepublik bestimmen und oft bis ins einzelne prägen: Zu keiner Zeit der deutschen Geschichte haben die Bürger des deutschen Staatswesens mehr individuelle Freiheit und Rechtsschutz gehabt als heute. Es mag fraglich sein, ob die Menschen in der Bundesrepublik deshalb in ihrer Gesamtheit glücklicher sind als ihre Eltern und Großeltern — manches spricht dafür, daß Teile der heutigen Generation mit ihrer Freiheit nichts Rechtes anzufangen wissen, weil ihnen in der alten Bundesrepublik die Freiheit selbstverständlich geworden ist oder weil sie sich in den neuen Bundesländern nach über vierzig Jahren des Lebens unter einem sozialistischen System nicht von heute auf morgen in die Rolle des selbständigen und selbstverantwortlichen Bürgers einer freiheitlichen Demokratie mit freiheitlicher Wirtschaftsordnung zu finden vermögen. Das kann kein Grund sein, die neuere Grundrechtsentwicklung als eine Fehlentwicklung zu betrachten. Das Gleiche gilt für die Kritik, der jene Entwicklung begegnet ist. Sie läßt sich 80 dahin zusammenfassen, daß die heutige Grundrechtsentwicklung die überkommenen und bewährten Bahnen verlassen habe und deshalb zu einer Schwächung, wenn nicht zur Auflösung des Staates führen müsse75. Auch in der Tagesdiskussion begegnet häufig der Einwand eines Zuviel an Freiheit, das die Schwächung des Staates zur Folge habe und dazu führe, daß dieser seinen Aufgaben nicht mehr gerecht werden könne. Aber Grundrechte und ein starker Staat schließen einander nicht aus, sie sind im Gegenteil voneinander abhängig. Denn die Verwirklichung und die Sicherung der Grundrechte sind, wie gezeigt, unter den Bedingungen der Gegenwart auf den Staat angewiesen: Sie fordern einen starken funktions- und leistungsfähigen Staat, der zur Erfüllung seiner Aufgaben imstande ist. Diese Stärke ist indessen weniger eine Frage eines möglichst wirksamen staatlichen Machtapparats als vielmehr der freien Zustimmung einer möglichst großen Zahl von Bürgern, auf deren Gewinnung und Erhaltung es stets von neuem ankommt. Sie sind eine Frage der Integrationfähigkeit der staatlichen Ordnung. Wenn die Grundrechte, wie es nach dem Grundgesetz der Fall ist, die legitimierende Grundlage dieser Ordnung sind, wenn sie freie 75

Dies ist vor allem das Bedenken ERNST FORSTHOFFS gewesen: Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung, in: Der Staat 2 (1963) S. 392 ff.

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2. Kapitel. Grundrechte

Zustimmung anstreben und ermöglichen, dann sind sie ein entscheidender Faktor für den Bestand des Staates und seiner Ordnung, und eine Stärkung der Grundrechte kann letztlich nur dem Staat zugute kommen. 81 Hier liegen also die Bedenken nicht. Gleichwohl wird nicht gesagt werden können, daß die heutige Entwicklung frei von Gefahren sei. Wie dargelegt, ist diese Entwicklung weit über die frühere hinausgegangen: Die Grundrechte binden auch den Gesetzgeber; sie enthalten umfassende Prinzipien für die gesamte Rechtsordnung und die Anwendung des Rechts; ihre Beachtung unterliegt in letzter Verantwortung der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts. Je mehr unter diesen Gegebenheiten der Anwendungsbereich der Grundrechte ausgedehnt wird, desto mehr muß sich der Bereich verbindlicher verfassungsrechtlicher Festlegung erweitern, in dem die Organe der politischen Leitung nicht mehr frei entscheiden können, sondern nur noch — unter der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts — Verfassungsrecht anzuwenden haben. Dies würde nicht nur einen freien und offenen politischen Prozeß, wie ihn die Demokratie voraussetzt, erheblich einschränken, wenn nicht aufheben; eine solche Entwicklung würde auch in einer Zeit grundlegender Wandlungen wie der unsrigen, in der neue Lösungen der Probleme zur Voraussetzung des Überlebens geworden sind, die Bewegung und das Fortschreiten unmöglich machen, auf die es entscheidend ankommt. Damit wäre den Menschen, die unter der Ordnung des Grundgesetzes leben, dem Staat und der normierenden Kraft der Verfassung ein schlechter Dienst erwiesen, vollends, wenn der Zwang der Verhältnisse schließlich dazu nötigen sollte, die zuvor ausgedehnten Grundrechte wieder zu verkürzen, zu relativieren oder sich über sie hinwegzusetzen. 82 Grundrechte sind geschichtlich und ihrer heutigen Bedeutung nach in erster Linie Menschenrechte: Es geht in ihnen um Grundbedingungen individuellen und gemeinschaftlichen Lebens in Freiheit und menschlicher Würde, eine Aufgabe, die unter den Voraussetzungen der Gegenwart nichts von ihrer aktuellen Bedeutung eingebüßt hat. Sollen die Grundrechte diese Grundbedingungen wirksam sichern, so dürfen sie geschichtlichen Wandel nicht unterbinden; zugleich müssen sie indessen ohne Wenn und Aber in ihrer eigentlichen Substanz festgehalten und geschützt werden. Dies setzt voraus, daß sie nicht inflationär ausgedehnt und in allzu kleine Münze umgesetzt werden. So wesentlich und folgenreich daher die dargelegte Herausarbeitung der objektiven Bedeutungsschicht der Grundrechte ist: Die Funktion dieses Verständnisses liegt in der Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte als Menschenrechte76; deren Bedeutung als objektive Prinzipien darf nicht von jenem Kern gelöst werden. Sonst geriete sie in die Gefahr, einer Interpretation den Weg zu bereiten, welche den ursprünglichen und bleibenden Sinn der Grundrechte aus dem Auge verliert und die zentrale Aufgabe verfehlt.

76

Vgl. BVerfGE 50, 290 (337 f).

§ 6 Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht ERNST BENDA

Übersicht Rdn. I. Der absolute Eigenwert des Menschen 1. Die vorgegebenen Rechte des Menschen 2. Das Menschenbild des Grundgesetzes 3. Begriff und Inhalt der Menschenwürde II. Schutz der Menschenwürde heute 1. Strafrecht und Strafverfahren

1 — 18 1—4 5—13 14—18 19-43 20 — 22

Rdn. 2. Privatund Intimbereich, elektronische Datenverarbeitung 3. Die genetische Manipulation des Menschen III. Ausblicke 1. Technisierung der Staatstätigkeit 2. Die Verplanung des Menschen 3. Selbstbestimmung und ihre Grenzen

23-38 39—43 44-57 44-48 49 — 52 53 — 57

I. Der absolute Eigenwert des Menschen 1. Die vorgegebenen Rechte des Menschen Das in Art. 1 Abs. 2 GG enthaltene Bekenntnis zu „unverletzlichen und unveräu- 1 ßerlichen" Menschenrechten knüpft schon dem Wortlaut nach deutlich an die Universal Declaration of Human Rights an, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. 12. 1948 beschlossen wurde. Der Vorspruch der Menschenrechtsdeklaration erinnert zugleich an die Mißachtung der Menschenrechte in der unmittelbar zurückliegenden Vergangenheit. So lag es nahe, den Wunsch der Deutschen, wieder in die Gemeinschaft der Völker aufgenommen zu werden, durch das in Art. 1 Abs. 2 GG enthaltene Bekenntnis ethisch zu rechtfertigen 1 . Zugleich erinnert das Grundgesetz an die Erklärung der „natürlichen, unveräußerlichen und geheiligten Menschenrechte" der französischen Deklaration vom 26. August 1789, in gleicher Weise aber auch an die christliche Naturrechtstradition. 1

Vgl. Protokoll des Ausschusses für Grundsatzfragen des Pari. Rats, 22. Sitzung vom 18. 11. 48, S. 2.

162

2. Kapitel. Grundrechte

2

Gegen die optimistische Vermutung, abendländisches Grundrechtsverständnis habe von Ewigkeit her bestanden, lassen sich kritische Einwände erheben. Die Menschenwürdegarantie ist entwicklungsgeschichtlich eng mit dem Christentum verbunden. Sie findet ihre Grundlage in dem Umstand, daß der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen ist. Das antike Bild des Menschen als vernunftbegabtes und durch freien Willen gekennzeichnetes Wesen hat zur christlich-antiken Freiheitsidee des Menschen wesentlich beigetragen2, wenngleich Grundrechte im heutigen Verständnis der Antike unbekannt waren3. Die deutsche wie die abendländische Geschichte kann im Hinblick auf die universelle Achtung der Menschenrechte ebensowenig hoffnungsvoll stimmen wie eine Würdigung der heute in weiten Teilen der Welt herrschenden Verhältnisse. 3 Art. 1 Abs. 2 GG ist keine Verklärung der Wirklichkeit. Der Hinweis auf die vorgegebenen Rechte aller Menschen führt auf die zentrale verfassungsrechtliche Aussage des Art. 1 Abs. 1 GG zurück, nämlich die Forderung, die Achtung menschlicher Würde zum obersten Prinzip jeder staatlichen Tätigkeit zu machen. Die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte sind nicht erst durch das Grundgesetz geschaffen worden, sondern werden auch von diesem als Bestandteil einer vorgegebenen, überpositiven Rechtsordnung angesehen4. Damit werden letzte Grenzen anerkannt, die auch der Verfassungsgeber nicht überschreiten darf 5 . Art. 79 Abs. 3 GG sichert dies zusätzlich ab. Es handelt sich vor allem um den Schutz menschlicher Würde, um die als Urgrundrecht jedes Menschen verstandene Wahrung seiner Persönlichkeitssphäre. 4 Das Grundgesetz „ist eine wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt"6. Diese Zielsetzung macht Art. 1 GG zu dem obersten Konstitutionsprinzip der Verfassung7. Dabei ist es keineswegs selbstverständlich, daß die Verfassung überhaupt eine Aussage über die Stellung des Menschen in Staat und Gesellschaft enthält. Nach liberalem Staatsverständnis ging den Staat die Würde des Menschen nichts an. 2

E. WOLF Die Freiheit und Würde des Menschen, in: Recht, Staat, Wirtschaft, Bd. IV 1953, S. 32 ff; A. VERDROSS Die Würde des Menschen als Grundlage der Menschenrechte, in: EuGRZ 1977, 207; C. STARCK Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, in: J Z 1981, 4 5 9 ; DERS. in: H. v . MANGOLDT/F. KLEIN/C. STARCK G G , 3. A u f l . , B d . 1 , 1 9 8 5 , A r t . 1 A b s . 1

3 4

Rdn. 3; P. HABERLE Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HdBStR Bd. 1, § 20 Rdn. 34, 37; A. PODLECH in: Alternativkommentar zum GG, Bd. 1, 1984, Art. 1 Abs. 1 Rdn. 2 f. G. LUF Stichwortartikel Menschenrechte, in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 3, 1987, Sp. 1105 ff. R. ZIPPELIUS in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 57. Lfg., 1989, Art. 1 Rdn. 104; STARCK in: V. M a n g o l d t / K l e i n / S t a r c k G G (Fn. 2 ) R d n . 8 6 f z u A r t . 1 A b s . 1 ; G . DÜRIG i n : TH. MAUNZ/

5 6 7

G. DÜRIG (Hrsg.) GG, Bd. 1, Art. 1 Abs. 2 Rdn. 73; BVerfGE 1, 14 (17). BVerfGE 3, 213 (233). BVerfGE 12, 45 (51). J. WINTRICH Die Bedeutung der Menschenwürde für die Anwendung des Rechts, in: BayVBl. 1957, 137; DÜRIG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 1 Abs. 2 Rdn. 14; zur zentralen Stelle der Menschenwürde in der verfassungsrechtlichen Wertordnung ZIPPELIUS in: BK (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 1 9 - 2 1 ; W. MAIHOFER Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, S. 102; BVerfGE 6, 32 (36, 4 1 ) ; 72, 1 0 5 (115).

§6

Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht (BENDA)

163

Vielmehr ging dieses Verständnis davon aus, daß Freiheit und Würde des Menschen am ehesten durch die Garantie eines möglichst umfassenden staatsfreien Bereiches gewahrt werden können, in dem das Individuum sein Leben nach eigener Entscheidung gestalten kann. Heute ist diese Betrachtungsweise fragwürdig geworden, weil unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft der Einzelne von Leistungen des Staates abhängig geworden ist. Damit ergibt sich für die Verfassungsordnung ein wesentliches Grundproblem menschlichen Zusammenlebens: Das Spannungsverhältnis zwischen der Eigenständigkeit des Individuums und den Bedürfnissen, Rechten und Pflichten, die sich aus dem Zusammenleben der Menschen unter den heutigen Verhältnissen ergeben, bedarf der Klärung. Eine Verfassungsordnung, die weder dem schrankenlosen Individualismus noch dem die Freiheit mißachtenden Kollektivismus huldigt, muß die sich aus der Polarität von Freiheit und Zwang, der Achtung der Einzelperson und deren Eingliederung in die staatliche Gemeinschaft ergebenden Fragen beantworten. Die Qualität der Verfassung hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, solche Konfliktsituationen zu bewältigen. Vollends unausweichlich werden solche Fragen in hochentwickelten Gesellschaftsordnungen, in denen sich der Staat durch immer wachsende Anforderungen seiner Bürger bedrängt sieht, die oft nur um den Preis einer Verringerung individueller Freiheit erfüllt werden können. Einzelfreiheit und Gemeinwohl soweit als möglich in Einklang zu bringen, wird zur wesentlichen Aufgabe jeder Politik. Wenn man nicht darauf vertrauen kann, daß sich im freien Spiel der Kräfte die richtigen Lösungen finden werden, ergibt sich eine Grundfrage der Verfassungsordnung. Das Grundgesetz versucht, das Spannungsverhältnis Individuum—Gemeinschaft einerseits durch die Gewährleistung von Grundrechten, andererseits durch die Normierung von Schranken und Sozialpflichtigkeiten auszugleichen. Da das Bekenntnis zur Würde des Menschen die prinzipielle Auffassung des Grundgesetzes bestimmt, ergibt sich schon hieraus die Auswirkung der Vorschrift auf andere Grundrechte. Auch die Sozialstaatsklausel (Art. 20, 28 GG) nimmt den Leitgedanken auf und verfolgt ihn weiter. Die Gesamtsicht aller dieser Normen, insbesondere der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG, ergibt das Bild des Menschen, wie ihn das Grundgesetz sieht 8 . 2. Das Menschenbild des Grundgesetzes „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen 5 Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum — Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten" 9 . Diese Aussage des Bundesverfassungsgerichts hat weitreichende Konsequenzen: „Der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des 8 9

BVerfGE 4, 7 (16). BVerfGE 4, 7 (15 f); 12, 45 (51); 65, 1 (44); D Ü R I G in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4 ) Art. 1 Rdn. 46; ZIPPELIUS in: B K (Fn. 4 ) Art. 1 Rdn. 1 4 ; P. H A B E R L E Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 41 ff.

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2. Kapitel. Grundrechte

bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt" 10 . Damit werden sowohl die individualistischen Auffassungen des klassischen Liberalismus als auch kollektivistische Bestrebungen abgelehnt; unter Verzicht auf Extremlösungen wird eine mittlere Linie gesucht. Für die Uberwindung der Konfliktsituation zwischen Individuum und Gemeinschaft ist so noch kein fertiges, allgemeingültiges Rezept gefunden. Welche politisch mögliche Entscheidung für den Einzelnen zumutbar ist, muß von Fall zu Fall entschieden werden. Auch die aus dem Gebot der Achtung der Menschenwürde entnommene „Ausgangsvermutung zugunsten des Menschen", d. h. die Vermutung zugunsten der Freiheitsgewährung und gegen die Freiheitsbeschränkung" befreit nicht von der Verpflichtung, zunächst die Antwort auf die Sachfrage unter Wahrung der nach beiden Richtungen bestehenden verfassungsrechtlichen Schranken zu suchen, also die Zweifel nicht nur mit Hilfe einer Vermutung zu beantworten. Zwar beruht die Idee des freiheitlichen Rechtsstaates (Art. 20 GG) auf der „normativen Prämisse", „daß die Würde des Menschen in einer Ordnung größerer Freiheit eher gewährleistet ist als in einer Ordnung größerer Sicherheit" 12 . Aber das ebenfalls in Art. 20 GG enthaltene Sozialstaatsprinzip verhindert eine nur individualistische Handhabung der grundrechtlichen Normen 13 und bewahrt vor dem MißVerständnis, daß um der Würde des Einzelnen willen seine Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit übersehen werden dürfte. Der Sozialstaat bemüht sich um eine gerechte Wirtschafts- und Sozialordnung; der Rechtsstaat verhindert, daß hierbei der Kernbereich personaler Freiheit gefährdet wird. Das Verfassungsrecht kann dem Gesetzgeber die Aufgabe nicht abnehmen, in der Spannung zwischen dem Freiheitsrecht des Einzelnen und den Anforderungen der sozialstaatlichen Ordnung eine sachgerechte Lösung zu finden. Zwischen beiden Polen muß der Gesetzgeber seine politische Entscheidung treffen 14 . 6

Art. 1 Abs. 1 GG enthält nicht nur eine ethische Deklaration, vielmehr handelt es sich — mindestens — um eine aktuelle Norm des objektiven Rechts. Die rechtliche Tragweite der hier für alle staatliche Gewalt ausgesprochenen Verpflichtungen wird durch Art. 79 Abs. 3 GG verstärkt; eine Norm, an der selbst der verfassungsändernde Gesetzgeber nichts ändern dürfte, kann nicht bloß als eine unverbindliche Aussage über ethisch Wünschenswertes verstanden werden. Gewiß ist die Würde des Menschen zunächst ein sittlicher Wert. Ihre Aufnahme in das Grundgesetz bedeutet, daß sie zum Rechtswert geworden ist, ihre rechtliche Erfassung also positiv-rechtliches, d.h. verfassungsrechtliches Gebot ist 15 . Jedenfalls der Staat ist rechtlich verpflichtet, B V e r f G E 4, 7 (17). P. SCHNEIDER In dubio pro übertäte, in: FS Deutscher Juristentag I960, Bd. 2, S. 290; ferner MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 7) S. 127; R. MARCIC Der unbedingte Rechtswert des Menschen, in: FS Voegelin, 1962, S. 389; zur Kritik am Menschenbild des BVerfG HABERLE Menschenbild (Fn. 9) S. 45 und Anm. 1 3 0 . 12 MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 7) S. 127. " U. SCHEUNER Die Funktion der Grundrechte im Sozialstaat, in: D Ö V 1971, 506. 14 B V e r f G E 10, 354 (371); 29, 221 (235); 50, 290 (338). 15 E. R. HUBER Der Streit um das Wirtschafsverfassungsrecht, in: D Ö V 1956, 203.

10 11

§6

Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht (BENDA)

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die Menschenwürde zu wahren und nach Maßgabe seiner Möglichkeiten überall ihren Schutz zu übernehmen. Die Befugnisse des Staates sind dadurch begrenzt, daß mit dem Gebot auf Achtung der Menschenwürde jeder Staatstätigkeit eine absolute Schranke gesetzt wird. Zugleich erweitern sich die Pflichten des Staates, da er diesen Wert schützen, also den in ihrer Würde (von wem auch immer) bedrohten Menschen zu Hilfe kommen muß. Achtung und Schutz der Menschenwürde sind bindende Richtlinien für die gesamte Staatstätigkeit. Hiermit ist noch nicht entschieden, ob dem einzelnen in seiner Würde berührten 7 Menschen ein Grundrecht, d. h. ein subjektives öffentliches Recht zusteht, sich gegen derartige Angriffe zu wehren. Da aber die Menschenwürde der höchste von der Verfassung geschützte Rechtswert ist, läßt sich mit diesem Verständnis schwerlich die Vorstellung vereinbaren, daß der Betroffene von der Berufung gerade auf diese zentrale verfassungsrechtliche Gewährleistung ausgeschlossen sein soll. Dem System des Grundgesetzes, das gegen jede Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt den Rechtsweg eröffnet, entspricht es vielmehr, daß die Möglichkeit praktischer Wertverwirklichung um so mehr garantiert wird, je höher der Rang des Rechtsgutes in der Hierarchie der Verfassungswerte steht. Die Ausstrahlungen des Art. 1 Abs. 1 GG erfassen nicht nur alle das Verhältnis des Einzelnen zum Staat regelnden Normen, also den Bereich der Grundrechte, sondern wirken tief in die Grundfragen des Verständnisses des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates hinein. Auch die Annahme, daß ein staatlicher Angriff auf die Menschenwürde in jedem Falle durch die Berufung auf eines der speziellen Grundrechte (jedenfalls des Art. 2 Abs. 1 GG) aufgefangen werden könnte, die Ausgestaltung des Art. 1 Abs. 1 GG zu einem Grundrecht also entbehrlich erscheine, muß zuvor Art. 1 Abs. 1 GG „als Wertmaßstab" in die Spezialinterpretation dieser Grundrechte einbeziehen16. Vor allem aber: die Menschenwürde selbst spricht dafür, daß dem Einzelnen 8 eine reale Möglichkeit gegeben wird, seine Würde selbst zu wahren. Vielfach wird aus Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet, daß der Mensch nicht zum bloßen Objekt staatlichen oder gesellschaftlichen Handelns gemacht werden dürfe. Warum sollte ihm dann gerade an der Stelle, wo ihm eben dies zugesichert wird, die Verantwortung abgenommen, er also zum „Objekt" einer nur als objektive Norm verstandenen Wertentscheidung gemacht werden? Art. 1 Abs. 1 GG begründet ein im Wege der Verfassungsbeschwerde durchsetzbares Grundrecht17. Hieraus folgt aber nicht ohne weiteres ein verfolgbarer Rechtsanspruch auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers in bestimmter Richtung. Dieser ist zwar durch die Wertentscheidung des Grundgesetzes im Ziel seiner

G. DÜRIG Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: A ö R 81 (1956) 121 f; DERS. in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 13. " ZIPPELIUS in: B K (Fn. 4) Rdn. 24 ff m. w . N . ; W. KRAWIETZ in: Gedächtnisschrift F. Klein, 1977, 16

2 4 5 ; STARCK in: v. M a n g o l d t / K l e i n / S t a r c k

GG

( F n . 2 ) A r t . 1 R d n . 1 7 f ; I. VON M Ü N C H i n : I.

VON MÜNCH (Hrsg.) Grundgesetzkommentar, 3. A u f l . 1985, Rdn. 27 zu Art. 1 G G ; PODLECH A K (Fn. 2) Rdn. 61; B V e r f G E 6 1 , 126 (137); a. Μ. DÜRIG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 4.

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2. Kapitel. Grundrechte

Tätigkeit festgelegt, in der Wahl seiner Mittel jedoch — im Rahmen der Verfassung — frei. Nur eine willkürliche Pflichtversäumnis könnte zur Folge haben, daß dem Einzelnen ein Anspruch auf ein bestimmtes Handeln erwächst18. 9

Menschenwürde kommt jedermann zu, ohne Rücksicht auf seine persönlichen körperlichen, geistigen oder seelischen Eigenschaften und auf seine sonstigen Verhältnisse, nach vorherrschender Ansicht auch dem nasciturus und dem Toten19. Der nach der Herstellung der Einheit Deutschlands neu entbrannte Streit um die rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs hat ebenso wie die Erörterung der Frage, ob der in vitro erzeugte menschliche Embryo Zwecken der Forschung oder anderweitiger „Verwertung" zugeführt werden dürfe, das Bewußtsein für die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens geschärft. Andererseits kann sich auch das Verlangen der Schwangeren nach Selbstbestimmung auf ihre Menschenwürde berufen. Da ein Ausgleich nicht möglich ist, der beiden Positionen in gleichem Maße Rechnung tragen könnte, stellt sich in einer solchen einzigartigen Konfliktsituation die Frage nach dem Vorrang der gegeneinander stehenden Rechtsgüter mit aller Schärfe. Da die Abwägung nicht anders als im Sinne des Lebensschutzes ausfallen kann20, konzentriert sich die rechtspolitische Auseinandersetzung auf die Frage, welche Mittel erforderlich und geeignet sind, um einen möglichst wirksamen Schutz des ungeborenen Lebens herbeizuführen.

10

Die Würde des Menschen wird nicht nur durch Art. 1 GG, sondern mit jeweils besonderer Blickrichtung auf einzelne Gefährdungsmöglichkeiten durch Art. 2 ff GG geschützt. Den Grundrechten ist gemeinsam, daß sie um der Menschenwürde willen erforderlich erscheinen, sich also dem Grundgedanken nach bereits aus Art. 1 Abs. 1 GG ergeben. Sie sind „partiell verselbständigte Ausschnitte aus der Menschenwürde" 21 . Freilich verdanken die Grundrechte ihre Entstehung unterschiedlichen politischen und sozialen Ideen, und sie stellen jeweils eine Antwort auf die besonderen Herausforderungen der Zeit dar. Aber bei aller Wandelbarkeit des Begriffs der Gerechtigkeit hat diese noch einen überzeitlichen materialen Gehalt, der am ehesten mit der Würde des Menschen umschrieben werden kann.

11

Gegen die Vorstellung eines Systems der Grundrechte im Sinne einer logischsystematischen Ordnung werden Bedenken erhoben, weil dies dazu führen könnte, in die Verfassung eine Hierarchie der Grundrechte etwa in dem Sinne hineinzudeuten, daß alle Einzelgrundrechte Ausfluß eines aus Art. 2 Abs. 1 GG entnommenen 18 19

BVerfGE 1, 97 (15); 45, 187 (228). BVerfGE 30, 173 (194): Die staatliche Schutzpflicht endet nicht mit dem Tod. - BVerfGE 39, 1 (42 f): Zum Konflikt zwischen dem Schutz des Selbstbestimmungsrechts der Schwangeren mit d e m L e b e n s r e c h t d e r L e i b e s f r u c h t . — D Ü R I G G G ( F n . 7 ) R d n . 1 8 f f ; VON M Ü N C H G G ( F n . 1 7 ) R d n . 6 , 7 ; ZIPPELIUS in: B K ( F n . 4 ) A r t . 1 R d n . 4 9 f f ; STARCK in: v . M a n g o l d t / K l e i n / S t a r c k

20 21

GG

(Fn. 2) Art. 1 Rdn. 14.; HABERLE HdBStR Bd. 1 (Fn. 2) § 20 Rdn. 79 spricht von „Vor- und Nachwirkungen" des Menschenwürdeschutzes; A. M. PODLECH A K G G (Fn. 2) Art. 1 Abs. 1 Rdn. 59. BVerfGE 39, 1 (43). F. KÜBLER Über Wesen und Begriff der Grundrechte, 1965, S. 151.

§6

Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht (BENDA)

167

„Hauptfreiheitsrechts" seien22. Da aber jedenfalls durch Art. 1 Abs. 2, 79 Abs. 3 GG ein Grundbestand an Menschenrechten auch gegen eine Verfassungsrevision gesichert wird, muß der konkrete „Menschenwürdegehalt"23 der einzelnen Grundrechte ermittelt werden, um die Grenze ihrer normativen Einschränkbarkeit zu bestimmen. Dies setzt die Erfassung des rechtlichen Inhalts von Art. 1 Abs. 1 und 2 GG voraus. Eine ähnliche, aber schwächere (weil durch Art. 79 Abs. 3 GG nicht erfaßte) Sicherung gegen die Beseitigung oder Aushöhlung der Grundrechte ergibt sich aus der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG. Der Wesensgehalt eines Grundrechts muß nicht mit seinem „Menschenwürdegehalt" identisch sein24. Je stärker aber das jeweilige Grundrecht durch die Garantie der Menschenwürde geprägt, ja durch diese zwingend gefordert wird, desto mehr gelangen beide Gewährleistungen zur Deckung. So ergibt sich ohne weiteres, daß die Menschen, denen die Menschenwürde 12 ohne jede Ausnahme zukommt, auch die gleichen Recht haben müssen. Art. 3 Abs. 1 GG ist daher eine selbstverständliche Konsequenz des Art. 1 Abs. 1 GG25. Auch die wesentlichen Leitgedanken des Art. 5 GG sind aus dem Grundrecht der Menschenwürde abzuleiten. Insbesondere die Informationsfreiheit enthält eine individualrechtliche, aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1 GG herleitbare Komponente26, weil es zu den elementaren Bedürfnissen des Menschen gehört, sich frei und möglichst umfassend unterrichten zu können. Auch die Freiheit der geistigen Auseinandersetzung, die Art. 5 GG sichert, entspricht einem Grundbedürfnis der Persönlichkeit, die in einem freiheitlichen Gemeinwesen leben will27. Das Verhältnis des Art. 1 Abs. 1 GG zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG wird so beschrieben, daß Art. 1 Abs. 1 GG die Persönlichkeit statisch zeige, also aussage, wie sie „ist", während Art. 2 Abs. 1 GG sie dynamisch auffasse, also so zeige, wie sie „handelt"28. Art. 2 Abs. 1 GG enthält den Grundgedanken des Art. 1 Abs. 1 GG als Motiv und Inhaltskern: Die Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit ist dem Grunde nach um der Würde des Menschen willen geboten. Da Freiheit nicht unbegrenzt sein kann, sind die in Art. 2 Abs. 1 GG vorgesehenen Beschränkungen möglich. Sie dürfen aber nicht weiter gehen, als der in der Norm enthaltene „Menschenwürdegehalt" zuläßt. Der Kernbereich personaler Freiheit kann demnach auch nicht aus den in Art. 2 Abs. 1 GG angegebenen Gründen angetastet werden. 22

23

24

25 26 27 28

SCHEUNER Funktion der Grundrechte (Fn. 13) 509; ähnlich Z I P P E L I U S in: B K (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 20, 47 f; P O D L E C H A K G G (Fn. 2) Art. 1 Abs. 1 Rdn. 62; J. W I N T R I C H Zur Problematik der Grundrechte, 1957, S. 26. Vgl. W I N T R I C H Problematik der Grundrechte (Fn. 2 2 ) S . 1 9 ; Z I P P E L I U S in: B K (Fn. 4 ) Art. 1 Rdn. 1 3 , 1 9 f. H. C . N I P P E R D E Y Die Würde des Menschen, in: F. N E U M A N N / H . C . N I P P E R D E Y / U . S C H E U N E R (Hrsg.) Die Grundrechte, Bd. 2 , 1 9 5 4 , S . 1 5 ; W. L E I S N E R Grundrechte und Privatrecht, 1 9 6 0 , S . 1 5 8 ; W I N T R I C H Problematik der Grundrechte (Fn. 2 2 ) S . 1 9 ; D Ü R I G in: Maunz/Dürig G G (Fn. 7) Art. 1 Rdn. 81. BVerfGE 5, 85 (205); Z I P P E L I U S in: BK (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 13, 19. BVerfGE 27, 71 (81). BVerfGE 5 , 8 5 ( 2 0 5 ) ; W I N T R I C H Problematik der Grundrechte (Fn. 2 2 ) S . 1 4 . G . D Ü R I G Die Menschenauffassung des G G , in: JR 1 9 5 2 , 2 6 1 ; N I P P E R D E Y Würde des Menschen (Fn. 2 4 ) S . 1 5 . - Zum Verhältnis von Art. 2 Abs. 1 G G zu Art. 1 Abs. 1 G G Z I P P E L I U S in: B K (Fn. 4 ) Art. 1 Rdn. 4 7 f.

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13

2. Kapitel. Grundrechte

Deutlich ist der Zusammenhang der Menschenwürde mit den Grundrechten der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Freiheit der Berufswahl, der Unverletzlichkeit der Wohnung. Hier wie bei den anderen Grundrechten geht es darum, aus der Wertentscheidung für den Menschen als einer freien und sittlich verantwortlichen Persönlichkeit praktische Konsequenzen zu ziehen. Auch die Entscheidung des Grundgesetzes für die freiheitliche Demokratie und die rechtsstaatliche Ordnung ergibt sich nach westlichem, durch geschichtliche Erfahrung vertieften Verständnis aus dem Bekenntnis zur Menschenwürde. Diese wird nur unter den Bedingungen politischer Freiheit konsequent verwirklicht. Freiheit bedeutet dabei nicht bloß Schutz vor der Staatsgewalt, sondern auch Chance zur Mitwirkung an der Staatswillensbildung für jeden Bürger als weiteres wesentliches Element des demokratischen Rechtsstaates29. 3. Begriff und Inhalt der Menschenwürde

14 Wer Menschenwürde definieren will, knüpft an die Frage an, was denn das spezifische Wesen des Menschen ausmacht. Das Grundgesetz selbst setzt die Würde des Menschen ohne nähere Erläuterung voraus. Eine aus der jeweiligen weltanschaulichen oder ideologischen Position entnommene Inhaltsbestimmung des Art. 1 Abs. 1 GG sollte aber vermieden werden. 15

Eine Interpretation, die der Funktion des Art. 1 Abs. 1 GG innerhalb der Verfassungsordnung entspricht, kann an die bei Verabschiedung des Grundgesetzes herrschenden rechtsethischen Vorstellungen anknüpfen, die unter dem Eindruck der vorgefundenen historischen Situation standen. Andererseits sind die seitdem eingetretenen Wandlungen und Konkretisierungen der Auffassungen zu berücksichtigen. Zweifellos reagiert das Bekenntnis zur Würde des Menschen auf dessen Verachtung und Erniedrigung in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Nach den Erfahrungen des „Dritten Reiches" sollte der Mensch niemals wieder zum Objekt eines Kollektivs erniedrigt werden dürfen 30 . Offenkundig mißachten ζ. B. Folter oder Sklaverei die Menschenwürde. Wenn das Bundesverfassungsgericht in einer frühen Entscheidung darlegte, daß Art. 1 Abs. 1 GG nicht eine Pflicht des Staates zum Schutz vor materieller Not meine, sondern die Menschenwürde vor Angriffen wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. schütze31, so entsprach das ganz dem Verständnis der Norm als einer Reaktion auf das erfahrene Unrecht der Gewaltherrschaft. 16 Eine rechtsstaatliche Ordnung schließt solche offenkundigen Verletzungsvorgänge aus. Gleichwohl muß auch heute möglichen Willkürakten begegnet werden. Die Mißachtung der Menschenwürde ist das Wesensmerkmal des Unrechtsstaates; aber auch in einem Rechtsstaat bleibt es möglich, daß einzelne Amtsträger den an 29

30 31

Zum Verhältnis der Menschenwürde zu Demokratie und Rechtsstaat R. MARCIC Ein neuer Aspekt der Menschenwürde, in: FS E. v. Hippel, 1965, 200; ZIPPELIUS in: B K (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 13, 20; B V e r f G E 5, 85 (205). B V e r f G E 5, 85 (205). B V e r f G E 1, 97 (104).

§6

Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht (BENDA)

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der Verfassung orientierten Staatszielen zuwiderhandeln könnten. Am ehesten gefährdet erscheinen Angehörige rassischer oder religiöser Minderheiten oder sonst am Rande der Gesellschaft Lebende, wie psychisch Kranke, Asoziale oder straffällig Gewordene. Art. 1 Abs. 1 GG reagiert auch auf diese Erfahrung 32 . Wenn man bei der Auslegung der Verfassungsnorm nicht von dem Menschen ausgeht, wie dieser in der Realität ist, sondern sich an einem sozialethischen Idealbild orientiert, dürften sich gerade solche besonders schutzbedürftigen Personengruppen eigentlich nicht auf Art. 1 Abs. 1 GG berufen. Ein Triebtäter und oft auch ein Geisteskranker sind zu freier sittlicher Entscheidung nicht oder nur begrenzt fähig. Eben diese macht aber nach oft geäußerter Meinung die Einzigartigkeit des Menschen aus33. Man muß sich daher, wenn man nicht solche am Rande der Gesellschaft lebenden Menschen des verfassungsrechtlichen Schutzes berauben will, mit einer bescheideneren Definition begnügen, die von der potentiellen, abstrakten Fähigkeit des Menschen ausgeht, seinen Eigenwert zu verwirklichen34. Art. 1 Abs. 1 GG gilt für jeden Menschen ohne Rücksicht auf seinen individuellen sittlichen Entwicklungsstand, weil jeder Menschen wenigstens der Idealvorstellung nach zu sittlicher Selbstverwirklichung fähig ist. Dem Staat muß es verwehrt sein, Menschen nach ihrem vermeintlichen sittlichen Wert zu klassifizieren. Der Staat darf sich nicht anmaßen, über irgendeinen seiner Gewalt Unterworfenen ein abschließendes Urteil zu sprechen. Er achtet den Menschen, dessen Würde sich darin zeigt, daß er sich nach Maßgabe seiner Möglichkeiten bemüht. Selbst wenn solche Hoffnung vergeblich scheint, weil ihr schicksalhafte Anlagen und Entwicklungen oder eigene Schuld entgegenstehen, darf von Staats wegen ein abschließendes Unwerturteil über den Menschen nicht ausgesprochen werden. Dem Wesen und der Würde des Menschen entspricht vielmehr auch seine Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit, ebenso allerdings auch seine wenigstens potentielle Fähigkeit, über diese hinauszuwachsen. Er soll sich selbst immer neu bemühen, zu einem erfüllten oder doch erträglichen Zusammenleben in der Gemeinschaft der Menschen zu gelangen. Die Einsicht in die wesenhafte Unvollkommenheit des Menschen steht unter dem verfassungsrechtlichen Aspekt der Menschenwürde allen Versuchen entgegen, ihn mit Hilfe einer Veränderung seiner genetischen Ausstattung in einen Zustand vorgestellter Perfektion zu überführen35. Wenn der Mensch als eine „mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Le- 17 bensgestaltung begabte .Persönlichkeit' " zu sehen ist, darf er nicht als Untertan einer um sein Wohl bemühten Obrigkeit behandelt werden36. Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen. In der 32

ZIPPELIUS in: B K (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 4 9 - 5 0 ; DÜRIG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Rdn. 1 9 - 2 1 ; VON M Ü N C H G G ( F n . 1 7 ) R d n . 2 ; P O D L E C H A K

33

34 35

36

(Fn. 2) R d n . 56.

NIPPERDEY Würde des Menschen (Fn. 24) S. 1; ähnlich DÜRIG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4 ) Art. 1 Rdn. 1 8 . DÜRIG in: Maunz/Dürig (Fn. 4) A r t . 1 Rdn. 18. E. BENDA Erprobung der Menschenwürde am Beispiel der Humangenetik, in: A u s Politik und Zeitgeschichte Β 3/1985, 35. BVerfGE 5, 85 (204).

2. Kapitel. Grundrechte

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Herabwürdigung des Menschen zum Objekt, zur vertretbaren Größe wird die entscheidende Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG gesehen 37 . Aber diese Formel kann nur die Richtung andeuten, in welche die Konkretisierung des Schutzbereiches der Menschenwürde zu gehen hat. Sie ist zumal deswegen noch zu unscharf, weil im modernen Staatswesen der individuellen Freiheit im Interesse der Gemeinschaft Grenzen gesetzt werden müssen, und zwar gerade um der Erreichung menschenwürdiger Lebensbedingungen für alle willen. Die industrielle Massengesellschaft erfordert ein hohes Maß intensiver staatlicher Daseinsvorsorge, planender Eingriffe und lenkender Ordnungen. In ihr ist der Mensch unvermeidlich auch Objekt staatlicher Regelungen, so wie er in seinem beruflichen und privaten Leben weithin von anderen abhängig ist und vielfältigen Umwelteinflüssen unterliegt. Diese unaufhebbare Objektstellung des Menschen, seine Entpersönlichung in Staat und Gesellschaft ist eine Hauptursache für die neueren Protestbewegungen und die vor allem in der jüngeren Generation unternommenen Versuche, alternative Lebensformen zu finden, um den Zwängen der Gesellschaft zu entgegen. Auch wer einräumt, daß die meisten der bestehenden Sachzwänge unter den heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten zwar gemildert, aber nicht gänzlich beseitigt werden können, weil anders ein geordnetes Zusammenleben unmöglich wäre, sieht sich in seinem Lebensgefühl gekränkt. Wenn man sich darüber klar wird, warum die elementare Bedrohung des Menschen als Individuum besteht, dann ergibt sich, wo heute die Hauptfront liegt, an welcher die Würde des Menschen zu verteidigen ist: Es geht nicht in erster Linie um den Einzelnen, der sich auf ihn gezielter individueller staatlicher Willkür ausgesetzt sieht. Bedroht ist vor allem der Einzelne unter vielen, der den Staat nicht mehr als konkrete Persönlichkeit interessiert, sondern nur noch Zählwert hat. 18

Dem Staat verbleibt aber die Aufgabe, die Menschenwürde des Einzelnen zu achten. Uber den Anspruch hinaus, keiner Willkür unterworfen zu werden, erwartet der Bürger vom Staat zunehmend die Gewährleistung auch seiner materiellen Existenz. Art. 1 Abs. 1 GG verlangt jedenfalls, daß dem Einzelnen die für ein menschenwürdiges Dasein unabweisbar notwendigen Güter zu belassen sind. Staatseingriffe insbesondere in das persönliche Eigentum, ζ. B. durch Steuern, dürfen nicht so weit gehen, daß auch die bescheidenste Existenzgrundlage entzogen wird. Bereits die in Art. 1 Abs. 1 GG normierte Verpflichtung der staatlichen Gewalt, die Menschenwürde zu „schützen", spricht darüber hinaus für eine positive Leistungspflicht des Staates, wenn anders eine menschenwürdige Existenz nicht geschaffen werden kann. Gegenüber der früheren Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, daß Art. 1 Abs. 1 GG nicht die Sicherung vor materieller Not meine 38 , wird heute eine Pflicht des Staates zur Verschaffung des Existenzminimums bejaht. Der ohne Schuld in Not

37

BVerfGE 27, 1 (6); 50, 205 (21); 72, 105 (116); vgl. aber auch BVerfGE 30, 1 (2, 25) und hierzu die a b w . M . B V e r f G E 3 0 , 3 3 (40). -

DÜRIG G G ( F n . 7) R d n . 2 8 ; HABERLE H d B S t R B d . 1 (Fn. 2)

§ 2 0 R d n . 3 8 ; VON M Ü N C H G G ( F n . 1 7 ) A r t . 1 R d n . 1 5 f f ; ZIPPELIUS i n : B K ( F n . 4 ) A r t . 1 R d n . 6 3 ;

38

WINTRICH Problematik der Grundrechte (Fn. 22) S. 17; zur Kritik an dieser Definition LEISNER Grundrechte (Fn. 24) S. 140. BVerfGE 1, 97 (104).

§6

Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht (BENDA)

171

Geratene hat daher ein subjektives öffentliches Recht auf Hilfe. Dies ist in § 1 Bundessozialhilfegesetz ausdrücklich ausgesprochen.

II. Schutz der Menschenwürde heute Es reicht nicht aus, wenn der Staat sich in seiner Tätigkeit so beschränkt, daß den 19 Menschen ein genügend weiter individueller Freiheitsraum verbleibt. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG verlangt darüber hinaus, daß der Staat die Menschenwürde aktiv schützt. Er muß also ihren Bedrohungen dort entgegentreten, so sie unter den sich ändernden Verhältnissen jeweils entstehen. Die im Nationalsozialismus erfahrenen Verletzungen der Menschenwürde bilden keine aktuelle Gefahr, wenn auch stets Wachsamkeit geboten ist. Um so wichtiger wird es, den in Gegenwart und Zukunft erkennbaren oder doch möglichen Gefährdungen zu begegnen. Die Grundwerte der menschlichen Existenz erhalten hierbei nicht einen je nach den Zeitverhältnissen unterschiedlichen Inhalt. Aber ihre wesentlichen Aspekte lassen sich erst dann erkennen und juristisch erfassen, wenn sie aktuell oder doch potentiell bedroht werden. Auch die „Ewigkeitsgarantie" des Art. 79 Abs. 3 GG ergibt, daß Menschenwürde stets, d. h. in Abwehr der jeweiligen sich wandelnden Gefahren zu achten und zu schützen ist. Dem Staat obliegt es auch, künftige Bedrohungen rechtzeitig zu erkennen und sich hierauf einzustellen, solange Abhilfe oder Vorsorge noch möglich ist. 1. Strafrecht und Strafverfahren Allgemein anerkannt ist, daß Art. 1 Abs. 1 GG im Bereich des Straf- und des 20 Strafverfahrensrechts den einer strafbaren Handlung Beschuldigten davor bewahrt, zum bloßen Objekt staatlichen Strafanspruchs gemacht zu werden. Der in Art. 103 Abs. 1 GG enthaltene Grundsatz des rechtlichen Gehörs gilt im Straf- wie in jedem anderen Verfahren (einschließlich des Verwaltungsverfahrens) schon um der Wahrung der Menschenwürde willen. Wer durch eine Entscheidung in seinen Rechten betroffen wird, soll zu Wort kommen können, damit er auf das Verfahren und sein Ergebnis Einfluß nehmen kann. Dem Recht des Beschuldigten, sich durch aktives Eingreifen in das Verfahren verteidigen zu dürfen, entspricht es, ihn nicht gegen seinen Willen zum Reden zu zwingen. § 136 a StPO ist die „Konkretisierung des Art. 1 Abs. 1 GG für das Gebiet des Strafprozesses"39. Dem gleichen Grundgedanken entspricht es, wenn jeder unmittelbare oder mittelbare Zwang zur Aussage ebenso als Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG angesehen wird wie psychologische oder technische Hilfsmittel jeder Art, die den Wahrheitsgehalt einer Äußerung des Beschuldigten anders als durch die unmittelbare Wahrnehmung des Vernehmenden ermitteln sollen, also 39

NIPPERDEY Würde des Menschen (Fn. 24) S. 30; ähnlich WINTRICH Problematik der Grundrechte (Fn. 22) S. 26; ZIPPELIUS in: B K (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 65. Zwang zur Selbstbezichtigung als Verstoß gegen die Würde des Menschen: B V e r f G E 56, 37 (42, 49); 80, 109 (121).

2. Kapitel. Grundrechte

172

insbesondere die Narkoanalyse oder der Lügendetektor 40 . Die Problematik eines ausnahmslosen Verbots solcher Hilfsmittel wird darin gesehen, daß ja auch die Würde des schutzlosen Opfers geschützt werden müsse. Daher müßten „weitergehende Möglichkeiten der Wahrheitserforschung zu Gunsten des schuldlosen Opfers" ohne Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG geschaffen werden können 41 . Zweifellos gehört zu den legitimen Staatsaufgaben auch der Schutz der Bevölkerung vor Verbrechen. Aber im Strafverfahren geht es gerade erst um die Erforschung der Wahrheit. Solange sie nicht festgestellt ist, darf die Schuld des Verdächtigen nicht als vorhanden und nur noch zu beweisen unterstellt werden. Im übrigen geht es bei dem heutigen Strafensystem nur um die Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs, nicht um die Wiedergutmachung des Verbrechens gegenüber dem Opfer. Das verständliche Gefühl der Genugtuung, das dieses bei der Bestrafung des überführten Täters empfinden mag, wird durch Art. 1 Abs. 1 GG nicht garantiert. Wenn einmal in besonders schweren Fällen oder gegenüber „ausgekochten Gewohnheitsverbrechern" das strenge Verbot derartiger Methoden der Wahrheitsermittlung gelockert würde, wäre bald jede klare Grenze verwischt und dürfte je nach den subjektiv beurteilten Umständen des Einzelfalles vorgegangen werden. 21 Art. 1 Abs. 1 GG verbietet übermäßig hohe oder grausame Strafen 42 . Auch für den rechtskräftig bestraften Täter müssen die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz erhalten bleiben 43 . Die an sich zulässige Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe muß daher wenigstens dem Verurteilten eine Chance belassen, nach Verbüßung einer längeren Haftzeit im Wege bedingter Entlassung doch wieder die Freiheit erlangen zu können 44 . Erst recht würde eine im Wege der Änderung des Art. 102 GG bewirkte Wiedereinführung der Todesstrafe Art. 1 Abs. 2 GG verletzen 45 . Hierdurch würde der Staat sich seiner Verpflichtung zur Resozialisierung jedes, auch des schwerster Straftaten überführten Täters entziehen, die sich aus Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsgebot ergibt 46 . 22

Strafe setzt Schuld voraus; auch die Höhe der Strafe wird wesentlich durch das Maß der Schuld bestimmt. Daneben dürfen aber auch andere Umstände die Strafzumessung mit beeinflussen, sofern der Täter hierdurch nicht zum bloßen Objekt 40

41

42

43 44

45

Zu den Gefahren der praefontalen Lobotomie und Leukotomie im Bereich der Psychochirurgie vgl. schon E. F E C H N E R Die soziologische Grenze der Grundrechte, 1954, S. 15 Anm. 6; D Ü R I G in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 35, Art. 2 Abs. 1 Rdn. 35 ff; P O D L E C H A K - G G (Fn. 2) Art. 1 Abs. 1 Rdn. 47; zum Lügendetektor BGHSt 5, 332; BVerfG N J W 1982, 375; zurückhaltender Z I P P E L I U S in: BK (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 86. D Ü R I G Grundrechtssatz (Fn. 16) S. 128; zustimmend T H . R A M M Die Freiheit der Willensbildung, 1960, S. 16. Ähnlich zu § 31 S. 1 E G G V G (Kontaktsperre) BVerfGE 49, 24 (53 f). N I P P E R D E Y Würde des Menschen (Fn. 24) S. 31; BVerfGE 1, 332 (348); 45, 187 (228, 253). BVerfGE 45, 187 (228). BVerfGE 45, 187 (229); 72, 113 (115ff); P O D L E C H A K - G G (Fn. 2) Art. 1 Rdn. 43; S T A R C K in: v. Mangoldt/Klein/Starck G G (Fn. 2) Rdn. 30. Vgl. jetzt § 57 a StGB. P O D L E C H A K (Fn. 2 ) Rdn. 4 3 ; S T A R C K in: v. Mangoldt/Klein/Starck G G (Fn. 2 ) Art. 1 Rdn. 2 9 ; a. A . ZIPPELIUS B K

46

(Fn. 4) Art. 1 Rdn.

BVerfGE 35, 202 (235 f); 66, 337 (260).

70.

§6

Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht (BENDA)

173

der Verbrechensbekämpfung gemacht wird. Art. 1 Abs. 1 GG verbietet weder die Mitberücksichtigung des eingetretenen Schadens noch die Abschreckung anderer als (Neben-) Strafzweck, sofern ein angemessenes Verhältnis zwischen Täterverantwortung und Strafmaß gewahrt bleibt. Bedenken gegen die Generalprävention bestehen dann, wenn diese Strafe als Mittel sieht, den Rechtsbrecher als „Instrument der Polizeifunktion des Staates" zu behandeln47. Würde jede generalpräventive Überlegung unzulässig sein, ließe sich aber kaum begründen, weshalb der Staat auch bei feststehender Schuld aus Gründen der Staatsräson von der Strafverfolgung absehen darf (§ 153 c StPO). Auch die Individualprävention (Maßnahmen der Besserung oder Sicherung) setzt voraus, daß die Strafe sich im Rahmen der Schuld hält und der Täter nicht zum Objekt zweckmäßiger Behandlung entwürdigt wird. 2. Privat- und Intimbereich, elektronische Datenverarbeitung Wenn der Staat in den privaten Bereich des Einzelnen eindringen will, also Vorgänge 23 oder Eigenschaften aufdecken möchte, die dieser für sich zu behalten wünscht, so bedarf er hierfür hinreichend rechtfertigender Gründe. Die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) beruht auf dem gleichen Gedanken: Was im häuslichen Bereich vorgeht, geht niemanden etwas an. Wenn dort aber Verbrechen verübt werden oder Gefahren für die Umgebung entstehen, können überwiegende öffentliche Belange sich als stärker erweisen (Art. 13 Abs. 3 GG). Wesentlich ist, wo die Grenze zwischen wirklich Privatem und solchen Vorgängen verläuft, welche die Interessen anderer berühren. Auch das persönliche Verhalten im intimsten Bereich kann soziale Relevanz haben. Dagegen berührt die unzutreffende Feststellung ehewidriger Beziehungen in einem Scheidungsurteil die Ehre des genannten Dritten und damit sein Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG48. Es kann gegen die Menschenwürde (und das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG) verstoßen, wenn im Rahmen eines Disziplinarverfahrens Einsicht in Ehescheidungsakten genommen wird 49 . Wenn das Gebot der Verhältnismäßigkeit beachtet ist, kann der gleiche Eingriff jedoch zulässig sein. Solche Einzelentscheidungen leiteten eine Entwicklung ein, die seither eine 24 ständig zunehmende Bedeutung erlangt hat. Die nicht nur als zwangsläufig hingenommene, sondern von vielen Menschen als ihr Recht geforderte Daseinsgestaltung durch den Staat im Interesse seiner Bürger wird auch durch die Modernisierung und Technisierung der Verwaltung zunehmend verwirklicht. So wird der Mensch mit anscheinend unentrinnbarer Zwangsläufigkeit erfaßt und verplant. Dies alles geschieht zu seinem Wohl oder doch jedenfalls in bester Absicht. Aber es stellt sich die Frage, ob angesichts dieser Entwicklungen ein menschenwürdiges Dasein überhaupt noch möglich ist. Dies ist die Verfassungsfrage der nahen Zukunft; hinter ihr werden alle anderen durch Art. 1 Abs. 1 GG aufgeworfenen Probleme an Bedeutung 47

P. BADURA Generalprävention und Würde des Menschen, in: J Z 1964, 344; hierzu ZIPPELIUS in: B K (Fn. 4) R d n . 6 6 ; STARCK in: v. M a n g o l d t / K l e i n / S t a r c k G G

48 49

B V e r f G E 15, 283 (286). B V e r f G E 27, 344 ff.

(Fn. 2) A r t . 1 Rdn. 33.

2. Kapitel. Grundrechte

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zurücktreten. M A R C I C formuliert diese Aufgabenstellung so: „Die Freiheit von Lärm; das Recht auf ein innengeleitetes Leben, wo das Wesen des Menschen sozusagen gewaltsam nach außen gewendet wird ... ; das Recht auf Integrität der Psyche, auf die Unversehrtheit des Vernunftvermögens und der Willenskraft; das Recht auf innere Sammlung, auf Ruhe und Muße mitten in einer tobenden, tosenden, brüllenden Welt; ja selbst das Recht auf eigene Verantwortung, auf Nächstenliebe, auf Nächstenhilfe, welches dem Menschen zu nehmen der totale Rentnerstaat sich anschickt; all dies sind Seinswerte der menschlichen Existenz, die man erst heute erkennt, weil sie erst heute bedroht werden, um deren .Artikulierung' und deren Schutz werden wir zu ringen haben"50. 25 In der so gekennzeichneten Problematik ist zunächst das natürliche und durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Recht jedes Menschen angesprochen, jedermann und auch dem Staat den Zutritt zu dem „Innenraum" seiner Persönlichkeit zu verweigern, also über eine ungestörte Intimsphäre zu verfügen. Dabei handelt es sich nicht lediglich um denjenigen Bereich, der wegen des natürlichen Schamgefühls vor fremder Neugier bewahrt wird, also insbesondere um die Sexualsphäre, sondern in gleicher Weise um das Recht, körperliche Mängel, Absonderheiten oder Gebrechen nicht ohne zwingenden Grund offenbaren zu müssen, ebenso aber um den Bereich von Glauben und Gewissen, darüber hinaus um alle Ausprägungen der Individualität des Menschen: Liebhabereien, Sammelleidenschaften oder andere persönliche Neigungen, Skurrilitäten, Sympathien oder Antipathien, schließlich politische oder andere Überzeugungen. All dies gehört zu den Eigenschaften, welche den Menschen zur unverwechselbaren Persönlichkeit machen. Eben diese Charakter- und Wesenszüge stehen im Mittelpunkt privater und öffentlicher Neugier. Wo der Einzelne auf öffentliches Interesse stößt, bilden sich hieraus die Hauptthemen der Unterhaltungsmedien. 26 Der im amerikanischen Recht entwickelte Begriff der „Privacy" umfaßt das Recht, „von der Gesellschaft oder Beobachtung anderer getrennt oder frei zu sein, aber auch Abgeschlossenheit, Intimsphäre, häusliche Sphäre, (den) von der Öffentlichkeit verschiedene(n) Lebensbereich eines Menschen"51. Der Ausdruck „right to be let alone" sagt noch besser, daß es für das Verlangen, in Ruhe gelassen zu werden, überhaupt keine Begründung bedarf. Der Schutz der Privat- oder Intimsphäre rechtfertigt sich aus dem Respekt vor dem „right of the individual to decide for himself, with only extraordinary exceptions in the interests of society, when and on what terms his acts should be revealed to the general public"52. 27 Der Verfassungsrang des Individualrechts, in Ruhe gelassen zu werden, begründet sich daraus, daß ein solcher Schutz psychologisch und physiologisch unmittelbare Existenzvoraussetzung des Lebens in einer industriellen Massengesellschaft 50

MARCIC R e c h t s w e r t (FN. 1 1 ) S. 3 9 2 .

51

R. KAMLAH Right of Privacy. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in amerikanischer Sicht unter Berücksichtigung neuer technologischer Entwicklungen, 1 9 6 9 , S. 57; ähnlich W. M . BEANEY The Right to Privacy and American Law, in: Law and Contemporary Problems (1966) S. 254. A . F. WESTIN Privacy and Freedom (1970) S. 42.

52

§6

Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht (BENDA)

175

ist. Niemand kann die an ihn in Beruf und Umwelt gestellten Anforderungen pausenlos erfüllen, ohne wenigstens die Chance zu haben, sich in sich selbst zurückzuziehen, ja auch sich gehen zu lassen: „Like actors on the dramatic stage ... individuals can sustain roles only for a reasonable period of time, and no individual can play indefinitely, without relief, the variety of roles that life demands. There have to be moments ,off stage' when the individual can be ,himself: tender, angry, irritable, lustful or dreamfilled ... To be always ,on' would destroy the human organism"53. In dieser Sicht bedarf das Recht auf die Privatsphäre keines geringeren Schutzes als der Anspruch auf die elementaren materiellen Existenzvoraussetzungen. Aber in dem gleichen Maße, in dem physische Not seltener wird und der Staat sich mit Erfolg um Existenz und Wohlstand seiner Bürger bemüht, gerät der Schutz der Privat- und Intimsphäre in Gefahr. Der Zusammenhang ist nicht bloß zufällig: Der Staat muß in seiner auf die Sicherung der materiellen Existenz der Bürger gerichteten Planung zwangsläufig Informationen, Auskünfte und Daten beschaffen, die oft in den Bereich der Privatsphäre hineinreichen. Statistische und andere Erhebungen sind oft die Voraussetzung für die Planmäßigkeit staatlichen Handelns. Sie können aber die Menschenwürde gefährden, wenn sie den Bereich des individuellen Lebens erfassen wollen, der „von Natur aus Geheimnischarakter hat"54. Aber auch das Interesse des Staates, die ihm im Einklang mit der Verfassung 28 obliegenden Aufgaben erfüllen zu können, ist schutzwürdig. Dabei sind Kollisionen mit dem Anspruch auf Schutz der Privatsphäre möglich. Wer einer Straftat verdächtig ist, muß eine Durchsuchung seiner Privaträume oder eine körperliche Durchsuchung hinnehmen, sofern diese unter den in der StPO normierten Voraussetzungen und in korrekter, die Menschenwürde achtender und verhältnismäßiger Weise erfolgt 55 . Statistische Erhebungen können als Vorbedingung für die Planmäßigkeit staatlichen Handelns erforderlich sein; sie dürfen aber nicht „den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit registrieren und katalogisieren"56. In die Privatsphäre darf mithin nur eingedrungen werden, wenn überwiegende Gründe des Gemeinwohls bei sorgfältiger Beachtung des Rechts auf Schutz dieser Sphäre den Eingriff (hinsichtlich des „Ob" und des „Wie") zwingend erforderlich machen. Die fortschreitende Erweiterung der technischen Möglichkeiten, die menschli- 29 chen Fähigkeiten zu sinnlicher Wahrnehmung um ein Vielfaches zu verstärken, stellt einen revolutionären Schritt dar, an dessen Ende die völlige Schutzlosigkeit der Privatsphäre stehen könnte. Wie die Wirtschaft bedient sich auch die öffentliche Verwaltung zunehmend der Mittel der elektronischen Datenverarbeitung. Es gibt einleuchtende praktische Gründe dafür, die heute im herkömmlichen Verfahren an vielen Verwaltungsstellen geführten Akten und Karteien über personenbezogene Daten, die z. B. im Bereich des Sozial-, Versorgungs- oder Gesundheitswesens zur 53

54

55 56

WESTIN Privacy (Fn. 52) S. 35. BVerfGE 27, 1 (7). Zur Problematik der Datenerhebung für statistische Zwecke BVerfGE 65, 1 (47 ff). BVerfGE 4 7 , 2 3 9 ( 2 4 6 ff); S T A R C K in: v. Mangoldt/Klein/Starck G G (Fn. 2 ) Art. 1 Rdn. 3 9 . BVerfGE 27, 1 (5); 65, 1.

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2. Kapitel. Grundrechte

Gesetzesausführung erforderlich sind, in Datenbanken zu integrieren. Aber in dem Maße, in dem das geschieht, wird sich das öffentliche und private Leben grundlegend ändern. 30 Die Gefährdung der durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Privatsphäre liegt vor allem darin, daß a) personenbezogene Daten, d. h. auch solche, die der Privatsphäre zuzurechnen sind (wie etwa Angaben über den Gesundheitszustand, körperliche und geistige Gebrechen, finanzielle Verhältnisse u. v. a.), aufgezeichnet und ohne Kenntnis oder Einwirkungsmöglichkeit des Betroffenen beliebig oft, mit großer Schnelligkeit und über weite Entfernungen beliebig vielen interessierten Stellen übermittelt werden können und daß b) die gespeicherten Daten, auch wenn sie an sich korrekt sind, isoliert, also ohne Zusammenhang mit anderen Informationen übermittelt werden, die zu ihrem richtigen Verständnis notwendig wären (technisch bedingte Verfalschungstendenz der EDV) 57 . 31 Die Gefährdung der Privatsphäre des Einzelnen ergibt sich nicht daraus, daß überhaupt Informationen über ihn gesammelt werden. Sie liegt vielmehr darin, daß er die Verfügung darüber verliert, an wen und zu welchen Zwecken solche Informationen vermittelt werden. Nicht die Information an sich, sondern ihre dysfunktionale Weitergabe, auf die der Betroffene keinen Einfluß hat, zerstört die Privatsphäre58. 32 Der Grundkonflikt sollte nicht verdeckt werden; er wird uns für eine lange Zeit begleiten. Bloße Maschinenstürmerei wäre sinnlos. Es besteht auch ein legitimes Interesse des Bürgers an einer modern und kostensparend arbeitenden Verwaltung. Wenn diese weit hinter dem technischen Standard der Wirtschaft zurückbliebe, würde Instabilität im Verhältnis von Staat und Gesellschaft entstehen. 33

Der Schutz der Privatsphäre des Bürgers vor den Gefahren der elektronischen Datenverarbeitung kann nur relativ sein. Ein freilich nur schmaler Bereich privater Lebensgestaltung muß unantastbar bleiben; es gibt keine Staatszwecke, die das Eindringen in diesen Raum erlauben können. Uber vieles, was die Persönlichkeit der Bürger betrifft, muß sich der Staat aber schon nach heute geltendem Recht unterrichten dürfen, um die ihm übertragenen Aufgaben erfüllen zu können: so ζ. B. über die Unzuverlässigkeit, Ungeeignetheit oder Unwürdigkeit zur Einstellung und Ausbildung von Lehrlingen (vgl. § 11 Bundeszentralregistergesetz), über die Persönlichkeit von Jugendlichen, die der Fürsorgeerziehung unterliegen (§ 66 JWG) oder über nach dem Bundesseuchengesetz (§§ 3 ff) oder dem Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten (§ 10) zu meldende Erkrankungen. Hier kommt es darauf an, die Weitergabe solcher Informationen an solche Stellen zu verhindern, die ein rechtlich begründetes Interesse hieran nicht nachweisen können. Schließlich dient eine möglichst weitgehende Transparenz des neuen Instruments der EDV wenigstens

57

58

U. SEIDEL Persönlichkeitsrechtliche Probleme der elektronischen Speicherung privater Daten, in: N J W 1970, 1582; DERS. Datenbanken und Persönlichkeitsrecht unter besonderer Berücksichtigung der amerikanischen Computer Privacy, 1970, S. 123. E. BENDA Privatsphäre und Persönlichkeitsprofil, in: FS W. Geiger, 1974, S. 23 ff.

§6

Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht (BENDA)

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dem Ziel, verständliche Befürchtungen abzubauen und Mißbräuchen durch Kontrolle zu begegnen. Das Bundesverfassungsgericht hat 1983 durch sein „Volkszählungsurteil"59 das 34 aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG entnommene „Recht auf informationelle Selbstbestimmung" als grundrechtliche Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bezeichnet, mit dem durch die modernen Entwicklungen verbundenen neuartigen Gefährdungen der menschlichen Persönlichkeit begegnet werde: Da Selbstbestimmung eine „elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist", muß der Einzelne „gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten" geschützt werden. Dieser Schutz ist jedoch nicht schrankenlos gewährleistet, und der Einzelne hat auch nicht „ein Recht im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft über ,seine' Daten; er ist vielmehr eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit". „Grundsätzlich muß daher der Einzelne Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen"60. Das Bundesverfassungsgericht macht die Entscheidung, unter welchen Voraus- 35 Setzungen der Staat auf personenbezogene Daten seiner Bürger zugreifen darf, von der Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeit der Daten abhängig, also von dem Zweck, dem die Erhebung dient, und den durch die Informationstechnologie gegebenen Verarbeitungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten. Ob Informationen „sensibel" sind, hängt nicht davon ab, ob sie intime Vorgänge betreffen. Unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung gibt es kein „belangloses" Datum mehr. Ob das Recht auf informationelle Selbstbeschränkung in zulässiger Weise beschränkt wird, hängt davon ab, zu welchem Zweck die Angaben verlangt werden und welche Verknüpfungsmöglichkeiten bestehen61. Damit ist nicht mehr entscheidend, ob die gewünschte Information einem absolut geschützten „Kernbereich" der Persönlichkeit oder dem Bereich angehört, der einen sozialen Bezug hat62. Allerdings werden regelmäßig nur Daten, die diesen Sozialbezug haben, ein legitimes Allgemeininteresse begründen können; auch gibt es bei intimen Daten eine Zumutbarkeitsgrenze und das Verbot der Selbstbezichtigung63. Will der Staat auf personenbezogene Daten seiner Bürger zugreifen, bedarf es einer gesetzlichen Regelung, die den Verwendungszweck bereichsspezifisch und präzise bestimmt, dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entspricht und vor Zweckentfremdung durch Weitergabe- und Verwertungsverbote schützt64. 59 60 61 62

63 64

BVerfGE 65, 1. B V e r f G E 65, 1 (43 f). B V e r f G E 65, 1 (45); ähnlich in B V e r f G E 80, 367 (374). So — im Anschluß an die zivilrechtliche Rechtsprechung zum Persönlichkeitsrecht — noch BVerfGE 27, 1 (6); 34, 238 (246): Zum Problem der „dysfunktionalen" Verwendung personenbezogener Daten BENDA Privatsphäre (Fn. 58) S. 37. Kritisch zu Abwendung von der „Sphärentheorie" M.-E. GEIS Der Kernbereich des Persönlichkeitsrechts, in: J Z 1991, 112. BVerfGE 65, 1 (46). BVerfGE 65, 1 (44, 46).

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2. Kapitel. Grundrechte

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Das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts hat die Diskussion um den Datenschutz intensiviert und zu verstärkten gesetzgeberischen Anstrengungen geführt, die vor allem die Datenerhebung und -weitergäbe im Polizei- und sonstigen Sicherheitsbereich auf eine präzisere rechtliche Grundlage gestellt haben65. Es ist nicht erstaunlich, daß die Entscheidung von 1983 auch vielfacher Kritik ausgesetzt war und die politischen Konsequenzen aus ihr erst nach langwieriger und mühsamer Debatte gezogen worden sind66. Der Konflikt zwischen dem auf Informationen auch personenbezogener Art angewiesenen Staat und dem grundsätzlichen Verfügungsrecht des Bürgers über die ihn betreffenden Daten wird auch künftig und wahrscheinlich noch in zunehmendem Maße die politische und rechtliche Auseinandersetzung bestimmen. Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liefert — schon wegen ihrer Konzentration auf die Datenerhebung für statistische Zwecke — keine abschließenden Antworten auf solche Konflikte. Sie hat aber jedenfalls zu einem verstärkten Bewußtsein für die Probleme des Datenschutzes geführt und die Richtung gezeigt, in der künftige Fragen zu klären sein werden. 37 Der Konflikt zwischen individuellen und Allgemeininteressen kann sich noch verschärfen. Terroristische Gewalttaten haben eine erhebliche Erweiterung der polizeilichen Befugnisse bei der Durchsuchung von Wohnungen bewirkt (§ 103 n. F. StPO, insbes. Abs. 1 S. 2), und die körperliche Durchsuchung jedes einzelnen Flugreisenden, ohne daß dieser durch sein Verhalten irgendeinen Verdacht erregt hätte, ist mittlerweile zu einer — im allgemeinen als notwendig hingenommen — Alltäglichkeit geworden. Der Fortschritt der Technik bewirkt erhöhte Gefährdungen, denen bislang nicht anders als durch den Rückgriff auf die primitive Vermutung begegnet werden kann, daß jedermann potentiell ein Flugzeugentführer oder ein Terrorist sei. Solange man von einer ernsthaften Gefahrenlage ausgehen muß, gegen die eine wirksame Abhilfe nicht gefunden ist, werden solche Eingriffe hinzunehmen sein. 38 Für das Verhältnis der Bürger zueinander, also vor allem im Bereich des Zivilrechts, hat sich mit der richterrechtlichen Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Anspruch auf eine Privatsphäre durchgesetzt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, wie es unter dem Einfluß des verfassungsrechtlichen Menschenbildes gesehen wird, stellt ein sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar. Es schützt im Zivilrechtsverkehr gegen rechtswidriges Eindringen in den Privatbereich. Auch hier geht es nicht nur um den Schutz des Intimbereichs, also vor allem der Sexualsphäre, sondern in gleicher Weise ζ. B. um Verletzungstatbestände wie heimliche Tonbandaufnahmen oder die unbefugte Offenbarung von Gesundheitszeugnissen67. Die Anerkennung des zunächst nur privatrechtlich bedeutsamen all-

66

Vgl. v o r allem das Bundesdatenschutzgesetz in der Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Datenverarbeitung und des Datenschutzes v o m 20. 12. 1990 (BGBl. I S. 2954). Zu B V e r f G E 65, 1 u.a. STARCK in: v. Mangoldt/Klein/Starck G G (Fn. 2) Art. 2 Rdn. 80 Abs. 1; R. SCHOLZ/R. PITSCHAS Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984; H. SCHNEIDER Urteilsanmerkung, in: D Ö V 1984, 161.

67

ZIPPELIUS i n : B K ( F n . 4 ) R d n . 9 9 f ; STARCK G G ( F n . 2 ) A r t . 2 A b s . 1 R d n . 6 7 f f .

65

§6

Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht (BENDA)

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gemeinen Persönlichkeitsrechts durch die deutsche Rechtsprechung hat die verfassungsrechtliche Diskussion in den USA beeinflußt68. Heute können wir von dort lernen. Frühere Entscheidungen des Supreme Court begnügten sich mit dem Schutz des ehelichen Intimbereichs („the sacred precincts of marital bedrooms"69); heute wird dagegen erkannt, daß um der Menschenwürde willen der gesamte private Bereich gegen die ständig verfeinerten technischen Möglichkeiten seiner Verletzung zu schützen ist70. 3. Die genetische Manipulation des Menschen Die beim Erscheinen der 1. Auflage dieses Handbuches nur in ersten Umrissen 39 erkennbaren Folgen des medizinischen Fortschritts und neuartiger Methoden der Humangenetik haben seither zu einer Fülle politischer, sozialethischer und rechtlicher Stellungnahmen geführt 71 . Dabei konzentriert sich die juristische Diskussion auf die Frage, ob das Gebot der Achtung der Menschenwürde den Gesetzgeber zu Maßnahmen verpflichtet, mit denen den Gefahren einer humangenetischen Manipulation des Menschen begegnet werden könnte, während sich die Befürworter der neuen Techniken auf die Freiheit der Forschung (Art. 5 Abs. 3 GG), aber auch auf das Recht der Betroffenen zur Selbstbestimmung berufen72. Die ersten Schritte, mit denen der Gesetzgeber durch das Verbot der Vermittlung von „Ersatzmüttern" für 68

69 70 71

72

KRAUSE The Right to Privacy, in: German-Pointers for American Legislation?, D u k e L a w Journal 1965, 481. So in Griswold vs. Connecticut, 381 U. S. 479 (485). So schon BEANEY Privacy (Fn. 51) S. 254. Eine zusammenfassende Darstellung der Stellungnahmen vor allem im Bereich der Politik, der Verbände und der zum Studium der Problematik eingesetzten Kommissionen bei H. THEISEN Bio- und Gentechnologie — eine politische Herausforderung, 1991. Aus der umfangreichen Literatur: R. BECKMANN Embryonenschutz und GG, in: Z R P 1987, 80 ff; E. BENDA Menschenwürde (Fn. 35); DERS. Humangenetik und Recht, in: N J W 1985, S. 1731; H. DÄUBLER-GMELIN Künstliche Befruchtung und Anwendung gentechnologischer Methoden am Menschen, in: FS Simon, 1987, S. 485; E. DEUTSCH Rechtliche Aspekte der GenManipulation, in: ZRP 1978, 228; W. EBERBACH Forschung an menschlichen Embryonen, in: ZRP 1990, 217 ff; C. ENDERS Probleme der Gentechnologie in grundrechtsdogmatischer Sicht, in: MELLINGHOFF/TRUTE ( H r s g . ) D i e L e i s t u n g s f ä h i g k e i t d e s R e c h t s , 1988, S. 157; E . FECHNER

Menschenwürde und generative Forschung und Technik, in: J Z 1986, 653; J . FEICK Rechtliche und ethische Grenzen von Wissenschaft und Forschung, in: BayVBl. 1986, 449; C. FLÄMIG Die genetische Manipulation des Menschen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 3/1985, 3; Η. HOFMANN Biotechnik, Gentherapie, Genmanipulation, in: J Z 1986, 253; W. KLUTH Recht auf Leben und Menschenwürde als Maßstab ärztlichen Handelns im Bereich der Fortpflanzungsmedizin, in: Zeitschr. f. Politik 1989, 115; W. KLUXEN Fortpflanzungstechnologie und Menschenwürde, in: Allg. Zeitschr. f. Philosophie 1986, 1, W. LAUFF Der Gesetzgeber und das „Retortenbaby", in: ZRP 1984, 279; P. LERCHE Verfassungsrechtliche Aspekte der Gentechnologie, in: R. LUKES/R. SCHOLZ (Hrsg.) Rechtsfragen der Gentechnik, 1986, S. 88; M . PAP die Würde des werdenden Lebens in vitro, in: MedR 1986, 229; G. PÜTTNER/K. BRÜHL Fortpflanzungsmedizin, Gentechnologie und Verfassung, in: J Z 1987, 529; C. RADEMACHER Verhinderung der genetischen Inquisition, in: ZRP 1990, 380; E. RIEDEL Gentechnologie und Embryonenschutz als Verfassungs- und Regelungsproblem, in: E u G R Z 1986, 469; J . SPIEKERKÖTTER Verfassungsfragen der Humangenetik, Diss. Freiburg 1989; W. GRAF VITZTHUM Gentechnologie und Menschenwürdeargument, in: ZRP 1987, 33.

180

2. Kapitel. Grundrechte

eine Adoption73 und durch den Schutz menschlicher Embryonen gegen ihre mißbräuchliche Verwendung, gegen die künstliche Veränderung menschlicher Keimbahnzellen sowie gegen das Klonen und die Chimären- und Hybridbildung74 auf die neuartigen Herausforderungen reagierte, lassen noch erhebliche Streitfragen offen. Sie sind aber doch ein Beispiel für eine gelungene Bildung eines Grundkonsenses, der von der nahezu einhelligen Uberzeugung getragen wird, daß der genetischen Manipulation des Menschen selbst dann Grenzen gesetzt werden müssen, wenn diese in guter Absicht erfolgt, etwa um Erbkrankheiten zu beseitigen. 40

Die medizinisch-biotechnischen Methoden, mit denen die in-vitro-Fertilisation und die eigentliche Humangenetik arbeiten, unterscheiden sich qualitativ von den herkömmlichen Mitteln der Heilbehandlung oder — allgemeiner — der „Verbesserung" des Menschen, der ja auch schon seit jeher durch Erziehung oder staatliche Zwangsmittel in der Gefahr der Manipulation gestanden hat. Wenn es gelingt, durch Eingriff in die menschliche Keimbahn die genetische Ausstattung zu verändern, wird nicht nur der jeweils betroffene Mensch, sondern es werden alle seine Nachkommen in der gewünschten Weise manipuliert. Damit wird der Mensch selbst in seinem Wesen beeinflußt. Dies ist ein radikaler Schritt, der auch nach einem neuen Verständnis der Menschenwürde fragt. Bisher war anerkannt, daß sie nicht das normativ gedachte Bild vom Menschen, sondern den jeweils konkret betroffenen Menschen schützen will 75 . Hieraus folgt zunächst, daß das Gebot der Achtung der Menschenwürde den Einzelnen auch vor solchen Eingriffen schützt, die um des vermeintlichen Wohls der Menschheit willen erwogen werden. Würde aber zugelassen, daß das Wesen des Menschen selbst verändert würde, so müßte dies die zwar noch nicht lebenden, aber künftig konkret vorstellbaren Menschen betreffen76. So geht es nicht um ein abstraktes Bild vom Menschen, sondern um das Schicksal späterer Generationen, für die heute Verantwortung besteht.

41

Zweifellos handelt es sich bei den erst in neuerer Zeit entwickelten Methoden der künstlichen Befruchtung und erst recht bei den durch die Humangenetik geschaffenen Möglichkeiten um neuartige Fragestellungen, deren Problematik bei Schaffung des Grundgesetzes nicht erkennbar war. Hieraus kann aber nicht geschlossen werden, daß die Entscheidung hierüber nicht in den Willen des Verfassungsgebers aufgenommen war77. Das Gebot, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, bezieht sich auf jede Form der Bedrohung, gleichgültig, ob sie 1949 schon bestand oder als solche erkennbar war. Das unbedingte Gebot des Art. 1 Abs. 1 GG würde verengt, wenn es als lediglich auf die damals bekannten, aus der Zeit des National73

74 75

Adoptionsvermittlungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung v o m 27. 11. 1989, GGB1. I S. 2016, §§ 1 3 a — 1 3 d . Embryonenschutzgesetz v o m 13. 12. 1990, BGBl. I S. 2746. V. M Ü N C H G G ( F n . 2 ) R d n . 8 ; Z I P P E L I U S i n : B K

( F n . 4 ) A r t . 1 R d n . 5 5 ; BENDA E r p r o b u n g

der

( F n . 2 ) A r t . 1 R d n . 8; BENDA M e n s c h e n w ü r d e ( F n . 3 5 ) S . 2 1 ; ZIPPELIUS in:

BK

Menschenwürde (Fn. 35) S. 21 f. 76

v. M Ü N C H G G

(Fn. 4) Art. 1 Rdn. 55. 77

S o ZIPPELIUS in: B K

(Fn. 4) A r t . 1 R d n . 78.

§6

Menschenwürde und Petsönlichkeitsrecht (BENDA)

181

Sozialismus deutlich bewußten Gefahrdungen78 beschränkt ausgelegt würde. In einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Demokratie werden solche offenkundigen Verletzungsvorgänge im allgemeinen auszuschließen sein. Neuartige Bedrohungen der Menschenwürde, wie sie sich durch den technischen Wandel in vielfaltiger Weise ergeben haben (so auch durch die schon erörterten Möglichkeiten der automatischen Datenverarbeitung) bedürfen ebenso einer Antwort wie die seit jeher bekannten Gefährdungen. Die Verfassung ist zugleich „in die Zeit hinein offen", ermöglicht also der politischen Entscheidung die jeweils sachgerechte Reaktion auf sich neu stellende Fragen79. Sie ist aber auch dort, wo sie die staatliche Tätigkeit auf grundlegende Zielvorstellungen verpflichtet, entschieden und keiner Relativierung zugänglich. Aus Art. 1 Abs. 1 GG folgt die Unverfügbarkeit menschlicher Würde. Was jeweils aus dem Gebot folgt, sie zu achten, ergibt sich aus der historischen Entwicklung und dem jeweiligen Stand der Erkenntnis. Einen Anspruch auf „zeitlose Gültigkeit" haben weder die Vorstellungen der Schöpfer der Verfassung noch die heute bestehenden Auffassungen80. Gewiß sind die bisherigen Bemühungen, die sich aus Fortpflanzungsmedizin 42 und Humangenetik ergebenden Möglichkeiten am Maßstab der Menschenwürde zu bewerten, vielfach unsicher und in ihren Ergebnissen kontrovers. Die bisher gefundenen gesetzlichen Antworten spiegeln nur einen Minimalkonsens wider, der hinsichtlich einiger Einzelregelungen auch nur eine Diskussion (vorläufig) beendet hat, die unterschiedliche rechtliche und sozialethische Bewertung offenlegte, so etwa hinsichtlich der Zulässigkeit der „Leihmutterschaft" oder der (begrenzten) Möglichkeit der Verwendung von Embryonen für Zwecke der Forschung81. Dogmatisch unanfechtbare Antworten auf solche und viele andere Probleme, die sich aus einer positiven Bestimmung des Begriffs der Menschenwürde herleiten ließen, sind kaum möglich. Die bisherigen Versuche, die Würde des Menschen zu definieren, versagen jedenfalls gegenüber der neuartigen Bedrohung82. Es ist aber möglich, in einem beständigen Versuch der Konsensbildung jene Rechtskultur zu entwickeln, die für die Auslegung des Begriffs der Menschenwürde wenigstens Anhaltspunkte liefert83. Insofern ist es erfreulich, daß der Gesetzgeber das Problem erkannt und sich um Antworten bemüht hat, so wenig auch das bisherige Ergebnis befriedigen mag. Die Methode, sich der neuen Gefährdung der Menschenwürde bewußt zu werden und ihr zu begegnen, ist nicht dogmatisch, sondern heuristisch. Es ist die von Hans Jonas zum Verständnis der Menschenwürde empfohlene Methode der „Heuristik der 78 79

80 81

82 83

Vgl. BVerfGE 1, 97 (104). Zur Offenheit der Verfassung K . H E S S E Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl. 1991, Rdn. 22 ff. Zur Zeitbedingtheit des Verständnisses der Menschenwürde vgl. BVerfGE 45, 187 (229). So viele der in Fn. 72 genannten Autoren, ferner ZIPPELIUS in: BK (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 5 1 , 76 f; H A B E R L E HdBStR Bd. 1 (Fn. 2) § 20 Rdn. 84 ff; P O D L E C H A K - G G (Fn. 2) Rdn. 53; S T A R C K in: v. Mangoldt/Klein/Starck G G (Fn. 2) Art. 1 Rdn. 69. Hierzu B E N D A Menschenwürde (Fn. 35) S. 22 ff. Hierzu P. H A B E R L E in: Rechtstheorie ( I I ) S. 3 8 9 ff, 4 0 3 ff; D E R S . HdBStR Bd. 1 (Fn. 2 ) § 2 0 Rdn. 4 6 ff.

2. Kapitel. Grundrechte

182

Furcht": „Wir brauchen die Bedrohung des Menschenbildes, um uns im Erschrecken davor eines wahren Menschenbildes zu versichern"84. 43 Während die homologe in-vitro-Fertilisation unter Eheleuten ganz überwiegend als eine neue Behandlungsmethode zur Beseitigung biologisch oder medizinisch bedingter Unfruchtbarkeit angesehen wird, gegen die grundsätzliche Bedenken nicht zu erheben sind, wirft die heterologe Insemination jedenfalls dann erhebliche Bedenken aus Art. 1 Abs. 1 GG auf, wenn der Samen eines anonymen Spenders oder ein Samengemisch verwendet wird 85 . Die Frage der Anonymität des Samenspenders steht im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Überlegungen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG umfaßt auch das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung86. Eine uneingeschränkte Anonymität berührt vor allem das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner eigenen Abstammung. Die Menschenwürde besteht in der Fähigkeit, sein Leben in eigener Verantwortung zu bestimmen und zu gestalten. Zur Selbstbestimmung und Selbsterfahrung gehört auch das Wissen um die eigene Herkunft. Ist der Mensch als geschichtliches Wesen zu begreifen, ist die Kenntnis der eigenen Identität ebenso wichtig wie die Möglichkeit, für die Zukunft „Nachwuchs" zu planen. Insofern wird die Menschenwürde des Kindes betroffen. Daneben wird auf die fehlende personale Gemeinschaft der Frau mit dem Samenspender, die Zurückdrängung des Ehemannes, die Herabwürdigung des Spenders als Mittel fremder Zwecke, die Gefahr der Kommerzialisierung durch geschäftsmäßige Samenbanken hingewiesen87.

III. Ausblicke 1. Technisierung der Staatstätigkeit 44 Die fortschreitende Technisierung der modernen Industriegesellschaft eröffnet die Chance wachsenden Wohlstandes, birgt aber zugleich die Gefahr zunehmender Abhängigkeit von technisch bedingten und gesteuerten Prozessen. Auch der Staat bedient sich zunehmend der Möglichkeiten der Technisierung und der Automatisierung, um die vielfältig gesteigerten Anforderungen an seine Leistungskraft erfüllen

84

H. JONAS Das Prinzip Verantwortung, 1980, S. 63 f; ähnlich schon DÜRIG in: Maunz/Dürig G G

85

DÜRIG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 39; M. BALZ Heterologe künstliche Samenübertragung beim Menschen, 1980, S. 15 ff; STARCK in: v. Mangoldt/Klein/Starck G G (Fn. 2)

( F n . 4 ) A r t . 1 R d n . 2 8 ; VON M Ü N C H G G

(Fn. 2) A r t . 1 R d n .

14.

A r t . 1 Rdn. 69; E. BENDA in der 1. A u f l a g e dieses Handbuchs, 1983, S. 1 2 0 f ; a. M. ZIPPELIUS

in: BK (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 91. 86

87

B V e r f G E 79, 2 5 6 (268 f); BALZ Heterologe Samenübertragung (Fn. 85) 1 5 f f ; H. DEICHFUSS

Recht des Kindes auf Kenntnis seiner blutsmäßigen (genetischen) Abstammung?, in: N J W 1988, 113; D. GIESEN Genetische Abstammung und Recht, in: J Z 1989, 364; N. MANSEES Jeder Mensch hat ein Recht auf Kenntnis seiner genetischen Herkunft, in: N J W 1988, 2984; PODLECH A K - G G (Fn. 2) Art. 1 Abs. 1 Rdn. 51; S. SMID Recht auf Kenntnis der eigenen blutsmäßigen Abstammung, in: JR 1990, 221. Weitere Nachweise bei BALZ Heterologe Samenübertragung (Fn. 85) S. 11.

§6

Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht (BENDA)

183

zu können. Die hiermit verbundene Versuchung, immer tiefer in die Privatsphäre einzudringen, ist nur ein Aspekt des Problems. Der zur Daseinsvorsorge verpflichtete Staat muß planend vorausdenken. Staatliche Planung kann den Raum individueller Lebensentscheidungen einengen, während Technisierung der Verwaltung den Einzelnen zu ihrem Objekt machen kann. Beide Vorgänge berühren die Würde des Menschen. Der Einzelne sieht sich dem weitgehend hilflos ausgeliefert. Die als Folge der Erschütterungen und Katastrophen dieses Jahrhunderts verbreitete Sehnsucht nach Sicherheit und zugleich das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Gefahrdungen des Lebens im technischen Zeitalter verstärken noch die Bereitschaft, sich der Fürsorge des Staates anzuvertrauen. Die Technisierung des Lebens vollzieht sich zunächst im wirtschaftlichen und 45 gesellschaftlichen Bereich. Der Staat hat sich nur zögernd mit in der Wirtschaft längst bekannten modernen Arbeitsmethoden vertraut gemacht. Eine Rückkehr zu den Verhältnissen des vortechnischen Zeitalters wäre kaum vorstellbar, wenn auch manche Zukunftsutopien eine Wiederherstellung der natürlichen Umweltbeziehungen des Menschen anstreben88. Die Rückkehr zu bereits überwundenen Formen einer Gefährdung der Menschenwürde, etwa der Ausbeutung der arbeitenden Menschen und der Armut breiter Bevölkerungskreise, kann gewiß nicht erstrebenswert erscheinen. Wenn aber der Staat im Interesse des materiellen Wohlstandes und der sozialen Sicherheit seiner Bürger die industrielle Entwicklung duldet und fördert, ist er um so mehr verpflichtet, den sich hieraus ergebenden besonderen Gefährdungen entgegenzuwirken. Arbeitsrecht und Umweltschutz konkretisieren den Schutz der Menschenwürde für die heute gegebene Situation. Auch das bei der Verkürzung des natürlichen Lebensraumes immer dringlicher werdende Problem der räumlichen Enge bedarf einer Antwort: Je enger die Menschen aneinander rücken müssen, desto stärker wird der Anspruch des Einzelnen auf Schutz seiner Privatsphäre. Die Staatstätigkeit kann nicht hinter der allgemeinen gesellschaftlichen Ent- 46 wicklung zurückbleiben. Sonst würden in dem Maße, in dem der Staat auf die Entwicklung und Realisierung zukunftsorientierter Konzepte verzichtet, gesellschaftliche Kräfte den Leerraum ausfüllen und den Herrschaftsanspruch des Staates gefährden. Auch die Indienstnahme der Technik zu einer Modernisierung der Verwaltung ist nicht schon an sich bedenklich. Viele Staatsaufgaben, die Massen- oder Routinefragen betreffen, können anders als mit Hilfe der Technik nicht mehr bewältigt werden. Hiergegen ist jeder Protest sinnlos. Da im Straßenverkehr oder bei anderen Erscheinungsformen des technischen Zeitalters Leben, Gesundheit und Eigentum aller nur mit Hilfe einer allgemeinverbindlichen Ordnung geschützt werden können, ist es abwegig, in dem durch die Straßenverkehrsordnung erzwungenen Gehorsam gegenüber automatischen Verkehrssicherungsanlagen einen Angriff auf

88

Vgl. H. KLAGES Planungspolitik, Probleme und Perspektiven zur umfassenden Zukunftsgestaltung, 1971.

184

2. Kapitel. Grundrechte

die Menschenwürde zu sehen, weil diesen eine „Roboter"-Eigenschaft zugeschrieben wird 89 . 47 Hieraus folgt aber nicht, daß der Staat seine Beziehungen zu den Bürgern nach Belieben technisieren dürfte. Die in der Technik schlummernden und oft heute erst in Ansätzen zu erahnenden Möglichkeiten bedeuten Versuchungen, denen nicht ungeprüft nachgegeben werden darf. So scheint es, um das Problem an einem extremen Beispiel zu illustrieren, technisch heute schon möglich zu sein, bestimmte Straftäter mit Hilfe von „Gehirnmonitoren" zu überwachen und die auf diese Weise erkannten schädlichen Neigungen rechtzeitig mit Hilfe von Elektroschocks zu bekämpfen 90 . Diese vermeintlich humanere Spezialprävention macht Strafhaft überflüssig und spart möglicherweise Geld. Die gute Absicht mag unterstellt werden. In anderen Ländern werden aber heute schon politisch unbequeme Bürger nicht mehr als Kriminelle, sondern als Geisteskranke behandelt. Am Ende des Weges stünde die Zerstörung der Menschenwürde unter der Fahne der Humanität. 48

Ein auf die Achtung der Menschenwürde verpflichteter Staat muß sich bei der Beurteilung neuer technischer Möglichkeiten, von denen oft eine große Faszinationskraft ausgehen mag, des nur sehr schmalen Grades bewußt bleiben, der zwischen solchen offenkundigen Verletzungen des Art. 1 Abs. 1 GG und den vielleicht noch zulässigen, heute leider alltäglichen Uberwachungsmethoden liegt. Die Kontrolle von Kaufhausbesuchern durch versteckte Fernsehkameras, die durch Automaten gesteuerte Torkontrolle in Großbetrieben oder die routinemäßige körperliche Durchsuchung aller Fluggäste gehören zur heutigen Lebenswirklichkeit. Manches mag notwendig sein; erfreulich ist es nicht, wenn der „mündige Bürger" als potentieller Dieb oder Terrorist behandelt wird. 2. Die Verplanung des Menschen

49 Die künftige Staatstätigkeit wird zunehmend von der Planung beherrscht werden. Planung als der „systematische Entwurf einer rationalen Ordnung auf der Grundlage alles verfügbaren einschlägigen Wissens" 91 ist eine an sich nicht zu beanstandende Tendenz vorausschauender Staatstätigkeit 92 . Ihre Verketzerung als Mittel der Unfreiheit wäre ebenso sinnlos wie die Forderung, daß der Staat sich nicht moderner technischer Hilfsmittel bedienen dürfe. Aber hier wie dort ergeben sich Gefahren, wenn auch die teilweise vorhandene Planungseuphorie, die „modern sein" und „mit der Zeit gehen" will, dazu neigt, jedes Bedenken als Zeichen gesitiger Erstarrung zu bewerten. 85

H. SCHIRRMACHER Gehorsam für automatische Farbzeichen, in: D Ö V 1957, 146 f. Ein ähnlicher Gedanke in BVerfGE 22, 21 (28): Ladung zum Verkehrsunterricht verletzt nicht die Menschenwürde. Weitere Beispiele einer mit abwegigen Argumenten behaupteten Verletzung der Men-

50

KAMLAH Right of Privacy (Fn. 51) S. 37; Einzelheiten in: Anthropoelementary: Dr. Schwitzgebel's Machine, Harvard Law Review Bd. 80 (1966/67) 403. J. H. KAISER in: Planung Bd. 1, S. 7; grundlegend zu den Fragen der Planung das von KAISER herausgegebene Sammelwerk Planung Bde. 1—3, 1965ff. BVerfGE 27, 1 (7).

s c h e n w ü r d e bei VON MÜNCH G G (Fn. 2) A r t . 1 Rdn. 4.

91

52

§6

Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht (BENDA)

185

Staatliche Planung darf nicht zu einer Verplanung des Menschen führen. Die Menschenwürde wird verletzt, wenn der Mensch zum reinen Objekt staatlicher Planung gemacht wird. Die größte Gefahr liegt in der Versuchung, anzunehmen, daß eine mit wissenschaftlichen Methoden unter Verwendung von unbeirrbaren Hilfsmitteln z. B. der Computertechnik entwickelte Planung eigentlich nicht falsch sein kann. Sie muß den Anspruch erheben, die technisch-wissenschaftlich garantierte Wahrheit zu sein. Dagegen ist jede Opposition unvernünftig. Wer sich dem Plan nicht unterwirft, ist bei wohlwollender Betrachtung ein Teil der „Humanbarriere", d. h. derjenigen „Bewegungen" und „Verhärtungen"93, also der menschlichen Unvernunft, die es wagt, eigene Gedanken gegen die Logik des Plans zu setzen. Wer dem Plan nicht gehorcht, zeigt böse Absichten, er wird zum „Planungsfeind", um den man sich kümmern muß, weil die Verletzung der Planverpflichtung ein schweres Verbrechen darstellt94. Eine solche Entwicklung muß nicht die Folge eines bewußten Rückfalls in 50 totalitäre Tendenzen sein, also von der Absicht getragen sein, sich die Menschen mit Hilfe der Technik zu unterwerfen. GEORGE O R W E L L ' S „ 1 9 8 4 " mag eine unrealistische Vision sein95; das Symboljahr ist vorübergegangen, ohne daß sich die vorhergesagte Gefahr realisiert hat. Die wirkliche Gefahr ist weniger die Unterwerfung der Menschen durch Menschen, also die subjektive Despotie mit Hilfe der Technik, als vielmehr die politische Herrschaft der Technik selbst, die freilich ihre Nutznießer finden wird. Schon jetzt besteht in jeder parlamentarischen Demokratie ein Konflikt zwischen 51 dem freien, die Möglichkeit von Irrtümern und Fehlentscheidungen einkalkulierenden Prozeß der Staatswillensbildung und der zunehmenden Bürokratisierung des Staates. Bürokratisierung trägt die notwendige Sachkunde bei, aber bei extremer Entwicklung begrenzt sie die Möglichkeit zu spontanem Verhalten und zu autonomer Entscheidung. Die Entscheidung der Machtinhaber werden entpersönlicht; der wachsenden Kontrollierbarkeit der Menschen entspricht eine zunehmende Unkontrollierbarkeit der Bürokratie96. Je mehr die Staatstätigkeit geplant, also mit Hilfe von Wissenschaft und Technik rational zielorientiert und vollzogen wird, desto weniger Bedarf besteht für Diskussion und Kampf um den richtigen politischen Weg. Dieser wird nicht mehr aus mehreren miteinander konkurrierenden, prinzipiell gleichwertigen Alternativen gefunden, sondern ergibt sich aus der wissenschaftlich einwandfreien Ermittlung der einzig richtigen Entscheidung. Es wird sinnlos, über Alternativen zu streiten, wenn es nur eine Wahrheit gibt; allenfalls die Qualität der Methoden, also die Seriosität der Arbeit, nicht aber ihr Ziel darf in Zweifel gezogen

93

KLAGES P l a n u n g s p o l i t i k ( F n . 8 8 ) S. 2 3 .

94

KLAGES P l a n u n g s p o l i t i k ( F n . 8 8 ) S. 1 0 3 ; G . W . WITTKÄMPER P l a n u n g s i d e o l o g i e n i n d e r P o l i t i k ,

in: liberal 1969, 60 (zur Gefahr der „totalitären Planmystik"); H. SCHELSKY Die sozialen Folgen der Automatisierung, 1957, S. 19. 95

96

K L A G E S P l a n u n g s p o l i t i k ( F n . 8 8 ) S . 1 0 2 ; E . FORSTHOFF D e r S t a a t d e r I n d u s t r i e g e s e l l s c h a f t ,

S. 79. R. F. BEHRENDT Menschenwürde als Problem der sozialen Wirklichkeit, 1 9 6 7 , S. 3 6 ff.

1971,

2. Kapitel. Grundrechte

186

werden. Bisher hat nur der totalitäre Staat die Wahrheit für sich beansprucht und vorgegeben, genau zu wissen, worin das Gemeinwohl besteht und wie es zu verwirklichen ist. Der Demokratie ist ein absoluter Wahrheitsanspruch fremd; sie ist „zugleich zuversichtlicher und unsicherer" 97 . Menschenwürde ist verantwortungsbewußte Entscheidung zwischen Alternativen 98 . Auch der Irrtum ist ein Schritt auf dem Wege zur Wahrheit. Er wird nicht nur toleriert, sondern auch respektiert, weil es so sicher nicht ist, wo der Irrtum und wo die Wahrheit liegt. Planungspolitik steht demgegenüber in der Gefahr, über das „beschränkte Einsichtsniveau der Menschen" hinwegzuentscheiden, ja diese einer Umprogrammierung zu unterziehen, also den Menschen an den Plan anzupassen 99 . 52

Damit sind wenigstens die äußersten Grenzen staatlicher Planungsbefugnisse markiert. Die zunehmende Bedeutung, die der Planung als einer zeitgemäßen Methode staatlichen Handelns beigemessen wird, läßt sich durch die Komplexität und den wachsenden Umfang der Aufgaben rechtfertigen. So wie der Einzelne seine Lebensgestaltung vorausschauend vorbereitet, darf und soll auch der Staat künftige Probleme erforschen und sein Handeln an den Ergebnissen wissenschaftlich fundierter Untersuchungen orientieren. Aber es besteht die Gefahr, daß in der Sicht des Planenden, der sich im Besitz der Wahrheit meint, die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung als ein eher lästiges Hindernis auf dem Wege zur Perfektion des Staatshandelns erscheint. So entsteht die Versuchung, die Planung totalitär zu übersteuern. Achtung und Schutz der Menschenwürde müssen auch künftig oberste Leitlinie staatlichen Handelns sein. Sie haben Vorrang vor der Perfektionierung des Planens. Auch das Recht ist „Vorgriff auf die Zukunft der Gesellschaft" 100 . 3. Selbstbestimmung und ihre Grenzen

53 Die zunehmende Unterwerfung des Menschen unter die staatliche Planung und die hieraus resultierende Abhängigkeit werfen die Frage nach dem Inhalt der Menschenwürde in ihrem klassischen Verständnis auf. Wenn der Mensch, wie oben erörtert 101 , nicht zum „bloßen Objekt" staatlichen Handelns gemacht werden darf, so kann er das Recht auf eigenverantwortliche Lebensgestaltung, also auf Selbstbestimmung beanspruchen. Das Verlangen des Menschen nach Selbstbestimmung ist in den letzten Jahren zu einem beherrschenden Thema geworden. In den oft leidenschaftlich geführten Debatten über viele innenpolitisch umstrittene Themen ist dies der Punkt, an dem sich die Meinungen scheiden. Die Diskussion um die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs wird von dem Anspruch betroffener Frauen beherrscht, selbst über Fortsetzung oder Abbruch der Schwangerschaft zu entscheiden. Ent97

98 99

100 ,0 '

J. RIEDEL Gemeinwohl und Person, in: Politische Vierteljahresschrift, 1961/62, 224; E. BENDA Industrielle Herrschaft und sozialer Staat, 1966, S. 123. BEHRENDT Menschenwürde (Fn. 96) S. 42. KLAGES Planungspolitik (Fn. 88) S. 1 1 0 .

H. SCHELSKY Soziologisches Planungsdenken über die Zukunft, in: Universitas 1970, II, S. 1251. Vgl. o. Rdn. 15 ff, 20.

§6

Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht (BENDA)

187

sprechende Forderungen werden auch hinsichtlich der Anwendung der Methoden der in-vitro-Fertilisation erhoben102. Das Recht auf „informationelle Selbstbestimmung" hat seit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts die rechtspolitischen Auseinandersetzungen über den Datenschutz beeinflußt. Seit durch medizinisch-technische Methoden lebensverlängernde Maßnahmen in früher unbekanntem Ausmaß möglich geworden sind, ergibt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der unheilbar Kranke ein Recht hat, über Art und Zeitpunkt seines Todes selbst zu entscheiden; das Recht auf „Würde im Sterben" ist zur Verfassungsfrage geworden103. Den beispielhaft genannten Bereichen ist gemeinsam, daß ein achtenswertes 54 Interesse des betroffenen Menschen daran besteht, über existentielle oder doch für seine Lebensgestaltung sehr wesentliche Konfliktsituationen selbst zu bestimmen, andererseits aber auch Rechte anderer oder gewichtige Gemeinschaftsinteressen anzuerkennen sind, die gefährdet werden könnten, wollte man nur auf die jeweils richtige Entscheidung des Betroffenen vertrauen. Es reicht nicht aus, wenn die Rechtsordnung sich ihrer Verantwortung entzieht, indem sie einen „rechtsfreien Raum" anerkennt, sich „der Wertung enthält und diese der eigenverantwortlichen Entscheidung des Einzelnen überläßt104". Das Gesetz ist „auch bleibender Ausdruck sozialethischer und — ihr folgend — rechtlicher Bewertung menschlicher Handlungen; es soll sagen, was für den Einzelnen Recht und Unrecht ist105". Eben diese vom Bundesverfassungsgericht in dem äußerst kontroversen Zusam- 55 menhang mit der Abtreibungsdiskussion bestimmte Aufgabe der Rechtsordnung steht aber im Mittelpunkt der Kritik. Da der Staat bei jeder rechtlichen Regelung beachtliche Gemeinschaftsinteressen reklamieren kann und das Menschenbild des Grundgesetzes von der Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit des Menschen ausgeht106, ist der Gesetzgeber auf die Aufgabe verwiesen, eine Regelung zu suchen, die die Belange der Allgemeinheit wahrt, aber den „Eigenwert" der Person nicht antastet und ihre „Eigenständigkeit" wahrt107. Dies bedeutet nicht die Freigabe der Problemlösung zur rechtspolitischen Entscheidung, die sich entweder für den Vorrang des Selbstbestimmungsrechts oder den der Gemeinschaftsbelange entscheidet108. Ist, wie beim Schwangerschaftsabbruch, ein Ausgleich der miteinander konkurrierenden grundgesetzlich geschützten Positionen nicht möglich, so muß dem höherrangigen Rechtsgut der Vorrang gegeben werden109. Auch hierbei sind aber Grenzen der Zumutbarkeit zu beachten: Wenn — im Einzelfall — die Entscheidung der Frau zum Abbruch einer Schwangerschaft den Rang einer „achtenswerten Gewissensent102 103

104 105 106 107 108 105

Hierzu deutlich Z I P P E L I U S in: BK (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 91. Ein solches ausdrücklich benanntes Recht enthält die Verfassung des Landes Brandenburg (Art. 8 Abs. 1). BVerfGE 93, 1 (44) (zum Schwangerschaftsabbruch). BVerfGE 39, 1 (59). Vgl. oben Rdn. 5 ff. BVerfGE 4, 7 (16 f). So aber ZIPPELIUS in: BK (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 91 zur (anonymen) heterologen Insemination. BVerfGE 39, 1 (42 f).

2. Kapitel. Grundrechte

188

Scheidung" hat, darf der Staat hierauf nicht mit den Mitteln des Strafrechts reagieren110. Welche Mittel zum Schutz des ungeborenen Lebens einzusetzen sind, hat grundsätzlich der Gesetzgeber zu entscheiden; doch müssen sie effektiv sein. Hierüber mag politisch gestritten werden. Bedenklich ist jedoch die in der Abtreibungsdebatte teilweise erkennbare Tendenz, nach einer Regelung zu suchen, die auf eine Bewertung des individuellen Falles überhaupt verzichtet und sich mit der Hoffnung begnügt, es werde durch die Betroffene eine angemessene, verantwortbare Entscheidung getroffen werden. Dies ist ein Verständnis von Selbstbestimmung, das diese verabsolutiert. Nicht schon der bloße Umstand, daß die Rechtsordnung Regeln aufstellt, denen der Einzelne unterworfen ist, macht den Bürger zum Objekt der Staatsgewalt111. Vielmehr ist die Staatsgewalt selbst dem Recht unterworfen, und sie ist demokratisch legitimiert. Verletzt sie Grundrechte, so ist hiergegen Gegenwehr möglich. So ist der Bürger auch insoweit, als er sich der Rechtsordnung fügen muß, nicht bloßes Objekt, sondern er „bleibt lebendiges Glied der Rechtsgemeinschaft"112. Besteht die Gefahr, daß ohne eine rechtliche Regelung Grundrechte anderer oder verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen verletzt werden, so ist der Staat zum Eingreifen nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. 56 Während in den mit dem Schwangerschaftsabbruch und der Anwendung der Fortpflanzungsmedizin ebenso wie im Bereich des „Rechts auf informationelle Selbstbestimmung" eine angemessene Konfliktlösung gefunden werden muß, die Einzelund Allgemeininteressen zum Ausgleich bringt oder, soweit dies nicht möglich ist, dem schutzbedürftigeren Interesse den Vorrang einräumt, geht es in der Grenzsituation des nahen Todes vor allem und in erster Linie um den sterbenden Menschen. Er hat schon aus Art. 1 Abs. 1 GG einen keiner weiteren Begründung bedürftigen Anspruch auf Achtung und Wahrung seiner Würde. Daß dem in der Art und Weise, in der Sterbende in Krankenhäusern, Heimen und auch im privat-familiären Bereich behandelt und gepflegt werden, entsprochen wird, ist ebenso selbstverständlich, wie es leider in der Realität nicht selten vergessen wird. Die wichtigste Hilfe, die neben der Linderung von Schmerzen und unnötigem Leiden in der menschlichen Zuwendung im Sinne einer Begleitung des Sterbens besteht, kann die Rechtsordnung nicht erzwingen. Doch kann sie wenigstens den eindeutigen Willen des Sterbenden respektieren, daß sein Leben nicht durch Anwendung medizinischer Technik verlängert wird. Jedenfalls die passive Sterbehilfe — also die Achtung vor dem Wunsch des Sterbenden, eine lebensverlängernde Behandlung zu unterlassen —, ist durch Art. 1 Abs. 1 GG nicht nur zugelassen, sondern insoweit auch geboten113. Widerspricht die Anwendung intensivmedizinischer Technik dem wirklichen oder anzunehmenden

110 111 112 1,3

BVerfGE 39, 1 (48). So zu Recht die abw. Meinung in BVerfGE 30, 33 (42 f). BVerfGE 30, 33 (42 f). ZIPPELIUS in: B K ( A n m . 4) A r t . 1 Rdn. 96; DÜRIG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) A r t . 2 A b s . 2 R d n . 1 2 ; HABERLE H d B S t R Bd. 1 (Fn. 2) § 2 0 Rdn. 9 6 f; PODLECH A K - G G (Fn. 2) H d B S t R Bd. 1 Rdn. 54.

§ 6

Menschenwürde und Persönlichkeitsrecht (BENDA)

189

Patientenwillen, so ist sie rechtswidrig114. Der Schwerstkranke hat einen Anspruch auf Selbstbestimmung, also das Recht, „in Würde sterben zu dürfen"115. Damit verbleiben die Fälle aktiver Sterbehilfe, die ein sinnloses Leiden abkürzen sollen. Ist der Wille des Sterbenden auch unter den Umständen der Grenzsituation noch eindeutig feststellbar und handelt der Arzt aus Mitleid, so mag „im Verhältnis von Medizin und staatlichem Recht nur Diskretion und keiner Diskussion" die einzige verbleibende Antwort sein116. Doch kann die Rechtsordnung nicht darauf verzichten, die äußerst schwierigen Fragen zwischen Hilfe zum (nicht strafbaren) Selbstmord, unterlassener Hilfeleistung oder sogar der Ausnutzung einer hilflosen Lage zur Tötung um eigensüchtiger Zwecke willen so zu beantworten, wie es angeht. Nicht nur die schlimmen Erfahrungen mit dem als „Euthanasie" getarnten Mordprogramm an Hilflosen in der nationalsozialistischen Zeit warnen eindringlich vor der Verfügung über menschliches Leben, die in der Lage des hilflosen, meist einsamen und dem die medizinische Technik beherrschenden Arzt ausgelieferten Patienten mit dessen Selbstbestimmung wenig zu tun hat, ihn vielmehr einer existentiellen Fremdbestimmung unterwirft. So würde auch hier die Schaffung oder Tolerierung eines rechtsfreien Raumes mit Art. 1 Abs. 1 GG kaum zu vereinbaren sein. Die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht befreit nicht von der Verpflich- 57 tung, die verfassungsrechtlich geschützten Wertvorstellungen zu respektieren. Umgekehrt ist es aber nicht Sache des Staates, solche Wertvorstellungen, soweit sie nicht verfassungsrechtliche Anerkennung gefunden haben, dem Einzelnen aufzuzwingen117. Diese Problematik ist in neuerer Zeit vor allem durch das „Peep-Show"Urteil des Bundesverwaltungsgerichts deutlich geworden, in dem das Gericht die Auffassung vertreten hat, die Menschenwürde müsse „wegen ihrer über den einzelnen hinausreichenden Bedeutung auch gegenüber der Absicht des Betroffenen verteidigt werden, seine vom objektiven Wert der Menschenwürde abweichenden subjektiven Vorstellungen durchzusetzen"118. Wenn sich eine Frau freiwillig an einer „Schaustellung von Personen" (§ 33 a GewO) beteiligt, so mag dies nach der Wertung des Gesetzgebers als sittenwidrig angesehen und untersagt werden, weil eine solche Veranstaltung als sozialschädlich betrachtet werden kann. Das Gebot des Art. 1 Abs. 1 GG verlangt aber eine solche Wertung nicht. Der Einzelne kann zwar nicht auf seine Menschenwürde verzichten, aber doch „grundsätzlich selbst bestimmen, wie er sich Dritten oder gegenüber der Öffentlichkeit darstellen will" 119 . Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist zu Recht auf Kritik gestoßen, weil sie 114 115

"6 117

1,8 119

B G H S t 32, 367 ( 3 7 9 F). B G H v o m 8. 5. 1991, N J W 1991, 2 3 5 7 (2358). Z u r Problematik der passiven aktiven Sterbehilfe F. ANSCHÜTZ D e r unheilbar K r a n k e und der sterbende Patient, in: M e d R 1 9 8 5 , 17; A . ESER Sterbewille und ärztliche Verantwortung, in: M e d R 1 9 8 5 , 6; KUTZER Strafrechtliche Überlegungen zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten und zur Zulässigkeit der Sterbehilfe, in: M D R 1985, 710. DÜRIG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4 ) A r t . 2 Abs. 2 Rdn. 11 A n m . 1. B V e r f G E 4 9 , 2 8 6 (298): „Art. 1 Abs. 1 G G schützt die W ü r d e des Menschen, w i e er sich in seiner Invidualität selbst begreift und seiner selbst b e w u ß t wird". B V e r w G E 64, 2 7 4 (280). B V e r f G E 54, 148 (155).

190

2. Kapitel. Grundrechte

den Grundsatz der Menschenwürde zu einem „Wertabsolutismus" verändere 120 . Wie der Einzelne die ihm zukommende Würde versteht und welche Folgerungen er hieraus für seine Selbstdarstellung und persönliche Lebensführung zieht, sollte seiner eigenen Verantwortung überlassen bleiben. Auch hier kann dies nicht schrankenlose Selbstbestimmung bedeuten. Ist ein solches Verhalten sozialschädlich, so muß es nicht hingenommen werden. Der Schutz Dritter oder der Allgemeinheit vor aufdringlichen, sie belästigenden oder gar (etwa Jugendliche) gefährdenden Schaustellungen ist zulässig. Doch geht es um diesen Schutz, nicht um die Vorstellung, daß jemand gegen sich selbst oder gegen ein zweifelhaftes Verständnis seiner Würde geschützt werden müßte. Der Staat hat „nicht die Aufgabe, seine Bürger zu ,bes-

120

121

Η. v. O L S H A U S E N Menschenwürde im Grundgesetz: Wertabsolutismus oder Selbstbestimmung?, in: N J W 1982, 2221; Z I P P E L I U S BK (Fn. 4) Art. 1 Rdn. 81; S T A R C K in: v. Mangoldt/Klein/Starck G G (Fn. 2) Rdn. 21. BVerfGE 22, 180 (219).

§ 7 Kommunikations- und Medienfreiheit W O L F G A N G HOFFMANN-RIEM

Übersicht Rdn. I. Grundkonzept der Kommunikations-und Medienfreiheit . 1. Entfaltung in der Kommunikation und Entfaltung durch Kommunikation . . . 2. Das liberale Konzept der Freiheit als rechtlich gesicherte reale Möglichkeit subjektiver Entfaltung . . . 3. Funktionsbedingungen kommunikativer Entfaltung 4. Der soziale Bezug der Kommunikationsfreiheit 5. Kommunikative Chancengleichheit — Legitimierung von kommunikativen Privilegien 6. Kommunikationsfreiheit als „Rundumfreiheit" 7. Zur „öffentlichen Aufgabe" der Medien II. Art. 5 GG als Grundlage kommunikativer Freiheiten 1. Meinungs- und Informationsfreiheit 2. Medienfreiheit a) Massenkommunikation und Massenmedien . . . b) Zur Besonderheit der Medienfreiheit 3. Schutzbereich III. Regelungsauftrag des Gesetzgebers 1. Ausgestaltungs- und Schrankenregelungen . . . . 2. Gesetzgebungskompetenzen

1—21

1

2—4

5—8 9—11

12 — 17 18 19-21 22 — 33 22, 23 24 24—27 28-32 33 34—40 34, 35 36-38

Rdn. 3. Recht auf Nutzung eines Massenmediums IV. Abwehr von Eingriffen . . . . 1. Schranken, insbesondere die der allgemeinen Gesetze 2. Zensurverbot V. Ausgestaltung der Medienordnung 1. Grundmodelle der Medienregulierung a) Markt-/Konkurrenzmodell b) Integrationsmodell . . . c) Misch- und Kombinationsmodelle 2. Steuerungsinstrumentarium a) Struktursteuerung . . . . b) Verhaltenssteuerung . . 3. Unabhängigkeit der Medienordnung a) Staatsfreiheit b) „Rundumfreiheit" . . . . 4. Vielfaltsdimensionen . . . . 5. Zugangsrechte und Öffnungspflichten 6. Vertriebs- und Verbreitungsvorsorge a) Printmedien b) Telekommunikation . . . 7. Ausgestaltung des arbeitsteiligen Zusammenwirkens im Binnenbereich der Medien 8. Öffentlichkeit als Garant der Medienverantwortung VI. Insbesondere: Markt-/Konkurrenzmodell 1. Zugänglichkeit des Marktes

39, 40 41—47 41 —43 44—47 48 — 74 49 50, 51 52, 53 54 55 55 56 57 57, 58 59 60, 61 62—64 65 66 67 — 69

70-73 74 75 — 96 75

192

2. Kapitel. Grundrechte Rdn.

2. Verklammerung von ökonomischem Wettbewerb und publizistischer Leistung 3. Finanzierungsmodalitäten und publizistische Leistung 4. Sicherung ökonomischen und publizistischen Wettbewerbs 5. Marktreagibilität und Tendenzfreiheit 6. Abschwächungen der Marktsteuerung 7. Überwachung und Sanktion VII. Insbesondere: Das gemeinwirtschaftliche Integrationsmodell 1. Finanzausstattung 2. Treuhänderischer Programmauftrag —Programmbindungen

76 — 82 83 — 85 86, 87 88, 89 90 91—96 97 — 105 98, 99 100, 101

Rdn. 3. Pluralistische Binnenorganisation, Kontrolle 4. Bestands- und Entwicklungsgarantie 5. Abschwächung der strukturellen Besonderheiten . . VIII. Internationale Kommunikationsordnung 1. Tendenzen der Internationalisierung 2. Harmonisierung des Medienrechts in Europa . . . . 3. Aushöhlung dezentraler Verantwortung 4. Zur Bedeutung des EWGVertrages und von Art. 10 EMRK 5. Medienfreiheit im europäischen Wettbewerbsrecht .

102, 103 104 105 106 — 115 106, 107 108 109

110-113 114, 115

I. Grundkonzept der Kommunikations- und Medienfreiheit 1. Entfaltung in der Kommunikation und Entfaltung durch Kommunikation 1 Die Grundrechte des Grundgesetzes sind Elemente eines normativen Staats- und Gesellschaftskonzepts, das Möglichkeiten subjektiver Entfaltung abgesichert wissen will und das auf reale Möglichkeiten subjektiver Entfaltung angewiesen ist1. Anzuerkennen ist neben dem Verständnis der Grundrechte als Abwehrrechte eine „programmatische Schicht" der Grundrechtsnorm, die dem Staat u. a. aufgibt, „gefährdete Freiheit aktiv zu schützen, zu sichern und zu festigen"2. Umfaßt ist die Sorge für die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für die praktische Wahrnehmung der grundrechtlichen Freiheiten3. Diese doppelte Stoßrichtung des Grundrechtsschutzes ist mit besonderem Gewicht anhand der Kommunikationsgrundrechte herausgearbeitet worden. Die durch Kommunikation ermöglichte subjektive Entfaltung benötigt besondere Rahmenbedingungen einer freiheitlichen und insofern gesellschaftlich folgenreichen Kommunikation. Das faktische Angewiesensein des einzelnen, der Gesellschaft sowie der staatlichen Organe auf ein funktionsfähiges Kommunikationssystem prägt den Realbereich der Grundrechtsnorm. Der empirische Befund wirkt notwendig auf die Interpretation des Grundrechts zurück, das die Meinungsäußerung um der Meinungsbildung willen und die Meinungsbildungsfreiheit als Voraussetzung 1

2 3

Statt vieler K. H E S S E Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, in: EuGRZ 1978, 427 ff; H. H. R U P P Vom Wandel der Grundrechte, in: AöR 101 (1976) 161, 165 ff, jeweils m. w. Hinw.; D. G R I M M Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis? in: ders. Die Zukunft der Verfassung 1991, 221 ff. R U P P Grundrechte (Fn. 1) S. 173. H E S S E Grundrechte (Fn. 1 ) S. 433.

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

193

der Meinungsäußerungsfreiheit schützt4. Die Freiheit der Kommunikation ist nur als Freiheit durch andere und mit anderen realisierbar5. Kommunikationsfreiheit als Teil einer freiheitlichen Kommunikationsverfassung im demokratischen und sozialen Rechtsstaat schützt die subjektive Entfaltung in der Kommunikation, d. h. die Übernahme der Rolle als Kommunikator und als Rezipient. Geschützt ist aber auch die Entfaltung durch Kommunikation, ζ. B. die Verwertung der aufgenommenen Information zur Orientierung in individuellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen und bei der Mitwirkung an der gesellschaftlichen und staatlichen Willensbildung. 2. Das liberale Konzept der Freiheit als rechtlich gesicherte reale Möglichkeit subjektiver Entfaltung Das liberale Grundrechtsverständnis ist — in demokratischer und sozialstaatlicher Trans- 2 formation — eine normative Prämisse der Grundrechtsverbürgungen und damit auch der Kommunikationsfreiheit. Es zielt insbesondere auf die rechtliche Sicherung realer Möglichkeiten subjektiver Entfaltung des eigenverantwortlichen Individuums. Aber auch der soziale Bezug von Kommunikation ist Bestandteil des liberalen Konzepts6, das sich aus dem Austausch von Tatsachen und Meinungen insbesondere die Fähigkeit zur Meinungsbildung und zur Erkenntnis des „Richtigen" verspricht und diese Funktion als notwendige Grundbedingung einer Gesellschaft versteht, die ihre Angelegenheiten in Eigenverantwortung regelt 7 . Im Kommunikationsprozeß wird eine Gelegenheit zur Herausfilterung der „wahren" Tatsachengrundlage und einer als sinnvoll („richtig") akzeptierten Entscheidung gesehen. Kommunikative Entfaltung ist konstitutiv für den gesellschaftlichen und politischen Pro^eßi. Allerdings galt es im bürgerlich-liberalen Verfassungsstaat als hinreichend, im Rahmen des rechtlich Regelbaren die Möglichkeiten subjektiver kommunikativer Entfaltung abzusichern. Das Vertrauen in die Selbstregulierungskraft kommunikativer Prozesse erlaubte es, von zusätzlichen Sicherungen abzusehen, wie auch die Rolle des Bürgertums konzeptionell so bestimmend war, daß andere Teilöffentlichkeiten aus dem Blickfeld gerieten9.

4 5

6

7

8

Vgl. M. STOCK Kirchenfreiheit und Medienfreiheit, in: Z e v K R 20 (1975) 256, 285 ff. Vgl. allgemein D. SUHR Entfaltung des Menschen durch die Menschen 1976; DERS. Freiheit durch Geselligkeit, in: E u G R Z 1984, 529. Die vielen Nuancierungen des liberalen Freiheitsverständnisses und Pressefreiheits-Konzepts müssen hier vernachlässigt werden. S. statt dessen F. SCHNEIDER Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, 1966, insbes. S. 151 ff, 2 2 7 f ; J . HABERMAS Strukturwandel der Öffentlichkeit, 18. Aufl. 1990, S. 21 ff, 148 ff sowie 161 ff; D. STAMMLER Die Presse als soziale und verfassungsrechtliche Institution, 1971, insbes. S. 83 ff; U. SCHEUNER Pressefreiheit, in: V V D S t R L Bd. 22 (1965) S. 1 ff. In diesen Arbeiten finden sich auch eingehende Angaben zur historischen Entwicklung. Vgl. zum Konzept W. HOFFMANN-RIEM Rundfunkrecht neben Wirtschaftsrecht, 1 9 9 1 , S. 21 ff m. w. Nachw. Die doppelte Ausrichtung der Kommunikationsfreiheit ist schon im 18. Jh. entwickelt worden, s. SCHNEIDER P r e s s e f r e i h e i t (Fn. 6 ) S. 1 6 8 .

9

Dazu vgl. HABERMAS Strukturwandel (Fn. 6) S. 15 ff.

194

2. Kapitel. Grundrechte

3

In den Zeiten der Kodifikation der Kommunikationsfreiheit — vor allem im 19. Jahrhundert — hatte, aufbauend auf historischen Erfahrungen, aber auch auf dem Modell der Trennung von Staat und Gesellschaft, die Überzeugung vorgeherrscht, der normative Zielwert sei am stärksten durch den Staat gefährdet und ihm gegenüber von der Gesellschaft zu verteidigen. Aus dem Bewußtsein war weitgehend verdrängt worden, daß die Grundrechte sich in ihrer historischen Bedeutung gegen die feudale Ordnung gerichtet hatten, d. h. insoweit gegen die in ihr dominanten staatlichen und gesellschaftlichen Mächte. In der Folge dieses Verdrängungsprozesses galt die Abschirmung der Kommunikationsfreiheit gegen den Staat — insbesondere zur Abwehr staatlicher Zensur und von Beschränkungen der PreßFreiheit — praktisch ausschließlich als Vorbedingung realer subjektiver Entfaltung. Allerdings begann ein Prozeß — vor allem mit Herausbildung des formalen Rechtsstaats in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts —, in dem die Grundrechtsauffassung sich von der ursprünglich vorhandenen funktionalen Betrachtung ablöste. Der Abwehrcharakter des Grundrechts wurde bei manchen Autoren zum Selbstzweck erhoben. So wie das Konzept vom material verstandenen Rechtsstaat durch das des formalen Rechtsstaats ausgetauscht wurde, büßten auch die Grundrechte ihre inhaltliche (revolutionäre) Stoßrichtung weitgehend ein.

4

Dennoch ist die auf reale Entfaltung zielende normative Prägung des Grundrechtsschutzes nie völlig aufgegeben worden. Sie blieb allerdings insoweit verdeckt, als nicht ausdrücklich nach dem funktionalen Bezug gefragt, sondern häufig unbefragt unterstellt wurde, daß die im liberalen Modell erhoffte Möglichkeit zur individuellen und sozialen Entfaltung durch das Verständnis des Grundrechts als bloßes Abwehrrecht gesichert werde. Im 20. Jahrhundert, insbesondere unter dem Grundgesetz, hat sich die Grundrechtstheorie jedoch auf den funktionalen Be^ug der Kommunikationsfreiheit erneut besonnen und eine Verselbständigung des Abwehrkonzepts ausgeschlossen. Dank der wachsenden Einsicht in die Verschränkung von Staat und Gesellschaft und der damit verbundenen Eingliederung des Grundrechtskonzepts in das System vernetzter verfassungsrechtlicher Zielwerte darf nicht mehr an das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschende Grundrechtskonzept des formalen Rechtsstaats angeknüpft werden. Dementsprechend haben das Bundesverfassungsgericht und die h. M. die Kommunikationsfreiheit einem Grundrechtskonzept zugeordnet, das die Einbettung des Grundrechts in das System der verschiedenen verfassungsrechtlichen Zielwerte und Verbürgungen anerkennt10. In diesem Sinne wird die Kommunikation (auch) wegen ihrer Bedeutung für Staat und Gesellschaft geschützt. Kommunikationsfreiheit bleibt gleichwohl ein Eigenwert oder — wie auch 10

Vgl. BVerfGE 7, 198 (204 f); 12, 205 (259 ff); 35, 202 (219 ß); 52, 283 (296); K. HESSE Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl. 1991, Rdn. 386 ff; E. STEIN Staatsrecht, 18. Aufl. 1991, S. 108 ff; G. HERRMANN Fernsehen und Hörfunk in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 216 ff, 242 ff; R. HERZOG in: Th. Maunz/G. Dürig Grundgesetz, 1 9 5 1 ff. A r t . 5 Abs. 1, Satz 2 G G Rdn. 5 ff; M. LÖFFLER/R. RICKER Handbuch des

Presserechts, 2. Aufl. 1986, S. 11 ff. Zurückhaltend bis kritisch aber z.B. H.H. KLEIN Die Rundfunkfreiheit, 1978, S. 48 ff.

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

195

formuliert wird — ein „Wert in sich". Der Schutz der Kommunikation hängt insbesondere nicht vom jeweiligen Kommunikationsinhalt ab11. 3. Funktionsbedingungen kommunikativer Entfaltung Klärungsbedürftig bleibt, was Gegenstand der verfassungsrechtlichen Verbürgung 5 ist, d. h. was die gemeinte „kommunikative Entfaltung" unter gegenwärtigen Bedingungen umfaßt und wie sie gesichert wird. Prämisse des liberalen Grundrechtsverständnisses ist das liberale Gesellschaftsmodell, das zur bloßen Ideologie würde, wenn seine Umsetzung nicht auch an die jeweiligen realen Bedingungen seiner Funktionstauglichkeit gekoppelt würde. Die seit dem 18./19. Jahrhundert erfolgten technologischen Umwälzungen und ökonomischen sowie gesellschaftlichen Veränderungen müssen bei der Bestimmung des Schutzumfangs der Kommunikationsfreiheit beachtet werden. Zu überprüfen ist insbesondere, wie weit das auf Wahrheitsfindung durch Diskurs bezogene liberale Kommunikationskonzept weiterhin eine normative Orientierung für die Anwendung und Auslegung des Art. 5 GG geben kann12. Dabei kann die zu findende „Wahrheit" nicht als ein objektiv vorgegebener 6 oder aufzufindender Befund gedeutet werden. Der Diskurs ist vielmehr nur als gesellschaftlicher Prozeß der Wirklichkeitskonstruktion vorstellbar13. Kommunikation ist ein Prozeß individueller Sinnkonstruktion in einer von den Kommunikationspartnern gemeinsam geteilten Kommunikationssituation, die auch durch die verfügbaren Medienangebote und die individuellen Sozialisationserfahrungen geprägt ist. Die Kommunikationspolitik als Grundrechtspolitik darf dabei nicht an der Fiktion idealer Kommunikationssituationen oder gar herrschaftsfreier Diskurse ansetzen, sondern muß sich auf die konkreten Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Sinnkonstruktion einstellen. Dazu gehören in der politischen Ordnung ζ. B. die Herausbildung konkurrierender Öffentlichkeiten, die neokorporatistische Ausdifferenzierung meinungsbildender Assoziationen, die Selektivität der Kommunikationsteilhabe, insbesondere die regelmäßig auf Eliten begrenzte Übernahme aktiver Verantwortung für die kommunikative Problembearbeitung u. ä. Zu verarbeiten sind aber auch die mit technologischen Innovationen verknüpften Veränderungen der kommunikativen Infrastruktur und Inhalte, die Kommerzialisierung und Professionalisierung der Kommunikationsorganisationen, das Zusammenwachsen von Information und Unterhaltung, das Verschränktsein von Kommunikation und Konsum, die raumübergreifende und zeitsynchronisierende Omnipräsenz von Ereignissen, aber auch die 11 12

13

Siehe aber auch unten bei Fn. 60. Z u Zweifeln vgl. F. KÜBLER D e r „Markt der Meinungen", in: E. Stein/H. Faber (Hrsg.) A u f einem dritten Weg - Festschrift f ü r H. Ridder, 1 9 8 9 , S. 1 1 7 , 1 2 0 f f m. w. Hinw.; M. KEPPLINGER Instrumentelle Aktualisierung, in: N. Kaase/W. Schulz (Hrsg.) Massenkommunikation, Sonderheft 30/1989 der K ö l n e r Zeitschrift f ü r Soziologie und Sozialpsychologie ( K Z S S ) S. 1 9 9 , 2 1 7 . Z u entsprechenden konstruktivistischen Wissenschaftsansätzen s. allgemein P. L. BERGER/T. LUCKMANN Die gesellschaftliche K o n s t r u k t i o n der Wirklichkeit, 1 9 8 0 , sowie als Überblick speziell a u s d e r S i c h t d e r M e d i e n w i s s e n s c h a f t s. DEUTSCHES INSTITUT FÜR FERNSTUDIEN AN DER

UNIVERSITÄT TÜBINGEN, Einführungsbrief des Funkkollegs „Medien und 1990.

Kommunikation",

196

2. Kapitel. Grundrechte

Überlagerung von Primärerfahrungen durch medienvermittelte Sinnwelten. Der Realbereich der Grundrechtsnormierung ist auch dadurch geprägt, daß zumindest die auf große Publika ausgerichteten Massenmedien auf Durchschnittsrezipienten zielen und Strategien zur Förderung standardisierter Rezeption verfolgen. Sie halten den Grad geforderter Konzentration und damit kommunikativer Anstrengung regelmäßig niedrig, setzen aber bei der Präsentation besondere Techniken der Aufmerksamkeitsbindung ein, die in die Nähe der kommunikativen Manipulation geraten können. Zu beachten sind im Bereich der Massenkommunikation auch Umwälzungen der Rezeptionsmöglichkeiten und -gewohnheiten14 und damit verknüpft die zunehmende Fragmentierung des Publikums. Sie macht es zweifelhaft, ob den medienvermittelten Informationsinhalten eine das Staatsganze bzw. die Gesellschaft inhaltlich integrierende Funktion zugeschrieben werden kann15, so daß die Suche nach neuen Integrationskonzepten und -modi angezeigt ist. Die neu zu entwickelnden Integrationsmodi können kaum auf gemeinsame Werterfahrungen, wohl aber auf die Entwicklung von Verfahrensregeln im Umgang mit Heterogenität und insbesondere mit der „Pluralisierung von Lebensformen und der Individualisierung von Lebensentwürfen" 16 setzen und gesellschaftliche Lernfähigkeit institutionalisieren helfen. 7

Kommunikation, insbesondere Massenkommunikation, ist weiterhin ein essentielles Element politischer Entwicklungen. Die Umwälzungen im Ostblock, insbesondere die Umstände der sogenannten Wende in der ehemaligen DDR, haben erneut illustriert, welche Innovationskraft aus der Kenntnis über alternative Lebensentwürfe und praktische Gestaltungsmöglichkeiten entspringen kann17 und daß Gesellschaften zur Erstarrung verdammt sind, wenn sie ihre Bürger am freien Informationszugang hindern. Zugleich ist deutlich geworden, wie Massenmedien, insbesondere das grenzüberschreitende Fernsehen, bei der Ereignisdarstellung Raum und Zeit überwinden und daß sie über die mediale Ereignisteilhabe von Massen selbst zum Motor von politischen Entwicklungen werden können: Auch insoweit sind sie „Medium und Faktor" (s. u. Rdn. 9). 8 In Anbetracht der Vielschichtigkeit der faktischen Kommunikationsmöglichkeiten wäre es verfehlt, das Grundrechtskonzept vorrangig vor dem Hintergrund politischer Entscheidungsprozesse i.e. S. zu entfalten18 und auf den Vorgang der Informationsvermittlung zu zentrieren. Insbesondere Unterhaltung™, aber auch BeBeispielhaft sei nur das Zapping erwähnt, dazu s. U. HASEBRINK Neue Fernsehzuschauer?, in: RuF 1990, S. 2 6 4 ff; K . BROCKHOFF/N. DOBBERSTEIN Zapping. Z u r Umgehung v o n T V - W e r bewahrnehmungen, in: Marketing. Zeitschrift f ü r Forschung und Praxis 1 1 , 1/89, 27 ff. 15 Zu den Zweifeln vgl. etwa T. VESTING Abschied v o m Integrationsmodell, in: medium 1/92 S. 55 f. 16 HABERMAS Strukturwandel (Fn. 6) S. 49. 17 Z u r Rezeption des West-Femsehens in der ehemaligen D D R s. E. DOHLUS A u g e n und Ohren nach Westen gerichtet?, in: A R D - J a h r b u c h 1 9 9 1 , S. 81 ff. 18 So auch SCHEUNER (Fn. 6) S. 68 f; H. KRÜGER Unterrichtung und Unterhaltung der Bürger, in: A . Seeling/F. Mai/H. K r ü g e r Probleme der Binnenstruktur der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, 1974, S. 39 ff; H. D. JARASS Freiheit der Massenmedien, 1978, S. 1 7 7 f. " Vgl. U. DEHM Fernsehunterhaltung, 1984, S. 221 ff; C. HOLTZ-BACHA Unterhaltung ernst nehmen, in: Media Perspektiven 1989, S. 2 0 0 ff. L. BOSSHART/W. HOFFMANN-RIEM (Hrsg.) Medienlust und Mediennutz, 1994. 14

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

197

ratungsangebote, zum Teil auch Bildungsinhalte in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern treten bei den meisten Massenmedien neben die Information über politische Angelegenheiten oder schieben diese häufig sogar weitgehend beiseite. In der Freizeitgesellschaft wird ein Großteil der Massenmedien, so etwa der Publikumszeitschriften und elektronischen Medien, fast ausschließlich zur Freizeit-Unterhaltung genutzt 20 . Aber auch die nicht im engeren Sinne politischen Publikationsinhalte können für die individuelle Lebensgestaltung sowie den Inhalt und Ablauf gesellschaftlicher und staatlicher Entscheidungsprozesse und damit auch aus verfassungsnormativer Sicht von erheblicher Bedeutung sein. Das Bundesverfassungsgericht orientiert sich in seinen Analysen zwar weiterhin stark am Demokratieprinzip, deutet die öffentliche Meinungsbildung aber zu Recht in einem weiten Sinn 21 ihres Bezugs auf „alle Lebensbereiche". Sowohl mit Produkten der Trivial- wie der Hochkultur als auch mit kommunikativen Gegenständen aller Art — unter Einschluß der (scheinbar) unpolitischen Unterhaltung — können das Orientierungs- und Qualifikationswissen, der Wertehaushalt, die Plausibilitätsstrukturen, die gesellschaftlichen Stereotypen und der Katalog wahrgenommener Bedürfnisse und damit die soziale Wirklichkeitskonstruktion beeinflußt werden. Die Medien sind zu einem zentralen Faktor in der Sozialisation der Bürger geworden 22 , so daß ihre Funktionsfähigkeit den Trägern staatlicher Gestaltungsmacht mit Rücksicht auf den demokratischen, sozial- und kulturstaatlichen Verfassungsauftrag 23 nicht gleichgültig sein darf. Der Wirkungsbereich der Medien beeinflußt ihre verfassungsrechtliche Bewertung. 4. Der soziale Bezug der Kommunikationsfreiheit Kommunikationsfreiheit ist als Freiheit auf Gegenseitigkeit 24 auf die Funktionsfä- 9 higkeit gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse bezogen. Insbesondere für Massenmedien werden dementsprechend deren Informations-, Artikulations- und Kontrollfunktionen hervorgehoben, ihre „öffentliche Aufgabe" betont (s. unten 20

21

22

Zur Mediennutzung in der Freizeitgesellschaft s. W. NEUMANN-BECHSTEIN Zeitnot — Veränderungen der Zeitstrukturen und Folgen für das Programmfernsehen in: RuF 1988, S. 1 7 4 f f . B V e r f G E 35, 202 (222). S. auch 57, 295 (319) (wenn auch immer noch zu eng); 59, 231 (258); 73, 1 1 8 (152); 74, 297 (324). Darüber besteht ungeachtet vieler ungelöster Fragen Einigkeit in der Medienwirkungsforschung. Zu

ihr J.

BLUMLER/E.

KATZ T h e

Use

of

Mass

Communications,

1974;

J.

AUFERMANN/H.

BOHRMANN/R. SÜLZER (Hrsg.) Gesellschaftliche Kommunikation und Information, Bd. 2, 1973, dort die Beiträge S. 423 ff; J. HACKFORTH Massenmedien und ihre Wirkung, 1976; M. KUNCZIK Massenkommunikation, 1977; K . RENCKSTORF Neue Perspektiven in der Massenkommunikationsforschung, 1977; E. NOELLE-NEUMANN Die Schweigespirale, 1982; K . LÜSCHER W i e wirkt das Fernsehen?, in: Festschrift für M. Löffler, 1980, S. 233 ff; DEUTSCHE FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT Medienwirkungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland, Studienausgabe 1987; M . SCHENK ( H r s g . ) M e d i e n w i r k u n g s f o r s c h u n g , 1 9 8 7 ; J . GROEBEL/P. WINTERHOFF-SPURK ( H r s g . )

Empirische Medienpsychologie, 1989. 23

24

Zu solchen Orientierungen vgl. W. HOFFMANN-RIEM Sozialstaatliche Wende der Medienverantwortung?, in: J Z 1975, 469, 471 ff; D. GRIMM Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, V V D S t R L Bd. 42 (1983) S. 46, 68 ff; H. P. SCHNEIDER Rundfunkvielfalt und Gruppenrelevanz im Kulturstaat, in: RuF 1982, S. 425 ff. Siehe dazu SUHR Geselligkeit (Fn. 5) S. 537.

198

2. Kapitel. Grundrechte

Rdn. 20ff), und es wird z.B. gesagt, der Rundfunk sei notwendig „Medium und Faktor der öffentlichen Meinungsbildung"25. Art. 5 GG enthält daher mehr als nur das individuelle Grundrecht des Bürgers gegen den Staat auf Respektierung seiner Freiheitssphäre, sondern zielt auch auf die Sicherung verfassungsadäquater Verkehrsund Organisationsformen für Individual- und Massenkommunikation, darunter auch die institutionelle Eigenständigkeit der Medien 26 . 10

Verfassungsprogrammatisch aufgegeben ist die Sorge für einen Rahmen der Medienbetätigung, der auch ermöglicht, daß relevante Themen auf die Agenda der Problemlösung gesetzt, Problemlösungen entworfen, Werte diskursiv entwickelt, Gründe produziert und die Inhaber politischer Macht unter Begründungszwang gestellt werden 27 . Dazu kann es erforderlich sein, die Nutzbarkeit kommunikativer Macht zu manipulativen Zwecken einzuschränken, etwa durch Marktbeschränkungen oder die Schaffung von Gegenmachtstrukturen. In diesem Sinne kann die „soziale Funktion" der Kommunikation sich in normativen Pflichten konkretisieren, so in der Pflicht des Gesetzgebers, „Gefahren abzuwehren, die einem freien Pressewesen aus der Bildung von Meinungsmonopolen erwachsen könnten" 28 , Eingriffe wirtschaftlicher Machtgruppen in die Unabhängigkeit von Presseorganen zu bekämpfen 29 oder Vorkehrungen zu treffen, daß der Rundfunk nicht einer oder einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgeliefert wird 30 .

11

Differenzierungen in unterschiedlichen Sozialbereichen sind dabei unabweisbar. Der Prozeß der Kommunikation ist ein sozialer Vorgang, an dem Kommunikatoren und Rezipienten beteiligt sind, die wechselseitig die Rollen tauschen. Die Massenkommunikation ist gegenwärtig allerdings (noch) nicht auf die direkte Zweiwegkommunikation 31 angelegt. Weil der Rezipient nicht in der Lage ist, mit den gleichen Möglichkeiten wie der Kommunikator an der Kommunikation teilzuhaben, bedarf er eines besonderen Freiheitsschutzes, der gegebenenfalls schon bei den Kommunikationsbedingungen des Kommunikators ansetzen muß. Verkürzt wäre es ζ. B., den Schutz der Rezipienteninteressen auf die „Freiheit" des Mediennutzers zur Auswahl

25 26

27 28 25 30 31

BVerfGE 50, 290 (340 f). BVerfGE 12, 205 (260 f). Der dort benutzte Begriff „institutionelle Freiheit" ist allerdings mißverständlich. Vgl. J. HABERMAS Volkssouveränität als Verfahren, in: Merkur 6/1989, S. 465, 474. BVerfGE 20, 162 (175). Vgl. BVerfGE 25, 256 (268). Vgl. BVerfGE 57, 295 (322). Die direkte Zweiwegkommunikation fordert neben einem geeigneten Transportmittel eine geeignete Netzstruktur (Stern-Struktur). Fernsehsysteme mit schmal- oder breitbandigen Rückkanälen erlauben bei Auslegung des Netzes in einer sogenannten Baumstruktur nur die Kommunikation mit der Zentrale, nicht aber mit den einzelnen Teilnehmern. Vgl. dazu EXPERTENKOMMISSION „ N E U E INFORMATIONS- UND K O M M U N I K A T I O N S T E C H N I K E N " — Ε Κ Μ

(BADEN-WÜRT-

Abschlußbericht 1981, Bd. 1, S. 76 ff. Die gegenwärtig zumeist noch üblichen Verteilnetze erlauben keine Reaktion des Teilnehmers. Technisch sind allerdings Dialogstrukturen machbar, sie unterbleiben aber aus vorrangig ökonomischen Gründen.

TEMBERG)

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

199

aus dem Angebotenen zu begrenzen 32 , ohne auch für ein hinreichendes Angebot zu sorgen, d. h. für die faktische Zugänglichkeit der zur Orientierung erforderlichen (d. h. vielfaltiger) Kommunikationsinhalte. Die als subjektives Recht ausgestaltete Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG allein reicht nicht, da sie die Faktoren nicht erfaßt, von denen abhängt, ob eine Information (allgemein) zugänglich wird. 5. Kommunikative Chancengleichheit — Legitimierung von kommunikativen Privilegien Die Einbindung der Kommunikationsfreiheit in das liberale Grundrechtsverständnis 12 und in die Gesamtverfassung bewirkt eine Orientierung des Grundrechts an dem normativen Grundsatz kommunikativer Chancengleichheit (-gerecbtigkeit). Dieser schließt gesteigerte Kommunikationschancen einschließlich kommunikativer „Herrschaft" nicht vollständig aus. Kommunikative „Privilegien" sind aber legitimierungsbedürftig. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts soll die Freiheit kommunikativer Auseinandersetzung auf „geistige Argumente" und auf die „Überzeugungskraft von Darlegungen, Erklärungen und Erwägungen" gestützt 33 sein. Ausdrücklich wird dabei von der „Gleichheit der Chancen beim Prozeß der Meinungsbildung" als rechtlichem Maßstab gesprochen. Konsequenterweise wird ausgeschlossen, daß die Kommunikationsfreiheit „persönliche Privilegien" absichere 34 . Für den Zugang zum Rundfunk müsse ζ. B. eine „gleiche Chance der Bewerber" gewährleistet sein 35 . Sowohl dem ideengeschichtlichen Hintergrund der Kommunikationsfreiheit als auch der grundgesetzlichen Pluralismuskonzeption entspricht die Annahme, daß die Kommunikationsfreiheit prinzipiell privilegienfeindlich konzipiert ist. Dementsprechend ist die Kommunikationsfreiheit nicht ein Instrument zur Verfestigung von sozialer Macht oder zur Absicherung von Vorsprüngen aktiver und passiver Kommunikation 36 . Sie ist vielmehr auf Pluralität und die prinzipielle Offenheit des Kommunikationsprozesses und damit auf die grundsätzliche Möglichkeit aller gerichtet, in die Rolle des Kommunikationsteilnehmers zu schlüpfen. 37 Dies setzt die Sorge für die kommunikative Kompetenz derjenigen voraus, für die 1 3 und mit denen Kommunikation stattfindet. Kommunikative Kompetenz ist auch beim Rezipienten wichtig, der die Art und das Ausmaß der Nutzung und Verwertung des Mediums zum Gegenstand eigenständiger Entscheidungen macht 38 . Die Rechts32

33 34 35 36 37 38

So aber R. SCHOLZ Medienfreiheit und Publikumsfreiheit, in: Festschrift f ü r Löffler, 1980, S. 355 ff, der zwar eine „publikumszentrierte" Sichtweise fordert, aber keine Garanten einer „effektiven Publikumsfreiheit" (S. 370) angibt, d. h. Sicherungen dafür, daß die Rezipienteninteressen auch befriedigt werden können. Das Vertrauen auf das Konkurrenzprinzip im Bereich der Kommunikatoren reicht nicht. B V e r f G E 25, 256 (265). B V e r f G E 20, 162 (176). Vgl. auch B V e r f G E 31, 3 1 4 (340) (Minderheitsmeinung). B V e r f G E 57, 295 (329, s. auch 327); 83, 238 (319). Vgl. auch B V e r f G E 73, 1 1 8 (160). Vgl. dazu R. WEiß Zur publizistischen Leistung des Lokalradios, in: RuF 1992, 41 ff. Zur entsprechenden sozialwissenschaftlichen Diskussion vgl. U. HASEBRINK/F. KROTZ Das Konzept der Publikumsaktivität in der Kommikationswissenschaft, in: Siegener Periodikum zur internationalen empirischen Literaturwissenschaft (SPIEL) 1991, Heft 1, 1 1 5 ff.

200

2. Kapitel. Grundrechte

erheblichkeit der Grundannahme kommunikativer Kompetenz endet nicht schon dort, wo faktisch eine solche Kompetenz nicht festzustellen ist oder jedenfalls reale Vorsprünge in den kommunikativen Chancen bestehen. Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht — im Hinblick auf eine rechtlich abgesicherte bevorzugte Position der Medienangehörigen — betont, daß die privilegierte Stellung sich an der kommunikativen Aufgabe rechtfertigen müsse und jenseits dieses Rahmens entfalle39. Im übrigen berechtigt und verpflichtet der programmatische Gehalt der Grundrechtsnorm den Gesetzgeber, auch für die Schaffung der Voraussetzungen zu sorgen, die eine reale Wahrnehmung der Freiheit ermöglichen40. Eine Grundrechtsordnung, in deren Zentrum die freie Entfaltung der Persönlichkeit und eine so begründete Würde des einzelnen steht41, kann sich nicht in der Verfestigung des kommunikativen Status quo erschöpfen. 14 Dies ist kein egalitäres, auf „Gleichmacherei" zielendes Konzept. Sollen reale Möglichkeiten subjektiver Entfaltung abgesichert werden, wäre es ein Widerspruch, subjektive Entfaltungsinteressen zu nivellieren oder die auch für pluralistische Gesellschaften typische Selektivität praktischer Argumentationsteilhabe42 aufheben zu wollen. Wohl aber geht es um die Sicherung der Fähigkeit des Kommunikators und Rezipienten, sich im Rahmen der selbst gesetzten Präferenzordnung situationsadäquat zu verhalten. Eine Ungleichheit der kommunikativen Entfaltungschancen ist im Rahmen des Möglichen abzubauen, und die kommunikative Chancengleichheit darf gegebenenfalls durch kompensatorische Bevorzugungen hergestellt werden43. Dabei bieten sich als Ansätze zur Abpufferung von Privilegien und damit zur Herstellung kommunikativer Chancengleichheit der Nichtprivilegierten vor allem Regeln über die Organisation und das Verfahren der Grundrechtsverwirklichung an44. 15

Die erwähnte Notwendigkeit der Legitimierung und gegebenenfalls Abpufferung von Privilegien spiegelt sich ζ. B. in der auf den Rundfunk gemünzten Forderung wider, die massenkommunikative (Rundfunk-)Freiheit als treuhänderische Freiheit zu verstehen45. Dem Treuhandprinzip entspricht auch ein „Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung", dem die

39 40 41 42

43

44 45

B V e r f G E 20, 162 (176); 83, 238 (321). S. oben Rdn. 1. S. B V e r f G E 7, 198 (204 f). Allgemein dazu s. F. SCHARPF Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung 1970, insbes. Kap. 4. Vgl. HOFFMANN-RIEM Medienverantwortung (Fn. 23) S. 469 ff, 476; allgemein SUHR (Fn. 5) Entfaltung S. 140; W. HOFFMANN-RIEM (Hrsg.) Kompensatorische Rechtsanwendung, in: DERS. Bürgernahe Verwaltung?, 1980, S. 70 ff. S. ζ. B. B V e r f G E 42, 64 (72 ff). F. OSSENBÜHL Rundfunkprogramm — Leistung in treuhänderischer Freiheit, in: D O V 1977, 383 ff; STOCK Kirchenfreiheit (Fn. 4) S. 289 m. w. Hinw.; DERS. „Ausgewogenheit, Sachlichkeit" — Das umstrittene Grundgesetz des westdeutschen Integrationsrundfunks, in: Medien, 1977, Heft 1, S. 16 ff mit krit. A n m . über mögliche Mißinterpretationen des Treuhandkonzepts; U. SCHEUNER Das Rundfunkmonopol und die neuere Entwicklung des Rundfunks, in: A f P 1977, 369.

§7

201

K o m m u n i k a t i o n s - und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

Rundfunktätigkeit verpflichtet sein soll 46 ; dies wäre sie allerdings nicht, wenn Ausgewogenheitspflichten u. ä. als Mittel zur Unterbindung pluralistischer Differenzierung oder gar zur politischen Nivellierung mißbraucht würden. Ansätze zur Rechtfertigung massenmedialer Privilegien stecken auch hinter der Annahme, nach der das privatwirtschaftliche Konkurrenzprinzip bei der Presse publizistische Konkurrenz sichern könne, die ihrerseits publizistische Vielfalt und damit Machtmäßigung bewirke 47 . Die Ankoppelung der Pressestruktur an das Marktmodell steht unter dem Vorbehalt der machtmäßigenden Funktion des Marktmechanismus. Marktversagen darf den Trägern der Staatsgewalt nicht gleichgültig sein 48 . Wären strukturelle, nicht durch Einzelregelungen bewältigbare, Funktionsmängel erkennbar, müßten Alternativen bereitgestellt werden. Die konkrete Ausgestaltung der Medienfreiheit muß daher an die realen Bedin- 16 gungen der Ermöglichung chancengleicher Kommunikations- und Rezeptionsteilhabe gekoppelt sein. Dieser Grundsatz wird auch in der vom Bundesverfassungsgericht betonten Gewährleistungspflicht und in der Folge ζ. B. der Rechtfertigung der Regulierung der Rundfunkordnung sichtbar: Die Begrenzungen der Verfügbarkeit von Frequenzen und die Höhe des erforderlichen finanziellen Aufwandes sind neben dem Machtpotential des Rundfunks Realfaktoren, die in der Sicht des Gerichts eine „Sondersituation" schaffen können, die besondere Vorkehrungen zur Verwirklichung und Aufrechterhaltung der in Art. 5 GG gewährleisteten Freiheit des Rundfunks erfordern oder zumindest rechtfertigen 49 . Ein — gegebenenfalls inhaltlich modifizierter — Gewährleistungsauftrag bleibt aber auch, wenn bisher relevante Realfaktoren entfallen, aber andersartige Gefahrdungen der kommunikativen Chancengleichheit bestehen, so etwa als Folge kommerzieller Finanzierungsformen oder von Monopolisierungen in einer privatwirtschaftlichen Medienordnung 50 . Die jeweiligen vom Gesetzgeber geschaffenen oder tolerierten Strukturentschei17 düngen für Presse und Rundfunk sind nicht Selbstzweck und daher nicht als solche unveränderbar. Vielmehr ist der Gesetzgeber zur laufenden Überprüfung berechtigt und verpflichtet 51 , ob die jeweilige Struktur der Kommunikationsverfassung in 46 47

B V e r f G E 12, 2 0 5 (263); 57, 2 9 5 (325); 73, 1 1 8 (153). Dazu vgl. B V e r f G E 12, 2 0 5 (261); 20, 1 6 2 (175); 52, 2 8 3 (296); zurückhaltend aber z . B . 57, 2 9 5 (323).

48

Allgemein dazu im Hinblick auf das Konzentrationsproblem s. P. LERCHE Verfassungsrechtliche Fragen zur Pressekonzentration, 1 9 7 1 ; N. DITTRICH Pressekonzentration und Grundgesetz, 1 9 7 1 ; E.-J. MESTMÄCKER Medienkonzentration und Meinungsvielfalt, 1 9 7 8 ; P. ULMER Schranken zulässigen Wettbewerbs marktbeherrschender Unternehmen, 1 9 7 7 ; W. MÖSCHEL Pressekonzentration und Wettbewerbsgesetz, 1 9 7 8 .

49

B V e r f G E 12, 2 0 5 (261); 57, 2 9 5 (322); 73, 1 1 8 (121 f f , 154). Unzutreffend daher die A n n a h m e , w e g e n Wegfalls der Sondersituation am R u n d f u n k sei nunmehr privater R u n d f u n k geboten oder gar als alleiniges Modell anzustreben, s. demgegenüber aber

50

HERZOG i n : M a u n z / D ü r i g ( F n . 1 0 ) A r t . 5 A b . I, I I R d n . 2 2 1 f f ; M . BULLINGER

Kommunikations-

freiheit im Strukturwandel der Telekommunikation, 1 9 8 0 , S. 2 3 f f ; W. SCHMITT GLAESER Die Rundfunkfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: A ö R 1 1 2 ( 1 9 8 7 ) 2 1 5 ff; C. STARCK in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck Das B o n n e r Grundgesetz, Bd. 1, 3. A u f l . 1 9 8 5 , A r t . 5 Rdn. 6 9 , 7 2 f. 51

Allgemein zur gesetzlichen Ü b e r p r ü f u n g s p f l i c h t s. B V e r f G E S. 4 9 , 89 ( 1 3 2 f); 50, 2 9 0 .

202

2. Kapitel. Grundrechte

Anbetracht der ökonomischen und technologischen Bedingungen, der Rezeptionsund Kommunikationsgewohnheiten sowie der Wirkungen des Mediums kommunikative Chancengleichheit ermöglicht oder gefährdet. Ergäbe ζ. B. eine Prüfung, daß durch pressespezifische Faktoren — etwa den Monopolisierungsgrad — Gefahren für die Meinungsbildungsfreiheit im Pressebereich bestünden, dann wären gesetzliche Regulierungen auch der Ordnung des Pressebereichs angezeigt 52 . Auch die gegenwärtige privatwirtschaftliche Ordnung der Presse ist nur ein Mittel zum Zweck. 6. Kommunikationsfreiheit als „Rundumfreiheit" 18 Allgemein ist anerkannt, daß sich mit der erwünschten Offenheit des Kommunikationsprozesses eine staatliche Kontrolle und Sanktionierung bestimmter Kommunikationsinhalte nicht verträgt. Das Zensurverbot (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) ist nur eine Teilausprägung dieses Gedankens der Staatsfreiheit (s. auch u. Rdn. 43 ff). Selbst wenn die Inhaber der Staatsgewalt Grund zur Annahme hätten, daß die Bürger die „Wahrheit" nicht vertrügen oder nicht „reif zur offenen Kommunikation wären, dürften sie die freie Kommunikation nicht behindern. Verkürzt wäre es jedoch, nur auf staatliche Träger als potentielle Bedroher kommunikativer Freiheit zu sehen. Die Offenheit des Kommunikationsprozesses kann auch auf andere Weise, insbesondere durch andere Machtträger, gefährdet werden 53 . Das verfassungsnormative Leitbild des handlungskompetenten („mündigen") Bürgers 54 ist vielmehr auf Rahmenbedingungen angewiesen, die es dem Bürger real ermöglichen, seine kommunikativen Bedürfnisse zu befriedigen. Kommunikationsdefizite widersprechen dem normativen Konzept, einerlei wer sie verursacht. Jedwede Art der „Bevormundung" widerspricht einer freiheitlichen Kommunikationsverfassung. Die staatliche Gewährleistungsaufgabe umfaßt daher auch die Sorge für ein Kommunikationssystem, das von einseitiger Einflußnahme freigehalten wird und umfassend kommunikative Entfaltungschancen sichert („Rundumfreiheit") 55 . Es sind (auch) Sicherungen gegen die privilegierten Träger politischer, ökonomischer oder kultureller Macht zu schaffen, damit kommunikative Chancengleichheit real ermöglicht wird 56 . Dabei müssen die Träger der Staatsgewalt bedacht 52

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Vgl. W. HOFFMANN-RIEM/H. PLANDER Rechtsfragen der Pressereform, S. 68 ff. Vgl. auch W. SCHMIDT Die Rundfunkgewährleistung, 1980, S. 23, 28 ff, 64 ff m. w. Hinw. Zur Problematik s. auch M. DEGEN Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, 1981. Im übrigen verweise ich auf meine Ausführungen in der Vorauflage, S. 4 1 4 ff. H. EHMKE Verfassungsrechtliche Fragen einer Reform des Pressewesens, in: Festschrift für A . Arndt, 1969, S. 83 ff; SCHEUNER Pressefreiheit (Fn. 6) S. 12 f, 73, 76 f. Allgemein s. E.-W. BÖCKENFÖRDE Freiheitssicherung gegenüber gesellschaftlicher Macht, in: D. Posser/R. Wassermann Freiheit in der sozialen Demokratie, 1975, S. 69 ff. W. HOFFMANN-RIEM Medienfreiheit, in: ders. Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd. 2, Verfassungs- und Verwaltungsrecht, 1977, S. 56 f. M. STOCK Neues über Verbände und Rundfunkkontrolle, in: A ö R 104 (1979) 30. Siehe ferner B V e r f G E 25, 256 (264 ff) sowie — betreffend die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks - 83, 238 (310, 311). Vgl. zu diesem Konzept BÖCKENFÖRDE Freiheitssicherung (Fn. 53) S. 77 ff, 82, 87. HESSE Verfassungsrecht (Fn. 10) Rdn. 357 hält zutreffend sogar eine direkte Anwendung der Grundrechte gegen Träger wirtschaftlicher oder sozialer Macht für möglich. Vorauszusetzen ist allerdings der Ausnahmefall, daß anderenfalls die grundrechtliche Freiheit nachhaltig gefährdet würde.

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

203

sein, durch die Regelungen nicht ihrerseits die kommunikative Chancengleichheit zu gefährden. Soweit grundrechtsrelevante Gesetze erlassen sind, wirkt sich der Grundrechtsschutz u. a. mit Hilfe des Instituts der mittelbaren Grundrechtswirkung auch bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts aus. 7. Zur „öffentlichen Aufgabe" der Medien Nach diesen Vorklärungen ist es auch möglich, den Stellenwert der in Rechtsprechung 19 und Literatur häufigen Bezugnahme auf die „öffentliche Aufgabe"57 der Medien herauszuarbeiten. Der Begriff dient als Kürzel für die Einbindung der Medienbetätigung in die Staatszielbestimmungen der Demokratie, Rechts-, Sozial- und Kulturstaatlichkeit und damit auch für seine Rückbindung an die empirischen Bedingungen heterogen-pluralistischer Gesellschaften. Insofern bezeichnet er mehr als nur eine (rechtlich belanglose) Erwartung an den „Freiheitsgebrauch" oder eine rechtlich irrelevante „soziologische" Kategorie 58 . Auf der anderen Seite bezeichnet die Redeweise nicht ein Verhaltensprogramm, etwa eine rechtliche Verpflichtung der einzelnen Medien zur Präsentation bestimmter Medieninhalte oder auch nur zur Versorgung der Rezipienten mit Informationen 59 . Auch hängt der Grundrechtsschutz der einzelnen Träger der Medienfreiheit nicht von der Erfüllung der „öffentlichen Aufgabe" ab. Vielmehr handelt es sich um eine programmatische Maßstabsformel, die einen verfassungsnormativ erwünschten Zustand kennzeichnet. Der Maßstab wird nur im Rahmen der ohnehin bestehenden Regelungskompetenzen relevant. Seine Bedeutung zeigt sich ζ. B. bei einer (gerichtlichen) Entscheidung über die Kollision der Ausübung der Medienfreiheit mit anderen Grundrechten. Die Lösung des Kollisionsfalles fordert nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eine Abwägung bzw. die Herstellung praktischer Konkordanz. Dabei wird der Rang der Medienfreiheit im Verhältnis zum kollidierenden Rechtsgut unter Rückgriff auf das konkret verfolgte Interesse, die Art und Weise der Gestaltung und die erzielte oder voraussehbare Wirkung bestimmt 60 . Insofern soll die Formel mittelbar auch eine verhaltensbeeinflussende Orientierung für die Medienbetätigung schaffen und ζ. B. auf berufsethische Standards zurückwirken. Vor allem aber bezeichnet die „öffentlichen Aufgabe" einen Zielpunkt der 20 gesetzlichen Ausgestaltung des Medienwesens 61 . Soweit der Gesetzgeber ausgestaltende Regeln erlassen darf, bietet die Befriedigung der Kommunikationsbedarfe der 57 58

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Vgl. B V e r f G E 12, 205 (244 ff); 20, 162 (175). S. aber D. CZAJKA Pressefreiheit und „öffentliche Aufgabe der Presse", 1968, S. 142 ff; P. DAGTOGLOU Wesen und Grenzen der Pressefreiheit, 1963, S. 16 ff, 23 ff; E. FORSTHOFF Der Verfassungsschutz der Zeitungspresse, 1969, S. 16. Eine solche Pflicht kann aber gesetzlich begründet sein, so für die Rundfunkveranstalter als Korrelat ihrer Privilegierung. Vgl. B V e r f G E 34, 269 (283); 25, 256 (307); 35, 202 (222 ff). Kritisch insofern aber ζ. Β. P. LERCHE Zur verfassungsgerichtlichen Deutung der Meinungsfreiheit, in: Festschrift f ü r Gebhard Müller, 1970, 197 ff; H. H. KLEIN Öffentliche und private Freiheit, in: Der Staat 1 9 7 1 , 1 4 5 ff. W. MALLMANN Pressepflichten und öffentliche Aufgabe der Presse, in: J Z 1966, 629; STAMMLER Die Presse (Fn. 6) S. 215. Zur Diskussion vgl. auch die Beiträge in A f P 1982, 16 ff, 23 ff.

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2. Kapitel. Grundrechte

verschiedenen Teilöffentlichkeiten einen Orientierungspunkt und gleichzeitig einen Ansatz zur Legitimierung von tolerierten oder geforderten Privilegien, etwa der Nutzung des ökonomischen Marktes zur Kommunikationsversorgung oder auch der Zuteilung von Rundfunklizenzen, aber auch der Schaffung von Auskunftspflichten 62 , Zugangsrechten 63 oder Sonderstellungen im Strafverfahren 64 . Der Gesetzgeber ist im Rahmen der verfügbaren Regelungskompetenzen und -alternativen verpflichtet, diejenigen zu wählen, die eine angemessene Wahrnehmung der „öffentlichen Aufgabe" ermöglicht. 21

Verfassungsprogrammatisch aufgegeben ist als Korrelat der Medienprivilegien eine an den verfassungsrechtlichen Grundsatzentscheidungen ausgerichtete, der jeweiligen historischen Situation angepaßte ,,Medienverantwortun¿'6s. Dabei wird es zukünftig insbesondere darum gehen müssen, die Konturen der Medienverantwortung dem Strukturwandel der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft, aber auch zur Risikogesellschaft 66 anzupassen und dabei auf Veränderungen in der Kommunikationsindustrie zu reagieren. So ist das vom BVerfG verfolgte Integrationskonzept mit Rücksicht auf die Realität segmentierter Programmangebote, fragmentierter Rezipientenschaften und die Heterogenität von Lebensstilen und Bedürfnissen zu modifzieren (s. o. Rdn. 6). Vor allem ist der empirische Befund neokorporatistisch formierter pluralistischer Gesellschaften zu verarbeiten, in denen die Möglichkeit aktiver Partizipation an Entscheidungsprozessen begrenzt und dementsprechend Entscheidungskompetenzen und Problemverarbeitungskapazitäten segmentiert bereitgestellt sind und im Regelfall nur von Teileliten genutzt werden, die sich jedoch in komplexe Verhandlungssysteme einlassen müssen und dabei veranlaßt sein können, im Interesse der Erhöhung ihrer Verhandlungs- und Tauschmacht auch zu Sachwaltern anderer Interessen zu werden 67 . Da dennoch Interessenselektivität droht 68 , verfassungsrechtlich aber die Chancengleichheit der Fähigkeit zur Interessenberücksichtigung aufgegeben ist, muß staatlicherseits auf die Einrichtung von Strukturen hingewirkt werden, die das Wertberücksichtigungspotential der politischen Entscheidungspro^esse erhöhen. Dies ist um so wichtiger, als die Medienwirkungsforschung 69 trotz mancher Unsicherheiten mit hinreichender Plausibilität aufgezeigt hat, daß die Me-

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Zurückhaltend bezüglich der Herleitung aus der Medienfreiheit aber M. BULLINGER Freiheit von Presse, Rundfunk, Film, in: HdBStR Bd. 6, § 142 Rdn. 69 ff.

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Vgl. z. B. W. HOFFMANN-RIEM/S. RUBBERT Atomrechtlicher Erörterungstermin und Öffentlich-

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keit, 1984, S. 52 ff, 70 ff. Siehe z. B. §§ 53 Abs. 1 Nr. 5, 97 Abs. 5, 98 Abs. 1, 111 m, 111 η StPO. Vgl. aber auch BVerfGE 77, 65 (74 ff). Dazu vgl. BVerfGE 35, 202 (226 ff). S. auch die Beiträge in: F. KÜBLER (Hrsg.) Medienfreiheit und Medienverantwortung, 1975. Zu ihr s. U. BECK Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986. Dazu s. SCHARPF Demokratietheorie (Fn. 42) S. 66 ff; U. VON ALEMANN Organisierte Interessen in der Bundesrepublik, 1989. Dazu vgl. schon C. OFFE Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, in: G. Kress/D. Senghaas (Hrsg.) Politikwissenschaft, 2. Aufl. 1973, S. 135 ff; SCHARPF Demokratietheorie (Fn. 42) S. 74 f. Nachweise oben in Fn. 22.

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

205

dien erheblichen Einfluß auf die Problemthematisierung 70 , die Bedürfniswahrnehmung und Realitätskonstruktion (etwa Stereotypisierung 71 ) haben, das Informationsbzw. Wissensniveau beeinflussen und insbesondere gesellschaftliche „Kluften" aufreißen72 oder das verhaltensrelevante Meinungsklima beeinflussen können 73 . Die Strukturen der Massenkommunikation sind weiterhin ein fundamentales Element der Funktionsfähigkeit der politischen Ordnung, und zwar auch — und wachsend — außerhalb der Vermittlung von politischen Informationen i. e. S. „Medienverantwortung" läßt sich daher nicht auf Verhaltensgebote für die politikbezogene Medienarbeit (unter Einschluß von Ausgewogenheit, Sachlichkeit und Rücksichtnahme auf Schutzgüter Betroffener) begrenzen, sondern muß im gesamten Programmangebot auf die Wahrnehmung der Aufgabe zur Vermittlung solcher Wissens- und Orientierungsbestände bezogen sein, die zur gesellschaftlichen Problembewältigung erforderlich oder zumindest nützlich sind74. Dies läßt sich nicht mit imperativen Ge- und Verboten für kommunikatives Handeln sichern — zumal diese in Konflikt mit dem staatlichen Neutralitätsgebot geraten können —, sondern allein durch die Einrichtung von Strukturen, die entsprechende Impulse möglichst selbstregulativ geben. Die praktische Umsetzung einer so verstandenen treuhänderischen Medienverantwortung (public accountability) kollidiert allerdings häufig mit anderen Interessen, insbesondere in einer durch wirtschaftlichen Konkurrenzkampf geprägten, den Erfolg an Einschaltquoten und Werbeerlösen messenden Medienordnung mit ökonomischen.

II. Art. 5 G G als Grundlage kommunikativer Freiheiten 1. Meinungs- und Informationsfreiheit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG enthält ein Menschenrecht, das zum einen die Äußerung 22 und Verbreitung von Meinungen schützt (Kommunikatorfreiheit). Der Meinungsbegriff erfaßt dabei nicht nur wertende Stellungnahmen i. w. S., sondern auch Tatsachenmitteilungen, aber auch Fragen. 75 Geschützt ist die Übermittlung von Informationen, einerlei ob sie der eigenen Sphäre entstammen oder als „fremde" weiter70

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S. die Agenda-Setting-Forschung, ζ. B. M . E. MCCOMBS/D. L. SHAW The Agenda-Setting Function of Mass Media, in: Public Opinion Quarterly, vol. 36 (1972) 176 ff; Κ . LANG/E. LANG The Mass Media and Voting, in: B. Berelson/M. Jarnowitz (eds.) Reader and Public Opinion and Communication, 2. Aufl. 1966, S. 455, 4 6 8 ff. Dazu vgl. die Darstellung und Literaturhinweise in: K. BURDACH „Violence Profile" und Kultivierungshypothese: Die Vielseherforschung George Gerbners, in: Schenk, Medienwirkungsforschung (Fn. 22) S. 344 ff. Zur knowledge-gap-Forschung vgl. statt vieler H . BONFADELLI Die Wissenskluftforschung — Stand und Perspektiven der Forschung, in: L. Saxer (Hrsg.) Gleichheit oder Ungleichheit durch Massenmedien 1985, S. 65 ff. Dazu s. E. NOELLE-NEUMANN Die Schweigespirale, 1982. Zur Kritik dieser These vgl. u. a. H . SCHERER Massenmedien, Meinungsklima und Einstellung, 1990. Pragmatische Ansätze hierzu bei J. BLUMLER/W. HOFFMANN-RIEM in: J . Blumler (ed.) Television and the Public Interest, 1992, S. 208 ff, 220 ff. B V e r f G E 85, 23 (31 ff).

2. Kapitel. Grundrechte

206

geben werden. Der Schutz hängt nicht vom jeweiligen Inhalt ab, auch nicht von irgendeiner Wertigkeit76 oder von den Motiven des Äußernden. Die erwiesen oder bewußt unwahre Tatsachenbehauptung ist allerdings nicht geschützt77. Die Reichweite des Grundrechtsschutzes ist unabhängig von der Wahl der Ausdrucksform der Kommunikation (Wort, Schrift, Bild u. a.). Die adressatenlose und niemandem zugängliche Äußerung bedürfte keines besonderen Schutzes. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG schützt eine Form subjektiver Entfaltung, die auf ein Gegenüber — den Rezipienten — angewiesen ist. Geschützt ist dementsprechend auch die Möglichkeit, den Adressaten zu erreichen und auf ihn mit Hilfe der Äußerung zu wirken. Typisch ist die wechselseitige Übernahme der Rolle des Kommunikators und Rezipienten. Geschützt ist der Pro^eß des Kommunizier ens1* im Ablauf wie im jeweiligen Ergebnis. 23

Das Grundrecht des Kommunikators könnte allerdings leerlaufen, wenn nicht auch der Adressat das Recht hätte, die geäußerte/verbreitete Information aufzunehmen (zu hören, zu lesen u. a.). Die Re^ipientenfreihett ist ein eigenständiges Recht und nicht nur Reflex der Kommunikatorfreiheit79. Für die besondere Freiheit, sich aus und an allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten, ist das Rezipientengrundrecht ausdrücklich im Verfassungstext verankert. Die Freiheit, eine nur dem Rezipienten zugängliche Quelle zu nutzen, etwa dem Freund zuzuhören, ist unter Verwendung des argumentum a maiore ad minus ebenfalls als subjektives Recht des Rezipienten geschützt80. Allgemein zugänglich ist eine Informationsquelle, wenn sie technisch geeignet und dazu bestimmt ist, einem individuell nicht bestimmten Personenkreis Informationen zu verschaffen81. Zu respektieren ist daher das Bestimmungsrecht über die Zugänglichkeit, und zwar auch das des Staates über Vorgänge aus seinem Aufgaben- und Verantwortungsbereich. Die entgegen dem Bestimmungsrecht, also rechtswidrig, erfolgende Beschaffung der Information genießt keinen Schutz, wohl aber ihre Verbreitung82. 2. Medienfreiheit a) Massenkommunikation und Massenmedien

24 Außerhalb der direkten personalen Kommunikation ist der Einsatz besonderer Medien der Kommunikation unabdingbar. Die Medienfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG 76 77 78 75

BVerfGE 33 (14f); 71, 7. BVerfGE 61, 1 (8). Vgl. BVerfGE 83, 238 (295 ff). H . RIDDER M e i n u n g s f r e i h e i t , in: E C. NEUMANN/H. C . NIPPERDEY/U. SCHEUNER D i e

Grund-

rechte. Bd. II, 1954, S. 249; M. BULLINGER Strukturwandel (Fn. 50) S. 63; SCHOLZ Medienfreiheit (Fn. 32) S. 366. So wohl auch BVerfGE 57, 295 (319). Anders aber möglicherweise BVerfGE 27, 31. 80

81 82

Näher dazu W. HOFFMANN-RIEM in: Alternativkommentar Bd. 1, 2. Aufl. 1989, Art. 5 Abs. 1, 2 G G Rdn. 86 f. BVerfGE 27, 71 (83). BVerfGE 66, 116 (137).

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

207

ist die Freiheit publizistischer Vermittlung durch ein Massenmedium83, und zwar von der Herstellung der Kommunikationsinhalte über deren Verbreitung bis zu ihrem Empfang beim Rezipienten. Der Schutz von Massenmedien ist als Absicherung der PreßFreiheit ein überkommenes grundrechtliches Schutzgut. Die Rundfunk- und Filmfreiheit sind im 20. Jahrhundert hinzugekommen. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG wird weit in dem Sinne verstanden, daß auch neue massenmediale Kommunikationsmittel in seinen Schutzbereich einbezogen werden, etwa der Fernsehfunk oder rundfunkähnliche Kommunikationsdienste 84 und zwar auch unter Nutzung neuer Übertragungstechniken (wie Kabel- und Satellitenfunk) und unter Ausdehnung der Nutzungsinhalte. Die Weiterung ist am Konzept der Aföjj««kommunikation orientiert. Die technisch vermittelte Individualkommunikation — ζ. B. durch Telefon, Telegraf, Telefax, Brief — fällt nicht unter Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Neue Rechtsprobleme enstehen, weil die Grenzen von Individual- und Massenkommunikation zunehmend fließender werden. Die neuen Technologien ermöglichen einen stärker individualisierten Abruf von Massenkommunikationsangeboten, aber auch die in großer Zahl erfolgende Übermittlung individueller Kommunikationsinhalte (ζ. B. im „elektronischen Briefkasten"). Auch wird — etwa im Rahmen der Rückkanaltechnik — die wechselseitige Austauschbarkeit von Kommunikator und Rezipient organisierbar. Neue Übertragungstechnologien — insbesondere unter Nutzung von Glasfasern — werden vermehrt die Bereitstellung integrierter Netze für eine Vielzahl individualund massenkommunikativer, privater und geschäftlicher Nutzungen ermöglichen (s. aber auch u. Rdn. 67). Satz 2 von Art. 5 Abs. 1 GG wird nur betroffen, wenn die Kommunikation 25 dem Typ der Massenkommunikation zuzuordnen ist, deren Grundstruktur durch die beispielhaften Begriffe Rundfunk, Presse und Film gekennzeichnet wird. Massenkommunikation ist eine für die Allgemeinheit (als „beliebiger Öffentlichkeit") oder einen Teil von ihr zugängliche Kommunikation, deren Inhalt durch besondere, zur Kommunikation an die Allgemeinheit geeignete Verbreitungsmedien (ζ. B. Druckerzeugnisse, Funk, Filmvorführung) verteilt/verbreitet werden 85 . Sie werden häufig 83

84 85

Den eigenständigen Charakter der Medienfreiheit als „Freiheit publizistischer Vermittlung" hat vor allem STOCK herausgearbeitet, s. etwa M. STOCK Zur Theorie des Koordinationsrundfunks, 1981, passim, z . B . S. 154. S. auch JARASS Massenmedien (Fn. 18) S. 188. Das BVerfG erkennt die „Vermittlungsfunktion" ausdrücklich an, siehe E 83, 238 (321); auch betont es die Besonderheit der Medienfreiheit, s. BVerfGE 85, 1 411 ff. BVerfGE 74, 297 (350 f). Zu den kennzeichnenden Elementen vgl. JARASS Massenmedien (Fn. 18) S. 29 ff m. w. Hinw. Mit Blick auf die aktuelle Diskussion sei mit Nachdruck erwähnt, daß die Individualisierung des Abrufs von Massenkommunikationsangeboten (individuelle Abrufmöglichkeiten mit individuell bestimmten Abrufmodalitäten) allein nichts am Charakter des Kommunikationsangebots als Massenkommunikation ändert. So werden z. B. auch traditionelle Massenmedien wie die Zeitung und das Buch individuell unterschiedlich benutzt. Auch der Bildschirmtext in der Form des Angebots für alle (meist auch beim Angebot an mehrere) ist Massenkommunikation. Anders BULLINGER Strukturwandel (Fn. 50) S. 30 ff. Kritisch zu ihm mit Recht M. STOCK Kommunikationsfreiheit ohne Medienfreiheit?, in: RuF 1980, 341 ff. Die Neuschaffung des Begriffs der Allgemeininformation und -kommunikation, s. BULLINGER Strukturwandel (Fn. 50) S. 37 u. passim; E K M — (Fn. 31) Bd. 1, S. 188, ist nicht geeignet, den massenkommunikativen Charakter der entsprechenden Informationsangebote und Nutzungsformen in Frage zu stellen.

208

2. Kapitel. Grundrechte

durch darauf spezialisierte Institutionen, (meist, aber nicht notwendig professionellbürokratische Organisationen, ζ. B. Verlage, Rundfunkunternehmen) erstellt. Die Begriffe „Massenkommunikation" und „Massenmedium" sind keine Rechtsbegriffe. Allerdings gehören die jeweils üblichen/möglichen Erscheinungsformen der Massenkommunikation sowie die durch Massenmedien möglichen Einwirkungen auf den Informationshaushalt und die Einstellungen der Bevölkerung zur sozialen, ökonomischen und kulturellen Realität, auf die Art. 5 GG bezogen ist (Realbereich der Norm)86. 26 Die in der Verfassung als Beispiele für Massenkommunikation benutzten Begriffe Rundfunk, Presse und Film werden zum Teil in Gesetzen definiert (s. z. B. § 2 RfStV), ohne daß dies mit dem verfassungsrechtlichen Begriff übereinstimmen müßte. Alle drei Begriffe erfassen die für die Allgemeinheit geeignete und bestimmte Produktion und Verbreitung von Informationen in Form von Darbietungen aller Art (etwa in Wort, Bild oder Ton), unterscheiden sich aber hinsichtlich der eingesetzten Verbreitungstechnologien (Presse: Druckwerke; Film: Bilderreihen, die herkömmlich auf Streifen aus Zelluloid, jetzt meist auf funktional vergleichbar einsetzbarem Material, wie Videoband, Bildplatten fixiert sind; Rundfunk: fernmeldetechnische Anlagen, sei es mit oder ohne Leiter). Allerdings leidet dieses Unterscheidungskriterium angesichts zunehmend komplexer werdender Verbreitungswege an seiner nur begrenzten Zuordnungskraft. Insofern muß ergänzend auf Parallelen zu den bisher typischen bzw. anerkannten Elementen der massenkommunikativen Betätigung geachtet werden87 und daran anknüpfend gefragt werden, welchem der „traditionellen" Medien das zu beurteilende in funktionaler Betrachtung am nächsten kommt88. Beispielsweise bleibt eine Zeitung weiterhin „Presse", auch wenn die redaktionellen Inhalte elektronisch bzw. per Funk an die dezentralen Druckorte übermittelt werden, ja selbst wenn die Übermittlung an den Leser elektronisch erfolgt und erst beim Leser der Ausdruck geschieht (Faksimile-Zeitung). Neue Technologien können neue Erscheinungsformen massenmedialer Produktion und Verbreitung sowie der Nutzungsinhalte und -formen ermöglichen sowie darauf ausgerichtete Institutionen entstehen lassen. Der Schutz von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ist auf solche neuen Typen zu erstrecken, soweit sie von der Ratio der grundrechtlichen Schutznorm erfaßt sind89. 27 Bei der Ergänzung, Modifikation oder auch Substitution überkommener Kommunikationsformen und massenmedialer Strukturen sind gegebenenfalls Vorkehrungen zu treffen, daß die verfassungsrechtlich gebotenen Sicherungen der Meinungsbildungsfreiheit nicht unterlaufen, sondern daß die Kommunikationstechnologien zum Ausbau der Möglichkeiten der freiheitlichen Meinungsbildung genutzt werden.

96

87 88

89

Zur Bedeutung dieses Normelements s. F. MÜLLER Juristische Methodik, 3. Aufl. 1989, S. 117, 120 ff, 270 f (Müller nennt dieses Normelement „Normbereich"; mir scheint der Begriff „Realbereich der Norm" treffender zu sein). Vgl. BVerfGE 21, 272 (299), wenn dort von „typischen Aufgaben der Presse" die Rede ist. Vgl. ζ. B. auch BVerfGE 36, 321 (338), wenn dort von der „stärksten relativen Gleichheit" gesprochen wird. Vgl. BVerfGE 74, 297 (350 f).

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

209

Dabei ist eigenständig zu prüfen, ob die verfassungsrechtlichen Orientierungspunkte und Strukturelemente der Massenmedien Rundfunk und Presse auf andere Medien übertragbar sind. So werden mit Hilfe neuer Kommunikationstechnologien auch Kommunikationsvorgänge abgewickelt, die (bloße) Individualkommunikation sind oder gar völlig aus dem Schutzbereich des Art. 5 GG herausfallen, so etwa bei elektronischen Warenbestellungen oder dem Kontoverkehr zwischen Bank und Bankkunden. Auch ist zu klären, wieweit neue Schutzgüter in den Blick geraten, wie etwa der Verbraucherschutz bei dem elektronisch gestützten Abschluß von Verträgen über Waren oder sonstige Leistungen oder der Schutz vor unverlangter werblicher Information im elektronischen Mitteilungsdienst. Auch die vielfältigen Persönlichkeitsgefährdungen durch Speicherung und Verarbeitung von Anbieter- und Benutzerdaten sind nicht auf Angebote massenmedialen Charakters begrenzt, sondern werden durch die Nutzbarmachung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien für verschiedene Kommunikationsinhalte aktualisiert. Diese Gemengelage von unterschiedlichen Nut^ungsmöglichkeiten und Gefährdungen und dementsprechend unterschiedlich betroffenen Grundrechtsnormen wird in Zukunft Entscheidungen über den Ausbau, die Organisation und die Regulierung des Kommunikationssystems prägen müssen, die um eine optimierende Zuordnung (praktische Konkordanz) zwischen verschiedenen grundrechtlich betroffenen Rechtsgütern bemüht sein müssen. Je integrierter die Kommunikationswege und je austauschbarer die Nutzungsmöglichkeiten werden, um so komplexer wird die Dogmatik der Grundrechtskonkurrenz und um so größer wird die Verantwortung des Gesetzgebers bei der Zuordnung der Grundrechtsgüter. b) Zur Besonderheit der

Medienfreiheit

Ansatzpunkt zum Verständnis der Medienfreiheit ist die hervorragende Bedeutung 28 der Massenmedien für das Kommunikationssystem von Staat und Gesellschaft. Da die Medien gesteigerten kommunikativen Einfluß (s. o. Rdn. 7 f), d. h. aber auch den Einsatz kommunikativer „Macht", ermöglichen, sollen sie — wie insbesondere die historische Lehre aus der nationalsozialistischen Zeit lautet — staatsfrei sein (s. u. Rdn. 57 f), dürfen aber auch nicht zum Instrument anderer Machtträger werden. Ihr besonderer Schut£ ist (nur) um der eigentlichen publizistischen Funktion willen verfassungsrechtlich verankert. Von dieser Funktion her erschließt sich das Verhältnis der Medienfreiheit des Satzes 2 zur Meinungs- und Informationsfreiheit des Satzes 1 von Art. 5 Abs. 1 GG. Die in Satz 1 beispielhaft genannten Formen der Äußerung (Wort, Schrift, Bild) 29 sind grundsätzlich für jedermann verfügbar. Die geäußerte/verbreitete Information kann Wirkungen grundsätzlich nur nach Maßgabe der Informations- und Überzeugungskraft der jeweiligen Äußerung ausüben. Die Nutzung der Ausdrucksform selbst ist nicht Ausfluß von Privilegien und weder aktuell noch potentiell Einsatz besonderer sozialer Macht. Meinungsfreiheit ist rechtlich ein Jedermannrecht, das auch real von jedermann unter Einsatz der verschiedenen Ausdrucksformen ausgeübt werden kann. Auch wenn leichte Differenzierungen der Eignung der verschiedenen

210

2. Kapitel. Grundrechte

Ausdrucksformen anzuerkennen sind — das wörtliche Argument kann überzeugender sein als das wortlose Symbol, aber auch umgekehrt —, eröffnet die eingesetzte Ausdrucksform als solche grundsätzlich keine Vervielfältigung der Wirkung. 30 Anders ist es bei der kommunikativen Nutzung der Produktions- und Transportmittel der Massenkommunikation, die zudem regelmäßig zusätzliche (finanzielle, organisatorische, personelle u. a.) Möglichkeiten erfordert. Durch sie werden Chancen socialer Machtsteigerung eröffnet. Dieser Befund legitimiert den in Art. 5 Abs. 1 und 2 GG enthaltenen besonderen Gewährleistungsauftrag des Staates, der gleichermaßen dem Schutz der massenmedialen Kommunikatoren und Rezipienten dienen soll. Den Anlaß der grundrechtlichen Besonderung bilden die dem Massenmedium zugänglichen erheblichen Wirkungssteigerungen 90 , die in gleicher Weise nicht von jedermann real eingesetzt werden können. Die Medienwirkungsforschung91 hat mit hinreichender Plausibilität ζ. B. aufgezeigt, daß Fernsehen geeignet ist, gesellschaftliche „Kluften" aufzureißen, die Art der individuellen und gesellschaftlichen Realitätskonstruktion zu beeinflussen, Rezipienten in bestimmten Lebenssituationen ängstlicher oder gewaltbereiter zu machen oder Aggressionspotentiale abzuleiten, das verhaltensrelevante Meinungsklima zu beeinflussen und pro- oder antisoziale Verhaltensweisen zu stimulieren92. 31 Im Verhältnis zur Meinungs- und Informationsfreiheit des Satzes 1 ist die Medienfreiheit ein aliud93. Beide Freiheiten können gleichzeitig genutzt werden94. Geschützt ist die Freiheit publizistischer Vermittlung durch Massenmedien in Satz 2 aber auch dann, wenn der Inhalt — ausnahmsweise — nicht zusätzlich durch Satz 1 erfaßt ist. Dies kann ζ. B. für unterhaltende Inhalte (ζ. B. Musiksendungen) gelten, wenn sie nicht gleichzeitig eine Meinung ausdrücken, Träger einer Information sind oder sonstwie meinungsbildend wirken können95. Auch können die Inhalte von 50 91 92

93

S. die Hinweise oben Fn. 23; ferner z.B. B V e r f G E 54, 208 (216, 221). S. die Literaturhinweise oben Fn. 22. So meine Zusammenfassung in: R. Weiß (Hrsg.) Aufgaben und Perspektiven öffentlich-rechtlichen Fernsehens, 1 9 9 1 , S. 37 m. w. Hinw. So auch — wenn auch zum Teil mit unterschiedlichen Akzentsetzungen — B V e r f G E 85, 1 (11); RIDDER Meinungsfreiheit (Fn. 79) S. 259; SCHEUNER Pressefreiheit (Fn. 6) S. 65 m. w. Hinw.; HERZOG in: M a u n z / D ü r i g G G (Fn. 1 0 ) A r t . 5 A b s . I, II R d n . 1 5 3 ; STOCK K i r c h e n f r e i h e i t (Fn. 4 )

S. 289; DERS. Rundfunkkontrolle (Fn. 55) S. 39; P. BADURA Verfassungsrechtliche Bindungen der Rundfunkgesetzgebung, 1980, S. 24, 27; SCHMIDT Rundfunkgewährleistung (Fn. 52) S. 82 ff. Anders die Anhänger einer rein individualrechtlichen Sicht des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 G G , wie etwa KLEIN Rundfunkfreiheit (Fn. 10) S. 32 ff; STARCK in: v. Mangoldt/Klein/Starck G G (Fn. 50) Art. 5 Rdn. 4 f. 94

Zum Verhältnis der Meinungsbildungs- zur Pressefreiheit siehe insbesondere B V e r f G E 85, 1 (11 ff): „Der Schutzbereich der Pressefreiheit ist ... berührt, wenn es um die im Pressewesen tätigen Personen in Ausübung ihrer Funktion, um ein Presseerzeugnis selbst, um seine institutionell-organisatorischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen sowie um die Institution einer freien Presse überhaupt geht. Handelt es sich dagegen um die Frage, ob eine bestimmte Äußerung erlaubt war oder nicht, insbesondere ob ein Dritter eine für ihn nachteilige Äußerung hinzunehmen hat, ist ungeachtet des Verbreitungsmediums Art. 5 Abs. 1 Satz 1 G G einschlägig." S. auch B V e r f G E 86, 121 (128).

95

Der in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 G G erwähnte Begriff „Freiheit der Berichterstattung" ist nicht im einengenden Sinne zu verstehen (vgl. auch B V e r f G E 12, 205 (260); 31, 3 1 4 (326). Der Schutz

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

211

anderen Grundrechtsnormen als Art. 5 Abs. 1 Satz 1 (z. B. Art. 5 Abs. 3, Art. 4 oder auch Art. 2 Abs. 1 GG) erfaßt sein. Regelmäßig allerdings fallen die Meinungsfreiheit nach Satz 1 und die Medienfreiheit nach Satz 2 im Hinblick auf einen Kommunikationsakt zusammen, so ζ. B. bei der Übertragung der Nachrichten durch Rundfunk. Die beiden Grundrechtsnormierungen haben dabei jedoch eine unterschiedliche Stoßrichtung. Beeinträchtigungen des Inhalts, der Ausdrucksform (Wort, Schrift, Bild u. a.) oder des Informations^uganges sind an Satz 1 zu messen. Soweit aber die publizistische Vermittlung durch das Massenmedium betroffen ist, bildet Satz 2 den verfassungsrechtlichen Maßstab. Mit Rücksicht auf den besonderen Gemeinschaftsbezug der Massenmedien ist dem 32 objektiv-rechtlichen Gehalt in Satz 2 ein starkes Gewicht eingeräumt und der subjektiv rechtliche Schutz relativiert worden Auch der obj ektiv-rechtliche Schutz ist allerdings um der kommunikativen Entfaltung der Bürger willen erheblich und insofern eine Verstärkung des subjektiven Freiheitsschutzes97. Wäre Satz 2 dagegen als gewöhnliche subjektiv-rechtliche Verankerung eines Individualrechts zu verstehen (s. aber unten Rdn. 39 f), so müßte das Grundrecht zur Verstärkung der kommunikativen Privilegien derjenigen (wenigen) führen, die über die realen Möglichkeiten zum Einsatz bestimmter Massenmedien verfügen, ohne daß Sicherungen bestünden, die den Schutzinteressen der Rezipienten oder allgemeiner dem Gemeinschaftsbezug Rechnung tragen würden. Andererseits sind nach Maßgabe der Ausgestaltungsgesetze (s. u. Rdn. 34, 39) auch in Satz 2 subjektive Rechte verankert 98 . In dem am Individualrechtsschutz orientierten materiellen und formellen Rechtsschutzsystem des Grundgesetzes ist die Anerkennung subjektiver Rechte ein Mittel zur Sicherung der Freiheitlichkeit (auch) der Medienverfassung. Bei der Bestimmung des inhaltlichen Schutzumfangs von Satz 2 allerdings steht nicht der personale, sondern der soziale Bezug der Massenkommunikation im Vordergrund (s. o. Rdn. 9 ff). 3. Schutzbereich Während Träger des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG jedermann ist und 33 jedermann dieses Grundrecht auch real nutzen kann, gibt es faktische und gegebe-

96

der Institution Rundfunk bezieht sich auf die Programmbetätigung als einheitliche Veranstaltung. Beschränken Veranstalter sich aber auf reine Spartenprogramme (etwa spezialisiert auf Unterhaltungs- oder Sportsendungen) ohne Berichterstattungsfunktion i. w. S., so stellt sich die Frage, ob und wieweit diese Tätigkeit bzw. der entsprechende Träger in den Genuß kommunikativer Privilegien kommen darf, vgl. HOFFMANN-RIEM A K - G G (Fn. 80) Art. 5 Abs. 1, 2 Rdn. 129. So auch BADURA Rundfunkgesetzgebung (Fn. 93) S. 25. Zu weitgehend E.-W. BÖCKENFÖRDE/J. WIELAND Die „Rundfunkfreiheit" - ein Grundrecht?, in: A f P 1982, 77 ff. Als Überblick über Literatur und Rechtsprechung s. W. BRUGGER Rundfunkfreiheit und Verfassungsinterpretation, 1991.

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98

S. o. vgl. ferner B V e r f G E 50, 290 (337) (allgemein); 57, 2 9 5 (320) (Rundfunkfreiheit als „dienende Freiheit" gegenüber der Freiheit der Meinungsbildung); HESSE Verfassungsrecht (Fn. 10) Rdn. 290 ff sowie oben bei Fn. 10. Vgl. auch BADURA Rundfunkgesetzgebung (Fn. 93) S. 29 f, 33 f. In der Sache ähnlich wie hier STAMMLER Presse (Fn. 6) S. 221, der allerdings wegen des v o n ihm benutzten Begriffs der „subjektiven Reflexrechte" häufig mißverstanden wird, o b w o h l er sie als „echte subjektivöffentliche Rechte" versteht.

212

2. Kapitel. Grundrechte

nenfalls rechtliche Zugangsbarrieren bei Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Ist der Zugang eröffnet, so genießt den subjektiv-rechtlichen Grundrechtsschutz jeder, der an der publizistischen Nutzung des Massenmediums teilhat. Grundrechtsschutz steht dabei selbstverständlich dem Träger der Medienorganisation, etwa der Rundfunkanstalt oder dem Verleger, z u " . Erfaßt sind ferner Funktionsträger in der Spitze der redaktionellen Hierarchie bis zu solchen in unteren Rängen. Der Schutzbereich erstreckt sich auf Informanten, Leserbriefschreiber, aber auch diejenigen, die verwalten oder technische Hilfstätigkeiten ausführen 100 , wie etwa Setzer, Buchhalter oder Grossisten, und zwar nach Maßgabe ihrer Rolle im publizistischen Prozeß. Medienexterne Hilfstätigkeiten sind nur insoweit erfaßt, als sie typischerweise medienbezogen, für das Funktionieren der jeweiligen Medien notwendig sind und wenn sich eine staatliche Regulierung der Tätigkeit zugleich erschwerend auf die Meinungsverbreitung auswirkte 101 . Geschützt sind die Medientätigkeiten von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachricht und/oder Meinung, aber auch inhaltsferne, allerdings notwendig medienbezogene Hilfsfunktionen sowie Maßnahmen der Verwertung eigener (oder erworbener) Medienproduktionen unter Einschluß der Zusammenarbeit mit und der Beteiligung an dritten Unternehmen 102 . Diese weite Fassung des Schutzbereichs ist vor allem bedeutsam für Medien — gegenwärtig den öffentlich-rechtlichen Rundfunk —, die nicht über umfassende privatrechtliche und -wirtschaftliche Handlungsautonomie verfügen. Rundfunkanstalten bewegen sich daher auch bei der Programmbeschaffung, etwa bei Eigen-, Ko- oder Auftragsproduktionen 103 , beim Erwerb von Fremdprodukten oder Senderechten, bei der Vorsorge für die sachliche und personelle Produktionsinfrastruktur wie auch bei der Weiterverwertung von Senderechten und einer darauf gerichteten Zusammenarbeit mit dritten Unternehmen 104 in einem grundrechtsdurchwirkten Raum. Soweit sie dabei privatwirtschaftlich handeln und etwa dem allgemeinen Wirtschaftsrecht unterliegen oder gesellschaftsrechtliche Kooperationsverhältnisse eingehen, ist praktische Konkordanz zwischen der Rundfunkfreiheit und der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit zu sichern 105 . Grundrechtsgeschützt sind auch kommunikationsbegleitende Tätigkeiten, für Rundfunkanstalten ζ. B. die Herausgabe von Programmzeitschriften 106 . Artikel 5 G G schützt allerdings nur die kommunikative Betätigung selbst, nicht etwa davon abgelöst die (als solche nur von Art. 12, 14, 2

" 100

101 102 103

104 105 106

Für den Verleger s. B V e r f G E 52, 283 (296 ff). Für die Rundfunkanstalt s. BVerfGE 31, 314 (322). Vgl. B V e r f G E 25, 256 (304 ff); 64, 108 (114f); 66, 116 (134 f); 77, 346 (354). Der Schutzumfang der einzelnen Funktionsträger allerdings ist unterschiedlich weit, vgl. ζ. B. BVerfGE 59, 231 (260 f). So - für das Pressegrosso - BVerfGE 77, 346 (354). Vgl. etwa BVerfGE 66, 116 (134); 77, 346 (354); 83, 238 (303). Zur Praxis vgl. etwa T. AULICH Die privatwirtschaftlichen Orientierungen und Betätigungen der Rundfunkanstalten unter besonderer Berücksichtigung der Programmbeschaffung, 1982, H.-G. SAß Programmproduktion und Programmvertrieb, in: RuF 1989, 195 ff. Vgl. BVerfGE 83, 238 (303 ff). Näher dazu W. HOFFMANN-RIEM Wirtschaftsrecht (Fn. 7) S. 142 ff, 170 ff. BVerfGE 83, 238 (312 ff): „Unterstützende Randbetätigung".

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

213

GG geschützte) ökonomische Entfaltung, auch wenn sie unter Einsatz von kommunikativen Inhalten erfolgt 107 . Diese Sichtweise schließt es andererseits nicht aus, wirtschaftliche Betätigungen als notwendige Begleiterscheinung oder Reflex der kommunikativen Betätigung in den Schutz des Art. 5 GG einzubeziehen, also etwa die zur Finanzierung notwendige Werbung nicht nur wegen ihres konkreten kommunikativen Gehalts, sondern auch wegen ihres Beitrags zur Absicherung der finanziellen Basis des Mediums zu erfassen108. Die Ausgestaltungsbefugnis des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG erstreckt sich insoweit auch auf die ökonomische Entfaltung.

III. Regelungsauftrag des Gesetzgebers 1. Ausgestaltungs- und Schrankenregelungen Das Grundgesetz respektiert bei der Kollision unterschiedlicher Rechtsgüter Schran- 34 ken der Grundrechtsausübung (Art. 5 Abs. 2) und erkennt andererseits einen Auftrag des Gesetzgebers zur Gewährleistung der Medienfreiheit an (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG). Hinzu kommt die allgemein anerkannte Kompetenz des Gesetzgebers zur Konkretisierung des Freiheitsbereichs, d. h. zur (deklaratorischen) Bestimmung des verfassungsrechtlichen Regelungsgehalts. Mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts — und gegen einen Teil der Literatur 109 — sind die Schrankengesetze strikt von den Ausgestaltungsgesetzen zu unterscheiden110. Schrankengeset^e ermöglichen einen Eingriff in die Kommunikations- und/oder Medienfreiheit zum Schutz einer kollidierenden, verfassungsrechtlich ebenfalls geschützten Rechtsposition, sei es eines anderen Kommunikationsgrundrechts oder eines sonstigen Grundrechts, aber auch anderer verfassungsrechtlich anerkannter Güter. Ausgestaltungsgeset^e dienen demgegenüber der Verwirklichung des Kommunikationsgrundrechts selbst, insbesondere der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Massenmedien-Ordnung im Interesse einer freien, individuellen und öffentlichen Meinungsbildung 111 . Der in erster Linie den Gesetzgeber treffende Auftrag zur „Gewährleistung" der Freiheit der Massenmedien erfordert die laufende Prüfung und gegebenenfalls Sicherung der Funktionsfahigkeit. Dabei stehen dem Gesetzgeber in Ausfüllung seines Gestaltungsspielraumes unterschiedliche Optionen offen (s. u. Rdn. 49 ff). Soweit die allgemeinen Rechtsnormen zur Funktionssicherung in dem vom Gesetzgeber gewählten Ord107

108

Α . M. BULLINGER HdBStR Bd. 6 (s.o. Fn. 62) § 142 Rdn. 164; zum Problem der Grundrechtskonkurrenzen s. auch DEGEN Eigentumsgarantie (Fn. 52); sowie C. DEGENHART in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rdn. 753 ff. Vgl. B V e r f G E 74, 297 (342) sowie DEGENHART in: B K (Fn. 107) Art. 5 Abs. 1 und 2 Rdn. 679; HOFFMANN-RIEM W i r t s c h a f t s r e c h t ( F n . 7 ) S. 1 5 9 f f .

109

110

111

S. statt vieler R. SCHOLZ Das dritte Fernsehurteil der B V e r f G , in: J Z 1981, 561 ff; STARCK in: v. Mangoldt/Klein/Starck G G (Fn. 50) Art. 5 Rdn. 44 m. w. Hinw.; E. KULL Rundfunkgleichheit statt Rundfunkfreiheit, in: A f P 1981, 378 ff. H. ROSSEN F r e i e M e i n u n g s b i l d u n g d u r c h d e n R u n d f u n k , 1 9 8 8 , S. 2 8 5 f f ; H. D . JARASS/B. PIEROTH

G G , 2. A u f l . 1992, Rdn. 37 zu Art. 5. B V e r f G E 57, 295 (321); 73, 1 1 8 (166); 74, 297 (343).

214

2. Kapitel. Grundrechte

nungsmodell nicht reichen, sind ergänzende medienspezifische Ausgestaltungsnormen gefordert, so jedenfalls im Bereich des Rundfunks materielle, organisatorische und verfahrensbezogene Regeln (s. u. V, VI). Auch soweit sie für den Grundrechtsträger belastend wirken, sind sie nicht als „Eingriff' zu qualifizieren112, weil sie dem Freiheitsbereich erst Gestalt geben113, indem sie die unterschiedlichen, regelmäßig multipolaren Kommunikationsinteressen einander optimierend zuordnen und insofern notwendig eine Gemengelage aus Begünstigungen und Belastungen gestalten. Ihre Verfassungsmäßigkeit richtet sich allein danach, ob diese „Ausgestaltung" sich unter Beachtung des Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers114 mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Medienordnung und damit der Medienfreiheit dient. Wird der Ausgestaltungszweck verfehlt, ist die Regelung mangels Eignung verfassungswidrig — ohne jedoch rechtsdogmatisch ein „Eingriff zu sein115. Gleiches gilt, wenn sie einzelne Grundrechtsträger im Hinblick auf ihre jeweilige Rolle in dem vom Gesetzgeber zulässigerweise gewählten Ordnungsmodell unangemessen belastet116. Zu eng ist die Formel, nach der der Gesetzgeber in notrechtlicher Weise darauf beschränkt sei, Mindestanforderungen existiellen Funktionierens des freiheitlichen Meinungsbildungsprozesses zu verbürgen117. Solche Mindestanforderungen muß er schaffen118, er darf und muß jedoch in Ausfüllung der programmatischen Schicht der Grundrechtsnorm darüber hinausgehend die Medienstruktur so einrichten, daß die verschiedenen kommunikativen Entfaltungsbedarfe einander optimierend zugeordnet werden, um ihnen größtmögliche Verwirklichungschancen zu sichern. Gestaltet der Gesetzgeber den Freiheitsbereich nicht erstmalig, sondern abändernd um {„Umgestaltung"), so ist auch dies kein Eingriff. Beeinträchtigt er dabei allerdings früher ausgestaltete, befristet oder unbefristet bestandsbeschützte Rechte unter Vernachlässigung dieses Bestandsschutzes (dazu s. unten Rdn. 40), kann die Regelung insoweit zugleich rechtsdogmatisch einen Eingriff in diesen Bestand darstellen119, als dieser geschützte Bereich betroffen ist. Angesichts der Gestaltungsoffenheit der Medienordnung bedarf ein solcher Bestandsschutz allerdings einer besonderen Regelung und ist daher nur ausnahmsweise gegeben. 35 Aufgrund des objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalts ist dem Gesetzgeber bzw. den gesetzesanwendenden Staatsorganen auch außerhalb der Medienfreiheit verfas112

BVerfGE 73, 118 (166).

113

Vgl. ROSSEN Meinungsbildung

(Fn. 1 1 0 ) S. 2 8 5 f f , 3 0 7 f f ; HOFFMANN-RIEM Wirtschaftsrecht

(Fn. 7) S. 71 ff; S. RUCK Zur Unterscheidung von Ausgestaltungs- und Schrankengesetzen im Bereich der Rundfunkfreiheit, in: AöR 117 (1992) 543 sowie auch H. D. JARASS Grundrechte als Wertentscheidungen, in: A ö R 1 1 0 (1985) 391 f. 1,4 115 116 117

118

119

Dazu s. BVerfGE 57, 295 (321). Daher gilt auch nicht das Übermaßverbot als Rechtsmäßigkeitsmaßstab. So RUCK Unterscheidung (Fn. 113) S. 549; s. auch JARASS Wertentscheidungen (Fn. 113) S. 391 f. So aber P. Lerche Verfassungsrechtliche Aspekte der „inneren Pressefreiheit", 1974, S. 84; noch enger KLEIN Rundfunkfreiheit (Fn. 10) S. 75. F. KÜBLER Empfliehlt es sich, zum Schutze der Pressefreiheit gesetzliche Vorschriften über die innere Ordnung von Presseunternehmen zu erlassen?, 49. DJT, D 47 f. HOFFMANN-RIEM Wirtschaftsrecht (Fn. 7) S. 74; S. RUCK Unterscheidung (Fn. 1 1 3 ) S. 5 5 0 f.

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

215

sungsdogmatisch aufgegeben, die Funktionsweise freiheitlicher Kommunikation zu schütten. Beispielhaft erwähnt seien Vorkehrungen zur Sicherung der Zugänglichkeit von Informationen, sei es als Maßnahme gegen informationsverstopfende Exklusivverträge 120 oder zur Sicherung des Zugangs zu Informationen aus dem Aufgabenbereich des Staates121 oder zur Sicherung sozialstaatlich verträglicher Rahmenbedingungen für die Individualkommunikation, etwa auf Subventionierung des Briefverkehrs. 2. Gesetzgebungskompetenzen Ausgestaltungen wie Beschränkungen unterliegen dem Gesetzesvorbehalt, der zum 36 Parlamentsvorbehalt erstarken kann 122 . Bundes- und Landesgesetzgeber teilen sich die Kompetenzen. In Presseangelegenheiten hat der Bund (nur) eine Rahmenkompetenz (Art. 75 Nr. 2 GG), die er bisher nicht ausgeschöpft hat. Rundfunkrechtliche Regelungen sind in ihren kulturrechtlichen Dimensionen von der ausschließlichen Länderkompetenz (Art. 70 Abs. 1 GG) erfaßt, während der Bund zu Regelungen über die technische Infrastruktur ausschließlich befugt ist (Art. 73 Nr. 7 GG) 123 . Angesichts vielfältiger Verzahnungen und Überschneidungen sind die Zuordnungen nicht leicht vorzunehmen; sie sind im einzelnen unter Rückgriff auf den Regelungsansatz, den Regelungstyp, den (prognostizierten) Wirkungszusammenhang und die am Regelungstyp und Wirkungszusammenhang ausgerichtete und dadurch objektivierte Zielrichtung vorzunehmen. Als Grundsatz gilt, daß die Mediengesetzgebungskompetenz auf die Grundrechtsausgestaltung zielt, nicht aber auf die Schrankenziehung durch allgemeine Gesetze, für die die allgemeinen Kompetenznormen (Art. 70 ff GG) zu beachten sind. Dies gilt auch dann, wenn der Schrankengesetzgeber Vorkehrungen zum Schutz von Gefahrdungen schafft, die typischerweise oder in besonderer Ausprägung von Medien ausgehen. Besteht allerdings ein enger Sachzusammenhang zwischen der Grundrechtsausgestaltung und Vorkehrungen zur Sicherung praktischer Konkordanz bei möglichen Kollisionen zwischen der Ausübung der Medienfreiheit und sonstigen Rechtsgütern, dann darf der Mediengesetzgeber im Rahmen einer Annexkompetenz auch Schranken ziehen 124 . Die Verwobenheit der Materien gibt dem Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme und der Bundestreue besondere Relevanz 125 . Medienfreiheit fällt damit insbesondere in die Obhut eines intensivierten kooperativen Föderalismus, und zwar sowohl auf der Bund-Länder-Ebene als auch

120

Dazu vgl. die Regelungen des Rechts auf Kurzberichterstattung in § 4 R f S t V und entsprechend in den Landesrundfunkgesetzen, etwa § 3 a L R G N R W ; R. RICKER Grundversorgung contra Vertragsfreiheit — Anspruch öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten auf unentgeltliche Kurzberichterstattung über Fußballveranstaltungen? in: Z U M 1988, 3 1 1 ff; E . W . FUHR Exklusivberichterstattung des Rundfunks im Spannungsverhältnis zwischen Privatautonomie, Kartellrecht und Recht auf freie Berichterstattung, in: Z U M 1988, 327 ff.

121

Vgl. B V e r w G E 70, 3 1 0 (312 f). Vgl. B V e r f G E 80, 124 (132); sowie 57, 295 (320 ff); 73, 1 1 8 (153 ff). Vgl. B V e r f G E 12, 205 (225 ff).

122 123 124

HOFFMANN-RIEM W i r t s c h a f t s r e c h t ( F n . 7 ) S . 1 0 7 ; R U C K U n t e r s c h e i d u n g ( F n . 1 1 3 ) S . 5 5 4

125

Vgl. B V e r f G E 12, 205 (254 ff).

216

2. Kapitel. Grundrechte

im Verhältnis der Länder untereinander. Die Koordinierung durch Staatsvertrag oder Richtlinien (vgl. § 31 RfStV) dokumentiert dies ebenso wie ein Finanzausgleich126. 37 Angesichts der Öffnung des ökonomischen Marktes für die privatwirtschaftliche Betätigung der Medien ist das Verhältnis von Wirtschafts- und Medienrecht besonders wichtig127: Der ökonomische Wettbewerb wird als Mittel zur Sicherung publizistischen Wettbewerbs und dieser als Mittel zu Sicherung der Funktionsfahigkeit der Medienordnung genutzt. Dabei kann auch der Rundfunkgesetzgeber ergänzend auf Wirtschaftsrecht zurückgreifen128. Angesichts des weitgehenden Verzichts des Presserechts auf Ausgestaltungen gibt es zwar dort kaum Abgrenzungsprobleme129, wohl aber im Rundfunkbereich. Da der Bund unstreitig Wirtschaftsgesetze und das jeweilige Land unstreitig Rundfunkgesetze erlassen darf, paßt die Geltungsvorrangregel des Art. 31 GG für das Verhältnis der insoweit erlassenen Gesetze nicht130. Vielmehr geht es um die Zuordnung bzw. den Vorrang bei der Anwendbarkeit der jeweiligen Gesetze131. Im Bereich der Ausgestaltung der Medienordnung gilt ein Anwendbarkeitsvorrang des Medienrechts: Da der Wirtschaftsgesetzgeber keine Regelungskompetenz für die Ausgestaltung der Medienordnung hat, muß er die Ausgestaltungsentscheidung des Mediengesetzgebers unbedingt respektieren132. Einer Abwägung bedarf es insoweit nicht. Der Wirtschaftsgesetzgeber darf nicht nur nicht in den Ausgestaltungsbereich intervenieren, sondern auch keine funktionalen Äquivalente zur Ausgestaltung der Rundfunkordnung schaffen133. Auch dürfen wirtschaftsrechtliche Normen nicht so ausgelegt werden, daß sie auf das Gleiche hinausliefen. Dem Mediengesetzgeber steht aber die Entscheidung frei, ob und wieweit er auf ergänzendes Wirtschaftsrecht vertrauen will. Dementsprechend kann er ausdrücklich oder implizit eine Anordnung zur Sicherung der Anwendbarkeit des Wirtschaftsrechts im Zuge der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Medienordnung treffen134. Eine ausdrückliche Anwendbarkeitsanordnung ist z.B. die Normierung 126 127

128 129

130 131

132

133

134

Vgl. dazu W. HOFFMANN-RIEM Rundfunkneuordnung in Ostdeutschland, 1991, S. 26 ff, 88 ff. Dazu vgl. H. D. JARASS Kartellrecht und Landesrundfunkrecht, 1991; H. BETHGE Landesrundfunkordnung und Bundeskartellrecht 1 9 9 1 ; B. GRUNDMANN Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Wettbewerb, 1990; W. HOFFMANN-RIEM Wirtschaftsrecht (Fn. 7) S. 65 ff. Vgl. B V e r f G E 73, 1 1 8 (174 ff). Wohl aber kann die Zuständigkeit des Wirtschaftsgesetzgebers bei pressebezogenen Regulierungen zweifelhaft sein, siehe dazu z.B. B V e r f G A f P 1985, 108. Unrichtig daher K G W u W 1/1992 O L G 4 8 1 1 , 4822. Näher dazu RUCK Unterscheidung (Fn. 113) S. 563, die darlegt, daß der Meinungsstreit von der Anerkennung der Rechtsfigur der Ausgestaltungsgesetze abhängt (s. o. Rdn. 34). Siehe HOFFMANN-RIEM Wirtschaftsrecht (Fn. 7) S. 78 ff; s. auch das Positionspapier der Rundfunkreferenten v o m 27-/28. November 1990: Zur Abgrenzung von Rundfunkrecht und Wirtschaftsrecht, in: epd. K i F u — Dokumentation Nr. 2 v o m 12. Januar 1991, 20 ff. Vgl. aber auch W.-H. ROTH Rundfunk und Kartellrecht, in: A f P 1986, 287 ff. Unrichtig K G W u W 1/1992 O L G 4 8 1 1 , 4820. A u f das BVerfG kann das K G sich — entgegen seiner Behauptung — nicht berufen. HOFFMANN-RIEM Wirtschaftsrecht (Fn. 7) S. 83 ff. Verfehlt sind daher die Versuche, das G W B gegen Rundfunkrecht zu nutzen, s. aber statt vieler ζ. Β. M. RUDOLPH Programmausweitung und Kartellaufsicht in: Z U M 1986, 451 ff. Umgekehrt geht das K G W u W 1/1992 O L G 4 8 1 1 , 4821 vor, das annimmt, Wirtschaftsrecht gelte f ü r den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, soweit der Landesrundfunkgesetzgeber ihn nicht ausdrücklich befreit hat. Dies verkehrt das Verhältnis von Ausgestaltung und Beschränkung. Im übrigen könnte das K G auf der Basis seiner Konstruktion nicht begründen, woraus die Rechtsmacht eines Landesgesetzgebers folgte, einen Geltungsvorrang des G W B zu begründen.

§7

K o m m u n i k a t i o n s - und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

217

einer kartellrechtlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung als Voraussetzung einer rundfunkrechtlichen Lizenz. Implizit liegt eine Anwendbarkeitsanordnung in dem presserechtlichen Verzicht auf eine nähere Ausgestaltung der Pressestruktur oder in der rundfunkrechtlichen Freigabe der Finanzierung an den ökonomischen Markt. Denkbar ist auch eine Anwendbarkeitsduldung, so im Hinblick auf Aktivitäten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in den sogenannten vor- und nachgelagerten Bereichen (Erwerb, Verwertung etc. von Programmen als Teilhabe am allgemeinen geschäftlichen Verkehr)135. Der Wirtschaftsgesetzgeber darf mit Auswirkung auf die Medienordnung nur 38 sogenannte Schrankengeset^e gemäß Art. 5 Abs. 2 GG erlassen. Zu Ihnen gehören das GWB136 und das UWG, die den Schutz von nichtmedienfreiheitsbezogenen Rechtsgütern bezwecken. Bei der Anwendung der gesetzlichen Begriffe und der Nutzung der Ermessungsermächtigungen ist die Ausstrahlungswirkung von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG zu berücksichtigen. Im Zuge der Herstellung praktischer Konkordanz muß den kollidierenden Rechtsgütern (ζ. B. Kommunikationsfreiheit einerseits, Wettbewerbsfreiheit andererseits) unter Beachtung ihrer Schutzwürdigkeit und -bedürftigkeit wechselseitig im Rahmen des Möglichen zu optimaler Wirksamkeit verholfen werden137. 3. Recht auf Nutzung eines Massenmediums Besonders umstritten ist, wieweit ein Recht auf Nutzung eines Massenmediums — 39 ζ. B. auf Zulassung als Rundfunkveranstalter — aus Art. 5 GG folgt. Mit der Anerkennung der besonderen Ausgestaltungskompetenz (s. o. Rdn. 34) ist die Antwort vorgegeben: Es gibt ein solches Recht nur nach Maßgabe der Rechtsnormen, die den Freiheitsbereich aufgrund des verfassungsrechtlichen Gewährleistungsauftrags ausgestalten138139. Dies gilt für die von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG erfaßten Massenmedien. 135 136 137

Näher HOFFMANN-RIEM Wirtschaftsrecht (Fn. 7) S. 1 3 9 ff. B V e r f G A f P 1 9 8 5 , 1 0 8 ; B G H Z 76, 66 f; MÖSCHEL Pressekonzentration (Fn. 48) S. 5 3 ff. Im einzelnen ist vieles strittig, vgl. etwa B G H Z U M 1 9 9 0 , 5 1 2 f f ; B G H Z 1 1 0 , 1 7 8 ; Β. H. OPPERMANN Medienrecht, P r i v a t r u n d f u n k und Wettbewerb, in: Z U M 1 9 9 0 , 3 7 6 ; R. STETTNER Rechtsbindungen der Programmbeschaffungstätigkeit öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten - im W e t t b e w e r b mit Privaten, in: Z U M 1 9 9 1 , 4 4 1 ff.

138

Α . M. sind diejenigen, die eine Ausgestaltungskompetenz verneinen und n u r Schrankengesetze anerkennen: Sie lesen A r t . 5 G G als G r u n d r e c h t der G r ü n d u n g s - und Betätigungsfreiheit, das allenfalls unter besonderen Bedingungen befristet eingefroren sei o d e r beschränkt w e r d e n dürfe; s. statt vieler C. v. PESTALOZZA D e r Schutz v o r der R u n d f u n k f r e i h e i t in der Bundesrepublik Deutschland, in: N J W 1 9 8 1 S. 2 1 5 8 ff; BULLINGER H d B S t R Bd. 6 (Fn. 62) § 1 4 2 Rdn. 1 4 5 f f ; W. RUDOLF Über die Zuverlässigkeit privaten R u n d f u n k s , 1 9 7 1 , S. 22, 73.

139

So auch — allerdings nur f ü r den R u n d f u n k — BADURA R u n d f u n k g e s e t z g e b u n g (Fn. 93) S. 3 0 f, 4 5 f, 78; SCHMIDT R u n d f u n k g e w ä h r l e i s t u n g (Fn. 52) S. 96 f; BÖCKENFÖRDE/WIELAND R u n d f u n k freiheit (Fn. 96); R . SEELMANN-EGGEBERT Die D o g m a t i k der R u n d f u n k f r e i h e i t gem. A r t . 5 A b s . 1 Satz 2 G G a u s d e r Sicht des Bundesverfassungsgerichts in: Z U M 1 9 9 2 , 79, 86 f. G e m ä ß dem K o n z e p t e i n e r e i n h e i t l i c h e n , die Massenmedien erfassenden „Medienfreiheit" darf diese Aussage j e d o c h n i c h t a u f den R u n d f u n k beschränkt bleiben, sondern erfaßt auch Presse und Film. M e d i e n s p e z i f i s c h c S o n d e r a u s g e s t a l t u n g e n sind nicht ausgeschlossen, sondern mit Rücksicht auf die j e w e i l i g e n F u n k t i o n s e r f o r d e r n i s s e ermöglicht/geboten.

218

2. Kapitel. Grundrechte

Der Gesetzgeber ist im Rahmen der Funktionserfordernisse berechtigt, den Zugang zu Medien allgemein zu öffnen — ζ. B. durch Verzicht auf besondere Zugangsregeln und damit durch Bereitstellung der allgemeinen privatrechtlichen und privatwirtschaftlichen Handlungsformen (so gegenwärtig für Presse, Film ) — oder medienspezifisch (aber inhaltsneutral) zu regulieren (so z. Zt. für Rundfunk). Soweit andernfalls die Funktionsfähigkeit der Medienordnung gefährdet ist, kann ein präventives Zulassungsverfahren geboten sein140. Dabei verfügt der Gesetzgeber über einen an der Funktionsfähigkeit der Medienordnung orientierten Gestaltungsspielraum (s. o. Rdn. 34). Dementsprechend gibt es kein verfassungsunmittelbares subjektives Recht auf Eröffnung einer bestimmten Konstruktion (etwa einer privatwirtschaftlichen Struktur) oder gar auf Zulassung141. Denkbar ist allerdings eine Reduzierung des Gestaltungsermessens auf Null'42. Soweit der Gesetzgeber faktische Vorzugspositionen — etwa die Möglichkeit zum Kapitaleinsatz — als Grundlage der rechtlichen Ausgestaltung anerkennt, muß dies am Konzept der Freiheitlichkeit der Medienverfassung für Kommunikatoren und Rezipienten legitimierbar sein. Eine privatwirtschaftliche Medienstruktur, die Marktmächtigen faktisch Vorzugspositionen einräumt, ist nur zulässig, wenn sie auf freiheits-(vielfalts-)sichernde Vorkehrungen trifft, ζ. B. zur Beschränkung von Medienmacht143, und insofern an ihren Möglichkeiten für publizistische Leistungen (insbesondere Vielfalt) legitimiert ist144. In vergleichbarer Weise müssen auch in einer nichtgewerblichen Medienstruktur — etwa in der Ordnung öffentlich-rechtlichen Rundfunks — Garanten zur Ermöglichung publizistischer Vielfalt verankert sein. 40 Angesichts der Gestaltungsoffenheit der Medienordnung ist ein Bestandsschutζ für einzelne Akteure oder für einen bestimmten Typ von Medienorganisationen nicht durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geschaffen. So haben die konkret bestehenden Rundfunkveranstalter Bestandsschutz nur vorbehaltlich ihrer Anerkennung durch den staatlichen Ausgestaltungsakt, d. h. nach Maßgabe der jeweiligen Rundfunkgesetze. Auch genießt der Typ privatwirtschaftlichen Rundfunks nur Verfassungsschutz, solange und soweit die Grundversorgung der Bevölkerung durch öffentlich-rechtlichen Rundfunk sichergestellt ist145. Erweist sich eine rundfunkrechtliche Regelung als nicht hinreichend zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Rundfunkordnung, so darf sie auch während der Laufzeit von Privatfunk-Lizenzen verändert werden. Auch darf ein problematisches Ausmaß an Medienkonzentration zum Anlaß für Entflechtungen genommen werden. Der Typ einer privatwirtschaftlichen Ordnung 140

141 142

143 144

145

So nach B V e r f G E 57, 295 (326) für die Rundfunkveranstaltung; nach E 73, 1 1 8 (197 f) aber nicht für die Weiterverbreitung gesetzlich zugelassener Programme. Bisher f ü r Rundfunkveranstaltung v o m B V e r f G offengelassen, siehe E 57, 295 (318). Eine durch solche Reduktion begründete Zulassungsfreiheit mag für die Presse z. Zt. (noch) angenommen werden, bleibt aber angesichts der aktuellen Vermachtung im Pressebereich schon unter gegenwärtigen Bedingungen rechtfertigungsbedürftig. Vgl. B V e r f G E 20, 162 (176); 73, 1 1 8 (172 ff). Um Mißverständnisse auszuschließen, sei ausdrücklich betont, daß es sich nur um die Legitimation der Medienstruktur handelt, nicht um eine konkrete Legitimation des Verhaltens der einzelnen Grundrechtssubjekte. B V e r f G E 73, 118, 157 ff; 83, 238, 297.

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

219

des Kino- oder Pressewesens steht grundsätzlich ebenfalls unter dem Vorbehalt ausgestaltender Regeln, die allerdings Privatwirtschaftlichkeit vorsehen müssen, soweit dies im Interesse der Funktionsfähigkeit des Mediums unabdingbar ist (s. o. Rdn. 34). Spezielle Berufsrollen — ζ. B. die Rolle des Verlegers als Inhaber des Verlagsunternehmens — genießen nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG Bestandsschutz nur insoweit, als sie im Rahmen der jeweiligen Ausgestaltung des Pressewesens prinzipiell vorgesehen sind bzw. im Interesse der Funktionsfähigkeit des öffentlichen Kommunikationsprozesses vorgesehen werden müssen 146 . Keinen Bestandsschutz genießen die für pluralistische Aufsichtsorgane entsendungsberechtigten Organisationen bzw. die entsandten Vertreter 147 .

IV. Abwehr von Eingriffen 1. Schranken, insbesondere die der allgemeinen Gesetze Eingriffe in die Meinungs- und Informationsfreiheit oder in die (gegebenenfalls näher 41 ausgestaltete) Medienfreiheit unterliegen den gleichen Rechtmäßigkeitsanforderungen wie auch sonst Grundrechtseingriffe. Eine Besonderheit schafft allerdings Art. 5 Abs. 2 GG. Beschränkungen sind — abgesehen von solchen ζ um Schutze der Ehre und der Jugend — nur im Rahmen der „allgemeinen Gesetze"148 zulässig, d. h. eines Gesetzes, das sich nicht gegen den Inhalt der Kommunikation oder die Kommunikation als solche richtet. Die Beschränkung unterliegt dem Vorbehalt eines formellen oder materiellen Gesetzes, das im Hinblick auf Regelungsziel und -ansatz besonderen Anforderungen genügt. Das Regelungs^jel gilt nur als legitim, wenn es im Schutz eines Rechtsguts besteht, das in der Rechtsordnung unabhängig davon geschützt wird, ob es durch Kommunikationsinhalte, durch Medien oder auf andere Weise gefährdet wird. Die Legitimation darf argumentativ nicht unter Rückgriff auf den inhaltlichen (Un-)Wert der zu beschränkenden Meinungsäußerung, den (Un-)Wert des Massenmediums oder den (Un-)Wert der Art und Weise der beim Rezipienten ausgelösten Meinungsbildung gerechtfertigt werden 149 , wohl aber ζ. B. mit Rücksicht auf die Art und Weise der Äußerung oder gar Betätigung 150 . 146

147

148

149

150

Näher dazu HOFFMANN-RIEM/PLANDER Pressereform (Fn. 52) S. 65 ff; W. HOFFMANN-RIEM Innere Pressefreiheit als politische Aufgabe, 1979, S. 90 ff, 95. Anders die h. M. s. etwa P. LERCHE Verfassungsrechtliche Aspekte der „inneren Pressefreiheit", 1974, 35 ff, 53 ff. B V e r f G E 83, 238 (332 ff); W. HOFFMANN-RIEM Neukonstituierung der Rundfunkorgane bei der Novellierung des Rundfunkrechts, in: ZUM 1992, 271 ff. Die Rechtsprechung und Literatur zum Begriff des „allgemeinen Gesetzes" sind umfangreich. S. statt vieler B V e r f G E 7, 198 (209); 74, 297 (343); CH. STARCK Herkunft und Entwicklung der Klausel „allgemeine Gesetze" als Schranke der Kommunikationsfreiheiten in Art. 5 Abs. 2 des Grundgesetzes, in: Festschrift f ü r W. Weber, 1974, S. 189 ff; RIDDER Meinungsfreiheit (Fn. 79) S. 243, 282 ff; W. SCHMITT GLAESER Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: A ö R 97 (1972) 260, 276 ff. Vgl. hierzu B. SCHLINK Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 201; DERS. Zwischen Identifikation und Distanz, in: Der Staat 1976, 335, 353 ff; DEGEN Eigentumsgarantie (Fn. 52) S. 248, 262. B V e r f G E 73, 187 (191).

220

2. Kapitel. Grundrechte

42

Eigenständigen Anforderungen unterliegt ferner der RegelungsansatDie Maßnahme muß unter Beachtung der Grundsätze zur Herstellung praktischer Konkordanz geeignet, erforderlich und angemessen zum Schutze des Rechtsguts sein (Übermaßverbot)151. Ungeachtet eines legitimen Zwecks — etwa des Schutzes der Verfassung — sind Ermächtigungen verfassungsrechtlich problematisch, die einen Regelungsansatz wählen, der eine negative Sanktionierung von Kommunikations/«,W/i« umfaßt. Sie sind allenfalls dann rechtfertigungsfähig, wenn eine konkrete und unmittelbar bevorstehende, anders nicht zu bekämpfende Gefahr für ein hochrangiges Schutzgut besteht, das unabhängig davon geschützt ist, ob es durch Kommunikation oder auf andere Weise gefährdet wird. Verbleiben Zweifel, ob das Regelungsziel der inhaltsbeschränkenden Maßnahmen gerechtfertigt bzw. ob der Regelungsansatz angemessen, erforderlich oder gar geeignet ist, so muß die Maßnahme unterbleiben.

43

Auf die reichhaltige Judikatur und Rechtsprechung zum Wechselverhältnis von Kommunikations- und Medienfreiheit und den damit kollidierenden Rechtspositionen kann hier nur pauschal verwiesen werden152. Angesichts neuer Gefährdungspotentiale (ζ. B. in der elektronisch vermittelten Kommunikation), der Ausdifferenzierung neuer oder neu akzentuierter Schutzbedarfe (insbesondere Persönlichkeitsschutz) und der (auch multikulturellen) Fragmentierung der Gesellschaft mündet die ohnehin schon hochgezüchtete Abwägungsjudikatur in einer die rechtsstaatliche Vorhersehbarkeit kaum noch sichernden Kasuistik. Die materiellrechtlichen Orientierungen haben nur begrenzte Steuerungskraft, so daß Kompensationen in Verfahrensregeln (etwa über die Darlegungs- und Beweislast) und in Organisationsvorkehrungen (ζ. B. über pluralistisch zusammengesetzte Beurteilungsgremien) naheliegen. Angesichts der drohenden Überforderung der Rechtsprechung sind verstärkte Anstrengungen angezeigt, die Selbstregulierungskraft der Gesellschaft zu aktivieren; dies dürfte insbesondere in Kollisionsfeldern möglich sein, in denen die Akteure miteinander kompatible Wertprämissen haben. Es muß gleichwohl Raum für die Möglichkeit gerichtlicher Entscheidungen verbleiben, so insbesondere in Fällen, in denen die gesellschaftliche Bereitschaft zum Tolerieren und Respektieren von Besonderheiten und Schutzbedarfen begrenzt ist. Manche freiheitliche Gesellschaften des Auslands sind allerdings erheblich geringer auf die Zuflucht zu Gerichten angewiesen und nutzen stärker außergerichtliche Konfliktlösungsmechanismen. Eine Gestaltungsaufgabe der Zukunft könnte ζ. B. darin bestehen, Kollisionsprobleme vermehrt im Rahmen bestehender privater oder staatlicher Institutionen zu bewältigen oder einen Ausbau der institutionalisierten Öffentlichkeit zu versuchen, der mithilft, eine politische Kultur öffentlicher Kommunikation153 entstehen zu lassen, die aufsichtliches Eingreifen oder Gerichtsschutz nur als äußerste Reserve benötigt.

151 152

153

So auch HESSE Verfassungsrecht (Fn. 10) Rdn. 3 3 9 f; B V e r f G E 59, 2 3 1 (265). A u s der Kommentarliteratur s. statt vieler DEGENHART in: B K (Fn. 107); JARASS/PIEROTH

G G (Fn. 110) Art. 5 Rdn. 55 ff; HOFFMANN-RIEM A K - G G (Fn. 80) Art. 5 Rdn. 4 8 - 7 4 d , Rdn. 1 0 2 - 1 0 7 ; Vgl. als Teil des Problemfeldes U. SARCINELLI (Hrsg.) Demokratische Streitkultur, 1990.

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

221

2. Zensurverbot Auch in Zukunft wird das historisch gewachsene, in Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG 44 enthaltene Zensurverbot wichtig bleiben. Dieses Verbot reagiert auf die in vergangenen Jahrhunderten praktizierten Formen planmäßiger Überwachung und Beengung der Kommunikationsinhalte und -prozesse. Abgewehrt werden sollen die durch Kontrolle bewirkte Einschüchterung der kommunikationsbereiten Bürger, die Beengung des Kommunikationsspektrums und Gefahren der Meinungslenkung. Ausgangspunkt der Interpretation von Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG ist der Befund, daß in dieser Norm bestimmte Beeinträchtigungen der Kommunikation unabhängig davon diskriminiert werden, ob sie als Grundrechtskonkretisierung oder -ausgestaltung nach Abs. 1 oder als Schrankensetzung nach Abs. 2 einzuordnen wären. Durch keine der grundrechtsbezogenen Maßnahmen darf Zensur ausgeübt werden 154 , so beispielsweise auch nicht zu Zwecken des Ehren- oder Jugendschutzes. Nach h. M. ist Zensur nur das Abhängigmachen einer Veröffentlichung von 45 einer vorherigen Genehmigung einer staatlichen Stelle {formeller Zensurbegriff)xis. Ferner sollen nur Maßnahmen vor der Herstellung bzw. erstmaligen Verbreitung eines Geisteswerkes (Vorzensur) verboten sein156. Durch diese beiden Elemente (formeller Zensurbegriff, Vorzensur) wird das Zensurverbot praktisch erheblich eingeengt. Demgegenüber scheint eine Erweiterung unter Anpassung an aktuelle Gefährdungen angebracht. Die Ratio des Verbots liegt in der Verhinderung einer umfassenden bzw. planmäßig/systematisch durchgeführten Kommunikations kontrolle. Eine solche Kontrolle würde das Geistesleben lähmen und zu anpaßlerischer Vorsicht veranlassen und damit Grundbedingungen freier Kommunikation beseitigen. Eine lähmende Kommunikationsbehinderung wäre ζ. B. auch dann zu befürchten, wenn zwar auf ein Genehmigungsverfahren verzichtet würde, aber staatliche Stellen zur inhaltlichen Überwachung der Kommunikation, etwa zur systematischen Gefahrenerforschung, ermächtigt würden 157 . Daher muß das Zensurverbot umfassend als Verbot systematischer Kontrolle (insbesondere Gefahrenerforschung) im Kommunikationsbereich verstanden werden. Ferner ist die Beschränkung auf die Vorzensur in Frage zu stellen. Planmäßige Kommunikationskontrollen beeinträchtigen die Freiheitlichkeit des Kommunikationsprozesses auch, wenn sie nach erstmaliger Verbreitung der Kommunikation erfolgen. Das Zensurverbot ist nicht auf traditionelle Eingriffe begrenzt, sondern erfaßt 46 auch faktische, eingriffsgleiche Maßnahmen158. Vorausgesetzt ist allerdings, daß der faktische Kontrollmechanismus ein funktionales Äquivalent der formellen Zensur 154

155 156

157

158

Siehe R. WENDT, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.) Grundgesetzkommentar, Bd. 1, 4. A u f l . , 1992, Art. 5 Rdn. 66; B a y O b L G N J W 1960, 161. Siehe statt vieler HERZOG in: Maunz/Dürig (Fn. 10) Art. 5 Abs. I, II G G Rdn. 78. Vgl. B V e r f G E 33, 52 (72); a. M . J. NOLTENIUS Die freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft und das Zensurverbot des Grundgesetzes, 1958, S. 108; LÖFFLER/RICKER Handbuch (Fn. 10) Rdn. 22 zum 7. Kapitel. Vgl· B V e r f G E 32, 52 (89 f) (Minderheitenvotum). Weitergehend im Sinne eines umfassenden materiellen Zensurbegriffs NOLTENIUS Zensurverbot (Fn. 156) S. 107 f. Allgemein dazu P. LERCHE Werbung und Verfassung, 1976, S. 108.

222

2. Kapitel. Grundrechte

darstellt. Dies kann ζ. B. der Fall sein, wenn Vermögensvorteile (etwa Steuervergünstigungen) für die Verbreitung bestimmter Kommunikationsinhalte in Aussicht gestellt werden und deren Gewährung an eine Kontrolle der Inhalte geknüpft wird. Eine solche Konstruktion kann jedenfalls dann ein funktionales Äquivalent der Zensur schaffen, wenn die erfaßten Kommunikationsinhalte marktmäßig verbreitet zu werden pflegen (ζ. B. Kinofilme) und die Gewährung der Vermögensvorteile zu einer Änderung der Marktsituation derart führt, daß die Verbreitungschancen für nicht geförderte Kommunikationsinhalte entfallen159. 47

Das Zensurverbot richtet sich gegen den Staat. Der progammatische Gehalt der Kommunikationsfreiheit legitimiert bzw. verpflichtet den Gesetzgeber jedoch, das Verbot auch auf andere Kontrollinstan^en, insbesondere ähnlich machtvolle private Kontrollträger, zu erstrecken, soweit sie ihre soziale oder ökonomische Macht zur Kommunikationskontrolle nutzen160, etwa unter Nutzung von Exklusivverträgen161.

V. Ausgestaltung der Medienordnung 48 Die im Kampf um die Zensurfreiheit symbolisierte Zurückdrängung des Staates aus der Kommunikationsordnung reicht nicht aus zur Sicherung der Freiheitlichkeit der Kommunikation. Kommunikationspolitik als Grundrechtspolitik bedarf der ordnenden Hand des Staates, dies insbesondere im Bereich der Massenkommunikation, der sonst durch private Vermachtung und Mißbrauchsrisiken geprägt sein könnte. Der Aufbau einer freiheitlichen Medienordnung im Gebiet der ehemaligen DDR bot entsprechende Gestaltungschancen in der Ablösung einer Zwangsordnung. Die Gestaltungsaufgabe ist allerdings Anfang der 90er Jahre nicht zum Gegenstand einer größeren medienpolitischen Debatte geworden; stattdessen wurden nach einer wildwüchsigen Anfangsphase die im Westen etablierten Strukturen ohne sonderliche Abweichungen auch im Osten eingerichtet162 und die nach der „Wende" unternommene Suche nach

159 160

161

162

Zur Problematik vgl. B V e r w G E 23, 194 (199). Noch weitergehend M. LÖFFLER Presserecht Bd. 1, 3. A u f l . 1989, Rdn. 159 ff zum 1. Abschnitt; LÖFFLER/RICKER Handbuch (Fn. 10) Rdn. 25 f zum 7. Kapitel die unter Rückgriff auf die historische Entwicklung (insbesondere die Kirchenzensur) eine unmittelbare Geltung des Zensurverbots für andere Machtträger bejahen, ohne diese allerdings näher zu kennzeichnen. Zur Problematik von Exklusivverträgen vgl. T. UREK Grenzen der Zulässigkeit von Exklusivvereinbarungen über die Fernsehberichterstattung, 1991, m. w. Hinw. Dazu vgl. M. BULLINGER Die Entwicklung der Medien und des Medienrechts in den neuen Bundesländern, in: A f P 1 9 9 1 , 465 ff; W. HOFFMANN-RIEM Die Entwicklung der Medien und des Medienrechts im Gebiet der ehemaligen D D R ; in: A f P 1 9 9 1 , 472 ff; H. ROSSEN Öffentlichrechtlicher Rundfunk in den fünf neuen Ländern, in: Hans-Bredow-Institut (Hrsg.) Das Rundfunkrecht der neuen Bundesländer, 1992, M. SCHULER-HARMS Privatfunkregulierung in den neuen Bundesländern, in: Hans-Bredow-Institut (Hrsg.) Das Rundfunkrecht in den neuen Bundesländern, 1992; E. FAUL Die neue Rundfunkordnung Deutschlands, in: W. Gellner (Hrsg.) A n der Schwelle zu einer neuen deutschen Rundfunkordnung 1 9 9 1 , S. 1 2 3 ff.

§7

Kommunikations- und Medieiifreiheit (HOFFMANN-RIEM)

223

eigenen Wegen — etwa in Anknüpfung an Vorschläge des sogenannten Runden Tisches163 — wurden abgebrochen. 1. Grundmodelle der Medienregulierung Bei der Wahrnehmung seiner Gestaltungsaufgabe stehen dem Gesetzgeber im Bereich 49 der Massenmedien unterschiedliche Alternativen offen. Dabei ist er nicht verpflichtet, sich an konkrete Modelltypen zu halten164, muß jedoch ein funktionsfähiges, und insoweit ein in sich widerspruchsfreies Mediensystem einrichten165. Zwei Modelltypen sind gegenwärtig besonders wichtig. a) Markt- / Konkurren^modell Im marktorientierten Konkurren^modell (Marktmodell) wird die Vermittlung publi- 50 zistischer Inhalte der Funktionsweise ökonomischer Marktprozesse anvertraut, die zu sogenannter Außenpluralität (Vielfalt der Zeitungen, der Programme, der Veranstalter etc.) führen soll. Rechtlich steht jedermann der Zugang zu Massenkommunikationsmitteln offen (s. o. Rdn. 39). Es ist dem „jedermann" dabei selbst überlassen, wie er die erforderlichen Finanzmittel aufbringen, insbesondere wieweit er mit Hilfe des Mediums Erträge erwirtschaften will. Modelltypisch ist das Ziel der Kapitalverwertung einschließlich der Gewinnmaximierung mit Hilfe der Massenkommunikation. Dem Medienunternehmer steht aber auch frei, auf Erträge zu verzichten, etwa weil er nur kommunikativen Einfluß sucht (ζ. B. Gewerkschaftszeitung, Kirchenfunk). Unüberwindbare Informationsdefizite sollen bei Verwirklichung des Modells 51 nicht zu erwarten sein, da eine mögliche Marktlücke über kurz oder lang aufgespürt und geschlossen werde. Ökonomisch motivierte Konkurrenz werde publizistische Konkurrenz auslösen und dadurch eine optimale Befriedigung der Kommunikationsbedürfnisse ermöglichen. Auf eine staatliche Regulierung des Kommunikationsbereichs könne zugunsten des Vertrauens auf die Selbstregulierungskraft des Marktes verzichtet werden; allenfalls kämen Hilfen, ζ. B. bei der Verteilung der verfügbaren Frequenzen, und ordnungspolitische Rahmenregelungen, insbesondere zur Sicherung der Funktionsweise des ökonomischen Wettbewerbs, in Betracht. b)

Integrationsmodell

Im Integrationsmodell soll die erwünschte publizistische Vielfalt je für sich in einem 52 Vollprogramm bzw. in einer Zeitung erreicht werden. Das Medium soll zur Verbreitung all der Tatsacheninformationen und Meinungen dienen, die zur Orientierung 163

164

165

Dazu s. die Beiträge zum Thema „Medien und Medienwissenschaft in der D D R — Dokumente einer Phase des Umbruchs" in: RuF 1990, S. 3 1 7 ff. Es gibt kein verfassungsrechtliches Gebot der „Modellkonsistenz", im Sinne einer Modelltreue oder eines Modelltypenzwanges, s. B V e r f G E 83, 238 (305). In diesem Sinne könnte sich dennoch empfehlen, v o m Grundsatz der Modellkonsistenz, verstanden als Widerspruchsfreiheit innerhalb des gewählten Modells, zu sprechen.

2. Kapitel. Grundrechte

224

der Rezipienten in ihren individuellen und sozialen Angelegenheiten notwendig bzw. von ihnen erwünscht sind. Der Kommunikator soll die vielfältigen Informationen treuhänderisch aufbereiten und für deren chancengleiche Verbreitung sorgen. Die Art der Finanzierung soll die Orientierung am Gemeinwohl ermöglichen. Deshalb werden vorrangig Formen gemeinwirtschaftlicher Finanzierung (beim Rundfunk ζ. B. Gebühren) vorgesehen. Mit der „dienenden" Rolle des Mediums ist verbunden, daß mögliche Privilegien nicht im Interesse der einzelnen Akteure (ζ. B. Intendant, Redakteure u. a.), sondern (nur) in dem der Funktionsfähigkeit der Medienordnung eingeräumt sind. 53

Die publizistische Vielfalt des Produkts soll aufgrund der vorrangig im Binnenbereich der Medien angesiedelten Steuerungsimpulse — ζ. B. binnenpluralistische Organisation und Aufsicht, binnenpluralistisch orientierte Programmbindungen, Stärkung berufsethischer Standards durch Absicherung professioneller Autonomie etc. — gesichert sein, deren Wirkungsmöglichkeiten aufgrund des Verzichts auf die privatwirtschaftliche Orientierung durch gegenläufige Imperative nicht vereitelt würden. Um eine auf Selbstregulierung aufbauende interne Organisationsstruktur absichern zu können, können staatliche Rahmenregelungen geboten sein, die bis hin zu einer staatlichen Rechtsaufsicht führen dürfen. c) Misch- und

Kombinationsmodelle

54 Die Einsicht in immanente Schwächen bzw. Schwierigkeiten bei der Umsetzung der jeweiligen Modellbildung können zur Entwicklung von Mischmodellen führen. Regulierende Eingriffe in den Marktmechanismus kennzeichnen ζ. B. Konzepte zur Regulierung privatwirtschaftlicher Medien, wie sie in vielen Rechtsordnungen für privaten Rundfunk vorgesehen sind. Aber auch im Bereich der Presse sind Abwandlungen des Marktprinzips möglich, wie etwa die früheren Ansätze zur Bekämpfung der Pressekonzentration 166 oder zum Ausgleich von Vielfaltsdefiziten durch eine größere journalistische Autonomie in den Redaktionen 167 zeigen. Eine Modifikation des Integrationsmodells liegt vor, wenn ζ. B. beim binnenpluralistischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk durch kommerzielle Finanzierungsformen (Werbung, Sponsoring) ergänzende marktorientierte Verhaltensstimuli geschaffen werden. Möglich ist auch eine Medienverfassung, in der unterschiedliche — in sich „reine" oder modifizierte — Modelltypen kombiniert werden, so insbesondere der öffentlichrechtliche Integrationsfunk mit dem privatrechtlichen und privatwirtschaftlichen Konkurrenzfunk (duale Rundfunkordnung).

166

167

Vgl. dazu MICHEL-KOMMISSION Zur Untersuchung der Wettbewerbsgleichheit von Presse, Funk/ Fernsehen und Film, BT-Drucks. V/2120; GÜNTHER-KOMMISSION Schlußbericht der Kommission zur Untersuchung der Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz von Presseunternehmen und der Folgen der Konzentration für die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland — Pressekommission —, BT-Drucks. V/3122. S. die Entwürfe eines Presserechtsrahmengesetzes, abgedruckt in HOFFMANN-RIEM/PLANDER Pressereform (Fn. 52).

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

225

2. Steuerungsinstrumentarium a)

Struktursteuerung

Der Gesetzgeber kann präventiv oder im Wege der Nachbesserung 168 versuchen, 55 durch Ausgestaltungsgesetze (s. o. Rdn. 34) auf die Struktur der Medienordnung insgesamt oder der agierenden Medienunternehmen einzuwirken oder ergänzend Verhaltensbindungen normieren, etwa in Form von Ge- und Verboten (imperative Steuerung) (s.u. Rdn. 56)169 oder durch Anreize (stimulierende Steuerung). Auf die Struktur der Medienordnung insgesamt kann der Gesetzgeber ζ. B. durch Veränderung des Verhältnisses von öffentlich-rechtlichem und privatem Randfunk einwirken (s. o. Rdn. 54) oder aber auch durch (zumindest teilweise) Modifikation eines Modelltyps. Auf die Struktur der am Markt tätigen privaten Unternehmen kann der Gesetzgeber durch Anforderungen an die Trägerschaft einwirken, wie es im Rundfunkrecht etwa in Form besonderer Zulassungsvoraussetzungen geschieht, so durch bevorzugte Lizenzerteilung an Bewerber mit vielfaltssichernden Strukturen oder durch Verzicht auf eine sonst mögliche Lizenzaufhebung, wenn entsprechende Strukturen eingerichtet werden (z.B. Anbietergemeinschaften 170 , Programmbeiräte 171 , organisatorische und verfahrensrechtliche Garanten innerer Medienfreiheit —172 (s. a. unten Rdn. 70 ff). Der Regelungstyp einer Struktursteuerung durch Bereitstellung unterschiedlicher Gestaltungsoptionen beruht auf der Annahme, daß Lizenzbewerber bzw. Lizenznehmer bemüht sein werden, die Zulassungschancen durch Eingehen auf die staatlicherseits gesetzten Stimuli zu verbessern, soweit dadurch die eigenen Interessen nicht über Gebühr beeinträchtigt werden. Solche (nur) stimulierenden Vorgaben belasten den Kommunikator/Unternehmer wegen der ihm verbleibenden Flexibilitätsmarge meist geringer als strikte Zugangsbarrieren 173 . b)

Verhaltenssteuermg

Derartige Einwirkungen auf die Medienstruktur sollen mittelbar auf das Verhalten 56 zurückwirken. Sie sind direkten Verhaltensbindungen insbesondere insoweit vorzuziehen, als sie mit einem geringeren Risiko des Mißbrauchs zur inhaltlichen Beeinflussung der Medienbetätigung verbunden sind. Angesichts ihrer Steuerungsun-

168 169

170

171 172 173

Vgl. B V e r f G E 73, 1 1 8 (203). Zu den unterschiedlichen Steuerungstypen vgl. W. HOFFMANN-RIEM Erosionen des Rundfunkrechts, 1990, S. 17 ff. Die Bevorzugung von Anbietergemeinschaften (BVerfGE 73, 1 1 8 (174 f); 74, 2 9 7 (330) fußt beispielsweise auf der Annahme, daß in sich unterschiedlich zusammengesetzte Unternehmensträger eine gewisse Sicherung v o r einseitiger Nutzung des Eigentums schaffen. Empirisch läßt sich dies allerdings nur begrenzt belegen; demgegenüber kann ein Zwang zur Schaffung v o n Anbietergemeinschaften im Marktmodell dysfunktional sein, so etwa weil dadurch kartellähnliche Verhaltensweisen und Verflechtungen begünstigt werden; s. a. die Kritik bei MESTMÄCKER Medienkonzentration (Fn. 48). Vgl. B V e r f G E 73, 1 1 8 (175). Vgl. B V e r f G E 83, 238 (319 ff). Vgl. die Argumentation in B V e r f G E 83, 238 (320); allgemein s. W. HOFFMANN-RIEM Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts als Aufgabe, in: A ö R 1 1 5 (1990) 4 1 7 ff.

226

2. Kapitel. Grundrechte

schärfe bleiben aber als eine Art Auffangnetz Verhaltensbindungen wichtig. Prototyp von Maßnahmen der direkten Verhaltenssteuerung sind Medieninhaltsbindungen, etwa in Form von Wahrheits-, Sorgfalts-, Ausgewogenheits-, Fairneß- oder Vielfaltspflichten, aber auch von Pflichten zur Veranstaltung von bestimmten Programmen (Vollprogramme, lokale Fenster-, Bildungs-, Kindersendungen) zur Ausnutzung der vorgesehenen Sendezeit, zur Beachtung von Werberestriktionen, zur Begrenzung der Wahlwerbung oder zum Schutz der kulturellen Identität, etwa durch Pflichten zur Berücksichtigung von einheimischen/europäischen Produktionen 174 . 3. Unabhängigkeit der Medienordnung a)

Staatsfreiheit

57 Das Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit schützt als Abwehrrecht vor „staatlichem Zwang" und anderen Eingriffen in die kommunikative Entfaltung, und zwar zugunsten des Kommunikators wie auch des Rezipienten 175 . Der insoweit allgemein anerkannte Grundsatz der „Staatsfreiheit"'1'"', der nicht nur die Exekutive, sondern auch die Legislative bindet 177 , gilt auch als Strukturprinzip des Medienwesens, das bei Wahrnehmung des Ausgestaltungsauftrags gesichert bleiben muß. Neben dem Schutz gegen unmittelbare oder mittelbare Inhalts-/Programmeinwirkungen 178 ist der objektiv-rechtliche Gehalt des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG zu realisieren. Danach sind bei Wahrnehmung des Gewährleistungsauftrags Gestaltungen zu wählen, die die für die Funktionsfähigkeit der Medienordnung gebotene Unabhängigkeit gegenüber dem Staat sichern 179 . Da der Staat andererseits auch Garant dieser Unabhängigkeit gegenüber Gefährdungen durch Dritte ist, kann nicht eine absolute Staatsferne angezeigt sein: Staatsferne ist nicht ein Wert in sich, sondern ein Bestandteil der Kommunikationsfreiheit. Daher ist stets dann, wenn der Schutzbereich des Art. 5 GG durch staatliche Maßnahmen betroffen ist, gesondert zu prüfen, wieweit dies in rechtmäßiger Weise geschieht, d. h. bei Ausgestaltungsmaßnahmen etwa durch die Kommunikationsfreiheit gerechtfertigt ist. Staatliche Kommunikationsbetätigung kann eine verfassungsrechtliche Legitimation haben (Öffentlichkeitsarbeit 180 , Verteidigungsauftrag 181 ). Die Beteiligung von Vertretern des Staates in Rundfunkräten oder den Kollegialorganen der Landesmedienanstalten ist nicht als solche verfas-

174

175 176

177 178 179 180 181

Die zuletzt erwähnten Regeln verfolgen neben kulturpolitischen Zielen meist auch Standort- und arbeitsmarktpolitische und sind im Rahmen des Art. 5 G G nur zu legitimieren, soweit die medienpolitischen Zielsetzungen allein die Regelung rechtfertigen könnten. Vgl. z.B. B V e r f G E 27, 71 (80ff). B V e r f G E 20, 162 (175); 57, 295 (320); 73, 1 1 8 (183 ff); 83, 238 (322 f); Überblick über die Rechtsprechung und Literatur bei H. GERSDORF Staatsfreiheit des Rundfunks in der dualen Rundfunkordnung der Bundesrepublik Deutschland, 1991, S. 22 ff, 50 ff. B V e r f G E 83, 238 (323). Siehe B V e r f G E 73, 1 1 8 (183); 83, 238 (323). Vgl. B V e r f G E 12, 205, 263; 73, 118, 165: zum staatlichen Beherrschungsverbot. S. dazu DEGENHART, in: B K (Fn. 107) Art. 5 Abs. 1 und 2 Rdn. 456 m. w. Hinw. S. dazu T. FIEBIG Rundfunk durch die Bundeswehr, Baden-Baden 1992.

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit (HOFFMANN-RIEM)

227

sungswidrig 182 , sondern erst ab einem Anteil, der bei ca. einem Drittel der Mitglieder liegen dürfte 183 . Auch gilt eine Beteiligung von Gemeindevertretern an der Mitgliederversammlung der Veranstaltergemeinschaft und die Beteiligung an der Betriebsgesellschaft im nordrhein-westfálischen Zweisäulenmodell als verfassungsgemäß 184 . Dem Gebot möglichster Staatsferne entspricht es, die Rundfunkanstalten sowie die Landesmedienanstalten als „staatsfreie" grundrechtssichernde Anstalten einzurichten und dabei nicht zum Teil der (mittelbaren) Staatsverwaltung zu machen 185 (s. u. Rdn. 92). Bei der Lizenzierung von privaten Rundfunkveranstaltern dürfen staatliche Behörden nicht mit der Kompetenz zu eigenen Wertungen in programmrelevanten Fragen mitwirken 186 . Eine staatliche Aufsicht über Rundfunkanstalten bzw. Landesmedienanstalten ist aber gefordert, wenn auch nur als beschränkte 187 . Die Beschränkung zeigt sich insbesondere in der Aufsichtsintensität (Anerkennung einer Einschätzungsprärogative der Landesmedienanstalt in programmrelevanten Angelegenheiten im Verhältnis zur Staatsaufsicht) sowie in Begrenzungen der Aufsichtsmittel 188 . Soweit der Staat aufgrund des Gesetzesvorbehalts die Finanzausstattung der Rundfunkanstalten oder Landesmedienanstalten determiniert, muß gesichert sein, daß dies nicht als Hebel der Einflußnahme auf das Programm 189 bzw. die Aufsichtstätigkeit benutzt wird. Selbst die Rechnungsprüfung durch die unabhängigen Rechnungshöfe ist aufgrund des Gebots der Staatsferne und damit im Interesse der Programmfreiheit nur als begrenzte zulässig 190 . Stets ist zu berücksichtigen, daß der Staat zwar einerseits Garant der Freiheitlichkeit der Medienordnung ist, diese aber auch gefährden kann. Um Mißbrauchsgefahren auszuschließen, dürfen staatlichen Behörden keine Kompetenzen eingeräumt werden, die eine eigene Bewertung der Kommunikationsinhalte erfordern oder bei denen Wertentscheidungen sich sonstwie auf den Kommunikationsinhalt auswirken können 191 . Die Mißbrauchsgefahren sind am ehesten zu bannen, wenn der Staat sich

182 183

184 185

186 187

B V e r f G E 12, 205 (263); 73, 1 1 8 (165). S. statt vieler aus der Diskussion in der Literatur P. LERCHE Landesbericht Bundesrepublik Deutschland, in: M. BULLINGER/F. KÜBLER (Hrsg.) Rundfunkorganisation und Kommunikationsfreiheit 1979, S. 75 f; W. A. KEWENIG Zu Inhalt und Grenzen der Rundfunkfreiheit, 1978, S. 40 ff; BERENDES Die Staatsaufsicht über den Rundfunk, 1973, S. 72; DEGENHART, in: Β Κ (Fn. 107) Art. 5 Abs. 1 und 2 Rdn. 557; O V G Lüneburg J Z 1979, S. 25; V G Hamburg DVB1. 1980, S. 491. B V e r f G E 83, 238 (330 f). W. H O F F M A N N - R I E M Personalrecht der Rundfunkaufsicht, 1 9 9 1 , S. 73 ff; ders, Finanzierung und Finanzkontrolle der Landesmedienanstalten, 1993, 41 ff. B V e r f G E 73, 1 1 8 (182). Dazu vgl. etwa BERENDES Staatsaufsicht (Fn. 183); C. WAGNER Die Landesmedienanstalten, 1990, S. 9 9 f f ; W . HOFFMANN-RIEM F i n a n z i e r u n g (Fn. 1 8 5 ) , 1 5 0 f f .

188

V g l . HOFFMANN-RIEM F i n a n z i e r u n g ( F n . 1 8 5 ) 1 5 0 .

189

B V e r f G E 74, 297, 342; näher W. HOFFMANN-RIEM Die Indexierung der Rundfunkgebühr: Problemebenen, in: ders. (Hrsg.) Indexierung der Rundfunkgebühr, 1 9 9 1 , S. 45 ff. Dazu vgl. F. OSSENBÜHL Rundfunkfreiheit und Rechnungsprüfung, 1984; H. D. JARASS Reichweite der Rechnungsprüfung bei Rundfunkanstalten, 1992; Hoffmann-Riem Finanzierung (Fn. 1 8 5 ) 1 4 2 ff. Vgl. B V e r f G E 73, 118.

1,1

2. Kapitel. Grundrechte

228

möglichst unter Verzicht auf Einzelsteuerungsmaßnahmen auf die Einrichtung einer verfassungsgerechten Medienstruktur beschränkt, die auf Selbstregulierungsmechanismen vertrauen kann. Der staatliche Gewährleistungsauftrag umfaßt aber die Regulierung dieser Selbstregulierung durch eine strukturierende Rahmensetzung, damit die Selbstregulierung nicht ihrerseits Funktionsdefizite hervorruft. Die Vorsorge für eine Machtbalance durch organisatorischen Binnenpluralismus ist ein Beispiel solcher regulierten Selbstregulierung. b)

„Rmdumfreiheit"

59 Der Gewährleistungsauftrag des Staates zielt auch darauf, das Medienwesen gegen andere, ähnlich gefährliche Machtträger wie den Staat abzusichern, also insbesondere gegen sonstige privilegierte Träger politischer, ökonomischer oder kultureller Macht, die die kommunikativen Entfaltungsmöglichkeiten von „jedermann" zu beeinträchtigen drohen. In dem Gebot der Unabhängigkeit des Medienwesens spezifiziert sich der Charakter der Medienfreiheit als „Rundumfreiheit" (s.o. Rdn. 18). Angesichts der mit privatwirtschaftlichen Medienordnungen verbundenen Risiken der Konzentration und Entstehung von Kommunikationsmonopolen gewinnt der Rundumschutz mit der zunehmenden Öffnung des Marktes für Medien gesteigerte rechtliche Relevanz. Werden Anbietergemeinschaften bevorzugt, ohne zugleich wirkungsvolle Begrenzungen wechselseitiger Verflechtungen vorzusehen, können sie in dysfunktionaler Weise zum Vehikel der Medienkonzentration werden. Diese Situation ist in Deutschland eingetreten. Die Unabhängigkeit des Medienwesens ist allerdings nicht schon dann gefährdet, wenn einzelne Machtträger — etwa große Wirtschaftsunternehmen, Gewerkschaften — eigene Publikationsorgane betreiben oder Gesellschafter in Anbietergemeinschaften werden192. Allerdings wäre es verfehlt, das Unabhängigkeitsproblem im Bereich privaten Rundfunks vorrangig mit Richtung gegen politische Parteien zu aktivieren; in der Realität größer sind die Gefährdungen durch private Interessenträger. Entscheidend ist insofern, ob ihr Einfluß abgepuffert ist, ζ. B. ob etwa noch andere Kommunikationsorgane zur Sicherung einer hinreichend vielfaltigen Kommunikation in abgesicherter Weise bestehen193. Bezugspunkte der Beurteilung sind typische Kommunikationsbedarfe und die spezifischen Rahmenbedingungen ihrer Befriedigung. Der unbestrittene Bedarf an lokaler Kommunikation trifft beispielsweise angesichts der engen lokalen Märkte auf eine durch besondere Monopolisierungsgefahren geprägte Situation. Daher sind hier besondere Sicherungen der Kommunikationsvielfalt geboten; eine Möglichkeit ist die Verankerung des Integrationsmodells für die lokale Kommunikation auch bei privater Trägerschaft. 192

193

Das Problem stellt sich auch bei der Beteiligung politischer Parteien, dazu s. C.-E. EBERLE/H. GERSDORF Der praktische Fall — öffentliches Recht: Der verbotene Parteienfunk, in: JuS 1991, 489 ff. Zur Problematik vgl. BVerfGE 12, 205 (260); EHMKE Reform (Fn. 53) S. 116; LERCHE Pressekonzentration (Fn. 48) S. 48 m. w. Hinw. in Fn. 127.

§7

Kommunikations- und Medienfreiheit

(HOFFMANN-RIEM)

229

4. Vielfaltsdimensionen Die Ausgestaltung der Medienordnung erfordert Sicherungen an inhaltlicher Aus- 60 gewogenheit, Sachlichkeit und Achtung194, vor allem aber der „Vielfalt der bestehenden Meinungen" und einer „umfassenden Information"195. Angesichts der Bedeutung des Rundfunks für die Funktionsfähigkeit einer pluralistischen Demokratie mit fragmentierten Teilöffentlichkeiten (s. o. Rdn. 21) sind die Pluralismusvorkehrungen besonders wichtig. Das Rundfunksystem in seiner Gesamtheit hat Vielfalt in mindestens fünf Dimensionen zu gewährleisten: (1) Sicherung inhaltlicher, meinungsbe^ogener Programmvielfalt·. Berücksichtigung der in der und für die Gesellschaft erheblichen Meinungen in möglichster Breite und Vollständigkeit; Ausschluß einer vorherrschenden, einseitigen Meinungsmacht; (2) Sicherung personen-, gruppen- und institutionenbe^ogener Programmvielfalt·. Zuwortekommen bedeutsamer gesellschaftlicher Kräfte und Gruppen sowie Berücksichtigung der Auffassungen von Minderheiten; (3) Sicherung gegenständlicher Programmvielfalt·. Schaffung einer hinreichenden „Breite" des Programmangebots, insbesondere Berücksichtigung der die verschiedenen Lebensbereiche betreffenden Ereignisse, Informationen und Themengebiete; (4) Sicherung räumlicher Programmvielfalt·. Berücksichtigung der Auffassungen und Informationen aus den unterschiedlichen lokalen, regionalen, überregionalen und internationalen Kommunikationsräumen; (5) Sicherung der Spartenvielfalt·. Berücksichtigung der verschiedenen Programmsparten, insbesondere der Information, Unterhaltung, Bildung und Beratung. Diese Vielfaltsdimensionen bedürfen näherer Konkretisierung. In der Einschät- 61 zungs- und Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers liegt insbesondere die Entscheidung, auf welche Weise und mit welcher Intensität sie gesichert werden, darunter auch, wieweit sie von jedem einzelnen Medienunternehmer zu beachten oder nur von der Medienordnung insgesamt zu leisten sind. Das BVerfG erkennt in seinen Rundfunkentscheidungen Differenzierungen %wischen den Vielfaltsdimensionen an. So soll es für die personen-, gruppen- und institutionenbezogene Vielfalt genügen, wenn ein nennenswerter Teil der gesellschaftlichen Gruppen oder geistigen Richtungen auch tatsächlich zu Worte kommt196; daneben seien aber auch die Auffassungen von Minderheiten zu berücksichtigen. Für die räumliche Programmvielfalt werden Sicherungen gefordert, daß „die bestehende Meinungsvielfalt des jeweiligen engeren räumlichen Bereichs zum Ausdruck gelangt"197. Auch die „Vielfalt der Gegenstände" müsse angemessen sein198. Eine spartenmäßige Vielfalt wird im Zusammenhang der Beschäftigung mit der „Grundversorgung" angesprochen199.

194 195 196 197 198 195

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BverfGE BVerfGE BVerfGE

73, 57, 57, 74, 83, 74,

118 295 295 297 238 297

(153). (320); 73, 118 (155 f). (320). (327). (315). (326).

2. Kapitel. Grundrechte

230

5. Zugangsrechte und Öffnungspflichten 62 Angesichts der faktischen Zugangsbarrieren zur Massenkommunikation — seien sie ökonomischer, organisatorischer, qualifikatorischer oder technologischer Art — und des normativen Gebots kommunikativer Chancengleichheit darf der Gesetzgeber gezielt Maßnahmen zur Sicherung größtmöglicher Kommunikationsteilhabe treffen. Neben dem Konzept treuhänderischer Kommunikationsvermittlung (s.u. Rdn. 101) kommen auch Sicherungen direkter Artikulation in Betracht. So darf der Gesetzgeber besondere Zugangsrechte und entsprechende Öffnungspflichten des Medienveranstalters zugunsten von Kommunikatoren — einzelner oder Gruppen — vorsehen, die sonst keinen oder nur begrenzten Medienzugang haben und denen die Nutzung relativ wirkungsloser Medien, wie z.B. die Verteilung von Flugblättern u. ä., nicht reicht200. 63 Begrenzte Öffnungspflichten sind schon nach geltendem Recht unter Rückgriff auf das Gleichbehandlungsgebot bzw. nach dem Grundsatz der Wahlchancengleichheit in politischen Auseinandersetzungen, insbesondere im Wablkampj, begründet worden 201 . Im Rundfunkbereich sind gesetzlich „ P r o g r a m m f e n s t e r " vorgesehen, so für Kirchen- und Parteisendungen (vgl. z.B. § 11 ZDF-StV), für die der Rundfunkveranstalter selbst nur eine beschränkte Verantwortung trägt 202 . Das Privatrundfunkrecht kann „Interessenten aus dem kulturellen Bereich" (vgl. ζ. B. § 20 Abs. 5 RfStV) oder „gemeinnützigen Sachwaltern öffentlicher Interessen" (vgl. z. B. § 18 Abs. 3 HmbMedG) bevorzugte Zugangsmöglichkeiten gewähren. Gewisse Öffnungspflichten bewirkt auch das Recht der Gegendarstellung 203 . Es zielt allerdings auf den Persönlichkeitsschutz des Betroffenen, nicht auf die Sicherung publizistischer Vielfalt. 64 Eine Besonderheit des Rundfunks sind sogenannte offene Kanäle2uten Organisation des Staates". Durch sie werden eben jene 80

J. KANT Zum ewigen Frieden, in: Schriften (Fn. 55) S. 223; Hervorhebungen hinzugefügt.

§ 12

Prinzipien freiheitlicher D e m o k r a t i e (MAIHOFER)

465

„selbstsüchtigen Neigungen" des Einzelnen nicht etwa ausgeschaltet oder gleichgeschaltet, sondern vielmehr zum Hebel dafür, daß der „Mensch wenn gleich nicht ein moralisch-guter Mensch, dennoch ein guter Bürger sein gezwungen wird". Kurz: „Das Problem der Staaterrichtung ist, so hart es klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar". 81 Denn begreift man wie K A N T das Recht als eine bloß äußerliche Regelung des Verhaltens und Ordnung der Verhältnisse, und dementsprechend auch den Staat als die „Vereinigung einer Menge von Menschen unter solchen Rechtsgesetzen", dann beziehen diese sich in der Republik unserer Epoche auf das äußere Verhalten des Einzelnen und seine Ubereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der als Recht gesetzten juridischen Legalität. Sie richten darum an diesen Einzelnen als ein Verstandessubjekt den rationalen Appell: auch und gerade dann, wenn er zu „moralischer" Bestimmung seines Verhaltens als Vernunftperson nicht fähig oder willens ist, sich jedenfalls „pathologisch" durch den mit dem Rechtsgesetz angedrohten Rechtszwang, nach Gesichtspunkten der Klugheit und Nützlichkeit zu dem rechtlich gebotenen äußeren Verhalten „bestimmen" zu lassen. 82 Dazu muß das mit Rechtszwang verbundene Rechtsgesetz des Staates in seiner 66 juridischen Legalität nach ζweckrationalen Kriterien so ausgestaltet und gehandhabt werden, daß es (als sogenannte Bestimmungsnorm) „selbst für ein Volk von Teufeln" paßt, „wenn sie nur Verstand haben", d. h. sich von nichts sonst als ihren „selbstsüchtigen Neigungen" und Begehrungen „bestimmen" lassen. Zugleich aber muß dieses durch staatliches Gesetz gebotene äußere Verhalten (als sogenannte Bewertungsnorm) stets als gesetzesgemäßes Verhalten auch für diejenigen Einzelnen gelten, die sich in ihrem Verhalten von der eigenen Vernunft nach wertrationalen Prinzipien der Allseitigkeit und Gegenseitigkeit wie dem Kategorischen Imperativ oder der Goldenen Regel moralisch „bestimmen" lassen. Insofern und insoweit muß eine republikanischen Prinzipien genügende juridische Legalität zumindest mit dem ethischen Minimum an moralischer Legitimität übereinstimmen, das wir als das äußere Verhalten eines „moralisch guten Menschen" voraussetzen können. Nur durch eine solche Rückbindung der juridischen Legalität an die Übereinstimmung mit der moralischen Legitimität wird in einer Republik der Moderne die Gesetzlichkeit \um Freiraum auch und gerade für den nicht nach äußeren Rechtsgesetzen „patholo-

81

82

KANT ebd. S. 2 2 4 ; H e r v o r h e b u n g e n hinzugefügt; Z u m „ D i l e m m a der natürlichen Gerechtigkeit" grundsätzlich: O. HÖFFE Den Staat braucht selbst ein V o l k v o n Teufeln, 1 9 8 8 , insbes. S. 56 f f ; und zur G r u n d l e g u n g einer kritischen Philosophie v o n Recht und Staat w e i t e r f ü h r e n d : O . HÖFFE Politische Gerechtigkeit, 1 9 8 9 . Weshalb f ü r KANT nur die Republik, die „ G e w a l t , mit Freiheit und Gesetz" verbindet, „eine wahre bürgerliche Verfassung genannt zu werden verdiene", da n u r sie „Freiheit und Gesetz (durch welche jene eingeschränkt wird)", aber auch „ G e w a l t " beinhaltet, „welche mit jenen verbunden, diesen Prinzipien E r f o l g verschafft"; w o g e g e n f ü r ihn „Gesetz und Freiheit, o h n e G e w a l t (Anarchie)", „Gesetz und G e w a l t , ohne Freiheit (Despotism)", und „ G e w a l t o h n e Freiheit und Gesetz (Barbarei)" bedeutet ( A n t h r o p o l o g i e (Fn. 55) S. 686).

466

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

gisch", sondern nach „inneren Tugendgesetzen" wie K A N T sagt „moralisch" sich bestimmenden und verhaltenden Einzelnen.83 Was die moralische Legitimation beliebiger und willkürlicher juridischer Legalität ebenso ausschließt wie es umgekehrt, zumindest für die Strafgesetze als mit Rechtszwang verbundene Rechtsgesetze, ihrejuridische Garantie als Magna Charta Libertatum des Bürgers gegenüber nachträglichem Belieben und ungesetzlicher Willkür staatlicher Gewalten einschließt.84 Mit diesem Schritt von der klassischen·, moralisch fundierten Republik ^ur modernen·, rational organisierten Demokratie gelingt K A N T eine Lösung des Problems der Begründung und Rechtfertigung eines staatlichen Gemeinwesens im nachnaturrechtlichen Zeitalter: unserer Epoche der Moderne, mit der erstmals die zweckrationale Implementation der Normen und Institutionen von Recht und Staat mit deren wertrationaler Legitimation zusammen gedacht und bedacht werden kann. Diese Lösung, die auch heute noch, oder besser heute wieder auch die unsere ist, heißt nicht Abkehr von dieser republikanischen Tradition, sondern ihre Einbringung in eine demokratische Organisation des Staates. Wie dies in der bisher erörterten Staatskon^eption einer modernen Republik: einer nach republikanischen Prinzipien auf die Freiheitsgeset^e des Gesellschaftsvertrages gegründeten, zugleich aus demokratischen Prinzipien der Bürgersouveränität entwickelten Bürgerdemokratie geschieht, die, wie wir sahen, nach Prinzipien partizipatorischer und pluralistischer Demokratie verfaßt ist. 67

Damit ist die Frage der ,guten Organisation" einer freiheitlichen Demokratie heute jedoch erst zu einem Teil beantwortet, in Hinsicht auf das erste „Moment" einer solchen Demokratie: die Frage der Freiheit, nicht aber in Hinsicht auf das zweite „Moment": die Frage der Herrschaft. Wie aber ist hier überhaupt eine Verbindung der bisher entwickelten Staatskonzeption einer modernen Republik mit der Herrschaftsform einer modernen Demokratie möglich, wo doch, wie wir sahen, eine nach republikanischem Prinzip gerechtfertigte Herrschaft: „legitime Regierung" als „Herrschaft durch Übereinstimmung" begriffen ist, die darum die Identifikation der Regierenden mit dem Interesse und Willen der Regierten fordert und erfordert; hingegen sich eine nach demokratischem Prinzip gerechtfertigte Herrschaft als bloße „Herrschaft der Mehrheit" versteht oder gar als reine „Mehrheitsherrschaft" mißversteht.85

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84

85

Z u m Rechtsgesetz als „Freiraum (,Gränze') f ü r autonomes sittliches Handeln" der Persönlichkeit, „ganz im Sinne KANTS" schon bei SAVIGNY grundlegend: F. WIEACKER Recht und Moralität in pragmatischer Sicht, in: A . K a u f m a n n , E.-J. Mestmäcker. H. F. Zacher (Hrsg.) Rechtsstaat und Menschenwürde, 1 9 8 8 , S. 631 ff, insbes. S. 640. Zu der darum nicht zufallig aus dieser Rechtskonzeption KANTS v o n ANSELM VON FEUERBACH, einem Kantianer der ersten Stunde, gefolgerten Garantiefunktion der Strafgesetze nach dem Prinzip: nullum crimen, nulla poena sine lege, im einzelnen: MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 14) insbes. S. 141 ff. Z u m Widerstreit und Rangverhältnis des Konsens- und Majoritätsprinzips in einer nach republikanischen Prinzipien organisierten konstitutionellen Demokratie im einzelnen: unten II. 3. Rdn. 76 ff.

§12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

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Die Antwort lautet: durch die Verbindung der durch Demokratie vollendeten Republik mit einer durch Republik gebändigten Demokratie; mit anderen Worten: des auf Freiheitsgesetze gegründeten Bürgerstaates mit einer durch Verfassungsgrundsätze eingeschränkten Mehrheitsherrschaft. Somit: Nicht durch die Ersetzung des demokratischen Prinzips der Herrschaft der Mehrheit, wohl aber die Einschränkung dieser Herrschaft der Mehrheit durch Grundsätze der Verfassung: Grundrechtsverbürgung, Minderheitenschutz, Gewaltenteilung und Rechtsbindung aller Staatsgewalt. Damit: der Verwandlung der bisherigen absoluten Demokratie·, uneingeschränkter Mehrheitsherrschaft in eine konstitutionelle Demokratie·, eingeschränkter Mehrheitsherrschaft. Analysieren wir im einzelnen die Verfassungsgrundsätze einer solchen die de- 68 mokratische Mehrheitsherrschaft sowohl einschränkenden wie verpflichtenden republikanischen Verfassung einer wie es bei K A N T heißt: „auf die alleinigen Rechtsbegriffe der Freiheit und Gleichheit" begründeten konstitutionellen Demokratie, dann finden wir als Grundrechtsverbürgungen nicht nur Menschenrechte vor, wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, oder die Freiheit der Person und die Gleichheit vor dem Gesetz, Garantien der Humanität der Person also; sondern auch Bürgerrechte, wie die Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit, oder das Recht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte und des Berufs, Garantien der Sozialität der Person also; aber zuletzt auch Freiheitsrechte im engeren Sinne oder besser Persönlichkeitsrechte, wie das Recht eines Jeden auf die Entfaltung seiner Persönlichkeit, damit zur Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung, Garantien der Singularität der Person also, bis hin zur Privatautonomie und Privatsphäre des Einzelnen.86 Mit den in diesen Verfassungsgrundsätzen der Grundrechtsverbürgungen und des entsprechenden Minderheitenschutzes enthaltenen Garantien der Person in fundamentalen Aspekten ihrer Personalität sind die prinzipiellen programmatischen Begrenzungen aber auch Bindungen solcher Mehrheitsherrschaft an und durch die in den Menschenrechten, Bürgerrechten und Persönlichkeitsrechten niedergelegten juridischen Garantien personaler Existenz vorgegeben, die den Verfassungskontext einer solchen freiheitlichen Gesellschaftsordnung und Staatsverfassung ausmachen, in all ihren die Gesamtheit der die Individualität der Person konstituierenden Dimensionen der Humanität ihres „Menschseins", der Sozialität ihres „Aisseins", und der Singularität ihres „Selbstseins".87 Mit den Verfassungsgrundsätzen der Gewaltenteilung und der Rechtsbindung aller 69 Staatsgewalt sind darüber hinaus die prinzipiellen prozeduralen Begrenzungen aber auch 86

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Vgl. zu diesen „organisatorischen Vorkehrungen" und zugleich „programmatischen Zielsetzungen" f ü r die Inhalte und Grenzen der Wirksamkeit einer nach republikanischen Grundsätzen eingeschränkten und gebundenen demokratischen Mehrheitsherrschaft im einzelnen schon: MAIHOFER Inhalte und Grenzen des Staates (Fn. 52) S. 73 ff. Diese die Individualität konstitutierenden Dimensionen der Humanität, der Sozialität und der Singularität der Person begegnen und schon in HEGELS Prinzip des modernen Staates, den er als die „Einheit" v o n „substanzieller Allgemeinheit", „partikularer Besonderheit" und „subjektiver Einzelnheit" auffaßt. Vgl. dazu im einzelnen: W . MAIHOFER Hegels Prinzip des modernen Staates, in: I. Fetcher (Hrsg.) Hegel in der Sicht der neuen Forschung, 1973, insbes. S. 3 6 4 f f ; und jetzt auch: DERS. Recht und Personalität (Fn. 64) insbes. S. 241 ff.

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Verpflichtungen solcher Mehrheitsherrschaft aufgegeben. Dies verpflichtet nach republikanischen Prinzipien einer „Herrschaft des Gesetzes" die Staatsgewalten nicht nur auf die Gesetzlichkeit aller Staatstätigkeit, sondern ebenso auf die Gerechtigkeit aller von ihr geübten Herrschaft von Menschen über Menschen für Menschen. Dabei handelt es sich bei dieser Frage der Gerechtigkeit der Herrschaft, auch und gerade der in einem auf Freiheitsgeset^e des Bürgerstaates durch Verfassunggrundsät^e eingeschränkten Mehrheitsherrschaft, nicht mehr nur, wie noch im voraufgehenden, auf Sicherheitsgesetze begründeten Untertanenstaat der Neuheit, um die Frage: jedes Rechtsgesetz des Staates ohne Rücksicht auf seine Gerechtigkeit mit Rechtsmacht auszustatten, und damit nach dem Grundsatz „Auctoritas non Veritas facit legem" notfalls die bloße Macht zu rechtfertigen, so daß wenigstens „Friede sei", denn er ist „das höchste Gut", wie es noch bei P A S C A L heißt.88 Vielmehr geht es im Bürgerstaat der Moderne um die Beantwortung der ganz anderen zweifachen Fragestellung, die aus der grundlegenden Einsicht folgt, daß „Gerechtigkeit ohne Macht Ohnmacht", aber „Macht ohne Gerechtigkeit Tyrannei" ist: Wie man die in Rechtsgesetze gefaßte Gerechtigkeit stark machen kann, damit sie sich mit Macht durchsetzt, aber auch wie man andererseits die Macht gerecht machen kann, so daß mit den Rechtsgesetzen, die sie setzt und durchsetzt, überhaupt Gerechtigkeit geübt und nicht einfach Macht gebraucht wird, und sei es auch die einer Mehrheit über die Minderheit, oder gar die eines Ganzen über die Einzelnen. 70 Auch die Lösung dieses Problems der Gerechtigkeit eines auf Freiheitsgeset^e begründeten Staates unserer Epoche ergibt sich für K A N T aus demselben Denkansatz wie schon für den Begriff des Rechts nunmehr auch für den Begriff des Staates als der „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen", der auch hier von dem „Zugleichsein" und der „Wechselwirkung", nun micht mehr nur für die Relation einzelner Personen, sondern für die Association vieler Personen miteinander, und folglich der „Wirkung" und „Gegenwirkung" der aus ihrer „Willkür" hervorgehenden „Handlungen" aufeinander ausgeht, die wie K A N T zurecht feststellt: „in einem jeden äusseren Verhältnisse der Menschen überhaupt" „nicht umhin können, in wechselseitigen Einfluss aufeinander zu geraten".89 Dieser „wechselseitige Einfluss aufeinander" betrifft nicht nur das mögliche Gleichgewicht, aber auch Ungleichgewicht solcher „Wechselwirkung' im Bezug auf die allseitige Betätigung ihrer Willkür, und damit die Freiheit jedes Menschen, sondern im Bezug auch auf die gegenseitige Auferlegung von Verbindlichkeiten und Einräumung von Berechtigungen, und damit die Gleichheit eines jeden Menschen, die beide, wie wir sahen, schon zwischen einzelnen Personen nur durch ein Gleichgewicht der 88

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Dazu PASCAL Pensées, Ausgabe E. Wasmuth 8. A u f l . 1978, S. 1 5 0 f. W o dem naturrechtlichen Postulat: „Also muss man das Recht und die Macht verbinden und dafür sorgen, dass das, was Recht ist, mächtig und das, was mächtig ist, gerecht sei", die positivistische Resignation folgt: „da man dem Recht nicht zur Macht verhelfen konnte, hat man die Macht Rechtens erklärt, damit Recht und Macht verbunden sei, und damit Friede sei, der das höchste G u t ist". KANT Über den Gemeinspruch (Fn. 62) S. 144; vgl. auch oben A n m . 64, sowie: MAIHOFER Recht und Personalität (Fn. 64) S. 246 f.

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Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

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Wechselwirkung gewährleistet und sichergestellt und darum dauerhaft und verläßlich nur in einem ,geset%mässigen Zustand der „ ö f f e n t l i c h e n Gerechtigkeit" erreicht werden kann. Deshalb ist es für Kant das erste, das dem Menschen „zubeschliessen obliegt, wenn er nicht allen Rechtsbegriffen entsagen will, der Grundsatz": „man müsse aus dem Naturzustande, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu geraten er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äusseren Zwange zu unterwerfen", also in einen „bürgerlichen Zustand treten", „darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt, und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äussere ist) zu Teil wird". 90 Dieses nach Gerechtigkeit jedem das Seine zuteilen (suum cuique tribuere) ist 71 auch für K A N T nicht zuletzt eine Frage des Mein und Dein an den „äusseren Gegenständen meiner Willkür": sei es „eine (körperliche) Sache ausser mir", sei es „die Willkür eines anderen zu einer bestimmten Tat", sei es „der Zustand eines anderen im Verhältnis auf mich". Weshalb er dementsprechend wie auch wir in der Sache noch heute auch die Gerechtigkeit als sowohl „austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva)" wie „wechselseitig erwerbende Gerechtigkeit (iustitia commutativa)", aber auch als „beschützende Gerechtigkeit (iustitia tutatrix)" auffaßt.91 Nach Kants bleibender Einsicht heißt dies allerdings nicht, daß dieses in dem mit der Staatserrichtung erreichten Rechtszustand nach einer nunmehr anderen Idee von Gerechtigkeit geschieht als zuvor im Naturzustand. Vielmehr enthalten für ihn „die Gesetze über das Mein und Dein im Naturzustande ebendasselbe, was die im bürgerlichen vorschreiben, sofern dieser bloss nach reinen Vernunftbegriffen gedacht wird: nur dass im letzteren die Bedingungen angegeben werden, unter denen jene zur Ausübung (der distributiven Gerechtigkeit gemäss) gelangen". Für diesen Denkansatz der bürgerlichen Aufklärung liegt hiernach der entscheidende Vernunftgrund für eine Staatserrichtung darin, daß allein mit ihr für den Menschen die Bedingungen der Möglichkeit gegeben sind, aus dem natürlichen Zustand gesetzloser Freiheit und ohnmächtiger Gerechtigkeit herauszugehen, und in den ihm als einen Freien und Gleichen entsprechenden bürgerlichen Zustand gesetzmäßiger Freiheit und öffentlicher Gerechtigkeit einzutreten, wie er für einen auf Freiheitsgesetze begründeten Bürgerstaat der Freien und Gleichen, sich aus der die Freiheit gewährenden allgemeinen Gesetzlichkeit und zugleich die Gleichheit sichernden gegenseitigen Gerechtigkeit einer solchen Rechtsordnung und Staatsverfassung ergibt. Die, wie schon ROUSSEAU, davon ausgeht, daß zwar eine „allgemeine Gerechtigkeit vorhanden" ist, die „aus der Vernunft folgt", jedoch daß „um bei uns anerkannt zu werden", „die Gerechtigkeit gegenseitig sein muss", „also gewisser Verträge und Gesetze bedarf, um die Rechte

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KANT Metaphysik (Fn. 57) S. 430; Hervorhebungen hinzugefügt.

"

KANT S. 3 5 5 u n d S. 4 2 3 ; u n d z u m f o l g e n d e n S. 4 3 1 .

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

mit den Pflichten zu vereinbaren und die Gerechtigkeit auf ihren Gegenstand zurückzuführen".92 72 Wozu es ebenso aber auch der organisatorischen Vorkehrungen und institutionellen Absicherungen bedarf, um in einer solchen durch Verfassungsgrundsätze eingeschränkten Mehrheitsherrschaft von Menschen über Menschen das Problem zu lösen, das schon K A N T für das „schwerste unter allen ansieht": Wie der Mensch nämlich bei einer solchen Selbstherrschaft und Selbstbeherrschung von Menschen über Menschen „sich ein Oberhaupt der öffentlichen Gerechtigkeit verschaffen könne, das selbst gerecht sei·, er mag dieses nun in einer einzelnen Person, oder in einer Gesellschaft vieler dazu auserlesener Personen suchen. Denn jeder derselben wird immer seine Freiheit missbrauchen, wenn er keinen über sich hat, der nach den Gesetzen über ihn Gewalt ausübt. Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst, und doch ein Mensch sein".93 Das aber gilt nirgendwo mehr als in einer durch Demokratie vollendeten Republik und zugleich durch Republik gebändigten Demokratie, die als parti^ipatorische und zugleich konstitutionelle Demokratie so gestaltet und gehandhabt werden müssen, daß sie als Staatskonzeption und Herrschaftsform beiden gegenläufigen Voraussetzungen dessen, was den Menschen auszeichnet und kennzeichnet, gerecht wird·, dem „aufrechten Gang' eines selbstdenkenden Menschen und mündigen Bürgers, aus dem dennoch als einem „so krummen Hol^e, als woraus der Mensch gemacht ist", „nichts ganz Gerades gezimmert werden kann".94 Die aus solcher Sicht sich ergebenden organisatorischen Konsequenzen einer wechselseitigen Verbindung von Prinzipien der Republik und der Demokratie, wie sie schon im Denkansatz der „Idee einer modernen Republik" in der bürgerlichen Aufklärung bei MONTESQUIEU und ROUSSEAU vorgezeichnet sind, werden selbst bei K A N T nur für einige Teilfragen der Herrschaftsform einer solchen konstitutionellen Demokratie ausgeführt, wie dem hiermit geforderten System der Gewaltenteilung oder dem Prinzip der Repräsentation, wenn er zuletzt auch höchst bezeichnend die „Demo-

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Vgl. dazu im einzelnen: oben Rdn. 15. Weshalb KANT diese die Gleichheit zwischen Menschen gewährleistende Idee der Gerechtigkeit prinzipiell wie prozedural dahin umschreibt: „Aus dem Gefühl der Gleichheit entspringt die Idee der Gerechtigkeit sowohl der Genötigten als der Nötigenden. Jene ist die Schuldigkeit gegen andere, diese die empfundene Schuldigkeit gegen mich. Damit diese ein Richtmass im Verstände haben, so können wir uns in Gedanken an die Stelle anderer setzen, und damit es nicht an Triebfedern hierzu ermangele, so werden wir durch Sympathie von dem Unglücke und der Gefahr anderer wie durch unser eigenes bewegt" (Bruchstücke aus dem Nachlass, Ausgabe Vorländer Bd. VIII, S. 269; Hervorhebungen hinzugefügt). Zu diesem schon bei Pufendorf vollzogenen Schritt von der Goldenen Regel zum Gleichheitssatz auch bei K A N T jetzt: J. H R U S C H K A Kants Bearbeitung der Goldenen Regel im Kontext der vorangegangenen und der zeitgenössischen Diskussion in: Strafgerechtigkeit (Fn. 64) S. 129 ff.

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KANT Idee zu einer Allgemeinen Geschichte in Weltbürgerlicher Absicht in: Schriften (Fn. 55) S. 40 f; Hervorhebungen hinzugefügt. Vgl. dazu KANTS Idee zu einer Allgemeinen Geschichte in Weltbürgerlicher Absicht, und seine Rezension zu Herders Idee zur Philosophie der Geschichte der Menschheit in: Schriften (Fn. 55) S. 41 und S. 785 ff. Und jetzt: H. KLENNER Über Kants Krummholz-Metapher. Eine Marginalie zu seiner Rechtslehre in: Rechtsstaat und Menschenwürde (Fn. 83) S. 223 ff.

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kratien ohne Repräsentationssystem" ausdrücklich zu den „schlecht organisierten Verfassungen" rechnet. 95 Diese Grundsatzfrage nach den Prinzipien einer „gut organisierten Verfassung" 73 wird schon bei K A N T bestimmt durch das „Trauma der modernen Demokratie", das bereits im Verlauf der demokratischen Revolution in Frankreich offensichtlich wird, mit der eine als uneingeschränkte Mehrheitsherrschaft aufgefaßte absolute Demokratie zur Gewalt- und Willkürherrschaft der „machthabenden Mehrheit" und zuletzt einer in den Besitz der Staatsgewalt sich setzenden machtgebrauchenden Minderheit sich verkehrt, die nicht zufállig, sondern eher zwangsläufig im Terrorregime einer „Tugendherrschaft" der „Schreckensmänner" endet, entgegen allen feierlichen Erklärungen der unveräußerlichen und unantastbaren „Rechte des Menschen und Bürgers". Bei aller „Einsicht in die Notwendigkeit", die sich unter der Trikolore von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!" in der Französischen Revolution geschichtsmächtig durchsetzt, erkennt danach auch H E G E L das in einer solchen als bloße Mehrheitsherrschaft aufgefaßten absoluten Demokratie ungelöst gebliebene konstitutionelle Probleme, wie es zunächst in der schrankenlosen Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit und zuletzt einer kleinen Minderheit über die große Mehrheit sich zeigt. „Dieser Knoten, dieses Problem ist es", so stellt er fest, „an dem die Geschichte steht, und den sie in künftigen Zeiten zu lösen hat". 96 Er erkennt nicht nur, daß in einer solchen allein auf den Willen der Individuen gegründeten uneingeschränkten Mehrheitsherrschaft „eigentlich gar keine Verfassung vorhanden ist". Er sieht auch, daß in einem solchen von dem „ Willen der Majorität" beherrschten Staat einer absoluten Demokratie „keine Freiheit mehr sei, denn der Wille der Minorität wird nicht mehr geachtet". Liegt doch das prinzipiell Problematische eines solchen Staates, dem „das Prinzip des einzelnen Willens als einzige Bestimmung der Staatsfreiheit zu Grunde gelegt wird", in der gleichzeitigen Ohnmacht des Staates und der Ubermacht der Gesellschaft, die in einer solchen noch unvollkommenen Staatsverfassung angelegt ist. 97 Die geschichtliche Antwort auf dieses konstitutionelle Problem schon der demo- 74 kratischen Revolution, bestätigt und verstärkt durch das historische Trauma der nach95

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So KANT Zum ewigen Frieden (Fn. 80) S. 241. Zu den Organisationsprinzipien einer freiheitlichen: partizipatorischen und zugleich repräsentativen Demokratie im einzelnen: unten II. 4. Rdn. 8 4 f f und 8 9 ff. HEGEL Philosophie der Geschichte, Jubiläumsausgabe Glockner, Bd. 11 (1949) S. 563; dazu im einzelnen: MAIHOFER Hegels Prinzip des Modernen Staates (Fn. 87) insbes. S. 3 7 0 ff. Zur „Krise des Staatsbegriffs" in der Epoche der Moderne nach endgültiger A u f l ö s u n g der „Einheit v o n Staat, Religion und Kultur", und damit des Umschlags des ursprünglichen Bedingtseins der Kultur durch den Staat in ein Bedingtsein des Staates durch die Kultur: die aus der Gesellschaft hervorgehenden „Kulturideen", mit denen sich im Zeitalter der A u f k l ä r u n g das bisherige Verhältnis v o n Staat und Gesellschaft umkehrt, „als Philosophen die Welt beherrschten: durch einen Voltaire, einen Rousseau u. a.", dessen Contrat social JAKOB BURCKHARD darum als „vielleicht ein grösseres Ereignis als der Siebenjährige K r i e g " bezeichnet (Weltgeschichtliche Betrachtungen, Ausgabe Marx, 1935, insbes. S. 3 0 f f und 1 3 2 ff); vgl. zu dieser zuletzt aus den „Kulturideen der Parteien" hervorgehenden Verfassungsrealität unserer Zeit und Welt im einzelnen jetzt: MAIHOFER Inhalte und Grenzen des Staates (Fn. 52) S. 52 ff.

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folgenden Perversionen der Demokratie·, der Volksdemokratie wie Parteiendemokratie, in autoritäre und zuletzt totalitäre Staatsformen der modernen Despotie bis in unsere jüngste Vergangenheit, ist die schon im Denkansatz der Aufklärung angelegte epochale Konzeption unserer heutigen konstitutionellen Demokratie als einer durch Verfassungsgrundsätze der Grundrechtsverbürgung, des Minderheitenschutzes, der Gewaltenteilung und der Rechtsbindung aller Staatsgewalt eingeschränkten aber auch gebundenen Mehrheitsherrschaft. 98 Mit ihr verbinden sich der auf Freiheitsgesetze gegründete Bürgerstaat mit einer durch Verfassungsgrundsätze eingeschränkten Mehrheitsherrschaft, folglich die organisatorischen Prinzipien einer partizipatorischen aber auch pluralistischen Demokratie mit denen einer konstitutionellen aber auch repräsentativen Demokratie, zur Staatskonzeption und Herrschaftsform einer freiheitlichen Demokratie, von deren Legitimationsprinzipien und Organisationsprinzipien nunmehr im folgenden zusammenfassend die Rede sein soll. 3. Die Legitimationsprinzipien einer freiheitlichen Demokratie als Herrschaft durch Übereinstimmung: soviel Einigung wie möglich, soviel Mehrheitsentscheidung wie nötig 75 In die freiheitliche Demokratie westlicher Prägung, wie sie aus einer Verbindung republikanischer und demokratischer Prinzipien als durch Demokratie vollendete Republik und zugleich durch Republik gebändigte Demokratie hervorgeht, gehen damit auch die verschiedenen, scheinbar gegensätzlichen Prinzipien der Legitimation der Akte von Politik mit ein, wie sie aus diesen unterschiedlichen Herkünften folgen. Wobei sich nach der Staatskonzeption einer auf Freiheitsgesetze gegründeten Republik, anders als nach der Herrschaftsform einer auf den Volkswillen begründeten Demokratie, die Frage einer Rechtfertigung der Herrschaft von Menschen über Menschen unter gänzlich anderen Voraussetzungen stellt. In einem auf Freiheitsgesetze gegründeten Bürgerstaat, der nach republikanischer Tradition von ARISTOTELES an bis hin zu ROUSSEAU als ein „Leben nach der Verfassung" unter der „Herrschaft von Gesetzen" begriffen ist, wird die Rechtmäßigkeit dieser vermittels der Gesetze als Ausdruck und Werkzeug des gemeinsamen Interesses und allgemeinen Willens geübten Herrschaft als eine Frage der „Einheit" oder „Ubereinstimmung" des Interesses und Willens der Regierenden mit den Regierten 98

Zu den verfassungsmäßigen Vorkehrungen unserer heutigen sogenannten „streitbaren Demokratie" gegen eine Übermächtigung und Indienststellung des demokratischen Staates durch und für ademokratische und antirepublikanische „Kulturideen der Parteien" deren politisches Programm auf die A u f h e b u n g eben der Verfassungsgrundsätze einer partizipatorischen und konstitutionellen Demokratie gerichtet ist, die wir als „Freiheitliche demokratische Grundordnung" umschreiben, umfassend: R. DENNINGER unten § 16: „Streitbare Demokratie und Schutz der Verfassung"; zum Schutz der Verfassung und Innere Sicherheit grundlegend schon: DERS. Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 267 ff; dazu sowie zum Spannungsverhältnis und Widerstreit zwischen dem Prinzip der Bürgersouveränität und der Maxime der Parteiraison schon in einer als Mehrparteiensystem organisierten Parteiendemokratie: Maihofer, Inhalte und Grenzen des Staates (Fn. 52) S. 54 ff.

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aufgefaßt. Wodurch eine „legitime"·. „populäre Regierung" die „eines jeden Staates ist, in dem zwischen Volk und Regierenden Interessen- und Willenseinheit besteht"; es eine illegitime·, „tyrannische Regierung" dagegen „überall da geben wird, wo Regierung und Volk verschiedene Interessen und demgemäss gegensätzliche Willen haben", wie es noch in der Economie politique R O U S S E A U S heißt." Republik und Despotie unterscheiden sich somit gemäß republikanischer Tradition nach der Identität oder Nichtidentität des Interesses und Willens von Regierenden und Regierten, aber nicht, wie es nach einer „viel kritisierten Definition C A R L S C H M I T T S " erscheinen könnte, „Demokratie sei Identität von Herrschern und Beherrschten, Regierenden und Regierten".100 Woraus E R N S T - W O L F G A N G B Ö C K E N F Ö R D E noch heute die „ F ü h r e r s c h a f t " als „Regierungsprin^ip der Demokratie" ableiten will, die allein „auf freier Anerkennung durch die Geführten" beruhen soll. 101 Vielmehr ist nach republikanischer Tradition nicht eine wie immer geartete, demagogisch formierbare und charismatisch oktroyierbare Identifikation der Regierten mit den Regierenden, sondern genau umgekehrt: die Identifikation der Regierenden mit dem Interesse und Willen der Regierten gefordert und erforderlich, die als Herrschaft durch Einigung oder Herrschaft in Übereinstimmung mit den Beherrschten allein einer Herrschaft von Menschen über Menschen als Freie und Gleiche volle Rechtmäßigkeit verleihen kann.

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ROUSSEAU Politische Ökonomie (Fn. 13) S. 37 ff; vgl. zum Prinzip der Rechtmäßigkeit der Herrschaft einführend: oben Rdn. 17 ff. Bei diesem bis heute fortwirkenden Denkansatz bei einer sog. Identität von Regierenden und Regierten bleibt die entscheidende Differenz unbefragt, ob es sich bei solcher „Demokratie" um die Verwirklichung des Interesses und Willens der oder des „Herrschenden" dreht (wie in einer Despotie) oder aber der „Beherrschten" (wie in einer Republik). Mit anderen Worten also, um die Identifikation der Regierten mit dem artikulierten Interesse und dezidierten Willen des Regierenden (wie im „Führerstaat" moderner Despotien) oder aber um die Identifikation der Regierenden mit den realen Interessen und dem wirklichen Willen der Regierten (wie im „Bürgerstaat" moderner Republiken). Die Antwort auf diese Frage entscheidet darum letztlich über die Gretchenfrage der bürgerlichen Aufklärung: ob der „Mensch im Staate" seines Staates willen, oder ob dieser Staat um seiner Menschen willen da ist. BÖCKENFÖRDE HdBStR Bd. 1 (Fn. 49) § 22 Rdn. 49, w o er unter ausdrücklichem Bezug auf diese ambivalente Formel von der Identität von „Herrschern und Beherrschten" erklärt: „Da die Demokratie vermöge der demokratischen Gleichheit keine auf Dauer gestellte Herrschaft bestimmter Personen kennt, ist ihr Regierungsprinzip das der Führerschaft (leadership)". Abgesehen davon, daß eben diese dauerhaft auf verfassungsmäßige Institutionen und nicht auf bestimmte Personen gestellte Herrschaft das Regierungsprinzip der Republik und nicht das der Demokratie ausmacht, ist der Begriff der „Führerschaft" deshalb heute zur Beschreibung des Regierungsprinzips einer Demokratie unverwendbar, weil er mit historischen Konnotationen belastet ist, die anders als die angelsächsische „leadership" nicht mit Bürgersouveränität und Aktivbürgertum, sondern mit totalitären Perversionen des demokratischen Prinzips zu tun hat; nicht zuletzt aber auch, weil sich ausgerechnet unter dem Namen solcher „Führer" eine „auf Dauer gestellte Herrschaft bestimmter Personen" in diesen modernen Despotien instaliert hat, die mit allem in Widerspruch trat, was Demokratie im Prinzip ausmacht, und nicht zufällig darum in unserem Falle nicht mehr durch die „Geführten": die Regierten von Innen, sondern nurmehr durch Intervention der Staatengemeinschaft von Außen zu beenden war. Vgl. dazu im übrigen jetzt auch: J . BLONDEL Political Leadership, Sage London 1987.

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Demgegenüber versteht sich, wie wir sahen, Demokratie von der griechischen Antike an bis in die bürgerliche Aufklärung als Herrschaft durch Mehrheitsentscheidung. Wobei das Mehrheitsprinzip gegenüber dem Einigungsprinzip entweder als Notbehelf oder Notlösung verstanden ist, um auch bei nicht erreichbarer Einigung die Entscheidungsfähigkeit einer solchen Volksherrschaft zu gewährleisten. Oder aber, wie jetzt auch bei BÖCKENFÖRDE, als ein der Demokratie immanentes Prinzip behauptet wird, wenn er erklärt: „Demokratie als Staats- und Regierungsform beruht nicht zuletzt auf dem Prinzip der Mehrheitsentscheidung. Dieses Prinzip ist für die Demokratie nicht ein technischer Notbehelf, weil anders keine Entscheidung zustandezubringen ist, sondern strukturell angemessen".102 76 In unserem auf Freiheitsgeset^e begründeten Bürgerstaat einer durch Verfassungsgrundsät^e eingeschränkten Mehrheitsherrschaft, die wir als eine nach republikanischen Prinzipien organisierte partiyipatorische und konstitutionelle Demokratie bezeichnen, läßt sich darum die Frage nach der Rechtfertigung des Staatshandelns weder einseitig und ausschließlich nach dem einen noch nach dem anderen Prinzip, sondern folgerichtig nur aus der sachgerechten Verbindung dieser beiden in die Staatskonzeption und Herrschaftsform unserer heutigen freiheitlichen Demokratie eingegangenen Prinzipien beantworten. Es ist offensichtlich, daß für die Entscheidung der Staatsgewalten in einer solchen nach republikanischen Prinzipien organisierten Demokratie dem republikanischen Prinzip der Einigung die Priorität vor dem demokratischen Prinzip der Mehrheitsentscheidung zukommen muß. Denn sieht man nach republikanischem Prinzip die optimale Legitimation solcher Entscheidungen der Staatsgewalten nur bei größtmöglicher Identität mit dem Interesse und Willen der Bürger für gegeben, also etwa bei einem Konsens der Regierenden mit den Regierten, dann kann jede Entscheidung nach demokratischem Prinzip, unter Dissens nach Majorität also, nur die relative Legitimation einer Notlösung beanspruchen. Demzufolge muß in unserer nach republikanischen Prinzipien organisierten freiheitlichen Demokratie für alle Entscheidungen der Staatsgewalten das Legitimationsprin^ip gelten: Soviel Einigung me möglich, soviel Mehrheitsentscheidung wie nötig, und nicht umgekehrt.103 102

BÖCKENFÖRDE HdBStR Bd. 1 (Fn. 49) § 22 Rdn. 52. Dies läßt sich nur begründen, wenn man davon absieht, daß nach republikanischer Tradition die „einzelnen Bürger" als individuelle Subjekte in ihrer Gesamtheit den Souverän einer Republik konstitutieren, womit bei einer Entscheidung nach Mehrheit der in der Minderheit verbliebene Teil des Souveräns an der Legitimation dieses Aktes der Politik aus seinem Interesse und Willen keinen Anteil hat, mit all den Folgen für die Voraussetzungen einer Legitimation dieser Mehrheitsentscheidungen auch für die Minderheit. Diese strukturelle Konsequenz einer republikanischen Staatskonzeption läßt sich nur dadurch umgehen, daß man das „gesamte Volk" als einen „genossenschaftlichen Verband" und damit eine A r t kollektives Subjekt auffaßt, womit der von der Mehrheit der „Volksgenossen" erklärte Wille als der Wille des Volkes erscheint. Vgl. zu dieser organistischen Auffassung des Staates als „herrschaftlichen und genossenschaftlichen Verband" noch bei GEORG JELLINEK und damit der „Demokratie als Einheit von Genossenschaft und Herrschaft" jetzt: I. ISENSEE Die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, in: HdBStR Bd. 1, 1987, § 13, insbes. Rdn. 109 ff.

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Vgl. dazu jetzt: MAIHOFER Inhalte und Grenzen des Staates (Fn. 52) S. 67 f.

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Zu demselben Ergebnis kommt in der Sache schon K O N R A D HESSE bei seiner 77 Erörterung der „Grundzüge der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes". Auch er kommt zu dem Schluß: „Freie politische Willensbildung beruht in erster Linie auf Einigung'. Dabei rechtfertigt er diese Priorität des Einigungsprin^ips nicht nur wertrational damit, daß im Falle der Einigung das Ergebnis, „weil alle beteiligten Interessen optimal berücksichtigt werden, oft auch sachlich richtiger sein wird, als im Falle einseitiger Regelung durch diejenigen, die die Macht haben zu entscheiden", sondern auch zweckrational damit, daß bei einem durch Verständigung gefundenen Ausgleich, „dem alle Betroffenen zugestimmt haben", „das Ergebnis überzeugen und Zwang unnötig machen" wird. 104 Auch für H E S S E sind deshalb schon aus diesen einleuchtenden Gründen „auf allen Stufen der politischen Willensbildung Ausgleich und Verständigung in erster Linie aufgegeben, beruht das demokratische Verfahren der Willensbildung geradezu darauf, daß so weit wie möglich freie Einigung angestrebt und erhielt wird", weil nur „im Falle der Einigung das Freiheitsprin^ip voll verwirklicht ist und die integrierende Kraft der erhielten Lösung darauf beruht, daß alle Beteiligten ihr zugestimmt haben und selbst für sie verantwortlich sind". Läßt sich doch in der Tat in einer auf Freiheitsgesetze begründeten Herrschaft von Menschen über Menschen allein durch eine Einigung der Beteiligten, notfalls durch Kompromiß, auf jenen „Punkt", an dem nach ROUSSEAU ihre „partikularen Interessen" übereinstimmen, ein für Alle verbindlicher „allgemeiner Wille" begründen, der dieser Entscheidung eines solchen Gemeinwesens von Freien und Gleichen ein Optimum an Legitimität verleiht. Demgegenüber hat eine Entscheidung mit bloßer Mehrheit der Beteiligten, sofern und solange sie nicht nötig ist, keinerlei Rechtfertigung.105 Und auch wo sie nötig ist, um unter Anwendung des Mehrheitsprin^ips zu einer für das Gemeinwesen gebotenen Entscheidung zu gelangen, ist das Minimum an Legitimität, das sie verleiht, nicht allein schon daraus zu begründen, daß der Mehrheit damit durch die Minderheit nicht eine Entscheidung aufgezwungen werden kann, „die sie mißbilligt"; vielmehr daß sie damit ihre innerhalb der Mehrheit partiell einheitlichen „partikularen Interessen" gegen die Minderheit durchzusetzen, und gar zu einem auch für die Minderheit verbindlichen „allgemeinen Willen" zu erheben vermag. Wie H E S S E überzeugend feststellt: vermag jedoch „diese partiell einheitsbildende Wirkung das Mehrheitsprin^ip nur im Hinblick auf die Mehrheit zu legitimieren". Im Hinblick auf die Minderheiten enthält das Mehrheitsprin^ip, die Unmöglichkeit 78 einer Einigung und damit die Notwendigkeit einer Mehrheitsentscheidung voraus-

104

105

Vgl. dazu und zum folgenden richtungweisend schon: HESSE Verfassungsrecht (Fn. 7) § 5 II. 1.; Hervorhebungen hinzugefügt. Demgegenüber erklärt BÖCKENFÖRDE HdBStR Bd. 1 (Fn. 52) § 22 Rdn. 53: Wie weit v o r solcher Entscheidung nach dem Mehrheitsprinzip „Konsens angestrebt und gesucht wird, v o n der eigenen Mehrheit gegebenenfalls zugunsten v o n Einigung und K o m p r o m i s s keinen Gebrauch gemacht wird, ist eine Frage der demokratischen politischen K u l t u r und des Geistes, in dem Demokratie gehandhabt wird".

476

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

gesetzt, „einen sachlich gerechtfertigten Entscheidungsmodus nur unter %wei Grundvoraussetzungen"·. Zum einen bedarf es in einem solchen Falle, auch und gerade bei die Minderheiten mitbetreffenden Entscheidungen der Mehrheit, „prinzipieller Einigkeit darüber, daß Mehrheit den Ausschlag geben und daß es im Zeichen demokratischer Gleichheit auf die wirklich oder vermeintlich bessere Einsicht der Dissentierenden nicht ankommen soll". Was jedoch bei allen ethnischen und religiösen, aber selbst bei sozialen und politischen Minderheiten, die „Grundvoraussetzung" des in einer konstitutionellen Demokratie eingeschränkter Mehrheitsherrschaft ausdrücklich verbürgten Minderheitenschutzes überhaupt berührt. Zum andern muß in einem solchen Falle von die Minderheiten mitbetreffenden Mehrheitsentscheidungen „die Möglichkeit unterschiedlicher und sich verändernder Mehrheitsverhältnisse bestehen, sodaß die bei einer Entscheidung Unterliegenden die real gleiche Chance haben, in einem späteren Falle die Mehrheit zu gewinnen; erst dadurch erhält die Mehrheitsentscheidung volle demokratische Legitimität". Was als „Grundvoraussetzung" schon bei andauernder, gar durch alternative Koalitionen hindurch aufrechterhaltener Mehrheitsherrschaft in Frage steht, ohne daß dem grundsätzliche und unüberbrückbare Gegensätze innerhalb des Gemeinwesens zugrundeliegen müßten. Genügten doch hierzu schon aus strategischem Kalkül nach Parteiraison künstlich für unversöhnlich erklärte Standpunkte. Dies führt in beiden Fällen, in denen eine Entscheidung nach dem Mehrheitsprin^ip sachlich zwar nötig wäre, diese aber bei Fehlen der genannten „Grundvoraussetzungen" tatsächlich nicht möglich ist, sei es aus grundsätzlich unversöhnlichen, sei es aus künstlich für unüberbrückbar erklärten Gegensätzen, letztlich dazu, wie Hesse abschließend feststellt: Daß „die ratio des Mehrheitsprinzips in einem wesentlichen Teil verloren geht", sodaß dieses auch bei gescheiterter Einigung unanwendbar wird, und „es anderer, sachgemäßerer Formen" zusätzlicher Entscheidungsvorbereitung oder endgültiger Entscheidungsfindung bedarf.106 79 In den besonderen Fällen grundlegender Entscheidungen, in denen es der qualifizierten Mehrheit bedarf, nähert sich ohnehin „das Mehrheits- dem Einigungsprinzip an". Auch diese qualifizierte Legitimation solcher Grundsatzentscheidungen hat mit dem für uns aus dem republikanischen Prinzip folgenden Gedanken einer „freien Einigung" der in diesem gemeinen Wesen vereinigten Menschen über die Grundlagen ihrer Ordnung zu tun, die „auf möglichst breiter freier Anerkennung und Zustimmung beruhen" sollen, „weil sie nur dann Festigkeit des Gemeinwesens verbür106

Vgl. dazu HESSE Verfassungsrecht (Fn. 7) Rdn. 1 4 3 mit Verweis auf die hierzu noch immer grundlegende Arbeit von U. SCHEUNER Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973; und zum folgenden auch ebd. Rdn. 144. Nach den oben entwickelten Prinzipien einer partizipatorischen und konstitutionellen Demokratie erscheint in solchen Fällen der direkte Rekurs an den republikanischen Souverän vermittels Bürgerbefragung oder gar Bürgerentscheid, nicht zuletzt bei im Parteienstreit stehenden Verfassungsänderungen, die am ehesten den Legitimationsprinzipien einer freiheitlichen Demokratie entsprechende Konfliktslösung; deren bloße Möglichkeit bereits manche der heute aus purem Parteikalkul eskalierten Konflikte gegenstandslos machen dürfte.

§ 12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

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gen", wie es auch bei H E S S E ausdrücklich heißt. Wobei auch die Sperrminorität, mit der die Minderheit „ihren Willen dem Willen der Mehrheit wirksam entgegensetzen kann", ebenfalls „um dieses integrierenden Erfolges willen, aber auch im Interesse des Schutzes der Minderheit in Kauf genommen" wird. Aus allen diesen Gründen läßt auch die gegenwärtige Verfassungsrealität, wie zurecht bemerkt, „eine Tendenz %um Einigungsprin^ip erkennen". Nicht nur infolge der zumindest für Zustimmungsgesetze bei unterschiedlichen Parteikonstellationen im Bundestag und Bundesrat bestehenden Sachzwänge, sondern weil „eine Einigung in aller Regel dem eigenen Interesse der Regierenden entspricht und die Realisierung der getroffenen Entscheidung von der Zustimmung der Betroffenen abhängen kann". Dieser bei einmal eingebrachten Gesetzvorlagen der Regierung zu beobachtende 80 Trend s^ur Einigung steht in scharfem Gegensatz zu dem im Vorfeld parlamentarischer Meinungs- und Willensbildung des heutigen Parteienstaates festzustellenden genau gegenläufigen Trend %ur Nichteinigung·. in den vielfältig erlebbaren Fällen, in denen eine in der Sache einvernehmliche Entscheidung auch zwischen Regierung und Opposition sehr wohl möglich und auch nötig gewesen wäre, sie jedoch aus sachfremden Profilierungsinteressen und Parteiopportunitäten bewußt unterlassen oder gezielt verhindert worden ist; selbst in Fällen, wo allein durch solche interfraktionelle Initiative oder parteiübergreifenden Konsens bestimmte mehrheitsunfähige Sachentscheidungen innerhalb unseres Gemeinwesens hätten gefunden und getroffen werden können.107 HESSE

Kurz: eine Deformation des Mehrheitsprinzips zum Schlaginstrument einer von Parteiraison und Wahltaktik bestimmten politischen Praxis, die in offenkundigem Widerspruch zu den Eegitimationsprin^ipien einer freiheitlichen Demokratie steht, nach denen der Entscheidung durch Mehrheit nur die relative Legitimität einer Notlösung im Falle unerreichbarer Einigung zukommt, und die nicht zuletzt zu der selbstverschuldeten Entscheidungsunfähigkeit unseres heutigen Parteienstaates in schwierigen Sachfragen beigetragen hat, die der gegenwärtigen Verdrossenheit mit dieser Art von Parteiwesen mit zugrundeliegt. 4. Die Organisationsprinzipien einer freiheitlichen Demokratie als Selbstbestimmung der Bürger: soviel Partizipation wie möglich, soviel Repräsentation wie nötig In die freiheitliche Demokratie westlicher Prägung, wie sie aus einer Verbindung 81 republikanischer und demokratischer Prinzipien als durch Demokratie vollendete Republik und zugleich durch Republik gebändigte Demokratie ebenso in ihrer Ausprägung als präsidiale Demokratie wie als parlamentarische Demokratie hervorgeht, gehen damit jeweils verschiedene, scheinbar gegensätzliche Prinzipien der Organisation auch 107

Dazu im einzelnen: MAIHOFER Ethos der Republik (Fn. 51) S. 121 ff; und in „empirischer Betrachtung des Gesetzgebungsalltags" schon: W. MAIHOFER Gesetzgebungswissenschaft, in: G . Winkler und B. Schilcher (Hrsg.) Gesetzgebung, S. 3 ff, insbes. S. 20 ff.

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3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

des Prozesses von Politik mit ein, die ebenso aus diesen unterschiedlichen Herkünften folgen. Dabei bleibt im folgenden die eigentümliche Organisationsform der präsidialen Demokratie außer Betracht, wie sie sich aus demselben Gedanken bürgerlicher Aufklärung und Impetus demokratischer Revolution im Zweiparteiensystem von Republikanern und Demokraten der Vereinigten Staaten aus einer andersgestalteten Verbindung derselben Prinzipien der Staatskon^eption einer Republik und der Herrschaft s form einer Demokratie entwickelt hat, als in der auf ein Mehrparteiensystem gegründeten Organisationsform der parlamentarischen Demokratie unseres Grundgesetzes.108 Wobei es sich Hier wie Dort um verschiedene Formen einer Organisation des Prozesses von Politik handelt, durch den ebenso die Rechtmäßigkeit wie die Sachgerechtigkeit einer Herrschaft von Menschen über Menschen als Freie und Gleiche gewährleistet werden soll, die in einer Republik der Moderne, als einem auf Freiheitsgeset^e gegründeten Bürgerstaat, damals wie heute, eine „bürgerliche Vereinigung" unter Rechtsgesetzen und nach Verfassungsgrundsätzen: der „Freiheit als Mensch" aber ebenso auch der „Gleichheit als Mitmensch", der „Selbständigkeit als Bürger" und zuletzt auch der „Brüderlichkeit als Weltbürger" voraussetzt.109 82 Insoweit kann in der Tat, wie schon E R H A R D DENNINGER in seinen grundlegenden Überlegungen zu einer parti^ipatorischen Demokratie feststellt, „keine Demokratietheorie hinter die Problemstellung des Rousseauschen .Contrat social' zurückfallen". „Die Minimierung von Herrschaftszwang" oder gar Fremdherrschaft läßt sich theoretisch, wie „Rousseaus Identitätsthese dies mit unvergleichlicher Schärfe zum Ausdruck bringt", „durch ein Maximum an Partizipation, an realer Konsensbedürftigkeit für alle allgemeinverbindlichen politischen Entscheidungen am besten erreichen — ,l'obéissance à la loi qu'on s'est prescrite est liberté'". 110 Dabei versteht sich eine solche Herrschaft nach Freiheitsgesetzen in einem Bürgerstaat nicht einfach nur nach ihrem Ziel als eine Herrschaft von Menschen über und für ihre mit ihnen in einem Staat vereinigten Mitmenschen, sondern stellt sich nach ihrem Träger darüber hinaus als Herrschaft von Bürgern über und für ihre mit 108

Z u den fundamentalen Prinzipien der „Constitutio Libertatis" und des „ N o v u s Ordo" der als föderative Republik und präsidiale Demokratie verfaßten Demokratie in A m e r i k a noch immer: A. TOCQUEVILLE Die Demokratie in Amerika, Œ u v r e s complètes, Deutsche Ausgabe I. P. Mayer 1 9 5 1 ; jetzt: ARENDT Über die Revolution (Fn. 53) insbes. S. 1 8 3 f f und 2 3 2 f f ; und zur parlamentarischen Demokratie: H.-P. SCHNEIDER unten § 13.

109

Dazu im einzelnen: oben Rdn. 54 ff; und: Z u r „Brüderlichkeit" als Mitmensch unten Rdn. 1 5 5 f f , und als „Weltbürger" Rdn. 1 7 8 ff. Wozu es in KANTS nachgelassenen Reflexionen zur Rechtsphilosophie auch heißt: „Staatsbürgerliches und zugleich Weltbürgerliches Regiment ist in jeder Verfassung möglich. Sich als ein nach dem Staatsbürgerrecht mit in der Weltbürgergesellschaft vereinbarendes Glied zu denken, ist die erhabenste Idee die der Mensch v o n seiner Bestimmung denken kann und welche nicht ohne Enthusiasm gedacht werden kann" (Akademieausgabe Bd. X I X Fn. 59 S. 608 f).

110

Z u m „Herrschaftstypus der ,freiheitlichen Demokratie' " als „partizipatorische Demokratie" mit Bezug auf die Lehre v o m Gesellschaftsvertrag grundlegend schon: E. DENNINGER Staatsrecht, Bd. 1 (1973) insbes. S. 63 ff.

§ 12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

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ihnen in einem Gemeinwesen vereinigten Mitbürgern dar. Als eine Herrschaft von regierenden Bürgern über und für die regierten Bürger also, in Vollbringung dessen, was wir nach republikanischer Tradition die Selbstbestimmung der Bürger nennen, ihre Selbstherrschaft und Selbstbeherrschung in einem „Leben nach der Verfassung" unter der „Herrschaft von Gesetzen" des „gemeinsamen Interesse" und des „allgemeinen Willens" dieser „Bärger als Mitgesetzgeber" eines solchen Gemeinwesens, wie es noch bei K A N T in der Nachfolge ROUSSEAUS heißt. 111 Damit folgt aus der Staatskonzeption eines solchen auf die Freiheitsgesetze des Gesellschaftsvertrages gegründeten Bürgerstaates, die wir mit anderen Worten auch als die einer partizipatorischen, aber auch pluralistischen Demokratie bezeichnet haben, als Organisationsprin^ip einer Republik, das Prinzip der Partizipation, das Prinzip also der größtmöglichen und gleichberechtigten Teilhabe und Mitbestimmung aller Bürger an den öffentlichen Angelegenheiten ihres gemeinen Wesens. Dies forderte vom Prinzip der Republik her, wie ROUSSEAU klar gesagt hat, zur Verwirklichung der Gleichheit der Herrschaft einer solchen Herrschaft der Gleichen: die Herrschaft durch alle Bürger über alle und für alle in einem Gemeinwesen vereinigten Menschen und in ihm mitbestimmenden Bürger. Mit anderen Worten also: die Verbindung der Staatskonzeption einer partizipatorischen Republik mit der Herrschaftsform einer sogenannten direkten Demokratie·, der Herrschaft durch das „ganze Volk" als der „Gesamtheit der Bürger". Eben dies jedoch erklärt schon ROUSSEAU selbst für „nicht denkbar, dass das Volk unaufhörlich versammelt bleibe, um sich den Regierungsgeschäften zu widmen". Er erkennt ebenso aber auch, daß jede sogenannte indirekte Demokratie·, die nurmehr mittelbare Teilhabe und Mitbestimmung des „ganzen Volkes" als der „Gesamtheit der Bürger" durch hierfür gewählte Vertreter oder „eingesetzte Ausschüsse", wie er sagt: „die Form der Verwaltung ändert". 112 Führt sie doch aus der Sachlogik einer solchen indirekten Herrschaftsform zwar zu einer Effektuierung, aber zugleich zwangsläufig auch zu einer Mediatisierung der Selbstbestimmung der Bürger eines Gemeinwesens. Denn sieht man auch hier nach republikanischen Prinzipien die optimale Partizipation des Souveräns einer Republik als die grundsätzliche Voraussetzung der zugleich optimalen Legitimation der politischen Entscheidungen durch eine größtmögliche: unmittelbare Beteiligung des „ganzen Volkes" als der „Gesamtheit der Bürger"

1.1

1.2

Dazu im einzelnen: oben Rdn. 57 f; Wozu es in den Vorarbeiten zum Gemeinspruch auch heißt: „Ein Bürger ist ein Mensch in der Gesellschaft der seine rechtliche Selbständigkeit hat d. i. für sich selbst als Glied der allgemeinen öffentlichen gesetzgebenden Gewalt betrachtet werden kann" (Akademieausgabe Bd. XXIII Fn. 65 S. 137). Dazu schon: ROUSSEAU (oben Rdn. 34) und dagegen MONTESQUIEU (Rdn. 19) und ebenso KANT, der feststellt: „Alle Regierungsform nämlich, die nicht repräsentativ ist, ist eigentlich eine Unform, weil der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens sein kann"; weshalb er den „ R e p u b l i k a n i s m " geradezu als „das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden" bezeichnet (Fn. 55 S. 206 f) und dementsprechend erklärt: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volkes, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittels ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen" ( (Fn. 57) S. 464).

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3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

an, dann kann seine nur eingeschränkte: mittelbare Beteiligung durch Vertreter des „ganzen Volkes" als der „Gesamtheit der Bürger" lediglich als mediatisierte Partizipation und dadurch zugleich relativierte Legitimation der politischen Entscheidungen durch das Volk für das Volk, genauer: durch die Bürger für die Bürger als des einzigen und alleinigen Souveräns einer Republik gelten.113 83 Diese Forderung nach optimaler Partizipation und damit optimaler Legitimation des politischen Prozesses durch den republikanischen Souverän ist jedoch nicht nur eine Frage der Quantität·, der größtmöglichen Partizipation, sondern nicht minder auch der Qualität', der bestmöglichen Partizipation des „ganzen Volkes" d. h. der „Gesamtheit der Bürger" eines Gemeinwesens. Dies fordert zum einen, daß bei unserer Verbindung der Staatskonzeption der Republik mit der Herrschaftsform der Demokratie im Prinzip die mit der republikanischen Partizipation der Bürger als der unmittelbaren Partizipation des Souveräns der Republik übereinstimmende Formen der direkten Demokratie und damit einer direkten Partizipation der Gesamtheit der Bürger überall da den Vorzug und Vorrang haben und behalten müssen, wo nicht die zwingende Notwendigkeit besteht, diese Selbstbestimmung der Bürger in Formen indirekter Demokratie, also durch zu ihrer Repräsentation gewählte andere Bürger auszuüben. Dies aber erfordert zum anderen, daß diese demokratische Repräsentation von Bürgern durch andere Bürger so gestaltet und gehandhabt werden muß, daß selbst diese mittelbare Repräsentation des Souveräns der Republik wiederum den organisatorischen Charakter einer zumindest indirekten Partizipation der Gesamtheit der Bürger erhält und bewahrt; sodaß diese sich als selbständige Repräsentanten der Gesamtheit der Bürger dieses Gemeinwesens verstehen und verhalten können. Weshalb sie nach republikanischer Auffassung dieses ihres demokratischen Amtes, auch wo sie einer Partei oder einem Verband angehören, in persönlicher Unabhängigkeit von fremder Botmäßigkeit ihre Meinung bilden und ihre Entscheidung treffen sollen: „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen", wie unsere Verfassung nach guter republikanischer Tradition ausdrücklich sagt.114 84 Auch wenn offenkundig das Verhältnis dementsprechend möglicher Partizipation und notwendiger Repräsentation der Bürger in Großstaaten und Flächenstaaten ein anderes ist als in Kleinstaaten und Landgemeinden, oder gar bei Bürgerbeteiligungen in Kommunalparlamenten, so muß dennoch auch hier für die Art der Beteiligung des Volkes durch die Gesamtheit der Bürger in einer nach republikanischen Prinzipien

113

114

Vgl. dazu und zum folgenden schon: MAIHOFER Inhalte und Grenzen des Staates (Fn. 5 2 ) S. 68 ff. Z u m republikanischen Ethos des repräsentativen A m t e s schon CICERO V o m Rechten Handeln (De Officiis) Ausgabe Büchner 3. A u f l . 1 9 8 7 , insbes. S. 2 2 0 ff; und zum zugrundeliegenden Verständnis des „Positionscharakters" und der „Charaktermaske" der Person im A m t jetzt: MAIHOFER Recht und Personalität (Fn. 6 4 ) S. 2 4 2 ff; zum Phänomen der Repräsentativität noch immer grundlegend: H. HOFMANN Repräsentation, 1974; und auch: DERS. Parlamentarische Repräsentation der parteistaatlichen Demokratie, in: Recht—Politik —Verfassung 1986, S. 2 4 9 ff.

§12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

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verfaßten freiheitlichen Demokratie allgemein das Organisationsprinzip gelten: Soviel Partizipation wie möglich, soviel Repräsentation wie nötig, und nicht umgekehrt. Diese Organisation einer solchen durch partizipatorische und zugleich repräsentative Demokratie vollendeten Republik dient dabei auf dem einen wie anderen Wege insgesamt demselben Ziele: durch größtmögliche und bestmögliche Teilhabe und Mitbestimmung der in diesem Freiheitsstaat unter Rechtsgesetzen vereinigten Menge von „Menschen und Bürgern", als den Herrschern und Beherrschten, den Gesetzgebern wie den Gesetzesunterworfenen, den Regierenden wie den Regierten dieses Gemeinwesens das zu erreichen, was wir als die republikanische Identifikation der Herrschenden mit dem Interesse und Willen der Beherrschten umschrieben haben. Was nach der vielberedeten humanistischen Identitätsthese ROUSSEAUS wie K A N T S entsprechender praktischer Philosophie der Identität aus der Perspektive der Humanität der Person ebenso für die republikanische Identifikation der gesetzgebenden Bürger in der Legislative mit den gesetzesunterworfenen, wie für die regierenden Bürger in der Exekutive mit dem Interesse und Willen der regierten Menschen und Bürger gilt. Dies hat Konsequenzen nicht nur für die Staatsorganisation, sondern ebenso auch für das Amtsethos einer solchen nach republikanischen Prinzipien verfaßten partizipatorischen und zugleich repräsentativen Demokratie. 115 Es fehlt bis in unsere Gegenwart hinein nicht an Versuchen in den zwei 85 Jahrhunderten nach der demokratischen Revolution, die damalige „Epoche machende" Verbindung der Prinzipien der Demokratie mit der durch die bürgerliche Aufklärung erneuerten Idee der Republik nachträglich wieder aufzulösen, oder doch ihre Konsequenzen für die Staatsorganisation und das Amtsethos des „neuen Staates" unserer Epoche der Moderne zu relativieren oder gar zu eliminieren, um so den endlich errungenen Bürgerstaat, in klarem Widerspruch zu den Prinzipien einer Republik, in einen als Elitedemokratie oder gar Funktionärsdemokratie organisierten Klassenstaat oder Parteienstaat, oder gar „Führerstaat" zu verwandeln. Auch wenn wir diese letzte geschichtlich für alle Zeiten ad absurdum „geführte" Regression von unserer konstitutionellen zu einer absoluten Demokratie und zugleich Perversion unserer Republik zur Despotie, hier als eine Frage unserer „Streitbaren Demokratie" beiseite lassen können, so gibt es doch auch innerhalb des Rahmens unserer „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" Entwicklungen, die drohen, unsere partizipatorische und pluralistische, konstitutionelle und repräsentative Demokratie statt in einen „Bürgerstaat" in einen „Klassenstaat" oder einen „Parteienstaat" zu verwandeln. 115

Bei dem Amtsethos in der Staatsorganisation einer als Selbstbestimmung der Bürger aufgefaßten Republik handelt es sich durchgängig nicht um Verhältnisse der „Unterordnung" der Bürger, sondern der „Zuordnung", deren „Umwillen" der Bürger ist. Weshalb der Abgeordnete nach diesem politischen Ethos für den Bürger, der Gesetzgeber für den Gesetzesunterworfenen, der Regierende für den Regierten „da ist" in einer Republik, und nicht umgekehrt; so wie nach dem medizinischen Ethos der Arzt für den Patienten, nach dem pädagogischen Ethos der Lehrer für den Schüler; und eben nicht umgekehrt. Dazu schon W. MAIHOFER Vom Sinn menschlicher Ordnung, 1956, insbes. S. 7 0 ff.

482

86

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Diese Entwicklung droht einmal von noch heute umgehenden positivistischen Demokratietheorien, die wie etwa die SCHUMPETERS eine Elitedemokratie zum Ziele haben, und für die dementsprechend Demokratie „nur bedeutet dass das Volk die Möglichkeit hat, die Männer, die es beherrschen sollen, zu akzeptieren oder abzulehnen". Danach ist Demokratie nicht mehr „Herrschaft des Volkes", sondern „Herrschaft einer Elite für das Volk", mit der einzigen politischen Chance des Volkes, von dem doch nach unserer Verfassung „alle Staatsgewalt ausgehen" soll, in periodischen Abständen einen personellen Austausch der sie regierenden Eliten zu erreichen.116 Hierdurch läßt sich im besten Falle zwar eine technokratisch effektive, aber weder eine republikanisch partizipative noch eine demokratisch repräsentative Organisation des politischen Prozesses erreichen, unter größtmöglicher und bestmöglicher Teilhabe und Mitbestimmung aller Bürger also an ihrem Staate. Was angesichts der notorischen Legitimationsdefizite einer solchen Elitedemokratie zwangsläufig deren immanente Entwicklung zum Klassenstaat befördert, der sich auf Dauer nach weltweiter Erfahrung nur durch mehr oder weniger autoritäre Methoden struktureller Gewalt gegen das in einer solchen Scheindemokratie zunehmende Aufbegehren und den endlichen Aufstand des von der Selbstbestimmung ihres Gemeinwesens ausgeschlossenen Großteils seiner Bürger behaupten kann.

87

Eine nicht minder gefährliche Fehlentwicklung droht jedoch auch von einer anderen Variante der noch heute vertretenen positivistischen Demokratietheorien verschiedenster geistiger Herkunft, die ebenso die Auflösung der in der bürgerlichen Aufklärung und demokratischen Revolution eingeleiteten Verbindung der republikanischen Staatsform mit der demokratischen Herrschaftsform zur Folge haben, und den Parteienstaat von Heute auch in den Mehrparteiensystemen unserer Gegenwart zuletzt in eine Funktionärsdemokratie verwandeln würde. Auch diese Demokratietheorie geht, wie etwa bei KELSEN, wie auch wir, zunächst aus von der Auffassung einer Demokratie als die „Identität von Subjekt und Objekt der Herrschaft", und damit nach demokratischer Diktion als „Herrschaft des Volkes über das Volk", und gelangt angesichts der Verfassungsrealität schon der Weimarer Zeit wie auch wir noch der unseren zu der Erkenntnis, daß von einer „Repräsentation" des „ganzen Volkes" schon im Parlament der damaligen Republik wie auch der heutigen keine Rede sein kann, sondern diese entgegen dem Buchstaben und Geist der Verfassung durch Fraktionszwang und Parteidisziplin zur leeren Hülle und schönen Schein einer „Fiktion" verkümmert sei.117 Daraus kommt KELSEN ZU dem für einen juristischen Positivisten erstaunlichen Schluß, der noch in der heutigen Demokratiedebatte nachwirkt, daß dieser offen116

117

J. A . SCHUMPETER Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1946, insbes. S. 384 ff; dagegen überzeugend schon: DENNINGER Staatsrecht (Fn. 110) S. 62 f. Die verheerenden Folgewirkungen einer solchen in einem „Honoratiorenkarussel" endende „Elitedemokratie" zeigt die jüngste Ablösung der bisherigen politischen Elite in Italien. Vgl. dazu und zum folgenden schon: H. KELSEN Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, insbes. S. 14 f; und DERS. Sozialismus und Staat, 3. Aufl. hrsg. von N. Leser, 1965, insbes. S. 151 und S. 161; DERS.: Demokratie und Sozialismus, hrsg. von N. Leser, 1967.

§12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

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kundige Widerspruch zwischen Recht und Wirklichkeit nicht etwa durch eine Wiederherstellung des „freien Mandats" in der Verfassungsrealität aufzulösen sei: durch Annäherung also des Seins an das Sollen, der der Realität an die Norm. Sondern daß vielmehr diese Entwicklung des Parlaments von einer Volksvertretung zur Parteienrepräsentation nun auch im Verfassungstext durch förmliche Einführung des „imperativen Mandats", des „Mandatsverlusts bei Parteiwechsel" usw. nachvollzogen werden sollte. Er folgert dies aus einer bis in seine letzten Schriften durchgehaltenen, von keinerlei republikanischen Prinzipien beeinträchtigten Auffassung der Herrschaftsform der Demokratie als ein rein formales Prinzip, das der jeweiligen Anschauung der Mehrheit die Herrschaft verschafft". Weshalb er nicht nur sagen kann: „Die Vorstellung, daß die Freiheit des Abgeordneten von den Instruktionen seiner Wähler irgendwie für die Demokratie wesentlich ist, ist der gleiche Irrtum wie die ebenso häufige Vorstellung, die das Prinzip der Trennung der Gewalten mit dem demokratischen Gedanken in einen begrifflichen Zusammenhang bringt". Sondern auch bis zuletzt feststellen kann: „Abkürzung der Mandatsdauer, Referendum, imperatives Mandat usw. sind — zum Teil schon erfüllte — Forderungen der bürgerlichen Demokratie oder müssen es doch — soweit dies noch nicht der Fall ist — mit dem Fortschreiten des demokratischen Gedankens werden". Ein „Fortschreiten" mit der nach unseren zwischenzeitlichen Erfahrungen erkennbaren Folge einer weiteren Verkehrung des heutigen Parteienstaates in eine „reine", durch Mandatsträger einer Parteienvertretung in Parlament und Regierung beherrschte und herrschende Funktionärsdemokratie. Vor diesen beiden Gretchenfragen unseres Parteienstaates stehen wir angesichts 88 seines eher vergrößerten partizipatorischen wie repräsentativen Defizits noch heute. Die Frage ist: noch mehr elitäre oder gar imperative Parteiendemokratie, oder eher mehr parti^ipatorische und repräsentative Bürgerdemokratie? Mit anderen Worten: Soll aus dem früheren „ Volksstaat" endgültig ein „Parteienstaat", oder soll daraus künftig ein „Bürgerstaat" werden? Unsere Antwort kann für eine nach republikanischen Prinzipien organisierte Demokratie, die in ihrer „westlichen Ausprägung" als „freiheitliche Demokratie" aus einer Verbindung der Staatskonzeption der Republik mit der Herrschaftsform der Demokratie hervorgeht, nicht in einer Auflösung, sondern in der endlichen Vollbringung dieser eigentümlichen und neuartigen Verbindung einer durch Demokratie vollendeten Republik und zugleich durch Republik gebändigten Demokratie liegen. Das aber meint und heißt für diese unsere nach republikanischen Prinzipien verfaßte partizipatorische und pluralistische, aber auch konstitutionelle und repräsentative Demokratie in organisatorischer Konsequenz Zum einem Aufhebung des bisherigen plebis^itären Defizits unseres Grundgesetzes 8 9 durch Einführung von Volksbegehren, Volksbefragung und Volksentscheid. Ist doch die derzeitige Nichtbeteiligung unseres Volkes selbst an politischen Grundsatzentscheidungen, außer seiner mittelbaren Beteiligung als Wahlvolk, nicht nur mit dem tragenden republikanischen Organisationsprinzip einer größtmöglichen direkten Partizipation des „ganzen Volkes" und damit der Gesamtheit der „einzelnen Bürger als

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

des alleinigen Souveräns einer republikanisch organisierten Demokratie" unvereinbar. Sie steht zudem nicht nur in offenkundigem Widerspruch zum republikanischen Standard politischer Kultur der mit uns in einer Europäischen Union sich vereinigenden Nachbarländer. Sie steht in wachsenden Gegensatz ebenso auch zum heutigen Verlangen der eigenen Bürger nach ständiger direkter Beteiligung zumindest an der politischen Grundsatzentscheidung ihres republikanischen Gemeinwesens.118 90 Zum andern·. Aufhebung des repräsentativen Defizits unserer Verfassungswirklichkeit. Hat die gegenwärtige Perversion des Parlamentssystems unseres Parteienstaates zu Parteienrepräsentation doch nicht nur persönliche Gründe vorauseilenden Gehorsams und übereifriger Anpassung in Einzelfällen. Sie ist vielmehr die systemkonforme Konsequenz der derzeitigen politischen Praxis, die nicht nur den freien Abgeordneten tatsächlich bindende Koalitionsabsprachen und selbst Parteibeschlüsse kennt, sondern Fraktionszwang und Konformitätsdruck bis in die nichtöffentliche Ausschußarbeit hinein. Sodaß in völliger Verkehrung des Verfassungsprinzips des freien Mandats nunmehr politische Entscheidungen der Abgeordneten in sogenannten Gewissensfragen, wie etwa der Verjährungsfrage oder der Abtreibungsfrage, ausdrücklich „freigegeben" oder „freigestellt" werden; geradezu eine Verhöhnung von Buchstaben und Geist unserer Verfassung.119 Mit alledem wird der ohnehin in einem Parteienstaat vorhandene strukturelle Trend noch verstärkt, daß sich in ihm die Abgeordneten im Parlament und selbst die Amtsträger in der Regierung, entgegen ihrem Abgeordnetenstatus und Amtseid, im Konfliktsfall mit ihrer Parteiloyalität nicht mehr als Repräsentanten des ,,ganzen Volkes" und seiner Bürger, sondern als Funktionäre einer „bestimmten Partei" verstehen und verhalten. Gerade weil im pluralistischen Mehrparteiensystem unserer Epoche der Moderne, mit seinem Widerstreit und Wettstreit der einander ergänzenden und berichtigenden, in Regierung und Opposition miteinander konkurrierenden und alternierende Kulturideen der Parteien, die Parteiorganisation der Bürger, zu einer geschichtlichen Notwendigkeit 1.8

Vgl. zum plebiszitären Defizit des Grundgesetzes schon: MAIHOFER Inhalte und Grenzen des Staates (Fn. 52) S. 68 ff; hierzu heißt es schon bei R. HERZOG (in: T. Maunz/G. Dürig Grundgesetz-Kommentar Art. 20. II (1980) Rdn. 39) höchst bemerkenswert: „Für den Parlamentarischen Rat stand zweifellos im Vordergrund, daß er dem deutschen Volke nach den Erfahrungen von 1933 bis 1945 die politische Reife nicht zutraute, die seiner Überzeugung nach notwendig war, um in breitem Umfang plebiszitäre Elemente in die Verfassungsordnung des G G aufzunehmen. Insofern tragen Art. 20 II Satz 2 und die zu seiner Konkretisierung erlassenen Verfassungsartikel also durchaus den Stempel der unmittelbaren Nachkriegsjahre, so daß der Gedanke an grundlegende Neuorientierungen (selbstverständlich im Rahmen des Art. 20 II Satz 2) durchaus nicht fernzuliegen brauchte".

1.9

Vgl. zum repräsentativen Defizit der Verfassungswirklichkeit schon: MAIHOFER Ethos der Republik (Fn. 51) insbes. S. 122 ff; und auch: DERS. Inhalte und Grenzen des Staates (Fn. 52) insbes. S. 70 ff. Die überfällige Revision dieses Defizits verlangt zumindest die Umkehr der heutigen Parlamentspraxis: daß nicht Fraktionszwang oder gar Parteidisziplin die Regel und die „Freigabe" bei sog. Gewissensentscheidungen die Ausnahme bilden, sondern daß Fraktionszwang oder gar Parteidisziplin die ausdrücklich und öffentlich erklärte und begründete Ausnahme in strategischen Situationen sein muß, etwa bei Einsetzung oder Abberufung einer Regierung, bei Grundsatzentscheidungen eines Regierungsprogramms etc.

§ 12

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geworden ist, darf doch das politische Bewußtsein dafür nicht schwinden, daß diese Parteien als „ Vereinigung von Bürgern", die auf längere Zeit auf die politische Willensbildung Einfluß nehmen und an der Vertretung des Volkes mitwirken wollen, für eine solche nach republikanischen Prinzipien organisierte Demokratie zwar ein notwendiges Übel sind, aber notwendig zum Übel werden, falls es nicht gelingt, die einem solchen politischen System immanenten Tendenzen zur Perversion eben dieser republikanischen und selbst demokratischen Prinzipien durch entsprechende organisatorische Vorkehrungen, aber auch durch eine dementsprechende politische Wirksamkeit der Träger dieser Rolle der Parteien in einem Bürgerstaat entgegenzuwirken. Dies erfordert nicht nur eine Reform der Staatsorganisation unserer Republik zur 91 überfälligen Beseitigung der vorstehend umschriebenen notorischen Defizite politischer Legitimität des gegenwärtigen Parteienstaates durch Einführung einer direkten Partizipation des republikanischen Souveräns, aber auch durch Gewährleistung einer verfassungsgemäßen demokratischen Repräsentation des „ganzen Volkes" als die Gesamtheit seiner „einzelnen Bürger". Dies fordert, über diese „Veränderung der Staatsverhältnisse" hinaus, ebenso aber auch eine dem auf Freiheitsgesetze gegründeten Bürgerstaat entsprechende „Veränderung der Denkungsart": Die Restitution des Amtsethos dieser Republik, die „Revolution der Denkungsart" also wie K A N T sagt der in einem solchen Bürgerstaat machthabenden: gesetzgebenden und regierenden Bürger, im Verhältnis und Verhalten zu ihren gesetzesunterworfenen und von ihnen regierten Mitmenschen und Mitbürgern, um deren Interesse und Willen allein es in der Gesetzgebung und Regierung eines solchen auf das gemeinsame Beste gerichteten gemeinen Wesens geht. Dieses Ethos der Republik aber verlangt, nicht zuletzt von den unmittelbaren und mittelbaren Vertretern der Bürger in Parlament und Regierung, bei jedem Akt der Politik die Achtung und Beachtung des Prinzips der Publizität, das da lautet: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht". Ein Prinzip, das schon für K A N T wie noch für uns „nicht bloss als ethisch (zur Tugendlehre gehörig), sondern auch als juridisch (das Recht der Menschen angehend) zu betrachten" ist. „Denn eine Maxime, die ich nicht darf laut werden lassen, ohne dabei meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus verheimlicht werden muss, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht öffentlich bekennen kann, ohne dass dadurch unausbleiblich der Widerstand aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese notwendige und allgemeine", „Gegenbearbeitung aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht".120 Schon K A N T ist ohne Illusion, daß die praktische Orientierung der Politik auch 92 in einer Republik sich nach dem vollzieht, was er „sophistische Maximen" der „Staatsklugheit" genannt hat, und was wir die „strategische Orientierung der Politik nach

120

KANT Z u m ewigen Frieden (Fn. 55) S. 244 f f ; vgl. dazu im einzelnen und zu „Politik und Moral im Parteienstaat der G e g e n w a r t " grundsätzlich schon: MAIHOFER Ethos der Republik (Fn. 51) S. 101 ff und S. 116 ff.

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„Klugheit und Nützlichkeit" nennen, nicht zuletzt heutzutage „nach Interesse und Wille der Partei, Fraktion, Basis, Klientel". Aber er erkennt und bekennt zugleich, daß eben diese „Misshelligkeit der Politik mit der Moral" in einer als Vereinigung nach den Rechtsbegriffen der Freiheit und Gleichheit auf die moralischen Prinzipien der Universalität und Reziprozität gegründeten Republik nicht weiter bestehen kann. Vielmehr jeder Akt der Politik nach dem Prinzip der Publizität in einer Republik der öffentlichen Beurteilung ausgesetzt ist, ob er mit dem „Recht des Publikums in Eintracht" stehe. Diese hiermit geforderte „Einhelligkeit der Politik mit der Moral·' meint und heißt mit unseren Worten: Jede Maßnahme, jede Entscheidung eines Politikers in einem nach republikanischen Prinzipien auf Freiheitsgesetze begründeten Bürgerstaat, deren Tatsachenvoraussetzungen und Beweggründe nicht offengelegt: „publik" gemacht werden können, weil es sonst zu einem „Aufruhr des Publikums", als des höchsten Souveräns in einer Republik käme, ist für K A N T wie für uns nicht nur unmoralisch, sondern unrechtmäßig. 121 Muß so in einer Republik jeder Akt der Politik sich eine Kontrolle des Publikums als einer Art vierter Gewalt im Staate gefallen lassen, durch dessen „Beistimmung" er allein „Rechtmäßigkeit": moralische Legitimität und damit juridische Legalität erlangen kann, dann wird die optimale Publizität politischer Akte in einer Republik zur unentbehrlichen Voraussetzung für diese notwendige „Einstimmung oder Mißbilligung", und damit für die nicht mehr nur strategische Orientierung der Politik am Parteiinteresse und Parteiwillen, sondern moralische Legitimierung von Politik in einer Republik aus der Einheit des Interesses und Willens der Regierenden mit dem der Regierten. 122 93

Diesem Ethos der Republik kann sich kein Akt im Pro^eß der Politik einer Republik entziehen, bis hin zu den in einem Parteienstaat von den Parteien aufgestellten, gewählten und berufenen Repräsentanten dieser Republik in Parlament und Regierung. Sie verfehlen ihr Amt, und verletzen damit das Amtsethos dieser Staatskonzeption einer Republik, wo sie sich im Loyalitätskonflikt zwischen der strategischen Orientierung ihrer Politik an der Parteiraison und der moralischen Legitimierung ihrer Politik aus der Bürgersouveränität, nicht in letzter Instanz ohne Ausflucht und Abstrich 121

Ist doch für jede Politik, die mit Moral und Recht „in Einklang steht", zwar nicht zu fordern, daß ihre Gründe in jedem Fall offengelegt werden müßten, aber doch, daß sie in jedem Fall im vorhinein hätten offengelegt werden können, ohne daß sie die Mißbilligung der Allgemeinheit gefunden hätten. Weshalb der „moralische Politiker" selbst bei Akten der Politik, deren Bestimmungsgründe nicht rechtzeitig oder nicht vollständig publik gemacht werden können, etwa aus Gründen der „Staatsklugheit" wie KANT sagt, sich zumindest innerlich der „Beistimmung" der Bürger v o r dem eigenen Gewissen zu versichern hat.

122

Zur „unmittelbaren politischen Willensbildung des Volkes" und zur „Freiheit und Offenheit des politischen Prozesses" grundlegend: HESSE Verfassungsrecht (Fn. 7) Rdn. 145 f f und 159 ff. Zum Spannungsverhältnis und Widerstreit der strategischen Orientierung der Politik in einem nach republikanischen Prinzipien organisierten demokratischen Parteienstaat am Parteiinteresse und Parteiwillen, und der moralischen Legitimierung der Politik am Interesse und Willen der gesetzesunterworfenen und regierten Menschen und Bürger im einzelnen: MAIHOFER Ethos der Republik (Fn. 51) S. 1 1 9 f.

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als Repräsentanten des Souveräns ihrer Republik, sondern als Repräsentanten der Basis oder Klientel ihrer Partei verstehen und verhalten. All dies hat weitreichende Folgen für das Verständnis und die Bestimmung der Rolle der Parteien im Gesamtzusammenhang des politischen Prozesses einer nach republikanischen Prinzipien organisierten Demokratie. Dieser politische Prozeß einer partizipatorischen und zugleich repräsentativen 94 Demokratie nach dem Organisationsprinzip: Soviel direkte republikanische Partizipation der Bürger als des Souveräns der Republik wie möglich, soviel indirekte demokratische Repräsentation dieser Bürger als der Träger ihrer Selbstbestimmung in Parlament und Regierung wie nötig, vollzieht sich auf unterschiedlichen Ebenen und durch verschiedene Stufen der Meinungs- und Willensbildung eines Gemeinwesens hindurch, die miteinander in einem Sachzusammenhang sich ergänzender und berichtigender Wechselwirkung aufeinander stehen. So geht dieser Prozeß der Politik zwar zunächst aus von der informellen Meinungs- und Willensbildung der Menschen und Bürger, wie sie sich in der veröffentlichten Meinung der Publizistik widerspiegelt, aber auch der öffentlichen Meinung des Publikums als des Souveräns dieser Republik niederschlägt, die beide auf ihre Weise Bezugsobjekt der strategischen Orientierung, aber auch der moralischen Legitimierung der organisierten Meinungs- und Willensbildung der Parteien und Verbände bei der sog. „Vorformung des politischen Willens" sind, die ihrerseits auf die institutionelle Meinungs- und Willensbildung in Parlament und Regierung sich auswirkt; und die zuletzt wiederum auf die veröffentlichte Meinung und die sich bildende öffentliche Meinung unseres Gemeinwesens zurückwirkt. 123 Dabei handelt es sich nur in vordergründiger Betrachtung in diesem politischen 95 Prozeß um sog. Meinungs- und Willensbildung, vielmehr geht es hintergründig in der Sache selbst auf allen diesen Ebenen und durch alle die Stufen des informellen, organisierten und institutionellen Prozesses der Politik hindurch, um nichts anderes als die Wahrheits- und Gerechtigkeitsfindung eines Gemeinwesens, über die Grundsatzfragen und Tagesfragen des Zusammenlebens und Zusammenwirkens der in diesem Staat unter Rechtsgesetzen vereinigten Menschen und ihre Selbstbestimmung vollbringenden Bürger. Sei es vermittels eines Gerechtigkeit genannten Gleichgewichts zwischen der Freiheit des Einzelnen und der Sicherheit der Andern, sei es eines solchen Gleichgewichts zwischen der Wohlfahrt des Einzelnen und der Bedürftigkeit der Andern, von dem in der nachfolgenden programmatischen Erörterungen der Staatskonzeption eines freiheitlichen Rechtsstaates und Soyialstaates im einzelnen noch die Rede sein wird. 124 Im Gesamtzusammenhang dieses politischen Prozesses der Meinungs- und 96 Willensbildung und damit Wahrheits- und Gerechtigkeitsfindung in unserem Gemeinwesen ist den Parteien nach der Verfassung eines Bürgerstaates zwar nicht eine herrschende, wohl aber eine dienende Rolle zugedacht und zugewiesen. Bei der eben 123

124

Vgl. zum Spannungsverhältnis und Widerstreit der strategischen Orientierung der Politik an der veröffentlichten Meinung der Publizistik und der moralischen Legitimierung der Politik an der öffentlichen Meinung des Publikums, und zu „Politik und Moral in der Mediengesellschaft der Gegenwart" grundsätzlich: MAIHOFER Ethos der Republik (Fn. 51) S. 1 1 0 f f und S. 1 1 9 f . Vgl. dazu unten III. 2 Rdn. 1 1 7 ff; sowie III. 3 und 4 Rdn. 1 3 0 f und 155 ff.

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die eine Partei kennzeichnende Parteilichkeit ihres Denkansatzes und ihrer Wertvorstellungen, die für sich genommen Gerechtigkeit geradezu ausschließt oder doch erschwert, in Entgegensetzung und Zusammenwirken mit ebenso parteilichen Sehund Denkweisen aus eher individualen oder sozialen, eher konservativen oder progressiven, eher nationalen oder internationalen, eher ökonomischen oder ökologischen usw. Perspektiven und damit Prioritäten von Interessen und Idealen, allererst einen die verschiedenen Seiten einer Sache umfassenden und erhellenden Beitrag zur Wahrheits- und Gerechtigkeitsfindung eines Gemeinwesens zu leisten vermag. Das aber verlangt in einer nach republikanischen Prinzipien organisierten freiheitlichen: partizipatorischen und repräsentativen Demokratie, daß zumindest auf der letzten Ebene oder Stufe der institutionellen Meinungs- und Willensbildung und damit der Wahrheits- und Gerechtigkeitsfindung auch in Parlament und Regierung die zum definitiven Votum in diesen Spitzenpositionen der Staatsorganisation einer Republik berufenen Personen sich als unmittelbare oder doch mittelbare Repräsentanten der Staatsbürger und nicht als Vertreter einer Partei verstehen und verhalten; und somit nicht nach Parteilichkeit·, dem Interesse und Willen einer Partei, sondern als „Oberhaupt der öffentlichen Gerechtigkeit", „das seihst gerecht", „und doch ein Mensch" ist (wie K A N T sagt) nach Gerechtigkeit·, dem „gemeinsamen Interesse" und „allgemeinen Willen" der Menschen und Bürger entscheiden. Wozu es verfahrensmäßig nach republikanischer Tradition „von Wichtigkeit ist", um eine wirkliche Erkenntnis des gemeinsamen Interesses und „klare Darlegung des allgemeinen Willens zu erhalten", wie ROUSSEAU bleibend gültig noch für uns heute fordert: daß bei dieser Entscheidung Jeder Staatsbürger nur für seine eigene Überzeugung eintreten soll". Läßt sich doch nur so Parteilichkeit in die Gerechtigkeit einer Republik, und damit der Parteienstaat einem Bürgerstaat anverwandeln. 125 97 Dazu jedoch gehört in einem Bürgerstaat zugleich, daß die Parteien diesen politischen Prozess zwar durch ihre Beiträge mit initiieren und stimulieren, aber ebenso auch, was man ein „Political self restraint" nennen könnte: daß sie ihn nicht allein für sich usurpieren und okkupieren. Vielmehr auf allen Ebenen und Stufen dieses politischen Prozesses einen Freiraum für Bürgerbeteiligung, Bürgerinitiative und Bürgerengagement auch parteiloser und überparteilicher Aktivbürgerschaft innerhalb wie außerhalb der Parteien offen halten. Wie auch H A N N A H A R E N D T noch in ihren letzten Äußerungen zu den noch immer unerfüllten Hoffnungen der bürgerlichen Aufklärung und demokratischen Revolutionen auf dem amerikanischen wie dem europäischen Kontinent erklärt: Das kardinale Problem ist, „daß es neben den modernen Staatsapparaten", aber auch den „modernen Parteimaschinen" keinen „öffentlichen 125

ROUSSEAU Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 59; unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die schon in der republikanischen Tradition der italienischen Renaissance bei MACHIAVELLI vorherrschende Überzeugung, daß das „gemeinsame Beste" eines „gemeinen Wesens" verfehlt werde, w o seine Entscheidungen nicht durch die individuellen Bürger, sondern durch organisierte Mehrheiten v o n Sektenmitgliedern („sette") oder Parteileuten („partigiani") getroffen werden, die damit ein bestimmtes Sonderinteresse und einen bestimmten Sonderwillen als Gesetz des Staates setzen und durchsetzen. Vgl. dazu jetzt auch die Beiträge der Florentiner Konferenz: Machiavelli and Republicanism (Fn. 25) insbes. S. 121 f f und S. 2 8 4 ff.

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Raum gibt", wo die „Bürger auftreten und ihre Angelegenheiten erörtern" können und sich „eine wirkliche Meinungsbildung entwickeln kann. Wenn die Bürger Mitbestimmungsrecht fordern, dann meinen sie nicht, daß sie wählen, sondern daß sie mitreden dürfen"; und ich füge hinzu: daß sie mitbestimmen wollen. Nicht Basisdemokratie, sondern „Elementarrepublik'' heißt darum ihr Schlüsselwort für die Remedur des gegenwärtigen Parteienstaates von unten her, Hier wie Dort.126 Nicht die Parteien als solche, sondern das Zuviel und Ubermaß an Parteilichkeit, an Parteiraison und Parteipolitik auf allen Ebenen und durch alle Stufen des politischen Prozesses hindurch, sind das akute Problem: die zunehmende Mediatisierung und Dominierung der Selbstbestimmung der Bürger also durch die Parteien, die sich an deren Stelle setzen und über ihre Köpfe hinweg regieren, was eine wachsende Überwucherung und Verfremdung des endlich erreichten Bürgerstaates durch ein immer mehr mit sich selbst beschäftigtes, um sich selbst sich drehendes Parteienwesen zur Folge hat; das in moderater Proportion für ein Gemeinwesen überaus belebend und förderlich ist, in solch exzessiver Disproportion dagegen sich lähmend und erdrückend auf republikanischen Bürgersinn und aktive Bürgerbeteiligung auswirkt. Der Ausweg aus dieser Fehlentwicklung des heutigen Parteienstaates kann darum nur in einer Zurücknahme des Parteiwesens auf seine einem Bürgerstaat angemessene·, dienende Rolle liegen, wie sie sich in einem ersten Schritt bereits aus der vorstehend vorgeschlagenen Reform der Staatsorganisation und Restitution des Amtsethos unserer Republik ergeben würde. Die Lösung des „Problems des modernen Staates" heißt darum für uns heute nicht: 98 Rückkehr zu einem Volksstaat nationalistischer oder völkischer Prägung, noch „Fortschreiten" zu einem Parteienstaat imperativer oder basisdemokratischer Ausprägung, sondern Vollendung des aus der bürgerlichen Aufklärung und demokratischen Revolution hervorgegangenen, auf Freiheitsgesetze gegründeten Bürgerstaates durch Verfassungsgrundsätze eingeschränkter Mehrheitsherrschaft, zu einer freiheitlichen·, nach republikanischen Prinzipien organisierten parti^ipatorischen und repräsentativen Demokratie. Kurz: Zur Bürgerrepublik im inneren Staatsverhältnis, zur Weltrepublik im äußeren Staatenverhältnis dieser unserer Epoche der Moderne.

III. Verfassungsmäßige Voraussetzungen und programmatische Zielsetzungen der liberalen und sozialen Demokratie des Grundgesetzes Die bei allen diesen Denkern auf das Prinzip der Freiheit, aber auch das Prinzip der 99 Gleichheit begründete Staatskonzeption der Republik und Herrschaftsform der De126

Vgl. dazu schon: ARENDT Über die Revolution ((Fn. 53) insbes. S. 3 1 0 ff) zu THOMAS JEFFERSONS gegen die „Korruption und Perversion der repräsentativen Körperschaften" gerichteten Idee einer Erneuerung des revolutionären Geistes der Republik durch umfassende Bürgerbeteiligung in „Elementar-Republiken" von Unten her; und zuletzt: H. ARENDT in: A . Reif (Hrsg.) Gespräche mit Hannah Arendt, 1976, insbes. S. 94 f.

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mokratie wird geschichtsmächtig in der amerikanischen Revolution durch Verbindung mit der Verfassungsgarantie der Menschenrechte und für den europäischen Kontinent durch die daran sich anschließende Verbindung mit den Verfassungspostulaten der Freiheit—Gleichheit—Brüderlichkeit der französischen Revolution. Alle diese im heutigen Begriff einer freiheitlichen·, parti^ipatorischen und konstitutionellen Demokratie sich verbindenden Prinzipien bilden so den Verfassungskontext, von dem wir bei der näheren Bestimmung zunächst der verfassungsmäßigen Voraussetzungen und programmatischen Zielsetzungen der liberalen und sozialen Demokratie des Grundgesetzes als Verfassung der Menschenwürde und der Menschenrechte und als Ordnung unseres Staates nach den Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit auszugehen haben. 1. Freiheitliche Demokratie als Verfassung der Menschenwürde und der Menschenrechte 100 „(1) Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. (2) Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar. Die öffentliche Gewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu achten und zu schützen" heißt es im Herrenchiemseer Entwurf zu Art. 1 unseres Grundgesetzes127. Darin drückt sich im Einleitungssatz die grundlegende Wende unseres Staatsverständnisses aus, die den Staat des Bonner Grundgesetzes bewußt und gewollt schon in seinem Fundamentalprinzip von allen seinen Vorgängern in der deutschen Geschichte, zumal die der jüngsten Vergangenheit unterscheiden und abheben soll. Mit einer geradezu „kopernikanischen Wende" wird erklärt, daß dieser Staat um des Menschen willen da ist und nichts sonst. Nicht mehr wie im früheren Staatsdenken der vergangenen Epoche liegt so im Staate selbst sein Zweck: in einem wie immer gedachten „Staatsorganismus" oder gar in einer wie immer begründeten „Staatsraison". Zweck des Staates ist allein der Mensch. Und so der Staat bloßes Mittel %um Zwecke des Menschen. Dieser Zweck: dieses Umwillen, dessentwegen hiernach der Staat da ist, wird im Folgesatz als „die menschliche Persönlichkeit" bezeichnet. Sie wird damit in den Mittelpunkt aller Staatsordnung und Staatstätigkeit gerückt. Um sie geht es im Staat des Grundgesetzes, für sie allein ist er da. Von dieser menschlichen Persönlichkeit wird zugleich ausgesagt, daß ihr eine „unantastbare Würde" zukommt und daraus gefolgert: daß die „öffentliche Gewalt" in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet ist, diese „Menschenwürde χμ achten und χμ schütten". Besser als in der Endfassung des Artikels 1 unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt", werden hier so in der Ursprungsfassung die einzelnen Gedan127

Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, herausgegeben v o m Verfassungsausschuß der Ministerpräsidentenkonferenz der westlichen Besatzungszonen, 1948, S. 61.

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kenschritte und der gesamte Begründungszusammenhang sichtbar, die am Ende zu einer Staatsverpflichtung auf den Verfassungsgrundsat% der Menschenwürde führen. Mit ihr wird die Menschenwürde zur letzten Voraussetzung, zum Fundament, und die aus ihr gefolgerte Staatsverpflichtung zur höchsten Zielsetzung einer freiheitlichen Demokratie erklärt. So klar dieser Zusammenhang erscheint, so unklar bleibt, was diese von den 101 Verfassungsvätern in den Text unseres Grundgesetzes eingebrachte „nicht interpretierte These"·, von der Menschenwürde des Menschen und ihrer Unantastbarkeit für den Staat eigentlich bedeutet und fordert128. Diese bewußte Offenheit, was „Menschenwürde" meint und heißt, ist in einem säkularen und pluralen Staat wie dem unseren durch keine noch so „authentische" und „autorisierte Interpretation" unseres Grundgesetzes in endgültige Eindeutigkeit zu verwandeln. Auch nicht durch die des Bundesverfassungsgerichts, das diese „nicht interpretierte These" der Menschenwürde nicht unmittelbar dadurch „interpretiert", daß erklärt wird, was Würde des Menschen ist, sondern mittelbar dadurch, daß diese auf ein Bild des Menschen zurückgeführt wird. Das als „Menschenbild des Grundgesetzes" wie folgt bestimmt wird: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten"129. Daraus ergeben sich für unseren Zusammenhang zwei Begriffe und ihre Ge- 102 gensätze, die erhellen können, was danach der Mensch ist und seine Würde. Der Mensch ist hiernach gemeinscbaftsbe%ogene und gemeinschaftsgebundene Person, kein „isoliertes souveränes Individuum"; dessen Würde mit dem Begriff des „Eigenwertes" umschrieben und als die „Eigenständigkeit der Person" bezeichnet wird, begabt mit der „Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung", wie es an anderer Stelle heißt130. Sicher weisen diese mittelbaren Bestimmungen des B e g r i f f s der Menschenwürde in die richtige Richtung, aber in ihnen bleibt zweierlei weiterhin ungeklärt: Wie denn eine Person Eigenwert und Eigenständigkeit haben kann, von der gerade gesagt wird, daß sie kein souveränes Individuum sei; und worin denn dieser doch offenbar aus „Eigenständigkeit" stammende „Eigenwert" seinen Grund hat, aus dem eine Würde des Menschen entspringen und hervorgehen kann, die für andere Menschen unantastbar sein soll. Das wäre doch nur dann zu begründen, wenn diese Würde aus der „Eigenständigkeit" entspringt, aus der sie als ein „Eigenwert" hervorgeht, was jedoch eben die gerade ausdrücklich abgelehnte Souveränität des Individuums voraus-

128

129 130

Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Art. 1 G G und seiner v o n THEODOR HEUSS stammenden Auffassung als „nicht interpretierte These": J ö R (Fn. 1) S. 48 ff. BVerfGE 4, 1 5 f ; 5, 203; 12, 53 u.a. BVerfGE 5, 203 f.

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setzte? Was aber ist diese denn eigentlich anderes als die gerade zum „Menschenwürdeschutz" viel bemühte Autonomie der Person?131 103 Würde des Menschen (dignitas humana) ist schon für die Naturrechtslehre ein Schlüsselwort für die Bestimmung der Wesensausstattung des Menschen, wie sie ihm nach der älteren korporativen Naturrechtslehre von Gott im Akt der Schöpfung als seine Ihm: dem Schöpfer gottebenbildliche Wesensnatur eingestiftet ist. Und die so als seine „angeborene Würde" unantastbar ist, weil mit der Antastung eines solchen Geschöpfes Gottes der Schöpfer selbst angetastet wird132. Dieser Begriff der Menschenwürde wird zuletzt bei PUFENDORF zum Zentralbegriff seiner Naturrechtslehre. Auch er hält noch die ihr zugrundeliegende zugleich „rationale und soziale Natur" des Menschen als eine „Schöpfung göttlichen Willens" für „ewig" und „unveränderlich"133. Diese Lehre, daß schon „das Wort Mensch, eine gewisse Würde in seinem Klang hat", geht über J O H N W I S E , einen begeisterten Anhänger PUFENDORFS und einen „der ersten großen amerikanischen Demokraten und Vater der amerikanischen Demokratie" mit in den Menschenwürdegedanken der Verfassungsväter der amerikanischen Revolution ein und verbindet sich dabei mit dem ganz anderen Ansatz solchen Denkens J O H N LOCKES beim „natürlichen Freiheitsrecht des Eigentums", das mit Gut und Besitz auch Leib und Leben aber auch die Arbeitskraft als „angeborenes Menschenrecht" mit umfaßt. Diese Begründung der Würde des Menschen und ihrer Unantastbarkeit aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen wirkt auch heute noch fort. Sie ist eine Sache des Glaubens und nicht des Wissens. Darum nur für den verbindlich und verpflichtend, der diesen Glauben teilt. In dessen Namen jedoch dennoch, wie die Geschichte lehrt, eben diese Menschenwürde, jedenfalls der Heiden, der Ketzer, ja ganz einfach der Andersgläubigen Hunderttausendfach mißachtet und zernichtet worden ist. Weshalb schon H A N S WELZEL seine Erörterungen zur Menschenwürde in die Worte zusammenfaßt: „Schief ist darum auch die heute weitverbreitete Auffassung, daß die Humanitätsidee des neueren Naturrechts mitsamt den Menschen- und Freiheitsrechten nur eine Säkularisierung des christlichen Menschenbildes sei": „Der Gedanke der Menschenwürde mußte gerade gegen diese im christlichen Namen betriebene Theorie und Praxis durchgesetzt werden"134 104 Die hierbei ins Feld geführte ganz andere Begründung der Würde des Menschen bildet sich in der individualistischen Naturrechtslehre aus, die unmittelbar in die 131

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133

134

Zu der grundsätzlichen Fragwürdigkeit des Ausgangspunktes einer solchen Verfassungsinterpretation v o n den Kategorien „Individuum" und „Gemeinschaft" her und damit v o n der „sterilen Konfrontation" „Individuum" und „Staat" schon: DENNINGER Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 1 1 0 ) S. 1 9 f f ; und grundlegend: DERS. Rechtsperson und Solidarität, 1967, S. 64 f f und S. 2 1 2 f f . Vgl. zu der in der katholischen wie protestantischen Naturrechtslehre bis heute fortwirkenden Begründung der Menschenwürde aus der Gottesebenbildlichkeit, R. ZIPPELIUS in: BonnerKommentar zum Grundgesetz, Art. 1 (Drittbearbeitung) Rdn. 4 f. Vgl. dazu H. WELZEL Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. A u f l . , 1962, S. 138 ff und zum folgenden S. 142 ff. H. WELZEL Naturrecht (Fn. 133) S. 144 f A n m . 54; vgl. dazu auch F. WIEACKER Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, S. 266 A n m . 72.

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bürgerliche Aufklärung an der Schwelle der Epoche der Moderne hineinführt. Und deren Gedanken K A N T in einer bis heute gültigen Begründung der Würde des Menschen aus der menscheneigenen Vernunftnatur zusammen faßt. Es ist hier die Vernunft des Menschen, die im Unterschied zum Instinkt des Tieres „keine Grenzen ihrer Entwürfe kennt", durch die der Mensch „als das einzige Geschöpf auf Erden" mit „Freiheit begabt" ist: Mit der Freiheit χητ Selbstbestimmung als „Zweck an sich selbst". Er sieht dabei den Menschen, anders als die frühere Naturrechtslehre, als ein Wesen, dem über seine „tierische Ausstattung hinaus" weder durch Gott noch von Natur irgend eine Zweckbestimmung eingestiftet oder angeboren ist. Weshalb K A N T in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" geradezu von einer „Leere der Schöpfung angesichts des Zweckes des Menschen" sprechen kann 135 . Diesen seinen Zweck hat der Menschen selbst auszufüllen und zu erfüllen, in der Entwicklung aller seiner Naturanlagen und Geisteskräfte zu größter dem Menschen möglichen Vollkommenheit. So daß das Wesen, das der Mensch durch die Kultur seiner Natur in freier Selbstbestimmung und eigenverantwortlicher Selbstbe^weckung aus sich Selbst hervorbringt, sein eigenes Werk ist, das seine Würde ausmacht. Diese Würde des Menschen tastet darum jeder an, der ihm die Freiheit der Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit benimmt oder verweigert, womit er ihm eben das nimmt, wodurch er sich einen „eigenen Wert verschafft", der seine Würde ausmacht. Was K A N T für seine Zeit des „Feudali» esens" beispielhaft mit den Worten erläutert: daß ein solches „Wesen", wenn man es durch seinen Stufenbau hindurch verfolgt, nach und nach den Menschen immer mehr seiner Würde entkleidet: „Von der königlichen Würde an durch alle Abstufungen bis dahin, wo die Menschenwürde gar aufhört und bloß der Mensch bleibt"·, der „Leibeigene" 136 . Menschenwürde hat nach diesem auch im Verfassungskontext unseres Grund- 105 gesetzes fortwirkenden Ansatz der bürgerlichen Aufklärung, aus dem die demokratischen Revolutionen gegen das Feudalsystem zu Beginn der Epoche der Moderne hervorgehen, auch für uns heute mit dem Sichselbstgehören und Übersichselbstverfügen des Menschen zu tun. Vom jeweils Andern her gesehen und gesagt also: mit der prinzipiellen Unverfügbarkeit des Menschen für andere Menschen in seinem Wollen und seinem Wohlnl. Garantie der Menschenwürde heißt darum Gewährleistung der Autonomie der 106 Person. Eben jener Souveränität des Individuums, aus der es auch im Zusammenleben 135

KANT Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Fn. 55) S. 38; dieser Gedanke bricht bereits auf in der Epoche der Renaissance mit GIOVANNI PICO DELLA MIRÁNDOLAS Rede über die Würde des Menschen, in den er G o t t zu A d a m im A k t der Schöpfung sagen läßt: „Die beschränkte Natur der übrigen Wesen wird v o n Gesetzen eingegrenzt, die ich gegeben habe. D u sollst deine Natur ohne Beschränkung nach deinem freien Ermessen, dem ich dich überlassen habe, selbst bestimmen" (De diguitate hominis, Ausgabe Garin bei Gehlen, 1 9 6 8 , S. 29).

136

KANT Anthropologie (Fn. 55) S. 4 1 2 ; Hervorhebungen v o n Vgl. dazu im einzelnen: MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 14) S. Rechtsstaat und Sozialstaat, in: W. Weyer (Hrsg.) Rechtsstaat grundsätzlich auch: H. RYFFEL Grundprobleme der Rechtssche Anthropologie des Politischen, 1969, S. 3 1 4 ff.

137

mir. 1 7 f f und S. 2 9 f f ; aber auch DERS. und Sozialstaat, 1 9 7 2 , S. 19 ff; dazu und Staatsphilosophie, Philosophi-

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mit Andern in einer Gesellschaft, als gerade nicht „isoliertes", sondern „soziales Individuum", ebenso aber auch in der Vereinigung mit Andern zu einem Staat: die Möglichkeit behalten und die Bedingungen finden muß, sich Selbst zu gehören und über sich Selbst zu verfügen, in freier Selbstbestimmung und eigenverantwortlicher Selbstverwirklichung, wie wir heute sagen138. Aber Menschenwürde hat nicht nur mit prinzipieller Selbstbestimmung des einzelnen Menschen und darum prinzipieller Unverfügbarkeit für andere Menschen zu tun. Also mit Garantie der Personalität des Menschen, auch in seinem Zusammenleben in der Gesellschaft und seiner Vereinigung in einem Staat mit anderen Menschen. 107 Die Fundamentalgarantie der Menschenwürde hat ebenso zu tun mit der Garantie der Solidarität ^wischen Menschen™. Die für den Menschen überall da im Wortsinne notwendig werden kann, wo er im Zusammenleben und Zusammenwirken mit Anderen in der Dimension der Sozialität auf Andere grundsätzlich angewiesen, von Anderen entscheidend abhängig ist, in dem was er Selbst ist als Solcher. Er also überhaupt erst durch und mit dem Anderen werden und bleiben kann, was er als Solcher ist: als Lehrer oder Schüler, Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, als Vater oder Sohn, Mann oder Frau. Der Mensch also erst mit einem „entsprechenden Andern" zusammen sich als das konstatiert und kodeterminiert, was er für sich selbst allein als „isoliertes Individuum" niemals ist und sein kann, sondern nur als „gegenständliches Gattungswesen", wie es schon bei L U D W I G FEUERBACH heißt, als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse", wie K A R L M A R X danach in seinen „Thesen ad Feuerbach" dieses „gesellschaftlich lebende Individuum" nennt, als ein autonomes und sociales Individuum also, wie wir heute sagen140. 108

In allen diesen Verhältnissen des „Aisseins" zwischen Menschen, denen wir vielfaltig in der Geschlechterteilung wie der Arbeitsteilung in der häuslichen wie öffentlichen Welt jeder Gesellschaft begegnen, hängt die Frage, ob der Eine oder Andere als Solcher seine Würde wahren kann, nicht einfach nur von seiner Freiheit zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit ab, sondern ebenso auch von

138

Wobei ZIPPELIUS in: B K (Fn. 132) Art. 1, Rdn. 1 4 f f den „Begriffskern" im „sittlichen Eigenwert" und entsprechend in der Fähigkeit zu „sittlicher Selbstbestimmung" sieht; wogegen R. HERZOG in der zweiten A u f l . v o n Maunz/Dürig Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1, Rdn. 17 f diesen aus der Selbstbestimmung gewachsenen Eigenwert seinerseits auf die dem Menschen „kraft seines Geistes" verliehene Fähigkeit „zur Selbst- und Umweltgestaltung" zurückführt, und diese wiederum mit den davon „nicht zu trennenden Teilgegebenheiten" verbindet, „denen dann normativ in Art. 21 und 3 I G G durch ,Hauptgrundrechte' Rechnung getragen wird", daß jeder Menschen frei" und insoweit gleich" ist, „sich und die Umwelt zu gestalten". Vgl. zum ganzen auch: H. C. NIPPERDEY Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.) Die Grundrechte, 2. Bd. (1954) insbes. S. 7 f.

139

Vgl· dazu schon: W. MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 14) S. 22 f f und S. 4 0 ff; aber auch: DERS. Rechtsstaat und Sozialstaat (Fn. 137) S. 27 ff. Vgl. dazu im einzelnen: W. MAIHOFER Freiheit, in: H. H. Schulz (Hrsg.) Politik für Nichtpolitiker. Ein A B C zur aktuellen Diskussion, Bd. 1, 1972, S. 171 ff; und: DERS. Demokratie im Sozialismus, Recht und Staat im Denken des jungen Marx, 1968, insbes. S. 24 ff; aber zur Dimension der Sozialität oder des „Aisseins" zwischen Menschen auch schon: DERS. V o m Sinn menschlicher Ordnung, (Fn. 115) insbes. S. 47 ff.

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dem Fürmichdasein und Fürmicheinstehen des Andern als Solcher, wo ich auf sein Wohl wollen angewiesen, gar seinem Übel wollen ausgeliefert bin. Wo also vom Verhalten des Andern in seinem Verhältnis zu mir „alles abhängen" kann, ich ohne den entsprechenden Anderen „verloren bin", mitsamt meiner Würde und Freiheit zur Selbstbestimmung. Ich also etwa nach einem Unglücksfalle am Straßenrand in meinem Blute umkomme, wenn mir der Andere nicht als Nächster in Not aus der mein Leben bedrohenden Lage hilft. Aus dieser ganz anderen Erkenntnis und bleibenden Erfahrung von Menschsein hat Menschenwürde für uns heute immer auch mit dem Aufeinanderangewiesensein und Einanderausgeliefertsein des Menschen zu tun. Vom „entsprechenden Anderen" her betrachtet und gedacht also, auf den ich angewiesen, dem ich ausgeliefert bin, den ich deshalb brauche, um überhaupt ein „ganzer Mensch" zu werden oder zu bleiben: mit dem prinzipiellen Füranderedasein und Fürandereeinstehen des Menseben mit seinem Wollen ψ ihrem Wohl14'. Wie sich darum aus dem prinzipiellen Sichselbstgehören des Menschen als „Zweck an sich selbst" die Forderung ergibt nach Gewährleistung der Menschenwürde durch freie Selbstbestimmung aus der Eigenverantwortung jedes Menschen, so aus dem prinzipiellen Aufeinanderangewiesensein des Menschen die Forderung nach Gewährleistung der Menschenwürde durch entsprechendes Füreinandereinstehen aus der Mitverantwortung des Menschen für die „Menschheit in jedermanns Person", von der schon K A N T sagt: „Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein"142. Macht man damit nicht nur für die eigene Person, sondern für „jedermanns 109 Person" ernst, dann bedeutet und fordert dies Mitverantwortung auch für die Wahrung und Bewahrung der Menschenwürde des Andern, wo diese vom Verhältnis und Verhalten: Tun wie Lassen anderer Menschen abhängt. Erkennen wir so, daß der Mensch seine Würde nur erreichen und bewahren kann, wo die Personalität des Menschen, aber auch die Solidarität %wischen Menschen im Zusammenleben mit Andern in einer Gesellschaft und in der Vereinigung mit Andern in einem Staat prinzipiell garantiert sind, dann muß auch die Verpflichtung des Staates auf deren Achtung und Schutz gleicherweise auf beide Grundbedingungen der Menschenwürde bezogen werden. Sie ist damit ebenso Verpflichtung zur Gewährleistung der freien Selbstbestimmung aus der Eigenverantwortung jeder menschlichen Person in ihrer Personalität, wie Gewährleistung des notwendigen Füreinandereinstehens aus der Mitverantwortung der menschlichen Person aus ihrer Solidarität mit jeder anderen menschlichen Person; „mit allem, was Menschenantlitz trägt", mit der „Menschheit in jedermanns Person", oder wie sonst die Worte lauten, in denen sich der Gedanke

141

142

Vgl. dazu auch: MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 14) S. 4 1 ; DERS. Rechtsstaat und (Fn. 1 3 7 ) S. 29. KANT Kritik der praktischen Vernunft (Fn. 57) S. 2 1 0 .

Sozialstaat

496

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

des „Menschenwürdeschutzes" als Personalitätsachtung und Solidaritätsgebot zugleich ausspricht 143 . 110

In beiden Hinsichten liegen die Voraussetzungen und Zielsetzungen eines auf den Menschen als seinen Zweck verpflichteten Staates, wie der in unserer Verfassung auf die Menschenwürde verpflichteten freiheitlichen Demokratie außerhalb des Staates seihst. Ebenso wie die der hieraus folgenden Menschenrechte der Freiheit oder der Gleichheit, die wir als die ideengeschichtlichen Grundlagen und geistigen Wurzeln der auch in unserem Grundgesetz verwirklichten Prinzipien einer liberalen und sozialen Demokratie erkannt haben. Wie die Menschenwürde, so sind auch die Menschenrechte nicht vom Staat dem Menschen gegebene Rechte, wohl aber dem Staat um des Menschen willen zur positiven Realisierung aufgegebene Rechte. Sie sind damit zwar nicht Naturrecht im Sinne der klassischen Tradition: zeitlos geltender und ewig unwandelbarer Rechte, wohl aber Naturrecht im Sinne der modernen Konzeption: als für den Menschen als unverzichtbar und unabänderbar erkannte Bedingungen menschenwürdigen und menschengerechten Daseins, hinter die es nach unseren geschichtlichen Erfahrungen kein Zurück geben kann 144 .

111

Dies gilt zumindest für die konstitutiven Prinzipien, die uns in den „Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte", von den demokratischen Revolutionen in Amerika und Frankreich an, als unveränderter und gleichlautender Kernbestand begegnen. Zu diesen „angeborenen Rechten", wie das der gleichen Freiheit und Unabhängigkeit jedes Menschen, heißt es beispielgebend für alle nachfolgenden Menschenrechtserklärungen schon in Art. 1 der „Bill of Rights of Virginia" von 1776: „Alle Menschen sind von Natur gleich frei und unabhängig (all men are by nature equally free and independent) und besitzen gewisse angeborene Rechte, deren sie, wenn sie den Status der Gesellschaft annehmen, ihre Nachkommenschaft durch keine Abmachung berauben oder entkleiden können, und zwar auf Genuß des Lebens und der Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu besitzen und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen" 145 .

143

Entsprechend erklärt jetzt § 1 des Bundessozialhilfegesetzes, unter betonter Anknüpfung an Art. 1 Abs. 1 G G es für die Aufgabe der Sozialhilfe, dem Empfänger „die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht"; zu dieser Auffassung auch materieller Notlagen als Beeinträchtigung der Menschenwürde, weil Bedrohung der „Selbstbestimmung in fundamentaler Weise": ZIPPELIUS in: B K (Fn. 132) Art. 1 Abs. 1, Rdn. 102; zur grundsätzlichen Deutung der Menschenwürdegarantie als „ein Mindestmaß sozialer Sicherheit" und ihre Verknüpfung mit der Sozialgestaltungspflicht des Staates: O. BACHOF Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats in: V V D S t R L Bd. 12 (1954) S. 42; zur früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch: MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 14) S. 38 f.

144

Dazu W. MAIHOFER Naturrecht als Existenzrecht, 1963, insbes. S. 40 ff. Vgl. ZIPPELIUS Staatslehre (Fn. 8) S. 3 1 0 f; zur amerikanischen Verfassungsentwicklung auch: KRIELE Staatslehre (Fn. 3) S. 156 ff; und grundlegend: G. OESTREICH Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl., 1978, mit weiterer Literatur; und zum Verständnis der Menschenrechte in der Sicht des Dialektischen Materialismus jetzt: A . MAIHOFER Das Recht bei Marx. Zur dialektischen Struktur von Gerechtigkeit, Menschenrechten und Recht, 1992, insbes. S. 90 ff.

145

§ 12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

497

In der geistigen Nachfolge dieser amerikanischen Bills of Rights bekennt sich auch die französische „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789 zu „Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung" als „natürlichen., unveräußerlichen und geheiligten Menschenrechten"·, ebenso wie die spätere von 1793, die für die zweite Phase der französischen Revolution „Gleichheit, Freiheit, Sicherheit, Eigentum" als solche Menschenrechte bezeichnet. Womit schon äußerlich im Verfassungstext, wie später auch in der Verfassungsrealität, die Freiheit hinter die Gleichheit zurücktritt 146 . An diese Auffassung der Menschenrechte als vorstaatliche und überstaatliche Rechte 112 knüpft auch die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 an, wenn sie: „Die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte jedes Mitglieds der menschlichen Gesellschaft (of the inherent dignitiy and of the equal and inalienable rights of the human family) als die Grundlage der Freiheit, Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt" bezeichnet 147 . Dem folgt in der Sache erkennbar Art. 1 Abs. 2 unseres Grundgesetzes von 1949, wenn er ausgehend von der in Abs. 1 vorausgesetzten Staatsverpflichtung auf die Menschenwürde feststellt: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Ebenso wie die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950, die es in ausdrücklicher Anknüpfung an die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen als ihr Ziel erklärt, „die ersten Schritte auf dem Wege zu einer kollektiven Garantie gewisser in der Allgemeinen Erklärung verkündeten Rechte unter den Mitgliedsstaaten des Europarats zu unternehmen" 148 . Dieselbe positive Garantie überpositiver Normen·, „der unverletzlichen und unver- 113 äußerlichen Menschenrechte" (Art. 1 Abs. 2 GG) auch als innerstaatlich geltende und von staatswegen gewährleistete Grundrechte vollzieht auch Art. 1 Abs. 3 unseres 146

147

148

Vgl. dazu DENNINGER Staatsrecht (Fn. 1 1 0 ) Bd. 2, S. 1 3 6 f f ; zur französischen Verfassungsentwicklung auch: KRIELE Staatslehre (Fn. 3) S. 1 6 2 f f ; zum inneren Zusammenhang der amerikanischen und europäischen Entwicklung grundsätzlich schon: O. VOSSLER Die amerikanischen Revolutionsideale in ihrem Verhältnis zu den europäischen, 1929. Darin liegt ein eindeutiges Bekenntnis zum vorstaatlichen Charakter („inherent" dignity, „inalienable" rights) wie zum überstaatlichen Charakter („rights of the human family",) die ihre prinzipielle rechtliche A n e r k e n n u n g und Geltung v o n der Frage ihrer jeweiligen konkreten staatlichen Positivierung unabhängig macht. Eine andere Frage ist, ob und w i e diese somit vorpositiven und überpositiven Rechte im jeweiligen Staat durch die Verfassung verbürgt, durch die Gesetze gesichert und durch die Gerichte durchsetzbar sind, also in ihrer A n e r k e n n u n g und W i r k u n g innerstaatlich garantiert, oder gar „kollektiv garantiert" sind durch zwischenstaatliche oder überstaatliche Positivierungen. Vgl. dagegen: ZIPPELIUS Staatslehre (Fn. 8) S. 3 1 8 f f ; aber auch DENNINGER Staatsrecht Bd. 2 (Fn. 110) S. 1 3 6 f, und DERS.: Über das Verhältnis v o n Menschenrechten zum positiven Recht jetzt auch: DERS. D e r gebändigte Leviathan (Fn. 98) S. 231 ff. Vgl. dazu schon H. SCHORN Die Europäische K o n v e n t i o n zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 1965, S. 33 f f ; und jetzt: I. A . FROWEIN European C o n v e n t i o n on Human Rights (1956) in: Encyclopedia o f Public International Law, ed. R. Bernhardt, 1 9 8 3 , S. 1 8 4 f f ; u n d : I. A . F R O W E I N / W . PEUKERT E M R K - K o m m e n t a r ,

1985.

498

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Grundgesetzes, wenn er anknüpfend an die voraufgehende Herleitung der Menschenrechte aus der Menschenwürde in demselben Gesamtzusammenhang des Art. 1 nun erklärt: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht". Womit schon die Verfassungsväter unseres Grundgesetzes durch diese bewußte Abfolge die „Freiheits- und Menschenrechte" des Abs. 2 zur Menschenwürde „in das rechte Verhältnis" setzen wollen, der zugleich die „Überleitung zu den Grundrechten" sei und zeige, „daß diese Grundrechte, die in den Art. 2—20 niedergelegt sind, eine Niederschrift dieser alten, unverletzlichen und unveräußerlichen Freiheitsund Menschenrechte aus unserer Zeit darstellen" 149 . Weshalb folgerichtig aus Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich der in der ursprünglichen Fassung vorgesehene Einschub herausgenommen wurde, der diese Grundrechte als „für unser Volk aus unserer Zeit geformt und niedergelegt" bezeichnet hatte. Mit der Begründung: „dies treffe nicht ganz zu; sie seien im wesentlichen eine Wiederholung dessen, was sich seit Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet habe und in fast allen Verfassungen wiederkehre" 150 . 114

Diesen „festen Bestand", den „die Arbeit der Jahrhunderte" herausgearbeitet und „in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt" hat, daß „in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrecht erhalten kann", bezeichnet zuletzt selbst GUSTAV R A D B R U C H als „das Naturrecht oder das Vernunftrecht". Als Rechtsgrundsätze also, „die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so daß ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist" 151 . Woraus sich dementsprechend die bis heute fortwirkende Formel vom „gesetzlichen Unrecht und übergesetzlichen Recht" ergibt, mit der R A D B R U C H die Korrektur seines eigenen früheren Gesetzespositivismus in einen Rechtspositivismus einleitet, wie er jetzt auch Art. 20 Abs. 3 GG zugrundeliegt, der vollziehende Gewalt und Rechtsprechung ausdrücklich an „Geset% und Recht gebunden" erklärt 152 .

115

Aus diesem überpositiven Charakter jedenfalls des Kernbestandes der in den Grundrechten positivierten Normen erklärt sich ebenso die sog. Ewigkeitsgarantie des Menschenwürdegehalts unserer Verfassung durch Art. 79 Abs. 3 GG, wie die sog. Wesensgehaltsgarantie auch und gerade des Menschenrechtsgehalts aller Art. 1 „nachfolgender Grundrechte" unserer Verfassung durch Art. 19 Abs. 2 GG (auch der hinter Art. 19 stehenden), die hierdurch „vor einer staatlichen Totaldisposition mittels des jeweils zulässigen Gesetzesvorbehalts", selbst durch eine verfassunggebende 149

S o Η . v . M A N G O L D T i n : J ö R ( F n . 1 ) S . 5 2 ; v g l . a u c h : DENNINGER S t a a t s r e c h t ( F n . 1 1 0 ) S .

150

J ö R (Fn. 1) S. 53. G. RADBRUCH Rechtsphilosophie, 8. A u f l . , 1973, S. 328; vgl. zur früheren „relativistischen Auffassung" dagegen aaO S. 1 0 2 ff. RADBRUCH Rechtsphilosophie (Fn. 151); zu einer solchen „rechtspositivistischen", d . h . immer auch überpositivistischen Rechtskonzeption schon: W. MAIHOFER Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht, in: Annales Universitatis Saraviensis, Bd. VIII (1960) S. 5 ff; zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung noch immer: H.-P. SCHNEIDER Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969.

151

152

137.

§ 12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

499

Mehrheit in Hinsicht auf die Antastung dieses „absoluten Wesenskems" geschützt werden 153 . Nach dieser positivrechtlichen Absicherung des Menschenwürdegehalts wie des 116 Menschenrechtsgehalts der Grundrechte unserer Verfassung insgesamt erfolgt mit Art. 2 beginnend folgerichtig deren positivrechtliche Ausgestaltung durch die Hauptgrundrechte der Freiheit und der Gleichheit. Dabei wird, wie R O M A N HERZOG ausführt: „der Wertanspruch auf Menschenwürde gemäß Art. 1 I, der in Art. 1 II rein formal in Einzelrechte" (die Menschenrechte) „aufgelöst und in Art. 1 III ebenso formal adressiert wurde" (als alle Staatsgewalten bindende Grundrechte), „nun inhaltlich näher präzisiert in die Teilrechte der Freiheit (Art. 2 I) und auf die Gleichheit, die — wiederum positivrechtlich konsequent — auch formal als ,jedem' (Art. 2 I) und ,allen' (Art. 3 I) zustehende Rechte" (also als allgemeine Menschenrechte und nicht bloße Bürgerrechte) „anerkannt sind" 154 . Entsprechend werden diese beiden Grundrechte darum auch als das „Hauptfreiheitsrecht" (Art. 2 I) und als das „Hauptgleichheitsrecht" (Art. 3 I) unserer Verfassung bezeichnet. Beide sind damit nicht nur durch ihren Rang als allgemeine Menschenrechte von anderen Grundrechten abgehoben, sondern auch geradezu als die beiden Hauptgrundrechte angesprochen, von denen es in einer früheren Fassung des Art. 1 Abs. 2 noch heißt: „Die Freiheit und die Gleichheit des Menschen, seine Verpflichtung gegenüber dem Nächsten und gegenüber der Gesamtheit sind die Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" 155 . Ebenso bezeichnet auch das Bundesverfassungsgericht „Freiheit und Gleichheit 117 als dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit" und erklärt hierzu: „Die freiheitliche Demokratie ist von der Auffassung durchdrungen, daß es gelingen könne, Freiheit und Gleichheit der Bürger trotz der nicht zu übersehenden Spannungen zwischen diesen beiden Werten allmählich zu immer größerer Wirksamkeit zu entfalten und bis zum überhaupt erreichbaren Optimum zu steigern" 156 . Was bedeutet und fordert dies, daß die Verfassung der Menschenwürde und der Menschenrechte, auf die sich eine freiheitliche Demokratie begründet, vom Prinzip der Freiheit wie vom Prinzip der Gleichheit bestimmt sein muß, deren wir als 153

154 155

156

HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 118) Art. 1 Abs. 1, Rdn. 8; dazu grundlegend: P. HABERLE Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz: zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre v o m Gesetzesvorbehalt, 2. AuO., 1 9 7 2 , S. 70 ff. So HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 118) Art. 1 Abs. 1 Rdn. 10. · J ö R (Fn. 1) S. 51; womit in dieser Fassung des allgemeinen Redaktionsausschusses v o n 1 9 4 8 höchst bedenkenswert als „die Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" nicht nur „die Freiheit und die Gleichheit des Menschen" bezeichnet wird, sondern auch die „Verpflichtung" des Menschen „gegenüber dem Nächsten und gegenüber der Gesamtheit"; zuende gedacht also gegenüber seinem Mitmenschen wie der Menschheit insgesamt, aus der Brüderlichkeit der Menschen als einer ebenso notwendigen „Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Vgl. dazu B V e r f G E 2, 12 und 5, 85; zu „Gerechtigkeit und Gleichheitssatz" grundlegend jetzt: G . ROBBERS Gerechtigkeit als Rechtsprinzip. Uber den Begriff der Gerechtigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1 9 8 0 , insbes. S. 87 ff.

500

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

ideengeschichtlichen Grundlagen und geistigen Wurzeln der Konzeption der Demokratie in der Epoche der Moderne begegnet sind? Was ist das für eine Freiheit, was für eine Gleichheit, die hier gemeint ist. In welchem Verhältnis stehen diese beiden „Menschenrechte" oder auch „Grundwerte" zueinander: einem gleichgewichtigen „Spannungsverhältnis" wie das Bundesverfassungsgericht meint, oder in einem eindeutigen Rangverhältnis? Und in welchem Verhältnis stehen die beiden Prinzipien der Freiheit und Gleichheit zur Brüderlichkeit, als dem dritten Postulat der demokratischen Revolution? Und was meint und heißt es, wenn heute von eben diesem Kembestand der Menschenrechte oder gar Menschenpflichten: Der Freiheit — Gleichheit—Biirderlichkeit behauptet wird, sie lägen als sog. „Grundwerte" der „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität" der Konstitution einer Demokratie überhaupt zugrunde, die wir eine freiheitliche nennen; und machten darum auch den sog. Grundkonsens der Demokraten aus, der unsere freiheitliche Demokratie auch heute prägt und trägt? 2. Demokratie als Ordnung der Freiheit und das Prinzip einer liberalen Demokratie: größtmögliche und gleichberechtigte Freiheit des Einzelnen bei notwendiger Sicherheit Aller 118 Gefragt ist in unserem Zusammenhang nicht nach einem philosophischen Begriff vom Wesen menschlicher Freiheit. Gefragt ist, wie schon bei ROUSSEAU, nach dem politischen Begriff der Freiheit, als Bedingung der Möglichkeit menschenwürdiger und menschengerechter Ordnung des Zusammenlebens von Menschen in einer Gesellschaft und der Vereinigung von Menschen in einem Staat157. Von welchen Voraussetzungen geht eine solche Ordnung der Freiheit aus, die wir Demokratie oder auch Republik im Sinne eines Freiheitsstaates oder auch Bürgerstaates nennen? Und auf welche Zielsetzung führt eine solche Demokratie hinaus, die nach dem Prinzip der Freiheit als liberale Demokratie verfaßt ist? Das sind die beiden Fragen, denen wir im folgenden nachgehen wollen. Freiheit wird von unserer Verfassung, wie wir sahen, als ein aus der Menschenwürde folgendes „unverletzliches und unveräußerliches", weil dem Menschen innewohnendes und angeborenes Menschenrecht aufgefaßt. In eben diesem Sinne bestimmt schon K A N T in der Rechtslehre seiner Metaphysik der Sitten das jedem Menschen „angeborene Recht" der Freiheit als die „Unabhängigkeit von eines andren nötigender Willkür", „sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann". Er nennt diese hier vorausgesetzte Freiheit das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht" 158 . 157

158

Vgl. dazu einführend: MAIHOFER Freiheit (Fn. 140) S. 171 ff; aber auch: DERS. Demokratie und Sozialismus, in: S. Unseld (Hrsg.) Ernst Bloch zu ehren, Beiträge zu seinem Werk, 1965, S. 31 ff. Dazu KANT Metaphysik der Sitten (Fn. 57) S. 345 in der bewußten Nachfolge ROUSSEAUS, bei dem es schon in seinem Contrat social v o n der „sittlichen Freiheit" heißt, daß sie „allein den Menschen erst in Wahrheit zum Herren über sich selbst macht", weshalb er auch sagen kann: „ A u f seine Freiheit verzichten, heißt auf seine Menschheit, die Menschenrechte" verzichten (Gesellschaftsvertrag (Fn. 8) S. 49 und S. 36).

§ 12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

Damit aber einfach als eine sondern als eine %mschen Menschen,

501

denkt er die Freiheit, auch und gerade die „angeborene", nicht Eigenschaft oder Fähigkeit des Menschen für sich genommen, Bedingung der Ordnung und Regelung des Verhältnisses und Verhaltens unter der Voraussetzung der Freiheit jedes Menschen.

Deshalb verbindet sich ihm dieses angeborene Menschenrecht der Freiheit schon im Ansatz mit der „angeborenen Gleichheit, d. i. die Unabhängigkeit nicht zu mehrerem von anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann" 159 . Ordnung der Freiheit ist so in diesem Denkansatz, der auch der unsere ist, von vornherein gedacht aus der Gleichheit der Freiheit des Einen und des Anderen bei der wechselseitigen Betätigung und allseitigen Zusammenstimmung ihrer Freiheit. Daraus ergibt sich ein Begriff des Rechts, wie er noch heute hinter dem Haupt- 119 freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG sichtbar ist, als „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann" 160 . Daraus aber folgt zugleich ein entsprechender Begriff des Staates als „die Verei- 120 nigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" 161 . „Rechtmäßigkeit" hat ein solcher Staat für K A N T wie schon für ROUSSEAU darum nur, wenn er der „Idee" des „ursprünglichen Kontrakts", also einer Vereinigung von Freien und Gleichen zu einem Staat unter allseitig und gegenseitig gleichen Bedingungen der Freiheit und zugleich Abhängigkeit jedes Menschen entspricht, wie sie durch ein solches Rechtsgesetz hergestellt wird, das als ein „allgemeines Gesetz der Freiheit" für einen jeden Menschen annehmbar ist. Von einem solchen Staate kann man, wie wir sahen, in der Tat auch mit K A N T nicht mehr sagen: „der Mensch im Staate habe einen Teil seiner angeborenen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden; weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt." Daraus ergibt sich für die Legitimation des Staates aus dem Prinzip der Freiheit, wie sie für eine freiheitliche Demokratie gefordert ist, eine zweifache Folgerung 162 .

159

KANT Metaphysik (Fn. 57) S. 345, w o m i t K a n t die A r g u m e n t a t i o n s f i g u r der G o l d e n e n Regel mit der seines Kategorischen Imperativs verbindet; vgl. zum ganzen auch: G . LUF Freiheit und Gleichheit, Die Aktualität im politischen D e n k e n Kants, 1 9 7 8 ; vgl. dazu jetzt auch: oben Rdn. 52 und A n m . 92.

160

Z u m Begriff des Rechts: KANT Metaphysik (Fn. 57) S. 3 3 6 f; vgl. dazu im einzelnen: W. MAIHOFER (Hrsg.) Begriff und Wesen des Rechts, (Fn. 57) V o r w o r t S. X V I —II ff; und dazu jetzt: DERS. Europäisches Rechtsdenken heute, in: N. H o r n (Hrsg.) Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und G e g e n w a r t , Bd. 1, 1 9 8 2 , S. 5 7 9 ff.

161

Z u m Begriff des Staates: KANT Metaphysik der Sitten (Fn. 57) S. 4 3 1 und z u m f o l g e n d e n auch S. 4 3 4 und S. 3 6 5 ; und dazu jetzt: MAIHOFER Legitimation des Staates (Fn. 1 7 ) S. 32 ff.

162

Vgl. dazu im einzelnen: MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 14) S. 61 ff und S. 7 2 f f ; aber auch: DERS. Rechtsstaat und Sozialstaat (Fn. 1 3 7 ) S. 19 ff.

502

121

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Formale ILegitimität oder Legalität hat danach die Ordnung eines Staates unter der Voraussetzung eines angeborenen Rechtes der Freiheit und der Gleichheit nur, wenn der eine dadurch „nicht zu mehrerem von anderen verbunden" wird, „als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann"; sie also dem Prinzip der Gegenseitigkeit (Goldene Regel) entspricht und nicht widerspricht. Aber auch, daß in ihr „die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann"; sie also zugleich auch dem „Prinzip der Allseitigkeit" (Kategorischer Imperativ) entspricht und nicht widerspricht. Woraus schon K A N T , wie wir sahen, zu dem folgenschweren Schluß gelangt: „Ich bin also nicht verbunden, das äußere Seine des anderen unangetastet zu lassen, wenn mich nicht jeder andere dagegen auch sicher stellt, er werde in Ansehung des Meinigen sich nach eben diesem Prinzip verhalten." Eine Ordnung der Freiheit ist so schon von ihrer Voraussetzung her im angeborenen Recht der Freiheit und Gleichheit jedes Menschen formal legitimiert nur, wenn sie den beiden Prinzipien der Gegenseitigkeit und Allseitigkeit entspricht, die allein in einer freiheitlichen Demokratie jenes allgemein „verbindende Wollen" begründen und rechtfertigen können, das wir Gesetz nennen. Ordnung der Freiheit heißt jedoch nicht nur, wie die üblichen Zusammenfassungen dieses Denkansatzes annehmen, Zusammenstimmung der Freiheit durch „allgemeine Gesetze", unter der Voraussetzung der „gleichen Freiheit" eines Jeden. Schon der Ansatz K A N T S geht in der Nachfolge ROUSSEAUS über eine solche Verkürzung der Freiheit und Gleichheit weit hinaus, wie sie im Neukantianismus bis heute vorherrscht.

122

Denn materiale Legitimität hat schon für K A N T der Staat als Vereinigung von Menschen unter Rechtsgesetzen nur, wenn damit nicht irgendeine noch so gleiche Freiheit gewährleistet ist, sondern er sich die „Erreichung" einer Ordnung der größtmöglichen und gleichberechtigten Freiheit Aller zum Ziele setzt163. Diese Zielsetzung einer Ordnung der Freiheit, „in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen in größtmöglichem Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird" ist aber schon für K A N T nicht einfach nur die Frage des größten möglichen Raumes für die „freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit" eines Jeden, worauf auch die üblichen Deutungen des Hauptfreiheitsrechtes des Art. 2 Abs. 1 GG gerne sich beschränken. Die Zielsetzung einer solchen Ordnung der Gesellschaft: „die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder, und doch die genauste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne", ist vielmehr darüber hinaus schon für K A N T wie noch für uns heute die: damit den größten möglichen Freiheitsraum für die Entfesselung des Widerstreits und Wettstreits der Freiheit in einer Gesellschaft zu eröffnen. Denn für K A N T liegt eben darin „das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen 163

Vgl. zum folgenden: KANT Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Fn. 57) S. 39; Hervorhebungen von mir.

§12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

503

Auflösung die Natur ihn zwingt", diesen Antagonismus, wir würden heute sagen, diese Dialektik der Freiheit in größtem möglichen Umfange in einer Gesellschaft zur Geltung und Wirkung zu bringen, ohne daß sie sich in „wilde Freiheit" verkehrt und damit selbst zerstört. Um so den Menschen immer „wieder zur neuen Anspannung seiner Kräfte, mithin zu mehrerer Entwickelung der Naturanlagen" und Geisteskräfte herauszufordern und anzutreiben 164 . Geistige Auseinandersetzung, wirtschaftlicher Wettbewerb sind in diesem Ethos und Pathos eines Staates angelegt, der auf die schöpferische Kraft der Dialektik der Freiheit im Widerstreit und Wettstreit der Ideen wie der Interessen im sog. geistigen Überbau, wie in der ökonomischen Basis der Gesellschaft setzt, den K A N T eine „vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung" und den wir heute eine freiheitliche Demokratie nennen. So grundlegend diese im Denken der Aufklärung aufkommende Neubegründung 123 des Staates auf die Voraussetzung einer angeborenen Freiheit und Gleichheit jedes Menschen und damit auch die Neubestimmung seiner Zielsetzung aus der größten und gleichen Freiheit Zur Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit, wie zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft auch immer sind und bleiben, als ein nicht mehr rücknehmbarer „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" ( H E G E L ) , SO unzureichend bleibt diese Begründung des Staates aus dem Gedanken der Freiheit in zweifacher Hinsicht: der von Freiheit und Sicherheit, und von Freiheit und Gesellschaft. Die Freiheit des Einen hat nicht nur Bezug, steht nicht nur in „Wechselwirkung" mit der Freiheit des Andern, wie es bei K A N T erscheint. Freiheit des Einen bedeutet immer auch Möglichkeit des Mißbrauchs seiner Freiheit. Dieser aber wirkt sich nicht nur aus als Eingriff in die Freiheit des Andern. Er hat Auswirkung auch auf die Sicherheit des Andern, als Gefährdung oder gar Verletzung seines Lebens, seiner Gesundheit oder anderer heute sog. Rechtsgüter 165 . Damit aber bedeutet zu große Freiheit des Einen nicht nur zu geringe Freiheit 124 des Andern, ja aller Andern. Größere Freiheit und damit auch größere Möglichkeit des Mißbrauchs der Freiheit des Einen bedeutet regelmäßig geringere Sicherheit der Andern. Das politische Problem der Freiheit ist deshalb nicht einfach nur, wie dies bei gesehen ist, mit dem Problem der Sicherheit in einem Staat dadurch verwoben, weil es in einer Ordnung der Freiheit immer auch um die Sicherheit der Freiheit geht. Mit K A N T S Worten: die „Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne"; also um eine begrenzte und gesicherte KANT

164

165

Zu dieser die freiheitliche Demokratie v o n allen anderen Staatsformen unterscheidenden und auszeichnenden „Dialektik der Freiheit" grundsätzlich: MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 14) S. 156 f f ; aber auch in Auseinandersetzung mit der des Sozialismus: DERS. Demokratie und Sozialismus (Fn. 157) S. 31 ff. Zur Sicherheit als Bedingung der Erhaltung des Einzelnen wie der Bewahrung der Gesellschaft grundsätzlich: MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 14) S. 82 f f , S. 98 f f und 118 f f ; Vgl. zur „Sicherheit des andern" in einer bürgerlichen Verfassung jetzt auch die im Nachlaßziel sich findende die Rechtslehre ergänzende Feststellung Kants oben A n m . 59.

504

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Freiheit, umwillen der größtmöglichen und gleichberechtigten Freiheit des Einen wie des Andern. Freiheit und Sicherheit sind vielmehr in jeder Ordnung für Menschen, für deren „ungesellige Geselligkeit" im Verhältnis und Verhalten zueinander jener alte Satz des HOBBES in Geltung bleibt: „homo homini deus, et homo homini lupus est", grundsätzlicher noch als zwei Seiten derselben Sache voneinander unabtrennbar, weil größere Freiheit des Einzelnen von ihrer Kehrseite her betrachtet, wie die Erfahrung lehrt, regelmäßig geringere Sicherheit der Andern bedeutet. 125

Damit aber stellt sich für eine Ordnung der Freiheit die entscheidende Frage, nach welchem Prinzip dieser Konflikt ^wischen Freiheit und Sicherheit ausgetragen und gelöst werden soll, der ein anderer ist als der zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, dem wir als Problem des Rechtsstaates begegnen 166 . An ihrer Beantwortung entscheidet und unterscheidet sich, wie zuvor an der Frage: „irgendeine Freiheit" oder die „größte Freiheit", der Charakter einer Demokratie als wahrhaft liberale Demokratie, für die das Prinzip der Freiheit allen anderen Prinzipien voransteht und vorgeht, die eine Demokratie konstituieren, also unter bestimmten Voraussetzungen auch Priorität im Konflikt haben und behalten muß. Diese Priorität, nach der die Lösung des Konflikts zwischen Freiheit und Sicherheit in einer wahrhaften Ordnung der Freiheit erfolgen muß, ist schon im Denken des HOBBES vorgezeichnet, nach dem der Staat durch Gesetz nicht jegliche, sondern nur die für die Sicherheit der Anderen „schädliche Freiheit", nicht aber die unschädliche Freiheit des Einzelnen einschränken kann und darf. Auch für ROUSSEAU verliert, wie wir sahen, jeder durch Gesetz „nur soviel Freiheit, wie der eines andern schaden kann"; nicht nur der Freiheit des Anderen jedoch, sondern, wie wir erkannten, auch der Sicherheit des Anderen·, seines Lebens, seiner Gesundheit usw. Daraus aber folgt: Einschränkungen der Freiheit sind in einer liberalen Demokratie nur gerechtfertigt, wo für die Sicherheit der Andern notwendig. Falls diese Notwendigkeit zweifelhaft ist, gilt daher: Im Zweifel für die Freiheit, (in dubio pro übertäte). Deshalb liegen folgerichtig der Begründungszwang und die Beweislast für diese Notwendigkeit in einer solchen liberalen Demokratie nicht bei dem, der die Freiheit aufrechterhalten will, sondern bei dem, der die Freiheit einschränken will 167 . Somit läßt sich das Prinzip einer freiheitlichen Demokratie in dieser ersten Hinsicht einer Ordnung der Freiheit insgesamt bestimmen als: Ordnung größtmöglicher und gleichberechtigter Freiheit des Einzelnen bet notwendiger Sicherheit Aller.

126

Diese größtmögliche und gleichberechtigte Freiheit des Einzelnen ist jedoch nicht nur, wie es noch dem klassischen Begriff der politischen Freiheit erscheint, 166

167

Zu diesem im Staatsdenken des HOBBES' erstmals erfaßten Prinzip der Rechtssicherheit und seine Übersetzung in die heutige Garantie der Gesetzesbestimmtheit der Strafbarkeit durch A . v. FEUERBACH im einzelnen: MAIHOFER Rechtsstaat (Fn. 14) S. 138 ff. Dazu grundlegend: P. SCHNEIDER In dubio pro übertäte, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, FS Deutscher Juristentag 1960 Bd. 2, S. 263 ff; und: W. MAIHOFER Bittburger Gespräche, 1976, S. 150; vgl. dagegen: STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 1) § 4 III 8.

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Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

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eine Frage allein der Freiheit des persönlichen Verhaltens und seiner gesetzlichen Sicherung, in einem gegenseitig und allseitig verbindenden Wollen, die den Einzelnen in einer Ordnung der Freiheit grundsätzlich unabhängig stellt von jeder anderen Bestimmung seiner Freiheit als der durch den Gesetz gewordenen allgemeinen Willen. Ob der Einzelne somit eine bestimmte Freiheit hat oder nicht hat hängt in solcher Sicht einzig davon ab, ob er die entsprechende durch Gesetz gesicherte Freiheit des persönlichen Verhaltens hat oder nicht hat. So grundlegend diese formale Garantie gesetzlich gesicherter Freiheiten für unser 127 heutiges Verständnis eines Staates der Freien und Gleichen auch ist und bleibt, so unzureichend erscheint uns ein solches Freiheitsverständnis heute. Hängt doch offenkundig die Freiheit des Einzelnen nicht nur von solchen Gesetz gewordenen Bedingungen des persönlichen Verhaltens ab, sondern ebenso auch davon, welche Möglichkeiten die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst, für eine bestimmte Betätigung der Freiheit geben, aber auch nicht geben. Durch sie wird mit bestimmt, ob der Einzelne die reale Chance gesellschaftlich erfüllter Freiheit hat oder nicht hat. Aus dieser Einsicht und Unterscheidung folgt der heutige moderne Begriff der politischen Freiheit, die diese nicht mehr als bloß formale Freiheit: als gesetzlich gesicherte Freiheit versteht, sondern als materiale Freiheit·, als gesellschaftlich erfüllte Freiheit begreift. Und darum Freiheit nur da im vollen Sinne gewährleistet sieht, wo diese nicht nur in einem Recht der Freiheit besteht: als formale Garantie des Gesetzes, sondern auch in der Wirklichkeit der Freiheit besteht: als reale Chance in der Gesellschaft. Aus diesem gegenüber der klassischen Tradition veränderten und erweiterten Freiheitsverständnis ergeben sich für die liberale Demokratie von heute weitreichende Folgerungen. In ihr kann sich der Staat nicht mehr damit begnügen, durch formale Garantien des Gesetzes die größtmögliche und gleichberechtigte Freiheit des persönlichen Verhaltens aller Bürger zu verbürgen. Er ist darüber hinaus verpflichtet, für gesellschaftliche Verhältnisse vorzusorgen, die eine reale Chance zur Wahrnehmung solcher größter und gleicher Freiheit eröffnen. Die rechtlichen Folgerungen aus diesem grundlegenden Wandel unseres Freiheitsverständnisses werden in der heutigen Verfassungsinterpretation dieser Freiheitsrechte nicht mehr nur als subjektive Abwehrrechte, sondern auch als objektive Wertentscheidungen gezogen; mit neuartigen Leistungsverpflichtungen des Staates zur Gewährleistung dieser Freiheiten und Rechte durch eine dementsprechende Gestaltung der Gesetze des Staates wie der Verhältnisse der Gesellschaft168. Dasselbe gilt in einer liberalen Demokratie als Ordnung größtmöglicher und 128 gleichberechtigter Freiheit des Einzelnen, bei notwendiger Sicherheit Aller, auch für die Sicherheit. 168

Dazu grundsätzlich: P. HABERLE Grundrechte im Leistungsstaat, in: V V D S t R L Bd. 30 (1972) S. 1 1 2 ff; zur gesellschaftlichen Grenze der Freiheit: E. FECHNER Die soziologische Grenze der Grundrechte, 1954; zur „sozialen Erfüllung der Freiheit" auch: ZACHER Demokratie (Fn. 2) S. 1 1 3 ff.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Denn auch für das Hauptsicherheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 GG gilt dieselbe Erkenntnis: daß diese Sicherheit, wie schon die Freiheit, nicht nur von Bedingungen des persönlichen Verhaltens abhängt, auf die sich die üblichen Gewährleistungen der Sicherheit durch formale Garantien des Gesetzes gegen einen Mißbrauch der Freiheit richten. Auch die Sicherheit des „Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit" hängt ab ebenso von den Bedingungen der gesellschaftlichen Verhältnisse: den Verkehrsverhältnissen, der Unfallrettung, der Gesundheitsversorgung usw. 129

Darum entscheidet sich die Frage der notwendigen Sicherheit nicht allein danach, ob ausreichende formale Garantien der Sicherheit im Gesetz geschaffen und im persönlichen Verhalten (etwa der Verkehrsteilnehmer) auch tatsächlich eingehalten und damit „erfüllt" werden. Die reale Chance der Sicherheit des Bürgers ist auch hier ebenso eine Frage der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst (etwa der Straßenverhältnisse, aber auch der Rettungsdienste), die mit darüber entscheiden, ob der Bürger bei üblichem Verhalten unter solchen Verhältnissen die notwendige Sicherheit hat oder nicht hat. Weil von einem behebbaren Mißstand solcher Sicherheit in der Gesellschaft seine wirkliche: reale Sicherheit nicht weniger beeinträchtigt sein kann als von einem persönlichen Mißbrauch der Freiheit des Einzelnen. Daraus ergeben sich für eine liberale Demokratie unseres heutigen Verständnisses, die auf die Gewährleistung der notwendigen Sicherheit gegenüber den vom Verhalten des Einzelnen, aber auch von den Verhältnissen der Gesellschaft ausgehenden Gefährdungen dieser Grundrechte verpflichtet ist, ähnlich grundsätzliche Folgerungen. Sie gebieten die Verfassungsinterpretation auch dieser Sicherheitsrechte als nicht nur subjektive Abwehrrechte, sondern ebenso als objektive Wertentscheidungen, mit entsprechenden Leistungspflichten des Staates zur Gewährleistung dieser Sicherheiten und Rechte auch in den Verhältnissen der Gesellschaft.

130

Alle diese Seiten der Sache der Demokratie haben mit ihrer ersten Ausprägung als liberale Demokratie zu tun: als eine Ordnung nach dem Prinzip der größten und gleichen Freiheit aller Bürger, die im Verhältnis von Freiheit und Sicherheit die Priorität der Freiheit behauptet, wie im Verhältnis von Freiheit und Gesellschaft die Realität der Freiheit fordert; ebenso wie im Verhältnis von Sicherheit und Gesellschaft. Erst diese ganze Wirklichkeit und umfassende Verwirklichung des Vorzeichens und Vorrangs der Freiheit macht aus der bloß formalen eine liberale Demokratie nach dem Prinzip und der Priorität wie der Realität der Freiheit. Auch eine solche Ordnung der Freiheit ist auf Gleichheit als ihre Voraussetzung und Zielsetzung gegründet, wie wir sahen. Sie erkennt und anerkennt diese in einer Konzeption der Demokratie aus dem Prinzip der Liberalität als Recht des Bürgers und Pflicht des Staates auf die Gewährleistung größter und gleicher, somit und insoweit größtmöglicher und gleichberechtigter Freiheit, aber auch Sicherheit. Ganz anders bei der zweiten Ausprägung der freiheitlichen Demokratie als soziale Demokratie nach dem Prinzip der Egalität, die nun in ihren Voraussetzungen und Zielsetzungen näher zu bestimmen ist.

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Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

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3. Demokratie als Ordnung der Gleichheit in Freiheit und das Prinzip einer sozialen Demokratie: größtmögliche und gleichberechtigte Wohlfahrt des Einzelnen bei notwendiger Gerechtigkeit für Alle In der Theorie der Demokratie der Epoche der Moderne ist, wie uns die Riickbe- 131 sinnung auf ihre ideengeschichtlichen Grundlagen und geistigen Wurzeln gelehrt hat, der Gedanke der Gleichheit von Anfang unauflöslich mit dem der Freiheit verwoben, wie dies noch in K A N T S Begründung von Recht und Staat aus dem angeborenen Recht der Freiheit und Gleichheit jedes Menschen nachklingt. Mehr noch: Wir finden bei MONTESQUIEU wie bei ROUSSEAU das „Regierungsprinzip" oder die „Regierungsform" der Demokratie, der aristotelischen Tradition folgend, schlechthin als Ausprägung des Gedankens der Gleichheit aufgefaßt. Eben deshalb tauge, wie ROUSSEAU in seiner Auseinandersetzung mit M O N T E S QUIEU erklärt, eine solche „demokratische Regierung" zwar für ein „Volk von Göttern" aber nicht für ein Volk von Menschen. Da eben diese Gleichheit der Bürger, wie wir sahen, im Bezug auf die Herrschaft im Staate wie den Zustand der Gesellschaft nicht wirklich vorausgesetzt werden kann. Dieser auch zu seiner Zeit verbreiteten Behauptung, ein solches Gemeinwesen der Freien und Gleichen „müsse ein Staat von Engeln sein, weil Menschen mit ihren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären", setzt K A N T , wie wir sahen, in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" die berühmte Feststellung entgegen: „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: ,Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber im Geheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten'" 169 . Das gilt nicht nur für eine freiheitliche Demokratie in ihrer ersten Ausprägung 132 als Ordnung der Freiheit, mehr noch in ihrer zweiten als Ordnung der Gleichheit. Führen und verführen doch diese seine „ungesellige Geselligkeit" mit konstituierenden egoistischen oder doch egozentrischen Neigungen und Begehrungen den Menschen dazu, aus solcher „Privatgesinnung" alles „nach seinem Sinne" zu richten, die Freiheit sich zu nehmen, die ihm beliebt, ohne Rücksicht auf die der Andern, aber auch von der Gleichheit sich auszunehmen, wo es ihm paßt, diese Gleichheit jedoch in Hinsicht auf Andere überall da in Anspruch zu nehmen, wo es ihm Vorteil bringt.

169

KANT Zum ewigen Frieden, in: Schriften (Fn. 55) S. 224; vgl. dazu oben: Rdn. 65 f f zu diesem entscheidenen Schritt KANTS über ROUSSEAU hinaus zu einer zwar weiterhin wertrationalen Fundierung aber zugleich zweckrationalen Organisation einer Republik als „legalisierte Moralität" und zugleich „sanktionierte Rationalität" schon: W. MAIHOFER Ethos der Republik (Fn. 51) S. 95 f f und 99 f.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Eben der Verhinderung dieser einseitigen Freizeichnung und zugleich Einforderung der Gleichheit dient schon für ROUSSEAU das Gesetz als ein gegenseitig und allseitig verbindendes und vermittelndes allgemeines Wollen \um gemeinsamen Nutzen, mit dem sich Gerechtigkeit zwischen Menschen auch da vermittels des mit einem Rechtsgesetz verbundenen Rechtszwangs herstellen läßt, wo der Einzelne die Kraft oder Macht hat, die Gleichheit zwar für sich gegen Andere geltend zu machen, aber von Anderen nicht gegen sich gelten zu lassen. Es ist offenkundig, daß solche Ungleichheit zwischen dem Einen und Andern auch deren ungleiche Freiheit, und damit die Unfreiheit des Einen im Vergleich zum Andern zur Folge hat. Weshalb Gleichheit als Voraussetzung einer freiheitlichen Demokratie schon deshalb unverzichtbar und unabdingbar ist, weil ohne sie „die Freiheit nicht bestehen kann", wie schon ROUSSEAU gesagt hat. 133 Damit aber stehen in einer freiheitlichen Demokratie nicht Freiheit und Gleichheit nebeneinander als zwei erst nachträglich zu vermittelnde Forderungen an die Ordnung eines solchen Staates. Vielmehr geht in ihm die Forderung nach Gleichheit aus der vorgängigen Ordnung der Freiheit hervor, unter deren Vorzeichen und Vorrang die freiheitliche Demokratie westlicher Prägung, im Unterschied zu anderen als Demokratie bezeichneten Herrschaftsformen steht. Das aber heißt für eine auf die Prinzipien der Liberalität wie der Egalität begründete liberale und zugleich soziale Demokratie: daß diese nicht einfach als eine Ordnung der Freiheit und daneben als Ordnung der Gleichheit verfaßt ist, sondern auch in dieser zweiten Ausprägung einer freiheitlichen Demokratie als Ordnung der Gleichheit in Freiheit aufgefaßt werden muß, unter demselben umfassenden Vorzeichen und Vorrang der Freiheit. Dabei erschöpft sich die Forderung nach Gleichheit in Freiheit nicht in einer bloßen Gleichheit der Staatsbürger, wie sie etwa im Wahlrecht unserer heute insoweit egalitären Demokratie zum Ausdruck kommt170. Gleichheit in Freiheit beschränkt sich auch nicht einfach auf die Forderung nach Gleichheit vor dem Gesetz oder auf Gleichbehandlung durch den Gesetzgeber, auf die das in der Demokratie steckende Postulat der Gleichheit heute weithin reduziert ist171. 134 Um Gleichheit geht es nicht nur, wie es danach erscheinen könnte, bei der Gleichheit des Staatsbürgers im Bezug auf seine Stellung im Staatm. Um Gleichheit geht 170

171

172

So auch B V e r f G E 40, 296 (317 f) wenn es das Wahlrecht als Entwicklung zum „Demokratisch— Egalitären" bezeichnet. Zum Prinzip der Gleichheit im Grundgesetz: H. P. IPSEN Gleichheit in: Neumann/Nipperdey/ Scheuner (Hrsg.) Die Grundrechte Bd. II, 1954, S. 1 2 0 ff; dazu umfassend: K . HESSE Der Gleichheitsgrundsatz im Staatsrecht, in: A ö R Bd. 77, 1951 f, S. 1 7 2 ff. Es ist nochmaliger Erinnerung wert, daß schon für KANT aus der „Idee der Gleichheit der Menschen im gemeinen Wesen" die Formel hervorgeht: „jedes Glied desselben muß zu jeder Stufe eines Standes in demselben (die einem Untertan zukommen kann) gelangen dürfen. Wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können", was die zumindest egalitäre Chance jedes Mitmenschen in einer solchen Gesellschaft der Freien und Gleichen einschließt, die „Glücksgüter" und „Wohlfahrt" sich zu verschaffen, nach denen sein Bedürfnis verlangt und die er nach seinen Fähigkeiten erlangen kann (Über den Gemeinspruch (Fn. 55) S. 146 ff); vgl. dazu schon oben Rdn. 56 und 59.

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Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

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es auch bei der Gleichheit der Gesellschaftsglieder im Bezug auf den Zustand der Gesellschaft, also — wie schon bei ROUSSEAU gesehen — der Gleichheit oder Ungleichheit der Vorteile, die bestimmte Einzelne oder Gruppen „aus dem gesellschaftlichen Zusammenschluß ziehen"; ebenso wie die Nachteile, die sie aus ihm erleiden. So bleibend wichtig darum auch immer die Errungenschaften sind, welche heute die Gleichheit der Bürger im Staat verbürgen, so unzureichend bleibt ein solcher auf das Verhältnis zum Staat beschränkter Gedanke der Gleichheit in zweifacher Hinsicht: in Hinsicht auf das Verhältnis von Gleichheit und Wohlfahrt und damit zugleich von Gleichheit und Gesellschaft. So wie der Gedanke der Freiheit in Wirklichkeit nicht gedacht werden kann, 135 ohne den der Sicherheit, so auch der Gedanke der Gleichheit nicht ohne den der Wohlfahrt. Dabei ist Wohlfahrt verstanden als die aus der Betätigung der Freiheit des Einen wie des Andern hervorgehende Befriedigung der Bedürfnisse und Entfaltung der Fähigkeiten des Menschen, der materiellen wie der immateriellen, der leiblichen wie der geistigen 1 . In einer Ordnung der Gleichheit in Freiheit folgt daraus für das persönliche Verhalten des Einzelnen nicht weniger und nicht mehr, als daß, wie wir sahen, in einem auf Freiheitsgesetze gegründeten Bürgerstaat „jeder seine Wohlfahrt nach seinen Begriffen suchen kann und nicht einmal als Mittel zum Zweck seiner eigenen Glückseligkeit von andern nach deren ihren Begriffen gebraucht werden kann, sondern bloß nach den seinigen". Freiheit des Einzelnen bei dieser Suche nach seiner Wohlfahrt ist so der entscheidende Unterschied einer freiheitlichen Demokratie zu allen unfreiheitlichen Wohlfahrtsstaaten älterer und neuerer Prägung. Diesen Grundunterschied hat schon K A N T , in Auseinandersetzung mit dem frühen Wohlfahrtsstaat des aufgeklärten Absolutismus seiner Zeit, den er als den „größten Despotismus" bezeichnet, mit unüberholter Klarheit in die Worte gefaßt: „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt". 174 Eine solche freiheitliche Demokratie schließt darum jede Fremdbestimmung und 136 Zwangsbeglückung des Einzelnen bei seiner „pursuit of happiness" aus. Wie später auch ALEXIS DE TOCQUEVILLE in seinem Aufsatz über den „Etat social", „an der Stelle seiner größten Annäherung an die Ideen von 1789", es in Aufnahme amerikanischer Verfassungsgedanken zur Voraussetzung und Zielsetzung einer solchen Demokratie erklärt, daß in ihr „nach der richtigen Auffassung der Freiheit jedermann, in der Annahme, daß er von der Natur den für seine Lebensführung notwendigen Verstand erhalten habe, von Geburt das gleiche und unveräußerliche Recht besitzt, von 173

174

Zum Begriff der Wohlfahrt im einzelnen: MAIHOFER Demokratie und Sozialismus (Fn. 157) S. 31 ff, insbesondere S. 50 ff; und zur Wohlfahrt als Bedingung menschenwürdigen Daseins auch DERS. Rechtsstaat und Sozialstaat (Fn. 137) S. 27 ff. KANT Metaphysik (Fn. 57) S. 515 ff; und KANT Über den Gemeinspruch (Fn. 55) S. 145; vgl. dazu im einzelnen schon oben Rdn. 54 f.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

seinesgleichen unabhängig zu leben in allem, was nur ihn selbst betrifft, und sein Schicksal nach seinem Sinne zu gestalten" 175 . In einer solchen Demokratie als Ordnung der Gleichheit in Freiheit ist der äußere Rahmen für diese Suche des Einzelnen nach seiner Wohlfahrt allein das Gesetz des Staates. Es gewährleistet größtmögliche Freiheit des Einzelnen nicht nur, wo sie mit der gleichberechtigten Freiheit und notwendigen Sicherheit aller Anderen vereinbar ist, sondern auch, wo die daraus folgende größtmögliche Wohlfahrt des Einzelnen mit der gleichberechtigten Wohlfahrt und notwendigen Gerechtigkeit für alle Anderen vereinbart werden kann. Was heißt dies? 137

Schon in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles ist der Gedanke der Gleichheit von Anfang gedacht als die „richtige Mitte" zwischen einem Zuviel und Zuwenig an Vorteilen und Nachteilen für den Einen und Andern, im Verhältnis und Verhalten zwischen Menschen. Schon bei Aristoteles findet sich auch die Einsicht, daß das Wesen der Gerechtigkeit die Gleichheit ist: Gleiches gleich und Ungleiches gleich ungleich; also angemessen und verhältnismäßig gleich zu behandeln 176 . Auch im Verhältnis von Wohlfahrt und Gleichheit, wie oben schon im Verhältnis von Freiheit und Sicherheit stoßen wir dabei auf denselben eigentümlichen Sachverhalt: Daß ein Ubermaß an Vorteil für den einen regelmäßig ein Ubermaß an Nachteil für den Andern bedeutet. Daß also, entgegen dem liberalen Credo, nicht prästabilierte Harmonie zwischen dem Vorteil des Einen und des Andern in dieser Welt besteht; noch gar zwischen dem persönlichen Vorteil des Einzelnen und dem allgemeinen Wohl der Gesellschaft. Vielmehr im Gegenteil ein präformierter Konflikt zwischen dem Einen und Andern auch und gerade in Hinsicht auf ihre Wohlfahrt und deren Gleichheit dadurch entsteht, daß so „wie die Verhältnisse nun einmal sind" in dieser Welt; das Zuviel an Vorteil des Einen ein Zuwenig an Vorteil des Andern, ja aller Andern zur regelmäßigen Folge hat. Dies hat seinen zureichenden Grund nicht einfach, wie dies noch bei Kant erscheint, in der antagonistischen Natur des Menschen·, seiner „ungeselligen Geselligkeit", die den Menschen seinen Vorteil und Nachteil als wichtiger schätzen und nehmen läßt als den anderer Menschen. Es hat seinen tieferen Grund in der antagonistischen Struktur der Gesellschaft selbst, wie sie in der öffentlichen Sphäre auf die Arbeitsteilung und in der häuslichen Sphäre auf die Geschlechterteilung gegründet ist 177 .

175

176

177

TOCQUEVILLE Œuvres complètes (Fn. 108) Bd. 2, S. 62; zu TOCQUEVILLE grundlegend: O. VOSSLER Alexis de Tocqueville, Freiheit und Gleichheit, 1973, insbes. S. 168 ff und S. 244 ff, dem auch die Übersetzung entnommen ist. ARISTOTELES Nikomachische Ethik (Fn. 77) S. 101 ff; vgl. zum Recht als einem „Mittleren" jetzt auch: MAIHOFER Europäisches Rechtsdenken (Fn. 160) S. 586 ff; zu den verschiedenen Kriterien, nach denen Differenzierungen des Gerechten etwa nach Bedürfnis oder Leistung gerechtfertigt sein können: CH. PERELMAN Über die Gerechtigkeit, 1967, S. 16 ff; zur „Gerechtigkeit als Kriterium der Kritik bestehender Gesellschaftsverhältnisse" jetzt: A . MAIHOFER Das Recht bei Marx (Fn. 145) S. 80 ff. Zur antagonistischen Struktur der Gesellschaft des näheren: MAIHOFER Naturrecht (Fn. 144) S. 30 ff; DERS. Legitimation (Fn. 17) S. 27 f.

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Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

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Danach folgt schon beim einfachen Tausch oder Kauf, unabhängig von gutem Willen oder böser Absicht, aus einem Zuviel an Vorteilen oder Nachteilen für den Einen ein Zuwenig für den Andern. Wodurch aus solchem Verhalten eine Ungleichheit der Wohlfahrt entsteht, wo immer der Eine seine Bedürfnisse auf Kosten und zu Lasten des Andern befriedigt und sich so übermäßigen Vorteil im Verhältnis zum Andern verschafft, somit diesem regelmäßig übermäßigen Nachteil verursacht. Dem wirkt der Staat durch Vorgabe des äußersten Rahmens für das persönliche 138 Verhalten bei der Suche des Wohles entgegen; durch Gesetze, die nicht nur als verbindendes Wollen, sondern als vermitteltes Wohl gedacht und gestaltet sind. Aber auch durch Gesetze, die den notwendigen Ausgleich von eingetretenen Ungleichgewichten der Vorteile und Nachteile im Verhältnis und Verhalten der Einzelnen zu bewirken vermögen178. Solchen vorbeugenden oder nachträglichen „Ausgleich" unangemessener und 139 unverhältnismäßiger Ungleichgewichte von Vorteilen und Nachteilen des Einen und Anderen in einem „Mittleren" nennen wir individuale Gerechtigkeit. Wie schon bei Freiheit und Sicherheit stellt sich auch im Verhältnis von Wohlfahrt und Gerechtigkeit die Frage, ob Gerechtigkeit hierbei im Zweifel Gleichheit oder Ungleichheit bedeutet und fordert? In einer auf das angeborene Recht der Freiheit und Gleichheit begründeten Ordnung der Gleichheit in Freiheit kann die Antwort nur lauten: Im Zweifel für die Gleichheit.179 Daraus folgt auch für die Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichbehandlung durch das Gesetz, wie sie das Hauptgleichheitsgrundrecht des Art. 3 Abs. 1 GG als ein Menschenrecht verbürgt, daß derjenige den Begründungszwang hat und die Beweislast trägt, der Ungleichheit behauptet und Ungleichbehandlung fordert, nicht umgekehrt180. Gerechtigkeit in einem Staat, zu dem sich ein Volk „nach den alleinigen Rechtsbegriffen der Freiheit und Gleichheit" vereinigt, den K A N T eine „republikanische Verfassung"181 und den wir heute eine freiheitliche Demokratie nennen, heißt 178

179

180

181

Zum Recht als „Ausgleich", auch in ideologiekritischer Perspektive, im einzelnen: MAIHOFER Ideologie und Recht, in: ders. (Hrsg.) Ideologie und Recht, 1 9 6 9 , S. 9 ff; zur dementsprechenden Auffassung des Gesetzes als „vermitteltes Wohl" jetzt: DERS. Legitimation (Fn. 17) S. 36 f. Zur Formel: Im Zweifel f ü r die Gleichheit! jetzt: MAIHOFER Europäisches Rechtsdenken (Fn. 160) S. 588 f; zur Begründung aus der Funktion des Rechts in der Epoche der M o d e r n e DERS. Legitimation des Staates (Fn. 17) S. 29 f f , insbesondere S. 34 f. Demgegenüber hält das Bundesverfassungsgericht innerhalb der Grenzen des Übermaß- und W i l l k ü r v e r b o t s das Prinzip inhaltlicher Rechtsgleichheit durch den Gesetzgeber nur f ü r verfehlt, wenn f ü r eine Identifizierung als gleich oder Differenzierung als ungleich „ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender G r u n d " nicht finden läßt (so schon B V e r f G E 1, 52, ständige Rechtsprechung); eine allzu elastische Formel, die sich schwer mit dem kategorischen D i k t u m vereinbaren läßt: „Die Demokratie des Grundgesetzes ist eine grundsätzlich privilegienfeindliche Demokratie" ( B V e r f G E 40, 3 1 7 f). Vgl. nochmals KANTS in der Frage der Rechtsgleichheit prinzipielle Position, in deren Vorstellung einer „ v o l l k o m m e n gerechten bürgerlichen Verfassung" der Gedanke der Gerechtigkeit überhaupt anders denn als Gleichheit nicht v o r k o m m t , sei es als „Gleichgewicht" der „Wechselwirkung", sei es als „Gegenseitigkeit" v o n Nötigungen wie Schuldigkeiten; dazu im einzelnen schon oben Rdn. 69 ff, 96 f f und Fn. 92.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

so im Zweifel Gleichheit, wo nicht die Ungleichheit außer Zweifel steht, die Notwendigkeit der Ungleichbehandlung sachlich zweifelsfrei ist. 140

Somit läßt sich das Prinzip einer solchen freiheitlichen Demokratie in dieser zweiten Hinsicht einer Ordnung der Gleichheit in Freiheit bestimmen als·. Ordnung größtmöglicher und gleichberechtigter Wohlfahrt des Einzelnen bei notwendiger Gerechtigkeit für Alle. Diese größtmögliche und gleichberechtigte Wohlfahrt des Einzelnen ist jedoch auch hier nicht, wie es nach dem klassischen Begriff der Gleichheit erscheinen könnte, allein eine Frage der Gleichheit vor dem Gesetz oder der Gleichbehandlung durch das Gesetz. So grundlegend diese formale Garantie gesetzlich gesicherter Gleichheit für unser heutiges Verständnis eines Staates der Freien und Gleichen auch immer ist und bleibt.

141

Hängt doch offenkundig auch die Gleichheit des Einzelnen nicht nur von solchen Gesetz gewordenen Bedingungen des persönlichen Verhaltens ab, sondern ebenso auch davon ab, welche Möglichkeiten die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst für die Erreichung oder Aufrechterhaltung solcher Gleichheit geben, aber auch nicht geben. Durch sie wird auch hier entscheidend mit bestimmt, ob der Einzelne die reale Chance gesellschaftlich erfüllter Gleichheit hat oder nicht hat. Diese aber ist in Hinsicht auf die Gleichheit der Wohlfahrt des Einzelnen in der Befriedigung seiner individuellen Bedürfnisse und Entfaltung seiner persönlichen Fähigkeit, noch offenkundiger als schon beim Gebrauch oder auch Mißbrauch der Freiheit, vorbedingt oder doch mitbedingt durch natürliche Ungleichheiten der Bedürfnisse wie der Fähigkeiten, aber auch durch gesellschaftliche Ungleichheiten der beruflichen Stellung wie des wirtschaftlichen Vermögens. Wie ist unter diesen Voraussetzungen der Ungleichheit die Zielsetzung einer Ordnung der Gleichheit zu verwirklichen? Für eine Ordnung der Gleichheit in Freiheit, die der freien Selbstbestimmung und Eigenverantwortung des Einzelnen den größten und gleichen Entfaltungsraum auch in der Arbeitsteilung und Geschlechterteilung der öffentlichen wie häuslichen Welt der Gesellschaft gewährleisten will, kann deren Prinzip nur lauten: , Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" Dies schließt jede Ordnung der Gleichheit in Unfreiheit aus, die nicht mehr die größte und gleiche Wohlfahrt des Einzelnen in der Befriedigung seiner individuellen Bedürfnisse und Entfaltung seiner persönlichen Fähigkeiten zum Ziele hat, sofern und soweit diese sich mit der auch aller Andern vereinbaren läßt, sondern nurmehr die gleiche Wohlfahrt nach den gleichgemachten Bedürfnissen und gleichgesetzten Fähigkeiten eines Jeden sich zum Ziele setzt.

142

Deshalb gerät der orthodoxe Sozialismus, der so das Prinzip der Gleichheit auf dem Wege einer Amputation der Freiheit verwirklichen will, nicht nur mit seinen eigenen Voraussetzungen und Zielsetzungen in Widerspruch: eine „nurmehr durch die Bedürfnisse selbst beschränkte Befriedigung aller Bedürfnisse des Menschen" in einer wahrhaft „menschlichen Gesellschaft" zu ermöglichen. Er verleugnet damit auch das

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Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

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geistige Erbe der Demokratie, daß er doch in ein endlich erreichtes „Reich der Freiheit" mit einbringen will 182 . Auf diesen Widerspruch des zeitgenössischen Sozialismus zur Demokratie zielt schon TOCQUEVILLES schonungslose Entgegensetzung der Prinzipien einer Ordnung der Gleichheit in Freiheit und einer der Gleichheit in Unfreiheit, wozu er in seiner berühmten Rede vor der Assemblée Constituante von 1848 ausführt: „Die Demokratie erweitert den Bereich der Unabhängigkeit des Individuums, der Sozialismus verengt ihn. Die Demokratie verleiht jedem Menschen seinen höchstmöglichen Wert, der Sozialismus macht aus jedem Menschen einen Beamten (agent), eine Nummer. Demokratie und Sozialismus hängen nur mit einem Wort zusammen, Gleichheit. Aber achten Sie auf den Unterschied: Demokratie will Gleichheit in Freiheit, Sozialismus will Gleichheit im Zwang, in der Knechtschaft" 183 . Das Problem der Gleichheit ist aber auch nach der anderen Seite hin nicht 1 4 3 dadurch aufzulösen, daß man das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit ganz einfach leugnet oder dadurch umgeht, daß man die Forderung nach Gleichheit auf die Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichbehandlung durch das Gesetz zurücknimmt, die Forderung nach Gleichheit der Wohlfahrt jedoch aus den Prinzipien der Demokratie ausklammert. Auch der klassische Liberalismus, der das Prinzip der Freiheit auf dem Wege einer Reduktion der Gleichheit verwirklichen will, gerät so nicht minder mit seinen eigenen Voraussetzungen und Zielsetzungen iit Widerspruch, die eine Gewährleistung der Menschenwürde und der Menschenrechte von Freiheit und Gleichheit, nicht nur als Bedingungen der Vereinigung von Menschen in einem Staat, sondern auch des Zusammenlebens von Menschen in einer Gesellschaft fordern. Er verleugnet damit Erbe und Auftrag der Demokratie auf seine Weise ebenso, die sich in ihren Prinzipien, wie wir sahen, nur als zugleich liberale und sociale Demokratie entfalten und vollenden kann. Wenn so für eine diesen Prinzipien genügende Ordnung der Gleichheit in Freiheit 1 4 4 diese beiden einfachen Lösungen um der größten möglichen Freiheit wie Gleichheit der Menschen willen ausgeschlossen sind, wie ist das hier liegende Problem ohne solche terriblen Simplifikationen überhaupt zu lösen? Wenn nicht dadurch, daß einfach, um der Gleichheit willen, die Freiheit des Menschen verkürzt wird auf ein von

182

Zu diesem Selbstwiderspruch v o n Politökonomie und Demokratietheorie des o r t h o d o x e n Sozialismus im einzelnen: MAIHOFER Demokratie und Sozialismus (Fn. 157) S. 50 ff; zu demselben Ergebnis kommt schon die Untersuchung H. KELSENS zur politischen Theorie des Sozialismus (Sozialismus und Staat Fn. 117), die den Widerspruch in der Unvereinbarkeit der ökonomischen Theorie, in der „ v o n einer Zentralstelle aus der Produktionsprozeß" nach einem „gigantischen Einheitsplane geordnet und geleitet werden soll" mit einer politischen Theorie sieht, die sich mit ihrer Vorstellung: „ A n die Stelle der Regierung über Personen tritt die V e r w a l t u n g v o n Sachen, die Leitung v o n Produktionsprozessen" zu einem „ausgesprochen anarchistischen Ideal bekennt" und sich „über die Notwendigkeit des Z w a n g e s zur Verwirklichung der kommunistischen Wirtschaftsordnung getäuscht hat" (ebd., S. 88 f).

183

TOQUEVILLE Œuvres complètes, hrsg. v o n G. de Beaumont, 1 8 6 4 — 1866, Bd. I X , S. 546; zitiert nach der Übersetzung bei O. VOSSLER Tocqueville (Fn. 175) S. 169, H e r v o r h e b u n g e n v o n mir.

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3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

Staats wegen nach ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit bemessenes und zugestandenes Maß an für alle gleichen Möglichkeiten zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Entfaltung ihrer Fähigkeiten? Wenn auch nicht dadurch, daß einfach um der Freiheit willen, die Gleichheit des Menschen verstört wird, durch ein von Staats wegen zugelassenes unbegrenztes Ausmaß an für Einzelne ungleichen Möglichkeiten zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Entfaltung ihrer Fähigkeiten nach reiner persönlicher Nützlichkeit, auch auf Kosten und zu Lasten der aller Anderen? Wie aber dann, wenn nicht durch eine dieser Vereinfachungen, ist dieses Problem zu lösen, das man als die „Quadratur des Kreises" bezeichnet und das G E R H A R D LEIBHOLZ dahin umschrieben hat: „Liberale Freiheit und demokratische Gleichheit (stehen) in Wirklichkeit zutiefst zueinander im Verhältnis einer unaufhebbaren Spannung. Freiheit erzeugt zwangsläufig Ungleichheit und Gleichheit notwendig Unfreiheit. Je freier die Menschen sind, um so ungleicher werden sie. Je mehr die Menschen dagegen im radikal-demokratischen Sinne egalisiert werden, um so unfreier gestaltet sich ihr Leben" 184 . 145

Dieses Problem wird in seiner ganzen Schärfe erst sichtbar, wenn wir den Zusammenhang von Gleichheit und Wohlfahrt auch für das Verhältnis von Gleichheit und Gesellschaft herstellen. Erkennen wir doch alltäglich, daß in einer Gesellschaft der Freiheit aus der Gleichheit der Chancen eines Jeden, auch da wo sie nicht nur formal garantiert, sondern ohne jegliche Diskriminierung oder Privilegierung auch material realisiert sind in entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen, keinesfalls auch schon eine Gleichheit der Resultate folgt, im Gegenteil. Daß daraus vielmehr regelmäßig eine Ungleichheit der Resultate schon an größerer oder geringerer Wohlfahrt des Einzelnen, aber auch an unangemessener und unverhältnismäßiger Verteilung der Wohlfahrt einer Gesellschaft entsteht. Dies hat zweifache Gründe. Dies folgt in jeder Ordnung der Gleichheit in Freiheit zum einen unvermeidlich aus der in sie eingehenden Ungleichheit der Prämissen·, den verschiedenen Bedürfnissen und unterschiedlichen Fähigkeit der Einzelnen, die in einer auf die Menschenwürde zur Selbstbestimmung und Eigenverantwortung gegründeten freiheitlichen Demokratie auch die eigene Wahl der ungleichen Möglichkeiten mit bestimmen, welche die Arbeitsteilung der Gesellschaft für die Befriedigung dieser individuellen Bedürfnisse und Entfaltung dieser persönlichen Fähigkeiten eröffnet.

146

Diese eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Einzelnen wirken sich so jedoch nicht nur verschieden in seiner „freien Wahl" einer dementsprechenden Ausbildungsstätte, eines Arbeitsplatzes oder gar Berufes aus, die Art. 12 unseres Grundgesetzes als ein Bürgerrecht verbürgt. Sie wirken sich entsprechend aus auch auf die Wohlfahrt, die sich der Einzelne so auf „seinem Wege" suchen und schaffen kann, mit seinen körperlichen Kräften und geistigen Anlagen, aber auch mit seiner beruflichen Stellung und seinem wirtschaftlichen Vermögen. Daß dies selbst bei gesellschaftlich

184

G. LEIBHOLZ Strukturwandel der modernen Demokratie, in: ders. Strukturprobleme der modernen Demokratie, 2. A u f l . , 1964, S. 88 f; vgl. dazu auch: L. REINISCH (Hrsg.) Freiheit und Gleichheit oder Die Quadratur des Kreises, 1974.

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Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

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vollständig gleichen Chancen des Einzelnen zu ungleichen Resultaten der Wohlfahrt führt ist offensichtlich. Sie sind letztlich nur um den Preis einer Unterdrückung oder doch Verkürzung eben der Freiheit zur Selbstbestimmung und Eigenverantwortung des Einzelnen überhaupt zu verhindern, welche die Menschenwürde des Menschen ausmacht. Eine freie Gesellschaft, die diesen Preis einer Abschaffung der Freiheit des Einzelnen zur Verhinderung der Ungleichheit seiner Wohlfahrt nicht zu zahlen bereit ist, steht damit dennoch vor der Frage, wie sie die Erlangung unangemessener und unverhältnismäßiger Vorteile, aber damit auch Macht, auf Kosten und zu Lasten Anderer, oder gar aller Anderen ausschließt. So richtig es darum ist, daß „die Alternative Freiheit oder Gleichheit" eine 147 „Scheinalternative" ist, wie M A R T I N K R I E L E feststellt, weil: „Wer glaubt, zwischen Freiheit und Gleichheit wählen zu müssen und sich für die Freiheit entscheidet", „in Wirklichkeit die Freiheit für einige und Unfreiheit für andere" wählt; ebenso aber auch: „Wer sich für die Gleichheit entscheidet", „nicht nur die Freiheit, sondern zugleich auch die Gleichheit" opfert für eine neue Klassengesellschaft von „Machthabern und Unterdrückten". So zutreffend das ist, so falsch wäre es, in diesem Gegensatz nur ein Scheinproblem sehen zu wollen, das sich mit der schlichten Behauptung aus der Welt schaffen läßt: „daß die Forderungen nach Freiheit und Gleichheit nicht gegensätzliche, sondern identische Forderungen sind" 185 . Eine solche „politische Aufklärung" führt nicht, wie es in K R I E L E S Absicht liegt, auf einen „dritten Weg quer zu allen politischen Strömungen sowohl des konservativen Liberalismus, als auch des progressiven Egalitarismus", er führt hinter den in der bürgerlichen Aufklärung bereits erreichten Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit wie der Gleichheit zurück, dessen bei MONTESQUIEU wie ROUSSEAU, bei K A N T wie bei H E G E L bereits zu ihrer Zeit gefaßter Gedanke heute eher in Vergessenheit versunken und von der Wirklichkeit bis Heute nicht eingeholt und erfüllt ist. Darin liegt nun einmal das Kardinalproblem unserer Epoche der Moderne, die man 148 in ökonomischer Bornierung beiderseits gerne als die des Kapitalismus bezeichnet, wie H A N S KELSEN mit schonungsloser Deutlichkeit nach der Seite der Demokratie wie des Sozialismus feststellt: „Daß die Emanzipation, die mit der Demokratie verbunden ist, daß die formelle politische Gleichheit aller Bürger an und für sich keineswegs die wirtschaftliche Gleichheit, das heißt den Ausgleich der wirtschaftlichen Gegensätze, im Gefolge haben muß." Daß vielmehr „in einem Zustand der Freiheit von jedem staatlichen Zwange", „die natürliche Ungleichheit des Menschen hemmungslos zur Geltung kommt", die KELSEN zurecht „die letzte subjektive Quelle aller, nicht bloß der wirtschaftlichen Ausbeutung" nennt. Deshalb gelangt er im Blick auf den Staat der Demokratie wie des Sozialismus seiner Zeit zu der grundsätzlichen Fest-

185

M. KRIELE Befreiung und politische Aufklärung, Plädoyer für die Würde des Menschen, 1980, S. 59 f; vgl. auch schon: DERS. Staatslehre (Fn. 3) S. 331 ff; und aus soziologischer Perspektive auch: R . DAHRENDORF Uber den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, 2. A u f l . , 1966.

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Stellung: Während „im kapitalistischen Klassenstaate sich hinter der formalen Rechtsgleichheit die wirtschaftliche Ungleichheit, die wirtschaftliche Ausbeutung verbirgt, entspricht im proletarischen Klassenstaate der formalen auch die wirtschaftliche Gleichheit. Zumindest ist dies der eigentliche Zweck dieser Zwangsordnung. Wenn die kapitalistische Staatsordnung ein Werkzeug der Unterdrückung' ist, so ist sie es nicht darum, weil sie den Besitzlosen etwa keine politischen Rechte gibt; sie ist es vielmehr, trotzdem sie dies tut" 186 . 149

Zu diesem „Ausgleich" der „wirtschaftlichen Ungleichheiten" bedarf es in einer freiheitlichen Demokratie als Ordnung der Gleichheit in Freiheit der ständigen Gegensteuerung gegen die aus dem „Lauf der Dinge" drohende „Zerstörung der Gleichheit", also die dauernde Erhaltung der Gleichheit durch die „Kraft der Gesetzgebung", die schon ROUSSEAU gefordert hat. Diese hierzu geforderte „Wirksamkeit des Staates" muß auf zwei Ebenen oder in zwei Stufen geschehen: zur Aufrechterhaltung der individualen Gerechtigkeit ^wischen den Einzelnen, und der socialen Gerechtigkeit in der Gesellschaft überhaupt. Dazu bedarf es auf der ersten Ebene im Verhältnis und Verhalten der Einzelnen der gesetzmäßigen Vorkehrungen zur „Steuerung" von Übermaß und Mißbrauch, der bei einem unangemessenen und unverhältnismäßigen Ungleichgewicht der Vorteile, aber auch der Abhängigkeiten des Einen und Andern droht, wie wir sie von den frühen Wuchergesetzen an bis in die heutige Wettbewerbsgesetzgebung hinein kennen. Wie sie sich aber auch in der Rechtsprechung nach bestimmten „Generalklauseln" unserer Gesetze in ständiger Fortbildung und Verfeinerung des Gedankens der individualen Gerechtigkeit etwa als Leistungsgerechtigkeit, aber auch der Billigkeit als „Gerechtigkeit des Einzelfalles", sowie im Zurückgreifen auf „Verkehrssitten", aber auch aus der Einräumung von „Vertrauensschutz" entwickelt haben187. Nicht nur um der Wahrung der Gerechtigkeit ςwischen den Einzelnen willen, sondern auch um der Erhaltung eines Gleichgewichtes der Abhängigkeiten in einer freien Gesellschaft, die es nicht zulassen kann, wie schon ROUSSEAU bemerkt, daß in ihr Einzelne so reich und mächtig und Andere so arm und ohnmächtig werden, daß der Eine den Andern „kaufen" kann und der Eine dem Andern sich „verkaufen" muß. Diese Ungleichheit der Wohlfahrt des Einzelnen stellt die Voraussetzungen und Zielsetzungen einer liberalen und zugleich sozialen Demokratie dann nicht in Frage, wenn dem Ubermaß und Mißbrauch von Vorteil und Macht durch einen Gesetz gewordenen allgemeinen Willen gesteuert wird, der dem „Privatinteresse" des Einzelnen da Schranken setzt, wo es mit dem auch aller Andern, d. h. mit dem „gemeinsamen Nutzen" nicht mehr vereinbar ist. Womit eben jener „Einklang des Interesses und der Gerechtigkeit" hergestellt ist, der schon für ROUSSEAU jede Herrschaft der Gesetze zum Wohle der Bürger auszeichnet, auch die zur Gewähr186

KELSEN Sozialismus und Staat (Fn. 1 1 7 ) S. 5 1 , S. 46, und S. 88 f; Hervorhebungen hinzugefügt.

187

Vgl. dazu im einzelnen: J. SCHMIDT Recht der Schuldverhältnisse, § 242, in: Staudingers K o m mentar zum B G B , 12. A u f l . , 2. Buch, 1 9 8 1 , Rdn. 98 f f ; und zu einer solchen „Verrechtlichung der Interaktionsmoral" auch: G . TEUBNER Allgemeines Schuldrecht, § 242, in: Alternativkommentar zum B G B , 1980, S. 32 ff.

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Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

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leistung der zwar größten möglichen aber doch gleich berechtigten Wohlfahrt des Einzelnen, bei notwendiger Gerechtigkeit für Alle. Das eigentliche Problem einer solchen Ordnung der Gleichheit in Freiheit 150 beginnt da, wo diese in einmaligen Akten sich äußernde Ungleichheit der Wohlfahrt des Einzelnen in ständiger Wiederholung der gleichen Ungleichheiten in einen gesellschaftlichen Pro^eß einmündet und so in eine Ungleichheit der Wohlfahrt in der Gesellschaft überhaupt umschlägt, die auch mit noch so strenger Einzelfallgerechtigkeit nicht mehr zu steuern ist. Woraus eine unangemessene und unverhältnismäßige Verteilung der Vorteile wie der Macht in der Gesellschaft überhaupt entsteht, die diese aus einer Ordnung der Gleichheit in Freiheit zu einer Ordnung der Ungleichheit, und damit auch der Unfreiheit verändert. Dieser Zustand einer Gesellschaft tritt schon für ROUSSEAU dann ein, wenn „der Nutzen, den jeder aus dem gesellschaftlichen Zusammenschluß zieht", danach für gewisse Einzelne, aber auch Gruppen fortwährend unangemessen und unverhältnismäßig ungleich wird. Wodurch eine gesellschaftliche Struktur entsteht, die durch eine „übermäßige Ungleichverteilung" gekennzeichnet ist, von Einkünften wie von Gütern. Zwischen den Einen, die ein Zuviel und den Andern, die ein Zuwenig an Vorteilen aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und in der ihr nachfolgenden Einkommens- und Besitzverteilung erlangt haben. Dabei ist es für die sociale Ungerechtigkeit einer solchen Gesellschaft Verhältnis- 151 mäßig gleichgültig, ob diese Ungleichheit der Wohlfahrt ihren zureichenden Grund in einer „übermäßigen Ungleichverteilung" der erzielten oder erarbeiteten Vorteile zwischen Grundeigentümern und Nichteigentümern, zwischen Geldbesitzenden und Nichtbesitzenden, oder wie heute zwischen Kapital und Arbeit, oder gar zwischen Produzenten und Konsumenten überhaupt hat. Die entscheidende Frage allein ist, ob durch eine Unausgewogenheit und Ungleichgewichtigkeit von Vorteilen und Nachteilen bestimmte Einzelne oder Gruppen als Solche in einer Gesellschaft grundsätzlich und fortlaufend begünstigt und andere als Solche entsprechend benachteiligt werden, wobei es auf bösen Willen und schlechte Absicht allemal nicht ankommt. Denn damit entsteht, gewollt oder ungewollt, eine einseitige Ansammlung und Verlagerung der Vorteile auf grundsätzlich Begünstigte: prinzipiell Privilegierte, mit entsprechend Benachteiligten: prinzipiell Diskriminierten auf der Kehrseite und Schattenseite einer solchen Gesellschaft der Ungleichheit. Ein solcher Verlust des Gleichgewichts in der Verteilung der Vorteile wie der Nachteile auf alle Seiten der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wird damit zunehmend bedrohlich, ja verhängnisvoll für den Fortbestand nicht nur der Gleichheit, sondern auch der Freiheit in einer Gesellschaft. Wird er doch, damals wie heute, durch einen Trend der Realität verstärkt, der schon ROUSSEAU in seiner Politischen Ökonomie beschäftigt: daß Reichtum aus sich selbst heraus weiteren Reichtum zeugt, aber auch Armut aus sich selbst heraus zu weiterer Verelendung führt. Die Armut also aus der Pauvreté folgt, wie es in dem saloppen Diktum heißt. Altertümlich, aber doch auch gegenwartsbezogen ausgedrückt: weil deshalb die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer werden, oder modern formuliert:

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weil der Trend, den wir in der Entwicklung der Eigentums- und Vermögensverteilung noch heute beobachten, zur Ansammlung des Produktivitätszuwachses beim Produktiveigentum hinführt. Womit auch heute eben jener „Lauf der Dinge" in vollen Gang kommt, der auf die „Zerstörung der Gleichheit ausgeht". 152

Grundsätzlicher noch wird eine solche Ordnung der Gleichheit in Freiheit bedroht, wenn in ihr, nach „Zerstörung der Gleichheit" nicht nur Ungleichheit der Wohlfahrt herrscht, sondern eine aus dieser folgende Ungleichheit der Freiheit droht: durch die einseitige, mehr oder weniger vollständige Abhängigkeit des Einen vom Andern in der Gesellschaft, die Verknechtung und Ausbeutung von Menschen durch Menschen zur regelmäßigen Folge hat. Das Postulat, das schon ROUSSEAU diesem Trend entgegensetzt, ist bei allem inzwischen erreichten Fortschritt im Bewußtsein auch der Gleichheit immer noch das unsere: „Weil der Lauf der Dinge stets auf die Zerstörung der Gleichheit ausgeht, deshalb muß gerade die Kraft der Gesetzgebung stets auf ihre Erhaltung ausgehen." Durch eine Gesetzgebung der Gegensteuerung, die, anders als damals, nicht nur den Hebel der notwendigen Umverteilung zum Vorteilsausgleich in einer Gesellschaft durch Besteuerung kennt, sondern auch andere moderne Instrumente: wie allgemeine Vermögensbildung und Sparförderung, aber auch betriebliche oder gar überbetriebliche Vermögensbeteiligung, zum Ausgleich der Ungleichgewichte der Vorteile zwischen Kapital und Arbeit im Unternehmen, oder gar zwischen Produzenten und Konsumenten in der Gesellschaft überhaupt 188 .

153

Wie wir sahen, besteht schon für ROUSSEAU deshalb eine der „wichtigsten Aufgaben der Regierung" darin, einer „übermäßigen Ungleichverteilungder Güter vorzubeugen, nicht indem sie den Reichen ihren Besitz entzieht, sondern allen die Mittel nimmt Reichtum anzuhäufen; nicht indem sie Armenhäuser baut, sondern die Bürger vor Verarmung bewahrt". Diese Aufgabe macht für ihn geradezu „die wahre Wirksamkeit eines Staates" aus, „allmählich alle Vermögen jener Ausgewogenheit anzunähern", in „der jeder Etwas und Keiner Zuviel hat". Die Legitimität einer freiheitlichen Demokratie, die wir heute als liberale und soziale Demokratie begreifen und bezeichnen, fordert so eine andere Wirksamkeit des Staates als die der liberalen Demokratie früheren Verständnisses, deren „Grenzen der Wirksamkeit" auf die Sphäre des Staates und die in ihr verwirklichte Freiheit und Gleichheit beschränkt sind, und die so die Sphäre der Gesellschaft, mitsamt „ökonomischer Basis" und „geistigem Überbau", den gesellschaftlichen Kräften und den sog. wirtschaftlichen Eigengesetzlichkeiten überantwortet.

154

Demgegenüber steht es für uns heute außer Frage, daß die Verpflichtung des Staates auf die Menschenwürde und die Menschenrechte der Freiheit und Gleichheit nicht allein eine Wirksamkeit des Staates fordert, die diese Würde und Rechte, über formale Garantien des Gesetzes hinaus auch durch reale Chancen der Gesellschaft verbürgt. 188

Dies ist der bleibende bisher weithin unterfüllte Sinn der sog. Freiburger Thesen und ihrer Forderung nach „Demokratisierung der Gesellschaft" und folglich zugleich „Reform des K a pitalismus"; vgl. dazu im einzelnen: W. MAIHOFER Liberale Gesellschaftspolitik, in: Κ . H. Flach u.a. (Hrsg.) Die Freiburger Thesen der Liberalen, 1972, S. 2 7 f f , insbes. S. 4 0 f f .

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Vielmehr stellt sich für uns heute genau umgekehrt die Grundsatzfrage, ob diese Wirksamkeit nicht auch die Verpflichtung des Staates mitumfaßt, die reale Struktur der Gesellschaft so zu gestalten und notfalls umzugestalten, daß sie diesen Prinzipien der Menschenwürde und der Freiheit und Gleichheit entspricht, und nicht schon im Prinzip widerspricht 189 . Dies müßte auch für den Fall Geltung erlangen, wenn bei der in Gang befindlichen zweiten technischen Revolution, aus dem Selbstlauf der Wirtschaft die reale Chance eines Jeden, seine Selbstverwirklichung und Wohlfahrt auf dem Wege der Arbeit zu suchen, für einen erheblichen oder gar den größeren Teil der Gesellschaft, so wie der „Lauf der Dinge einmal ist", ökonomischer „Rentabilität" und industrieller „Rationalität" zum Opfer fiele. Dadurch würde ein allein auf den Menschen als seinen Zweck verpflichteter Staat gefordert, alle „Kraft der Gesetzgebung" wie der Staatstätigkeit überhaupt gegen eine solche grundlegende „Zerstörung der Gleichheit" einzusetzen und deshalb mit allen Mitteln und auf allen: notfalls neuen Wegen eine „Erhaltung der Gleichheit" realer Chancen der Selbstverwirklichung in Arbeit und Beruf für alle Bürger zu erreichen. Die Frage nach der Realität der Prinzipien der Freiheit und Gleichheit stellt sich 1 5 5 für eine Ordnung der Gleichheit in Freiheit grundsätzlich anders als für andere „Regierungsformen": der Freiheit in Ungleichheit oder der Gleichheit in Unfreiheit. Setzt eine freiheitliche Demokratie als zugleich liberale und soziale Demokratie doch schon nach ROUSSEAUS Einsicht eine „fast vollkommene Gleichheit in bezug auf Stand und Vermögen voraus, ohne die auch die Gleichheit der Rechte und der Macht keinen langen Bestand haben könnte." Dies aber heißt auf den Grundsatz gebracht nichts anderes als dies: Ohne sociale Demokratie keine liberale Demokratie! Aber auch: Ohne liberale und sociale Demokratie keine freiheitliche Demokratie!™ 4. Demokratie als Ordnung der Brüderlichkeit in Freiheit und das Problem einer humanen Demokratie: Mitmenschlichkeit des Einzelnen, Menschlichkeit der Verhältnisse, Verantwortlichkeit des Einzelnen, Mitverantwortlichkeit der Gesellschaft? Freiheit— Gleichheit—-Brüderlichkeit, lauten die politischen Postulate der demokrati- 1 5 6 sehen Revolution in Frankreich, wie sie auch noch in den späteren Verfassungsbewegungen in unserem Lande nachklingen. 189

Entsprechend der auch v o n ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE bekräftigten „Erhaltungsfunktion" des freiheitlichen Staates f ü r eine „freie Gesellschaft", die fordert: „daß der Staat nicht untätig zusieht, wie die v o n ihm gewährleistete rechtliche Freiheit und Gleichheit f ü r eine wachsende Zahl seiner Bürger zu leeren Form wird, sondern der gesellschaftlichen Ungleichheit entgegenwirkt, sie durch sozialen Ausgleich und soziale Leistungen relativiert, um dadurch individuelle Freiheit und rechtliche Gleichheit für alle real zu erhalten" (Die verfassungstheoretische Unterscheidung v o n Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1 9 7 3 , S. 38).

190

Ähnlich gelangt auch E. BLOCH v o n selten des Sozialismus, nach Einholung und W i e d e r g e w i n nung des „naturrechtlichen Erbes der bürgerlichen A u f k l ä r u n g " und der „demokratischen Errungenschaften der französischen Revolution" in die politische Theorie des Marxismus, zu

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3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

Schon um die Gleichheit ist es in den Demokratien und Republiken danach still geworden, auch wo sie auf MONTESQUIEU und ROUSSEAU sich als ihre geistigen Väter berufen. Sie schränkt sich ein auf die Gleichheit vor dem Gesetz, die Gleichbehandlung als Verfassungsgebot. 157

Gänzlich verklungen ist lange Zeit das politische Postulat der Brüderlichkeit, auch in den auf christliche Glaubensüberzeugungen sich berufenden Staaten. Für sie gelten zwar Nächstenliebe und Nächstenhilfe des „Christenmenschen als Weltperson" ( L U T H E R ) weiter, aber doch nur als moralisches Postulat für das persönliche Handeln des Einzelnen, das sich auch in organisierter Aktivität der Kirchen als Caritas oder Diakonie, Nothilfe und Lebenshilfe leistend äußert. Solche persönliche oder gemeinsame Nächstenhilfe für die „Mühseligen und Beladenen" aber auch die „Erniedrigten und Beleidigten" in einer Gesellschaft, stellt die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst nicht in Frage; es setzt sie vielmehr geradezu voraus. Demokratie als Ordnung der Brüderlichkeit geht von anderen Voraussetzungen aus und auf andere Zielsetzung hinaus. Sie hat ihr existentielles Fundament, wie wir sahen, in der Menschenwürde selbst: in der aus der Personalität der eigenen Person erwachsenden und sie überschreitenden Solidarität mit der anderen Person, „mit allem, was Menschenantlitz trägt", mit der „Menschheit in jedermanns Person". Brüderlichkeit ist so der Begriff für das prinzipielle Füranderedasein und Fürandereeinstehen, dem wir als die andere Seite der Menschenwürde unter der Kategorie der Solidarität begegnet sind. Sie hat genauer betrachtet verschiedene personale Dimensionen.

158

Dasein und Einstehen kann der Eine für den Andern zunächst als dieser Selbst: dieses Individuum mit dem ich mich identifiziere, ja mit dem ich mich solidarisiere in einer Weise, die wir individuale Solidarität nennen können. Sie begegnet uns als Liebe zu Allernächsten, zu Angehörigen, zu Freunden oder zu sonst Nahestehenden, die Einander annehmen und Füreinander da sind als ein anderes Selbst, das sie nicht nur lieben, wie sich Selbst, sondern für das sie auch sorgen und sich besorgen, wie um sich Selbst. Eine solche „Nächstenliebe" ist auch im Zustand der Gesellschaft in der Dimension der Individualität zwischen Allernächsten möglich in „höchstpersönlichen Verhältnissen". Jede Überanstrengung dieser individualen Solidarität über das eigenste „Selbstsein und Mitsein" hinaus, führte zu einer Auflösung und Zerstörung zugleich auch der „ureigensten Beziehungen" zu diesen Nächststehenden des persönlichen Lebensumkreises. Sie haben mit dem zu tun, was wir von Rechts wegen nur achten und von Staats wegen schützen können als zum Persönlichkeitskern, als in die sog. Intimsphäre gehörige Beziehungen von Menschen zu Menschen. Die nicht zuletzt Ausdruck der Menschenwürde als Freiheit der Selbstverwirklichung

der Forderung: „Keine Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie!" vgl. dazu W. MAIHOFER Ernst Blochs Evolution des Marxismus, in: Über Ernst Bloch, 1968, S. 112 ff insbes. S. 126 f; vgl. im besonderen auch zum „Erbe an der Trikolore: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit": E. BLOCH Naturrecht und menschliche Würde, 1961, S. 175 ff.

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und Daseinsgestaltung aus der Eigenverantwortung der Person und darum zu Recht Gegenstand auch des Kernbereichs des Menschenwürdeschutzes sind 191 . Der Mensch ist eben nicht nur „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse", 159 ein „Arbeitsmensch", der als ein „arbeitendes Wesen" in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung aufgeht. Er ist immer auch ein Individuum der höchstpersönlichen Verhältnisse in der ganzen „Summe der Beziehungen, in der er lebt" 192 . Aber als Solcher steht der Mensch auch in jenen ganz anderen alltäglichen Beziehungen, denen wir in der Dimension der Sozialität begegnet sind, und die THEODOR GEIGER in seiner „Demokratie ohne Dogma" in den Mittelpunkt seiner Definition der Person aus ihren Kontakten der Sozialität gerückt hat, die wir heute Sozialkontakte nennen193. Mit ihnen konstituiert sich die Person als ein bestimmter Jemand·, als Käufer oder Verkäufer, als Lehrer oder Schüler, als Arzt oder Patient, als der sie sich Selbst als Solcher mit und durch den „entsprechenden Andern" zu dem macht und gemacht wird, was der Mensch als ein gegenständliches Gattungswesen" immer nur zusammen mit einem solchen Andern sein und werden kann, wie L U D W I G FEUERBACH erstmals in ganzer Klarheit gesehen und gesagt hat; als ein „Homo soziologicus" in je bestimmter „socialer Rolle" und Lage, wie wir in der Diktion der Soziologie heute sagen 194 . Auch in solchem alltäglichen Zutunhaben und Miteinanderumgehen gibt es so 160 etwas wie „sociale Solidarität", die mit „gegenseitiger Rücksichtnahme", aber auch mit „wechselseitiger Unterstützung", also mit dem einvernehmlichen Zusammenwirken der sog. „Interaktionspartner" zur beiderseitigen Zielerreichung zu tun hat, die ohne eine Abstimmung des Wollens miteinander und Zusammenstimmung des Wohls aufeinander nicht möglich ist; auf einen „gemeinsamen Nenner", auf dem alle Beteiligten auf ihre Kosten kommen, also sich die Interessen und Erwartungen aller

191

192

Zu dieser Dimension der Individualität höchst persönlicher Beziehungen zwischen Menschen schon: MAIHOFER Vom Sinn menschlicher Ordnung (Fn. 115) S. 4 2 ff; und: Naturrecht (Fn. 66) S. 27 ff; dazu grundsätzlich auch: H. HENKEL Recht und Individualität, 1958; und jetzt: MAIHOFER Recht und Personalität (Fn. 64) insbes. S. 235 f, S. 239 f und S. 241 f zur existenzialen Perspektive der Singularität der Person. Dies ist die unverlierbare Einsicht des modernen Existenzialismus v o n NIETZSCHE an bis zu HEIDEGGER u n d S A R T R E , a b e r a u c h d e s m o d e r n e n P e r s o n a l i s m u s v o n L U D W I G F E U E R B A C H b i s

zu MARTIN BUBER. Vgl. dazu des näheren: W. MAIHOFER Recht und Sein, Prolegomena zu einer Rechtsontologie, 1954, S. 17 f f und: DERS. K o n k r e t e Existenz, Versuch über die Philosophische Anthropologie Ludwig Feuerbachs, in: Th. Würtenberger u. a. (Hrsg.) Existenz und Ordnung, FS für E. Wolf, 1962, S. 246 ff; über Marx' Thesen ad Feuerbach als den „genialen Keim" der „marxistischen Weltanschauung": W. SCHUFFENHAUER Feuerbach und der junge Marx, 2. A u f l . , 1972, S . 132 ff. 193

194

TH. GEIGER Demokratie ohne Dogma. Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit, 1950, insbes. S. 75 ff und S. 2 1 1 ff. Zu dieser Dimension der Sozialität alltäglicher Verhältnisse zwischen Menschen im einzelnen: W. MAIHOFER Anthropologie der Koexistenz, in: A . Hollerbach (Hrsg.) Mensch und Recht, FS für E. Wolf, 1972, S. 163 ff; und aus rechtsphilosophischer Perspektive: L. PHILIPPS Zur Ontologie der sozialen Rolle, 1963; dazu aus soziologischer Perspektive auch: R. DAHRENDORF Homo sociologicus, Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, jetzt in: DERS. Pfade aus Utopia, 1968, S. 128 f.

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von den Auswirkungen eines solchen Lebenssachverhaltes und Rechtsverhältnisses Betroffenen vereinbaren: identifizieren und solidarisieren lassen195. Dabei findet die soziale Solidarität ihren fortdauernden Niederschlag in den dabei als Recht befundenen und als gerecht und billig empfundenen „Verkehrssitten" und auch „Geschäftsbedingungen", deren heute sog. „Interaktionsmoral" auf die Privatautonomie der Person zurückgeht, und aus den wiederkehrenden Willensübereinkünften sich herausbildet, aus und mit denen im alltäglichen Treiben des gesellschaftlichen Verkehrs der rechtliche Ausgleich der jeweils auf dem Spiele stehenden Interessen und Erwartungen der „Sozialpartner" zu Stande gebracht und auf Dauer gestellt wird. Damit geht aus solcher sozialer Solidarität eine der Gesetzgebung des Staates von Oben vergleichbare Rechtssetzung von Unten aus der Gesellschaft selbst hervor, die an demselben Prinzip der Legitimität: dem eines zumindest gegenseitig, wenn nicht allseitig verbindenden Wollens und vermittelten Wohls orientiert ist, das auch den Gesetz gewordenen allgemeinen Willen zum gemeinsamen Nutzen legitimiert, wie wir sahen. 161

In eben diesen alltäglichen Verhältnissen, in denen aus solcher sozialer Solidarität ein zwischenmenschliches Verhalten der Interaktion und Kooperation zu Stande kommt, oder doch kommen könnte, besteht und entsteht in unserer Zeit das eigentliche Problem der Solidarität, um dessen Lösung es in dem geht, was wir eine Ordnung der Brüderlichkeit nennen196. In derselben Epoche der Moderne, die uns mit der demokratischen Revolution der Freiheit—Gleichheit—Brüderlichkeit! selbst in unserem Lande danach die als große Errungenschaften begrüßte Bauernbefreiung von Grundherrlichkeit und Leibeigenschaft, aber auch die Gewerbebefreiung von Genossenwesen und Zunftzwang gebracht hat, entsteht aus dem durch eben diesen unbezweifelbaren Fortschritt ausgelösten weiteren „Lauf der Dinge" in der Folgezeit eine Industriezivilisation des „Fabrikwesens" und der „Konsumgesellschaft", die, bei aller wachsenden Wohlfahrt einer immer größeren Zahl, die sie in unseren sog. Industriegesellschaften und Massendemokratien, entgegen der historischen Kritik des Sozialismus an diesem heute Kapitalismus genannten System heraufführt, dennoch diese freiheitlichen Gesellschaften in eine zunehmende Tenderti der Perversion hineinführt. Sie wirkt in dieser von Prinzipien der ökonomischen Rentabilität und der technischen Effektivität beherrschten industriellen Zivilisation, auch nach Uberwindung der Jugendkrankheiten dieses Systems, die noch M A R X bei seiner Kritik vor Augen hat, in Richtung auf eine auch danach nicht abnehmende, sondern überhaupt erst auf die Gesamtge195

196

In dieser Selbstregulierung des Gesellschaftsprozesses aus dem Prinzip der „sozialen Solidarität" sieht H . HENKEL (Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. A u f l . , 1977, S. 466 f f ) in der Nachfolge LEON DUGUITS, zurecht „eine der wesentlichen Grundlagen des Gemeinwohls", in einer auch juridischen Produktion v o n Rechtsgewohnheiten, auf deren Verhaltensmuster der „billig und gerecht Denkenden" wir im Streitfalle auch in unserer Judikative rekurieren. Dieser Zusammenhang steht auch im Mittelpunkt der Betrachtung v o n KRIELE über die „Brüderlichkeit und das soziale Problem" (Politische Aufklärung, Fn. 185, S. 6 7 f f ) in der die „Brüderlichkeit als politisches Prinzip" allerdings allein auf diesen Teilaspekt einer „Kooperationsbereitschaft auf der Grundlage der Gleichberechtigung und Freiheit" verkürzt ist.

§12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

sellschaft durchschlagende Übermaterialisierung dieser ökonomischen Basis organisierten Sozietät.

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und zugleich Enthumanisierung

der auf

Die „ E n t f r e m d u n g des Menschen" und zugleich „Entmenschlichung der menschlichen Verhältnisse", die „Vergegenständlichung des Menschen" in den fremdbestimmten Verhältnissen der Arbeit, die Versachlichung und zugleich Entpersönlichung der alltäglichen Verhältnisse des Verkehrs von Menschen mit Menschen in solchen Gesellschaften, haben zu einer schon bei ROUSSEAU bis hin zu K A N T und H E G E L sich vorbereitenden geistigen Gegenbewegung geführt, die in die Forderung auch an Staat und Gesellschaft nach einer „Vermenschlichung der menschlichen Verhältnisse" mündet, wie es zuletzt bei K A R L M A R X heißt 197 .

162

Auch in der Folgezeit wächst das Bewußtsein, daß in einem ökonomischen System und einer technischen Zivilisation, in dem die Prinzipien der Rentabilität und Effektivität regieren, auch und gerade das zum Problem wird, was diese Epoche an ihrem geistigen Ursprung wie nichts sonst als eine „drängende Sehnsucht" erfüllt hat: nicht nur der Kampf für die endlich erreichte Freiheit und Gleichheit des Menschen, sondern die nunmehr verheißene Brüderlichkeit zwischen Menschen. Am Anfang dieser Jetztzeit, die auch noch unsere Gegenwart ist, erklingt ja nicht nur das „Schmettern des gallischen Hahnes", an das M A R X immer wieder erinnert, sondern auch jene Ode an die Freude, mit ihrem Taumel der Worte: „Alle Menschen werden Brüder, Wo dein sanfter Flügel weilt. Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!" 198 Das mag uns späten Nachfahren dieses „Ausganges des Menschen aus seiner 163 selbstverschuldeten Unmündigkeit" zum „aufrechten Gang" eines selbstdenkenden Menschen und mündigen Bürgers heute vordergründig als überlebter Schwulst vorkommen. Aber es mag uns, nach der in der Folgezeit eingetretenen Erschütterung solchen Ethos und Pathos der Brüderlichkeit in der darauffolgenden zweiten Ernüchterung über die in dieser freien Gesellschaft eingetretenen Verhältnisse, auch die wachsende Ahnung erfassen, daß in eben dieser humanen Solidarität etwas angeklungen ist, was als eine „unerfüllte Sehnsucht" wie nichts sonst den Menschen heute zuinnerst bewegt. Auch und gerade, weil er im Lebensalltag bei allem Gewinn an Effektivität unserer materiellen Zivilisation immer deutlicher den Verlust an Humanität zu spüren beginnt, die doch für das Zeitalter der politischen Aufklärung und des neuen Humanismus einer Gesellschaft der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit allen anderen Zielsetzungen voranstand. In dieser Rückbesinnung oder auch Vorausbesinnung eines heute in und um uns aufbrechenden, endlich erreichten Fortschritts auch im Bewußtsein der Brüderlichkeit, 197

198

Dazu grundlegend: F. MÜLLER Entfremdung, Z u r anthropologischen Begründung der Staatstheorie bei Rousseau, Hegel und Marx, 1970, insbes. S. 60 ff; auch: MAIHOFER Demokratie und Sozialismus (Fn. 157) S. 31 ff; aus makrosoziologischer Perspektive umfassend: J . ISRAEL Der Begriff der Entfremdung, 1972, mit weiterer Literatur. Zum „Frieden der Brüderlichkeit" als die „dritte Farbe der Trikolore": BLOCH Naturrecht und menschliche Würde (Fn. 190) S. 1 9 2 ff; vgl. dazu auch: MAIHOFER Ernst Blochs Evolution des Marxismus (Fn. 190) S. 1 1 2 f f ; und zuletzt: J.-P. SARTE, Brüderlichkeit und Gewalt, 1993.

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3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

der mehr oder weniger deutlich auch hinter und in all den geistigen Bewegungen spürbar wird, die seit der sog. Studentenrevolte 1968 für größere Gerechtigkeit, aber auch für mehr Menschlichkeit dieser Gesellschaft eintreten, kündigt sich ein neuer moralischer Rigorismus an, der in der logischen Konsequenz der ureigensten Forderungen der demokratischen Revolution liegt, von der auch unsere Zeit noch oder wieder neu bewegt ist, nicht zuletzt der nach Brüderlichkeit zwischen Menschen, nach humaner Solidarität oder wie immer wir heute dazu sagen 199 . Was bedeutet und fordert dies auf den heutigen Lebensalltag und die allgemeinen Lebensverhältnisse in unserer freiheitlichen Demokratie gewendet und angewendet? 164 Damit wird, bei allem Zugeständnis einer in bestimmten Grenzen notwendigen, weil in der Tat auch Not wendenden ökonomischen Rationalität und technischen Effektivität unserer Industriezivilisation: das Humanitätsproblem zur vordringlichen Sicht und zur vorrangigen Frage, aus der wir, über die im Grundsatz erreichte Freiheit und die jedenfalls im Ansatz verwirklichte Gleichheit hinaus, die Verhältnisse des Lebensalltags unserer Gesellschaft als grundsätzlich fragwürdig erkennen müssen. In dem die „Verhältnisse eben so sind", daß es in ihnen zwar sachlich, aber wenig menschlich, eher unmenschlich zugeht. Wenn Menschen sich in ihnen nicht mehr „mit menschlichen Augen sehen" und sich „als Menschen" verstehen und begegnen, sondern eher als Sachen sich „ansehen": als bloße Objekte oder Funktionen, an denen ein bestimmtes Interesse für den besteht, der bestimmte Intentionen hat, die er nicht „realisieren" kann, ohne daß andere auf bestimmte Weise „funktionieren". In denen Menschen sich mit anderen Worten nurmehr „mit nationalökonomischen Augen sehen", als bloße Ware: „als Ware Arbeitskraft", wie jene provokante Formel bei K A R L M A R X heißt; oder auch als bloße „Verbraucher": Verbraucher am Warenmarkt, von denen heute so viel die Rede ist. Was keinen Unterschied macht nach dem Prinzip der Humanität für den, der den Menschen mit den „nationalökonomischen Augen" persönlichen „Profits" oder denen gesellschaftlicher „Nützlichkeit", hier im sog. Privatkapitalismus, dort in einem Staatskapitalismus sieht. Dem Andern als Bruder, als Nächsten, als Mitmenschen zu begegnen und sich auf ihn einzulassen, meint demgegenüber schlicht, daß es im Verhältnis und Verhalten zwischen Menschen zu allererst menschlich zugeht. Daß wir den Andern so nicht als Nebenmenschen oder gar Gegenmenschen sehen und verstehen, sondern als Mitmenschen. 165 Ob es dementsprechend im unmittelbaren Verhältnis und persönlichen Verhalten zwischen Menschen in einer Gesellschaft menschlich: moralisch zugeht, hält auch J E A N - P A U L S A R T R E am Ende seines Lebens, entgegen eigener früherer Einschätzung, für die wichtigste Frage an eine Gesellschaft überhaupt, wichtiger als alle Veränderungen einer Gesellschaft sonst: „Wesentlich ist die Moral der Beziehung %um Andern". 199

Vgl. dazu: W. MAIHOFER Die Revolte der Jugend f ü r die Evolution der Gesellschaften in Ost und West, in: Club Voltaire, Bd. III ( 1 9 6 8 ) S. 94 ff; dazu: H . E. RICHTER Lernziel Solidarität, 1974, insbes. S. 11 ff; vgl. zum Humanitätsproblem auch und gerade aus der Sicht des philosophischen Materialismus: G . HANEY Humanismus und Materialismus, in: Materialismus und Idealismus im Rechtsdenken, in: A R S P Beiheft Nr. 31, 1987, S. 55 ff.

§12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

525

Sie ist als eine der „beiden Seins weisen der Menschen": „die Art durch sich Selbst zu sein" und „die Beziehungen zu seinem Nächsten", die wir mit den Begriffen der Personalität und der Solidarität der Person umschrieben haben, auch für ihn in seinen letzten Gesprächen „durchaus Gegenstand dessen, was sich Humanismus nennen läßt" 200 . Danach läßt sich in dieser ersten Hinsicht Demokratie als Ordnung der Brüderlichkeit bestimmen als eine solche der Menschlichkeit des persönlichen Verhaltens: der Mitmenschlichkeit. Diese Brüderlichkeit oder Mitmenschlichkeit des persönlichen Verhaltens des Ein- 166 zelnen kann der Staat nicht unmittelbar selbst in der Gesellschaft herstellen und schon gar nicht anordnen oder erzwingen, bis auf Grenzfalle etwa der Nächstenhilfe in Not angesichts eines Unglücksfalls, in denen wir solche praktizierte Solidarität auch von Strafrechts wegen verlangen. Aber eine Demokratie, die sich als eine nicht nur liberale und soziale, sondern auch als humane Demokratie versteht, muß jedenfalls die gesellschaftlichen Verhältnisse so gestalten und notfalls umgestalten, daß sie solcher praktischen Solidarität auf allen Ebenen und in allen Bereichen einen äußersten Spielraum humaner Toleran^ freiläßt, auch wo eine solche Suche, zu mehr Brüderlichkeit, zu mehr Mitmenschlichkeit im persönlichen Verhalten in den gesellschaftlichen Verhältnissen zwischen und mit Menschen zu gelangen, sich zwangsläufig in unorthodoxen Experimenten äußert. Sie sind auf ihre: andere Weise, nicht minder als die orthodoxen Konventionen der erprobten und „eingefahrenen" Lebensweisen und Verhaltensmuster, Ausdruck eben der sonst so vielberufenen Menschenwürde zur Selbstverwirklichung aus Eigenverantwortung, und der aus ihr entstammenden Freiheit des Geistes und sich eröffnenden Suche nach einer „Art des Wohlseins, wie man sie sich Selbst denkt", in persönlicher „Vollkommenheit", in eigener „Glückseligkeit", wie einmal die Begriffe für diese Sache lauteten, die jeder „auf seinem Wege suchen darf, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann (d. i. diesem Rechte des anderen) nicht Abbruch tut", um es nochmals mit KANT zu sagen. Dennoch ist auch hier die Mitmenschlichkeit des persönlichen Verhaltens nur die eine Seite der Sache, um die es in dem geht, was wir Brüderlichkeit nennen. Selbst die Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit persönlichen Verhaltens hängt zugleich entscheidend immer auch ab von den gesellschaftlichen Verhältnissen selbst. Demokratie als Ordnung der Brüderlichkeit bedeutet und fordert so zuletzt die 167 Menschlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Dies meint nicht nur, wie es später bei M A R X heißt: „Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein 200

Vgl. dazu schon: J . P. SARTRE L'existentialisme est un humanisme, 1946; aber auch M . HEIDEGGER Uber den Humanismus, 1949 f; zu dem entsprechenden Neu Verständnis der Staatskonzeption einer Republik als „soziale Republik", und damit als „Erfüllung und Überhöhung von Demokratie und Rechtsstaat", demzufolge in einer durch Demokratie vollendeten Republik als Einheit der „sozialen Demokratie" und des „demokratischen Sozialstaates" weiterführend jetzt: H. ZACHER Das soziale Staatsziel, in: HdBStR Bd. 1, 1987, § 25 Rdn. 8 0 f f .

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3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist", getreu dem von FEUERBACH übernommenen kategorischen Imperativ: „Daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist!" Denn damit sind allererst unmenschliche Verhältnisse beseitigt, aber nicht notwendig menschlichere Verhältnisse hergestellt. Dies aber erfordert in einer freiheitlichen Demokratie, die sich auch und gerade als humane Demokratie versteht, wie schon ROUSSEAU erkannt hat, schlicht die Erfüllung der eigenen noch unerfüllten humanen Zielsetzungen: die gesellschaftlichen Verhältnisse so umzuschaffen, daß es in ihnen von ihren „Mitmenschen" Erniedrigte oder Geknechtete, Verlassene oder Ausgebeutete nicht mehr geben kann. Und doch ist der Gedanke der Brüderlichkeit mit solchen Forderungen nach Mitmenschlichkeit im persönlichen Verhalten und nach Menschlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht erschöpft. 168 Daß wir dem Andern als Bruder, als einem Nächsten, einem Mitmenschen begegnen sollen, hat sicher mit der Moralität unseres persönlichen Verhaltens zu tun, mit der Achtung der Menschheit in des anderen Person in der ihr eigenen Würde™. Aber auch mit der Liebe Nächsten202, der mir in des anderen Person zugleich mit dem ihm zukommenden eigenen Recht begegnet203. Schon K A N T führt entsprechend „alle moralischen Verhältnisse" auf diesen zweifachen „Bestimmungsgrund des Willens" im Verhältnis und Verhalten zum Andern zurück: Auf die Achtung vor der Menschheit in des anderen wie in „jedermanns Person", die sich in ihrer „eigenen Vollkommenheit" und damit stetigen Vervollkommnung selbst Zweck ist, woraus ihre Würde folgt; und auf die Liebe zum Menschen in des anderen Person, dessen für die eigene Person ,¡fremde Glückseligkeit" dadurch für die andere Person zu ihrem Recht gelangt, daß sich die Menschen in der Liebe oder gar „Wechselliebe" zueinander und füreinander des anderen Glückseligkeit Selbst zum Zwecke und damit zum „Prinzip der Übereinstimmung des Willens des einen mit dem des andern machen"204. 201

202

203

204

Zu dieser Dimension der Humanität menschlicher Beziehungen heißt es schon in KANTS Erörterung „Von Tugendpflichten gegen andere Menschen aus der ihnen gebührenden Achtung": „Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung v o n seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dann auch gegen jeden anderen verbunden", denn: „die Menschheit selbst ist eine Würde" (Metaphysik (Fn. 57) S. 600 f). Diese Begründung der Brüderlichkeit aus der geschuldeten Nächstenliebe, weil Gottesliebe, klingt selbst bei ROUSSEAU noch nach, wenn er sagt: „Mithin bleibt nur noch die Religion des Menschen oder das Christentum übrig, nicht das jetzige, sondern das des Evangeliums, das davon wesentlich verschieden ist. Durch diese heilige, erhabene, wahre Religion erkennen sich die Menschen, die alle K i n d e r eines und desselben Gottes sind, als Brüder an" (Gesellschaftsvertrag, (Fn. 8) S. 188 f). Vgl. zu der damit sich berührenden Fragestellung einer „réligion civile" jetzt: H. LÜBBE Staat und Zivilreligion. Ein Aspekt politischer Legitimität, in: Legitimation des modernen Staates (Fn. 17) S. 4 0 ff. Zur theologischen Begründung des Rechtes des Nächsten grundsätzlich: E. WOLF Recht des Nächsten. Ein rechtstheologischer Entwurf, 1957; und zur rechtsphilosophischen Begründung eines „Nächstenrechts": W. MAIHOFER Konkrete Existenz (Fn. 192); zu der „allgemeinen Menschenliebe" auch: A . PLACK Die Stellung der Liebe in der materialen Wertethik, 1962, S. 71 ff. Vgl. dazu KANT Metaphysik (Fn. 57) insbes. S. 225 f f und S. 320 ff; zur Begründung des „sittlichen" wie des „rechtlichen Prinzips der Solidarität" als „Oberstes A x i o m aller Sozialphilosophie und Sozialethik" (M. SCHELER): DENNINGER Rechtsperson und Solidarität (En. 1 3 1 ) S . 2 1 2 ff.

§ 12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

527

Mit Moralität haben aber in unserem heutigen Verständnis auch zu tun die 169 gesellschaftlichen Verhältnisse selbst. Sie können nicht nur dadurch unmoralisch: unmenschlich sein, daß sie moralisches mitmenschliches Verhalten zwischen Menschen schlechthin unmöglich machen. Sie können auch selbst unmoralisch: unmenschlich sein, in ihrer Auswirkung und Einwirkung auf die Würde und das Recht des Menschen. Nicht nur ein Verhalten, auch Verhältnisse können den Menschen in seiner Würde und seinem Recht erniedrigen oder beleidigen, zukurzkommen oder gar zugrundegehen lassen. Auch die Frage, ob wir Menschen bestimmten Verhältnissen aussetzen oder nicht aussetzen, hat so mit Brüderlichkeit zu tun. In solcher Fragwürdigkeit von Verhältnissen klingt zugleich jene ganz andere Seite der Brüderlichkeit an, die wir eingangs mit Solidarität bezeichnet haben. Brüderlichkeit hat, über die Mitmenschlichkeit im persönlichen Verhalten hinaus und die Menschlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst, immer auch zu tun mit Mitverantwortlichkeit für Menschen·. mit Verantwortlichkeit des Einzelnen und darum Mitdasein und Miteinstehen für den „entsprechend Anderen", aber auch mit Mitverantwortlichkeit der Gesellschaft. Wie es in einer freiheitlichen Demokratie jedoch auch als soziale Demokratie 170 nicht um Gleichheit für sich genommen, sondern um Gleichheit in Freiheit geht, so geht es in ihr auch als eine humane Demokratie nicht einfach um Brüderlichkeit für sich gesehen, sondern um Brüderlichkeit in Freiheit. Was Gleichheit in Unfreiheit durch freiheitszerstörende Gleichmacherei ebenso ausschließt wie Brüderlichkeit in Unfreiheit durch freiheitsvernichtende Zwangsverbrüderung, nach der historischen Parole: „Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag' ich Dir den Schädel ein!" Aus einer solchen Ordnung der Brüderlichkeit, die in einer freiheitlichen Demokratie somit immer schon eine Ordnung der Gleichheit, wie diese eine Ordnung der Freiheit voraussetzt 205 , ergeben sich weitreichende Folgerungen über die Verantwortlichkeit des Einzelnen hinaus für die Mitverantwortlichkeit der Gesellschaft, der heute so genannten Allgemeinheit. Andere als die, denen wir in jener Ordnung der Gleichheit in Freiheit begegnet sind. Aus dem Prinzip der Gleichheit in Freiheit ergeben sich, wie wir sahen, vor allem 171 Forderungen der individualen Gerechtigkeit, zum Ausgleich der Ungleichgewichte von Vorteilen und Nachteilen im persönlichen Verhalten der Einzelnen; aber auch Forderungen der socialen Gerechtigkeit nach Gegensteuerung gegen einen ungleichgewichtigen Zuwachs von Vorteilen und damit auch von Macht in Wirtschaft und Gesellschaft; sowie gegen eine „übermäßige Ungleichverteilung" von Einkommen und Besitz in unserer Gesellschaft überhaupt. Diesen Forderungen einer sozialen Demokratie entsprechen wir durch Begünstigung der Vermögensbildung bisher Unvermögender, aber auch durch Förderung der Vermögensbeteiligung der Arbeitnehmer oder gar aller Bürger an Wirtschaftsunternehmen. Also durch das, was heute allgemein Gesellschaftspolitik genannt wird, zu der schon für ROUSSEAU auch die Besteuerung zur Umverteilung von Einkommen 205

So auch schon KRIELE Politische Aufklärung (Fn. 185) S. 67.

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3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

und Vermögen, als Gegensteuerung gegen eine unangemessene und unverhältnismäßige Einkommens- und Vermögensentwicklung in der Gesellschaft gehört206. Aus dem Prinzip der Brüderlichkeit in Freiheit ergeben sich dagegen Forderungen einer ganz anderen Art socialer Gerechtigkeit, die auf den solidarischen Ausgleich von individuellen Benachteiligungen gerichtet sind, die bestimmte Einzelne oder auch Gruppen auf Grund körperlicher Behinderungen, geistiger Minderbegabungen, seelischer Störungen oder dauerhafter Schädigungen erleiden. 172 In diesen Forderungen, die den Kernbereich einer über die Gesellschaftspolitik hinausgehenden Sozialpolitik ausmachen, kommt eben die Mitverantwortlichkeit der Gesellschaft für grundsätzlich Benachteiligte zu ihrem reinsten Ausdruck, die nach unserem heutigen Verständnis überall da jedenfalls gefordert ist, wo diese Benachteiligung durch entsprechende Verantwortlichkeit des Einzelnen in engeren „Solidargemeinschaften", wie der Familie, nicht mehr ausgeglichen werden kann207. Eine Ordnung der Brüderlichkeit in Freiheit versteht diese Mitverantwortlichkeit der Gesellschaft für Benachteiligte nicht als bloße Unterbringung oder Versorgung von „Sozialfallen". Sondern begreift diese von der Gesellschaft, aus ihrer Mitverantwortung für den Einzelnen geforderte besondere Anstrengung der Lebenshilfe, die allein dem besonders Benachteiligten die faire Chance eines menschwürdigen Daseins verschaffen kann, ihrem Grundprinzip entsprechend als Hilfe vytr Selbsthilfe. Sie soll den Benachteiligten soweit irgend möglich zu eigenem Gebrauch seiner Freiheit befähigen oder wiederbefähigen: zum Erwerb von Bildung, zur Erlangung von Arbeit, zur Gestaltung seines Lebens, und nicht zuletzt zur Führung eines soweit menschenmöglich menschenwürdigen Daseins. Ob und wie diese besondere Anstrengung für besonders Benachteiligte durch die staatliche Solidargemeinschaft oder unmittelbar über gesellschaftliche Sozialeinrichtungen erbracht und geleistet wird, entscheidet nicht zuletzt über den „Geist", der in ihr als Ordnung der Brüderlichkeit herrscht. 173

H A N S Z A C H E R verdanken wir in diesem Zusammenhang die geschärfte Einsicht, daß es nicht genügen kann, auf die „ökonomischen Defizite" unserer Marktwirtschaft einfach nur durch „materielle Kompensationen" des Sozialsystems unserer Gesell-

206

207

Vgl. zum Begriff der Gesellschaftspolitik in der politischen Perspektive einer „Demokratisierung der Gesellschaft aus demselben Gedanken der .Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit!', aus dem auch die Demokratisierung des Staates ihren Ursprung nahm": meine Einführung und Einleitung zu den Freiburger Thesen (Fn. 188) S. 27 f f und S. 57 ff. Z u m Begriff der Sozialpolitik umfassend: H. ZACHER Sozialpolitik und Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland, 1968; DERS. D e r Sozialstaat als Prozeß: in: Z g S Bd. 1 3 4 (1978) S. 15 ff; DERS. Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980; zum Verhältnis v o n Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik grundlegend: E. LIEFMANN-KEIL Ökonomische Theorie der Sozialpolitik, 1 9 6 1 . Z u m Begriff der Sozialpolitik und nicht der Gesellschaftspolitik gehören darum auch die ebenso aus dem Prinzip der Solidargemeinschaft und darum aus der Mitverantwortung der Gesellschaft begründeten Bereiche der sozialen Sicherheit und der sozialen Fürsorge.

§ 12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

529

schaft zu reagieren, worauf Sozialpolitik und Sozialrecht heute weithin konzentriert und reduziert sind 208 . Schon für diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben, sind die Mangel- und Ausfallerscheinungen unseres ökonomischen Systems, das grundsätzlich nach Leistungsgerechtigkeit die Arbeitsentlohnung zumißt, entsprechend der Bedürfnisgerechtigkeit nur unvollkommen und umständlich von Staats wegen über Steuervergünstigungen oder Kindergeldzahlungen, dem Familienstand und Kinderreichtum gemäß auszugleichen. Noch viel mehr betrifft und trifft diese strukturelle Disparität von Leistung und Bedürfnis denjenigen aber, der keinen Arbeitsplatz erlangen kann oder zur Arbeit unfähig ist und so an den Segnungen dieser Wirtschaftsordnung keinen unmittelbaren Anteil hat. Dem ist mit Geld allein nicht immer „geholfen", das der Staat ihm aus abgeschöpften Einkommen und sonstigen Steueraufkommen zur Befriedigung seiner drängensten Bedürfnisse zuteilt. Deshalb geht die Gleichung, auf die ZACHER unsere Fragestellung zuspitzt: 174 Marktwirtschaft beschafft, was man kaufen kann, Sozialpolitik verschafft dem, der Nichts oder Zuwenig hat, Geld, damit er sich das Notwendige kaufen kann, überall da in der Tat nicht auf, wo das, was „fehlt" nicht einfach käuflich ist: „Zuwendung des Menschen Menschen läßt sich nicht kaufen und nicht reglementieren". An ihr fehlt es gerade Denen am Meisten, die das Wenigste haben und denen mit Geld oft überhaupt nicht mehr zu helfen ist. Solche über bloße Geldleistungen hinausgehende Lebenshilfe ist aus der Mitverantwortlichkeit der Gesellschaft für die Benachteiligten gefordert, die durch ihre Natur, aber auch ihr Schicksal geschlagen, ohne solche „Hilfe zur Selbsthilfe" ohne sociale Chance wären 209 . Praktizierte Solidarität ist erforderlich gerade in einer freiheitlichen Gesellschaft aber auch für die in die Gesellschaft nicht Eingegliederten und Eingliederbaren, die heute sog. Nichtseßhaften, die man früher einmal „Asoziale" genannt und vor der Strafrechtsreform weithin der Strafrechtspflege, bis hin zu ihrer Unterbringung im Arbeitshaus, überantwortet hatte 210 . Mit dieser Entkriminalisierung der „Asozialen" hat sich in unserer wie anderen 1 7 5 Gesellschaften um die Mitte dieses Jahrhunderts ein grundlegender „Wandel der Denkungsart" vollzogen, der auch unser Strafrechtsdenken, in der späten Nachfolge der Modernen Schule FRANZ VON LISZTS, vom klassis'chen Vergeltungsstrafrecht in 208

209

2,0

Zum folgenden im einzelnen: H. ZACHER Sozialrecht und soziale Marktwirtschaft, in: W. Gitter u.a. (Hrsg.) F S für G . Wannagat, 1981, S. 7 1 5 f f , insbes. S. 7 5 9 f f ; und jetzt grundsätzlich: Sozialrecht und Gerechtigkeit (Fn. 83) S. 669 ff. Zu Recht bezeichnet RYFFEL die „Brüderlichkeit, die in der Französischen Revolution neben die abstrakte Freiheit und Gleichheit gestellt wurde", geradezu „als eine globale Vorwegnahme der Konkretisierung der abstrakten Entfaltungschance", „die sich noch nicht in institutionellen Vorkehren niedergeschlagen hat" (Rechts- und Staatsphilosophie, (Fn. 137) S. 313). Zum „Abbau der kriminalistischen Hypertrophie" in der vom Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches in Gang gebrachten Großen Strafrechtsreform: W. MAIHOFER Die Reform des Besonderen Teils des Strafrechts, in: L. Reinisch (Hrsg.) Die deutsche Strafrechtsreform, 1967, S. 72 ff.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

ein modernes Resozialisierungsstrafrecht verwandelt hat, das sich 1975 in einem neuen Strafgesetzbuch durchsetzt. Dieses sieht Sinn und Zweck der Strafe nicht mehr als ein Mittel der Übelzufügung, sondern der Wiedereingliederung des Rechtsbrechers in die Gesellschaft 211 . Auch das Resozialisierungsstrafrecht ist aus dem Gedanken einer Mitverantwortlichkeit der Gesellschaft für den Straffälligen erwachsen. Es sieht die Straftat als einen, zumindest überwiegend persönlich verschuldeten Mißbrauch der Freiheit des Einzelnen, der die Sicherheit der Rechtsgüter Anderer beeinträchtigt. Folglich die „ethische Begründung der Strafe" nunmehr vorrangig in der Befähigung zum gesetzmäßigen Gebrauch der Freiheit und zur damit möglichen Wiedereingliederung in die Gesellschaft 212 . 176

Auch ein solches Strafrecht ist praktizierte Solidarität mit dem „Antisozialen": dem Verbrecher, wie es früher hieß, dem Rechtsbrecher oder auch dem Straffälligen, wie wir heute sagen. Um was es dabei geht, hat F R A N Z VON L I S Z T in zwei entscheidende Gedanken gefaßt, in denen dieser neue Geist des Strafrechts, auch für uns heute gültig, erstmals sich ausspricht: 1. Das Strafrecht ist die „Magna Charta des Verbrechers" 2. Das Strafrecht ist die „Ultima Ratio der Sozialpolitik"2^. Als ein so immer durch das Gesetz gebundenes äußerstes Mittel der Sozialpolitik ist und bleibt damit das Strafrecht immer auch, und immer noch: Sozialpolitik. Es ist als Resozialisierungsstrafrecht in seinem Geist Ausdruck eben dessen, was wir die Brüderlichkeit in Freiheit genannt haben. Auch und gerade von dieser Kehrseite einer Gesellschaft her betrachtet, die das Strafrecht im Blick hat, bekräftigt und erhärtet sich so die zunächst mehr als Frage gefaßte Antwort: daß eine freiheitliche Demokratie, als eine auf Menschenwürde und Menschenrechte begründete Ordnung unter dem Vorzeichen und Vorrang der Freiheit, darum als Ordnung auch der Gleichheit in Freiheit und der Brüderlichkeit in Freiheit aufgefaßt, somit als liberale, sociale und humane Demokratie verstanden werden muß.

177

Erst Freiheit—Gleichheit—Brüderlichkeit zusammen verbürgen eine solche menschenwürdige und menschengerechte Ordnung auch des Staates. So wie schon Freiheit ohne Gleichheit nicht dauerhaft bestehen kann, so kann auch Gleichheit ohne Brüderlichkeit nicht wirklich entstehen.

211

212

2,3

Vgl. zum Prinzip eines Resozialisierungsstrafrechts den Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil, hrsg. von J. BAUMANN u.a., 1966; zum dahinter stehenden Menschenbild im einzelnen: W. MAIHOFER Menschenbild und Strafrechtsreform, in: Gesellschaftliche Wirklichkeit im 20. Jahrhundert und Strafrechtsreform, 1964, S. 5 ff; zur kriminalpolitischen Konzeption im besonderen: C. ROXIN Franz v o n Liszt und die kriminalpolitische Konzeption des Alternativentwurfs, in: Z S t r W Bd. 81 (1969) S. 6 1 3 ff. Zur Mitverantwortung der Gesellschaft im Strafrecht grundsätzlich: P. NOLL Die ethische Begründung der Strafe, 1962, insbes. S. 15 ff. Dazu FRANZ VON LISZT Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1 (1905) insbes. S. 126 ff; zur Modernen Schule des Resozialisierungsstrafrechts zuletzt: W. NAUCKE Die Kriminalpolitik des Marburger Programms 1882, in: Z S t r W Bd. 94 (1982) S. 525 ff.

§ 12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

531

Dies erkennt schon ROUSSEAU, wenn er die Gleichheit als notwendige Bedingung der Möglichkeit einer Ordnung der Freiheit bezeichnet, „weil Freiheit ohne sie nicht bestehen kann", weshalb für ihn Demokratie als eine Ordnung der Gleichheit in Freiheit nur bei „fast vollkommener Gleichheit in bezug auf Stand und Vermögen" zu verwirklichen ist, „ohne die auch die Gleichheit der Rechte und der Macht keinen langen Bestand haben kann". Was hier im Riickbezug der Gleichheit auf die Freiheit gesagt ist, gilt ebenso aber auch für das Verhältnis von Gleichheit und Brüderlichkeit. Auch die Brüderlichkeit ist auf ihre Weise die notwendige Bedingung der Möglichkeit 178 einer Ordnung der Gleichheit in Freiheit. Weil, unter der faktischen Voraussetzung der Ungleichheit der Menschen, sich die in einer Demokratie geforderte normative Ordnung der Gleichheit des Menschen in Gesellschaft und Staat nicht von selbst herstellt, sondern durch die Menschen überhaupt erst, vermittels Gesetz und Recht, hergestellt werden muß. Daß aber die bisher Machthabenden den Ohnmächtigen, die bisher Bevorzugten den Benachteiligten, Gleichheit der Beteiligung an der Macht im Staate, und der Teilhabe an den Vorteilen der Gesellschaft einräumen und gewähren, das setzt entweder einen revolutionären Akt der bisher Ohnmächtigen und Benachteiligten oder aber einen evolutionären Prozeß voraus, der aus der humanen Solidarität der jeweils Machthabenden und Bevorzugten mit vollbracht werden muß. In der normativen Entscheidung des Verfassunggebers für die Gleichheit der Menschen und „für die Gleichbehandlung aller Staatsbürger angesichts (und trotz) der klaren Einsicht in die grundsätzliche Verschiedenheit der Menschen" steckt darum schon immer eine „humanitäre Komponente dieses Gleichheitsverständnisses", wie HERZOG zurecht feststellt. „Erst wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, legt man auch die zentrale ethische Komponente dieser Verfassungsgrundsätze frei: Gleichheit der Menschen bzw. Gleichheit der Staatsbürger ist dann nämlich eine normative Entscheidung, die letzten Endes auf dem Gedanken der Humanität aufbaut. Nur der Gedanke der Humanität (man kann auch sagen: der Solidarität oder der Brüderlichkeit) kann den Stärkeren, Intelligenteren, Leistungsfähigeren veranlassen, seinen schwächeren Mitbürger im gleichen Ausmaß an der Staatsgewalt zu beteiligen" 214 . Wir fügen mit ROUSSEAU, auf den Gesellschaftszustand gewendet, für eine wahrhaft liberale, soziale und humane Demokratie hinzu: Und so auch alle Staatsbürger „im gleichen Ausmaß": angemessen und verhältnismäßig „an den Vorteilen des gesellschaftlichen Zusammenschlusses zu beteiligen". Eine solche demokratische Verfassung des Staates und zugleich demokratische 179 Ordnung der Gesellschaft, wie sie sich aus den vorstehend erörterten organisatorischen Prinzipien partizipatorischer und konstitutioneller Demokratie eines auf Freiheitsgeset^e begründeten Bürgerstaates und einer durch Verfassungsgrundsät^e beschränkten Mehrheitsherrschaft der Staatsbürger ergibt und zugleich nach den programmatischen Prinzipien einer liberalen und sozialen Demokratie in einem freiheitlichen Rechtsstaat aber auch freiheitlichen So^ialstaat vollendet, setzt als eine Verfassung und Ordnung unter dem Vorzeichen und Vorrang der Freiheit und damit auch der Gleichheit in

214

HERZOG in: M a u n z / D ü r i g G G

( F n . 1 1 8 ) A r t . 2 0 , II. Α . , R d n .

13.

532

3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

Freiheit wie der Brüderlichkeit in Freiheit, schon im inneren Staatsverhältnis einer solchen bürgerlichen Gesellschaft „letzten Endes" die grundsätzliche Brüderlichkeit·, die prinzipielle Solidarität %wischen Menschen im vorstehend erörterten Sinne voraus. Nicht im Sinne einer Liebe zwischen Menschen: der „Wechselliebe" oder auch „Nächstenliebe" als dem moralischem Fundament demokratischer Organisation, wohl aber im Sinne der Achtung zwischen Menschen als ihres Gleichen, kraft des „Rechtes der Menschheit in jedermanns Person". Was die Achtung der Personalität wie die Beachtung der Solidarität zwischen den freien und gleichen Bürgern eines jeden gemeinen Wesens einschließt, und so auch das daraus schon für Rousseau folgende „Gefühl für Menschlichkeit". 180

Wobei sich noch für ROUSSEAU, „da diese Neigung nur denen Nutzen bringen kann, mit denen wir leben müssen", wie er sagt: „die Menschlichkeit auf die Mitbürger beschränkt" (l'humanité concentrée entre les concitoyens), „und davon neue Kraft gewinnt, nämlich durch den täglichen Umgang und das gemeinsam verbindende Interesse". Man also „Interesse und Mitleid irgendwie begrenzen und zusammenhalten muß, um sie wirksam werden zu lassen". Scheint es ihm doch, wie er für seine damalige Zeit und Welt feststellt: „als ob sich das Gefühl der Menschlichkeit (sentiment de l'humanité) abschwächt oder verflüchtigt, wenn es sich über die ganze Erde erstreckt, und als ob uns Notlagen in der Tartarei oder Japan nicht so stark berühren können wie die eines europäischen Volkes". 215

181

Wogegen schon für K A N T , wie auch für uns nach heutigem Verständnis der aus der Menschheit jedes Menschen folgenden Menschenwürde und selbsteigenen Menschenrechte, dieses Bekenntnis zur Brüderlichkeit und damit „Gefühl der Menschlichkeit" nicht an den „Mitbürgern" des eigenen Gemeinwesens endet, sondern sich auf die „Mitmenschen" überhaupt erstreckt.

182

Schon als uns „verbindende Tugendpflichten gegen andere, bloss als Menschen", wie im „Wohltun gegen Bedürftige" zum'Zwecke ihrer „Glückseligkeit (dem Wohlsein) anderer", „weil sie als Mitmenschen, d. i. bedürftige, auf einen Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihilfe vereinigte vernünftige Wesen anzusehen sind". Weshalb solche „Tugendpflichten das ganze menschliche Geschlecht" angehen, und darum „der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bewogen" ist. Im Unterschied zum Begriff eines politischen gemeinen Wesen als der unter Rechtsgesetzen in einer „besonderen Gesellschaft" vereinigten Menschen, die, auch wo sie zur „Einhelligkeit mit allen Menschen" hinstrebt, doch als „partiale Gesellschaft nur eine Vorstellung oder ein Schema" von diesem „ethischen Ganzen" der Menschheit überhaupt sein kann. 216

215

2,6

ROUSSEAU Politische Ö k o n o m i e (Fn. 13) S. 55; w o m i t sich nicht zufallig in der Folgezeit selbst innerhalb der demokratischen Revolutionen das Bekenntnis zur „Brüderlichkeit der Menschen" und damit auch das „ G e f ü h l der Menschlichkeit" immer mehr auf das eigene Gemeinwesen verengt. Vgl. dazu KANT Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft in: Schriften (Fn. 57) S. 7 5 4 ff; aber auch: DERS. Metaphysik (Fn. 57) S. 589 f.

§12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

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Aber auch als uns verbindende Rechtsgeset^e für andere, bloß als Menschen, mit 183 denen wir, ganz anders noch als im Zeitalter der Aufklärung, als Mitmenschen angesichts der Fakti^ität unserer Zeit und Welt nicht nur „leben müssen" und „rechnen müssen", sondern die zu uns als Personen zunehmend weltweit in ein „praktisches Verhältnis" des „Zugleichseins" und der „Wechselwirkung" treten, „sofern ihre Handlungen als Facta" auf uns als Person „Einfluss haben können". 217 Auch wenn dieses „Ideal" einer solchen jeden Einzelnen erfassenden und alle 184 Gesellschaften übergreifenden moralischen Bewußtwerdung der politischen Mitverantwortung für die Menschheit im Ganzen·, für ihr notwendig gemeinsames Leben und nur gemeinsam mögliches Überleben der „auf der Kugelgestalt dieser Erde vereinigten Menschen" erst allmählich am Horizont unserer Epoche heraufzudämmern beginnt, so stehen wir doch angesichts der Fakti^ität solcher zunehmend weltweiten „ Wechselwirkung" und damit für K A N T „Koexistenz" schon heute mitten in ersten Schritten der juridischen Verwirklichung solcher politischer Mitverantwortung für die Menschheit im Ganzen — durch eine aus dieser sich anbahnenden „Revolution der Denkungsart" folgende „Revolution der Staats Verhältnisse": der Übertragung der Errungenschaften der nach republikanischen Prinzipien organisierten freiheitlichen Demokratie unserer Epoche der Moderne vom inneren Staatsverhältnis der bürgerlichen Gesellschaft auf die äußeren Staatsverhältnisse einer weltbürgerlichen Gesellschaft, in erster Annäherung an die endliche Verwirklichung des nur in einem weltbürgerlichen Zustand der „öffentlichen Staatssicherheit" der gesamten Menschheit erreichbaren „ewigen Friedens". Schluß: Übertragung der Prinzipien freiheitlicher Demokratie vom inneren Staatsverhältnis der bürgerlichen Gesellschaft auf die äußeren Staatenverhältnisse einer weltbürgerlichen Gesellschaft. Es kann keine Rede davon sein, daß wir in unserer Epoche der Moderne am 185 Ende aller Utopien von besserer Gesellschaft und von vollkommenerem Staat, oder gar am Ende aller Geschichte überhaupt, angelangt sind. Entgegen dem Gerede von einem Ende der Moderne und Übergang zu einer sog. Postmoderne stehen wir in dieser unserer Epoche noch immer mitten inne in dem durch die bürgerliche Aufklärung und demokratische Revolution ausgelösten historischen Prozeß einer Demokratisierung und Liberalisierung von Staat und Recht, 217

Wenn man v o m „Zugleichsein" und v o n der „Wechselwirkung" von Personen in Raum und Zeit ausgeht, wie KANT dies in seiner Rechtslehre tut, und dabei zum entscheidenden K r i t e r i u m

für ein nicht mehr nur moralisches, sondern juridisches

Verhältnis

£wischen Menschen

das „äussere

und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere" nimmt, „sofern ihre Handlungen als Fakta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluss haben können", dann bestehen und entstehen solche „Relationen" der „Wechselwirkung" und damit „Koexistenz" zwischen Personen nicht nur da, w o diese durch ihr „Zugleichsein" in ein „aufeinander einfliessendes Verhältnis" unmittelbarer Interaktion etwa im alltäglichen Straßenverkehr, sondern auch w o sie in Interrelationen mittelbarer weltweiter „Wechselwirkung": „Wirkung" und „ G e g e n w i r k u n g " v o n „Handlungen" geraten, mit Auswirkungen nicht nur auf das „Wohl", sondern auch auf die „Rechte anderer"; wie wir dies bei Problemen der Ökologie heute beispielhaft erfahren. Vgl. dazu grundsätzlich: W. MAIHOFER Umweltpolitik in der Industriegesellschaft, in: A . Pavlenko, H. Sund (Hrsg.) Umwelt in Europa, 1 9 9 1 , S. 7 ff.

534

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

und zuletzt von Wirtschaft und Gesellschaft, durch alle die reaktionären Deformationen und ideologischen Perversionen zweier Jahrhunderte hindurch. Noch immer hat der revolutionäre Geist dieses demokratischen Zeitalters, der unsere Epoche macht, die ihm „angemessene Institution nicht gefunden"; in Europa so wenig wie in Amerika. 186

Weder in der vollgültigen Verwirklichung der epochalen Konzeption eines freiheitlichen Bürgerstaates eingeschränkter Mehrheitsherrschaft als einer im „inneren Staatsverhältnis" unserer „bürgerlichen Gesellschaft" nach republikanischen Prinzipien organisierten partizipatorischen und konstitutionellen Demokratie. Die entgegen den derzeitigen Entwicklungen des Parteienstaates und der Mediengesellschaft unserer Tage, vom selbstdenkenden Menschen und mündigen Bürger nicht nur redet, sondern ihm anders als heute rechtlich wie tatsächlich die ihm allein gebührende letztentscheidende Verantwortung für diesen seinen Staat gibt. Noch in der endlichen Verwirklichung der epochalen Utopie eines rechtsstaatlichen Zustandes der öffentlichen Staatssicherheit auch im „äusseren Staatenverhältnis" einer „weltbürgerlichen Gesellschaft", den ROUSSEAU und K A N T schon im Zeitalter der Aufklärung als für die gedeihliche Entwicklung und das gesicherte Uberleben der Menschheit auf dieser Erde unumgänglich notwendig erkannt und erklärt haben. 218

187

Bei dieser langezeit als „Utopie" belächelten und verlästerten „Idee", die in Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht und zuletzt seiner Schrift „zum ewigen Frieden" ihre endgültige Gestalt gefunden hat, handelt es sich um nichts anderes als um die folgerichtige Übertragung der für die „vollkommen gerechte Verfassung" einer „bürgerlichen Gesellschaft" im „inneren Staatsverhältnis" entwickelten republikanischen Rechtsstaates der größtmöglichen und gleichberechtigten Freiheit jedes Einzelnen bei notwendiger Sicherheit aller Andern, nunmehr auch auf das „äußere Staatenverhältnis" einer „weltbürgerlichen Gesellschaft", in dem damit ebenso auch die größtmögliche und gleichberechtigte Freiheit jedes Staates bei notwendiger Sicherheit aller Andern gewährleistet werden soll. KANTS

Dies fordert nichts anderes als die Erreichung und Errichtung eines „weltbürgerlichen Zustandes der öffentlichen Staatssicherheit", um „zu dem an sich heilsamen Widerstande vieler Staaten nebeneinander, der aus ihrer Freiheit entspringt, ein Gesetz des Gleichgewichts auszufinden", durch „ein Prinzip der Gleichheit ihrer wechselseitigen Wirkung und Gegenwirkung", wie K A N T hierzu höchst bezeichnend sagt; „und eine vereinigte Gewalt, die demselben Nachdruck gibt", „damit sie einander nicht zerstören". 188 Dies aber heißt für K A N T wie schon für ROUSSEAU schlicht: aus dem „gesetzlosen Zustande der Wilden hinauszugehen", wie er noch heute weithin im „äußeren Staatenverhältnis" herrscht, „und in einen Völkerbund treten·, wo jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit und Rechte, nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlicher 218

Vgl. zum folgenden: KANT Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Fn. 55) insbes. S. 41 ff, und: DERS. Zum ewigen Frieden (Fn. 55) S. 1 9 5 ff, unter ausdrücklichem Rückbezug auf ROUSSEAUS Schrift: Extrait du projet de Paix Perpétuelle de Monsieur l'Abbé de Sain-Pierre", in: Politische Schriften (Fn. 10) S. 3 9 5 ff. Zu dieser „utopischen Wirksamkeit" auch des Staates heute, schon MAIHOFER Inhalte und Grenzen des Staates (Fn. 52) S. 88 ff.

§ 12

Prinzipien freiheitlicher Demokratie (MAIHOFER)

535

Beurteilung, sondern allein von diesem grossen Völkerbunde", „von einer vereinigten Macht und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten könnte".219 In dieser antizipatorischen Konzeption einer „Weltrepublik" und ihres Welttrihunals bei K A N T , nach den programmatischen Prinzipien eines freiheitlichen Rechtsstaates der größten möglichen und gleich berechtigten Freiheit eines Jeden bei notwendiger Sicherheit Aller, und ich füge mit ROUSSEAU hinzu: auch nach den Prinzipien eines freiheitlichen Sozialstaates der größten möglichen und gleich berechtigten Wohlfahrt eines Jeden bei notwendiger Gerechtigkeit für Alle, ist bleibend gültig, weit über die eigene Zeit und Welt hinaus, das „in Gedanken gefasst", was aus damaliger Utopie heutige Realität unserer Epoche zu werden beginnt.

189

ist bei dieser gedanklichen Antizipation der künftigen Weltordnung einer weltbürgerlichen Gesellschaft zutiefst bestimmt von der Einsicht in die offenkundige „Wechselwirkung" der Verfassung eines Staates im „inneren Staatsverhältnis" auf sein Verhalten im „äusseren Staatenverhältnis", aber ebenso auch umgekehrt. Darum hat für ihn „die republikanische Verfassung, ausser der Lauterkeit ihres Ursprungs aus dem reinen Quell des Rechtsbegriffs entsprungen zu sein, noch die Aussicht in die gewünschte Folge, nämlich den „ewigen Frieden". Dies gilt nicht nur deshalb, weil ein auf Freiheitsgesetze begründeter Bürgerstaat, 190 gar einer durch Verfassungsgrundsätze eingeschränkten Mehrheitsherrschaft, wie ihn die Konstitution einer solchen Republik fordert, als die Vereinigung mit „unverlierbaren Rechten" ausgestatteter selbstdenkender Menschen und als „Mitgesetzgeber" für diesen ihren Staat und auch sein äußeres Verhalten letztverantwortlicher mündiger Bürger, in dem „nach der ewigen Norm für alle bürgerliche Verfassung": „die dem Gesetz Gehorchenden" auch zugleich, „vereinigte gesetzgebend sein sollen", jedenfalls sich „zur besten unter allen qualifiziert, um den Krieg, den Zerstörer alles Guten, entfernt Zu halten".220 Sondern es gilt für K A N T ebenso umgekehrt auch: Daß so lange „Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eitlen und gewaltsamen Erweiterungsabsichten verwenden, und so die langsame Bemühung der inneren Bildung der Denkungsart ihrer Bürger unaufhörlich hemmen, ihnen selbst auch alle Unterstützung in dieser Absicht entKANT

219

So KANT Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht in: Schriften (Fn. 55) S. 44; Hervorhebungen hinzugefügt. Dabei hält er für die Entstehung eines solchen „grossen Völkerbundes" über das bisherige bloße Völkerrecht hinaus, den Republikanismus eines „mächtigen Staates" für entscheidend, wenn er erklärt: „Der K r i e g kann durch nichts vermieden werden als durch den wahren republicanism eines mächtigen Staats-; ohne Vermeidung desselben ist der Fortschritt nicht möglich. A b e r selbst der Krieg treibt zum republicanism und muss ihn zuletzt doch hervorbringen" (DERS. Reflexionen zur Rechtsphilosophie (Fn. 59 Nr. 8077).

220

KANT Streit der Fakultäten (Fn. 55) S. 364; Hervorhebungen hinzugefügt. Was KANT in seinem „Enthusiasm" f ü r die Revolution seiner Zeit, die er als die eines Republicanism verstanden hat, auch sagen läßt: „dass diejenige Verfassung eines Volks allein an sich rechtlich und moralisch gut sei, welche ihrer Natur nach so beschaffen ist, den Angriffskrieg nach Grundsätzen zu meiden, welche keine andere als die republikanische Verfassung, wenigstens der Idee nach, sein kann, mithin in die Bedingung einzutreten, wodurch der K r i e g (der Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten) abgehalten" werden kann (ebd. S. 358 f).

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

536

ziehen, ist nichts von dieser Art zu erwarten; weil dazu eine lange innere Bearbeitung jedes gemeinen Wesens χμτ Bildung seiner Bürger erfordert wird". 221 191

K A N T ist bei seinem „philosophischen E n t w u r f zum „ewigen Frieden" darum der durch die nachfolgende Entwicklung bestätigten Überzeugung, daß „ehe dieser letzte Schritt (nämlich die Staaten Verbindung) geschehen ist", „die menschliche Natur die härtesten Übel unter dem betrüglichen Anschein äusserer Wohlfahrt" erduldet. Wobei man „nicht voraussagen könne, ob nicht die Zwietracht, die unserer Gattung so natürlich ist, am Ende für uns eine Hölle von Übeln, in einem noch so gesitteten Zustande vorbereite, indem sie vielleicht diesen Zustand selbst und alle bisherigen Fortschritte in der Kultur durch barbarische Verwüstungen wieder vernichten werde".222

192

Durch diese Hölle von Übeln barbarischer Verwüstungen bisheriger Fortschritte unserer Kultur gehen wir noch immer, auf halbem Wege der Erreichung und Errichtung dieser unserer Utopie als die Realität eines „weltbürgerlichen Zustandes der öffentlichen Staatssicherheit" nach „Gesetzen des vereinigten Willens" und „unwiderstehlicher Gewalt" der „vereinigten Macht" eines „künftigen grossen Staatskörpers": der Weltorganisation einer Weltrepublik. Wie sie aus den demokratischen Prinzipien der bürgerlichen Revolution der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, nunmehr zweihundert Jahre danach in der Weltorganisation der Vereinten Nationen aus philosophischer Utopie politische Realität zu werden beginnt.

193

Auch unser Grundgesetz, das uns in einem lichten Augenblick unserer geistigen Geschichte zugefallen ist, ist erfüllt von diesem „neuen Geist" der modernen Epoche, dem die Verfassungsväter noch in der Vorfassung der Menschenwürdegarantie des Art. 1 in Abs. 2 mit den Worten Ausdruck geben: „Die Freiheit und die Gleichheit des Menschen, seine Verpflichtung gegenüber dem Nächsten und gegenüber der Gesamtheit sind die Grundlage der menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Dieser Geist erfüllt unser Grundgesetz in seinen programmatischen Prinzipien einer freiheitlichen: liberalen, sozialen und humanen Demokratie. Aus ihm bestimmt sich unser Grundgesetz zugleich aber auch in seinen organisatorischen Prinzipien als eine partizipatorische und konstitutionelle, parlamentarische und föderative: freiheitliche Demokratie, denen die folgenden Erörterungen nun im einzelnen sich zuwenden.

221

KANT Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht in: Schriften (Fn. 55) S. 45; Hervorhebungen hinzugefügt.

222

K A N T e b d . S. 4 3 .

§ 1 3 Das parlamentarische System HANS-PETER SCHNEIDER

Übersicht Rdn. Vorbemerkungen I. Eigenart und Wirkungsweise des parlamentarischen Systems 1. Begriff und Formen a) Varianten des parlamentarischen Systems b) Determinanten des parlamentarischen Systems c) Gegensätze zum parlamentarischen System . . 2. Institutionelle Merkmale . . a) Ein- oder Zweikammersystem b) Doppelköpfige Exekutive c) Verbindung von Parlament und Regierung . . d) Gewaltenteilung zwischen Regierung und Opposition 3. Soziokulturelle Bedingungen a) Homogene Sozialstruktur b) Bipolares Parteiensystem c) Pluralistisches Verbändewesen d) Kooperative Staatsleitung 4. Historische Entwicklung . . a) Konstitutionelle Monarchie b) Weimarer Republik . . . c) Bundesrepublik Deutschland II. Ausgestaltung des parlamentarischen Systems im Grundgesetz 1. Parlamentarische Demokratie

1,2 3 — 35 3 4, 5 6—9 10, 11 12 — 18 12 13, 14 15, 16

17, 18 19—26 19, 20 21, 22 23, 24 25, 26 27 — 35 27-29 30-32 33-35 36 — 103 36, 37

Rdn. a) Parlament und Repräsentativsystem b) Parlament und Parteienstaat c) Parlamente im Bundesstaat 2. Der Deutsche Bundestag . . a) Aufgaben b) Zusammensetzung . . . . c) Organisation d) Arbeitsweise 3. Parlament und Regierung . . a) Parlamentarische Bildung und Auflösung der Regierung b) Parlamentarische Kontrolle der Regierung . . . c) Parlamentarische Opposition III. Idee und Wirklichkeit des parlamentarischen Systems in der Gegenwart 1. Theorie und Kritik des Parlamentarismus a) Parlamentarismus und Liberalismus b) Parlamentarismuskritik c) Parlamentarismus und Rätesystem d) Ursachen und Kritik des Parlamentspessimismus 2. Gegenwartsprobleme des Parlamentarismus a) Parlament und Planung b) Informationsdefizit der Parlamente c) Funktionsmängel des Parlamentsbetriebs . . . .

3 8 -- 4 9 50-- 5 3 54-- 5 8 59 6 0 -- 6 6 67-- 6 9 70-- 7 6 7 7 -- 8 1 82

83-90 91—97 98-103

104—143 104—113 104, 105 106 — 107 109, 110 111 — 113 114—166 114—116 117, 118 119 — 122

538

3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes Rdn. d) „Parlamentsverdrossenheit" 3. Reformen des parlamentarischen Systems a) Geschäftsordnungsänderungen 1 9 6 9 b) Vorschläge der EnquêteKommission Verfassungsreform c) Notwendigkeit von Strukturreformen

123-126 127 — 132 127, 1 2 8

Rdn. 4. Zukunftsfragen des Parlamentarismus 133 — 1 4 3 a) Probleme der Parteienrepräsentation 133 — 135 b) Unmittelbare D e m o k r a tie als „Ausweg"? . . . . 1 3 6 - 1 3 8

129

c) „Regierbarkeit" im parlamentarischen System . 1 3 9 — 1 4 1

130 — 1 3 2

d) Zukunfseignung des Parlamentarismus 142, 1 4 3

Vorbemerkungen 1 Wenn vom parlamentarischen System gesprochen wird, ist damit zunächst weder eine politische Theorie (Parlamentarismus) noch eine staatliche Praxis (Parlamentsherrschaft) gemeint, sondern eine bestimmte Regierungsform, bei der das Parlament maßgeblichen Anteil an der Staatsleitung hat. Zwar sind Volksvertretungen schon im Altertum, Ständeversammlungen seit dem Mittelalter bekannt; auch wurden bereits um die Mitte des 13. Jahrhunderts die Bezeichnungen „parlement" in Frankreich (Gerichtshof) und „parliament" in England (königlicher Rat) gebräuchlich. Von Parlamenten im modernen Sinn als obersten Repräsentativorganen eines parlamentarischen Regierungssystems kann jedoch erst seit der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts im 19. Jahrhundert die Rede sein. 2

Heute ist das parlamentarische System weltweit verbreitet, und zwar unabhängig von der jeweiligen Staatsform: Es gibt parlamentarische Monarchien (Großbritannien, Belgien, Niederlande, Schweden, Spanien) ebenso wie parlamentarische Republiken und Demokratien (Italien, Österreich, Bundesrepublik Deutschland, Indien; de facto auch Kanada und Australien). Auf der Formenvielfalt und Anpassungsfähigkeit des parlamentarischen Systems beruht ein Großteil seiner Lebenskraft und Integrationswirkung, die zwar immer wieder bezweifelt und kritisiert wird, sich aber für viele Staaten auch und gerade unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft nach wie vor als alternativlos 1 erweist.

1

So übereinstimmend die beiden Referate v o n TH. OPPERMANN und H. MEYER Das parlamentarische System des Grundgesetzes, in: V V D S t R L Bd. 33 (1975) S. 8 ff, 69 ff. Weitere Literaturnachweise zu diesem Abschnitt finden sich in der Hamburger Bibliographie zum Parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. v o n U. BERMBACH 1 9 7 3 ; Erg. Bde. 1 — 3, 1 9 7 5 — 1978. Eine umfassende Darstellung des modernen Parlamentarismus in der Bundesrepublik Deutschland findet sich in dem Sammelwerk „Parlamentsrecht und Parlamentspraxis", hrsg. von

H . - P . SCHNEIDER u n d W .

ZEH B e r l i n

1989. Vgl. ferner: K .

PORZNER/H. OBERREUTER/

U. THAYSEN (Hrsg.) 4 0 Jahre Deutscher Bundestag, 1990. W. ISMAYR, Der Deutsche Bundestag, 1992.

§13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

539

I. Eigenart und Wirkungsweise des parlamentarischen Systems 1. Begriff und Formen Als parlamentarisches System (pS) bezeichnet man in der Verfassungslehre diejenige 3 Regierungsform, bei welcher der Bestand einer Regierung (Zustandekommen und Fortbestand) vom Vertrauen des Parlaments, genauer: von der ausdrücklichen Zustimmung (Wahl) oder stillschweigenden Billigung (Duldung) der Parlamentsmehrheit, abhängt. Wo der Einfluß des Parlaments nicht mindestens so weit geht, daß es den Regierungschef (Kanzler, Ministerpräsident) wählt, ist kein parlamentarisches System vorhanden. a) Varianten des parlamentarischen

Systems

Dabei läßt die Art und Weise, wie die Regierung gebildet und das Vertrauen des 4 Parlaments zum Ausdruck gebracht wird, mehrere System Varianten zu 2 , welche teils verfassungsrechtlich verankert, teils aber auch nur in der politischen Kultur eines Landes verwurzelt sind. Im Normalfall setzt das Zustandekommen der Regierung eine positive Loyalitätserklärung des Parlaments voraus (Vertrauensvotum), die in der Wahl des Regierungschefs, bisweilen auch der Minister, oder in sonstiger Bestätigung zu einer meist vom Staatspräsidenten vorgeschlagenen Regierung besteht. Ist eine solche Vertrauenserklärung abgegeben, wird die parlamentarische Unterstützung solange vermutet (Loyalitätsfiktion), bis das Parlament der Regierung ausdrücklich das Vertrauen entzieht (Mißtrauensvotum). Umgekehrt kann der Regierungschef das Parlament jederzeit zu einer Abstimmung über den Fortbestand der Regierung veranlassen (Vertrauensfrage), deren negatives Ergebnis dieselben politischen Konsequenzen nach sich zieht wie ein erfolgreiches Mißtrauensvotum: Die Regierung ist „abgesetzt" oder zum Rücktritt verpflichtet, auch wenn sie bis zur Bildung einer neuen Regierung noch weiter amtiert (geschäftsführende Regierung). Obgleich mit dem Ablauf einer Legislaturperiode regelmäßig auch die Amtszeit 5 der Regierung endet, jedes neugewählte Parlament also eine eigene Regierung bilden oder die frühere im Amt bestätigen kann (Diskontinuitätsprinzip), ist eine solche Koppelung mit dem parlamentarischen System nicht begriffsnotwendig verbunden, wenn nur jederzeit die Möglichkeit eines Mißtrauensvotums besteht3. Ebensowenig verliert ein Regierungssystem seinen parlamentarischen Charakter allein schon dadurch, daß in Ermangelung des Mißtrauensvotums die Amtszeit der Regierung lediglich an die Wahlperiode des Parlaments geknüpft ist (Regierung auf Zeit) 4 . Die eine oder andere Variante: das Mißtrauensvotum oder die Bindung des Regierungsamts an die Legislaturperiode gehören jedoch zu den funktionellen Mindestvoraus2

3 4

R. HERZOG (Art. „Parlamentarisches System", in: EvStL, 1966, Sp. 1479) spricht v o n „Spielarten". Vgl. B V e r f G E 27, 4 4 (56). So die Regelung in Art. 44 der Bayerischen Verfassung; allerdings ist danach der Ministerpräsident zum Rücktritt verpflichtet, wenn eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Landtag nicht mehr möglich ist.

540

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Setzungen des parlamentarischen Systems. Die Bildung der Regierung sowie ein Vertrauensentzug durch Mißtrauensvotum oder Ablehnung der Vertrauensfrage bedürfen einer ausdrücklichen Willenskundgebung des Parlaments durch Beschluß der Mehrheit seiner Mitglieder; ansonsten genügt für den Fortbestand der Regierung stillschweigende Duldung, auch wenn eine Regierung nicht (mehr) über die absolute Majorität im Parlament verfügt (Minderheitsregierung) oder einzelne Abstimmungsniederlagen erlitten hat. b) Determinanten des parlamentarischen

Systems

6 Innerhalb dieses Rahmens existieren zahlreiche Formen des parlamentarischen Systems, deren konkrete Ausprägung jeweils von verschiedenen politischen Faktoren innerhalb und außerhalb des Parlaments abhängt5. Wichtigster Faktor ist das Verfahren der Regierungsbildung·. Sie kann durch parlamentarische Wahl oder Bestätigung nur des Regierungschefs oder auch der Minister erfolgen. Je nachdem, ob der Staatspräsident nur den Regierungschef oder auch die Minister vorschlägt, ob ein solches Vorschlagsrecht bei den Fraktionen liegt, ob der Staatspräsident nach erfolgter Wahl oder Bestätigung den Regierungschef und die Minister zu ernennen hat, sind die politischen Gewichte im Verfahren der Regierungsbildung unterschiedlich verteilt. Weiteren Einfluß auf das Zustandekommen der Regierung hat der parlamentarische Wahl- oder Bestätigungsmodus (eine oder mehrere Abstimmungen, absolute oder einfache Mehrheit). 7 Darüber hinaus wird das parlamentarische System auch durch die Formen der Regierungskontrolle geprägt, welche eine Vielzahl von alternativ oder kumulativ zusammengefügten Elementen und Instrumenten aufweist, ζ. B. das konstruktive oder einfache Mißtrauensvotum allein gegen den Regierungschef oder auch gegen einzelne Minister, die Vertrauensfragen des Regierungschefs oder einzelner Minister an das Parlament, das parlamentarische Vertrauensfrageersuchen, das Selbstauflösungsrecht des Parlaments, die Präsidenten- oder Ministeranklage sowie Umfang und Tragweite der Untersuchungs-, Frage-, Informations- und Zitierrechte des Parlaments. Generell gilt der Satz: je stärker die Regierungskontrolle, desto wirksamer das parlamentarische System. 8 Einen maßgeblichen Faktor außerhalb des Parlaments stellt ferner die Parteienstruktur dar. Das politische Machtpotential des Parlaments ist im Vielparteiensystem ebenso wie im Einparteienstaat erfahrungsgemäß geringer einzuschätzen als im Zweioder Dreiparteiensystem. Für den Einparteienstaat liegt auf der Hand, daß die Entscheidungsprozesse zwischen den Machteliten in Partei und Regierung am Parlament vorbeilaufen. Aber auch das Vielparteiensystem schwächt das Parlament insofern, als die oft langwierigen Prozesse der Einigung und Kompromißfindung dem Regierungsapparat ein natürliches Ubergewicht verleihen, bis hin zur völligen Handlungsunfähigkeit heterogener Abstimmungsminderheiten. Deshalb vermag ein 5

Dazu grundlegend U. SCHEUNER Über die verschiedenen Gestaltungen des parlamentarischen Regierungssystems, in: A ö R NF 13 (1922) S. 2 0 9 - 2 3 3 ; 3 3 7 - 3 8 0 .

§13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

541

Parlament noch die relativ größte politische Wirkung zu entfalten, wenn die Zahl der Parteien begrenzt und ihre wechselseitige Bündnisfähigkeit garantiert ist. In unmittelbarem Zusammenhang damit steht schließlich eine vierte Kompo- 9 nente, die das parlamentarische System strukturell determiniert: der Pro^eß innerparlamentarischer Willensbildung. Ist eine geschlossene Mehrheit vorhanden, sorgt schon das klare Gegenüber von Regierung(skoalition) und Opposition für eine höhere Transparenz der Entscheidungsfindung als bei brüchigen, unübersichtlichen Mehrheiten. Andererseits ist die Effizienz des Parlamentsbetriebs — gemessen an der Entscheidungsleistung — größer, wenn das Schwergewicht parlamentarischer Tätigkeit stärker bei Ausschußberatungen (Arbeitsparlament) als bei Plenardebatten (Redeparlament) liegt. Knappe Mehrheiten erhöhen die Partizipationschancen des Parlaments, während eine breite Regierungsbasis sie eher verringert. Generell gilt der Satz: Ein Parlament ist politisch umso einflußreicher, je dauerhafter es zur Mehrheitsbildung in der Lage ist, um dadurch dem parlamentarischen System insgesamt Stabilität zu verleihen. c) Gegensätze %um parlamentarischen

System

Die Existenz eines Parlaments erweist sich zwar als notwendige, nicht aber als 10 zureichende Bedingung für das Vorhandensein eines parlamentarischen Systems. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, ob die Regierung allein dem Parlament oder auch anderen Organen bzw. Personen verantwortlich ist. Deshalb bildete im vergangenen Jahrhundert den Gegensatz zum parlamentarischen das „monarchische Prinzip"6 des konstitutionellen Fürstenstaates, demzufolge die Regierung unabhängig vom Parlament durch den Landesherrn eingesetzt und abberufen werden konnte. Bis heute steht dem parlamentarischen System vor allem das Präsidialsystem gegenüber, welches durch die mittelbare oder unmittelbare Volkswahl eines Präsidenten gekennzeichnet ist, der als Spitze der Exekutive entweder direkt (USA) oder auf Vorschlag eines von ihm zu berufenden Regierungschefs (Frankreich, V. Republik) die Minister ernennt und entläßt, ohne daß ein Parlament hierauf Einluß nehmen kann. Vom parlamentarischen System weicht ferner das Direktorialsystem ab, bei dem 11 die Mitglieder einer Regierung zwar vom Parlament „ernannt" (gewählt) werden, aber nicht von dessen Vertrauen abhängig sind (Schweiz). Der parlamentarischen Regierungsweise widerspricht schließlich das Rätesystem, welches mit dem imperativen Mandat und der jederzeitigen Abberufbarkeit von Regierungsmitgliedern das Repräsentationsmodell verläßt (vgl. unten Rdn. 109 f). Darüber hinaus können zahlreiche plebiszitäre Elemente (Volksbefragung, Volksbegehren, Volksentscheid) zu erheblichen Modifikationen des parlamentarischen Systems führen.

6

F. J. STAHL Das monarchische Prinzip, 1845.

542

3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

2. Institutionelle Merkmale a) Ein- oder

Zweikammersystem

12 Im Mittelpunkt des parlamentarischen Systems steht naturgemäß die Institution des Parlaments. Unter den verschiedensten Bezeichnungen (Bundestag, Parliament, Assemblée Nationale, Cortes etc.) ist es entweder nach dem Ein- oder Zweikammersystem organisiert 7 . Letzteres 8 vereinigt im Parlament als dem repräsentativen Gesamtorgan zwei parlamentarische Körperschaften (Kammern), die unabhängig voneinander über Regierungsvorlagen entscheiden (z. B. England: House of Lords/House of Commons; Österreich: Nationalrat/Bundesrat; Spanien: Congreso de los Diputados/Senado). In den meisten parlamentarisch regierten Staaten mit einem Zweikammersystem bildet die erste Kammer das demokratisch gewählte Organ der eigentlichen Volksvertretung, während sich die zweite Kammer entweder als mehr oder weniger repräsentatives Relikt des Ständestaates erhalten hat oder in Bundesstaaten das föderative Vertretungsorgan darstellt (Österreich), wobei freilich darauf hinzuweisen ist, daß auch in Staaten ohne parlamentarische Regierungsform Zweikammersysteme existieren (Schweiz, USA). Die Bundesrepublik Deutschland besitzt ein eingeschränktes Zweikammersystem, bei dem der Bundestag als zentrale Gesetzgebungsinstanz und politisches Forum der Nation eine klare Vorrangstellung einnimmt, während über den Bundesrat die Länder lediglich an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken (vgl. unten Rdn. 82 ff). Unter dem Bonner Parlament im institutionellen Sinn wird daher immer nur der Bundestag verstanden. b) Doppelköpfige

Exekutive

1 3 Ein weiteres typisches Merkmal parlamentarischer Systeme bildet die „doppelköpfige" Exekutive: Neben und getrennt von der Regierung ist meist ein Staatsoberhaupt (Präsident, Krone) vorhanden, welches den Regierungschef (Kanzler, Ministerpräsident) dem Parlament zur Wahl vorschlägt und anschließend ernennt. Dabei ist die Ernennung des Regierungschefs in keinem Falle gegen den Willen der Parlamentsmehrheit möglich. Dem Regierungschef seinerseits obliegt die Auswahl der Minister, auf die das Parlament wiederum je nach der konkreten Ausgestaltung des Systems unterschiedlich starken Einfluß nehmen kann (Wahl des Regierungschefs erst nach Vorstellung des Kabinetts, Bestätigung des Kabinetts insgesamt, Ministerwahl auf Vorschlag des Regierungschefs). Um trotz doppelter Spitze im Bereich der Exekutive eine stringente und einheitliche Politik zu gewährleisten, bedürfen Anordnungen und Verfügungen des Staatsoberhaupts (wozu auch Reden gehören) stets der Gegenzeichnung durch den parlamentarisch verantwortlichen Kanzler (vgl. Art. 58 GG). Auf diese Weise wird eine mittelbare Bindung auch des Staatsoberhaupts an das Parlament herbeigeführt. 7

8

Vgl. dazu K . VON BEYME Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, 1 9 7 0 , S. 572 ff, 6 9 0 ff, 8 6 0 ff. Dazu TH. STAMMEN A r t . „Zweikammersystem", in: Handbuch des deutschen Parlamentarismus, hrsg. v o n H.-H. RÖHRIG und K. SONTHEIMER 1970, Sp. 544—547.

§ 13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

543

In der Bundesrepublik ist die Stellung des Regierungschefs allerdings nicht nur 14 gegenüber dem Staatsoberhaupt, sondern auch im Verhältnis zum Parlament noch dadurch deutlich herausgehoben, daß er gemäß Art. 65 Satz 1 GG allein die Richtlinien der Politik bestimmt (Kanzlerprinzip). In der Regel kann der Regierungschef vom Staatsoberhaupt auch jederzeit die Auflösung des Parlaments und die Ausschreibung von Neuwahlen verlangen (England). Dieses Recht ist jedoch in der Bundesrepublik auf Ausnahmefälle beschränkt (ζ. B. abgelehnter Vertrauensantrag) und in einigen parlamentarisch regierten Staaten überhaupt nicht vorgesehen oder durch das Selbstauflösungsrecht des Parlaments ersetzt. c) Verbindung von Parlament und Regierung Charakteristisch für das parlamentarische System ist weiterhin die enge institutionelle 15 und funktionelle Verbindung von Parlament und Regierung, welche THOMA im Hinblick auf die dadurch bewirkte Konnexität legislativer und exekutiver Organe als „Gewaltenmonismus" bezeichnet hat 9 . Da zwischen Regierungsamt und Parlamentsmandat keine Inkompatibilität besteht, sind die Mitglieder des Kabinetts in der Regel zugleich auch Abgeordnete. Durch das dem englischen „junior minister" nachgebildete Institut des „parlamentarischen Staatssekretärs", der als besonders sachkundiger Abgeordneter „seinen" Minister bei der Erfüllung von Regierungsaufgaben zu unterstützen, namentlich im Parlament zu vertreten hat 10 , wird die institutionelle Verflechtung von Regierung und Parlament noch erheblich verstärkt. Ferner nehmen Mandatsträger mit besonderen Funktionen (Fraktions-, Ausschuß- und Arbeitskreisvorsitzende) nicht selten an Kabinettssitzungen teil. Umgekehrt wirken Regierungsvertreter nicht nur in den Ausschüssen, sondern auch im Ältestenrat mit. Zugespitzt formuliert, stellt somit die Regierung im parlamentarischen System theoretisch nichts anderes als eine Art „Ausschuß der Parlamentsmehrheit" dar. In der Staatspraxis führt diese Konnexität allerdings nicht zu einer weitgehenden 16 Unterwerfung der Regierung unter die Suprematie des Parlaments, sondern verstärkt eher umgekehrt die politische Abhängigkeit des Parlaments vom Regierungsapparat, welche sich ohnehin schon aus Informationsvorteilen, spezialisiertem Sachverstand und langfristigen Planungen der Ministerialbürokratie ergibt. Somit besteht nicht nur die formelle Organtrennung zwischen Legislative und Exekutive auch im parlamentarischen System fort (mit allen organisatorischen und verfahrensrechtlichen Konsequenzen), sondern auch ein politisches Spannungsverhältnis zwischen Parlament und Regierung, das gelegentlich sogar die Mehrheitsfraktion(en) einschließt. d) Gewaltenteilung

%wischen Regierung und

Opposition

Deshalb wäre es verfehlt, in der engen Verflechtung von Parlament und Regierung 17 unter den institutionellen Gegebenheiten des parlamentarischen Systems eine Durch9

R. THOMA Das Reich als Demokratie, in: G . Auschütz/R. Thoma (Hrsg.) Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1 1930, § 16, S. 1 9 6 .

10

Vg'· § 1 des Gesetzes über die Rechtsstellung der Parlamentarischen Staatssekretäre v o m 24. Juli 1 9 7 4 (BGBl. I, S. 1538).

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

544

brechung oder gar Beseitigung des Gewaltenteilungsprin^ips zu erblicken. Hier stehen sich zwar nicht mehr wie im konstitutionellen Staat Exekutive und Legislative, dafür aber Regierung und Opposition gegenüber. Während auf der einen Seite Regierung und parlamentarische Mehrheit zumindest nach außen hin eine weitgehende Handlungseinheit bilden, entzündet sich im parlamentarischen System der politische Konflikt zwischen der Regierung(skoalition) einschließlich der Mehrheitsfraktionen auf der einen Seite und der parlamentarischen Opposition andererseits. Die Spaltung der Machtblöcke geht also mitten durch das Parlament hindurch 11 . Man hat diesen Mechanismus der Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition vielfach als „Wechselspiel" bezeichnet und darin eine moderne Form funktioneller Gewaltenteilung gesehen 12 . 18

Richtig an dieser These ist zweifellos die Erkenntnis, daß die Aufgaben der Regierungsmehrheit) andere sind als die der Opposition: Während eine Regierung in der parlamentarischen Demokratie berufen ist, den Staat als Handlungs- und Wirkungseinheit auf begrenzte Zeit zu leiten und darin wegen ihres Vertrauensbedarfs im Interesse politischer Stabilität und Kontinuität notwendigerweise von den Mehrheitsfraktionen unterstützt werden muß, obliegt der parlamentarischen Opposition in erster Linie die Kritik und Kontrolle der Regierung sowie die Präsentation personeller und sachlicher Alternativen mit dem Ziel der Herbeiführung eines Machtwechsels (Alternanzsystem) 13 . Weil in dieser Bipolarität zugleich ein Stück Mäßigung, Hemmung und Kontrolle politischer Macht realisiert wird (checks and balances), kann man durchaus von einer neuen Form demokratischer „Gewaltenteilung" im funktionellen Sinn sprechen. Andererseits übersieht diese These jedoch, daß sich erstens die Aufgaben der Mehrheitsfraktion(en) keineswegs in einer bedingungslosen Unterstützung der Regierung erschöpfen und zweitens bei manchen Agenden durchaus noch das Gesamtparlament gegenüber der Regierung eigenständig in Erscheinung tritt (ζ. B. Finanzkontrolle, Rechnungsprüfung, Erledigung von Petitionen). So wird man insgesamt mit M E Y E R die parlamentarische Regierungsform als ein „gewaltenverschränkendes, unvollkommen zweipoliges System" 14 verstehen können. 3. Soziokulturelle Bedingungen a) Homogene

So^ialstruktur

1 9 Das parlamentarische System des „responsible government" 15 ist eine in hohem Grade rationale Herrschaftsform 16 , die erhebliche Anforderungen an die Einsichts" So bereits W. KÄGI Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, in: FS für H. Huber, 1961, S. 151 ff; H. PETERS Die Gewaltentrennung in moderner Sicht, 1954; neuerdings auch OPPERMANN Das parlamentarische System (Fn. 1) S. 64, mit der Warnung v o r einer „theoretisierenden Übersteigerung" dieses Befunds. 12 N. GEHRIG Gewaltenteilung zwischen Regierung und parlamentarischer Opposition, in: DVB1. 1971, S. 633 ff. 13 H.-P. SCHNEIDER Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1974, S. 403 ff, 407 ff. 14 So H. MEYER Das parlamentarische System (Fn. 1) S. 111. 15 Vgl. W. HENNIS Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: Politik als praktische Wissenschaft, 1968, S. 48 ff (54). 16 Dazu M. WEBER Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, 1918.

§13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

545

fáhigkeit, das Abstraktionsvermögen und die Kompromißbereitschaft der politisch aktiven Teile in der Bevölkerung stellt. Deshalb setzt sein Funktionieren eine relativ homogene Soptais truktur voraus, d. h. gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedingungen, die einerseits nicht den Kampf um das Existenzminimum oder um ein Mindestmaß an Menschenrechten erfordern (Entwicklungsländer), also einen gewissen Wohlstand der Bevölkerung garantieren, zum anderen aber weder die Verfestigung des sozialen status quo noch die Austragung von Konflikten im Wege antagonistischer „Klassenkämpfe" begünstigen. Vielmehr beruht das parlamentarische System wesentlich auf dem Umstand, daß die unterschiedlichen Interessen und Bestrebungen innerhalb des Volkes prinzipiell ausgleichsfähig bleiben und aktuell über längere Zeit hinweg nach dem Mehrheitsprinzip eine verschieden starke Förderung der einzelnen Bevölkerungsgruppen durch die jeweilige Regierung vertragen. Nur so ist zu gewährleisten, daß die Vorstellung vom Abgeordneten als „Ver- 20 treter des ganzen Volkes" (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) glaubwürdig bleibt und sich nicht zur bloßen Fiktion verflüchtigt. Tendenziell verlangt dies eine annähernd gleichmäßige Repräsentanz aller gesellschaftlichen Kräfte im Parlament, wo der Interessenausgleich verbindlich stattfinden soll, wenigstens aber die parlamentarische Minderheit (Opposition) Mehrheitsentscheidungen respektiert. Als wichtiger Bestandteil der politischen Kultur eines Volkes lebt das parlamentarische System schließlich von der Vorstellung, daß gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur reformbedürftig sind, sondern im Wege der gewaltfreien geistig-politischen Auseinandersetzung auch tatsächlich verändert werden können. Dies wiederum bedingt eine freiheitliche Verfassungskultur, in der sich die Abneigung der Bevölkerung gegen bürokratischautoritäre Herrschaftsformen mit der Bereitschaft zur aktiven Teilnahme am politischen Geschehen im demokratischen Prozeß verbindet. b) Bipolares

Parteiensystem

Geradezu unentbehrliche Sozialfaktoren, von deren Existenz und Effizienz die Funk- 21 tionsfähigkeit des parlamentarischen Systems wesentlich abhängt, sind die politischen Parteien. Sie wirken nicht nur an der Willensbildung des Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens mit, sondern gleichen unterschiedliche Interessen und Bestrebungen bereits im vorparlamentarischen Raum aus, tragen die Ergebnisse dieses demokratischen Prozesses über ihre Fraktionen in das Parlament als dem Ort parteibezogener staatlicher Willensbildung hinein und vermitteln schließlich die Entscheidungen der Staatsorgane durch politische Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit den betroffenen Bürgern. Darüber hinaus sind sie maßgeblich an der Kandidatenaufstellung zu den Parlamentswahlen beteiligt. Nach der Wahl erleichtern sie unter den Bedingungen der Massendemokratie die parlamentarische Mehrheitsbildung und nehmen insbesondere auf das Zustandekommen der Regierung Einfluß. Soweit die Parteien an der Regierung beteiligt sind (Mehrheitsparteien), stellen 22 sie ein wichtiges Bindeglied zwischen Legislative und Exekutive dar, welches die Regierungspolitik vorbereiten und koordinieren hilft. Als Parteien der Minderheit (Opposition) sind sie Hauptträger der parlamentarischen Kritik und Regierungskon-

546

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

trolle. Im Zweiparteiensystem erfolgt die Mehrheitsbildung und damit zugleich die Entscheidung über das Schicksal der Regierung bereits durch die Parlamentswahl (Mehrheitswahlrecht), während im Vielparteiensystem zur Regierungsbildung noch nachträgliche Koalitionsverhandlungen notwendig sind. Der Streit darüber, ob das Zwei-, Mehr- oder Vielparteiensystem der parlamentarischen Regierungsform besser entspricht, ist müßig: bei sämtlichen Varianten kann — je nach der inneren Struktur der Parteien und dem politischen Gewicht ihrer Mandatsträger — das Parlament mehr oder weniger im Zentrum staatlicher Willensentschließung stehen17. Es kommt allein auf die Fähigkeit der Parteien zur Mehrheitsbildung an, welche allerdings durch ein Zweiparteiensystem begünstigt wird. Insgesamt sind also die unterschiedlichen Erscheinungsformen des parlamentarischen Systems durch die jeweilige „Parteienkultur" maßgeblich mitbestimmt18. c) Pluralistisches

Verbändewesen

23 Zur gesellschaftlichen Ambiance des parlamentarischen Systems gehören ferner die Verbände und Interessengruppen™. Ähnlich wie die Parteien, allerdings beschränkt auf ein partikulares Anliegen, nehmen auch sie auf die staatliche Willensbildung Einfluß, und zwar entweder direkt durch ihnen nahestehende Abgeordnete oder — weit häufiger — indirekt über die Ministerialbürokratie. Voraussetzungen einer wirksamen parlamentarischen oder außerparlamentarischen Interessenvertretung sind jedoch ein relativ hoher Organisationsgrund und das pluralistische Gleichgewicht der Verbände. Werden bestimmte Gruppen privilegiert, hingegen andere, schwer organisierbare Interessen strukturell benachteiligt, kann das parlamentarische System insgesamt Schaden nehmen. 24

Die gleichen desintegrierenden Wirkungen treten auf, wenn sich innerhalb der Verbände die Funktionärseliten verselbständigen und gemeinsam mit bürokratischen Oligarchien in Parlament und Regierung ein undurchdringliches Machtkartell bilden, dessen Bestreben vorwiegend auf Herrschaftssicherung und Besitzstandswahrung ausgerichtet ist. Nicht zuletzt kann die Herauslösung der Interessengruppen aus dem politischen Willensbildungsprozeß und ihre Ausstattung mit autonomen Entscheidungsbefugnissen (Wirtschafts- und Sozialräte) zu schweren Beeinträchtigungen des parlamentarischen Systems führen, bis hin zu seiner Aufhebung durch eine ständestaatliche Ordnung (z.B. Österreich im Jahre 1934). Unter diesem Gesichtspunkt wird man neuerliche Tendenzen zum „Neokorporatismus" in der Bundesrepublik (dazu unten Rdn. 42 ff) sehr sorgsam beobachten müssen.

17 18 19

So auch VON BEYME Die parlamentarischen Regierungssysteme (Fn. 7) S. 43. Dazu D. GRIMM Parlament und Parteien, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 6, S. 199 ff. Grundlegend TH. ESCHENBURG Herrschaft der Verbände?, 2. Aufl., 1963; J . H. KAISER Repräsentation organisierter Interessen, 1954; K. VON BEYME Interessengruppen in der Demokratie, 1969; R. STEINBERG Das Verhältnis der Interessenverbände zu Regierung und Parlament, in: Z R P 1972, S. 207 ff; ders., Parlament und organisierte Interessen, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 7, S. 217 ff.

§ 13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

d) Kooperative

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Staatsleitung

Mit Recht wird eine Regierungsform nicht nur daran gemessen, wie weit sie sozialen 25 Anforderungen zu entsprechen und wieviel Konfliktpotential sie zu verarbeiten imstande ist, sondern vor allem, welche Integrationsleistungen und Konsensresultate sie zu erbringen vermag. Deshalb muß sich eine Analyse der soziokulturellen Bedingungen des parlamentarischen Systems auch auf die Verhaltensweisen und Entscheidungsmunster der Staatsleitung (government) erstrecken. Charakteristisch für die Leitungsstruktur einer parlamentarischen Demokratie ist zwar die zentrale Stellung des Parlaments als politisches Forum der Nation, nicht aber dessen Allmacht oder Allzuständigkeit. Vielmehr korrespondiert mit diesem Parlamentszentrismus, der keineswegs „Parlamentsherrschaft" oder gar „Parlamentsdiktatur" bedeutet, in der Regel die herausgehobene Position des Regierungschefs, welcher zugleich eine Führungsrolle in der stärksten Parlamentspartei spielt und die Richtlinien der Politik bestimmt (vgl. Art. 65 GG). Auf der anderen Seite ist der Oppositionsführer meist auch Vorsitzender der Minderheitspartei. Für die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems, insbesondere für 26 seine Integrationswirkung und Uberzeugungskraft, kommt es entscheidend auf die Homogenität und Solidarität innerhalb der Staatsleitung an. Diese Voraussetzungen sind im Einparteienkabinett eher vorhanden oder leichter zu schaffen als bei Koalitionsregierungen in Vielparteiensystemen, wo die Einigkeit durch mühsame Verhandlungen außerhalb des Parlaments immer neu hergestellt werden muß. Allerdings tendieren Einparteienregierungen auch stärker zu „Flügelbildungen" in Partei und Fraktion, während Koalitionskabinette in der Regel auf eine strengere Fraktionsdisziplin vertrauen können. Daher treffen häufig homogene Kabinette mit inhomogenen Verhältnissen in den Mehrheitsfraktionen zusammen und umgekehrt. Schließlich hängen die Integrations- und Konsenswirkungen des parlamentarischen Systems wesentlich von der Existenz einer loyalen, konstruktiven und prinzipiellen Opposition ab, die mit allen ihr zu Gebote stehenden rechtlichen und politischen Mitteln den Machtwechsel anstrebt und sich nicht — wie im Falle Großer Koalitionen — auf eine bloße „Bereichsopposition" 20 beschränkt. 4. Historische Entwicklung a) Konstitutionelle

Monarchie

Während sich in England die Form der Kabinettsregierung (Wahl des Premiermi- 27 nisters durch das Parlament) schon im späten 18. Jahrhundert entwickelt hat, konnte sich das parlamentarische System in Deutschland erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchsetzen. Der Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts stand einer allmählichen Parlamentarisierung der Fürsten- bzw. Reichsgewalt zwar nicht prinzipiell entgegen; die Einführung des parlamentarischen Systems scheiterte jedoch im Vormärz an

20

Dazu O. KIRCHHEIMER Wandlungen der politischen Opposition, in: Politik und Verfassung, 1964, S. 123 ff (135).

3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

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staatstheoretischen Grundüberzeugungen („monarchisches Prinzip"), im Kaiserreich an verfassungsrechtlichen Hindernissen (föderatives System, Personalunion von Reichskanzler und preußischem Ministerpräsidenten). Gleichwohl legte B I S M A R C K besonderen Wert auf die Zustimmung der bürgerlichen Parteien im Reichstag zu seiner Innen- und Außenpolitik, verhandelte darüber immer häufiger mit den Parteiführern und „regierte", zunächst durch ein Bündnis aus Nationalliberalen, Altliberalen und Freikonservativen unterstützt, von 1878 „mit wechselnden Mehrheiten" 21 . 28

Trotz solcher verfassungskulturell günstigen Bedingungen (Mehrheitswahlrecht, Parteienbildung, Parlamentarisierung der Kabinettspolitik) und einem Reichskanzler mit besonderer Sensibilität für parlamentarische Verfahrensweisen blockierten ein tiefverwurzeltes Mißtrauen aller Reichstagsfraktionen gegenüber dem kaiserlichen Machtkartell von Militär und Bürokratie sowie — entsprechend der antagonistischen Sozialstruktur — die Existenz einer heterogenen Fundamentalopposition jede Entwicklung zur parlamentarischen Regierungsform in der Staatspraxis. Auch die konstitutionelle Staatstheorie widersetzte sich teils aufgrund von Fehldeutungen des englischen Parlamentarismus, teils aus systematischen Erwägungen (Gewaltenteilung = Organtrennung) dem Gedanken einer politischen Verbindung von Regierung und parlamentarischer Mehrheit im Wechselspiel mit der Opposition und beschränkte sich auf die Forderung nach erweitertem Minderheitenschutz.

29

Dennoch begegnet man schon im Kaiserreich parlamentarischen Vorgängen: Sowohl der Sturz B I S M A R C K S (1890) als auch der Rücktritt v. BÜLOWS (1909) wurden unvermeidlich, nachdem eine bestimmte Politik im Reichstag keine Mehrheit gefunden hatte. Schließlich wurde noch kurz vor der Abdankung des Kaisers am Ende des Ersten Weltkriegs von der Regierung des Prinzen M A X VON BADEN ein letzter politischer Rettungsversuch unternommen und, um die Parteiführung an der Regierung beteiligen zu können, am 28. Oktober 1918 das parlamentarische Regierungssystem in Deutschland durch Reichsgesetz eingeführt. b) Weimarer

Republik

30 Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 hat — ebenso wie die Verfassungen der deutschen Einzelstaaten — das parlamentarische System erstmals konstitutionell verankert. Gemäß Art. 54 WRV bedurften der Reichskanzler und die Reichsminister zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags; jeder von ihnen mußte zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß das Vertrauen entzog. Allerdings sah die Weimarer Verfassung neben dem parlamentarischen Weg der Regierungsbildung über Reichstagswahlen und Fraktionsmehrheiten einen zweiten Legitimationsstrang vor: die plebiszitär begründete Regierungsmitverantwortung des Staatsoberhaupts. Der vom Volk direkt gewählte und von Regierung wie Parlament unabhängige Reichspräsident war als Gegengewicht zu dem ebenfalls aus Volkswahlen hervorgegangenen Reichstag und der von der Mehrheit des Reichstags 21

E. R. HUBER Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4, 1969, S. 149 ff.

§13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

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getragenen Reichsregierung konzipiert. Der Reichskanzler wurde nach Art. 53 WRV vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen. Darüber hinaus benötigte er nach Art. 54 WRV das Vertrauen des Reichstags, den wiederum der Reichspräsident nach Art. 25 WRV auflösen konnte. So bezeichnete bereits THOMA das parlamentarische System der Weimarer Re- 31 publik als ein „hinkendes", welches unter einer doppelten Lähmbarkeit leidet: unter einer legislativen Lähmung, insofern dem Parlament die Gesetze durch den Einspruch des Reichsrats zerschlagen werden könnten, sowie unter einer administrativen Lähmung, wenn der Reichspräsident in Konfliktabsicht der Reichsregierung die Unterzeichnung der von ihr vorgeschlagenen Präsidialakte verweigern wollte 22 . Deshalb konnte das Gegengewichtsmodell der Weimarer Verfassung, das aus einer Mischung von Elementen der parlamentarischen Regierungsform und des Präsidialsystems bestand, nur solange funktionieren, wie sich der Reichspräsident und die Reichstagsmehrheit (sofern eine solche überhaupt zustande kam) auf die Person des Reichskanzlers und dessen Politik einigten. Starke soziale und ideologische Spannungen, eine durch konstitutionalistische Gleichgewichtsvorstellungen fehlgeleitete Parlamentarismustheorie sowie das in der Parlamentspraxis dominierende Proporzdenken der Parteien und Fraktionen verhinderten jedoch eine uneingeschränkte Parlamentarisierung der Reichsgewalt. Das „hinkende" parlamentarische System begünstigte seinerseits in Verbindung 32 mit dem Verhältniswahlrecht das Entstehen und Anwachsen extremistischer Massenparteien auf dem linken und rechten Flügel, welche sich lediglich in der Ablehnung des demokratischen Staates einig waren und die Mehrheitsbildung im Reichstag zunächst erschwerten, später unmöglich machten. Von da an war der Dauerkonflikt zwischen dem Reichspräsidenten und der Reichsregierung unvermeidbar — eine Auseinandersetzung, die der Reichspräsident aufgrund seiner Befugnis zur Parlamentsauflösung und mit Hilfe des Notverordnungsrechts (Art. 48 W R V ) letztlich für sich entscheiden konnte, die dann allerdings über jene Formen autoritärer Herrschaft („Pseudoparlamentarismus") unmittelbar in den totalitären Staat mündete. c) Bundesrepublik

Deutschland

Diese in der Weimarer Verfassung angelegten „Konstruktionsfehler" sollten im 33 Interesse größerer Regierungsstabilität für die Bundesrepublik vermieden werden. Deshalb befürwortete zunächst eine starke Gruppe von Mitgliedern sowohl des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee als auch später im parlamentarischen Rat das bayerische Modell der „Regierung auf Zeit". Damit hätte man freilich, zumindest vom praktischen Ergebnis der Unabsetzbarkeit der Regierung her, die Machtwechselchance der Opposition auf Parlamentswahlen beschränkt, was zweifellos zu einer weitgehenden Erstarrung des parlamentarischen Lebens hätte führen können. Um hingegen das parlamentarische Prinzip voll zu verwirklichen, d. h. um zu gewähr-

22

R. THOMA Die rechtliche Ordnung des parlamentarischen Regierungssystems, in: H d B D S t R Bd. 1 (Fn. 9) § 4 3 , S. 503 ff.

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3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

leisten, daß die Bundesregierung nicht nur auf parlamentarischem Wege zustandekommt, sondern ebenso auch wieder abberufen werden kann, lehnte der Verfassungskonvent den Vorschlag einer „Regierung auf Zeit" überwiegend ab und entschied sich für die Einführung des sog. „konstruktiven Mißtrauensvotums" (Art. 90 Abs. 1 des Herrenchiemseer Entwurfs, Art. 67 GG). Für die Berufung zum Bundeskanzler sollte also grundsätzlich das Vertrauen der Parlamentsmehrheit zwar „ausreichen, aber auch unerläßlich" sein23. 34 Nachdem im Prozeß der Verfassunggebung die Vorentscheidung für ein parlamentarisches System mit konstruktivem Abberufungsvorbehalt bereits auf Herrenchiemsee gefallen war, blieb für den Parlamentarischen Rat im Organisationsbereich neben bundesstaatlichen Fragen praktisch nur noch das künftige Wahlrecht zu regeln übrig. Zwar hatte sich insbesondere der Abg. Z I N N (SPD) schon im Organisationsausschuß noch einmal nachdrücklich für ein Regierungssystem mit funktionsfähiger parlamentarischer Opposition ausgesprochen; ähnlich waren später im Ausschuß für Wahlrechtsfragen auch die Abg. SCHRÖTER (CDU) und K R O L L (CSU) unter Hinweis auf die Notwendigkeit einer starken konstruktiven und homogenen Opposition in der parlamentarischen Demokratie für die Übernahme des englischen Mehrheitswahlrechts eingetreten. Dennoch glaubte man im Hauptausschuß ebenso wie im Plenum des Parlamentarischen Rates überwiegend, alle der Weimarer Verfassung angelasteten Schwierigkeiten damaliger Regierungsbildung allein durch die „Entmachtung" des Bundespräsidenten sowie durch die Einführung des „konstruktiven Mißtrauensvotums" (beschränkt auf den Bundeskanzler) behoben zu haben, und lehnte im Ergebnis nicht nur das relative Mehrheitswahlrecht ab, sondern verzichtete sogar auf die ursprünglich vorgesehene Verankerung des parlamentarischen Regierungssystems in Art. 20 Abs. 1 GG24. 35 Daß sich gleichwohl der Parlamentarismus in der Bundesrepublik rasch festigte und inzwischen zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Verfassungskultur des Grundgesetzes geworden ist, beruhte nicht nur auf jenem nach Weimarer Erfahrungen überraschenden Maß an Regierungsstabilität, welches er zu erzeugen vermochte, sondern auch auf dem loyalen Verhalten einer in den ersten Jahren des Staatsaufbaus durchaus prinzipiellen parlamentarischen Opposition25, die den Bundestag in den Mittelpunkt des politischen Geschehens rückte.

II. Ausgestaltung des parlamentarischen Systems im Grundgesetz 1. Parlamentarische Demokratie 36 Obwohl das Grundgesetz den Begriff „parlamentarisches Regierungssystem" nicht verwendet und nur an einer Stelle eher beiläufig von „parlamentarischer Kontrolle" 23

24 25

So der Bericht des Verfassungsausschusses der Ministerpräsidentenkonferenz über den „Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee", 1948, S. 36. Dazu H.-P. SCHNEIDER Die parlamentarische Opposition (Fn. 13) S. 65 f, insbes. S. 66, A n m . 85. Dazu M. SEBALDT Innovation durch Opposition. Das Beispiel des Deutschen Bundestages 1 9 4 9 - 1 9 8 7 , in: ZParl. 23 (1992) S. 2 3 8 f f .

§ 13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

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spricht (vgl. Art. 45 b GG), hat es in der Sache mit der Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag (Art. 63 GG), dem Ministerernennungsrecht und der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers (Art. 64, 65 GG) sowie vor allem mit der politischen Verantwortlichkeit der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag (Art. 67, 68 in Verb, mit Art. 69 Abs. 1 GG) die wichtigsten Elemente des parlamentarischen Systems verfassungsrechtlich fixiert. Weil danach die Existenz der Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängt, wird die Volksvertretung als oberstes Verfassungsorgan betrachtet, das sich zugleich im Gravitationszentrum des politischen Kräftespiels befindet26. Insofern die Volksvertretung ihrerseits aus unmittelbaren Wahlen hervorgeht, durch die sich das Prinzip der Volkssouveränität realisiert (vgl. Art. 20 Abs. 2 GG), ist das parlamentarische Regierungssystem so eng mit der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) verbunden, daß man die Bundesrepublik Deutschland ihrer Staatsform nach zusammenfassend als parlamentarische Demokratie bezeichnet27. Damit stellt sich das Problem, ob dem Demokratieprinzip in Art. 20 Abs. 1 37 GG zugleich auch das parlamentarische System dergestalt innewohnt, daß es an der Unveränderlichkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG teilhat. Unter Hinweis auf die verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten eines demokratischen Regierungsaufbaus (Parlaments-, Präsidial-, Direktorialsystem) sowie mit Rücksicht auf den möglichen Einbau plebiszitärer Formen der Willensbildung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2: „Abstimmungen"; vgl. auch Art. 29 GG) wird diese Frage jedoch zu Recht verneint. Weder die Idee der Volkssouveränität noch das Repräsentationsprinzip verlangen sachnotwendig die Bindung der Regierung an das Vertrauen des Parlaments28. Allerdings muß der unmittelbar demokratisch legitimierten Volksvertretung ein Kembestand an originären Entscheidungs- und Kontrollbefugnissen erhalten bleiben. Darüber hinaus gehört auch die politische — nicht zwingend parlamentarische — „Verantwortlichkeit der Regierung" zu den fundamentalen Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung29. a) Parlament und

Repräsentativsystem

aa) Das parlamentarische System des Grundgesetzes beruht auf dem Gedanken der 38 Repräsentation insofern, als die vom Volk ausgehende Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird (Art. 20 Abs. 2 GG). Das Handeln dieser Organe, insbesondere des unmittelbar gewählten Parlaments, erfolgt „in Vertretung" oder „im Namen des Volkes" dergestalt, daß deren Maßnahmen dem 26

27

28

29

Vgl. H. MEYER Die Stellung der Parlamente in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 4, S. 117 ff. Vgl. W. VON SIMSON/M. KRIELE Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, in: V V D S t R L Bd. 29 (1971) S. 3 ff, 46 ff. R. HERZOG in: T. Maunz/G. Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 20 (1978) Rdn. 81 f; vgl. auch T. Maunz/G. Dürig, in: ebd., Art. 79 Abs. 3 (1960) Rdn. 47 Fn. 1. BVerfGE 2, 1 (13); 5, 85 (140).

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Volke zugerechnet, von ihm als legitim anerkannt und für es mit Verbindlichkeit ausgestattet werden 30 . Dieser „Legitimität" erzeugende Zurechnungsvorgang hat seine Grundlage in Wahlen und Abstimmungen, wobei die plebiszitären Formen der Willensbildung im Grundgesetz auf ein Minimum reduziert sind 31 . Da die Aussage, das Parlament „repräsentiere" das Volk, bilde die „Volksvertretung", lediglich einen politischen und nicht einen rechtlichen Sachverhalt bezeichnet 32 , war das Repräsentationsprinzip als Bestandteil des modernen Demokratiebegriffs stets ideologischen Deutungsversuchen ausgesetzt.

39

Im Anschluß an B U R K E S Idee der „nation" als einer Honoratiorengemeinschaft von Besitz und Bildung erblickte man das „Wesen der Repräsentation" in einer Art „höherem geistigen Sein", das in der Wertsphäre verhaftet sei und die wahre Natur eines Volkes zur Erscheinung bringe 33 . Da der Repräsentant nicht nur bloßer „Vertreter" des Volkes sei, sondern in einem werthaften Sinne dessen politische Gesamtexistenz verkörpere, müsse er seine Entscheidungen völlig frei und ungebunden an bestimmte Aufträge oder Interessen treffen können. Dies aber sei nur im liberalen Honoratiorenparlament des 19. Jahrhunderts möglich gewesen; mit dem Auftreten von Parteien in der modernen Massendemokratie werde der Repräsentationsgedanke durch das Element der plebiszitären Identität von Regierenden und Regierten verdrängt 34 , so daß letztlich auch das Parlament zu einem bloßen Hilfsorgan der Parteien verkümmere.

40

Diese scharfe Entgegensetzung des liberalen Prinzips der Repräsentation und des demokratischen Prinzips der Identität entspricht jedoch weder der politischen Wirklichkeit, noch findet es im Verfassungstext des Grundgesetzes eine Stütze. Demokratische Herrschaft bedarf stets erneuter Legitimation durch periodische Wahlen, die maßgeblich von den Parteien organisiert werden und bei denen die verschiedenen politischen Gruppen und Interessen um die Mehrheit der Stimmen konkurrieren. Dieser Vorgang und sein Ergebnis, die Kreation von Abgeordneten und die Schaffung des Parlaments, können mit einem mystifizierenden Repräsentationsbegriff ebensowenig erklärt werden wie mit einer weitgehend fiktiven Identitätsvorstellung. Parlamentarische Herrschaft bedarf auch und gerade in der Massendemokratie einer legitimations- wie kontrollfähigen, d. h. politisch begrenzten und gebundenen „Repräsentation" organisierter Parteiinteressen 35 . In diesem Sinne besitzt die Bundesrepublik noch heute den Charakter einer repräsentativen Demokratie.

30 31

32 33

34 35

M. WEBER Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. I, 4. A u f l . , 1 9 5 6 , Kap. III, § 2 1 , S. 171 ff. Vgl. E. FRAENKEL Die repräsentative und die plebiszitäre K o m p o n e n t e im demokratischen Verfassungsstaat, 1958. P. BADURA in: K o m m e n t a r zum Bonner Grundgesetz, A r t . 3 8 (Zweitbearbeitung 1966) Rdn. 23. G . LEIBHOLZ Art. „Repräsentation", in: E v S t L 1966, Sp. 1 8 5 9 ; vgl. auch DENS. Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. A u f l . , 1966. C. SCHMITT Verfassungslehre, 5. A u f l . , 1970, S. 2 3 4 f. In A n l e h n u n g an den Titel v o n J. H. KAISER (Fn. 19). Vgl. zum ganzen auch H. HOFMANN/ H. DREIER Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 5 , S. 1 6 5 ff.

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bb) Nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz GG sind die Abgeordneten „Vertreter 41 des ganzen Volkes" und nicht dessen Repräsentanten in jenem oben beschriebenen geistig-existentiellen Verständnis, das allenfalls dem Honoratiorenparlament des 19. Jahrhunderts entsprochen haben mag 36 . Während mit der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts das System der Nationalrepräsentation (Parlamentssouveränität) durch die egalitären Formen der Parteienrepräsentation (Volkssouveränität) abgelöst worden ist, hat sich auch das parlamentarische System gewandelt: Die Parlamente stellen demokratische „Volksvertretungen", die Kabinette „Parteiregierungen" dar. Dabei wird schon mit der Parlamentswahl zugleich auch über die künftige Regierung entschieden. Freilich erlaubt gerade die Eigenart des Parlaments als „Volksvertretung" dem einzelnen Abgeordneten nur sehr begrenzt die Wahrnehmung partikularer (privater oder gar eigener) Interessen. Die auch in der Parteiendemokratie keineswegs völlig sinnentleerte Formel von der Vertretung „des ganzen Volkes" verpflichtet ihn vielmehr, bei seinen Entscheidungen stets auf das Wohl der Allgemeinheit, d. h. aller gesellschaftlichen Gruppen und Schichten in der Bevölkerung, Bedacht zu nehmen und gegebenenfalls sogar unter Zurückstellung von Parteizielen einem vertretbaren Kompromiß zuzustimmen. Nur so läßt sich letztlich die Vorstellung rechtfertigen, daß der Abgeordnete sein Mandat weder kraft Vollmacht besitzt, noch im Wege der Delegation erlangt hat, sondern als Volksvertreter aus eigenem, mit dem Wahlakt originär begründeten Recht wahrnimmt. cc) Bei der Ausübung ihres Mandats sind die Abgeordneten „an Aufträge und 42 Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" (Art. 38 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz GG). Man entnimmt dieser Regelung vielfach den Grundsatz des freien Mandats", welcher zugleich ein Verbot des „imperativen Mandats" enthalte und damit etwa der Einführung des Rätesystems prinzipiell entgegenstehe. Hierbei wird häufig übersehen, daß nicht nur der Freiheitsbegriff vieldeutig ist, sondern sich auch der Abgeordnete selbst einer Vielzahl persönlicher und sachlicher Zwänge ausgesetzt sieht, die ihm eine beliebige Mandatsführung nach eigenem Gutdünken nahezu unmöglich machen 37 . Im Vordergrund steht hier die politische Bindung des Abgeordneten an „seine" Partei und Fraktion (Fraktionsdisziplin) nicht weniger als dessen rechtliche Mediatisierung durch Fraktionssatzungen und parlamentarische Geschäftsordnung, die beispielsweise das Antragsrecht in allen wichtigen Fragen dem Quorum der Mindestfraktionsstärke unterwirft (vgl. §§ 75, 76 GO-BT). Ist aber das „freie Mandat" heute weitgehend zur Fiktion geworden, sollte auch der mißverständliche Begriff vermieden und lediglich vom parlamentarischen Mandat gesprochen werden. Dennoch hat damit die Vorschrift des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auch in der 4 3 modernen Parteiendemokratie keineswegs ihre Bedeutung verloren. Als spezifische Schutznorm sichert sie in erster Linie die Unabhängigkeit und Unverantwortlich/zeit des Abgeordneten gegenüber parlamentsfremden politischen Einflüssen, gleichgültig ob 36

37

Dazu grundlegend, P. BADURA Die Stellung des Abgeordneten nach dem Grundgesetz und den Abgeordnetengesetzen in Bund und Ländern, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 15, S. 489 ff. So mit Recht N. ACHTERBERG Das rahmengebundene Mandat, 1975, S. 16 ff.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

sie aus dem Bereich der Exekutive herrühren, von Verbänden oder Interessengruppen stammen oder durch die Parteien geltend gemacht werden. Keinem Abgeordneten darf aus seinem Verhalten im Parlament ein politischer Nachteil erwachsen (z. B. Mandatsverlust). Insofern führt die Unabhängigkeit des Mandats zu einer Verstärkung des parlamentarischen Repräsentativstatus und verbürgt sogar gegenüber Mehrheitsentscheidungen in den Fraktionen ein Stück demokratischen Minderheitsschutzes38. Selbst Regierungsmitglieder, die zugleich Abgeordnete sind, können in ihrer parlamentarischen Stimmabgabe nicht durch Kabinettsbeschlüsse gebunden werden. Vor allem aber setzt Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG einer weiteren parteipolitischen „Übermächtigung" des Mandats, dessen zunehmend imperativer Charakter wenigstens de facto kaum mehr zu übersehen ist, auch in der Verfassungspraxis unüberwindliche Schranken. Wenn sich Abgeordnete nach eigenem Bekunden immer häufiger genötigt sehen, aus bloßer Partei-, Fraktions- oder gar nur Regierungsräson gegen ihre Uberzeugung zu stimmen, ist diese verfassungsrechtliche Grenze bereits überschritten. 44 Damit wird dem Abgeordneten jedoch kein Freibrief für willkürliches Handeln erteilt. Denn obwohl ihm weder das Volk als ganzes noch der einzelne Wähler Weisungen erteilen können, ist er jeweils seiner „Bezugsgruppe", welcher er das Mandat verdankt (Parteien, Wählervereinigungen, Verbände, Bürgerinitiativen, sonstige „Hausmacht"), für dessen sach- und interessengerechte Wahrnehmung zweifellos politisch verantwortlich. So kann ihn beispielsweise auch die Berufung auf das Gewissen nicht von der Pflicht zur öffentlichen Rechtfertigung seiner Entscheidungen, zumindest gegenüber der ihn tragenden Klientel, entheben. Im Sinne eines solchen ,,¡gruppengebundenen Mandats" dient die Abgeordnetenfreiheit letztlich der Intensivierung pluralistischer Interessenrepräsentation — auch gegenüber gruppenfremden Partei- oder Fraktionseinflüssen — und wirkt durch Kräftigung der unmittelbaren Politiker-Wähler-Beziehungen zugleich jener oft beklagten „Parteiverdrossenheit" ebenso wie der Realitätsferne des parlamentarischen Betriebs entgegen. 45 dd) Kraft der Unabhängigkeit des parlamentarischen Mandats, das im Grundgesetz auch „Amt" genannt wird (vgl. Art. 48 Abs. 2 Satz 1 GG), besitzt der Abgeordnete einen „eigenen verfassungsrechtlichen Status" und ist zugleich ein „mit eigenen Rechten ausgestatteter Teil des Parlaments"39. Die verfassungsrechtliche Stellung des Abgeordneten betrifft neben den sich aus Art. 38 Abs. 1 GG ergebenden Befugnissen den Schutz des Mandats bei seiner Erlangung, während seiner Ausübung und in seinem Bestand gegen unfreiwilligen Verlust. Wer sich um ein Parlamentsmandat bewirbt, darf daran nicht gehindert werden, ist gegen Kündigung oder Entlassung geschützt (Art. 48 Abs. 2 GG) und hat Anspruch auf den zur Vorbereitung seiner Wahl erforderlichen Urlaub (Art. 48 Abs. 1 GG). Ob diese Regelung auch für Hafturlaub gilt, ist umstritten, im Prinzip aber zu bejahen, weil sonst das passive 38

39

So K . HESSE Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat, in: V V D S t R L Bd. 17 (1959) S. 31 f. Vgl. B V e r f G E 2, 143 (164); 4, 144 (148 f) in std. Respr.; neuerdings grundlegend B V e r f G E 80, 188 (217 ff).

§ 13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

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Wahlrecht eines Strafgefangenen unverhältnismäßig beschränkt wäre. Als gewählter Mandatsträger hat der Abgeordnete Anspruch auf eine angemessene, seine Existenz sichernde Entschädigung (Art. 48 Abs. 3 GG), deren Höhe sich heute am Leitbild des „Berufspolitikers" zu orientieren hat40. Ob allerdings die verfassungsgerichtliche Vorstellung vom Mandat als „full time job" auf jede Abgeordnetentätigkeit zutrifft, darf füglich bezweifelt werden. Hier ist im Unterschied zum Bundestag für die Länder- und Stadtparlamente je nach dem konkreten Zeitaufwand zu differenzieren, und zwar auch mit diätenrechtlichen Konsequenzen. Femer genießt der Abgeordnete die Rechte der Indemnität und Immunität, d. h. 46 er darf weder wegen einer Abstimmung oder Äußerung im Parlament gerichtlich oder dienstlich zur Rechenschaft gezogen, noch ohne Genehmigung des Parlaments überhaupt strafrechtlich verfolgt werden (Art. 46 GG)41. Schließlich wird jedem Mandatsträger ein Zeugnisverweigerungsrecht bezüglich der Personen und Tatsachen eingeräumt, mit denen er in amtlicher Eigenschaft befaßt worden ist (Art. 47 GG). Während diese Rechte im konstitutionellen Fürstenstaat für die Sicherung des Mandats von geradezu existentieller Bedeutung waren, haben sie heute unter den Bedingungen des demokratischen Parlamentarismus erheblich an Gewicht verloren. Darüber hinaus ergeben sich weitere Rechte des Abgeordneten als Teil des Parlaments aus der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, darunter vor allem das Stimm-, Rede- und Antragsrecht (vgl. §§ 2 7 - 3 7 , 4 5 - 5 3 , 7 5 - 7 7 TB-GO). Ohne gewichtige, an der Funktionsfähigkeit des Parlaments orientierte Gründe darf auch ein fraktionsloser Abgeordneter nicht von der Mitwirkung am parlamentarischen Betrieb ausgeschlossen werden.42 Er hat Zugang zu mindestens einem Ausschuß und dort auch Antrags- und Rederecht, nicht jedoch zwingend das Stimmrecht und auch keinen Anspruch auf eine den Fraktionszuschüssen vergleichbare Finanzierung. Eine Verletzung seines verfassungsrechtlichen Status sowie der parlamentarischen Rechte kann der Abgeordnete im Wege des Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG). ee) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, freier, 47 gleicher und geheimer Wahl unmittelbar vom Volk gewählt (vgl. Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 GG). Damit trägt das Grundgesetz dem Prinzip der „Volkssouveränität" Rechnung, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und von ihm in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird (Art. 20 Abs. 2 GG). Es gehört also zu den grundlegenden Prinzipien des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates, daß die Volksvertretungen in regelmäßigen, im voraus bestimmten Abständen durch Wahlen abgelöst und legitimiert werden. Daher ist die Veranstaltung periodischer Wahlen eine öffentliche Aufgabe; ihre Durchführung obliegt den verfaßten Staats40

41

42

So B V e r f G E 40, 296 (312 ff). Vgl. auch H.-H. v. ARNIM Entschädigung und Amtausstattung, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 16, S. 523 ff. Vgl. H. H. KLEIN Indemnität und Immunität, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 17, S. 555 f f ; H . BUTZER Immunität im demokratischen Rechtsstaat, Berlin 1991. Vgl. B V e r f G E 80, 188 (221 ff). Vgl. auch J . KÜRSCHNER Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, Berlin 1984.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Organen, welche die Voraussetzungen zu schaffen und die für den Wahlvorgang erforderlichen Einrichtungen und Mittel zur Verfügung zu stellen haben. Freilich darf die demokratische Funktion der Parlamentswahl nicht auf den Zeitpunkt der Stimmabgabe reduziert werden. Wahlkampf und kontroverse politische Auseinandersetzung unter konkurrierenden Parteien (Art. 21 GG) gehören ebenso dazu wie die Vorformung des Volkswillens zwischen den Wahlen durch Inanspruchnahme der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 5, 8, 9 GG). Insofern soll in einer lebendigen Demokratie ein ständiger, kontroverser Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung vom Volk über die verschiedenen Parteien, Verbände und Gruppen hin zu den Staatsorganen stattfinden. 48

Das Wahlsystem ist nicht im Grundgesetz, sondern im Bundeswahlgesetz und in den Wahlgesetzen der Länder geregelt. Aufgrund vielfältiger historischer Erfahrungen und eines politischen Kompromisses ist vom Parlamentarischen Rat, der das erste Bundeswahlgesetz ausgearbeitet hat, bereits 1949 weder das reine Mehrheitswahlrecht noch das schlichte Verhältniswahlrecht eingeführt worden. Vielmehr hat man sich für ein „Mischsystem" entschieden, das die Vorteile beider anderen Systeme verbinden sollte: für das sog. personalisierte Verhältniswahlrecht. Danach hat jeder Bürger, der das Wahlalter von 18. Lebensjahren erreicht hat, zwei Stimmen. Mit der ersten Stimme entscheidet er sich im Wege der relativen Mehrheitswahl für einen Wahlkreiskandidaten, mit der zweiten Stimme wählt er die Landesliste einer politischen Partei. Die Sitze im Bundestag werden nun in der Weise verteilt, daß für die Anzahl der Mandate, die einer Partei zufallen, im Endeffekt das Verhältnis der Zweitstimmen maßgebend ist. Von den danach einer Partei zustehenden Sitzen werden die Mandate abgerechnet, die ihre Kandidaten bereits bei der Direktwahl aufgrund der Erststimme errungen haben. Folglich entscheidet allein die Zweitstimme über das für die endgültige Zusammensetzung des Bundestages wichtige Stärkeverhältnis der Parteien (Fraktionen) untereinander.

49

Im Unterschied zum Wahlsystem sind wenigstens die Wahlrechtsgrundsät^e verfassungsrechtlich verbürgt (vgl. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG). Eine allgemeine Wahl liegt dann vor, wenn generell jeder Bürger wählen und gewählt werden kann, also das aktive und passive Wahlrecht besitzt. Der Grundsatz der unmittelbaren Wahl verlangt, daß die Mitglieder einer Volksvertretung direkt und maßgeblich vom Wähler selbst, also durch die Stimmabgabe und bei der Stimmabgabe gewählt werden. Frei ist eine Wahl dann, wenn der Wähler sich ohne äußeren Druck oder Zwang zwischen mehreren Alternativen ungehindert entscheiden kann. Das Gebot der gleichen Wahl verlangt, daß im Prinzip jeder Stimme das gleiche Gewicht zukommt, daß sie beim Mehrheitswahlrecht also den gleichen Zählwert, bei Verhältniswahlrecht auch den gleichen Erfolgswert erhält. Dem Grundsatz der geheimen Wahl zufolge ist das Wahlverfahren so auszugestalten, daß die strikte Vertraulichkeit der Wahlentscheidung gegen jede Möglichkeit der Kenntnisnahme Dritter gewahrt bleibt. Diese Wahlrechtsgrundsätze haben grundrechtsähnlichen Charakter. Sie binden daher Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als „unmittelbar geltendes Recht" (Art. 1 Abs. 3 GG), erlauben aber innerhalb eines eng begrenzten politischen Gestaltungsspielraums gewisse Modifikationen.

§13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

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b) Parlament und Parteienstaat aa) Als moderne Massendemokratie ist die Bundesrepublik zugleich egalitärer Par- 50 teienstaat^, welcher notwendig der Organisation politischer Prozesse und deren Transformation in staatliche Entscheidungen bedarf. Zu diesem Zweck wirken die Parteien „bei der politischen Willensbildung des Volkes mit" (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG). Als Integrationsfaktoren, die in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution erhoben worden sind44, bereiten sie die Parlamentswahlen vor, sammeln und formen die unterschiedlichen Meinungen und Interessen, gleichen sie aus und suchen ihnen im Bereich der staatlichen Willensbildung Geltung zu verschaffen, indem sie auf die Beschlüsse von Parlament und Regierung sowie auf die Besetzung der obersten Staatsämter Einfluß nehmen45. Dieser verfassungsrechtlich legitimierte Auftrag der politischen Parteien, welcher letztlich im Demokratieprinzip gründet (Art. 20 Abs. 1 GG), kann nicht ohne Auswirkungen auf das Verständnis des parlamentarischen Mandats bleiben. Denn wenn man von der Vorstellung ausgeht, daß in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG das „freie Mandat" verankert sei, müssen parteipolitische Einflußnahmen auf den Abgeordneten schlechthin unzulässig und daher die Vorschriften des Art. 21 Abs. 1 und des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG widersprüchlich erscheinen. Die Rechtsprechung hat diesen möglichen Normenkonflikt zu einem „Span- 51 nungsverhältnis" abgemildert, bei dem jeweils im konkreten Einzelfall zu entscheiden sei, welches der beiden Prinzipien jeweils das höhere Gewicht habe46. Damit wird jedoch weder der Einheit des Verfassungsrechts noch der politischen Wirklichkeit des modernen Parteienstaats hinreichend Rechnung getragen. Eine sachgerechte Zuordnung beider Bestimmungen führt um ihrer optimalen Wirksamkeit willen zu der Erkenntnis, daß der Abgeordnete nicht auch, sondern nur und gerade als Exponent einer Partei „Vertreter des ganzen Volkes" ist, also niemals ein „freies", vielmehr stets ein parteibe^ogenes, wenn auch unabhängiges Mandat ausübt47. Aus dem Umstand, daß demnach parteipolitische Einwirkungen auf den Abgeordneten anders zu beurteilen sind als sonstige Einflußnahmen, ergeben sich für das parlamentarische System eine Reihe von Konsequenzen. bb) Aus Art. 38 Abs. 1 GG folgt zunächst, daß die Wahrnehmung des Paria- 52 mentsmandats nicht von der Partei- oder Fraktionszugehörigkeit des Abgeordneten abhängig gemacht werden darf. Selbst wenn ein Abgeordneter aus Partei oder Fraktion austritt, bleibt sein Mandat bestehen48; er ist weder verpflichtet, noch kann er rechtsverbindlich gezwungen werden, das Mandat niederzulegen (Unent^iehbarkeit 43

44

G. LEIBHOLZ Parteienstaat und repräsentative Demokratie, in: DVB1. 1 9 5 1 , S. 1 ff; vgl. auch DERS. Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. A u f l . , 1967; ferner D. GRIMM Parlament und Parteien (Fn. 18) S. 199 ff. B V e r f G E 5, 85 (388); st. Rspr., vgl. insbesondere B V e r f G E 20, 56 (100).

45

B V e r f G e 20, 56 (101).

46

B V e r f G E 2, 1 (72 ff); vgl. auch B V e r f G E 4, 144 (148 f); 5, 85 (233). So BADURA in: B K (Fn. 32) Art. 38 Rdn. 72; ähnlich auch ACHTERBERG Rahmengebundenes Mandat (Fn. 37) S. 36 ff, der hierfür allerdings auf die Notwendigkeit einer Rechtsänderung hinweist. B V e r f G E 2, 1 (74). Vgl. auch LEIBHOLZ Strukturprobleme (Fn. 43) S. 115.

47

48

558

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

des Mandats). Entsprechende Verzichtserklärungen gegenüber der Partei sind unwirksam, ein darauf gerichtetes Ansinnen bereits verboten. Darüber hinaus ist auch der Gesetzgeber gehindert, das Parlamentsmandat mit einer Partei- oder Fraktionszugehörigkeit zu verknüpfen. Lediglich ein verfassungsrechtliches Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 GG hat auch den Mandatsverlust zur Folge (vgl. § 49 BWahlG). Diese Regelung steht jedoch mit Art. 38 Abs. 1 GG nicht in Widerspruch, weil sie die Unabhängigkeit des parlamentarischen Mandats gegenüber fremden Einflüssen unberührt läßt, vielmehr allein die Fortsetzung einer verfassungswidrigen Politik im Parlament unterbinden will 49 . 53 cc) Durch Art. 38 Abs. 1 GG sind die Parteien auch gehindert, auf ihre Abgeordneten im Parlament einen Fraktionszwang etwa in der Weise auszuüben, daß unbotmäßiges Verhalten mit bestimmten Sanktionen bedroht wird. Andererseits stellen die Fraktionen jedoch notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens dar, die den technischen Ablauf der Parlamentsarbeit in gewissem Grad zu steuern und damit zu erleichtern haben50. Als verlängerter Arm der Parteien im Parlament („Parlamentsparteien") bedürfen sie zur Erfüllung dieser Aufgaben: sowohl zur Unterstützung der Regierungspolitik wie zur Ausübung einer wirksamen Opposition, eines Mindestmaßes an Stabilität und Geschlossenheit. Deshalb wird im Rahmen der Vorbereitung parlamentarischer Entscheidungen die Bindung des Abgeordneten an Parteistatute und Fraktionsgeschäftsordnungen für zulässig gehalten (FraktionsdisZjplin). Will er beispielsweise von der Mehrheitsmeinung abweichen, so muß er in der Regel die Fraktion davon informieren und seine Gegenansicht begründen. Verstöße gegen die Fraktionsdisziplin können mit dem Entzug von parlamentarischen Ämtern, ja letztlich sogar mit dem Ausschluß aus Fraktion oder Partei geahndet werden. Da diese Mittel äußerst wirksam sind, weil sie de facto die Wiederwahl des Abgeordneten in Frage stellen, sind vom praktischen Ergebnis her unzulässiger Fraktionszwang und erlaubte Fraktionsdisziplin im Einzelfall kaum zu unterscheiden, so daß der Streit über Art und Umfang einer Partei- oder Fraktionsbindung des parlamentarischen Mandats, durch Art. 21 Abs. 1 GG grundsätzlich legitimiert, heute weitgehend nur noch theoretische Bedeutung hat. c) Parlamente im Bundesstaat 54 aa) Ebenso wie der Bund haben alle Bundesländer nach 1945 — meist noch vor der Schaffung des Grundgesetzes — das parlamentarische Regierungssystem eingeführt. Sie entsprechen damit der Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG, wonach in den Ländern eine Volksvertretung vorhanden sein muß, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien und gleichen Wahlen hervorgegangen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat daraus entnommen, daß auch in den Ländern das Prinzip der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung zu verwirklichen sei, wenngleich nicht not-

49

So auch BADURA in: B K (Fn. 32) A r t . 38 Rdn. 82.

50

BVerfGE 10, 4 (14); vgl. auch bereits BVerfGE 2, 143 (160, 167); neuerdings BVerfGE 80, 188 (222 f).

§13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

559

wendig in allen Einzelheiten identisch mit dem Grundgesetz51. Demgemäß wird in allen Bundesländern der Ministerpräsident (Senatspräsident) vom Parlament gewählt, in den Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen auch die Senatoren. Die übrigen Landesverfassungen — mit Ausnahme von Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen — sehen zumindest eine Bestätigung oder Zustimmung des Landtags zur Kabinettsbildung vor, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen lediglich eine Anzeige. Außer in Hamburg und RheinlandPfalz ist ferner festgelegt, daß die Amtszeit der Regierung mit dem Ablauf der Legislaturperiode endet. Abgesehen von Bayern besteht auch in allen Ländern die Möglichkeit eines einfachen (Berlin, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland) oder konstruktiven (Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Hamburg, MecklenburgVorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen) Mißtrauensvotums. Die Vertrauensfrage des Ministerpräsidenten kennen zusätzlich die Verfassungen Brandenburgs, Hamburgs, Hessens, Mecklenburg-Vorpommerns, des Saarlandes sowie Sachsens, Sachsen-Anhalts und Thüringens. Eine Entlassung von Regierungsmitgliedern durch Landtagsbeschluß ist in Baden-Württemberg, eine parlamentarische Auflösung des Senats in Hamburg und den neuen Ländern möglich. Schließlich findet sich in allen Landesverfassungen — mit Ausnahme von Berlin, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und den Verfassungen der neuen Länder — noch das Institut der Minister anklage. Obwohl Bayern mit dem Prinzip der „Regierung auf Zeit" zweifellos an die Grenzen zulässiger Gestaltungsfreiheit gerät, wird nach überwiegender Auffassung darin ebenfalls noch keine Preisgabe des parlamentarischen Systems gesehen52, weil der Ministerpräsident zum Rücktritt verpflichtet ist, „wenn die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen ihm und dem Landtag unmöglich machen" (Art. 44 Abs. 3 Satz 2 BayVerf.). Im Konfliktfall dürfte diese Rücktrittspflicht allerdings nur mit Hilfe des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs durchzusetzen sein. bb) Schon wenige Jahre nach Gründung der Bundesrepublik wurde freilich die 55 kritische Frage laut, „ob das parlamentarische Regierungssystem den politischen Bedürfnissen der Länder überhaupt entspricht"53. Es fehle hier nicht nur an sachlichen Alternativen, sondern auch an der Bereitschaft zum Parteienwettbewerb und damit letztlich an der Chance des Machtwechsels. Hinzu kam die Umformung der föderativen Ordnung zum „unitarischen Bundesstaat"54, welche mit der Konzentration von Gesetzgebungszuständigkeiten beim Bund und der Übertragung weiterer Landeskompotenzen an die Europäische Gemeinschaft der Mischfinanzierung von Gemeinschaftsaufgaben sowie mit der engen Kooperation zwischen Bundes- und Landesbürokratien die politische Situation der Länderparlamente noch erheblich verschlech-

51 52 53

54

B V e r f G E 24, 44 (55 f). Nachweise bei M. FRIEDRICH Landesparlamente in der Bundesrepublik, 1975, S. 42, A n m . 9. So W. HENNIS Parlamentarische Opposition und Industriegesellschaft, in: Politik als praktische Wissenschaft, 1968, S. 119. Dazu K . HESSE Der unitarische Bundesstaat, 1962.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

terte55, so daß man geradezu von einem „gesetzgeberischen Kompetenzverfall der Landtage" sprechen kann56. Demzufolge ist die Auseinandersetzung um das parlamentarische System in den Ländern bis heute keinesfalls verstummt, sondern eher neu entfacht worden. Man hat empfohlen, sich am Schweizer Bundesratssystem zu orientieren, die Magistratsverfassung einzuführen, nach Möglichkeit in den Ländern Große Koalitionen zu bilden oder die Ausschußarbeit und die Kontrolltätigkeit in den Länderparlamenten zu verstärken57. 56 Bei aller Berechtigung der Kritik ist jedoch ein überzeugender Nachweis der Funktionslosigkeit des parlamentarischen Systems in den Ländern noch nicht geführt worden. Man wird sogar umgekehrt annehmen können, daß sich das politische Betätigungsfeld der Landesparlamente künftig zumindest in drei Richtungen erheblich ausbauen läßt: (1) im Bereich der Regierungs- und Verwaltungskontrolle durch Einflußnahme auf die „Selbstkoordinierung" der Länder (ζ. B. auf Beschlüsse und Empfehlungen der Ministerpräsidenten- oder Fachministerkonferenzen, den Abschluß von Verwaltungsvereinbarungen etc.) oder durch Mitwirkungen an der Landesplanung; (2) auf dem Gebiet der Gesetzgebung durch gezielte Initiativen zum Stimm- und Antragsverhalten der Landesregierung im Bundesrat sowie (3) bei allen Angelegenheiten der Landespolitik durch verstärkte Informationsmöglichkeiten gegenüber der Regierung sowie durch öffentliche Erörterung umstrittener Vorhaben mit regionalem oder lokalem Bezug im Interesse größerer Transparenz und Bürgernähe von langfristig wirksamen Entscheidungen. Würden diese Aufgaben verstärkt in Angriff genommen, so brauchte man sich um die Lebensfähigkeit des parlamentarischen Systems in den Ländern nicht zu sorgen. 57 cc) Besondere Schwiergigkeiten bereitet schließlich der Einbau des Bundesrates in die Legitimations- und Organisationsstruktur des parlamentarischen Regierungssystems. Denn als Versammlung weisungsgebundener Regierungsmitglieder kann sich die Ländervertretung weder auf das Prinzip unmittelbar demokratischer Repräsentation des Volkes stützen, noch unterliegt sie einer direkten parlamentarischen Kontrolle58. Da die Mehrheits Verhältnisse im Bundesrat nur über Landtags wählen zu beeinflussen sind, entarten diese immer mehr zu „Bundesratswahlen", was wiederum den landespolitischen Erosionsprozeß beschleunigt. Auf Bundesebene stellen zwar Parlament und Regierung noch ein massives Gegengewicht dar, zumal der Bundestag den Einspruch des Bundesrates überstimmen kann. Dennoch nehmen bei unterschiedlichen Mehrheiten die politische Rücksicht der Bundesregierung auf die Ländervertretung und die Praxis des Aushandelns von Entscheidungen im Vermitt55

V g l . FRIEDRICH L a n d e s p a r l a m e n t e ( F n . 5 2 ) S. 51 f.

56

H. OBERREUTER Kann der Parlamentarismus überleben?, 1977, S. 80. Vgl. auch H. EICHER Der Machtverlust der Landesparlamente, 1988; M. FRIEDRICH Entwicklung und gegenwärtige Lage des parlamentarischen Systems in den Ländern, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 63, S. 1707 ff. Dazu Κ . P. SIEGLOCH Kritik und Alternativen zum parlamentarischen Regierungssystem in den Bundesländern, in: ZParl. 3 (1972) S. 365 ff. Vgl. W.-R. SCHENKE Gesetzgebung zwischen Parlamentarismus und Föderalismus, in. Schneider/ Zeh (Fn. 1) § 55, S. 1485 ff; K . REUTER Der Bundesrat als Parlament der Länderregierungen, ebenda, S. 1523 ff.

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58

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Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

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lungsausschuß — parlamentarisch gesehen — immer deutlichere Züge einer „Allparteienregierung" an. Deshalb wird man insgesamt an der Feststellung nicht vorbeikommen, daß die Existenz einer nach dem Bundesratsprinzip organisierten Ländervertretung — zumal in ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung — letztlich das parlamentarische System abschwächt. Freilich ist dabei aus gesamtstaatlicher Sicht zu berücksichtigen, daß nicht nur 58 die föderative Struktur als solche, sondern auch die Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung im Bundesrat gewaltenteilende und machtbegrenzende Wirkungen erzeugt, die dem Minderheitsschutz dienen (insofern benutzt die Opposition unter den gegenwärtigen Mehrheitsverhältnissen in Bund und Ländern den Bundesrat völlig zu Recht als Instrument der Durchsetzung ihrer Politik), die integrierende Kraft der demokratischen Ordnung stärken und die Erkenntnis bestätigen, daß im Grundgesetz als einer „gemischten Verfassung" auch das parlamentarische Prinzip nicht rein verwirklicht, sondern durch das föderative System „gemildert" ist. Allerdings würde eine erhebliche Funktionsverbesserung des Parlamentarismus gerade in den Ländern aus der Realisierung des Vorschlags erwachsen, die Mitglieder des Bundesrates direkt von den Länderparlamenten wählen zu lassen 59 . Leider ist jedoch diese Idee im gouvernementalen Klima der Bundesrepublik auch heute noch politisch kaum durchsetzbar. 2. Der Deutsche Bundestag Nach den beiden Reichstagen der kaiserlichen Monarchie und der Weimarer Republik 59 ist der Bundestag das dritte freigewählte Parlament auf deutschem Boden, dem die Vertretung des ganzen Volkes obliegt, jedoch das erste, welches diesem Auftrag gemäß im Zentrum des politischen Geschehens steht. Nie zuvor hat ein deutsches Parlament als oberstes Staatsorgan sich insgesamt so stark mit der geltenden Verfassungsordnung identifiziert, so weitgehende Machtbefugnisse besessen, so stabile Regierungen hervorgebracht und damit zugleich die Regierungspolitik so massiv beeinflußt wie der Deutsche Bundestag in den vergangenen über vierzig Jahren seines Bestehens. Dennoch sieht er sich immer wieder kritischen Betrachtungen ausgesetzt, die von der Feststellung eines Funktionsverlusts der Parlamente allgemein bis zur Behauptung von Entscheidungsdefiziten des Bundestages im besonderen reichen. Daher erscheint es ebenso notwendig wie gerechtfertigt, zunächst eine Zwischenbilanz zu ziehen und rückblickend zu untersuchen, ob und inwieweit der Bundestag seine parlamentarischen Aufgaben erfüllt hat. a)

Aufgaben

aa) Beurteilt man die Leistungsfähigkeit der Parlamente nach bestimmten Hand- 60 lungsabläufen, Tätigkeitsformen und Zuständigkeiten, kurz: nach ihren „Aufgaben", so lassen sich in Anknüpfung an BAGEHOT im wesentlichen fünf parlamentarische Funktionsbereiche unterscheiden: die Wahlfunktion, die Gesetzgebungsfunktion, die 59

V g l . FRIEDRICH L a n d e s p a r l a m e n t e ( F n . 5 2 ) S. 6 9 f.

562

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Willensbildungsfunktion, die Öffentlichkeitsfunktion und schließlich die Kontrollfunktion des Parlaments60. Beginnend mit der Wablfunktion wird man feststellen können, daß sie vom Bundestag bisher noch am besten erfüllt worden ist. Die Wahlen von Bundeskanzlern oder Ministerpräsidenten, die Richterwahlen, die Wahlen des Wehrbeauftragten oder von Präsidiumsmitgliedern sind bisher sämtlich rechtzeitig und in eigener Verantwortung erfolgt, niemals fehlgeschlagen und lassen daher keine Entscheidungsdefizite erkennen. Allenfalls könnte man bemängeln, daß die Vorbereitung solcher Wahlen weitgehend außerhalb des Parlaments entweder durch Absprachen zwischen den Fraktions-, Partei- und Regierungsspitzen oder aber durch Verständigung der Fraktionen untereinander erfolgt. Solche Vorklärungen kennzeichnen jedoch das normale parlamentarische Verfahren, so daß hierin noch kein Entscheidungsmangel erblickt werden kann. 61 Schwieriger zu beurteilen ist schon die parlamentarische Erfüllung der Geset\gebungsaufgaben. Zwar hat bisher der Bundestag auch hier in quantitativer Hinsicht ein erstaunliches Maß an Arbeit geleistet, wenn man bedenkt, daß in jeder Legislaturperiode durchschnittlich 600 Gesetzentwürfe beraten und davon etwa 400 verabschiedet werden61. Deshalb sind im Augenblick sogar umgekehrt eher Befürchtungen zu vernehmen, die vor einer unübersehbaren Gesetzesflut warnen und den zunehmenden Tendenzen einer Verrechtlichung des öffentlichen und privaten Lebens Einhalt gebieten wollen62. Aber die große Zahl der verabschiedeten Gesetze trügt. Diese gehen nämlich zu 80% auf Initiativen der Bundesregierung, zu weiteren 15% auf Initiativen der parlamentarischen Opposition und nur zu 5% auf Initiativen der Parlamentsmehrheit zurück. 62 Hierbei wird bereits ein erster Entscheidungsmangel der Parlamente sichtbar: Defizite an spezialisiertem Sachverstand, an personeller Problemverarbeitungskapazität sowie an unentbehrlichen Detailinformationen führen auf der einen Seite nicht nur zu einer hohen Arbeitsbelastung des einzelnen Abgeordneten in Ausschüssen und Fraktionsarbeitskreisen, sondern auch zu einem weitgehenden Verzicht der Parlamente auf eigene Gesetzesvorschläge, so daß gelegentlich der Eindruck entstehen könnte, als sei die Regierung der eigentliche Gesetzgeber und das Parlament nur deren Vollzugsorgan. An dieser Stelle zeigt sich bereits, daß die tatsächlichen Entscheidungsdefizite der Parlamente weniger in der Bewältigung des formellen Entscheidungsprogramms, als vielmehr in einer ungenügenden Beteiligung an der informellen Entscheidungsvorbereitung liegen. 60

61

62

WALTER BAGEHOT ( 1 8 2 6 - 1 8 7 7 ) hat in seinem Werk „The English Constitution" (London 1867) die Funktionen des „parliamentary government" auf die klassische Formel gebracht: „It (the parliament) must elect a ministry well, legislate well, teach the nation well, express the nation's will well, bring matters to the nation's attention well" (p. 1959, zit. nach der Ausgabe von 1919). — Dazu neuerdings F. NUSCHELER Walter Bagehot und die englische Verfassungstheorie, 1969. Nachweise bei P. SCHINDLER Parlamentsstatistik für die 1. bis 7. Wahlperiode, in: ZParl 8 (1977) S. 145 f f (148 ff). Für die Zeit danach Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1980 bis 1987, bearb. von P. Schindler, 1988, S. 547 ff. Dazu H.-D. WEISS Verrechtlichung als Selbstgefahrdung des Rechts, in. D Ö V 1978, S. 601 ff; R.VOIGT (Hrsg.) Verrechtlichung, 1980.

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cc) Dies wird noch wesentlich deutlicher bei der Betrachtung der Willensbil- 63 dungsfunktion. So ist etwa die Anzahl der vom Bundestag kontrovers verabschiedeten, d. h. zwischen Regierungskoalition und Opposition umstrittenen Gesetzentwürfe seit der ersten Legislaturperiode kontinuierlich zurückgegangen und lag in der 10. Wahlperiode bei nur etwa 4,6%. (24). Eine ähnlich abnehmende Tendenz weisen die selbständigen Anträge von Abgeordneten auf, welche keinen Gesetzentwurf enthalten; sie gingen von 1801 in der ersten Wahlperiode des Deutschen Bundestages auf 141 in der siebenten Wahlperiode zurück63. Ebenso verringerte sich die Zahl der namentlichen Abstimmungen, gleichfalls ein Indiz für die Fähigkeit zur politischen Willensbildung und Richtungsbestimmung des Parlaments, gegenüber der ersten Legislaturperiode auf weniger als ein Drittel. Man wird daher wohl nicht fehlgehen in der Annahme, daß sich die politische Willensbildung nur zu einem geringen Teil in den Parlamenten selbst vollzieht und heute überwiegend bei Regierung, Parteien und Verbänden liegt. dd) Im Hinblick auf die Offentlichkeitsfunktion der Parlamente, d. h. ihre Auf- 64 gäbe, Politik öffentlich zu artikulieren, darzustellen und Kontroversen sowie Alternativen in der politischen Auseinandersetzung deutlich zu machen, ergibt sich ein äußerst vielschichtiges und komplexes Bild. Einerseits sind aufgrund von Parlamentsreformen im letzten Jahrzehnt die öffentlichen Wirkungsmöglichkeiten der Parlamente erheblich gesteigert worden. Durch Einführung von Hearings, aktuellen Stunden und die Möglichkeit der Einsetzung von Enquête-Kommissionen hat der Bundestag seine Öffentlichkeitswirkung als „politisches Forum der Nation"64 wesentlich ausbauen und verbessern können. Auf der anderen Seite jedoch stehen die noch immer überwiegend nicht öf- 65 fentlichen Ausschuß- und Unterausschußsitzungen zu den Plenarberatungen nach wie vor in einem Verhältnis von acht bis zehn zu eins. Diese Zahlen zeigen, daß sich ein wesentlicher Teil der Parlamentstätigkeit weiterhin hinter verschlossenen Türen in meist kooperativer Arbeitsatmosphäre unter Einbeziehung der Ministerialbürokratie vollzieht. Man sollte diese Praxis keineswegs von vornherein negativ bewerten, zumal sie eine „offene" Aussprache zwischen den Fraktionen ermöglicht, die sachliche Beratung fördert und Kompromisse erleichtert. Gleichwohl erscheint die Feststellung angebracht, daß solche fortwirkenden Tendenzen eines Ausschlusses der Öffentlichkeit in merkwürdigem Gegensatz zu den teilweise erfolgreichen Reformbestrebungen nach einer verstärkten parlamentarischen Publizität stehen. ee) Im Zentrum der Kritik befindet sich jèdoch nach wie vor die angeblich 66 ungenügende Wahrnehmung der parlamentarischen Kontrollfunktion65. Hier werden zweifellos strukturelle Mängel des parlamentarischen Systems offenbar, die vor allem 63

Vgl. SCHINDLER P a r l a m e n t s s t a t i s t i k (Fn. 6 1 ) S. 1 5 0 .

64

So A. MORKEL Das Parlament als öffentliches Forum, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 40/ 66, S. 21 ff; vgl. auch M . HERETH Die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments, in: P V S 11 (1970) S. 2 9 ff. W. STEFFANI Formen, Verfahren und Wirkungen der parlamentarischen Kontrolle, in: Schneider/ Zeh (Fn. 1) § 4 9 , S. 1325 ff.

65

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

darin bestehen, daß angesichts der Aktionseinheit von Parlamentsmehrheit und Regierung die Kritik- und Kontrollfunktion heute weitgehend auf die parlamentarische Opposition übergegangen ist, einer Minderheit jedoch ihrer Natur nach nur beschränkte Mittel zur Verfügung stehen, um diese wichtige und schwierige Aufgabe effektiv zu erfüllen 66 . Der hierfür eigentlich notwendige Ausbau von Minderheitsrechten findet zweifellos seine Grenzen am Majoritätsprinzip, das die Einheit der parlamentarischen Willensbildung garantiert und ihre Verfälschung oder Auflösung in partikuläre Aktivitäten verhindern soll. Im einzelnen wird darauf unten (Rdn. 91 ff) noch näher einzugehen sein. b)

Zusammensetzung

67 aa) Dem Bundestag gehören heute im Normalfall (d. h. ohne Überhangmandate) 656 Mitglieder an, die ihr Mandat nach den Regeln der personalisierten Verhältniswahl in der Weise erlangen, daß die Hälfte in 328 Wahlkreisen mit der Erststimme (Mehrheitswahl) und die andere Hälfte über Landeslisten der Parteien mit der Zweitstimme (Verhältniswahl) gewählt wird. Das Verhältnis der Zweitstimmen schließlich ist für die Zusammensetzung des Bundestages insgesamt maßgebend. In den vergangenen elf Wahlperioden vor der Wiedervereinigung schwankte die Mitgliederzahl zwischen 400 (+10) und 497 (+22). Auch die Altersstruktur hat sich im Laufe der Zeit stark verändert: Während von der 1. bis zur 4. Wahlperiode der Anteil älterer Abgeordneter (d. h. über 60 Jahre) kontinuierlich anstieg, hat sich der Bundestag seit der 5. Wahlperiode erheblich verjüngt, so daß in der 11. Wahlperiode über 60 v. H. der Abgeordneten in den Jahren 1930 bis 1944 geboren wurden und demgemäß das Durchschnittsalter 49,3 Jahre betrug. Nur noch zwei Abgeordnete, Willy Brandt und Richard Stücklen, waren zum elften Mal — also von Anfang an — Mitglied des Bundestages. Der Anteil weiblicher Abgeordneter hat sich nur geringfügig erhöht, und zwar von 28 ( = 6,8 v. H.) in der 1. auf 80 ( = 15,4 v. H.) in der 11. Wahlperiode 67 . 68

bb) Auch die Berufsstruktur des Bundestages weist im Vergleich mit den Erwerbsgruppen der Gesamtbevölkerung erhebliche Disparitäten auf. Stellt man die Berufszugehörigkeit der Abgeordneten (in Prozent) den entsprechenden Anteilen innerhalb der Gesamtbevölkerung (in Klammern) gegenüber, so ergibt sich für den 12. Deutschen Bundestag folgendes Bild: Regierungsmitglieder 10,6 (—); Beamte 34,6 (8,6); Angestellte des öffentlichen Dienstes sowie in Wirtschaft und Verbänden 31,9 (35,2); Arbeiter 1,2 (42,6); Selbständige und Angehörige freier Berufe 22,6 (9,1);

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U. SCHEUNER Das parlamentarische Regierungssystem in der Bundesrepublik, in: D Ö V 1957, S. 635; DERS. Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: FS für G. Müller, 1970, S. 379 ff (397). — Ebenso N. GEHRIG Parlament—Regierung—Opposition, 1969, S. 97 ff; modifiziert SCHNEIDER Die parlamentarische Opposition (Fn. 13) S. 391 ff; OPPERMANN Das parlamentarische System (Fn. 1) S. 64. — Vgl. inzwischen auch B V e r f G E 44, 125 (153 f).

67

Angaben aus: Datenhandbuch zur Geschichte des Bundestages 1 9 8 0 — 1 9 8 7 (Fn. 61). S. 155 ff, 178 f.

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Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

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Hausfrauen 2,4 (53,9)68. Dabei fallt sofort eine starke Überrepräsentation der Beamten und Selbständigen sowie ein geradezu eklatantes Ungleichgewicht bei den Arbeitern und Hausfrauen ins Auge. Zu ähnlichen Abweichungen gelangt man bei einem Vergleich der Ausbildungsabschlüsse von Abgeordneten des 11. Deutschen Bundestages (in Prozent) mit den entsprechenden Bevölkerungsanteilen (in Klammern): Volksschule 0,8 (44,6); Realschule, Mittlere Reife 6,9 (9,5); Höhere Schule, Abitur 70,3 (14,3); Berufs- und Berufsfachschule 11,7 (8,5); Hochschule 61,3 (4,7)69. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß eine „bessere" Berufsqualifikation naturgemäß auch den Zugang zur Politik erleichtert, ist das Bildungsgefälle vom Parlament zur Gesamtbevölkerung doch so beträchtlich, daß schichtenspezifische Verständigungsschwierigkeiten geradezu zwangsläufig auftreten müssen. An diesen Mißständen einer ungleichwertigen Berufs- und Ausbildungsstruktur 69 haben bisher offenbar weder das allgemeine und gleiche Wahlrecht noch die Vollalimentierung der Abgeordneten etwas zu ändern vermocht. So gesehen wird man hinter die These vom „egalitären" Parteienparlamentarismus (LEIBHOLZ) durchaus ein Fragezeichen setzen können. Zumindest aber bieten diese Zahlen einen vorläufigen Anhaltspunkt dafür, weshalb sich in letzter Zeit verstärkt Repräsentationsdefizite des parlamentarischen Systems bemerkbar machen (dazu unten Rdn. 117 f), die in einer wachsenden Partei- und Parlamentsverdrossenheit zum Ausdruck zu kommen scheinen. c)

Organisation

aa) Als Verfassungsorgan kommt dem Bundestag das Recht zu, seine innere Orga- 70 nisation70 selbständig zu regeln. Im Rahmen dieser Befugnis (Geschäftsordnungsautonomie) gibt er sich nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG eine Geschäftsordnung, die an die Tradition des deutschen Parlamentsrechts71 — vor allem nach dem Übergang zur parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik — anknüpft und im engen sachlichen Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Status des Parla68

A. HESS Daten und Aspekte zur Sozialstruktur des 12. Deutschen Bundestages, in: ZParl 2 3 (1992) S. 201 ff; Ε. P. MÜLLER Vertreter der gewerblichen Wirtschaft im VIII. Deutschen Bundestag, in: ZParl 8 (1977) S. 4 2 2 ff; Statistisches Jahrbuch 1 9 7 7 f ü r die Bundesrepublik Deutschland, 1977, S. 92 (die Zahlen beziehen sich auf das Wahljahr 1976). — Vgl. auch W. ZAPF Sozialstruktur deutscher Parlamente, in: Wahlhandbuch 1965, hrsg. v o n F. Sänger u.a., 1 9 6 5 , S. 3 — 45; A . HESS Eine Tendenzwende in der „Sozialstruktur" des Bundestages?, in: Der Bürger im Staat 26 (1976) H. 2. DERS. Zusammensetzung und Sozialstruktur des Bundestages, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 24, S. 727 ff.

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Quelle: Datenhandbuch zur Geschichte des Bundestages 1 9 8 0 - 1 9 8 7 (Fn. 61) S. 1 8 7 f f ; Gesellschaftliche Daten in der Bundesrepublik Deutschland, 1988. Dazu F. SCHÄFER Der Bundestag, 1967; W. ZEH Der Deutsche Bundestag, 3. A u f l . , 1979; H. BORGS-MACIEJEWSKI Parlamentsorganisation. Institutionen des Bundestages und ihre Aufgaben, 1979. Vgl. H. TROSSMANN Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1977; K.-H. MATTERN Grundlinien des Parlamentsrechts, 1969; N. ACHTERBERG Grundzüge des Parlamentsrechts, 1 9 7 1 ; M. SCHRÖDER Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979.

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ments steht72. Gleichwohl folgt die Geschäftsordnung des Bundestages, ungeachtet ihrer großen Bedeutung für das materielle Verfassungsrecht und das Verfassungsleben, „der geschriebenen Verfassung und den Gesetzen im Range nach"73. Umstritten ist jedoch, welche Rechtswirkungen das „autonome Parlamentsrecht"74 zu entfalten vermag und ob es insbesondere konkrete Rechte und Pflichten unter den „Beteiligten" (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) innerhalb oder außerhalb des Parlaments begründen kann. 71

In unterschiedlicher Beantwortung dieser Frage werden zur Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung alle nur denkbaren Standpunkte (Rechtsverordnung, gemischte Rechts- und Verwaltungsverordnung, Konventionairegeln, Gesetz ohne Publikationszwang, objektives Recht kraft Vereinbarung, Rechtsgebilde sui generis, interne Vorschriften ohne Rechtscharakter) vertreten75, wobei die überwiegende Auffassung („autonome Satzung"76) einschließlich des Bundesverfassungsgerichts eine „mittlere", wenn auch nicht ganz widerspruchsfreie Position einnimmt: Nur die Mitglieder des Bundestages selbst seien an die Geschäftsordnung gebunden (keine Außenwirkung). Herkömmliche Gegenstände geschäftsordnungsmäßiger Regelung sind vor allem die Bereiche „parlamentarischer Geschäftsgang" und „innere Disziplin".

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bb) Zum Geschäftsgang gehören namentlich jene Vorschriften, welche die Beratung und Beschlußfassung des Parlaments als Ganzen sowie seiner Teile und Untergliederungen betreffen. Dabei kann nur die Vollversammlung des Bundestages (Plenum) mit verbindlicher Wirkung nach außen entscheiden; jeder Beschluß „des" Bundestages muß im Plenum fallen (Grundsatz der Unvertretbarkeit)77. Im Vordergrund der Plenarverhandlungen stehen die „Lesungen" der Gesetze, die sog. „Fragestunde" und die „Aktuelle Stunde", welche von einer Anzahl Abgeordneter, die mindestens einer Fraktionsstärke entspricht, zur Aussprache über „Fragen von allgemeinem aktuellen Interesse" beantragt werden kann. Hinzu kommen noch die Entgegennahme und Debatte von Regierungserklärungen sowie die Beratung über Große und Kleine Anfragen. In der Praxis liegt der Schwerpunkt parlamentarischer Arbeit freilich außerhalb des Plenums bei den Fraktionen und Ausschüssen, so daß die Plenarberatungen oft in Abwesenheit eines überwiegenden Teils der Abgeordneten nur unter den jeweiligen Experten stattfinden („Schichtwechsel"). Wenngleich dieser Zustand jedenfalls solange als verfassungsrechtlich unbedenklich gilt, wie der 72 73

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B V e r f G E 44, 3 0 8 ( 3 1 4 f). S o bereits B V e r f G E 1, 1 4 4 (148); zuletzt B V e r f G E 44, 3 0 8 (315). Dazu auch J. PIETZCKER Schichten des Parlamentsrechts: Verfassung, Gesetze, Geschäftsordnung, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 10, S. 3 3 3 ff. Dazu K . F. ARNDT Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, 1966. Ein ausführlicher Bericht über den Meinungsstand findet sich bei ARNDT Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie (Fn. 74) S. 136 — 156. Zuerst vertreten v o n K . PERELS Das autonome Reichstagsrecht, 1903; seitdem allgemein akzeptiert (vgl. ARNDT Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie (Fn. 74) S. 138 ff). Vgl. L. KISSLER Parlamentsöffentlichkeit: Transparenz und Artikulation, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 3 6 , S. 993 ff.

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Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

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Entscheidungsprozeß institutionell in das Parlament eingefügt bleibt 78 , schadet die mangelnde Präsenz der Abgeordneten jedoch dem politischen Ansehen des Parlaments in der Öffentlichkeit erheblich. cc) Während im Plenum des Bundestages meist nur vorgefaßte Beschlüsse 73 „ratifiziert" werden, findet die eigentliche Sachauseinandersetzung, namentlich auch die Detailarbeit an Gesetzentwürfen, heute praktisch nur noch in den Ausschüssen statt 79 . Nach § 62 Abs. 1 GO-BT sind sie „vorbereitende Beschlußorgane des Bundestages", welche die Aufgabe haben, dem Bundestag bestimmte Beschlüsse zu empfehlen, die sich nur auf die ihnen zugewiesenen Vorlagen oder mit diesen in unmittelbarem Sachzusammenhang stehenden Fragen beziehen dürfen. Das Plenum entscheidet dann auf der Grundlage eines Ausschußberichts, der auch die Ansicht der Minderheit enthalten muß (§ 66 Abs. 2 GO-BT). Die Zusammensetzung der Ausschüsse regelt sich nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen, wobei der Bundestag im Jahre 1970 vom d'Hondtschen Berechnungsmodus zum Verfahren der mathematischen Proportion überging 80 . In der Sache befassen sich einige Bundestagsausschüsse vorwiegend mit Ge- 74 setzentwürfen, andere mit der Regierungskontrolle, wieder andere mit der Wahl von Richtern oder Abgeordneten für bestimmte Funktionen außerhalb des Parlaments. Vorgeschrieben sind von der Verfassung die Ausschüsse für Auswärtige Angelegenheiten und für Verteidigung (Art. 54 a G G ) sowie der Petitionsausschuß (Art. 45 c GG); durch Gesetz ein Wahlprüfungsausschuß (§ 3 des Wahlprüfungsgesetzes) und ein Haushaltsausschuß (bei Übertragung von Befugnissen im Haushaltsplan), ferner das Unterrichtungs- und Kontrollgremium nach § 9 Abs. 1 G 10 und die parlamentarische Kontrollkommission nach dem Gesetz über die Kontrolle der Nachrichtendienste. Ferner können Untersuchungsausschüsse (Art. 44 G G ) und Enquête-Kommissionen (§ 56 GO-BT) eingesetzt werden. Neuerdings gibt es auch einen Ausschuß, dem speziell die Aufgabe zugewiesen ist, Technikfolgenanalysen zu veranlassen (vgl. § 56 a GO-BT). Ebenso wie das Plenum sind sämtliche Ausschüsse befugt, die Anwesenheit jedes Mitglieds der Bundesregierung zu verlangen (Zitierungsrecht); diese wiederum oder ihre Beauftragten haben zu allen Ausschußsitzungen Zutritt und müssen jederzeit gehört werden (Art. 43 GG). dd) Die Vorformung des politischen Willens im Parlament erfolgt maßgeblich 75 durch die Fraktionen^. Darunter versteht man „Vereinigungen von mindestens fünf

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Vgl. B V e r f G E 44, 308 (319): „Bei Schlußabstimmungen im Bundestag spricht für eine ausreichende Repräsentation des Volkes durch die Abgeordneten eine Vermutung". Dazu W. ZEH Das Ausschußsystem im Bundestag, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 39, S. 1087. — Vgl. auch B V e r f G E 80, 188 (221 ff). Dazu H.-P. SCHNEIDER Hare contra d'Hondt. Kritische Bemerkungen zur Einführung der mathematischen Proportion bei der Besetzung von Bundestagsausschüssen, in: ZParl 1 (1970) S. 442 ff. C. ARNDT Fraktion und Abgeordneter, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 2 1 , S. 643 ff; H. HAMMBRÜCHER Abgeordneter und Fraktion, ebenda, § 22, S. 673 ff. J . JEKEWITZ Politische Bedeutung, Rechtsstellung und Verfahren der Bundestagsfraktion, ebenda, § 37, S. 1021 ff. — Vgl. auch B V e r f G E 80, 188 (217 ff).

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

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v. H. der Mitglieder des Bundestages, die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen" (§ 10 Abs. 1 GO-BT). Fraktionen sind also der verlängerte Arm politischer Parteien im Parlament („Parlamentsparteien"). Als Teile und ständige Gliederungen des Bundestages gehören sie — ähnlich wie die Ausschüsse, jedoch ohne Organstatus — zu den „notwendigen Einrichtungen des Verfassungslebens", weil sie nicht nur den technischen Ablauf der Parlamentsarbeit steuern und erleichtern82, sondern die eigentlichen Zentren der politischen Positionsbestimmung und Alternativenbildung sind. Daher steht wie bei den Parteien auch für die Fraktionen eindeutig der aktive Mitwirkungs- und Gestaltungsauftrag im Vordergrund. Insofern ist nicht nur der Bestand, sondern ebenso die Funktionsfähigkeit der Parlamentsfraktionen durch Art. 21 Abs. 1 GG mitgeschützt. Ihr Verhältnis untereinander, namentlich in bezug auf Redezeiten, Vorschlagsrechte und finanzielle Zuwendungen wird durch den Grundsatz der „Chancengleichheit" bestimmt83. Die Ausübung des Mandats und bestimmter Abgeordnentenrechte darf allerdings nicht von einer Fraktionszugehörigkeit abhängig gemacht werden. 76

ee) Weitere wichtige Aufgaben werden schließlich von den Leitungsorganen des Parlaments (Präsident, Präsidium, Ältestenrat) wahrgenommen. Der Präsident wird ebenso wie seine Stellvertreter und die Schriftführer vom Bundestag gewählt. Er vertritt den Bundestag nach außen, leitet die Verhandlungen (gemeinsam mit seinen Stellvertretern) und wahrt die Ordnung im Hause (§ 7 GO-BT). Innerhalb des Bundestages verfügt der Präsident über das Hausrecht und die Polizeigewalt (Art. 40 Abs. 2 GG). Ferner untersteht ihm die gesamte Bundestagsverwaltung (§ 7 Abs. 4 GO-BT). Zusammen mit den Stellvertretern (Vizepräsidenten) bildet er das Präsidium (§ 5 GO-BT), welches der Einstellung oder Beförderung leitender Beamter zustimmen muß, für die Beachtung der „Verhaltensregeln" über die Beratertätigkeit der Abgeordneten sorgt sowie an der Durchführung von Delegationsreisen Abgeordneter ins Ausland beteiligt ist. Der Ältestenrat (§ 6 GO-BT) schließlich erscheint als innerparlamentarische Clearing-Stelle und Koordinierungsinstanz geradezu unentbehrlich. Er setzt sich aus dem Präsidium sowie weiteren 23 Abgeordneten zusammen und bereitet die Sitzungen vor, entwirft die Tagesordnung, legt die Redezeiten fest, benennt die Ausschußvorsitzenden und erstellt einen längerfristigen Arbeitsplan. Wegen der notwendigen Übereinstimmung, die allein den Entlastungseffekt des Ältestenrats verbürgt, dringt von seiner Tätigkeit wenig nach außen. d)

Arbeitsweise

77 aa) Die Wahlperiode des Bundestages ist in Sitzungswochen, sitzungsfreie Wochen und Parlamentsferien eingeteilt. Der Bundestag ist also — wie alle modernen Volksvertretungen — ein Ganzjahresparlament. Am Anfang jeder Wahlperiode liegt eine 82

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B V e r f G E 20, 56 (104); vgl. auch B V e r f G E 1, 208 (299); 351 (359); 2, 143 (160, 167); 347 (365); 10, 4 (14); neuerdings B V e r f G E 80, 188 (219 f). W. SCHMIDT Chancengleichheit der Fraktionen unter dem Grundgesetz, in: Der Staat 9 (1970) S. 481 ff.

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D a s parlamentarische System (SCHNEIDER)

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wichtige Phase der Reorganisation des Parlaments: Sie beginnt nach einer Bundestagswahl mit dem ersten Zusammentritt des neu gewählten Parlaments. Diese Sitzung wird von einem Alterspräsidenten geleitet, der die Wahl des neuen Präsidenten, seiner Stellvertreter und der Schriftführer veranlaßt. Damit ist der Bundestag konstituiert. Es folgen die Regierungsbildung mit der Kanzlerwahl sowie die Besetzung der Ausschüsse und sonstigen parlamentarischen Funktionen. Von der Entgegennahme und Debatte der ersten Regierungserklärung an läuft die normale parlamentarische Arbeit. Innerhalb des Bundestages erwarten den Abgeordneten nun vor allem folgende 78 Aufgaben: (1) Teilnahme an den Plenarsitzungen, Reden, Debattenbeiträge, Abstimmungen, Anfragen, (2) Teilnahme, Mitarbeit und Vorbereitung in den Ausschüssen, (3) Teilnahme an den Beratungen in den Fraktionssitzungen und Fraktionsarbeitskreisen, (4) Verfolgung der politischen Themen des Bundestages insgesamt, Lektüre von Parlamentsdrucksachen, fortlaufende politische Information. Angesichts dieser Aufgabenfülle kann das parlamentarische Mandat heute nicht 79 mehr im Nebenamt wahrgenommen werden. Die Abgeordneten geben zwar meist noch eine Erwerbstätigkeit an, üben sie jedoch nur selten aus, haben sich vielmehr innerhalb des Parlaments auf bestimmte Sachgebiete konzentriert und sind so zu „Berufspolitikern" geworden, deren Diätenanspruch (Art. 48 Abs. 3 G G ) ihnen einen ausreichenden Unterhalt sichern soll (Alimentationsprinzip) 84 . Mit dieser nicht unbedenklichen Konsequenz ist die zunehmende Bürokratisierung, Spezialisierung und Professionalisierung des Parlamentsbetriebs sogar verfassungsgerichtlich abgesichert. bb) Im Verlauf einer Legislaturperiode verabschiedet der Bundestag zwischen 80 400 und 450 Gesetze. Während im Rahmen seiner Kontrolltätigkeit die Zahl der Großen Anfragen von 160 in der 1. auf nur 24 in der 7. Wahlperiode zurückgegangen ist, was dem Bundestag bereits das Verdikt „mundfaul" eingetragen hat 85 , und die Zahl der Kleinen Anfragen sich etwa verdreifacht hat (von 400 auf 1250), ist die Menge der Mündlichen Anfragen geradezu sprunghaft angestiegen (von 400 in der 1. auf 4134 in der 11. Wahlperiode). Plenarsitzungen (200 bis 250 pro Wahlperiode) und Ausschußsitzungen, die von etwa 5000 auf heute 1700 zurückgegangen sind, standen ursprünglich im Verhältnis von 1:25, inzwischen bei 1:7. Man hat aus dieser Statistik den Schluß gezogen, daß der Bundestag weder ein „Redeparlament" mit Schwerpunkt bei den Plenardebatten, noch ein bloßes „Arbeitsparlament" unter einseitiger Betonung der Ausschußtätigkeit sei, sondern ein „Mischparlament" 86 , das seine Aufgaben sowohl im Bereich der Gesetzgebung wie auf Gebieten kontroverser politischer Auseinandersetzung in Öffentlicher Rede und Gegenrede gesehen habe. 84

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Vgl. B V e r f G E 40, 296 (310 ff). Ferner v. ARNIM E n t s c h ä d i g u n g und A m t s a u s s t a t t u n g (Fn. 40) § 16, S. 523 ff. W. HENNIS D e r Deutsche B u n d e s t a g 1 9 4 9 - 1 9 6 5 , in: D e r M o n a t 18 (1966) S. 2 6 f f (34). Inzwischen ist die Zahl der Großen A n f r a g e n dank der „ G r ü n e n " wieder auf 145 in der 11. Wahlperiode angestiegen. S o W. STEFFANI Amerikanischer K o n g r e ß u n d deutscher B u n d e s t a g — ein Vergleich, in: Parlamentarismus, hrsg. von K . K l u x e n , 1967, S. 230 f f (241 ff); vgl. auch M . HERETH D i e parlamentarische O p p o s i t i o n in der Bundesrepublik D e u t s c h l a n d , 1969, S. 140 ff.

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

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Gleichwohl haben sich seit den fünfziger Jahren die Gewichte merklich vom Redezum Arbeitsparlament verschoben, woraus sich heute Folgerungen für eine Parlamentsreform (vgl. unter Rdn. 127 ff) ergeben. 81

cc) Bei ihrer parlamentarischen Tätigkeit werden Ausschüsse, Fraktionen und einzelne Abgeordnete durch sog. „Hilfsdienste" unterstützt, die zur Verwaltung des Bundestages gehören und in den letzten Jahren erheblich ausgebaut worden sind (inzwischen ca. 1800 Bedienstete). Man unterscheidet dabei den Dokumentationsdienst, den Wissenschaftlichen Fachdienst, den Petitionsdienst und den Abgeordnetendienst. Darüber hinaus verfügen die Fraktionen auch über eigene Hilfsdienste (von insgesamt 620 Mitarbeitern), denen vor allem die Betreuung der Fraktionsarbeitskreise obliegt, sowie jeder Abgeordneter über mindestens einen politischen Mitarbeiter. Während die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zur Objektivität und Neutralität verpflichtet sind, unterstehen die Fraktionsdienste der politischen Leitung des Fraktionsvorstands. Wenngleich ihr quantitativer Umfang noch längst nicht an entsprechende Hilfsdienste anderer Parlamente (ζ. B. des US-Kongresses) heranreicht, so sind neuerliche Warnungen von dem Entstehen einer „Gegenbürokratie" keineswegs unbegründet. Allerdings erschweren eine zu niedrige Stellenbewertung und mangelnde Aufstiegschancen auch die Gewinnung hinreichend qualifizierter Mitarbeiter in den Fraktionen ebenso wie bei den Abgeordneten, so daß die Überlegenheit des ministeriellen Sachverstands — nicht zuletzt wegen des geringen Einflusses der „neutralen" Wissenschaftlichen Dienste auf die politische Auseinandersetzung — kaum jemals ernsthaft erschüttert werden kann. Dennoch würde man den komplexen arbeitsteiligen Parlamentsbetrieb im modernen Staat heute ohne die Hilfsdienste kaum aufrecht erhalten können. Weil die Regierungsfraktionen in der Regel direkt auf die Ministerialbürokratie zurückgreifen können, erscheinen sie ferner im Hinblick auf die Chancengleichheit von Regierungsmehrheit und Opposition unentbehrlich. 3. Parlament und Regierung

82 Im Mittelpunkt jeder Analyse des parlamentarischen Systems steht naturgemäß die Frage nach dem Verhältnis von Parlament und Regierung. Während unter der Vorherrschaft des Gewaltenteilungsprinzips im konstitutionellen Staat Regierung und Parlament insgesamt als getrennte Organe einander gegenüberstanden, ist das parlamentarische System durch das politische Wechselspiel von Regierung und Regierungsmehrheit auf der einen Seite und der parlamentarischen Opposition andererseits gekennzeichnet. Zugleich wird dieser politische Gegensatz durch eine praktische Zusammenarbeit von Regierung und Parlament im Sinne arbeitsteiliger Staatsleitung 87 ergänzt und bisweilen sogar überlagert. In der Erkenntnis, daß zahlreiche wichtige Gegenstände der Politik auch im parlamentarischen System entweder der

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Vgl. E. FRIESENHAHN Parlament und Regierung im modernen Staat, in: V V S t R L Bd. 16 (1958) S. 9 ff (36 ff); neuerdings S. MAGIERA Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979, insbes. S. 240 ff.

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Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

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Regierung verfassungskräftig vorbehalten sind oder von ihr als ureigene Domäne betrachtet werden, daß ferner eine wirksame parlamentarische Kontrolle der Mehrheitsunterstützung bedarf und daß schließlich auch die parlamentarische Opposition auf Regierungsinformationen angewiesen ist, hat F R I E S E N H A H N sein Modell der „Regierung zur gesamten Hand" entwickelt und die Aufgabe der „Staatsleitung" (government) den Organen Parlament und Regierung gemeinsam zugewiesen, um so den Aktions- und Einflußbereich des Parlaments gegenüber der Regierung zu erweitern. Wenn daraus freilich der Schluß gezogen wird, daß sich die Abgeordnetentätigkeit — namentlich in den Ausschüssen — nur mehr als „parlamentarische Mitregierung" erweise, weil fortlaufende Kontrolle eine sehr viel intensivere Uberwachung der Regierung erlaube als die nachträgliche Ergebniskontrolle88, so besteht die Gefahr, daß hiermit nicht nur die verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsgrenzen und Verantwortlichkeiten zwischen Parlament und Regierung verwischt werden, sondern auch die politische Rolle der parlamentarischen Opposition außer Betracht bleibt, ja Informations- und Entscheidungsdefizite des Parlaments zu bloßen Partizipationsdefiziten an der Regierung zusammenschrumpfen. Deshalb wird man gerade auch neuere Bestrebungen, das Parlament in einen „kooperativen Staatsleitungsprozeß" einzubinden und so die Opposition entweder auszuschließen oder in „Mitregierungspflicht" zu nehmen89, mit einiger Skepsis betrachten müssen. a) Parlamentarische

Bildung und Auflösung der Regierung

aa) Nach Art. 63 und 64 GG wird die Bundesregierung, bestehend aus dem Bun- 83 deskanzler und den Bundesministern (Art. 62 GG), in der Weise gebildet, daß zunächst der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ohne Aussprache mit der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt und sodann die Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt werden. Findet der Kanzlerkandidat keine absolute Mehrheit, so ist der Bundestag im zweiten Wahlgang binnen 14 Tagen nicht mehr an den Vorschlag des Bundespräsidenten gebunden (Art. 63 Abs. 3 GG). Kommt auch innerhalb dieser Frist keine Wahl zustande, so genügt im unverzüglich anzuschließenden dritten Wahlgang die einfache Mehrheit der Stimmen. In diesem Fall kann jedoch der Bundespräsident binnen 7 Tagen den Gewählten zum Kanzler ernennen oder den Bundestag auflösen (Art. 63 Abs. 4 GG). Jenes dreistufige Verfahren beläßt zunächst das Vorschlagsrecht beim Bundespräsidenten, sichert sodann die Prärogative einer absoluten Parlamentsmehrheit und legt schließlich für den Fall ihres Scheiterns die Befugnis zur Regierungsbildung zurück in die Hand des Präsidenten, der zwischen der Ernennung eines Minderheitskanzlers und der Parlamentsauflösung frei wählen kann. Aus dieser Konstruktion ergibt sich, daß die Regierungsbildung nach dem 84 Grundgesetz vornehmlich Sache einer absoluten Parlamentsmehrheit sein soll und für 88

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So W. KEWENIG Staatsrechtliche Probleme parlamentarischer Mitregierung am Beispiel der Arbeit der Bundestagsausschüsse, 1970, S. 29 f f (31). Dazu neigt MAGIERA Parlament und Staatsleitung (Fn. 8 7 ) S. 252 ff; vgl. auch unten Rdn. 97 („kooperativer Parlamentarismus").

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

den Fall ihres Zustandekommens der Bundespräsident sein Vorschlagsrecht im Sinne dieser Mehrheit ausüben und den gewählten Kanzler ernennen muß90. Lediglich gegenüber einer einfachen Mehrheit verfügt der Bundespräsident über eine eigenständige politische Entscheidungsmacht, von der er freilich auch nur in Abstimmung mit den Partei- und Fraktionsführern Gebrauch machen wird. 85 Bisher haben 15 Kanzlerwahlen (viermal ADENAUER, zweimal E R H A R D , einmal KIESINGER, zweimal BRANDT, dreimal SCHMIDT, dreimal K O H L ) stattgefunden, die sämtlich bereits im ersten Wahlgang zum Erfolg führten. Denn die Regierungsbildung wurde jeweils noch vor der Wahl des Kanzlers in Koalitionsgesprächen soweit angebahnt, daß von vornherein eine absolute Parlamentsmehrheit gesichert war; ja meist stand der neue Bundeskanzler bereits in der Wahlnacht fest, wenn sich die Parteien zuvor durch feste Koalitionsaussagen gebunden hatten. 86

bb) Die Amtszeit einer Bundesregierung endet im Normalfall mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages (Art. 69 Abs. 2 GG), d. h. mit dem Ablauf jeder Wahlperiode (vgl. Art. 39 Abs. 1 GG). Darüber hinaus ist der Bestand der Regierung an das Amt des Bundeskanzlers geknüpft; erledigt sich dieses (ζ. B. durch Rücktritt, Tod oder erfolgreiches Mißtrauensvotum), so ist auch die Regierung aufgelöst oder entlassen (Art. 69 Abs. 2 GG). Der Rücktritt eines Ministers hingegen berührt den Bestand der Regierung nicht. In beiden Fällen kann jedoch der Bundespräsident den Bundeskanzler und dieser einen Bundesminister bitten, die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen (Art. 69 Abs. 2 GG). Schlägt eine Vertrauensfrage fehl, so amtiert die Regierung noch bis zur Neuwahl eines Kanzlers oder — im Falle der Parlamentsauflösung — bis zum Zusammentritt eines neuen Bundestages weiter, und zwar nicht als geschäftsführende Regierung, sondern aus eigener Legitimation. Während in der Weimarer Republik Regierungskrisen meist durch einen Koalitionszerfall ausgelöst wurden, hat das parlamentarische System in der Bundesrepublik ein bemerkenswertes Maß an Regierungsstabilität bewiesen: Lediglich vier Kanzlerrücktritten (davon nur einer mitbedingt durch Koalitionswechsel) stehen acht normale Regierungsneubildungen jeweils nach Ablauf einer Wahlperiode zur Seite.

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cc) Den wohl originellsten Beitrag zur Ausgestaltung des parlamentarischen Systems im Grundgesetz stellte die Einführung des sog. konstruktiven Mißtrauensvotums" dar, mit dessen Hilfe aufgrund der Weimarer Erfahrungen langdauernde Regierungskrisen vermieden werden sollten. Hiernach kann der Bundestag einem Bundeskanzler nur dadurch das Mißtrauen aussprechen (und auf diese Weise eine Entlassung der Regierung erzwingen), daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt, den der Bundespräsident ernennen muß (Art. 67 GG). So einleuchtend diese Regelung auch erscheinen mag, über ihre verfassungspolitische Bewertung ist man sich nach wie vor uneinig: Die Skala der Urteile reicht jedenfalls

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Überzeugend H. STEIGER Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 232 ff.

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von lobender Anerkennung als „eine der wichtigste Organisationsnormen des GG"91 bis zum vernichtenden Verdikt „toter Buchstabe"92. Gewiß läßt sich heute mit Sicherheit feststellen, daß Art. 67 GG wohl nur schwerlich die ihm einst zugedachten Stabilisierungsfunktionen zu erfüllen vermag. Denn eine durch Koalitionszerfall entstandende Minderheitsregierung wird politisch nicht dadurch stabiler, daß sie nur von einer konstruktiven Mehrheit abberufen werden kann. Findet sich aber eine solche Mehrheit, ist das Stabilitätsproblem gelöst. Blickt man auf die Verfassungspraxis, so scheint zu jener erstaunlichen Festigkeit 88 und Geschlossenheit von Regierungskoalitionen eher die Entwicklung zum bipolaren Mehrparteiensystem beigetragen zu haben als das konstruktive Mißtrauensvotum. Im ersten Fall seiner Aktualisierung, welcher durch Fraktionswechsel mehrerer Abgeordneter ausgelöst wurde, ist ein entsprechender Antrag mit dem Ziel der Kanzlerwahl R A I N E R BARZELS gegen W I L L Y B R A N D T am 2 7 . April 1 9 7 2 auch prompt gescheitert93. Erst beim zweiten Mal war ein Antrag nach Art. 67 erfolgreich, als HELMUT K O H L am 1 . Oktober 1 9 8 2 auf diesem Wege H E L M U T S C H M I D T ablöste. Deshalb wird man dem konstruktiven Mißtrauensvotum nicht von vornherein jede Berechtigung absprechen dürfen. Außer einer möglichen Erziehungs- und Präventivwirkung für den Krisenfall („fleet in being") enthält nämlich Art. 67 GG in Verbindung mit dem Demokratieprinzip (Art. 20, 28 GG) die eigentliche Legitimationsgrundlage der parlamentarischen Opposition (vgl. unten Rdn. 98 ff). Ohne die verfassungsrechtlichen Konsequenzen des Art. 67 GG wurden außerdem bisher 23 Mißbilligungs-, Tadels- oder Entlassungsanträge im Bundestag gegen den Bundeskanzler oder einzelne Minister gestellt, im Ergebnis jedoch sämtlich abgelehnt oder zurückgenommen. dd) Mit der sog. „Vertrauensfrage" verfügt auf der anderen Seite auch der 89 Bundeskanzler über ein Instrument zur Stabilisierung seiner Macht oder zur Initiierung von Neuwahlen („Appell an das Volk"). Findet nämlich ein entsprechendes Vertrauensersuchen des Kanzlers, das auch mit anderen Entscheidungen verbunden werden darf, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen. Die Auflösungsbefugnis erlischt, wenn sich der Bundestag hiergegen mit der Wahl eines neuen Kanzlers zur Wehr setzt (Art. 68 GG). Angesichts der bisher geringen praktischen Relevanz des Instituts der Vertrauensfrage kann man auch bei Art. 68 GG daran zweifeln, ob er noch funktionstüchtig ist. Geht man vom Normalfall des parlamentarischen Systems aus, bei dem sich die Regierung auf eine Mehrheit im Parlament stützt, dann erscheint die Möglichkeit der Vertrauensfrage höchst überflüssig. Droht indessen die Regierungsmehrheit abzubröckeln, so wird man ihren Zerfall auch mit der Vertrauensfrage nicht aufhalten, höchstens vor die

91

92 93

A . HAMANN/H. LENZ Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. A u f l . , 1970, Anm. A zu Art. 6 7 (S. 5 0 8 ) . VON BEYME Die parlamentarischen Regierungssysteme (Fn. 7) S. 359. Dazu M. MÜLLER Das konstruktive Mißtrauensvotum. Chronik und A n m e r k u n g e n zum ersten Anwendungsfall nach Art. 67 G G , in: ZParl 3 (1972) S. 2 7 5 ff.

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3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

Öffentlichkeit tragen und dadurch den Erosionsprozeß erfahrungsgemäß nur beschleunigen können. 90 Deshalb besteht der Hauptzweck von Art. 68 GG heute nur noch darin, eine Parlamentsauflösung zu ermöglichen, von welcher sich der antragstellende Kanzler eine Verbreiterung der parlamentarischen Mehrheit erhofft. Eine solche gezielt „negative Vertrauensfrage" kann entweder einseitig gestellt werden, um eine Minderheitsregierung dem Wählerurteil zu präsentieren, oder aber — wie am 22. September 1972 durch W I L L Y B R A N D T bzw. am 17. Dezember 1982 durch H E L M U T K O H L — zwischen der Regierung und den Koalitionsfraktionen vereinbar sein94. Im zweiten Fall bildete sie ein Funktionsäquivalent für das fehlende Selbstauflösungsrecht des Bundestages, wenn das Parlament in besonderen Krisenlagen (Patt-Situation, fehlgeschlagenes Mißtrauensvotum, Minderheitsregierung nach Koalitionszerfall) von sich aus zur Bildung einer Mehrheitsregierung nicht mehr im Stande und damit funktionsuntüchtig geworden ist. Stets muß jedoch die Parlamentsauflösung der letzte und einzige Ausweg (ultima ratio) bleiben. b) Parlamentarische

Kontrolle der Regierung

91 aa) Als eine der Hauptaufgaben neben den Wahlen und der Gesetzgebung obliegt dem Bundestag im parlamentarischen System die politische Kontrolle der Regierung. Auf diese Kontrollfunktion wird im Grundgesetz allerdings nur an sehr versteckter Stelle hingewiesen, nämlich im Zusammenhang mit dem Wehrbeauftragten, von dem es heißt, daß er ein „Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle" sei (Art. 45 b GG). Dennoch ist die Kontrollkompetenz des Gesamtparlaments gegenüber der Regierung — einst Strukturmerkmal des konstitutionellen Staates — auch unter der Herrschaft des parlamentarischen Systems völlig unbestritten. Erheblich größere Schwierigkeiten bereitet allerdings die Wahrnehmung dieser Aufgabe in der Verfassungspraxis. Denn effektive Kontrolle der Regierung setzt parlamentarische Mehrheitsentscheidungen voraus, die wenigstens mit einem Mindestmaß an Verbindlichkeit ausgestattet sind. 92

Da jedoch gerade die Mehrheit im parlamentarischen System normalerweise die Regierung politisch unterstützt und deshalb an wirksamer Kontrolle meist nicht interessiert ist, wird das demokratische Wächteramt nur von einer Minderheit wahrgenommen: der parlamentarischen Opposition'^. Wenn man angesichts dieser Situation nicht ständig Kontrolldefizite beklagen oder Kontrolle durch Mitwirkung ersetzen will, wird man sich im parlamentarischen System allmählich daran gewöhnen müssen, daß hier „Kontrolle" nicht in erster Linie darin bestehen kann, der Regierung den Willen des Parlaments aufzuzwingen (Aufsicht) oder das Heil in einer Zusammen94

95

Dazu K . KREMER (Hrsg.) Parlamentsauflösung. Praxis —Theorie —Ausblick, 1974. Ferner H.-P. SCHNEIDER Die vereinbarte Parlamentsauflösung, in: J Z 1973, S. 652 ff. H. MAURER Vorzeitige A u f l ö s u n g des Bundestages, in: D Ö V 1992, S. 1001 ff; a. A . W.-R. SCHENKE Die verfassungswidrige Bundestagsauflösung, in: N J W 1982, S. 2521 (m.w. Nachw.); s.a. B V e r f G E 62, 1 ( 3 3 f f ) . H.-P. SCHNEIDER Verfassungsrechtliche Bedeutung und politische Praxis der parlamentarischen Opposition, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 38, S. 1 0 5 5 ff.

§13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

575

arbeit hinter verschlossenen Türen zu suchen (Kooperation), sondern vor allem Publikation von Mißständen (Kritik), Aggregation vernachlässigter Interessen (Werbung) und Demonstration eines alternativen politischen Willens (Kontrast) bedeutet. Hierfür stehen dem Bundestag bestimmte Kontrollgremien und Kontrollinstrumente zur Verfügung. bb) Im Vordergrund parlamentarischer Kontrolltätigkeit agieren die hierfür 93 eigens vorgesehenen Ausschüsse, allen voran die Untersuchungsausschüsse (Art. 44 GG)9S. Ihr Arbeitsfeld erstreckt sich hauptsächlich auf „Mißstandsenqueten", welche der Aufklärung eines Skandals oder sonstigen Fehlverhaltens der Regierung dienen. Von Fall zu Fall eingesetzt und meist von der Opposition beantragt, bemühen sich die Untersuchungsausschüsse um eine Ermittlung des wahren Sachverhalts und um dessen möglichst objektive politische Bewertung. Zwar wird ihren Ergebnissen unter Hinweis auf das Mehrheitsprinzip immer wieder praktische Folgenlosigkeit vorgeworfen. Dennoch hat das Parlamentsrecht in den letzten Jahren hier nicht unerhebliche Fortschritte gebracht: Dem schon seit langem anerkannten Minderheitsrecht auf Einsetzung von Untersuchungsausschüssen wurde im Bund und in einigen Ländern ein Beweisantragsrecht der Minderheit sowie die Möglichkeit eines Minderheitsvotums im Abschlußbericht zur Seite gestellt97. Anerkannt ist inzwischen auch das Aktenvorlagerecht der Untersuchungsausschüsse, das allerdings durch Erfordernisse des Datenschutzes und der Geheimhaltung beschränkt sein kann98. Die Regierungs- und Verwaltungskontrolle im Interesse des Bürgers obliegt 94 den Petittonsausschüssen, welche dessen Eingaben prüfen, eine Stellungnahme der gerügten Behörde einholen und begründete Antworten erteilen. Auch hier sind inzwischen die Kontrollmöglichkeiten dadurch erheblich verbessert worden, daß man den Petitionsausschüssen in fast allen Bundesländern Auskunfts-, Aktenvorlageund Zutrittsrechte zu Behörden eingeräumt hat. Einen maßgeblichen Anteil an der Regierungskontrolle hat traditionell die parlamentarische Überwachung des Haushalts- und Finanzgebahrens der Exekutive, wie sie im Haushalts-, Finanund Rechnungsprüfungsausschuß durchgeführt wird. Auf dem Gebiet der Nachrichtendienste sind das Abgeordnetengremium nach § 9 Abs. 1 G 10 sowie die parlamentarische Kontrollkommission tätig. Als demokratischer Legitimitätsfilter kommen schließlich 96

M.

SCHRÖDER U n t e r s u c h u n g s a u s s c h ü s s e ,

in:

Schneider/Zeh

(Fn. 1)

S. 1 2 4 5 f f ; U .

THAYSEN/

S. SCHÜTTEMEYER Bedarf das Recht der Untersuchungsausschüsse einer Reform?, 1988; H.-P. SCHNEIDER Empfiehlt sich eine gesetzliche Neuordnung der Rechte und Pflichten parlamentarischer Untersuchungsausschüsse?, in: Verhandlungen des 57. Deutschen Juristentages Mainz 1988, 1988, Band II (Sitzungsberichte) Teil M, S. 54 ff; U. BACHMANN/H.-P. SCHNEIDER Zwischen Aufklärung und politischem Kampf. Aktuelle Probleme des parlamentarischen Untersuchungsrechts, 1988. 57

98

Vom Bundestag inzwischen mehrfach als „Parlamentsbrauch" praktiziert. Vgl. ferner § § 1 3 Abs. 2, 33 Abs. 2 des Gesetzes über Einsetzung und Verfahren von Untersuchungsausschüssen des Landtags in Baden-Württemberg v o m 3 . 3 . 1976 (GBl. S. 194); § 2 1 Abs. 4 des Gesetzes über die Untersuchungsausschüsse des Bayerischen Landtags v o m 23. 3. 1970 (GVB1. § 95); §§ 10 Abs. 2, 19 Abs. 2 des Gesetzes über die Untersuchungsausschüsse des Abgeordnetenhauses von Berlin v o m 22. 6. 1970 (GVB1. S. 925) i. d. F. v o m 3. 12. 1974 (GVB1. S. 2747). So B V e r f G E 67, 100 (127 ff); vgl. auch B V e r f G E 77, 1 (38 ff).

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

noch die Wahlprüfungsausschüsse des Bundestages hinzu. Für den Bereich der Streitkräfte stellt der Wehrbeauftragte des Bundestages ein „Hilfsorgan" parlamentarischer Kontrolle dar. Unter dem Gesichtspunkt erhöhter Kontrollintensität und -effektivität wäre zu überlegen, ob nicht auch die Rechnungshöfe und der Datenschutzbeauftragte beim Parlament angesiedelt werden sollten. In einigen Ländern (ζ. B. Niedersachsen, Schleswig-Holstein) werden bereits die Leiter dieser Behörden vom Parlament gewählt. 95

cc) Neben den Kontrollgremien steht dem Parlament und hier insbesondere den Fraktionen und Abgeordnetengruppen eine Vielzahl von Instrumenten der Regierungskontrolle zur Verfügung, welche meist unter dem Oberbegriff der „Minderheitsrechte" zusammengefaßt werden. An erster Stelle sind hier die Großen Anfragen (§§ 100—103 GO-BT) zu nennen, welche weniger eine Detailinformation des Parlaments bezwecken, als vielmehr die Grundlage der öffentlichen Auseinandersetzung über ein umfangreiches politisches Thema bilden und dabei Gelegenheit zur Darstellung der eigenen Ziele geben sollen. Vorrangig der Unterrichtung des Parlaments als einer unverzichtbaren Voraussetzung jeder Kontrolle dienen die „Informationsrechte" der Mehrheit oder relativ großer Minderheiten, also die Herbeirufung eines Mitglieds der Bundesregierung nach Art. 43 Abs. 1 GG (.Zitierrecht; vgl. auch §§ 42, 68 GO-BT), die Einsetzung von Enquête-Kommissionen (§ 56 GOBT), die Durchführung von Anhörungen (§ 70 GO-BT), vor allem aber das Instrument der Kleinen Anfrage (§ 104 GO-BT), mit der eine Auskunft der Bundesregierung über bestimmt bezeichnete Bereiche verlangt werden kann. Jedes Mitglied des Bundestages ist berechtigt, Mündliche Anfragen (§ 105 GO-BT) an die Regierung zu richten, welche in der Fragestunde des Bundestages beantwortet werden".

96

dd) Trotz dieser Vielzahl von Gremien und Instrumenten läßt die Kontrollfunktion der Parlamente weiter zu wünschen übrig. Einer fast gleichbleibenden Zahl von Großen Anfragen in den letzten drei Wahlperioden des Bundestages steht zwar eine erhebliche Zunahme der Kleinen Anfragen um mehr als das Dreifache und ein noch stärkerer Anstieg der Mündlichen und Schriftlichen Anfragen von 400 auf ca. 20000 gegenüber. Daraus läßt sich jedoch nicht der Schluß ziehen, daß die parlamentarische Kontrolle der Regierung in den letzten Jahren wesentlich an grundsätzlicher politischer Bedeutung gewonnen hat. Vielmehr droht sie sich in bürokratische Einzelkritik an bestimmten Regierungs- und Verwaltungsmaßnahmen zu verflüchtigen. Aber auch die politische Kontrolle der Verwaltung liegt nach wie vor im Argen. Wenn schon bei der Regierungskontrolle die parlamentarische Opposition meist gegen den Widerstand der Mehrheit zu kämpfen hat, so gilt dies in verstärktem Maße bei der Verwaltungskontrolle deshalb, weil hier zusätzlich noch die nötigen Sachkenntnisse und Detailinformationen fehlen. Insofern sind letztlich die Parlamente

99

Zum ganzen G. WITTE-WEGMANN Recht und Kontrollfunktion der Großen, Kleinen und Mündlichen Anfragen im Deutschen Bundestag, 1972. Vgl. auch S. MAGIERA Rechte des Bundestages und seiner Mitglieder gegenüber der Regierung, in: Schneider/Zeh (Fn. 1) § 52, S. 1421 ff.

§13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

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nicht nur mit ihrer Mehrheit kaum willens, sondern auch faktisch oft außerstande, eine wirksame Regierungs- und Verwaltungskontrolle auszuüben. ee) Gleichwohl besteht ein unverändert starkes Bedürfnis der Bürger nach 97 Intensivierung dieser Kontrolle, wie die steigende Zahl von Petitionen an den Bundestag zeigt, welche sich mit gegenwärtig nahezu 50 000 im Vergleich zur 1. Legislaturperiode fast verdoppelt haben. Angesichts dieser Situation mag man vielleicht noch verstehen, daß die gemeinsamen Aufgaben von Parlament und Regierung (ζ. B. die Gesetzgebung) arbeitsteilig wahrgenommen werden und ein enges Zusammenwirken beider Staatsorgane erfordern („kooperativer Parlamentarismus"), solange diese „Partnerschaft" nicht in eine allzu dienstfertige Anlehnung des Parlaments an die Regierung umschlägt, welche bis zur totalen Abhängigkeit von administrativen „Formulierungshilfen" selbst bei der Gesetzgebung führen kann. Wer daraus aber den Schluß ziehen zu können glaubt, daß die gesamte „Staatsleitung" nur noch als „kooperativer Prozeß zwischen Regierung und Parlament" zu verstehen sei, an welchem das Parlament durch „Mitregierung" teilnehme, ja sogar die Informationsbeziehungen zwischen Bundesregierung und Bundestag als „staatsleitenden Dialog" bezeichnet100, verkennt nicht nur weitgehend die politische Realität, läßt die Interessen der parlamentarischen Opposition außer Betracht und übersieht die spezifischen Legitimationsbedingungen einer freiheitlichen Demokratie (Öffentlichkeit, Transparenz und politische Beteiligung des Volkes), sondern er deckt über eine beklagenswerte Blöße des parlamentarischen Systems sogar noch den Mantel der Normativität mit der gefährlichen Folge, daß die ohnehin bestehende Kooperation zwischen Parlament und Regierung als Regelfall betrachtet wird, die hierdurch schon jetzt mitverursachten Kontrolldefizite sich weiter verschärfen und schließlich auch die Entfremdung des Bürgers gegenüber dem parlamentarischen System („Parlamentsverdrossenheit") zunimmt. c) Parlamentarische

Opposition

aa) Da im parlamentarischen System der Bestand einer Regierung vom Vertrauen 98 der Parlamentswftfir/tó/ abhängt, diese also zusammen mit der Regierung eine politische Handlungseinheit bildet, ist der natürliche Kontrahent und Gegenspieler der Regierung nicht das Parlament als Ganzes, sondern nur die jeweilige Minderheit·, die parlamentarische Opposition. Darunter versteht man die Gesamtheit aller nicht an der Regierung beteiligten, aber potentiell regierungsfähigen Gruppen (Fraktionen) im Parlament101, wobei Regierungsfähigkeit im Mehrparteiensystem praktisch Koalitionsfähigkeit bedeutet und Nichtbeteiligung an der Regierung „Ausschluß" von den Machtbefugnissen des Art. 65 GG heißt, also (1) von der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers (auch indirekt über Koalitionsvereinbarungen), (2) von jeder Ressortverantwortung und (3) von der Mitgliedschaft im Kabinett. 100 101

So MAGIERA Parlament und Staatsleitung (Fn. 87) S. 307 ff. H.-P. SCHNEIDER Die parlamentarische Opposition (Fn. 13) S. 121.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

99

In diesem Sinne ist die parlamentarische Opposition nicht nur ein unvermeidliches Nebenprodukt des auf dem Mehrheitsgrundsatz basierenden parlamentarischen Systems, sondern ein unverzichtbares Funktionselement der demokratischen Ordnung. Denn weil die Demokratie einerseits wesentlich in einer auf Zeit anvertrauten, periodisch legitimationsbedürftigen und stets kontrollierbaren Herrschaft im Interesse des Volkes besteht, andererseits aber das parlamentarische System ein Höchstmaß an Regierungsstabilität bezweckt, kann dieser latente Zielkonflikt nur dadurch zum Ausgleich gebracht werden, daß für die reale Möglichkeit eines politischen Machtwechsels institutionelle Vorsorge getroffen wird. Die reale Machtwechselchance ist gleichsam das innere Bewegungsprinzip des demokratischen Parlamentarismus (Alternanzdemokratie) 102 . Daher bezieht die parlamentarische Opposition ihre Existenzberechtigung in erster Linie aus dem verfassungsrechtlichen Auftrag, einen politischen Machtwechsel herbeizuführen.

100

Hierauf sind letztlich auch all ihre Funktionen ausgerichtet. Über die herkömmlichen Aufgaben der Kritik, Kontrolle und Alternativenbildung im Verhältnis zur Regierung hinaus wachsen der parlamentarischen Opposition unter den Bedingungen der modernen Massendemokratie im Hinblick auf das Machtwechselziel weitergehende Aktionsmöglichkeiten zu: durch „Partizipation" in den Ausschüssen etwa eine Mitwirkungs- und Korrekturfunktion, durch „Artikulation" eigener Vorschläge und Sachkonzepte eine Politisierungs- und Innovationsfunktion, durch „Demonstration" des Dissenses mit der Regierung eine Polarisierungs- und Aggregationsfunktion und schließlich durch möglichst lückenlose „Information" der Bevölkerung eine Öffentlichkeits- und Publikationsfunktion 103 . Von diesen Aufgaben her bestimmt und erklärt sich auch die Rechtsstellung der parlamentarischen Opposition nach dem Grundgesetz.

101

bb) Zwar wird die parlamentarische Opposition im Grundgesetz ebensowenig erwähnt wie das parlamentarische Regierungssystem. Damit ist jedoch gleichfalls noch nichts gegen die verfassungsrechtliche Qualität ihrer Rechtsstellung gesagt. Vielmehr stützt sich der Verfassungsstatus der parlamentarischen Opposition zunächst auf die allgemeine Oppositionsfreiheit, nach der die verfassungsgemäße Bildung und Ausübung einer Opposition zu den unabänderlichen Kembestandteilen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gehören 104 . Demgemäß ist die politische Opposition generell durch das Demokratieprinzip (Art. 20, 28 GG) garantiert und die parlamentarische Opposition zusätzlich über die Stellung der Parteien und Fraktionen (Art. 21 GG) abgesichert. Wenn also Art. 23 a Abs. 1 der Hamburger Verfassung vorsieht, daß die Opposition „ein wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen

102

103 104

Ähnlich A. ARNDT Die Entmachtung des Bundestages, in: Die Neue Gesellschaft 6 (1959) S. 431 ff (432): „In dieser Hinsicht kann man Demokratie geradezu als einen Staat mit Opposition definieren". Vgl. auch H.-P. SCHNEIDER Die parlamentarische Opposition (Fn. 13) S. 397—405; DERS. Bedeutung und Praxis der parlamentarischen Opposition (Fn. 95) § 38, S. 1055 ff. H.-P. SCHNEIDER Die parlamentarische Opposition (Fn. 13) S. 242. Vgl. B V e r f G E 2, 1 (13); 5, 85 (140).

§ 13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

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Demokratie" sei105, so entspricht diese Norm durchaus ungeschriebenem Verfassungsrecht in der Bundesrepublik und hat deshalb lediglich deklaratorische Bedeutung. Dasselbe gilt für die Funktionsbestimmung der parlamentarischen Opposition in Abs. 2, wo es heißt: „Sie hat die ständige Aufgabe, die Kritik am Regierungsprogramm im Grundsatz und im Einzelfall öffentlich zu vertreten. Sie ist die politische Alternative zur Regierungsmehrheit". Die zur Erfüllung dieser Aufgaben notwendigen Oppositionsrechte ergeben sich 102 zum Teil unmittelbar aus der Verfassung, teilweise auch aus Gesetzen, vor allem aber aus den parlamentarischen Geschäftsordnungen und aus bloßem Parlamentsbrauch. Hier werden die Oppositionsparteien oder Oppositionsfraktionen, der Oppositionsführer oder die Oppositionsabgeordneten, ja sogar der Oppositionsdienst ausdrücklich genannt und mit besonderen Befugnissen ausgestattet106. Insgesamt sind die Rechte der Opposition stark formalisiert, d. h. an bestimmte Quoren gebunden und deshalb nahezu identisch mit den parlamentarischen Minderheitsrechten. Auf inhaltliche Kriterien verweist jedoch die Redeordnung in § 28 Abs. 1 GO-BT, wonach die Worterteilung dem Grundsatz von „Rede- und Gegenrede" entsprechen sowie insbesondere nach der Erklärung eines Regierungsmitglieds der „abweichenden Meinung" Gehör verschafft werden soll. cc) Im Unterschied zur Oppositionsstellung im Parlament ist das Verhältnis 103 von Opposition und Regierung nur sehr unvollkommen geregelt. Lediglich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sich bisher seiner angenommen. So wurde schon frühzeitig entschieden, daß im parlamentarisch-demokratischen Staat die Opposition nicht nur das Recht, sondern geradezu eine Pflicht habe, gegen einen von der Regierung abgeschlossenen völkerrechtlichen Vertrag „außer ihren politischen auch ihre verfassungsrechtlichen Bedenken geltend zu machen"107. Ob der parlamentarischen Opposition allerdings ein Recht auf Chancengleichheit mit der Regierung zusteht, wurde vom BVerfG bisher verbal offengelassen und in der Sache zunächst auf ein Verbot willkürlicher Benachteiligung der Oppositionsfraktionen (bei der Inanspruchnahme von Redezeiten) beschränkt108. Später hat das Gericht sogar die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung am Grundsatz der Chancengleichheit gemessen und ausdrücklich betont, man müsse darauf sehen, daß die Mehrheit „insbesondere auch die Rechte der Minderheit beachtet und ihre Interessen mitberücksichtigt, ihr zumal nicht die rechtliche Chance nimmt oder verkürzt, zur Mehrheit

105

106

107 108

Über die Hamburger Verfassungsreform von 1 9 7 1 , die zur Schaffung des A r t . 23 a führte, berichten kritisch B. BUSSE/U. HARTMANN Verfassungs- und Parlamentsreform in Hamburg, in: ZfParl 2 (1971) S. 200 ff. Ähnliche Formulierungen finden sich neuerdings in Art. 25 Abs. 3 der Verfassung von Berlin, Art. 12 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Art. 76 Satz 1 der Verfassung des Landes Brandenburg, Art. 24 Satz 1 des Verfassungsentwurfs für Mecklenburg-Vorpommern sowie Art. 40 Satz 1 der Verfassung des Freistaates Sachsen. Dazu H.-P. SCHNEIDER Die parlamentarische Opposition (Fn. 13) S. 232 ff, 258 ff; ferner W. STEFFANI Warum die Bezeichnung „Kleine Parlamentsreform"?, in: ZParl 12 (1981) S. 591 ff. B V e r f G E 2, 143 (170 f). B V e r f G E 10, 4 (16 f).

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3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

von morgen zu werden" 109 . Deshalb sei regierungsamtliche Wahlwerbung auch im Wege der Öffentlichkeitsarbeit grundsätzlich unzulässig. Ein letztes, klärendes Wort des Gerichts zur Chancengleichheit von Regierung und Opposition steht freilich noch aus110. Es soll vorbereitet werden durch einige ergänzende theoretische Überlegungen.

III. Idee und Wirklichkeit des parlamentarischen Systems in der Gegenwart 1. Theorie und Kritik des Parlamentarismus a) Parlamentarismus und Liberalismus 104 Die Theorie des Parlamentarismus hat ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln im politischen Liberalismus. Zu dessen Grundüberzeugungen gehört seit L O C K E die Vorstellung, daß individuelle Freiheit nur gesichert sei, wenn die verschiedenen staatlichen „Gewalten" und Machtfaktoren voneinander getrennt sind, d. h. sich wechselseitig begrenzen und kontrollieren können 111 . Diese Konzeption einer „Minimierung von Herrschaft" (MAX WEBER), als „klassische" Gewaltenteilungslehre bekannt, hat sich in ihrer dogmatisierten Form nicht nur über Revolutionen und Verfassungsumbrüche hinweg zu behaupten vermocht, sie hat auch den Sinngehalt und die konkrete Ausgestaltung anderer Strukturprinzipien des politischen Gemeinwesens, etwa das Demokratieverständnis oder den Charakter des Regierungssystems, maßgeblich beeinflußt. Ihre wichtigsten Denkfiguren: das von B U R K E aufgestellte „Gleichgewichtspostulat" im Bereich der organisierten Staatlichkeit, die an M I L L anknüpfende These vom freien politischen Wettbewerb der Parteien und Verbände bis hin zur „Konkurrenztheorie" SCHUMPETERS 112 sowie der auf K A N T zurückgehende „Dualismusgedanke" bilden noch heute die Grundlagen der liberalen Staatsidee. 105

Lediglich der Bezugsrahmen hat sich verschoben: Während man in der konstitutionellen Monarchie von einem „Gleichgewicht" zwischen Regierung und Parlament, Bürokratie und Parteien, öffentlichem Wohl und privatem Gruppeninteresse sprach, scheint nunmehr die „Logik" der parlamentarischen Demokratie 113 zur 109 110

111

1,2 113

BVerfGE 44, 125 (142). Inzwischen hat das Recht der Opposition(sfraktionen) auf Chancengleichheit mit der Regierung bzw. der Regierungsmehrheit (in Parlament und Öffentlichkeit) wenigstens in einige Landesverfassungen Eingang gefunden: Vgl. Art. 25 Abs. 2 Satz 3 der Verfassung von Berlin, Art. 2 Satz 3 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Art. 55 Abs. 2 Satz 2 der Verfassung des Landes Brandenburg, Art. 24 Satz 3 des Verfassungsentwurfs für Mecklenburg-Vorpommern, Art. 40 Satz 2 der Verfassung des Freistaates Sachsen, Art. 48 Abs. 2 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt. Vgl. J. LOCKE Second Treatise of Civil Government (1690) chap. XII, 143 sq. (dt.: Über die Regierung, hrsg. von P. C. Mayer-Tasch, 1966, S. 116 ff). J. A. SCHUMPETER Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Aufl., 1950, S. 427 ff. Dagegen schon H. EHMKE Empfiehlt es sich, Funktion, Struktur und Verfahren der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse grundlegend zu ändern? (Referat) in: Verhandlungen des Dt. Juristentages, Bd. II/E, 1965, S. 45.

§13

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Erhaltung der persönlichen Freiheit einen Macht„ausgleich", ,,-wettbewerb", ,,-dualismus" zwischen Regierung(skoalition) und Opposition, Mehrheits- und Minderheitsparteien, über- und unterrepräsentierten Interessen zu fordern. Das Vertrauen auf die unter solchen Bedingungen vermutete Selbstregulierung des politischen Prozesses bei quasi automatischer Verwirklichung des Gemeinwohls ist jedoch im Prinzip unerschüttert erhalten geblieben. b)

Parlamentarismuskritik

Auch die Kritik am Parlamentarismus kann sich in Deutschland auf eine erheblich 106 ältere Tradition stützen als seine staatsrechtliche Verwirklichung: Während das parlamentarische System vom vormärzlichen Konstitutionalismus für unvereinbar mit dem „monarchischen Prinzip" gehalten wurde 114 und im Kaiserreich dem formalistischen Positivismus als Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung erschien115, konstruierte nach 1919 der voluntaristische Dezisionismus einen Gegensatz zwischen „liberal-parlamentarischen und massendemokratischen Ideen" 116 . Gleichwohl blieb ein maßgebliches Motiv dieser Ablehnung stets dasselbe: der beständige Argwohn gegen die „Herrschaft der Parteien" 117 . Seither hat man sich zwar weitgehend mit dem Parteienstaat abgefunden 118 , die wichtigsten Topoi der „geistesgeschichtlichen Todeserklärung des Parteienstaats" 119 durch C A R L S C H M I T T (Mangel an Diskussion, Öffentlichkeit und repräsentativer Identität) 120 sind jedoch inzwischen bereits zum Gemeingut der Politikwissenschaft avanciert, und zwar selbst bei Autoren, denen man kaum besondere Sympathien für das „konkrete Ordnungsdenken" nachsagen kann 121 und deren Parlamentspessimismus zumindest dem theoretischen Anspruch nach aus einer umfassenden sozioökonomischen Systemkritik resultiert. So beruht nach W A L T E R E U C H N E R der „deplorable Zustand des Parlamentaris- 107 mus in der Bundesrepublik" 122 ebenfalls auf einer „Politik der .Kartellabsprachen' 1,4

115 1,6 117

118

119

120 121

122

So F. J. STAHL Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung, II. Teil, 3. Aufl., 1 8 5 6 , S. 373. Vgl. P. LABAND Die Vertretung des Volkes durch das Parlament, 1 9 1 2 , S. 1 4 ff. C. SCHMITT Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. A u f l . , 1 9 2 6 , S. 5 ff. Man vergleiche nur die inhaltlich nahezu identischen Aussagen über das Parteienwesen bei STAHL (Rechts- und Staatslehre (Fn. 1 1 4 ) S. 4 1 6 ) LABAND (Vertretung des Volkes (Fn. 1 1 5 ) S. 16) und SCHMITT (Geistesgeschichtliche Lage (Fn. 1 1 6 ) S. 11). Das in jenen Stellungsnahmen zum Ausdruck kommende antipluralistische Grundverständnis v o n Staat und Gesellschaft findet noch bis in die G e g e n w a r t hinein seine Fortsetzung bei W. WEBER Spannungen und K r ä f t e im westdeutschen Verfassungssystem, 3. A u f l . , 1 9 7 0 , S. 1 9 5 f f , 2 4 0 ff. Vor allem dank der weiterführenden Arbeiten v o n G . LEIBHOLZ der als erster die egalisierenden Tendenzen des Parteienwesens in der modernen Massendemokratie untersucht hat (namentlich in: Das Wesen der Repräsentation (Fn. 33)). So R. THOMA in seiner Besprechung der 1. A u f l . v o n C. SCHMITTS „Geistesgeschichtlicher Lage des heutigen Parlamentarismus" (1923) in: A S S W 53 (1925) S. 2 1 6 . SCHMITT Die geistesgeschichtliche Lage (Fn. 1 1 6 ) S. 63. Vgl. E. FRAENKEL Deutschland und die westlichen Demokratien, 3. A u f l . , 1 9 6 8 , S. 24; HENNIS Der Deutsche Bundestag (Fn. 85) S. 30. — Dazu insgesamt W. EUCHNER Der Parlamentarismus in der Bundesrepublik als Gegenstand politikwissenschaftlicher Untersuchungen, in: P V S 10 (1969) S. 3 8 8 f f ; H. WASSER Parlamentarismuskritik v o m Kaiserreich zur Bundesrepublik, 1974. W. EUCHNER Z u r Lage des Parlamentarismus, in: D e r CDU-Staat, Bd. 1, 1 9 6 9 , S. 1 0 5 f f (113).

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zwischen den großen Parteien", welche die Opposition an der Erfüllung ihrer Aufgaben hindere123. Darüber hinaus habe sich die Befriedigung von Interessenwünschen stets als vorzügliches Instrument der Machterhaltung erwiesen, dem die Opposition nichts entgegensetzen könne124 und letztlich ihre Denaturierung zur bloßen „Positionsvariante innerhalb des Gesamtsystems"125 verdanke. Ähnlich führt C L A U S O F F E das „Fehlen" einer „wirksamen parlamentarischen Opposition" auf „strukturelle Ursachen" zurück, „die zum Teil in der Beschaffenheit des Parteiensystems zu suchen sind": Infolge eines „objektiven Konformitätsdrucks" zugunsten der jeweiligen Regierungskoalition bleibe der „in Opposition befindlichen Partei und Fraktion unter wahltaktischen Gesichtspunkten keine Alternative, als — mit Nuancen — dasselbe zu fordern, was die Regierung zu tun sich anschickt, weil sie sich nur so die prinzipielle Wählbarkeit bei den von der Regierung bereits begünstigten Wählergruppen erhalten kann"126. Damit falle auch das Parlament faktisch unter die Kategorie der „Dienstleistungsbetriebe"127. Deutlicher läßt sich der von FORSTHOFF immer wieder beklagte „Schwund an Staatlichkeit" in der pluralistisch-egalitären Massendemokratie gerade für den parlamentarischen Bereich kaum zum Ausdruck bringen. 108 Zusammenfassend wird man die gemeinsame Basis jener äußerst heterogenen und vielschichtigen Parlamentarismuskritik in der Gegenwart, formelhaft verkürzt, mit den folgenden jeweils korrespondierenden Stichworten umschreiben dürfen: Krise des parlamentarischen Systems, Machtverlust des Bundestages, Nivellierung und Assimilierung der Opposition. c) Parlamentarismus und Rätesystem 109 Bei der Suche nach einem Ausweg aus der „Krise" des Parlamentarismus begegnet man immer wieder (zuerst 1918, später während der Studentenbewegung) der ebenso faszinierenden wie illusionären Forderung nach Einführung eines Rätesystems. Diese Herrschaftsform unterscheidet sich vom parlamentarischen System insbesondere durch den stufenweisen Aufbau lokaler, regionaler und zentraler Vertretungskörperschaften, die vorwiegend im Arbeitsbereich angesiedelt sind (z. B. Arbeiter- und Soldatenräte), ferner durch das imperative Mandat und eine im Prinzip jederzeitige Abwählbarkeit aller Delegierten sowie schließlich durch den Grundsatz der Gewaltenkonzentration (die Räte nehmen sowohl Gesetzgebungs- wie Regierungs- bzw. Verwaltungs- und Rechtsprechungsaufgaben wahr). Mit der Option für ein Rätesystem verbindet sich zugleich die prinzipielle Ablehnung des „bürgerlichen" Parla123

124 125

126

127

DERS. Art. „Opposition", in: Handlexikon zur Politikwissenschaft, hrsg. v o n A . Görlitz, 1970, Sp. 278 f f (282 f). DERS. Zur Lage des Parlamentarismus (Fn. 122) S. 119. DERS. Art. „Opposition" (Fn. 123) S. 282. Die wörtliche Übernahme dieses ursprünglich v o n E. FORSTHOFF (Verfassung und Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik, in: Merkur 22 (1968) S. 406) geprägten Begriffs wird freilich verschwiegen. C. OFFE Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, in: Politikwissenschaft, hrsg. v o n G. Kress und D. Senghaas, 1969, S. 173 f. Ebenda, S. 175.

§ 13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

583

mentarismus (einschließlich der Gewaltenteilung) als eines Systems der Unterdrükkung des Klassenkampfes und der Verschleierung von Profitinteressen. Demgegenüber basiert der Rätegedanke auf einem von ROUSSEAU inspirierten 128 , identitären Demokratieverständnis (Selbstregierung des Volkes gemäß seinen „objektiven" Bedürfnissen), der ebenso anarchistische wie totalitaristische Bestrebungen zu legitimieren vermag mo. In dieser Ambivalenz der Räteidee liegt zweifellos ein Gutteil ihrer theoretischen 110 Anziehungskraft begründet. Praktisch scheitert ihre Verwirklichung nach den bisherigen Erfahrungen geradezu zwangsläufig an Informationsmängeln unter den Bedingungen der Arbeitsteilung, an Kontrolldefiziten gegenüber einer sich rasch verselbständigenden Rätehierarchie und schließlich an Organisations- und Entscheidungsfehlern infolge unzureichender politischer Stabilität und Kontinuität. So gesehen stellt die permanente Berufung auf das Rätemodell als vermeintlich „realistische" Alternative zum parlamentarischen System nichts weiter als eine „romantisierende" Reaktion auf die veränderten sozioökonomischen Strukturen der modernen arbeitsteiligen Industriegesellschaft dar. d) Ursachen und Kritik des

Parlamentspessimismus

Fragt man nach den Ursachen und Hintergründen des Parlamentspessimismus und der 111 Parlamentarismuskritik in der Gegenwart, so läßt sich dieses vermeintlich „realistische" Negativbild des parlamentarischen Systems im wesentlichen auf drei ideologieverdächtige Traditionslinien zurückführen: (1) auf die überkommene obrigkeitsstaatliche Abneigung gegen Volksvertretungen überhaupt und eine Parlamentsherrschaft im besonderen, wie sie seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts die fortschreitende Parlamentarisierung der Reichsgewalt weitgehend verhindert und trotz Einführung des parlamentarischen Systems unter der Weimarer Reichsverfassung ihren Höhepunkt erreicht hat; (2) auf eine allgemeine Fetischisierung von sog. „Sachzwängen" und „Technostrukturen" des Staates der Industriegesellschaft 130 , welche angeblich keine prinzipiellen Alternativen mehr zulassen, meist aber nur als Alibi für politischen Immobilismus dienen, und (3) auf wachsende Vorbehalte gegenüber der praktischen Oppositionspolitik im Parlament, die zumindest auch ihre Wurzeln in der hierzulande noch immer stark emotional bedingten Unpopularität oppositionellen Verhaltens hat 131 .

128

129

130

131

Vgl. J . - J . ROUSSEAU DU Contrat Social (1762) Liv. III, chap. 4 (dt.: Der Gesellschaftsvertrag, hrsg. v o n H. Weinstock, 1968, S. 104 ff). Dazu E. FRAENKEL Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, in: Deutschland und die westlichen Demokratien, Erw. Ausg., 1. Aufl., 1 9 9 1 , S. 297 ff. So E. FORSTHOFF Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, 1971. Nach einer Umfrage v o n R. WILDENMANN und M. KAASE aus dem Jahre 1967 sind 68 v. H. der Bevölkerung (bei Jugendlichen 61 v. H., bei Studenten 28 v. H) noch immer der Meinung: Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen. Vgl. auch die Umfrageergebnisse bei P. KEVENHÖRSTER Opposition in der Bundesrepublik, in: Die neue Ordnung 1969, S. 2 0 4 f f ( 2 1 0 f f ) .

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

112

Gegen das traditionelle parlamentarische Krisendenken ist daher zunächst einzuwenden, daß es die meist zutreffend erfaßte Wirklichkeit des modernen Parlamentswesens aus der Perspektive einer überholten Repräsentationsmystik und rückständigen „Gesetzgeberromantik" heraus pauschal zu disqualifizieren geneigt ist; bekanntlich hat dazu R I C H A R D T H O M A schon vor einem halben Jahrhundert alles Notwendige gesagt 132 . Die These von der permanenten Entmachtung des Bundestages setzt nicht nur die politische Suprematie des Parlaments stillschweigend voraus und steht damit bereits im Widerspruch zum geltenden Verfassungsrecht (Art. 65 GG); sie übersieht auch die historische Tatsache, daß bisher kein deutsches Parlament einen nur annähernd so starken Einfluß auf die praktische Politik ausgeübt hat wie der Deutsche Bundestag in den vergangenen über 40 Jahren seines Bestehens. Das Dogma vom strukturbedingten Oppositionskonformismus wird schließlich durch den allgemeinen Erfahrungssatz entkräftet, daß besonders die polarisierte Interessenaggregation den nicht an der Regierungsverantwortung beteiligten Parteien oft weit besser gelingt als den politischen Führungsgruppen selbst, da sie einerseits frei vom unmittelbaren Realisierungszwang in der Regel höhere Forderungen vertreten bzw. den einzelnen Bevölkerungsgruppen größere Vergünstigungen in Aussicht stellen können und andererseits das Sammelbecken für unzufriedene oder enttäuschte Minderheiten bilden, weshalb bei Wahlen nicht selten die Stimmengewinne überwiegend den Oppositionsparteien zugute kommen 133 .

113

Darüber hinaus gehören die freie Bildung von Oppositionsfraktionen sowie deren ungehinderte oppositionelle Tätigkeit im Parlament zu den wesentlichen Grundlagen eines freiheitlichen Mehrparteiensystems in der parlamentarischen Demokratie, so daß namentlich die Oppositionsausiibungsfreiheit sowohl der parlamentsrechtlich organisierten Fraktionen als auch des einzelnen Abgeordneten durch Art. 21 Abs. 1 und 38 Abs. 1 GG mitgeschützt ist. Da die Oppositionsstellung im Parlament weitgehend formalen Charakter trägt („Chancengleichheit" zwischen Regierungsund Oppositionsfraktionen bzw. von Regierung und Opposition), lassen sich außer der Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Parlaments keine inhaltlichen Merkmale oder Direktiven für oppositionelles Abgeordneten- oder Fraktionsverhalten angeben. Wenn auch die Teilnahme der Opposition am parlamentarischen Entscheidungsprozeß meist in Kritik und Kontrolle der Regierung sowie im Bemühen um Alternativen bestehen mag, kann sie sich doch gelegentlich sogar in kooperative Mitarbeit bei einzelnen, besonders dringlichen oder populären Regierungsvorhaben verwandeln, ohne viel an Effektivität einzubüßen. Als zusätzliche Sicherungen der parlamentarischen Oppositionsfreiheit stellt schließlich die Geschäftsordnung des

132 133

THOMA Besprechung v o n C. Schmitt „Geistesgeschichtliche Lage ..." (Fn. 119). Bei den bisherigen Bundestags- und Landtagswahlen konnten die jeweiligen Oppositionsparteien — gleichgültig ob CDU, S P D oder F D P —, verglichen mit den vorangegangenen Bundestagsoder Landtagswahlen, in der Mehrzahl aller Fälle den relativ höchsten Stimmenzuwachs verbuchen. Von einer Ineffektivität der Opposition kann also nur insofern gesprochen werden, als es ihr bisher nie gelungen ist, Wahlen gegen eine Koalitionsregierung zu gewinnen. Dennoch hat eine Partei in der Opposition prinzipiell wesentlich größere Chancen, zusätzliche Wählerstimmen zu erringen als in der Regierung.

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Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

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Bundestages den oppositionellen Fraktionen (vgl. § 10 GO-BT) zahlreiche Minderheitsrechte zwecks Information, Artikulation, Demonstration oder Partizipation zur Verfügung, deren sie sich bei der Erfüllung ihrer Aufgaben mit dem Ziel eines Machtwechsels in der Regel nicht ohne Erfolg bedienen. Solange man jedoch der gebotenen Auseinandersetzung mit dieser politischen Wirklichkeit aus dem Wege geht, muß die stereotype Wiederholung derselben Bedenken und Einwände gegen den Parlamentarismus, gerade weil sie die sog. „Faktizität" für sich in Anspruch nehmen, unweigerlich den Vorwurf eines ideologisch verzerrten Gesamtbildes vom parlamentarischen Regierungssystem provozieren. 2. Gegenwartsprobleme des Parlamentarismus a) Parlament und Planung Freilich darf die Zurückweisung einer überzogenen oder voreingenommenen Par- 114 lamentarismuskritik nicht dazu führen, nunmehr in den gegenteiligen Fehler zu verfallen und auf lediglich affirmative Weise Struktur- oder Funktionsprobleme des parlamentarischen Systems überhaupt leugnen zu wollen. Auf einigen Teilgebieten der Politik werden nämlich durchaus erhebliche Entscheidungsdefizite der Parlamente sichtbar134. Hierzu gehört insbesondere der Bereich staatlicher Planung. Während der jährliche Haushaltsplan wenigstens noch der parlamentarischen 1 1 5 Beschlußfassung bedarf, wird die mittelfristige Finanzplanung den Parlamenten nur zur Kenntnis gebracht. Landesentwicklungsplanung und Raumordnung sind allenfalls durch Entschließungsanträge in geringem Umfang beeinflußbar. Die Planung industrieller Großvorhaben ist sogar den Parlamenten gänzlich entzogen. Aus der bloßen Tatsache, daß beispielsweise der Bundestag bisher die Atom- 116 programme der Bundesregierung zustimmend zur Kenntnis genommen habe, wird vom Bundesverfassungsgericht auf ein Einverständnis des Parlaments mit der Errichtung des „Schnellen Brüters" in Kalkar geschlossen 135 . Daß gerade hierzu erst vor der dritten Teilerrichtungsgenehmigung und nur auf politischen Druck der Öffentlichkeit hin überhaupt eine Debatte im Bundestag stattfand, unterstreicht nur den geringen Stellenwert, den die Regierung bei Planungsvorhaben einer parlamentarischen Willensbildung zuzugestehen bereit ist. Frühzeitige Initiativen von Abgeordneten noch vor der ersten Standortgenehmigung (wie ζ. B. bei der Entscheidung über das integrierte Entsorgungszentrum in Gorleben) hätten das Vorhaben gewiß einer sehr viel stärkeren parlamentarischen Einflußnahme zu unterwerfen vermocht. Die Beteiligungsmöglichkeiten der Parlamente an staatlicher Planung müssen daher unbedingt erweitert werden, soll das parlamentarische System nicht auf Dauer

134

Dazu H.-P. SCHNEIDER Entscheidungsdefizite der Parlamente. Über die Notwendigkeit einer Wiederbelebung der Parlamentsreform, in: A ö R 105 (1980) S. 4 ff.

135

Vgl. B V e r f G E 49, 89 (133): „Der Gesetzgeber hat hinreichend zu erkennen gegeben, daß er derzeit an seiner Entscheidung für die Zulassung von Schnellen Brutreaktoren festhält. So hat der Bundestag bisher die Atomprogramme der Bundesregierung, in denen auch die Entwicklung der Schnellen Brutreaktoren genannt ist, zustimmend zur Kenntnis genommen".

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

586

Schaden nehmen 136 . Hier öffnet sich zweifellos ein legitimes Betätigungsfeld für den „kooperativen Parlamentarismus" (vgl. oben Rdn. 97). b) Informationsdefi^it

der

Parlamente

1 1 7 Ein weiteres gravierendes Problem, das an die Wurzeln des parlamentarischen Systems rührt, ist das häufig beklagte Informationsdefi^it der Parlamente, welches mit erheblichen Einbußen an Entscheidungsmacht verbunden ist. Selbst unter Berücksichtigung eines dem Sachverstand der Ministerialbürokratie zu verdankenden natürlichen Informationsvorsprungs der Regierung bestehen hier im Verhältnis zum Parlament ebenso bedenkliche wie überflüssige Wissensungleichgewichte. Weittragende Entscheidungen der Außen-, Verteidigungs-, Finanz- und Wirtschaftspolitik auf Bundesebene oder Beschlüsse der Ministerpräsidenten- und Fachministerkonferenzen der Länder laufen nicht nur völlig an den Parlamenten vorbei, sondern werden ihnen noch nicht einmal in gebührender Form mitgeteilt. Lediglich für Staatsverträge ist ein Ratifizierungsverfahren vorgesehen. 118

Freilich beruhen diese Informationsdefizite nicht nur auf einer mangelnden Informationsbereitschaft der Regierung, sondern zum großen Teil auch auf dem Fehlen von spezialisiertem Sachverstand bei vielen Abgeordneten sowie auf institutionellen Grenzen der Informationsverarbeitungskapazität des Parlaments im Ganzen. Bei einer Gesamtzahl von durchschnittlich 5000 Bundestagsdrucksachen pro Legislaturperiode würde ein Abgeordneter nahezu die Hälfte seiner Arbeitszeit allein mit deren Lektüre verbingen müssen. Zusätzliche Informationen, auch in den Ausschüssen, können deshalb kaum mehr aufgenommen werden. Hinzu kommt ferner, daß der Regierung auch ein vertraulicher Eigenbereich der Initiativenentwicklung und Entwurfsplanung vorbehalten bleiben muß, welcher sich bei Gefahrdung des Vorhabens einer allzu frühen Information der Öffentlichkeit entzieht 137 .

119

Deshalb ist nach Wegen und Verfahren zu suchen, mit denen zwar eine umfassende Informationspflicht der Regierung begründet, diese aber auf das Notwendige und Wichtige konzentriert werden kann. Die weitestgehende Informationsregelung findet sich zur Zeit in Art. 22 der Verfassung von Schleswig-Holstein: Danach ist die Landesregierung verpflichtet, den Landtag über die Vorbereitung von Gesetzen 136

137

Ähnlich bereits R. HERZOG/R. PIETZNER Möglichkeiten und Grenzen einer Beteiligung des Parlamentes an der Ziel- und Ressourcenplanung der Bundesregierung (Gutachten 1971) 1979, S. 1 4 3 ff. Vgl. auch E.-W. BÖCKENFÖRDE Planung zwischen Regierung und Parlament, in: Der Staat 11 (1972) S. 429 ff; F. OSSENBÜHL Welche normativen Anforderungen stellt der Verfassungsgrundsatz des demokratischen Rechtsstaates an die planende staatliche Tätigkeit, dargestellt am Beispiel der Entwicklungsplanung?, in: Verhandlungen des 50. Deutschen Juristentages, Bd. 1 (Teil B) 1974, insbes. S. 80 ff; M. SCHRÖDER Planung auf staatlicher Ebene, 1974, S. 82 ff; B. DOBIEY Die politische Planung als verfassungsrechtliches Problem zwischen Bundesregierung und Bundestag, 1975, S. 90 ff; zuletzt umfassend W. GRAF VITZTHUM Parlament und Planung. Zur verfassungsgerechten Zuordnung der Funktionen von Bundesregierung und Bundestag bei der politischen Planung, 1978, insbes. S. 364 ff. Dazu H.-P. SCHNEIDER Opposition und Information. Der Aktenvorlageanspruch als parlamentarisches Minderheitsrecht, in: A ö R 99 (1974) S. 628 ff (644 f). Ferner H.-J. VONDERBECK Parlamentarische Informations- und Redebefugnisse, Berlin 1981.

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Das parlamentarische System

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sowie über Grundsatzfragen der Landesplanung, der Standortplanung und Durchführung von Großvorhaben frühzeitig und vollständig zu unterrichten. Das gleiche soll in Fällen von grundsätzlicher Bedeutung auch für die Vorbereitung von Verordnungen und Verwaltungsvorschriften, für die Mitwirkung im Bundesrat sowie für die Zusammenarbeit mit dem Bund, den Ländern, anderen Staaten, der Europäischen Gemeinschaft und deren Organen gelten. Brandenburg und MecklenburgVorpommern sind in ihren Verfassungen diesem Vorbild gefolgt, die übrigen neuen Bundesländer nur mit Abstrichen 138 . In Sachsen hat man sich sogar nur zu einer Generalklausel durchringen können: Nach Art. 50 beschränkt sich die Informationspflicht der Staatsregierung gegenüber dem Landtag ganz allgemein auf die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Mitteilungen. Immerhin wird mit diesen Bestimmungen ein wichtiger Schritt in Richtung auf ein Informationsgleichgewicht zwischen Parlament und Regierung unternommen, das nicht nur für die konkrete Gesetzgebungs- und Kontrolltätigkeit der Parlamente, sondern für die Leistungsund Funktionsfähigkeit des parlamentarischen System insgesamt von erheblicher Bedeutung ist. c) Funktionsmängel des Parlamentsbetriebs Nicht nur im Verhältnis zur Regierung, sondern auch innerhalb des Parlamentsbetriebs 120 treten immer häufiger Funktionsmängel auf. So wird die Effizienz parlamentarischer Entscheidung und Beratung durch eine wachsende Arbeitsbelastung von Plenum und Ausschüssen in Frage gestellt, welche zur legislativen Kleinarbeit verführt und die Diskussion grundlegender politischer Alternativen erschwert. S T E F F A N I spricht in diesem Zusammenhang von einer steten „Parlamentsüberforderung" 139 . Zugleich schwindet damit auch die Transparenz parlamentarischer Willensbildung. Denn in dem Maße, wie wichtige politische Entscheidungen vom Plenum des Parlaments in die Ausschüsse, Fraktionen, Arbeitskreise oder gar Parteigremien abgeschoben werden, verringert sich die Durchsichtigkeit und Verständlichkeit der parlamentarischen Arbeit für den Bürger. Eine Intensivierung der Parlamentsberichterstattung kann diesen Mangel keineswegs aufwiegen. Die steigende Arbeitslast hat ferner eine weitgehende Bürokratisierung des Par- 121 lamentsbetriebs zur Folge. Während bei den Plenarverhandlungen nunmehr ein „Schichtwechsel der Spezialisten" stattfindet, hat sich die eigentliche Gesetzgebungsarbeit in die Ausschüsse verlagert, wo unter maßgeblicher Assistenz von Ministerialbeamten („Formulierungshilfen"), deren Zahl die der anwesenden Abgeordneten häufig übersteigt, um einzelne Gesetzesformulierungen gerungen wird. Eine Kritik an diesem Zustand wird schon deshalb nur selten laut, weil viele Abgeordnete selbst Beamte sind oder waren und daher dem bürokratischen Arbeitsstil ohnehin zuneigen. Darüber hinaus ist die freie politische Entfaltung des Abgeordneten auch durch eine 138

139

Vgl. Art. 94 der Verfassung des Landes Brandenburg, Art. 37 des Verfassungsentwurfs für Mecklenburg-Vorpommern, Art. 62 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt. W. S T E F F A N I Parlamentarische Demokratie — Zur Problematik von Effizienz, Transparenz und Partizipation, in: Parlamentarismus ohne Transparenz, hrsg. von W. Steffani, 1971, S. 17 ff (37).

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

starke Oligarchisierung des Parlamentsbetriebs eingeengt. So liegt das gesamte politische Management bei der Fraktionsführung. Sie plant die Debatten, bestimmt die Redner, verteilt die Wortmeldungen, entscheidet über die Besetzung von Ausschüssen und Arbeitskreisen, prüft Anfragen und Anträge einzelner Abgeordneter, ja sie gewährt bei längerer Abwesenheit eines Mandatsträgers sogar „Urlaub". Diese Machtfülle der Fraktionsführung gestattet nur selten einem Hinterbänkler oder Außenseiter die Durchsetzung seiner politischen Vorstellungen. 122 Zugleich wird die Bundestagsarbeit durch eine wachsende Sektoralisierung der Politik beeinträchtigt. Sozialpolitiker, Bildungspolitiker, Beamtenpolitiker oder Wirtschaftspolitiker bilden nicht selten überfraktionelle „Fachbruderschaften" innerhalb des Parlaments, welche mit den außerparlamentarischen Interessengruppen oder Berufsverbänden personell und sachlich eng verflochten sind. Während Detailfragen allenfalls noch von solchen Spezialisten überschaut und im Plenum getrennt diskutiert werden, verkümmert angesichts deren oft mit „Sachzwängen" begründeter, tatsächlich aber eher interessengeleiteter Einigkeit nicht nur die Opposition, sondern wird auch der „Abgeordnetenlaie" gezwungen, auf das Votum seiner Fraktionsexperten zu vertrauen und bisweilen sogar gegen seine subjektive Uberzeugung zu stimmen. Dabei können politische Zusammenhänge leicht aus dem Blick geraten, die schon wegen finanzieller Konsequenzen, vor allem aber in Hinsicht auf eine konsistente Regierungs- oder Oppositionspolitik Beachtung verdienen. 123

Schließlich leidet der Bundestag unter einer zunehmenden Professionalisierung des Parlamentsbetriebs. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht diese Tendenz im sog. „Diätenurteil" nachhaltig unterstützt 140 , damit aber dem parlamentarischen System insgesamt einen Bärendienst erwiesen. Denn je weniger ein Abgeordneter in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt auch außerhalb der Politik zu verdienen, je mehr er sich also zum „Berufspolitiker" entwickelt, desto größer wird seine Abhängigkeit von der Fraktion oder Partei, welcher er sein Mandat verdankt. Auf diese Weise verstärken sich die Professionalisierung, Sektoralisierung, Oligarchisierung und Bürokratisierung des Parlamentsbetriebs wechselseitig mit der bedenklichen Konsequenz, daß der parlamentarisch-gouvernementale Apparat sich dem Bürger in wachsendem Maße entfremdet. d)

„Parlamentsverdrossenheit"

124 Aber nicht nur in funktioneller, sondern auch in sachlicher Hinsicht scheint sich die Distanz zwischen Volk und Volksvertretern zu vergrößern. Die aus der Bildung der Großen Koalition resultierende Entstehung der Außerparlamentarischen Opposition hat bereits gegen Ende der sechziger Jahre eine gewisse ,,Parlamentsverdrossenheit' 1141 der Bevölkerung signalisiert — ein Zeichen dafür, daß die parlamentarische Demokratie unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft offenbar Mühe 140 141

B V e r f G E 40, 296 (310 ff). Dazu E. FRAENKEL Ursprung und politische Bedeutung der Parlamentsverdrossenheit, in: Integritas. Geistige Wandlung und menschliche Wirklichkeit, hg. von D. Stolte und R. Wisser, 1966, S. 244 ff.

§13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

589

hat, den Bürger unmittelbar und überzeugend anzusprechen 142 . Zwar hat sich — wie die zwar abnehmende, aber noch immer recht hohe Wahlbeteiligung zeigt — jene Parlamentsmüdigkeit bisher nicht bedrohlich ausgeweitet, aber doch im Aufkommen einer wachsenden Zahl von Bürgerinitiativen niedergeschlagen 143 , welche ihr spezielles Anliegen sämtlich bei Abgeordneten oder Parlamenten nicht mehr hinreichend aufgehoben wissen. Während im Bundestag Probleme des Umweltschutzes oder der Energieversor- 125 gung auf relativ abstraktem Niveau behandelt werden und der Bürger mit der Zumutung, zwischen mehreren vertretbaren Positionen selbst abzuwägen, oft überfordert wird, haben Bürgerinitiativen auf den gleichen Gebieten schon deshalb eine größere Integrationskraft, weil sie zumeist nur ein begrenztes Ziel verfolgen, eine geschlossene politische Meinung zum Ausdruck bringen und an örtliche Gegebenheiten anknüpfen, die der Bürger kennt und mit denen er sich identifizieren kann. Parlamentsdebatten hingegen, in denen unterschiedliche Standpunkte deutlich werden und klare politische Aussagen oft durch ein verwirrendes Ensemble von Argumenten, Berechnungen und Prognosen überdeckt werden, bleiben dem Bürger fremd. Dadurch wird der Repräsentationsanspruch der Parlamente in nicht unerheblicher Weise relativiert. Zu einer Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise des Parteienstaates tragen nicht 126 zuletzt auch Unregelmäßigkeiten in der Politikfinan^ierung bei. In weiten Kreisen der Bevölkerung herrscht der Eindruck vor, daß die Machteliten in Regierung, Parlamenten, Parteien und Großverbänden sich nach Art eines „Selbstbedienungsladens" gegenseitig ungerechtfertigte Vorteile zuschanzen, die in Zeiten leerer öffentlicher Kassen nicht mehr ohne weiteres als „Kosten der Demokratie" akzeptiert werden. An diesem Ansehensverlust der Parlamente sind freilich die Politiker nicht ganz unschuldig. Die staatliche Finanzausstattung der Parteien in der Bundesrepublik gilt allgemein als überhöht und ihrer viel beschworenen Bürgernähe eher abträglich. Auch die Abgeordnetendiäten und Ministergehälter sind ins Gerede gekommen, vor allem soweit damit noch besondere Privilegien (günstige Versorgungsansprüche, Übergangsgelder etc.) verbunden sind. Auf Unverständnis stößt nicht zuletzt auch der verbreitete Mißstand, daß zahlreiche Abgeordnete entweder aus früherer Tätigkeit oder aus zusätzlichen Beratungsfunktionen über Mehrfacheinkommen verfügen, deren Gesamthöhe oft ein Niveau erreicht, das die Vorstellungskraft des einfachen

142

Einer U m f r a g e der FORSCHUNGSGRUPPE WAHLEN (Mannheim) v o m Januar 1 9 9 2 zufolge sinkt das Vertrauen der B e v ö l k e r u n g in den Deutschen Bundestag seit 1 9 8 4 mit einigen Schwankungen stetig ab. A u f einer Skala v o n + 5 bis —5 liegt es zwar noch im positiven Bereich, bewegt sich aber v o n 2,0 im Jahre 1 9 8 4 auf 1,7 im Jahre 1 9 9 2 deutlich in eine abwärts g e w a n d t e Richtung. Zunehmende Stimmenthaltungen bei Wahlen bestätigen diesen besorgniserregenden Trend.

143

Eine ausgezeichnete Übersicht bietet G . F. SCHUPPERT Bürgerinitiativen als Bürgerbeteiligung an staatlichen Entscheidungen. Verfassungstheoretische A s p e k t e politischer Beteiligung, in: A ö R 1 0 3 (1978) S. 4 3 ff. - A u f g r u n d einer U m f r a g e v o m A p r i l 1 9 7 8 ermittelte auch das E M N I D Institut bei 8 4 % der B e v ö l k e r u n g „eine A r t Abgeordnetenapathie" s o w i e eine „Beteiligungsunlust" am parlamentarischen Geschehen (vgl. U. THAYSEN A b g e o r d n e t e n a p a t h i e und Beteiligungsunlust? Ergebnisse einer U m f r a g e , in: ZParl 9 ( 1 9 7 8 ) S. 4 4 7 ff).

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3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

Bürgers schlicht übersteigt und es ihm schwer macht, sich mit bestimmten Leitfiguren überhaupt noch zu identifizieren und ihnen seine Stimme zu geben. Dabei erweisen sich die Politikereinkommen in der Bundesrepublik — objektiv betrachtet und verglichen mit dem, was in der Wirtschaft, im Mediensektor und in den Kommunen verdient wird — keineswegs als besonders unangemessen. Auch wird keine noch so kluge Konstruktion, über Expertengremien, Sachverständigenräte oder Präsidialkommissionen auf diesem Gebiet ein höheres Maß an Transparenz, Distanz und Interessenunabhängigkeit zu erreichen, an der Notwendigkeit vorbeiführen, daß da, wo gesetzliche Regelungen unumgänglich sind (ζ. B. beim Haushaltsplan) letztlich wiederum die Politiker „in eigener Sache" entscheiden müssen 144 . Das wird von zahlreichen Kritikern der gegenwärtigen Politikfinanzierung vielfach nicht bedacht. Es wird also stets darauf ankommen, daß die Politiker selbst Mäßigung üben und dem Volk mit gutem Beispiel vorangehen. 127

Ob sich jene Repräsentanzdefizite und Vertrauenseinbußen in Zukunft eher verstärken oder verringern werden, läßt sich gegenwärtig noch nicht absehen. Auf entsprechende Korrekturmöglichkeiten innerhalb des parlamentarischen Regierungssystems soll nunmehr noch kurz eingegangen werden. 3. Reformen des parlamentarischen Systems a) Geschäftsordnungsänderungen

1969

1 2 8 Das deutsche Unbehagen am Parlamentarismus findet gegenwärtig trotz der verschiedenartigen geistesgeschichtlichen Wurzeln und sozialpsychologischen Hintergründe seinen Ausdruck in der nahezu einmütigen Kritik an der parlamentarischen Aufgabenstellung, Organisation und Arbeitsweise, zumeist verbunden mit — wo nicht grundsätzlicher Ablehnung des „Systems" überhaupt — so doch zahlreichen, oft sehr detaillierten Vorschlägen zur Parlamentsreformui, deren weitgehend technischer Charakter wiederum in eigentümlichem Kontrast zu jener prinzipiellen Skepsis steht. Gewiß wird man den Vorbehalten der Befürworter bloßer „Parlamentskorrekturen" 146 gegen institutionelle Veränderungen gerade aus juristischer Sicht nicht jede Berechtigung absprechen dürfen. Aber die Tatsache, daß selbst allgemein für notwendig erachtete, relativ geringfügige „Novellierungen" der Bundestagsgeschäftsordnung (die ja im Kern noch immer auf der Geschäftsordnung des Reichstags des

144

145

146

Vgl. H. H. V. ARNIM Die Partei, der A b g e o r d n e t e und das Geld, 1 9 9 1 . H. P. SCHNEIDER Gesetzgeber in eigener Sache. Z u r Problematik parlamentarischer Selbstbetroffenheit im demokratischen Parteienstaat, in: Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, hrsg. v o n D. G r i m m und W. Maihofer, 1 9 8 8 , S. 3 2 7 ff. Eine i n f o r m a t i v e Zusammenstellung der wichtigsten Arbeiten aus der nahezu unübersehbaren Literatur enthält die Auswahlbibliographie „Parlamentsreform" der Wissenschaftlichen Abteilung des Deutschen Bundestages, Materialien Nr. 1 1 , 1969. S o W. HENNIS Clôture im Bundestag, in: A ö R 91 (1966) S. 254, weil „Parlamentsreform w o h l ein zu gutes W o r t " f ü r die Bestrebungen des Bundestages sei.

§13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

591

Norddeutschen Bundes von 1868 beruht) aus ziemlich fragwürdigen Gründen147 unterbleiben, weckt doch erhebliche Zweifel am Reformwillen der Betroffenen und fordert die Diskussion prinzipieller Alternativen geradezu heraus. Auch die endlich auf Initiative vorwiegend jüngerer Abgeordneter aus allen 129 Parteien während der Großen Koalition zustandegebrachte „kleine Parlamentsreform" vom Juni 1969148 hat — abgesehen von einer besseren Finanzausstattung der Mandatsträger, der Herabsetzung von Antragsquoren, einer Stärkung der Ausschußarbeit sowie der Schaffung des Gesetzgebungsverfahrens — insgesamt wenig Neues gebracht. Namentlich wurde die Stellung der parlamentarischen Opposition außer durch die Festlegung einer alternierenden Rednerfolge (§ 28 Abs. 1 GO-BT) nur indirekt und relativ über die Stärkung der Fraktionsrechte149 sowie durch eine Erweiterung der Ausschußöffentlichkeit150 verbessert. Hierin kommt nach H A N S M A I E R deutlich „die Grenze pragmatischer Reformen zum Ausdruck" 151 . b) Vorschläge der Enquête-Kommission

Verfassungsreform

Einen sehr viel grundsätzlicheren Zugang zu Fragen der Funktionsfähigkeit des 130 parlamentarischen Systems wählte die im Jahre 1973 vom Bundestag eingesetzte „Enquête-Kommission für Verfassungsreform". Zwar lehnte sie die Einführung plebiszitärer Formen der politischen Willensbildung (Volksbegehren, Volksentscheid und Volksbefragung) ebenso ab wie eine Volkswahl des Bundespräsidenten und sprach sich auch gegen Vorwahlen aus, empfahl jedoch die Ermöglichung der Briefwahl bei der parteiinternen Kandidatenaufstellung sowie die Einrichtung begrenzt offener Listen (nach bayerischem Vorbild). Ferner schlug die Kommission vor, den Bundestag durch Verlängerung der Wahlperiode bis zum Zusammentritt eines neu gewählten Parlaments zu einem ständig präsenten und handlungsfähigen Verfassungsorgan 147

Eine entscheidende Rolle spielte offenbar im Sommer 1 9 6 9 die Sorge vieler Parlamentarier v o r einem Einzug der N P D in den Bundestag. Vgl. dazu das Spiegel-Interview mit dem damaligen Bundestagspräsidenten K . - U . VON HASSEL in: Der Spiegel Nr. 23 (1969) S. 71 f f (77). Insofern erscheint die Feststellung v o n U. THAYSEN/P. SCHINDLER (Bundestagsreform 1969, in: ZParl O (1969) S. 21), daß die politische Konstellation während der Großen Koalition „einer Parlamentsreform günstiger denn je" gewesen sei, nur bedingt richtig.

148

Grundlegend dazu U. THAYSEN Parlamentsreform in Theorie und Praxis, 1972; P. SCHOLZ Parlamentsreform seit 1969. Eine Bilanz ihrer Wirkungen im Deutschen Bundestag, in: ZParl 12 (1981) S. 273 ff; in Erwiderung darauf H.-P. SCHNEIDER Nochmals: Parlamentsreform seit 1969, in: ZParl 12 ( 1 9 8 1 ) S. 589 f; W. STEFFANI Warum die Bezeichnung „kleine Parlamentsreform 1969"?, ebenda, S. 591 ff. Darunter insbes.: § 7 Abs. 5 G O - B T (Vertretung des Bundestagspräsidenten durch Mitglied der zweitstärksten Fraktion); § 1 0 Abs. 1 G O - B T (Neubestimmung des Fraktionsbegriffs unter Verwendung des Kriteriums „(politischer) Wettbewerb"); §§ 25 Abs. 2, 26, 42, 4 4 Abs. 3, 52 Satz 1, 76 Abs. 1, 89, 101, 102, 1 1 2 Abs. 2, 1 1 5 Abs. 2 G O - B T (Herabsetzung des jeweiligen Quorums auf die Mindestfraktionsstärke v o n 26 Abgeordneten), Nr. 1 b der Anlage 5 zur G O BT (Durchführung einer Aktuellen Stunde auf Verlangen v o n 26 Abgeordneten).

149

150

151

Vgl. § 69 Abs. 1 Satz 2 G O - B T : Herstellung der Ausschußöffentlichkeit durch Beschluß mit einfacher Mehrheit; § 68 G O - B T : Zitierungsrecht der Ausschüsse; § 70 G O - B T : Erweiterung der Anhörungsmöglichkeit. H. MAIER U. A. Zum Parlamentsverständnis des fünften Deutschen Bundestages. Die Möglichkeit v o n Zielkonflikten bei einer Parlamentsreform, 1969, S. 46.

592

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

auszugestalten. In Art. 68 GG solle auch nach fehlgeschlagener Vertrauensfrage noch die Möglichkeit einer nachträglichen Vertrauensbestätigung für den amtierenden Bundeskanzler aufgenommen werden. Auf dem Gebiet der parlamentarischen Kontrolle trat die Kommission für eine Neuordnung des Rechts der Untersuchungsausschüsse (mit verbessertem Minderheitsschutz), für die Institutionalisierung von Enquete-Kommissionen sowie für eine Stärkung der Petitionsausschüsse ein, nicht aber für die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste. Schließlich plante man, die Gesetzesberatung auf zwei Lesungen zu beschränken, allerdings verbunden mit der Möglichkeit erweiterter öffentlicher Ausschußsitzungen 152 . Nachdem es freilich um diese Kommissionsvorschläge inzwischen sehr still geworden ist, wird man kaum noch mit ihrer baldigen Verwirklichung rechnen können. c) Notwendigkeit

von

Strukturreformen

131 Umso wichtiger erscheint es, in der Gegenwart das Problembewußtsein für die Vorzüge und Mängel des parlamentarischen Systems wachzuhalten und neue Anstöße zu grundlegenden Reformen des parlamentarischen Regierungssystems verfassungstheoretisch vorzubereiten. Dabei müßte allerdings eine weitreichende und von einem breiten politischen Konsens getragene Fortentwicklung des Parlamentarismus unter den Bedingungen des modernen Planungs- und Leistungsstaats angestrebt werden und nicht nur bloße „Korrekturen" des parlamentarischen Verfahrens wie im Jahre 1969. In England wird behauptet, ein Parlament sei jeweils so viel wert wie seine Opposition 153 . Wenn dieser Satz auch nicht uneingeschränkt auf deutsche Verhältnisse übertragen werden kann, so hängt doch vom Abbau parlamentarischer Funktionsdefizite namentlich durch Stärkung der Oppositionsrechte ein Großteil der Zukunftschancen des Parlamentarismus ab und damit zugleich ein wesentliches Stück Glaubwürdigkeit der freiheitlichen Demokratie. 132

So könnte etwa dem jeweiligen Oppositionsführer durch Geschäftsordnung die gleiche Redezeit eingeräumt werden, wie sie der Bundeskanzler in Anspruch nimmt (bisher sieht § 35 Abs. 2 GO-BT nur für den Fall einen Ausgleich vor, daß ein Mitglied der Bundesregierung länger als 20 Minuten redet). Ferner wäre daran zu denken, dem Oppositionsführer in Analogie zu Art. 43 Abs. 2 GG ein jederzeitiges Rederecht zuzubilligen (so § 70 Abs. 1 Satz 3 der Geschäftsordnung des Niedersächsischen Landtages) oder die Oppositionsfraktion(en) bzw. deren Mitglieder in den Ausschüssen mit besonderen Antrags- oder Kontrollbefugnissen auszustatten (ζ. B. dem Recht auf Zitierung von Regierungsmitgliedern, Aktenvorlage und Zugang zu Behörden oder Regierungseinrichtungen). Schließlich kommen die Errichtung eines besonderen, an den Aufgaben der Kritik, Kontrolle und Alternativenbildung orientierten „Oppositionsdienstes" sowie — unter anderem zu dessen Finanzierung — die Bereitstellung entsprechender Finanzmittel für die parlamentarische Opposition 152

Vgl. dazu den Schlußbericht der „Enquête-Kommission für Verfassungsreform" v o m 9. 12. 1976 (Bundestagsdrucksache 7/5924) Kap. 1 — 5. Ebenso ARNDT Die Entmachtung des Bundestages (Fn. 102) S. 435: „Der Rang der Opposition bestimmt jedoch in einer Demokratie über den Rang des Parlaments".

§ 13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

593

im Parlamentsetat („Oppositionsbonus" 154 ) in Betracht 155 . Für die Einführung solcher besonderen Oppositionsrechte wäre schon viel gewonnen, wenn von allen Beteiligten akzeptiert würde, daß jeweils die stärkste Minderheitsfraktion im Parlament den Oppositionsführer stellt, und dieses Amt ebenso wie die Begriffe „Opposition", „Oppositionsfraktion" oder „Oppositionsrechte" Eingang in die parlamentarischen Geschäftsordnungen fänden — ein Schritt, der nach Ansicht von STEFFANI mehr bedeuten würde als die Abkehr von überkommener Begrifflichkeit, nämlich das „zentrale(s) Element einer ,großen Parlamentsreform' " mit dem „Rang reformerischer Innovation" bilden könnte 156 . Den richtigen Weg weisen alle jene Regelungen in den Landesverfassungen, die 133 — dem Vorbild von Art. 23 a der hamburgischen Verfassung folgend — in jüngster Zeit die parlamentarische Opposition ebenfalls zu einer verfassungsrechtlichen Institution erhoben und daran zusätzliche Rechte geknüpft haben. Nach Art. 12 der Verfassung von Schleswig-Holstein ist die Opposition nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie; sie hat auch ausdrücklich die Aufgabe zugewiesen bekommen, „Regierungsprogramm und Regierungsentscheidungen zu kritisieren und zu kontrollieren". Darüber hinaus steht sie den die Regierung tragenden Abgeordneten und Fraktionen als Alternative gegenüber und hat insoweit das Recht auf Chancengleichheit. Diese Umschreibung des Oppositionsstatus hat auch Mecklenburg-Vorpommern übernommen. Auch in den Verfassungen der anderen neuen Länder finden sich mehr oder weniger ausführliche und zum Teil an die Fraktionen geknüpfte (Sachsen, Sachsen-Anhalt) Bezugnahmen auf die parlamentarische Opposition, wohl nicht zuletzt deshalb, weil dort nach über vierzig Jahren Unterdrückung unter Ausschaltung jeglicher Opposition durch das „Blocksystem" ein besonders starkes Bedürfnis für die verfassungsrechtliche Absicherung oppositioneller Rechte vorhanden war 157 . Aber auch dem Grundgesetz stünde im Zuge der gegenwärtigen Reformbemühungen die verfassungsrechtliche Institutionalisierung der parlamentarischen Opposition gut an. Verfassungspolitische Notwendigkeiten dürfen gerade auf diesem Gebiet nicht länger von kurzsichtigen Erwägungen parteipolitischer Nützlichkeit verdrängt werden, wenn das parlamentarische System auf Dauer erhalten bleiben und seine legitimierende wie integrierende Kraft weiterhin entfalten soll. 154

In Art. 48 Abs. 2 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt wird erstmals der „Oppositionsbonus" verfassungsrechtlich verankert. Die Vorschrift lautet: „Die Oppositionsfraktionen haben das Recht auf Chancengleichheit in Parlament und Öffentlichkeit sowie Anspruch auf eine %ur

155

Dazu SCHNEIDER Entscheidungsdefizite der Parlamente (Fn. 134) S. 33 f; DERS. Nochmals: Parlamentsreform seit 1 9 6 9 (Fn. 148) S. 590. Kritisch SCHOLZ Parlamentsreform seit 1 9 6 9 (Fn. 148) S. 273 ff, der statt für die Schaffung neuer Minderheitsbefugnisse eher für einen „energische(n) Gebrauch der vorhandenen Möglichkeiten und Rechte" plädiert. STEFFANI Warum die Bezeichnung „kleine Parlamentsreform 1969"? (Fn. 148) S. 592. Vgl. oben Fn. 105, 1 1 0 . Ferner: SCHLUSSBERICHT der Enquête-Kommission Verfassungs- und Parlamentsreform, hrg. von der Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtages, 1 9 8 9 , S. 43 ff.

Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben erforderliche

156 157

Ausstattung'.

594

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

4. Zukunftsfragen des Parlamentarismus a) Probleme der

Parteienrepräsentation

134 Das Schicksal des parlamentarischen Repräsentativsystems modemer Prägung ist eng verknüpft mit der künftigen Entwicklung des Parteienstaates. Parteiverdrossenheit, Parteizersplitterung oder Parteiegoismus schwächen zugleich unmittelbar die Funktionsfähigkeit und Integrationskraft parlamentarischer Organe. Umgekehrt gewinnt der Parlamentarismus an Authentizität und Glaubwürdigkeit nicht zuletzt durch eine realistische, kompetitive, integre Parteipolitik. Wo parlamentarische Mehrheitsentscheidungen nicht oder nur mehr unter Protest akzeptiert werden, ist dafür neben anderen Faktoren häufig auch ein Versagen der politischen Parteien mitverantwortlich, die nicht rechtzeitig, offen und fair informiert, nicht überzeugend und konsequent genug argumentiert, nicht flexibel und bürgernah agiert haben158. 135

In einer demokratischen Ordnung, die bewußt auf plebiszitäre Formen der Willensbildung verzichtet, fallen nicht nur dem Parlament, sondern auch den Parteien die Aufgaben pluralistischer Interessenaggregation, präventiver Konfliktantizipation und innovativer Politikkonzeption zu. Somit sind die Parteien unlösbar in den Repräsentationszusammenhang zwischen Volk und Staatsorganen eingefügt, wobei ihnen freilich weniger die Sorge um das Gemeinwohl oder die Sicherung staatlicher Handlungseinheit obliegt als vielmehr die Aufnahme und politische Umsetzung von Anliegen und Bestrebungen der Bürger. Demokratische Parteienrepräsentation bedeutet daher einerseits stärkere „Basisorientierung", zum anderen weniger „Mitregierung", die auf parlamentarischer Ebene zwangsläufig zu einer weitgehenden Instrumentalisierung des Mandats und zu einer Verkürzung von Abgeordnetenrechten führen muß.

136

Solange die Parteien auf gesellschaftliche Konflikte lediglich reagieren, bestehende Machtverhältnisse bestenfalls stabilisieren und abweichendes Verhalten zunehmend disziplinieren, muß auch das parlamentarische System insgesamt erstarren und sein Entscheidungsverfahren der Mehrheitsbildung oder Kompromißfindung zum bloßen Ritual verkümmern. Je mehr hingegen die politischen Parteien in der Lage sind, elementare Bevölkerungsinteressen (auch partikularer Art) in konkrete Politik zu übertragen und durchzusetzen, desto geringer ist der Bedarf des parlamentarischen Repräsentativsystems nach plebiszitären Ventilen. Falls dem nicht nur vorübergehende Schwierigkeiten im derzeitigen Parteienspektrum, sondern institutionelle und organisatorische Hindernisse entgegenstehen, sollte man langfristig auch an eine Reform des Parteienrechts (ζ. B. Ausbau der innerparteilichen Minderheitsrechte, Demokratisierung der Kandidatenaufstellung etc.) sowie an eine Verselbständigung des Mandats (ζ. B. durch Stärkung der Abgeordnetenrechte) denken, um den Fortbestand des parlamentarischen Systems in die Zukunft hinein zu gewährleisten.

158

Dazu H.-P. SCHNEIDER Repräsentation und Partizipation des Volkes als Problem demokratischer Legitimität, in: Ein Richter — Ein Bürger — ein Christ. FS für H. Simon, 1987, S. 243 ff.

§13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

b) Unmittelbare

Demokratie

als

595

„Ausweg'?

Zur Beseitigung der genannten Repräsentations- und Partizipationsdefizite des po- 137 litischen Systems wird gegenwärtig vielfach die Forderung nach einem Ausbau der plebiszitären Elemente des Grundgesetzes über Art. 29 GG hinaus erhoben. In Betracht kämen hier unter bestimmten Voraussetzungen die Einführung von Volksbefragungen, Volksbegehren und Volksentscheiden. Allerdings sind die bisherigen Erfahrungen mit diesen Formen und Verfahren unmittelbar Demokratie nicht durchgängig positiv. Abgesehen von den sieben Volksbegehren in der Weimarer Zeit, von denen keines zu einem erfolgreichen Volksentscheid führte, wurden auch nach 1945 in den Ländern einige Volksbegehren entweder überhaupt nicht zugelassen (Rheinland-Pfalz 1945; Hessen 1966 und 1981/82) oder kamen nicht zustande, weil das erforderliche Quorum nicht erreicht wurde (Baden-Württemberg 1987). Lediglich in Bayern, wo bereits ein Zehntel der stimmberechtigten Bürger ausreicht, um über ein Volksbegehren „nach Schaffung eines Gesetzes" einen Volksentscheid herbeizuführen, bei dem die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen den Ausschlag gibt, hat das Verfahren bisher leidlich funktioniert (Einführung der christlichen Gemeinschaftsschulen, Bestandsgarantie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks) 159 . Deshalb hat sich unter den neuen Ländern vor allem Sachsen an der bayerischen Regelung orientiert und auf jedes Beteiligungs- oder Abstimmungsquorum beim Volksentscheid verzichtet (vgl. Art. 72 der sächsischen Verfassung von 1992). Rechtfertigen die genannten Beispiele nun eine Übernahme verbindlicher Volks- 138 begehren und Volksentscheide auch in das Grundgesetz? Diese Frage sollte vor allem danach beantwortet werden, ob und welche Verfahren unmittelbarer Demokratie das parlamentarische System eher zu schwächen oder zu stärken geeignet sind. Aus der Fülle schwieriger staatsrechtlicher Probleme sei nur auf folgendes hingewiesen: Als unabdingbar erweist sich die Forderung, daß dem Volksgesetz keine höhere Geltungskraft zukommen darf als dem Parlamentsgesetz, so daß ein Parlament die Entscheidungen des Volkes jederzeit ändern oder korrigieren kann. Darüber hinaus muß auch ein Volksgesetz mit der Verfassung übereinstimmen und insbesondere die Grundrechte beachten, also in vollem Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolle zugänglich sein. Unvermeidlich dürfte bei jedem Volksentscheid die Entdifferenzierung des Sachproblems, die Entpolitisierung möglicher Lösungsalternativen und nicht zuletzt die Irreversibilität des Ergebnisses sein. Denn wenn das Volk einmal entschieden hat, sind letztlich alle und zugleich niemand für die politischen Folgen verantwortlich. Auf der anderen Seite läßt sich eines jedenfalls nicht länger leugnen: Wenn die 139 Legitimität und Authentizität demokratischer Willensbildung des Volkes durch Repräsentation und Partizipation gleichermaßen gestärkt und deren integrierende Kraft weiterhin erhalten bleiben soll, dann bedarf es nicht nur bloßer Korrekturen an 159

Dazu grundlegend K . BUGIEL Volkswille und repräsentative Entscheidung. Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit von Volksabstimmungen nach dem Grundgesetz, Baden-Baden 1 9 9 1 ; J. KÜHNE Volksgesetzgebung in Deutschland — zwischen Doktrinismen und Legenden, in: Zeitschrift für Gesetzgebung 1991, S. 1 1 6 ff.

596

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

dieser oder jener Einzelregelung, sondern grundlegender Reformen in demokratischer Absicht mit dem Ziel einer Fortentwicklung des parlamentarischen Systems vom individuellen Zuschauer- zum sozialen Teilhabestaat, von der Stimmungs- zur Mitbestimmungsdemokratie — eine große Aufgabe, von der bereits H E L M U T SIMON gesagt hat, sie sei kaum geringer als der „Übergang von der absoluten Monarchie zur Demokratie".160 Denn das Bedürfnis nach solcher Veränderung erwächst letztlich aus den zunehmenden Ohnmachtsgefühlen der Bürger und ihrer Erfahrung, gegenüber mächtigen parteipolitischen oder ökonomischen Interessen wenig ausrichten zu können. Insofern muß die Frage erlaubt sein, ob die Zurückhaltung des Grundgesetzes gegenüber allen Formen der unmittelbaren Demokratie heute noch zeitgemäß oder nicht eher schädlich als nützlich ist. c) „Regierbarkeit" im parlamentarischen

System

140 Angesichts leerer Kassen, sinkenden Wirtschaftswachstums, härterer Verteilungskämpfe und angeblich kaum mehr ausgleichsfähiger Interessengegensätze oder Meinungsunterschiede (ζ. B. Ökonomie gegen Ökologie, Nachrüstung gegen Abrüstung, Sicherheit gegen Freiheit etc.) wird darüber hinaus immer häufiger die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der „Regierbarkeit" im parlamentarischen System gestellt, ja die Handlungsfähigkeit des Staates nicht selten sogar zum wichtigsten Existenz- und Überlebensproblem des Parlamentarismus erklärt. Dabei wird freilich oft verkannt, daß vermeintliche Antagonisten der politischen Auseinandersetzung in Wirklichkeit nur auf falschen Alternativen beruhen, daß „Regierung" in einer Demokratie eben nicht Befehl und Gehorsam oder Entscheidung und Vollzug bedeutet und daß die Inhalte des Gemeinwohls in einem freiheitlich-pluralistischen Gemeinwesen niemals vorgegeben, sondern stets aufgegeben sind. 141

Gleichwohl ist eine zunehmende Lähmung der Politik durch soziale Gruppenkonflikte, alternative Protestbewegungen und knappe parlamentarische Mehrheiten kaum noch zu übersehen. Hinzu kommen weitere zeitliche Restriktionen des Regierungshandelns aufgrund seiner Einbindung in Wahlperioden, infolge der Diskontinuität des Parlamentsbetriebs sowie wegen der praktischen Notwendigkeit eines permanenten Wahlkampfs um Landtagsmandate. Da politische Entscheidungen im parlamentarischen Bundesstaat äußerst kurzfristig zu verantworten sind, schwindet der Mut zu unpopulären Maßnahmen im selben Grade, wie die stets latente Gefahr eines dadurch bewirkten Machtverlusts wächst. So ist es kaum verwunderlich, daß man unleugbare Defizite an staatlichem Handlungsvermögen zumindest partiell auch dem parlamentarischen Regierungssystem anlastet und bereits über Alternativen (Präsidialsystem, Direktorialsystem, Wirtschafts- und Sozialrat) nachzudenken beginnt. Dabei wird man freilich das Argument mangelnder Regierungsstabilität, welches für die Weimarer Republik gegolten haben mag und heute vielleicht noch

160

H. SIMON Eröffnungsansprache zur Grundgesetz-Tagung in der Ev. Akademie Mülheim/Ruhr 1986, abgedr. in: Begegnungen 5/86, S. 7 f.

§13

Das parlamentarische System (SCHNEIDER)

597

auf einige süd- und westeuropäische Länder zutrifft, jedenfalls gegen das parlamentarische System der Bundesrepublik nicht mehr ins Feld führen können. Femer bleibt zu bedenken, ob die gegenwärtig diskutierten Probleme der 142 „Regierbarkeit" nicht zum Teil ihre Ursachen darin haben, daß wegen der unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat de facto eine Allparteienkoalition besteht, deren Kompromisse — häufig erst im Vermittlungsausschuß geschlossen — eine klare und kraftvolle Regierungspolitik zwangsläufig bis zur Unkenntlichkeit verwässern. Schließlich ist gerade das parlamentarische System in besonderer Weise geeignet, Interessen zu kanalisieren, Protest zu absorbieren sowie Konfliktpotential über das Verfahren der Mehrheitsbildung, des Minderheitsschutzes und nicht zuletzt des politischen Machtwechsels zu integrieren, sofern die für den Parlamentarismus typische Bipolarität der politischen Willensbildung tatsächlich wirksam wird und rechtlich hinreichend abgesichert ist. Daß es hierzu weiterer, vielleicht sogar grundlegender Reformen des Parlamentarismus bedarf, soll nicht geleugnet werden. Bevor jedoch der Nachweis mangelnder Reformfahigkeit des parlamentarischen Systems nicht eindeutig erbracht ist, erscheint der Ruf nach institutionellen Alternativen aus Sorge um die „Regierbarkeit" des Gemeinwesens nicht nur verfrüht, sondern verfehlt. d) Zukunftseignung

des

Parlamentarismus

Ernster zu nehmen sind dagegen warnende Stimmen, welche die Zukunftseignung des 143 parlamentarischen Systems selbst bezweifeln, d. h. seine Fähigkeit, langfristige politische Perspektiven zu entwickeln, künftige soziale Probleme und Konflikte frühzeitig zu erkennen sowie Auswirkungen und Folgen politischer Entscheidungen über den Tag oder die Wahlperiode hinaus für Jahrzehnte, vielleicht sogar für nachfolgende Generationen, mitzuberücksichtigen. Zwar ist das Faktum dauerhafter und irreversibler Konsequenzen von politischen Optionen als solches keineswegs neu und unter dem Stichwort „Sachzwänge" hinlänglich bekannt. Aber es dürfte nicht nur die Zahl solcher zukunftswirksamen Festlegungen erheblich gestiegen sein, sondern auch das Risiko ihres Fehlschlags und das Ausmaß der damit verbundenen Gefahren. Auf diese Weise drohen Entscheidung und Verantwortung bzw. Kontrolle im parlamentarischen System nicht nur personell, sondern auch sachlich und zeitlich immer stärker auseinanderzufallen. Wer über politische Gestaltungsmacht verfügt, wird meist von den Folgen seines Handelns nicht (mehr) betroffen, und wer davon betroffen ist, besitzt in der Regel (noch) kaum Einflußmöglichkeiten. So kann der demokratische Parlamentarismus leicht zum elitären Paternalismus verkümmern, dessen ebenso gut gemeintes wie schwer realisierbares Wohlfahrtsstreben häufig genug diffuser Anlaß für ein überzogenes Anspruchsdenken, aber auch für mehr oder weniger berechtigte Kritik in der jungen Generation ist. Will man solchen paternalistischen Tendenzen in der Politik begegnen, dann 144 wird man zunächst feststellen müssen, daß sie keineswegs zu den spezifischen Eigentümlichkeiten des parlamentarischen Systems gehören, geschweige denn einen entsprechenden Strukturdefekt signalisieren. Vielmehr erscheint gerade der partei-

598

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

enstaatliche Parlamentarismus hinreichend wandlungsfáhig und flexibel, um Zukunftsprobleme in verantwortlicher Weise zu bewältigen, d. h. bei unsicherer Prognose gegebenenfalls auch offen zu lassen. Zur besseren Einschätzung langfristiger Folgen und Risiken politischer Entscheidungen bietet sich im parlamentarischen Bereich die häufigere Bildung und institutionelle Aufwertung gemischter EnquêteKommissionen (bestehend aus Sachverständigen und Politikern) an, die mit einem Initiativrecht gegenüber dem Parlament ausgestattet werden könnten. Probleme, die vor allem künftige Generationen betreffen, müssen in besonderen Hearings unter bevorzugter Beteiligung von Jugendverbänden erörtert werden. Vor allem die politischen Parteien sind aufgefordert, sich stärker zu öffnen und mehr Bürgernähe zu praktizieren. In ihren Gremien sind den Nachwuchsorganisationen ebenfalls weiterreichende Mitwirkungsmöglichkeiten einzuräumen, unter Umständen sogar feste Quoten bei der Besetzung von Parteiämtern. Nicht zuletzt verlangt insbesondere das parlamentarische System nach struktureller Offenheit des demokratischen Prozesses in die Zukunft hinein, wobei dieser seinerseits Gewaltenteilung, Dezentralisation politischer Entscheidungen, Subsidiarität staatlichen Handelns und vor allem die Chance der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des einzelnen in freier, autonomer Lebensgestaltung unverzichtbar voraussetzt. Unter diesen Bedingungen kann auch die Zukunft des Parlamentarismus selbst als gesichert gelten, weil er dann untrennbar verbunden bleibt mit freiheitlicher Demokratie.

§14 Politische Parteien DIETER GRIMM

Übersicht I. Parteien und Verfassung II. Die Parteien im Grundgesetz . . . 1. Funktion und Position der Parteien a) Das Demokratie-Verständnis des Grundgesetzes . . . b) Die Funktion der politischen Parteien c) Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft d) Der Standort der Parteien 2. Die Parteien gegenüber dem Staat a) Die äußere Freiheit der Parteien

Rdn. 1—5 6 — 77 6—29 6 — 11 12—17 18-23 24—29 30-53 30—35

Rdn. b) Innerparteiliche Demokratie c) Die Gleichheit der Parteien d) Parteienfinanzierung . . . . 3. Die Parteien im Staat a) Das parteigebundene Mandat b) Regierung und Regierungspartei c) Parteiendemokratie und Ge walten teilung d) Parteien und autonome Kontrolleinrichtungen . . . III. Staatsrechtslehre und Parteienproblematik

36-41 42—47 48 — 53 54 — 77 54-59 60 — 65 66 — 71 72—77 78-82

I. Parteien und Verfassung Politische Parteien sind eine Folge der verfassungsrechtlichen Zulassung gesell- 1 schaftlicher Mitsprache bei staatlichen Entscheidungen 1 . Sie reagieren auf das daraus erwachsende Problem der Vermittlung zwischen ungeregelter gesellschaftlicher Meinungs- und Interessenvielfalt und organisierter staatlicher Handlungs- und Wirkungseinheit. Indem sie verwandte Meinungen und Interessen zusammenfassen und zur Entscheidung stellen, bilden sie ein notwendiges Zwischenglied im Prozeß der Willensbildung. In dieser Funktion setzen sie die Differenz v o n Staat und Gesellschaft voraus. A n diese historische Konstellation sind sie gebunden. Solange Staat und Gesellschaft ununterscheidbar waren, bestand ebensowenig ein Bedürfnis f ü r Parteien wie zu Zeiten, da die Mitsprache auf kleine bevorrechtigte Statusgruppen begrenzt

1

Vgl. zu den Entstehungstheorien J. L A P A L O M B A R A / M . W E I N E R (Hrsg.) Political Parties and Political Development, 1966, S. 7; Κ. v. B E Y M E Parteien in westlichen Demokratien, 1982, S. 26.

600

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

blieb oder der Staat die unumschränkte Verfügungsgewalt über die Gesellschaft beanspruchte. Wird die Unterscheidung rückgängig gemacht, entfallen auch die Bedingungen für politische Parteien wieder. Es kann dann zwar immer noch eine Einheitspartei oder eine Mehrzahl gleichgeschalteter Parteien geben. Doch darf dieselbe Bezeichnung nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um eine andere Sache handelt2. 2 Die Konstellation, welche die politischen Parteien hervorrief, trat zuerst in England ausgangs des 17. Jahrhunderts ein. Vom englischen Parlament nahmen daher die politischen Parteien ihren Ausgang. In England erfuhren sie auch ihre erste theoretische Durchdringung3. Dagegen begannen die Parteien sich auf dem Kontinent und in Amerika erst hundert Jahre später auszubreiten und nahmen in Deutschland im Vormärz und definitiv in der Revolution von 1848 Gestalt an4. Ihr Entstehungsort waren durchweg die Institutionen der gesellschaftlichen Mitsprache, die Parlamente, in denen sich die Notwendigkeit des Zusammenschlusses zuerst ergab 5 , und nur allmählich und gerade in Deutschland unter vielfachen Hindernissen6 wuchsen sie in die Gesellschaft hinein und verfestigten sich dort zu Mitglieder- oder Klientelverbänden. Den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung des modernen, durch gesellschaftliche Basis und bürokratischen Apparat gekennzeichneten Parteiwesens gaben freilich die Einführung des allgemeinen Wahlrechts und der Schritt zur Massendemokratie, die überhaupt erst durch die Existenz einer begrenzten Anzahl personeller und programmatischer Alternativen praktikabel werden und damit die Parteien vollends unentbehrlich machen. 3

Sofern die Parteien eine Folgeerscheinung der parlamentarisch organisierten Mitsprache der Gesellschaft an staatlichen Entscheidungen sind, ist ihre Entstehung und Ausbreitung verfassungsrechtlich bedingt, ohne daß diese Konsequenz den Verfassungsschöpfern stets bewußt oder gar willkommen gewesen wäre. Die Parteien bilden deswegen aber nicht notwendig verfassungsrechtliche Einrichtungen. Verbleibt die Staatsgewalt, wie das in Deutschland bis 1918 der Fall war, beim Monar2

3

Vgl. H. HELLER Europa und der Fascismus. 1929, S. 100 (Gesammelte Schriften, Bd. II, 1 9 7 1 , S. 463, 554). Vgl. W. JÄGER Politische Partei und parlamentarische Opposition. Eine Studie zum politischen Denken von Lord Bolingbroke und David Hume, 1971; zur Entwicklung der englischen Parteien K . KLUXEN Das Problem der politischen Opposition. Entwicklung und Wesen der englischen Zwei-Parteien-Politik im 18. Jahrhundert, 1956.

4

Vgl. L. BERGSTRAESSER Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, 11. Aufl. 1965; T. NIPPERDEY Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, 1961; H. KAACK Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, 1 9 7 1 ; H. FENSKE Strukturprobleme der deutschen Parteiengeschichte, 1974; G. A . RITTER Die deutschen Parteien 1 8 3 0 — 1 9 1 4 , 1985; K . ROHE Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, 1992; E. R. HUBER Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. II, 2. Aufl. 1960, S. 318, 612.

5

Vgl. H. KRAMER Fraktionsbindungen in den deutschen Volksvertretungen 1 8 1 9 — 1849, 1968; W. D. HAUENSCHILD Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktion, 1968. Vgl. E. FAUL Verfemung, Duldung und Anerkennung des Parteiwesens in der Geschichte des politischen Denkens, in: P V S 5 (1964) 60; K . v. BEYME Partei, Fraktion, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. IV, 1978, S. 677.

6

§ 14

Politische Parteien (GRIMM)

601

chen, der sie aus eigenem Recht unabgeleitet innehat, während die Gesellschaft im Parlament nur ihre Forderungen an den von ihr unabhängigen Staat überbringt oder ihm in bestimmten Angelegenheiten ein Veto entgegenhalten darf, dann behauptet der Staat eine Position oberhalb der Parteien, und diese stehen genauso wie ihr Tätigkeitsfeld, das Parlament, außerhalb des Staates. Sein Aktionszentrum, die Regierung, bleibt ihnen versperrt. Erst mit dem Übergang der Staatsgewalt auf das Volk überschreiten auch die Parteien, die es handlungsfähig machen, die Schwelle zum Staat. Ihr Wirkungskreis endet nicht mehr bei der Volksvertretung, sondern erstreckt sich auf die Staatsleitung, die sie personell und programmatisch besetzen. Der Staat erscheint dann als „Parteienstaat". Wegen dieses Unterschieds entbehrte es nicht der Konsequenz, daß die deutschen 4 Verfassungen des 19. Jahrhunderts einschließlich der Reichsverfassung von 1871 die Parteien bei der Regelung der Staatsorganisation übergingen und die Staatsrechtslehre sie als ausschließlich gesellschaftliche und insofern extrakonstitutionelle Gebilde betrachtete7. Extrakonstitutionell war freilich schon damals nicht gleichbedeutend mit privat, obzwar die Parteien nach Privatrecht lebten, und erklärt das Desinteresse der Staatsrechtslehre daher nur auf dem Hintergrund ihrer formalistischen Einstellung. Aus demselben Grund verlor aber die Fortsetzung dieser Tradition in der Weimarer Verfassung ihren Sinn. Das ist der Weimarer Staatsrechtslehre nicht entgangen und löste eine intensive Diksussion über die politischen Parteien aus, in der TRIEPEL eine historische Stufenfolge des staatlichen Verhaltens gegenüber den politischen Parteien aufstellte, die von der Bekämpfung über die Ignorierung und Legalisierung zur Inkorporation in die Verfassung führte8. Dieses Stadium ist im Grundgesetz erreicht. Die Parteien sind in den Organisationsteil der Verfassung aufgenommen und damit auch formell zu verfassungsrechtlichen Größen geworden. Die Aufnahme der Parteien in die Verfassung bedeutet freilich nicht nur die 5 normative Anerkennung einer unabhängig davon bestehenden Realität, sondern auch deren Regelung. Sie ist in Art. 21 GG indes äußerst fragmentarisch und prinzipienhaft ausgefallen. Wesentliche Fragen über Status und Funktion der Parteien werden vom Grundgesetz offengelassen. Damit ist nicht gesagt, daß es auf diese Fragen keine verfassungsrechtliche Antwort gäbe, sondern nur, daß die Antwort aus dem systematischen Zusammenhang zwischen Art. 21 GG und anderen Verfassungsnormen erst erschlossen werden muß. Insofern die Parteien in die Vermittlung zwischen Volk und Staat eingeschaltet sind, diese sich aber als das zentrale Demokratieproblem darstellt, kommt dabei dem Demokratieprinzip die größte Bedeutung zu. Verschie7

8

Vgl. G . JELLINEK Allgemeine Staatslehre, 3. A u f l . , Nachdruck 1966, S. 113. Eine Ausnahme macht nur R. SCHMIDT Allgemeine Staatslehre, Bd. I, 1901, S. 239. H. TRIEPEL Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, 1928, S. 8. Vgl. weiter O. KOELLREUTTER Die politischen Parteien im modernen Staat, 1926; DERS. Der deutsche Staat als Bundesstaat und als Parteienstaat, 1927; E. v. CALKER Wesen und Sinn der politischen Parteien, 1928; G . LEIBHOLZ Das Wesen der Repräsentation unter besonderer Berücksichtigung des Repräsentativsystems, 1929; G . RADBRUCH Die politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechts, in: G . Anschütz/R. Thoma (Hrsg.) Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, § 25, S. 285; R. THOMA Das Reich als Demokratie, ebenda § 16, S. 190.

602

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

dene Auffassungen über das Verhältnis von Volk und Staat schlagen unweigerlich auf die Parteien als wichtigste Vermittlungsinstanz zwischen Volk und Staat durch'. Parteienrecht ist eine abhängige Variable des Demokratieprinzips, wie freilich auch die konkrete Gestalt einer Demokratie wiederum von der rechtlichen Stellung und faktischen Beschaffenheit ihrer politischen Parteien mitgeprägt wird.

II. Die Parteien im Grundgesetz 1. Funktion und Position der Parteien a) Das Demokratie- Verständnis des Grundgesetzes 6 Das Grundgesetz legt in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 als Grundbedingung demokratischer Herrschaft fest, daß die Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Es stellt aber keine Identität von Innehabung und Ausübung der Staatsgewalt her. Das Volk bleibt bei der Ausübung der Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG vielmehr auf die Wahl von Repräsentanten beschränkt, während alle übrigen Personal- und Sachentscheidungen mit Ausnahme der Länderneugliederung staatlichen Organen übertragen sind, die sich freilich direkt oder indirekt auf die Wahl zurückführen lassen müssen. Weisungen des Volkes an seine Repräsentanten schließt Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG aus. Die Demokratie ist der verfassungsrechtlichen Anlage nach repräsentativ, und zwar in außergewöhnlich reiner Form. Das Demokratieproblem eines solchen Systems liegt in der Verselbständigung der Organe von ihrem Auftraggeber. Das Grundgesetz sucht daher durch eine Reihe von Vorkehrungen die Rückbindung zu sichern. Die wichtigste besteht darin, daß sich in der Wahl unterschiedliche Gruppen um die Staatsführung bewerben können, die aus dem Volk selbst hervorgehen und keiner staatlichen Zulassung bedürfen. Die Wahl besitzt auf diese Weise nicht nur Akklamationsfunktion, sondern ermöglicht eine Entscheidung zwischen verschiedenen Alternativen. Das garantiert, was die Gruppenkonkurrenz betrifft, Art. 21 GG, was die Wahlentscheidung betrifft, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Da es vom Wahlausgang abhängt, welche der konkurrierenden Gruppen ihr politisches Programm verwirklichen kann, übt die regelmäßige Wiederkehr der Wahl einen Zwang zur Rücksichtnahme auf das Volk auch in der Zwischenzeit aus. Es ist das Konkurrenzprinzip, das in einem System außerordentlich begrenzter Entscheidungskompetenzen des Volkes die Bindung der Staatsorgane an den Träger der Staatsgewalt vornehmlich aufrechterhält10. 7

Die Wirkung des Konkurrenzprinzips hängt allerdings von verschiedenen Zusatzvoraussetzungen ab. Sie beziehen sich zunächst auf die Wahl selbst. Sie kann die Verselbständigungstendenzen nur hemmen, wenn diese für die Konkurrenten kost9

10

Besonders deutlich herausgearbeitet bei E. WIESENDAHL. Parteien und Demokratie. Eine soziologische Analyse paradigmatischer Ansätze der Parteienforschung, 1980. Zur Bedeutung des Konkurrenzprinzips G. LEHMBRUCH Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 1976, S. 14, 36.

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spielig werden. Deswegen müssen die Wahlen in nicht allzu langen Abständen wiederkehren. Das Wahlrecht darf nicht nur einem Teil des Volkes zustehen oder ungleich gewichtet sein, weil andernfalls die Interessen der Nicht- oder Minderstimmberechtigten folgenlos vernachlässigt werden könnten. Ferner muß die Wahlentscheidung jedes Einzelnen frei Zustandekommen. Das schließt selbstverständlich jede Zwangsausübung, aber auch alle Benachteiligungen im Zusammenhang mit der Stimmabgabe aus. Als Vorkehrung dafür dient die geheime Wahl. Freie Wahl bedeutet jedoch zusätzlich die Möglichkeit unmanipulierter Willensbildung des Wählers. Das setzt einerseits die freie Information voraus, für die ein Kommunikationssystem wesentlich ist, das sich zu den konkurrierenden Gruppen in kritische Distanz begeben kann. Andererseits verlangt es, daß sich die Staatsorgane, über deren Besetzung gerade durch die Wahl entschieden werden soll, gegenüber den Konkurrenten neutral verhalten und ihre Wettbewerbssituation nicht beeinflussen. In bezug auf den Wahlkampf ist der Staat Objekt, nicht Subjekt. Die entsprechenden Vorkehrungen trifft das Grundgesetz zum einen in den Art. 5, 8 und 9, zum anderen in den Art. 38 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 sowie 39 Abs. 1. Das Konkurrenzprinzip verlangt sodann, daß das Konkurrenzverhältnis auch 8 nach der Wahlentscheidung aufrechterhalten bleibt und der Wahlsieger seine Machtstellung nicht zur Abschaffung des Wettbewerbs ausnutzt. Das ist eine Frage der Minderheitenposition im politischen Prozeß. Das Grundgesetz verbietet sowohl die Ausschaltung der Minderheit als auch ihre Behinderung in der politischen Aktion. Sie bleibt als prinzipiell gleichberechtigte und nur momentan nicht zum Zuge gekommene Alternative präsent. Verfassungsrechtliche Grundlage dafür sind die grundrechtlichen Partizipationsgarantien und die Sicherungen des Art. 21 G G . Der Minderheit steht im Parlament vielmehr eine Arena zur Verfügung, wo sie die Mehrheit zur Offenlegung und Rechtfertigung ihrer Absichten zwingen und mit Kritik und Alternativen konfrontieren kann. Das ermöglichen vor allem die parlamentarischen Gesetzgebungs- und Etatfeststellungsbefugnisse des Art. 76 ff und 110 G G und unterstützend die parlamentarischen Kontrollrechte der Art. 42 ff und 114 GG. In der Regel werden diese Instrumente nichts daran ändern, daß die Mehrheit sich gegen die Minderheit durchsetzt. Das öffentliche Verfahren unter Beteiligung des Gegners zwingt sie aber schon im Vorbereitungsstadium, ihre Entscheidungen so zu planen, daß sie die parlamentarische Auseinandersetzung mit der Minderheit bestehen kann und ihre Chancen für die nächste Wahl nicht verschlechtert. Daß die Wahl für die Konkurrenten um die Staatsführung Folgen hat und sie 9 deswegen zur Rücksicht auf die Wähler anhält, hängt ferner davon ab, wie transparent der politische Prozeß für diese ist und in welchem Maß sie zwischen den Wahlen auf ihn einwirken können. Als wichtigste Voraussetzung dafür erscheint auf der Passivseite ein unverzerrtes Kommunikationssystem, in dem der politische Prozeß frei von Bevormundung durch die politischen Akteure Gegenstand kritischer Information sein kann, auf der Aktivseite die Möglichkeit, Überzeugungen und Interessen zu formulieren, zu organisieren und ins politische System einzuleiten. Die Basis der politischen Einwirkung des Volkes auf die staatlichen Entscheidungsträger bildet

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eine gegen den Zugriff des Staates geschützte Persönlichkeits-, Privat- und Berufssphäre, weil erst unter dieser Voraussetzung eine angstfreie Teilnahme am politischen Prozeß möglich wird. Als Garant dafür fungieren abermals die Grundrechte, und zwar nicht allein die sogenannten politischen oder partizipatorischen Grundrechte, sondern auch diejenigen, welche die Integrität der Person und die prinzipielle Staatsunabhängigkeit der Privat- und Berufssphäre sichern. Die Grundrechte erscheinen daher allesamt „für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ... schlechthin konstituierend", wie es das Bundesverfassungsgericht bezogen auf Art. 5 GG festgestellt hat11. Frei ist der politische Prozeß allerdings nicht schon dann, wenn er staatsfrei ist. Er muß vielmehr auch vor Verzerrungen durch gesellschaftliche, namentlich wirtschaftlich begründete Macht bewahrt werden. Daher können sich die Grundrechte im Interesse der Demokratie nicht allein gegen den Staat richten, sondern müssen Gestaltungsprinzipien für die Gesellschaftsordnung sein, die der Staat erforderlichenfalls grundrechtsoptimierend umzugestalten hat. 10 Nachdem das historisch gegen die monarchische Legitimität gerichtete Demokratieprinzip heute fast universale Geltung beansprucht, liegen die aussagekräftigen Unterscheidungsmerkmale der Systeme weniger in der Volkssouveränität und der Existenz von Wahlen als in diesen Zusatzvorkehrungen auf der nächstniederen Konkretisierungsstufe. Die Demokratie des Grundgesetzes erweist sich dabei als eine Variante, die ihre Substanz wesentlich in dem offenen und unabschließbaren Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung findet. Demokratie erschöpft sich dann nicht in der Wahl, sondern gipfelt in ihr. Dahinter kommt ein Verständnis politischer Herrschaft zum Vorschein, bei dem sich der Schritt von der vorgefundenen gesellschaftlichen Meinungs- und Interessenvielfalt zu der aufgegebenen staatlichen Einheitsbildung nicht vollzieht, indem oberhalb der tatsächlich vorhandenen Unterschiede ein hypothetischer wahrer Volkswille angenommen wird, den die staatlichen Organe ohne Rücksicht auf gesellschaftlichen Konsens durchzusetzen haben. Die Pluralität der Meinungen und Interessen wird vielmehr ernst genommen, und die staatliche Willensbildung ist das Ergebnis eines diskursiven Prozesses, der mit Mehrheitsentscheidung abgeschlossen wird. Mehrheit kann unter diesen Umständen freilich weder einen Anspruch auf Wahrheit noch auf Endgültigkeit verleihen, sondern bezeichnet nur eine momentane Präferenz, die jederzeit reversibel bleibt. 11

Damit geht notwendig eine Beschränkung der Entscheidungsbefugnisse von Mehrheiten einher12. Insbesondere stehen die Gelingensvoraussetzungen der De11 12

B V e r f G E 7, 1 9 8 (208). Vgl. dazu D. GRIMM Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat? in: J u S 1 9 8 0 , 708; ferner W. STEFFANI Mehrheitsentscheidungen und Minderheiten in der pluralistischen Verfassungsdemokratie, in: ZParl 1986, 569; W. HEUN Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1 9 8 3 ; C. OFFE Politische Legitimation durch Mehrheitsentscheidung? in: Journal f ü r Sozialforschung 22 (1982) 3 1 1 ; C. GUSY Das Mehrheitsprinzip im demokratischen Staat, in: A ö R 1 0 6 ( 1 9 8 1 ) 337; P. HABERLE Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen G r u n d o r d n u n g , in: J Z 1977, 2 4 1 ; U. SCHEUNER K o n s e n s und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in: G . Jakobs (Hrsg.) Rechtsgeltung und Konsens, 1 9 7 6 , S. 33; DERS. Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973; C. SCHMITT Legalität und Legitimität, 2. A u f l . 1 9 6 8 , S. 30; H. KELSEN V o m Wesen und Wert der Demokratie, 2. A u f l . 1929, S. 53.

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mokratie selbst nicht zur demokratischen Disposition. Auf die Mehrheitsregel kann man sich vielmehr bei ungewissem Ausgang künftiger Entscheidungen vernünftigerweise nur einlassen, wenn man auch im Fall der Minderheit sicher sein darf, die Chance zu behalten, bei nächster Gelegenheit selbst die Mehrheit zu erringen. Insofern setzt die Anerkennung der Mehrheitsregel einen jeder Einzelentscheidung vorgelagerten Konsens der rivalisierenden Kräfte voraus. Zur Sicherung dieses Fundamentalkonsenses trifft das Grundgesetz schließlich eine Reihe weiterer Vorkehrungen, die Machtzusammenballungen, denen die Voraussetzungen von Demokratie nicht mehr standhalten können, verhindern sollen. Als wichtigste erscheint dabei die Gewaltenteilung, die eine konzentriere Machtausübung verhindert und politische Herrschaft in ein Netz von Kooperationszwängen, Vetopositionen und Rechtfertigungspflichten einfängt. Die Gewaltenteilung erschöpft sich aber nicht in der klassischen Dreiteilung der Staatsfunktionen, sondern bezieht auch die föderalistische Struktur und die unabhängig gestellten staatlichen Kontrollorgane wie das Bundesverfassungsgericht, die Bundesbank und die Rechnungshöfe ein. Sie erstreckt sich endlich auf solche Kontrollinstanzen wie die öffentlichrechtlichen Rundfunkund Fernsehanstalten, die aus der staatlichen Organisation ausgegliedert sind, um von dieser Position aus die Offenheit des politischen Prozesses aufrechterhalten und die Rückbildung der Staatsorgane an das Publikum unterstützen zu können. b) Die Funktion der politischen

Parteien

In diesem System weist Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG den Parteien die Aufgabe zu, an 1 2 der Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Was darunter zu verstehen ist, läßt die Formulierung allerdings nicht mit Sicherheit erkennen. Darin liegt einer der Gründe für die beträchtlichen Unterschiede und Schwankungen, die Judikatur und Literatur bei der Funktionsbestimmung der Parteien offenbaren. Auch die Politikwissenschaft hat bislang aber keine einheitliche Auffassung über die Funktion der Parteien auszubilden vermocht, sondern bietet höchst verschiedenartige und nur partiell übereinstimmende Funktionenkataloge an 13 . Dabei macht sich die Unklarheit des Funktionsbegriffs bemerkbar. Nur selten wird zwischen der generellen Zweckbestimmung der Parteien, den einzelnen Formen der Zweckerreichung und den Auswirkungen der Zweckverfolgung hinreichend unterschieden. Alle drei lassen sich dem Begriff der Funktion unterordnen, liegen aber auf verschiedenen Ebenen. Die generelle Zweckbestimmung politischer Parteien ergibt sich aus der Binnendifferenzierung des politischen Systems in Volk einerseits und Staatsorgane andererseits. Da die Verfassung staatliche Herrschaft zwar auf das Volk zurückführt, aber nicht von ihm selbst ausüben läßt, stellt sich das Problem der Vermittlung. Es erscheint nur 13

Vgl. zur Situation der Funktionenlehre H. A. SCARROW The Function of Political Parties — A Critique of the Literature and the Approach, in: Journal of Politics 28 (1967) 770; W. JÄGER Die politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich, in: Der Staat 19 (1980) 584; WIESENDAHL Parteien und Demokratie (Fn. 9) S. 184, dort S. 188 auch eine tabellarische Ubersicht über Funktionsbestimmungen in der Literatur; P. HAUNGS Parteiendemokratie in der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 26; G. SCHMID Politische Parteien, Verfassung und Gesetz, 1981, S. 21; v. BEYME Parteien (Fn. 1) S. 25.

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lösbar, wenn Zwischenglieder existieren, die die komplexen gesellschaftlichen Vorstellungen und Bedürfnisse reduzieren, die Reduktionsleistungen in Gestalt generalisierter Handlungsprogramme für den Staat zur Auswahl stellen und auf der Grundlage des vom Volk mehrheitlich ausgewählten Programms den staatlichen Entscheidungsprozeß instruieren, wobei die ausgeschiedenen Alternativen präsent bleiben müssen, damit der Handlungsauftrag widerrufen und anderweitig vergeben werden kann. Diese Vermittlerrolle, die notwendig grenzüberschreitend ist, nehmen die politischen Parteien wahr 14 . 13

Die Vermittlung findet in verschiedenen Formen statt. Das Grundgesetz sieht als wichtigsten Vermittlungsmechanismus zwischen Volk und Staat die Wahl vor, in der das Volk das zentrale legitimationsspendende Staatsorgan, das Parlament, bestellt, von dem aus sich der Legitimationsstrom dann in vielfaltiger Weise verzweigt. Gerade die Wahl macht aber die Hilfsbedürftigkeit des Volkes besonders augenfällig. Es besitzt keinen natürlichen Gesamtwillen, sondern trägt in sich nur die ungestaltete und widersprüchliche Vielfalt individueller Meinungen und Interessen. Da sie in der Wahl von jedem Einzelnen in eine einfache Ja-Nein-Entscheidung über Personen und Personengruppen übersetzt werden muß, wird das Volk zur Wahl erst fähig, nachdem die gesellschaftliche Vielfalt in einem Prozeß fortschreitender Selektion auf wenige entscheidungsfahige Alternativen reduziert ist 15 . Diese Reduktion nehmen die politischen Parteien vor, indem sie verwandte Meinungen und Interessen zusammenfassen, in sich ausgleichen und zu politischen Programmen verdichten sowie Führungspersonal auslesen, das sich den Programmzielen verschreibt und dadurch für den Wähler identifizierbar wird. Sie fußen dabei auf vorausgehenden Reduktionsleistungen anderer gesellschaftlicher Institutionen wie beispielsweise der Interessenverbände, sind aber die einzigen, die sie in wählbare Alternativen verwandeln. Insofern diese Funktionen der Interessenaggregation, Zielfindung und Führungsauslese Wahlen erst ermöglichen, kann man die Parteien in der Tat, wie vom Bundesverfassungsgericht wiederholt formuliert, als „Wahlvorbereitungsorganisationen" 16 bezeichnen. In dieser Eigenschaft erscheinen sie unter den gegenwärtigen Bedingungen unersetzbar und sind folglich wie die Wahl selbst demokratienotwendig.

14

Das Bundesverfassungsgericht hat sich von dieser Aufgabe allerdings so stark gefangennehmen lassen, daß es sie im Parteienfinanzierungsurteil von 1966 zur alles 14

Vgl. zu dieser Grundfunktion W. HENKE Das Recht der politischen Parteien, 2. A u f l . 1972, S. 18 mit umfangreichen Literaturnachweisen; ferner v o r allem N. LUHMANN Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1 9 8 1 , S. 44; DERS. Soziologie des politischen Systems, in: DERS. Soziologische Aufklärung, 1970, S. 163 ff; DERS. Legitimation durch Verfahren, 1969, S. 154 ff; DERS. Grundrechte als Institution, 2. A u f l . 1974, S. 148 ff; K.-H. SEIFERT Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 99; M. GREVEN Parteien und politische Herrschaft, 1 9 7 7 , S. 1 1 4 , 1 3 1 f f ; D . TSATSOS/M. MORLOK P a r t e i e n r e c h t , 1 9 8 2 , S. 1 6 ; P H . K U N I G P a r t e i e n , i n :

HdBStR Bd. 2, 1987, § 33 Rdn. 47 ff. 15

16

Vgl. K . HESSE Die verfassungsrechtliche Stellung der Parteien im modernen Staat, in: V V D S t R L Bd. 17 (1959) 18, w o die „wesensmäßige Unformiertheit und Formungsbedürftigkeit des pluralistisch aufgespaltenen Volkswillens" hervorgehoben wird. B V e r f G E 8, 51 (63); 12, 276 (280); 20, 56 (113).

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überragenden Funktion der Parteien erhob 17 . In der Wahlvorbereitung erschöpft sich ihre Tätigkeit jedoch keineswegs. Die Parteien bleiben ja in dem gewählten Organ präsent. Das Parlament setzt sich aus parteigebundenen Abgeordneten zusammen, und da diese in der Demokratie nicht mehr nur zur Volksvertretung berufen sind, sondern die Staatsführung bestimmen, fallt den Parteien auch die Funktion der Regierungsbildung zu. Die Wählerschaft hat sich darauf eingestellt, indem sie bei der Wahl weniger die Entsendung persönlicher Repräsentanten als die Regierungsbildung durch eine bestimmte Partei in den Blick nimmt. Staatswillensbildung und Volkswillenbildung fallen dadurch nicht in eins, wie dem Bundesverfassungsgericht zuzugeben ist 18 . Die Funktion der Parteien läßt sich aber nicht mehr auf den Bereich der Volkswillenbildung beschränken. Beide werden durch die Intervention der Parteien vielmehr miteinander verknüpft. Die Möglichkeit, den Staatswillen zu bilden, ist ihr Ziel, und weil der Weg nur über das Volk führt, wirken sie an dessen Willensbildung mit. Aber gerade indem sie die Volkswillensbildung zum Staat hin transzendieren, machen sie diesen zum Staat des Volkes. Demgegenüber kommen in der Zuordnung der Parteien zum Bereich der Volkswillensbildung, wie sie das Bundesverfassungsgericht im Parteienfinanzierungsurteil vornimmt, ältere dualistische Vorstellungen zum Vorschein, die von der Demokratie überholt sind 19 . Wenn die Parteien im demokratischen System nicht nur an der Volkswillensbildung mitwirken, sondern auch die Staatswillensbildung beherrschen, überschreiten sie daher nicht ihre verfassungsrechtlichen Aufgaben nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG. Vielmehr handelt es sich um eine zwangsläufige Konsequenz der vom Grundgesetz selbst errichteten parlamentarisch-repräsentativen Demokratie. Die Wahlvorbereitung gibt die Parteifunktionen aber nicht nur deswegen un- 1 5 vollständig wieder, weil sie den Einfluß der Parteien auf die Staatswillensbildung unterschlägt, sondern auch, weil sie die Volkswillensbildung auf den punktuellen Vorgang der Wahl verkürzt 2 0 . Indessen zerfallt der politische Prozeß nicht in einen vierjährlich wiederkehrenden Akt der Volkswillensbildung und eine dazwischen liegende Periode der Staatswillensbildung. Die Volkswillensbildung vollzieht sich vielmehr ihrerseits in einem permanenten Prozeß, aus dem die Wahl als verbindliche Momententscheidung, die der Politik den zeitlichen Rhythmus und dem Staat die inhaltliche Ausrichtung gibt, herausragt. An diesem Prozeß beteiligen sich neben

17

18 19

20

Vor allem B V e r f G E 20, 56 (113). Zur Kritik daran vgl. auch P. HABERLE Unmittelbare staatliche Parteienfinanzierung unter dem Grundgesetz, in: J u S 1967, 67 f; U. SCHEUNER Der E n t w u r f des Parteiengesetzes, in: D Ö V 1967, 343; H. ZWIRNER Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Parteienfinanzierung, in: A ö R 93 (1968) 114; SEIFERT Parteien (Fn. 14) S. 88 f. B V e r f G E 20, 56 (98). Vgl. D. TSATSOS Die Urteile des deutschen Bundesverfassungsgerichts v o m 19. Juli 1966 zur Frage der Zulässigkeit staatlicher Parteienfinanzierung, in: Z a ö R V 26 (1966) 371; HABERLE Pateienfinanzierung (Fn. 17); SCHEUNER Parteiengesetz (Fn. 17); DERS. Die Parteien und die Auswahl der politischen Leitung im demokratischen Staat, in: D Ö V 1958, 641; ZWIRNER Parteienfinanzierung (Fn. 17) 118; H.-R. LIPPHARDT Die Gleichheit der politischen Parteien v o r der öffentlichen Gewalt, 1975, S. 523. Vgl. HABERLE Parteienfinanzierung (Fn. 17) 66 f sowie SEIFERT Parteien (Fn. 14) S. 86, der Volkswillensbildung im engeren und im weiteren Sinn unterscheidet.

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den Parteien zahlreiche weitere Akteure, die Interessen organisieren und artikulieren, Forderungen erheben, Meinungen verbreiten, Kritik üben etc. Im Blick auf diese vor allem in den Art. 5, 8 und 9 GG gesicherten Möglichkeiten spricht das Grundgesetz nur von einer Afòwirkung der Parteien. Deswegen läßt sich weder rechtlich noch empirisch die Wendung des Bundesverfassungsgerichts in seinem ersten großen Wahlrechtsurteil halten, in der „Demokratie von heute" hätten „die Parteien allein die Möglichkeit, die Wähler zu politisch aktionsfähigen Gruppen zusammenzuschließen" 21 . Doch fällt ihnen auch hier eine gesteigerte Mitwirkung zu, weil sie im Gegensatz zu den übrigen Akteuren Forderungen und Ansichten nicht nur an den Staat herantragen, sondern unmittelbar in den staatlichen Entscheidungsprozeß einleiten können. Insofern kommt das Parteienfinanzierungsurteil der Sachlage näher, wenn es auführt, daß das Volk über die Parteien auch zwischen den Wahlen Einfluß auf die Verfassungsorgane nehme 22 , aber, wie ergänzt werden muß, eben in der Weise, daß diese ihrerseits von den Parteien besetzt sind, die erst dadurch ihre Vermittlungsfunktion erfüllen können. 16

So unbestimmt, wie das Grundgesetz in der Mitwirkungs-Formel des Art. 21 Abs. 1 Satz 1 die Aufgaben der Parteien benennt, läßt es auch die Zielrichtung dieser Mitwirkung. Das Bundesverfassungsgericht suchte sie anfangs in Anlehnung an LEIBHOLZ mit dem Bild des „Sprachrohrs" zu erfassen, „dessen sich das mündig gewordene Volk bedient, um sich artikuliert äußern und politische Entscheidungen fallen zu können" 23 . Indessen krankt diese Beschreibung daran, daß ein ausgebildeter Volkswille, der nur noch der Verstärkung und Übermittlung bedürfte, nicht vorausgesetzt werden kann. Die politischen Anschauungen des Volkes sind im Gegenteil das Produkt eines politischen Prozesses, an dem die Parteien als formende Kräfte aktiv beteiligt sind. Das Bundesverfassungsgericht ließ daher auch die SprachrohrTerminologie fallen und beharrte später nur noch darauf, daß sich die Willensbildung im demokratischen Staat vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt vollziehen müsse 24 . Die Parteien fungieren dann als Transmissionsriemen für den von ihnen mitgeformten Volkswillen. Dieser Grundsatz kontrastiert jedoch auffällig mit dem politikwissenschaftlichen Befund, daß sich zur faktisch dominanten Funktion der Parteien die Legitimationsbeschaffung für staatliche Entscheidungen entwickelt hat, die Willensbildung tatsächlich also gerade umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk verläuft 25 . Stimmt die Politikwissenschaft in diesem Befund weitgehend 21

22

B V e r f G E 1, 208 (223 £) in Anlehnung an G . LEIBHOLZ Verfassungsrechtliche Stellung und innere Ordnung der Parteien, 38. D J T 1950, S. C 7, und dann gleichlautend in einer Reihe anderer Schriften, z. B. Der Parteienstaat des Bonner Grundgesetzes, in: Recht, Staat und Wirtschaft, Bd. III, 1 9 5 1 , S. 104; Parteienstaat und repräsentative Demokratie, in: DVB1. 1 9 5 1 , 241; Strukturprobleme der modernen Demokratie, Neuausg. der 3. A u f l . , 1974, S. 74. B V e r f G E 20, 56 (99).

23

B V e r f G E 1, 2 0 8 ( 2 2 4 ) . N a c h w e i s e f ü r LEIBHOLZ w i e F n . 2 1 .

24

B V e r f G E 20, 56 (99). Vgl. die Bestandsauftiahme v o n R. MAYNTZ Staat und politische Organisation: Entwicklungslinien, in: W. Lepsius (Hrsg.) Zwischenbilanz der Soziologie, Verhandlungen des 17. Deutschen Soziologentages, 1976, S. 327, und den Überblick bei LEHMBRUCH Parteienwettbewerb (Fn. 10) S. 39. Im einzelnen mit zahlreichen Nachweisen WIESENDAHL Parteien (Fn. 9) bes. S. 107 ff.

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überein, so unterscheiden sich die Bewertungen. Während ihn die Mehrzahl der Autoren an einem Demokratiemodell mißt, bei dem die gesellschaftliche Mitwirkung an staatlichen Entscheidungen im Vordergrund steht, legt eine andere Richtung das Gewicht auf die Stabilität und Regierungsfähigkeit des demokratischen Systems 26 . Für diese erfüllt sich die Demokratie in der generellen Unterstützung der politischen Führung, so daß die legitimatorische Funktion der Parteien als systemkonform erscheint. Jene deuten die Mitwirkung der Parteien an der Volkswillensbildung im Sinn von Bürgerpartizipation und verwerfen daher die legitimationsbeschaffende Tätigkeit. Soweit der Wortlaut von Art. 21 Abs. 1 Satz 1 G G zur Lösung dieser Frage 17 beiträgt, scheint er eher für die Partizipationstheorien zu sprechen. Den Parteien wird die Mitwirkung an der Volkswillensbildung zugewiesen. Das deutet auf eine instrumentelle, keine beherrschende Funktion hin. Die Willensbildung bleibt diejenige des Volkes, die Parteien ersetzen es darin nicht. Andererseits beschränkt sich ihre Tätigkeit im demokratischen System aber nicht auf den Bereich der Volkswillensbildung. Ohne es ausdrücklich auszusprechen, setzt das Grundgesetz doch voraus, daß sie aufgrund eines Volksauftrags auch den Staatswillen bilden. Damit korrespondiert aber gerade in einer Konkurrenzdemokratie das legitime Bedürfnis, den staatlichen Entscheidungen wiederum Akzeptanz in der Bevölkerung zu sichern. Der Willensbildungsprozeß verläuft also beidseitig. Die Parteien sind in ihm bald in ihrer Eigenschaft als gesellschaftliche Basisgruppen Adressaten von Forderungen und Ansichten im Volk, bald in ihrer Eigenschaft als Träger staatlicher Ämter und Mandate Urheber bindender Entscheidungen, denen sie Massenloyalität beschaffen. Beide Vorgänge können nicht als Norm und Wirklichkeit gegeneinander ausgespielt werden, sondern sind gleichermaßen Aspekte des demokratischen Prozesses. Der einbahnige Verlauf der Willensbildung, den das Bundesverfassungsgericht aus dem Demokratieprinzip ableitet, wird diesem daher nicht gerecht. Die über die Parteienkonkurrenz vermittelte demokratische Willensbildung ist vielmehr Resultante aus beidem, dem gesellschaftlichen input einerseits, dem staatlichen output andererseits 27 . Die Bedeutung von Art. 21 Abs. 1 Satz 1 G G besteht darin, daß er eine Verstopfung des freilich stärker gefährdeten Kommunikationswegs aus der Gesellschaft in den Staat verbietet.

26

Vgl. für die legitimatorische Richtung etwa LUHMANN Legitimation durch Verfahren (Fn. 14) S. 151; W. HENNIS Die mißverstandene Demokratie, 1973, bes. S. 89 f; DERS. Parteienstruktur und Regierbarkeit, in: W. Hennis u.a. (Hrsg.) Regierbarkeit, Bd. 1, 1977, S. 150; für die darauf reagierende partizipatorische Richtung etwa S. u. W. STREECK Parteiensystem und Status quo, 1972; M. GREVEN Parteien (Fn. 14). Im einzelnen wiederum WIESENDAHL Parteien (Fn. 9). Kritisch zum Befund HAUNGS Parteiendemokratie (Fn. 13) S. 48; differenzierend auch K . v. BEYME Krise des Parteienstaats — ein internationales Phänomen? in: J . Raschke (Hrsg.) Bürger und Parteien, 1982, S. 87.

27

S. J . HABERMAS Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 1981, S. 509. Vgl. auch LUHMANN Wohlfahrtsstaat (Fn. 14) S. 46 ff; DERS. Selbstlegitimation des Staates, in: Legitimation des modernen Staates, A R S P Beiheft 15 (1981) 65; dagegen im Dualismus von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit verharrend ζ. Β. T. ELLWEIN Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, in älteren Auflagen, so 3. Aufl. 1973, S. 173 ff.

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c) Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft 1 8 Der Umstand, daß die Parteien in der Demokratie die Vermittlung zwischen Volk und Staat übernehmen, macht ihre systematische Einordnung zum Problem. Von Herkunft zweifellos gesellschaftlich, haben sie als Ziel doch den Staat. Der Organisationszweck besteht in der Übernahme der Staatsleitung. Diese erst verleiht die Möglichkeit der Umsetzung politischer Programme in allgemeinverbindliche Entscheidungen. Es fragt sich daher, ob es bei der traditionellen Einordnung der Parteien als gesellschaftliche Gebilde bleiben kann oder ob sie nicht mit dem Übergang zur Demokratie, jedenfalls aber mit ihrer Konstitutionalisierung zu einem Bestandteil des Staates geworden sind. Die Frage steht seit langem im Mittelpunkt der staatsrechtlichen Beschäftigung mit den Parteien und hat bis heute nicht zu gesicherten Ergebnissen geführt 2 8 . Die Staatsrechtslehre geht dabei keineswegs nur einem theoretisch-systematischen Problem nach. Die Antwort auf die Zuordnungsfrage präjudiziert vielmehr die Lösung wichtiger aktueller Streitfragen des Parteienrechts wie die Zulässigkeit der staatlichen Parteienfinanzierung, die Bindung von Amts- oder Mandatsträgern an Parteibeschlüsse, die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Wahlkampf, das Verhältnis zwischen den im Parlament vertretenen und den nicht ins Parlament gelangten Parteien etc. Auch die Parteienjudikatur des Bundesverfassungsgerichts hat von der Antwort auf diese Frage ihre Richtung empfangen, und die Schwankungen, denen sie dabei ausgesetzt war, rühren überwiegend aus Unsicherheiten über den Standort der Parteien her. Es scheint daher, daß die Frage nicht auf sich beruhen kann, sondern verfassungsrechtlich geklärt werden muß, ehe die zahlreichen Einzelprobleme des Parteienrechts in Angriff genommen werden können. 19

Dagegen hält eine Reihe von Autoren die Standortfrage bereits im Ansatz für verfehlt. A m häufigsten kann man diese Auffassung in der Politikwissenschaft antreffen, wobei nicht selten abschätzige Seitenblicke auf die an überholten Kategorien haftende Staatsrechtslehre fallen 29 . Die Einstellung steht im Zusammenhang mit dem stillschweigenden Verzicht, den ein Teil der Politikwissenschaft in den letzten Jahrzehnten auf den Begriff des Staates geleistet hat. Seinen Platz nimmt meist das „politische System" ein. Die Politikwissenschaft trug damit der Tatsache Rechnung, daß ihr Gegenstand in fortgeschrittenen Industriegesellschaften mit demokratischer Herrschaftsstruktur unter Beschränkung auf staatliches Handeln nicht mehr angemessen beschreibbar ist. Insofern der Kreis der politischen Akteure heute weit über die Staatsorgane hinausreicht und das dem Staat zugerechnete Handeln sich in vielen Fällen als außerstaatlich vorentschieden erweist, mußte sie vielmehr ihren Forschungsrahmen notwendig ausweiten. Daß die Parteien dann nicht außerhalb des politischen Systems stehen, sondern eine zentrale Rolle in ihm spielen, unterliegt keinem Zweifel. Damit entfallt aber nicht die Frage, ob es den Staat auch als unterscheidbares Subsystem im politischen System nicht mehr gibt. Erst wenn 28 25

Vgl. die Einleitung bei HENKE Parteien (Fn. 14) S. 1 ff m. w. N. Vgl. etwa K . SONTHEIMER Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl. 1977, S. 99 f; H . - O . MÜHLEISEN Theoretische Ansätze der Parteienforschung, in: W. Jäger (Hrsg.) Partei und System, 1973, S. 13.

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diese Frage verneint wird, erledigt sich das in der Staatsrechtslehre diskutierte Zuordnungsproblem. Andernfalls bleibt es auf der Tagesordnung, wie übrigens die Politikwissenschaft selbst eingesteht, wenn sie sich Problemen wie der staatlichen Parteienfinanzierung, des Mandatsverlusts bei Parteiwechseln, der Bindung von Amts- und Mandatsträgern an Parteibeschlüsse zuwendet. Einer Ablehnung der Standortfrage kann man jedoch ebenso in der Rechtswis- 20 senschaft begegnen, für die der Begriff des Staates seine Evidenz noch nicht verloren hat. Die Kritik setzt hier bei der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft an, die das Standortproblem erst aufwirft. Namentlich L I P P H A R D T vertritt die Ansicht, daß eine solche Unterscheidung unvollziehbar sei. Damit entfalle aber „nicht nur die Denkmöglichkeit einer .Nahtstelle', sondern auch von .Zwischengliedern'" 30 . Die Parteien könnten nur „ganzheitlich" erfaßt werden. L I P P H A R D T stützt seine Ansicht darauf, daß es sich bei Staat und Gesellschaft um ein und denselben Personenverband handele, der einer Aufspaltung nicht fáhig sei, weil der Schnitt dann mitten durch die natürlichen Personen verliefe. Er erliegt dabei demselben Irrtum, der schon seinem Gewährsmann E H M K E unterlaufen war 31 . Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft betrifft nicht Personen, sondern Rollen und Kommunikationen. Auf dieser Basis erscheint eine Differenzierung aber nicht von vornherein ausgeschlossen32. Andernfalls wäre L I P P H A R D T S gesamtes dogmatisches Bemühen, die rechtliche Distanz zwischen Staat und Parteien zu vergrößern, zum Scheitern verurteilt. Mit der von H E S S E übernommenen Formel, die Parteien genössen einen „Status des Öffentlichen"33, ist deswegen die Frage nach dem Parteienstandort ebensowenig erledigt wie mit der Aussage der Politikwissenschaft, sie gehörten zum politischen System. Sie läßt sich nach diesen Einwänden allerdings nicht mehr ohne Vergewisserung über die gegenwärtige Situation von Staat und Gesellschaft entscheiden. Besteht zwischen Staat und Gesellschaft kein Unterschied mehr, dann sind sie 21 identisch. Genauer gesagt, gibt es dann weder Staat noch Gesellschaft, sondern nur etwas Drittes, das deren Funktionen vereint. Darüber scheint nicht bei allen, die die Unterscheidung für überwunden halten, Klarheit zu herrschen. Mit der Identität beider entfällt zugleich die Möglichkeit individueller Autonomie einerseits und begrenzter öffentlicher Gewalt andererseits. Jeder wird Sachwalter einer öffentlichen Ordnung, die sämtliche Lebensbereiche durchdringt 34 . Da keiner der Autoren, die die Frage nach dem Standort der Parteien ablehnen, eine solche Ordnung anstrebt, liegt die Vermutung nahe, daß sie die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft 30

LIPPHARDT G l e i c h h e i t (Fn. 1 9 ) S. 5 5 1 .

31

H. EHMKE Wirtschaft und Verfassung, 1 9 6 1 , S. 5F; DERS. .Staat' und .Gesellschaft' als verfassungstheoretisches Problem, in: Festgabe für R. Smend, 1962, S. 24 f. Vgl. LUHMANN Soziologie des politischen Systems (Fn. 14) S. 155; DERS. Wohlfahrtsstaat (Fn. 14) S. 20, 35; E.-W. BÖCKENFÖRDE Die verfassungstheoretische Unterscheidung v o n Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1 9 7 3 , S. 21 ff; D. GRIMM Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 74. LIPPHARDT Gleichheit (Fn. 19) S. 566, unter Berufung auf HESSE Stellung der Parteien (Fn. 15).

32

33 34

V g l . BÖCKENFÖRDE Staat u n d G e s e l l s c h a f t (Fn. 3 2 ) ; a u c h P. GRAF KIELMANSEGG V o l k s s o u v e r ä -

nität, 1977, bes. S. 243.

612

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

kurzerhand mit einem ihrer historischen Erscheinungsbilder, nämlich der dualistischen Trennung, gleichsetzen. Dem Dualismus lag in der Tat die Vorstellung von der Teilbarkeit aller sozialen Phänomene in staatliche oder gesellschaftliche zugrunde. In dieser Form war er an die Existenz einer autoregulativen Gesellschaft gebunden, die den Staat nur als Garanten der von ihm unabhängigen Sozialordnung benötigte. Ihre Voraussetzungen sind entfallen. Zwischen Zonen unbezweifelbarer Staatlichkeit und Reservate ebenso unbezweifelbarer Privatheit hat sich ein breiter und noch immer wachsender Bereich geschoben, der weder exklusiv dem Staat noch exklusiv der Gesellschaft zugeordnet werden kann. Staat und Gesellschaft befinden sich hier vielmehr in einer Gemengelage, die exakter Auflösung nicht mehr fáhig ist. Doch erfaßt die Überwindung des Dualismus nicht notwendig auch die Unterscheidung. Sie bleibt in einem System mit grundrechtlich gesicherter Individualfreiheit einerseits und gegenständlich begrenzter Staatsmacht andererseits prinzipiell aufrechterhalten. 22

Ihre Gestalt ist allerdings komplizierter geworden. Mit Recht bemerkt LUHdaß der alten Unterscheidung von Staat und Gesellschaft für die Einheit des so Differenzierten ein Begriff fehlte 35 . Die Einheit existiert in Form der Gesamtgesellschaft. Innerhalb ihrer haben sich aber verschiedene funktional spezialisierte Subsysteme, zum Beispiel für Wirtschaft, Wissenschaft, Religion etc. herausgebildet. Eines dieser Subsysteme ist das politische System, dessen Funktion in der Herstellung und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen besteht. Es kann dann freilich nicht als Personenverband, sondern nur als Wirkeinheit, die der Gesellschaft bestimmte Leistungen erbringt und gerade zu diesem Zweck eine relative Selbständigkeit von ihr beansprucht, begriffen werden 36 . In der Epoche des monarchischen Absolutismus ließ sich das politische System mit dem Staat identifizieren. Die Einzelnen standen ihm als Untertanen gegenüber und waren nicht Subjekt, sondern Objekt der Herrschaft. Im Maße, wie die Einzelnen ihren Untertanenstatus abstreiften und Anteil an politischen Entscheidungen erlangten, rückten sie ins politische System ein, ohne damit selbst Staat zu werden. Dieser blieb als institutionalisierte und gegenständlich, funktional und prozedural begrenzte Entscheidungsinstanz unterscheidbar, machte das politische System aber nicht mehr aus. Namentlich in der Demokratie ist die Bevölkerung in verschiedenen Rollen, nicht nur der des Wählers, sondern auch als Interessent, Demonstrant etc. ebenfalls Teil des politischen Systems. Das gilt erst recht für die Zusammenschlüsse Einzelner, deren ausdrückliches Ziel die Einwirkung auf politische Entscheidungen ist. Damit kehrt aber die alte Differenz von Staat und Gesellschaft nunmehr in Gestalt der Binnendifferenzierung des politischen Systems wieder. MANN,

23

Die Frage der Zuordnung der politischen Parteien zu Staat oder Gesellschaft ist also durch die sozialen Veränderungen keineswegs überholt, sondern nur in einen anderen Zusammenhang überführt. An der Kritik erscheint aber soviel richtig, daß die Antwort keine alternative sein kann. Wenn die politischen Parteien die demo35

N. LUHMANN Politische Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems, in: Der Staat 12

36

Zum Verständnis des Staates als Wirkeinheit vor allem H. HELLER Staatslehre, 1934, S. 228.

( 1 9 7 3 ) 5.

§14

Politische Parteien (GRIMM)

613

kratischen Beziehungen zwischen Volk und Staat vermitteln, in dem sie Führungspersonal und politische Programme zur Auswahl stellen und das staatliche Entscheidungsverhalten wiederum an gesellschaftlichen Bedürfnissen und Meinungen ausrichten, dann setzt das notwendig ein Wirken in beiden Bereichen voraus. Die Grenzüberschreitung ist Demokratiebedingung. Zur Debatte steht unter diesen Umständen nicht, ob sie entweder zur Gesellschaft oder zum Staat gehören, sondern nur, in welchem Maß sie in beide Bereiche integriert sein dürfen. Auf diese graduelle Frage gibt die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft keine Antwort mehr. Sie muß vielmehr der konkreten Ausgestaltung, die die Beziehungen zwischen Volk und Staat im Grundgesetz gefunden haben, entnommen werden. Das Grundgesetz läßt mit Eindeutigkeit freilich nur den Ursprung und die fortdauernde Verwurzelung der Parteien in der Gesellschaft erkennen, wenn es Gründungsfreiheit für politische Parteien garantiert und im Interesse der Bindung der Parteien an ihre Mitglieder innerparteiliche Demokratie vorschreibt. Dagegen setzt es der Einfügung der Parteien in die institutionalisierte Staatlichkeit ein weniger deutliches Maß. Eine ausdrückliche Regelung findet sich nur für die Parlamentsabgeordneten, die Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu Vertretern des ganzen Volkes macht und allein ihrem Gewissen unterwirft. Art. 38 GG legt auf diese Weise eine Scheidelinie zwischen Partei und Staatsorgan. Die Rolle als Parteimitglied determiniert nicht automatisch die Rolle als staatlicher Entscheidungsträger. Im übrigen fehlt es aber an unmittelbaren verfassungsrechtlichen Aussagen, und Literatur und Judikatur sind von einheitlichen Auffassungen weit entfernt. d) Der Standort der Parteien Da Ursprung und Verwurzelung der Parteien in der Gesellschaft verfassungsrechtlich, 24 wenn schon nicht politisch 37 , außer Zweifel stehen, spitzt sich die Frage nach dem Standort der Parteien auf den Grad ihrer Inkorporation in den Staat zu. Die Diskussion dieser Frage ist besonders nachhaltig von LEIBHOLZ beeinflußt worden. LEIBHOLZ geht davon aus, daß durch die Intervention der politischen Parteien, die ihrerseits mit der Demokratisierung des Wahlrechts zusammenhängt, die Institutionen der repräsentativen Demokratie unterlaufen worden sind. Das Volk wird erst in den Parteien handlungsfähig. Es tritt daher als eigenständige, von den Parteien unterscheidbare Größe politisch nicht mehr in Erscheinung. L E I B H O L Z schließt daraus, „daß in dieser Form der Demokratie die Parteien das Volk ,sind' " 38 . Die 37 38

Vgl. die umfangreiche Literatur zur innerparteilichen Demokratie, später Fn. 7 1 . LEIBHOLZ Stellung der Parteien (Fn. 21) S. C 10; ferner DERS. Volk und Partei im neuen deutschen Verfassungsrecht, in: DVB1. 1950, 196 f. Die Ausführungen kehren wortgleich oder ähnlich in den verschiedensten anderen Schriften des Autors wieder (s. Fn. 21), ohne daß sie hier vollständig nachgewiesen würden. LEIBHOLZ' Theorie ist bereits in der Weimarer Republik grundgelegt worden, vgl. Repräsentation (Fn. 8); zu ihrer Entwicklung minutiös LIPPHARDT Gleichheit (Fn. 19) S. 531. A u f den Einfluß v o n M. WEBER Parteiwesen und Parteiorganisation, in: Staatssoziologie (Hrsg. Winckelmann) 2. A u f l . 1966, S. 50, und C. SCHMITT Verfassungslehre, 1928, und Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1923, ist mehrfach aufmerksam gemacht worden.

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3. Kapitel. D i e demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

von den Parteien präsentierten und ihnen verbundenen Abgeordneten haben nichts mehr mit den aufgrund ihrer persönlichen Qualitäten gewählten Repräsentanten des ganzen Volkes gemein, sondern sind „gebundene Parteibeauftragte". Für das Parlament folgt daraus, daß dort nur noch „anderweitig bereits getroffene Entscheidungen registriert werden" 39 . Auch die Wahl verändert unter diesen Voraussetzungen ihre Funktion. Wahlen zielen nicht mehr auf Personenauswahl, sondern nehmen den Charakter von Abstimmungen über den Regierungskurs an. Daher kann man sagen, daß „wie in der unmittelbaren Demokratie der Wille der Mehrheit der Aktivbürgerschaft mit dem Willen des Volkes identifiziert wird, ... in der parteienstaatlichen Massendemokratie der Wille der jeweiligen Parteimehrheit ... mit der volonté générale gleichgesetzt" wird 40 . Diese ist dann auf Zeit der Staat. L E I B H O L Z zieht daraus den Schluß, daß sich das Herrschaftssystem durch die Parteien in eine „rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie, oder, wenn man will, ein Surrogat der direkten Demokratie im modernen Flächenstaat" verwandelt hat 41 , dem er den Namen „Parteienstaat" gibt. 25

Mit dieser doppelten Identifikation von Volk und Parteien sowie Parteien und Staat gibt auch L E I B H O L Z die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, ohne das ausdrücklich herauszustellen, preis. Vermittels der Parteien fallen sie in eins. Eine Kluft könnte nur aufbrechen, wenn die Parteiapparate sich verselbständigten und in dieser Form vom Staat Besitz ergriffen. Sie wären damit nicht mehr Instrumente der Demokratie, sondern „diktatoriale Körperschaften" 42 . Als Gegengewicht fungiert die grundsätzlich vorgeschriebene innerparteiliche Demokratie, die die Identität von Volk und Parteien und damit den demokratischen Staat bewahrt. L E I B H O L Z zieht aus seiner Identitätstheorie Schlüsse für den Standort der Parteien, die über die Absichten der Kritiker des Unterscheidungstheorems weit hinausgehen. Diesen liegt daran, die überkommene und auch in manchen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts noch fortlebende Beschränkung der Parteien auf den gesellschaftlichen Wirkungskreis aufzubrechen und ihnen einen Platz im politischen System zuzuweisen, der ihrer tatsächlichen Funktion entspricht und erst eine sinnvolle Lösung dogmatischer Einzelprobleme erlaubt. Dieses Vorhaben ist ebenso berechtigt wie unabhängig von der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft. L E I B H O L Z verfolgt dagegen auf der Grundlage seiner Identitätsvorstellungen „die Einfügung der politischen Parteien in den staatlichen Herrschaftsapparat" 43 . Diese sieht er durch die verfassungsrechtliche Anerkennung der Parteien in Art. 21 G G vollzogen und kann daher Parteien und Staatsorgane auf die gleiche Stufe stellen.

39 40 41 42 43

LEIBHOLZ Stellung der Parteien (Fn. 21) S. C 10. E b e n d a S. C 9 f. E b e n d a S. C 9. E b e n d a S. C 12, weiter C 21. LEIBHOLZ Volk und Partei (Fn. 38) 196.

§14

Politische Parteien (GRIMM)

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LEIBHOLZ' Parteienstaatstheorie ist Gegenstand starker Kritik sowohl von po- 26 litikwissenschaftlicher als auch von juristischer Seite gewesen44. Ohne Frage hat sie mit den Absichten der Schöpfer des Grundgesetzes wenig gemein. Diesen ging es um eine repräsentative Demokratie, und zwar in Reaktion auf die plebiszitären Erfahrungen in der Weimarer Republik in ausgesprochen reiner Form. Die verfassungsgeberischen Intentionen müßten freilich unbeachtlich bleiben, wenn Demokratie unter den Bedingungen des Massenwahlrechts allein als identitäre möglich wäre. Unmittelbare Evidenz besäße die Identität zwischen Volk und Parteien nur, wenn die gesamten Aktivbürger in Parteien organisiert wären. Indessen stehen den rund 60 Millionen Wahlberechtigten in der Bundesrepublik kaum mehr als 2,5 Millionen Parteimitglieder gegenüber. Die Identität läßt sich unter diesen Umständen nur dadurch begründen, daß das Volk außerhalb der Parteien nicht handlungsfähig ist. In der Tat haben die bisherigen Überlegungen zur Funktion der Parteien die Hilfsbedürftigkeit des Volkes ergeben. Hilfsbedürftigkeit schließt freilich Handlungsfähigkeit nicht aus. Zumindest im demokratischen Fundamentalakt der Wahl entscheidet das Volk nicht durch die Parteien, sondern über die Parteien. Nicht weniger problematisch erscheint die Identität zwischen Parteien und Staat. Ihr normatives Hindernis ist Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Er unterbricht den direkten Durchgriff der Parteien auf die ihr angehörigen Mandatsträger. Nicht die Parteien als solche, sondern die ihnen verbundenen Abgeordneten und ihr Zusammenschluß, die Fraktionen, sind daher im Parlament vertreten. Diese Wirkung von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist freilich umstritten, und gerade LEIBHOLZ gehört zu denjenigen, die darin ein vom Parteienstaat überholtes Relikt der liberalen Repräsentation erblicken. LEIBHOLZ versagt es sich aber, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG für gänzlich obsolet zu erklären. Er behält für ihn vielmehr die normative Bedeutung, „die äußersten Konsequenzen des Parteistaates abzuwenden"45. Indessen sind es gerade diese äußersten Konsequenzen, die die Integration der Parteien in den staatlichen Bereich vollenden. Schon mit dem Zugeständnis, daß es Restbereiche der Repräsentativität gibt, ist daher die Etatisierung in dem von LEIBHOLZ vertretenen Ausmaß nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Das Bundesverfassungsgericht griff anfänglich die LEiBHOLZSche Theorie v o m 2 7 Parteienstaat auf, ohne ihr doch in allen Konsequenzen zu folgen. Schon in seinem ersten großen Wahlrechtsurteil, das den Auffassungen von LEIBHOLZ besonders nahesteht, verweigerte es den Parteien ausdrücklich die Anerkennung als oberste Staatsorgane und stellte sie diesen nur prozessual gleich, indem es ihnen für bestimmte

44

Vgl. aus der umfangreichen Literatur etwa C. MÜLLER Das imperative und das freie Mandat, 1966, S. 45; P. BADURA in: Bonner K o m m e n t a r zum Grundgesetz, Zweitbearb. 1 9 6 6 , A r t . 38 Rdn. 26 ff; Κ . I. UNKELBACH Zur Wahlrechts- und Parteientheorie v o n G e r h a r d Leibholz, in: Verfassung und Verfassungswirklichkeit, 1967, S. 222; H. GREBING K o n s e r v a t i v e gegen die Demokratie, 1 9 7 1 , S. 204; HENKE Parteien (Fn. 14) S. 7; W. HENNIS Die Rolle des Parlaments und die Parteiendemokratie, in: DERS. Die mißverstandene Demokratie, 1 9 7 3 , S. 75 (dort S. 1 6 8 A n m . 32: „ A n Leibholz' Lehre stimmt so ziemlich nichts."); P. HAUNGS Die Bundesrepublik — ein Parteienstaat? in: ZParl. 4 (1973) 502; U . SCHEUNER Staatstheorie und Staatsrecht, 1 9 7 8 ,

45

LEIBHOLZ Stellung der Parteien (Fn. 2 1 ) S. C 18.

S. 2 6 1 , 3 2 5 , 3 5 4 ; L I P P H A R D T G l e i c h h e i t ( F n . 1 9 ) S . 5 3 0 ; S C H M I D P a r t e i e n ( F n . 1 3 ) S. 2 8 f f .

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Fälle die Möglichkeit der Organklage nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG eröffnete. Zur Begründung erklärte es, daß die Parteien durch Art. 21 GG zu „integrierenden Bestandteilen des Verfassungsaufbaus" geworden und in den „inneren Bereich" des Staatslebens eingerückt seien. Insofern stünden sie dem Staat nicht wie ein grundrechtsbewehrter Bürger gegenüber und könnten daher auch nicht auf die Verfassungsbeschwerde verwiesen werden46. Seit der Plenarentscheidung von 1954 hat es sich dann eingebürgert, die Parteien — unkorrekterweise, aber in erkennbarer Abgrenzung zu den •SVöö/.rorganen — als Verfassungsorgane zu bezeichnen47. Dagegen trat das Gericht im Parteienfinanzierungsurteil von 1 9 6 6 , an dem LEIBHOLZ nicht mitwirken durfte, in deutliche Distanz zur Parteienstaatslehre. Im Rückgriff auf die bereits im Volksbefragungsurteil entwickelte Trennung von Volkswillensbildung und Staatswillensbildung, die nur in der Wahl zusammenfielen, wurden die Parteien nun ganz der gesellschaftlichen Sphäre zugeordnet, während sie in der Staatswillensbildung mit Ausnahme der Wahl nicht mehr vorkamen48. Erst im Wahlwerbungsurteil deutete sich wieder eine Wende an. Die Entscheidung setzt die Wirksamkeit der Parteien in den Staatsorganen geradezu voraus, definiert sie auch als Zusammenschlüsse von Bürgern „mit dem Ziel der Beteiligung an der Willensbildung in den Staatsorganen"49, um dann aber klarzumachen, daß der Staat ungeachtet seiner parteipolitischen Besetzung der Staat des gesamten Volkes bleibt und deswegen mit der Mehrheitspartei auch nicht auf Zeit identisch wird 50 . 28 Während LEIBHOLZ seine Maßstäbe für die Einordnung der Parteien aus einem „Strukturwandel" der Demokratie gewinnt, setzt das Bundesverfassungsgericht im Wahlwerbungsurteil bei Art. 20 GG an. In der Tat kann die verfassungsrechtliche Verortung der Parteien nur vom grundgesetzlichen Demokratieprinzip ausgehen, das ihre Funktion determiniert, ohne daß seine Interpretation freilich von den konkreten Realisierungsbedingungen der Demokratie abgelöst werden könnte. Dem Grundgesetz liegt die Auffassung zugrunde, daß staatliche Herrschaft eine Auftragsangelegenheit des Volkes ist. Dieses bestimmt in der Wahl, von wem und mit welchem Programm staatliche Herrschaft für eine bestimmte Periode ausgeübt werden soll. Die Ausübung, an der das Volk nicht unmittelbar beteiligt ist, bleibt eingebettet in einen offenen und unabschließbaren Prozeß, der einerseits dem Volk Einflußmöglichkeiten eröffnet und andererseits die staatlichen Entscheidungsträger unter permanenten Rechtfertigungszwang setzt. Das Grundgesetz trifft auf diese Weise Vorsorge, daß sich die staatlichen Organe nicht vom Auftraggeber entfernen. Es schließt aber nicht aus, daß sich die Staatsorgane in diesem Prozeß ihrerseits meinungsbildend betätigen. Die parlamentarische Debatte hat sogar ausdrücklich diese Funktion. Insofern erscheint die Einschränkung des Parteienfinanzierungsur-

46 47 48 45 50

B V e r f G E 1, 208 (225 ff). B V e r f G E 4, 27 (30). Zur Kritik an dem Begriff vgl. HESSE Stellung der Parteien (Fn. 15) 40. B V e r f G E 20, 56 (bes. 98 f f ) unter Verweis auf B V e r f G E 8, 1 0 4 (113). B V e r f G E 44, 125 (145). Ebenda, bes. 1 4 2 ff. Die Leibholzsche Lehre kehrt hier im Sondervotum des Richters Rottmann, S. 181 ff, wieder.

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teils richtig, daß sich die Willensbildung „im Wahlakt" vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt zu vollziehen hat 51 . Es kommt verfassungsrechtlich lediglich darauf an, daß die staatliche Beteiligung am Willensbildungsprozeß dessen Offenheit nicht beeinträchtigt 52 . Der Staat darf weder meinungs- und interessenunterdrückend oder -manipulierend tätig werden noch die Kommunikationsmittel monopolisieren, um dadurch den Kreislauf zu unterbinden. Für die Parteien als Vermittlungsinstanzen zwischen Volk und Staat gilt nichts 29 anderes. Wenn das Volk gerade durch sie in den Stand gesetzt wird, die Staatsführung zu bestimmen, ist ihre Wirksamkeit in den Organen des Staates eine zwangsläufige Konsequenz, die verfassungsrechtlich nicht ignoriert werden kann. Die Grenzen lassen sich nur von dem verfassungsrechtlich frei und offen ausgestalteten Prozeß her gewinnen. Seinetwegen dürfen die Parteien nicht aus ihrer gesellschaftlichen Verankerung gelöst werden und eine Position einnehmen, die sie vom Willen ihrer Mitgliedschaft weitgehend unabhängig stellt und es den Parteieliten ermöglicht, folgenlos eigengewählte politische Programme ohne dauernde Rückkoppelung an die gesellschaftliche Meinungs- und Interessenvielfalt zu verfolgen. Das ist der Sinn der vom Grundgesetz vorgeschriebenen demokratischen Binnenstruktur der Parteien. Die Neigung der Legitimationstheoretiker, innerparteiliche Demokratie als dysfunktional für die Aufgabenerfüllung der Parteien hinzustellen, findet daher im Verfassungsrecht ebensowenig eine Stütze wie die gegenteiligen Bemühungen, das freie Mandat des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG unter Hinweis auf Art. 21 GG in ein imperatives umzudeuten. Die Parteien werden vielmehr für das demokratische System des Grundgesetzes in demselben Maß dysfunktional, wie sie „als kollektive Legitimationsmechanismen nach unten verstopft" sind 53 . Die dogmatischen Konsequenzen im einzelnen sind später zu ziehen. 2. Die Parteien gegenüber dem Staat a) Die äußere Freiheit der Parteien Auf der Grundlage der Funktions- und Positionsbestimmung der politischen Parteien 30 läßt sich nunmehr ihr verfassungsrechtlicher Status präzisieren. Dieser kann geradezu als die Summe der rechtlichen Voraussetzungen für die Erfüllung der Funktion betrachtet werden 54 . Dabei ist davon auszugehen, daß die Parteienkonkurrenz das Mittel zur demokratischen Steuerung des Staates bildet. Diese Steuerung kann aber nur gelingen, wenn der Staat seinerseits die Parteienkonkurrenz nicht beeinträchtigt. Jede Beeinträchtigung müßte sich ja angesichts der Tatsache, daß die Staatsleitung das Objekt dieser Konkurrenz ist und der siegreichen Partei zufällt, wettbewerbsverzerrend auswirken. Im selben Maß verlören die Parteien ihre Fähigkeit zur

51 52

BVerfGE 44, 124 (140) im Gegensatz zu 20, 56 (99). So auch HABERLE Parteienfinanzierung (Fn. 17) 72.

53

W . D . NARR/F. NASCHOLD T h e o r i e d e r D e m o k r a t i e ,

54

Vgl. HESSE Stellung der Parteien (Fn. 15) 27; zusammenfassend H. MAURER Die Rechtsstellung der politischen Parteien, in: J u S 1991, 881.

1 9 7 1 , S. 95.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

demokratischen Steuerung des Staates und würden zum Instrument autoritärer Steuerung der Gesellschaft. Daher benötigen sie dem Staat gegenüber einen Status der Freiheit 55 , der die Umkehr des demokratischen Grundverhältnisses verhindert. Diese in Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG garantierte Freiheit unterscheidet sich aber von einer grundrechtlichen Freiheit. Grundrechtliche Freiheiten wurzeln in der Menschenwürde. Sie sind regelmäßig personale Freiheiten, keine zur Erfüllung einer bestimmten Sozialfunktion gewährten Freiheiten. Die Parteienfreiheit folgt zwar aus dieser Grundentscheidung, indem sie das politische System mit dem Prinzip personaler Freiheit kompatibel hält. Im Gegensatz zum Einzelnen beanspruchen die Parteien die Freiheit aber nicht wegen ihres Selbstwertes. Sie ist vielmehr funktionale Freiheit und daher auch nach Ziel und Ausmaß von ihrer Funktion bestimmt und begrenzt. Das heißt freilich nicht, daß die Parteien keine Grundrechte hätten. Insofern sie freie gesellschaftliche Gebilde sind, kommen sie im Rahmen von Art. 19 Abs. 3 GG auch in den Genuß der Grundrechte und der damit verbundenen prozessualen Befugnisse 56 . Die Parteienfreiheit erscheint in Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG in Form der Gründungsfreiheit. Das bedeutet, daß die Gründung einer Partei an keinerlei staatliche Zulassung gebunden ist und auch nicht in einer bestimmten Rechtsform erfolgen muß. Vor allem enthält sich das Grundgesetz damit jeder Festlegung des Parteiensystems 57 . Die für die politische Kultur eines Landes außerordentlich wichtigen Fragen des Zwei- oder Vielparteiensystems, der Weltanschauungs-, Interessen- oder Volksparteien, der Mitglieder- oder Wählerparteien sind verfassungsrechtlich offengelassen und entscheiden sich in der politischen Wirklichkeit. Damit wird nicht behauptet, daß diese sich rechtlich unbeeinflußt entwickele. Insbesondere das Wahlrecht kann prägend auf das Parteiensystem einwirken, wenngleich keine monokausale Beziehung besteht, wie lange Zeit angenommen wurde 58 . Das Grundgesetz verleiht aber keine Möglichkeit, die Entwicklung des Parteiensystems schon im Gründungsansatz zu steuern. Tatsächlich sind in der Bundesrepublik im Laufe der Zeit auch etwa 175 Parteien ganz verschiedenen Typs gegründet worden und großenteils wieder untergegangen 59 . Auch insoweit nimmt das Grundgesetz auf den gesellschaftlichen 55

56

57

58

55

HESSE Stellung der Parteien (Fn. 15) 27; HENKE Parteien (Fn. 14) S. 229; SEIFERT Parteien (Fn. 14) S. 110. Zur Grundrechtsträgerschaft von Parteien vgl. HENKE Parteien (Fn. 14) S. 229, zum prozessualen Status ebenda, S. 279; zum umstrittenen Verhältnis von Art. 21 und Art. 9 G G ebenda, S. 232, sowie HESSE Stellung der Parteien (Fn. 15) 45 einerseits und TH. MAUNZ in: Th. Maunz/G. Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 21 Rdn. 38 andererseits. Für die Deutung von Art. 21 G G als „echtes Grundrecht" LIPPHARDT Gleichheit (Fn. 19) S. 119, 693; ähnlich TSATSOS/MORLOK Parteienrecht (Fn. 14) S. 75. Vgl. G. SARTORI Parties and Party Systems, 1976; v. BEYME Parteien (Fn. 1) S. 303; O. KIRCHHEIMER Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: P V S 6 (1965) 20. Namentlich VON F. A. HERMENS Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht? 1949; DERS. Demokratie oder Anarchie? Untersuchung über die Verhältniswahl, 2. Aufl., 1968; dazu FENSKE Strukturprobleme (Fn. 4) S. 19, 161; v. BEYME Parteien (Fn. 1) S. 316. Vgl. die Liste aller Parteien, die bei Bundestags-, Landtags- und Europawahlen kandidiert haben, in: Stat. Bundesamt (Hrsg.) Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland am 1 8 . 6 . 1 9 8 9 , Heft 1, Stuttgart 1989, S. 146 f; die Zahl der

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Prozeß keinen Einfluß. Es wäre verfehlt, vom Grundgesetz eine Garantie materieller Pluralität des Parteiensystems zu erwarten. Mit der Gründungsfreiheit, die notwendig formale Freiheit ist, verbindet sich immer nur die Chance, unterschiedliche oder gegensätzliche Meinungen und Interessen parteimäßig zu organisieren. Gleichen die bestehenden Parteien einander derart an, daß sie nicht mehr als Alternativen erscheinen, so liegt das Korrektiv nur in der Gründungsfreiheit und den mit ihr verbundenen komplementären Freiheiten. Es kann im demokratischen System aber keine Handhabe zur staatlichen Gegensteuerung geben. Zu den komplementären Freiheiten, die Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG einschließt, 32 ohne sie ausdrücklich zu nennen, gehört die Freiheit der Zieldefinition. Zur Verfolgung politischer Ziele werden Parteien gegründet. Die Gründungsfreiheit wäre daher ohne die Programmautonomie wertlos. Jede inhaltliche Anforderung an das Programm einer Partei müßte sich auf seifen des Staates als Bewertungsbefugnis auswirken und drohte damit den Parteienwettbewerb zu verfalschen. Das gilt auch für die in der Frühphase der Bundesrepublik häufiger erhobene Forderung, die Parteien hätten sich am Gemeinwohl zu legitimieren60. Die Forderung richtet sich gegen die parteipolitische Vertretung partikularer Interessen. Indessen gehen auch unterschiedliche Gemeinwohlvorstellungen häufig auf divergierende Interessen zurück und bilden mit ihnen eine schwer durchschaubare Einheit. Unter diesen Umständen müßte die Programmanforderung jedoch zu außerordentlich schwierigen Abgrenzungsproblemen führen, die kaum objektiv lösbar wären und daher die Parteienfreiheit erheblich gefährdeten. Abgesehen davon enthält das Grundgesetz keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß Interessen nur Verbands- und nicht parteimäßig organisiert werden dürften, wie es auch keine Gruppe daran hindert, ihr Programm nicht auf sämtliche Politikbereiche zu erstrecken, sondern nur einige auszuwählen, die womöglich in anderen Parteien nicht genügend Aufmerksamkeit finden. Die einzige Entscheidungsinstanz über die Vorzugswürdigkeit von Parteiprogrammen ist die Wählerschaft. Insofern in der Begrenzung auf ein Interesse oder ein einzelnes politisches Problem immer auch eine Selbstbegrenzung des Wählerpotentials liegt, wohnt der Gemeinwohlanforderung eine faktische Ausbreitungstendenz inne. Normatives Gebot ist sie nicht61. Die Gründungs- und Programmfreiheit setzt sich in der Betätigungsfreiheit 33 fort. Parteien haben in ihrer Eigenschaft als Vermittler von Volksüberzeugungen

Gruppierungen, die den A n s p r u c h erhoben, politische Parteien zu sein, w i r d auf 5 0 0 veranschlagt, vgl. R. STÖSS (Hrsg.) Parteien-Handbuch, Bd. 1, 1983, S. 188 f; vgl. ferner die A u f s t e l l u n g v o n H. W. SCHMOLLINGER/R. STÖSS Die Parteien und die Presse der Parteien und G e w e r k s c h a f t e n in der Bundesrepublik Deutschland, 1975; M . ROWOLD Im Schatten der Macht. Z u r Oppositionsrolle der nichtetablierten Parteien in der Bundesrepublik, 1 9 7 4 ; S. L . FISHER The M i n o r Parties of the Federal Republic of G e r m a n y , 1974; HENKE Bestand und Wandel im Recht der politischen Parteien, in: D V B 1 . 1 9 7 9 , 372. 60

61

Vgl. W. GREWE Z u m Begriff der politischen Partei, in: F S f ü r Erich K a u f m a n n , 1 9 5 0 , S. 65; ähnlich heute noch HENKE Parteien (Fn. 1 4 ) S. 32 ff. So auch die Parteienrechtskommission, s. Rechtliche O r d n u n g des Parteiwesens, 2. A u f l . 1 9 5 8 , S. 1 3 1 , und ihr folgend das Parteiengesetz v o m 24. 7. 1 9 6 7 .

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

und -interessen an den Staat nicht wie Staatsorgane Kompetenzen, sondern genießen wie die Gesellschaft Handlungsfreiheit. Sie sind daher auch nicht auf Willensbildung beschränkt, sondern können sich wirtschaftlich, karitativ, sozial, kulturell betätigen. Für ihre Betätigung gibt es außer den allgemeinen Gesetzen keine spezifisch parteirechtlichen Grenzen. Freilich hängt der Parteienstatus davon ab, daß die verfassungsrechtliche Funktion beibehalten wird. Diese besteht in der Mitwirkung an der Willensbildung des Volkes, und da dessen Willensbildung in der Wahl gipfelt, ist die Teilnahme an Wahlen für Parteien konstitutiv. Eine Mitwirkung an der Volkswillensbildung in anderen Formen bestimmt sich dann nach den Grundrechten. Sie kann aber nicht die von Art. 21 GG verliehenen Statusrechte in Anspruch nehmen. Die Teilnahme an Wahlen liefert auch die einzig tragfähige Abgrenzung gegen die Verbände. Sie bildet daher den Kern des vom Grundgesetz vorausgesetzten, jedoch nicht selbst definierten Parteibegriffs 62 . Es kommt aber weder auf den Wahlerfolg noch auf das Streben nach Regierungsbeteiligung an. Gerade neue Parteien formieren sich häufig im Protest gegen verfestigte Parteiensysteme und können deswegen in ihren Anfängen keine regierungsorientierten Funktionen akzeptieren 63 . Entsprechende rechtliche Anforderungen müßten unter diesen Umständen auf eine Disziplinierung von gesellschaftlichem Protestpotential hinauslaufen, die dem Zweck der Gründungsfreiheit widerspräche. Dagegen zielen die Begriffsmerkmale, die das Parteiengesetz in § 2 aufzählt, nicht auf Verkürzung der Gründungsfreiheit, sondern stellen nur einen Test der Ernsthaftigkeit dar. Auch an sie dürfen im Interesse der Gründungsfreiheit aber keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden 64 . Mit der Gründungs- und Betätigungsfreiheit korrespondiert der prinzipielle Ausschluß von Parteiverboten. Art. 21 Abs. 2 GG nimmt davon allerdings Parteien aus, die die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen wollen oder den 62

Zum Parteibegriff ausführlich HENKE Parteien (Fn. 14) S. 30, 35; SEIFERT Parteien (Fn. 14) S. 159; TSATSOS/MORLOK Parteienrecht (Fn. 14) S. 20; W. SCHMIDT Politische Parteien und andere Vereinigungen, in: N J W 1984, 762; KUNIG HdBStR Bd. 2 (Fn. 14) § 33 Rdn. 14 ff. Als Beispiel für eine unsinnige Definition WIESENDAHL Parteien und Demokratie (Fn. 9) S. 25: „Parteien in modernen Massendemokratien sind hochkomplexe, ressourcenungewisse, organisations- und handlungsbeschränkte, funktional notwendige und vielseitig brauchbare, normative und operative Mehrzweckagenturen politischen Machterwerbs, die wandelnden, multifaktoriellen Umweltbedingungen unterworfen sind, auf die sie selbst flexibel einzuwirken bemüht sind." Vgl. dagegen etwa R. ROSE The Problem of Party Government, 1974, S. 3: „A political party is an organization concerned with the expression of popular preferences and contesting control of the chief policymaking offices of government."

63

Vgl. dazu v. BEYME Parteien (Fn. 1) S. 25; ROWOLD Im Schatten der Macht (Fn. 59); ferner die Kontroverse zwischen O. KIMMINICH Die Parteien im Rechtsstaat: Herausforderung durch die „Alternativen", in: DÖV 1983, 217, und D. GRIMM Nochmals: Die Parteien im Rechtsstaat, in: D Ö V 1983, 538; M. STOLLEIS Parteienstaatlichkeit — Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaats? in: VVDStRL Bd. 44 (1986) 27 ff. Angesichts der für Parteien konstitutiven Bedeutung der Teilnahme an Wahlen erscheint § 2 Abs. 2 PartG unbedenklich. Zweifelhaft ist dagegen der vom Bundesverfassungsgericht (E 6, 367, 373 f) vorgenommene und in § 1 Abs. 1 PartG eingegangene Ausschluß reiner Kommunalparteien, vgl. K. HESSE Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl. 1991, Rdn. 168. Zu diesen Gruppen T. MÖLLER Die kommunalen Wählergemeinschaften in der Bundesrepublik, 2. Aufl. 1985.

64

§14

Politische Parteien (GRIMM)

621

Bestand der Bundesrepublik gefährden 65 . Er bildet damit neben Art. 9 Abs. 2 und Art. 18 G G ein wesentliches Element der sogenannten wehrhaften Demokratie. Seine Entstehung verdankt er der Erfahrung des Untergangs der Weimarer Republik, die auf der Basis eines formalen Demokratiebegriffs keine Abwehrmöglichkeiten gegen Fundamentalgegner besaß. Mit der zeitlichen Entfernung von dieser Erfahrung hat die Plausibilität der Vorschrift abgenommen, und diejenigen Vorkehrungen, welche ursprünglich zum Schutz der Demokratie gedacht waren, werden heute vielfach als demokratieabträglich betrachtet. In der Tat liegt im Verbot einer politischen Partei ein außerordentlich schwerer staatlicher Eingriff in die Offenheit und Unabschließbarkeit des politischen Prozesses. Er läßt sich nur im Interesse eben dieser Offenheit und Unabschließbarkeit rechtfertigen. Gehören sie zu den Konstitutionsbedingungen der grundgesetzlichen Demokratie, dann dürfen sie ihrerseits nicht zur demokratischen Disposition stehen. Unter dieser Voraussetzung erscheint es aber auch konsequent, nicht nur die Abschaffung der Konstitutionsbedingungen von Demokratie zu untersagen, wie das in Art. 79 Abs. 3 G G geschieht, sondern bereits die organisierte Verfolgung solcher Ziele zu unterbinden und politische Parteien, die die Offenheit des politischen Prozesses für den Fall ihrer Machtergreifung abschaffen wollen, aus dem politischen Prozeß zu eliminieren. Das Grundgesetz trägt der Schwere des Eingriffs dadurch Rechnung, daß die 35 Verfassungswidrigkeit einer politischen Partei, die nach § 46 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG ihre Auflösung zur Folge hat, nur vom Bundesverfassungsgericht festgestellt werden darf. Dieses wird in Parteiverbotsangelegenheiten nach § 43 BVerfGG nur auf Antrag tätig. Ob ein Antrag gestellt wird oder ob die antragsberechtigten Staatsorgane es vorziehen, solche Parteien politisch zu bekämpfen, steht in ihrem Ermessen. Taktische oder opportunistische Motive sind also nicht untersagt. Es kann dann freilich Parteien geben, die zwar die Voraussetzung eines Verbots erfüllen, aber nicht verboten sind. Das hat die Frage nach den Konsequenzen für die betroffenen Parteien und ihre Mitglieder aufgeworfen. Sie spielt insbesondere bei der Ablehnung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst eine Rolle 66 . Nach der Konstruktion des Grundgesetzes wirkt der Spruch des Bundesverfassungsgerichts für die Verfassungswidrigkeit einer Partei konstitutiv. Unter diesen Umständen können aber aus der materiellen Verfassungswidrigkeit keine rechtlichen Konsequenzen gezogen werden. Ihre Existenz und Betätigung und folglich auch die Mitgliedschaft in ihr sind legal. Rechtliche Nachteile dürfen nicht daran geknüpft werden. Das kann, wenn das Parteienprivileg nicht 65

H . MAURER D a s V e r b o t p o l i t i s c h e r P a r t e i e n , in: A ö R 96 ( 1 9 7 1 ) 2 0 3 ; KUNIG H d B S t R

Bd. 2

(Fn. 14) § 3 3 Rdn. 35 ff; D . LORENZ Verfassungswidrige Parteien und Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts, in: A ö R 101 (1976) 1; TH. SCHMIDT Die Freiheit verfassungswidriger Parteien und Vereinigungen, 1983; die bisherigen Verbotsfalle sind B V e r f G E 2, 1 (SRP); 5, 85 ( K P D ) . 66

Vgl. die umfassende Dokumentation von E. DENNINGER (Hrsg.) Freiheitliche demokratische Grundordnung, 2 Bde., 1977; ferner E . DENNINGER/H. H. KLEIN Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: V V D S t R L Bd. 37 (1979) 7 und 53; M. KRIELE Feststellung der Verfassungsfeindlichkeit von Parteien ohne Verbot, in: Z R P 1975, 201; LORENZ Verfassungswidrige Parteien (Fn. 65) 1; W. SCHMIDT Das Parteienprivileg zwischen Legalität und Opportunität, in: D Ö V 1978, 468.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

ausgehöhlt werden soll, nicht nur auf die Partei beschränkt bleiben, sondern muß ihre Anhänger ebenfalls erfassen. Die Mitgliedschaft in einer Partei, die verfassungswidrige Ziele verfolgt, darf also nicht als Grund für die Ablehnung eines Bewerbers herangezogen werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht nicht in der wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen67. b) Innerparteiliche

Demokratie

36 Mit dem Grundsatz der Parteienfreiheit scheinen die Auflagen, die Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG den Parteien macht und die im Parteiengesetz konkretisiert werden, auf den ersten Blick schwer vereinbar. Sie schränken die Autonomie der Parteien in einem Kernstück, der inneren Ordnung, ein, indem sie die Grundstruktur vorgeben und den Parteien nur die nähere Ausgestaltung überlassen. Andererseits hat HESSE darauf aufmerksam gemacht, daß diese freiheitsbeschränkenden Vorschriften gerade im Dienst der Parteienfreiheit stehen68. Damit kann dann allerdings nicht mehr die negatorische Staatsfreiheit, deren Kehrseite stets die Selbstbestimmung ist, sondern nur eine umfassendere Freiheit gemeint sein, die auf die Freiheitlichkeit der gesamten Institution Partei zielt. Die äußere Parteienfreiheit bildet dann nur noch einen Aspekt dieser Freiheit, der in der inneren Parteienfreiheit seine Entsprechung, aber auch Begrenzung findet. Diese Begrenzung, der andere politische Gruppen nicht unterworfen sind, hat ihren Grund in der Funktion der politischen Parteien im demokratischen System. Muß legitime politische Herrschaft hier ebensowohl vom Volk abgeleitet wie in der Ausübung auf das Volk rückbezogen sein, wird der Einfluß des Volkes aber wesentlich durch die Parteien vermittelt, dann kann sich die Demokratie nur in dem Maß entfalten, wie die Parteien ihrer gesellschaftlichen Basis verbunden bleiben. Diese Gewähr bieten allein Parteien, die auch in ihrem inneren Aufbau demokratischen Anforderungen genügen. Personal und Programm, mit dem sie sich um die Leitung des demokratischen Staates bewerben, müssen selbst wieder aus einem demokratischen Prozeß hervorgehen. Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG sichert also diejenige strukturelle Homogenität zwischen Staat und Parteien, welche ein funktionsadäquates Zusammenwirken beider erfordert. Daran müssen sich auch die Konkretisierungen des verfassungsrechtlichen Prinzips im Parteiengesetz ausrichten. 37

Allerdings trifft gerade die verfassungsrechtliche Forderung nach innerparteilicher Demokratie auf starke gegenläufige Tendenzen in der politischen Wirklichkeit. Das ist seit den grundlegenden Untersuchungen von OSTROGORSKI und M I C H E L S bekannt69 und von der neueren Parteienforschung nicht prinzipiell widerlegt worden. Eine differenziertere Betrachtung, die die Parteien nicht mehr als Handlungseinheiten, sondern selbst wieder als pluralistische Gebilde versteht, die sich aus Parteimitgliedern, Parteiführung, Partei in den Staatsorganen und Parteibürokratie zusammen67 68 69

B V e r f G E 39, 334. Vgl. HESSE Stellung der Parteien (Fn. 15) 30. M. OSTROGORSKI La démocratie et l'organisation des parties politiques, 1903; R. MICHELS Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 1 9 1 1 . Dazu R. EBBIGHAUSEN Die Krise der Parteiendemokratie und die Parteiensoziologie, 1969.

§ 14

Politische Parteien (GRIMM)

623

setzen, hat aber verschiedene Präzisierungen und Modifizierungen ergeben 70 . Dabei fand die Annahme einer wachsenden Dominanz der Parteibürokratie keine Bestätigung. Auch wird die Kandidatenaufstellung für die Parlamentswahlen in weit geringerem Maß von der Parteiführung gelenkt als vermutet. Innerparteiliche Fraktionsbildungen nehmen zu. Im übrigen läßt sich aber eine relativ große Selbständigkeit der Parteiführung und der Inhaber staatlicher Ämter, die häufig identisch sind, von der Parteibasis feststellen. Die Ursache liegt einerseits in der Apathie der Basis, die keineswegs nur auf der unorganisierten Ebene anzutreffen ist, sondern innerhalb der Parteien wiederkehrt. Andererseits handelt es sich um eine Folge des Organisationsund Informationsvorsprungs der professionellen Parteielite. Insofern gilt für Parteien nichts anderes als für sonstige Vereinigungen. Das Erfordernis innerparteilicher Demokratie scheint in gewissem Umfang aber auch mit der spezifischen Zielsetzung politischer Parteien, die auf Wahlsieg und Regierungsbildung gerichtet ist, zu kollidieren. Die verbreitete Neigung in der Bevölkerung, innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten negativ zu bewerten und mit Stimmentzug zu bestrafen, verleiht dem Einigkeitsdruck, den die Parteiführungen auszuüben pflegen, gerade vor Wahlen beträchtliches Gewicht, das die Entfaltung innerparteilicher Demokratie nicht begünstigt. Die innerparteiliche Demokratie bildete seit den sechziger Jahren einen bevorzugten Gegenstand der deutschen Parteienforschung, wobei die kritischen Stimmen überwogen 71 . Nur dort, wo die Funktion der Parteien hauptsächlich in der Regierungsfähigkeit erblickt und ihre Leistung dementsprechend an dem Beitrag zur Regierungsstabilität gemessen wird, erscheinen die Oligarchisierungstendenzen nicht als Mangel, sondern als Funktionsbedingung. Der Parteibasis muß dann eine „bescheidene und dienende Funktion" 72 zukommen, und innerparteiliche Demokratie kann geradezu als systembedrohend gelten. Wer dagegen als Hauptfunktion der Parteien die Eröffnung von Partizipationschancen für die Mitglieder ansieht und deswegen die Übermittlung gesellschaftlicher Meinungen und Interessen an den Staat in den Vordergrund rückt, gelangt zu einer Verurteilung der Oligarchisierungsten70

71

72

Vgl. ROSE Party Government (Fn. 62) S. 3; F. J . SORAUF Party Politics in America, 1968, S. 10 f; v. BEYME Parteien (Fn. 1) S. 287; zu einschränkenden Randbedingungen innerparteilicher Demokratie T. ELL WEIN Regierungssystem (Fn. 27) S. 189 ff. Weitere Angaben in Fn. 71. Vgl. etwa U. LOHMAR Innerparteiliche Demokratie, 1963; U. MÜLLER Die demokratische Willensbildung in den politischen Parteien, 1967; B. ZEUNER Innerparteiliche Demokratie, 1969; DERS. Kandidatenaufstellung zur Bundestagswahl 1965, 1970; S. u. W. STREECK Parteiensystem und Status quo. Drei Studien zum innerparteilichen Konflikt, 1972; H. NOWKA Das Machtverhältnis zwischen Partei und Fraktion in der SPD, 1973; W. JÄGER Innerparteiliche Demokratie und Repräsentation, in: ders. (Hrsg.) Partei und System, 1973, S. 108; U. v. ALEMANN Mehr Demokratie per Dekret. Innerparteiliche Auswirkungen des deutschen Parteiengesetzes, in: P V S 14 (1973) 181; J . RASCHKE Innerparteiliche Opposition und Anpassung, 1974; DERS. Organisierter Konflikt in westeuropäischen Parteien, 1977; H. TRAUTMANN Innerparteiliche Demokratie im Parteienstaat, 1975; M. GREVEN Parteien und politische Herrschaft, 1977; DERS. Parteimitglieder, 1987; WIESENDAHL Parteien und Demokratie (Fn. 9) S. 261 ff; U. E. HEINZ Organisation innerparteilicher Willensbildung. Satzungen und innerparteiliche Demokratie, 1987; O. NIEDERMAYER Innerparteiliche Partizipation, 1989. HENNIS Parteienstruktur und Regierbarkeit (Fn. 26) S. 173.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

denzen. Parteien, in denen Parteiführung, Parteiapparat oder staatliche Amts- und Mandatsträger die Parteibasis zu kontrollieren vermögen, erscheinen dann geradezu als Demokratiegefahr. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten läßt sich die Auffassung von der Dysfunktionalität der innerparteilichen Demokratie nicht aufrechterhalten. Das Grundgesetz macht sie den Parteien in Art. 21 Abs. 1 Satz 3 ausdrücklich zur Pflicht und gibt gerade damit zu erkennen, daß es ihre Funktion nicht auf die Regierungsfähigkeit verengt. Andererseits steht die gegenwärtige Praxis aber auch nicht in offenem Widerspruch zum Grundgesetz. Die Dominanz der Parteieliten beruht selten auf Regelverstößen. Bei formeller Betrachtung ist sie also ohne verfassungsrechtliche Relevanz. Freilich können auch Entwicklungen, die Verfassungsnormen nicht rundheraus verletzen, zu ihrer Aushöhlung und Sinnentlehrung beitragen. Sie werden dann sehr wohl verfassungsrechtlich bedeutsam und verlangen unter Umständen'rechtspolitische Reaktionen. 39

Insofern kann man fragen, ob Art. 21 Abs. 3 GG nicht höhere Anforderungen an die innerparteiliche Demokratie stellt, als sie das Parteiengesetz derzeit vorschreibt. Die Antwort läßt sich indessen nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Wünschbarkeit geben. Vom Grundgesetz können sinnvollerweise nur erfüllbare Anforderungen ausgehen. Welche innere Ordnung Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG von den Parteien verlangt, ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Normziel und Sachstrukturen. Gerade bei der Regelung der innerparteilichen Willensbildung scheinen letztere aber ein starkes Eigengewicht zu haben. Soweit die Defizite innerparteilicher Demokratie auf Mitgliederapathie zurückgehen, stehen sie außerhalb rechtlichen Einflusses. Normen können nicht Interesse und Engagement anordnen. Soweit sie auf dem Informationsvorsprung beruhen, den Berufspolitiker und Amtsträger vor einfachen Mitgliedern haben, scheidet eine rechtliche Kompensation ebenfalls aus. Dasselbe gilt für die Entfaltungsbedingungen innerparteilicher Opposition, soweit es der Parteienwettbewerb um Wählerstimmen selbst ist, der sie zügelt. Die Bindung staatlicher Amts- und Mandatsträger fällt vollends gar nicht unter Art. 21 Abs. 1 Satz 3, sondern unter Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Gesetze können also nur die Rahmenbedingungen schaffen und dadurch die vorhandenen Tendenzen innerparteilicher Demokratie begünstigen oder entmutigen. Das Parteiengesetz verleiht der Parteimitgliedschaft eine Rechtsposition, die es ihr erlaubt, sich über Wünsche und Pressionen der Parteiführung in Programm- und Personalfragen hinwegzusetzen, wenn sie das will. Damit wird jedoch lediglich eine Chance eröffnet, deren tatsächliche Nutzung nicht mehr vom Recht abhängt. Die Verfassung ist auch hier zur politischen Wirklichkeit hin offen, das Gelingen ihrer Zielvorstellungen nicht allein von der Güte ihrer Bestimmungen abhängig.

40

Die innerparteiliche Demokratie bezieht sich nur auf Parteimitglieder. Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG begründet keinen Anspruch des Publikums, an der Willensbildung einer Partei beteiligt zu werden. In der Auswahl ihrer Mitglieder verfügen die Parteien also über eine Handhabe, den Rahmen der innerparteilichen Meinungsvielfalt zu bestimmen. Das Grundgesetz schweigt zu diesem Problem. Doch folgt aus der Gründungs- und Programmfreiheit, daß es jedenfalls keinen schrankenlosen Aufnah-

§ 14

Politische Parteien (GRIMM)

625

mezwang geben kann. Die Parteien, die gerade in unterschiedlichen politischen Auffassungen ihre Identität suchen, müssen die Möglichkeit haben, die Aufnahme von einer Grundidentifikation mit ihren Zielen abhängig zu machen. Schwieriger ist die Frage, ob im Fall einer solchen Grundidentifikation ein Aufnahmeanspruch besteht. Das Parteiengesetz geht nicht so weit, sondern untersagt in § 10 Abs. 1 nur eine generelle Aufnahmesperre. Das entspricht der herrschenden Meinung, teilweise wird sogar diese Beschränkung für verfassungswidrig gehalten73. Andererseits läßt sich bei unbegrenzter Entscheidungsfreiheit der Parteien die innerparteiliche Demokratie schon im Ansatz kleinhalten. Art. 21 GG stellt aber nicht nur ein Freiheitsrecht der Partei, sondern auch ein Partizipationsrecht des Bürgers dar. Dieses realisiert sich gewöhnlich durch Mitwirkung in einer bestehenden oder Gründung einer neuen Partei. Indessen sind angesichts des verfestigten Parteiensystems der Bundesrepublik und der Erfolgsbarrieren für Neugründungen in Gestalt der wahlrechtlichen Sperrklausel die Wirkungsmöglichkeiten in einer bestehenden Partei meist erheblich größer als in einer neugegründeten. Unter diesen Umständen liegt aber eine Aufnahmepflicht bèi — überprüfbarer — Grundidentifikation mit den Parteizielen durchaus nahe74. Die Mitgliederauswahl würde dann über die Zieldefinition gesteuert. Wenn das Grundgesetz eine solche Lösung auch nicht geradewegs fordert, so stünde sie ihm doch näher als die geltende Regelung. Verschärft stellt sich die Frage beim Parteiausschluß. Als Konsequenz der 41 Gründungs- und Programmfreiheit zweifellos zulässig, kann er angesichts der öffentlichen Funktion der Parteien doch nicht in ihrem privatautonomen Belieben stehen. Das Parteiausschlußrecht berührt vielmehr sowohl das Partizipationsrecht des Einzelnen, für den die Möglichkeit, einer anderen Partei beizutreten oder eine eigene Partei zu gründen, keinen gleichwertigen Ersatz bildet, als auch die Funktionstüchtigkeit der Parteien, die von struktureller Homogenität mit dem von ihnen gelenkten Staat abhängt. Das Parteiengesetz wahrt daher beim Parteiausschluß nicht dieselbe Zurückhaltung wie beim Parteieintritt und legt in § 10 Abs. 4 die Ausschlußgründe und in §§ 10 Abs. 5 und 14 Abs. 4 das Ausschlußverfahren fest. Die Problematik der Regelung besteht in der Unbestimmtheit der Vorschriften, die sowohl organisationsfreundlich als auch mitgliederfreundlich ausgelegt und dementsprechend von den Gerichten extensiv oder restriktiv kontrolliert werden können. Versteht man Demokratie wie H E N K E nur als Verfahren oder bezieht man die Offenheit der Parteien wie S C H I E D E R M A I R nur auf das Parteiensystem als ganzes, dann folgt daraus ein weites und nur formell nachprüfbares Ausschlußrecht75. Indessen gilt das De73 74

75

Vgl. S E I F E R T Parteien (Fn. 1 4 ) S . 2 1 0 . Ähnliche Überlegungen bei F. K N Ö P F L E Der Zugang zu den politischen Parteien, in: Der Staat 9 ( 1 9 7 0 ) 3 3 2 ff; R. W O L F R U M Die innerparteiliche demokratische Ordnung nach dem Parteiengesetz, 1 9 7 4 , S . 1 5 6 . Für Willkürverbot und Begründungspflicht E. S T E I N Staatsrecht, 1 3 . Aufl. 1991, S. 138. Die Parteiensatzungen tragen dem durch die Einrichtung eines Instanzenzugs teilweise Rechnung. Zum Ganzen zuletzt U. STOKLOSSA Zugang zu den politischen Parteien im Spannungsfeld zwischen Vereinsautonomie und Parteienstaat, 1989. Vgl. H E N K E Parteien (Fn. 1 4 ) S . 8 6 ; H . S C H I E D E R M A I R Parteiausschluß und gerichtlicher Rechtsschutz, in: AöR 104 (1979) 220. Vgl. zum Parteiausschluß ferner den grundlegenden Aufsatz

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

mokratiegebot des Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG für jede einzelne Partei, und da das demokratische Verfahren erst auf der Grundlage materieller Freiheit sinnvoll wird, schließt es diese auch im Verhältnis von Partei und Mitglied notwendig ein. Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG ist „grundrechtsförderndes Organisationsrecht"76. Andererseits kann die Freiheit des Parteimitglieds nicht so weit reichen wie die des Staatsbürgers, weil die Parteien im Gegensatz zum Staat nicht sämtliche Interessen und Meinungen, sondern nur einen Ausschnitt integrieren müssen und sich gerade in ihrer Selektivität unterscheiden. Die Grenze verläuft aber nicht etwa zwischen Entscheidungsvorbereitung und erfolgter Entscheidung77, weil die innerparteiliche Willensbildung genauso wie die Volks- und Staatswillensbildung einen permanenten Prozeß bildet. Die Freiheitsschranke kann materiell nur in der Grundidentifikation und formell in einem parteifreundlichen Austrag der Gegensätze gesucht werden. c) Die Gleichheit der Parteien 42 Wenn als wichtigstes Mittel zur demokratischen Steuerung des Staates der Parteienwettbewerb fungiert, dann setzt das nicht nur Freiheit dieses Wettbewerbs vom Staat, sondern aus denselben Gründen auch staatliche Neutralität gegenüber den Konkurrenten voraus. Der rechtliche Ausdruck dieser Neutralität ist das Prinzip der Parteiengleichheit78. Zwischen den Parteien, die sich um die Staatsleitung bewerben, darf der Staat als Objekt der Konkurrenz nicht diskriminieren. Dabei handelt es sich um eine ebenso elementare wie schwer realisierbare Forderung. Die Schwierigkeiten treten in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht auf. Rechtlich rühren sie daher, daß das Gleichheitsgebot auf einen höchst ungleichen Gegenstand trifft. Parteien werden ja erst in ihrer personellen und programmatischen Unterschiedlichkeit sinnvoll, die auch zu Unterschieden in Mitgliedschaft, Wählerstimmen, Finanzkraft etc. führt. Diese Ungleichheit ist als Produkt des freien und offenen politischen Prozesses dem Staat vorgegeben. Staatliche Neutralität kann dann aber nur Nichtbeeinflussung der Ungleichheit bedeuten. Insofern erscheint die Parteiengleichheit als formale Gleichheit. Sie findet ihre rechtliche Grundlage daher auch nicht in Art. 3 GG, v o n H. LENZ/C. SASSE Parteiausschluß und D e m o k r a t i e g e b o t , in: J Z 1 9 6 2 , 2 3 3 , s o w i e WOLFRUM

Innerparteiliche Ordnung (Fn. 74) S. 134, 150; N. HEIMANN Die Schiedsgerichtsbarkeit der politischen Parteien in der Bundesrepublik, 1977; Κ . H. HASENRITTER Parteiordnungsverfahren, 1 9 8 1 ; J . RISSE D e r Parteiausschluß, 1985; F. GRAWERT Parteiausschluß und innerparteiliche 76

77 78

Demokratie, 1987. Der Ausdruck stammt von P. HABERLE Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL Bd. 30 (1972) 51 f, und wird auf Art. 21 Abs. 1 Satz 3 G G übertragen von G. P. STRUNK Meinungsfreiheit und Parteidisziplin, in: J Z 1978, 87. Zu der umstrittenen Frage der Grundrechtsgeltung im Verhältnis von Partei und Mitgliedern s. WOLFRUM Innerparteiliche Ordnung (Fn. 74) S. 134 m. w. N.; D. TSATSOS Ein Recht auf innerparteiliche Opposition? in: FS f. H. Mosler, 1983, S. 9 9 7 . So aber z. B. HESSE Stellung der Parteien (Fn. 15) 33. Vgl. H. C. JÜLICH Chancengleichheit der Parteien, 1 9 6 7 ; LIPPHARDT G l e i c h h e i t (Fn. 19); HESSE

Stellung der Parteien (Fn. 15) 36; HENKE Parteien (Fn. 14) S. 241; SEIFERT Parteien (Fn. 14) S. 1 3 1 ;

TSATSOS/MORLOK Parteienrecht (Fn. 1 4 )

S. 85; KUNIG H d B S t R

Bd. 2 (Fn. 1 4 ) § 3 3

Rdn. 62 ff. Ein hier nicht näher behandelter Unterfall der Parteiengleichheit bei W. SCHMIDT Chancengleichheit der Fraktionen unter dem Grundgesetz, in: Der Staat 9 (1970) 481.

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Politische Parteien (GRIMM)

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sondern in Art. 21 GG selbst. In einer Reihe von Fällen läuft indessen die formale Gleichbehandlung gerade nicht auf staatliche Neutralität hinaus. Für diese fehlt es bislang noch an überzeugenden Lösungen. Die tatsächlichen Schwierigkeiten bestehen darin, daß der Staat, der sich neutral gegenüber dem Parteienwettbewerb zu verhalten hat, selbst ein parteipolitisch besetzter Staat ist. Die Neutralität wird also der Sache nach von den im Parlament vertretenen Parteien gegenüber ihren erfolglosen oder neugegründeten Konkurrenten zum einen und von den Regierungsparteien gegenüber den Oppositionsparteien zum anderen verlangt. Staatliche Neutralität stellt aus diesem Grunde eine unwahrscheinliche und stets von neuem bedrohte Errungenschaft dar. Der Grundsatz der Parteiengleichheit hat sein erstes Anwendungsfeld bei der 43 Entscheidung des Volkes über die Staatsleitung in der Wahl. Das Wahlrecht muß nicht nur eine strikte Einhaltung der Wählergleichheit, sondern auch der Parteiengleichheit garantieren, wenn eine Verfälschung der Wahlentscheidung vermieden werden soll. Dessenungeachtet hat es gerade im Wahlrecht nicht an Versuchen der größeren Parteien gefehlt, unter Ausnutzung ihrer Parlamentsmehrheit die kleineren Parteien durch unterschiedliche Zulassungsvoraussetzungen, ungünstige Wahlkreiseinteilungen etc. zu behindern. Sie sind vom Bundesverfassungsgericht, das im Fall des Interessengleichlaufs der großen Parlamentsparteien die einzige Kontrollinstanz bleibt, in Schranken gewiesen worden 79 . Die schwerwiegendste Ungleichbehandlung, die Sperrklausel, ist freilich vom Bundesverfassungsgericht gebilligt und lediglich auf 5% begrenzt worden 80 . Die Auswirkung dieser Bestimmung auf das Parteiensystem der Bundesrepublik läßt sich kaum exakt ermitteln. Feststeht, daß bereits in der Frühphase der Bundesrepublik eine außerordentlich starke Konzentration des Parteiensystems stattfand. In der zweiten Bundestagswahl 1953 stimmten schon 83,5% und 1976 sogar 99,3% der Wähler für die vier großen Parteien, ohne daß eine nennenswerte Zahl von Stimmenthaltungen starke Unzufriedenheit mit dem System signalisiert hätte. Dagegen bewegten sich die von der 5%-Klausel betroffenen Parteien zwischen zwei (1972) und neunzehn (1990), wobei der niedrigste Stimmenanteil bei 0,9% (1972), der höchste bei 7% (1957) lag. Die Wahlforschung tendiert zu der Annahme, daß die Entwicklung auch ohne die 5%-Klausel nicht prinzipiell anders verlaufen wäre81. Fraglich ist das Ausmaß, denn man kann davon ausgehen, daß die bloße Existenz der Sperrklausel das Wählerverhalten beeinflußt und die drohende Erfolglosigkeit der Stimme für viele Anlaß ist, nicht die an sich bevorzugte Partei zu wählen. Das Bundesverfassungsgericht will solche Ausnahmen von der Parteiengleich- 44 heit nur aus „zwingenden Gründen" zulassçn. Bei der 5%-Klausel erblickte es derartige Gründe in der Zersplitterung des Parteiensystems, die das Parlament 79

80

81

Vgl.J. A. FROWEIN Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht, in: A ö R 99 (1974) 72; LIPPHARDT Gleichheit (Fn. 19) S. 184. BVerfGE 1, 208 (248 ff); 6, 84 (92 f); 24, 300 (341). Eine Ausnahme für die erste gesamtdeutsche Wahl machte BVerfGE 82, 322. Vgl. etwa FENSKE Strukturprobleme (Fn. 4) S. 198.

628

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

lahmlegen und die Regierungsbildung verhindern könnte 82 . In dieser Begründung kommen Erfahrungen mit dem Parteiensystem der Weimarer Republik zum Vorschein, die zur Zeit des Urteils noch außerordentlich lebendig waren, während die starke Konzentration des bundesrepublikanischen Parteiensystems eben erst einsetzte. In der Tat trifft es zu, daß die unbedingte Gleichheit der Parteien hinter der Bestandssicherung eines Systems, das überhaupt eine Mehrheit von Parteien kennt, zurückstehen muß. Die Frage lautet aber, ob ohne die 5%-Klausel das System in Gefahr geriete. Dabei darf der Faktor Parteiensystem freilich nicht isoliert werden. Es genügt, daß vom Parteiensystem ein wesentlicher Beitrag zur Bestandsgefährdung des Systems ausgeht. Wenn die Wahlforschung recht hat, daß die Konzentration des Parteiensystems nicht auf der Sperrklausel beruht, dann erscheint diese Gefahr vergleichsweise gering. Möglich wäre aber eine komplizierte Regierungsbildung und eine entsprechende geringere Regierungsstabilität. Dafür mehren sich die Anzeichen. Dem steht jedoch immer noch eine starke Immobilität der etablierten Parteien gegenüber, die aus mangelnder Offenheit zur Gesellschaft resultiert und sich in ungenügender Sensibilität für neuartige Probleme äußert. Als Indikator dafür gelten die wachsende Protesthaltung, die sinkende Wahlbeteiligung, die Zunahme von Bürgerinitiativen etc. 83 . Insofern der wichtigste Mobilisierungsfaktor für das Parteiensystem die Konkurrenz darstellt, könnte eine Senkung der Sperrklausel unter Umständen die vom Grundgesetz geforderte Offenheit der Parteien fördern. Das Verfassungsrecht muß für solche Veränderungen in den Realisierungsbedingungen seiner Normziele anpassungsfähig bleiben. Sozialer Wandel ist verfassungsdogmatisch nicht irrelevant und könnte hier zu einer Änderung Anlaß geben. Das zweite Anwendungsfeld des Prinzips sind die öffentlichen Leistungen an Parteien. Wenn sich der Staat in bezug auf den Parteienwettbewerb neutral zu verhalten hat, verbieten sich prinzipiell alle Leistungen, die wettbewerbsverändernde Wirkungen haben. Dabei spielte besonders während des Aufstiegs der NPD die Vergabe öffentlicher Versammlungsräume eine wichtige Rolle 84 . Juristisch wirft die 82 83

B V e r f G E 1, 208 (249); 6, 84 (92 f); 13, 243 (247) f ü r Kommunalwahlen, und öfter. Vgl. etwa J. RASCHKE Einleitung, in: Bürger und Parteien (Fn. 26) S. 9; M. KAASE Partizipatorische Revolution — Ende der Parteien?, ebenda. S. 173; B. GUGGENBERGER Bürgerinitiativen: Krisensymptom oder Ergänzung des Systems der Volksparteien?, ebenda, S. 190; DERS. Bürgerinitiativen in der Parteiendemokratie, 1980; K.v. BEYME Das Politische System der Bundesrepublik Deutschland, 1979, S. 90; H. SCHEER Parteien kontra Bürger? 3. A u f l . 1980, und unter Hinweis auf die Grenzen des Modells der Parteienkonkurrenz überhaupt C. OFFE Konkurrenzpartei und kollektive politische Identität, in: R. Roth (Hrsg.) Parlamentarisches Ritual und p o l i t i s c h e A l t e r n a t i v e n , 1 9 8 0 , S. 2 6 ; J . RASCHKE S o z i a l e B e w e g u n g e n , 1 9 8 5 ; R . ROTH/D. RUCHT

(Hrsg.) Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, 1987; P. H. MERKEL (Hrsg.) When Parties Fail—Emerging Alternative Organizations, 1988; U. C. WASMUTH (Hrsg.) Alternativen zur alten Politik? Neue soziale Bewegungen in der Diskussion, 1989; W. LUTHARDT „Krise" der Volksparteien — oder „Differenzierung" und „Verfestigung" im bundesdeutschen Parteiensystem, in: Jb. f. Sozialforschung 31 (1991) 127; vgl. auch Fn. 163; O. NIEDERMAYER/ R. STÖSS (Hrsg.) Stand und Perspektiven der Parteienforschung in Deutschland, 1993. 84

Vgl. etwa V G H München BayVBl. 1966, 207; V G H Mannheim D Ö V 1968, 179; O V G Münster DVB1. 1968, 842; O V G Saarlouis J Z 1970, 283; V G H Kassel N J W 1979, 997; B V e r f G E 31, 368; 32, 333; F. OSSENBÜHL Rechtliche Probleme der Zulassung zu öffentlichen Stadthallen, in: DVB1. 1973, 289. Weitere Fälle öffentlicher Leistungen an politische Parteien bei HENKE Recht der Parteien (Fn. 59) 376.

§ 14

Politische Parteien (GRIMM)

629

Frage aber keine besonderen Probleme auf und ist im wesentlichen ausgetragen. Öffentliche Räume müssen den politischen Parteien unterschiedslos und zu gleichen Bedingungen zur Verfügung gestellt werden. Ob eine Partei die Voraussetzungen eines Parteiverbots gemäß Art. 21 Abs. 2 GG erfüllt, spielt dafür keine Rolle, solange sie nicht vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden ist. Nicht verbotene Parteien bleiben legal und partizipieren uneingeschränkt am Grundsatz der Parteiengleichheit. Dasselbe gilt zum Beispiel für Werbeflächen, die viele Kommunen vor Wahlen den Parteien zur Verfügung stellen. Werbeflächen weisen aber auf ein kompliziertes Problem öffentlicher Leistungen an Parteien hin. Angesichts der tatsächlichen Ungleichheit der Parteien stellt sich nämlich die Frage, in welchem Maß die strikt formale Gleichbehandlung die erstrebte Wettbewerbsneutralität zu garantieren vermag. Formale Gleichbehandlung verleiht den kleineren Parteien von Staats wegen Wettbewerbschancen, die den von ihren Mitgliedern und Wählern bestimmten Grad des Einflusses weit übersteigen. Als Alternative bietet sich in diesen Fällen eine materielle Gleichheit an, die dann zu proportionalen Leistungsverteilung führt. Proportionale Gleichbehandlung trägt aber wiederum zu einer Zementierung der Kräfteverhältnisse bei und schwächt damit die Parteienkonkurrenz ebenso wie die Siegeschancen der Minderheit, die den demokratischen Prozeß in Gang halten. Das Bundesverfassungsgericht hat sich diesen Fragen vor allem im Zusammen- 46 hang mit der Zuteilung von Sendezeiten an politische Parteien im Wahlkampf stellen müssen85. Nachdem die Rundfunk- und Fernsehanstalten zunächst nur den bereits im Parlament vertretenen Parteien kostenlos Sendezeiten zur Verfügung stellen wollten, daran aber vom Bundesverfassungsgericht aus Gründen der Parteiengleichheit gehindert wurden86, rückte die Anteilsfrage in den Vordergrund. Da sie völlig wettbewerbsneutral nicht lösbar ist, könnte nur ein Verzicht auf die Wahlsendungen dem Neutralitätsgebot uneingeschränkt genügen. Verfassungsrechtlich wäre dagegen nichts einzuwenden. Aus dem Umstand, daß Wahlen nicht ohne die Parteien stattfinden können, folgt kein Anspruch auf kostenlose Sendezeiten in den öffentlichrechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten. Umgekehrt läßt sich dem Grundgesetz aber auch kein Verbot entnehmen, wenn man den Gleichheitsgrundsatz nicht verabsolutiert. Kostenlose Sendezeiten vermögen vielmehr die von Art. 21 GG intendierte Offenheit des politischen Prozesses und des Parteiensystems zu fördern. Für neugegründete oder alternative Parteien ohne große Finanzkraft bieten sie vielfach das einzig wirksame Mittel, auf sich aufmerksam zu machen. Ein Verbot wäre eher ihnen abträglich als den großen Parteien, die über zahlreiche Ausweichmöglichkeiten verfügen. Bedenklich bleibt daher nur die vom Bundesverfassungsgericht gebilligte 85

B V e r f G E 7, 99; 13, 204; 14, 121. Vgl. dazu E. FRANKE Wahlwerbung in Hörfunk und Fernsehen, 1979; CHR. WALTHER Wahlkampfrecht, 1989; J. BECKER (Hrsg.) Wahlwerbung politischer Parteien im Rundfunk, 1990; JÜLICH Chancengleichheit (Fn. 78) S. 119; LIPPHARDT Gleichheit (Fn. 19) S. 364, dort, S. 398, auch Ausführungen zur Frage eines Sendezeitanspruchs; dazu ferner FRANKE oben, S. 26 ff m. w. N. Zur Eigenart der Parteisendungen H. ABROMEIT Das Politische in der Werbung, 1972.

86

B V e r f G E 7, 99. Vgl. auch BayVerfGH DVB1. 1 9 7 1 , 73.

630

3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

Praxis abgestufter Sendezeiten nach der Bedeutung der Parteien, die auch zum Vorbild für die generelle Regelung öffentlicher Leistungen in § 5 PartG geworden ist. Das Gericht will damit die „Bildung von möglicherweise zahlreichen neuen Parteien" verhindern87, ohne für dieses Ziel eine verfassungsrechtliche Deckung zu besitzen. Die Parteigründung darf vielmehr nach Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG in keiner Weise behindert werden, und die dadurch angestrebte Offenheit des politischen Prozesses weist angesichts der häufigen Gelegenheiten zur Selbstdarstellung, die die etablierten Parteien in redaktionellen Sendungen haben, eher auf gleiche als auf abgestufte Sendezeiten hin88. 47 Den Staat trifft aber keine verfassungsrechtliche Pflicht, die Gleichbehandlung der Parteien durch Private sicherzustellen. Jede Partei vertritt bestimmte Meinungen und Interessen und vernachlässigt oder bekämpft andere. Sie wirbt für ihr Programm und ihr Personal um gesellschaftliche Zustimmung und konkurriert dabei mit Parteien anderer Ausrichtung und Zusammensetzung. In der freien Entscheidung des Einzelnen über seine politischen Präferenzen verwirklicht sich das demokratische Prinzip. Gleichbehandlungspflichten wären damit unvereinbar. Fraglich ist allerdings, ob für gesellschaftliche Institutionen, auf die der Einzelne bei seiner Meinungsbildung angewiesen ist, namentlich Presse und Rundfunk, dasselbe gelten kann. Das Bundesverfassungsgericht scheint das anzunehmen. In dem Wahlwerbungsbeschluß von 1962 führt es die Notwendigkeit, Sendezeiten hoheitlich zu verteilen, auf den öffentlichrechtlichen Status des Rundfunks zurück. Wäre er nicht in der öffentlichen Hand konzentriert, könnte die Wahlwerbung nach dem Diktum des Gerichts wie bei der Presse dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden. Der Grundsatz der Chancengleichheit verlange nicht, daß die sich aus der unterschiedlichen Größe, Leistungsfähigkeit und politischen Zielsetzung der Parteien ergebenden Unterschiede durch einen hoheitlichen Eingriff ausgeglichen würden89. Das trifft im allgemeinen zu, ist aber differenzierungsbedürftig. Nicht ohne Berechtigung wird für die Presse, wenn auch keine Gleichbehandlungspflicht, so doch ein Kontrahierungszwang mit den politischen Parteien für Wahlanzeigen erörtert90. Der Rundfunk ist auch nach der Zulassung privater Veranstalter nicht nach dem Pressemodell ausgestaltet worden. Vielmehr hat sich eine duale Rundfunkordnung durchgesetzt, in der private Anbieter der staatlichen Zulassung bedürfen und dem Grundsatz der Ausgewogenheit ebenso 87

88

89 90

B V e r f G E 14, 1 2 1 (136). § 5 P a r t G ist in B V e r f G E 2 4 , 3 0 0 (354 f) als verfassungsmäßig bestätigt worden. So auch JÜLICH Chancengleichheit (Fn. 78) S. 123; LIPPHARDT Gleichheit (Fn. 19) S. 443; SEIFERT Parteien (Fn. 14) S. 1 4 9 ; KUNIG HdBStR Bd. 2 (Fn. 14) § 3 3 Rdn. 67; D. NEUMANN/W. WESENER R u n d f u n k f r e i h e i t und W a h l w e r b u n g der politischen Parteien, in: DVB1. 1 9 8 4 , 9 1 4 . Zur Berichterstattung vgl, K . GRUPP Redaktionell gestaltete R u n d f u n k s e n d u n g e n v o r Wahlen, in: Z R P 1 9 8 3 , 28; ferner B V e r f G E 82, 54. B V e r f G E 14, 1 2 1 ( 1 3 3 f.). Vgl. A . HERDEMERTEN Werbeanzeigen politischer Parteien in Tageszeitungen, in: A f P 1 9 6 8 , 7 6 8 ; K . LANGE Ist die A b l e h n u n g der Wahlanzeigen einzelner politischer Parteien durch Zeitungsverleger verfassungsmäßig? in: D Ö V 1973, 4 7 6 ; J . SCHWARZE Zur Pflicht der Presse, politische Anzeigen zu veröffentlichen, in: DVB1. 1976, 557; F. KÜBLER Pflicht der Presse zur Veröffentlichung politischer Anzeigen, 1976; s. auch B V e r f G E 4 2 , 53 (62).

§14

Politische Parteien (GRIMM)

631

verpflichtet sind wie die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten. Jede Identifikation eines privaten Veranstalters mit einer Partei oder auch nur eine Bevorzugung bestimmter Parteien bei der Wahlwerbung wäre damit unvereinbar. Akzeptieren kommerzielle Rundfunksender Werbespots, müssen sie daher die Parteien wie der Staat gleich behandeln. d)

Parteienfinan^ierung

Alle bislang behandelten Grundsätze des Parteienrechts, die Parteiengleichheit ebenso 48 wie die äußere und innere Parteienfreiheit, sind von der Parteienfinanzierung berührt91. Private Spenden an politische Parteien werfen Fragen der inneren Parteienfreiheit auf. Staatliche Subventionen für politische Parteien, sowohl direkte in Form finanzieller Zuwendungen als auch indirekte in Form steuerlicher Spendenanreize, werfen Fragen der äußeren Parteienfreiheit und der Chancengleichheit der Parteien auf und wirken sich auf die von ihrer Vermittlungsfunktion vorausgesetzte Verwurzelung in der Gesellschaft aus. Lediglich die dritte wichtige Geldquelle der Parteien, die Mitgliedsbeiträge, bereitet verfassungsrechtlich keine Probleme. Allerdings machen die Beiträge nur einen Bruchteil der Parteieinnahmen aus 92 . Im Durchschnitt der Jahre 1984 bis 1990 überstiegen sie allein bei der SPD knapp die Hälfte der Gesamteinnahmen; bei der CDU betrugen sie 43%, bei der CSU 28,8%, bei der F.D.P. 20,2% und bei den Grünen 15,3%. Umgekehrt steht die SPD bei privaten Spenden mit 9,8% ihrer Gesamteinnahmen an letzter Stelle, während sie bei der CDU 17%, bei den Grünen 29,5%, bei der CSU 30,1% und bei der F. D.P. 33,3%

91

Vgl. dazu T. ESCHENBURG Probleme der modernen Parteienfinanzierung, 1962; U. DÜBBER Parteifinanzierung in Deutschland, 1962; DERS. Geld und Politik — Die Finanzwirtschaft der Parteien, 1970; H. PLATE Parteifinanzierung und Grundgesetz, 1966; R. WILDENMANN Gutachten zur Frage der Subventionierung politischer Parteien aus öffentlichen Mitteln, 1968; P. HUG Die verfassungsrechtliche Problematik der Parteienfinanzierung, 1970; B. HOFFMANN Die Finanzen der Parteien, 1973; U. SCHLETH Parteifinanzen, 1973; H. WEYRAUCH Gutachtliche Anschlußstellungnahme zur Parteienfinanzierung in der Bundesrepublik Deutschland, 3 Bde., 1978; H. SIEBERT Neuere Entwicklungstendenzen der Parteifinanzierung, in: H. Kaack/R. Roth (Hrsg.) Handbuch des deutschen Parteiensystems, Band I, 1980, S. 179; H. H. v. ARNIM Parteienfinanzierung, 1982; DERS. Die neue Parteienfinanzierung, 1989; DERS. Die Parteien, die Abgeordneten und das Geld, 1991; P. KÜLITZ Unternehmerspenden an politische Parteien, 1983; H.-O. MÜHLEISEN Das Geld der Parteien, 1986; Κ. H. NASSMACHER Parteienfinanzierung als verfassungspolitisches Problem, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11/1989; CHR. LANDFRIED Parteifinanzen und politische Macht, 1990; K.-R. TITZCK Verfassungsfragen der Wahlkampfkostenerstattung, 1990; G. WEWER (Hrsg.) Parteienfinanzierung und politischer Wettbewerb, 1990; HENKE Parteien ( F n . 14) S . 2 5 1 ; SEIFERT P a r t e i e n ( F n . 1 4 ) S. 1 8 9 ; TSATSOS/MORLOK P a r t e i e n r e c h t ( F n . 1 4 ) S . 1 3 7 ; JÜLICH C h a n c e n g l e i c h h e i t ( F n . 7 8 ) S . 1 3 3 ; LIPPHARDT G l e i c h h e i t ( F n . 1 9 ) S . 4 5 7 ; KAACK P a r t e i -

ensystem (Fn. 4) S. 382; ferner: Rechtliche Ordnung des Parteiwesens, Bericht der vom Bundesminister des Innern eingesetzten Parteienrechtskommission, 1958; Bericht zur Neuordnung der Parteienfinanzierung. Vorschläge der vom Bundespräsidenten berufenen Sachverständigenkommission, 1983; Empfehlungen der vom Bundespräsidenten berufenen Kommission unabhängiger Sachverständiger zur Finanzierung der Parteien, 1993. 92

Die folgenden Angaben nach dem Bericht der Bundestagspräsidentin über die Rechenschaftsberichte 1990 sowie über die Entwicklung der Finanzen der Parteien gemäß § 23 Abs. 5 des Parteiengesetzes, BTDrucks. 12/3113 vom 30. Juli 1992.

632

3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

erreichen. Die staatliche Wahlkampfkostenerstattung machte bei den meisten Parteien etwa ein Drittel ihrer Gesamteinnahmen aus und lag nur bei den Grünen mit durchschnittlich 42,4% merklich darüber. Aus der Staatskasse flöß den Parteien überdies der mittlerweile für verfassungswidrig erklärte Chancenausgleich nach § 22 a PartG zu, der den Vorteil kompensieren sollte, der Parteien mit relativ hohem Beitrags- und Spendenaufkommen aus dem staatlichen Steuerverzicht erwächst. Insgesamt ergaben die staatlichen Zuschüsse im Jahr 1990 einen Betrag in Höhe von 384,1 Mio. DM, denen 428,9 Mio. DM an Eigeneinnahmen gegenüberstanden. Schließlich kommen den Parteien auch diejenigen Mittel zugute, die der Staat den Parlamentsfraktionen und den Parteistiftungen zur Verfügung stellt 93 . Im Bundeshaushalt 1990 waren dafür zusammen weitere 245 Mio. DM vorgesehen. Die Tendenz zur öffentlichen Parteienfinanzierung, die darin zum Ausdruck kommt, ist nicht auf Deutschland beschränkt, sondern läßt sich auch in anderen westlichen Demokratien beobachten 94 . Die verfassungsrechtlichen Probleme der Parteienfinanzierung sind eine Folge der normativen Enthaltsamkeit, die das Grundgesetz in dieser Hinsicht übt. Es verpflichtet die Parteien in Art. 21 Abs. 1 Satz 4 GG lediglich darauf, über die Herkunft und — seit der Verfassungsänderung von 1983 — die Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft zu geben, äußert sich zur Herkunft selbst aber nicht. Mit der Rechenschaftspflicht konkretisiert es die in verschiedenen grundrechtlichen und organisationsrechtlichen Vorschriften ausgeformte Offenheit des politischen Prozesses. Insofern Geld stets Einflußchancen begründet, bedeutet Offenlegung der Geldquellen zugleich die Offenlegung von Einflüssen auf politische Parteien. Das Publikum erhält dadurch wichtige, die programmatische Selbstdarstellung der Parteien womöglich korrigierende Informationen, die in die Wahlentscheidung einfließen können. Allerdings wurde das Gebot des Art. 21 Abs. 1 Satz 4 GG von den politischen Parteien jahrelang mißachtet, wie in der Literatur schon lange vermutet worden war und in der Parteispendenaffäre der achtziger Jahre zur Gewißheit wurde 95 . Sie brachte an den Tag, daß Spenden nicht nur verheimlicht, sondern in großem Umfang auch illegal beschafft worden

93

94

95

Vgl. zur Fraktionsfinanzierung J. JESEWITZ Fraktionszuschüsse in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: ZParl 15 (1984) 14; H. H. v. ARNIM Staatliche Fraktionsfinanzierung ohne Kontrolle? 1987; M. MARDINI Die Finanzierung der Parlamentsfraktionen, 1990; zu den parteinahen Stiftungen vgl. H. v. VIEREGGE Die Partei-Stiftungen, in: Wewer, Parteienfinanzierung (Fn. 91) S. 164; B V e r f G E 73, 1. Vgl. Κ . H. NASSMACHER Öffentliche Parteienfinanzierung in Westeuropa, in: P V S 28 (1987) 1 2 1 ; DERS. Parteifinanzen im westeuropäischen Vergleich, in: ZParl 23 (1992) 462; DERS. Bürger finanzieren Wahlkämpfe, 1992; H. E. ALEXANDER (Hrsg.) Comparative Political Finance in the 1980s, 1 9 8 9 ; LANDFRIED Parteifinanzen (Fn. 91); Α. B. GUNLICKS (Hrsg.) Comparative Campaign and Party Finance in North America and Western Europe, 1992. Vgl. SCHLETH Parteifinanzen (Fn. 91) S. 163; H. GÜNTHER W i d e r die Umgehung der finanziellen Rechenschaftspflicht der Parteien, in: ZParl 8 (1977) 4 1 ; zur Parteispendenaffäre vgl. H. W. KILZ/ J . PREUSS Flick. Die gekaufte Republik, 1983; O. SCHILY Politik in bar, 1 9 8 6 , sowie den Bericht des Untersuchungsausschusses v o m 28. Februar 1986, BTDrucks. 10/5079. Z u den Rechtsprob l e m e n W . DE BOOR/G. PFEIFFER/B. SCHÜNEMANN ( H r s g . ) P a r t e i s p e n d e n p r o b l e m a t i k ,

1986.

§14

Politische Parteien (GRIMM)

633

waren. Die verfassungsrechtliche Reaktion beschränkte sich aber auf die erwähnte Ausweitung der Rechenschaftspflicht, während die Herkunft der Mittel nach wie vor gesetzlicher Regelung überlassen ist. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gesetzliche Regelung müssen unter diesen Umständen aus dem demokratischen Prinzip sowie dem Status und der Funktion, die das Grundgesetz den Parteien im demokratischen Prozeß zuweist, erschlossen werden. Diese Aufgabe fallt letztlich dem Bundesverfassungsgericht zu, das sich ihr in bislang sechs gewichtigen Entscheidungen gestellt hat96. Drei ergingen auf Normenkontrollanträge einzelner Landesregierungen, drei auf Organklagen kleinerer Parteien. Die Rechtsprechung hat dabei sowohl hinsichtlich der privaten Spenden als auch hinsichtlich der öffentlichen Zuschüsse in Begründung und Ergebnissen beträchtlich geschwankt und ist erst mit dem jüngsten Parteienfinanzierungsurteil von 1992 auf sicherem verfassungsrechtlichen Boden angelangt. Das Bundesverfassungsgericht mußte sich zunächst zu den staatlichen Spenden- 50 anreizen in Gestalt von Steuervergünstigungen äußern. Maßstab war der Grundsatz der Parteiengleichheit. In einem methodisch höchst beachtlichen Urteil kam es zu dem Ergebnis, daß diesem Grundsatz nicht schon dann genügt sei, wenn die Steuervergünstigung für alle Parteien gleichmäßig gelte. Sie dürfte sich vielmehr auch nicht wettbewerbsverfalschend auswirken. Diesem Test hielten § 10 b EStG und § 11 Nr. 5 KStG in den Fassungen von 1954 und 1957 nicht stand. Das Gericht gelangte auf der Grundlage eines Modells aus sieben Erklärungsfaktoren — darunter die Steuerprogression, die den Spendenanreiz für Bezieher großer Einkommen erhöht, und die unterschiedliche Kapitalaffinität der Parteien — zu der Annahme, daß die dem Wortlaut nach neutrale Regelung de facto die kapitalfreundlichen Parteien begünstige97. Die daraufhin erfolgte und vom Gericht im zweiten Parteienfinanzierungsurteil98 gebilligte Begrenzung der Steuerbegünstigung auf 600 DM jährlich pro Spender war 1979 Gegenstand einer neuen Überprüfung, die durch das sinkende Spendenaufkommen bei wachsenden Parteiausgaben und die daraus resultierende Parteiverschuldung veranlaßt wurde. Das Bundesverfassungsgericht folgte dabei nicht der Argumentation der Niedersächsischen Landesregierung, wonach der Spendenentscheidung von 1958 durch einen Wandel der Verhältnisse der Boden entzogen sei, und erlaubte nur eine maßvolle Anhebung der steuerbegünstigten Beträge99. Erst in seiner Entscheidung über das nach der Parteispendenaffare geänderte Parteiengesetz verließ das Gericht die 1958 eingeschlagene Linie und erlaubte eine steuerliche Begünstigung von Spenden bis zu 100000 DM, während das Sondervotum des Richters BÖCKENFÖRDE an der alten Linie festhielt100. In dem bislang 96 97

98 99

100

Vgl. B V e r f G E 8, 51; 20, 56; 24, 300; 52, 63; 73, 40; 85, 264. B V e r f G E 8, 51. Zur Methode vgl. K . J. PHILIPPI Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, 1 9 7 1 , S. 68, 163. B V e r f G E 24, 300 (358 f). B V e r f G E 52, 63. Für eine weitere Lockerung unter dem Eindruck der Spendenaffare H. H. KLEIN Parteien sind gemeinnützig — das Problem der Parteienfinanzierung, in: N J W 1 9 8 2 , 735; P. KÜLITZ Die Spendenfinanzierung der politischen Parteien, in: D Ö V 1982, 305. B V e r f G E 73, 40; das Sondervotum auf S. 103.

634

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

letzten Parteienfinanzierungsurteil101 hat sich diese Auffassung wieder durchsetzen können. Die Steuerbegünstigung wird auf einen für jeden Bürger aufbringbaren Spendenbetrag zurückgenommen. Spenden von Körperschaften dürfen steuerlich überhaupt nicht mehr begünstigt werden, weil sie den natürlichen Personen, die hinter ihnen stehen, zusätzliche Einflußmöglichkeiten verschaffen, die anderen Bürgern vorenthalten bleiben. 51 Schon im Zusammenhang mit der Steuerbegünstigung von Parteispenden hatte sich das Bundesverfassungsgericht generell über die Zulässigkeit staatlicher Parteienfinanzierung äußern müssen. Sie war damals wegen der Unentbehrlichkeit der Parteien für die Wahl grundsätzlich bejaht worden102. Die eigentliche Dimension des Problems wurde allerdings erst sichtbar, als die Parteien das Urteil als Ermutigung auffaßten, sich direkte staatliche Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt zu bewilligen. Das Grundgesetz hat diesen Fall nicht ausdrücklich geregelt. Daß die Frage schon deswegen keine verfassungsrechtliche, sondern nur eine verfassungspolitische sei, gehört freilich zu den Irrtümern von Nichtjuristen103. Das Bundesverfassungsgericht nahm den grundrechtlich gesicherten freien und offenen Prozeß der Volkswillensbildung zum Ausgangspunkt seiner Beurteilung104. Dieser münde in den für die Staatswillensbildung entscheidenden Akt der Wahl, der die Staatsorgane erst hervorbringe. Willensbildung des Volkes und Willensbildung in den verfaßten Staatsorganen müßten aber unterschieden werden. Das demokratische Prinzip verlange, daß sich die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt vollziehe. Innerhalb der so geschiedenen Sphären schlug das Gericht die Parteien zum Bereich der Volkswillensbildung, die prinzipiell staatsfrei bleiben müsse. Bei einer staatlichen Parteienfinanzierung befürchtete es eine derartige Verschränkung von Parteien und Staat, daß die Staatsfreiheit aufhöre und der Willensbildungsprozeß sich umkehre. In einem zweiten Zugriff ging das Bundesverfassungsgericht vom „Leitbild" der politischen Parteien aus, die in Art. 21 GG zwar verfassungsrechtlich anerkannt, dadurch ihrer Eigenart als frei konkurrierende und aus eigener Kraft wirkende Gruppen aber nicht entkleidet worden seien. Auch deswegen verbiete sich ihre staatliche Finanzierung. In einer nach dieser Begründung überraschenden Wendung erlaubte das Gericht aber die Erstattung der notwendigen Kosten eines angemessenen Wahlkampfs, weil die Parteien insoweit an der Erfüllung einer staatlichen Aufgabe mitwirkten, die von ihrer sonstigen Tätigkeit auch hinreichend abgrenzbar sei und daher die Gefahren der allgemeinen Staatsfinanzierung vermeide105. 52 Das Urteil war verfassungsrechtlich unbefriedigend106. Der Grund liegt vor allem darin, daß das Gericht Volks- und Staatswillensbildung nunmehr strikt trennte

101 102 103 104 105

106

B V e r f G E 85, 264. B V e r f G E 8, 51 (63). Eine solche Behauptung bei SCHLETH Parteifinanzen (Fn. 91) S. 273. B V e r f G E 20, 56, die Hauptbegründungslinien auf S. 97 und 107. B V e r f G E 20, 56 (113); erstreckt auf die kleinen Parteien in 24, 300 (339) und auf Einzelbewerber in 51, 399. V g l . v o r a l l e m d i e K r i t i k v o n HABERLE, TSATSOS, ZWIRNER u n d LIPPHARDT (alle F n . 1 9 ) .

§14

Politische Parteien (GRIMM)

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und den Parteien nur eine Funktion bei der Volkswillensbildung zugestand. Indessen gelingt den Parteien die demokratische Vermittlung von Volk und Staat gerade durch ihr Wirken in den Staatsorganen. Im Urteil wird dies verschwiegen, obwohl das Grundgesetz ersichtlich davon ausgeht. Volk und Staatsorgane, von denen Art. 20 G G handelt, werden mit Hilfe der Parteien aufeinander bezogen. Der Willensbildungsprozeß verläuft notwendig in beide Richtungen. Unter diesen Umständen kann es aber nicht darauf ankommen, die Parteien aus der staatlichen Sphäre möglichst herauszuhalten. Sie müssen vielmehr für ihre Vermittlungsfunktion angemessen ausgerüstet werden. Das setzt in der Tat die gesellschaftliche Verwurzelung voraus. Doch lösen staatliche Finanzbeiträge diese nicht zwangsläufig auf. Insoweit fehlt in dem Urteil jeder Nachweis. Auf der anderen Seite verharmlost das Gericht die Gefahren, die der Vermittlungsfunktion der Parteien von privater Seite drohen. Die Pressionen, die mit Spenden einhergehen können, sind bekannt 107 . Eine Abwägung mit der Etatisierungsgefahr war daher unumgänglich. Vollends ungeklärt läßt das Urteil, warum die Gründe, welche eine staatliche Parteienfinanzierung verbieten, für die Erstattung der Wahlkampfkosten nicht gelten. Der Effekt der Zahlungen auf den Willensbildungsprozeß ist ja von ihrem Namen unabhängig, zumal sich an den Summen wenig änderte. Aber auch die dogmatische Ableitung erscheint fragwürdig. So einseitig das Gericht im ersten Teil seiner Entscheidung auf der gesellschaftlichen Position der Parteien bestand, so einseitig machte es sie im zweiten Teil zu Erfüllungsgehilfen des Staates. Indessen geht mit den Parteien in der Wahl keine Verwandlung vor. Da Wahlerfolge viel stärker vom langfristigen Aufbau politischer Grundhaltungen in der Wählerschaft als vom kurzfristigen Materialaufwand vor der Wahl abhängen, sind die Parteien längst zu ständiger Öffentlichkeitsarbeit übergegangen 108 . Mangels einer klaren Grenze ist die Wahlkampfkostenerstattung dann aber nichts anderes als eine allgemeine Parteienfinanzierung, die auf der Grundlage von Wahlergebnissen berechnet wird. In dem jüngsten Parteienfinanzierungsurteil wird dieser Kritik Rechnung ge- 53 tragen. Unter dem Eindruck, daß die Unterscheidung zwischen allgemeiner Parteienfinanzierung und Wahlkampfkostenerstattung weder eine Entsprechung in der Wirklichkeit noch eine Grundlage in der Verfassung findet, hat das Bundesverfassungsgericht die seit 1966 gültige Rechtsprechung aufgegeben, die eine generelle Aufgabenfinanzierung verbot, eine wahlkampfbezogene aber erlaubte. Statt dessen sucht es unter Berufung auf die hier vertretene Auffassung, Finanzhilfen müßten so gewährt werden, daß der politische Prozeß offen, der Parteienwettbewerb erhalten und die Rückbindung der Parteiführungen an ihre gesellschaftliche Basis gesichert bleibe109, die staatlichen Zuwendungen in einer Weise auszugestalten und zu bemes107

108

109

VGL· SCHLETH Parteifinanzen (Fn. 93) S. 121 ff, 300 ff. Z u m Z u s a m m e n h a n g v o n Selbstfinanzierung und Patronagepolitik v. BEYME Politisches System (Fn. 83) S. 84. SCHLETH Parteifinanzen (Fn. 91) S. 279, 286 ff; ferner P. RADUNSKI Wahlkämpfe - M o d e r n e Wahlkampfführung als politische K o m m u n i k a t i o n , 1980. D . GRIMM in der Vorauflage dieses Werks, S. 352; B V e r f G E 85, 264 (288); vgl. zu der jüngsten Parteienfinanzierungsentscheidung J . IPSEN G l o b a l z u s c h ü s s e statt Wahlkampfkostenerstattung, in: J Z 1992, 753.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

sen, die die Parteien einerseits nicht von der Gesellschaft entfremdet und andererseits nicht in die Arme machtvoller Spender treibt. Zu diesem Zweck setzt es die staatlichen Zuschüsse in Beziehung zu den eigenen Mitteln der Parteien. Das Gesamtvolumen der staatlichen Zuwendungen darf die Summe der selbst erwirtschafteten Einnahmen einer Partei nicht übersteigen. Mit einer solchen relativen Obergrenze läßt sich verhindern, daß die Parteien der Notwendigkeit, sich um ihre gesellschaftliche Basis zu bemühen, enthoben werden. Das Gericht ergänzt diese Regelung aber zusätzlich um eine absolute Obergrenze, die verhindern soll, daß der Umfang der staatlichen Parteienfinanzierung weiter anschwillt und das zur Funktionserfüllung unerläßliche Maß übersteigt. Solange keine einschneidenden Veränderungen eintreten, bleibt es danach bei dem 1992 erreichten Volumen. Schließlich trägt das Gericht dem Grundsatz der Parteiengleichheit und der staatlichen Neutralität gegenüber der Parteienkonkurrenz dadurch Rechnung, daß es den Wahlerfolg, die Mitgliederzahl und den Spendenumfang zum Maßstab der Mittelverteilung an die einzelnen Parteien erklärt. Alle drei sind Indikatoren gesellschaftlicher Akzeptanz und sollen garantieren, daß die Entscheidung über den Umfang staatlicher Leistungen an die politischen Parteien im Prinzip beim Bürger selbst verbleibt. Auf der Grundlage dieser Entscheidung findet derzeit eine Revision des Parteiengesetzes statt. 3. Die Parteien im Staat a) Das parteigebundene

Mandat

Es gehört zu den Kennzeichen der Parteiendemokratie, daß der Staat, dem die Parteien konkurrierend gegenüberstehen, selbst ein parteipolitisch besetzter und gesteuerter Staat ist. Das führt zu einer Teilung der Parteien in solche, die kein staatliches Amt errungen haben und nur im Volk wirken, und andere, die in staatliche Ämter eingerückt sind. Bei diesen kehrt die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft auf der Parteiebene als Unterscheidung von Partei in der Gesellschaft und Partei im Amt wieder. Für die Parteien im Amt macht es nochmals einen Unterschied, ob sie lediglich an der Bildung des Staatswillens beteiligt werden oder ihn letztlich bestimmen können, also nur Parlaments- oder auch Regierungspartei sind. Aus der Doppelrolle als gesellschaftlicher Verband und Träger staatlicher Kompetenzen erwachsen einige Konflikte, die staatstheoretisch und verfassungsrechtlich noch nicht voll bewältigt sind. Dabei geht es zunächst um die Beziehungen zwischen Partei in der Gesellschaft und Partei im Staat. Sie haben zwei Aspekte. Zum einen erhebt sich die Frage, ob und inwieweit die Partei das Entscheidungsverhalten ihrer Mitglieder in Staatsämtern bestimmen darf. Sie wird gewöhnlich unter dem Stichwort des imperativen Mandats diskutiert. Zum anderen geht es darum, wie sich Parteilichkeit und Gesamtverantwortung in der Regierung zueinander verhalten. Sodann ist zu klären, wie die Systemgrenzen des Staates gegenüber den Parteien als systemüberschreitenden Institutionen aufrechterhalten werden können. Auch diese Frage hat zwei Aspekte. Zum einen wird die Gewaltenteilung betroffen, wobei unter Gewaltenteilung nicht nur die klassische Organteilung, sondern auch der Föderalismus und die Trennung von Politik und Verwaltung zu verstehen sind. Zum anderen handelt

§ 14

Politische Parteien (GRIMM)

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es sich um die Ausgliederung der Träger bestimmter öffentlicher Funktionen aus der unmittelbaren Staatskontrolle wie zum Beispiel der Rundfunk- und Fernsehanstalten. Insofern beide Vorkehrungen im Dienst individueller Freiheit stehen, geht es bei diesem Problem auch um die Bedingungen von Freiheit im Parteienstaat. Das imperative Mandat bezog sich ursprünglich auf das Verhältnis des Abge- 55 ordneten zu der ihn entsenden Wählerschaft, wird heute aber überwiegnd für das Verhältnis der Partei zu dem von ihr nominierten Abgeordneten in Anspruch genommen und trägt damit selbst der parteienstaatlichen Umformung der parlamentarischen Repräsentation Rechnung110. Diese ist wiederum eine Folge des Übergangs vom liberalen Zensuswahlrecht zum demokratischen Massenwahlrecht und vom bürgerlichen Rechtsstaat zum sozialen Wohlfahrtsstaat. Abgeordneter wird man seitdem nicht mehr aufgrund vorpolitisch begründeten Ansehens, sondern durch eine Parteikarriere. Auch der Wähler orientiert sich weniger an der Persönlichkeit des Kandidaten als der von ihm verfolgten Parteilinie. Angesichts des permanenten Entscheidungsdrucks, der auf den modernen Parlamenten lastet, sowie der Kommunikationserwartungen, die aus dem Wahlkreis an den Abgeordneten gerichtet werden, läßt sich das Mandat nicht mehr mit einem Beruf vereinbaren, sondern ist selbst zum Beruf geworden111. Der Abgeordnete wird damit auch wirtschaftlich an seine Partei gebunden. Im parlamentarischen Betrieb kommt er ohne die Entscheidungshilfe seiner Fraktion nicht aus, zum einen quantitativ, weil die Themenfülle vom einzelnen Abgeordneten nicht zu bewältigen ist, zum anderen qualitativ, weil nur noch die Minderzahl der Entscheidungen mit common sense getroffen werden kann, während die Mehrzahl Fachwissen voraussetzt, über das der einzelne Abgeordnete jedenfalls nur auf begrenzten Politikfeldern verfügt. Je knapper die Mehrheiten ausfallen, desto nötiger wird die Fraktionsdisziplin. Bestimmend für die parlamentarische Entscheidung wirkt unter diesen Umständen nicht mehr der einzelne Abgeordnete, sondern die parlamentarisch als Fraktion in Erscheinung tretende Partei. Daraus erklären sich die Versuche, die ursprünglich dem Abgeordneten zugeschriebene Freiheit an die Partei umzuadressieren, so daß die Mandatsträger nur während der innerparteilichen Diskussion frei, nach gefällter Parteientscheidung aber an diese gebunden wären, wobei sich sogleich die Frage anschließt, ob die Parlamentspartei oder die Parteibasis den Ausschlag geben soll. Ungeachtet der sozialen Kontrolle, die die Parteien über ihre Abgeordneten 56 ausüben, hält das Grundgesetz am freien Mandat fest. Es berücksichtigt die Parteien zwar im Zusammenhang mit der Volkswillensbildung, übergeht aber ihr Wirken in den Staatsorganen. Auch bei der Binnenstruktur des Parlaments zählen verfassungsrechtlich nur die einzelnen Abgeordneten, und erst in der Geschäftsordnung des Bundestages erscheinen die Fraktionen als parteipolitische Untergliederung des Par110

111

Vgl. dazu LEIBHOLZ Strukturprobleme (Fn. 21); U. SCHEUNER Das repräsentative Prinzip in der modernen Demokratie, in: F S für H. Huber, 1 9 6 1 , S. 222; W. STEFF ANI Parlamentarische Demokratie, in: ders. (Hrsg.) Parlamentarismus ohne Transparenz, 1971, S. 17. So aufgrund umfangreicher Erhebungen das Bundesverfassungsgericht im Diätenurteil, B V e r f G E 40, 296.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

laments. Die Abgeordneten sind nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG unverändert Vertreter des ganzen Volkes und genießen volle Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit. Eine Ausnahme zugunsten der Parteien läßt die Vorschrift nicht zu. Auch LEIBHOLZ, der das freie Mandat als verfassungspolitische Inkonsequenz verurteilt, hat ihm seine verfassungsrechtliche Geltung nicht streitig gemacht112. Beschlüsse der Fraktion über einheitliches Abstimmungsverhalten oder Anweisungen von Parteigremien an die von ihnen nominierten und kontrollierten Abgeordneten entfalten danach keinerlei rechtliche Bindung. Fügt sich der Abgeordnete dennoch, so ist das sein durch den Verweis auf das Gewissen verfassungsrechtlich gedeckter Entschluß. Fügt er sich nicht, so hat das auf das laufende Mandat keinen Einfluß. Abstimmungen werden durch die Mitwirkung von Abgeordneten, die von Fraktions- oder Parteibeschlüssen abgewichen sind, weder ungültig noch anfechtbar. Die Partei oder die Fraktion besitzen keinerlei Möglichkeiten, Abgeordnete, die ihre Beschlüsse außer Acht lassen, aus dem Amt zurückzurufen. Als Sanktion kommt nur der Fraktionsausschluß in Betracht. Mit dieser Einschränkung verleiht Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG dem Abgeordneten eine „temporär unangreifbare Position"113. Selbst ein Parteiausschluß oder -austritt wirkt sich nicht auf sein parlamentarisches Mandat aus, und zwar unabhängig davon, ob er als Direktkandidat oder als Listenkandidat gewählt wurde114. Auch von einem Parteiverbot bleibt, anders als das Bundesverfassungsgericht hier ganz im parteienstaatlichen Sinn meint, das Abgeordnetenmandat unberührt115. 57 Allerdings entbindet die normative Geltung des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht von der Prüfung, ob es sich um eine sinnentleerte Norm handelt, wie die Anhänger der Parteienstaatstheorie annehmen. Die Frage verträgt keine Pauschalantwort. Auf der einen Seite ist das freie Mandat eine Funktionsbedingung politischer Führung durch beschließende Versammlungen und insofern keine bürgerlich-liberale Erfindung116. Auf der anderen Seite werden solche Versammlungen, jedenfalls unter den Bedingungen eines permanenten Entscheidungsbedarfs in den verschiedensten Angelegenheiten, erst aufgrund von parteipolitisch organisierter Arbeitsteilung und Gruppendisziplin handlungsfähig. Es wäre daher von vornherein verfehlt, die Parteibindungen der Abgeordneten in Widerspruch zu Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu rücken. Die Frage muß vielmehr lauten, welche Funktion das freie Mandat unter der Voraussetzung parteigebundener Abgeordneter hat117. Geht man dem zunächst 112

113 114

115 116 1,7

Vgl. LEIBHOLZ Stellung der Parteien (Fn. 21) S. C 16. W o dieser Versuch unternommen wird wie bei U. BERMBACH Probleme des Parteienstaats, in: ZParl. 1 (1970) 342, fehlt jede staatsrechtliche Beweisführung. P. BADURA in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Zweitbearbeitung 1966, Art. 38 Rdn. 72. Vgl. dazu BADURA in: B K (Fn. 113) Art. 38 Rdn. 80; M. MÜLLER Fraktionswechsel im Parteienstaat, 1974, m. w. N., besonders über die aus gegebenem Anlaß in den Jahren 1971/72 stark aufgelebte Diskussion; HENKE Recht der Parteien (Fn. 59) 370 m. w. N. Zahlenangaben über Fraktionswechsel bei D. SCHINDLER (Bearb.) 30 Jahre Deutscher Bundestag, 1979, S. 91 ff, fortgesetzt in: ZParl 22 (1991) 348. BVerfGE 2, 1 (72); 5, 85 (392). Vgl. C. MÜLLER Das imperative und das freie Mandat, 1966, S. 2, 73 ff. V g l . BADURA in: B K ( F n . 1 1 3 ) A r t . 3 8 R d n . 6 5 , 6 9 , 7 0 . V g l . z u m F o l g e n d e n H . BORCHART D i e

Fraktion, in: A ö R 102 (1977) 210; G. KRETSCHMER Fraktionen — Parteien im Parlament, 1984;

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Politische Parteien (GRIMM)

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im Verhältnis von Abgeordneten und Fraktion nach, so bewirkt die „temporär unangreifbare Position", daß sich die Fraktion bei der Festlegung ihrer Linie auf den einzelnen Mandatsträger einlassen und seinen Auffassungen diskursiv Rechnung tragen muß. Die innerfraktionäre Willensbildung mit dem Ziel parlamentarischer Durchsetzung kann dann nicht das Diktat von Vorständen oder Mehrheiten sein, sondern muß sich selbst aus einem offenen Prozeß ergeben. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG bildet auf diese Weise ein Gegengewicht gegen die Oligarchietendenzen in den politischen Pateien. In dieser Eigenschaft ist er aber nicht einfach liberales Relikt, das in Widerspruch zu der in Art. 21 GG zum Ausdruck gelangten realitätsnahen Auffassung vom Parteienstaat steht und lediglich dessen äußerste Konsequenzen abwehrt" 8 , sondern gewinnt eine gerade auf die Parteiendemokratie bezogene Funktion, die ihn mit Art. 21 GG durchaus vereinbar macht. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG fungiert dann als Garantie innerparteilicher Demokratie an einer für die Staatswillensbildung besonders wichtigen Stelle und unterstützt damit eine verfassungsrechtliche Forderung, die auch Art. 21 GG ausdrücklich als Funktionsvoraussetzung für Parteien im demokratischen System erhebt. Andererseits muß man aber auch berücksichtigen, daß die Forderungen nach 58 dem innerparteilichen imperativen Mandat und ihrem Korrelat, dem recall, gerade im Interesse vermehrter Demokratie wieder auflebten119. Das Ziel ist die bessere Kontrolle von Parteieliten, die sich durch die Ausdifferenzierung der staatlichen Handlungsebene eine beträchtliche Autonomie verschaffen können, und die vermehrte Partizipation der Parteimitglieder an der Parteiwillensbildung dort, wo sie in kollektiv verbindliche Entscheidungen übersetzt wird. Die Überlegungen, die Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG im Verhältnis des Abgeordneten zur Fraktion sinnvoll machten, lassen sich daher nicht unbesehen auf das Verhältnis des Abgeordneten zu Parteibasisgremien wie Parteitagen oder Wahlkreisdelegiertenversammlungen übertragen. Hier könnte eine verstärkte Bindung der Abgeordneten die innerparteiliche Demokratie vielmehr durchaus erhöhen. Indessen steht im Verhältnis von Parteibasis und Abgeordneten nicht nur die innerparteiliche Demokratie zur Diskussion, sondern D. GRIMM Parlament und Parteien, in: H.-P. Schneider/W. Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, S. 199; W. CZEPLACH Abgeordnetenstatus und politische Partei, 1 9 9 1 ; eine parteienfreundlichere Interpretation bei N. ACHTERBERG Das rahmengebundene Mandat, 1 9 7 5 , S. 5 f f , 1 9 f f ; DERS. P a r l a m e n t s r e c h t , 1 9 8 4 , S. 2 2 2 f f ; U . K . PREUSS in: A l t e r n a t i v k o m m e n t a r

1,8

119

zum Grundgesetz, 2. A u f l . 1989, Bd. 1, Art. 21 Rdn. 53 ff. Dagegen W. HENKE Die Parteien und der Ämterstaat, in: N V w Z 1985, 616. So aber LEIBHOLZ Stellung der Parteien (Fn. 21) S. C 18; wie Leibholz schon in der Weimarer Republik L. WITTMAYER Die Weimarer Reichsverfassung, 1922, S. 66 („Urgroßväterweisheit"); F. MORSTEIN MARX Rechtswirklichkeit und freies Mandat, in: A ö R 50 (1926) 443 („verfassungsrechtliches Fossil"). Vgl. etwa U. BERMBACH Probleme des Parteienstaats, in: ZParl. 1 (1970) 342; DERS. Repräsentation, imperatives Mandat und recall: Zur Frage der Demokratisierung im Parteienstaat, in: FS f ü r C . J . FRIEDRICH 1 9 7 1 , S . 4 9 7 . T y p o l o g i e u n d M a t e r i a l b e i W . KALTEFLEITER/H.-J. VEEN

Zwischen freiem und sungswirklichkeit der in B. GUGGENBERGER verkürzten Sicht der in: Partei und System

imperativem Mandat — Zur Bindung von Mandatsträgern in der VerfasBundesrepublik, in: ZParl. 5 (1974) 246. Die Diskussion ist dokumentiert u. a. (Hrsg.) Parteienstaat und Abgeordnetenfreiheit, 1976. Zur funktional Anhänger des imperativen Mandats JÄGER Innerparteiliche Demokratie, (Fn. 71) S. 121.

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

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auch der unmittelbare Durchgriff der Partei auf einen staatlichen Amtsträger. Aus diesem Grund kann die Antwort nicht allein am Maßstab innerparteilicher Demokratie abgelesen werden, wie viele Anhänger des imperativen Mandats kurzschlüssig meinen. Innerparteiliche Demokratie ist in Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG ja nicht als Selbstzweck, sondern im Interesse des demokratischen Staates vorgeschrieben, der mit Hilfe der Parteien gesteuert wird. Sie steht also zur demokratischen Staatsordnung in einem instrumentalen Verhältnis. Unter diesen Umständen wäre der Schluß von vermehrter innerparteilicher Demokratie durch imperatives Mandat auf vermehrte gesamtstaatliche Demokratie in Gestalt erhöhter Partizipationschancen des Volkes aber nur zulässig, wenn die Parteien mit dem Volk identifiziert werden könnten. Diese Vorstellung liegt jedoch weder der Verfassung zugrunde noch entspricht sie der Realität, wie der Umstand zeigt, daß nicht mehr als 3% der Aktivbürger den politischen Parteien angehören. 59

Die Frage spitzt sich also darauf zu, ob der unmittelbare Durchgriff von der Partei auf den Staat die demokratische Substanz des politischen Systems erhöht oder nicht. Ausschlaggebend dafür ist das Maß, in welchem die Staatsorgane die Bedürfnisse und Vorstellungen in der Bevölkerung aufnehmen und ihre Entscheidungen daran ausrichten. Das System versucht diese Rückbindung durch den Zwang zur Konkurenz um Wählerstimmen zu verbürgen. Doch können Randbedingungen die Wirkung des Konkurrenzprinzips beeinflussen. Der Abgeordnetenstatus gehört dazu. Wird er imperativ ausgestaltet, so verschiebt sich der Orientierungspunkt für den Mandatsträger von der Wählerschaft zur Parteibasis120. Die bei der Partei im Amt gewöhnlich stärker ausgebildete Sensibilität für Wählerresonanz tritt hinter das Mitgliederinteresse an kompromißloser Durchsetzung des Parteiprogramms zurück. Die Wähler würden dadurch zwar nicht entmachtet, denn in der Wahl bleibt ihnen die Entscheidung über die konkurrierenden Parteien vorbehalten. Zwischen den Wahlen nähme ihr Einfluß jedoch ab. Der Rückkoppelungseffekt, der das Ausmaß von Demokratie in einem Staat bestimmt, wäre geschwächt, indem politische Entscheidungen weniger an einer Mehrheit in der Bevölkerung als einer Mehrheit aktiver Parteimitglieder ausgerichtet würden. Der Trend von der Mitwirkung an der Volkswillensbildung zur Monopolisierung der Volkswillensbildung müßte sich dadurch verstärken. Insofern liegt in dem parteigebundenen imperativen Mandat keine Erhöhung von Demokratie, so daß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auch im Verhältnis von Partei und Abgeordneten seinen Sinn behält. Die output-orientierte Frage, ob das imperative oder das freie Mandat die besseren Entscheidungen gewährleistet 121 , erscheint demgegenüber sekundär. b) Regierung und

Regierungspartei

60 Für die Regierung fehlt es an einer dem Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG entsprechenden Regelung. Laut Art. 64 Abs. 2 i. V. m. Art. 56 GG schwören Regierungsmitglieder, 120 YG] Ρ KEVENHÖRSTER Das imperative Mandat, 1975, bes. S. 53 ff; MÜLLER Mandat (Fn. 116) S. 220; B. GUGGENBERGER U. a. Freies oder imperatives Mandat? in: Parteienstaat (Fn. 119) S. 13. 121

Dazu ausführlich KEVENHÖRSTER Imperatives Mandat (Fn. 120) S. 23.

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Politische Parteien (GRIMM)

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ihre Kraft „dem Wohle des deutschen Volkes" zu widmen. Doch dürfen sie dieses Wohl legitimerweise auf der Grundlage ihres Parteiprogramms verfolgen. Die Frage lautet, ob das der Partei auch ein Recht verleiht, das Verhalten der ihr angehörigen Regierungsmitglieder zu bestimmen. Sie erstreckt sich ebenso auf das Verhältnis von Partei und kommunalen Wahlbeamten, wo sie in der Bundesrepublik auch zuerst akut wurden 122 . Die Frage läßt sich nicht schon damit beantworten, daß die Regierung nur der „Exekutivausschuß der Regierungspartei oder der sie tragenden Regierungskoalition" sei 12\ Die Regierung verdankt zwar ihre Entstehung dem Parlament und kann von diesem auch wieder abberufen werden. Im übrigen fungiert sie aber für die Dauer ihres Amtes als selbständige Gewalt. Die aus dem demokratischen System des Grundgesetzes entwickelten Gründe, die den Durchgriff der Partei auf Abgeordnete verboten, gelten sogar in erhöhtem Maß für die Regierung. Die vom imperativen Mandat bewirkte Umorientierung von der Wählerschaft zu den Parteimitgliedern macht sich bei der Regierung noch nachteiliger bemerkbar als beim Parlament. Während dort nämlich die Minderheitsparteien vertreten sind und ihre Auffassungen zur Geltung bringen können, bleibt in der Regierung die Mehrheit unter sich. Gleichwohl ist die Regierung nicht die Regierung ihrer Parteimitglieder oder ihrer Wähler, sondern die Regierung aller. Dieser Verantwortungszusammenhang wird durch die Differenz zwischen Staatsorgan und Regierungspartei stabilisiert. Eine Partei, die mit der von ihr gestellten Regierung unzufrieden ist, muß daher den Weg über ihre Abgeordneten suchen, die das Handlungsprogramm der Regierung gesetzgeberisch verändern oder ihr das Vertrauen entziehen können, ohne dabei freilich ihrerseits der Anweisung von Parteigremien zu unterliegen. Schwieriger ist die umgekehrte Frage zu beantworten, inwieweit sich die Re- 61 gierung mit der sie tragenden Partei identifizieren darf. Im Verfassungsgerichtsurteil zur Wahlwerbung der Bundesregierung ging der Richter ROTTMANN davon aus, daß es das verfassungsrechtlich legitimierte Ziel der Parteien gerade sei, die Regierung zu übernehmen. Auch die Wähler hätten bei ihrer Entscheidung die Regierungsbildung im Auge. Die Wahl mache die Führung der siegreichen Partei zum staatlichen Amtsträger, ihr Programm zum staatlichen Aktionsplan. Eine solche Regierung stehe nicht oberhalb der Parteien, sie falle mit der jeweiligen Mehrheitspartei in eins. ROTTMANN zieht aus diesen LEIBHOLZ sehr nahestehenden Prämissen den Schluß, daß im Parteienstaat die Regierung für die Partei, aus der sie sich rekrutiert, auch werben und ihre eigene Wiederwahl betreiben dürfe 124 . Demgegenüber betont die Senatsmehrheit, daß auch der parteipolitisch besetzte und gelenkte Staat Staat der Gesamtheit sei. Seine Organe hätten daher allen zu dienen, wie ja auch ihre Handlungen allen zugerechnet würden. Dieser Bezug auf die Gesamtheit erlaube keine 122

123

124

Der „Fall Littmann", vgl. die Schilderung bei BERMBACH Parteienstaat (Fn. 1 1 2 ) 342; weiteres Material bei KALTEFLEITER/VEEN Freies und imperatives Mandat (Fn. 1 1 9 ) 246. Sondervotum des Richters ROTTMANN B V e r f G E 44, 181 (183). Vgl. zum Problem der Parteiregierung ROSE Party G o v e r n m e n t (Fn. 62); F. G . CASTLES/R. WILDENMANN (Hrsg.) Visions and Realities of Party Government, 1986; R. S. KATZ (Hrsg.) Party Governments, 1987. B V e r f G E 44, 125 (185 ff); dazu P. HABERLE Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien- und Bürgerdemokratie, in: J Z 1977, 361.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Identifikation von Partei und Staatsorgan und also auch keinen werbenden Einsatz der Regierung für ihre Partei. Für R O T T M A N N bildet die Regierung danach eine durch die Verfassung zwar begrenzte, im übrigen aber leere Hülse, in die die siegreiche Partei hineinschlüpft und mit der sie auf Zeit eins wird. Nicht die Regierung handelt durch die Mehrheitspartei, sondern die Mehrheitspartei durch die Regierung. Die Grenze zur Vollidentität besteht nur darin, daß die Partei sich in dieser Hülse nicht verewigen kann, sondern Regierungswechsel möglich bleiben. Nach Auffassung der Senatsmehrheit werden die Staatsorgane zwar notwendig durch Parteipolitiker besetzt, das Parteimandat ist aber durch das Staatsamt überlagert. Das Staatsorgan erscheint nicht einfach als aufnehmende Hülse, es verwandelt sich vielmehr die Mehrheitspartei an. Für die Regierungsmitglieder vollzieht sich auf diese Weise eine Metamorphose. Mit der Wahl ins Staatsamt wird sozusagen der Parteimantel an der Gaderobe zurückgelassen und eintritt der Staatsmann. 62

Die RoTTMANNsche Auffassung scheint die Realität f ü r sich zu haben. Keine

Verfassung, die Parteien zur Mitwirkung an der Volkswillensbildung beruft, kann verhindern, daß es dieselben Personen sind, die sich als Parteielite, Autoren eines Wahlprogramms, Wahlkämpfer etc. nun im Staatsamt wiederfinden, dieses Amt über die Wahlperiode hinaus zu behalten trachten und das nur durch fortdauernden Einsatz für ihre Partei erreichen können. Demgegenüber wirkt die Anforderung, die die Senatsmehrheit an die Regierungsmitglieder richtet, künstlich. Sie verlangt von ihnen, daß sie die parteipolitische Genese und Bedingtheit ihrer Position mit dem Eintritt ins Amt vergessen und sich unterschiedlich verhalten, wenn sie als Parteiführer und wenn sie als Staatsführer auftreten. Solche Rollendifferenzierungen sind uns an sich geläufig. Man kann ein schlechter Vater und ein guter Erziehungswissenschaftler sein. Das Verhalten in einem Bereich wird trotz Urheberidentität im anderen nicht zugerechnet. Der Unterschied zum vorliegenden Fall besteht aber darin, daß es sich bei Parteiführern und Regierungsmitgliedern nicht nur um identische Personen, sondern weitgehend auch um identische Aktionsfelder handelt. Die Rollenanforderung wird dadurch unerfüllbar. Sprachlich macht sich dies im' Urteil in der ungewöhnlichen Häufung des Ausdrucks „als solche" bemerkbar. Die Regierung als solche darf sich nicht zur Wiederwahl stellen, die sie bildende und von ihr geführte Partei wohl. Der Minister als solcher darf nicht im Wahlkampf auftreten, als Parteimitglied darf er es wohl. Das Regierungsprogramm als solches darf sich nicht mit dem Parteiprogramm decken, faktisch sei eine weitgehende Übereinstimmung unvermeidlich und verfassungsrechtlich unbedenklich125. R O T T M A N N hinwiederum kann von seinem Standpunkt aus die Regierung nicht daran hindern, den Staat für die Machterhaltungszwecke der eigenen Partei auszunutzen und damit die gleiche Chance der anderen Parteien, ihrerseits die Regierung zu stellen, zu schmälern. 63

Gleicht man so das Verfassungsrecht der politischen Realität an, bringt man es um seine Normativität. Gibt man ihm, wie die Richtermehrheit, einen real schwer vollziehbaren Sinn, bringt man es um seine Effektivität. Zwischen diesen beiden 125

BVerfGE 44, 125 (bes. 144).

§ 14

Politische Parteien (GRIMM)

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Polen muß sich die Verfassungsinterpretation bewegen. Für die Regierung der repräsentativen, durch Parteien erst handhabbar gemachten Demokratie bedeutet das einerseits, daß sie nicht neutral im Sinn eines „Standpunkts über den Parteien"126 sein kann. Ihre Doppelrolle als Parteiführung und Staatsführung ist in der Verfassung selbst angelegt. Die Rollen lassen sich auch, da auf denselben Handlungsbereich bezogen, im Kern nicht trennen. Die juristische Fiktion einer „Regierung als solcher" scheitert an der realen Einheit. Die Regierung ist insofern parteilich, als sie politische Probleme auf der Grundlage ihres nicht von allen geteilten Parteiprogramms löst. Andererseits bleibt der Staat von der Regierungspartei dadurch unterschieden, daß er auch für andere Parteiprogramme offen ist. In dieser Offenheit liegt seine Neutralität gegenüber den Parteien. Es handelt sich dabei freilich um eine ganz andere Neutralität, als sie der monarchische Obrigkeitsstaat für sich beanspruchte. Dieser leitete seinen Standpunkt über den Parteien aus einem unabhängig von den Parteien gewußten Gemeinwohl ab, demgegenüber diese in die Position von Vertretern partikularer Interessen gedrängt wurden. Die parteipolitische Neutralität war also nicht in der Offenheit für verschiedene Parteiprogramme, sondern in der inhaltlichen Determiniertheit des Staates angelegt. Die Neutralität des parteiabhängigen demokratischen Staates bezieht sich nicht auf sein Handlungsprogramm: dieses ist ein parteipolitisches, sondern auf den Parteienwettbewerb: das parteipolitische Programm für das Staatshandeln bleibt je nach Wahlausgang auswechselbar. Diese Offenheit verhindert eine Identifizierung von Regierungspartei und Staat, auch wenn sie zeitlich befristet gedacht wird127. Das Grundgesetz trägt dieser Differenzierung Rechnung, wenn es der Mehr- 64 heitspartei nirgends einen unmittelbaren Zugriff auf Staatsämter eröffnet. Immer schiebt sich zwischen die Nominierung durch die Partei und den Amtserwerb ein staatlicher Konstitutionsakt. Selbst wenn aufgrund stabiler Mehrheitsverhältnisse mit der Parteinominierung faktisch die Wahl entschieden ist, so daß der staatliche Akt nur noch als Formalie erscheint, wird er nicht entbehrlich. Im übrigen ist er auch faktisch keineswegs folgenlos. Als unerläßliches Erfordernis des Amtserwerbs wirkt er vielmehr auf die Parteientscheidung vor. Diese muß das staatliche Verfahren antizipieren, wenn sie es unangefochten passieren will. Auch von einem empirischen Standpunkt aus betrachtet, wäre es daher vordergründig, den staatlichen Konstitutionsakt als bloße Formsache zu verstehen. Verfassungsrechtlich kommt damit erstens zum Ausdruck, daß staatliche Handlungsaufträge nur vom Volk abgeleitet werden können und daher kein Parteibeschluß aus sich heraus für den Staat verbindlich ist, sondern der Transformation durch eine auf Wahlen zurückgehende Instanz bedarf. Zweitens macht die Zwischenschaltung eines Staatsakts deutlich, daß die Vergabe von Staatsämtern an Parteipolitiker nicht nur ihren Anhängern, sondern der Gesell126 127

A u f den „Standpunkt über den Parteien" legt besonderen Wert HENKE Parteien (Fn. 14) S. 8 ff. Vgl. zum Problem der staatlichen Neutralität in der Parteiendemokratie D. GRIMM La neutralità dello stato nella democrazia partitica, in: F. Lentini (Hrsg.) Individuo e Stato, Bd. 2, 1983, S. 4 1 7 ; ferner die Andeutungen bei HABERLE Öffentlichkeitsarbeit (Fn. 124) 363 f; generell K . SCHLAICH Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972.

644

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

schaft insgesamt zugerechnet wird. Die Rechtfertigung dafür liegt in der vorweggenommenen Anerkennung der Mehrheitsregel auch durch die jeweilige Minderheit. Diese kann sie freilich nur unter der Voraussetzung erteilen, daß Offenheit das Leitprinzip des politischen Prozesses bleibt. Erst die Offenheit für Alternativen macht das System der Parteiregierung erträglich. Das Bundesverfassungsgericht hat daher recht, wenn es zwischen der „Bereitschaft und Verpflichtung aller Bürger zum Rechtsgehorsam", die den friedlichen Austrag von Konflikten ermöglicht, und dem verfassungsrechtlichen Verbot, die „staatliche Gewalt als Werkzeug zur Perpetuierung der Herrschaft einer bestimmten Mehrheit" zu verwenden, eine Beziehung herstellt 128 . 65

Für die Wahlwerbung ergeben sich daraus einige Konsequenzen. Die Verfassung kann zwar die Regierung nicht, wie das Bundesverfassungsgericht meint, aus dem Wahlkampf ausschalten oder daran hindern, ihre Regierungsleistungen als Argument für eine Wiederwahl einzusetzen. Andererseits folgt aus dem Umstand, daß auch Parteiregierungen Staatsorgane sind, daß sie bei Aktivitäten im Wahlkampf all jenen verfassungsrechtlichen Bindungen unterliegen, die sich auf den politischen Prozeß beziehen. Dazu gehören vor allem die Gleichbehandlungspflichten der Art. 21 und 38 GG. Sie sind vom Bundesverfassungsgericht in einer langen Wahlrechtsprechung entfaltet und verfeinert worden. Danach darf der Staat insbesondere nicht durch Vermögenswerte Leistungen die Chancen einer Partei zu Lasten anderer verbessern. Darunter fällt eindeutig die Bereitstellung von Regierungspropaganda für die Regierungsparteien. Ebenso gilt das für Regierungspropaganda, die zwar den Regierungsparteien nicht zum eigenen Gebrauch zur Verfügung gestellt wird, wegen der inhaltlichen Identität mit Parteireklame aber nur diesen zugutekommt. Das betrifft ferner die Leistungsnachweise der Regierung in Form von Anzeigen, Wurfsendungen, Faltblättern im Wahlkampf. Dazu gehört schließlich der Einsatz von Beamten für die Wahlkampfvorbereitung wie auch die bekannte Praxis der Vergabe von Marktforschungsaufträgen, Meinungsumfragen etc. durch die Staatskanzleien statt die Parteizentralen. Es ist also der Einsatz staatlicher Mittel, den die Verfassung mißbilligt. Nicht die Regierung als solche hat sich, wie das Bundesverfassungsgericht meint, der Identifikation mit einem Parteiprogramm zu enthalten, sondern weil die Regierung mit einem Parteiprogramm untrennbar identifiziert ist, darf sie mit Staatsmitteln keine Werbung dafür betreiben. Der Vorteil dieser Lösung liegt darin, daß sie eine präzisere Fassung der Grenzen von Regierungspropaganda ermöglicht, ohne dabei Fiktionen zu beötigen, die die normative Kraft der Verfassung schwächen. c) Parteiendemokratie

und

Gewaltenteilung

66 Obwohl das Grundgesetz zur Tätigkeit der Parteien innerhalb der Staatsorgane schweigt, setzt es diese doch voraus. Anders wäre der demokratische Staat nicht funktionsfähig. Gerade aus der Funktionsfähigkeit der Demokratie ergeben sich freilich auch Grenzen der Inbesitznahme staatlicher Organe durch die Parteien. Die 128

BVerfGE 44, 125 (142).

§14

Politische Parteien (GRIMM)

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Parteien haben dort ihren Platz, wo Wettbewerbsbedingungen herrschen 129 . Das sind diejenigen Organe, die überwiegend programmierende und daher politisch motivierte Entscheidungen fallen, also Parlament und Regierung. Beider Tätigkeit spielt sich zwar nicht im rechtsfreien Raum ab, sondern ist verfassungsrechtlich ebensowohl begrenzt wie angeleitet. Die Verfassung zieht jedoch in der Regel nur einen Rahmen, dessen Ausfüllung der Mehrheitsentscheidung überlassen bleibt. Dagegen stehen den Parteien jene Organe nicht offen, die überwiegend programmierte und daher rechtlich motivierte Entscheidungen fallen. Das sind Justiz und Verwaltung. Hier verlaufen deswegen noch erkennbare Gewaltenteilungslinien, während sie sich zwischen Parlament und Regierung weitgehend aufgelöst haben. Waren die Parteien in der konstitutionellen Monarchie auf das Parlament beschränkt, so dringen sie seit Einführung der Demokratie auch in die Regierung vor. Der natürliche Gegensatz zwischen den beiden Organen entfällt damit. Die Parlamentsmehrheit sieht es als selbstverständliche Aufgabe an, die von ihr gestellte Regierung zu stützen und ihr dort, wo sie auf parlamentarische Beschlüsse angewiesen ist, zum Erfolg zu verhelfen. Dementsprechend sinkt ihre Bereitschaft zur Regierungskritik und -kontrolle. Diese kann vielmehr nur noch bei der Opposition vorausgesetzt werden, so daß die Scheidelinie heute zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung auf der einen und Parlamentsminderheit auf der anderen Seite verläuft. Dabei handelt es sich um eine zwangsläufige Konsequenz verfassungsrechtlich vorgegebener Strukturen, die deswegen auch nicht sinnvoller Gegenstand verfassungsrechtlicher Kritik sein kann. Anders verhält es sich mit den Beziehungen zwischen Regierung und Verwal- 67 tung, die im herkömmlichen, von den Organen ausgehenden Schema gar nicht als Gewaltenteilungsproblem betrachtet wurden. Nimmt man dagegen eine Funktionenteilung vor, dann verläuft gerade hier eine wichtige Systemgrenze 130 . Die Verwaltung ist nicht primär zu frei gestaltenden, sondern zu gebundenen Entscheidungen berufen, für deren Programm nicht sie, sondern die Politik die Verantwortung trägt. Daher bedarf sie auch keiner parteipolitischen Rekrutierung. Diese widerspräche sogar einem System, das seine demokratische Substanz aus der Möglichkeit des Mehrheitswechsels zieht. Mehrheitswechsel bedeutet nicht nur einen Austausch des Führungspersonals, sondern vor allem des staatlichen Handlungsprogramms. Insoweit hängt er aber davon ab, daß die Verwaltung als programmausführende Instanz sich nicht mit einem Parteiprogramm identifiziert. Andernfalls könnte eine mehrheitsverändernde Wahlentscheidung auf der Durchführungsebene schnell unterlaufen werden. Die Neutralität der Beamtenschaft ist also kein Relikt des Obrigkeitsstaates. Ohne dessen parteifeindlicher Grundlage anzuhaften, bleibt sie als Funktionsbedingung 129

130

Nach HESSE Stellung der Parteien (Fn. 15) 25 f, w o politische Willensbildung stattfindet; vgl. auch HENKE Recht der Parteien (Fn. 59) 377; LUHMANN Politische Verfassungen (Fn. 35) 8 ff; SEIFERT Parteien (Fn. 14) S. 93, 403; H . SCHULZE-FIELITZ Der informale Verfassungsstaat, 1984; J. BECKER Gewaltenteilung im Gruppenstaat. Ein Beitrag zum Verfassungsrecht des Parteienund Verbändestaats, 1986. Vgl. LUHMANN Soziologie des politischen Systems (Fn. 14) S. 163 ff; DERS. Legitimation (Fn. 14) S. 183 ff, 209; DERS. Politische Verfassungen (Fn. 35) 8 ff; H . D. JARRAS Politik und Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung, 1975.

646

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

auch der Parteiendemokratie unverändert gültig. Das demokratische System setzt freilich außer einer loyalen Beamtenschaft auch eine effiziente politische Verwaltungsführung voraus. Indessen wird diese angesichts neuartiger, vor allem planerischer Staatsaufgaben und verknappter Zeitbudgets der Regierungsmitglieder zunehmend schwierig. Die Folge ist, daß die Verwaltung unter dem Deckmantel politischer Führung bereits weitgehend sich selbst und teilweise in Umkehrung der offiziellen Richtung sogar die Politik steuert 131 . Im Gegenzug schwillt die Zahl der sogenannten politischen Beamten an, die das Neutralitätsprinzip durchbrechen und als Vertraute eines Regierungsmitglieds ins Amt gelangen und dieses in der Verwaltungsführung unterstützen 132 . Die Möglichkeit vorzeitiger Pensionierung im Fall des Regierungswechsels oder Vertrauensschwundes wird dann zur unvermeidlichen Konsequenz. 68

Es ist allerdings bekannt, daß die Parteien ihre Personalpolitik nicht auf den Bereich der politischen Beamten beschränken, sondern Regierungspositionen dazu benutzen, ihre Anhänger auf allen Ebenen in Beamtenstellungen unterzubringen oder in der Karriere zu beschleunigen, teilweise um ihren Einfluß auf die Verwaltung zu stärken und über einen Machtwechsel hinwegzuretten, teilweise um Mitglieder zu belohnen und dadurch neue Anhänger anzulocken. Die Praxis ist unter dem Namen der Ämterpatronage bekannt und wird nach dem Motiv gewöhnlich in Herrschafts- und Versorgungspatronage aufgeteilt 133 . Empirischen Untersuchungen läßt sich entnehmen, daß der Anteil von Parteimitgliedern in der Beamtenschaft erheblich höher liegt als in der Bevölkerung 134 . Darin kommt nicht nur eine beruflich bedingte höhere Bereitschaft zum politischen Engagement, sondern auch ein opportunistisches Aufstiegskalkül zum Ausdruck, wie die Zahlen über die Parteimitgliedschaft von Beamten in solchen Bundesländern zeigen, in denen die Regierung noch nie oder seit langem nicht mehr gewechselt hat: in SPD-Ländern gehören 87,5% aller beamteten Parteimitglieder der Regierungspartei an, in CDU-Ländern 87,2% 135 .

131

Vgl. etwa T. ELLWEIN Regierung und Verwaltung, 1 9 7 0 ; R. MAYNTZ/F. SCHARPF (Hrsg.) Planungsorganisation, 1 9 7 3 ; D. GRIMM Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des Rechtsstaats, in: ders. (Hrsg.) Wachsende Staatsaufgaben — sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 291 m. w. N. Zu der damit eng zusammenhängenden Planungskapazität der Parteien vgl. F. GRUBE/G. RICHTER/U. THAYSEN Politische Planung in Parteien und Parlamentsfraktionen, 1976.

132

Einzelheiten bei K . DYSON Die westdeutsche „Parteibuch"-Verwaltung, in: Die Verwaltung 1 2 (1979) 129. Ferner D. KUGELE D e r politische Beamte, 2. A u f l . 1978. Die Unterteilung bei T. ESCHENBURG Ämterpatronage, 1 9 6 1 , S. 11 ff. Vgl. ferner W. PIPPKE Karrieredeterminanten in der öffentlichen Verwaltung, 1 9 7 5 ; B. STEINKEMPER Klassische und politische Bürokraten in der Ministerialverwaltung der Bundesrepublik Deutschland, 1976; K . DYSON Party, State and Bureaucracy in Western Germany, 1 9 7 7 ; DERS. „Parteibuch"-Verwaltung (Fn. 132); U. LOHMAR Staatsbürokratie. Das hoheitliche Gewerbe, 1978; F. WAGENER Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, in: V V D S t R L Bd. 37 (1979) 2 1 5 ; H. H. v. ARNIM Ämterpatronage durch politische Parteien, 1980; G. R. BAUM u.a. Politische Parteien und öffentlicher Dienst, 1 9 8 2 ; SCHULZE-FIELITZ Verfassungsstaat (Fn. 129) bes. S. 142; M. WICHMANN Parteipolitische Patronage, 1986.

133

134

V g l . STEINKEMPER M i n i s t e r i a l v e r w a l t u n g ( F n . 1 3 3 ) S. 4 8 , 5 5 , s o w i e H . W . SCHMOLLINGER

hängig Beschäftigte in Parteien der Bundesrepublik, in: ZParl. 5 (1974) 58. 135

STEINKEMPER M i n i s t e r i a l v e r w a l t u n g ( F n . 1 3 3 ) S . 5 0 .

Ab-

§14

Politische Parteien (GRIMM)

647

Dieselbe Untersuchung beweist, daß die Mitgliedschaft in der Regierungspartei die Aufstiegschancen erhöht und die Karrierewege verkürzt. Die Parteimitglieder in Führungspositionen sind jünger als ihre parteilosen Kollegen. Außenseiter gehören regelmäßig der Regierungspartei an 136 . Selbst wenn es zutreffen sollte, daß die Verflechtung von Parteien und Verwaltung diese leistungsfähiger macht' 37 , fallen die demokratischen Kosten schwerer ins Gewicht, vom Verbot der Ämterpatronage in Art. 33 Abs. 2 GG ganz zu schweigen. Soweit es nicht primär Gesichtspunkte der Patronage, sondern der Kompen- 69 sation für das erhöhte politische Gewicht der Verwaltung sind, die zur Durchbrechung der Systemgrenzen führen, befindet sich die Justiz in einer ähnlichen Lage. Auch bei ihr mischen sich heute Rechtsanwendung und Rechtserzeugung stärker als früher. In besonderem Maß gilt das für das Bundesverfassungsgericht, dessen Prüfungsbefugnis sich auch auf die Entscheidungen des Gesetzgebers erstreckt. Im Gegensatz zur Verwaltung, die Ausführungsinstanz der politischen Staatsorgane ist und diesen gegenüber daher nicht unabhängig sein kann, hat die Justiz aber Kontrollfunktionen, die sie nur aus einer Position der Unabhängigkeit wahrzunehmen vermag. Daher eröffnet die Verfassung keinerlei Einflußmöglichkeiten der Politik auf richterliche Entscheidungen. Sie sind ausnahmslos illegitim. Die offene Flanke der richterlichen Unabhängigkeit bildet indes die Personalauswahl. Auch Richter bedürfen als Inhaber öffentlicher Gewalt einer demokratischen Legitimation. Damit sind sie aber, gleichgültig wo man die Richterberufung ansiedelt: beim Volk selbst durch Richterwahl, bei dem vom Volk gewählten Parlament oder bei der vom Parlament gewählten Regierung, in den Mechanismus parteipolitisch beeinflußter Rekrutierung einbezogen. Das Wahlverfahren, das die §§ 5 ff BVerfGG für Verfassungsrichter vorschreiben, trägt mit dem Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit zwar der Konsensfunktion der Verfassung Rechnung und verhindert, daß die Kontrollbefugnis einer Seite ausgeliefert wird, treibt die Richterwahl aber zwangsläufig in den Parteienproporz. Die qualifizierte Mehrheit führt de facto zum anteiligen Besetzungsrecht der großen Parteien mit Vetomöglichkeit für Extremfälle 138 . Wenn die Parteien unter diesen Umständen ihre Neigung nachgeben, das Verfassungsgericht wegen seiner Bedeutung für die Verwirklichung von Parteizielen mit Parteigewährsleuten zu besetzen, verstärkt das wiederum die Politisierung der Rechtsprechung und kann die Institution letztlich nur untergraben. Gewaltenteilende Funktionen erfüllt in der Verfassungsordnung der Bundesre- 70 publik schließlich auch der Föderalismus. Nachdem sein natürliches Substrat, die regionalen, landsmannschaftlichen, kulturellen und religiösen Unterschiede, weitgehend eingeebnet sind, wird der Gewaltenteilungsgedanke sogar zur wichtigsten Ersatzlegitimation für den Föderalismus. Der politische Prozeß kann sich unter 136

A l l e Angaben bei STEINKEMPFER Ministerialverwaltung (Fn. 133) S. 51 ff.

137

S o DYSON „ P a r t e i b u c h " - V e r w a l t u n g ( F n . 1 3 2 ) 1 5 7 .

138

Vgl. D. P. KOMMERS Judicial Politics in West Germany, 1 9 7 6 , S. 1 1 3 , zur Richterwahl ebenda; SCHULZE-FIELITZ Verfassungsstaat (Fn. 129) S. 30; R. LEY Die Wahl der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts, in: ZParl. 22 ( 1 9 9 1 ) 420.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

diesen Umständen nicht allein an Parteilinien orientieren. Diese werden vielmehr durch den Bund-Länder-Gegensatz gebrochen. Indessen läßt sich beobachten, daß die Bund-Länder-Differenz zunehmend von der Parteienstruktur überlagert wird 139 . Der wichtigste Schauplatz dieses Vorgangs ist dasjenige Organ, durch welches die Länder an der Bundesgesetzgebung mitwirken, der Bundesrat. Das Grundgesetz gewährt solche Mitwirkungsrechte, um in einem System stark verzahnter Kompetenzen, in dem der Bund vielfältige Einwirkungsmöglichkeiten auf die Erfüllung von Länderaufgaben besitzt, den Ländern auf Bundesebene ein Forum zur Wahrung ihrer Interessen zu schaffen. Je nach dem Grad der Betroffenheit der Länder sind auch die Mitwirkungsrechte des Bundesrats abgestuft. Sie gipfeln in der Zustimmungsbedürftigkeit einer Reihe von Bundesgesetzen, deren Zahl nicht ohne Hilfe des Bundesverfassungsgerichts inzwischen auf mehr als 50% angewachsen ist140. Wenn Bundestag und Bundesrat unterschiedliche parteipolitische Mehrheiten aufweisen, wird dieses Instrumentarium jedoch häufig nicht mehr aus landespolitischen, sondern aus parteipolitischen Motiven mobilisiert 141 . Die Oppositionsparteien im Bundestag benutzen dann ihre Mehrheit im Bundesrat dazu, Niederlagen, die ihre Bundestagsfraktionen im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren erleiden, nachträglich durch die Verweigerung der Zustimmung im Bundesrat wettzumachen. Ein alle Seiten befriedigender Kompromiß muß dann im Vermittlungsausschuß gefunden werden und kann in der Regel auf unveränderte Annahme in beiden Organen rechnen. 71

Die Uberlagerung der föderativen Gewaltenteilungslinie durch die Parteienstruktur hat Rückwirkungen auf das demokratische System. Soweit das Zustimmungsrecht des Bundesrats reicht, wird der politische Prozeß nicht mit der parlamentarischen Entscheidung abgeschlossen. Da die Opposition, vermittelt durch ihre Bundesratsmajorität, ein Vetorecht besitzt, ist sie vielmehr in der Lage, ein zusätzliches Verfahren zu erzwingen, das nicht mehr nach Wettbewerbsregeln mit abschließendem Mehrheitsentscheid, sondern nach dem Aushandlungsprinzip mit Konsenserfordernis verläuft. Im Zustimmungsbereich büßt die vom Volk mit der Staatsführung beauftragte Partei daher die Fähigkeit ein, ihr Regierungsprogramm zu verwirklichen. Staatswillensbildung erscheint stattdessen als Ergebnis eines Einigungsprozesses zwischen Mehrheit und Minderheit. Das Konkurrenzprinzip wird dadurch

139 14(1

141

Grundlegend dazu G . LEHMBRUCH Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 1976. Vgl. F. OSSENBÜHL Die Zustimmung des Bundesrates beim Erlaß v o n Bundesrecht, in: A ö R 99 ( 1 9 7 4 ) 4 0 3 ; E. FRIESENHAHN Die Rechtsentwicklung hinsichtlich der Zustimmungsbedürftigkeit v o n Gesetzen und Verordnungen des Bundes, in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische K r a f t , 1974, S. 267; D. GRIMM Die Zustimmung des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren, in: W. Hoffmann-Riem (Hrsg.) Sozialwissenschaften im Öffentlichen Recht, 1981, S. 112; B V e r f G E 8, 274 (294 f); 24, 184 (195 ff). Nähere Angaben bei F. K . FROMME Gesetzgebung im Widerstreit, 2. A u f l . 1976; ferner J . LAUFER Der Bundesrat als Instrument der Opposition? ZParl. 1 ( 1 9 7 0 ) 3 1 8 ; W. R. BANDORF D e r Bundesrat als Instrument der Parteipolitik, Diss. iur. Mannheim 1978; HENKE Recht der Parteien (Fn. 59) 369.

§14

Politische Parteien (GRIMM)

649

entwertet. An die Stelle der Parteienkonkurrenz tritt die Parteienkonkordanz' 42 . Der Konkordanzdemokratie fehlt aber die Transparenz wettbewerblich organisierter Entscheidungsverfahren. Infolgedessen findet auch das Publikum weniger Ansätze für Meinungsbildung und Interessenartikulation mit Wirkung auf das laufende Verfahren. Die beteiligten Parteien schließen sich gegen das Volk ab. Überdies verwischt der auf die parlamentarische Entscheidung folgende Aushandlungsprozeß die politische Verantwortlichkeiten. Jede Seite kann unüberprüfbar Erfolge für sich beanspruchen und Mißerfolge auf den Gegner schieben. Dadurch verliert die Wahl an Gewicht. Zum einen wird dem Wähler ein begründetes Urteil über erbrachte Regierungsleistungen erschwert. Zum anderen klärt die Wahl noch weniger als ohnehin schon, welche der konkurrierenden Parteien künftig mit welchem Programm regieren soll. Das System tendiert zu einer informellen Großen Koalition 143 und lockert im selben Maß die Rückbindung der staatlichen Herrschaft an das Volk, die der Parteienwettbewerb aufrechterhält. d) Parteien und autonome

Kontrolleinrichtungen

Die Tendenz der Parteien, machtlimitierende Systemgrenzen zu überspringen und 72 Teilsysteme auf diese Weise kurzzuschließen, bleibt nicht auf den staatsorganschaftlichen Bereich beschränkt. Dasselbe Phänomen läßt sich vielmehr auch dort beobachten, wo politische oder soziale Einflußpositionen zur Verfügung stehen, die dem unmittelbaren Staatszugriff im Interesse von Machtbegrenzung und Freiheitssicherung gerade entzogen sind. Ein systematischer Überblick, in welchem Ausmaß sich die Parteien solcher Bereiche bemächtigt haben, fehlt. Die Untersuchungen konzentrieren sich gewöhnlich auf Ämterhäufungen im politischen System selbst, während die Verflechtungen der Parteien mit den gesellschaftlichen Funktionsbereichen ausgespart werden 144 . Eine Bestandsaufnahme wäre indessen aus zwei Gründen aufschlußreich. Zum einen ließe sich auf diese Weise Klarheit darüber gewinnen, in welchen sozialen Sektoren die bereichsspezifischen Rationalitätskriterien außer Kraft gesetzt sind und Entscheidungen abweichend von den grundrechtlichen Intentionen nach politischen Gesichtspunkten fallen. Zum anderen könnte aufgehellt werden, wo der Zugang zu Berufen, Vermögenswerten, Einflußpositionen, Aufträgen etc. von der Parteizugehörigkeit abhängt und wie der damit verbundene Druck zum Engagement in den großen Parteien die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen und die Offenheit des politischen Prozesses beeinflußt. Beides zusammen erlaubte Rück142

Vgl. D. GRIMM Die Gegenwartsprobleme der Verfassungspolitik und der Beitrag der Politikwissenschaft, in: U. Bermbach (Hrsg.) Politische Wissenschaft und politische Praxis, P V S Sonderheft 9 (1978) S. 272, bes. 278; reichhaltiges Material bei SCHULZE-FIELITZ Verfassungsstaat (Fn. 129); ferner H. ABROMEIT Interessenvermittlung zwischen K o n k u r r e n z und K o n k o r d a n z , 1993.

143

V g l . LEHMBRUCH ( F n . 1 3 9 ) S . 1 3 6 .

144

So ausdrücklich H. KAACK Z u r Struktur der politischen Führungselite in Parteien, Parlament und Regierung, in: Handbuch des Parteiensystems, Bd. I (Fn. 91) S. 195; vgl. auch K . v. BEYME Die politische Klasse im Parteienstaat, 1 9 9 3 bes. S. 58 ff. Einige lokale Beispiele aber bei E. u. U. SCHEUCH Inner- und zwischenparteiliche Interessenverflechtungen, in: A u s Politik und Zeitgeschichte 3 4 - 3 5 / 9 2 , S. 41 f.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

schlüsse auf die Realisierungschancen von Verfassungszielen in der Parteiendemokratie. Es gibt freilich einen Bereich, in dem wegen seines besonders engen Bezugs zum Machterwerbszweck der Parteien auch ihre Expansionstendenzen besonders unverhüllt zutage treten: das sind die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten. Da dem Rundfunk ein entscheidender Einfluß auf den Wahlausgang beigemessen wird, unterliegen sie geradezu systembedingt parteipolitischen Instrumentalisierungsversuchen145. Deswegen machen sie auch die verfassungsrechtliche Problematik der Grenzüberschreitungen besonders augenfällig. 73

Die Verfassung verleiht dem Rundfunk genau wie der Presse einen grundrechtlich gesicherten Freiheitsstatus. Im Unterschied zur Presse wurde der Rundfunk aber traditionell als öffentliche Aufgabe verstanden und deswegen in Form öffentlichrechtlicher Anstalten bei gleichzeitiger Wahrung einer weitgehenden Autonomie geführt, so daß hier die individuelle Freiheit hinter die institutionelle zurücktrat. Ohne sich auf diese Rechtsform festzulegen, stellte das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1961 aus Anlaß der Gründung einer von der Bundesregierung abhängigen Fernsehanstalt fest, Art. 5 GG verlange, daß „dieses moderne Instrument der Meinungsbildung weder dem Staat noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert wird", und trug in einem weiteren Urteil den Landesgesetzgebern auf, dafür zu sorgen, daß die Rundfunkanstalten „staatsfrei und unter Beteiligung aller relevanten gesellschaftlichen Kräfte" betrieben werden146. An diesen Grundsätzen hielt das Gericht auch nach dem Übergang zum dualen Rundfunksystem fest147. Die Rundfunkgesetze und -staatsverträge sehen daher gesellschaftliche Aufsichtsgremien vor, die entweder nach einem ständischen Prinzip von bestimmten, als relevant betrachteten Gruppen beschickt oder von den Volksvertretungen, die als Staatsorgane den Rundfunk nicht selbst kontrollieren dürfen, gewählt werden. In beiden Fällen kommen jedoch die politischen Parteien zum Zuge, sei es unmittelbar in ihrer Eigenschaft als relevante gesellschaftliche Gruppe, sei es mittelbar durch Abgeordnete oder Regierungsmitglieder, denen eine begrenzte Anzahl von Sitzen eingeräumt wird. Ihre Zahl liegt derzeit bei großen Unterschieden in den einzelnen Anstalten etwas unter einem Drittel. Ähnlich verhält es sich bei den Landesmedienanstalten, die den privaten Rundfunk beaufsichtigen, aber als senderexterne Gremien weniger Einfluß auf die Programme nehmen können.

74

Im Gegensatz zu den übrigen Gruppen sind die Parteien freilich nicht nur gesellschaftliche Kräfte, sondern zugleich die bestimmenden Faktoren im Staat. Ihre Anwesenheit in den Aufsichtsgremien der Rundfunkanstalten stellt daher deren Staatsfreiheit in Frage. Das Problem ist mit Formeln, die den grenzüberschreitenden Charakter der Parteien ignorieren, nicht aus der Welt zu schaffen. Angesichts der Doppelrolle der Parteien muten vielmehr alle Rechtfertigungsversuche vordergrün145

146 147

Vgl. mit umfassenderer Begründung H. SCHATZ Zum Stand der politikwissenschaftlich relevanten Massenkommunikationsforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: PVS-Sonderheft 9 (Fn. 142) S. 434; ferner W. LANGENBUCHER/M. LIPP Kontrollieren Parteien die politische K o m munikation? in: Bürger und Parteien (Fn. 26) S. 217. B V e r f G E 12, 205 (262); 31, 3 1 4 (329). B V e r f G E 57, 295 (322); 73, 1 1 8 (152 ff); 83, 238 (295 ff).

§14

Politische Parteien (GRIMM)

651

dig an, die zwischen Parteien und Staatsorganen trennen und die Parteivertreter in den Rundfunkräten lediglich als Delegierte freier gesellschaftlicher Gebilde ansehen oder die Anwesenheit von Abgeordneten billigen, solange sie nur von ihrer Partei und nicht vom Parlament entsandt sind 148 . Nicht weniger formal erscheint es, die Mitwirkung der Parteien schon dann hinzunehmen, wenn sie in der Minderheit bleiben und deswegen von den anderen Gruppen überstimmt werden können 149 . Der Einfluß der Parteien in den Rundfunkräten bemißt sich nämlich nicht allein nach ihrem Stimmenanteil. Die Parteien streben nach staatlicher Macht, die nur über Wahlerfolge zu erringen und zu bewahren ist. Zu diesem Zweck sind sie auf Kommunikation mit dem Wähler angewiesen. Solange die Überzeugung vorherrscht, daß das Femsehen Wahlen entscheiden kann 150 , werden sie daher einen starken Drang nach Kontrolle dieses Mediums entfalten. Die Parteien befinden sich dadurch gegenüber den Rundfunkanstalten in einer Position erheblich höherer Interessiertheit als die anderen, von den Medien weniger existentiell und umfassend betroffenen Gruppen. Von dieser Position aus ist es ihnen gelungen, schwächere oder engere Interessen hinter sich zu sammeln und so in den Aufsichtsgremien trotz ihrer Stimmenminderheit das parteipolitische Prinzip dominant zu machen. Die an die Systemgrenzen von Staat und Gesellschaft nicht gebundenen Parteien üben auf diese Weise maßgebenden Einfluß in den Rundfunkanstalten aus. Unmittelbar wirkt sich dieser Einfluß im Personalbereich aus. Durch die infor- 75 melle Gliederung der Aufsichtsgremien in sogenannte Freundeskreise der großen Parteien ist es möglich geworden, Personalentscheidungen an parteipolitischen Gesichtspunkten auszurichten. In der Personalpolitik der Rundfunkanstalten herrscht daher ein System des Parteienproporzes, das keineswegs bei den Intendanten und Programmdirektoren halt macht und gelegentlich sogar anstaltsübergreifende Personalpakete hervorbringt. Nach einer Untersuchung aus dem Jahr 1974 gehörten nicht weniger als 50% der Inhaber von Führungspositionen in den Rundfunkanstalten den großen Parteien an, von dem vergleichbaren Personenkreis in der Presse jedoch nur 23% 151 . Dieser durch die institutionellen Kanäle geleitete Einfluß wird von einer ständigen „programmbegleitenden Protestpraxis" 152 ergänzt, die sich juristisch auf 148

149

150

151 152

Die erste Aussage bei H. P. IPSEN Mitbestimmung im Rundfunk, 1 9 7 2 , S. 70, die zweite bei E. WUFKA Die verfassungsrechtlich-dogmatischen Grundlagen der Rundfunkfreiheit, 1 9 7 1 , S. 98 Anm. 559. So O V G Lüneburg in: Media Perspektiven 1 9 7 8 , 8 2 3 (829 F); ähnlich anscheinend H. D . JARASS Die Freiheit der Massenmedien, 1978, S. 2 8 1 . Vgl. dazu E. NOELLE-NEUMANN Das doppelte Meinungsklima. D e r Einfluß des Fernsehens im Wahlkampf, in: P V S 1 8 (1977) 408; K . MERTEN Zweierlei Einfluß der Medien auf die Wahlentscheidung, in: D. P r o k o p (Hrsg.) Medienforschung, Bd. 2, 1 9 8 5 , S. 1 1 6 ; aus der Sicht eines Wahlkampfleiters P. RADUNSKI Wahlkämpfe, 1 9 8 0 , S. 60. Keine Bestätigung f ü r die W i r k u n g s these finden H. KELLER/M. BUSS Fernsehen im Alltag — oder: was hat das Fernsehen mit der Bundestagswahl zu tun? in: Media Perspektiven 1 9 8 2 , 233, sowie M. Buss/R. EHLERS Mediennutzung und politische Einstellung im Bundestagswahlkampf 1 9 8 0 , ebenda, S. 237. M. SCHATZ-BERGFELD Massenkommunikation und Herrschaft, 1 9 7 4 , S. 170. N. SCHNEIDER Parteieneinfluß im Rundfunk, in: J. A u f e r m a n n u . a . (Hrsg.) Fernsehen und Hörfunk f ü r die Demokratie, 1 9 7 9 , S. 1 2 1 . Vgl. auch R. HOFMANN Pressionen auf politische Magazine, ebenda S. 3 0 1 .

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

ein falsch interpretiertes Ausgewogenheitspostulat stützt. Sie entfaltet ihre Wirkung in einer schwer meßbaren „präventiven Sensibilisierung" 1 5 3 der Journalisten, denen eine Art Selbstzensur zur Gewohnheit wird. Daß die Parteien untereinander in Konkurrenz stehen, verhindert den Regierungsrundfunk, ändert aber an der parteipolitischen Rücksichtnahme in den Sendungen nichts. Zwar protestiert jede einzelne nur im Eigeninteresse und also gegen jeweils andere Sendungen. In der Summe deckt der Protest aber den Bereich der politischen Programme ab und bewirkt weniger eine Ausgewogenheit der Kritik als eine Ausgewogenheit im Verschweigen. Die verfassungsrechtlichen Rückwirkungen sind gravierend. Die Kritik- und Kontrollfunktion des Rundfunks gegenüber der Politik, deretwegen er vom Grundgesetz gerade staatsfrei gestellt ist, leidet beträchtlich. Wenn die Parteien im Staat und im Rundfunk bestimmen können, wird der Kontrollierte sein eigener Kontrolleur, und das kunstvolle System des zwar staatsfreien, aber doch nicht allein privaten Anbietern überlassenen Rundfunks ist kurzgeschlossen 154 . Über die politischen Parteien gerät es auf diese Weise doch wieder in die Nähe des Staatsrundfunks. Da das Verhalten der Parteien unter dem für sie überragenden Gesichtspunkt des Machterwerbs rational ist, versprechen Appelle an ihre bessere Einsicht, anders als etwa bei Verfassungsrichtern, keine Abhilfe. Die Voraussetzungen eines seif restraint sind im Kontrollsystem der Rundfunkanstalten nicht enthalten 155 . Die Rundfunkfreiheit ist unter diesen Umständen durch das Verbot der Zensur und des Staatsrundfunks in Art. 5 GG allein nicht mehr hinreichend zu gewährleisten. Sie darf angesichts der systemüberschreitenden Doppelrolle der Parteien nicht auf den Staat fixiert bleiben. Vielmehr muß der Versuch gemacht werden, statt zwischen Staat und Gesellschaft stärker zwischen Kommunikationssystem und Machtsystem zu scheiden 156 . Eine solche Scheidung verlangt auch institutionelle Vorkehrungen gegen die Parteien. Allerdings läßt sich das Ziel schwerlich durch ein generelles Verbot der Parteivertretung erreichen. Im Maß, wie der Rundfunk zum wichtigsten Selbstdarstellungsmittel der Politiker geworden ist, sich eigenständig zur Politik

153 154

W. LANGENBUCHER/M. LIPP Politische Kommunikation, in: Bürger und Parteien (Fn. 26) S. 227. Vgl. dazu etwa H. MEYN Gefahren für die Freiheit von Rundfunk und Fernsehen? in: Aus Politik und Zeitgeschichte 48/1969, S. 17; C. STARCK Rundfunkräte und Rundfunkfreiheit, in: ZRP 1970, 217; DERS. Rundfunkfreiheit als Organisationsproblem, 1973; damit bis auf einige Kürzungen sowie Aktualisierungen in den Anmerkungen praktisch wortgleich O. SCHLIE Organisation und gesellschaftliche Kontrolle des Rundfunks, in: Aufermann, Fernsehen und Hörfunk (Fn. 152) S. 52; J . SEIFERT Probleme der Parteien- und Verbandskontrolle von Rundfunk- und Fernsehanstalten, in: R. Zoll (Hrsg.) Manipulation der Meinungsbildung, 2. Aufl. 1972, S. 124; W. LANGENBUCHER/W. MAHLE „Umkehrproporz" und kommunikative Relevanz, in: Publizistik 18 (1973) 322; W. HOFFMANN-RIEM Rundfunkorganisation und Rundfunkfreiheit, 1975, bes. S. 143; G. HERRMANN Fernsehen und Hörfunk in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 328; R. FRITZ Massenmedium Rundfunk — Die rechtliche Stellung der Rundfunkräte und ihre tatsächliche Einflußnahme auf die Programmgestaltung, Diss. iur. Frankfurt, 1977; W. KEWENIG ZU Inhalt und Grenzen der Rundfunkfreiheit durch Rundfunkorganisation, 1979, S. 46; P. LERCHE Landesbericht Bundesrepublik Deutschland, in: M. Bullinger/F. Kübler (Hrsg.) Rundfunkorganisation und Kommunikationsfreiheit, 1979, S. 15, bes. 75.

155

V g l . HOFFMANN-RIEM R u n d f u n k f r e i h e i t (Fn. 1 5 4 ) S . 6 0 .

156

V g l . LANGENBUCHER/MAHLE U m k e h r p r o p o r z (Fn. 1 5 4 ) 3 2 5 .

§14

Politische Parteien (GRIMM)

653

äußert und damit die Einstellungsmuster in der Bevölkerung beeinflußt, kann er nicht parteifrei gehalten werden. Der Parteieinfluß würde sich über die Interessengruppen Eingang in die Rundfunkräte verschaffen. Ein Gewinn läge aber bereits in der Verminderung der parteipolitisch besetzten Plätze. Sie könnte durch Inkompatibilitäten mit staatlichen Ämtern ergänzt werden. Demgegenüber wären Gruppen wie etwa wissenschaftliche oder kulturelle zu stärken, die sich weniger leicht auf Parteilinien verpflichten lassen als die Verbände. In diesem Zusammenhang gewinnt eine Fernsehentscheidung des Bundesverfassungsgerichts Bedeutung, mit der eine von der FDP erhobene Organklage auf Vertretung im Rundfunkrat des NDR als unzulässig abgewiesen wurde157. Das Gericht begründete dies damit, daß sich aus dem Recht der Parteien, an der Willensbildung des Volkes mitzuwirken, kein Entsendungsrecht in Aufsichtsgremien von Rundfunkanstalten ableiten lasse. Die Mitwirkung im Rundfunkrat sei keine Mitwirkung an der Volkswillensbildung im Sinn von Art. 21 GG. Die Entscheidung enthält allerdings Passagen, die als Ansatz zu einer restrikti- 77 veren Haltung gegenüber den Parteien überhaupt interpretiert werden können. Das Bundesverfassungsgericht stellt nämlich die Ziele der politischen Parteien und den Zweck der Rundfunkräte gegenüber. Da die Parteien für ihre Uberzeugungen werben wollten und auf Wahlgewinn ausgerichtet seien, gehe es bei der Mitwirkung an der Willensbildung des Volkes notwendig um eine „gezielte Beeinflussung der individuellen und öffentlichen Meinungsbildung im Sinne der von ihnen entwickelten und vertretenen politischen Auffassungen". Dagegen sei es die Aufgabe des Rundfunkrates, „den Prozeß der freien Meinungsbildung offen zu halten". Das Bundesverfassungsgericht zieht daraus den Schluß, daß sich die Aufgabe der politischen Parteien und die des Rundfunkrates nach Ziel und Zweck in grundsätzlicher Weise voneinander unterscheiden. Mit diesem Argument wäre freilich nicht nur die Abweisung der Klage einer übergangenen Partei, sondern ein Verbot jeglichen parteipolitischen Einflusses im Rundfunkrat begründbar gewesen. Indessen hat sich das Gericht von dem ersten Fernsehurteil, das Staatsvertreter in angemessener Zahl für zulässig erachtet hatte, bisher nicht entfernt158. Letztlich stellt die Entscheidung das Prinzip der ständischen Rundfunk-Kontrolle gänzlich in Frage, denn keine der im Rundfunkrat vertretenen Organisationen besitzt als solche ein Interesse an der Offenhaltung der Kommunikation, sondern nur an der angemessenen Berücksichtigung oder zumindest nicht Vernachlässigung ihres Eigeninteresses. Die Offenheit der Kommunikation ist verbandlich gar nicht organisierbar. Sie kann nur das Resultat eines Prozesses sein, dem gegenwärtig von den politischen Parteien freilich die stärkste Gefahr droht.

III. Staatsrechtslehre und Parteienproblematik Die politischen Parteien sind anders als die Staatsorgane nicht eigentlich Geschöpfe 78 der Verfassung. Sie besitzen ein natürliches Substrat in den unterschiedlichen Interessen und Ordnungsvorstellungen in der Gesellschaft. Sobald ein politisches System 157 158

BVerfGE 60, 53; vgl. weiter BVerfGE 83, 238 (332 ff). BVerfGE 12, 205 (263); 83, 238 (330).

654

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

auf der Basis gesellschaftlicher Beteiligung an staatlichen Entscheidungen errichtet wird, ist ihre organisatorische Verfestigung die notwendige Folge. Das macht sie von ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Anerkennung unabhängig. Auch Art. 21 GG wirkt für die Funktion der Parteien nicht konstitutiv. Sie wären ohne diese Vorschrift ebenso vorhanden und — da das Grundgesetz eine repräsentative Demokratie vorsieht — nicht weniger legitim. Um so stärker scheint aber die Verfassung von den Parteien abhängig zu sein. Der Verfassungsstaat ging den Parteien zwar voran. Seine Einrichtungen haben sich mit ihrem Erscheinen jedoch gewandelt, ohne daß dies den Verfassungstexten stets anzumerken wäre. Da sich die Parteien wegen ihrer Vermittlungsfunktion nicht auf die Systemgrenze von Staat und Gesellschaft festlegen lassen, entgleiten sie einer Verfassung, die auf diesen Dualismus zugeschnitten ist159. Als input-Struktur für den Staatsapparat sind sie seiner Binnengliederung vorgelagert und relativieren diese. Hinter den geteilten Gewalten kommen allemal die Parteien zum Vorschein. Daher hemmen und balancieren weitgehend nicht mehr verselbständigte Organe einander, sondern die Parteien kooperieren mit sich selbst in verschiedenen Rollen. 79 Die machtbegrenzende Kraft der Verfassung nimmt auf die Weise ab, und die Machtkontrolle findet zum Teil nur noch im Parteiensystem selbst statt. Die konkurrierenden Parteien bewachen sich gegenseitig. Indessen kann diese Form der Kontrolle nur in dem Maße funktionieren, wie das Konkurrenzverhältnis reicht, und muß dort versagen, wo die Parteien gleichgelagerte Interessen verfolgen. Das Grundgesetz hat auf diese Entwicklung zu reagieren versucht, indem es die Parteien einerseits verfassungsrechtlich anerkannte und in ihrer funktionsnotwendigen Freiheit absicherte, ihnen andererseits aber auch Bindungen auferlegte, die sie für ihre bestimmende Rolle im demokratischen Staat ausrüsten sollten. Sie erhalten dadurch einen verfassungsrechtlich eigentümlichen, funktionsadäquaten Status aus Freiheit und Bindung, wie er sonst weder im staatlichen Bereich, der prinzipiell durch Kompetenzen, noch im gesellschaftlichen Bereich, der prinzipiell durch Freiheiten charakterisiert ist, vorkommt. Indessen läßt sich beobachten, daß die Parteien mit ihrer verfassungsrechtlichen Anerkennung und dem im Wege der Selbstcharakterisierung beschlossenen Aufgabenkatalog des § 1 PartG zu wuchern pflegen, wenn es um die Verteidigung oder Ausweitung von Privilegien geht, während sich die verfassungsrechtlichen Bindungen als verhältnismäßig ineffektiv erwiesen haben und auch die Bereitschaft der Parteien, sie gesetzlich zu effektivieren, weitgehend fehlte. Der Nachteil liegt bislang auf selten der Verfassung. 80 Für die Staatsrechtslehre folgt daraus zweierlei. Zum einen kann sie angesichts der parteipolitischen Durchdringung aller Verfassungsinstitutionen nicht in gewohnter Weise fortfahren, die Staatsorgane nach Zusammensetzung, Kompetenz und Verfahren zu schildern, als gäbe es keine Parteien, und diese dann als „politische Kräfte" 159

Vgl. D. GRIMM Die Zukunft der Verfassung, 1991, bes. S. 422 ff; M. KLOEPFER Zur Veränderung v o n Verfassungsinstitutionen durch politische Parteien, in: Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand, 1984, S. 64; SCHULZE-FIELITZ Verfassungsstaat (Fn. 129) bes. S. 105 ff.

§14

Politische Parteien (GRIMM)

655

lediglich danebenstellen. Staatsorgane und Parteien sind vielmehr von vornherein zusammenzudenken, wenn die moderne Demokratie nur als Parteiendemokratie möglich ist. Zum anderen muß die Staatsrechtslehre, wenn das unveränderte Verfassungsziel der Begrenzung staatlicher Macht zugunsten bürgerlicher Freiheit auch unter den Bedingungen der Parteiendemokratie aufrechterhalten werden soll, den machtbegrenzenden Wirkungen im Parteiensystem selbst verstärkte Aufmerksamkeit schenken. Dabei geht es gewissermaßen um eine Umkehr der von L E I B H O L Z in die Staatsrechtslehre eingeführten Tendenz, doch ohne den Parteienargwohn, der die Einstellung mancher konservativer Staatsrechtslehrer prägte160. Als L E I B H O L Z in der Weimarer Republik seine Parteienstaatstheorie entwickelte, die der Ausbreitung der Parteien im Staat die Rechtfertigung lieferte, besaß sie eine befreiende Wirkung. Die Parteien wurden, nachdem sie zum bestimmenden Faktor des Verfassungslebens geworden waren, ohne doch in der Verfassung vorzukommen, auch zum legitimen Thema der Staatsrechtslehre, die damit ihren Bezug zur politischen Wirklichkeit wiederherstellte. Inzwischen bietet sich aber eine veränderte Situation dar. Mit der verfassungs- 81 rechtlichen Legitimation des Art. 21 GG im Rücken und nicht immer ohne die Hilfe des anfangs stark von LEIBHOLZ beeinflußten Bundesverfassungsgerichts hat die Bundesrepublik eine ständig wachsende Expansion und Etatisierung der Parteien erlebt. Sie beanspruchen heute ein Repräsentationsmonopol für die Gesellschaft in allen politischen Fragen und benutzen die staatliche Macht zu seiner Absicherung, nicht selten auch zur Selbstbegünstigung161, drohen darüber jedoch, je perfekter sie es ausdehnen, ihre innere Repräsentativität für die Bedürfnisse und Anliegen der Bevölkerung zu verlieren. In ihrem Wettstreit um Wählerstimmen entwickeln sie sich zu „zentralen Dienstleistungsbetrieben", und fungieren als „Anbieter eines breiten und differenzierten Dienstleistungsangebots", wie sie im Parteifinanzierungsstreit von 1979 selbst verräterisch formulierten162. Sie wecken dadurch Erwartungen, die großenteils nicht erfüllbar sind, und gewinnen eine Allgegenwärtigkeit, die zum Parteienverdruß Anlaß gibt und viele Bürger auf alternative Wege des politischen Engagements oder in die Politikabstinenz treibt163. Insofern die verfassungsrechtlichen Zielvorgaben unter den jeweiligen Bedingungen optimal realisiert werden müssen, ist daher im Interesse des verfassungsrechtlichen Offenheitspostulats heute eher Gegensteuerung als Tendenzverstärkung nötig. 160

161

Paradigmatisch W. WEBER Spannungen und K r ä f t e im westdeutschen Verfassungssystem, 3. A u f l . 1970. Vgl. Η. Η. v. ARNIM Macht macht erfinderisch, 1988; H.-P. SCHNEIDER Gesetzgeber in eigener Sache, in: D. Grimm/W. Maihofer (Hrsg.) Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, 1 9 8 8 , S. 327; GRIMM P a r l a m e n t ( F n . 1 1 7 ) S. 2 1 3 .

162 163

Vgl. B V e r f G E 52, 63 (68). Vgl. aus der immer weiter wachsenden Liter? tur etwa SCHEER Parteien kontra Bürger (Fn. 83); RASCHKE Bürger und Parteien (Fn. 26) bes. S. 1 0 f f („Überanpassung, Übergeneralisierung, Überinstitutionalisierung, Überforderung"); B. GUGGENBERGER/U. KEMPF (Hrsg.) Bürgerinitiativen und repräsentatives System, 2. A u f l . 1984; A . MINTZEL Die Volkspartei, 1984; W. FROTSCHER Die Parteienstaatliche Demokratie, in: DVB1. 1985, 9 1 7 ; K . - M . MEESSEN Parteienstaatlichkeit — Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaats, in: N J W 1985, 39; M. STOLLEIS/H. SCHÄFFER/R. RHINOW P a r t e i e n s t a a t l i c h k e i t — K r i s e n s y m p t o m e d e s d e m o k r a t i s c h e n

656

82

3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

Das Verfassungsrecht hat dabei freilich nur auf die Randbedingungen Einfluß. Zum einen bietet sich die Stärkung der Kontrollkräfte innerhalb des Parteiensystems selbst durch Abbau konkurrenzhemmender Privilegien für etablierte Parteien an. Dem steht freilich die Sorge entgegen, daß sich dann das Parteienspektrum ausweiten und die Stabilität der Bundesrepublik erschüttern könnte. In der Tat läßt sich bezweifeln, daß die verbreitete Volksparteikritik und die empfohlene Rückkehr zu Interessen- oder Weltanschauungsparteien sinnvoll ist, zumal sich die Thesen vom deutschen Parteiensystem als „pluraler Fassung der Einheitspartei" oder von der „Opposition ohne Alternative" als kurzlebig erwiesen haben164. Indessen steht verfassungsrechtlich gar nicht die Gestalt des Parteiensystems, sondern nur seine Innovationsfahigkeit zur Debatte. W I L D E N M A N N hat dazu bemerkt, daß die Erneuerung auf zwei Wegen erfolgen könne: „erstens durch eine Reform bestehender Parteien, zweitens durch Parteineugründungen. Das erstere wird in der Regel um so eher der Fall sein, je weniger das zweite behindert ist" 165 . Zum anderen müßten die Eintrittsschwellen für die Parteien in allen nicht genuin parteipolitischen Bereichen institutionell so hoch wie möglich liegen. Das gilt insbesondere für alle staatlichen und gesellschaftlichen Kontrollinstanzen von Politik. Da auf den parteipolitisch beherrschten Gesetzgeber dabei wenig Verlaß ist, kann der Anstoß nur von der Öffentlichkeit, der Wissenschaft und dem Bundesverfassungsgericht kommen. Verfassungsstaats,

in: V V D S t R L

Bd. 44

(1986) 7, 4 6 u n d

8 3 ; C H R . V. K R O C K O W / P .

LÖSCHE

( H r s g . ) Parteien in der Krise, 1986; P. HAUNGS/E. JESSE ( H r s g . ) Parteien in der Krise? 1987; U. FEIST/K. LIEPELT Modernisierung zu Lasten der Großen. Wie die deutschen Volksparteien ihre Integrationskraft verlieren, in: Journal f. Sozialforschung 27 (1987) 230; R. ROTH/D. RUCHT ( H r s g . ) N e u e soziale B e w e g u n g e n in der Bundesrepublik Deutschland, 1987; G . - K . KALTENBRUNNER (Hrsg.) Volksparteien ohne Zukunft? 1988; R. WILDENMANN (Hrsg.) Volksparteien — Ratlose Riesen? 1989; U . C. WASMUTH (Hrsg.) Alternativen zur alten Politik? 1989; E. WIESENDAHL Der Marsch aus den Institutionen, in: A u s Politik und Zeitgeschichte 21/90, 1990; DERS. Volksparteien im A b s t i e g , in: A u s Politik und Zeitgeschichte 34—35/92, 1992; R. STÖSS Parteikritik und Parteiverdrossenheit, in: A u s Politik und Zeitgeschichte 21/90, 1990; H . NASSMACHER A u f - und A b s t i e g v o n Parteien, in: K . Schmitt (Hrsg.) Wahlen, Parteieliten, politische Einstellungen, 1990, S. 177; E . und U. SCHEUCH Cliquen, K l ü n g e l und Karrieren, 1992; P. HAUNGS Aktuelle Probleme der Parteiendemokratie, in: Jahrbuch für Politik 2 (1992) S. 37; A . MINTZEL/ H. OBERREUTER ( H r s g . ) Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1992; K . STARZACHER u. a. ( H r s g . ) Protestwähler und Wahlverweigerer. K r i s e der Demokratie? 1992; W. ZEH D i e deutsche Parteienprüderie in neuen Kleidern, in: Staat und Parteien, F S für R. Morsey, 1992, S. 1009; R. v. WEIZSÄCKER Richard v o n Weizsäcker im Gespräch, 1992; dazu G . HOFMANN/ W. A . PERGER (Hrsg.) Die Kontroverse. Weizsäckers Parteienkritik in der D i s k u s s i o n , 1992; J . RÜTTGERS Dinosaurier der Demokratie. Wege aus der Parteienkrise und Politikverdrossenheit, 1993; v. BEYME Politische K l a s s e (Fn. 144). 164

J . AGNOLI D i e Transformation der Demokratie, 1968, S. 40; M. FRIEDRICH Opposition ohne Alternative, 1962, als Beispiel für weitere. Z u r Kritik der Volkspartei vgl. ROWOLD Im Schatten der Macht (Fn. 59) S. 52 ff; H. W. SCHMOLLINGER/R. STÖSS Sozialstruktur und Parteiensystem, in: D . Staritz (Hrsg.) D a s Parteiensystem der Bundesrepublik, 2. Aufl. 1980, S. 229; W. D . NARR ( H r s g . ) A u f dem Weg z u m Einparteienstaat, 1977 (darin vor allem H. KASTE/J. RASCHKE Zur Politik der Volkspartei, S. 26); OFFE Konkurrenzpartei (Fn. 83) und als Ahnvater KIRCHHEIMER Wandel des Parteiensystems (Fn. 57) 20; aus anderer Richtung aber auch HENNIS Regierbarkeit (Fn. 26). Kritisch dazu HAUNGS Parteiendemokratie (Fn. 13) S. 63; v. BEYME Parteien (Fn. 1) S. 415.

165

WILDENMANN G u t a c h t e n ( F n . 9 1 ) S. 59.

§15 Verbände DIETER

GRIMM

Übersicht Rdn. I. Verbände als Verfassungsproblem 1 — 12 1. Die Bedeutung der Verbände im demokratischen System 1—6 2. Die Entwertung der Verfassung im kooperativen Staat 7— - 1 12 2

Rdn. II. Verfassungsrechtliche Lösungsansätze 13-24 1. Konstitualisierung der Verbände 13 — 18 2. Anforderungen an kooperatives Handeln 19-24

I. Verbände als Verfassungsproblem 1. Die Bedeutung der Verbände im demokratischen System Das Grundgesetz läßt die Verbände unerwähnt. Verfassungsrechtlich sind sie ein 1 nicht gesondert geregelter Unterfall der Vereinigungen und Gesellschaften des Art. 9 GG. Als solche genießen sie Grundrechtsschutz gegenüber dem Staat. Für die Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, wie das Grundgesetz die Tarifpartner umschreibt, wird der Grundrechtsschutz in Art. 9 Abs. 3 GG nochmals ausdrücklich bekräftigt und mit Drittwirkung versehen. Zwar verweist der Grundrechtsstatus die Vereinigungen nicht von vornherein in den Bereich des Unpolitischen. Das machen die Verbotsgründe in Art. 9 Abs. 2 GG deutlich. Das Grundgesetz behandelt sie aber als vom Staat distanzierte, rein gesellschaftliche Gebilde und räumt ihnen im Unterschied zu den politischen Parteien keinen Anteil an der politischen Willensbildung ein. Infolgedessen fehlen auch verfassungsrechtliche Anforderungen an ihre innere Ordnung, wie sie Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG den Parteien auferlegt. Da es die Vereinigungen als Bestandteil der Gesellschaft betrachtet, kümmert sich das Grundgesetz um ihre Freiheit vom Staat, nicht um ihre Einordnung in den Staat. Das Vereinsrecht des BGB, das den Freiheitsstatus ausgestaltet, tut dies unter großzügiger Wahrung der Privatautonomie. Er unterstellt die Außenbeziehungen der Vereinigungen gar keinen besonderen Regeln und überläßt ihre Binnenstruktur weitgehend der eigenen Entscheidung. Der Freiheitsschutz des Vereinsmitglieds gegenüber der Gruppe liegt in seinem Austritts-

658

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

recht, das ebenfalls von der Garantie des Art. 9 GG umfaßt wird und die Ausübung von Privatmacht ohne Einwilligung der Betroffenen verhindert. 2 Empirisch betrachtet, besteht die Besonderheit der Verbände freilich gerade darin, daß sie sich nicht auf einen gesellschaftlichen Wirkungskreis beschränken. Zum Organisationszweck gehört vielmehr ausdrücklich die Einflußnahme auf staatliche Entscheidungsträger einschließlich der politischen Parteien zugunsten der Verbandsmitglieder. In dieser Eigenschaft sind die Verbände aber Bestandteil des politischen Systems, das mit dem Staat nicht mehr identisch ist, sondern ihn umfaßt, und fungieren nächst den Parteien als wichtigste Vermittlungsinstanz zwischen Volk und Staat. Von dem Modell des privaten Vereins, an dem sich die Regelungen des BGB orientierten, haben sie sich auf diese Weise längst entfernt1. Konnte das Vereinsrecht des BGB sich noch ganz auf das Regulativ der Privatautonomie verlassen, weil die Vereine nur private Zwecke verfolgten und nicht über den Kreis ihrer Mitglieder hinauswirkten, denen es im übrigen freistand, den Verein bei mangelndem Einverständnis zu verlassen, so fehlen bei den Verbänden gerade diese Voraussetzungen. Als Großorganisationen mit einem Bündel von Zwecken und bürokratischer Verwaltung treten sie einerseits ihren Mitgliedern als selbständige Macht entgegen, mit der eine Identifikation nicht durchweg möglich ist, ohne daß stets das Korrektiv des Verbandswechsels oder der Verbandsneugründung eingriffe. Andererseits stehen sie mit Verfügungsmacht über politisch knappe Güter wie Information und Konsens dem Staat gegenüber und können ihn bei Entscheidungen, die die Verbandszwecke berühren, unter Druck setzen. Unter diesen Umständen wird aber sowohl das Innenverhältnis zwischen Verbänden und Mitgliedern als auch das Außenverhältnis zum Staat zum Problem, auf das das BGB keine Antwort gibt. 3

Die Staatsrechtslehre sah von den beiden Problemen anfangs nur das letztere. Die Verbände erschienen ihr als Gefahr für die Entscheidungsfreiheit des Staates und damit seine Fähigkeit, einen gerechten Interessenausgleich herbeizuführen2. ESCHENBURGS „Herrschaft der Verbände" lieferte dafür eine Fülle empirischer Belege3. Bezugspunkt der Staatsrechtslehre war die innere Souveränität des Staates als Voraussetzung seiner Widerstandskraft gegen die Pressionen partikularer Interessen. Das Mittel zur Souveränitätswahrung erblickte sie in der Unterbindung des Verbandseinflusses auf staatliche Entscheidungen und der Beschränkung der Verbände auf Servicefunktionen für ihre Mitglieder. Als Vermittler zwischen Volk und Staat blieben dann nur die Parteien übrig, die K A I S E R ausdrücklich der Staatsseite zu1

2

3

Dazu besonders eindrücklich G. TEUBNER Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, 1978, S. 6. Vgl. etwa W. WEBER Spannungen und K r ä f t e im westdeutschen Verfassungssystem, 3. A u f l . 1970, insbes. S. 36 und 243; E. FORSTHOFF Der Staat der Industriegesellschaft, 1 9 7 1 , S. 17, 25, 119; auch J. H. KAISER Die Repräsentation organisierter Interessen, 1956; H. HUBER Staat und Verbände, 1958. Dazu R. STEINBERG Staatslehre und Interessenverbände, Diss. jur. Freiburg 1 9 7 1 ; DERS. Pluralismus und öffentliches Interesse als Problem der amerikanischen und deutschen Verbandslehre, in: A ö R 96 ( 1 9 7 1 ) S. 465. T. ESCHENBURG Herrschaft der Verbände? 1955.

§15

Verbände

(GRIMM)

659

schlug4, während die Verbände dadurch den sonstigen Vereinigungen wieder angenähert, Norm und Wirklichkeit zur Deckung gebracht worden wären. In dieser Zielsetzung kommen in abgeschwächter Form Elemente des grundsätzlichen Antipluralismus C A R L SCHMITTS wieder zum Vorschein, für den die Entpolitisierung der Gesellschaft Bedingung der politischen Machtentfaltung des Staates in seinen Außenbeziehungen war 5 . Gesellschaftlicher Pluralismus und souveräne Staatlichkeit stehen danach in einem Ausschließungsverhältnis: die Entwicklung des einen geht notwendig auf Kosten des anderen. Das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit sollte daher auch nur private, nicht politische Vereinigungen schützen. Intermediäre Gruppen, Parteien nicht ausgenommen, bedrohten den Staat. Indessen findet diese Form des Antipluralismus im Grundgesetz keine Stütze. 4 Das Grundgesetz geht vielmehr von der tatsächlich anzutreffenden Meinungs- und Interessenvielfalt in der Gesellschaft aus und erkennt sie als legitim an. Staatliche Einheitsbildung kann unter diesen Umständen nicht die Durchsetzung eines oberhalb der gesellschaftlichen Pluralität angesiedelten Gemeinwohls sein, sondern muß sich prozeßhaft aus dieser Pluralität ergeben. Der politische Prozeß ist deswegen selbst durch die nicht allein privatistisch zu verstehenden Grundrechte und die Garantie des Mehrparteiensystems pluralistisch ausgestaltet. Ohne die Vorstrukturierung durch Gruppen könnte er in der Demokratie nicht sinnvoll ablaufen. Den Grundrechten eignet daher neben ihrem individuellen auch ein meist vernachlässigtes korporatives Element, und Verbände erscheinen geradezu als „Konsequenz, ja Bedingung grundrechtlicher Freiheit in der Verfassung des Pluralismus" 6 . Als Institutionen zur Zusammenfassung und Artikulation gleichartiger Interessen bilden sie ein wichtiges Zwischenglied im Prozeß der Umsetzung gesellschaftlicher Vielfalt in staatliche Einheit. Den politischen Parteien, die in diesem Prozeß den Vorausgleich divergierender Interessen und Bedürfnisse, ihre Umformung in politische Handlungsprogramme und Einleitung in die Staatswillensbildung übernehmen, ermöglichen sie dadurch erst die Erfüllung ihrer Funktion. Insofern sind sie ein wesentlicher, auch in ihrer Einflußnahme auf die staatlichen Entscheidungsträger legitimer Bestandteil des politischen Systems. Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes muß von vornherein nicht nur mit Art. 21 GG, sondern auch mit Art. 9 GG zusammengesehen werden7. Ist das Gemeinwohl keine im Besitz des Staates befindliche Konstante, sondern 5 eine aus dem Prozeß der Meinungs- und Willensbildung sich erst ergebende Variable, dann leisten die Verbände aber auch aus der Sicht des Staates zur Herstellung 4

KAISER R e p r ä s e n t a t i o n ( F n . 2 ) S. 2 3 8 .

5

C. SCHMITT Der Begriff des Politischen, 1933; DERS. D e r Hüter der Verfassung, 1 9 3 1 ; DERS. Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. A u f l . 1926. P. HABERLE Verbände als Gegenstand demokratischer Verfassungslehre, in: Z H R 1 4 5 ( 1 9 8 1 ) S. 484 f. Eine positive staatsrechtliche Bewertung der Verbände früher schon bei H. KRÜGER Allgemeine Staatslehre, 2. A u f l . 1966, S. 379; DERS. Die Stellung der Interessenverbände in der Verfassungswirklichkeit in: N J W 1956, S. 1217, und U. SCHEUNER Der Staat und die Verbände, 1957; DERS. Politische Repräsentation und Interessenvertretung, in: D Ö V 1965, S. 577.

6

7

V g l . HABERLE V e r b ä n d e ( F n . 6 ) S . 4 9 4 .

660

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

kollektiv verbindlicher Entscheidungen unter dem Anspruch eines gerechten Interessenausgleichs wichtige Dienste. Vor allem verschaffen sie ihm Informationen über gesellschaftliche Interessen und Auswirkungen staatlicher Maßnahmen, die der Staatsapparat aus eigenem Wissen nicht zuverlässig beurteilen kann. Diese Funktion ist mit der Entwicklung der Parteien von Interessen- und Weltanschauungsparteien zu Volksparteien sogar gewachsen. Nachdem die Parteien die verschiedenen Interessen bereits in sich ausgleichen und auf diese Weise nur noch die Artikulation hochgeneralisierter politischer Präferenzen ermöglichen, werden zusätzliche Kommunikationswege für die Verfolgung spezieller Interessen desto nötiger. Umgekehrt besitzen die Verbände wiederum die Fähigkeit, staatlichen Maßnahmen bei ihren Mitgliedern die erforderliche Akzeptanz zu verschaffen, wenn deren Interessen in die Entscheidung eingegangen sind. Verschiedentlich wird angenommen, daß die Instrumentalisierung der Verbände durch den Staat ihren Einfluß auf ihn inzwischen bereits übertreffe 8 . Jedenfalls entspricht die eindimensionale Sicht, die die Verbände allein in der determinierenden und den Staat allein in der determinierten Rolle sah, unter diesen Umständen der politischen Realität nicht. Auch eine Reihe sozialwissenschaftlicher Fallstudien über den Verbandseinfluß auf staatliche Entscheidungen konnte die von der Staatsrechtslehre befürchtete Abhängigkeit des Staates nicht durchweg bestätigen, sondern ergab im Gegenteil eine beträchtliche Autonomie seiner Organe und eine fortbestehende Wirksamkeit der verfassungsrechtlich vorgegebenen Entscheidungsstrukturen 9 . 6

Indessen ist das Problem des Verbandseinflusses auf den Staat mit dieser Klarstellung zunächst nur von historischen Vorurteilen befreit, aber noch keineswegs gelöst. Das war der Irrtum der politikwissenschaftlichen Pluralismustheorie, die in den sechziger Jahren, die These der Staatsrechtslehre gewissermaßen umkehrend, davon ausging, daß sich aus dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte der gerechte Interessenausgleich von selbst ergäbe und der Staat nur noch als Durchsetzungsinstanz des in gesellschaftlicher Autonomie ermittelten Gemeinwohls benötigt würde 10 . Die Voraussetzungen dieses ins Kollektive gewendeten Liberalismus haben sich freilich ebensowenig als gegeben erwiesen wie zuvor die Annahmen,

8

9

10

So etwa G. LEHMBRUCH Liberal Corporatism and Party Government, in: Comparative Political Studies 10 (1977) S. 91; DERS. Wandlungen der Interessenpolitik im liberalen Korporatismus, in: U. v. Alemann/R. G. Heinze (Hrsg.) Verbände und Staat. Vom Pluralismus zum Korporatismus, 1979, S. 51. Zur Differenzierung zwischen Wahl und Interessenvertretung vgl. N. LUHMANN Komplexität und Demokratie, in: DERS. Politische Planung, 2. Aufl. 1975, S. 40 f; DERS. Grundrechte als Institution, 2. A u f l . 1974, bes. S. 149 ff. Vgl. etwa K.-H. DIEKERSHOFF Der Einfluß der Beamtenorganisationen auf die Gestaltung des Personalvertretungsgesetzes, 1960; V. GRÄFIN v. BETHUSY-HUC Demokratie und Interessenpolitik, 1962; H. J. VARAIN Parteien und Verbände, 1964; O. STAMMER u.a. Verbände und Gesetzgebung, 1965; F. NASCHOLD Kassenärzte und Krankenversicherungsreform, 1967; P. ACKERMANN Der Deutsche Bauernverband im politischen Kräftespiel der Bundesrepublik, 1970; W. SIMON Macht und Herrschaft der Unternehmerverbände, 1976. Vgl. v o r allem E. FRAENKEL Deutschland und die westlichen Demokratien, 1964, 5. Aufl. 1973. Dazu W. STEFFANI Vom Pluralismus zum Neopluralismus, in: DERS. Pluralistische Demokratie, 1980, S. 40; H. KREMENDAHL Pluralismustheorie in Deutschland, 1977.

§15

Verbände (GRIMM)

661

unter denen der individualistische Liberalismus des 19. Jahrhunderts seine Verheißungen hätte erfüllen können. Im wesentlichen sind es drei Einwände, die diese Erwartungen zerstören 11 . Die widerstreitenden organisierten Interessen besitzen nicht notwendig, wie die Pluralismustheorie unterstellt hatte, die gleiche Stärke. Vielmehr können erhebliche Asymmetrien auftreten. Im Maße dieser Asymmetrien verfehlt das freie Spiel der Kräfte aber den gerechten Interessenausgleich und bringt statt-, dessen die Vorherrschaft eines Interesses hervor. Ferner besitzen nicht alle partikularen Interessen dasselbe Maß an Organisations- und Konfliktfähigkeit. Gerade einige besonders benachteiligte Interessen sind kaum organisationsfahig oder mangels Verfügung über ein politisch knappes Gut nicht konfliktfähig und können sich daher in dem Kräfteparallelogramm auch nicht entsprechend zur Geltung bringen. Schließlich lassen sich die nicht auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen begrenzten, sondern der Allgemeinheit zuzuordnenden Interessen wie etwa gesunde Lebensverhältnisse oder stabiler Geldwert gar nicht verbandlich organisieren und fallen deswegen aus einem rein verbandlich gedachten politischen Prozeß ebenfalls heraus. 2. Die Entwertung der Verfassung im kooperativen Staat Das Thema der staatlichen Autonomie gegenüber den organisierten Interessen bleibt 7 also auf der Tagesordnung, ohne daß es doch im Wege der Reprivatisierung der Verbände gelöst werden könnte, den die konservative Staatsrechtslehre beschreiten wollte. Tatsächlich ist die Entwicklung sogar in die entgegengesetzte Richtung gegangen. Die Tätigkeit der Verbände erschöpft sich mittlerweile nicht mehr in der Einflußnahme auf staatliche Entscheidungen, die die Interessen ihrer Mitglieder berühren. Vielmehr nehmen sie in wachsendem Umfang an staatlichen Entscheidungen teil und gelangen auf diese Weise selber in den Besitz öffentlicher Gewalt. Die Staatsrechtslehre steht damit vor einer ganz neuen Ausgangslage. Sie ist die Folge veränderter Staatsaufgaben und des damit zusammenhängenden Wandels im Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Die Veränderung ist häufig beschrieben worden und bedarf deswegen hier keiner ausführlichen Analyse 12 . Im Kern besteht sie darin, daß sich der Staat nicht mehr darauf beschränkt, die Voraussetzungen gesellschaftlicher Selbststeuerung zu garantieren und nur zu intervenieren, wo die Selbststeuerung versagt oder Notlagen die Selbsthilfekräfte der Gesellschaft überfordern. Er hat vielmehr nach und nach die Gesamtverantwortung für Bestand und Entwicklung des Systems in sozialer, ökonomischer und kultureller Hinsicht übernommen und macht in jüngster Zeit angesichts wachsender Gefahrenquellen und Zukunftsängste

11

12

Grundlegend in Anknüpfung an amerikanische Forschungen W. D. NARR/F. NASCHOLD Theorie der Demokratie, 1971, S. 204; C. OFFE Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, in: G. Kress/ D. Senghaas (Hrsg.) Politikwissenschaft, Taschenbuch-Ausgabe 1972, S. 145. Vgl. auch R. EISFELD Pluralismus zwischen Liberalismus und Sozialismus, 1972. Zusammenfassend und mit weiteren Literaturhinweisen D. GRIMM Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 53 ff; DERS. Die Zukunft der Verfassung, 1 9 9 1 , S. 4 0 8 ff; DERS. (Hrsg.) Staatsaufgaben, 1994.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

auch die Risikovorsorge zu seiner Sache13. Von der Bewältigung dieser neuen Aufgaben hängt zu einem erheblichen Teil seine Legitimität ab. Schlechterfüllung wird politisch sanktioniert. Insofern besitzt er in diesem Punkt keine Wahl mehr. Offen sind nur noch die Modalitäten der Aufgabenerfüllung, nicht mehr die Aufgaben selbst. 8 Allerdings ist die Aufgabenerweiterung nicht mit einer entsprechenden Vergrößerung der staatlichen Machtmittel einhergegangen. Dem Staat werden zwar Steuerungsleistungen in fast allen gesellschaftlichen Funktionsbereichen abverlangt, doch hat er keine umfassenden Dispositionsmöglichkeiten über Struktur und Verhalten in diesen Bereichen erlangt. Vielmehr kann er das ihm eigene Steuerungsmedium der Macht nur begrenzt zur Erfüllung seiner wachsenden Aufgaben einsetzen. Teilweise ist imperative Steuerung faktisch nicht möglich. Forschungsergebnisse, Konjunkturaufschwünge und Mentalitätsänderungen lassen sich nicht anordnen. Teilweise ist sie rechtlich nicht zulässig, weil die gesellschaftlichen Funktionsbereiche weiterhin grundrechtlich geschützt sind und als solche prinzipiell in privater Verfügung stehen. Der Staat darf die private Verfügung zwar im Interesse des Gemeinwohls einschränken, jedoch nicht beseitigen. Aber selbst dort, wo imperative Steuerung faktisch möglich und rechtlich zulässig ist, verzichtet der Staat vielfach auf den Einsatz seiner spezifischen Mittel, weil er die Implementationskosten imperativer Maßnahmen scheut. In all diesen Fällen muß er statt dessen zu indirekt wirkenden Steuerungsmitteln wie Information, Geld oder Ressourcenplanung greifen. Von den imperativen Steuerungsmitteln unterscheiden sie sich dadurch, daß hinter ihnen kein Zwang steht. Die Steuerungsadressaten bleiben in ihrem Verhalten rechtlich frei. Der Staat wird daher im selben Maß, wie er auf imperative Mittel verzichtet, von der Folgebereitschaft der Steuerungsadressaten abhängig. Sie geraten ihm gegenüber in eine Verhandlungsposition, die es ihnen ermöglicht, das erwünschte Verhalten von staatlichen Gegenleistungen oder Konzessionen abhängig zu machen. 9

Der Staat hat auf die veränderten Bedingungen mit neuen Konsensbeschaffungsstrategien reagiert und sich in weitem Umfang zum Zusammenwirken mit gesellschaftlichen Interessenträgern entschlossen14. Auf diese Weise bilden sich je 13

Vgl. D. GRIMM Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, in: KritV 1986, S. 38; F. OSSENBÜHL Vorsorge als Rechtsprinzip im Gesundheits-, Arbeits- und Umweltschutz, in: N V w Z 1986, S. 1 6 1 ; E. DENNINGER D e r Präventionsstaat, in: K J 1988, S. 1; U. K . PREUB

14

Vorsorge als Staatsaufgabe, in: Grimm (Hrsg.) Staatsaufgaben (Fn. 12); T. DARNSTÄDT Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983. Vgl. Ε. H. RITTER Der kooperative Staat, in: AöR 104 (1979) S. 389; DERS. Das Recht als Steuerungsmedium im kooperativen Staat, in: D. Grimm (Hrsg.) Wachsende Staatsaufgaben — sinkende Steuerungsfáhigkeit des Rechts, 1990, S. 69; R. MAYNTZ (Hrsg.) Implementation politischer Programme, 2 Bände, 1980, 1983; DIES. Politische Steuerung und gesellschaftliche Steuerungsprobleme, in: Jb. f. Staats- und Verwaltungswissenschaft 1 (1987) S. 89; DIES. (Hrsg.) Verbände zwischen Mitgliederinteressen und Gemeinwohl, 1992; H. WILLKE Entzauberung des Staates, 1983; DERS. Ironie des Staates, 1992; M. GLAGOW (Hrsg.) Gesellschaftssteuerung zwischen Korporatismus und Subsidiarität, 1984; H. SCHULZE-FIELITZ Der informale Verfassungsstaat, 1984; F. SCHARPF Verhandlungssysteme, Verteilungskonflikte und Pathologien der politischen Steuerung, in: M. Schmidt (Hrsg.) Staatstätigkeit, PVS-Sonderheft 19 (1988) S. 61; R. PITSCHAS Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990; H. HILL (Hrsg.) Verwaltungshandeln durch Verträge und Absprachen, 1991.

§15

V e r b ä n d e (GRIMM)

663

nach Aufgabenfeldern dauerhaft oder vorübergehend Verhandlungssysteme, in denen gemeinwohlbestimmte staatliche Ziele mit partikularen wirtschaftlichen Interessen abgestimmt werden. Verhandlungspartner ist auf der einen Seite regelmäßig die staatliche Exekutive, auf der anderen sind es typischerweise, wenn auch nicht notwendig, die Verbände. Das Verhandlungsergebnis findet seinen Niederschlag meist in Absprachen, die gewöhnlich eine Verhaltenszusage der gesellschaftlichen Interessenträger und einen Regelungsverzicht des Staates beinhalten, ohne daß die Zusagen in förmliche Bindungen überführt würden. Die Attraktivität dieses Vorgehens liegt in beiderseitigen Vorteilen: Die Verbände können auf geringere Lasten rechnen, während der Staat die Durchsetzungskosten für hoheitliche Anordnungen spart. Meist ersetzen die Absprachen Rechtsnormen aller Regelungsstufen. Sie können aber auch Pläne oder Verwaltungsakte vertreten. Das hat seinen Grund darin, daß gerade die zukunftsgerichteten, der Sozialgestaltung oder Risikovorsorge dienenden Staatstätigkeiten einer durchgängigen Gesetzesbindung nicht so leicht zugänglich sind wie die traditionellen Aufgaben der Ordnungswahrung 15 . Der Gesetzgeber verwendet daher zunehmend Regelungen, die sich auf die Vorgabe bestimmter Ziele sowie einige bei der Zielerreichung zu beachtende Gesichtspunkte beschränken, aber kein vollziehbares Handlungsprogramm formulieren. Ihre Ergänzung und Konkretisierung ist dann ebenfalls Produkt von Verständigungen oder wird sogar ganz auf verbandliche Gremien verlagert. Die Veränderungen sind bisher weder empirisch ausreichend erforscht noch 10 theoretisch angemessen durchdrungen. Der Begriff des „Neokorporatismus", mit dem die neue Lage anfangs gekennzeichnet wurde 16 , hat inzwischen an Realitätsnähe verloren. Die ihm eigene Beschränkung auf eine kleine Anzahl privilegierter, meist konkurrenzloser Verbände und Großunternehmen, die durch Tarif- oder Investitionsentscheidungen Bestimmungsdaten für die staatliche Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik setzen und aus diesem Grund in den staatlichen Entscheidungsprozeß, meist auf hoher Ebene, einbezogen werden, entspricht dem Entwicklungsstand nicht mehr. 15

16

Vgl. N. L U H M A N N Zweckbegriff und Systemrationalität, 1973, S. 257 ff; R. V O I G T (Hrsg.) Abschied vom Recht 1983; D. G R I M M Verfahrensfehler als Grundrechtsverstöße, in: NVwZ 1985, S. 865; DERS. Zukunft (Fn. 12) S. 159 ff; I. M A U S Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, 1986, S. 277 ff; G. TEUBNER (Hrsg.) Dilemmas of Law in the Welfare State, 1986; F. X. K A U F M A N N Steuerung wohlfahrtsstaatlicher Abläufe durch Recht, in: D. Grimm/ W. Maihofer (Hrsg.) Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 13 (1988) S. 65; K. L A N G E Staatliche Steuerung durch offene Zielvorgabe im Lichte der Verfassung, in: VerwArch 82 (1991) S. 1; D. G R I M M (Hrsg.) Wachsende Staatsaufgaben — sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990. Grundlegend P. C. SCHMITTER Still the Century of Corporatism?, in: Review of Politics 36 (1974) S. 85; DERS. Modes of Interest Intermediation and Models of Social Change in Western Europe, in: Comparative Political Studies 10 (1977) S . 7; G. L E H M B R U C H / P . SCHMITTER (Hrsg.) Patterns of Corporatist Policy Making, 1982; A . C A W S O N Corporatism and Political Theory, 1986; in Deutschland vor allem L E H M B R U C H (Fn. 8); ν. A L E M A N N / H E I N Z E (Hrsg.) Verbände und Staat (Fn. 8); C. O F F E The attribution of public status to interest groups: observations on the West German case, in: S.Berger (Hrsg.) Organizing interests in Western Europe, 1981, S. 123; U. v. A L E M A N N (Hrsg.) Neokorporatismus, 1981; DERS. Organisierte Interessen in der Bundesrepublik, 1987; R. G. HEINZE Verbändepolitik und Neokorporatismus, 1981.

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3. Kapitel. D i e demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

Organisiertes Zusammenwirken zwischen staatlichen und verbandlichen Akteuren findet mittlerweile auf zahlreichen Gebieten und Ebenen statt und verdrängt oder relativiert die traditionellen Handlungsformen des Staates, namentlich das Gesetz. Mit dem Schlagwort der „Privatisierung" oder „Vergesellschaftung" des Staates 17 wird jedoch nur die eine Seite dieses Vorgangs erfaßt. Auf der anderen Seite findet auch eine „Verstaatlichung" der partikularen Interessenträger statt. Das Ergebnis ist eine Gemengelage, bei der sich zwar noch staatliche und private Akteure, nicht mehr jedoch Entscheidungsbeiträge und Verantwortlichkeiten unterscheiden lassen. Insofern hat R I T T E R S frühzeitige Charakterisierung der neuen Wirklichkeit als „kooperativer Staat" 18 viel für sich. Der „öffentliche Status" der Verbände, der damit verbunden ist, geht weder auf politisches Fehlverhalten noch auf dogmatischen Übereifer zurück, sondern ist strukturell bedingt und daher nicht ohne weiteres umkehrbar. Aus diesem Grund muß jede Fundamentalkritik am kooperativen Staat, die dem Strukturwandel nicht Rechnung trägt, folgenlos bleiben 19 . 11

Andererseits kann die Kooperation zwischen Staat und Verbänden aber auch nicht als verfassungsrechtlich irrelevant oder gar vorzugswürdig hingestellt werden, wie das gelegentlich geschieht. Das ist etwa dort der Fall, wo von der Freiwilligkeit der Kooperation auf die Überflüssigkeit verfassungsrechtlicher Kautelen geschlossen oder der kooperierende Staat als der eigentlich demokratische Staat betrachtet wird, während der hoheitlich auftretende Staat in der Tradition des Obrigkeitsstaats vordemokratischer Prägung verharre20. Darin liegt ein doppelter Irrtum. Zum einen wird übersehen, daß die Bereitschaft der Verbände zu freiwilliger Verhaltensbindung weitgehend dadurch motiviert ist, daß dem Staat auch hoheitliche Mittel zu Gebote stehen. Verhaltenszusagen erscheinen dann als das geringere Übel. Zum anderen wird übersehen, daß die Verhandlungsergebnisse zwar wie die Normen, die sie ersetzen, allgemeine Wirkung erzeugen, im Gegensatz zu diesen aber unter partikularer, nicht unter universaler Partizipation Zustandekommen. Die Verhandlungssysteme privilegieren also Interessenträger, die über ein Vetopotential gegen staatliche Maßnahmen verfügen, und prämiieren folglich diejenigen, die ohnehin schon gesellschaftliche Machtpositionen innehaben. Sie setzen auch nicht etwa Gemeinwohlerfordernisse ohne inhaltliche Abstriche, aber mit milderen Mitteln durch, sondern machen sie zu einer Verhandlungsposition, die mit partikularen Interessen ausgegli-

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18 19

20

Vgl. M. SCHWIERZ Die Privatisierung des Staates am Beispiel der Verweisung auf die Regelwerke privater Regelgeber im Technischen Sicherheitsrecht, 1986. Vgl. RITTER Kooperativer Staat (Fn. 14) S. 389. Vgl. etwa die Kritik von H . H. RUPP Die „öffentlichen" Funktionen der Verbände und die demokratisch-repräsentative Verfassungsordnung, in: H . K . Schneider/C. Watrin (Hrsg.) Macht und ökonomisches Gesetz, 1974, S. 1251. Z u m ersten vgl. etwa C. BAUDENBACHER Kartellrechtliche und verfassungsrechtliche Aspekte gesetzesersetzender Vereinbarungen zwischen Staat und Wirtschaft, in: J Z 1988, S. 689; zum zweiten H. KRÜGER Von der Notwendigkeit einer freien und auf lange Sicht angelegten Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft, 1966; J . SCHLARMANN Wirtschaft als Partner des Staates, 1972, S. 160; W. HOFFMANN-RIEM Konfliktmittler in Verwaltungsverhandlungen, 1989, S. 36; H. WILLKE Ironie des Staates, 1992, S. 175 ff. Auflistungen der Vor- und Nachteile b e i BAUDENBACHER a. a. O . , S . 6 9 2 f f ; RITTER R e c h t als S t e u e r u n g s m e d i u m ( F n . 14) S . 7 8 f f .

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chen werden muß. Dabei sind wechselseitige Konzessionen ebenso Erfolgsbedingung für das System wie die Sicherheit, daß die im Verhandlungsweg gefundenen Ergebnisse von beiden Seiten ungeachtet ihrer internen Organ- und Entscheidungsstrukturen auch respektiert werden. Für die Verfassung haben die Veränderungen zwei miteinander verbundene 12 Folgen 21 . Zum einen gibt es nun Teilhaber an politischen Entscheidungen, die nicht in den Legitimations- und Verantwortungszusammenhang einbezogen sind, dem die Verfassung die staatlichen Entscheidungsträger unterwirft. Weder sind sie aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen oder wenigstens auf solche rückführbar, noch müssen sie sich einem Wählerurteil über ihre Leistungen stellen oder vor den Kontrollgremien für die organisierten Staatsorgane zur Rechenschaft ziehen lassen. Die Verfassung erfaßt also ihrem Anspruch zum Trotz politische Herrschaft nur noch fragmentarisch. Neben den von ihr eingerichteten und regulierten Organen existieren parakonstitutionelle Entscheidungsträger. Zum anderen werden die bestehenden Entscheidungsorgane und -verfahren wenn schon nicht bedeutungslos, so doch zumindest entwertet. Das gilt insbesondere für das Parlament und die parlamentarische Gesetzgebung, von deren Funktionieren das System in demokratischer und rechtsstaatlicher Hinsicht abhängt. Im selben Maß, wie kooperative Entscheidungsformen vordringen, fallt ihr Entscheidungsbeitrag aus oder verliert an Gewicht. Ahnliches gilt für die Gerichte, die die Einhaltung der Gesetzesbindung überwachen. Informelle Verständigungen entziehen sich ihrer Prüfung. Die Verfassung verliert dadurch an rationalisierender Kraft für den politischen Prozeß und nimmt den Charakter einer Teilordnung an, die die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen nach Kompetenz und Verfahren nicht mehr abschließend regelt. Die Verbände werden auf diese Weise neben weiteren, zum Teil aus derselben Quelle gespeisten Erscheinungen 22 zu einem Testfall für die Überlebenskraft des Verfassungsstaats.

II. Verfassungsrechtliche Lösungsansät2e 1. Konstitutionalisierung der Verbände Von befriedigenden Lösungen dieses neuartigen Problems ist die Staatsrechtslehre 13 derzeit noch weit entfernt. Die klarsten Auswege: zurück zur Trennung von Staat und Wirtschaft oder vorwärts zur Verstaatlichung der Wirtschaft oder zumindest wichtiger wirtschaftlicher Funktionen wie der Lohn-, Preis- und Investitionskontrolle, sind versperrt, zum Teil aus verfassungsrechtlichen, erst recht aus politischen Gründen. Die Legitimationsprobleme würden unüberwindlich. Im ersten Fall entzöge

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22

Vgl. E.-W. BÖCKENFÖRDE Die politische Funktion wirtschaftlich-sozialer Verbände und Interessenträger in der sozialstaatlichen Demokratie, in: Der Staat 15 (1976) S. 457; H. H. v. ARNIM Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977 bes. S. 183 ff; GRIMM Zukunft (Fn. 12) bes. S. 429 ff. Vgl. GRIMM Zukunft (Fn. 12) S. 397 ff.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

sich der Staat einer allseits von ihm erwarteten, legitimitätsbegründenden Aufgabe. Im zweiten bürdete er sich eine Aufgabe auf, deren Konsensbedarf so hoch ist, daß er unter den Bedingungen eines freiheitlichen Systems womöglich nicht mehr zu decken wäre. D a die Staatsaufgaben auf diese Weise, nicht im Detail, aber im Ganzen, strukturell festliegen und damit als Ansatzpunkt für eine L ö s u n g des Problems ausfallen, konzentrieren sich die Bemühungen der Staatsrechtslehre auf die verfassungsrechtliche Regulierung der Verbandsmacht. Dabei lassen sich zwei Phasen unterscheiden. In der ersten rückte, je deutlicher zutage trat, daß der Verbandseinfluß auf die Politik eher ausgeweitet als zurückgedrängt wird, die Binnenstruktur der Verbände in den Mittelpunkt des Interesses. E s gibt wenig Beispiele für einen vergleichbaren Literaturboom binnen kürzester Zeit, an dem neben dem öffentlichen Recht auch das Privat-, das Wirtschafts- und das Arbeitsrecht beteiligt waren 23 . Die Beschäftigung mit der inneren Ordnung der Verbände darf freilich nicht als Abkehr von ihrem Verhältnis zum Staat verstanden werden. D a die Außenbeziehungen der Verbände kurzfristig nicht änderbar erschienen, sollten sie im Gegenteil eine ihrer politischen Funktion im demokratischenStaat angemessene Binnenstruktur erhalten. Die Literatur der ersten Phase bot dabei eine erstaunlich große Übereinstimmung im Ziel, aber starke Divergenzen in den Einzelheiten. Fast ausnahmslos wurde an die öffentliche Funktion der Verbände das Erfordernis einer demokratischen Binnenstruktur geknüpft. Diese erschien ähnlich wie zuvor bei den Parteien als der Preis für die Mitwirkung an der politischen Willensbildung. Freilich fehlt es für die Verbände an einer dem Art. 21 Abs. 1 Satz 3 G G entsprechenden Norm. Verfassungsrechtlich stehen sie auf der grundrechtlich geschützten gesellschaftlichen Seite,

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Unter Beschränkung auf Buchpublikationen werden genannt 1974: H. FÖHR Willensbildung in den Gewerkschaften und Grundgesetz; F. MÜLLER-THOMA Der halbstaatliche Verein. 1975: K. POPP Öffentliche Aufgaben der Gewerkschaften und innerverbandliche Willensbildung. 1976: K.-H. GIESSEN Die Gewerkschaften im Prozeß der Volks- und Staatswillensbildung; H. LESSMANN Die öffentlichen Aufgaben und Funktionen privatrechtlicher Wirtschaftsverbände; Κ. M. MEESSEN Erlaß eines Verbändegesetzes als rechtspolitische Aufgabe?; K. SCHELTER Demokratisierung der Verbände?; H. J . SCHRÖDER Gesetzgebung und Verbände; M. STINDT Verfassungsgebot und Wirklichkeit demokratischer Organisation der Gewerkschaften. 1977: v. ARNIM Gemeinwohl (Fn. 21); M. GERHARDT Das Koalitionsgesetz; H. F. ZACHER Staat und Gewerkschaften. 1978: W. KIRBERGER Staatsentlastung durch private Verbände bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben; J. KNEBEL Koalitionsfreiheit und Gemeinwohl; G. TEUBNER Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung. Zuletzt R. GÖHNER Demokratie in Verbänden, 1981; C. GUSY Vom Verbändestaat zum Neokorporatismus?, 1981. — Größere Sammelrezensionen bei W. BERG in: D i e V e r w a l t u n g 11 (1978) S. 71; P. HABERLE V e r b ä n d e ( F n . 6) S. 4 7 3 ; W. SCHMIDT

in: Der Staat 17 (1978) S. 244. — Aus der sozialwissenschaftlichen Literatur vgl. etwa neben den in Fn. 8 bis 11 und 16 bereits genannten Werken E. TUCHTFELD (Hrsg.) Die Verbände in der pluralistischen Gesellschaft, 1962; H. J. VARAIN (Hrsg.) Interessenverbände in der Demokratie, 1973; W. DETTLING (Hrsg.) Macht der Verbände — Ohnmacht der Demokratie? 1976; J. WEBER Interessengruppen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, 1976; J. RASCHKE Vereine und Verbände, 1978; F. SCHARPF Autonome Gewerkschaften und staatliche Wirtschaftspolitik: Probleme einer Verbändegesetzgebung, 1978; K. v. BEYME Interessengruppen in der Demokratie, 5. Aufl. 1980. Eine Bestandsaufnahme der Forschungslage bei R. MAYNTZ Staat und politische Organisation: Entwicklungslinien, in: W. Lepsius (Hrsg.) Zwischenbilanz der Soziologie, 1976, S. 329.

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die sich gerade durch Selbstbestimmung auszeichnet. Ein innerverbandliches Demokratiegebot bedarf daher einer verfassungsrechtlichen Legitimation, die nicht schon in dem öffentlichen Status selbst liegt, wie vielfach kurzschlüssig angenommen wurde. Welche Norm als Grundlage dafür in Betracht kommt, war stark umstritten. Dasselbe gilt für die Frage, ob das Demokratiegebot unmittelbar anwendbares Verfassungsrecht oder auf gesetzgeberische Intervention angewiesener Regelungsauftrag ist. Dort wo gesetzgeberische Interventionen angestrebt wurden, blieb oft undeutlich, ob der öffentlichen Funktion der Verbände ein öffentlich-rechtlicher Status folgen sollte, wie ihn die Kammern bereits besitzen, oder ob es um eine an Vorgaben des Verfassungsrechts orientierte privatrechtliche Neuregelung ging. Starke Meinungsverschiedenheiten bestanden ferner bezüglich der Ausgestaltung des Demokratiegebots und seines Anwendungsbereichs in einer differenzierten Verbändelandschaft 24 . Wenig geklärt war schließlich, ob das Gebot im Wege einer Verfassungsergänzung, einer Änderung des bestehenden Vereinsrechts, eines einheitlichen Verbandsgesetzes oder mehrerer funktionsspezifischer Verbändegesetze zu konkretisieren sei. Vor allem krankten die Vorschläge zur Verbändedemokratisierung aber daran, 15 daß sie die Eignung des Demokratiegebots zur Lösung des Problems großenteils stillschweigend unterstellten. Das ist indessen aus mehreren Gründen fraglich. Der erste liegt in der begrenzten Legitimation, die durch innerverbandliche Demokratie erzielt werden kann. Sie ist ja stets nur Legitimation durch die Verbandsmitglieder, die sich gerade in der gemeinschaftlichen Verfolgung eines partikularen Interesses einig wissen, das sie möglichst weitgehend auf Kosten konkurrierender Interessen durchsetzen möchten 25 . Darin unterscheiden sie sich von den politischen Parteien, die, selbst wenn sie Interessenparteien sind, ihr aus der innerparteilichen Willensbildung hervorgegangenes Regierungsprogramm und Führungspersonal noch einem Votum der Gesamtgesellschaft unterwerfen müssen und von diesem ihre Legitimation zur Beteiligung an staatlichen Entscheidungen ableiten. Eine vergleichbare demokratische Legitimation vermag die verbandsinterne Demokratie nicht zu vermitteln. Verbändedemokratie bewirkt vom einzelnen Mitglied aus betrachtet, daß sein Anteil an der Formung des Verbandswillens gesichert ist und innerverbandliche Minderheitenpositionen respektiert werden. Vom Staat aus betrachtet liegt im Demokratiegebot eine Gewähr dafür, daß der Verband die Interessen seiner Mitglieder authentisch repräsentiert. Verbandseinfluß auf politische Entscheidungen wird dadurch als organisierte Wahrnehmung individueller Grundrechtspositionen legitim 26 . Dagegen bleibt die Interessengebundenheit der Teilhabe binnendemokratisch unaufhebhar und kann daher nicht ohne weiteres eine Legitimation zur Teilhabe an den gerade auf 24

Zur Typologie der Verbände vgl. v o r allem WEBER Interessengruppen (Fn. 23) S. 71, und TEUBNER O r g a n i s a t i o n s d e m o k r a t i e ( F n . 1 ) S. 1 2 1 .

25 26

Vgl. BÖCKENFÖRDE Funktion wirtschaftlich-sozialer Verbände (Fn. 21) S. 477. Dazu v o r allem W. SCHMIDT Die „innere Vereinsfreiheit" als Bedingung der Verwirklichung von Grundrechten durch Organisation, in: Z R P 1977, S. 255. Wichtige grundrechtstheoretische Neuansätze zur korporativen Seite grundrechtlicher Freiheit („status corporativus") bei HABERLE Verbände (Fn. 6) S. 473.

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3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

den gerechten Ausgleich partikularer Interessen bezogenen staatlichen Entscheidungen vermitteln. 16 Zum zweiten besteht nicht immer Klarheit über das Ausmaß der Demokratisierbarkeit verbandlicher Interessenvertretung. Sie hängt wesentlich davon ab, inwieweit die Interessenartikulation und -durchsetzung von den Verbandsmitgliedern auf den Verband übergeht. Bei Arbeitnehmerinteressen beispielsweise ist das weitgehend der Fall. Sie werden erst auf der verbandlichen Ebene zur Geltung gebracht und gewinnen nur verbandlich organisiert ihre Durchsetzungskraft. Das einzelne Mitglied wird durch den Verband in seiner Interessenwahrnehmung mediatisiert. Dagegen bleiben Unternehmerinteressen zum großen Teil in der Hand der Verbandsmitglieder. Über Produktion und Investition entscheidet der einzelne Unternehmer nach eigenen wirtschaftlichen Rationalitätskriterien. Er wird verbandlich nicht mediatisiert, wenn es auch der Verband sein mag, der beim Staat auf unternehmerfreundliche wirtschaftspolitische Maßnahmen dringt. Die Binnendemokratisierung solcher Verbände bleibt daher mangels hinreichender Entscheidungssubstanz relativ folgenlos27. Der Lösungsansatz liegt insoweit weniger bei der Vereinigungs- als der Eigentumsfreiheit. Vollends gilt das für Spitzenverbände, deren Mitglieder selbst wieder Verbände sind, oder für die sogenannten halbstaatlichen Vereine, die nicht im eigentlichen Sinn auf einer Mitgliedschaft basieren. Demgegenüber erzielt das Demokratiegebot bei verbandlich organisierten Arbeitnehmerinteressen seine Wirkung. Das ist der Grund für die mehrfach geäußerte Befürchtung, daß ein Verbändegesetz trotz seiner generellen Fassung und Reichweite de facto doch nur ein Gewerkschaftsgesetz wäre28, so daß es erst den Test des Art. 3 GG bestehen müßte. 17

Nicht unumstritten ist schließlich die Effektivität des Demokratisierungskonzepts, dort wo es anwendbar erscheint. S C H A R P F bemerkt, daß eine Verstärkung der innerverbandlichen Demokratie die Stabilisierungsleistung der Verbände für das politische System herabsetzen könnte, weil sich die Verbandsführung dann in erhöhtem Maß an egoistischen Kurzfristinteressen ihrer Mitglieder auf Kosten langfristiger gesamtgesellschaftlicher Überlegungen orientieren müsse. Das Ergebnis wäre eine Radikalisierung der Verteilungskämpfe29. O F F E hält innerverbandliche Demokratie und effektive Interessenvertretung für gänzlich unvereinbar. Verbandlich organisierte Interessen müßten, um sich zur Geltung zu bringen, negotiabel bleiben. Unabhängigkeit der Verbandsführung von der Mitgliedschaft sei die Voraussetzung erfolgreicher Verhandlung für die Mitglieder, setze aber zugleich deren dauernde Disziplinierung durch die Verbandsführung voraus30. Das Argument trifft zu, wenn man unter Demokratie nicht nur die periodische Legitimation der Verbandsführung durch

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BÖCKENFÖRDE Funktion wirtschaftlich-sozialer Verbände (Fn. 21) S. 478; W. SCHMIDT Gesellschaftliche Machtbildung durch Verbände, in: Der Staat 17 (1978) S. 269. So etwa F. SCHARPF A u t o n o m e Gewerkschaften und staatliche Wirtschaftspolitik: Probleme einer Verbändegesetzgebung, 1978, S. 17 ff; OFFE Public status (Fn. 16) S. 146. So v o r allem SCHARPF Gewerkschaften (Fn. 28) S. 20; A . PIZZORNO Interests and Parties in Pluralism, in: Berger (Hrsg.) Organizing Interests in Western Europe, 1 9 8 1 , S. 265. OFFE Politische Herrschaft (Fn. 1 1 ) S. 148.

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die Mitgliedschaft und einen offenen Prozeß der Verbandswillensbildung und Führungskontrolle, sondern überdies eine umfassende Partizipation der Mitglieder an allen Einzelentscheidungen des Verbandes versteht. Indessen stößt dieses Demokratiekonzept, von dem im übrigen das Grundgesetz für den staatlichen Bereich nicht ausgeht, auf beträchtliche Realisierungsschwierigkeiten. Die Organisationssoziologie hat herausgestellt, daß die klassischen Formen der Versammlungsdemokratie nicht nur im Staat, sondern auch bei kleineren Organisationen angesichts der Anzahl, Vielfalt und Kompliziertheit der Entscheidungsprobleme versagen 31 . Die Hoffnung, daß man nur die Rechtsstellung der Mitgliederversammlung aufwerten und die des Vorstandes eingrenzen müsse, um innerverbandliche Demokratie zu erhalten, wäre daher vergeblich. Gesetzliche Konsequenzen sind aus der Forderung nach innerverbandlicher 18 Demokratie nicht gezogen worden. Auch die Gerichte haben sie nicht aufgenommen und unter direktem Rückgriff auf das Grundgesetz durchgesetzt. Mit wachsender Einsicht, daß Verbändedemokratisierung noch nicht das Verbändeproblem löst, wurde es aber auch um die Forderung selber stiller. Die Welle der Verbändeliteratur ist in den achtziger Jahren verebbt. Insofern hat die Entwicklung B Ö C K E N F Ö R D E recht gegeben, der das verfassungsrechtliche Dilemma in seinem grundlegenden Aufsatz von 1976 am schärfsten akzentuiert, dessen ungeachtet aber schon damals vor einer Konstitutionalisierung der Verbände, ähnlich der der politischen Parteien, gewarnt hatte, weil sie die Grenze zwischen sektoraler und allgemeiner Entscheidungsteilhabe auflösen und den Verbänden eine Ausgangsbasis für generelle Teilhabeforderungen verschaffen könnte, die das Demokratieproblem verschärfen würden, statt es zu beseitigen. Aus diesem Grund schlug er vor, es bei der relativen Vernünftigkeit des status quo zu belassen32. Angesichts dieser Entwicklung soll auch die höchst umstrittene und seinerzeit nicht abschließend geklärte Frage nicht weiter verfolgt werden, ob ein Verbändegesetz, das innerverbandliche Demokratie vorschriebe, verfassungsrechtlich zulässig wäre und auf welche Vorschriften sich die Zulässigkeit stützen ließe. Insoweit kann vielmehr auf die Ausführungen in der Vorauflage dieses Werkes verwiesen werden33. Ohne daß der Verbändedemokratisierung ein begrenzter Nutzen abgesprochen werden sollte, verfehlt sie doch die eigentlichen Probleme, die in der Transformation des Staates und dem Vermögen der Verfassung bestehen, ihre Legitimierungs- und Limitierungsfunktion auch unter veränderten Bedingungen zu erfüllen. 2. Anforderungen an kooperatives Handeln Seitdem klar geworden ist, daß der Ansatz zur Lösung der Probleme des kooperativen 19 Staates nicht in erster Linie bei den verbandlich organisierten Akteuren liegt, richtet sich das Bemühen verstärkt auf die neuartige Aktionsform der Absprache. Die Frage 31

32 33

Vgl. dazu TEUBNER Organisationsdemokratie (Fn. 1) S. 78; ferner F. NASCHOLD Organisation und Demokratie, 1969; F. SCHARPF Demokratietheorie zwischen U t o p i e und A n p a s s u n g , 1970. BÖCKENFÖRDE Funktion wirtschaftlich-sozialer Verbände (Fn. 21) S. 481. D o r t S. 384 ff.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

lautet dann, wie die demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialstaatlichen Anforderungen des Grundgesetzes angesichts kooperativer Entscheidungsmuster gewahrt werden können. Das ist die Frage nach den Voraussetzungen und Grenzen staatlicher Aufgabenerfüllung im Verhandlungsweg. Auch dazu gibt es inzwischen eine Fülle von Literatur, ohne daß die Probleme deswegen schon als gelöst gelten könnten 34 . Nicht wenige Ansätze kranken vielmehr daran, daß sie sich dem neuartigen Phänomen mit dem tradierten Instrumentarium, etwa des Verwaltungsverfahrensgesetzes oder der grundrechtlichen Eingriffsdogmatik, nähern. Indessen sind es gerade der Verzicht auf formelle Bindungen sowie die Freiwilligkeit der gegenseitigen Verhaltenszusagen, die einer Übertragung dieser Regelungen auf die kooperative Staatspraxis entgegenstehen. Wo das erkannt wird, breitet sich nicht selten verfassungsrechtliche Resignation aus, und als einzige Schranke, die das Grundgesetz dem paktierenden Staat noch zieht, bleibt die bundesstaatliche Kompetenzverteilung übrig 35 . Wo an den traditionellen Instrumenten festgehalten wird, findet das Problem regelungsersetzender Absprachen keine Antwort. Dieses besteht ja weniger im Schutzbedürfnis der Verhandlungsteilnehmer, deren Interessen durch die Beteiligung am Verfahren und die Konsensbedürftigkeit der Absprachen hinlänglich gewahrt sind, als im Schutzdefizit auf selten der Nichtbeteiligten, und zwar sowohl der ausgeschlossenen Staatsorgane als auch der übergangenen gesellschaftlichen Gruppen. 20

Nötig ist daher ein Instrumentarium, das die verfassungsrechtlichen Anforderungen an staatliches Handeln gerade angesichts der Eigenarten des paktierenden Staates zur Geltung bringt. Das macht zunächst eine Bestandsaufnahme nötig, welche verfassungsrechtlichen Anforderungen durch kooperatives Staatshandeln entwertet

34

Vgl. neben den in Fn. 14 enthaltenen Hinweisen etwa M. O L D I G E S Staatlich inspirierte Selbstbeschränkungsabkommen der Privatwirtschaft, in: WiR 1973, S. 1; F. v. Z E Z S C H W I T Z Wirtschaftsrechtliche Lenkungstechniken, in: JA 1978, S. 497; M. K L O E P F E R Umweltschutz als Kartellprivileg?, in: JZ 1980, S. 781; DERS. Z U den neuen umweltfreundlichen Handlungsformen des Staates, in: JZ 1991, S. 737; W. H O F F M A N N - R I E M Selbstbindungen der Verwaltung, in: VVDStRL Bd. 40 (1982) S. 187; E . B O H N E Informales Verwaltungs- und Regierungshandeln als Instrument des Umweltschutzes, in: VerwArch 75 (1984) S. 343; C . E . E B E R L E Arrangements in Verwaltungsverfahren, in: Die Verw. 17 (1984) S. 439; J. B E C K E R Informales Verwaltungshandeln zur Steuerung wirtschaftlicher Prozesse im Zeichen der Deregulierung, in: DÖV 1985, S. 1003; W. B R O H M Gesetzesvollzug als Handelsobjekt?, in: W. Heinz (Hrsg.) Rechtstatsachenforschung heute, 1986, S. 103; DERS. Situative Gesetzesanpassung durch die Verwaltung, in: NVwZ 1988, S. 794; DERS. Rechtsgrundsätze für normersetzende Absprachen, in: DÖV 1992, S. 1025; J. O E B B E C K E Die staatliche Mitwirkung an gesetzesabwendenden Vereinbarungen, in: DVB1. 1986, S. 793; H. B A U E R Informelles Verwaltungshandeln im öffentlichen Wirtschaftsrecht, in: VerwArch 78 (1978) S. 241; B A U D E N B A C H E R Gesetzesersetzende Vereinbarungen (Fn. 20) S. 689; C. HOOD/ G. F. SCHUPPERT Verselbständigte Verwaltungseinheiten in Westeuropa, 1988; D. M U R S W I E K Freiheit und Freiwilligkeit im Umweltrecht, in: JZ 1988, S. 985; W. R E N G E L I N G Das Kooperationsprinzip im Umweltrecht, 1988; M. B U L L I N G Kooperatives Verwaltungshandeln in der Verwaltungspraxis, in: DÖV 1989, S. 277; G. L Ü B B E - W O L F F Das Kooperationsprinzip im Umweltrecht, in: NuR 1989, S. 295; Ε. D E N N I N G E R Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Normsetzung im Technik- und Umweltrecht, 1990; U. Dì F A B I O Vertrag statt Gesetz?, in: DVB1. 1990, S. 338; J. S C H E R E R Rechtsprobleme normersetzender „Absprachen" zwischen Staat und Wirtschaft am Beispiel des Umweltrechts, in: DÖV 1991, S. 1.

35

So bei

BAUDENBACHER

Gesetzesersetzende Vereinbarungen (Fn.

20)

S.

697.

§15

Verbände (GRIMM)

671

zu werden drohen und in welcher Weise das geschieht. Da es insoweit von Bereich zu Bereich und von Ebene zu Ebene erhebliche Unterschiede gibt, kann die Bestandsaufnahme hier nur pauschal erfolgen und bleibt differenzierungsbedürftig. Auszugehen ist von denjenigen Merkmalen, die die kooperative Aufgabenwahrnehmung von der hoheitlichen unterscheidet. Das ist zum einen der Umstand, daß die Absprachen die traditionellen staatlichen Handlungsformen verdrängen, zum anderen der Umstand, daß sie im Gegensatz zu diesen nicht in formelle Entscheidungen münden. Das wird vor allem bei Absprachen bedeutsam, die an die Stelle staatlich gesetzter Normen treten. Da Verhandlungspartner auf staatlicher Seite die Exekutive ist, fehlt ihnen diejenige Partizipation und Transparenz, die gerade das parlamentarische Rechtssetzungsverfahren oder zumindest die vom Parlament erteilte Rechtssetzungsermächtigung vermitteln. Weder besteht am Verhandlungstisch die Notwendigkeit, sich der parlamentarischen Opposition zu stellen, noch gibt das Aushandlungsverfahren dem Publikum die Möglichkeit, seine Auffassungen und Interessen wirksam zur Geltung zu bringen. Schließlich entzieht sich das Verhandlungsergebnis wegen seiner Informalität den rechtsstaatlichen Anforderungen der Bestimmtheit und Publizität ebenso wie der Nachprüfbarkeit in förmlichen Kontrollverfahren. Für diese Defizite sind verfassungsrechtliche Kompensationen erforderlich. Die Lösung kann allerdings nicht darin bestehen, daß Absprachen denselben 21 Anforderungen unterworfen werden, denen diejenigen Handlungsformen genügen müssen, an deren Stelle sie treten. Der Kooperationsbedarf würde sich dann anderweitig Bahn brechen. Eine Reihe verfassungsrechtlicher Bindungen ist jedoch unaufgebbar36. So müssen auch Absprachen die verfassungsrechtliche Funktionenteilung wahren. Die Selbstbindungsmacht kann nicht weiter reichen als die hoheitliche Befugnis. Das gilt nicht nur im Verhältnis von Bund und Ländern, sondern auch im Verhältnis von Bundesorganen zueinander. Insbesondere kann sich die Exekutive nicht zum Erlaß von Regelungen verpflichten, die dem Parlament vorbehalten sind. Sie kann höchstens eine Initiative zusagen. Ebensowenig kann sie einen Gesetzgebungsverzicht erklären, sondern nur auf ihr Initiativrecht verzichten. Werden Absprachen im Bereich des Verordnungsrechts getroffen, ist eine parlamentarische Ermächtigung erforderlich. Erst recht kommt die völlige Überlassung von Regelungsgewalt an Verbände nur aufgrund gesetzlicher Ermächtigung in Betracht. Das hängt damit zusammen, daß Gesetzesvorbehalt und Verordnungsermächtigung nicht nur dem Individualrechtsschutz von Grundrechtsträgern dienen, sondern auch eine demokratische Komponente haben. So hat das Bundesverfassungsgericht erst unlängst in der Fangschaltungsentscheidung ausgeführt, der Parlamentsvorbehalt wolle sichern, daß Entscheidungen von großer Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und die Volksvertretung anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären37. 36

37

Zum Folgenden vor allem BROHM Normersetzende Absprachen (Fn. 34) S. 1025; DENNINGER Anforderungen (Fn. 34) S. 117 ff. BVerfGE 85, 386 (403 f).

672

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

22

Soweit sich die Absprachen den verfassungsrechtlichen Anforderungen entziehen, muß das Defizit auf andere Weise verringert werden. Dafür bieten sich insbesondere Verfahrenslösungen an. Sie erlangen vor allem hinsichtlich der Partizipation Bedeutung. Verhandlungssysteme begünstigen diejenigen Interessenträger, die über Verweigerungspotential verfügen, während Betroffenen ohne Vetomacht eine Vernachlässigung ihrer Interessen droht. In dieser Hinsicht sind fast alle verhandelnden oder regelsetzenden Gremien derzeit defizitär38. Die Anforderungen des Grundgesetzes an politische Entscheidungen lassen sich unter diesen Umständen nur wahren, wenn alle Institutionen, deren Mitwirkung an einer entsprechenden förmlichen Regelung erforderlich wäre, auch die Gelegenheit zur Beteiligung an den Verhandlungen haben und wenn überdies Zugangsregelungen garantieren, daß alle von der Absprache betroffenen Gruppen eine Partizipationschance erhalten. Dabei taucht freilich das bekannte Problem der Bestimmung von Partizipationsrechten auf. Zum einen geht es dabei um die Auswahl unter konkurrierenden Interessenvertretungen, zum anderen um die Berücksichtigung nicht organisierter und nicht organisierbarer Interessen. Für das Selektionsproblem gibt es aber sowohl Erfahrungen als auch Leitlinien in der Verfassungsrechtsprechung, an die angeknüpft werden kann. Für die Vertretung nicht organisierter und nicht organisierbarer Interessen, die gerade dem Staat anvertraut sind, in Verhandlungssystemen aber leicht zur Disposition gestellt werden, muß an die Einrichtung öffentlicher Sachwalter, etwa nach dem Muster der Datenschutzbeauftragten, gedacht werden, die an den Aushandlungsverfahren zu beteiligen und in das Konsenserfordernis einzubeziehen sind 39 .

23

Hinsichtlich der Kontrolle von politischen Entscheidungen, die aus Verhandlungen zwischen staatlichen Organen und verbandlichen Akteuren hervorgehen, fehlt es wegen der mangelnden Publizität und Transparenz an einem ausreichenden Ansatz für öffentliche Kritik und wegen der Informalität an einem Ansatz für gerichtliche Nachprüfung. Publizität ist daher zur Aufrechterhaltung von Kontrolle angesichts einer neuartigen staatlichen Handlungsform unerläßlich. Dabei kann es sich ohne Preisgabe der Vorteile von Verhandlungslösungen freilich nicht um Publizität des Verhandlungsvorgangs selber, sondern nur um Publizität der Existenz von Verhandlungen sowie ihrer Ergebnisse handeln. Diese ist allerdings von Verfassungs wegen geboten. Im Unterschied zur Normpublikation liegt der Grund aber nicht in der Notwendigkeit, den Normadressaten Kenntnis von ihren Rechten und Pflichten zu geben. Absprachen binden nur die Beteiligten, und diesen sind sie aus der Mitwirkung ohnehin bekannt. Publizität wird vielmehr aus Gründen der demokratischen Kontrolle und des gerichtlichen Rechtsschutzes notwendig. Erst die Publizität des Umstandes, daß Absprachen in einem bestimmten Gegenstandsbereich angestrebt werden, sowie die Bekanntgabe des Ergebnisses verschafft den Ausgeschlossenen die Möglichkeit, sich in die Verhandlungen einzuschalten oder Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen. Dieser kann freilich wegen der Informalität nicht 38

V g l . DENNINGER A n f o r d e r u n g e n ( F n . 3 4 ) S. 6 8 ff, 192.

39

Vgl. GRIMM Zukunft (Fn. 12) S. 176; DENNINGER Anforderungen (Fn. 34) S. 68 ff; BVerfGE 83, 130 (149 ff); 83, 238 (332 ff).

§15

V e r b ä n d e (GRIMM)

673

in erster Linie in einer Ergebniskontrolle bestehen. Er muß sich vielmehr auf die Wahrung des Kompetenzrahmens und die Berücksichtigung von Mitwirkungs- und Zugangsrechten beschränken, während der Schutz im übrigen in der Verhandlungsbeteiligung selber liegt. Inhaltlich kann nur geprüft werden, ob die Absprachen auf ein Verhalten gerichtet sind, das der Staat unter keinen Umständen verlangen dürfte. Ein vollwertiger Ausgleich für die verfassungsrechtlichen Defizite liegt darin 24 allerdings nicht. Das hat zwei Gründe. Der eine hängt mit der Eigenart von Absprachen, der andere mit der Eigenart der Verfassung zusammen. Das Auftauchen kooperativer Entscheidungsmuster erklärt sich gerade aus den Schwächen der verfassungsrechtlich geregelten Entscheidungsverfahren und Handlungsformen bei der Erfüllung neuartiger Staatsaufgaben. Eine durchgängige Verrechtlichung informeller Kooperation drohte deren Vorteile wieder aufzuheben, ohne doch den Bedarf senken zu können. Dieser würde sich vielmehr andere Ventile suchen. Selbst bei einer Teilformalisierung der Verhandlungssysteme, wie sie hier vorgeschlagen wird, ist damit zu rechnen, daß neue informelle Vorstufen sich ausbreiten. Die Steuerungskraft des Rechts gerät hier an ihre Grenzen. Eine durchgängige Konstitutionalisierung derjenigen Zone, in der Staat und Gesellschaft einander durchdringen, scheitert aber auch an der Eigenart der Verfassung. Die Verfassung bezieht sich regelnd auf den Staat. Sie setzt ihm im Interesse individueller Freiheit und gesellschaftlicher Autonomie Grenzen, erlegt ihm Schutzpflichten auf und richtet ihn in organisatorischer und prozeduraler Hinsicht so ein, daß ein Gebrauch der Macht zu anderen als den verfassungsrechtlich erlaubten Zwecken möglichst verhindert wird. Damit bleibt die Verfassung aber auf die Differenz zwischen Staat und Gesellschaft bezogen und läßt sich, wie schon die Betrachtung der politischen Parteien gelehrt hat40, auf Akteure und Handlungsformen, die diese Grenze durchbrechen, nicht ohne Rest übertragen. Insofern hinterläßt der kooperative Staat eine Lücke im Regelungsanspruch der Verfassung, die nicht mehr völlig zu schließen ist.

40

In diesem Handbuch § 14.

§16 „Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung ERHARD DENNINGER

Übersicht Rdn. I. Die Aufgabe der „streitbaren Demokratie", ihre Einrichtungen und Befugnisse 1. Zur gegenwärtigen Problematik der „streitbaren Demokratie" 2. Zum historischen Verständnis von Verfassungsschutz 3. Systematische Unterscheidung: Schutz der Verfassung im weiteren Sinne und Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung 4. Die Schutzgüter der „streitbaren Demokratie", insbesondere die freiheitliche demokratische Grundordnung a) Bestandsaufnahme b) „Freiheitliche demokratische Grundordnung" . . . . c) „Bestand und Sicherheit des Bundes oder eines Landes" d) Staatsschutz und Verfassungsschutz

1—69

1-8 9 — 13

14 — 30

31—42 31, 32 33—37 38—40 41, 42

Rdn. 5. Einrichtungen und Befugnisse zur Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung a) Nachrichtendienstlicher Verfassungsschutz b) Abwehr konkreter Gefahren für die Schutzgüter des Verfassungsschutzes c) Präventiver Schutz des freiheitlichen Prozesses der politischen Meinungs- und Willensbildung d) Politisches Strafrecht und Widerstandsrecht II. Kontrolle 1. Kontrolle der Maßnahmen nach dem Gesetz zu Art. 10 des Grundgesetzes (G 10) 2. Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste III. Schlußbetrachtung zur „streitbaren Demokratie"

43 — 69 45 — 54

55 — 60

61-67 68, 69 70-72

70 71, 72 73—75

I. Die Aufgabe der „streitbaren Demokratie", ihre Einrichtungen und Befugnisse 1. Zur gegenwärtigen Problematik der „streitbaren Demokratie" Vor zwanzig Jahren lösten der „Extremisten-Beschluß" der Ministerpräsidenten der 1 (damals) elf Bundesländer und ihre „Gemeinsame Erklärung" zusammen mit dem

676

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Bundeskanzler 1 eine viele Jahre anhaltende heftige politisch-rechtliche Diskussion, zahllose Verwaltungs-, Disziplinar- und Verwaltungsgerichtsverfahren 2 und schließlich internationales Befremden über die westdeutsche „Berufsverbote"-Praxis aus 3 . So umstritten die einzelnen Maßnahmen der „abwehrbereiten" Demokratie und ihre juristischen, insbesondere beamtenrechtlichen Voraussetzungen auch gewesen sein mögen 4 , eines blieb dabei deutlich und überschaubar: die „Bedrohungslage"1. Das Links-Rechts-Schema prägte nicht nur die Organisation des nachrichtendienstlichen Verfassungsschutzes als Institution und den Aufbau seiner jährlichen Berichte, sondern überhaupt die politische Mentalität der in Krisensituationen (etwa bei terroristischen Entführungen und Morden) jederzeit an- und abrufbaren „Gemeinsamkeit der Demokraten". Die Abwehrhaltung gegen den Rechtsextremismus, vor allem gegen neonazistische Tendenzen, war aus der „Bewältigung" der Vergangenheit und aus der Entstehung der Bundesrepublik ohnehin selbstverständlich. Die Streitbarkeit nach „links" war durch die Koinzidenz von außen- bzw. sicherheitspolitischer und systemkritisch-ideologischer Bedrohung sowie durch Mauerbau und Todesstreifen geographisch wie psychisch klar verortet. Man wußte, wo der „Feind" stand und wie er hieß. 2

Heute (1992) hat sich fast alles und gründlich geändert. Die Lage ist, so scheint es, schwer durchschaubar. Grenzen, die zwar Hindernisse, aber auch Berechenbarkeit und (vielleicht) Sicherheit bedeuteten, werden durchlässig oder verschwinden ganz; ökonomische und politische Entwicklungen sind ebenso vielfältig wie schwierig zu prognostizieren; ehemals identitätsstärkende Feindbilder sind zu verabschieden — wie schnell kann man (als „Demokrat") ζ. B. lernen, daß nunmehr DKP und PDS 1

2

3

4

5

Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst, sowie Gemeinsame Erklärung des Bundeskanzlers und der Ministerpräsidenten der Länder, beide vom 28. Januar 1972, vgl. etwa MB1. Nordrhein-Westfalen, 1972, S. 324. Die Grundsätze-Erklärung wurde vielfach auch als „Radikalen-Erlaß" bezeichnet. Aus der jüngeren Rechtsprechung: BVerwGE 83, 136 (1983, Stabsoffizier, NPD-Funktionär); BVerwGE 76, 157 (1984, Postbeamter, DKP-Funktionär), BVerwGE 83, 158 (1986, Bundesbahnsekretär, NPD-Funktionär); BVerwGE 83, 345 (1987, Raketenoffizier, NPD-Funktionär); BVerwGE 81, 212 (1989, Universitätslehrbeauftragter, DKP-Funktionär). Im Februar 1987 legte der von der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) eingesetzte Untersuchungsausschuß „Zur Prüfung der Einhaltung des Übereinkommens (Nr. 111) über die Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf), 1958, durch die Bundesrepublik Deutschland" seinen Bericht vor, vgl. ILO-Press vom 23. 2. 1987, Nr. 6/87. Der Bericht stellt fest, daß die in der Bundesrepublik aufgrund der Treuepflicht getroffenen Maßnahmen sich in zahlreichen Fällen (insbesondere von Lehrern) nicht innerhalb der Grenzen des Übereinkommens gehalten hätten. Der Ausschuß empfahl eine nach Funktionen zu differenzierende, einzelfallorientierte Treuepflichtprüfung. Die Bundesregierung berief sich in ihrer Erwiderung vom 7. Mai 1987 u. a. auf Art. 5 Abs. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966 und sah deshalb keinen Anlaß, von ihrer Rechtsposition abzugehen. Das wird noch in den Differenzen der drei (!) abweichenden Meinungen zum „RadikalenBeschluß" des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 1975 (BVerfGE 39, 334 ff, 375 ff) sichtbar. Terminus technicus der Verfassungsschutzbehörden. Vgl. z. B. G. BOEDEN Vierzig Jahre Verfassungsschutz, in: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.) Verfassungsschutz in der Demokratie, 1990, S. 7.

§16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

677

in der Bundesrepublik als Parteien toleriert werden, daß hingegen in Rußland die Kommunistische Partei verboten ist? Freilich, diese „Neue Unübersichtlichkeit" 6 ist so neu dann auch wieder nicht, sie hat nur durch die Ereignisse im und seit dem Herbst 1989 dramatische Züge gewonnen. In der Fülle der Erscheinungen lassen sich f ü n f , jeweils für sich wieder sehr 3 komplexe Vorgänge und Tendenzen ausmachen, die unmittelbar auf die sozialen und politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik einwirken und schon deshalb die Einrichtungen der „streitbaren Demokratie" und deren Selbstverständnis nicht unberührt lassen können. Auf Stichworte reduziert meint dies: (1) Eine neue Sensibilität des Bürgers gegenüber jedweden Versuchen der Bürokratie (und erst recht der Exekutivorgane), auskunftheischend oder beobachtend in seine Privatsphäre einzudringen: die Bewußtwerdung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung; (2) die mit dem Wegfall der Systemkonfrontation und des außenpolitischen Feindbildes gewachsene schwierige Notwendigkeit, die positive Bedeutung der eigenen politischen Existenzform (gewaltenteilende, parteienplurale Repräsentativdemokratie) auch über den Bereich ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit hinaus — besonders den Jugendlichen 7 — sinnvoll zu vermitteln; eine Fortsetzung der „Grundwerte-Diskussion" der 70er Jahre unter veränderten Bedingungen; (3) angemessene Antworten zu finden auf die mit der Öffnung innereuropäischer Grenzen (in Ost und West), mit steigender Migration und Immigration, mit dem Zusammenleben in „multikultureller" Vielfalt und mit dem Import fremder religiöskulturell-politischer Konflikte entstandenen Herausforderungen; (4) die Bekämpfung der „organisierten Kriminalität" und des politisch motivierten Terrorismus, bei hoher internationaler Mobilität; (5) die Wahrnehmung von und vorurteilsfreie geistig-politische Auseinandersetzung mit neuen „postmodernen" Denkformen, politischen Ausdrucks- und Protestformen, wie sie von „Neuen sozialen Bewegungen" bis hin zum „zivilen Ungehorsam" vorgestellt werden. Auch Phänomene der Abkehr von etablierten Großorganisationen (Kirchen, Gewerkschaften, Parteien usw.), der „Parteienmüdigkeit", anarchischer „Aussteiger"-Experimente und eines introvertierten, nichtoffensiven Fundamentalismus gehören in diesen Zusammenhang. Zu (1) bis (5): 4 Fragt man rückblickend, weshalb es 1982/83 zu einer so populären und heftigen Reaktion gegen die vom Gesetzgeber 8 für den 27. April 1983 geplante „Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung" kam, muß man mehrere Faktoren zusammensehen. Die traurigen Höhepunkte des RAF-Terrorismus in der zweiten 6 7

8

J. HABERMAS Die Neue Unübersichtlichkeit, 1985. Vgl. Der Spiegel, Bericht in Nr. 46/1991 v o m 1 1 . 1 1 . 1 9 9 1 , S. 1 0 6 ff: „Da braut sich was zusammen". Volkszählungsgesetz 1983 v o m 25. März 1982 (BGBl. I S. 369).

678

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Hälfte der 70er Jahre, zumal die Morde des Jahres 1977, hatten notwendigerweise zu einer verstärkten Präsenz der Sicherheitskräfte, auch in der Medienberichterstattung geführt. Aus der Diskussion um die politische Treuepflicht der Beamten(bewerber) war manches über die Mitwirkung des Verfassungsschutzes bei Einstellungen und über seine Praxis insgesamt bekannt geworden („Regelanfrage"). Rechtsstaatlich bedenkliche Amtshilfepraktiken zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz, dem Bundesnachrichtendienst und den Grenzkontrollbehörden (verwaltungsintern in der „Sonderanweisung über die Erfassung bestimmter Erkenntnisse bei der grenzpolizeilichen Kontrolle (SO-GK)" von 1975 geregelt) trugen nach ihrem Bekanntwerden ihrerseits dazu bei, Ängste in der Bevölkerung vor dem Aufbau eines „Schnüffel-" und Überwachungsstaates zu nähren. Hinzu kam die nun auch in Deutschland rapide fortschreitende Entwicklung der neuen elektronischen Informationstechnologien, von der Videocamera bis zu online-verbundenen Datenbanken. Faszinierten einerseits die neuen Möglichkeiten der Unterhaltungselektronik, so bedrückte andererseits der Gedanke an den technisch möglichen Ausbau schrankenloser Informationsverbundsysteme zwischen Polizei und Nachrichtendiensten9. „Rasterfahndung", „Lauschangriffe" (Affäre Traube 1975/76, aufgedeckt im Februar 1977) und „gläserner Mensch" lauteten die Vokabeln, in denen die doppelte Angst vor staatlich-polizeilicher und technischer Übermacht ihren Ausdruck suchte. Das „erlösende Wort" aus dem Munde der Karlsruher Richter am 15. Dezember 198310 gab zwar einige wichtige, grundsätzliche Antworten, riß aber gleichzeitig zahlreiche neue Fragen auf, die die Gesetzgeber in Bund und Ländern bis heute zu beantworten versuchen. 5

Deutlich bezeichnet das Gericht den wesentlichen Gehalt des aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, nämlich als „die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen"11.

6

Beschränkungen dieses Grundrechts sind im überwiegenden Allgemeininteresse zulässig, bedürfen aber einer gesetzlichen Grundlage, die — und hier beginnen die Schwierigkeiten und Streitzonen — dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen müssen12. Insbesondere die vom Gericht zur Erläuterung dieser abstrakten Prinzipien entwickelten Kriterien — der bereichsspezifischen und präzisen Bestimmung des Verwendungszweckes personenbezogener Daten, — des Verbots der Datensammlung auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken, 9

10 11 12

Aus der Literaturfülle: J. W E I Z E N B A U M Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, 1978; H. P. B U L L Datenschutz oder die Angst vor dem Computer, 1984; U. K A U B Der suspendierte Datenschutz bei Polizei und Geheimdiensten, 1989. BVerfGE 65, 1 ff. BVerfGE 65, 43. BVerfGE 65, 44.

§16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

679

— des „amtshilfefesten" Schutzes gegen Zweckentfremdung durch Weitergabe- und Verwertungsverbote, sowie — weiterer Schutzvorkehrungen durch Aufklärungs-, Auskunfts- und Löschungspflichten13 gaben und geben den Gesetzgebern im Bereich der Sicherheitsbehörden (Polizeien, Nachrichtendienste, Staatsanwaltschaften, Justiz) harte Nüsse zu knacken auf. Denn unvermeidlicherweise bedeutet die Errichtung jeder polizeilichen oder nachrichtendienstlichen Datei immer ein Datensammeln auf Vorrat zu einem konkret jedenfalls noch nicht feststehenden und insofern unbestimmten Zweck und ebenso unvermeidlich ist es, daß bei der Terrorismusbeobachtung und -bekämpfung oder bei der Extremismusbeobachtung und -bekämpfung eine Zusammenarbeit, d. h. ein reziproker, begrenzter Informationsaustausch zwischen Polizei und Verfassungsschutz stattfinden muß; das Problem ist, hier vernünftige und praktikable Grenzen zu finden. Die Schwierigkeiten werden dadurch noch verstärkt, daß eine klare Abgrenzung 7 der Aufgabenfelder von Polizei einerseits, Verfassungsschutz andererseits überhaupt immer problematischer wird. Die früher gängige Faustformel „Gefahrenabwehr ist Polizeiarbeit, Vorfeldarbeit Sache des Verfassungsschutzes" wird unbrauchbar, seit die Polizei sub titulo „vorbeugende Bekämpfung von Straftaten" (der organisierten Kriminalität) immer mehr in das „Vorfeld" eindringt und seit auch die „nachrichtendienstlichen Mittel" — z. B. der „Einsatz technischer Mittel" (Videoüberwachungen, geheime Mikrofone, Aufzeichnungen des nicht öffentlich gesprochenen Wortes usw.) — im Gehorsam gegenüber dem Regelungsgebot des Bundesverfassungsgerichts! — Einzug in die Polizeigesetze der Länder gehalten haben14. Deshalb kann es nicht verwundern, daß auf der anderen Seite, nämlich an höchster Stelle im Verfassungsschutz, über eine Aufgabenerweiterung dieses Dienstes in den Bereich der Kriminalitätsbekämpfung hinein laut nachgedacht wird: im Hinblick auf die international sich ausbreitende „organisierte Kriminalität" oder bezüglich der Kontrolle der Ausfuhr „sensitiver Stoffe und Anlagen" (sprich: von Kriegswaffen und -gerät) in Krisengebiete15. Um so notwendiger erscheint der Versuch, die demokratieschützende politische 8 Funktion der „Streitbarkeit" der abwehrbereiten Demokratie möglichst deutlich herauszuarbeiten, um von hier aus die Aufgaben des institutionalisierten Verfassungsschutzes zu bestimmen und zu begrenzen (vgl. dazu unten Rdn. 31 ff und 43 ff). Das Bundesverfassungsgericht hat im Urteil zum Volkszählungsgesetz — ebenso unbeabsichtigt wie verdienstvoll — das zentrale Problem jeder Art von „streitbarer Demokratie", das mit der Formel „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit!" zwar formuliert, nicht aber gelöst ist, in Erinnerung gerufen, indem es die „Gemeinwohlfunktion" der informationellen Selbstbestimmung mitberücksichtigt. Diese sei 13 14

15

B V e r f G E 65, 46. Zur Problematik dieser Ausweitung der Polizeiarbeit vgl. H. F. LISKEN/E. DENNINGER (Hrsg.) Handbuch des Polizeirechts, 1992, Kap. E, Rdn. 155 ff. G. BOEDEN Vierzig Jahre Verfassungsschutz (Fn. 5) S. 1 ff, 9.

680

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

nämlich „eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfahigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens" 16 . Die „Grundordnung" dieses freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens als Schut2gut des „Verfassungsschutzes" (Art. 73 Nr. 10 b) GG) umfaßt aber, wie die neueren Verfassungsschutzgesetze des Bundes und der Länder ausdrücklich, dabei Fundamentalsätze des Bundesverfassungsgerichts aufnehmend 17 , definieren, auch „die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte" 18 , mithin auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, dessen unmittelbarer Menschenwürde-Bezug auch dogmatisch anerkannt ist. Beschneidungen dieses Rechts, wie auch anderer Grundrechte (z.B. auf Meinungsäußerung in Verfahren nach Art. 18 oder Art. 21 Abs. 2 GG oder aufgrund strafrechtlicher Normen) beschneiden also die freiheitliche demokratische Grundordnung selbst, die der Verfassungsschutz doch gerade schützen soll. Wird der Schutz der Verfassung im klaren Bewußtsein der Unentrinnbarkeit dieses Zirkels praktiziert, so ist ein guter Ausgangspunkt für den vorsichtigen und maßvollen Umgang mit seinen Waffen gewonnen. 2. Zum historischen Verständnis von Verfassungsschutz 9 Solange man über Sinn und Zweck von „Verfassung" nachgedacht hat, solange währt auch das Nachdenken über „Schutz", „Erhaltung", „Gewähr" oder „Garantie" der Verfassung. Am Beginn der abendländischen Tradition begegnen uns P L A T O N S Vorschlag eines staatlich verordneten, von besonders ausgewählten, nicht unter fünfzig Jahre alten (!) Richtern redigierten Kanons öffentlicher Gedichte, Gesänge und Tänze19, sowie seine Idee einer Nächtlichen Versammlung der weisesten Gesetzeswächter, Staatspreisträger und Gesetzgebungsexperten 20 . Als ein glänzender Beobachter der Politik- und Verwaltungswirklichkeit und als ein genauer Kenner der menschlichen Schwächen erweist sich A R I S T O T E L E S in ausführlichen, teilweise höchst aktuellen Betrachtungen über die Erhaltung der Verfassung(en) 21 . Auch er erkennt, wie Piaton, die hervorragende Bedeutung staatsbürgerlicher Erziehung. „Das Wichtigste aber für den dauernden Bestand der Staatsform, wichtiger als alles bis jetzt Angeführte, was gleichwohl gegenwärtig überall vernachlässigt wird, ist eine der Verfassung angemessene Erziehung. Die heilsamsten Gesetze, hervorgegangen aus einmütiger Entschließung aller Staatsbürger, fruchten nichts, solange nicht Sorge getragen wird, daß die einzelnen sich in sie hineinleben und im Geiste der Verfassung

16 17 18

BVerfGE 65, 1 (43). BVerfGE 2, 1 (12 f) (SRP-Urteil). Sie werden in § 4 Abs. 2 g) BVerfSchG 1990 an letzter Stelle, im BayVSG vom 24.8. 1990, Art. 1 Abs. 2 S. 2, hingegen an erster Stelle des nicht abschließenden Kataloges genannt.

19

PLATON N o m o i , V I I , 1 0 , 8 0 2 a f f .

20

PLATON Nomoi, XII, 10, 961 äff. Der Zeitpunkt der Versammlung, die Morgendämmerung, wird allerdings nicht aus Gründen der Geheimhaltung gewählt, sondern weil die Mitglieder dann von anderen Sorgen und Geschäften am freiesten seien.

21

ARISTOTELES P o l i t i k , V , 8 f f , 1 3 0 7 a f f .

§16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

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erzogen werden, demokratisch erzogen werden, wenn die Gesetze demokratisch, und oligarchisch, wenn sie oligarchisch sind" 22 . Die Geschichte der Theorien zum Schutz und zur Pflege von Staatsform und 10 Herrschaft ist noch nicht geschrieben; sie kann hier nicht einmal skizziert werden. Sie müßte so weit auseinanderliegende Erscheinungen wie die mittelalterliche Fürstenspiegel-Literatur, die Arcana imperii-Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts 23 und die Rechtsstaats-Diskussion des 19. Jahrhunderts kategorial umgreifen, ein ebenso reizvolles wie schwieriges, ja nahezu unmögliches Unterfangen. Wenn hier dennoch einige Beispiele aus dem vorigen Jahrhundert angeführt werden sollen, so aus zwei Gründen: Erstens: Ein Vergleich der gegenwärtigen Einrichtungen zum Schutz der Verfassung mit jenen aus den Anfangen des modernen bürgerlichen Verfassungsstaates (auf dessen Grundlagen: Grundrechte, Gewaltenteilung, Rechtsstaatsprinzip, Unabhängigkeit der Rechtspflege, Parlamentarismus auch unser heutiges freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen noch beruht) läßt die Besonderheiten des Verfassungsstaates des ausgehenden 20. Jahrhunderts und seiner Gefährdungen plastisch hervortreten. Und zweitens: In der Distanz des Vergleichens wird die Interdependenz von (jeweiliger) Verfassung und (jeweiligem) Verfassungs-Schutz deutlich: Schutzeinrichtungen und Schutzgut stehen in einem wechselseitigen Funktionszusammenhang. Schutz der Verfassung ist nur zu begreifen als ein „reflexiver Mechanismus" 24 , als Maß und Qualität der „Verfaßtheit" einer Verfassung, kurz: als ,Verfassung' der Verfassung. Hieraus folgt notwendig, daß der Begriff von Verfassung, welchen der Interpret voraussetzt, und die Methoden der Verfassungsauslegung, die er anwendet, auch seinen Begriff vom „Schutz der Verfassung" mitbestimmen. In einigen Verfassungsurkunden des deutschen Konstitutionalismus finden sich 11 Abschnitte über die „Gewähr der Verfassung", so in der Bayerischen Verfassung von 1818 (Titel X), in der des Königreichs Sachsen von 1831 (8. Abschnitt, §§ 138 ff), auch im Frankfurter Entwurf der Reichsverfassung vom 28. 3. 1849 (Abschnitt VII). Typische Regelungsgegenstände waren der Fürsteneid, der Untertaneneid, der Eid der Civil-Staatsdiener und Geistlichen, das Beschwerderecht der Stände, die Ministeranklage, die Einrichtung eines Staatsgerichtshofes sowie Bestimmungen über die Änderung und Ergänzung der Verfassung. Die Analyse der (liberalen) Staatsrechtslehre des Vormärz bleibt jedoch bei der Betrachtung dieser formellen Gewährleistungen nicht stehen. Vielmehr bezeugt sie ein kraftvolles Bewußtsein von den Realien des Verfassungslebens und von der wechselseitigen Durchdringung von politisch mächtiger ,Verfassungswirklichkeit' und Normativität.

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23 24

ARISTOTELES Politik (Fn. 21) 1310 a. Zur Gegenwartsproblematik vgl. H . - U . EVERS Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft, 1979; ferner P. HABERLE Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: FS für H. Huber, 1981, S. 211 ff. Dazu M. STOLLEIS Arcana imperii und Ratio status, 1980. Vgl. N. LÜHMANN Soziologische Aufklärung, 2. Aufl. 1971, S. 92 ff.

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Gute Gesetze allein, so meint etwa C A R L V. ROTTECK 183025, helfen nicht gegen einen „Angriff Böswilliger und Starker, auch nicht gegen leises Untergraben von Seite der Verschmizten, nicht gegen keckes Losreißen oder künstliches Verschlechtern einzelner Bestandteile durch Machtgebot und Macchiavelismus" ... Vielmehr müsse man, abgesehen von den besonderen Einrichtungen wie Staatsgerichtshof und Ministerverantwortlichkeit, vor allem die lebendigen, moralischen und physischen Kräfte des Volkes zur Abwehr mobilisieren. „Im Schooße der Nation selbst werden die zum Schirm der Verfassung tüchtigsten, bereitesten, unüberwindlichsten Kräfte erzeugt, gepflegt, in consitutioneller Richtung erhalten werden vor allem durch eine weise Volkserziehung im Sinne der Verfassung, d. h. des Rechts und der Freiheit, also durch eine die möglichst vollständige politische Mündigkeit aller Klassen sich zum Ziel sezende ... Erziehung". Zu den wirkungsvollen verfassungserhaltenden Kräften rechnet ROTTECK sodann die Preßfreiheit, „die Mutter, Bedingung und Schuzwehr alles Guten im Staatsleben", die auf dem Prinzip der Selbstverwaltung aufbauenden Gemeinde- und Provinzverfassungen, „beide als Pflegerinnen des freien, selbständigen Volkslebens" und schließlich das System der Volksbewaffnung, die Abschaffung des stehenden Heeres. Der hier exemplarisch zum Ausdruck kommende liberal-demokratische Aufklärungsoptimismus stieß jedoch auch schon vor dem Scheitern der 48er-Bewegung auf verbreitete Skepsis. So nennt ROTTECKS Gießener Kollege F R I E D R I C H SCHMITTHENNER (1845)26 zwar ebenfalls Freiheit der Presse und Volksbewaffnung (Landwehr) als Garantien der Verfassung, betont aber ihre Ambivalenz. Die Freiheit der Presse sei „überhaupt ein mächtiges Instrument der sittlichen Welt, durch das sich auch die Verfassung und der Thron brechen lassen. Ebenso läßt sich durch das bewaffnete Volk die Verfassung schützen, aber auch vernichten".

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Es bleibt anzumerken, daß auch die Prinzipien der Öffentlichkeit („aller Akte der Regierung und der Volksrepräsentation" 27 ) sowie der bundesstaatlichen bzw. staatenbündischen Verfassungsgewährleistung schon damals zu den Einrichtungen des Schutzes der Verfassung gerechnet wurden. 3. Systematische Unterscheidung: Schutz der Verfassung im weiteren Sinne und Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung

1 4 Das Grundgesetz kennt — so wenig wie die Weimarer Reichsverfassung oder die Reichsverfassung von 1871 — einen besonderen Abschnitt über „Gewähr" oder „Schutz der Verfassung". Es regelt zum einen im Abschnitt Xa (Art. 115 a bis 1151) den „Verteidigungsfall", also die Frage der „äußeren Sicherheit". Zum anderen finden sich Bestimmungen, die sich unmittelbar auf Gefährdungen der inneren Sicherheit beziehen, an mehreren Stellen verstreut, z.B. in den Art. 9 Abs. 2, 10 Abs. 2, 11 25

26 27

C. V. ROTTECK Lehrbuch des Vernunftsrechts und der Staatswissenschaften 2. Band: Allgemeine Staatslehre, 1830, S. 279 ff, auch zum Folgenden. F. SCHMITTHENNER Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechtes, 1845, S. 422. V. ROTTECK Staatswissenschaften (Fn. 25); F. SCHMITTHENNER Staatsrecht (Fn. 26) S. 425; vgl. auch Art. 54, 60 der Wiener Schlußakte v o m 15. Mai 1820.

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Abs. 2, 13 Abs. 3, 18, 21 Abs. 2, 28 Abs. 3, 35 Abs. 2 und 3, 37, 40 Abs. 2, 73 Nr. 10, 74 Nr. 1 (Strafrecht), 87, 87 a Abs. 4, 91, 98 Abs. 2. Der Begriff der ,inneren Sicherheit' erschöpft sich aber keineswegs im Schutz der Verfassung und des Staates; er umfaßt ζ. B. auch Naturkatastrophen und Unglücksfalle (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG). In Art. 73 Nr. 10 b GG wird eine Legaldefinition des „Verfassungsschutzes" gegeben; der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung einerseits, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes andererseits sind seine Elemente (vgl. dazu unten Rdn. 32 ff). Noch enger ist der institutionelle Begriff des Verfassungsschutzes, wie er sich aus 15 der Aufgabenumschreibung für die Ämter aus Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG und aus § 3 des Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954) (BVerfSchG) ergibt. Denn hier werden die Modalitäten des „Schützens" als „Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sach- und personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen" über die näher bestimmten Materien, sowie als Mitwirkung beim personellen und technischen Geheimschutz abschließend umschrieben. Mit dieser Formulierung der Aufgaben weicht das neue BVerfSchG von 1990 kaum von jener in dem alten Gesetz von 1950/1972 ab. Demgegenüber bringen die jüngsten Verfassungsschutzgesetze der Länder (Hessen, Gesetz vom 19. Dezember 1990; SchleswigHolstein, Gesetz vom 23. März 1991) deutlicher zum Ausdruck, daß der Kern der Aufgaben der Ämter darin liegt, „den zuständigen Stellen zu ermöglichen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu treffen" (§ 2 Abs. 1 HessVerfSchG). Zu diesem Zweck haben die Ämter die gesetzlich näher definierten „Bestrebungen" zu beobachten (so auch Art. 3 Abs. 1 BayVSG vom 24. August 1990) und die Landesregierung und andere zuständige Stellen hierüber zu unterrichten (§ 1 LVerfSchG S.-H. 1991). Überall wird betont, daß den Ämtern keine „polizeilichen Befugnisse oder Weisungsbefugnisse" zustehen (§ 8 Abs. 3 BVerfSchG, sowie die entsprechenden Landesgesetze). Schon die Vielzahl und Verschiedenartigkeit der unmittelbar auf den Schutz des 16 Staates und der Verfassung bezogenen Verfassungsbestimmungen — vom gesamten Komplex des „politischen" Strafrechts, des Vereins- und Versammlungsrechts usw. ganz abgesehen — zeigen zweierlei: 1.: „Der Schutzpanzer des Staates wird, welche Struktur das einzelne Staatsgebilde auch haben möge, immer vielschichtiger und härter" 28 . Und 2.: Der Vielfalt der Angriffsmethoden und Gefährdungslagen entsprechend wird das Instrumentarium der Abwehrmittel ausdifferenziert. Mit der klaren und schlichten Dichotomie von Normallage und Ausnahmezustand („Belagerungszustand") lassen sich die Aufgaben des Verfassungsschutzes heute nicht mehr bewältigen. Das Grundgesetz kennt den Begriff des „inneren Notstandes" und, für

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O. KIRCHHEIMER Wandlungen in der Struktur des Staatsschutzes, in: ZPol 1964, S. 1 2 6 ff (140).

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den Fall eines solchen, auch eine klare Unterscheidung von Ausnahmezustand und Normalzustand gar nicht. Man mag dies bedauern 29 . Die Erfahrungen, die man in der ersten Hälfte des Jahrhunderts mit Diktaturgewalten — legalen wie illegalen — gemacht hat, lassen vielleich die Erosionsgefahr verdunkeln, die ein gewissermaßen stufenloser Ubergang von der (normativen) Normallage in die (normative) Ausnahmelage für die „Substanz" des Rechtsstaats mit sich bringt. Die drei Richter der Abweichenden Meinung zum Abhörgesetz-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 30 haben dies bei der Frage, wann die Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG durch eine systemimmanente Modifizierung' in unzulässiger Weise ,berührt' werden, warnend erkannt. 17

Entsprechend den unterschiedlichen Gefährdungen müssen wir einen weiteren Begriff des Schutzes der Verfassung von einem engeren der Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unterscheiden. Der weitere Begriff beschreibt ungefähr jenen Problemkreis, welchen D. RAUSCHNING als die „Sicherung der Beachtung von Verfassungsrecht" thematisiert hat 31 . Die Normen und Einrichtungen des engeren Begriffs fallen, logisch gesehen, in jenen weiteren Bereich. Ihr gemeinsames Spezifikum ist jedoch die gezielte Abwehr von absichtsvollen, „vorsätzlichen" Angriffen auf die Grundlagen der Verfassung, und der staatlichen Existenz. Die Normen und Institutionen, die nur dem weiteren Begriff zuzurechnen sind, verstärken und sichern hingegen die „normative Kraft der Verfassung" 32 in der Normallage, sozusagen im verfassungsrechtlichen Alltag. Ihnen allen liegt die Vorstellung zugrunde, der Bürger, vor allem der im öffentlichen Dienst stehende Organwalter werde, entsprechend belehrt oder die Drohung eines Strafübels vor Augen, sich in der Regel gesetz- und verfassungsmäßig verhalten. In diesem Bereich wird also vom Vorhandensein eines prinzipiell wirksamen, wenngleich im Einzelfall möglicherweise abirrenden, fehlgeleiteten „Willens zur Verfassung" ausgegangen. Anders in dem zweiten Bereich, dem des spezifischen Verfassungsschutzes. Hier bewegen wir uns auf dem Boden der „streitbaren", „abwehrbereiten" oder „wehrhaften" Demokratie, die ihre Prinzipien gegen Angriffe verteidigt, deren Urhebern der prinzipielle „Wille zur Verfassung" nicht (mehr) unterstellt wird oder unterstellt werden kann. Allein dieses Kriterium macht bereits deutlich, wie stark die tatbestandlichen Voraussetzungen der Sanktionen in diesem Bereich von subjektiven, „inneren" Merkmalen geprägt, wie stark sie deshalb auch in der Beurteilung von subjektiven Einschätzungen des Beurteilenden abhängig sein müssen. Die Lektüre des Ersten Abschnittes des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches, der §§ 80 bis

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Vgl. E.-W. BÖCKENFÖRDE Der verdrängte Ausnahmezustand, in: N J W 1978, S. 1881 ff. Vgl. auch: J. ISENSEE Verfassung ohne Ernstfall: der Rechtsstaat, in: A. Peisl/A. Möhler (Hrsg.) Der Ernstfall, 1979, S. 98 ff, m. w. N. Vgl. BVerfGE 30, 41 f, gegen 24 (Mehrheitsmeinung). Dazu: P. HABERLE Die Abhörentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. 12. 1970, in: J Z 1971, 1 4 5 f f , auch in: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung 1979, S. 91 ff, m. w. N. D. RAUSCHNING Die Sicherung der Beachtung von Verfassungsrecht, 1969. Dazu K . HESSE Die normative Kraft der Verfassung, 1959, wiederveröffentlicht in: M. Friedrich (Hrsg.) Verfassung, 1978, S. 77 ff.

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92 b, in welchen der (absichtliche) Einsatz für Bestrebungen gegen den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze als eine Art Leitmotiv für die Strafdrohungen wiederkehrt, gibt davon Zeugnis. An dieser Stelle kann nur ein ganz knapper Überblick über die wichtigsten Normen und Institutionen der Verfassungssicherung, also des Schutzbegriffes im weiteren Sinne versucht werden. Ganz darauf zu verzichten, ist allerdings nicht ratsam: Es würde den Blick für die Ubergänge und Verbindungen zwischen dem einen und dem anderen Bereich verdunkeln; es würde vor allem dem gefährlichen Irrtum Nahrung geben, als sei der Schutz der Verfassung ausschließlich oder doch hauptsächlich den Ämtern für Verfassungsschutz i. e. Sinne anvertraut. Auch funktional ist eine scharfe Trennung oft gar nicht möglich, wie das 18 Beispiel des Beamten zeigt, der zwar „verfassungsfeindliche" Parolen von sich gibt (engerer Bereich), aber dann disziplinarisch doch nur wegen Verletzung des Mäßigungsgebotes (§ 35 Abs. 2 BRRG) (weiterer Bereich) belangt wird. Eine Ordnung der im weiteren Sinne „verfassungsschützenden" Normen und Institutionen kann rechtsnormhierarchische, organschaftlich-institutionelle und verfassungspsychologische und -edukatorische Sicherungen (in dieser Reihenfolge) unterscheiden: a) An erster Stelle stehen diejenigen Verfassungssätze, die abstrakt-normativ 19 den Vorrang des Verfassungsrechts vor allen übrigen Rechtsnormen, ferner die Bindung aller Staatsorgane an „Gesetz und Recht", also vor allem an das Verfassungsrecht, statuieren: Für die Grundrechte sind dies Art. 1 Abs. 3, auch Art. 19 Abs. 2 GG, im übrigen Art. 20 Abs. 3 und, für die bundesstaatliche Rechtsnormenkonkurrenz, Art. 31 GG. Auch die Vorschriften über die Änderung des Grundgesetzes und deren Grenzen sind in diesem Zusammenhang zu nennen (Art. 79 GG), und zwar unter dem Gesichtspunkt, daß eine rechtzeitige Anpassung des Verfassungstextes an politisch notwendig gewordene Veränderung den offenen oder heimlichen Verfassungsbruch vermeiden hilft. b) Verfassungssichernd sollen ferner alle Normen und Institutionen wirken, die 20 der Macht- und Funktionsteilung, aber auch der Funktionenzuordnung und -koordination dienen. Rechtsstaatliches Handeln vollzieht sich immer in umgrenzten Kompetenzen der Amtsträger und in ihrer Zusammenordnung. Dies bewirkt zugleich die unentbehrlichen Interorgan-Kontrollen. Hierher gehören auch alle Normen, die das Prinzip der Gesetzmäßigkeit operational umsetzen, ζ. B. das „Legalitätsprinzip" der §§ 152, 161, 163 StPO, ferner die beamtenrechtliche Gehorsamspflicht, z. B. § 37 BRRG. c) Stößt man bis zu den Elementen der Organwillensbildung vor, so wird man 21 nicht nur Kompetenzordnung und Ämterhierarchie, sondern die Prinzipien der kollegialen Willensbildung und der Publizität, der öffentlichen Willenskundmachung auffinden (vgl. Art. 82 für Gesetze und Rechts Verordnungen). Das Prinzip der Bekanntmachung von Verwaltungsakten (§ 43 Abs. 1 VwVfG) steht in engem Zusammenhang mit der Individualrechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. d) In Gestalt einer umfassenden Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit 22 (Art. 93, 94, 95 GG) haben Verfassungs- und Gesetzgeber dafür gesorgt, daß die

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verfassungsmäßige Gewaltenteilung und Kompetenzordnung auch überwacht, kontrolliert und notfalls durchgesetzt wird. Der Bürger hat die Möglichkeit, durch verwaltungsgerichtliche Klagen und Verfassungsbeschwerde jede verfassungswidrige Beeinträchtigung seiner Rechtssphäre abzuwehren. Gewiß ist es angemessen, an dieser Stelle die Qualifikation des Bundesverfassungsgerichts als „Hüter der Verfassung" zu wiederholen; ebenso nachdrücklich darf aber daran erinnert werden, daß das höchste Gericht stets nur auf Antrag tätig wird; daß also von Verfassungs wegen die Anstöße zu jeglicher Art von Verfassungskontrolle von anderen Verfassungsorganen (ζ. B. im Falle der sog. abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG von der unterlegenen Bundestags-Opposition oder einer mit ihr parteikonformen Landesregierung) oder auch vom betroffenen Bürger kommen müssen. Sie alle sind dann insoweit (Mit-)Hüter der Verfassung33. 23

e) Das Grundgesetz kennt einige Vorschriften, die im Vorstadium tiefergreifender politischer Störungen die Handlungsfähigkeit der Regierung und zugleich ein Minimum an Gewaltenteilung gewährleisten sollen. Zu ihnen gehört vor allem die Regelung des sogenannten „Gesetzgebungsnotstandes", Art. 81 GG. Diese wenig glückliche, demokratisch-parlamentarischem Geiste widerstrebende Figur ist noch nie praktiziert worden. Eine auch praktisch wichtige Ventilfunktion hat hingegen Art. 112 GG, der der Regierung eine Anpassung der Haushaltswirtschaft an unvorhergesehene Lagen gestattet. Das Bundesverfassungsgericht hat aus gebotenem Anlaß seine Kontrollfunktion gegen einen Mißbrauch dieser Funktionssicherungsnorm deutlich wahrgenommen34.

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f) Auch an Vorkehrungen zur Sicherung der Prinzipien der Bundesverfassung wie der Durchsetzung des gesetzlichen oder administrativen „Willens" des Bundes gegenüber den Ländern fehlt es nicht. Das Grundgesetz sieht sie für alle Ebenen vor: Art. 28 gewährleistet die Verfassungshomogenität zwischen Bund und Ländern, greift auch in die Bereiche der Kommunalverfassung und des Wahlrechts auf allen Stufen über. Das theoretisch scharfe, durch Nichtgebrauch aber wohl allmählich Rost ansetzende Schwert des Bundes^wanges (Art. 37) kann gegen jede Art von Landesgewalt gezogen werden, zumal gegen den Landesgesetzgeber, der etwa einer Pflicht zur Ausfüllungsgesetzgebung eines Bundes-Rahmengesetzes nicht nachkommt. Und die Bundesaufsicht der Art. 84 und 85 GG sichert die Geltung des Bundes(verfassungs)rechts auf der Verwaltungsebene. Ein starkes Druckmittel des Bundes auf eine Landesregierung zur Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände bietet Art. 91 Abs. 2 Satz 1 GG. Ist ein Land nicht willens oder nicht in der Lage, eine auf seinem Gebiet drohende Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes zu bekämpfen, so kann der Bund die Polizeikräfte dieses Landes wie auch die anderer Bundesländer seinen Weisungen unterstellen; außerdem kann er die Kräfte des Bundesgrenzschutzes einsetzen. Als Kontrollorgan ist auch hier, wie im Falle des Art. 37 GG, der Bundesrat

33 34

Vgl. P. HABERLE Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: J Z 1975, S. 297 ff. B V e r f G E 45, 1 ff.

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eingeschaltet, der jederzeit die Aufhebung dieser Maßnahmen verlangen kann. Dieses Instrument einer „Bundespolizeireserve", bei dessen Schaffung der Parlamentarische Rat eine ähnliche Regelung der Schweizerischen Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 vor Augen hatte35, gehört freilich gemäß der hier verfolgten Systematik bereits in das Arsenal des Verfassungsschutzes im spezifischen Sinne. g) Zu den rechtsnormhierarchischen und den organschaftlich-institutionellen 25 Verfassungssicherungen treten die ad hominem konzipierten verfassungspsychologischen und -edukatorischen Sicherungen. Wir unterscheiden vier Komplexe: 1. Bestimmungen über den Amts- oder Diensteid, 2. Bestimmungen über die Verfassungstreue der Beamten, 3. Strafvorschriften, welche die Integrität der Amtsführung und der Willensbildung der staatlichen Organwalter garantieren sollen und 4. Bestimmungen in den Landesverfassungen über die Erziehungs- und Bildungsziele, insbesondere über die Erziehung „zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung"36. Auf die lange Tradition des Amtseides kann hier nicht eingegangen werden. 26 Dem Fürsteneid entsprach der Untertaneneid37. Die landständischen Verfassungen des deutschen Konstitutionalismus sahen nicht nur den in der Regel vor den gemeinsam versammelten Kammern zu leistenden Eid des Monarchen auf die Verfassung vor38, sondern auch einen Amtseid jedes Mitglieds der Ständeversammlung39. Die Frankfurter Reichsverfassung von 1849 kannte neben dem Verfassungseid des Kaisers bei Regierungsantritt (§ 190) den Eid jedes Mitgliedes der beiden Häuser des Reichstags. Hingegen war weder nach der Reichsverfassung von 1919 noch ist nach dem Grundgesetz von 1949 ein Abgeordneteneid vorgesehen. Lediglich der Bundespräsident (vor den Mitgliedern von Bundesrat und Bundestag), der Bundeskanzler und die Bundesminister (vor dem Bundestag) haben gemäß Art. 56 bzw. Art. 64 Abs. 2 GG einen Amtseid zu leisten. Stellvertreter des Bundespräsidenten ist nach Art. 57 GG der Präsident des Bundesrates. Ihn trifft nach überwiegender Meinung im Vertretungsfalle keine Pflicht zur Eidesleistung40. Ein Staat muß sich, im Rahmen von Verfassung und Gesetz, auf seine Beamten, Richter und Soldaten verlassen können. Staat und Verfassung dienen ihrerseits dem 35 36

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Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft v o m 29. Mai 1 8 7 4 , A r t . 16. Vgl. Verfassung v o n Baden-Württemberg v o m 1 1 . N o v e m b e r 1 9 5 3 , A r t . 1 2 ; ähnlich A r t . 3 3 Verfassung v o n Rheinland-Pfalz. Vgl. Verfassung W ü r t t e m b e r g s v o m 25. 9. 1 8 1 9 , K a p . II, § 10: „ D e r Huldigungs-Eid w i r d dem T h r o n f o l g e r erst dann abgelegt, w e n n E r in einer den Ständen des K ö n i g r e i c h e s auszustellenden feierlichen U r k u n d e die unverbrüchliche Festhaltung der Landes-Verfassung bei seinem K ö n i g lichen W o r t e zugesichert hat". Z . B . Preußische Verfassung v o m 31. 1. 1 8 5 0 , A r t . 54 A b s . 2, Kurhessische Verfassung v o m 5. 1. 1831, §6. § 7 4 Kurhessische Verfassung v o n 1 8 3 1 ; ähn ich Bayerische Verfassung v o m 2 6 . 5 . 1 8 1 8 , Titel VII, § 25; Verfassung W ü r t t e m b e r g s v o n 1 8 1 9 , § 1 6 3 ; Verfassung Sachsens v o m 4. 9. 1 8 3 1 , § 8 2 usw. R. HERZOG in: T. Maunz/G. D ü r i g G r u n d g e s e t z - K o m m e n t a r , A r t . 56 Rdn. 2 4 Fn. 9; J . JEKEWITZ in: A l t e r n a t i v k o m m e n t a r zum Grundgesetz, Bd. 2, 2. A u f l . 1 9 8 9 , A r t . 56, Rdn. 3; B. PIEROTH in: H. D. Jarass/B. Pieroth, G G , A r t . 5 7 Rdn. 2; A . A . HEMMRICH in: I. v. M ü n c h (Hrsg.) Grundgesetzkommentar, Bd. 2 1 9 7 6 , A r t . 56, Rdn. 7.

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Schutze der Bürger. Die Bayerische Verfassung vom 2. Dezember 1946 bringt diesen Zusammenhang vorbildlich zum Ausdruck, (wobei allerdings die äußere Sicherheit der deutschen Situation des Jahres 1946 entsprechend, allein dem Völkerrecht, nicht auch den Kräften der Landesverteidigung anvertraut wurde): „Die Verfassung dient dem Schutz und dem geistigen und leiblichen Wohl aller Einwohner. Ihr Schutz gegen Angriffe von außen ist gewährleistet durch das Völkerrecht, nach innen durch die Gesetze, die Rechtspflege und die Polizei" (Art. 99 BayVerf). Die Beamtengesetze des Bundes (§'40 BRRG, § 58 BBG), die Beamtengesetze der Länder, das Deutsche Richtergesetz (§ 38) und das Soldatengesetz (§ 9) schreiben deshalb die Pflicht zur Eidesleistung auf die Verfassung, die Gesetze und — bei Soldaten — auf die Bundesrepublik Deutschland vor. Die feine Abstufung des Soldatengesetzes zwischen Berufssoldaten auf Zeit einerseits, die einen Eid, und (bloß) wehrpflichtig-Wehrdienstleistenden andererseits, die (nur) ein wortgleiches „feierliches Gelöbnis" abzulegen haben, ist unverständlich. Denn die Formel „ich gelobe ..." kommt, wie frühere Verfassungstexte zeigen, auch bei Eidesleistungen vor, andererseits kann der Eid ohne Anrufung Gottes erfolgen; nicht einmal die Formel „ich schwöre ..." ist zwingend vorgeschrieben. Der Inhalt der Verpflichtung ist derselbe, das Risiko im Ernstfall auch. 27

h) Mit dem Eid oder dem feierlichen Gelöbnis bekräftigen der Beamte, der Richter oder der Soldat, was das Gesetz von ihnen erwartet: Treue zum Staat und zur Verfassung (Art. 33 Abs. 4, 5 GG). Beamter kann nur werden, wer „die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt" (§ 4 Abs. 1 Nr. 2 BRRG und die entsprechenden Vorschriften der Beamtengesetze); der ernannte Beamte muß sich „durch sein gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen und für deren Erhaltung eintreten" (§ 35 Abs. 1 BRRG). Diese Treuepflicht gehört nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts zu den „Kernpflichten des Beamten"41. „Staat und Soldat sind durch gegenseitige Treue miteinander verbunden", dekretiert § 1 Abs. 1 S. 2 Soldatengesetz, ohne zu erläutern, wer im Ernstfall für das Abstractum „Staat" die versprochene Treue halten und einlösen wird. Eine besondere Mahnung, die ihnen verbürgte akademische Lehrfreiheit nicht zu mißbrauchen, hat der Grundgesetzgeber an alle wissenschaftlich Lehrenden, insbesondere an die Hochschullehrer gerichtet: „Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung", Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG.

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Die Frage ist berechtigt, was denn ein Beamter über die korrekte, präzise und loyale Pflichterfüllung hinaus — bestehe diese nun in Gesetzesausführung im engeren Sinne oder gehe sie darüber hinaus — noch tun müsse, um seine Verfassungstreue zu beweisen42. Das Bundesverfassungsgericht fordert „mehr als nur eine formal 41

42

B V e r w G E 7 6 , 1 5 7 , 160 (1984). Vgl. a u c h B V e r w G E 81, 212, 2 1 6 f (1989): nur „funktionsbezogene Treuepflicht" für den «/VA/beamteten Lehrbeauftragten. Vgl. H. H. KLEIN Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: V V S t R L Bd. 37 (1979) S. 84, Fn. 136, gegen E. DENNINGER (Hrsg.) Freiheitliche demokratische Grundordnung, Band 1, 1977, Einführung S. 24. Ferner E. DENNINGER Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: V V D S t R L Bd. 37 (1979) S. 32 ff.

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korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung; sie (die Treuepflicht, E. D.) fordert vom Beamten insbesondere, daß er sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren. Vom Beamten wird erwartet, daß er diesen Staat und seine Verfassung als einen hohen positiven Wert erkennt und anerkennt, für den einzutreten sich lohnt. Politische Treuepflicht bewährt sich in Krisenzeiten und in ernsthaften Konfliktsituationen, in denen der Staat darauf angewiesen ist, daß der Beamte Partei für ihn ergreift. Der Staat — und das heißt hier konkreter, jede verfassungsmäßige Regierung und die Bürger — muß sich darauf verlassen können, daß der Beamte in seiner Amtsführung Verantwortung für diesen Staat, für seinen Staat zu tragen bereit ist, daß er sich in dem Staat, dem er dienen soll, zu Hause fühlt — jetzt und jederzeit und nicht erst, wenn die von ihm erstrebten Veränderungen durch entsprechende Verfassungsänderungen verwirklicht worden sind"43. Wegen dieses positiv getönten Grundverhältnisses zu „seinem" Staat, das vom Beamten erwartet wird, ist es systematisch konsequent, die Beamtentreue-Bestimmungen nicht erst unter die Verfassungsschutznormen im spezifischen Sinne zu rechnen, sondern sie in den weiteren Bereich der „Verfassungssicherungen" aufzunehmen. Eine freiheitliche Demokratie, die nicht zu einem „demoautoritären Regime" denaturieren will 44 , wird allerdings darauf achten müssen, daß das Maß der Identifikation des Beamten mit seinem Staat nicht zur „Ausklammerung" der nichtbeamteten Staatsbürger aus dem Staatsbegriff und dann auch aus der Staatspraxis führt 45 . i) Versagt der religiös fundierte Appell an das Beamtengewissen, der in der 29 bedingten Selbstverfluchung durch den Eid liegt, so hält der Staat immer noch die heteronome Sanktion in Gestalt des Strafgesetzes in Reserve. In der hier erörterten weiteren Zone des Schutzes der Verfassung geht es dabei noch gar nicht um die Tatbestände des „politischen Strafrechts" (§§ 80 ff StGB), sondern um die Vorschriften, die generell die „Reinheit der Amtsführung" gewährleisten sollen. In erster Linie ist an die Tatbestände der Bestechung und Bestechlichkeit (§§ 331 ff StGB), aber auch der Rechtsbeugung (§ 336 StGB), der übrigen Straftaten im Amte (§§ 340 ff StGB) bis hin zur Begünstigung im Amt (§ 258 a StGB) zu denken. Der Amtsträger wird auch besonders „ermahnt", die vielfach bedrohte Privatsphäre des Einzelnen durch Wahrung fremder Geheimnisse zu respektieren (§ 203 Abs. 2 StGB). j) An letzter Stelle in diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, was für die 30 Sicherung des Fortbestandes der Demokratie als einer „freiheitlichen" von erstrangiger Bedeutung ist: die „Staats- und Verfassungspflege" durch „staatsbürgerliche Erziehung", durch „pädagogischen", „edukatorischen", „informatorischen" oder 43

15

B V e r f G E 39, 334 ff (348 f). Zum ganzen Problemkreis rechtsvergleichend: E.-W. BÖCKENFÖRDE/ C. TOMUSCHAT/D. C. UMBACH (Hrsg.) Extremisten und öffentlicher Dienst, 1981. K . LOEWENSÎEIN Verfassungslehre, 2. Aufl. 1969, S. 93. B V e r f G E 40, 237 ff (251) hebt die Bedeutung der „Chance zur Identifikation" des Bürgers mit dem Staat als Existenznotwendigkeit der Demokratie hervor.

690

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

„positiven" Verfassungsschutz 46 . Daß man die Wichtigkeit einer solchen Aktivität zu allen Zeiten erkannt hat, belegen die eingangs zitierten Stimmen, von PLATON und ARISTOTELES an. Wir dürfen uns heute auch nicht durch die Erinnerung an den schrecklichen Mißbrauch abschrecken lassen, den seinerzeit die nationalsozialistische Diktatur mit der Begeisterungsfähigkeit der Jugend getrieben hat und den heute alle totalitären Regime mehr oder minder erfolgreich üben. Eine sorgfältige monografische Analyse verdienten vor allem die frühen, „vorkonstitutionellen", d. h. vorgrundgesetzlichen Bestimmungen der Landesverfassungen über Bildungs- und Erziehungsziele, deren Pathos noch unmittelbar von der Reaktion auf die ideologisch-propagandistischen Perversionen des NS-Totalitarismus geprägt ist. Eine Erziehung im Geiste der Menschlichkeit, der Duldsamkeit und Achtung fremder Überzeugungen, im Geiste der Freiheit und Demokratie, der Liebe zu Heimat und Volk, sowie des Friedens und der Völkerversöhnung wird in den Verfassungen der meisten westdeutschen Länder in unterschiedlichen Wendungen normiert 47 . Bemerkenswert ist, daß die Hessische Verfassung das Problem der „abwehrbereiten" Demokratie schon 1946 klar als Aufgabe des „pädagogischen Verfassungsschutzes" erkennt: „Grundsatz eines jeden Unterrichts muß die Duldsamkeit sein" (Art. 56 Abs. 3 S. 1 Hess Verf.). Für den Geschichtsunterricht normiert die Verfassung sogar Lernzielschwerpunkte, auch negativer Art: „Feldherren, Kriege und Schlachten" sind nicht in den Vordergrund zu stellen (wie das von 1933 bis 1945 der Fall gewesen war). Aber: „Nicht zu dulden sind Auffassungen, welche die Grundlagen des demokratischen Staates gefährden" (Art. 56 Abs. 5 S. 3 Hess Verf.). Mit der Frage, welche diese Grundlagen sind, welcher Art die sie treffenden Angriffe und Gefährdungen, und welches die spezifischen Abwehrmittel der freiheitlichen Demokratie sind, betreten wir den Bereich des Schutzes der Verfassung im spezifischen Sinne, des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. 4. Die Schutzgüter der „streitbaren Demokratie", insbesondere die freiheitliche demokratische Grundordnung a)

Bestandsaufnahme

Intensiver als jede andere freiheitliche Verfassung Westeuropas ist das Grundgesetz von seinen Urhebern mit identitätssichernden normativen Schutzvorkehrungen ausgerüstet worden. Ihre Gesamtheit bezeichnen wir als Schutz der Verfassung im spezifischen Sinne (im Folgenden kurz: Verfassungsschutz). Ihre Abgrenzung zu den unter 3. dargestellten allgemeinen verfassungserhaltenden und verfassungssichernden 46

47

H.-U. E V E R S in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Zweitbearbeitung, 1974) Art. 73 Nr. 10 Rdn. 43, m. w. N.; E. D E N N I N G E R Verfassungstreue (Fn. 42) S. 36 Fn. 108; H. H. K L E I N Verfassungstreue (Fn. 42) S. 104 ff. Vgl. z. B. Art. 12 Abs. 1 VerfBaWü von 1953, Art. 131 VerfBay vom 2. 12. 1946, Art. 56 VerfHe vom 1. 12. 1946, Art. 7 Abs. 2 VerfNW vom 18. 6. 1950, Art. 33 VerfRhPf vom 18. 5. 1947. Vgl. auch oben Fn. 22. Grundlegend wichtig zur Wechselwirkung zwischen Erziehungszielen und realem Verfassungskonsens ist die Studie von P . H A B E R L E : Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981.

§ 16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

691

Einrichtungen ergibt sich in doppelter Weise: durch die besondere Zweckbestimmung zur Abwehr speziell gegen die Verfassung und die staatliche Existenz als solche gerichteter Angriffe und durch die nähere Bestimmung der Schüttgüter. Nicht jede Kritik gegen und nicht jede Art von Angriff auf einzelne Normen und Einrichtungen der Verfassung rufen die spezifischen Abwehrkräfte der „streitbaren Demokratie"48 auf den Plan. Ζ. B. ist die Verfassungswidrigerklärung einer Partei nach Art. 21 Abs. 2 GG („Parteiverbot") nicht schon dann gerechtfertigt, „wenn sie einzelne Vorschriften, ja selbst ganze Institutionen der Verfassung mit legalen Mitteln" bekämpft, „sondern erst dann, wenn sie oberste Grundwerte des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaates erschüttern" will 49 . Das Grundgesetz verwendet keine einheitliche, durchgängig gleiche Bezeichnung für die Schutzgüter des Verfassungsschutzes; es bleibt Rechtsprechung und Lehre überlassen, eine möglichst klare Begrifflichkeit zu entwickeln. Eine rasche Bestandsaufnahme anhand des Grundgesetzes ergibt folgendes Bild: In Art. 9 Abs. 2 GG (Vereinsverbot) ist von „verfassungsmäßiger Ordnung" 32 und vom „Gedanken der Völkerverständigung" die Rede, in Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG (Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses) vom „Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes", ähnlich in Art. 11 Abs. 2 GG (Beschränkungen der Freizügigkeit). Art. 18 GG (Grundrechtsverwirkung) dient der Abwehr grundrechtsmißbräuchlichen Kampfes „gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung". Das in Art. 20 Abs. 4 GG verbürgte Widerstandsrecht jedes Deutschen richtet sich gegen jeden, „der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen". Gemeint sind die in Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG enumerierten Verfassungsgrundsätze. Die in Art. 20 Abs. 3 GG genannte „verfassungsmäßige Ordnung" kann, anders als in Art. 2 Abs. 1 GG, nicht jedes formell und materiell verfassungsmäßig zustande gekommene Gesetz, sondern nur einen engeren Begriff (nämlich die Ordnung aller im Verfassungsrang stehenden Normen) meinen, da die Gesetzgebung ja nicht an ihre eigenen Produkte gebunden ist (lex posterior derogat legi priori). Dieser Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung ist aber doch wieder weiter als der in Art. 9 Abs. 2 oder in Art. 98

48

Der Terminus findet sich in der Rechtsprechung seit B V e r f G E 5 (85 ff) (17. 8. 1956) der Sache nach bereits in B V e r f G E 2, 1 ff (12 f) (23. 10. 1952) (SRP-Verbot). Vom „Prinzip der streitbaren Demokratie" ist die Rede in B V e r f G E 28, 36 ff, (48) in B V e r f G E 39, 334 ff (349) v o n „wehrhafter Demokratie" (22. 5. 1975) offenbar sinngleich wieder v o n „streitbarer Demokratie", in B V e r f G E 40, 287 ff (291) ( 2 9 . 1 0 . 1975). Der Begriff stammt v o n K . LOEWENSTEIN 1937: „militant democracy". Vgl. die Nachweise bei E. DENNINGER Verfassungstreue (Fn. 42) S. 16, Fn. 33. A u s der Literatur hervorzuheben: E. BULLA Die Lehre von der streitbaren Demokratie, in: A ö R 98 (1973) 330 ff; R. DREIER Verfassung und Ideologie, in: G S für F. Klein, 1977, S. 86 ff; C. GUSY Die „freiheitliche demokratische Grundordnung" in d e r Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: A ö R 105 (1980) S. 279 ff; J . LAMEYER Streitbare Demokratie, 1978; G . LAUTNER Die freiheitliche demokratische Grundordnung, 1978; E. JESSE Streitbare Demokratie, 1980, 2. Aufl. 1981; A . SATTLER Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, 1982; U. BACKES/E. JESSE Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, 2. Aufl. 1990.

49

B V e r f G E 2, 12.

692

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Abs. 2 GG verwendete. Dieser letztgenannte, die wichtigsten Strukturprinzipien unseres Staates umfassende Begriff von verfassungsmäßiger Ordnung findet sich sinngleich in Art. 28 Abs. 1 und 3 GG (föderale Homogenitätsklausel und -gewährleistung). Im Parteiverbotsverfahren nach Art. 21 Abs. 2 GG geht es um den Schutz der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" und um den „Bestand der Bundesrepublik Deutschland". Ähnlich sind die Schutzgüter in Art. 87 a Abs. 4 S. 1 GG (Einsatz von Streitkräften zur Unterstützung der Polizei) und in Art. 91 Abs. 1 GG (Einsatz von Polizei und Bundesgrenzschutz) formuliert, während die Legaldefinition von „Verfassungsschutz" in der Kompetenzzuweisung des Art. 73 Nr. 10 b GG den „Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes" nennt. Schließlich nimmt Art. 98 Abs. 2 GG (Verfahren gegen Bundesrichter und, mit Abs. 5, evtl. gegen Landesrichter) die „Grundsätze des Grundgesetzes" oder die „verfassungsmäßige Ordnung eines Landes" in Bezug; beide Ausdrücke sind im Sinne der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" auszulegen. Dagegen soll für die Anklage gegen den Bundespräsidenten vor dem Bundesverfassungsgericht (Art. 61 GG) jede Verletzung des Grundgesetzes, allerdings nur bei vorsätzlichem Verstoß, ausreichen. Besondere Probleme bietet die Abgrenzung des Schutzgutes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung von dem Bestand der in Art. 79 Abs. 3 GG für „ewig", d. h. für verfassungsänderungsfest erklärten Grundsätze; dazu sogleich. Außerhalb des Grundgesetzes bietet die Legaldefinition der „Verfassungsgrundsätze" im Abschnitt über das „politische Strafrecht" (§ 92 StGB) eine wichtige Auslegungshilfe. b) „Freiheitliche demokratische

Grundordnun¿'

33 Eine Schlüsselrolle kommt dem Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" zu. Als Tatbestandsmerkmal in den Vorschriften über die Einstellung von Beamtenbewerbern und die Beamtenpflichten50 hat seine Auslegung den Ausgang vieler Tausend Überprüfungsverfahren bestimmt. Nun ist es gewiß schon schwierig genug, einen so weit gefaßten Begriff mit einiger Treffsicherheit auf einen konkreten Sachverhalt anzuwenden, zumal, wenn die tatbestandsmäßigen Angriffshandlungen nur durch abstrakte oder notwendig stark wertungsabhängige Tätigkeitsbeschreibungen — „beeinträchtigen" in Art. 21 Abs. 2 GG, „mißbrauchen" in Art. 18 GG — bestimmt werden. Die Schwierigkeit war unerträglich, solange, wie im Falle der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, keineswegs Klarheit über den Umfang des Begriffes herrschte. Solche Unklarheit ist auch, entgegen anderslautenden Versicherungen51, keinesfalls „der Freiheit dienlich". Denn es gab, versucht man etwa die Praxis der Beamtentreueprüfungsverfahren der 70er Jahre zu überblicken, gerade keine Garantie dafür, daß administrative Sanktionen erst bei evidenter Verletzung des „Wesengehalts" des Schutzgutes getroffen werden; vielmehr war die Überantwortung eines breiten Interpretationsspielraumes an die Exekutiven im Hinblick auf

50 51

Vgl. nur §§ 4 Abs. 1 Nr. 2 und 35 Abs. 1 BRRG. Etwa H. H. KLEIN Verfassungstreue (Fn. 42) S. 60.

§16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

693

den geschmälerten Minderheitenschutz und die uneinheitliche Rechtsanwendungspraxis in verschiedenen Bundesländern rechtsstaatlich problematisch. Heute liegt freilich eine konsolidierte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (s. o. Fn. 2) vor, und der Gesetzgeber ist ihr und der des Bundesverfassungsgerichts gefolgt (§ 4 Abs. 2 BVerfSchG, sowie die neuen Landesgesetze). Ein inzwischen durch den Gesetzgeber erledigtes Beispiel für den Versuch einer 34 Kompetenzausweitung (der Ämter für Verfassungsschutz) mit Hilfe einer erweiternden Auslegung des Begriffes „freiheitliche demokratische Grundordnung": Man erklärte den „Gedanken der Völkerverständigung", obwohl er in Art. 9 Abs. 2 GG neben der „verfassungsmäßigen Ordnung" als Schutzgut selbständig genannt ist, als zum Kernbereich der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" gehörig 52 . Auf diese Weise konnte die Zuständigkeit der Ämter für Verfassungsschutz zur Beobachtung von extremistischen Ausländergruppen, die aber nur auf Gewaltaktionen in ihren Heimatstaaten hinarbeiteten, auch schon vor der Ergänzung des Art. 73 Nr. 10 GG durch lit c) (Gesetz vom 28. 7. 1972) und der entsprechenden Neufassung des Bundes-Verfassungsschutzgesetzes vom 7. 8. 1972 (jetzt: § 3 Abs. 1 Nr. 3 BVerfSchG) „begründet" werden. Daß der Gedanke der Völkerverständigung, der seinen Ausdruck in der Präambel des Grundgesetzes, in Art. 1 Abs. 2, Abs. 2, 24 Abs. 2 und Art. 26 GG gefunden hat, ein elementarer Verfassungsgrundsatz im Sinne eines permanenten Verfassungsauftrages ist, soll gar nicht bestritten werden — nur: zur „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" gehört er nicht. Noch keine Einigkeit besteht über das Verhältnis der freiheitlichen demokrati- 35 sehen Grundordnung" zu dem durch die „Unantastbarkeitsgarantie" des Art. 79 Abs. 3 GG erfaßten Bestand an Verfassungsprinzipien. Daß die beiden Einrichtungen: die Normierung eines gegen Angriffe speziell geschützten „Verfassungskerns", eben die „freiheitliche demokratische Grundordnung", und die Begrenzung der (nach der h. L. zu Art. 76 WRV seinerzeit als unbeschränkt gedachten) Änderungsbefugnis des Verfassungsgesetzgebers als eines pouvoir constitué in derselben Grundüberzeugung von der Notwendigkeit einer „abwehrbereiten", nicht grenzenlos relativistischen Staatlichkeit wurzeln, steht außer Frage. Ihre Entstehungsgeschichte belegt dies. In der Tat lautete Art. 108 des Herrenchiemsee-Entwurfs: „Anträge auf Änderungen des Grundgesetzes, durch die die freiheitliche und demokratische Grundordnung beseitigt würde, sind unzulässig"53. Man muß aber wissen, daß dieser Artikel nur die jetzt in Art. 79 Abs. 3, letzte Alternative, erfaßte Materie, also die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze, jedoch mit Ausnahme der Bundesstaatlichkeit, betraf. Denn eine besondere Sicherung der bundesstaatlichen Ordnung gegen verfassungsändernde Aushöhlungen war in Art. 107 HChEntw. außerdem vorgesehen. Sie war übrigens keineswegs so rigoros wie die spätere Endfassung in Art. 79 Abs. 3 GG: Sie ließ ein „Abgehen von der bundesstaatlichen Grundordnung" bei einstim52

53

H. SCHÄFER Verfassungsschutz im demokratischen Rechtsstaat, in: BMI (Hrsg.) Verfassungsschutz, 1966, S. 37 ff, 52. Noch pointierter formuliert diesen Gedanken Art. 150 der Hessischen Verfassung v o m 1. Dezember 1946.

694

3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

miger Annahme im Bundesrat durchaus zu. Auch noch im Parlamentarischen Rat wurden bis zur Endredaktion des Art. 79 Abs. 3 GG durch den Allgemeinen Redaktionsausschuß am 2. Mai 1949 mehrere Lösungen diskutiert, die eine Preisgabe des bundesstaatlichen Prinzips nicht völlig ausschlossen, sondern nur an hochqualifizierte Bundesratsmehrheiten von 3/4 oder 4/5 oder gar an die Einstimmigkeit binden wollten. Die „Väter des Grundgesetzes" rechneten also das Bundesstaatsprinzip jedenfalls nicht zur „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" und hielten es bis zur vierten und letzten Lesung im Hauptausschuß am 5. Mai 1949 auch für denkbar und verfassungsgemäß, durch eine Änderung des Grundgesetzes die Bundesstaatlichkeit u. U. ganz aufzugeben. 36

Die Entstehungsgeschichte spricht mithin deutlich gegen eine Identifizierung der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" mit allen in Art. 79 Abs. 3 für „ewig" erklärten Prinzipien 54 , zu denen außer der Bundesstaatlichkeit über die Verweisungen u. a. auch das Sozialstaatsprinzip und die republikanische Staatsform zählen. Eine systematisch-teleologische Verfassungsinterpretation führt zu demselben Ergebnis. Plausibel zwar, aber als Argument nicht ausreichend ist allerdings der im Hinblick auf Großbritannien und Frankreich aufgestellte Satz: „Wer für Monarchie und Einheitsstaat eintritt, ist kein Gegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung" 55 . Vielmehr ist der spezifische Schutzzweck herauszuarbeiten, welchen die besondere Absicherung des demokratischen Verfassungskerns, der wesentlichen Strukturen des Typus „freiheitliche Demokratie", erfüllen soll. Ein Blick auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der man nicht voreilig theorielosen Pragmatismus bescheinigen sollte 56 , vermag die Betrachtung durchaus auf die richtige Spur zu lenken. Bekanntlich hat das Verfassungsgericht den im SRPVerbots-Urteil (BVerfGE 2, Iff (12f)) aufgestellten Katalog von Elementen selbst nicht als abschließend, sondern als Mindeststandard verstanden: „die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition". In der folgenden, nahezu dreißig Jahre umspannenden Rechtsprechung werden einzelne Elemente in ihren jeweiligen Funktionszusammenhängen konkretisiert und verdeutlicht: Das KPD-Verbots-Urteil (BVerfGE 5, 85 ff

54

Für die Gleichsetzung v o r allem: W. SCHMITT GLAESER Mißbrauch und Verwirkung v o n Grundrechten im politischen Meinungskampf, 1968, S. 55; H . H . KLEIN Verfassungstreue (Fn. 4 2 ) S. 56 ff, 111. Dagegen: E . - W . BÖCKENFÖRDE Diskussionsbeiträge, in: V V D S t R L Bd. 37 ( 1 9 7 9 ) S. 138; K . STERN Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 1977, S. 421 f f ; H . U . EVERS in: B K

( F n . 4 6 ) A r t . 9 1 R d n . 2 4 ; T . MAUNZ in: M a u n z / D ü r i g G G

(Fn. 4 6 ) A r t . 2 1 ,

Rdn. 114; K . HESSE Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. A u f l . 1991, Rdn. 128 und 7 0 6 ; T. MAUNZ/R. ZIPPELIUS Deutsches Staatsrecht, 28. A u f l . 1991, S. 4 1 1 . 55

K . STERN S t a a t s r e c h t B d . 1 (Fn. 5 4 ) S. 4 2 2 .

56

Insoweit kritisch zu C. GUSY „Freiheitliche demokratische G r u n d o r d n u n g " (Fn. 4 8 ) S. 291, dessen Rechtsprechungsanalyse im übrigen weitgehend Zustimmung verdient.

§ 16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

695

(204)) hebt die Würde des Menschen als obersten Wert in der freiheitlichen Demokratie hervor. Außerdem stellt es die „Geistesfreiheit", die Auseinandersetzung der Ideen, und die Gleichbehandlung aller als elementare Voraussetzungen und Postulate freiheitlicher Demokratie heraus (BVerfGE 5, 205). Wenig später wird, im LüthUrteil 1958, das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung als für eine freiheitlichdemokratische Staatsordnung „schlechthin konstituierend" erklärt (BVerfGE 7, 198 ff (208)) und damit eine folgenreiche ständige Rechtsprechung eröffnet. Notwendiges Korrelat dieser demokratie-konstitutiven Meinungs- und Wertungsvielfalt ist, wie in BVerfGE 27, 195 ff (201) (betr. Privatschulwesen) festgestellt wird, das Bekenntnis des Staates zur „religiösen und weltanschaulichen Neutralität". In einem „pluralistisch strukturierten und auf der Konzeption einer freiheitlichen Demokratie beruhenden Staatsgefüge" ist „jede Meinung, auch die von etwa herrschenden Vorstellungen abweichende, schutzwürdig." (BVerfGE 33, 1 ff (15))57. Die Funktion der freiheitlichen demokratischen Grundordnung besteht wesentlich in der Gewährleistung des „freien und offenen Pro2esses der Meinungs- und Willensbildung des Volkes", nicht allein durch grundrechtliche Verbürgungen der Freiheit und Gleichheit, sondern auch durch institutionelle und verfahrensrechtliche Vorkehrungen wie das Prinzip der Öffentlichkeit der Verhandlungen von Bundestag und Bundesrat (Art. 42 Abs. 1, 55 Abs. 3 S. 3 GG) und das Prinzip der Publizität der Rechtsetzung (Art. 76, 77, 82 Abs. 1 GG)58. Später hat das Gericht noch einmal bekräftigt, daß für eine freiheitliche demokratische Grundordnung, wie das Grundgesetz sie geschaffen hat, „die Gleichbewertung aller Staatsbürger bei der Ausübung des Wahlrechtes eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung" ist (BVerfGE 51, 222 ff (234) - Wahlen zum Europäischen Parlament; st. Rspr. seit BVerfGE 6, 84 ff, 91). Zuletzt hat H. SIMON in seiner Abweichenden Meinung zu BVerfGE 63, 266 (298 ff, 308 ff) eindringlich auf die Gefahren hingewiesen, die für die freiheitliche Demokratie entstehen können, wenn aus der „streitbaren Demokratie" zu weitgehende Einschränkungen für die Grundrechte hergeleitet werden. Sucht man den gemeinsamen Bezugspunkt all dieser Einzelaussagen, so wird 37 deutlich, welches der bestimmende und begrenzende Normzweck aller als „freiheitliche demokratische Grundordnung" abgekürzt zusammengefaßten Regelungen, welches damit auch das Schutzgut des Verfassungsschutzes insoweit (d. h. neben dem Bestand und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes) ist: Die Erhaltung der Offenheit und Freiheitlichkeit des demokratischen Meinungs- und Willensbildungspro^esses von der „Volkswillensbildung' in den Parteien — und vorher — bis f(ur „Staatswillensbildung' in allen drei Gewalten. Der Akzent ist dabei auf pluralistische Freiheit (d. h. auch: Minderheitenschutz, Toleranz) und demokratische (Chancen)-Gleichheit gleicher-

57

58

B V e r f G E 27, 1 9 5 ff (201): „Dieses Offensein des Staates für die Vielfalt der Formen und Inhalte, in denen Schule sich darstellen kann, entspricht den Wertvorstellungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die sich zur W ü r d e des Menschen und zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität bekennt". Vgl. B V e r f G E 44, 1 2 5 ff (139) (Wahlwerbung v o n Regierungsmitgliedern).

696

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

maßen verteilt59. Nicht einfach alles, was diesem Ziel nützlich ist, geht in den Begriff ein. Föderalismus als ein gewaltenteilendes Prinzip hat sicher auch freiheitsschützende Funktion, ist aber für die Freiheitlichkeit des politischen und staatlichen Willensbildungsprozesses (neben anderen Ausprägungen der Gewaltenteilung) nicht unabdingbar. Ferner ist es kaum vorstellbar, daß der Inhalt eines freiheitlichen demokratischen Politikprozesses heute einen anderen als sozialstaatlichen Charakter tragen kann; die freiheitliche demokratische Grundordnung schützt jedoch nicht bestimmte Inhalte der Politik, sondern Struktur und Form des politischen Prozesses selbst. c) „Bestand und Sicherheit des Bundes oder eines Landes" 38 Als weiteres Schutzgut des Verfassungsschutzes nennt Art. 73 Nr. 10 b) GG den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes. Von einer „drohenden Gefahr für den Bestand des Bundes oder eines Landes" (Art. 21 Abs. 2 GG: „... der Bundesrepublik Deutschland") ist wörtlich oder sinngemäß bei der Beschränkung der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 2 GG), beim „Parteiverbot" (Art. 21 Abs. 2 GG), beim Einsatz von Streitkräften als Polizeiunterstützung (Art. 87 a Abs. 4 GG) und bei der föderalen polizeilichen Notstands-Amtshilfe (Art. 91 GG) die Rede. Die Beeinträchtigung des „Bestandes der Bundesrepublik Deutschland" ist klassisches Tatbestandsmerkmal des Hochverratsparagraphen zum Schutze des Bundes (§ 81 StGB); der Hochverrat (nur) gegen ein Bundesland wird anders definiert und wesentlich milder bestraft. § 92 StGB erläutert, was strafrechtlich als Beeinträchtigung des Bestandes der Bundesrepublik anzusehen ist: die Aufhebung ihrer Freiheit von fremder Botmäßigkeit, die Beseitigung der staatlichen Einheit oder die Abtrennung eines Stückes Bundesgebiet. An diese Definition lehnt sich die jetzt in § 4 Abs. 1 a) BVerfSchG 1990 (ebenso in den neuen Landesgesetzen) gegebene Legaldefinition der „Bestrebungen gegen den Bestand des Bundes oder eines Landes" an. Verfassungsrechtlich ist angesichts der Verwandtschaft der Abwehrlagen eine einheitliche Auslegung des Schutzgutes geboten. Die Grundgesetz-Kommentare tragen dem ungewollt Rechnung, in dem sich die sachlichen Erläuterungen zum Begriff „Bestand des Bundes" usw. bei MAUNZ/DÜRIG/HERZOG/SCHOLZ unter Art. 21 Abs. 2, bei v. MANGOLDT/KLEIN unter Art. 87 a Abs. 4 und bei EVERS im Bonner Kommentar unter Art. 91 Abs. 1 finden60, auf welche bei den übrigen einschlägigen Artikeln jeweils verwiesen wird 61 . Dabei besteht im wesentlichen Einigkeit darüber, daß der

59

60

E. DENNINGER Staatsrecht 1, 1973, S. 86; zutreffend auch C. GUSY „Freiheitliche demokratische Grundordnung" (Fn. 48) S. 310. § 4 Abs. 2 BVerfSchG zählt jetzt einfach die einzelnen Elemente auf, die seit dem SRP-Urteil (BVerfGE 2, 1 (12 f)) die Beamtentreue-Rechtsprechung aller Gerichte stereotyp durchziehen. Zu „Bestand des Bundes": T. MAUNZ in: Maunz/Dürig G G (Fn. 46) Art. 21 Rdn. 118; H. v. MANGOLDT/F. KLEIN Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. Art. 87 a Anm. VII 1 a) aa), S. 2332 f; H . U . EVERS in: B K

61

(Fn. 46) Art. 91, R d n . 1 8 ff.

Bei T. MAUNZ in: Maunz/Dürig G G (Fn. 46) fallt die Kommentierung des Begriffes der „Sicherheit" durch die dort aufgemachte Verweisungskette von Art. 73 Rdn. 1 6 0 über Art. 87 Rdn. 60 bis zu Art. 21 Rdn. 1 1 8 einfach aus, denn in Art. 21 Abs. 2 ist von „Sicherheit" nicht die Rede.

§ 16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

697

„Bestand des Bundes" die staatliche Existenz und Einheit der Bundesrepublik als solche, ihre prinzipielle Funktionsfähigkeit nach außen (als Völkerrechtssubjekt) und nach innen (als soziale Ordnungsmacht), ihre gebietliche Integrität und die physische Existenz der Bewohner des Bundesgebiets insgesamt umfaßt. Allerdings rechtfertigt nicht jede, auch nicht jede erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (so die Eingriffsvoraussetzung in Art. 48 Abs. 2 WRV) in bezug auf die Funktionsfahigkeit einzelner staatlicher Einrichtungen den Einsatz der etwa in Art. 21 Abs. 2 GG, 87 a GG oder Art. 91 GG vorgesehenen, mit schweren Grundrechtseingriffen operierenden Abwehrmittel. Die abzuwehrende Gefährdung muß vielmehr die Existenz des Staates als solche in dessen gebietlicher, menschlicher oder hoheitsgewaltlicher „Substanz" treffen (wollen). Dies ist ζ. B. anzunehmen bei politisch motiviertem Bombenterror, bei separatistischen Gewaltaktionen, aber auch bei hochverräterischer Bedrohung ganzer Bevölkerungsgruppen oder -teile mit Seuchenoder Strahlungsgefahr (Trinkwasserverseuchung im Ballungsgebiet o. ä.). Nicht tatbestandsmäßig sind hingegen wirtschaftliche Krisen, Konjunktureinbrüche, Massenarbeitslosigkeit, wirtschaftliche Streiks (vgl. auch Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG!), friedliche Demonstrationen, selbst größten Stiles, friedliche, auf territoriale Umgliederungen des Bundesgebiets gerichtete Bürgerbewegungen. Eine schwächere Form der Bedrohung stellt die Gefahrdung der „Sicherheit 39 des Bundes" (oder eines Landes) dar, die vom Begriff des Verfassungsschutzes im Sinne der Kompetenzvorschrift des Art. 73 Nr. 10 b) GG umfaßt, im übrigen in einigen Straftatbeständen der „Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates" (§ 87 Abs. 1 StGB — Agententätigkeit zu Sabotagezwecken; § 88 StGB — Verfassungsfeindliche Sabotage; § 89 StGB — Verfassungsfeindliche Einwirkung auf Bundeswehr und Sicherheitsorgane) besonders geschützt wird. Dieser Sicherheitsbegriff ist wesentlich enger als der der öffentlichen Sicherheit im allgemeinen Polizeirecht auszulegen62; § 4 Abs. 1 b) BVerfSchG 1990 definiert als Bedrohungen gegen die Sicherheit solche, die darauf gerichtet sind, „den Bund, Länder oder deren Einrichtungen in ihrer Funktionsfähigkeit erheblich zu beeinträchtigen". Dem folgen die neuen Landesverfassungsschutzgesetze. Wenig sinnvoll erscheint die im Schrifttum fortschwelende Kontroverse zur 40 Frage, ob und inwieweit der Schutz des „Bestandes des Bundes" auch Elemente der Staats„form" und Staatsstruktur, also Prinzipien der konkreten Verfassungsordnung miterfaßt63. Der Umstand, daß die einschlägigen Artikel des Grundgesetzes (s. oben Rdn. 38) neben „Bestand (und Sicherheit) des Bundes" (oder eines Landes) alternativ stets die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes (oder eines Landes) anführen, deutet auf eine je verschiedene selbständige Bedeutung der Schutzgüter hin. Es besteht weder semantisch die Notwendigkeit, noch teleologisch interpretierend, ein Bedürfnis, den Bestands-Schutz so weit auszulegen, daß der Grundordnungs-Schutz begrifflich in ihm aufgeht.

62

Z u t r e f f e n d : H. U . EVERS in: B K

63

Zutreffend verneinend: EVERS in: B K (Fn. 46) Art. 91 Rdn. 19, m . w . N .

(Fn. 46) A r t . 7 3 Nr. 10 Rdn. 39.

698

d) Staatsschutv^ und

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Verfassungsschutz

41 Der Schutz des Bestandes und der Sicherheit der Bundesrepublik oder eines Bundeslandes ist demnach als „Staatsschutz" im engeren Sinne von dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, dem „Verfassungsschutz" in diesem engsten Sinne, begrifflich zu unterscheiden. Die Legaldefinition des Art. 73 Nr. 10 b) GG faßt beide Aufgaben als „Verfassungsschutz" zusammen. Dieser Begriff ist jedoch institutionell, nicht funktional zu verstehen: er bezieht sich auf die im Bundesverfassungsschutzgesetz vom 20. Dezember 1990 näher geregelte Tätigkeit des Bundesamtes und der Landesämter für Verfassungsschutz. Allein vom Wortlaut her gesehen, würde die Ermächtigung des Art. 73 Nr. 10 b) ζ. B. auch die Zusammenarbeit von Bundesgrenzschutz und Landespolizeien nach Art. 91 Abs. 2 GG erfassen. Hierüber gibt es nähere Regelungen im Gesetz über den Bundesgrenzschutz vom 18. August 1972 (§§ 9, 63, 65, 66 BGSG), dessen verfassungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage sich in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 und subsidiär in Art. 73 Nr. 5 GG (Zoll- und Grenzschutz) findet. 42

Einer wiederum ganz anderen Systematik folgt der Aufbau der sogenannten „Staatsschutzdelikte" des Strafgesetzbuches, zu denen man die Tatbestände der ersten fünf Abschnitte des Besonderen Teils der StGB, §§ 80 bis 109 k, rechnen kann (vgl. aber auch die Zuständigkeitskataloge der landgerichtlichen „Staatsschutzkammern", §74 a GVG, sowie der Oberlandesgerichte nach §120 GVG). Die Delikte des Friedensverrats (§§ 80, 80 a StGB), des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit (§§93 —101a StGB), sowie die Straftaten gegen die Landesverteidigung (§§ 109 ff StGB) richten sich gegen das Schutzgut „Bestand und Sicherheit der Bundesrepublik", die im Titel „Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates" (§§ 84 bis 91 StGB) und in den §§ 105 bis 108 d StGB zusammengefaßten Delikte richten sich, wenn überhaupt, gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Im Tatbestand des Hochverrats (§§ 81 bis 83 a StGB) sind beide Schutzrichtungen alternativ zusammengeführt. Bei der praktischen Beurteilung eines konkreten Angriffs oder entsprechender Vorbereitungshandlungen wird es häufig kaum möglich sein, die beiden Schutzgüter zu trennen; in den allermeisten Fällen wird bei einem Angriff auf den „Bestand" des Bundes zugleich ein Angriff auf seine freiheitliche und demokratische Grundordnung vorliegen, nicht so im umgekehrten Falle. 5. Einrichtungen und Befugnisse zur Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung

43 Die Beschreibung der Schutzgüter des Verfassungsschutzes (im spezifischen Sinne, vgl. oben 31 ff) vermittelt zugleich einen Eindruck von der Fülle und Vielfalt der Abwehrinstrumente, über welche die streitbare Demokratie verfügt. Das heißt keineswegs, daß von all diesen rechtlichen Möglichkeiten praktisch mit gleicher Intensität Gebrauch gemacht wird. Beispielsweise führen gerade die beiden Einrichtungen, die auf den ersten Blick als für den „streitbaren" Charakter des Grundgesetzes besonders signifikant erscheinen: das Institut der Grundrecbtsverwirkung in Art. 18 GG und die Möglichkeit des ,Parteiverbots' in Art. 21 Abs. 2 GG seit langem ein verfas-

§16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

699

sungsrechtliches Schattendasein. Seit den beiden Verfahren nach Art. 21 Abs. 2 GG, 1952 gegen den Rechts- und 1956 gegen den Linksextremismus (die Sozialistische Reichspartei bzw. die Kommunistische Partei Deutschlands betreffend, BVerfGE 2, 1 ff; 5, 85 ff) hat keines der antragsberechtigten Organe (Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, eventuell eine Landesregierung, § 43 BVerfGG) je wieder einen entsprechenden Antrag gestellt; links- wie rechtsextreme (Nachfolge-)Parteien, Vereine und Griippchen konnten entstehen. Sie finden derzeit politisch nur geringes Echo, dennoch gibt die Entwicklung des Rechtsextremismus, auch in den neuen Bundesländern, gepaart mit Ausländerfeindlichkeit, Anlaß zur Sorge. Ebenfalls nur zweimal hat die Bundesregierung 1952 und 1969 Anträge nach Art. 18 GG i. V. m. § 36 BVerfGG auf Grundrechtsverwirkung gestellt, die Verfahren jedoch „lustlos" betrieben. In beiden Fällen sah das Bundesverfassungsgericht keinen Grund, eine Grundrechtsverwirkung auszusprechen (BVerfGE 11, 282; 38, 23)64. Auf der anderen Seite hat ein „juristisch" eher unscheinbarer Vorgang, nämlich die Interpretation der beamtenrechtlichen Verfassungstreueklausel (§ 4 Abs. 1 Nr. 2 BRRG u. a. m.) durch eine Grundsätze-Erklärung des Bundeskanzlers und der Ministerpräsidenten der Länder (Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst, vom 28. Januar 1972), also nicht einmal eine förmliche Rechtsänderung, sondern allenfalls die Formulierung einer Verwaltungsrichtlinie, die politische Öffentlichkeit der Republik jahrelang heftig aufgewühlt und in zahlreiche berufliche Einzelschicksale (von Lehramtsbewerbern, Rechtsreferendaren, aber auch von Lokomotivführern und Postschaffnern) einschneidend eingegriffen. Die Vielfalt der Abwehrmöglichkeiten entspricht der Vielfalt der Angriffswei- 44 sen. Der Versuch einer rechtssystematischen Darstellung kann sich nicht mit einer Aufzählung der Rechtsebenen und Rechtsgebiete begnügen, auf denen Verfassungsschutz stattfinden kann. Eine Gliederung jeweils nach der Angriffsmodalität erscheint angesichts der abstrakten Umschreibungen für mögliche Tathandlungen — „zum Kampf ... mißbrauchen" (Art. 18 GG), „darauf ausgehen, ... zu beeinträchtigen, ... zu beseitigen, ... zu gefährden (Art. 21 GG), „verstoßen" (Art. 98 Abs. 2 GG), „beeinträchtigen", „beseitigen", „außer Geltung setzen", „untergraben" (§ 92 Abs. 3 StGB) — als wenig sinnvoll. So bietet sich eine Systematisierung nach Art und Gegenstand der Abwehrmaßnahmen an; Überschneidungen sind dabei besonders im Doppelfeld von Prävention und gleichzeitiger Repression unvermeidlich. In einer ersten Annäherung lassen sich fünf verschiedene Abwehrstrategien unterscheiden: 1. Die Informationsgewinnung und -auswertung auch schon im „Vorfeld" konkreter Gefahren für die geschützten Rechtsgüter. Sie reicht von der generellen Dauerbeobachtung der politischen Randszene bis zur gezielten Observation einzelner Personen, bei denen sich ein Verdacht verfassungsfeindlicher Tätigkeit konkretisiert hat; 64

Zu den verfahrensrechtlichen Aspekten der Verfahren nach Art. 18 und 21 Abs. 2 G G vgl. K . STERN Verfahrensrechtliche Probleme der Grundrechtsverwirkung und des Parteiverbots, in: C. Starck (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1. Band, 1976, S. 1 9 4 ff.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

2. präventives und repressives polizeiliches, u. U. auch nachrichtendienstliches Handeln zur Abwehr einzelner, von konkreten Einzelaktionen ausgehender Angriffe; 3. die präventive Ausschaltung für verfassungsfeindlich gehaltener Einzelsubjekte oder kollektiver Subjekte aus dem Prozeß der öffentlichen politischen Meinungsund Willensbildung sowie aus dem Prozeß der staatlichen Entscheidungsbildung und -durchfiihrung; 4. die strafrechtliche Verfolgung strafbarer Handlungen, bei denen ein Angriff auf (eine „Bestrebung gegen", vgl.: § 92 Abs. 3 StGB) die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes in irgendeiner Form als Tatbestandsmerkmal normiert worden ist; 5. in der Ausnahmesituation die Aktualisierung des Widerstandsrechtes gemäß Art. 20 Abs. 4 GG. a) Nachrichtendienstlicher

Verfassungsschutz

45 Zu 1.: Die Abwehr verfassungsfeindlicher Aktionen, die Bekämpfung verfassungsfeindlicher Gruppierungen beginnt mit der Beschaffung möglichst genauer Informationen über den Gegner, seine Verhaltensweisen und Pläne. Dies ist Aufgabe des sogenannten „administrativen Verfassungsschutzes". Er umfaßt drei (geheime) Nachrichtendienste: (1) das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), eine dem Bundesminister des Innern unterstellte Bundesoberbehörde. Sie arbeitet mit den entsprechenden Landesämtern für Verfassungsschutz oder mit der für diese Aufgabe zuständigen Abteilung des Innenministeriums eines Landes (so in Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz und Schleswig-Holstein) zusammen. (2) den Militärischen Abschirmdienst {MAD) des Bundesministers der Verteidigung. Er arbeitet mit den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder zusammen (§ 3 MADG). (3) den Bundesnachrichtendienst (BND), eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Chefs des Bundeskanzleramtes. 46

Alle drei Dienste haben in dem Artikel-„Gesetz zur Fortentwicklung der Datenverarbeitung und des Datenschutzes" vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954) ihre gesetzliche Grundlage erhalten, MAD und BND erstmalig. Art. 3 des Gesetzes enthält das MAD-Gesetz, Art. 4 das BND-Gesetz, während das neue BVerfSchG (Art. 2 des Artikelgesetzes) an die Stelle des alten vom 27. 9. 1950/7. 8. 1972 tritt. Die Verabschiedung der Gesetze für die drei Dienste zusammen mit dem revidierten Bundesdatenschutzgesetz (Art. 1 des Gesetzes) deutet schon an, daß es weniger um eine Neubestimmung der Aufgaben der Nachrichtendienste ging, als vielmehr um eine Regelung ihrer Befugnisse bei der Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten, die den Anforderungen des Volkszählungsurteils 1983 gerecht wird.

§16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

701

Die Aufgabe des BjV sind wie bisher die Beobachtung des politischen Extre- 47 mismus einschließlich des Terrorismus, die Spionageabwehr, die Beobachtung der außenpolitisch relevanten Ausländergewaltkriminalität sowie die Mitwirkung bei Sicherheitsüberprüfungen im Rahmen des personellen und technischen Geheim- und Sabotageschutzes, § 3 Abs. 1 und 2 BVerfSchG. Die Landesverfassungsschutzgesetze von Baden-Württemberg (Gesetz vom 17. 10. 1978), Bayern (Gesetz vom 24. 8. 1990), Niedersachsen (Gesetz vom 3. 11. 1992) und Rheinland-Pfalz (Gesetz vom 26. 3. 1986/4. 4. 1989) erwähnen außerdem ausdrücklich die Mitwirkung auf Anfrage der Einstellungsbehörde bei der Verfassungstreueüberprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst. Der Gesetzgeber versucht, die häufig weit im „Vorfeld" konkreter Gefahren 48 liegende Arbeit der Verfassungsschutzbehörden als „Frühwarnsysteme" tatbestandsmäßig einzugrenzen, indem er den Begriff der „Bestrebungen" gegen Bestand oder Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung näher definiert, § 4 Abs. 1 BVerfSchG. Es muß sich um „politisch bestimmte, ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluß" handeln, „der darauf gerichtet ist", die jeweils erläuterten Schutzgüter der streitbaren Demokratie erheblich zu beeinträchtigen oder zu beseitigen. Voraussetzung jeder Informationssammel- und ,,-auswertungs"tätigkeit ist das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte (§ 4 Abs. 1, S. 3 BVerfSchG). Die Bezugnahme auf einen „Personenzusammenschluß" verdeutlicht — sprachlich mißlungen aber sachlich begrüßenswert —, daß das Interesse der Ämter den „verfassungsfeindlichen" Gruppen und Organisationen zu gelten hat, nicht aber irgendwelchen isoliert handelnden politischen Wirrköpfen — es sei denn, ihr Verhalten richtet sich auf die Anwendung von Gewalt oder ist geeignet, „ein Schutzgut dieses Gesetzes erheblich zu beschädigen" (§ 4 Abs. 1 BVerfSchG a. E.). § 5 des Gesetzes bringt die föderale Gliederung des administrativen Verfassungs- 49 schutzes zum Ausdruck. Während jede Landesverfassungsschutzbehörde ihre Aufgaben im eigenen Land ohne weiteres wahrnimmt und, soweit erforderlich, ihre Erkenntnisse den anderen Ämtern kundtut, darf das Bundesamt in einem Bundesland nur „im Benehmen" mit der Landesbehörde und auch nur dann tätig werden, wenn die verfassungsfeindliche Aktivität gegen den Bund gerichtet ist, sich über die Grenzen eines Landes hinaus erstreckt oder auswärtige Belange der Bundesrepublik berührt (§ 5 Abs. 2 BVerfSchG). Da das „Benehmen" durch einen informierenden Telefonanruf hergestellt werden kann, also kein Einvernehmen voraussetzt und außerdem generalisiert werden kann, bleibt die föderale Hürde für das Tätigwerden des Bundesamtes außerordentlich niedrig. Der eigentliche „Zentralstellen"-Charakter des Bundesamtes, den Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG fordert, erweist sich erst in der Pflicht der Länder, beim Bundesamt gemeinsame Dateien zur Erfüllung ihrer Unterrichtungspflichten zu führen und sie gemeinsam zu nutzen, § 6 BVerfSchG. Damit wird insbesondere die Personenzentraldatei (PZD) des nachrichtendienstlichen Informationssystems (NADIS) gesetzlich fundiert, die als Personendaten- und Aktenfundstellendatei fungiert. Darüber hinausgehende Textdateien unterliegen strengeren Vor-

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3. Kapitel. Die demokratische O r d n u n g des Grundgesetzes

aussetzungen, § 6 S. 8f BVerfSchG. Das Weisungsrecht der Bundesregierung an die obersten Landesbehörden im Falle eines „Angriffs auf die verfassungsmäßige Ordnung des Bundes" sichert (wie bisher) die im Ernstfall erforderliche Kräftekonzentration, § 7 BVerfSchG. 50

Während der Einsatζ nachrichtendienstlicher Mittel den Verfassungsschutzbehörden früher sehr pauschal gestattet war, spezifiziert das Gesetz jetzt sowohl die zulässigen Mittel („Methoden, Gegenstände und Instrumente zur heimlichen Informationsbeschaffung, wie den Einsatz von Vertrauensleuten und Gewährspersonen, Observationen, Bild- und Tonaufzeichnungen, Tarnpapiere und Tarnkennzeichen", § 8 Abs. 2 BVerfSchG) wie auch die Voraussetzungen ihrer Anwendung65. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i. w. S., insbesondere das Prinzip des schonendsten Mittels wird wiederholt in Erinnerung gebracht. Für die beiden im Inland operierenden Dienste Verfassungsschutz und MAD wird auch die Bindung an die allgemeinen Rechtsvorschriften (Art. 20 GG) normiert; für den „Auslandsnachrichtendienst" BND fehlt diese Klausel, obwohl er Informationen auch im Inland erheben darf. Der umfassende, vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung geforderte Gesetzesvorbehalt führt dazu, daß sich polizeirechtliche und nachrichtendienstliche Befugnisnormierungen in erheblichem Ausmaß überschneiden, nämlich dort, wo die Polizei sich in das „Vorfeld" der Gefahrenabwehr zum Zwecke der vorbeugenden Verhütung von Straftaten begibt, oder umgekehrt dort, wo der Verfassungsschutz im Bereich der Gefahrenabwehr, die nicht eigentlich seine Aufgabe ist, tätig wird. Beispielsweise ist das heimliche Abhören oder Aufzeichnen des in einer Wohnung nicht öffentlich gesprochenen Wortes (sog. „Lauschangriff", entsprechendes gilt für die „versteckte Kamera") zulässig, „wenn es im Einzelfall zur Abwehr einer gegenwärtigen gemeinen Gefahr oder einer gegenwärtigen Lebensgefahr für einzelne Personen unerläßlich ist und geeignete polizeiliche Hilfe für das bedrohte Rechtsgut nicht rechtzeitig erlangt werden kann." (§ 9 Abs. 2). Liegt jedoch eine solche, hinsichtlich des Schutzgutes wie hinsichtlich der Dringlichkeit („gegenwärtige Lebensgefahr"!) gesteigerte konkrete Gefahr vor, so ist notwendig ein Einsatz der Polizei gefordert; nimmt man die Vorschrift ernst, so muß die Verfassungsschutzbehörde hier die Polizei alarmieren und ihr dann das Feld überlassen (vgl. etwa § 15 Abs. 4 und 5 HSOG: mit Richtervorbehalt außer bei Gefahr im Verzuge). Kompetenzkonflikte sind hier bereits im Gesetz angelegt.

51

Die Aufgaben des MAD ähneln denen des Bundesamtes für Verfassungsschutz, sind aber hinsichtlich der Angriffsobjekte wie der -Subjekte durch den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung begrenzt. In Ausnahmefällen kann der MAD, zum Teil nur „im Benehmen" mit dem Verfassungsschutz, seine Tätigkeit auch auf Personen außerhalb dieses Geschäftsbereichs erstrecken, ζ. B. auf Ehegatten und Verlobte von Angehörigen des militärischen Bereichs. Außerdem obliegt dem Dienst die Informationsauswertung „zur Beurteilung der Sicherheitslage" militäri-

65

S. dazu näher: C. GUSY Befugnisse des Verfassungsschutzes zur Informationserhebung, in: D V B l 1 9 9 1 , S. 1288.

§ 16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

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scher Einrichtungen und Dienststellen und die Mitwirkung an gesetzlich allerdings nicht näher geregelten Sicherheitsüberprüfungen. Der Bundesnachrichtendienst sammelt — und zwar im Inland (Spionageabwehr!) 52 wie im Ausland — Informationen „zur Gewinnung von Erkenntnissen über das Ausland, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind". Im übrigen verweisen das BNDG wie auch das MADG bezüglich des Umgangs mit personenbezogenen Daten weitgehend auf die Vorschriften des BVerfSchG, s. ζ. B. auch zu der unter der früheren Rechtslage schon mehrfach gerichtsstreitig gewordenen Frage der Auskunftserteilung an den Betroffenen. Die jetzige Regelung sieht zwar (in § 15 Abs. 1 BVerfSchG) die Erteilung von Auskunft über gespeicherte personenbezogene Daten vor, wenn der Antragsteller „auf einen konkreten Sachverhalt hinweist und ein besonderes Interesse an einer Auskunft darlegt". Jedoch ist der im folgenden Absatz 2 normierte Katalog der Auskunftsiwweigerungsgründe so umfassend und außerdem der Interpretation der Behörde überlassen, daß die Chancen auf Erteilung einer gehaltvollen Auskunft minimal sind. Immerhin kann der Betroffene den Datenschutzbeauftragten einschalten, doch auch dann kann noch der Bundesminister des Innern sein Veto gegen die Erteilung einer Auskunft einlegen. „Trennungsgebot" : Ja, aber informationelle

Zusammenarbeit:

Die neuen Gesetze über die Nachrichtendienste widmen der Frage des Verhältnisses 53 dieser Dienste zur Polizei und den Fragen ihrer Zusammenarbeit untereinander und mit den Staatsanwaltschaften besondere Sorgfalt. Es ist zu hoffen, daß die neuen Vorschriften zur Beendigung des langjährigen, von Mißverständnissen nicht freien Streites um Sinn, Rechtsgrundlage und Tragweite des sogenannten „Trennungsgebotes" für Polizei und Verfassungsschutz beitragen66. Die Generallinie der Gesetze 1990 läßt sich auf die Formel bringen: Deutliche organisatorische, aufgaben- und befugnismäßige Trennung zwischen Polizei und Diensten, aber weitgehende, jeweils aufgabenbezogene informationelle Zusammenarbeit. Im einzelnen: (1) Keiner der Dienste darf einer polizeilichen Dienststelle organisatorisch angegliedert werden (§ 2 Abs. 1 S. 3 BVerfSchG; § 1 Abs. 4 MADG; § 1 Abs. 1 S. 2 BNDG). (2) Keiner der

66

Zum Problem vgl. H. BORGS-MACIEJEWSKI/F. EBERT Das Recht der Geheimdienste, 1986, § 3 Rdn. 120 ff einerseits; E. DENNINGER Die Trennung von Verfassungsschutz und Polizei und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, in: Z R P 1981, S. 231 (jetzt in: Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 362) andererseits. Noch unlängst (Juli 1990) wurde die Existenz eines Trennungsgebotes (nach der alten Rechtslage überhaupt in Frage gestellt, so etwa v o m Vizepräsidenten des B K A , G. KÖHLER. Die Aufgaben der Polizei bei der Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus, in: Bundesminister des Innern (Hrsg.) Aufgaben und Kontrolle des Verfassungsschutzes, 1990, S. 87 ff (104) während G. BOEDEN Präsident des BfV, ebenfalls 1 9 9 0 feststellt, die „strengste Trennung von beobachtender Tätigkeit des Verfassungsschutzes und exekutiver Tätigkeit der Polizei" haben sich in 40 Jahren Arbeit bewährt, vgl. BOEDEN Vierzig Jahre Verfassungsschutz (Fn. 5) S. 2. Zum Ganzen s. jetzt die eingehende Untersuchung v o n C. GUSY Das gesetzliche Trennungsgebot zwischen Polizei und Verfassungsschutz, in: Die Verwaltung 1 9 9 1 , S. 467 ff.

704

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

Dienste darf „polizeiliche Befugnisse oder Weisungsbefugnisse" ausüben (§ 8 Abs. 3 BVerfSchG; § 4 Abs. 2 MADG; § 2 Abs. 3 S. 1 BNDG). Hierunter sind „exekutive" Zwangsbefugnisse wie Festnahmen, Ingewahrsamnahmen, Durchsuchungen, Sicherstellungen u. ä. zu verstehen; die Dienste bleiben auf die Befugnisse zur Informationserhebung und -Verarbeitung beschränkt. Insoweit entspricht die Rechtslage der seitherigen (seit dem „Polizeibrief' der alliierten Militärgouverneure vom 8./14. April 1949); sie soll das Wiederentstehen einer „Geheimen Staatspolizei" mit unkontrollierbaren Exekutivbefugnissen unmöglich machen. 67 (3) Während das alte BVerfSchG (§ 3 Abs. 4) die allgemeine Rechts- und Amtshilfeklausel des Art. 35 GG wiederholte und damit Unklarheiten auslöste 68 , legen die neuen Gesetze eindeutig fest, daß die Dienste „die Polizei auch nicht im Wege der Amtshilfe um Maßnahmen ersuchen" dürfen, zu denen sie selbst nicht befugt sind (§ 8 Abs. 3 2. Hs. BVerfSchG; § 4 Abs. 2 MADG; § 2 Abs. 3 S. 2 BNDG). Insoweit wird das Trennungsgebot klar umrissen. (4) Ganz anders als die „Amtshilfe" behandelt das BVerfSchG (auf welches MADG und BNDG verweisen) die „Informationshilfe", d. h. den Austausch von Informationen, insbesondere von personenbezogenen Daten. Der dritte Abschnitt „ÜbermittlungsVorschriften", §§17 bis 26 BVerfSchG, der insoweit auch den allgemeinen Regeln des Bundesdatenschutzgesetzes (§10, §§13 bis 20 BVerfSchG) vorgeht, erlaubt den Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden, insbesondere zwischen Polizei und Verfassungsschutz, in beiden Richtungen in weitem Ausmaß. Dabei sind die Informationshilfeersuchen der Nachrichtendienste an die Grenzpolizeibehörden in einer besonderen (geheimen) Dienstanweisung des Bundesministers des Innern auch noch gesondert zu regeln; die Parlamentarischen Kontrollkommission (s. u. Rdn. 71 f) ist zu unterrichten, § 17 Abs. 2 BVerfSchG. Das stets wiederholte Kriterium der Aufgabenerforderlichkeit als Übermittlungsschranke dürfte in der Praxis kaum ein reales Hindernis darstellen. Ob die bei einigen Übermittlungstatbeständen eingebauten Zweckbindungs-Schranken praktisch wirksam werden, wird nicht zuletzt auch von der Kontrolltätigkeit des Bundesbeauftragten für den Datenschutz abhängen. Immerhin dürfen personenbezogene Daten, die mit Hilfe einer Maßnahme nach § 100 a StPO (Telefonüberwachung) gewonnen wurden, an den Verfassungsschutz und an den BND (im MADG fehlt die entsprechende Klausel!) nur übermittelt werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß jemand eine der in § 2 des Gesetzes zu Art. 10 GG angeführten Straftaten plant, begeht oder begangen hat, § 18 Abs. 6 BVerfSchG (das meint ζ. B. Friedensverrat, Hochverrat, Landesverrat usw., aber auch die Bildung einer terroristischen Vereinigung, § 129 a StGB). Eine Zweckbindung bei der Übermittlung vom Verfassungsschutz an die Staatsanwaltschaft und an die Polizei besteht insofern, als es sich um Daten handeln muß, deren Übermittlung „zur Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten" (§§ 74 a,

67

68

Deswegen ist es auch so wichtig, grundsätzlich daran festzuhalten, daß die Polizei „offen" auftritt und nur ausnahmsweise, möglichst gar nicht, im Geheimen operiert. Vgl. § 13 Abs. 7 H S O G , § 9 Abs. 4 P o l G N W usw. Vgl. E. DENNINGER Amtshilfe im Bereich der Verfassungsschutzbehörden, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.) Verfassungsschutz und Rechtsstaat, 1981, S. 19 ff m. w. Nachw.

§16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

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120 GVG) sowie einiger anderer, die Schutzgüter des Art. 73 Nr. 10 b und c GG bedrohender Delikte erforderlich ist. Löst man im Einzelfall die kunstvolle Katalogverweisungstechnik auf, die schon fast wie eine Geheimcodierung wirkt, so bleibt kein bedrohlicher Fall übrig, in dem die Übermittlung untersagt wäre. Kein Wunder, daß die Sicherheitsbehörden erklären, mit diesen Regeln „leben zu können". Eine Verbesserung des Datenschutzes bedeuten die neuen Vorschriften über die 54 Berichtigung, Löschung und Sperrung personenbezogener Daten in Dateien (§12 BVerfSchG) und in Akten (§ 13 BVerfSchG). Den Grundsatz des „kontrollierten Vergessens" und die damit erhobene Forderung (vgl. die Vorauflage, S. 1325) der regelmäßigen Löschung nicht mehr benötigter Daten nach Ablauf bestimmter Fristen berücksichtigt der Gesetzgeber, indem er spätestens nach fünf Jahren eine Überprüfung und spätestens nach zehn Jahren (seit der letzten gespeicherten relevanten Information) die regelmäßige Löschung der Daten vorschreibt, § 12 Abs. 3 BVerfSchG. Personenbezogene Daten in Akten werden berichtigt oder gesperrt; gesperrte Daten dürfen weder genutzt noch übermittelt werden, § 13 Abs. 2 BVerfSchG. h) Abivehr konkreter Gefahren für die Schüttgüter des

Verfassungsschutzes

Zu 2.: Die Rechtsordnung bietet eine Reihe von Möglichkeiten, um „drohende", 55 d. h. konkrete Gefahren für die Schutzgüter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherheit des Bundes oder eines Landes mit teils nachrichtendienstlichen, teils polizeilichen Mitteln zu bekämpfen: aa) Im Zuge der Notstandsgesetzgebung (17. Gesetz zur Ergänzung des Grund- 56 gesetzes vom 24. Juni 1968) wurde dem Grundrecht des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG ein Gesetzesvorbehalt beigefügt, der den Ausschluß des Rechtsweges gegen Beschränkungsmaßnahmen und die Nichtmitteilung derselben an den Betroffenen für zulässig erklärte. Einzelheiten regelte sodann das „G 10" vom 13. August 1968, welches den drei Nachrichtendiensten die Befugnis einräumte, „dem Brief-, Post- oder Fernmeldegeheinmis unterliegende Sendungen zu öffnen und einzusehen, sowie den Fernschreibverkehr mitzulesen, den Fernmeldeverkehr abzuhören und auf Tonträger aufzunehmen", § 1 Abs. 1 G IO69. Voraussetzung für die Zulässigkeit des heimlichen Postmitlesens oder Telefonabhörens sind „tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht", daß jemand eine der in § 2 G 10 näher bezeichneten staats- oder verfassungsgefahrdenden Straftaten „plant, begeht oder begangen hat". Auch muß die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert sein. Mit dem Übergang der Abhörbefugnis auf deutsche Dienststellen wurden die entsprechenden Sicherheitsvorbehalte der drei West-Alliierten in Art. 5 Abs. 2 des Deutschlandvertrages vom 26. Mai 1952 abgelöst. Die Regierung des Landes Hessen, sowie einige Richter und Rechtsanwälte haben im Wege der abstrakten Normenkontrolle bzw. der Verfassungsbeschwerde 69

Die Vorschrift wurde durch Gesetz v o m 8. Juni 1989 ohne wesentliche inhaltliche Änderung neu gefaßt.

706

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

die Verfassungswidrigkeit insbesondere der Nichtbenachrichtigung des Betroffenen und des Rechtswegausschlusses nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2, 19 Abs. 4 Satz 3 GG i. V. m. § 5 Abs. 5 und § 9 Abs. 5 G 10 a. F. geltend gemacht. Die Mehrheit der Verfassungsrichter hat in einer Grundsatzentscheidung zur streitbaren Demokratie (BVerfGE 30, Iff, bes. 19ff) die Durchbrechung des rechtsstaatlichen Grundsatzes des lückenlosen Individualrechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) als eine „systemimmanente Modifikation" (nicht hingegen als „prinzipielle Preisgabe") eines der in Art. 79 Abs. 3 GG besonders geschützten Grundsätze und darum als mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar erachtet. Zur Begründung führt das Gericht u. a. den zwar abstrakt richtigen, aber das Problem des Falles nicht treffenden Satz an, es könne „nicht der Sinn der Verfassung sein, zwar den verfassungsmäßigen obersten Organen im Staat eine Aufgabe zu stellen und für diesen Zweck ein besonderes Amt vorzusehen, aber den verfassungsmäßigen Organen und dem Amt die Mittel vorzuenthalten, die zur Erfüllung ihres Verfassungsauftrags nötig sind". Diese Abhörentscheidung hat viel und zum Teil auch verdiente Kritik erfahren70. 57

bb) Das Grundrecht der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit (Art. 8 GG) unterliegt den im Gesetz über Versammlungen und Aufzüge vom 15. November 1978 normierten Beschränkungen zum Schutze der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung. In diesem Rahmen, ζ. B. zur Verhütung von „politischen" Straftaten, kann auch die freiheitliche demokratische Grundordnung etwa durch ein Versammlungsverbot, durch Auflagenerteilung oder polizeiliche Versammlungsauflösung geschützt werden, § 15 VersammlG. Darüber hinaus dient das Versammlungsgesetz speziell der Sicherstellung des mit repressiven Maßnahmen gegen politische Aktivitäten bestimmter Personen oder Gruppen — dazu unten zu 3. — bezweckten Erfolges: Wer von Sanktionen nach Art. 9 Abs. 2, 18 oder 21 Abs. 2 GG betroffen ist hat — als Einzelner, als Verein oder als Partei — das Versammlungsrecht nicht (§ 1 VersammlG); von ihm veranstaltete Versammlungen können im Einzelfall verboten (§ 5 Nr. 1 VersammlG) und aufgelöst werden (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 VersammlG). Verbot und Auflösung sind aber, wie das Bundesverfassungsgericht 1985 im BrokdorfBeschluß (BVerfGE 69, 315) herausgearbeitet hat, wegen des hohen Ranges der Versammlungsfreiheit nur als ultima ratio zulässig (S. 353).

58

cc) Das Versammlungsrecht ist nach dem Grundgesetz nur ein „Deutschengrundrecht", nach dem Versammlungsgesetz (§1) und nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, Art. 11, aber ein Jedermannsrecht, das also auch den Ausländern in der Bundesrepublik zusteht. Deren politische Betätigung wird jedoch untersagt, „soweit sie 1. die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet oder den kodifizierten Normen des Völkerrechts widerspricht, 2. Gewaltanwendung als Mittel zur Durchsetzung politischer, religiöser oder sonstiger Belange öffentlich unterstützt, befürwortet oder hervorzurufen bezweckt oder geeignet ist oder 70

V g l . P. HABERLE A b h ö r e n t s c h e i d u n g ( F n . 3 0 ) .

§16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

707

3. Vereinigungen, politische Bewegungen oder Gruppen innerhalb oder außerhalb des Bundesgebiets unterstützt, die im Bundesgebiet Anschläge gegen Personen oder Sachen oder außerhalb des Bundesgebiets Anschläge gegen Deutsche oder deutsche Einrichtungen veranlaßt, befürwortet oder angedroht haben" (§ 37 Abs. 2 Ausländergesetz vom 9. Juli 1990). Die Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist auch der an erster Stelle des Gesetzes genannte Ausweisungsgrund, § 46 Nr. 1 AuslG. Die Verbindung der nachrichtendienstlichen (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 BVerfSchG), vereinspolizeilichen (vgl. § 14 Vereinsgesetz, betr. Ausländervereine) und ausländerpolizeilichen (§§37 Abs. 1 Nr. 1, 2, 4, Abs. 2; 45; 46 Nr. 1 AuslG) Überwachungsvorschriften bietet ausreichende rechtliche Handhaben, um politische extremistische Ausländervereinigungen nicht nur zu treffen, wenn sie innerstaatlich die Verfassungsgrundsätze bekämpfen, sondern auch dann, wenn sie vom Boden der Bundesrepublik aus Gewaltaktionen in ihren Heimatländern oder anderswo vorbereiten. dd) Polizeiliche Situationen, in denen spezifisch der Schutz der Verfassung in 59 Frage steht, die jedoch die polizeiliche Kraft eines Landes übersteigen, bedürfen schon im Hinblick auf eine pflegliche Behandlung des Bundesstaatsgedankens besonders sorgsamer Regelung. Das Grundgesetz entwirft in den Art. 91 Abs. 1 und 2, 87 a Abs. 4 ein Stufenschema der Eskalation innerer Notstandssituationen, dem eine gestufte Subsidiarität der dezentralen und zentralen Abwehrkräfte bis hin zum Einsatz von Streitkräften entspricht. Auf jeder Stufe sind die Fragen — — — —

der Zuständigkeit zur Entscheidung über das Betreten der Eskalationsstufe, des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen, der Zuständigkeit für die einzelnen zu treffenden Maßnahmen, und des anzuwendenden Rechts (Landespolizeirecht, Bundespolizeirecht, Kriegsvölkerrecht) zu beantworten.

Dies alles kann hier nicht dargestellt werden. Nur einige Grundlinien seien verzeichnet: In erster Linie ist das Land, in dem die Gefahr (u. U. auch für den Bund!) droht, zur Abwehr berechtigt und verpflichtet; es kann seine Kräfte durch „Organleihen" bei anderen Ländern oder beim Bund (BGS) stärken, Art. 91 Abs. 1 GG. In zweiter Linie wird der Bund mit Landespolizeikräften und/oder mit dem Bundesgrenzschutz tätig, Art. 91 Abs. 2 GG. Zwar sind Polizeiaufgaben grundsätzlich Landessache, doch ist weder nach Abs. 1 noch nach Abs. 2 des Art. 91 der Einsatz des BGS gegenüber dem Einsatz der Polizeien aus „Drittländern" subsidiär (str.), wohl aber besteht Subsidiarität gegenüber der Polizei des Anforderungs- bzw. Einsatzlandes. Landespolizeikräfte (auch dritter Länder) werden im Falle des Abs. 1 nach dem Polizeirecht des Einsatzortes tätig; im Falle des Abs. 2 (Unterstellung unter die Weisungsgewalt der Bundesregierung) richten sich ihre Befugnisse nach dem Bundespolizeirecht des BGSG (§§ 66, 65), dem auch der BGS selbst untersteht. In letzter Linie erst kommt der Einsatz der Streitkräfte nach Art. 87 a Abs. 4 60 GG in Frage; er ist gegenüber jeglichem Polizeieinsatz (einschließlich des BGS) streng subsidiär. Erst, wenn Polizei und BGS nicht ausreichen, und nur zu deren

3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

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„Unterstützung" kommt er in Betracht. Die Bundeswehr darf zwar zum „Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer", also in bürgerkriegsähnlichen Lagen, auch andere, „schwerere" Waffen als nur die polizeilich zugelassenen einsetzen (— deswegen verspricht man sich ja von der militärischen Hilfe Erfolg!), dennoch gilt im Rahmen des Art. 87 a Abs. 4 GG auch für sie der polizeirechtliche Grundsatz des Ubermaßverbots71. Die Entscheidung über den Einsatz trifft die Bundesregierung als Kollegium (wie auch schon nach Art. 91 Abs. 2 GG); die Befehls- und Kommandogewalt verbleibt im übrigen nach Art. 65 a GG bei dem Bundesminister für Verteidigung; weder geht sie auf den Bundeskanzler über (wie im Verteidigungsfall, Art. 115 b GG) noch auf den Bundesminister des Innern (als den „Chef" des BGS und der unterstellten Landespolizeikräfte) noch gar auf eine Landesregierung. Bundestag oder Bundesrat können jederzeit das Ende des Einsatzes der Streitkräfte verlangen. c) Präventiver Schul·.ζ des freiheitlichen

Prozesses der politischen Meinungs- und Willensbildung

61 Zu 3.: Bei den meisten der unter 2. genannten Tatbestände (nicht notwendig bei der Ausländerausweisung nach § 46 Nr. 1 AuslG und nicht notwendig bei bestimmten Versammlungsverboten bzw. -auflösungen, §§ 5 Nr. 1, 13 Abs. 1 Nr. 1 VersG) geht es um die Abwehr einzelner konkreter, gegenwärtiger Angriffe auf die Schutzgüter des Verfassungsschutzes. Die Rechtsordnung kennt jedoch eine Reihe von rechtlichen Möglichkeiten, die sich unmittelbar gegen die künftige Teilnahme bestimmter individueller oder kollektiver Subjekte am demokratischen politischen Leben, an der politischen und staatlich-organschaftlichen Meinungs- und Willensbildung richten72. Legt man begrifflich eine Zäsur zwischen den (partei-)politischen Prozeß der Meinungs- und Willensbildung und die verschiedenartigen Vorgänge staatsorganschaftlicher Entscheidungsfindung und -ausführung, so ergibt sich folgendes Schema: 62 aa) Sinn und Ziel einer ersten Normengruppe ist es, die verfassungswidrigen, aggressiv gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung eingesetzten „Ideen selbst aus dem Prozeß der politischen Willensbildung auszuscheiden"73. Träger solcher Ideen können Einzelpersonen, Vereinigungen (i. S. d. Art. 9 Abs. 2 GG), d. h. „Vereine" i. S. d. § 2 Vereinsgesetz vom 5. August 1964 sowie politische Parteien (i. S. d. § 2 PartG vom 24. Juli 1967 i. d. F. vom 3. März 1989) sein. Die präventive Eliminierung aus dem politischen Prozeß erfolgt gegen Einzelpersonen und gegen Parteien durch einen konstitutiv wirkenden Spruch des Bundesverfassungsgerichts, der im ersten Fall auf „Verwirkung", d. h. auf thematisch begrenzte Aberkennung 71

72

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Insofern stimme ich völlig überein mit G. DÜRIG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 46) Art. 87 a Rdn. 126, und mit K . HERNEKAMP in: I. v. Münch (Hrsg.) Grundgesetz-Kommentar, Band 3, 1978, Art. 87 a Rdn. 46. Vgl. auch schon E. DENNINGER/BEYE Rechtsgutachten zum Waffengebrauchsrecht der Polizei, 1970, S. 24. Die §§ 5 Nr. 1 und 13 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit 1 Abs. 2 VersammlungsG bieten die Besonderheit, daß sie Rechtsfolgen für einen konkreten Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit normieren und zugleich die Ausschaltung der Betroffenen aus dem politischen Leben für die Zukunft gewährleisten sollen. So prägnant: B V e r f G E 2, 73.

§ 16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

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der in Art. 18 G G abschließend aufgezählten Grundrechte 74 , im zweiten Fall auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Partei lautet (Art. 21 Abs. 2 GG). Mit der Feststellung sind die Auflösung der Partei, das Verbot ihrer Neugründung, das Verbot der Schaffung einer Ersatzorganisation zwingend, die Vermögensbeschlagnahme und -einbeziehung fakultativ verbunden, § 46 BVerfGG. Gegen Vereine i. S. d. Vereinsgesetzes — die Rechtsform, etwa als „e. V.", spielt also keine Rolle! — geht bei bundesweiten Organisationen der Bundesminister des Innern, sonst die zuständige oberste Landesbehörde mit einer Verbotsverfügung vor (§ 3 VereinsG), in der die Auflösung des Vereins und regelmäßig auch die Beschlagnahme und Einziehung des Vermögens anzuordnen sind. In ähnlicher Weise darf auch eine „Ersatzorganisation" (Legaldefinition in § 8 Abs. 1 VereinsG bzw. § 33 Abs. 1 PartG) erst dann als verboten behandelt werden, wenn entweder — so bei bereits bestehenden „Ersatz-Parteien" — das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit förmlich festgestellt hat oder — so bei anderen Vereinen und neuen Parteien (§ 33 Abs. 3 PartG) — eine Verbotsverfügung nach § 8 Abs. 2 VereinsG ergangen ist. Seit dem KPD-Verbots-Urteil (BVerfGE 5, 85 ff (140)) und dem Urteil zu § 90 a 63 Abs. 1 StGB a.F. (1961; BVerfGE 12, 296 ff (304 ff) ist klargestellt, daß jegliches administrative Einschreiten gegen den Bestand einer (noch) nicht für verfassungswidrig erklärten Partei, ferner auch gegen eine sich im Rahmen der „allgemeinen Strafgesetze" haltende, nur allgemein erlaubte Mittel einsetzende Parteitätigkeit der Funktionäre, Mitglieder und Anhänger einer solchen Partei ausgeschlossen ist. Folgerichtig sind ζ. B. die Rundfunkanstalten während des Wahlkampfes nicht berechtigt, die Wahlwerbesendung (den „Wahlspot") einer extremistischen, aber nicht verbotenen Partei nur wegen ihres „verfassungsfeindlichen" Inhalts von der Ausstrahlung auszuschließen. Die Normen der Rundfunkgesetze, die verfassungs- oder gesetzeswidrige Sendungen untersagen — z. B. § 3 Nr. 3 HessRundfG von 1948 — werden insoweit vom „Parteienprivileg" des Art. 21 „überlagert" (BVerfGE 47, 198 ff (229)). Die Grenze der Toleranz soll durch die „allgemeinen Strafgesetze" gezogen sein, d. h. durch alle Straftatbestände, „die nicht notwendig oder doch wesensgemäß bei der Förderung auch verfassungsfeindlicher Parteiziele verwirklicht werden und die insbesondere nicht nur die bloße Verfassungsfeindlichkeit unter Strafe stellen, sondern bei denen andere Unrechtsmerkmale den eigentlichen strafrechtlichen Gehalt ausmachen" (BVerfGE 47, 230). Bei der neuerdings zunehmend rüden Tonart im Wahlkampf wird man die haarfeine Grenze zwischen einer (zulässigen) „noch so verfassungsfeindlichen" scharfen Kritik (BVerfGE 47, 232) und einer (strafbaren) Verunglimpfung der verfassungsmäßigen Ordnung (§ 90 a StGB) oder etwa des Bundeskanzlers (§ 90 b StGB) ex ante kaum immer klar erkennen können. Die Nichtzulassung eines Mitglieds oder Funktionärs einer (noch) nicht verbotenen „verfassungsfeindlichen" Partei zum öffentlichen Dienst oder deren Darstellung als verfassungsfeindliche Organisation im offiziellen Verfassungsschutzbericht des Bundesministers des Innern soll nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts kein

74

Vg 1 · §§ 36 bis 41 B V e r f G G .

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„rechtliches Geltendmachen" der Verfassungswidrigkeit, auch kein administratives Einschreiten gegen die Partei oder ihre Mitglieder sein; gegen damit verknüpfte rein „faktische Nachteile" biete Art. 21 GG keinen Schutz75. 64 bb) Hat die „streitbare Demokratie" Vorsorge getroffen, individuell oder kollektiv aggressiv handelnde Verfassungsgegner (schon) aus dem politischen Prozeß auszuscheiden, so gilt dies erst recht für die Entfernung von Verfassungsgegnern aus hoheitlichen Funktionen aller Art und damit aus den staatsorganschaftlichen Entscheidungsprozessen. An erster Stelle ist hier die „Präsidentenanklage" des Art. 61 GG durch Bundestag oder Bundesrat zu nennen. Während nach Art. 59 WRV der Vorwurf genügte, der Reichspräsident habe „schuldhafterweise" ein Reichsgesetz oder die Reichsverfassung verletzt, fordert das Grundgesetz den Vorwurf eines vorsätzlichen Verstoßes gegen (Bundes-)Gesetz oder Verfassung. Ein anderes Verfahren der vorzeitigen Abwahl oder der Amtsenthebung des Bundespräsidenten sieht das Grundgesetz nicht vor. Anders auch als nach der Weimarer Reichsverfassung kann eine entsprechende Anklage weder gegen den Bundeskanzler noch gegen einen Bundesminister erhoben werden; die Möglichkeit eines Mißtrauensvotums nach Art. 67 GG bietet eine Handhabe gegen einen „verfassungsuntreuen" Regierungschef76. 65

Die Legislative duldet keine notorischen Verfassungsgegner in ihren Reihen: Ein Abgeordneter, dessen Partei durch Spruch des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 21 Abs. 2 GG für verfassungswidrig erklärt wurde, verliert dadurch ex lege („automatisch") seine Mitgliedschaft im Bundestag (§ 46 BWahlG, BVerfGE 2, 72 ff); entsprechendes gilt in den meisten Bundesländern für die Landtagsmandate. Diese Regelung widerspricht zwar dem Gedanken der individuellen, gewissensautonomen Repräsentation „des ganzen Volkes" durch jeden einzelnen Abgeordneten, an dem Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG festhält. Aber sie wird der parteiendemokratischen, durch Art. 21 GG gedeckten Verfassungswirklichkeit gerecht77. 66 Exekutive und Judikative sind durch eine Reihe von Vorschriften gegen ein Weiterwirken aktiver Gegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Beamten- bzw. Richterpositionen geschützt. Sowohl das Beamten- wie das Richterverhältnis enden mit der Rechtskraft eines strafrichterlichen Urteils, das wegen einer vorsätzlichen Straftat gegen die wichtigsten Staatsschutzvorschriften des Strafgesetzbuches (genau: des 1. und 2. Abschnittes des Besonderen Teils, §§ 80 bis 101 a StGB) ergeht — bei Richtern immer, bei Beamten, wenn zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wird (§ 24 BRRG, § 48 BBG, Landesbeamtengesetze, § 24 DRiG). Entsprechendes gilt bei einer Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG. Unabhängig davon bestehen die disziplinarrechtlichen Möglichkeiten. 75

B V e r f G E 39, 334 ff (360); 40, 287 (292 f). Vgl. dazu die überzeugende Kritik in der Abweichenden Meinung des Richters RUPP B V e r f G E 39, 380 ff. S. ferner B V e r f G E 63, 266 (305 ff) (Abw. M e i n u n g SIMON).

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77

Die Landesverfassungen kennen ζ. T. die Anklage gegen Mitglieder der Landesregierung: ζ. B. Art. 61 VerfBay, Art. 1 1 5 VerfHe. Kritisch z.B. HESSE Verfassungsrecht (Fn. 54) Rdn. 601.

§ 16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

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Ein Beamter begeht ein Dienstvergehen i. S. d. § 45 BRRG, wenn er sich nicht „durch sein gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes" bekennt und für deren Erhaltung eintritt, § 35 Abs. 1 BRRG, § 52 BBG usw. Die schwerste disziplinarrechtliche Maßnahme, die Entfernung aus dem Dienst, § 5 BDO, setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 39, 350) mehr als nur den Mangel des Treuegewährbietens voraus, nämlich „ein Minimum an Gewicht und an Evidenz der Pflichtverletzung". (Dies ist offenbar mißverständlich ausgedrückt: Das Gericht meint jedenfalls, daß nicht schon jede minimale Treuepflichtverletzung die schwere Folge der Dienstentlassung soll nach sich ziehen können). Von dieser scharfen Waffe ist in einigen Fällen, ζ. B. gegen Postbedienstete, die aktive Mitglieder der DKP waren, Gebrauch gemacht worden. Das Bundesverfassungsgericht versucht, zwischen dem „bloßen Haben" und der „bloßen Mitteilung" einer politischen Uberzeugung einerseits und weitergehenden Aktivitäten andererseits die disziplinarrechtlich relevante Grenze zu ziehen. „Wenn der Beamte aus seiner politischen Überzeugung Folgerungen für seine Einstellung gegenüber der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, für die Art der Erfüllung seiner Dienstpflichten, für den Umgang mit seinen Mitarbeitern oder für politische Aktivitäten im Sinne seiner politischen Überzeugung zieht," soll der Tatbestand einer Dienstpflichtverletzung vorliegen (BVerfGE 39, 351; zur Rechtsprechung des BVerwG vgl. o. Fn. 2). Bundesrichter unterliegen außer den allgemeinen richterdisziplinarrechtlichen Be- 67 Stimmungen auch dem verfassungsgerichtlichen Antragsverfahren nach Art. 98 Abs. 2 GG, das im Falle eines vorsätzlichen Verstoßes gegen die Grundsätze des Grundgesetzes oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung eines Landes auch zur Entlassung des Richters führen kann. Für Landesrichter kommt das in Art. 98 Abs. 5 GG fakultativ vorgesehene landesrechtliche oder landesverfassungsrechtliche Verfahren der Richteranklage in Betracht (z. B. Art. 66 Abs. 2 VerfBW, Art. 138 VerfBre, Art. 127 Abs. 4 VerfHe, Art. 73 VerfNW). Eine landesrechtlich vorgesehene Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes (ζ. B. in Hessen) geht dabei gemäß Art. 98 Abs. 5 Satz 3 GG auf das Bundesverfassungsgericht über. Eine solche Monopolisierung der Verfassungsschutzverfahren gegen Richter ist schon deshalb zu begrüßen, weil die Tatbestandsvoraussetzungen einer Richteranklage in den Landesverfassungen zum Teil bedenklich weit und unbestimmt umschrieben werden: in Hessen soll ein Richter angeklagt werden können, wenn er nach seiner Persönlichkeit und richterlichen Tätigkeit nicht (mehr) die Gewähr dafür bietet, daß er sein „Amt im Geiste der Demokratie und des sozialen Verständnisses ausüben" werde, Art. 127 Abs. 2 und 4 VerfHe; in Bremen bedarf es einer vorsätzlichen Verletzung der richterlichen Rechtsfindungspflicht und der Notwendigkeit des „Schutzes der Verfassung oder ihres Geistes" (!) gegen solchen Mißbrauch der richterlichen Gewalt, Art. 138 VerfBre. d) Politisches Straf recht und Widerstandsrecht Zu 4. und 5.: aa) Eine Darstellung des „politischen Strafrechts", d.h. der dem 68 „Verfassungsschutz" im Sinne der Begriffsabgrenzung des Art. 73 Nr. 10 b) GG

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unmittelbar dienenden Strafvorschriften ist hier schon aus Raumgründen nicht einmal in Umrissen möglich 78 . Eine allgemein anerkannte, gesicherte, unterscheidungskräftige Begriffsdefinition des politischen Strafrechts gibt es nicht. Mit Sicherheit wird man die Delikte des ersten und zweiten Abschnitts des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches (§§ 80 bis 101 a) unter den Begriff fassen müssen; doch spricht vieles dafür, auch die Vorschriften der Abschnitte 3 bis 5 (§§ 102 bis 109 k StGB) in die Betrachtung miteinzubeziehen. Die Kompetenzkataloge der §§ 74 a (Staatsschutzkammern bei den Landesgerichten) und 120 GVG (erstinstanzliche Zuständigkeit des Staatsschutzsenats beim OLG), des § 5 BKAG und des § 2 G 10 bieten wichtige zusätzliche Auslegungshinweise. Für die rechtsstaatliche Ausgestaltung des politischen Strafrechts gilt, neben den generellen Forderungen nach Tatbestandsbestimmtheit und Beachtung des Übermaßverbots, ganz besonders der Gedanke M A X GÜDES, des ehemaligen Generalbundesanwalts, daß es nicht darauf ankommen kann, durch hohe Strafrahmen und eine Vielzahl von Strafdrohungen eine fragwürdige Abschrekkungswirkung zu erzielen, sondern daß es vielmehr auf „die viel wichtigere Zustimmungswirkung im täglichen Plebiszit der öffentlichen Meinung, also die Zustimmung des civis bonus et aequus, des rechtschaffenen Bürgers" 79 ankommt. Ein Staatsschutzstrafrecht, das sich vom Prinzip generellen Mißtrauens des Staates in die „staatsbürgerliche Loyalität", also in die prinzipielle Gesetzes- und Verfassungstreue seiner Bürger prägen ließe, gewönne durch Abschreckung der ohnehin aus Uberzeugung handelnden Verfassungsgegner kaum etwas, verlöre jedoch „das .Einverstandensein' des Bürgers mit dem Staat, ... die Chance zur Identifikation, ohne die eine Demokratie nicht dauerhaft bestehen kann" 80 . 69

bb) Ultima ratio zur Verteidigung der Grundsätze und Einrichtungen der freiheitlichen Verfassung („diese Ordnung" im Sinne des Art. 20 Abs. 4 GG umfaßt die in den Abs. 1 bis 3 genannten, in Art. 79 Abs. 3 GG aufgenommenen Prinzipien) ist das Widerstandsrecht, Art. 20 Abs. 4 GG. Im Hinblick auf den zur Perfektion ausgebauten formellen Rechtsstaat und die erklärte Subsidiarität des Widerstandsrechts markiert dieses den Grenzfall, der dann, wenn er eintritt, nicht mehr nach der für ihn „vorgesehenen" Regel, sondern nach politischer und militärischer Machtlage entschieden wird. So gesehen fällt das Widerstandsrecht aus dem rechtsstaatlichen System der Steuerung durch Normen heraus. Davon abgesehen hat die als solche mißglückte Positivierung des Widerstandsrechts aber eine demokratische Funktion: Sie erinnert jeden einzelnen Bürger daran, daß die freiheitliche Ordnung letztlich auf der Anerkennung und dem Engagement aller Bürger beruht, sie mahnt den citoyen: Tua res agitur! 78

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Exemplarische Darstellung für die Jahre 1949 — 1968: A . v. BRÜNNECK Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949 — 1968, 1978. Vgl. ferner die Dokumentation in: E. DENNINGER (Hrsg.) Freiheitliche demokratische Grundordnung, Band II, 1977, S. 761 ff; F. C. SCHROEDER Das Strafrecht zum Schutz v o n Verfassung und Staat, in: Verfassungsschutz und Rechtsstaat (Fn. 68) S. 2 1 9 ff. M. GÜDE Die Verwirrung unseres Staatsschutzrechtes, in: M. G ü d e u. a. Zur Verfassung unserer Demokratie, 1978, S. 28. B V e r f G E 40, 251.

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„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

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II. Kontrolle 1. Kontrolle der Maßnahmen nach dem Gesetz zu Art. 10 des Grundgesetzes (G 10) Mit den GG-Ergänzungen in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 und in Art. 19 Abs. 4 Satz 3 GG 70 durch das Gesetz vom 24. 6. 1968 sowie durch das G 10 vom 13. 8. 1968 wurde der Grundsatz des lückenlosen Individualrechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 a. F., Art. 20 Abs. 2,3, Art. 28 Abs. 1 GG) zum ersten Mal und zwar empfindlich durchbrochen. Das Bundesverfassungsgericht hat dies zwar in Β VerfGE 30,1 ff grundsätzlich gebilligt, zur Schonung der Grundrechte aus Art. 10 GG jedoch zweierlei gefordert: eine wenigstens nachträgliche Benachrichtigung des Betroffenen von der Überwachungsmaßnahme, sofern dies ohne Zweckgefährdung geschehen kann, sowie eine Überprüfung der G 10Maßnahmen in einem Verfahren, das „materiell und verfahrensmäßig der gerichtlichen Kontrolle gleichwertig ist, auch wenn der Betroffene keine Gelegenheit hat, in diesem „Ersatzverfahren" mitzuwirken" (BVerfGE 30,1). Mit der Novellierung des G10 durch Gesetz vom 13. 9. 197881 hat der Gesetzgeber versucht, den Forderungen des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden. Anders als zuvor hat grundsätzlich eine nachträgliche Benachrichtigung zu erfolgen, „wenn eine Gefährdung des Zwecks der Beschränkung ausgeschlossen werden kann", § 5 Abs. 5 Satz 1 G 10. Nach der Mitteilung steht dem Betroffenen der Rechtsweg offen, § 5 Abs. 5 Satz 4 G 10. Die Kontrolle der Maßnahmen erfolgt in zwei Stufen: durch ein mindestens alle sechs Monate zusammentretendes Fünfergremium aus Abgeordneten, welchem der zuständige Bundesminister berichtspflichtig ist, und durch eine quasirichterliche Dreier-Kommission, welche in der Regel (außer bei Gefahr im Verzuge) vor dem Vollzug der Beschränkungsmaßnahme über deren „Zulässigkeit und Notwendigkeit" mit bindender Wirkung für den zuständigen Minister entscheidet, § 9 Abs. 2 G 1082. Diese Kontrollfunktion der Kommission, die von dem Abgeordnetengremium bestellt wird, befreit den Minister (des Innern bzw. für Verteidigung) nicht von seiner parlamentarischen Verantwortlichkeit. Will die Exekutive im Einzelfall eine nachträgliche Benachrichtigung des Überwachten unterlassen, so bedarf sie auch dazu der ausdrücklichen Genehmigung der Kommission. 2. Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste Schon in der 5. Wahlperiode hatte der Bundestag einen Untersuchungsausschuß mit 71 der Prüfung der Frage beauftragt, ob ein, womöglich im Grundgesetz zu veran-

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BGBl. I S. 1546. Vgl. C. ARNDT Gesetzliche Neuregelungen auf dem Gebiete der Nachrichtendienste, in: DVB1. 1978, S. 385 ff; ders. Rechtsprobleme der Post- und Fernmeldekontrolle, in: FS f ü r F. Schäfer, 1980, S. 147 ff; H. U. EVERS Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste, N J W 1978, S. 1 1 4 4 f. L. ARNDT Rechtsprobleme (Fn. 81) S. 157, schreibt der G 10-Kommission nach § 9 Abs. 2 S. 3 G 10 auch eine Zweckmäßigkeitskontrolle zu. Die Nachprüfung der Zulässigkeit und Notwendigkeit der Maßnahmen ist jedoch Rechtskontrolle im Rahmen des Übermaßverbots. Was nicht „notwendig" ist, ist auch nicht „zulässig", §§ 2 Abs. 2, 3 Abs. 1 G 10. Vgl. ferner C. ARNDT Das G 10-Verfahren, in: Verfassungsschutz und Rechtsstaat (Fn. 68) S. 43 ff.

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kernder, parlamentarischer Ausschuß mit der ständigen Kontrolle der drei Nachrichtendienste des Bundes, auch über den Bereich des G 10 hinaus, zu betrauen sei. Der Ausschuß gelangte in seinem Bericht vom 16. 5. 1969 (BT-Drucks. V/4208) zu einer Empfehlung in bejahendem Sinne. Anders votierte sieben Jahre später die Enquete-Kommission Verfassungsreform des 7. Deutschen Bundestages in ihrem Schlußbericht vom 2. 12. 197683. Sie verwarf den Gedanken eines besonderen parlamentarischen Ausschusses und erklärte das bis dahin bereits bestehende „Parlamentarische Vertrauensmännergremium" unter dem Vorsitz eines Abgeordneten für ein ausreichendes und gut geeignetes Kontrollinstrument. Nicht zuletzt unter dem Eindruck einiger „Abhör-Affären" im Bereich des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Militärischen Abschirmdienstes beschloß, nachdem Hamburg in dieser Richtung vorangeprescht war 84 , der 8. Deutsche Bundestag am 11. 4. 1978 das „Gesetz über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes". Nach § 2 des Gesetzes unterrichtet die Bundesregierung „die Parlamentarische Kontrollkommission umfassend über die allgemeine Tätigkeit der in § 1 genannten Behörden und über Vorgänge von besonderer Bedeutung. Die Parlamentarische Kontrollkommission hat Anspruch auf entsprechende Unterrichtung". § 1 PKK-G nennt ausdrücklich das Bundesamt für Verfassungsschutz, den Militärischen Abschirmdienst (MAD) und den Bundesnachrichtendienst (BND). Mitgliederzahl, Zusammensetzung und Regelung der Arbeitsweise der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK) bleiben der näheren Bestimmung durch jeden neu gewählten Bundestag überlassen. Derzeit besteht die Kommission aus acht Mitgliedern; nicht jede Fraktion des Bundestages ist in ihr vertreten. Dies letztere ist mit Rücksicht auf den ausschu^ähnlichen Charakter der PKK bedenklich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 80, 188 (222)) „muß grundsätzlich jeder Ausschuß ein verkleinertes Abbild des Plenums sein und in seiner Zusammensetzung die Zusammensetzung des Plenums widerspiegeln". Die Auskunftspflicht der Bundesregierung ist nicht unbeschränkt; sie wird „unter Beachtung des notwendigen Schutzes des Nachrichtenzugangs durch die politische Verantwortung der Bundesregierung bestimmt" und begrenzt, § 2 Abs. 2 des Gesetzes. Wegen der hier normierten Regierungskontrolle durch ein besonderes Organ und der über das in Art. 43 GG vorgesehene Maß hinausgehenden Unterrichtspflicht hat man die Verfassungsmäßigkeit der ohne Verankerung im Grundgesetz nur durch „einfaches" Gesetz eingerichteten Kontrollkommission angezweifelt 85 . Mit Rücksicht auf die salvatorische Klausel des § 3 PKK-G 86 , auf das Ausmaß der Unterrichtungspflicht und die mögliche Folgenlosigkeit der Kontrolle (Geheimhaltungspflicht aller Kommissionsmitglieder!) erscheint jedoch die durch das Gewaltenteilungsprinzip gezogene Grenze 83

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Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform. Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, Teil 1, Zur Sache 3/76, S. 142 ff. Gesetz über den Verfassungsschutz in der Freien und Hansestadt Hamburg v o m 13. 2. 1978 (HGVB1. I S. 51). H. H. KLEIN Verfassungstreue (Fn. 42) S. 91 f; H. U. EVERS Parlamentarische Kontrolle (Fn. 81) ferner E. FRIESENHAHN Die Kontrolle der Dienste, in: Verfassungsschutz und Rechtsstaat (Fn. 68) S. 87 ff, 107. § 3 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle: „Die politische Verantwortung der Bundesregierung für die in § 1 genannten Behörden bleibt unberührt".

§ 16

„Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung (DENNINGER)

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nicht als überschritten. Abzuwarten bleibt, ob sich das Nebeneinander der Gremien nach dem G 10 und nach dem Gesetz über die parlamentarische Kontrolle in der Praxis auf Dauer bewähren wird. Nachdem noch 1990 von kompetenter regierungsamtlicher Seite 87 die Kontrolle 7 2 über das Bundesamt für Verfassungsschutz als im internationalen Vergleich beispielhaft gelobt wurde, hört man neuerdings (Herbst 1991) Stimmen, die die Kontrolle über die Dienste insgesamt verbessert und die P K K „aufgewertet" wissen wollen. Anlaß hierzu gab die Aufdeckung eines jahrelangen, umfangreichen Waffenaustausches zwischen Israel und der Bundesrepublik, der vom B N D auf Beamtenebene abgewickelt wurde, ohne daß die politische Führung (Chef des Bundeskanzleramtes — zugleich „Koordinator" der Dienste — und Bundesminister der Verteidigung) ihn genehmigt oder auch nur ausreichend zur Kenntnis genommen hätte. Nach der jetzigen Rechtslage kann die P K K aber schon wegen der Verpflichtung zur Geheimhaltung (§ 5 Abs. 1 P K K - G ) eine wirksame parlamentarisch-politische Kontrolle der Dienste und ihrer politischen Leitung nicht in Gang setzen.

III. Schlußbetrachtung zur „streitbaren Demokratie" Die freiheitliche Demokratie kann in Anspruch und Realität nur als eine pluralistische 7 3 existieren, d. h. als eine, die das „Gemeinwohl" nicht als eine im Vorhinein bestimmte Konstante, sondern als eine ständig neu zu bewältigende Aufgabe und als das jeweilige Ergebnis einer permanenten offenen politischen Auseinandersetzung begreift. Deshalb, aber auch nur deshalb wehrt die freiheitliche Demokratie totalitäre Ideologien und Bestrebungen ab, die jene Offenheit der „Gemeinwohlsuche" durch einen absoluten Wahrheits- und Herrschaftsanspruch ersetzen und in seinem Namen die vielfältige Freiheit der Bürger vernichten wollen. Sie wehrt jene auch dann ab, wenn die Verfechter solcher Ideologien zwar die formalen Verfahrensweisen parlamentarischer Demokratie (mit Wahlen, Mehrheitsprinzip, Verantwortlichkeit der Regierung usw.) verbal anerkennen, in ihren Zielsetzungen aber antipluralistisch auftreten. Sie wird zur „streitbaren", „wehrhaften" Demokratie. Dabei begegnet sie mehreren Gefahren. Die erste Gefahr ist, daß der unentbehrliche Grundkonsens über politische 7 4 Grundwerte und notwendige demokratische Einrichtungen im Rechtsalltag der Behörden zu eng ausgelegt wird oder daß ihm Wertvorstellungen unterschoben werden, die nur einer von mehreren möglichen politischen Glaubenslehren oder Weltanschauungen entsprechen. Auf diese Weise entsteht die Figur des „Verfassungsfeindes", desjenigen, der sich zwar legal verhält, also ζ. B. einer nicht verbotenen Partei angehört, gleichwohl aber von seinen Mitbürgern und vor allem von den Behörden wie ein „Illegaler", weil „Illoyaler" angesehen und behandelt wird. Das Grundgesetz hat versucht, ein solches Auseinanderklaffen von Verhaltens-Legalität und grund87

G. HEUER (MD im BMI) Kontrolle des Verfassungsschutzes, in: BMI (Hrsg.) Aufgaben und Kontrolle des Verfassungsschutzes, Juli 1990, S. 83 ff, 86.

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3. Kapitel. Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

konsensbezogener Legitimität bzw. Loyalität durch das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts in den Verfahren nach Art. 18 und 21 Abs. 2 GG zu vermeiden. Doch hat das Gericht dieses „Angebot" gar nicht konsequent angenommen. Der Gefahr einer antipluralistischen Introversion und Verhärtung des Grundkonsenses kann am besten dadurch begegnet werden, daß man sich darauf besinnt, daß die Grundrechtsfreiheiten, gerade auch die Meinungsfreiheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, zum elementaren Bestand dieses Konsenses (der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung") gehören. In diesem Sinne gilt das Wort GLADSTONE'S: „It is liberty alone which fits men for liberty 88 ." 75

Eine zweite Gefahr ergibt sich, wenn die „streitbare" „Offenhaltung" der freien geistigen politischen Auseinandersetzung durch gerade die Meinungsfreiheit beschneidende Staats- und Verfassungsschutzmaßnahmen übertrieben wird. Dann wird nicht allein die das Individuum schützende Rechtsstaatlichkeit, sondern auch die Identität der Demokratie als einer freiheitlichen bedroht. Dann entsteht die Gefahr, daß nicht mehr die Meinungs- und Willensbeiträge aller Bürger unter dem Grundgesetz — mittelbar oder unmittelbar — die Richtung des politischen Prozesses beeinflussen, sondern nur noch diejenigen einer politischen Elite, die zugleich mit den einflußreichen Positionen in Staat, Wirtschaft und Kultur die Interpretationsherrschaft über die rechtlichen und gesellschaftlichen Normen besetzt hält. Sie steckt dann, häufig nur durch Augurenlächeln, die Grenzen des Basiskonsenses ab; sie definiert, wie weit der „Boden des Grundgesetzes" 89 reicht. Es gibt dann Demokraten unterschiedlicher „Güteklassen", wie sie sich im Extremistenbeschluß des Bundesverfassungsgerichts 90 schon ganz deutlich abzeichnen: Die Engagierten, die sich in ihrem Staat zu Hause fühlen (Beamte; BVerfGE 39, 349), sodann die Lauen bis Kühlen, innerlich Distanzierten, aber formal Korrekten, Gesetzes-, aber vielleicht nicht „Verfassungstreuen", ferner die kritisch Distanzierten, Ablehnenden, aber noch nicht Feindlichen — und schließlich die „echten Verfassungsfeinde", die aggressiven und radikalen Gegner der freiheitlichen Ordnung. Eine streitbare Demokratie, die an die ersten drei dieser Abstufungen rechtliche Unterscheidungen anknüpft, beginnt damit, sich gegen sich selbst zu kehren 91 . Auch die freiheitliche Demokratie lebt insoweit von Voraussetzungen, die sie nicht herbeizuzwingen und nicht zu garantieren vermag 92 . Ihr Fortbestehen im vereinigten Deutschland der neunziger Jahre wird entscheidend davon abhängen, ob es gelingt, den vielfach materiell und geistig enttäuschten und verunsicherten jungen Menschen in den neuen Bundesländern bewußt zu machen, welche Chancen zu einem sinnerfüllten Leben unsere freiheitliche Verfassung bietet. Auf diese Aufgabe müssen alle, die politische Verantwortung tragen, ihre Phantasie und Kraft konzentrieren.

88 85 90 91 92

Zitiert nach B V e r f G E 33, 86. Statt vieler: BVerfG N J W 1980, 2071. Vgl. B V e r f G E 39, 334 ff (348 f). B V e r f G E 30, 45 (Abweichende Meinung). Vgl. E.-W. BÖCKENFÖRDE Der Staat als sittlicher Staat, 1978.

4. Kapitel

Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

§17 Der soziale Rechtsstaat ERNST BENDA

Übersicht Rdn. I. Das Rechtsstaatsprinzip 1. Vom „formalen" zum „materialen" Rechtsstaat a) Früheres Verständnis des Rechtsstaatsprinzips . . . . b) Zum Rechtsstaatsverständnis des Grundgesetzes c) Das Rechtsstaatsprinzip in der Verfassungsrechtsprechung 2. Die wesentlichen Elemente des Rechtsstaatsprinzips . . . a) Rechtssicherheit und Gerechtigkeit b) Verfassung als ranghöchste Norm c) Die Rechtsbindung der Gewalten: Bindung an „Gesetz und Recht" . . . . d) Die Rechtsbindung der Gewalten — Gesetzesvorrang und Gesetzesvorbehalt e) Gewaltenteilung f) Grundrechtsschutz als „materiale" Seite des Rechtsstaats g) Rechtsweggarantie und Verfahrensgrundrechte . . h) Vertrauensschutz i) Weitere Einzelfragen . . . 3. Der Staat unter der Herrschaft des Rechts a) Rechtsnormen und die gesellschaftlichen Verhältnisse b) Rechtsfülle und Rechtsgewährungsknappheit . . . .

1 1 — 14 1 —3

4—11

12, 13 14—54 14—17 18 — 24

25 — 31

32-37 38—41

42, 43 44 — 48 49 — 52 53, 54 55

56 — 70 71—79

Rdn. II. Das Sozialstaatsprinzip 1. Bisherige Ansätze zur Auslegung der Sozialstaatsklausel a) Sozialstaatsklausel als verbindliche Leitlinie b) Weitere Auslegungen . . . c) Notwendige Verbindung von Rechtsstaat und Sozialstaat 2. Die Funktion der Sozialstaatsklausel a) Die sozialordnende Gestaltungsaufgabe des Staates b) Zur Auslegung tragender Verfassungsprinzipien . . . c) Kein absoluter Wahrheitsanspruch, sondern Versöhnungsprozeß d) Keine Kampfansage an die bestehende Ordnung . . . e) Sozialstaatsklausel als „zukunftsorientierter Rechtsbegriff' 3. Der Sozialstaat in der staatlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit a) Das Lebensgefühl der Zeit als sozialer Faktor b) Zum Menschenbild des Grundgesetzes c) Staat und Gesellschaft . . d) Sozialstaat und Einzelner e) Massenverwaltung und sozialer Staat f) Chancengleichheit und soziale Umverteilung . . . . g ) Voraussetzungen des Sozialstaates

80 80 — 92 80 — 87 88 — 90

91, 92 93-119

93-98 99, 100

101 — 107 108—111

112-119

120-182 120—131 132—137 138-153 154—164 165 — 168 169 — 174 175 — 182

720

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes Rdn. 4. Ausblick: Zeitliche Dimension der Sozialstaatsklausel . 183 — 199 a) Recht und sozialer Wandel 1 8 3 - 1 9 1

Rdn. b) Notwendigkeit und fahr der Planung 5. Schlußfolgerungen

Ge192-199 200 - 2 0 3

I. Das Rechtsstaatsprinzip 1. Vom „formalen" zum „materialen" Rechtsstaat a) Früheres Verständnis des Rechtsstaatsprin^ips 1 Das Grundgesetz bindet in seinem Art. 28 Abs. 1 die verfassungsmäßige Ordnung in den Bundesländern an die Grundsätze „des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates", so wie diese sich aus der Verfassung des Bundes ergeben. Was hiermit gemeint ist, wird in Art. 20 GG, insbesondere in dessen Abs. 3 umschrieben: Die Bundesrepublik Deutschland versteht sich als sozialer Rechtsstaat. Dieses tragende Verfassungsprinzip soll nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich sein. 2 Das frühere Verständnis des Rechtsstaatsbegriffs entspricht ganz den in Art. 20 Abs. 3 GG aufgestellten Forderungen: Seine Kennzeichen sind vor allem die gesetzmäßige Ordnung (Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes) und die Unabhängigkeit der Gerichte 1 . Die Merkmale des Rechtsstaates lassen sich im wesentlichen mit den Prinzipien der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der Justiz, der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, dem umfassenden gerichtlichen Rechtsschutz gegen jeden Verwaltungseingriff und dem Anspruch auf Entschädigung bei Eingriffen in die private Vermögenssphäre umschreiben 2 . Dies alles sind zweifellos ganz wesentliche Grundentscheidungen. Die Erinnerung an den langen Kampf um einen so verstandenen Rechtsstaat, der nur allmählich den obrigkeitlichen Polizeistaat überwinden konnte, aber auch ein Blick über die Grenzen auf viele Länder, in denen nach Verfassungsrecht und Staatspraxis solche Garantien fehlen, bewahrt vor der geringschätzigen Herabsetzung eines solchen „formalen" Rechtsstaatsbegriffs. 3

Das Verständnis des „formalen", später auch des „formellen", des „bürgerlichen" 3 Rechtsstaates war nicht von vornherein allgemein akzeptiert. Es markierte den vorläufigen Abschluß einer langen Diskussion, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzte4. Tragende Verfassungsprinzipien erfordern eine gewisse Breite der 1

2

3

R. THOMA Das Reich als Demokratie, in: G. Anschutz/R. Thoma (Hrsg.) Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, 1930, § 16 S. 198. E. R. HUBER Rechtsstaat und Sozialstaat, in: Forsthoff (Hrsg.) Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 593. S o i n s b e s o n d e r e C. SCHMITT V e r f a s s u n g s l e h r e , 1 9 2 8 ( 1 9 7 0 ) S. 1 2 9 ; h i e r z u R . BÄUMLIN/H. RIDDER,

in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 1. A u f l . 1984, Art. 20 Abs. 1 — 3 III Rdn. 23 ff. Zu den Begriffen „formeller", „materieller" und „bürgerlicher" Rechtsstaat E. SCHMIDTASSMANN Der Rechtsstaat, in: HdBStR Bd. 1, 1987 § 24 Rdn. 18 ff. 4

Zur geschichtlichen Entwicklung A . ALBRECHT Rechtsstaat, in: Staatslexikon, Bd. 4, 7. A u f l . 1 9 9 0 , S p . 7 4 4 ; BÄUMLIN/RIDDER A K - G G (Fn. 3) A r t . 2 0 A b s . 1 - 3 III R d n . 1 3 f f ; E . W . BÖK-

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

721

Interpretationsmöglichkeit, damit ihre wesentliche Zielsetzung im Wandel der Auffassungen und Verhältnisse erhalten bleiben kann. Für das Verständnis solcher Verfassungsgrundsätze, zu denen der Rechtsstaatsbegriff gehört, sind die geschichtliche Entwicklung und der Wandel der Auffassungen vom Staat von wesentlicher Bedeutung 5 . So stand in einer Zeit, in der sich das aufstrebende Bürgertum von obrigkeitlicher Bevormundung zu befreien suchte, das Bemühen um die rechtliche Sicherung des erkämpften Freiheitsraumes gegenüber dem Staat im Vordergrund. Die Prinzipien, die den formalen Rechtsstaatsbegriff umschreiben, bezeichnen die für diese Zielsetzung wichtigsten Positionen. Aber schon damals ergab sich die Frage, ob hiermit schon alles erreicht sei. R. T H O M A zitiert in einer Anmerkung zu seiner Tübinger akademischen Antrittsrede von 1909 den „Idealisten des Rechtsstaats" E D U A R D L A S K E R : „Im Rechtsstaate ist die Rechtsverletzung das schlimmste Übel, sie darf nie und von keiner Seite her geduldet werden...", aber auch H. M A U R U S , der nach dem Inhalt des Rechtsstaats fragt: „Der Staat, in welchem auch das Unrecht gesetzlich besteht, oder bestehen kann, ist nicht der Rechtsstaat" 6 . Allerdings hat erst die geschichtliche Entwicklung im 20. Jahrhundert gezeigt, daß die bürgerliche Rechtsstaatsidee zwar die Staatstätigkeit von Voraussetzungen abhängig macht, die auch heute ihre Bedeutung behalten, aber für sich allein noch keine ausreichende Antwort liefern. b) Zum Rechtsstaatsverständnis

des

Grundgesetzes

Dem Nationalsozialismus fielen bald alle rechtsstaatlichen Einrichtungen zum Opfer. 4 Dies war bei dem staatlichen Neubeginn nach 1945 noch in unmittelbarer Erinnerung. Die Erfahrung, daß der Weg in die Diktatur auch durch die in der Weimarer Reichsverfassung enthaltenen rechtsstaatlichen Vorkehrungen nicht verhindert werden konnte, veranlaßte zur Skepsis gegenüber dem bisherigen Rechtsstaatsverständnis. Dieses erschien formalisiert, technisiert und relativiert. Wenn nur die Formen, in denen Recht gebildet und angewendet wird, eingehalten werden müssen, kann sogar schwerstes Unrecht in das Gewand des Rechts gekleidet sein. Selbst der nationalsozialistische Staat hielt weitgehend an den überlieferten äußeren Formen fest. Allerdings übten neben dem — von der Partei beherrschten — Staat auch die nichtstaatlichen Parteiorganisationen unmittelbar Macht aus, ohne sich hierbei auch nur um den äußeren Anschein von Legalität zu bemühen. Auch in der Demokratie kann unter Wahrung der rechtsstaatlichen Formen 5 materiell Unrecht geschehen. Die Rechtsetzung beruht zwar nicht auf der willkürlichen Entscheidung eines totalitären Machthabers, sondern auf den Beschlüssen

KENFÖRDE Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: FS A . Arndt, 1969, S. 52; R. HERZOG, i n : T H .

5 6

MAUNZ/G. DÜRIG G r u n d g e s e t z - K o m m e n t a r ,

Art. 20 (VII)

Rdn.

1 — 12;

U.

SCHEUNER Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, Bd. II, 1960, S. 229; SCHMIDT-ASSMANN HdBStR Bd. 1 (Fn. 3) § 2 4 Rdn. 10 ff; K . STERN Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 768 ff. BÖCKENFÖRDE Entstehung und Wandel (Fn. 4) S. 53 f. R . THOMA R e c h t s s t a a t s i d e e u n d V e r w a l t u n g s r e c h t s w i s s e n s c h a f t , i n : A ö R I V ( 1 9 1 0 ) 2 0 0 .

722

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche O r d n u n g des Grundgesetzes

einer frei gewählten Volksvertretung. Vor den Gefahren, die sich gerade aus dieser Legitimation der demokratisch gewählten Mehrheit ergeben können, hat aber vor allem K Ä G I gewarnt 7 : Die „dezisionistisch-totalitäre" Auffassung der Demokratie macht die demokratische Mehrheit zur obersten und allzuständigen Instanz im Staat. Sie entscheidet absolut und schrankenlos; ihre Entscheidungen gelten ohne Rücksicht auf ihren Inhalt als gerecht. Gegenüber einer so verabsolutierten Volkssouveränität kann es auch kein Widerstandsrecht geben. Da der Gesetzgeber zu seinen Entscheidungen demokratisch legitimiert ist, kann es ihm gegenüber keinen Grundrechtsschutz geben. Der Verfassung bleibt nur die Aufgabe, die Staatsorganisation zu regeln, diese ist aber vollständig wertneutral 8 . Auch wenn sich dies alles in den überkommenen äußeren Formen des Rechtsstaats vollzieht, bleibt von diesem nichts außer einer leeren Hülse. 6

Dem Grundgesetz liegt offenkundig ein starkes Rechtsstaatsverständnis zugrunde. Dies zeigt bereits ein Blick auf den umfassenden Grundrechtsteil und auf die gegebenen Möglichkeiten, Grundrechte auch gegen Entscheidungen der gewählten Volksvertretung durchzusetzen. Daß in neuerer Zeit unter Berufung auf das Demokratiegebot wieder der Ruf nach einer „Reformalisierung" des Rechtsstaats, einer Rückkehr zum formalen Rechtsstaat, erhoben wird 9 , mag verständlich sein. Ein materielles Rechtsstaatsverständnis begrenzt die Gestaltungsmöglichkeiten der parlamentarischen Mehrheit, die sich fortschrittlichen Vorstellungen verpflichtet fühlen mag. Andererseits verliert das Prinzip an rechtlich erfaßbarer Schärfe in dem Umfange, in dem es mit Vorstellungen materieller Gerechtigkeit gefüllt wird. Jedenfalls bleibt aber die Demokratie an die Grundrechte und die in ihnen enthaltenen objektiven Wertentscheidungen gebunden. Das durch Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 1 und 3 GG gefestigte materielle Rechtsstaatsverständnis ist nicht beliebig umpolbar: „Die Forderung nach Reformalisierung des Rechtsstaats erweist sich als Augenblickstheorie" 10 . Das (inhaltlich beschränkte und oft mißverstandene) Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG findet seinen richtigen Platz nicht zufällig innerhalb der tragenden Verfassungsprinzipien des Art. 20 GG. Der Rechtsstaat des Grundgesetzes wird als ein „sozialer" bezeichnet. Daß das frühere liberal-bürgerliche Rechtsstaatsverständnis auf die soziale Frage keine Antwort zu geben vermochte 11 , kann nicht erstaunen;

W. KÄGI Rechtsstaat und Demokratie, in: Festgabe Giacometti (1953) S. 1 0 7 f f ; äußerst kritisch hierzu BÄUMLIN/RIDDER A K - G G (Fn. 3) A r t . 20 Abs. 1 - 3 III Rdn. 3 0 f . 8 KÄGI Rechtsstaat und Demokratie (Fn. 7) S. 130. ' I. MAUS Entwicklung und Funktionswandel der Theorie des bürgerlichen Rechtsstaats, in: M. Tohidipur (Hrsg.) D e r bürgerliche Rechtsstaat, Bd. 1, 1 9 7 8 , S. 13; RÖMER D e r K a m p f um das Grundgesetz (1977) S. 87. Kritisch aus anderer Sicht (wegen der dogmatischen Unscharfe des materiellen Rechtsstaatsprinzips) D. MERTEN Rechtsstaat und G e w a l t m o n o p o l , 1975, S. 12; ähnlich auch K . DOEHRING Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. A u f l . 1980, S. 235 f; hierzu HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) A r t . 2 0 (VII) Rdn. 3.; STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4) S. 775. Kritisch zur Unterscheidung formeller und materieller Rechtsstaat BÄUMLIN/

7

RIDDER A K - G G ( F n . 3 ) A r t . 2 0 A b s . 1 - 3 III R d n . 3 9 .

D. GRIMM Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat?, in: J u S 1980, 7 0 4 ff, 7 0 9 m. w. N. zur K o n t r o v e r s e und ihren Hintergründen. " BÖCKENFÖRDE Entstehung und Wandel (Fn. 4) S. 66 f. 10

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

723

denn für eine nur formale Betrachtungsweise kann sich ein derartiges inhaltliches Problem überhaupt nicht stellen. Der „materiale" Rechtsstaat fragt demgegenüber auch nach dem Inhalt und der 7 Richtung staatlicher Tätigkeit. In ihm wird „die staatliche Gewalt vorab an bestimmte oberste Rechtsgrundsätze oder Rechtswerte gebunden erachtet"12. Recht ist mehr als nur die Form, in welcher die von der Staatsführung getroffenen Entscheidungen für allgemein verbindlich erklärt, dabei zugleich erkennbar und berechenbar gemacht werden. Auch der Staat selbst wird vom Recht beherrscht13. Das Recht enthält bestimmte positivierte Grundprinzipien, denen jedermann unterworfen ist, auch der Staat selbst14. Damit sich diese Grundprinzipien durchsetzen können, müssen sie höheren 8 Rang als die Entscheidungen der jeweiligen parlamentarischen Mehrheit erhalten. Der vom Parlament repräsentierte Volkswille gilt nicht absolut und schrankenlos, sondern nur insoweit, als ihm nicht höherrangiges, also Verfassungsrecht, entgegensteht. Mit der Entscheidung für materiale Rechtsstaatlichkeit ist die dezisionistischtotalitäre Auffassung der Demokratie nicht vereinbar. Der Rechtsstaat soll aber ein demokratischer bleiben, wie sich auch aus Art. 20 Abs. 1 GG ergibt. Die Demokratie müßte verkümmern, wenn bei Beachtung der bereits von Verfassungs wegen getroffenen Grundentscheidungen kein ausreichender Gestaltungsraum für die Politik verbliebe. Die Verfassung muß sich daher um einen Ausgleich bemühen. Bestimmte Grundprinzipien müssen stets gewahrt bleiben, weil sie unverzichtbar erscheinen, aber politische Auseinandersetzung muß den Wandel der Verhältnisse und der Auffassungen berücksichtigen können15. Die politische Auseinandersetzung muß sich zwischen Alternativen entscheiden können. In diesem Sinne ist das Grundgesetz eine offene Verfassung. Allerdings handelt es sich nicht um eine absolute, sondern um eine relative Offenheit. Soweit die Verfassung allgemeinen Konsens widerspiegelt, steht er nicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. Die qualifizierte parlamentarische Mehrheit kann allerdings diesen Konsens — von der Bestandsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG abgesehen — verändern. Die Grundprinzipien, an denen sich der Staat orientieren soll und durch die 9 ihm Grenzen gesetzt sind, ergeben sich demnach aus der Verfassung selbst. Das Grundgesetz bekennt sich zu einem Rechtsstaat, der im materialen Sinne zu verstehen ist. Auch dieses Prinzip soll sich mit den anderen die Staatstätigkeit bestimmenden Grundentscheidungen zu einer Einheit verbinden. Man mag sagen, der Rechtsstaatsbegriff sei pleonastisch, weil richtigerweise kein Staat diese Bezeichnung verdiene, der nicht den Willen zum gerechten Ausgleich, also zur Gerechtigkeit aufbringe 16 . Jedenfalls ist die nähere Kennzeichnung des Rechtsstaats als eines „demokratischen" 12 13

BÖCKENFÖRDE Entstehung und Wandel (Fn. 4) S. 72; vgl. auch STERN Staatsrecht (Fn. 4) S. 781. A . MERKL Idee und Gestalt des Rechtsstaats, in: FS Kelsen, 1 9 7 1 , 126; K . HESSE in: E. Forsthoff (Hrsg.) Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit 1968, S. 560.

14

HESSE (Fn. 1 3 ) S . 5 6 2 .

15

Vgl. hierzu unten Rdn. 100. W. WERTENBRUCH Erwägungen zur materiellen Rechtsstaatlichkeit, in: FS Jahrreiß, 1964, S. 488.

16

724

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

und als eines „sozialen" nicht überflüssig. Aus dem Demokratieprinzip ergibt sich die Aufgabe und Befugnis der Volksvertretung, auf die Frage nach der Gerechtigkeit die unter den sich wandelnden Verhältnissen jeweils angemessene Antwort zu suchen. 10 Hiermit ist aber für ein materiales Rechtsstaatsverständnis noch nicht viel gewonnen. Vielmehr könnte aus dem Hinweis auf das Demokratieprinzip und auf den sehr unterschiedlicher Interpretation zugänglichen Begriff des Sozialen der Schluß gezogen werden, daß inhaltlich überhaupt nichts festgelegt, sondern die konkret zu treffende Entscheidung allein von dem Willen der jeweiligen parlamentarischen Mehrheit abhängig gemacht worden sei. Dies wäre nichts anderes als der nur formale Rechtsstaat. Entscheidend ist die Verpflichtung zur Wahrung und Verwirklichung der Grundrechte. Durch sie werden staatliche Entscheidungen nicht nur begrenzt, sondern auch in ihrer Richtung beeinflußt. Wesentlichster Orientierungspunkt ist das „materiale Grundprinzip" der Garantie der Menschenwürde, „aus dem die tragenden Verfassungsprinzipien in ihrem Gehalt sich bestimmen, welche die politische Konzeption unseres Staates dreifach konstituieren: als freiheitlicher und nicht obrigkeitlicher Rechtsstaat, als freiheitlicher und nicht wohlfahrtsstaatlicher Sozialstaat und als freiheitliche und nicht volksstaatliche Demokratie" 17 . 11

Die Verbindung der tragenden Prinzipien des Grundgesetzes mit dem Bekenntnis zur Menschenwürde (Art. 1 GG) ergibt sich aus Art. 79 Abs. 3 GG. Bei den Grundentscheidungen, die sogar einer Verfassungsänderung entzogen sind, kann es sich ja nur um Wesentlichstes im Wortsinne handeln, also um diejenigen Wesensmerkmale, die ein Staat nicht aufgeben oder nur verändern darf, ohne seinen Charakter einzubüßen. Die in den Art. 1 und 20 GG enthaltenen Prinzipien werden durch Art. 79 Abs. 3 GG gegenüber allen anderen Entscheidungen der Verfassung hervorgehoben. Der Rechtsstaatsbegriff des Grundgesetzes ist nicht im Lichte der in diesem enthaltenen Staatsorganisationsnormen zu definieren, sondern auf der höheren Ebene der Garantie der Menschenwürde. Diese ist die „eigentliche gedankliche Quelle aller im GG enthaltenen Grundrechte" 18 ; daher sind auch diese einzubeziehen, besonders insoweit, als sie als objektive Wertentscheidungen inhaltliche Leitlinien für die staatliche Tätigkeit setzen. c) Das Rechtsstaatsprin^ip

in der

Verfassungsrechtsprechung

12 Das Bundesverfassungsgericht zählt den Rechtsstaatsgrundsatz zu den elementaren Prinzipien des Grundgesetzes19. Er ist eine „Leitidee" 20 , ein „Verfassungsgrundsatz"21, der weniger aus den positiven Regelungen des Grundgesetzes, also aus den Art. 20 und 28 GG, als vielmehr aus einem „vorverfassungsmäßigen Gesamtbild" entnommen wird, von dem der Verfassungsgesetzgeber ausgegangen sei22. 17

W. MAIHOFER in: W. Weyer (Hrsg.) Rechtsstaat -

16

HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) A r t . 2 0 (I) Rdn. 1 8 .

19

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

20 21 22

20, 323 (331). 2, 380 (403). 7, 89 (92 f). 2, 380 (403).

Sozialstaat, 1972, S. 15.

§17

Der soziale Rechtsstaat

(BENDA)

725

Wenn so auf ein außerhalb der Verfassung zu suchendes Vorverständnis ver- 13 wiesen wird, ergibt sich erneut die Frage, welche Art von Rechtsstaat mit dieser Leitidee gemeint ist, die nicht definiert, sondern als historisch entstanden vorausgesetzt wird. In der frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet sich hierauf nur eine vorsichtige und noch undeutliche Antwort: Das Rechtsstaatsprinzip bedürfe der „Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten", „wobei allerdings fundamentale Elemente des Rechtsstaats und der Rechtsstaatlichkeit im ganzen gewahrt bleiben müssen" 23 . Damit läßt sich noch wenig anfangen. Aber bereits an gleicher Stelle ist der Hinweis enthalten, daß zur Rechtsstaatlichkeit nicht nur die Voraussehbarkeit staatlichen Handelns, sondern „auch die Rechtssicherheit und die materielle Richtigkeit oder Gerechtigkeit" gehöre 24 . Dies ist der entscheidende Schritt zu einem materialen Rechtsstaatsverständnis. Es wird anerkannt, daß Rechtsstaatlichkeit auch Gerechtigkeit bedeutet. Erst von hier aus lassen sich alle die Folgerungen ziehen, die sich aus der späteren, immer weiter in die Einzelheiten gehenden Rechtsprechung des Gerichts ergeben. Hierzu gehört etwa der Anspruch des Bürgers darauf, vor unnötigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt bewahrt zu bleiben25. Demnach sind hoheitliche Eingriffe nicht nur darauf zu überprüfen, ob sie formell einwandfrei sind. Vielmehr ist auch nach ihrem Sinn und Zweck zu fragen, etwa danach, ob die Regelungen auf vernünftigen oder mindestens vertretbaren Erwägungen beruhen. Aus gleicher Blickrichtung ergibt sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 26 , also die Frage nach Angemessenheit und Zumutbarkeit. Mit diesen Prüfungsmaßstäben hat das Bundesverfassungsgericht den Weg zu einer Betrachtungsweise geöffnet, welche das Rechtsstaatsprinzip in den Mittelpunkt der Ausgestaltung des Staat-Bürger-Verhältnisses rückt. 2. Die wesentlichen Elemente des Rechtsstaatsprinzips a) Rechtssicherheit

und

Gerechtigkeit

Das Streben nach Rechtssicherheit und Rechtsfrieden gehört unverändert zu der 14 eigentlichen Funktion des Rechts, auch wenn eine moderne Auffassung im Gesetz lediglich das Instrument zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse sehen mag. Gewiß ist es eine legitime Aufgabe des Rechts, nicht nur bestehende Machtverhältnisse zu konservieren, sondern diese auch nach den Bedürfnissen der Zeit zu regulieren. Das rechtsstaatliche Gesetz soll aber auch „sagen, was für den Einzelnen Recht und Unrecht ist" 27 . Das friedliche Zusammenleben aller kann nur erreicht werden, wenn für den Bürger feststeht oder nach Beratung und notfalls gerichtlicher Streitentscheidung geklärt wird, welches Verhalten ihm nach der Rechtsordnung obliegt. Er soll den Freiheitsraum eigenständiger Lebensgestaltung kennen, der ihm zusteht, und auch wissen, daß er hierbei Rechte anderer nicht verletzen darf. Die Funktion der 23 24 25 26 27

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

7, 89 (92 f). 7, 89 (92); ähnlich BVerfGE 21, 378 (388); 37, 57 (65). 17, 306 (313 f); 65, 1 (54); 67, 157 (173, 175, 178). 19, 342 (348 f); 23, 127 (133 f); 63, 88 (115). 39, 1 (59).

726

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Friedensbewahrung gehört zum Wesen des Rechts. Ihre Vernachlässigung oder Mißachtung würde ein Gesetz oder sogar eine Verfassungsnorm wegen Verletzung des Rechtsstaatsprinzips als verfassungswidrig erscheinen lassen28. Wenn Gewißheit darüber besteht, nach welchen rechtlichen Regeln ein Sachverhalt zu beurteilen ist, wird zugleich ein Stück Gerechtigkeit hergestellt. Das Recht bewahrt die bestehende Ordnung. Die Klärung von Zweifeln oder Meinungsverschiedenheiten durch gerichtliche Entscheidung ist dem Weg der Selbsthilfe vorzuziehen. Das Gewaltmonopol des Staates verhindert die gewaltsame Durchsetzung vermeintlicher Ansprüche auf eigene Faust. Wirtschaftliche oder soziale Macht, die nicht gerechtfertigt ist, darf sich nicht gegenüber dem Schwächeren durchsetzen. Eine Ordnung, in der das Recht auf Machtverhältnisse mäßigend und begrenzend einwirkt, ist wesensmäßig gerechter als ein Zustand, in dem sich der jeweils Stärkere zur Geltung bringt. 15

Aber nicht jede Regelung, die durch ihre Existenz Rechtssicherheit und Rechtsfrieden fördert, wird auch als gerecht empfunden werden können. Hierfür gelten andere Maßstäbe. Der Begriff der Gerechtigkeit, ein zentraler Begriff der Rechtsphilosophie29, wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht eindeutig einem bestimmten rechtsphilosophischen Hintergrund zugeordnet30. Das Gericht versteht das Gerechtigkeitsprinzip zunächst als Sammelbegriff überpositiver Normen des Naturrechts31, während es später zunehmend die Konkretisierungsbedürftigkeit durch das positive Recht hervorhebt32. Das Gerechtigkeitspostulat ist zugleich eng mit dem Gleichbehandlungsgebot verbunden. Dabei dient eine „am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtungsweise"33 auch als Maßstab für die Unterscheidung zwischen wesentlich gleichen oder wesentlich ungleichen Sachverhalten34. Der Gleichheitssatz wird dann verletzt, „wenn für eine gesetzliche Differenzierung ein vernünftiger, aus der Natur der Sache sich ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund sich nicht finden läßt, wenn also für eine am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtungsweise die Regelung als willkürlich bezeichnet werden muß"35. Einen deutlich „materialen" Einschlag erhält der Gerechtigkeitsgedanke in der Rechtsprechung zur Steuergerechtigkeit und zur sozialen Gerechtigkeit; hier tritt der Gedanke des „suum cuique" stärker in Erscheinung36. 28 29

B V e r f G E 3, 225 (237); vgl. auch B V e r f G E 1, 14 (38); 2, 380 (403); 6, 309 (352). A . HOLLERBACH Gerechtigkeit, in: Staatslexikon, Bd. 2, 7. A u f l . 1986, Sp. 898 ff; nach F. SCHNAPP, in: I. VON MÜNCH ( H r s g . ) G r u n d g e s e t z k o m m e n t a r , B d . 1, A r t . 2 0 R d n . 2 0 , ist G e -

rechtigkeit aber „kein möglicher Erkenntnisgegenstand der (Rechts-)Wissenschaft"; vgl. auch BÄUMLIN/RIDDER A K - G G (Fn. 3 ) A r t . 2 0 A b s . 1 - 3 III R d n . 2 6 . 30 31 32 33 34

G. ROBBERS Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, 1980, S. 76 ff. B V e r f G E 1, 97 (1000; 2, 1 (19); 3, 225 (232); vgl. auch B V e r f G E 43, 291 (316); 44, 125 (142). B V e r f G E 25, 352 (364); 33, 303 (335). Seit B V e r f G E 1, 264 (264); st. Rspr. ROBBERS G e r e c h t i g k e i t ( F n . 3 0 ) S. 8 8 f f .

35

Seit B V e r f G E 18, 38 (46), st. Rspr.

36

ROBBERS G e r e c h t i g k e i t ( F n . 3 0 ) S. 1 4 1 .

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

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Zwischen den Postulaten der Rechtssicherheit und der Forderung nach materialer Gerechtigkeit besteht häufig ein Widerstreit 37 . In der Praxis geht es im Streit zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit etwa um die Frage, ob Gesetzesänderungen, mit denen gewandelten Gerechtigkeitsvorstellungen entsprochen werden sollen, auch auf bereits entstandene Sachverhalte anzuwenden sind, oder um eine ähnliche Anpassungsproblematik. Es stellt sich so das Problem einer rückwirkenden Rechtsänderung und damit die Frage, wann der Bürger auf die Beständigkeit einer Rechtslage vertrauen kann 38 . Andere Konflikte zwischen dem Gebot der Rechtssicherheit und dem der Gerechtigkeit entstehen bei Fristvorschriften etwa für die Einlegung von Rechtsmitteln 39 . Es handelt sich um den Widerstreit von zwei Prinzipien, die beide einen Teil des Rechtsstaatsgrundsatzes darstellen. Der Gesetzgeber darf sich dann entweder für den Vorrang der Rechtssicherheit oder für die Durchsetzung des Gebots der materiellen Gerechtigkeit entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht hat fast immer die Entscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gebilligt und nur selten die vorrangige Verwirklichung der Gerechtigkeit verlangt 40 . Willkürlich darf aber die gesetzgeberische Entscheidung nicht sein. Jedoch befindet nicht das Gesetz, sondern der Gesetzgeber darüber, welche von mehreren in Betracht kommenden Alternativen zweckmäßiger oder sachgerechter ist. Hiergegen ist in einer abweichenden Meinung grundsätzliche Kritik vorgebracht 16 worden: Das Bundesverfassungsgericht dürfe sich nicht auf die Prüfung beschränken, ob Willkür vorliege, sondern müsse die Abweichung zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit selbst vornehmen 41 . Auch der totalitäre Staat beansprucht Gerechtigkeit für sich42. Erst recht wird das demokratisch gewählte Parlament wenigstens den guten Willen, stets der Idee der Gerechtigkeit zu dienen, für sich beanspruchen dürfen. Wenn es verschiedene Möglichkeiten gibt, eine gerechte, mindestens aber eine vertretbare Problemlösung zu finden, kann dem nicht entgegengetreten werden. Verfassungsrechtlich beachtliche Positionen (wie etwa der Anspruch auf Achtung personaler Freiheit, der besondere Schutzauftrag für Ehe und Familie, das Prinzip des Vertrauensschutzes) können aber unter mehreren an sich möglichen und noch nicht willkürlichen Entscheidungen einer von diesen ein Übergewicht verleihen. In solchen Fällen reicht die Prüfung lediglich einer Verletzung des Willkürverbots nicht aus. Der Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit ist mit voller Deut- 17 lichkeit in den wiederholten Debatten über die Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen für Mordtaten ausgetragen worden. Sie veranlaßten den Bundestag zu 37

38 39 40 41 42

BVerfGE 3, 225 (237); damit wird eine Grundtendenz der RADBRUCHSchen Rechtsphilosophie aufgenommen, ohne allerdings die U b e r p r ü f u n g der Gerechtigkeit an bestimmten Zweckideen zu übernehmen; vgl. G. RADBRUCH Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 164 ff; zum Verhältnis von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit SCHMIDT-ASSMANN HdBStR Bd. 1 (Fn. 3) § 24 Rdn. 81. Z.B. BVerfGE 15, 313 (320); 48, 1 (22); 63, 152 (175). BVerfGE 41, 323 (326). So in BVerfGE 27, 297 (306) - Wiedergutmachung. BVerfGE 35, 51 (56). U. SCHEUNER Neuere Entwicklung (Fn. 4) S. 229 ff.

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

mehrfachen Gesetzesänderungen, um die weitere Verfolgung von nationalsozialistischen Gewalttaten zu ermöglichen. Die mit großer Leidenschaft geführten politischen und verfassungsrechtlichen Diskussionen haben sich in das allgemeine Bewußtsein eingeprägt43. Schon 1965 wurde gegen den Vorschlag, die Verjährungsfrist für Mord zu verlängern oder ganz abzuschaffen, von dem damaligen Bundesminister der Justiz eingewendet, der Gesetzgeber dürfe nicht „mit rückwirkender Kraft Ausnahmegesetze schaffen, die dem Grundsatz der Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit zuwiderlaufen"44. Hiergegen wurde darauf hingewiesen, es erscheine — auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts — in Ausnahmefällen erträglicher, die Rechtssicherheit und den Vertrauensschutz hintanzustellen, als die Gerechtigkeit in unvertretbarer Weise leiden zu lassen45. Das damals beschlossene Gesetz über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen vom 13. April 196546 ist vom Bundesverfassungsgericht gebilligt worden. Die Entscheidung bekräftigt, daß bei einem Widerstreit zwischen den Bedürfnissen der Rechtssicherheit und den Geboten der Gerechtigkeit der Gesetzgeber sich zwischen beiden entscheiden dürfe. Auch das verfassungsrechtliche Gebot des Vetrauensschutzes gelte dann nicht, wenn das Vertrauen auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung eine Rücksichtnahme durch den Gesetzgeber billigerweise nicht beanspruchen könne, das Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage also sachlich nicht gerechtfertigt sei47. Für die nach Herstellung der deutschen Einheit entstandene Notwendigkeit, sich mit der strafrechtlichen Ahndung von Verbrechen während der Herrschaft der SED in der früheren DDR zu befassen, behalten diese Grundsätze ihre Gültigkeit und ihre aktuelle Bedeutung. b) Verfassung als ranghöchste Norm 18 Die in Art. 20 Abs. 3 GG betonte Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung verleiht der Verfassung den höchsten Rang innerhalb der Normenhierarchie. Die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit verstärkt die Durchsetzungskraft der Verfassung gegenüber den staatlichen Gewalten. Sie liegt daher in der Konsequenz des Rechtsstaates, ohne dessen notwendiger Bestandteil zu sein. Auch ohne Verfassungsgerichtsbarkeit kann eine Verfassungsordnung rechtsstaatlich sein. Viele Staaten, an deren rechtsstaatlicher Tradition nicht zu zweifeln ist, kennen eine derartige Einrichtung nicht. Die Aufgabe eines „Hüters der Verfassung" kann auch von anderen Verfassungsorganen, etwa vom Staatsoberhaupt, wahrgenommen werden. Jedoch hängt die Effektivität insbesondere des Grund43

Zur abschließenden Diskussion von 1979 z. B. H. J. VOGEL Mord sollte nicht verjähren, in: Z R P 1979, 1; W. MAIHOFER Nichtverjährung des Völkermords, in: Z R P 1979, 81; die parlamentarischen Debatten sind dokumentiert in: Zur Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen, Zur Sache 3 — 5/80, herausg. v o m Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages, 1980.

44 45 46 47

E. BUCHER, Rhein. Post v o m 28. 11. 1964. E. BENDA Verjährung und Rechtsstaat, 1965, S. 13. BGBl. I S. 315. B V e r f G E 25, 269 (290).

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rechtsschutzes entscheidend davon ab, durch welche Institution und in welchem Verfahren eine behauptete Verfassungsverletzung überprüft werden kann. Der prinzipielle Geltungsanspruch der Verfassung als ranghöchster Norm ist 19 jedoch rechtsstaatlich unverzichtbar. Dem widerspricht auch nicht die meist gegebene Möglichkeit, auf der Basis eines breiten Konsenses, also mit qualifizierter Mehrheit, die Verfassung zu ändern. Indem dies geschieht, werden die für diesen Fall in der Verfassung aufgestellten Regeln angewendet und befolgt. Daß eine Verfassungsverletzung folgenlos bleiben kann, wenn kein Antrag auf Uberprüfung des fraglichen Aktes gestellt wird, beeinträchtigt den Geltungsanspruch der Verfassung nicht. Dies gilt auch umgekehrt für den denkbaren Fall, daß ein verfassungsgemäßes Gesetz in der irrigen Annahme seiner Verfassungswidrigkeit für nichtig erklärt wird. Um der Herstellung des Rechtsfriedens und des Schutzes der Rechtssicherheit willen werden aber in der Bundesrepublik Deutschland verfassungsgerichtliche Entscheidungen mit Verbindlichkeit gegenüber allen staatlichen Stellen ausgestattet (§ 31 BVerfGG). Auch wenn über die Richtigkeit einer Entscheidung unterschiedliche Meinungen möglich sind, soll die verfassungsgerichtliche Interpretation abschließend klären, was von Verfassungs wegen geboten ist. Die von K Ä G I eindringlich erörterte Antinomie von Demokratie und Rechts- 20 Staat48 hat größere Bedeutung als der im Geltungsbereich des Grundgesetzes gelegentlich entstandene Streit über die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall in einer zu restriktiven Interpretation des Grundgesetzes den Gestaltungsraum des Gesetzgebers zu Unrecht eingeengt habe. Dieser Vorwurf wird mit der Behauptung verbunden, hierdurch würden die Entscheidungskompetenzen des Gesetzgebers auf das Gericht verlagert49. Damit wird ein rechtsstaatliches Prinzip, der Grundsatz der Gewaltenteilung, angesprochen. Meist geht es im Grunde nur um die stets zulässige Fragestellung, ob die Entscheidung verfassungsrechtlich überzeugend und zutreffend argumentiert. Auch die im Lichte der Schweizer Verhältnisse illustrierte Auffassung von K Ä G I behandelt ein Gewaltenteilungsproblem: das Verhältnis der Volksvertretung zu den dort gegebenen Möglichkeiten der „direkten" Demokratie durch das Volk selbst. Aber die grundsätzliche Frage greift tiefer. Der demokratischen Mehrheit wird das Recht bestritten, „massiv-absolutistisch" zu entscheiden. Demgegenüber werden die Grundbedingungen eines demokratischen Rechtsstaates thesenartig so umschrieben50: — — — — — 48 49

50

Die demokratische Mehrheit entscheidet nicht absolut; die demokratische Mehrheit ist nicht allzuständig; auch die demokratische Mehrheit ist an die Rechtsformen gebunden; die Demokratie kann nur als gewaltenteilige bestehen; die Entscheidung der Mehrheit ist nicht eo ipso gerecht; Rechtsstaat und Demokratie (Fn. 7). So besonders kritisch die abw. M. in B V e r f G E 39, 1 (69); vgl. auch BÄUMLIN/RIDDER A K - G G (Fn. 3) Art. 2 0 Abs. 1 - 3 III Rdn. 41 ff. KÄGI Rechtsstaat und Demokratie (Fn. 7) S. 132 ff.

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

— Demokratie ist nicht eine quasi-religiöse, sondern eine menschliche Ordnung; „der Rechtsstaat ist die Ordnung, in der ein politisch reifes Volk seine Begrenzung anerkennt" 51 . 21 Dies setzt voraus, daß in den wesentlichen, für das Zusammenleben der Menschen besonders wichtigen Fragen die Entscheidung nicht allein der Entschließung der parlamentarischen Mehrheit überlassen wird, sondern ein breiterer Konsens besteht. Dieser kann sich in einer weltanschaulich gespaltenen Gesellschaft nicht leicht bilden. Aber der Versuch bleibt notwendig, über alle unterschiedlichen politischen, religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen hinweg unter Wahrung des Gebotes der Toleranz und der Gleichwertigkeit aller Uberzeugungen eine gemeinsame Grundauffassung zu bilden, ohne die keine Gemeinschaft existieren kann. Solche übereinstimmenden Überzeugungen haben sich geschichtlich gebildet. Sie sind in einigen wichtigen Positionen im Grundgesetz markiert. Vor allem das Bekenntnis zur Achtung und Wahrung der Menschenwürde und der Grundrechtsteil des Grundgesetzes setzen solche wertbezogenen Grundüberzeugungen voraus, ohne daß dabei dem Einzelnen eine bestimmte Weltanschauung aufgezwungen würde. 22

In der rechtlichen Positivierung der „Grundwerte" der Lebensordnung der Gemeinschaft sieht B Ö C K E N F Ö R D E den „Ausgriff in eine neue Totalität" 52 . Die materiell-rechtsstaatlich konzipierte Verfassung erhebe einen unbedingten Geltungsanspruch auch im gesellschaftlichen Bereich. Sie verleihe bestimmten politischethischen Grundüberzeugungen allgemeine Rechtsgeltung und diskriminiere damit andere. Wer sich außerhalb der Wertgrundlage stelle, habe keinen Anspruch auf politische Freiheit, wie sich aus Art. 21 Abs. 2 und Art. 18 GG ergebe.

23

Die Freiheit politischer Betätigung hat allerdings ihre Grenzen, wie sie sich aus den Art. 21 Abs. 2 und Art. 18 GG ergeben. Beide Verfassungsnormen sind nur äußerst selten und seit langer Zeit überhaupt nicht mehr in Anspruch genommen worden. Sie sind gewiß durch Nichtgebrauch verfassungsrechtlich nicht etwa obsolet geworden, aber sie haben politisch ihre Wirkung als Waffe gegen verfassungswidrige Bestrebungen weitgehend und wahrscheinlich unwiderruflich verloren. Die in vielen Richtungen umstrittene Frage, wie im übrigen radikalen oder verfassungsfeindlichen Tendenzen zu begegnen ist, wird an anderer Stelle erörtert (vgl. unten Rdn. 60 ff). Abgesehen von diesem durch die Formel von der „wehrhaften Demokratie" umschriebenen Problemkreis, steckt in dem prinzipiellen Geltungsanspruch der Verfassung in der Tat ein Stück „Verfassungstotalitarismus". Jede funktionierende Rechtsordnung setzt die Einigung auf ein Minimum politisch-ethischer Grundüberzeugungen voraus. Es gibt keinen Weg, an dem Fragenbereich von Freiheit und Bindung vorbeizukommen. Freiheit kann nie absolut gewährleistet werden. Die Verständigung etwa über den Stellenwert individuellen Eigentums gegenüber den hiermit kollidierenden Forderungen der Allgemeinheit ist eine Wertentscheidung von sehr grundsätzlicher und ebenso praktischer Bedeutung. Eine solche Entscheidung müßte nicht 51 52

KÄGI Rechtsstaat und Demokratie (Fn. 7) S. 141. B Ö C K E N F Ö R D E Entstehung und Wandel (Fn. 4 ) S. 7 2 .

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unbedingt in der Verfassung getroffen werden, sondern könnte auch der jeweiligen politischen Mehrheit überlassen werden. Aber die Festlegung in der Verfassung, die dann nicht mehr ohne weiteres geändert werden kann, ist in der Sicht des betroffenen Bürgers die freiheitlichere, weil sie ihm größere Rechtsgewißheit gibt, während er sonst von der für ihn nicht kalkulierbaren politischen Meinungsbildung abhängen würde. Das Bundesverfassungsgericht hat oft, zumal in seiner früheren Rechtsprechung, 24 das Grundgesetz und dessen Grundrechtsteil als eine „Wertordnung" bezeichnet; aus diesem „Wertsystem" empfange die gesamte Rechtsordnung Richtlinien und Impulse53. Der hieran geübten Kritik 54 , die auf die Gefahr einer Ideologisierung und des Einfließens subjektiver Überzeugungen des streitentscheidenden Richters hinweist, kann am ehesten hinsichtlich der Mißverständlichkeit des Begriffs zugestimmt werden. Daß die Verfassung, soweit sie sich nicht auf die Regelung der Staatsorganisation beschränkt, von bestimmten Wertungen ausgeht, ist unvermeidlich und kaum zu beanstanden. Die Entscheidung für das Privateigentum oder das Versprechen eines besonderen Schutzes, der Ehe und Familie zukommen soll, beruht notwendigerweise auf Wertungen. Werden sie in der Verfassung selbst vorgenommen, so dient dies der Aufgabe, die „prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte" zum Ausdruck zu bringen55 und so den Freiheitsraum des Bürgers nicht zu begrenzen, sondern zu erweitern. Vielfach handelt es sich bei dem allerdings leicht mißverstandenen Begriff der „Wertordnung" oder des „Wertsystems" um die Beschreibung des „normativen Inhalts der Grundrechte"56. c) Die Rechtsbindung der Gewalten: Bindung an „Geset£ und Recht" Die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und 25 Recht ergibt sich unmittelbar aus Art. 20 Abs. 3 GG. Wenn Gesetz und Recht nebeneinander als Rechtsquellen genannt werden, setzt dies voraus, daß beide auseinanderklaffen können57. Daneben ist an den einfacheren Fall zu denken, daß Behörden oder Gerichte einen Sachverhalt behandeln müssen, für den sich eine gesetzliche Regelung nicht auffinden läßt. Wenn der Richter bei der Bearbeitung eines Falles aus dem Gesetz eine Antwort 26 entnimmt, die zu einem seiner Meinung nach unbilligen Ergebnis führen müßte, entsteht für ihn ein Konflikt zwischen den Geboten der Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit in einer anderen als der bisher erörterten Form. Die Bindung an Gesetz und Recht geht auch die Gesetzgebung an, die solche Konflikte möglichst vermeiden soll. Die Sachverhaltsregelung sollte „inhaltlich vom Geiste der Gerechtigkeit und 53 54 55 56

57

Z.B. BVerfGE 7, 198 (205); 21, 362 (371 f); 48, 127 (168); 73, 261 (269). Besonders H. GOERLICH Wertordnung und Grundgesetz, 1973. So BVerfGE 7, 198 (205). K. HESSE Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl. 1991, Rdn. 299. B V e r f G E 4 5 , 2 6 9 (286 F); HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) A r t . 2 0 (VI) R d n . 5 3 ; SCHMIDTASSMANN H d B S t R Bd. 1 § 2 4 R d n . 4 1 ; STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4) S . 7 9 8 f.

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Gleichheit getragen" sein58. Bei allem Bemühen, wenigstens eine vertretbare Problemlösung im Gesetz zu finden, werden sich aber unterschiedliche Auffassungen darüber nicht vermeiden lassen, was die gerechteste Antwort ist. 27 Während der Gesetzgeber sich bei einem Konflikt zwischen den Geboten der Rechtssicherheit und den Forderungen der Gerechtigkeit für den Vorrang des einen oder des anderen Prinzips entscheiden darf, ist der Richter nicht in gleicher Weise frei. Der Gesetzgeber ist nach Art. 20 Abs. 3 GG auf die verfassungsmäßige Ordnung verpflichtet, der Richter dagegen darüber hinaus an Gesetz und Recht gebunden. In der Entschließung des Richtervereins beim Reichsgericht vom 8. Januar 1924 wurden solche Gesetze für „unverbindlich" erklärt, die „das allgemeine sittliche Empfinden verletzten oder in Widerspruch mit der Rechtsidee stünden"59. Das Bundesverfassungsgericht hat im Gegensatz hierzu unter Berufung auf R A D B R U C H schon frühzeitig vom Richter grundsätzlich Gehorsam gegenüber dem Gesetz verlangt: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als .unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat"60. Für besonders krasse Fälle ist damit ein Vorbehalt gemacht. Dabei kommt es aber nicht auf die Intensität des Unbehagens an, das der Richter nach seinem subjektiven Gerechtigkeitsgefühl empfindet. Vielmehr wird darauf verwiesen, daß auch der Gesetzgeber dem höherrangigen Verfassungsrecht unterworfen ist. Er darf seine eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen dem Gesetz zugrunde legen, jedoch wird diese Freiheit durch die Grundrechte begrenzt, zu denen auch das aus Art. 3 Abs. 1 GG entnommene allgemeine Willkürverbot gehört61. 28

Das Willkürverbot ist ein unsicherer Maßstab. Es orientiert sich an der Gerechtigkeit und damit an einer in erster Linie nach politischen Wertungen zu suchenden Entscheidung62. Auch wenn die gesetzgeberischen Vorstellungen nicht überzeugend, sondern nur gerade noch vertretbar sind, dürfen sie nicht unter Berufung auf das Willkürverbot durch die vermeintlich vernünftigeren Erwägungen des Richters ersetzt werden. Ähnliches gilt im Verhältnis der Verfassungs- zur Fachgerichtsbarkeit. Gerichtsentscheidungen, die wegen Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, mögen „falsch" im Sinne unrichtiger Anwendung des „einfachen" Rechts sein; wenn hierin stets auch ein Verstoß gegen das Willkürverbot gesehen würde, müßte das Bundesverfassungsgericht die ihm nicht zukommende Funktion einer Superrevisionsinstanz übernehmen63. 58 59 60 61 62 63

SCHEUNER Neuere Entwicklung (Fn. 4) S. 250. J W 1924, 90; hierzu H. H. RUPP Die Bindung des Richters an das Gesetz, in: N J W 1973, 1771. B V e r f G E 3, 225 (233). So B V e r f G E 23, 98 (106 f); 78, 232 (248). E. BENDA Grundrechtswidrige Gesetze, 1979, S. 18. Zum V o r w u r f der „objektiven Willkür" bei der Uberprüfung v o n Gerichtsentscheidungen durch d a s B V e r f G E . BENDA in: E . BENDA/E. KLEIN L e h r b u c h d e s V e r f a s s u n g s p r o z e ß r e c h t s ,

Rdn. 602 ff.

1991,

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Wenn sich das Gerechtigkeitsempfinden des Richters gegen die Anwendung 29 des Gesetzes sträubt, muß er prüfen, ob das Gesetz nach seiner Überzeugung mit dem Grundgesetz vereinbar ist64. Ist dies der Fall, so darf er dem Gesetz nicht den Gehorsam verweigern. Es kann nicht richtig sein, daß der „einfache" Richter ein Gesetz unbeachtet lassen darf, weil es ihm zwar nicht als verfassungswidrig, aber als ungerecht erscheint, während das Bundesverfassungsgericht das gleiche Gesetz unbeanstandet lassen müßte, da es noch nicht gegen das Willkürverbot verstößt. Hält der Richter das Gesetz für mit Art. 3 Abs. 1 GG oder anderen Verfassungsnormen unvereinbar, muß er das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG aussetzen und die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Kurze Zeit nachdem der Richterverein beim Reichsgericht seine Resolution verabschiedet hatte, regte der Reichsgerichtspräsident in einem Schreiben an den Reichskanzler an, den Gerichten allgemein das Recht zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu geben, das Entscheidungsmonopol hierfür aber beim Reichsgericht zu konzentrieren65. Diese Forderung ist erst durch das Grundgesetz verwirklicht worden. Heute kann der Richter einen Konflikt zwischen dem Gesetzesbefehl und seinen Vorstellungen von der „Rechtsidee" zur Lösung bringen. Soweit nach dem Grundgesetz der Gesetzgeber frei ist, seine Gerechtigkeitsvorstellungen zu verwirklichen, ist der Richter dieser Entscheidung unterworfen66. Keine rechtsstaatlichen Bedenken bestehen, wenn die Gerichte der höheren 30 Instanzen in ihrer Spruchtätigkeit „das Prinzipielle hervorheben", also Rechtssätze entwickeln, die Richtpunkte für die Verwaltung und die unteren Gerichte setzen67. Das Gesetz kann auch die zu regelnden Sachverhalte durch eine Generalklausel erfassen. Damit gibt es zu erkennen, daß es auf die Besonderheiten des einzelnen Falles ankommt. Hier bleibt dem Richter ein weiter Raum eigener auch schöpferischer Tätigkeit, die aber stets der Zielvorstellung des Gesetzes treu bleiben muß68. Der Richter darf nicht unmittelbar die Wertvorstellungen des Grundgesetzes an die Stelle des Gesetzes setzen69. Wenn er zwischen Gesetz und Grundgesetz einen nicht lösbaren Widerspruch sieht, muß er die Sache im Wege der konkreten Normenkontrolle zur 64

65

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67

68 69

H . H . RUPP Bindung des Richters (Fn. 59) S. 1771, zu der Entschließung v o n 1924: „Der Gedanke, zunächst die Verfassung zu befragen, statt sich im Alleinbesitz naturrechtlicher Einsichten zu wähnen, kam offenbar der Richterschaft beim R G nicht". M. W. unveröffentlichtes Schreiben des RG-Präsidenten SIMONS v o m 30. Mai 1925; das Originalschreiben befindet sich in den Akten des Bundesarchivs Koblenz (R 43 1-1211). Zur Bindung des Richters an das Gesetz HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 20 (VI) Rdn. 24 ff; P. KIRCHHOF Richterliche Rechtsfindung, gebunden an Gesetz und Recht, in: N J W 1986, 2275; D. MERTEN Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: DVB1. 1975, 677; K . REDEKER Legitimation und Grenzen richterlicher Rechtsetzung, in: N J W 1972, 409; H. H. RUPP Bindung des Richters (Fn. 59). BVerfGE 18, 224 (237 f); 52, 131 ( 1 5 4 f ) . - Allgemein zur Funktion des Richters und zum Richterrecht aus der neueren Literatur: G. ORRU Das Problem des Richterrechts als Rechtsquelle, in: ZRP 1989, 441; E. PICKER Richterrecht oder Rechtsdogmatik — Alternativen der Rechtsgewinnung?, in: J Z 1988, 1, 62; E. SCHMIDT-JORTZIG Aufgabe, Stellung und Funktion des Richters im demokratischen Rechtsstaat, in: N J W 1 9 9 1 , 2377. B V e r f G E 13, 153 (164). BVerfGE 34, 269 (280).

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Klärung bringen. Rechtsquelle kann auch Richterrecht in den verfassungsmäßigen Grenzen sein. Mit der Begründung, das vom Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuchs noch abgelehnte allgemeine Persönlichkeitsrecht habe sich in jahrzehntelanger Erörterung in Wissenschaft und Rechtsprechung durchgesetzt und sei „nunmehr zum festen Bestandteil unserer Privatrechtsordnung geworden", hat das Bundesverfassungsgericht die dem Gesetzeswortlaut nicht entsprechende Rechtsprechung des BGH zum Geldersatz für immaterielle Schäden anerkannt70. Denn die positive Rechtsordnung sei nur in der Idealvorstellung lückenlos. Wenn das geschriebene Recht seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfülle, dürfe richterliche Entscheidung die Lücke „nach den Maßstäben der praktischen Vernunft" und den „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft" schließen71. Damit wird allerdings dem Richter, dessen eigene Gerechtigkeitsvorstellungen von denen des Gesetzgebers abweichen, eine jedenfalls auf den ersten Blick sehr weitgehende Befugnis zugebilligt. Sie wird durch die Mahnung wieder eingeschränkt, der Richter dürfe „nicht das System der Rechtsordnung verlassen", er dürfe auch „keinen eigenen rechtspolitischen Willen zur Geltung" bringen, sondern dürfe lediglich „Grundgedanken der von der Verfassung geprägten Rechtsordnung mit systemimmanenten Mitteln" weiterentwickeln72. 31 Für die Gesetzgebung bedeutet die nach Art. 20 Abs. 3 GG gegebene Bindung von Verwaltung und Justiz, daß ein Konflikt zwischen Gesetz und Recht möglichst vermieden werden sollte. Mit inhaltlich einleuchtenden, den Bedürfnissen der Zeit entsprechenden, in Aufbau und Sprache klaren, also mit guten Gesetzen kann der juristisch qualifizierte Richter oder Beamte arbeiten. Wenn dagegen die Norm unklar, unübersichtlich, in Form und Inhalt verworren ist, bleibt dem Richter nichts anderes übrig, als das Gesetz auszulegen, seinen verborgenen Sinn zu ergründen, Lücken zu schließen und mehr oder weniger doch eigenschöpferisch tätig zu werden. Oft wird beklagt, daß durch letztlich inhaltsleere Generalklauseln politisch unbequemen Entscheidungen ausgewichen wird. In diesem Falle wird die richterliche Entscheidung zwangsläufig nicht die — unbekannt gebliebenen — Gerechtigkeitsvorstellungen des Gesetzgebers, sonder die des Richters widerspiegeln. Die Verantwortung für solche mißlichen Situationen liegt nicht beim Richter. Im allgemeinen hat dieser „weder die Zeit noch die Möglichkeit, noch die Legitimation"73 — und, so möchte man hinzufügen, die Lust —, an Stelle des Gesetzgebers tätig zu werden. d) Die Rechtsbindung der Gewalten — Geset^esvorrang und Geset^esvorbehalt 32 Der Staatswille äußert sich in vielfältiger Form; das Gesetz ist nur eine Möglichkeit. Der angebliche Konflikt zwischen Recht und Politik scheidet zu Unrecht zwei 70

71 72 73

B V e r f G E 34, 269 (281); zu den Grenzen des Richterrechts vgl. aber B V e r f G E 13, 3 1 8 (328 f); 69, 188 (204); 69, 3 1 5 (369); 73, 206 (254). B V e r f G E 269 (287). B V e r f G E 34, 269 (292). H. H. R U P P Bindung des Richters (Fn. 59) S. 1769.

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Bereiche, die zusammengehören. Recht ist das Ergebnis von Politik. Diese wird festgeschrieben, formalisiert und damit in einen andern Aggregatzustand versetzt. Solange im Parlament politisch debattiert wird, liegt ein Staatswille noch nicht vor. Erst wenn er — im Regelfall — in Gesetzesform gebracht wird, verfestigt sich die Willenbildung und wird für den Bürger verbindlich. Hinter dem Gesetz steht immer die politische Entscheidung, wie eine Sachfrage zu beantworten ist. Auch Politik, die sich nicht in Gesetzesform ausdrückt, kann bedeutende 33 Auswirkungen für den Einzelnen haben. Eine falsche Wirtschafts- oder Außenpolitik kann Folgen haben, welche die soziale Lage oder sogar die Existenz vieler oder aller Bürger in nachhaltiger Weise berühren. Der herkömmliche Rechtsschutz, den Art. 19 Abs. 4 GG gegen die rechtlich ausgeformten Ergebnisse der Politik verleiht, versagt dann. Gegen die modernen Steuerungsmittel der Währungs-, Konjunktur-, Fiskalund Wirtschaftspolitik und gegen außenpolitische Entscheidungen fehlen weitgehend rechtliche Sicherungen. Der „schleichende Verfall" der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ist daher als eines der „brisantesten Verfassungsprobleme" bezeichnet worden74. Mit den Instrumenten der parlamentarischen Demokratie kann zwar die grund- 34 sätzliche Richtung der von der Regierung betriebenen Politik beeinflußt werden. Der Bürger muß aber viele mittelbare Auswirkungen dieser Politik hinnehmen, auch wenn sie spürbare Auswirkungen auf seine persönliche Lebensgestaltung haben. Um so notwendiger ist es, daß Entscheidungen über grundsätzliche Fragen, die ihn unmittelbar betreffen, einer rechtlichen Kontrolle zugänglich gemacht werden. Dies ist die rechtsstaatliche Bedeutung von Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes75. Vorrang des Gesetzes bedeutet, daß der in Gesetzesform geäußerte Staatswille rechtlich jeder anderen staatlichen Willensäußerung vorgeht76. Die Bindung der Exekutive an das Gesetz verhindert willkürliche Entscheidungen der. Verwaltung. Der Gesetzgeber, nicht die Verwaltung, soll darüber entscheiden, wann und in welchem Umfange belastende Eingriffe erfolgen dürfen und damit individuelle Freiheit begrenzt wird. Andererseits sind Generalklauseln oder unbestimmte Rechtsbegriffe nicht ganz vermeidbar, obwohl sie bewirken, daß im Einzelfall die Entscheidung bei der Exekutive oder bei den Gerichten liegt. Diese bleiben jedoch an die im Gesetz vorgegebene Zielbestimmung gebunden. Solange das Verwaltungsermessen nicht nur an eine „vage Generalklausel" geknüpft wird, sondern die dieser erteilte Ermächtigung hinreichend bestimmt und begrenzt wird, werden rechtsstaatliche Bedenken nicht zu erheben sein77. Auch ein allzu eng gesetzter Rahmen für das Verwaltungshandeln ist problematisch. Die immer wieder erhobene Forderung, eine Behörde solle zumal in Not- oder Einzelfällen „unbürokratisch" entscheiden, setzt voraus, daß der Beamte nicht zu eng durch Vorschriften gebunden wird, und sie verlangt daneben natürlich 74

H. H. RUPP Bindung des Richters (Fn. 59) S. 1770.

75

B V e r f G E 4 0 , 2 3 7 ( 2 4 9 ) ; 7 7 , 3 8 1 ( 4 0 3 ) ; 7 9 , 1 7 4 ( 1 9 5 f); SCHMIDT-ASSMANN H d B S t R B d . 1 ( F n . 3 )

Rdn. 6 2 ff. BVerfGE 8, 155 (169); 56, 2 1 6 (241). B V e r f G E 8, 274 (325); 38, 2 1 0 (222, 226 f).

§ 24 76 77

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

eine entsprechende Qualifikation des Personals. Der jeweilige Einzelfall soll auch nicht schematisch gleich, sondern nach seinen besonderen Umständen, also gerecht im Sinne des „suum cuique" entschieden werden. Dies ist nicht rechtsstaatswidrig78. Perfektionistische Gesetze und eine Verwaltung, deren Denken sich in buchstabengetreuem Gesetzesvollzug erschöpft, bewirken nicht den Rechtsstaat, sondern dessen Karikatur. 35 Wesentlichstes Ziel des Gesetzesvorbehalts ist, daß der Bürger möglichst weitgehend vorhersehen und vorausberechnen kann, mit welchen staatlichen Reaktionen er auf sein individuelles Verhalten rechnen muß, und daß er in der Lage ist, sich hiergegen mit rechtlichen Mitteln zu wehren. Die Meßbarkeit, Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit freiheitsrelevanter Eingriffe79 kann nicht mit mathematischer Genauigkeit garantiert werden, sondern nur mit hinreichender Wahrscheinlichkeit. Je gewichtiger die Folgen eines Verwaltungshandelns für den Bürger sind, um so strenger werden die Anforderungen sein, die an die Bestimmtheit des Gesetzes zu stellen sind. Soweit Ungewißheiten in Kauf genommen werden müssen, gewinnen die das Verfahren regelnden Vorschriften erhöhte Bedeutung. 36 Der (allgemeine) Gesetzesvorbehalt, der nicht ausdrücklich im Grundgesetz verankert, aber stillschweigend in Art. 20 Abs. 3 GG vorausgesetzt ist80, gilt für alle Bereiche. Früher blieben die „besonderen Gewaltverhältnisse" ausgespart, in denen wegen der Eigenart der in ihnen bestehenden Umstände der jeweiligen Verwaltung das Recht zugebilligt wurde, selbst die erforderlichen Vorschriften zu treffen (so für das Schulverhältnis, im Bereich des soldatischen Dienstes, im Strafvollzug). Diese Auffassung kann heute nicht mehr aufrechterhalten werden81. Seit hierüber Klarheit besteht, muß auch entschieden werden, wieweit der Gesetzesvorbehalt reicht. Nicht jede Einzelheit etwa im Schulverhältnis kann gesetzlich geregelt werden; stets wird der Schulbehörde, der Schule und dem einzelnen Lehrer ein gewisser eigener Gestaltungsraum verbleiben müssen. Nach der Rechtsprechung gilt der Gesetzesvorbehalt für „wesentliche" Fragen. Dies sind diejenigen Entscheidungen, die für die Wahrung und Verwirklichung der Grundrechte — des Kindes oder seiner Eltern — von Bedeutung sind. Hierzu gehören etwa Regelungen über Versetzung oder Nichtversetzung, Ausschluß oder Entlassung von der Schule sowie über grundlegende Unterrichtsinhalte wie die Sexualkunde82. 37

Eine übertriebene „Verrechtlichung" aller Lebensbereiche bewirkt nicht ein Mehr an rechtsstaatlicher Effektivität, sondern eher das Gegenteil. Besonders die Schule muß einen eigenen Gestaltungsraum behalten, in dem sich die pädagogisch 78 79 80

81 82

ROBBERS Gerechtigkeit (Fn. 30) S. 141. Vgl. B V e r f G E 8, 274 (325). K . HESSE Verfassungsrecht (Fn. 56) Rdn. 201; zum Vorbehalt des Gesetzes HERZOG in: Maunz/ Dürig G G (Fn. 4) Art. 20 (VI) Rdn. 55 ff. B V e r f G E 40, 237 (254); 4 1 , 251 (263); 51, 268 (287); 58, 358 (367). B V e r f G E 41, 251 (259); 47, 46 (79). Allgemein zur „Wesentlichkeitstheorie" des B V e r f G Η. V. ARNIM Zur Wesentlichkeitstheorie des BVerfG, in: DVB1. 1987, 1241; D. C. UMBACH Das Wesentliche an der Wesentlichkeitstheorie, in: FS Faller, 1984, 1 1 1 ; STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4 ) S. 8 1 2 ff.

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

737

wesentlichen Kräfte der Spontaneität und Kreativität entfalten können, ohne in ein allzu enges Normenschema gepreßt und von diesem erstickt zu werden. Der Maßstab der „praktischen Vernunft" spricht dafür, ein sinnvolles Prinzip nicht mit äußerster Konsequenz, sondern behutsam da einzusetzen, wo es sinnvoll ist. Gefährdungen des notwendigen pädagogischen Freiraums entstehen aber in gleichem oder noch höherem Maße durch die früher übliche übermäßige Regelung in Form von Verwaltungserlassen. Sichert der Gesetzgeber die notwendigen Grundentscheidungen, so kann dies bewirken, daß die übermäßigen administrativen Regelungen obsolet werden83. e)

Gewaltenteilung

Das Gewaltenteilungsprinzip wird zu den wesentlichen Merkmalen des Rechtsstaats 38 gerechnet; denn nur die gegenseitige Kontrolle und Begrenzung der Staatsorgane (Legislative, Exekutive und Rechtsprechung) führe zur Mäßigung der Staatsmacht und zum Schutz individueller Freiheit84. Gewaltenteilung soll staatliches Handeln kontrollierbar machen und Willkür ausschalten85. Hieraus ergibt sich leicht die Vorstellung, der Staat müsse um der Freiheit des 39 Einzelnen willen nicht nur nicht allzu stark, sondern sogar in gewisser Weise schwach sein. Man kann sich die gegenseitige Hemmung der Gewalten bildlich wie eine mit allen möglichen Bremsvorrichtungen und Sicherungen versehene Maschine vorstellen. Sie wird jederzeit sicher beherrschbar sein und kann schnell zum Stillstand gebracht werden, aber sie erreicht nicht die ihr mögliche volle, sondern nur eine verminderte Leistung. So sieht ein Teil der öffentlichen Meinung den Rechtsstaat. Unter normalen Verhältnissen wird er gern akzeptiert, aber bei kritischen Lagen entsteht alsbald eine Diskussion darüber, ob es nicht „zuviel Rechtsstaat" gebe, der zu schwach sei, um ungewöhnlichen Gefahren begegnen zu können. Umgekehrt stößt jeder Versuch energischer Gegenwehr auf den Vorwurf, der Rechtsstaat werde abgebaut. Der Gewaltenteilungsgedanke hat zweifellos eine rechtsstaatliche Funktion, aber daneben darf sein Eigenwert als Organisationsprinzip des Staates nicht vernachlässigt werden. Die oft als Schwäche empfundene Kompliziertheit und Langsamkeit der Staatswillensbildung wird in der parlamentarischen Demokratie nicht nur in Kauf genommen. Sie ist auch gewollt, damit die Folgen jeder Entscheidung gerade auch im Hinblick auf individuelle Freiheitsrechte sorgfältig geprüft werden können. Aber Trennung der Gewalten bedeutet auch, daß die der Erfüllung der Staatsaufgaben dienenden Funktionen nach zweckgerichteten Maßstäben auf die verschiedenen Staatsorgane verteilt werden; damit diese ihre Aufgaben sachgerecht erfüllen können,

83 84 85

B V e r f G E 58, 2 5 7 (271). B V e r f G E 9, 2 6 8 (279 f); 34, 52 (59); 68, 1 (87). HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4 ) A r t . 2 0 ( V ) Rdn. 1 f f ; C . STARCK Gewaltenteilung, in: Staatslexikon, Bd. 2, 7. A u f l . 1 9 8 6 , Sp. 1024; STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4 ) S. 7 9 2 ff.

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

müssen ihre Zuständigkeiten klar definiert und abgegrenzt werden86. Gewaltenteilung bewirkt, daß jedes Staatsorgan seine Arbeit leisten kann, ohne hieran durch andere Organe in unangemessener Weise gehindert zu werden. Das Zusammenwirken mehrerer Organe, die Kontrolle des einen durch das andere und die Möglichkeit nachträglicher Korrekturen, also die Modifizierung der Gewaltentrennung, kann die Qualität der Arbeitsleistung noch erhöhen. Ein Beispiel ist die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes und die Überprüfung von Gesetzen als Folge einer Verfassungsbeschwerde. Hierdurch werden in die Gesetzgebung oder in den Entscheidungsprozeß der Verwaltung nachträglich Überlegungen eingeführt, die zunächst zu kurz gekommen sind. Das Parlament kann nicht jeden potentiell Betroffenen anhören, bevor es ein Gesetz beschließt. Dieser kann aber erzwingen, daß wenigstens nachträglich seine Einwendungen gehört und geprüft werden. Die bloße Möglichkeit der Überprüfung durch das Gericht kann bewirken, daß schon im voraus vorstellbare Bedenken sorgfältiger mitbedacht werden. Dieses Verfahren dient nicht nur der Sicherung individueller Freiheitsrechte, sondern auch der Verbesserung der Qualität staatlichen Handelns. 40

Gewaltenteilung bedeutet auch, daß keine der staatlichen Gewalten „der für die Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben erforderlichen Zuständigkeiten beraubt werden" darf87. Jede Gewalt muß funktionsfähig sein und ihrer Sachverantwortung genügen können. Das im Grundgesetz verwirklichte System entspricht dieser Zielsetzung. Es hat nach allgemeiner Beurteilung den klassischen Gedanken der Gewaltenteilung nicht rein verwirklicht, sondern ihn durch ein kompliziertes Geflecht wechselseitiger Beziehungen, gegenseitiger Kontrollen und das Gebot des Zusammenwirkens auch im Bund-Länder-Verhältnis (Grundsatz der Bundestreue) modifiziert. 41 Käme es allein auf die höchste vorstellbare Effektivität staatlichen Handelns an, ließen sich allerdings wirksamere Funktionsstrukturen vorstellen. Es ist der angebliche Vorteil totalitärer Systeme, schneller als parlamentarische Demokratien entscheiden zu können. Im Lichte geschichtlicher Erfahrungen verliert aber dieser vermeintliche Vorzug schnell jede Anziehungskraft. Gewaltenteilung hat instrumentalen Charakter; sie soll der Erhaltung und Verwirklichung anderer Werte dienen. Dies hängt nicht allein von der Möglichkeit ab, schnelle Entschlüsse zu fassen. Staatsorgane müssen funktionsfähig sein. Ihre Tätigkeit dient aber nicht den von ihnen selbst definierten Zielen, sondern der Verwirklichung der in der Verfassung festgelegten Wertvorstellungen. Da die Zuordnung von Funktionen und Zuständigkeiten, ihre Begrenzung und Kontrolle der Sicherung von Verfassungsentscheidungen, insbesondere der Wahrung der Grundrechte dient, haben Gewaltenteilung und -verschränkung hohe rechtsstaatliche Bedeutung und den Rang eines tragenden Organisationsprinzips des Grundgesetzes88. 86

87 88

HESSE Verfassungsrecht (Fn. 56) Rdn. 488; sehr dezidiert zur Ermöglichung „richtiger" staatlicher Entscheidungen durch Gewaltenteilung B V e r f G E 68, 1 (86); hierzu SCHMIDT-ASSMANN HdBStR Bd. 1 (Fn. 3) § 24 Rdn. 50. B V e r f G E 9, 268 (279 f, 281); 34, 52 (59); SCHMIDT-ASSMANN HdBStR Bd. 1 (Fn. 3) § 24 Rdn. 56. B V e r f G E 3, 225 (247).

§17

D e r soziale Rechtsstaat (BENDA)

739

f ) Grmdrechtsscbut£ als „materiale" Seite des Rechtsstaats Für den nur formal verstandenen Rechtsstaat ist die Existenz von Grundrechten 42 nicht von Bedeutung. Rechtssicherheit, also die Berechenbarkeit staatlichen Handelns und die Wahrung der hierfür festgelegten Formen, kann unabhängig von dem größeren oder geringeren Freiheitsraum sein, welcher dem Bürger eingeräumt ist. Das Experiment der hinsichtlich der Wahrung eines gewissen Maßes an Rechtssicherheit nicht wirkungslosen Verfassungsgerichtsbarkeit in der — heute zusammengebrochenen — Jugoslawischen Föderation zeigte, daß in einem eingeschränkten Sinne auch solche Staaten Rechtsstaatlichkeit herstellen können, die von bürgerlicher Freiheit andere als die „westlichen" Vorstellungen haben. Materiale Rechtsstaatlichkeit entsteht aber erst durch die Verbürgung von 43 Grundrechten vor allem in dem klassischen Verständnis von gegen den Staat gerichteten Abwehrrechten. Grundrechte prägen die Rechtsstaatlichkeit des Grundgesetzes. Aus den Grundrechten — auch aus den in ihnen für die Ausübung von Freiheitsrechten enthaltenen Schranken — ergibt sich, an welchen Wertvorstellungen sich der auf die Verwirklichung der Gerechtigkeitsidee gerichtete Staat zu orientieren hat. Zugleich kann der Einzelne, der sich auf seine Grundrechte beruft, staatliches Handeln verfassungsmäßiger Kontrolle unterwerfen und so das System der Gewaltenhemmung in Bewegung setzen. Die Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) gehört zu den wichtigsten Instrumenten, um Rechtsstaatlichkeit auch in der Wirklichkeit durchzusetzen. Das Grundrechtsverständnis des Grundgesetzes wird an anderer Stelle behandelt; hierauf kann hier verwiesen werden (vgl. oben § 5). g) Rechtsweggarantie und

Verfahrensgrundrechte

Eine neuere Entwicklung modernen Grundrechtsverständnisses ist die Einsicht, daß 44 neben der Achtung des dem Einzelnen garantierten Freiheitsraumes das bei einer staatlichen Entscheidung maßgebliche Verfahren für die Wahrung individueller Freiheit von Bedeutung ist. Nach dem Rechtsstaatsgrundsatz sollen staatliche Eingriffe möglichst vorher- 45 sehbar und vorausberechenbar sein. Im Einzelfall etwa des Verwaltungshandelns kommen aber oft mehrere Entscheidungen in Betracht. Welche von diesen gewählt wird, hängt von vielen Umständen ab, so von dem Erkenntnisstand der Behörde über maßgebliche Sachverhalte und von der größeren oder geringeren Ungewißheit über künftige Entwicklungen. Besonders wenn wissenschaftliche oder technische Faktoren die Entscheidung beeinflussen, werden die Entscheidungsgrundlagen unsicher. Neue Erfahrungen oder Einsichten können die Beurteilung wesentlich beeinflussen. Das gegenwärtig vorhandene Wissen mag nur ein Annäherungswissen sein, das sich „auf dem neuesten Stand unwiderlegten möglichen Irrtums befindet"89. Aber auch bei den alltäglichen Verwaltungsakten kommen oft mehrere vertretbare 89

B V e r f G E 49, 89 (143).

740

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Lösungen in Betracht. Es ist dann von entscheidender Bedeutung, auf welche Weise, auf Grund welcher Informationen und unter Auswahl welcher Alternativen die Meinungsbildung gelenkt und schließlich auf eine bestimmte Antwort hingeführt wird 90 . Nur wenn das Verfahren für den Betroffenen einsichtig wird und ihm gegenüber fair ist, wird er das Ergebnis vorausberechnen und sich hierauf einstellen können. 46

Für das gerichtliche Verfahren gelten zunächst die Prozeßgrundrechte der Art. 101, 103, 104 GG sowie die Garantie effektiven Rechtsschutzes. Allen diesen Verfassungsnormen läßt sich der Grundsatz entnehmen, daß der Einzelne von den Gerichten fair behandelt werden soll. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es klingt. Der an sportliche Verhaltensregeln erinnernde Begriff der Fairneß meint nicht nur die Einhaltung aller „Spielregeln", also der prozessualen Vorschriften, die selbstverständlich ist. Darüber hinaus soll Waffengleichheit hergestellt werden. Es soll angemessen berücksichtigt werden, daß der Einzelne dem Staatsapparat gegenüber regelmäßig unterlegen ist oder sich jedenfalls unterlegen fühlt, besonders wenn er rechtsunkundig ist oder sich in einer sozial schwachen Position befindet. Das Recht auf ein faires Verfahren soll solche Nachteile ausgleichen. Es gilt als wesentlicher rechtsstaatlicher Grundsatz vor allem dort, wo der Ausgang des Prozesses schwerwiegende Folgen für den Betroffenen haben kann, wie besonders im Strafoder Disziplinarverfahren 91 . Darüber hinaus beeinflußt es letztlich jedes gerichtliche Verfahren, das je nach Anlaß und Gegenstand erhebliche, oft auch existentielle Auswirkungen haben kann 92 . Hiervon muß stets ausgegangen werden, wenn Grundrechtspositionen berührt sind. Nach neuerer Einsicht beeinflussen daher die Grundrechte nicht nur die Ausgestaltung des materiellen Rechts, sondern sie liefern auch Maßstäbe für eine Verfahrensgestaltung, welche den Grundrechtsschutz effektuiert 93 .

47

Ähnliches gilt auch für das Verwaltungsverfahren. Es soll nicht nur nach den Bedürfnissen der Verwaltung ausgestaltet werden, die es am liebsten sehen mag, wenn die von ihr gewünschten Vorhaben reibungslos durchgeführt werden. Die Anhörung betroffener Bürger produziert Einwendungen, mit denen sich die Verwaltung auseinandersetzen muß. Dies ergibt Hemmnisse und Reibungsverluste. Aber nach dem Verständnis des Grundgesetzes ist der betroffene Bürger nicht bloß Objekt des Verwaltungshandelns, der vollendete Tatsachen zur Kenntnis nehmen soll. Er ist auch Gesprächspartner der Verwaltung, die in seinem Interesse arbeiten soll 94 . Die Grundrechtssicherung durch ein faires Verfahren wird dort besonders wichtig,

90 91 92 93

N. LUHMANN Legitimation durch Verfahren, 1969, S. 203 f. B V e r f G E 26, 66 (71); 35, 263 (274); 46, 202 (210); 57, 250 (283). Z . B . B V e r f G E 39, 276 (294); 45, 422 (430ff); 50, 16 (30). So etwa für den Bereich des Art. 14 G G B V e r f G E 24, 367 (401); 35, 348 (361); 49, 220 (225). Eine ausführliche Darstellung der Entwicklung enthält die abw. M. in B V e r f G E 53, 30 (69 ff). Zur Problematik insgesamt vgl. H. GOERLICH Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981; E. SCHMIDT-ASSMANN in: M a u n z / D ü r i g G G (Fn. 4 ) A r t . 1 9 A b s . 4 R d n . 1 9 ; STERN S t a a t s r e c h t B d . 1

94

(Fn. 4) S. 847 f. B V e r f G E 45, 297 (330 ff); kritisch zu dieser Rspr. D. LORENZ Der grundrechtliche Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, in: A ö R 105 (1980) 623.

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

741

wo das Gesetz für Verwaltungsentscheidungen nur unbestimmte Rechtsbegriffe zur Verfügung stellen kann, weil es auf den jeweiligen Stand der in der Entwicklung befindlichen Technik abstellen muß. Dies ist bei der Nutzung der Kernenergie und anderen die Sicherheit der Bürger und den Schutz der natürlichen Umwelt berührenden Großvorhaben der Fall 95 . Die Effektuierung des Grundrechtsschutzes durch Verfahren schützt den po- 48 tentiell in seinen Rechten Betroffenen; sein Sinn ist nicht, die organisierte Wahrnehmung von Gruppeninteressen zu fördern. Rechtspolitisch mag erörtert werden, ob das Verwaltungsverfahren durch „Partizipationsformen" für den Bürger wie „Bürgerbegehren, Bürgerinitiativen und Bürgerentscheid", durch „Gemeinwesenarbeit zur Aktivierung aller Betroffenen" 96 oder ähnliches ergänzt werden sollte, und ob dies ohne die Gefahr einer weitgehenden Lähmung oder mit unzumutbarem Zeitaufwand verbundener zusätzlicher Belastung der Verwaltung möglich ist. Der Staat ist auf das Gemeinwohl verpflichtet. Er muß fähig bleiben, erforderliche Maßnahmen zeitgerecht und auch gegen den Widerstand organisierter Gruppen zu treffen, die legitime, aber nicht notwendigerweise Allgemeininteressen vertreten. Auch die Problematik der Einführung einer Verbandsklage vor allem im Bereich des Natur- und Umweltschutzes wirft gleiche Fragen auf. Der Staat ist dem Recht, vor allem der Wahrung der Grundrechte verpflichtet. Dem dient auch das Verfahrensrecht. Zur Entscheidung darüber, welche Lösungen innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen gefunden werden, sind in erster Linie die demokratisch legitimierten Volksvertretungen berufen. h)

Vertrauensschut^

Rechtssicherheit als wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips bezweckt, daß 49 der Bürger den Einfluß des Rechts auf sein individuelles Verhalten möglichst voraussehen und vorausberechnen kann. Hieraus folgt, daß er sich auf das einmal gesetzte Recht verlassen darf. Der Anspruch auf Vertrauensschutz folgt zugleich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben, der auch für das öffentliche Recht gilt 97 . Der Staat soll sich gegenüber dem seiner Rechtsordnung unterworfenen Bürger nicht unredlich verhalten. Hierauf soll sich der Bürger verlassen können. Der Grundsatz dürfte einfach und unmittelbar einleuchtend sein. Ihm steht aber 50 die Notwendigkeit gegenüber, die Rechtsordnung ständig im Lichte sich rasch wandelnder Verhältnisse zu überprüfen und sie neuen Bedürfnissen zeitgerecht anzupassen. Je schneller und intensiver die Gesetzgebung arbeitet, desto häufiger ergeben sich Ubergangs- und Anpassungsprobleme. Insbesondere der soziale Staat, der sich nicht nur auf die Wahrung äußerer und innerer Sicherheit beschränkt, sondern berechtigt und verpflichtet ist, auf dem Felde vor allem der Wirtschafts95 96

97

B V e r f G E 49, 89 (133 ff); 53, 30 (59 ff); vgl. auch die abw. M. ebd. S. 69 ff. So einige der Vorschläge des Rechtspolitischen Kongresses der S P D 1 9 8 0 , vgl. G . WEHLING Von der bürgerlichen zur sozialen Rechtsordnung, in: Z R P 1 9 8 0 , 1 2 6 ; I. EBSEN Bürgerbeteiligung durch die Gemeindevertretung und repräsentative Demokratie, in: DVB1. 1 9 8 4 , 1 1 0 7 . F. OSSENBÜHL Vertrauensschutz im sozialen Rechtsstaat, in: D Ö V 1 9 7 2 , 27.

742

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

und Gesellschaftsordnung aktiv zu werden98, kann nicht alles so lassen, wie es nun einmal geregelt ist. Er muß in immer steigendem, oft schon als problematisch empfundenem Umfange gesetzgeberisch tätig werden. Diesen unabänderlichen Umstand muß auch der Bürger in Rechnung stellen, der auch die soziale Aktivität des Staates erwartet und. sie im Bedarfsfalle in Rechnung stellt. Insofern kann Vertrauensschutz im sozialen Rechtsstaat nicht die gleiche Bedeutung haben wie in einem Rechtsstaat liberaler Prägung. Würde sich jede einmal gewährte Rechtsposition alsbald verfassungsrechtlich verfestigen und unüberwindbaren Bestandsschutz verleihen, wäre der Staat zum Immobilismus verurteilt. Er könnte die ihm übertragenen Aufgaben niicht mehr erfüllen". 51

Der vor allem in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in vielen Details entwickelte Gedanke des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes100 stößt daher auf immanente Schranken. Auch hier ergibt sich ein Konflikt zwischen den Geboten der Rechtssicherheit und denen der Gerechtigkeit. Er kann nur durch Abwägung der einander gegenüberstehenden Positionen gelöst werden. Die Verläßlichkeit der Rechtsordnung hat prinzipiell den gleichen Rang wie die Notwendigkeit, sie den neuen Bedürfnissen anzupassen. Gesetzesänderungen führen oft zu der Frage, wieweit durch sie auch auf nach früherem Recht bestehende Rechtspositionen eingewirkt werden soll. Die Rechtsprechung unterscheidet zwischen der sogenannten echten und der unechten Rückwirkung: Bei der nachträglichen Änderung abgewikkelter, der Vergangenheit angehörender Tatbestände ist der Gesetzgeber relativ streng an den Vertrauensschutz gebunden, der regelmäßig einer solchen rückwirkenden Änderung entgegensteht101. Dagegen gilt bei unechter Rückwirkung, die auf noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtspositionen für die Zukunft einwirkt und dadurch die Rechtsposition nachträglich im ganzen entwertet, Vertrauensschutz dann, wenn der Bürger mit dem Eingriff nicht zu rechnen brauchte; dabei ist abzuwägen zwischen dem Ausmaß des Vertrauensschadens des Einzelnen und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit102.

52

In neuerer Zeit wird eher zwischen der „Rückbewirkung von Rechtsfolgen" und der „tatbestandlichen Rückanknüpfung" unterschieden103. Wenn eine Rechtsnorm Rechtsfolgen schon für einen Zeitpunkt auslöst, der vor dem ihrer Verkündung liegt, sollen vorrangig die rechtsstaatlichen Gesichtspunkte des. Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit darüber entscheiden, ob eine solche „Rückbewirkung von

98 95

100 101 102 103

OSSENBÜHL Vertrauensschutz (Fn. 97) 26. W. ZEIDLER Grundrechte und Grundentscheidungen der Verfassung im Widerstreit, in: 53. Dt. Juristentag, Sitzungsbericht H/1 (1980) S. I 17 f. Z . B . B V e r f G E 30, 392 (403); 53, 115 (128); 67, 1 (15). B V e r f G E 24, 220 (229); 30, 392 (401); 50, 177 (193). Z . B . B V e r f G E 30, 392 (402); 48, 403 (415). B V e r f G E 63, 343 (353); 72, 200 (242); 76, 256 (347); 78, 249 (284). Zu dieser neueren Rechtsprechung des B V e r f G J. FIEDLER Neuorientierung der Verfassungsrechtsprechung zum Rückwirkungsverbot und zum Vertrauensschutz?, in: N J W 1988, 1924; SCHMIDT-ASSMANN HdBStR Bd. 1 (Fn. 3) § 24 Rdn. 86. — Kritisch zur bisherigen Rückwirkungs-Rechtsprechung des BVerfG STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4) S. 835 f.

§17

D e r soziale Rechtsstaat (BENDA)

743

Rechtsfolgen" zulässig ist104. Wenn dagegen die Rechtsnorm den Eintritt von Rechtsfolgen von Gegebenheiten abhängig macht, die schon vor ihrer Verkündung entstanden sind (tatbestandliche Rückanknüpfung), soll in erster Linie geprüft werden, ob hierdurch Grundrechte berührt sind. Allerdings gehören zur Bewertung am Maßstab der Grundrechte ebenfalls die allgemeinen Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit105. So befreien auch die neuen Prüfungsmaßstäbe, wenn sie sich als dauerhafter Bestandteil der Rechtsprechung erweisen sollten, nicht von der Notwendigkeit, nach den Umständen des Einzelfalles darüber zu entscheiden, ob dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes oder der Erforderlichkeit, neuen Bedürfnissen Rechnung zu tragen, der höhere Wert beizumessen ist106. i) Weitere

Eintel/ragen

Aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben sich weitere Anforderungen an den Gesetzgeber. Ganz allgemein gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der den Staat auf die jeweils geringste erforderliche und zumutbare freiheitsbeschränkende Maßnahme verweist. Der Bürger hat gegenüber dem Staat einen grundsätzlichen Freiheitsanspruch. Die öffentliche Gewalt darf diese Freiheit nur insoweit beschränken, als dies zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist 107 . Unnötige Eingriffe müssen unterbleiben. Wenn ein Eingriff in Gestalt eines gesetzlichen Gebotes oder Verbotes unerläßlich ist, müssen seine Voraussetzungen möglichst klar und für den Bürger erkennbar umschrieben werden 108 . Damit wird nicht nur die Berechenbarkeit staatlichen Handelns ermöglicht, also Rechtssicherheit bewirkt. Zugleich wird der Gesetzgeber gezwungen, sich hinreichende Klarheit über die verfolgten Ziele sowie darüber zu verschaffen, ob die in Erwägung gezogenen Maßnahmen geeignet sind, das angestrebte Ziel zu erreichen. Wenn die Regelung schlechthin ungeeignet ist, den Gesetzeszweck zu erfüllen, oder wenn sie wegen veränderter Verhältnisse jedenfalls gegenwärtig unwirksam erscheint, dann ist sie rechtsstaatswidrig 109 . Von hier aus ergeben sich weitere Anforderungen an die Gesetzesqualität: Der Gesetzgeber muß jedenfalls „seinen Grundgedanken, das Ziel seines gesetzgeberischen Wollens, vollkommen deutlich" machen110. So kann ein Gesetz, dessen Fassung seinen wirklichen Gehalt nicht zum Ausdruck bringt, die mißverständlich oder irreführend ist oder die zu Widersprüchen innerhalb des Gesetzes führt, die „der Sachlage zuwider" läuft, gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen111. 104 105 106

107

B V e r f G E 72, 2 0 0 (242); 72, 3 0 2 (320). B V e r f G E 72, 2 0 0 (242 f); 76, 2 5 6 (347); 78, 2 4 9 (284). Skeptisch gegenüber der neueren Rechtsprechung des B V e r f G zur R ü c k w i r k u n g s p r o b l e m a t i k auch K . VOGEL Rechtssicherheit und R ü c k w i r k u n g zwischen Vernunftsrecht und Verfassungsrecht, in: J Z 1 9 8 8 , 833. Z . B . B V e r f G E 19, 3 4 2 (348F); 4 9 , 24 (58); 63, 8 8 ( 1 1 5 ) ; 8 0 , 2 9 7 (312); F. SCHNAPP Die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs, in: J u s 1 9 8 3 , 8 5 0 ; SCHMIDT-ASSMANN H d B S t R Bd. 1 (Fn. 3 ) § 2 4 Rdn. 87; STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4 ) S. 8 6 1 f f ; BÄUMLIN/RIDDER A K - G G (Fn. 3) A r t . 2 0 A b s . 1 - 3 III Rdn. 6 4 f f .

BVerfGE "" B V e r f G E 1,0 BVerfGE 111 B V e r f G E 108

1 7 , 3 0 6 ( 3 1 3 f); 59, 1 0 4 (114); 60, 2 1 5 (230). 19, 1 1 9 ( 1 2 6 f); 23, 5 0 (58). 17, 3 0 6 (314). 1, 1 4 (45); 17, 3 0 6 (314).

744

54

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Damit wird vom Gesetzgeber eine Arbeit verlangt, die qualitativen Ansprüchen hinsichtlich der Wahrung der Rechtsklarheit und -Sicherheit genügt. Er muß auch ein Mindestmaß an inhaltlicher Gerechtigkeit, jedenfalls die Vermeidung krasser Ungerechtigkeit, erbringen. Damit kann aber nur äußersten, in der Praxis nur ausnahmsweise vorstellbaren Mißgriffen begegnet werden. Nur durch solche Zurückhaltung kann der sich aus der Verwendung abgeleiteter Verfassungsbegriffe wie Verhältnismäßigkeit, Zweckgeeignetheit, Erforderlichkeit, Normenklarheit usw. 112 ergebenden Gefahr begegnet werden, jeden letztlich politischen Streit über Sinn und Unsinn eines Gesetzes verfassungsrechtlich und verfassungsgerichtlich zu führen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat die rechtsstaatlich gebotenen Mindestanforderungen klar betont, sich aber bei der qualitativen Kritik von Gesetzen bisher zurückgehalten 113 . Weitergehende Forderungen, wie sie in der Gesetzgebungslehre vertreten werden 114 , sind als Appell an den Gesetzgeber nützlich. Dieser soll sich natürlich um einen möglichst hohen Qualitätsstandard seiner Regelungen bemühen. Wenn ein Gesetzgebungswerk mißglückt, sollte dies aber in erster Linie politisch gelöst werden. Rechtsstaatswidrige Lagen sind erst dann anzunehmen, wenn das Parlament wider besseres Wissen, also willkürlich handeln sollte. 3. Der Staat unter der Herrschaft des Rechts

55 Aus den Prinzipien des Rechtsstaats ergibt sich das Bild eines weitgehend vom Recht beherrschten Staates. Er muß hierdurch nicht, wie vielfach befürchtet wird, zum Rechtswege- oder gar zum Richterstaat werden, also zu einem Gemeinwesen, in dem die rechtsprechende Gewalt nicht nur Hemmungen und Schranken errichtet, sondern letztlich die Richtung staatlicher Tätigkeit bestimmt. In aktuellen Diskussionen werden an das Rechtsstaatsverständnis unserer Zeit auch kritische Fragen gerichtet. Sie sollen in einigen ausgewählten Beispielen wenigstens knapp angedeutet und skizzenhaft erörtert werden. a) Rechtsnormen

und die gesellschaftlichen

Verhältnisse

56 Der Rechtsstaat hat es schwerer als totalitäre Ordnungen, politischen Willen rasch und wirksam in die Tat umzusetzen. Rechtsnormen können geändert oder beseitigt werden; aber der Weg der Gesetzgebung ist mühsam und langwierig, zumal unter dem Einfluß des gewaltenteilenden Prinzips der Mitwirkung der Länder, ohne deren Zustimmung manche Vorhaben überhaupt nicht, andere nur unter Beachtung komplizierter Verfahrensregeln verwirklicht werden können. Erst recht hat der Einfluß des Verfassungsrechts einen starken Hemmungseffekt. Manche Regelungen können überhaupt nicht getroffen werden, weil ihnen Grundrechte entgegenstehen. Bei 112 1,3 114

BENDA Grundrechtswidrige Gesetze (Fn. 62) S. 17 ff. Z . B . B V e r f G E 17, 67 (82); 19, 1 1 9 ( 1 2 6 f ) ; 29, 4 0 2 ( 4 1 0 f ) ; 30, 2 5 0 (263). Zu den Mindestanforderungen an die Normgestaltung H. SCHNEIDER Gesetzgebung, 2. A u f l . 1991 Rdn. 54 ff; C. GUSY Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre?, in: Z R P 1985, 2 9 1 ; vgl. auch BENDA Grundrechtswidrige Gesetze (Fn. 62) S. 21 f; STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4) S. 829 ff.

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anderen müssen Übergangs- oder Anpassungsmaßnahmen erfolgen oder das Verfahren muß so gestaltet werden, daß es zeitaufwendig, umständlich und wenig effektiv ist. Recht ist wirksamer, wenn es bestehende gesellschaftliche Zustände stabilisiert, als wenn es diese verändern soll. Es hat daher eine immanent-konservative Funktion115. Das Recht kann zwar dem sozialen Wandel gegenüber in Verzug geraten, aber 57 es ist auch geeignet, ihn zu fördern. Auch das Recht kann der Verwirklichung größerer Freiheit dienen116. Die Hinwendung des Grundgesetzes zum socialen Rechtsstaat will diese Funktion des Rechts verdeutlichen. Bereits das materiale Rechtsstaatsverständnis, das auch nach der Gerechtigkeit fragt, modifiziert den freilich weiterhin wesentlichen Gedanken der Rechtssicherheit. Sie ist nicht mehr alleiniger Orientierungspunkt, sondern muß unter Umständen dem Gebot materialer Gerechtigkeit weichen. Erst recht kann dem sozialen Rechtsstaat die Qualität bestehender Zustände nicht gleichgültig sein. Die angesichts vielfältiger Anpassungsschwierigkeiten bei der Überführung der auf dem Gebiet der früheren DDR entstandenen neuen Bundesländer geäußerte Klage, man habe auf Gerechtigkeit gehofft, aber den Rechtsstaat bekommen, beschreibt schlagwortartig das Problem, aber zugleich verkürzt sie das Verständnis des freiheitlichen und sozialen Rechtsstaats. Veränderungen sind dringend notwendig, aber sie dürfen nur in den Formen und innerhalb der Grenzen des Rechts erfolgen. Die wichtigste Veränderung ist zu Recht als „friedliche Revolution" bezeichnet 58 worden: Der Zusammenbruch des Machtsystems der früheren DDR im Herbst 1989 ermöglichte und erforderte eine völlige Veränderung der staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen und ihre Anpassung an die Ordnung des Grundgesetzes. Anders als in den großen Revolutionen der Weltgeschichte, die unter Loslösung von allen überkommenen rechtlichen Bindungen, meist erst nach einer Periode der Gewalt und des durch keine Regeln begrenzten Machtkampfes, die den Vorstellungen der obsiegenden Kräfte gemäße neue Ordnung frei gestalteten, war jedenfalls mit dem Beitrittsbeschluß der DDR-Volkskammer nach Art. 23 GG vom 23. August 1990117 entschieden, daß nicht nach einer neuen Verfassungsordnung gesucht werden, sondern die des Grundgesetzes auch für das Beitrittsgebiet gelten sollte. Auch der nach Art. 146 GG in seiner neuen Fassung mögliche und durch Artikel 5 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990118 den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands empfohlene Weg einer Verfassungsreform geht von Änderungen oder Ergänzungen des Grundgesetzes aus, nicht aber von dessen Ersetzung. Viele der Vorschläge, die in die noch nicht abgeschlossene Diskussion über eine Verfassungsreform eingebracht wurden, sind umstritten. Aber von keiner politisch relevanten Seite ist ernsthaft in Frage gestellt worden, daß die das Grundgesetz beherrschenden Grundsätze, die zudem durch Art. 79 Abs. 3 GG verE. BENDA Rechtsstaat im sozialen Wandel, in: A ö R 101 (1976) 506 f. " 6 BENDA Sozialer Wandel (Fn. 115) S. 506. 1 . 7 BGBl. I S. 2057. 1 . 8 Einigungsvertragsgesetz v o m 23. September 1990. BGBl. II S. 885.

1,5

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

fassungsrechtlich abgesichert sind, unangetastet bleiben sollen. Die Revolution des Herbstes 1989 bedeutet daher nicht die Suche nach einer neuen Ordnung, sondern den Willen zur Umgestaltung der staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse nach den Maßstäben und in den Grenzen der durch das Grundgesetz vorgegebenen Verfassungsordnung. 59 Dies hat Konsequenzen, deren Bedeutung sich auch im Bewußtsein der betroffenen Menschen erst allmählich abzeichnet. Die Herausforderung, eine vollständige Umgestaltung der Strukturen in der früheren DDR nicht mit revolutionären, sondern mit rechtsstaatlichen Mitteln vorzunehmen, ist gewaltig und ohne geschichtliches Vorbild119. Die Größe der Aufgabe, die Eilbedürftigkeit jedenfalls eines großen Teils der zu erledigenden Arbeiten und das intensive Bedürfnis der Bürger der DDR, mit dem gescheiterten Regime moralisch und soweit möglich auch strafrechtlich abzurechnen, legen die Versuchung nahe, die dem Rechtsstaat eigenen Regeln großzügig zu handhaben oder sich für eine Ubergangszeit von ihnen in dem Umfange zu lösen, den praktische Bedürfnisse und der Wunsch nach Gerechtigkeit erfordern. Die unbefriedigenden Erfahrungen mit der rechtlichen Bewältigung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates könnten sich, so wenig die Ausgangssituation in vielfacher Hinsicht vergleichbar ist, wiederholen. Jedenfalls was die strafrechtliche Ahndung schwerster Unrechtshandlungen gerade der verantwortlichen Befehlsgeber anlangt, zeichnen sich schon jetzt die gleichen oder doch vergleichbare Schwierigkeiten ab. Sie werden voraussichtlich Enttäuschungen unvermeidlich machen und könnten das Gefühl hervorrufen, daß der Rechtsstaat zur Bewältigung außergewöhnlicher Situationen nicht taugt. Wird hierdurch das Vertrauen in die Fähigkeit der freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung geschwächt, den einleuchtenden oder mindestens verständlichen Erwartungen vieler Menschen zu entsprechen, so würde der Schaden groß sein. 60 Die in der 1. Auflage dieses Handbuches unter anderen Aspekten — der Bedrohung durch den damals hervorgetretenen Terrorismus — gestellte Frage nach der „Krise des Rechtsstaates"120 stellt sich damit in einer neuartigen Weise. Auch heute muß gefragt werden, ob die rechtsstaatliche Ordnung jeder Herausforderung gewachsen ist. Andere Probleme kommen hinzu: Angesichts weiter wachsender Alltagskriminalität wird populär die Sorge ausgedrückt, der heutige Staat sei eben zu schwach, um wirksam für Ordnung zu sorgen. Mit der Forderung, der Staat müsse stärker werden, wird eigentlich gemeint, daß er weniger Rechtsstaat als vielmehr wirksamer Staat sein müsse. Diese Auffassung wird durch die Agitation politischer Gruppen vor allem im Bereich des Rechtsextremismus aufgenommen und verstärkt. Wenn sie sich durchsetzt, gerät der Rechtsstaat in Gefahr, wegen seiner vermeintlichen Wehrlosigkeit das zu seinem Bestand unverzichtbare Vertrauen zu

120

Hierzu V. BUSSE Herausforderungen für den Rechtsstaat nach Schaffung der deutschen Einheit, in: ZRP 1 9 9 1 , 33; H. H. KLEIN Vom sozialistischen Machtstaat zum demokratischen Rechtsstaat, in: J Z 1990, 53. E. BENDA Der soziale Rechtsstaat, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.) Handbuch des Verfassungsrechts, 1. A u f l . 1983, S. 501 ff.

§17

Der soziale Rechtsstaat

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(BENDA)

verliefen. Diese Gefahr ist ernster als jede heute erkennbare Bedrohung durch radikale Gruppen. Es kommt daher alles darauf an, eine glaubwürdige Antwort auf die Frage zu finden, ob der Rechtsstaat mit den Herausforderungen der Zeit fertig werden kann, ohne sein Selbstverständnis zu verlieren. Dem Rechtsstaat liegt nicht die Vorstellung zugrunde, der Staat müsse um des 61 Schutzes der Freiheit willen schwach sein. Im Bereich der Bekämpfung von Kriminalität hat das Bundesverfassungsgericht stets die „unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung" sowie das Gebot des Rechtsstaatsprinzips betont, das die Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Rechtspflege verlangt121. Um diesen Auftrag erfüllen zu können, muß der Staat über wirksame Instrumente verfügen. Sie müssen sicherstellen, daß er Leben, Gesundheit und Freiheit aller Bürger mit Erfolg schützen kann. Die Aufgabe, die Freiheitsrechte zu schützen, ist dabei selbstverständlich. Hierbei ist nicht nur an die Täter, sondern vor allem auch an die potentiellen Opfer von Gewalttaten zu denken. Auch der einer Straftat Verdächtige und der bereits Verurteilte stehen nicht außerhalb der Herrschaft des Rechts, auf das sie sich zu ihrem Schutz berufen können. Erst beide Gesichtspunkte zusammen ergeben eine rechtsstaatliche Regelung. Die sich aus dem Zusammenbruch des DDR-Regimes ergebenden Probleme 62 lassen sich mit der Wahrung der inneren Sicherheit im herkömmlichen Sinne nicht vergleichen. Aber ähnliche Konsequenzen liegen nahe: Es ist nicht nur das Recht, sondern die Pflicht des Rechtsstaates, sich vordringlich die Instrumente zu verschaffen, um die neuen Aufgaben bewältigen zu können. Es bedarf kaum näherer Darlegung, daß weder die Verwaltung noch erst recht die Justiz des vergangenen Regimes dazu taugen würden, eine rechtsstaatliche Ordnung einzuführen. Unabhängig von nur im Einzelfall feststellbarer Mitverantwortung für die Unrechtsherrschaft entsprechen nur wenige Angehörige der DDR-Verwaltung oder Justiz den für die Verwendung im öffentlichen Dienst auch verfassungsrechtlich verlangten Kriterien der Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung (Art. 33 Absatz 2 GG). Das Bundesverfassungsgericht hat zu Recht den raschen Aufbau einer „modernen, effektiven und nach rechtsstaatlichen Maßstäben arbeitende(n) Verwaltung" in der früheren DDR als Regelung zur „Abwehr von Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut" bezeichnet und damit die „Warteschleifen"-Regelung für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes der DDR gerechtfertigt122. Mit der Schaffung einer funktionsfähigen Verwaltung und Justiz sind nur die 63 ersten, allerdings vordringlichen Voraussetzungen für die Bewältigung einer Vielzahl anderer Probleme erfüllt. Die Regelung der überaus komplizierten Eigentumsfragen hat zunächst ebenfalls zur Voraussetzung, daß sie in annehmbarer Zeit mit dem dafür erforderlichen Apparat — vor allem funktionsfähigen Grundbuchämtern — technisch und verwaltungsmäßig geklärt werden können. Auch stoßen hier, wie nirgends sonst, berechtigte Wünsche nach Wiedergutmachung erlittenen Unrechts 121 122

BVerfGE 38, 105 (116); 39, 156 (167); ähnlich S T E R N Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4) BVerfGE 84, 133; hierzu auch BUSSE Herausforderungen (Fn. 119) S. 334.

S.

871.

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

mit den schutzwürdigen Interessen gutgläubiger Erwerber zusammen; die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der die von 1945 bis 1949 durch die sowjetische Besatzungsmacht vorgenommenen Enteignungen und die Regelung des Einigungsvertrages (Artikel 41), die diese Enteignungen nicht rückgängig machte, bestätigt wurden' 23 , betrifft nur einen allerdings besonders wichtigen Ausschnitt aus der Gesamtproblematik. 64 Hohe Erwartungen in den Rechtsstaat und erhebliche Enttäuschungen, wenn diese nicht erfüllt werden, bestehen hinsichtlich der Sühne für Unrechtshandlungen durch die Funktionäre des DDR-Regimes. Verständliche Ungeduld entsteht, wenn jedenfalls zunächst nur die kleinen Täter bestraft werden, die von jenen Befehle erhalten und diese ausgeführt haben, die bis auf weiteres von Strafverfolgung verschont zu werden scheinen. Die Notwendigkeit, zunächst den Sachverhalt aufzuklären und hierfür die personellen Voraussetzungen zu schaffen, sollte einsichtig sein. Staatsanwaltschaften und Gerichte schaffen nicht Vertrauen in den Rechtsstaat, sondern können diesen der Lächerlichkeit preisgeben, wenn sie angesichts einer spürbaren und durchaus verständlichen Ungeduld der Öffentlichkeit schnelle Verurteilungen wegen Handlungen anstreben, die strafwürdig sind, aber den wirklichen Vorwurf gegen die Täter des Unrechtsregimes verfehlen, wie Veruntreuungen von Gewerkschaftsgeldern, Fälschungen von ohnehin fragwürdigen Wahlen oder sogar die Anklage wegen eines 60 Jahre zurückliegenden Mordes gegen den für den DDRStaatssicherheitsdienst Verantwortlichen. Die Verfahren erscheinen wie Ersatzhandlungen zur Befriedigung von Sühnebedürfnissen gegen Täter, deren eigentliche Handlungen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen vielleicht ungeahndet bleiben müssen. Die Opfer und diejenigen, die nach Gerechtigkeit fragen, wird dies kaum befriedigen. 65 Besser wäre es, das Maß der individuellen Verantwortung für geschehenes Unrecht, soweit diese strafrechtlich faßbar ist, nach besten Kräften aufzuklären und in einem den rechtsstaatlich selbstverständlichen Garantien unterworfen Verfahren zu beurteilen. Sorgfältige, wenn auch unvermeidbar zeitaufwendige Ermittlungen sind wichtiger als Ersatzprozesse. Selbst wenn sie nicht zu einer Verurteilung führen können, weil die Beweismittel nicht ausreichen oder einer Bestrafung das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Absatz 2 GG entgegensteht124, ist der ernsthafte Versuch strafrechtlicher Klärung individuellen Verhaltens der dem Rechtsstaat gemäße Weg, sich mit begangenem Unrecht auseinanderzusetzen. Im Bewußtsein der Bürger kann der Rechtsstaat auch in seiner Begrenzung verständlich werden. Aus ihm ergibt sich für das Strafrecht die Entscheidung, notfalls eher einen Schuldigen nicht bestrafen zu können als umgekehrt in Kauf zu nehmen, daß ein Unschuldiger verurteilt wird. Dem Opfer ist dieser einfache Satz nicht leicht zu vermitteln, aber selbst dem 123 124

B V e r f G E 84, 90. Zur Rückwirkungsproblematik insbesondere bei Spionage zugunsten der D D R BGH, N J W 1991, 929; N J W 1991, 2498; K G (Vorlagebeschluß) N J W 1 9 9 1 , 2 5 0 1 ; G. WIDMAIER Verfassungswidrige Strafverfolgung der DDR-Spionage, in: N J W 1991, 2460; E. SAMSON Die strafrechtliche Behandlung von DDR-Alttaten nach der Einigung Deutschlands, in: N J W 1 9 9 1 , 335.

§17

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persönlich Betroffenen sollte die für ihn schmerzliche Einsicht nicht erspart werden, daß dies nicht Resignation vor Schwierigkeiten, sondern eine bewußt getroffene Entscheidung bedeutet. Sie ist, auf das alltägliche Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern bezogen, menschlicher oder doch erträglicher als der vermeintlich perfekte Staat, der im Zweifel eher zu viel als zu wenig tut. Der Rechtsstaat bemüht sich um Gerechtigkeit, die zu bewirken sein Ziel ist, aber er erhebt nicht den anmaßenden Anspruch, sie stets und in jedem Fall erreichen zu können. Ob der schwierige Prozeß gelingt, für ein sich in dieser Weise bescheidener gebendes Verständnis des Rechtsstaates Akzeptanz zu gewinnen, hängt von der Glaubwürdigkeit der Bemühungen ab, Unrecht aufzuklären und zu ahnden. Die rechtliche, vor allem strafrechtliche Bewältigung des nationalsozialistischen Unrechts ist nicht in erster Linie deswegen ganz unbefriedigend verlaufen, weil die praktischen Schwierigkeiten, die mit voranschreitender Zeit immer größer werden mußten, oft einer hinreichend beweiskräftigen Aufklärung der Sachverhalte entgegenwirkten. Viel schlimmer ist, daß ernsthafte Bemühungen einer strafrechtlichen Ahndung erst spät und auch dann zunächst zögernd einsetzten. Resignation gegenüber der schwierigen Aufgabe, vielleicht auch Gleichgültigkeit, verringerten von vornherein die Erfolgsaussichten. Der mangelnde Wille war die entscheidende Schwäche des Rechtsstaates. Es ist nicht sicher, daß sich dieser Vorgang nicht wiederholt, zumal wenn möglicherweise die ersten ernsthaften Verfahren gegen Regierungskriminalität der früheren DDR scheitern sollten, wie dies im Fall Honecker in besonders drastischer Weise bereits geschehen ist. Wie stark der Wunsch nach einer Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit vor 66 allem bei den unmittelbar betroffenen Menschen in den neuen Bundesländern ist, hat die immer lebhafter gewordene Debatte über die „Stasi-Akten" und über die aus ihnen zu ziehenden Konsequenzen gezeigt. In der staatlichen Verantwortung lag es, die Verwahrung der Akten und ihre Auswertung für staatliche Zwecke, für die historische Forschung und vor allem im Interesse der als Opfer Betroffenen rechtlich zu ordnen125. Bisher ist die durch das Gesetz erhoffte „friedensstiftende Funktion" 126 nicht eingetreten. Im Gegenteil diente der Hinweis auf (angeblich) aus den Unterlagen sich ergebende Umstände, die auf die Zusammenarbeit Einzelner mit dem Unterdrückungsapparat hindeuteten, der öffentlichen Bloßstellung, der Verletzung der persönlichen Ehre und auch dem in Einzelfällen existentiell wirkenden Verlust des Arbeitsplatzes oder von Positionen im politischen oder wirtschaftlichen Bereich. Gewiß ist es nicht nur vertretbar, sondern notwendig, im Einzelfall gegenüber 67 dem schnell erhobenen Anspruch, an der Spitze der revolutionären Bewegung des Jahres 1989 gestanden zu haben und hieraus die Legitimation für Führungspositionen in einer neuen Ordnung herzuleiten, auf die Tatsachen hinzuweisen, die solchem Anspruch jedenfalls in einem moralischen Sinne entgegenstehen. Aber das Maß der 125

Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen D D R v o m 20. Dezember 1991, BGBl. I S. 2272; zu Einzelproblemen des Gesetzes K . STOLTENBERG Die historische Entscheidung für die Öffnung der Stasi-Akten, in: D t Z 1992, 65.

126

S o V . BUSSE H e r a u s f o r d e r u n g e n ( F n . 1 1 9 ) S.

335.

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

individuellen Mitverantwortung und Mitschuld kann nur in jedem Einzelfall festgestellt werden, und schlichte Gerechtigkeit gebietet Fairneß im Verfahren und eine angemessene Würdigung der Gesamtumstände, kurz den schwierigen Versuch, Prinzipien des Rechtsstaates auch für den Umgang mit Menschen anzuwenden, der sich nicht vor den Gerichten, sondern vor dem Forum der öffentlichen Meinung abspielt. 68 Dies kann nicht durch die Rechtsordnung erzwungen werden. Sie kann lediglich das Recht auf Gehör etwa gegenüber den oftmals sensationell aufgemachten, wenig differenzierenden und in einigen Fällen auf jede Menschlichkeit verzichtenden Veröffentlichungen in den Medien durchsetzen, die nicht immer der Wahrheit zu dienen bestimmt sind. Gegenüber gesellschaftlicher Ächtung ist der Rechtsstaat machtlos. Er zieht der Tätigkeit des Staates Grenzen, aber er kann nicht Haltungen bewirken, die von den Prinzipien menschlichen Umganges im außerstaatlichen Bereich abhängen. Immerhin könnte aber das Verhalten staatlicher Stellen ein Vorbild sein, aus dem die Einsicht der Menschen folgen könnte. Aus vielen bekanntgewordenen Einzelfallen ergibt sich, was auch nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Zeit nicht überraschend sein sollte: In einer langen Zeit der Diktatur, die nach heute allgemein verdrängter Überzeugung nahezu auch der gesamten politischen Schicht für eine lange Zeit keinerlei Aussicht auf ihr Ende zu bieten schien, haben viele Betroffene es für notwendig gehalten, sich mit den Machthabern zu arrangieren, um für sich und die eigene Familie erträgliche Lebensbedingungen zu erreichen. Hieraus ergaben sich Anpassungshaltungen, oft auch fragwürdige Kompromisse und in vielen Einzelfällen auch der Versuch, sich zu Lasten anderer Vorteile zu sichern. Auch wenn solches Verhalten, wie in den wahrscheinlich meisten Fällen, keine Straftatbestände erfüllte, besteht für den Einzelnen jeder Anlaß, über seine Handlungen nachzudenken, wohl auch, sich ihrer zu schämen. Die erbarmungslose pauschale Verurteilung jeglichen Falles, ohne diesen in seinen Besonderheiten zu prüfen, wird nicht Einsicht bewirken, sondern eher dazu führen, daß die Betroffenen sich mit den Opfern des Regimes gleich setzen, dem sie im großen oder kleinen und aus unterschiedlichen Motiven gedient haben. Hieran werden die moralisch Sensiblen zerbrechen, während die Robusten den Prozeß überstehen mögen. 69

Es würde nichts helfen, die Akten zu schließen. Zumal die Opfer haben Anspruch darauf, die Wahrheit über die Umstände ihrer Verfolgung zu erfahren. Da andere, die zu Unrecht der Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheit beschuldigt werden, durch die Vernichtung der Unterlagen außerstande gesetzt würden, dem Vorwurf entgegenzutreten, wäre es geradezu rechtsstaatswidrig, wollte der Gesetzgeber die Beseitigung der Beweismittel anordnen.

70

Was staatliche Regelungen nicht bewirken können, muß von den an der voraussichtlich noch lange anhaltenden öffentlichen Diskussion geleistet werden: Nicht das Verschweigen oder die Verschleierung der Wahrheit, wohl aber ein fairer Umgang mit Menschen, auch den schuldig gewordenen, und die Bereitschaft nicht zu billiger Freisprechung von jeglicher Verantwortung, sondern zu differenzierter Würdigung des Einzelfalles kann einen Prozeß einleiten, an dessen Ende die Versöhnung einer heute zerrissenen Gesellschaft stehen kann.

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

b) Rechtsfülle und

751

Rechtsgewährungsknappheit

Die in der Überschrift enthaltene schlagwortartige Vereinfachung knüpft an lebhafte 71 Diskussionen der letzten Zeit an. Sie stellen den Rechtsstaat in ganz anderer als in der bisher erörterten Weise in Frage. Die Legitimitätsfunktion des Rechts drohe verloren zu gehen; nicht wegen eines rechtsstaatlichen Defizits, sondern im Gegenteil als Folge einer immer weiteren Verfeinerung der aus dem Rechtsstaatsprinzip entwickelten Regeln. Es gebe eine Gesetzesflut, eine immer größere Zahl von Rechtsnormen. Sie führten zu einer immer weiter reichenden Verrechtlichung nicht nur der Verwaltung, sondern auch des Alltagslebens des Bürgers. Der Bürger sei auf die Hilfe der Verwaltung angewiesen; diese mische sich regulierend und kontrollierend immer stärker in seine Lebensgestaltung ein. Die Gesetze seien so umfangreich, so kompliziert und vielfach so unklar, daß weder der Bürger noch die rechtsanwendende Verwaltung oder sogar die Gerichte sie völlig erfassen und verarbeiten könnten. Daher könne der Bürger nur in der Theorie das Staatsverhalten vorausschauend berechnen. Entgegen rechtsstaatlichen Forderungen sei das Recht weithin weder überschaubar noch für den Einzelnen einsichtig. Mit anderen Worten: Der perfektionierte Rechtsstaat drohe an sich selbst zu ersticken und so in sein Gegenteil umzuschlagen127. Solche Behauptungen lassen sich nicht ohne weiteres beweisen oder widerlegen. 72 Es muß daher offen bleiben, ob sie über Einzelfálle hinaus zutreffen. Gleichgültig sollten sie niemanden lassen, der den Rechtsstaat nicht nur als eine Idee der Juristen versteht, sondern als einen wesentlichen Orientierungspunkt für das Verhalten aller innerhalb des Gemeinwesens. Wenn die Bürger, die ja nicht alle rechtskundig sein können, über die Unübersichtlichkeit und Unklarheit des Gesetzes klagen, hat es wenig Sinn, ihnen ihre Ignoranz vorzuhalten, welche die tiefere Weisheit der Regelungen nicht zu begreifen vermöge. Unverständliche Gesetze haben wenig Chancen, innerlich angenommen und aus Einsicht, nicht nur aus Furcht vor Nachteilen, befolgt zu werden. Daher lebt gerade der Rechtsstaat von der Fähigkeit, zwischen Rechtsetzenden und Rechtsunterworfenen Verständigung zu erreichen, auch wenn angesichts der oft unvermeidbaren Regelung hochspezialisierter und nur wenigen Fachleuten zugänglicher Sachfragen das verklärte Idyll früherer und einfacherer, wenn auch nicht notwendig besserer Zeiten nicht wieder erreicht werden kann. Es stimmt aber doch bedenklich, wenn nach verbreiteter Auffassung gerade derjenige Bereich des Rechts, der wie kein anderer die unmittelbare Existenz eines sehr großen Teiles der Bevölkerung betrifft, also das Gebiet des Sozialrechts, zu den kompliziertesten und inhaltlich selbst unter den Juristen nur einem kleinen Kreis Eingeweihter verständlichen Materien gehört. Auch das Steuerrecht kann selbst nach mehreren Reformen, die neben anderem eine Vereinfachung versprachen, kaum als für den Nichtfachmann durchschaubarer bezeichnet werden. Dabei greift auch die Steuer127

Zum Thema der „Normenflut" in der neueren Literatur: J. ISENSEE Mehr Recht durch weniger Gesetze?, in: Z R P 1985, 139; W. LEISNER „Gesetz wird Unsinn...", in: DVB1. 1 9 8 1 , 849; C. LENZ „Gesetzesflut" und ihre Eindämmung, in: FS Schäfer 1980, S. 66; T. MAYER-MALY Gesetzesflut und Gesetzesqualität heute, in: FS Juristische Gesellschaft Berlin, 1984, S. 423.

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

politik als wichtigstes wirtschafte- und gesellschaftspolitisches Steuermittel des modernen Staates tief in den unmittelbaren Lebensbereich weiter Bevölkerungskreise ein. 73 Die Klagen über die „Normenflut", das „Übermaß an Rechtsstaat" sind jedenfalls hinsichtlich des erheblichen Anwachsens der Geset2blätter belegbar128. Sie laufen auf die Feststellung hinaus: „In einem Jahr wird etwa soviel veröffentlicht, wie vor 100 Jahren in zehn Jahren"129. Auch wenn sich der Umfang der Gesetzesblätter auch aus der Neuverkündung mehrfach geänderter Gesetze ergibt (also einer Maßnahme, die der Rechtsklarheit und Übersichtlichkeit dient), und nicht jede Steuertabelle oder jedes Formblatt im engeren Sinne eine neue Rechtsnorm darstellt, bleibt genug an ständig neuem Stoff übrig. Die „Normenflut" ist zum Thema vieler Verbandstage geworden. Sehr gerne werden dabei Zitate aus neuen Gesetzen vorgelesen, die für den Erfindungsreichtum von Ministerialbeamten sprechen, deren tieferer Sinn und deren Erforderlichkeit sich aber selbst den Fachleuten nur mühsam erschließt. Die bei solchen Gelegenheiten entstehende Heiterkeit wird meist von dem betroffenen Bürger nicht geteilt; bei ihm entsteht eher Unmut, der leicht in Staatsverdrossenheit umschlagen kann. 74

Aber es sind nicht nur bürokratischer Übermut oder die Perfektionssucht des Gesetzgebers, die zur hochtourigen Produktion immer detaillierterer, in ihrem Inhalt gelegentlich exotischer Normen führen. Gerade die hohen Anforderungen des Rechtsstaatsgebots an den Gesetzgeber bewirken zwangsläufig immer mehr und noch weiter in die Einzelheiten gehende Gesetze. Die Ausformung des Rechtsstaatsprinzips durch die verfassungs- und verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung — so etwa der Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes — trägt zur Normenflut bei. Die Mitverantwortung des Richters, die allerdings auch nicht alles erklärt, ist zu Recht angesprochen worden130. Überspitzungen etwa des Gebots der „Verrechtlichung" bewirken immer detailliertere Regelungen, z.B. der Schulgesetze131. Die Wechselbeziehungen zwischen den Erfordernissen des Rechtsstaatsprinzips und den schädlichen Folgen jeder Übertreibung sind vielleicht noch nicht hinreichend erkannt. Die Ursachenund Motivationsforschung durch die Gesetzgebungslehre, die „Wissenschaft von der Gesetzgebung" wird — so ist zu hoffen — weitere Aufschlüsse bringen.

75

Daneben werden manche Einzelmaßnahmen zu erwägen sein. Es gibt einige praktische Vorschläge, welche bei konsequenter Befolgung das Anwachsen der Gesetzgebung immerhin bremsen könnten132. Wenn auch einige Ursachen der stei128

129 130

131

132

H i e r z u u n d z u m G e s a m t t h e m a d i e R e f e r a t e v o n K . EICHENBERGER, M . NOVAK u n d M . KLOEPFER

.auf der Trierer Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1 9 8 1 , V V D S t R L Bd. 40 (1982). H. J . VOGEL Zur Diskussion um die Normenflut, in: J Z 1979, 321. Ausführlich zu den Ursachen der „Normenflut" v o r allem ISENSEE Mehr Recht? (Fn. 127) S. 139; zur Rolle der Rechtsprechung H. SENDLER Normenflut und Richter, in: Z R P 1979, 227. Ein Beispiel hierfür ist der von der Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages erarbeitete, 1981 veröffentlichte Musterentwurfeines Landesschulgesetzes (Schule im Rechtsstaat, 1981). H. J. VOGEL Normenflut (Fn. 129) 324 f; H. MAASSEN Die Freiheit des Bürgers in einer Zeit ausufernder Gesetzgebung, in: N J W 1979, 1476 ff.

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

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genden Gesetzesflut schwer zu beseitigen sein werden, so erscheint doch die Erfolgsoder Effektivitätskontrolle, die den Gesetzgeber zu einer Korrektur veranlassen könnte, um so wichtiger 133 . Eine größere Transparenz ist ferner von einer verbesserten Gesetzestechnik und einer verständlicheren, funktionsadäquaten Gesetzessprache zu erhoffen 134 . Grundsätzlicher ist jedoch die Frage, wieweit sich aus dem „Schwund an 76 vorrechtlichen Wertvorstellungen" und dem hieraus folgenden „Schwund an ,Selbstregulierungsmechanismen'" Auswirkungen ergeben, denen mit Maßnahmen technischer Art allein nicht begegnet werden kann 135 . Aus gemeinsamen religiösen und anderen Wertvorstellungen ergaben sich früher selbstverständliche Verhaltensweisen. Sie konnten auch ohne Inanspruchnahme der Rechtsordnung durch außerrechtliche Autoritäten beeinflußt werden. Solche Orientierungspunkte sind heute weithin verloren gegangen. Die Wertordnung des Grundgesetzes und die diese ausführenden Gesetze können versuchen, in gewissem Umfange den Verlust an Orientierungshilfen zu kompensieren. Aber es ist fraglich, wie weit dies wirklich möglich ist. Gesetze sind bestenfalls problematische Ersatzregelungen. In jedem Falle ist die Folge zunächst nicht ein Weniger, sondern ein Mehr an Rechtsnormen. Auch die Behauptung, daß die Rechtsprechung durch eine immer mehr zuneh- 77 mende Zahl von Prozessen aller Art ständig stärker und oft bis an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit belastet wird, läßt sich durch Zahlen eindrucksvoll belegen 136 . Komplizierte und schwer verständliche Gesetze führen zu Prozessen, die überflüssig wären, wenn die Rechtslage deutlicher erkennbar wäre. Hierdurch und durch die mit der Auslegung unklarer Gesetze verbundene Mehrarbeit entsteht für den Richter ein höherer Zeitaufwand, der ihn der Erledigung anderer Fälle entzieht. Insofern besteht eine Wechselbeziehung zwischen Normenflut und Überlastung der Gerichte. Aber auch die Zunahme der Neigung zum Prozessieren hat wohl vor allem außerrechtliche Ursachen: Es fehlt an Orientierungshilfen, und es fehlt die früher vorhandene Möglichkeit, Konflikte unter Inanspruchnahme örtlich anerkannter, nichtstaatlicher Autoritäten zu regeln. Hierzu trägt die zunehmende Anonymität menschlichen Zusammenlebens in großen Wohnsilos bei. Vielleicht bewirkt auch die in der Industriegesellschaft antrainierte Leistungshaltung in gewissem Umfange Rechthaberei, weil Recht zu bekommen als Zeichen des Erfolges gelten mag. Es kann ein positives Zeichen sein, wenn Bürger ihre Rechte wahrnehmen, ja um ihre Rechte kämpfen 137 . Natürlich sind Gerichte für den Rechtsschutz der Bürger geschaffen; sie müssen die Belastung durch neue Prozesse hinnehmen. Aber nicht jeder Kampf, der

133

P. N O L L G e s e t z g e b u n g s l e h r e , 1 9 7 3 , S . 1 4 6 f f .

134

Hierzu NOLL Gesetzgebungslehre (Fn. 133) S. 169 ff, 202 ff, 244 ff; H. SCHNEIDER Gesetzgebung (Fn. 114) S. 247 ff.

135

H . J . VOGEL N o r m e n f l u t ( F n . 1 2 9 ) S. 3 2 2 .

136

Zur Belastung des BVerfG vgl. die statistischen Übersichten (Anlagen I ff) in E . Benda/E. Klein Verfassungsprozeßrecht (Fn. 63). Im Jahre 1991 sind die Eingangszahlen beim B V e r f G als F o l g e des Einigungsprozesses um etwa 20% gestiegen.

137

H . J . VOGEL a u f d e m R e c h t s p o l i t i s c h e n K o n g r e ß d e r S P D ,

vgl. WEHLING (Fn. 96) S. 125;

BENDA in: Benda/Klein Verfassungsprozeßrecht (Fn. 63) Rdn. 312.

E.

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

vor dem Richter geführt wird, ist notwendig und erfreulich. Jeder Richter kennt Fälle, in denen er einer Prozeßpartei Recht geben muß, aber ihr Verhalten als durchaus unerfreulich empfindet. 78 Die an anderer Stelle getroffene Feststellung, Rechtsprechung sei ein „knappes Gut"138, ist als tatsächliche Aussage, nicht als Wertung gemeint139. Es kommt nicht darauf an, wie es zu bewerten ist, wenn Bürger um das, was sie für „ihr Recht" halten, vor Gericht kämpfen. Dieses Recht ist ihnen durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet. Die potentielle Knappheit der Rechtsgewährung ergibt sich aus dem Umstand, daß Richterstellen nicht beliebig vermehrbar sind und auch aus anderen Gründen nicht immer neue Gerichte, Senate oder Kammern eingerichtet werden können. Wenn so die Kapazität an Rechtsprechung nicht grenzenlos ausgebaut werden kann, muß entweder die Intensität der Bearbeitung bei den vorhandenen Gerichten vermindert oder die Bearbeitungszeit verlängert werden. Dies führt bei gleichbleibender Zugangsquote mathematisch sicher zu einem Zustand, in dem es sinnlos wird, vor Gericht zu gehen, weil die Prozeßdauer die durchschnittliche Lebenserwartung übersteigt. Damit wird, trotz weiterbestehender Rechtsschutzgarantie, im Effekt Rechtsschutz versagt. Schon heute werden manche Prozesse wirtschaftlich sinnlos, vor allem bei den besonders belasteten Verwaltungsgerichten. Es kommt vor, daß eine zu Unrecht verweigerte Baugenehmigung, die in mehreren Instanzen eingeklagt werden muß, am Ende nichts mehr nützt, weil der Kläger angesichts der drastisch angestiegenen Baupreise einige Jahre später nicht mehr in der Lage ist, sein Bauvorhaben durchzuführen. Das gleiche gilt für den Kampf um Studienplätze im numerus-clausus-Bereich oder erst recht für investitionsaufwendige Großvorhaben. Wenn um der einigermaßen zeitgerechten Erledigung der Verfahren willen die Intensität der Fallbearbeitung vermindert wird, sinkt die Chance, ein gerechtes Ergebnis zu erzielen. Auch dies ist ein rechtsstaatswidriges Ergebnis. Eine solche Lage mag heute nicht, oder nicht allgemein, erreicht sein. Einzelne Gerichte, unter ihnen das Bundesverfassungsgericht, glauben die Grenze ihrer Möglichkeiten erreicht oder gar schon überschritten zu haben. Der Prozeß der deutschen Einigung hat die Entwicklung dramatisch verschärft. Für die betroffenen Gerichte ist es kein Trost, daß an anderen Gerichten bessere Verhältnisse herrschen. Die ihnen auferlegte Pflicht zur Rechtsgewährung bedeutet, daß sie mit einem knappen, nicht beliebig vermehrbaren Gut umgehen müssen. In solcher Lage spielt schon heute die sozialstaatlich und rechtsstaatlich naheliegende Überlegung eine Rolle, daß es im Falle knapper Ressourcen nicht richtig sein kann, Güter, die den Bedürftigen zukommen sollen, an Nichtbedürftige zu verteilen140. Dieser Gedanke ist nach gelten138

139

140

E. BENDA Richter im Rechtsstaat, in: Kurskorrekturen im Recht, Deutscher Richterbund (Hrsg.) 1980, S. 256. Hierzu kritisch R. WASSERMANN in: Frankf. Rundschau v o m 12. 12. 1979; differenzierend H. J. VOGEL in: R. Wassermann/D. Posser (Hrsg.) Von der bürgerlichen zur sozialen Rechtsordnung (1981) S. 18; Bundesjustizminister J. SCHMUDE in einer rechtspolitischen Debatte des Bundestages, BT, Sten. Ber. 9. Wp., S. 1213: „Rechtsgewährung ist zweifellos ein knappes Gut, mit dem sorgsam umgegangen werden muß". B V e r f G E 9, 20 (35).

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

755

dem Verfassungsprozeßrecht im Nichtannahmeverfahren (§ 93 b BVerfGG) berücksichtigt: Wer sinnlose, verworrene, querulatorische, Verfassungsrecht nicht berührende oder schon in ihrer Problemstellung geklärte Verfassungsbeschwerden anbringt, kann zurückgewiesen werden, weil er der Arbeit des Gerichts „nicht bedürftig" ist. Das gleiche gilt, wenn die überschlägige Prüfung ergibt, daß die Verfassungsbeschwerde entweder unzulässig ist oder keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Die verfügbare Zeit und Arbeitskraft soll denen zugute kommen, die ernsthafte und nicht aussichtslose Fragen stellen. Wieweit solche Erwägungen auf andere Gerichte übertragbar sind, mag dahin- 79 stehen. Die Klage, daß diese auch wegen geringster Beträge mit arbeitsaufwendigen Prozessen belastet werden, wird immerhin geäußert 141 . Soweit sie sich in einer schwierigen Lage befinden, werden ähnliche Selektionsverfahren unvermeidlich sein, wie sie etwa bei den Revisionsgerichten durch die verschiedenen Entlastungsgesetze bereits eingeführt worden sind. Es ist auch nicht rechtsstaatswidrig, in einigen Verfahrensarten oder für bestimmte Sachbereiche über eine angemessene Beschränkung des heute oft großzügigen Instanzenzuges nachzudenken. Diese Frage stellt sich nicht nur wegen der Entlastung der Gerichte, die ohnehin nicht beabsichtigen soll, den Richtern mehr Freizeit zu verschaffen, sondern die eine um so sorgfältigere Bearbeitung der verbleibenden Verfahren ermöglichen soll. Es ist nicht ausgemacht, daß mehrere Instanzen stets ein Mehr an Gerechtigkeit garantieren. Jedenfalls kosten sie mehr Zeit und mehr Geld, bis die endgültige Entscheidung feststeht. Der Richter, gegen dessen Urteil kein Rechtsmittel mehr gegeben ist, wird sich hierdurch nicht zur Oberflächlichkeit oder zur Willkür verleiten lassen. Eher wird sich das Bewußtsein der ihm obliegenden Verantwortung verstärken, das den Richter zu einer noch sorgfältigeren Arbeit veranlassen kann.

II. Das Sozialstaatsprinzip 1. Bisherige Ansätze zur Auslegung der Sozialstaatsklausel a) So^ialstaatsklausel

als verbindliche

Leitlinie

Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG verknüpfen das Verständnis der Bundesre- 80 publik Deutschland als eines Bundesstaates und eines Rechtsstaates mit dem Begriff des Sozialen. Die Bundesrepublik soll ein „demokratischer und sozialer Bundesstaat" und ein „sozialer Rechtsstaat" sein. Die auf die Sozialstaatlichkeit bezogenen Teile dieser Verfassungsnormen stießen zunächst nur auf geringes Interesse oder auf ein gewisses Maß von Ratlosigkeit. Anfänglich wertete die Staatsrechtslehre die (inzwischen allgemein so bezeichnete) Sozialstaatsklausel als einen „substanzlosen Blan141

Ein drastisches Beispiel in der Glosse von K . PETERS Ein Postkarten-Prozeß, in: J Z 1 9 8 1 , 205. Gegen jede Minderbewertung von „Bagatellsachen" aber O. KISSEL Minima non curat praetor, in: FS G. Müller, 1 9 8 1 , S. 860.

756

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche O r d n u n g des Grundgesetzes

kettbegriff'' 42 , also als eine nebelhafte und inhaltsleere Formel, allenfalls als ein „Programm". Ihr sei vielleicht ein politischer, aber kein rechtlicher Aussagewert beizumessen. Solche frühen Auslegungsversuche sind aber längst überwunden und bedürfen heute keiner Erörterung mehr. An die Stelle der zunächst verbreiteten Meinung, es handele sich verfassungsrechtlich um eine bedeutungslose Formel, ist die allgemeine Uberzeugung getreten, daß die Sozialstaatsklausel eine alle Staatsgewalten verpflichtende Staatsleitlinie mit normativer Verbindlichkeit darstellt; sie wird als eine „Zielbestimmung" oder „Richtlinie" der Verfassung gewertet143. Zunehmend setzte sich die Ansicht vom „Ermächtigungscharakter" der Verfassungsnorm durch, die den Staat zu sozialgestaltender Tätigkeit beauftragt144. Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurde dies frühzeitig deutlich. Schon im ersten Band heißt es: „Wenn auch die Wendung vom .sozialen Bundesstaat' nicht in den Grundrechten, sondern in Art. 20 des Grundgesetzes ... steht, so enthält sie doch ein Bekenntnis zum Sozialstaat, das bei der Auslegung des Grundgesetzes ... von entscheidender Bedeutung sein kann. Das Wesentliche zur Verwirklichung des Sozialstaates aber kann nur der Gesetzgeber tun"145. 81 Wenn auch die ursprünglichen Verständnisschwierigkeiten heute keine Rolle mehr spielen, können sie doch immer noch dazu beitragen, die Verfassungsnorm richtig zu erfassen. Es ist nützlich, sich an die Zeitumstände zu erinnern, unter denen das Grundgesetz entstanden ist. Die damalige Zeit war durch den vollständigen Zusammenbruch aller politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen gekennzeichnet. Der Wiederaufbau des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens begann 1948/49 unter heute kaum mehr vorstellbaren Schwierigkeiten. In dieser Lage mußte die Formulierung: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" (Art. 20 Abs. 2 GG) wie eine Aussage erscheinen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte. Sie konnte nur als Aufforderung auf einen erstrebenswerten, aber weit entfernten künftigen Zustand hin verstanden werden. Im Parlamentarischen Rat bestand auch weder über die wesentlichen praktisch-politischen Schritte Einigkeit, mit denen der Weg in das neue Gemeinwesen eingeleitet werden sollte, noch stimmten die Verfassungsschöpfer in ihren politisch-philosophischen Ausgangspunkten überein. Hieraus ergab sich die Neigung, insoweit Detailaussagen möglichst zu vermeiden, und das Bemühen um Formeln, denen auch von den unterschiedlichen Standpunkten her zugestimmt werden konnte. All dies mag die Annahme gefördert haben, daß das gefundene Ergebnis nur einen vagen Formelkompromiß darstelle. 82

Der historische Vorgang wird durch zwei Umstände gekennzeichnet, auf die noch zurückzukommen sein wird: den Einfluß der jeweiligen Zeitverhältnisse auf

142 143 144

145

W. GREWE Das bundesstaatliche System des G G , in: D R Z 1 9 4 9 , 351. H. P. IPSEN Über das G G , in: Forsthoff (Hrsg.) Rechtsstaatlichkeit (Fn. 2) S. 23. U. SCHEUNER in: Hundert Jahre (Fn. 4) S. 261 und viele andere. Z u r Entwicklung der Meinungen z . B . E. BENDA Industrielle Herrschaft und sozialer Staat (1966) S. 5 2 f f ; R. HERZOG in: Maunz/ Dürig G G (Fn. 4) Art. 20 (VIII) Rdn. 6 ff. B V e r f G E 1, 97 (105).

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

757

den Inhalt einer Verfassungsnorm und die Bedeutung, welche das Vorhandensein oder das Fehlen von Konsens für die Auslegung einer Norm haben kann. Zunächst ist festzuhalten: Die Sozialstaatsklausel hat, nach anfänglichen Miß- 83 Verständnissen, eine wohl auch von ihren Schöpfern nicht vorhergesehene und aus der Sicht der Verhältnisse von 1949 überraschende Kraft entwickelt. Diese wird durch die Verbindung des Sozialen mit dem Begriff des Rechtsstaates und die Einbeziehung beider in die „Ewigkeitsentscheidung" des Art. 79 Abs. 3 G G noch verstärkt. Aber auch die hiernach gegebene Unabänderlichkeit der Entscheidung erklärt die hohe Bedeutung, welche der Sozialstaatsklausel heute beigemessen wird, nur zum Teil. Sobald die Verfassung auch hinsichtlich ihrer sozialstaatlichen Aussage ernst 84 genommen wurde, ergaben sich Auslegungsschwierigkeiten: Die Wendung vom „sozialen Rechtsstaat" ist ein offener Begriff, unter dem Vieles und sehr Unterschiedliches verstanden werden kann. Hierdurch wird zwar eine wirklichkeitsnahe Verfassungsinterpretation ermöglicht, aber zugleich entsteht die Gefahr des Abgleitens des Verfassungsrechts auf die Ebene der tagespolitischen Auseinandersetzung. Das Bemühen um soziale Gerechtigkeit ist ein wesentliches Thema jeder Politik. Niemand will den Vorwurf gegen sich gelten lassen, er handele unsozial oder versäume es, der Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen. Infolgedessen behauptet jede Politik von sich, sozialstaatsgemäß zu sein. Da dies für die unterschiedlichsten Zielsetzungen in Anspruch genommen wird, entsteht die Versuchung, auch die Verfassungsnorm mit beliebigem Inhalt zu füllen; der offene Verfassungsbegriff wird zu einer vagen Formel verfremdet. Jede Zielsetzung, die durch das Bemühen um soziale Gerechtigkeit motiviert zu sein behauptet, beansprucht nicht nur politische Richtigkeit, sondern auch verfassungsrechtliche Qualität. Damit kann an die Stelle der offenen Auseinandersetzung zwischen den miteinander konkurrierenden politischen Meinungen der Verfassungsstreit treten, durch den eine Grenzüberschreitung der staatlichen Gewalten verhindert, aber nicht entschieden werden soll, welche von mehreren nach der Verfassung möglichen politischen Alternativen sinnvoller oder zweckmäßiger ist. Auf diese Gefahr ist schon frühzeitig aufmerksam gemacht worden. Das an- 85 fängliche Zögern, die normative Verbindlichkeit der Sozialstaatsklausel anzuerkennen, beruhte auch auf dem berechtigten Bemühen, das eben entstandene Grundgesetz vor Abnutzung zu bewahren. In der Weimarer Reichsverfassung und in einigen der nach 1945 entstandenen Länderverfassungen sind mitunter umfangreiche wirtschaftsund gesellschaftspolitische Programmsätze enthalten, aber konkrete rechtliche Folgerungen ließen sich aus ihnen regelmäßig nicht herleiten. Gemessen an den damals bestehenden Realitäten waren sie an bloßen Wunschvorstellungen orientierte Sozialproklamationen, die wertlos und, soweit sie unerfüllbare Hoffnungen weckten, mitunter schädlich waren. Es war gewiß berechtigt, die Wiederholung solcher Fehler zu vermeiden. Die auf derartige Erfahrungen gegründete Skepsis veranlaßte auch gegenüber 86 der Sozialstaatsklausel zu kritischer Zurückhaltung. So wurde in der „Vieldeutigkeit

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

und dem lässigen Gebrauch des Wortes ,sozial' eine wirkliche Gefahr für jedes klare Denken, jede Möglichkeit vernünftiger Diskussion vieler unserer ernstesten Probleme" gesehen146. Vor allem FORSTHOFF hat von Anfang an entschieden davor gewarnt, den durch Art. 20 GG gewährleisteten Rechtsstaat „adjektivisch zu verkleinern". Dies geschehe, wenn die Verfassung anhand vor oder hinter ihr gesuchter Wertvorstellungen ausgelegt werde und wenn moralische, metaphysische, theologische oder ähnliche Erwägungen die exakte Verfassungsauslegung ersetzten147. Aber seine Meinung, daß die Sozialstaatsklausel „doch wohl mehr oder weniger zufällig" in den nach Art. 79 Abs. 3 unveränderlichen Teil des Grundgesetzes geraten sei148, hat sich nicht durchsetzen können. Ebenso erfolglos blieb sein Versuch, den vollen Schutz der Verfassung auf die uneingeschränkte Gewährleistung des eher im klassisch-formalen Sinne verstandenen Rechtsstaates zu konzentrieren, also über das Adjektiv „sozial" hinwegzugehen. Diese Kritik eines normativen Sozialstaatsbegriffs meint, daß es sich bei dem Sozialstaat um die bloße Beschreibung der Wirklichkeit der modernen Industriegesellschaft handle. Sie sei fragwürdig, weil sie jede echte Herrschaft unmöglich mache. Vor allem müsse sie dann versagen, wenn das Sozialprodukt stagniere, der „Verteilungsstaat" also nichts mehr zu verteilen habe149. 87 Diese Befürchtung beginnt in einer Zeit, in der in den Industrienationen und auch in der Bundesrepublik Deutschland der Glaube an beständiges wirtschaftliches Wachstum erschüttert erscheint, zunehmendes Verständnis mindestens in dem Sinne zu gewinnen, daß der Sozialstaat angesichts vielfacher Knappheitserscheinungen vor seiner ersten ernsthaften Bewährungsprobe stehe. Jedenfalls ist es wohl nicht zufällig, daß neuere Schriften zu diesem Thema Titel wie „Grenzen des Sozialstaates", „Krise des Sozialstaates" oder „Der Sozialstaat an den Grenzen des Wachstums" tragen150. b) Weitere Auslegungen 88 Die Sozialstaatsklausel läßt sich mit ganz unterschiedlicher Zielrichtung ausdeuten. Den Zielen der klassischen Sozialpolitik entspricht eine Auslegung, die vor allem die Wahrung der Interessen der unteren Schichten und den Schutz der Schwachen und Hilfsbedürftigen meint. Diese Deutung wird in der politischen Programmatik aufgenommen, wenn von der „Neuen sozialen Frage" gesprochen wird: Auch hierbei wird nach den besonders des Schutzes Bedürftigen gefragt, derer sich der Staat 146

147

148 149 150

F. A . HAYEK Was ist und was heißt „sozial"?, in: A . Hunold (Hrsg.) Masse und Demokratie, 1957, S. 72. Vgl. auch H. ZACHER Das soziale Staatsziel, in: HdBStR Bd. 1, 1987, § 25 Rdn. 20; STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4) § 21 S. 891 f. E. FORSTHOFF Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, in: V V D S t R L Bd. 12 (1954) S. 14, 128. E. FORSTHOFF Zur Problematik der Verfassungsauslegung, 1 9 6 1 , S. 29 Fn. 4. E. FORSTHOFF Rechtsstaat im Wandel, 1964, S. 107. Hierzu HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 20 (VIII) Rdn. 15, 23. - Vgl. etwa A . RAUSCHER Krise des Sozialstaats?, 1977; J. HUBER Der Sozialstaat an den Grenzen des Wachstums, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B/1981; J. ISENSEE Der Sozialstaat in der Wirtschaftskrise, in: FS Broermann, 1982, S. 3 6 5 f f ; BENDA Rechtsstaat (Fn. 115); YOUNG HUH Rechtsstaatliche Grenzen der Sozialstaatlichkeit, in: Der Staat 1979, 183; ZACHER HdBStR Bd. 1 (Fn. 146) § 25 R d n . 4 8 ff, 61 ff.

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

759

vorrangig anzunehmen habe. Dies seien unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr in erster Linie die Arbeitnehmer, als vielmehr die nicht in Interessengruppen Organisierbaren, etwa die älteren Menschen, die Mütter mit Kindern oder die nicht mehr Arbeitsfähigen. Diese und andere sozial schwachen Gruppen bedürften besonderer staatlicher Aufmerksamkeit und Hilfe151. Mit „sozial" kann auch die Absage an einen egoistischen Individualismus und die Verpflichtung für das Ganze gemeint sein. Hieraus ergibt sich das Bemühen um den Ausgleich gegensätzlicher Interessen und das Prinzip der Solidarität. Beides schließt die besondere Berücksichtigung der Belange gefährdeter Personen oder Gruppen ein. Für die politische Programmatik ergibt sich aus dieser Sicht die Forderung nach einer Gesellschaftspolitik, in welcher der Einzelne seine Persönlichkeit entfalten und zugleich „als dienendes Glied der Gemeinschaft" am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben mitwirken kann152. Mit dem Wort „sozial" verbindet sich so der Blick auf das Verhältnis der Einzel- oder Gruppeninteressen zum Wohl des Ganzen. In dem Maße, in dem die Einzelbelange zurücktreten und der Zustand der 89 Gesellschaft als die wesentlichste Frage erscheint, werden bei dem Verständnis des Sozialen auch traditionelle sozialistische Gedanken mitschwingen. Aber auch eine ganz umgekehrte Sicht ist möglich. Die Aufmerksamkeit gilt dann der Situation des Individuums, das aber zugleich als soziales Wesen gesehen wird. Jeder ist auch Teil einer größeren Gemeinschaft, von der er zur Verwirklichung seiner individuellen Wünsche abhängt. Die soziale Aufgabe besteht demnach vor allem in der Sicherung individueller Freiheit. Hierfür reicht es nicht aus, einen staatsfreien Eigenraum zu schaffen. Vielmehr geht es um die soziale Chance zur gesellschaftlichen Wahrnehmung der Freiheit, also um die Teilhabe am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Erst diese Teilnahme bedeutet reale Freiheitsverwirklichung. Auch diese Deutung wird in der politischen Programmdiskussion vertreten153. Solche unterschiedlichen Auslegungen bedeuten nicht scharfe Meinungsgegen- 90 sätze, sondern eher verschiedene Ansätze und Gewichtungen. Gemeinsamer Ausgangspunkt ist dabei die Frage nach dem Verhältnis des Einzelnen zu der größeren Gemeinschaft. Auch in der wissenschaftlichen Diskussion und in der Rechtsprechung lassen sich wenigstens in Ansätzen übereinstimmende Auffassungen über die Auslegung der Sozialstaatsklausel feststellen. Die obersten Bundesgerichte haben — im Anschluß an das Bundesverfassungsgericht — die Sozialstaatsklausel als Ermächtigung und Verpflichtung des Gesetzgebers zu sozialer Aktivität aufgefaßt. Seine Aufgabe ist es, 151

152 153

So in der Mannheimer Erklärung der CDU, in: HERGT (Hrsg.) Ergänzungsband Parteiprogramme, 1975, S. 115, 140ff. — Zu den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten ZACHER HdBStR Bd. 1 (Fn. 146) § 25 Rdn. 20 f. Godesberger Programm der SPD, in: HERGT (Hrsg.) Parteiprogramme, 1975, S. 39. W. MAIHOFER in: K. H. Flach/W. Maihofer/W. Scheel (Hrsg.) Die Freiburger Thesen der Liberalen, 1972, S. 41; Freiburger Thesen der F.D.P., in HERGT Parteiprogramme (Fn. 152) S. 212.

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

eine gerechte Sozialordnung zu schaffen. Das Bundesarbeitsgericht sieht im Sozialstaatsprinzip ein normatives Bekenntnis zum Sozialstaat, das bei der Auslegung des Grundgesetzes und anderer Gesetze von entscheidender Bedeutung sei; vor allem solle die freie Entfaltung der Persönlichkeit des sozial Schwächeren geschützt werden154. Das Bundessozialgericht versteht die Sozialstaatsklausel nicht nur als programmatische Forderung, sondern als Ermächtigungsauftrag an den Gesetzgeber zur Gestaltung der Sozialordnung, der auf die Herstellung und Wahrung sozialer Gerechtigkeit und auf die Beseitigung sozialer Bedürftigkeit gerichtet sei155. Dabei habe der Gesetzgeber gerade im Rahmen der Leistungsverwaltung einen erheblichen Entscheidungsspielraum 156 . Nur in Ausnahmefällen läßt sich aus der Verpflichtung des Gesetzgebers zu sozialer Aktivität ein unmittelbar einklagbarer oder mit der Verfassungsbeschwerde zu wahrender Rechtsanspruch herleiten 157 . Jeder Bürger muß schon um seiner Menschenwürde willen jedenfalls über das Existenzminimum verfügen können. Fehlt dieses, so kann er unter Berufung auf Art. 1 Abs. 1 GG staatliche Hilfe verlangen. Die Befreiung von äußerster Not gehört in gleicher Weise wie der Schutz vor staatlicher Willkür zur Bewahrung menschlicher Würde158. In gleicher Weise läßt sich, wie zuerst das Bundesverwaltungsgericht ausgesprochen hat159, ein solcher Anspruch auch auf die sozialstaatliche Verpflichtung des Staates stützen. Heute besteht hierüber Einigkeit. Die staatliche Gesetzgebung hat dem seit langem, insbesondere durch das Bundessozialhilfegesetz, Rechnung getragen. Das Bundesverwaltungsgericht hat später das Sozialstaatsprinzip als Auslegungsregel in Verbindung mit der Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde herangezogen, ohne daß diese Forderung dem Grundsatz der Subsidiarität staatlicher Hilfeleistung widerspreche 160 . Allerdings ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine gewisse Zurückhaltung bei der inhaltlichen Anwendung der Sozialstaatsklausel zu erkennen; in einer abweichenden Meinung ist nicht zu Unrecht „eine gewisse Scheu, diesen Grundsatz für die verfassungsrechtliche Prüfung fruchtbar zu machen", bemerkt worden 161 . c) Notwendige

Verbindung von Rechtsstaat und So^ialstaat

91 Die zunächst geäußerte Auffassung, Rechtsstaat und Sozialstaat seien ihrem Wesen nach miteinander nicht vereinbar und daher verfassungsrechtlich nicht vollziehbar, wird heute ganz überwiegend nicht mehr geteilt. Die Verfassung verbindet beides 154

155 156 157

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159 160 161

B A G E 8, 1 (10); E. BENDA Die Sozialstaatsklausel in der Rechtsprechung des B A G und des BVerfG, in: R d A 1979, 1. B S G E 6, 2 1 3 (219). B S G N J W 1970, 351; E. BENDA B S G und Sozialstaatsklausel, in: N J W 1979, 1001. B V e r f G E 1, 97 (104); HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 20 (VIII) Rdn. 28; STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4) S. 914, 935. G. DÜRIG Verfassung und Verwaltung im Wohlfahrtsstaat, in: J Z 1953, 198; ZACHER HdBStR Bd. 1 (Fn. 146) § 25 Rdn. 27; sehr viel enger aber B V e r f G E 1, 97 (104); vgl. oben § 6 Rdn. 18. B V e r w G E 1, 159 (161). B V e r w G E 23, 149 (153). B V e r f G E 36, 237 (247 ff).

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Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

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mit der Wendung vom „sozialen Rechtsstaat". Damit kann nicht ein Rechtsstaat gemeint sein, der vorrangig die Sicherung der individuellen Freiheit meint, aber an der Erfüllung dieser Aufgabe durch die zusätzliche Verpflichtung behindert wird, auch sozial sein zu müssen. Ebensowenig ist ein Wohlfahrts- oder Versorgungsstaat gewollt, der sich jedoch nicht voll entfalten kann, weil seiner Vollendung die zum Schutz der Freiheit des Einzelnen gesetzten Schranken entgegenstehen. Es geht weder um einen wegen rechtsstaatlicher Sicherungen willen unvollkommenen Sozialstaat noch umgekehrt um einen durch sozialstaatliche Gebote geminderten Rechtsstaat. Anzustreben ist vielmehr die Verbindung zweier zunächst entgegengesetzt wirkender Begriffe, also die Einheit von Rechtsstaat und Sozialstaat 162 . Hierdurch ist allerdings nur die Richtung angedeutet, in welche die rechtliche 92 Interpretation zu gehen hat, ohne daß schon konkrete Antworten gefunden wären. Als wichtigstes Problem bleibt die Bedeutungsvielfalt des Wortes „sozial" und die sich hieraus ergebende Versuchung, den Begriff mit beliebigen Bedeutungsinhalten auszufüllen. 2. Die Funktion der Sozialstaatsklausel a) Die so^ialordnende Gestaltungsaufgabe

des Staates

Eine verfassungsrechtliche Aussage, aus der sich der Auftrag zur Gestaltung des 93 sozialen Lebens entnehmen läßt, setzt die Erkenntnis voraus, daß sich das allgemeine Beste nicht von selbst ergibt. Im Lichte der heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit ist dies selbstverständlich. 94 Jeder Bereich des sozialen Lebens wird in größerem oder geringerem Umfange durch staatliche Aktivitäten beeinflußt. Die materielle Existenz aller hängt weitgehend auch von den gewollten, den in Kauf genommenen oder den unvermeidbaren Folgen staatlicher Politik ab. Unmittelbar einsichtig ist dies auf den Gebieten der klassischen Sozialpolitik, der Wirtschafts- und Strukturpolitik oder den anderen Feldern der Innenpolitik. Aber auch außenpolitische Vorgänge, wie etwa außenwirtschaftliche Maßnahmen oder die Zielsetzungen der Entwicklungshilfe, haben Auswirkungen für die individuelle Existenz. Jede staatliche Tätigkeit muß durch Steuern oder andere Geldleistungen des Bürgers finanziert werden; hieraus ergibt sich ein weiterer Bezug zwischen politischen Entscheidungen und individuellen Interessen. Umgekehrt reichen individuelle Begabung und Leistung oft allein nicht mehr aus, um die selbstgesetzten Lebensziele zu erreichen. Es bedarf staatlicher Unterstützung, oft auch staatlicher Einrichtungen, um etwa die verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit realisieren zu können, einen bestimmten Beruf zu ergreifen und die hierfür notwendige Ausbildung zu erlangen 163 . Auch kulturelle Bedürfnisse können vielfach nur befriedigt werden, wenn der Staat selbst die entsprechenden Einrichtungen schafft oder private Initiativen mindestens durch steuerliche Vergünstigungen fördert. 162 163

HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 20 (VIII) Rdn. 29 ff. Dies betont die numerus-clausus-Rechtsprechung des BVerfG, so vor allem BVerfGE 33, 303 (331 f).

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Daher wird das Verlangen des Bürgers, an den die Erfüllung solcher Einzel- oder Gruppeninteressen fördernden staatlichen Bemühungen teilzuhaben, also einen angemessenen Teil hiervon für sich zu erlangen, ebenso wichtig wie der Wunsch, in der eigenen individuellen Lebensgestaltung vor staatlichen Eingriffen geschützt zu sein. Es gehört zu den wichtigsten Fragen einer zeitgerechten Auslegung des Grundgesetzes, ob und wieweit sich der Grundrechtsschutz über die Sicherung eines Freiheitsraumes hinaus auch in Form eines Teilhaberechts an staatlichen Leistungen auswirkt (vgl. hierzu oben § 5 Rdn. 28 — 30). Die Gestaltungsaufgabe des Staates ergibt sich aber nicht nur aus diesen faktischen Wechselbeziehungen zwischen Staat und Bürger. Hinzu kommt, daß der frühere Glaube daran erschüttert ist, daß sich ein Zustand sozialer Harmonie dann von selbst ergeben werde, wenn nur den vielen miteinander konkurrierenden gesellschaftlichen Kräften ein möglichst weiter Raum zu freier Gestaltung überlassen werde. Nach heutiger Meinung bedürfen solche Interessen des Ausgleichs durch eine Autorität, die nur der Staat selbst hervorbringen kann164. 95 Dies bedeutet nicht, oder jedenfalls nicht stets, das Recht oder die Pflicht zu massiver Intervention. Die Gestaltung in Freiheit verdient den Vorrang, wenn ihr nicht wichtige Gemeinwohlbelange entgegenstehen. Die Verfassung erkennt auch die Macht nichtstaatlicher organisierter Interessenvertretungen an. Die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) wird auch auf das Risiko hin gewährleistet, daß sich in einem auch für den Staat besonders wichtigen Bereich Konflikte ergeben, die zu Verlusten von Gütern führen können, die für die Allgemeinheit wesentlich sind. Allerdings sollen auch hier ein Mindestmaß an Ordnung, die Einhaltung der Spielregeln und der Schutz überragender Gemeinschaftsinteressen gewahrt werden165. 96

Stets besteht die Aufgabe des Staates, die innere und äußere Sicherheit als elementare Ordnungsfaktoren zu gewährleisten. Ob eine solche Ordnung, zu der auch die friedenstiftende Funktion der Rechtspflege gehört, besteht oder fehlt, stellt schon für sich eine ganz wesentliche Bedingung für die freie Entwicklung individueller oder organisierter Privatinteressen dar. Bereits der Entschluß, keine Ausübung privater Gewalt zu dulden und Sicherheit und Ordnung zu erzwingen, bedeutet eine Absage an radikale Freiheitsvorstellungen. Daher kann auch eine liberalistische Vorstellung vom Staat nicht das Prinzip der Intervention bestreiten, sondern nur darauf drängen, daß sich der Staat so weit zurückhält, wie dies möglich ist. Die Ausübung wirtschaftlicher und sozialer Macht kann ebenso nachhaltige Wirkungen haben wie die Anwendung physischer Gewalt. Wenn dies einmal anerkannt ist, darf sich der Staat nicht an solchen Vorgängen desinteressiert zeigen, sondern muß erforderlichenfalls eingreifen. 164

DÜRIG Wohlfahrtsstaat (Fn. 158) S. 196; H. P. BULL Die Staatsaufgaben nach dem G G , 2. A u f l . 1977, S. 85. Zum „Direktivcharakter" der Sozialstaatsklausel STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4) S. 887 f, 9 1 0 f; zur sozialgeschichtlichen Entwicklung BÄUMLIN/RIDDER A K - G G (Fn. 3) Art. 20 Abs. 1 - 3 IV Rdn. 22, 37, 39, 54.

165

B U L L S t a a t s a u f g a b e n (Fn. 1 6 4 ) S. 8 4 .

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Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

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Die Sozialstaatsklausel soll aber nicht nur die heute selbstverständliche Aufgabe 97 jedes Staates bekräftigen, die notwendigen Mindestbedingungen dafür herzustellen, daß sich das Leben frei von Gewalt entwickeln kann. Staatsaufgaben wie die Verantwortung für die innere und äußere Sicherheit, die Bereitstellung von Verhaltensregeln für den privaten Rechtsverkehr oder die Schaffung streitentscheidender Instanzen bedürfen keiner zusätzlichen verfassungsrechtlichen Legitimation, sondern sind im wesentlichen schon durch die Entscheidung für den Rechtsstaat gerechtfertigt. Neu ist hingegen das Bewußtsein der Mitverantwortung für die sozialen Zu- 98 stände der Gesellschaft. Früher wurde erwartet, daß sich die gesellschaftlichen Fragen im freien Spiel der Kräfte von selbst beantworteten. Soweit Mißstände blieben, wurde dies in Kauf genommen, weil die Erhaltung der Freiheit wichtiger erschien. So kann ein Staat, der für die gesellschaftlichen Zustände mitverantwortlich und mitzuständig ist, nicht mehr verfahren. Er ist verpflichtet und berechtigt, auf dem Gebiet der Sozialordnung gestalterisch tätig zu werden 166 . b) Zur Auslegung tragender

Verfassungsprin^ipien

Wie das Rechtsstaatsprinzip gehört auch die Sozialstaatsklausel zu den in Art. 20 99 GG enthaltenen tragenden Verfassungsprinzipien, die zusammen mit der Grundnorm des Schutzes der Menschenwürde (Art. 1 GG) nach Art. 79 Abs. 3 GG den Kernbestand der Verfassungsordnung ausmachen. Da bei ihnen Änderungen nicht möglich sind, müßte eine allzu enge Auslegung und Anwendung solcher oberster Normen bei krisenhaften Entwicklungen im politischen oder gesellschaftlichen Bereich und angesichts der hiermit verbundenen Polarisierung der Meinungen zu unerträglichen Belastungen führen. Aufgabe der Verfassung ist es auch, gerade unter schwierigen Verhältnissen noch ein Mindestmaß an gemeinsamen Auffassungen zu sichern. Wenn die wichtigsten Verfassungsgrundsätze einseitig in Anspruch genommen würden, müßten sich die aus gefährlicher Lage entstehenden politischen oder sozialen Spannungen auf die Verfassung übertragen. Für die Auslegung und Anwendung der Sozialstaatsklausel wie auch der anderen 100 tragenden Verfassungsgrundsätze, so auch des Rechtsstaatsprinzips, folgt hieraus: aa) Die Offenheit des Verfassungsbegriffs soll ermöglichen, daß in ihm alle nach der Verfassungsordnung überhaupt vertretbaren Auffassungen einen Platz finden, sich von ihm angesprochen und in ihm geborgen fühlen können. Dies schließt das Bemühen um eine inhaltliche Konkretisierung nicht aus. Sie ist anzustreben, damit nicht eine vage Leerformel bleibt, mit der praktisch nichts anzufangen ist. Jede Auslegung, die eine solche Konkretisierung bewirken soll, setzt aber ein möglichst großes Maß an Konsens voraus. Demokratie ist auf die Vielfalt der Meinungen angewiesen, zugleich aber auf Konsens in den Grundfragen. Die Sozialstaatsklausel wie die anderen Grundprinzipien der Verfassung dienen auch dazu, eine solche Ubereinstimmung zu fördern. Wenn dieser Konsens besteht, lassen sich auch 166

B V e r f G E 1 , 9 7 ( 1 0 5 ) ; HESSE V e r f a s s u n g s r e c h t ( F n . 5 6 ) R d n . 2 1 0 f f .

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

aus einer Staatszielbestimmung wie der Sozialstaatsklausel konkrete inhaltliche Ableitungen entnehmen. Soweit dieser Konsens fehlt, ist eine einseitige Inanspruchnahme der Verfassungsnorm für einen der gegensätzlichen Standpunkte abzulehnen. bb) Was nach Art. 79 Abs. 3 GG unverändert bleiben soll, muß fähig sein, auch im Wandel der Verhältnisse beständig zu bleiben. Dies setzt nicht Starrheit, sondern Elastizität voraus. Die in der Verfassung geschützten obersten Werte werden stets gefährdet sein; aber Art und Richtung der Gefährdung werden im Wandel der Verhältnisse wechseln. Hiergegen schützt nur eine Verteidigung, die sich auf die je spezifischen Probleme der Zeit einzustellen vermag. Die Sozialstaatsklausel ist auf den realen Zustand der Gesellschaft bezogen; sie kann daher nicht eine abstrakte Vorstellung irgendwelcher Bedürfnisse meinen, sondern nur die konkreten, in einer Zeit raschen sozialen Wandels sich immer neu ergebenden Verhältnisse. So wird die Auslegung der Verfassungsnorm nicht stets zu gleichen Ergebnissen führen können, sondern auch von den Verhältnissen der Zeit abhängen. Das Streben nach zeitgemäßer Anwendung setzt aber wiederum voraus, daß hierüber ein möglichst weitgehender Konsens besteht. Fehlt dieser, so reicht der Hinweis auf veränderte Verhältnisse nicht aus, sondern kann die Gefahr einer beliebigen Inanspruchnahme des Verfassungsrechts für einseitige Zielsetzungen bewirken. cc) Aus der Offenheit des Verfassungsbegriffs ergibt sich auch die Möglichkeit einer Auslegung, in der das natürliche Spannungsverhältnis zu anderen Grundentscheidungen und Grundwerten der Verfassung im Sinne wechselseitiger Rücksichtnahme und größtmöglicher Konkordanz gelöst wird167. Die Spannungslage zwischen Rechtsstaat und Sozialstaat, die zwischen individueller Freiheitsentfaltung und der Gefahr sozialstaatlich motivierter Bevormundung entstehende Spannung, auch die Dialektik von Solidarität und Subsidiarität lassen sich nur dann mildern, wenn man dem Sozialstaatsprinzip keine einseitige, rigorose und unwiderrufliche Interpretation zugrunde legt. c) Kein absoluter Wahrheitsanspruch, sondern Versöhnungspro^eß 101 Wenn der Staat seinen freiheitlichen Charakter behalten will, kann er Wertvorstellungen und Ideale, die im gesellschaftlichen Bereich gefährdet sind oder verloren gehen, nicht von Amts wegen erzwingen oder ersetzen. Im Gegensatz zu totalitären Staatsordnungen verwaltet der pluralistische Staat keine ewigen irdischen Wahrheiten. Die Aufgabe, Wertordnungen und Ziele zu setzen und ihre Verwirklichung anzustreben, liegt bei dem Einzelnen und bei den gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen. 102

Der parlamentarischen Demokratie ist ein absoluter Wahrheitsanspruch fremd. Die Auseinandersetzung der Meinungen und Ideen wird nicht lediglich in Kauf genommen, weil anders die Freiheit nicht erhalten bliebe; vielmehr wird sie ganz bewußt gesucht. Nur so kann der Reichtum alternativer Vorstellungen zutage treten. 167

Zu Begriff und Bedeutung der „praktischen Konkordanz" HESSE Verfassungsrecht (Fn. 56) Rdn. 3 1 7 ff.

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Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

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Es besteht die Hoffnung, daß in dem Prozeß einer ständigen geistigen Auseinandersetzung in den Formen des Parlamentarismus sich jedenfalls auf längere Sicht die relativ richtige Antwort durchsetzen wird. Da auch Situationen entstehen können, die schnelle Antworten erfordern, wird die Langsamkeit dieser Methode leicht als Schwäche der Demokratie empfunden. Nach der Überzeugung, welche die freiheitliche und demokratische Grundordnung trägt, ist aber der ständige Prozeß der Meinungsbildung auf längere Sicht jeder totalitären Staatsordnung überlegen. Indessen ist der Staat von einer Mitverantwortung für diejenigen Grundwerte 103 nicht frei, die sein eigenes Handeln und das Verhalten seiner Bürger gegenüber dem Staat bestimmen. Jede Rechtsordnung setzt die Existenz eines Mindestmaßes gemeinsamer Wertvorstellungen voraus. Auch eine pluralistische Gesellschaft muß sich auf fundamentale Wertungen einigen können, wenn sie nicht zerrissen werden soll. Wenn die früher gemeinsamen Glaubens- oder Weltanschauungsüberzeugungen schwinden oder die Gemeinschaften, die durch solche Uberzeugungen verbunden sind, ihre das Verhalten der Bürger prägende Kraft verlieren, stellt sich die Frage an die staatliche Verfassung, ob und wie sie eine Integrationsaufgabe erfüllen kann. Das Grundgesetz will keine wertneutrale Ordnung sein168. Hierin liegt kein 104 Widerspruch zu dem in einer freiheitlichen Ordnung gebotenen Verzicht auf eine Staatsideologie. Die Verfassung erfüllt eine grundlegende soziale Funktion, wenn sie sich als Instrument der Integration versteht, es also unternimmt, die unterschiedlichen Wertvorstellungen der in der Gesellschaft vertretenen Gruppen zusammenzuführen und zusammenzuhalten. Die Wertordnung des Grundgesetzes ist nicht Staatsreligion oder Religionser- 105 satz, sondern Ausdruck des Bemühens, auf der Ebene der Rechtsordnung einen Versöhnungsprozeß einzuleiten und immer neu zu ermöglichen, also die gegensätzlichen sozialen Energien in friedliche Anpassungen umzuformen. Dabei werden die bestehenden unterschiedlichen Auffassungen und Wertvorstellungen und auch die oft gegensätzlichen Interessen der verschiedenen sozialen Gruppen weder übersehen noch verharmlost. Sie werden vielmehr als Gegebenheiten zugrundegelegt; aber zugleich wird die Funktion des Rechts und zumal der Verfassung als Versöhnungsprozeß gesehen, also als integrierende, stabilisierende und friedliche Anpassung. Der Begriff des Sozialen nimmt beides auf: Dem gesellschaftlichen Leben ist 106 das Vorhandensein unterschiedlicher, oft gegeneinander stehender Interessen immanent. Es besteht die Möglichkeit von Konflikten, aus denen sich Positionen der Macht und der Schwäche ergeben. Hieraus folgt die Notwendigkeit von Machtkontrolle auf der einen, der aktiven Sorge für die besonders Hilfsbedürftigen auf der anderen Seite. Zugleich weist der Begriff des Sozialen auf die unaufhebbare Verknüpfung der Interessen aller und die gegenseitige Abhängigkeit voneinander, also auf die Notwendigkeit des Ausgleichs. Für die Verfassung, die den sozialen Rechtsstaat als Zielbestimmung aufnimmt, entsteht damit der Auftrag, in der Auseinandersetzung die Befriedung zu suchen169. 168

B V e r f G E 21, 362 (371 f); 48, 127 (168).

169

HESSE V e r f a s s u n g s r e c h t ( F n . 5 6 ) R d n . 2 1 0 .

766

107

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

In dieser Sicht ist es nicht zufällig, daß der soziale Staat, dem dieser Auftrag gegeben ist, zugleich ein Rechtsstaat sein soll. Hieraus ergibt sich: Die Erfüllung der sozialstaatlichen Aufgaben soll in vollem Umfang unter den Geboten des Rechtsstaates stehen170, und darüber hinaus: Die Aufgabe der Integration obliegt dem Recht und in erster Linie der Verfassung171. d) Keine Kampfansage an die bestehende Ordnung

108 Die Sozialstaatsklausel wird vor allem in der politischen Diskussion nicht als Beschreibung des Selbstverständnisses eines modernen Staates, sondern als Programm und verpflichtende Aufgabenstellung für die Zukunft verstanden. Bestimmte Wünsche sollen verwirklicht werden, damit der Sozialstaat nicht nur ,auf dem Papier steht', sondern auch real durchgesetzt wird. So kann jeder wünschenswerte soziale Fortschritt, überhaupt jede sozial motivierte, noch nicht verwirklichte Forderung als ein Stück in der Verfassung versprochener, aber noch nicht eingelöster Sozialstaatlichkeit verstanden werden. 109 Solche Tendenzen werden durch die Bedeutungsvielfalt des Wortes „sozial" gefördert. Dabei läßt sich nahezu jede politisch erwünschte Entscheidung als eine von der Verfassung geforderte, also eigentlich unabweisbare Maßnahme hinstellen. Wenn dies richtig wäre, bliebe dem Gesetzgeber nicht mehr die Freiheit der Wahl zwischen Alternativen. Wenn mehrere Vorschläge vorliegen, die alle in gleicher Weise behaupten, die Erfüllung eines Stücks Sozialstaatlichkeit darzustellen, dann ist die Auswahl der richtigen Entscheidung nicht mehr Sache der politischen Dezision, sondern eine Aufgabe der Rechtsfindung. Vor den Gefahren einer so extensiven Auslegung des Sozialstaatsprinzips ist mit Recht gewarnt worden. Die eigene politische Überzeugung mag die eine oder andere sozialpolitische Maßnahme für besonders wichtig oder sogar für unabweisbar halten und davon ausgehen, daß so dem Ideal des sozialen Staates am ehesten entsprochen werde. Aber es kann regelmäßig nicht behauptet werden, daß es zu dem jeweiligen Lösungsvorschlag überhaupt keine verfassungsrechtlich mögliche Alternative gebe172. Welche Meinung die „richtige" ist, muß politisch entschieden werden. Dagegen kann nicht gesagt werden, wer im verfassungsrechtlichen Sinn „im Recht" ist. Das Grundgesetz enthält kein Programm konkreter Forderungen an die Gesetzgebung; sie überläßt es der eigenverantwortlichen, die sozialen Bedingungen und Bedürfnisse der Zeit berücksichtigenden Gestaltung durch politische Entscheidung, wie die durch das Sozialstaatsprinzip gestellte Aufgabe jeweils erfüllt wird173. 110 Die Sozialstaatsklausel bescheinigt der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht ihre immanente Gerechtigkeit. Sie ist aber auch nicht als eine polemische Kampfansage gegen diese Ordnung zu verstehen. 170 171 172

173

HESSE Verfassungsrecht (Fn. 56) Rdn. 214. BENDA Sozialer Wandel (Fn. 115) S. 507 ff. Zur Unterscheidung zwischen diesem politischen und dem verfassungsrechtlichen Begriff des Sozialstaats HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 20 (VIII) Rdn. 24 f. HESSE Verfassungsrecht (Fn. 56) Rdn. 215; HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 20 (VIII) Rdn. 25; STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4) S. 913; B V e r f G E 18, 2 5 7 (267, 273); 65, 182 (193).

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

767

Eine Auseinandersetzung mit der Meinung, welche schon die „Sozialstaatsillusion" bekämpft, sich also gegen die Grundüberzeugung wendet, daß mit den Mitteln einer rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassung überhaupt soziale Reformen bewirkt werden können, kann unterbleiben. Diese Auffassung stellt das System selbst, nicht seine Ausgestaltung im einzelnen in Frage. Andere Vorstellungen gehen davon aus, daß der gesellschaftliche status quo grundlegender Änderungen bedürfe; sie halten dies aber auf dem Boden des Grundgesetzes für möglich und für geboten. So meint das „Alternativmodell" zum „herrschenden Sozialstaatsverständnis", das H A R T W I C H entwickelt hat174, es sei sozialstaatlich geboten, nicht nur die Folgen, sondern die Ursachen der sich ständig neu produzierenden Ungleichheiten in der Gesellschaft zu beseitigen. Dies erfordere (um die von ihm selbst als die wichtigsten Elemente bezeichneten Ziele zusammenzufassen175) die „formelle Aufhebung der gegebenen Wirtschaftsordnung durch Sozialisierung", die „Herausarbeitung eines ,realen' Freiheitsbegriffs" und die „umfassende Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft". Ein so umgestaltetes Gemeinwesen wäre aber nicht ein sozialer, sondern ein sozialistischer Staat176. Auch Art. 15 GG gibt nur unter bestimmten Voraussetzungen und in begrenztem Umfang die Möglichkeit zu einer gemeinwirtschaftlichen Umgestaltung der Wirtschaft. Aus ihm ergibt sich nicht etwa eine Rechtspflicht zu umfassender Sozialisierung177. Abgesehen von der Frage, wieweit das geltende Verfassungsrecht (insbesondere die Grundrechte) der Verwirklichung derartiger Wünsche entgegenstehen, können solche Vorschläge als Beitrag zur politischen Diskussion, nicht aber als Definition des Inhalts der Sozialstaatsklausel verstanden werden. Alle Bemühungen, aus der Sozialstaatsklausel eine rechtlich beachtliche „fort- 111 schrittliche Schubkraft" abzuleiten178, setzen Einigkeit darüber voraus, in welche Richtung die gesellschaftliche Entwicklung gehen soll. Der Verfassung wird hierdurch eine politische Programmatik untergeschoben, die, wie eine Einbahnstraße, den Weg nur in eine Richtung freigibt. Das Grundgesetz entscheidet aber nicht, was sozial „fortschrittlich" und was „reaktionär" ist. Diese Frage soll jeder nach seiner eigenen Überzeugung entscheiden. Ebenso fragwürdig ist die Meinung, die Sozialstaatsklausel habe die Aufgabe, die Entwicklung zur „sozialen Demokratie" offenzuhalten, damit diese in dem Maß verwirklicht werden könne, welches die jeweiligen parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse ermöglichen179. Hiernach ist das Ziel fixiert. Der Gesetzgeber darf sich lediglich insoweit Zeit lassen, als die erforderlichen

174

HARTWICH Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo (1970); ähnlich BÄUMLIN/RIDDER Art. 2 0 (Fn. 3), I V Rdn. 37. Hierzu und zu anderen Konzepten der „Wirtschaftsdemokratie" ZACHER Soziales Staatsziel (Fn. 146), Rdn. 91; STERN Staatsrecht (Fn. 4), § 21 S. 881 f.

175

HARTWICH S o z i a l s t a a t s p o s t u l a t (Fn. 1 7 4 ) , S. 3 4 4 f f .

176

BULL S t a a t s a u f g a b e n ( F n . 1 6 4 ) , S. 1 8 0 .

177

B V e r f G E 12, 354 (363 f). H. RIDDER in: Mück (Hrsg.) Verfassungsrecht. Bad Wildunger Beiträge zur Gemeinschaftskunde, Bd. 5, 1975, S. 125. W. ABENDROTH Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates, in: H. Sultan/W. Abendroth (Hrsg.) Bürokratischer Verwaltungsstaat und soziale Demokratie, 1 9 5 5 , S. 99.

178

179

768

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

parlamentarischen Mehrheiten noch fehlen. Das an sich Notwendige und Unausweichliche muß nicht sofort, aber doch so bald wie möglich getan werden. Auch diese Meinung verengt die Freiheit politischer Auseinandersetzung und nimmt eine Verfassungsnorm, die für verschiedene Auffassungen von sozialer Gerechtigkeit offen ist, für die eigene Überzeugung in Beschlag. e) So^ialstaatsklausel

als „zukunftsorientierter

Rechtsbegriff'

112 Konsensbezogenheit und Wandlungsfähigkeit der tragenden Verfassungsprinzipien sind wesentliche Voraussetzungen dafür, daß sie ihre Wirkung auch im Wandel der Verhältnisse bewahren können. Für die Sozialstaatsklausel hat sich ein erhebliches Maß an Offenheit und Flexibilität ergeben, welches diese Voraussetzungen erfüllt. Wenn sich aus ihr nur in einem schmalen Bereich unmittelbar inhaltliche Antworten entnehmen lassen, ist dies nur auf den ersten Blick ein Nachteil. Der Verfassungsauftrag besteht. Es liegt nicht im Belieben der parlamentarischen Mehrheit, ob sein Vollzug erfolgt oder unterbleibt. Aber die Details dessen, was zu geschehen hat, sind nicht so weit festgelegt, daß für die Suche nach der besten Alternative kein Raum mehr verbleibt. 113

Die Sozialstaatsklausel bietet nur in wenigen Punkten inhaltliche Lösungen an. Im übrigen legt sie die Aufgabe und Legitimation des Staates fest, im Ausgleich der beteiligten Interessen soziale Gerechtigkeit herzustellen. Diese Beschränkung entspricht einer realistischen Sicht der vielfältigen, komplexen, immer neuen und oft nicht vorhersehbaren Probleme, mit denen heute und in Zukunft zu rechnen ist. So wird nicht ein für allemal fixiert, was in der Lebenswirklichkeit zugleich unter den Gesetzen der Beständigkeit und denen des Wandels steht: Das Bemühen um Sicherung einer eigenen Existenz, das Zusammentreffen unterschiedlicher Interessen und die Wechselbeziehungen zwischen staatlichem und gesellschaftlichem Bereich sind immer neu entstehende, insofern auch beständige Problemkreise; aber die Umstände, unter denen Konflikte entstehen, die Art, in der sie ausgetragen werden, und die Möglichkeiten, sie zu bewältigen, unterliegen ständigem Wandel. Was hierzu der Staat beizutragen hat, der verfassungsrechtlich zu eigener Aktivität verpflichtet ist, bedarf dauernder Neubestimmung und -besinnung.

114

Die Sozialstaatsklausel ist als der „Prototyp des zukunftsorientierten Rechtsbegriffs" bezeichnet worden 180 , also als eine Verfassungsnorm, die den sich ändernden Verhältnissen gerecht werden kann, ohne hierbei die Orientierung auf das Ziel zu verlieren. Bewirkt werden soll ein möglichst hohes Maß an sozialer Gerechtigkeit. Was aber sozial ist, kann im Wandel der Zeit unterschiedlich beurteilt werden, läßt sich also nicht ein für allemal inhaltlich festlegen. Auch der — durch Art. 14 Abs. 2 G G mit dem Sozialen in Verbindung gebrachte — Eigentumsbegriff ist nicht starr, sondern wird von den bestehenden Verhältnissen und vorherrschenden Auffassungen beeinflußt. 180

G. ERBEL Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, 1971, S. 198; ähnlich ZACHER HdBStR Bd. 1 (Fn. 146) § 25 Rdn. 66: Sozialstaat als Prozeß.

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

769

Erst recht darf der stets vielen Ausdeutungen zugängliche Begriff des Sozialen 115 nicht losgelöst von der Wirklichkeit und den in ihr entwickelten Meinungen verstanden werden. Hierbei ist bedeutsam, ob sich eine breite Übereinstimmung der Auffassungen erzielen läßt. Minderheitspositionen können im Laufe der Zeit allgemeine Zustimmung erreichen, wie umgekehrt bisher mehrheitlich akzeptierte Auffassungen allmählich zurückgedrängt werden können. Erst ein vorhandener oder sich mit der Zeit ergebender Konsens kann soziale Institutionen verfassungsfest machen. Der parlamentarischen Mehrheit ist es nicht verwehrt, sich im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen (also vor allem ohne Beeinträchtigung von Grundrechten) für Reformen einzusetzen, die sie als sozialstaatsgemäß empfindet. Aber die politisch beschlossenen Regelungen können den Schutz der Sozialstaatsklausel nur dann beanspruchen, wenn sie sich wirklich durchgesetzt haben, also nicht mehr umstritten sind. Dies gilt etwa für die seit langer Zeit eingeführten Systeme der Alters-, Unfall- und Krankenversicherung181. Wenn so ein rechtlicher Bestandsschutz erreicht ist, kann er allerdings nicht ohne weiteres wieder in Frage gestellt werden. Vielmehr muß sich ein neuer Konsens darüber bilden, daß eine früher allgemein anerkannte Regelung etwa wegen wesentlich veränderter Umstände nunmehr problematisch geworden ist. Nach diesem Verständnis ist die Sozialstaatsklausel als eine Staatszielbestimmung 116 aufzufassen, die den Gesetzgeber zu sozialgestaltender Tätigkeit verpflichtet und berechtigt. Seine Aufgabe ist vorab auf die Sicherung des Existenzminimums für jedermann gerichtet. Darüber hinaus ist immer neu eine gerechte soziale Ordnung anzustreben und das Verhältnis des Einzelnen und der sozialen Gruppen zu den Belangen der Allgemeinheit stets erneut zu definieren, ohne daß die Verfassungsnorm hierüber eine starre inhaltliche Aussage treffen will. Für Gerichte und Verwaltung ergibt sich hieraus bei der Anwendung geltenden Rechts eine wesentliche Auslegungsregel182. Für die politische Entscheidung liegt die wesentliche Bedeutung der Sozialstaatsklausel nicht in inhaltlichen Festlegungen, sondern im Bereich des Methodischen: Indem von ihr nur das geschützt wird, was allgemeiner Uberzeugung entspricht und sich auch im Wandel der Verhältnisse zu bewähren vermag, werden Konsens und Anpassungsfähigkeit gefördert. Das Ziel ist eine Ordnung, die auch als für ihre Zeit gerecht empfunden werden kann. Damit wird Integration, also die Verbindung der Bürger mit ihrem Staat, angestrebt und gefördert. Es mag überraschen, daß die Möglichkeit des Wandels des Norminhalts gerade 117 bei einer Verfassungsbestimmung betont wird, die ausdrücklich gegen jede Änderung geschützt ist. Hierin liegt aber kein wirklicher Widerspruch. Im Gegenteil mag gerade die Elastizität und Offenheit der Verfassungsauslegung die Zuversicht des Grundgesetzes rechtfertigen, daß die Norm auch im Wandel der Verhältnisse Bestand haben wird. Dabei muß allerdings stets die Gefahr einer politisch-opportunistischen Inanspruchnahme der Sozialstaatsklausel gesehen werden. Hiergegen schützt vor

181

182

STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4) S. 893 ff. BVerfGE 1, 97 (105); 59, 231 (262 f); 65, 182 (193).

770

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

allem die Forderung nach allgemeinem Konsens als Voraussetzung einer verfassungsrechtlichen Absicherung. Nicht jede vielleicht nur vorübergehende, nur einer flüchtigen Reformmode entsprechende Neuerung kann sich mit der Behauptung, sozialen Zielen zu dienen, auf einen Verfassungsauftrag berufen. Was aber dem Geist der Zeit entspricht, sich überzeugend durchsetzt und die Prüfung praktischer Bewährung besteht, hat auch Anspruch auf Bestandsschutz. 118

Solcher erhöhter Schutz ist nicht deshalb überflüssig, weil er nur das umfaßt, was ohnehin vom allgemeinen Konsens getragen wird. Die Verfassungsordnung bemüht sich, die allseits akzeptierten Wertvorstellungen der Disposition des einfachen Gesetzgebers zu entziehen, damit nicht im Wandel von Verhältnissen oder Meinungen vorschnell und ohne sorgfältige Prüfung Kursänderungen vorgenommen werden. Wenn sich auf breiter Basis neue Überzeugungen bilden, mag die Verfassung geändert werden; aber dies soll nicht leichtfertig geschehen. Auf diese Weise wird Beständigkeit im Wandel bewirkt. Wo der Weg der Verfassungsänderung ausgeschlossen wird, schafft die Möglichkeit des Verfassungswandels — im Rahmen des unveränderlichen Prinzips — die erforderliche Elastizität, welche die tragenden Verfassungsgrundsätze auch bei ernsten Belastungen zu erhalten vermag 183 . 119 Die bisher gefundenen Ansätze zur Auslegung der Sozialstaatsklausel sollen in dem folgenden Teil mit Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erprobt werden. Es wird hierbei gefragt, ob es möglich ist, unter Verwendung der wesentlichen Interpretationsprinzipien — vor allem der unter den Stichworten Offenheit und Konsens zusammengefaßten Kriterien — weitergehende grundsätzliche Aussagen zu machen. 3. Der Sozialstaat in der staatlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit a) Das Lebensgefühl der Zeit als socialer

Faktor

120 Die Existenz jedes Einzelnen hängt heute sehr weitgehend von den Inhalten und Ergebnissen der staatlichen Politik ab. Dies hat aber nicht etwa eine entsprechend große Anteilnahme an den öffentlichen Dingen zur Folge. Die angebliche Politisierung aller Lebensbereiche hat hieran nichts geändert. Eine Zunahme an Staatsgesinnung vor allem als Folge der staatlichen Einigung ist bemerkbar. Aber sie geht mit einer spürbaren Verdrossenheit einher. Auch sie ist durch die staatliche Einigung mit verursacht, seit sich ergeben hat, daß die Übernahme der Rechts- und Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik in den neuen Bundesländern nur langsam und unter vielfältigen Schwierigkeiten bewältigt werden kann. Die überwiegende Mehrheit der Bürger macht zwar gern von den in der Verfassung eingeräumten Freiheiten Gebrauch. Aber ihr Verhältnis zum Staat beschränkt sich darauf, an den sozialen Leistungen teilzunehmen und sich an den finanziellen Lasten zu beteiligen, also Steuern zu zahlen. Zustimmung oder Ablehnung, die der Einzelne dem Staat entgegenbringt, bestimmen sich danach, ob er insgesamt eher Empfanger von 183

Zu Möglichkeit Rdn. 45 ff.

und

Grenzen

des

Verfassungswandels

HESSE Verfassungsrecht

(Fn. 80)

§17

D e r soziale Rechtsstaat (BENDA)

771

Vorteilen oder Träger von Belastungen ist. Von der Solidarität wird gern gesprochen. Der Staat beruft sich auf sie, wenn er seinen Bürgern Belastungen zumutet. Ob die Bereitschaft zur Hilfe auch dann bestünde, wenn sie vom Staat nicht erzwungen würde, läßt sich aber bezweifeln. Staats- und Rechtsgesinnung lassen sich nicht erzwingen. Aber für ein Gemein- 121 wesen, das sich als Sozialstaat bezeichnet, kann es nicht gleichgültig sein, ob bei seinen Bürgern die Bereitschaft zu sozialem Verhalten vorhanden ist. Das Wort „sozial" hat auch einen ethischen Sinn. Die Sozialstaatsklausel enthält auch einen ethischen Appell an alle Bürger, sich so zu verhalten, daß ein gedeihliches Zusammenleben aller möglich ist 184 . Aber gegenseitige Rücksichtnahme und das Bewußtsein, Teil einer größeren Gemeinschaft zu sein, lassen sich nicht durch Gesetz erzwingen. Es heißt zuviel verlangen, wenn man mit M A R C I C den sozialen Rechtsstaat als „jene politische Gemeinschaftsform, in der der Mensch von Rechts wegen zur Nächstenliebe angeleitet wird", verstehen wollte 185 . Die Rechtsordnung verzichtet zwar nicht darauf, Rechtsgesinnung zu verlangen und zu fördern, aber erzwingen kann sie diese nicht. Der Staat kann persönliches Verhalten und persönliche Gesinnung nur mittelbar beeinflussen. Jedenfalls könnte ein Staat, der Nächstenliebe zu erzwingen versuchte, nicht mehr freiheitlich sein. Andererseits ist der Staat aber nicht gehindert, von der Pflicht seiner Bürger zu sozialem Verhalten auszugehen. Er darf das auch rechtlich regeln, soweit es nicht um die erhoffte Gesinnung, sondern um das äußere Verhalten geht. So legitimiert insbesondere der Grundsatz der Solidarität sozialpolitische Regelungen, durch welche die Lasten gerecht verteilt und einseitige Benachteiligungen einzelner Bevölkerungsgruppen mit der Folge gemildert werden, daß andere entsprechend belastet werden. Das wichtigste Beispiel hierfür war die Regelung der Kriegsfolgen, vor allem die Gesetzgebung über den Lastenausgleich 186 . Die meisten Menschen in der alten Bundesrepublik haben in den letzten Jahren 122 in guten Verhältnissen leben können. Ihnen stand ein System der sozialen Sicherung zur Verfügung, das auch zur Bewältigung möglicher Krisen als ausreichend erschien. Heute hat sich die Lage gewandelt. Das drastische Gefalle des Lebensstandards in den alten und in den neuen Bundesländern wird sich nicht in kurzer Zeit ausgleichen lassen. Auch bei denen, deren Wohlstand scheinbar ungefährdet ist, besteht ein verbreitetes Gefühl der Unsicherheit und der Zukunftsangst. Abgesehen von den aktuellen Gründen gibt es hierfür allgemeinere Ursachen, die auch bei einer Festigung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse bestehen bleiben. Zur Unsicherheit und Zukunftsangst trägt vor allem der technische Wandel bei, der heute nicht mehr unbesehen als Fortschritt bezeichnet wird, ferner die Komplexität der Lebensverhältnisse, die auch eine Folge des technischen Wandels und der zunehmenden weltweiten Verflechtung vieler grundlegender Probleme ist (wie vor allem Fragen der Energieversorgung oder der Umweltgefährdung). Hieraus ergibt sich das Be184 185 186

E. FECHNER Freiheit und Z w a n g im sozialen Rechtsstaat, 1 9 5 3 . R. MARCIC V o m Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1 9 5 7 , S. 4 1 6 . B V e r f G E 27, 2 5 3 (282); 4 1 , 1 2 6 ( 1 5 3 f).

772

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

wußtsein einer sich rasch nähernden, aber in Richtung und Ausgang nicht berechenbaren Zeitenwende 187 . 123

Nur wenige Menschen haben noch persönliche Erinnerungen an die großen Katastrophen dieses Jahrhunderts. Je länger die Zeit eines zwar unsicheren und gefährdeten, aber doch der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren bei weitem vorzuziehenden Friedens andauert, desto stärker wird die Furcht vor dem anscheinend unvermeidlichen Ende einer Zeit der relativen Ruhe. Die radikale Veränderung der Weltlage, die sich seit 1989 in einem atemberaubenden Tempo vor aller Augen vollzogen hat, verstärkt das Gefühl, daß jederzeit alles geschehen kann. Dies bewirkt Unsicherheit, so willkommen das Ende des kalten Krieges und der Zusammenbruch des Ostblocks auch gewesen sind. Insgesamt sieht es so aus, als ob sich die „Unlustgefühle" der Menschen in der Bundesrepublik, aber auch in anderen, von Krieg, Diktatur oder wirtschaftlichen Erschütterungen verschonten Ländern unseres Kulturbereichs zu vermehren beginnen.

124

Zu diesen allgemeinen Befürchtungen kommen im Einzelfall ganz individuelle Sorgen. Zur menschlichen Natur gehört das Bestreben, künftige Lebensrisiken vorwegzunehmen und sich auf ihren möglichen Eintritt vorzubereiten, also zu sparen und zu horten. Viele machen sich Sorgen über Ereignisse, die erst später, manchmal auch nie eintreten. Umgekehrt besteht auch ein Mißtrauen gegen zuviel Sicherheit und totale Absicherung, die als Mangel an Abenteuer empfunden werden.

125

Die Vorsorge gegen die natürlichen Lebensrisiken bleibt ein ständiges Thema menschlicher und staatlicher Aktivität. Zum engsten Bereich dessen, was die Sozialstaatsklausel sicherstellen will, gehört neben der Absicherung des Existenzminimums die Daseinsvorsorge durch die klassische Sozialpolitik, wie sie bereits in der BisMARCKschen Sozialversicherungsgesetzgebung ihren A u s g a n g nahm. Sozialversi-

cherung ist ein prägnanter Ausdruck des Sozialstaatsprinzips. Wenn das Bundesverfassungsgericht meint, daß mit diesem nicht eine Verfassungsgarantie des bestehenden Systems der Sozialversicherung oder seiner tragenden Organisationsprinzipien gegeben sei188, so kann dies sicher nicht bedeuten, daß der Gesetzgeber nach Belieben auch solche Einrichtungen abbauen oder ganz beseitigen darf, die für die betroffenen Menschen von existentieller Bedeutung sind und auf deren Bestand sie sich in ihrer Lebensplanung eingerichtet haben. Wenn Rentenansprüche und -anwartschaften und ähnliche Positionen des Rechts der sozialen Sicherung verfassungsrechtlichen Schutz genießen (Art. 14 GG) 189 , ergibt sich hieraus auch die Notwendigkeit entsprechender organisatorischer und rechtlicher Vorkehrungen. Es entspricht dem gleichen Gedanken, wenn für den Bereich des Arbeitsrechts nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts diejenigen arbeitsrechtlichen Institutionen als durch die Sozialstaatsklausel gesichert angesehen werden können, die auf längerer Rechtstradition beruhen und allgemeine Anerkennung gefunden haben, wie etwa der Kündigungsschutz der

187 188 189

BENDA Sozialer Wandel (Fn. 115) S. 497 ff. B V e r f G E 39, 302 (314). So seit B V e r f G E 53, 257 (288 f, 291 f, 293 f); st.Rspr.; 69, 272 (300 ff).

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

773

werdenden Mutter, das Recht auf Urlaub, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder die grundsätzliche Bestandssicherung des Arbeitsplatzes 190 . Die staatlichen Bemühungen sind jedem Bürger bewußt. Er weiß, daß seine 126 soziale Sicherheit von ihnen entscheidend abhängt. Dies schafft nicht nur Zufriedenheit; die bestehende Sicherheit schließt Furcht vor ihrem Verlust nicht aus, zumal bei wirtschaftlich bedenklichen Entwicklungen. Auch entsteht gelegentlich der irrationale Wunsch nach ein wenig, aber nicht zu viel, Unsicherheit. Wenn allerdings ernsthafte Gefahren erkennbar werden, tritt das Bemühen um 127 Sicherheit ganz in den Vordergrund. Der Einzelne sieht auch, wie die Funktion des privaten Eigentums als Träger individueller Existenzsicherung zurückgeht. Auch dies verstärkt noch des Gefühl des Ausgeliefertseins an Umstände, die sich dem Einfluß des Einzelnen entziehen. Aus der Komplexität und Anonymität derjenigen Faktoren, die auf die Gestaltung jedes Einzelschicksals einwirken, ergibt sich eine Beeinträchtigung der von der sozialstaatlichen Gesetzgebung oft vorausgesetzten oder erwarteten Solidarität: Krisenhafte Lebensentwicklungen lösen soziales Verhalten aus, also das FüreinanderEinstehen und sogar Opferbereitschaft, wenn sie einen überschaubaren Kreis von Menschen betreffen und wenn die Chance besteht, durch gemeinsame Anstrengungen aller die Krise zu bewältigen. Dagegen erzeugt eine nicht erklärliche, schwer begreifbare und als anonymes, blindes Schicksal empfundene Bedrohung die gegenteilige, also eine unsoziale Haltung des „Rette sich, wer kann". Daß die Familie und andere natürliche Gruppen ihre frühere Funktion als auf Gedeih und Verderb verbundene Schicksalsgemeinschaften zu einem Teil eingebüßt haben, verstärkt die Tendenz zu unsozialem Verhalten. Zu der Furcht vor einer Gefährdung der persönlichen Existenz tritt das emo- 128 donale Erlebnis einer Gesellschaft im Umbruch. In ihr sind traditionelle Ordnungsvorstellungen und überkommene Werte zerbrochen, ohne daß hinreichend klare neue Orientierungspunkte an deren Stelle treten. Die pluralistische Gesellschaft bringt dem Einzelnen und den sozialen Gruppen zwar ein hohes Maß an Toleranz entgegen. Aber der damit verbundene Gewinn an Freiheit hat seinen Preis: Der Einzelne verliert die überlieferten Leitbilder, sieht sich sehr unterschiedlichen Wertauffassungen ausgesetzt und fühlt sich überfordert und hilflos, wenn von ihm verlangt wird, sich zwischen diesen zu entscheiden. Diejenigen Zukunftsgefahren, die sich etwa aus der Existenz immer weiter 129 entwickelter Massenvernichtungswaffen oder aus der Bedrohung der natürlichen Umwelt ergeben, werden heute wenigstens als Probleme erkannt. Andere Bedrohungen sind weniger dramatisch, aber in ihren Auswirkungen nicht weniger ernst zu nehmen. Zu ihnen gehören vor allem die Entfunktionalisierung, also der Bedeutungsverlust menschlicher Arbeit als Folge des technischen Wandels, der Abbau überlieferter Wertmaßstäbe, die Bedrohung der Privatsphäre und der Möglichkeit V g l . h i e r z u BENDA S o z i a l s t a a t s k l a u s e l ( F n . 1 5 4 ) S . 5; STERN S t a a t s r e c h t B d . 1 ( F n . 4 ) S. 8 9 3 f f .

774

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

des Alleinseins und die Enthumanisierung der gesellschaftlichen wie des individuellen Lebens191. 130 Das Bild der Gesellschaft wird immer stärker vom sozialen Wandel geprägt. Die industrielle Expansion hat den weitgehenden Abbau von Klassenschranken bewirkt. Die tiefgreifenden Umwälzungen der Kriegs- und Nachkriegsereignisse sind über viele alte Privilegien hinweggegangen. Auch die heutige Konsumgesellschaft hat eine nivellierende Wirkung. Wirtschafts- und Strukturkrisen und das wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen den alten und den neuen Bundesländern machen eine weitere Mobilität der Arbeitnehmer erforderlich. Die Entwicklung auf eine klassenlose Gesellschaft hin bedeutet einen weiteren Zuwachs an realer Freiheit. Aber auch dieser Gewinn muß mit einem Verlust von Orientierungshilfen bezahlt werden: Bindungen an die gewohnte Umgebung und an die Menschen, mit denen man zusammenwohnte oder arbeitete, müssen aufgegeben werden. Auch der Verlust des bisher ausgeübten Berufs oder der Wechsel von einer selbständigen zu einer abhängigen Tätigkeit haben gleiche Wirkungen. Das staatliche System der sozialen Sicherung kann eine unmittelbare Existenzgefährdung vermeiden, d. h. die materiellen Folgen solcher Entwicklungen mildern. Die Auswirkungen im menschlichen Bereich sind aber nicht weniger schwerwiegend. Weil Struktur- oder Konjunkturkrisen für den Einzelnen nicht durchschaubar und meist nicht voraussehbar sind, sieht sich dieser auch hier unbestimmbaren und unbeeinflußbaren Faktoren ausgeliefert. Auch hier werden Lebens- und Zukunftsangst die Folge sein. 131

Dies sind einige der sozialen Sachverhalte, von denen für die Gegenwart und eine vorhersehbare Zeit auch künftig auszugehen ist. Die meisten Faktoren sind rechtlich bestenfalls mittelbar zu beeinflussen; vieles entzieht sich ganz einer gesetzlichen oder anderweitigen rechtlichen Regelung. Dennoch muß sich der Staat, der sozial sein will, hierauf einstellen, also von den realen Gegebenheiten ausgehen. b) Zum Menschenbild des Grundgesetzes

132 Innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes ist der Würde des Menschen der höchste Rang zuerkannt (Art. 1 GG). Aus dieser wichtigsten Entscheidung der Verfassung, zusammen mit der nach Art. 79 Abs. 3 GG ebenfalls einer Verfassungsänderung entzogenen Festlegung auf den demokratischen, bundesstaatlichen und sozialen Rechtsstaat ergibt sich das „Menschenbild" des Grundgesetzes als eines nicht isolierten souveränen, sondern gemeinschaftsbezogenen und -gebundenen Menschen, dem dennoch ein unantastbarer Eigenwert zukommt 192 . 133

Dieses Leitbild liefert eine wesentliche Zielvorstellung für die staatliche Politik. Aus ihm ergibt sich eine mittlere Linie zwischen Individualismus und Kollektivismus193. Ein totaler Wohlfahrts- oder Versorgungsstaat, der dem Einzelnen die wichtigsten Lebensentscheidungen abnehmen, zugleich ihm einen übermäßigen Teil

192 193

H. KAHN Angriff auf die Zukunft, 1975, S. 235. B V e r f G E 4, 7 (15 f). Vgl. auch oben Kap. 2 Abschn. 2 Rdn. 5 f. DÜRIG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4 ) Art. 1 Abs. 1 Rdn. 47.

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

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seiner materiellen Einkünfte wegnehmen wollte, um so die Kosten für eine umfassende Versorgung zu finanzieren, ließe sich mit diesem Menschenbild nicht vereinbaren. Ebensowenig ist aber die Rückkehr zu einem liberalistischen Wirtschaftsmodell erlaubt, dem jeder soziale Ausgleich fremd ist194. Die weiteren Grundwerte, zu denen sich das Grundgesetz bekennt, entsprechen 134 der demokratischen Tradition, den Ideen der freiheitlichen Denker, der historischen Erfahrung und dem Bewußtsein der heute Lebenden: Freiheit und Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichheit, Glaubensfreiheit, das Recht der freien Meinungsäußerung und Pressefreiheit, Schutz der Familie, Versammlungs-, Vereinigungs- und Berufsfreiheit, Gewährleistung und Sozialgebundenheit des Eigentums und andere wesentliche Grundrechte. All diese Entscheidungen des Grundgesetzes verbinden sich mit dessen übrigen Vorschriften zu einer den gesamten Bereich des staatlichen Lebens erfassenden Ordnung195. Hierbei geht es nicht um ethische oder moralische Forderungen oder gar um 135 die Formulierung einer Staatsideologie. Vielmehr handelt es sich um jene Grundwerte, über die ein Konsens besteht und die als Basis für das Zusammenleben in einer staatlich organisierten Gemeinschaft erforderlich sind. Diese Wertordnung ist (abgesehen von Art. 79 Abs. 3 GG) einer Verfassungsänderung zugänglich, freilich nicht durch einfache Mehrheit. Nur wenn eine veränderte Beurteilung von Wertentscheidungen eine breite Basis gewinnt, sollen sie aufgegeben werden dürfen. Bis dahin bleiben alle staatlichen Organe an sie gebunden. So wird ein gemeinsamer Raum gesichert, innerhalb dessen sich die gesellschaftlichen und politischen Kräfte frei entfalten können und sollen. Spannungen und Konflikte sind dabei nicht ausgeschlossen, sondern können sogar als Motor des Wandels begrüßt werden, weil die lebendige Auseinandersetzung den Fortschritt ermöglicht196. Daß der durch die Grundwerte der Verfassung gesicherte Raum mit Leben 136 erfüllt wird, ist nicht Aufgabe des Staates, sondern des Einzelnen, der Glaubensoder Weltanschauungsgemeinschaften, der gesellschaftlichen Gruppen und politischen Parteien. Die Verfassungsordnung sichert, daß die hierbei unvermeidlichen Auseinandersetzungen regelbar bleiben. Eine der wichtigsten Aufgaben der Politik, welche die Verfassung zu sichern hat, ist die rationale Bändigung sozialer Konflikte197. Hiernach entsteht das Leitbild einer freiheitlichen Demokratie, welche dem 137 sozialen Wandel nicht entgegensteht, aber ihn auch nicht im Sinne einer Anpassung an die jeweilige Zeitströmung nur zaghaft mitmacht. Vielmehr sucht sie in Spannungen und Konflikten die Grundlagen des Gemeinwesens zu bewahren, wie das Grundgesetz diese festgelegt hat. Dabei besteht die Hoffnung, daß die Freiheit der Auseinandersetzung und die gleichzeitige Sicherung der unveränderlichen Grund194

195 196 197

Zur nur relativen wirtschaftspolitischen Neutralität des G G HERZOG in: Maunz/Dürig (Fn. 4) Art. 20 (VIII) Rdn. 60. Vgl. oben Rdn. 2 1 - 2 4 . R. DAHRENDORF Gesellschaft und Freiheit, 1961, S. 124 ff. R. DAHRENDORF K o n f l i k t und Freiheit, 1972, S. 43 f.

GG

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

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entscheidungen auf längere Sicht „Ausgleich und Schonung der Interessen aller" zu bewirken vermögen 198 . c) Staat und

Gesellschaft

138 Die staatliche Ordnung wird in vielfältiger Weise durch die soziale Wirklichkeit beeinflußt, wie umgekehrt der Staat auf die Gesellschaft einwirkt. Die verfassungsrechtliche Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat unterstreicht die Verantwortung, Aufgabe und Zuständigkeit des Staates zur Gestaltung der sozialen Ordnung. Der Staat hat ein Mandat zur Sozialpolitik, und von diesem macht er ausgiebig Gebrauch. 139

Bei dieser Sachlage ist es ein wenig ergiebiger Streit, ob — nach der einen Meinung — im sozialen Rechtsstaat die Trennung von Staat und Gesellschaft aufgegeben wird 199 , oder ob — nach der Gegenauffassung — eine freiheitliche und rechtsstaatliche Verfassung überhaupt nur bei Trennung von Staat und Gesellschaft möglich sei200. Die Wirklichkeit ist über diesen Teil der Diskussion hinweggegangen. Es kann sich jedenfalls nicht mehr um die Abschichtung zweier voneinander strikt zu trennender Sachbereiche handeln. Dagegen stellen sich durchaus dringliche Fragen, wo es um die sinnvolle Ordnung von Tätigkeiten geht, die in gleicher Weise vom staatlichen wie vom gesellschaftlichen Bereich ausgehen können. Zwischen der sich aus dem Sozialstaatsprinzip ergebenden staatlichen Verpflichtung, bestimmte sozial unverzichtbare Leistungen bereitzustellen, und der auf das gleiche Ziel gerichteten eigenverantwortlichen Tätigkeit gesellschaftlicher Kräfte bestehen Wechselwirkungen. Das Prinzip der Solidarität mag für eine gesetzliche Regelung sprechen, welche die zur Enthüllung der Aufgabe erforderlichen Belastungen auf eine möglichst große Zahl verteilt und sie damit für den Einzelnen erträglich macht. Der Grundsatz der Subsidiarität legt eine größere Zurückhaltung des Staates nahe, soweit und solange die Tätigkeit freier gesellschaftlicher Kräfte in gleicher Weise geeignet erscheint201. Verfassungsrechtlich kann weder dem einen noch dem anderen Prinzip der Vorrang gegeben werden; die Umstände des Einzelfalles werden maßgeblich sein. Auch das Bundesverfassungsgericht hat — in einer Entscheidung über die Frage des Vorrangs von öffentlichen oder privaten Trägern der Wohlfahrtspflege — lediglich wiederholt, daß der Staat für einen Ausgleich sozialer Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung sorgen müsse. Keineswegs folge aber aus dem Sozialstaatsprinzip, daß der Gesetzgeber für die Verwirklichung dieses Zieles nur behördliche Maßnahmen vorsehen dürfe; er könne auch die Mithilfe privater Wohlfahrtsorganisationen vorsehen202.

140

Auch die individuelle Eigenvorsorge und die Übernahme von Verantwortung für sich selbst und seine Familie, die den Staat ganz zurücktreten lassen, ist keineswegs 198 199 200

201 202

BVerfGE 5, 85 (198). ABENDROTH Sozialer Rechtsstaat (Fn. 179) S. 90. E. FORSTHOFF Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 21; vgl. auch ZACHER HdBStR Bd. 1 (Fn. 1 4 6 ) § 2 5 Rdn. 2 6 . HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 20 (VIII) Rdn. 63. BVerfGE 22, 180 (204).

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

777

sozialstaatswidrig. Vielmehr erscheint die Pflicht, Schäden, für die die Gemeinschaft einzustehen hat, soweit wie möglich und zumutbar selbst zu mildern, geradezu als ein Ausfluß des Prinzips der Sozialstaatlichkeit203. Es ist schon wichtig, die Bedeutung eigenverantwortlicher Lebensgestaltung auch und gerade im Sozialstaat zu betonen, der zu Unrecht vielfach mit dem totalen Wohlfahrts- und Versorgungsstaat gleichgesetzt wird. Soweit dieser besteht, bleibt kein Raum für Eigeninitiative und für die freie Tätigkeit gesellschaftlicher Kräfte. Die mit der Übernahme der vollen Verantwortung durch den Staat zwangsläufig verbundene Bürokratisierung allen Lebens hat sich dort, wo sie praktiziert wurde, lediglich freiheitsvermindemd ausgewirkt, aber kaum als effektiv erwiesen. Die wichtigste Aufgabe des Staates im Rahmen seines Auftrages zur sozialen 141 Gestaltung ist die Verpflichtung, das Allgemeinwohl gegenüber Gruppeninteressen zu wahren. Die Grundüberzeugung der Sozialstaatsklausel geht dahin, daß sich das allgemein Beste nicht automatisch als Folge einer möglichst freien Auseinandersetzung ergibt, sondern den Ausgleich der Interessen durch die Autorität des Staates erfordert. Zu der Realität in Bezug gesetzt, kann dies sich nicht nur, nicht einmal in erster 142 Linie, auf individuelles Verhalten beziehen. Der Einzelne kann Macht besitzen, die sehr bedeutend sein kann. Regelmäßig von weitaus größerem Gewicht ist aber die soziale Macht, die sich in den großen gesellschaftlichen Organisationen bildet, die durch große Mitgliederzahlen, gemeinsame Interessen und Überzeugungen und eine auf die Verwirklichung ihrer Ziele konzentrierte Tätigkeit gekennzeichnet sind. Wenn solche Interessenverbände mit ihren unterschiedlichen Interessen aufeinanderstoßen, wäre es realitätsfern, stets von der Gewißheit einer Harmonisierung der Gegensätze in Richtung auf das Gemeinwohl auszugehen. Andererseits entspricht es aber ganz dem Bild einer freiheitlichen Ordnung, 143 wenn die gesellschaftlichen Kräfte in voller Unabhängigkeit tätig werden können, sich ihre Ziele selbst setzen und im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung selbst den Weg und die Mittel bestimmen dürfen, um ihre Vorstellungen zu verwirklichen. Für die zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedinungen tätigen Koalitionen wird dies durch Art. 9 Abs. 3 GG ausdrücklich festgelegt. Die Gewährleistung der Koalitionsfreiheit entspricht dem oben erörterten sozialstaatlichen Prinzip, nicht alles vom Staat zu erwarten, sondern eigenverantwortliche Gestaltung im gesellschaftlichen und individuellen Bereich zu ermöglichen. Die Sozialstaatsklausel erlaubt es dem Staat, aktive Wirtschafts- und Gesell- 144 schaftspolitik zu betreiben. Er kann daher fördernd, regulierend und private Macht hemmend in das im übrigen vom Wettbewerb beherrschte freie Spiel der Kräfte eingreifen. Soweit es sich um die Tätigkeit der Koalitionen handelt, also um die Wahrnehmung verbandsmäßig organisierter Gruppeninteressen, ergibt sich eine verfassungsrechtliche Schranke aus Art. 9 Abs. 3 GG. 203

B V e r f G E 17, 38 (56).

778

145

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Die Entwicklung der Wirtschaft wird aber zu einem wesentlichen Teil durch die von den „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" gesetzten Daten bestimmt. Wenn der Staat insoweit überhaupt keinen Einfluß nehmen dürfte, wäre er in einem wichtigen Teilbereich der Wirtschaft der autonomen Macht der Koalitionen ausgeliefert. Aus den Entscheidungen und Abschlüssen der Koalitionen können sich aus staatlicher Sicht fragwürdige Wirkungen für das Gemeinwohl ergeben. Darf dann der Staat lediglich versuchen, den Schaden, den private Träger wirtschaftlicher Macht angerichtet haben, nachträglich zu reparieren? Der Konflikt muß nicht unnötig dramatisiert werden. Das Verhalten der Tarifpartner ist regelmäßig weder völlig irrational, noch kann unterstellt werden, daß ihnen jedes Gefühl der Mitverantwortung für die Belange der Allgemeinheit fehlt. Normalerweise werden ihre Entscheidungen auch von dem jeweils vorgefundenen Zustand der Volkswirtschaft im ganzen oder des in Betracht kommenden Teilbereichs abhängen. Die Wirtschaft unterliegt ihrerseits den vielfaltigen Einflußmöglichkeiten der Wirtschafts- oder Steuerpolitik.

146

Dennoch wird der Konflikt zwar nicht die Regel sein, kann aber auch nicht ausgeschlossen werden. Die Gewerkschaften protestieren durchaus zu Recht dagegen, daß ihre Tarifpolitik Instrument oder Ergebnis der staatlichen Konjunktur- oder (im öffentlichen Dienst) der Haushaltspolitik sein soll. Mit dem gleichen Recht darf sich der Staat dagegen verwahren, mit seinen haushalts- oder konjunkturpolitischen Entscheidungen nur die Auswirkungen von Tarifabschlüssen ausgleichen zu dürfen.

147

Art. 9 Abs. 1 G G gewährleistet das allgemeine Recht aller Deutschen, sich in Vereinigungen zusammenzuschließen. Diese Vereinigungen unterliegen jedoch in gleicher Weise wie der einzelne Bürger der vom Staat gesetzten Rechtsordnung. Wenn Einzel- oder organisierte Interessen sich gemeinwohlschädlich betätigen, kann der Staat dem entgegentreten. Demgegenüber garantiert Art. 9 Abs. 3 G G den Koalitionen einen größeren Freiheitsraum; für die Auslegung von Art. 9 Abs. 3 G G ist das Bekenntnis des Grundgesetzes zum Sozialstaat von wesentlicher Bedeutung 204 . Um eine gänzlich unbeschränkte und unbeschränkbare Freiheit kann es sich auch hier nicht handeln. Dies stünde im Widerspruch zu der skeptischen Grundhaltung, welche die Sozialstaatsklausel der Annahme entgegenbringt, daß sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen in ungeregelter und unbeschränkter Freiheitsausübung von selbst in einem Zustand der Harmonie vereinigen würden.

148

Andererseits kann auch nicht eine Freiheit unter dem Vorbehalt jederzeitigen und beliebigen Widerrufs gemeint sein. Sie wäre nichts wert. Koalitionen können nicht auf eine Betätigung verwiesen werden, die der staatlichen Zustimmung im Einzelfall bedürfte oder die nur auf Widerruf gestattet wäre. Die „Tarifhoheit", deren sich die Gewerkschaften in einer fragwürdigen Pose der Halbamtlichkeit ihrer Tätigkeit berühmen 205 , macht ihre Verhandlungsführer ebensowenig wie die Vertreter

204 205

B V e r f G E 4, 96 (101 f); 19, 303 (319). So im Grundsatzprogramm des Deutschen Gewerkschaftsbundes (1963) Sozialpolitische Grundsätze, I: „Jeder staatliche Eingriff in die Tarifhoheit ist unzulässig".

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

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der Arbeitgeberseite zu Amtsträgern. Aber auch der Staat kann nicht beanspruchen, bei den Verhandlungen mit am Tisch oder dicht dahinter zu sitzen. Art. 9 Abs. 3 GG schließt jede Form staatlicher Zwangsschlichtung aus 206 . Solche Eingriffe in die Koalitionsfreiheit sind rechtlich unzulässig, im übrigen auch ganz unzweckmäßig. Sie fordern die Tarifpartner geradezu zur Verantwortungslosigkeit auf, weil es dann dem Staat obliegen würde, notfalls um seiner Gesamtverantwortung willen einzugreifen. Die Koalitionsfreiheit beruht zunächst auf dem sozialstaatlich besonders legiti- 149 mierten Ziel, den privater wirtschaftlicher Macht unterlegenen Arbeitnehmern einen notwendigen Ausgleich zu geben. Der Zusammenschluß einer großen Zahl gleichgerichteter Interessen schafft eine wirksame Gegenmacht. Ahnliches gilt für die Organisation anderer Interessen im Bereich der allgemeinen Vereinigungsfreiheit. Die Gruppeninteressen werden dabei nicht mit dem Allgemeinwohl identifiziert, aber doch auf dieses hin orientiert. Die Beteiligung der Bürger an den öffentlichen Dingen ist nicht nur wün- 150 sehenswert, weil es hierbei im ihre eigene Sache geht. Sie kann auch das Bewußtsein jedes Einzelnen dafür stärken, daß er Mitverantwortung trägt, und damit ein verantwortungsbewußtes Verhalten fördern. Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Unternehmen soll zunächst gewährleisten, daß die Interessen auch der Arbeitnehmer in der Unternehmenspolitik berücksichtigt, Teilinteressen also nicht vernachlässigt werden. Zugleich bezweckt Mitbestimmung aber Kooperation. Indem den Arbeitnehmervertretern Einsicht in die größeren Zusammenhänge im Unternehmen und in der Gesamtwirtschaft vermittelt wird, kann ein Bewußtsein für Mitverantwortung begründet werden 207 . Koalitionsfreiheit, sozialstaatlich verstanden, bedeutet: Es ist legitim, daß Teilinteressen sich organisieren, um sich durchsetzen zu können. Aber bei der eigenverantwortlichen Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen soll auch Verständnis für die Gesamtbedürfnisse der Gesellschaft entstehen. Damit soll sich ein Bewußtsein der Mitverantwortung für das Ganze entwickeln. In einem für das staatliche und gesellschaftliche Leben besonders wichtigen Bereich wird so Integration angestrebt, d. h. der Ausgleich von Einzel- oder Gruppeninteressen in Richtung auf die gemeinsamen Interessen aller 208 . Nicht immer wird sich dieses Ziel erreichen lassen. Die Versuchung, Teilinte- 151 ressen ohne Rücksicht auf die Belange des Allgemeinwohls durchzusetzen, bleibt bestehen. Dies kann zu volkswirtschaftlichen Schäden erheblichen Ausmaßes führen. Im äußersten Fall muß dann der Staat eingreifen dürfen. Die wirtschaftlichen Freiheitsrechte stehen unter einem sozialen Generalvorbehalt, der als ultima ratio den sozialen, d. h. dem Gemeinwohl verpflichteten Staat zur Intervention ermächtigt 209 . Auch die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Freiheit wirtschaftlicher Betä206 207 208

209

B V e r f G E 18, 18 (30); R. SCHOLZ in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 9 Rdn. 285. Vgl. B V e r f G E 50, 290 (329 ff). Zur Bindung der Koalitionen an das Gemeinwohl SCHOLZ in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4 ) Art. 9 Rdn. 2 7 4 . Vgl. SCHOLZ in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 9 Rdn. 286: „Sozialstaatliches Interventionsrecht nur im Extremfall".

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

tigung findet ihre Grenze dort, wo sie von dem wirtschaftlich Stärkeren zu Lasten eines Schwächeren oder unter Verletzung der Gesamtinteressen ausgeübt wird. Dies ergibt sich nicht nur aus den Grundrechtsschranken des Art. 2 Abs. 1 GG (die für Art. 9 Abs. 3 GG nicht gelten 210 ), sondern auch aus der Sozialstaatsklausel. Sie beeinflußt alle Freiheitsrechte. Wo schwerwiegende Belange der Allgemeinheit gefährdet sind, steht die Sozialstaatsklausel der Annahme einer schlechthin absolut gesetzten Freiheit entgegen 211 . 152

Die Grenzen der im äußersten Falle möglichen staatlichen Intervention sind nicht leicht zu bestimmen. Im Kernbereich ist die Koalitionsfreiheit gegen jeden Eingriff geschützt. Ähnlich wie bei der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG), einem Bereich, in dem ein vergleichbarer Konflikt zwischen Einzel- und Gesamtinteressen entstehen kann212, darf der Gesetzgeber jedenfalls die verfassungsrechtlich gewährleistete Befugnis der Tarifpartner zur Ordnung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht außer Rechnung lassen. Er darf daher nicht im Einzelfall das konkrete Ergebnis einer Tarifauseinandersetzung korrigieren. Dagegen kann er vorbeugend Grenznormen setzen, also selbst Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen normativ regeln und damit in seine Zuständigkeit ziehen, oder das Verfahren beeinflussen, so etwa die Pflicht zu einem Schlichtungsverfahren begründen (Zwang zur Schlichtung — nicht Zwangsschlichtung) 213 .

153

So wie der Staat zwar soziales Verhalten der Einzelnen fördern und unsozialem Verhalten entgegentreten darf, aber nicht das Bewußtsein, Glied einer größeren Gemeinschaft zu sein, von Rechts wegen verordnen kann, wird zwar die Einbeziehung der Verbände in die Gesamtverantwortung durch Vermittlung volkswirtschaftlicher Daten und auch durch den Appell an die Vernunft sinnvoll sein, nicht aber eine Rechtsverpflichtung auf das Allgemeininteresse. Soweit die Fähigkeit oder der Wille zur Einsicht fehlt, kann der Staat nicht den Gruppen die Verantwortung zuschieben, sondern muß notfalls selbst tätig werden. d) So^ialstaat und Einzelner

154 Die Aufgabe, individuelle Freiheit gegen staatliche Eingriffe zu sichern, ist niemals ganz gelöst. Vor stets möglicher staatlicher Willkür schützen die Grundrechte, die dem Staat gegenüber effektiv durchgesetzt werden können. Eine optimistische Sicht des Menschen unserer Zeit geht von dem „mündigen Bürger" aus, dem man zutrauen kann, von der so real gewährleisteten Freiheit den rechten Gebrauch zu machen. Der Staat respektiert ihn in dieser Freiheit. Der Bürger kann nach eigenem Ermessen durch politische Aktivität an dem Prozeß der Staatswillensbildung teilnehmen. Im übrigen sind die staatlichen Entscheidungen, die seinen Platz in der Gemeinschaft 2,0

SCHOLZ i n : M a u n z / D ü r i g G G ( F n . 4 ) A r t . 9 R d n . 3 3 8 .

211

WEBER Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie, 1965, S. 22.

212

WEBER K o a l i t i o n s f r e i h e i t ( F n . 2 1 1 ) S . 2 5 .

2,3

Zu den Schranken der Koalitionsfreiheit B V e r f G E 50, 290 (368 ff); SCHOLZ in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4 ) Art. 9 Rdn. 336 ff.

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

781

bestimmen, den von ihm gewählten Repräsentanten und damit ihm selbst zuzurechnen. Wenn man dieses Bild mit der Wirklichkeit vergleicht, ergibt sich eine andere Betrachtung. Die Gestaltung der Politik durch die Bürger beschränkt sich ganz überwiegend auf die Teilnahme an Wahlen. Hierdurch kann zwar die allgemeine Richtung der Regierungs- und Parlamentsarbeit beeinflußt werden. Aber die Regelung der Detailfragen, die über die Lebenssituation des Einzelnen ganz wesentlich entscheiden, entzieht sich weitgehend solcher Einflußnahme. Nur eine Minderheit beteiligt sich aktiv an der Arbeit der politischen Parteien oder der Verbände. Die Bereitschaft, Mitglied einer Partei zu werden, ist nur gering. Viele Anzeichen, so etwa auch das Entstehen von Bürgerinitiativen, sprechen dafür, daß die Kluft zwischen Repräsentanten und Repräsentierten größer geworden ist. Der Bürger ist vielleicht nicht so mündig, wie dies immer gesagt wird, oder er 155 wird jedenfalls nicht so behandelt. Zwar wird der Schutz, den die Verfassung gegen unzulässige staatliche Eingriffe in die Lebensgestaltung des Einzelnen gewährt, als Selbstverständlichkeit hingenommen und im Konfliktfall ohne Zögern eingeklagt. Die wirkliche Bedrohung der Freiheit entsteht nicht in solchen Einzeleingriffen. Gefährlicher sind die „Sachzwänge", die allgemeinen, nicht recht greifbaren, durch rechtliche Mittel nicht zu beeinflussenden Lebensumstände, denen der Einzelne unausweichlich unterworfen ist. Aus den Strukturen einer industriellen Massengesellschaft, den Wirkungen der 156 Technik, der Größe und Undurchschaubarkeit von Institutionen, welche das Leben jedes einzelnen Bürgers spürbar beeinflussen, ergeben sich faktische Grenzen einer verfassungsrechtlich gewährleisteten freien Entfaltung der Persönlichkeit. Gegenüber der Berufung auf das Freiheitsrecht ist der Hinweis auf die Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit des Menschen wohlbegründet. Alle sind voneinander abhängig. Wenn sich Einzelne oder einzelne Gruppen von den Verhältnissen befreien wollten, die allen vorgegeben sind, würden sie den eigenen Freiheitsraum zu Lasten anderer vergrößern. Es entspricht dem Sozialstaatsprinzip, die zwangsläufige Begrenzung der Freiheit zu erkennen und ihr Rechnung zu tragen. In den beengten Lebensverhältnissen einer industrialisierten und technisierten Gesellschaft stoßen die Einzel- oder Gruppeninteressen in vielfältigster Weise aufeinander. Es ist unabweisbare Konsequenz des sozialstaatlichen Gebots, einen angemessenen Interessenausgleich zu ermöglichen, die nie absolute Freiheit, sondern nur die gerechte Gewährleistung eines hinreichenden Freiheitsraumes für jedermann bedeuten kann. In der Sicht der Betroffenen bedeutet Verwirklichung des Sozialstaates dann auch eine Minderung der Freiheit. Unbegrenzte Freiheit würde in der modernen Klassengesellschaft zur Übermacht 157 der wirtschaftlichen und sozial Stärkeren über die Schwachen führen. Jede Regelung, die dem Machtausgleich dient, bewirkt zugleich Minderung von Freiheitsräumen auf der einen und deren Erweiterung auf der anderen Seite. Diese Regulierung entgegenstehender Interessen ist die wesentliche Aufgabe eines sozialen Staates. Die rhetorisch-anklagende Frage, wessen Freiheit denn die Verfassung meine, hat so

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

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schon ihren berechtigten Kern und verdient eine Antwort. Schon die einzelnen Grundrechte sind — wie insbesondere Art 14 Abs. 2 G G ergibt — im Lichte der in ihnen ausdrücklich enthaltenen oder doch ihnen immanenten sozialen Bindung zu verstehen. Nur so können Fehlentwicklungen verhindert werden, die zur Verstärkung bestehender privater Machtpositionen und damit zur Verengung des realen Freiheitsraumes bei denen führen würden, die machtlos sind. Die Sozialstaatsklausel stellt über die spezifische Problematik etwa der Eigentums- oder der Vertragsfreiheit hinaus immer wieder die grundsätzliche Frage, ob nicht über einer zugunsten von Einzelnen oder von Gruppen einseitig verstandenen Freiheit die entgegenstehenden Rechte anderer und der Ausgleich im Sinne des Gesamtwohls vergessen werden. 158

Da Grundrechte für alle da sein sollen, nicht nur für die Mächtigen, soll der Staat dazu beitragen, die tatsächlichen Voraussetzungen für ihre Ausübung zu schaffen. Der Schutz des Eigentums, der Wohnung, des Zugangs zu beruflicher Ausbildung und vieles andere ist nicht nur denen garantiert, die über diese Güter tatsächlich verfügen können. Von hier aus ergibt sich die neuere Fragestellung, ob und inwieweit der Staat auch verpflichtet ist, durch eigene Aktivität dem Einzelnen Zugang zu den grundrechtlich geschützten Rechtsgütern zu verschaffen 214 . Der Stand der Diskussion über das Verständnis der Grundrechte als Teilhaberechte wird an anderer Stelle behandelt (oben § 5 Rdn. 28 — 30. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat vorsichtige und noch unsichere Schritte unternommen, um die grundsätzliche Verpflichtung des Staates festzustellen, die reale Basis der Grundrechte aktiv zu sichern 215 . Von der Konzeption einer aktiven „Grundrechtspolitik" wird man aber bisher nicht sprechen können 216 . Die Feststellung einer verfassungsrechtlichen Pflicht hierzu müßte auch mit der politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers kollidieren, dem die Entscheidung über die Prioritäten vorbehalten bleiben muß, nach denen die begrenzten Staatsmittel einzusetzen sind.

159

Der soziale Staat soll sich um den Ausgleich aller beteiligten Interessen bemühen. Auch Grundrechtspositionen können miteinander in Konflikt geraten. Dann muß ein Weg gesucht werden, um alle geschützten Interessen möglichst in Einklang zu bringen. Wenn die Wahrnehmung des einen Grundrechts ein anderes Grundrecht berührt, dann muß entschieden werden, welchem Grundrecht generell oder im Einzelfall ein Vorrang zukommt 217 .

160

Solche Konflikte müssen mit rechtlichen Mitteln gelöst werden. Wenn etwa die prinzipiell gleichwertigen Ansprüche aller Studienplatzbewerber wegen Knappheit der verfügbaren Plätze nicht sämtlich befriedigt werden können, muß eine Auswahlentscheidung getroffen werden. Aus Art. 12 und Art. 3 G G folgt die Verpflichtung 214

Hierzu insbesondere die Referate von W. MARTENS und P. HABERLE über Grundrechte im Leistungsstaat,

215

VVDStRL

Bd. 30 (1972)

S. 7 f f , 4 3 f f ; Z A C H E R H d B S t R

B d . 1 ( F n . 146)

§25

Rdn. 9 9 . Vor allem das erste numerus-clausus-Urteil BVerfGE 33, 303; H. H. RUPP Vom Wandel der Grundrechte, in: AöR 101 (1976) 176.

216

S o d i e K r i t i k v o n HABERLE L e i s t u n g s s t a a t ( F n . 2 1 4 ) .

217

Z. B. beim Konflikt zwischen Meinungs- oder Pressefreiheit und BVerfGE 7, 230 (234 ff); 24, 278 (282 f, 286); 42, 163 (170 ff).

Persönlichkeitsrechten,

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

783

zu einer Regelung, die jedem Bewerber wenigstens eine reale und gleichwertige Chance gibt 218 . Ob dagegen der Staat verpflichtet ist, über die volle Ausnutzung vorhandener Kapazitäten hinaus so viele weitere Studienplätze zu schaffen, wie Bewerber vorhanden sind, muß politisch entschieden werden. Allein schon im Bildungsbereich konkurrieren miteinander viele Ansprüche, die sich auf gleichwertige Grundrechtspositionen berufen können. Es läßt sich nicht von Verfassungs wegen sagen, ob bei insgesamt begrenzten Mitteln der Schwerpunkt eher auf die Hochschuloder auf die berufliche Bildung gelegt werden soll. Auch viele andere Staatsaufgaben dienen der Verwirklichung von Grundrechten, 161 etwa dem Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG), und auch sie erfordern den Einsatz erheblicher öffentlicher Mittel. Welche dieser Aufgaben vordringlich erfüllt werden soll, läßt sich nicht von Verfassungs wegen entscheiden. Auch die Sozialstaatsklausel beantwortet solche Fragen politischer Prioritäts- 162 entscheidungen nicht, aber sie gibt doch eine Orientierungshilfe. Aufgabe des sozialen Staates ist es, die desintegrierende Wirkung zu vermeiden oder auszugleichen, die von einem sozialen Gefalle ausgeht. Jeder Bürger, nicht nur eine privilegierte Schicht, soll eine Chance zur Mündigkeit haben 219 . Wo dieser Ausgleich dringlich wird, liegt eine Aufgabe von besonderem Gewicht und großer Eilbedürftigkeit vor. Sie wird regelmäßig den Vorrang vor anderen Wünschen beanspruchen können, mit denen ausreichende Verhältnisse lediglich verbessert werden sollen. Wo sich ein erheblicher Nachholbedarf feststellen läßt, besteht auch eine größere Verpflichtung des Staates zur ausgleichenden Tätigkeit. Bei allen Prioritätsentscheidungen dieser Art besteht aber ein sehr weiter Raum gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit; nur bei evidenten Fehlentwicklungen oder geradezu willkürlicher Passivität gegenüber offenkundigen Mißständen kann eine Korrektur mit Hilfe des Verfassungsrechts in Betracht kommen. Seit der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands wird die schon alte 163 Frage wieder erörtert, ob in das Grundgesetz wirtschaftliche oder soziale Grundrechte aufgenommen werden sollten. Hierzu äußert sich ein anderer Beitrag (oben § 5 Rdn. 31, 32). Einer individualrechtlichen Ausformung solcher Grundrechte steht die einfache Erkenntnis entgegen, daß es sinnlos wäre, unerfüllbare Wünsche zu wecken. Der Entwurf einer Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung, der in Art. 26 „Sozialrechte" vorsieht, begnügt sich daher mit deren Charakterisierung als „Sozialgestaltungsaufträge" an den Gesetzgeber 220 . Aber auch so verstandene soziale „Grundrechte" (die keine wirklichen Grundrechte wären) könnten nicht mehr leisten als die Sozialstaatsklausel. Auch diese formuliert im wesentlichen einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber und zugleich die Legitimation zu entsprechender Aktivität. Lediglich die Themen wären konkretisiert: Arbeit, angemessene Wohnung, Gesundheit, Bildung, gesunde Umwelt. 2,8

B V e r f G E 33, 303 (338, 345 ff); 43, 291 (316 f).

2,5

HABERLE L e i s t u n g s s t a a t (Fn. 2 1 4 ) S.

220

Bericht der Expertenkommission für die Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung, 1977, S. 61.

109.

784

164

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Auch mit einer Aufnahme von solchen Zielen als Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz würde wenig bewirkt werden 221 . Daß ein Staat, der sich als Sozialstaat versteht, sich der sozial bedeutsamen Sachbereiche annehmen muß, ist auch ohne deren ausdrückliche Benennung selbstverständlich. Was er konkret unternimmt, hängt von den jeweiligen Verhältnissen, nicht zuletzt von den verfügbaren Mitteln und den politisch zu treffenden Prioritätsentscheidungen ab. Eher ist zu befürchten, daß bei vielen Bürgern die in einer Zeit verbreiteten Anspruchdenkens vorhandene Illusion gefördert wird, der Sozialstaat könne alles leisten. Wenn die Umstände das Wunschbild widerlegen, wird sich die Enttäuschung gegen den Staat richten, der doch alles versprochen hat. e) Massenverivaltung

und socialer

Staat

165 Das Bemühen um eine immer rationellere Gestaltung des Staatsapparates ist legitim. Es ist auch unausweichlich, da die Verwaltung immer größere Massenprobleme zu erledigen hat. Dies gilt für die Erfüllung sozialer Aufgaben in besonderem Maße. Der komplizierte Apparat der sozialen Sicherung ist ohne den Einsatz moderner Technik längst nicht mehr zu meistern. Aber auch andere sozial bedeutsame Staatsfunktionen, wie etwa die Rechtspflege als Instrument der Friedenssicherung, könnten nicht mehr bewältigt werden, wenn die Hilfsmittel der Technik nicht in immer stärkerem Maße genutzt würden. 166

Hieraus ergibt sich aber die Gefahr, daß der Bürger dem Staat als einer Maschine begegnet, die effektiv und (angeblich) fehlerfrei zu arbeiten vermag, aber außerstande ist, ein Gespräch zu führen. Der zu regelnde Lebenssachverhalt wird zu einem Fall, der nach abstrakten, nicht nach menschlichen Kriterien zu lösen ist. Wenn der Staat die Fähigkeit verliert, bei seinen auf den Bürger bezogenen Entscheidungen auch menschliche Faktoren zu berücksichtigen, dann kann auch nicht erwartet werden, daß der Betroffene zum Staat eine andere Beziehung entwickelt als die eines Steuerzahlers und Leistungsempfängers. Der soziale Staat, der auch an den Bürgersinn, die Einsicht und das Gefühl für Mitverantwortung aller appellieren soll, setzt sich leicht in Widerspruch zu den psychologischen und soziologischen Voraussetzungen einer solchen Bürgerhaltung. Die Integrationsfahigkeit jeder Gemeinschaft, auch der des Staates, beruht nicht in erster Linie darauf, welche materiellen Güter sie bereitstellen oder sichern kann. Mindestens gleich wichtig ist, ob eine gefühlsmäßige Bindung entstehen kann, die sich vom Anspruchsdenken löst. Erst recht gilt dies in einer Zeit, welche die Bindung an die Vergangenheit des eigenen Landes und Volkes lange verloren hatte und sich erst seit der Wiederherstellung der staatlichen Einheit auf ihre Geschichte zu besinnen beginnt.

167

Mit dem Menschenbild des Grundgesetzes läßt sich die verbreitete Tendenz zur Bildung immer größerer, immer perfekterer, immer unpersönlicherer Verwaltungseinheiten, Schulen oder Krankenhäuser nicht leicht vereinbaren. Sie alle mögen 221

Zur Aufnahme sozialer Grundrechte oder von Staatszielbestimmungen STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4) S. 9 3 6 f f ; BÄUMLIN/RIDDER A K - G G (Fn. 3) Art. 20 Abs. 1 - 3 IV Rdn. 6 0 f f .

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Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

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rationeller arbeiten, aber sie entfernen sich immer weiter (nicht nur im räumlichen Sinn) von den Bürgern, für die sie doch eigentlich gedacht sind. Gleiches gilt von der gedankenlosen Zerschlagung der kleinen Gerichte im Zuge einer „Reform" der Rechtspflege. Auch dies mag Kosten vermindert haben, und schon hierüber läßt sich streiten. Jedenfalls läßt sich der Verlust an Bürgernähe, der für die Rechtsprechung entstanden ist, nicht berechnen. Der „mündige Bürger" ist als Argumentationsfigur willkommen, etwa, um die staatliche Verantwortung zu relativieren. Aber es sieht nicht danach aus, daß er wirklich ein Leitbild der Verwaltungstätigkeit ist. Dabei müssen nicht die guten Absichten bestritten werden, die mit den oben erwähnten Reformen verbunden waren. Es mag im Einzelfall notwendig sein, veraltete Organisationsstrukturen zu ersetzen und dabei zu größeren Einheiten zu gelangen, und auch der Einsatz der Technik muß nicht stets bedenklich sein, zumal anders Massenvorgänge nicht erledigt werden können. Nur sollten alle für oder gegen eine Modernisierung sprechenden Umstände erwogen werden, bevor die politische Entscheidung getroffen wird. Ein Staat, der allmählich alle menschlichen Züge aufgibt, mag hierbei von dem 168 Bemühen um Beseitigung von Mängeln und Unvollkommenheiten geleitet sein. Möglicherweise ist er in einem Höchstmaß effektiv. Es ist aber zweifelhaft, ob es sich dann bei ihm noch um den Sozialstaat handelt, den das Grundgesetz meint. Sozialstaatlich geboten ist auch das ständige Bemühen, unter Anerkennung heutiger Gegebenheiten und unter Berücksichtigung der Erfordernisse einer vielfach überlasteten Verwaltung dennoch möglichst dicht am Bürger zu bleiblen. Hieraus folgt, daß Zentralismus und Anonymität nicht überwuchern dürfen. Vielmehr müssen überschaubare und begreifbare, in einem ganz einfachen Sinn ansprechbare Einheiten überall dort bestehen bleiben, wo sie auch unter den heutigen Verhältnissen noch lebensfähig sind. Diese Betrachtungsweise findet ihre Parallele bei der Frage nach dem Sinn des föderalistischen Prinzips, das verfassungsrechtlich den gleichen Rang wie die Sozialstaatsklausel hat. Auch die Entscheidung für den Föderalismus läßt sich unter vermeintlich praktischen Gesichtspunkten kritisieren, aber die verfassungsrechtliche Entscheidung geht dahin, daß nicht der Zentralismus das Eigenleben der Länder ersticken soll. Auch hierbei ist sicher nicht so sehr an landespolitische Eigenwünsche, sondern an den Bürger gedacht worden. f ) Chancengleichheit

und sociale

Umverteilung

Der Sozialstaat ist nicht so sehr, wie der Rechtsstaat, auf Freiheit gerichtet, sondern 169 eher auf Gleichheit222. Aber beide verbinden sich im sozialen Rechtsstaat. Diesem ist die Bewahrung der Freiheit nicht gleichgültig, sondern muß bei dem Ausgleich der Interessen mitgesehen werden. Freiheit für alle bedeutet, daß Unterprivilegierte gezielt gefördert werden können, um Gleichheit der Chancen zu erreichen. Aber die Herstellung gleicher Startchancen soll nicht zur Gleichmacherei führen. Im Gegenteil: 222

HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 20 (VIII) Rdn. 36; vgl. auch ZACHER HdBStR Bd. 1 (Fn. 146) § 2 5 Rdn. 32 ff.

786

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche O r d n u n g des Grundgesetzes

Es ist ein elementares Gebot des Sozialstaates, daß die begrenzten Mittel der Allgemeinheit nicht schematisch ausgestreut, sondern auf diejenigen konzentriert werden, die wirklich hilfsbedürftig sind. Sozialstaatswidrig ist es, wenn Hilfen von denen in Anspruch genommen werden können, die nicht hilfsbedürftig sind223. Die als „Gießkannenprinzip" bezeichnete politische Praxis, die wegen der Chance, breite Wählerschichten zu beeindrucken, eine ständige Versuchung darstellt, widerspricht sozialstaatlichen Geboten. Da die Mittel, die der Staat zur Verfügung hat, begrenzt sind, fehlt jeder an einen nicht Bedürftigen ausgegebene Betrag jemandem, der bedürftig, also auf die Hilfe dringend angewiesen ist. Nicht schematische Gleichmacherei, sondern im Gegenteil differenzierende Gerechtigkeit im Sinne sachgemäßer und sozialadäquater Unterscheidung ist anzustreben: Nicht jedem das Gleiche, sondern „suum cuique" 224 . 170

Zunächst ist es Sache des Gesetzgebers, seine eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen zu verwirklichen und damit über die Richtung staatlicher Sozialgestaltung zu entscheiden. Allerdings darf dabei nicht gegen das Willkürverbot verstoßen werden 225 . Die Sozialstaatsklausel verlangt noch mehr: „Was gleich und was ungleich, was sachgerecht oder was sachwidrig ist, muß ... am Sozialstaatsprinzip gemessen werden; es kommt auf die .soziale Gleichheit' an". Hieraus folgt die Verpflichtung zu einer auch in den Einzelheiten sozialgerechten Ausgestaltung der zur sozialen Sicherung der Bürger geschaffenen und heute selbstverständlichen Einrichtungen 226 . Der Umfang verfassungsrechtlicher Kontrolle sozialstaatlich bedeutsamer gesetzgeberischer Entscheidungen geht hiernach über das hinaus, was im Bereich des Art. 3 Abs. 1 GG zu einer nur zurückhaltenden Uberprüfung am Maßstab des Willkürbegriffs führt. Das Prinzip sozialer Gerechtigkeit bedeutet aber nicht eine egalitäre Überdehnung des Gleichheitsprinzips. „Das Sozialstaatsprinzip ermächtigt nicht zu beliebiger Sozialgestaltung, die das Gebot der Gleichheit auflösen würde" 227 .

171

Wenn hiernach aus dem Sozialstaatsgebot nicht radikal-egalitäre Tendenzen folgen, bedeutet dies nicht, daß Gesellschaftspolitik nicht auch Umverteilung betreiben dürfte. Eine Politik der Umverteilung, die größere soziale Gerechtigkeit herstellen will, ist dem Grundsatz nach zulässig. Gegen solche Bestrebungen kann der Schutz des Art. 14 GG in Anspruch genommen werden. Aber die Wirksamkeit dieser Sperre sollte nicht überschätzt werden. Zwar hindert Art. 14 Abs. 3 GG daran, die Enteignung als Mittel der Umverteilung zu nutzen. Im übrigen müßte eine

223 224

225 226 227

B V e r f G E 9, 2 0 (35); ähnlich 17, 1 (11); 1 7 , 3 8 (56); 59, 52 (62). Vgl. oben Fn. 78; H. SCHNEIDER Über den Beruf unserer Zeit f ü r Gesetzgebung, in: N J W 1 9 6 2 , 1275. B V e r f G E 12, 3 5 4 (367). So zu Recht die abw. M. in B V e r f G E 36, 2 3 7 (250). B V e r f G E 12, 3 5 4 (367); 26, 4 4 (62); HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) A r t . 2 0 (VIII) Rdn. 36 f f ; zum Verhältnis der Sozialstaatsklausel zu den Grundrechten STERN Staatsrecht Bd. 1 ( F n . 4 ) S. 9 0 4 f f ; BÄUMLIN/RIDDER A K - G G

(Fn. 3) A r t . 2 0 A b s . 1 - 3

I V Rdn. 5 3 f , 5 6 f ;

zum

Verhältnis der Sozialstaatsklausel zu dem strikten Gleichheitssatz des A r t . 3 A b s . 2 G G E. BENDA Notwendigkeit und Möglichkeit positiver A k t i o n e n zugunsten v o n Frauen im öffentlichen Dienst, 1 9 8 6 , S. 137.

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

787

Entschädigung gezahlt werden; dies würde einen solchen Weg wenig praktikabel machen. Weniger dramatisch ist es demgegenüber, über Art. 14 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 GG vorzugehen. Wo die Grenze zwischen Sozialbindung des Eigentums und Enteignung verläuft, wird unten (§10 Rdn. 53 ff) erörtert. Man kann aber eine gewisse Tendenz erkennen, den Anwendungsbereich der Enteignung zugunsten der Sozialbindung einzuengen 228 . Die größte Versuchung für den Staat, Art. 14 GG zu unterlaufen, liegt auf dem 172 Gebiet der Währungs- und Steuerpolitik. Auch von den Sozialisierungsmöglichkeiten des Art. 15 GG ließe sich Gebrauch machen; aber dann müßte nicht nur Entschädigung gezahlt, sondern auch das volle unternehmerische Risiko übernommen werden. Die Sozialisierung nur der Gewinne im Wege der Besteuerung ist dagegen für den Staat ohne jedes Risiko. Dieser bequeme Weg bietet sich um so eher an, als nach bisheriger Meinung des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtliche Schwierigkeiten allenfalls in Extremfällen entstehen können, also dann, wenn die Besteuerung ihrer Höhe nach auf die unternehmerische Tätigkeit erdrosselnd wirkt 229 . Gegen diese Rechtsprechung ist viel Widerspruch erhoben worden, und das letzte Wort ist hierzu auch vom Bundesverfassungsgericht wohl noch nicht gesprochen worden. Aber auch wenn die Grenzen des Zulässigen enger gezogen würden, als dies heute der Fall zu sein scheint, bleibt es richtig, daß die Möglichkeiten der Finanzpolitik die offene Flanke der Wirtschaftsverfassung gegenüber dem Staat bezeichnen230. Selbstverständlich darf dem Staat auch nicht das Recht genommen werden, 173 Steuern zu erheben, auch um so Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu betreiben 231 . F O R S T H O F F bezeichnet das sozialstaatliche System geradezu als ein „System der Verlagerung des Sozialprodukts im Wege der Besteuerung". Der Sozialstaat müsse als Rechtsstaat zusammenbrechen, wenn ihm durch Anwendung des Art. 14 Abs. 3 GG auf Geldleistungspflichten dieses wichtigste Instrument genommen werde 232 . Zu einer solchen Dramatisierung besteht indes kein Anlaß. Es kann nur um äußerste und jedenfalls weitgefaßte Grenzen des staatlichen Besteuerungsrechts gehen, ohne daß es damit unzulässig wäre, dieses Mittel auch für Zwecke der Umverteilung einzusetzen. Eine Einengung des Gestaltungsraumes, welche die Erfüllung des sozialstaatlichen Auftrags unmöglich machen würde, ist im Lichte der Verfassungsrechtsprechung kaum zu befürchten. Es sieht gegenwärtig so aus, daß nicht nur die Zeiten ungestümen Wirtschaft- 174 liehen Wachstums vorbei sind, sondern auch eine Stagnation oder sogar ein Rückgang des Sozialprodukts angenommen werden muß. Vielfach wird eine solche Entwicklung wegen der zunehmenden Gefährdung der Umwelt und der befürchteten Er228 229 230

231 232

O. KIMMINICH in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 14 Rdn. 108 ff m. w. N. BVerfGE 14, 221 (241); 38, 61 (102); 72, 200 (248); 78, 232 (243). K . BALLERSTEDT W i r t s c h a f t s v e r f a s s u n g , i n : K . B E T T E R M A N N / H . N I P P E R D E Y / U . S C H E U N E R ( H r s g . )

Die Grundrechte, III/L, 1958, S. 57. BVerfGE 13, 331 (345 f); 16, 147 (161). FORSTHOFF R e c h t s s t a a t i m W a n d e l ( F n . 1 4 9 ) S. 7 0 .

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Schöpfung der Rohstoffe, vor allem wegen der ungelösten Energieprobleme sogar befürwortet233. Damit entsteht, wie FORSTHOFF vorhergesagt hat, der „Ernstfall des Sozialstaats", also eine Lage, welche in besonderem Maße staatlicher Herrschaft und Autorität erfordere, welche aber der Verteilungsstaat nicht aufzubringen vermöge234. Möglich ist aber auch eine Überdehnung des Sozialstaates. Der Verteilungskampf kann um so schärfer werden, je knapper die Ressourcen werden. Am ehesten werden sich dann die starken sozialen Gruppen mit ihren Forderungen durchsetzen können, während die besonders hilfsbedürftigen, schwach vertretenen Gruppen sich nicht oder nur mit Mühe behaupten könnten. Dies wäre die entscheidende Probe auf den Sozialstaat und sein wirklicher Ernstfall: ob er versagen würde, indem er lediglich dem größten Druck nachgeben würde, oder ob er sich bewährte, indem er sich an die Seite der Schwachen und Schutzbedürftigen stellte. Dieser Test ist noch zu bestehen. g)

Voraussetzungen des So^ialstaates

175 Für den Gesamtzustand der Volkswirtschaft trägt der Staat Mitverantwortung. Erst Stabilität und beständige Arbeit der Wirtschaft liefern die notwendigen Voraussetzungen für die Erfüllung sozialer Gestaltungsaufgaben. Daher kann der soziale Staat nicht lediglich Gesellschafts-, sondern muß auch Wirtschaftspolitik betreiben. Er ist nicht nur die Verteilungsstelle für die Früchte einer sich selbst überlassenen Wirtschaft, nicht nur das Instrument, mit dessen Hilfe Leistungsquoten festgelegt, durchgeführt und nach den wechselnden Bedürfnissen verändert werden. Der Sozialstaat muß Bestand, Stabilität und Wachstum der Wirtschaft fördern und sichern. Sonst könnte er nur den Mangel verwalten oder aus der Substanz leben. 176

Hieraus ergeben sich verfassungsrechtliche Konsequenzen. In Art. 109 Abs. 2 GG ist das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als Verfassungsmaxime anerkannt235. Diese Zielvorstellung und die sozialstaatliche Aufgabe bilden keinen Gegensatz, sondern bedingen einander. Anerkannt ist, daß die finanzielle Belastbarkeit des Staates eine äußerste Grenze für alle Wünsche auf soziale Leistungen zieht. Auch Forderungen, die der sozialstaatlichen Zielsetzung entsprechen, stehen verfassungsrechtlich „unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann"236. Dies ist nicht nur im fiskalischen Sinn zu verstehen, sondern bekräftigt den Gedanken, daß nicht Anspruchsdenken erwünscht ist, sondern zunächst die Eigenverantwortung des Einzelnen angesprochen ist237. Für die sachgerechte Gestaltung des Haushaltsplans, aus dem sich die finanziellen Prioritäten ergeben, trägt aber der Gesetzgeber eine unmittelbare

233

234

Z u r Bedeutung der Wachstumskrise für das Sozialstaatsprinzip HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 2 0 (VIII) Rdn. 15. FORSTHOFF Rechtsstaat im Wandel (Fn. 149) S. 107.

235

Z u r g l o b a l e n W i r t s c h a f t s s t e u e r u n g STERN S t a a t s r e c h t B d . 1 ( F n . 4 ) S . 9 0 4 f f ; BÄUMLIN/RIDDER

236

A K - G G (Fn. 3) Art. 20 Abs. 1 - 3 IV Rdn. 7 1 , 73. B V e r f G E 33, 303 (333). B V e r f G E 17, 38 (56).

237

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

789

Verantwortung. Rechtlich folgt, daß auch fiskalische Erwägungen als vernünftige und sachgemäße Gründe im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 GG anzuerkennen sind 238 . Dabei kann nicht schon der Hinweis auf die Selbstverständlichkeit, daß jede soziale Leistung Aufwendungen im Staatshaushalt verursacht, eine ausreichende Begründung liefern. Die Grenzen der finanziellen Leistungsfähigkeit sind aber von verfassungsrechtlicher Relevanz. Auf sie darf sich der Staat auch gegenüber an sich verständlichen Forderungen berufen. Solche Grenzen der Leistungsfähigkeit, die der Staat für sich selbst in Anspruch 177 nimmt, müssen in gleicher Weise gelten, wenn er die sich aus seiner Sozialpolitik ergebenden Lasten auf die Wirtschaft überwälzt. Die Leistungsfähigkeit und die Belastbarkeit der Wirtschaft sind ebenso wenig unbegrenzt wie die des Staates. Wenn die Wirtschaft für die sozialstaatlichen Aktivitäten in Anspruch genommen wird, sind zunächst die Freiheitsgrundrechte insbesondere der Art. 2, 12, 14 GG zu beachten. Aber auch aus dem Verfassungsgebot der Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG) ergibt sich eine Grenze für die Erfüllung sozialer Wünsche dort, wo die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft aufhört 239 . Hierbei geht es nicht nur um Grenzen der Besteuerung oder anderer Formen 178 der Finanzierung des Sozialstaates. Jede Maßnahme, die der sozialen Sicherung dient, wird auf die eine oder andere Weise vom Bürger bezahlt. Dies ist eine ganz selbstverständliche, aber immer wieder vergessene Tatsache. Auch der Nulltarif trägt sich nicht selbst, sondern muß durch Steuern oder auf andere Weise gesichert werden. Daher kann die Industriegesellschaft, die den Sozialstaat voraussetzt, nur eine Leistungsgesellschaft sein. Die Verkümmerung des Leistungsprinzips würde den Sozialstaat zusammenbrechen lassen. Die polemisch gemeinte Klage, daß der Sozialstaat von der wohlstandsproduzierenden Privatwirtschaft abhängig sei, trifft den Sachverhalt genau. Allerdings wäre die einzige Alternative hierzu eine Staatswirtschaft, die nach allen bisherigen Erfahrungen nur schlechter funktionieren würde, von der aber der Sozialstaat, wenn auch auf einem niedrigeren Niveau, in sonst gleicher Weise abhängig wäre. Der Sozialstaat besteht nicht lediglich in Leistungen des Staates, die an die 179 Bürger verteilt werden, sondern erfordert auch und sogar in erster Linie Sozialverantwortung des Einzelnen für sich selbst. Zunächst soll jeder seine eigenen Kräfte anspannen, bevor er staatliche Hilfe in Anspruch nimmt. Hierdurch wird der Sozialstaatsgedanke nicht relativiert, sondern verdeutlicht. Eine weitere Voraussetzung des Sozialstaats ist die Sozialpflichtigkeit seiner 180 Bürger. Sie bedeutet zunächst Sozialverträglichkeit der eigenen Lebensführung, aber darüber hinaus Sorge für den Mitmenschen 240 . Man mag dieses Prinzip Brüderlichkeit, Nächstenliebe oder Solidarität nennen. Rechtlich erzwingen läßt sich diese Haltung nicht. Soweit sie besteht, kann auch die Spannungslage zwischen Freiheit

238 239 240

BVerfGE 3, 4 (11); 60, 16 (43); 72, 175 (198). HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 20 (VIII) Rdn. 23. G . DÜRIG in: M a u n z / D ü r i g G G (Fn. 4) A r t . 3 A b s . 1 R d n .

163.

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

790

und Gleichheit, Rechtsstaat und Sozialstaat überwunden werden. Sozialverantwortung für sich selbst und für den Mitmenschen ist ein wesentliches Element des Sozialstaates. 181 Hieraus folgt, daß der Staat sozial verantwortliches Verhalten, das nicht mit rechtlichen Mitteln erzwingbar ist, wenigstens nicht verkümmern lassen darf. Wenn das System der sozialen Sicherung allumfassend und nahezu perfekt ist, wird der in das System eingegliederte Einzelne allmählich keine Notwendigkeit mehr sehen, sich selbst Gedanken über die eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens und über die Vorsorge gegen mögliche Risiken zu machen. So wird seine Fähigkeit, persönliche Lebenskrisen zu meistern, mit der Zeit verkümmern. Das Gefühl, daß der Staat ja für alle Probleme zuständig sei, vermindert die Bereitschaft des Bürgers, anderen zu Hilfe zu kommen, wenn diese in eine Notlage geraten. Wenn stets nur auf den Staat gewartet und nach diesem gerufen wird, werden Solidarität oder Nächstenliebe allmählich überflüssig. Der soziale Staat darf sich und soll sich als ein Gemeinwesen verstehen, das sich immer neu um die Wohlfahrt aller seiner Bürger bemüht. Aber der umfassende Versorgungsstaat, der den Menschen angeblich alle Sorgen abnimmt, ist nicht sozial. Wenn er überhaupt funktionieren soll, muß er sich zum Vormund seiner Bürger machen. Die so Entmündigten werden die Fähigkeiten eigenen sozialen Verhaltens verlieren. 182

Vor solchen Überspitzungen muß sich der Sozialstaat hüten. Wenn er sich zurückhält, kann eine wache, aber behutsame Aktivität auch eine soziale Integrationswirkung erzeugen. Soziale Integration meint das Bemühen, die verschiedenen sozialen Klassen, Schichten und Gruppen zu einen und dabei die unvermeidlichen, immer neu hervorbrechenden Konflikte zu bewältigen 241 . Auch hierbei kommt es nicht allein und nicht einmal in erster Linie auf den Staat an, sondern vielmehr auf die Einzelnen und die Gruppen. Der Staat erfüllt eine ganz wesentliche Voraussetzung für soziale Integration, indem er den Menschen als „mündigen Bürger" nicht bloß verbal anerkennt, sondern die realen Bedingungen der Mündigkeit fördert und jedenfalls darauf verzichtet, diesen sich in einem Zustand der Unmündigkeit zu unterwerfen. 4. Ausblick: Zeitliche Dimensionen der Sozialstaatsklausel a) Recht und socialer

Wandel

183 Einer verantwortungsvollen Politik kann die Zukunft niemals gleichgültig sein. Jede über die Tagespolitik im engsten Sinne hinausreichende Entscheidung wirkt zwangsläufig in spätere Zeiten hinein. Sie beeinflußt damit die Lebens situation späterer Generationen. Die heutigen Aktivitäten des Staates auf vielen Gebieten (beispielsweise die Hochschulpolitik, die Regelung der Berufsausbildung oder strukturelle Entscheidungen auf dem Gebiet der Sozialversicherung) haben notwendigerweise

241

E. R. HUBER Rechtsstaat und Sozialstaat in der modernen Industriegesellschaft, 1962, S. 13 f.

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

791

langfristige Wirkungen. Sie bestimmen die Faktoren, von denen künftig die Arbeitsmarkt- oder Sozialpolitik ausgehen muß. Was heute entschieden wird, ist nicht mit Wirkung für diese spätere Gegenwart, sondern nur in eine fernere Zukunft hinein korrigierbar. Die heutige Zeit wird in besonderem Maße als eine Zeit des raschen sozialen 184 Wandels empfunden 242 . Hierdurch verschiebt sich die Bedeutung politischer Entscheidungen in ihrer zeitlichen Dimension: Auf der einen Seite verliert in einer schnellebigen Zeit vieles rasch an Gewicht, wird also relativ unwichtig. Andererseits können sich in labilen Situationen schon aus geringfügigen Ursachen große Wirkungen ergeben. Die mittel- und langfristigen Folgen heutigen Handelns können ganz bedeutend sein, sind aber wahrscheinlich schwieriger abzuschätzen als in früheren Zeiten einer ruhigeren und beständigeren Entwicklung. Immerhin kann man von einigen Annahmen ausgehen. Zu den weltweiten 185 Verflechtungen aller Völker im wirtschaftlichen Bereich und den neuen technischen Gegebenheiten, die das Tempo des Wandels beschleunigen, treten die mit dem Stichwort von den „Grenzen des Wachstums" umrissenen Zukunftsprobleme. Viele Prognosen sind heftig umstritten. Da nur die Zukunft ergeben kann, wer recht hat, müssen alle Vorausüberlegungen von teilweise ungesicherten Prämissen ausgehen. Aber der gegenwärtige Diskussionsstand kann auf die einfache Formel gebracht werden, daß die Zeit beständigen wirtschaftlichen Wachstums in der bisher für normal gehaltenen Form zu Ende geht. Entweder gelingt es, brauchbare Alternativen zu entwickeln, oder die Änderungen werden durch die Verhältnisse erzwungen werden. Damit beeinflussen alle wesentlichen Entscheidungen auf wirtschafts- und so- 186 zialpolitischem Gebiet zugleich die künftige Entwicklung. Die Diskussion über die friedliche Nutzung der Kernenergie mag auch irrationale Ursachen haben, also mit Zukunftsangst zusammenhängen, die sich in den leidenschaftlich geführten Debatten symbolisch ausdrückt. Im übrigen geht es um die Frage, ob die schwerwiegenden Grundsatzentscheidungen schon heute getroffen werden können oder müssen, ohne daß vielleicht das volle Ausmaß des Risikos ganz überblickt werden kann, oder ob man das Problem an die nächste oder übernächste Generation weiterreichen kann und darf. Eine der hierbei auftauchenden Fragen geht dahin, wieviel Zeit noch zur Verfügung steht, bevor ein nicht widerrufbarer Entschluß getroffen werden muß. Es handelt sich um das Problem, welche Generation die Verantwortung für eine Entscheidung übernimmt, die nicht nur sie selbst, sondern auch die später Lebenden bindet. Ahnliche Fragen stellen sich überall dort, wo Rohstoffvorräte zu Ende gehen oder die Belastung der Umwelt die Gefahrengrenze zu überschreiten droht. Gemeinsamer Nenner aller Überlegungen ist die Frage, ob wie bisher auf die Fähigkeit jeder Zeit vertraut werden darf, die sich in ihr ergebenden Probleme selbst zu lösen, oder ob heute schon die Zukunft mit der möglichen Folge vorausgedacht werden

242

BENDA Sozialer Wandel (Fn. 115).

792

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

muß, daß um der Sicherheit der Zukunft willen die Ansprüche der heute Lebenden eingeschränkt werden müssen. 187

Damit wird nicht nur nach der Qualität und auch der ethischen Verantwortbarkeit der Politik gefragt. Auch die Rechtsordnung steht vor der gleichen Herausforderung. Das Recht ist sozialen Verhältnissen gegenüber nicht ohnmächtig, sondern kann und soll diese beeinflussen und verändern. Wenn die Sozialstaatsklausel nicht einfach die Sorge für die heute Lebenden meint, sondern auch ihre Kinder und Enkel in ihren künftigen Lebensumständen sieht, dann läßt sich von einem Verfassungsauftrag zu einer vorausschauenden Politik sprechen, welcher der Verfassungsnorm eine zeitliche Dimension verleiht. Aus der Sozialstaatsklausel ist ein Verfassungsauftrag zur Planung entnommen worden 243 . Hierzu ist insofern nichts zu bemerken, als mit Planung im Grunde nur eine intensivierte und systematisierte Form des Nachdenkens über Probleme gemeint ist. Es bedarf nicht eines besonderen sozialstaatlichen Auftrags, sondern entspricht den verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen an jede Politik, daß sie das Ergebnis eines Erkenntnis- und Denkvorgangs ist. Sie darf nicht nur dem Instinkt oder ähnlichen nicht nachvollziehbaren Eingebungen folgen. Dabei sind natürlich irrationale Faktoren weder völlig auszuschließen, noch soll ihnen jede Berechtigung abgesprochen werden. Politik ist auch eine Kunst. Sie folgt nicht nur der Vernunft, sondern auch spontanen Impulsen. Es ist aber wohl nicht zuviel verlangt, wenn gefordert wird, daß Regierungen und andere Staatsorgane nachdenken, bevor sie tätig werden.

188

Über solche Selbstverständlichkeiten hinaus stellt der Sozialstaat höhere Anforderungen. Die moderne Industriegesellschaft, auf deren Probleme er antworten will, ist durch eine hohe Empfindlichkeit und Komplexität der staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen gekennzeichnet. Um so wichtiger ist es, nicht nach-, sondern vor allem auch vorauszudenken. Es reicht nicht aus, bei Fehlentwicklungen oder Mißständen die Folgen zu reparieren und die Fehlerquelle zu beseitigen, damit sich der Vorgang nicht wiederholen kann. Nach Möglichkeit sollen vielmehr die Probleme vorausschauend aufgespürt werden, damit ein Schaden nicht erst eintreten kann.

189

Diese Aufgabenstellung ist nicht neu, aber sie ist heute dringlicher geworden. Schon 1872 sprach der Gründungsaufruf des Vereins für Socialpolitik von der Notwendigkeit, „das wohlerwogene Eingreifen des Staates zum Schutze der berechtigten Interessen aller Beteiligten zeitig wachzurufen", um damit die Erfüllung „der höchsten Aufgaben unserer Zeit und unserer Nation" zu garantieren 244 . Dabei kommt es auf das zeitige Eingreifen wesentlich an. Es genügt nicht, die Wirtschaft nach den Prinzipien einer freien Marktwirtschaft einfach gewähren zu lassen und sich zu bemühen, die sich hierbei ergebenden gesellschaftlichen Unzuträglichkeiten durch nachträgliche Korrekturen unter sozialen Gesichtspunkten zu beseitigen oder zu 243

244

Hierzu HERZOG in: Maunz/Dürig G G (Fn. 4) Art. 20 (VIII) Rdn. 16 f; BÄUMLIN/RIDDER A K - G G (Fn. 3) Art. 20 Abs. 1 - 3 V Rdn. 1 ff; STERN Staatsrecht Bd. 1 (Fn. 4) S. 906 f. Zitiert nach R. DAHRENDORF Demokratie und Sozialstruktur in Deutschland, in: Offene Welt 1961, 99.

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

793

mildern. In einer sozialen Marktwirtschaft müssen vielmehr die gesellschaftspolitischen Zielsetzungen von vornherein in die Wirtschaftspolitik einbezogen werden. So kann man auch nicht mehr sagen, daß die beste, also das größtmögliche 190 Wachstum sichernde Wirtschaftspolitik zugleich die beste Sozialpolitik sei. Diese Auffassung geht von der Uberzeugung aus, es werde bei genügender Produktionskraft der Wirtschaft möglich sein, alle Interessen angemessen zu befriedigen. Wenn das Tempo des Wachstums sich verringert oder sogar bewußt gebremst werden muß, wird die These fragwürdig. Gesellschaftspolitik, die sozialstaatlich orientiert ist, begnügt sich nicht damit, die Früchte einer möglichst gut funktionierenden Wirtschaft zu verteilen. Vielmehr wird mit Recht eine Ergänzung der sozialen Marktwirtschaft durch ein gesellschaftspolitisches Leitbild gefordert, das in der Vergangenheit noch kein hinreichendes Profil gewonnen hat245. Die sich hieraus ergebenden Zielvorstellungen sind auch in eine fernere Zukunft hinein zu projizieren. Das vorausschauende und systematische Durchdenken der Probleme als Vor- 191 aussetzung zielgerichteter Politik wird unabweisbar, wenn der Staat es unternimmt, regulierend in das freie Spiel der Kräfte einzugreifen, ohne dieses selbst zu beseitigen. Diese Aufgabe ist komplizierter, als wenn der Staat selbst die wesentlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Funktionen übernehmen würde. In diesem Falle könnte er deren Ablauf im ganzen (abgesehen von den unkontrollierbaren Einflüssen etwa außenwirtschaftlicher Faktoren) vorausberechnen und -bestimmen. Die negativen Erfahrungen, die überall mit staatlicher Planwirtschaft gemacht worden sind, müßten den naiven Glauben an die überlegenen Fähigkeiten des Staates erschüttern, der die Dinge selbst in die Hand nimmt. Aber die Versuchung, Freiheit durch staatlichen Dirigismus zu ersetzen, besteht hier und da fort. Für das optimistische Vertrauen in den Staat als wirtschaftlichen Unternehmer können nur sehr bescheidene Belege vorgewiesen werden. Aber staatliche Planung in einer freien Wirtschaftsordnung ist sicher schwierig, weil die wesentlichen Faktoren von nichtstaatlicher Seite gesetzt werden. Bis mit dem vollständigen Zusammenbruch des Ostblocks die Mängel der totalen Planwirtschaft offenbar wurden, schien es manchem erträglicher, diese in Kauf zu nehmen, als sich den mißlichen Unwägbarkeiten der Freiheit zu unterwerfen. Die Verfassung gewährleistet aber diese Freiheit auch im Hinblick auf die sozialpolitische Gestaltungsaufgabe des Staates. Insoweit ist die Möglichkeit zur Planung begrenzt oder doch die Vorausberechenbarkeit planerischen Handelns eingeschränkt. b) Notwendigkeit und Gefahr der Planung Mit diesen Überlegungen ist kein entscheidendes Argument gegen die Notwendigkeit 192 und verfassungsrechtliche Zulässigkeit langfristiger Planung geliefert. Sie ist im Gegenteil unvermeidlich, je mehr der Staat sich als Sozialstaat versteht. Sie ist auch nicht unmöglich. Der moderne Sozialstaat wurde zwar als den organisierten Interessen und wirtschaftlichen Mächten gegenüber hilflos angesehen, weil in ihm jede 245

A. MÜLLER-ARMACK Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, 1974, S. 134.

794

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche O r d n u n g des Grundgesetzes

echte Herrschaft unmöglich sei246. Verfassungsauftrag und tatsächliche Entwicklung weisen aber eher in die umgekehrte Richtung. Die Tendenz geht im Hinblick auf die Einbindung der Wirtschaft in gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge, die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander und die fortlaufende Steigerung der Sozialkosten in die Richtung einer Unterordnung der Ökonomie unter die Politik. Die Gesellschaft wird primär nicht mehr von der Wirtschaft, sondern von der Politik bestimmt. Die Abhängigkeit technischer Großvorhaben und ganzer Wirtschaftszweige von staatlichen Aufträgen und von politischen Entscheidungen belegt diese Tendenz. Grenzen ergeben sich dabei durch die rechtsstaatlichen und freiheitssichernden Verfassungsnormen. Aber für die sozialgestaltende Staatstätigkeit verbleibt ein weiter Raum. 193

Zugleich öffnet sich damit ein neues Konfliktfeld, das thesenartig als die „Beseitigung der Herrschaft durch die Einsetzung der Vernunft als Ordnungsprinzip" beschrieben wird, also die allmähliche Ersetzung der Politik durch die Wissenschaft 247 . Die hiermit verbundenen Gefahren einer Verplanung der Menschen, die als Objekt einer angeblich wissenschaftlich fundierten und damit nicht mehr der Diskussion offenen Wahrheit unterworfen werden, werden an anderer Stelle behandelt (oben § 6 Rdn. 4 9 - 5 2 ) .

194

Die der Demokratie eigentümliche ständige Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit, das Ringen um den besten Weg, müssen weiter möglich bleiben. Dabei können Grundsatzentscheidungen fallen, die notwendigerweise den weiteren Gang der Dinge für lange Zeit festlegen. Investitionsentscheidungen von großer Tragweite können bei einer Veränderung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse oder einem Wandel der Auffassungen nicht oder nur unter großen volkswirtschaftlichen Verlusten abgeändert werden. Entscheidungen etwa auf dem Gebiet des Hochschulbaus, der Schulpolitik, der Raumordnung, vieler Bereiche der Sozialpolitik oder bei der Auswahl neuer Waffensysteme haben Auswirkungen oft auf Jahrzehnte hinaus. Jedenfalls wirken sie notwendig über eine Wahlperiode hinaus.

195

Dürften nur die politischen Schritte unternommen werden, deren Wirkungen nicht über vier Jahre hinausgehen, so wären Parlament und Regierung gezwungen, von der Hand in den Mund zu leben. Damit würde eine zukunftsorientierte Planüng unmöglich sein. Die Meinung, es müsse der parlamentarischen Mehrheit „nach dem Grundgedanken der Demokratie" verwehrt sein, eine Wirtschaftspolitik zu betreiben, die Tatsachen schafft, welche überhaupt nicht oder nur unter erheblichen Opfern rückgängig gemacht werden können248, würde im Ergebnis den größeren Teil der heute im Bereich der praktischen Politik regelmäßig erforderlichen Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung unzulässig machen. Dabei würde die Untätigkeit der Politik, also die Nicht-Entscheidung, meist ebenso langfristige Wirkungen haben wie eine Entscheidung. Gegenüber dem aus dem Demokratieprinzip hergeleiteten

246 247 248

FORSTHOPF Rechtsstaat im Wandel (Fn. 149) S. 107. H. HARNISCHFEGER Planung in der sozialstaatlichen Demokratie, 1 9 7 1 , S. 18, 40. H. KRÜGER Staatsverfassung und Wirtschaftsverfassung, in: D V G 1 . 1 9 5 1 , 363.

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Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

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Argument gewinnt aber die Bedeutung der So2ialstaatsklausel als eines „zukunftsorientierten Rechtsbegriffs" Gewicht. Der parlamentarischen Mehrheit kann nicht verwehrt sein, sich über ihre eigene 1 9 6 Zeit hinaus Gedanken zu machen. Wenn dies zu langfristig wirksamen Entscheidungen führt, mag der der Demokratie eigentümliche Gedanke beeinträchtigt erscheinen, daß in ihr Herrschaft nur auf begrenzte Zeit verliehen wird. Demgegenüber weist die Sozialstaatsklausel nach der hier vertretenen Auffassung in eine weitere zeitliche Dimension hinein. Wenn der „Verfassungsauftrag zur Planung" einen Sinn haben soll, muß er über die Geschäfte der Tagespolitik hinaus wirken. Im Konfliktfalle muß dem Recht und der Pflicht zu einer zukunftsorientierten Politik der Vorrang eingeräumt werden. Auf andere Weise wäre das Dilemma unauflösbar. Wenn der Auftrag des sozial verpflichteten Staates anerkannt wird, neben den 1 9 7 Interessen der heute Lebenden auch die Belange künftiger Generationen zu beachten, kann nur das Bemühen erwartet werden, heute das zu tun, was nach gewissenhafter Prüfung aller Umstände der mutmaßlichen Interessenlage künftig Geborener Rechnung trägt. Die Auffassung derer, die Jahrzehnte später die Folgen zu tragen haben, kann allenfalls vermutet, aber nicht festgestellt werden. Dies und die Einsicht in die Unzulänglichkeit aller menschlichen Bemühungen sollten zu nüchterner Betrachtungsweise und auch zu Bescheidenheit führen. Überspannte Utopien sind nicht gefragt. Auch der Glaube in die Unfehlbarkeit der Wissenschaft ist vielfach einem skeptischen Realismus gewichen. Auch dies setzt jeder Planung natürliche und vielleicht heilsame Grenzen. Aus alledem ergeben sich immanente Schranken jeder Zukunftsplanung. Sie 1 9 8 wird deswegen aber nicht sinnlos. Die wesentliche Aufgabe besteht darin, künftige Fragen rechtzeitig zu stellen, die Antworten aber so lange offen zu lassen, wie dies jeweils möglich ist. Wer an die Gesetzlichkeit einer gesellschaftlichen Entwicklung glaubt, sieht die Straße, auf der sich alles bewegen wird, schon vorgezeichnet. Für ihn bedeutet Planung die Aufgabe einer Vorhut, die Steine aus dem Wege räumt, Frostaufbrüche beseitigt und überhaupt alles tut, um den Fortschritt sich ohne Behinderung entwickeln zu lassen. Daher versteht sich Planung in totalitären Systemen als Vollzug der an sich schon feststehenden und nicht reversiblen Entwicklung der Gesellschaft auf ein feststehendes Ziel hin, das allenfalls von Verzögerungen und Rückschlägen bedroht ist, aber nach der unterstellten Logik der Geschichte unbeirrbar anzustreben ist. In der sozialstaatlichen Demokratie sind dagegen ständig Entscheidungen an 1 9 9 Kreuzwegen zu treffen. Wenn einmal ein bestimmter Weg eingeschlagen ist, werden immer neue Abzweigungen sichtbar, an denen stets neu über den weiteren Weg zu bestimmen ist. Auch Umwege, das Verlassen vorgezeichneter Straßen und sogar die Rückkehr zum Ausgangspunkt sind nicht ausgeschlossen, weil die Möglichkeit irriger Richtungsentscheidungen besteht. Planung bedeutet hier die Erkundung von Alternativen und die Gegenüberstellung der für oder gegen den einen oder den anderen Weg sprechenden Vor- und Nachteile. Schwerpunkt der Planung ist daher die Prognose, also das Sammeln und Werten aller Umstände, die für die Entscheidung

796

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

von Bedeutung sein können. Auf die Planung bezogen, bedeutet die Erfüllung der dem Sozialstaat obliegenden Integrationsaufgabe das Bemühen, unter den jeweils möglichen Alternativen diejenige zu suchen, die am ehesten einen Ausgleich der Interessen und damit die Wahrung des Gemeinwohls bewirken kann. Dies gilt auch für das Verhältnis der heute Lebenden zu den künftigen Generationen, deren Interessen mit zu bedenken sind. 5. Schlußfolgerungen 200 Der soziale Rechtsstaat ist am knappsten und zugleich am umfassendsten als der auf das Gemeinwohl orientierte Staat beschrieben worden 249 . Dem Staat obliegt es, zu einer Sicherung der in der Verfassung verankerten Grundwertentscheidungen, zu einer rationalen Bewältigung sozialer Konflikte, zum Ausgleich der Einzel- und Gruppeninteressen, zum Schutz des hilfsbedürftigen Einzelnen und schließlich zu einer Vorsorge für zukünftige Probleme beizutragen. Gemeinsamer Nenner aller dieser Zielsetzungen ist die immer neue und den Besonderheiten der jeweiligen Problemstellungen angepaßte Zielsetzung, sich um einen Ausgleich der Interessen zu bemühen. Die Betrachtung der Einzelfragen hat ergeben, daß sich aus dieser verfassungsrechtlichen Sicht wenig inhaltlich bestimmte und verfügbare Problemlösungen anbieten. Vielmehr ergibt die Sozialstaatsklausel zunächst ein methodisches Prinzip, mit dessen Hilfe die Aussicht besteht, dem Ziel wenigstens näherzukommen. Zugleich enthält sie einen Verfassungsauftrag und ein Ordnungsprinzip, das der Gesetzgeber im Rahmen seiner realen Möglichkeiten jeweils zu verwirklichen hat. Wie dies jeweils konkret geschieht, obliegt im wesentlichen seiner verantwortlichen Entscheidung. Nur in Ausnahmefällen wird ein bestimmtes Handeln mit rechtlichen Mitteln erzwingbar sein. Die Aufgabe des Ausgleichs der Interessen und Meinungen — in Staat und Gesellschaft, im Verhältnis des Einzelnen zur Allgemeinheit, auch in den Beziehungen der Generationen zueinander — bedeutet mehr als die vage Hoffnung, daß sich alle Fragen bei gutem Willen der Beteiligten schon irgendwie lösen lassen werden. Gerade weil man hierauf nicht stets hoffen kann, wird der Staat zur Tätigkeit verpflichtet und damit zugleich seine Befugnis begründet, die erforderlichen und geeigneten Entscheidungen zu treffen. 201

Damit ist die Integrationsaufgabe des Staates im Sinne von SMEND250 angesprochen. Sie ist dahin zu verstehen, daß es wesentliche Funktion der Verfassung ist, für die Einheit des Staates und die stete Erneuerung dieses Zusammenschlusses zu sorgen. Hierdurch wird nicht die Sehnsucht nach allgemeiner Harmonie zum Verfassungsprinzip erhoben, schon gar nicht in der Weise, daß bestehende Spannungen und Konflikte geleugnet und verdrängt würden. Ganz im Gegenteil entspricht es

249

HUBER R e c h t s s t a a t ( F n . 2 4 1 ) S. 7.

250

R. SMEND Verfassung und Verfassungsrecht, 1928; DERS., in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 5, 1956, S. 299; zur Kritik H. KELSEN Der Staat als Integration, 1930.

§17

Der soziale Rechtsstaat (BENDA)

797

nüchterner und realistischer Sicht, wenn das Grundgesetz allein schon mit der Bezugnahme auf das Soziale ganz gegenwartsnah von dem Vorhandensein solcher Probleme ausgeht. Die Sozialstaatsklausel und die Grundrechte der Verfassung sprechen die wesentlichen neuralgischen Punkte unserer Zeit an. Das Grundgesetz hat mehr als die meisten anderen Verfassungen seinen Bürgern Freiheitsrechte gegeben. Aber es verkürzt eine gerechte Würdigung, wenn man ihm den „Luxus" vorwirft, „Freiheiten in der freigiebigsten Weise auszuteilen"251. Dabei wird schon der soziale Bezug übersehen, den die einzelnen Grundrechte enthalten. Vor allem vernachlässigt diese Meinung die sich aus der Sozialstaatsklausel ergebende Gemeinschaftsgebundenheit des Freiheitsbegriffs und die Verpflichtung des Staates, einem schrankenlosen, das Gemeinwohl mißachtenden Freiheitsgebrauch entgegenzutreten. Auch diese Verpflichtung läßt sich als Integrationsaufgabe umschreiben. Es handelt sich um das Streben nach sozialer Gerechtigkeit für alle, nicht um das Verdrängen von Konflikten. Diese werden nicht geleugnet, sondern als gegeben, auch nicht als schlechterdings unerwünscht angesehen, wie etwa Art. 9 Abs. 3 GG ergibt. Das Ziel ist allerdings, hierbei nicht stehen zu bleiben, sondern schließlich die vorhandenen Interessen und Meinungen möglichst auszugleichen. Die Sozialstaatsklausel bietet nicht inhaltliche Lösungen an, sondern beschreibt 202 die Aufgabe und Legitimation des Staats sowie die Methode, um solchen Ausgleich zu erreichen. Dies entspricht einer realistischen Sicht der vielfaltigen, komplexen und sich in immer neuer und oft nicht vorhersehbarer Weise stellenden Probleme. Es ist auch dem Demokratieprinzip gemäß, daß die Notwendigkeit und die Möglichkeit freier politischer Auseinandersetzung um die jeweils richtige Lösung verbleibt. Hieraus folgt nicht, daß die Sozialstaatsklausel als eine letztlich unverbindliche 203 „Seid-nett-zueinander"-Ideologie auszulegen ist. Dies wäre entweder überflüssig oder müßte ohne Wirkung bleiben, wenn bei einem konkreten Konflikt alles nur von dem guten Willen der Beteiligten oder der Fähigkeit des Staates, eine sachgerechte Lösung zu finden, abhinge. Zunächst ist erneut die Verpflichtung des Staates zum Engagement hervorzuheben. Sie muß aber im Einzelfall nicht mit der Pflicht oder auch nur dem Recht zur Intervention gleichzusetzen sein. In den grundrechtlich geschützten Freiheitsraum darf nur so weit eingegriffen werden, als die Sozialbindung der Grundrechte dies gestattet. Auch wo der Eingriff an sich zulässig ist, kann es der Achtung der Freiheit entsprechen, wenn der Staat sich zunächst zurückhält und erst tätig wird, wenn anders eine angemessene Regelung des Konflikts nicht erwartet werden kann. Soweit der Staat tätig wird, muß er sich das Ziel setzen, allen Bürgern und gesellschaftlichen Gruppen einen gebührenden Anteil an den Gemeinschaftswerten zu verschaffen. Auch hierbei werden die Einzelgrundrechte oder das Gebot der Verhältnismäßigkeit die Staatstätigkeit lenken und begrenzen. In der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist der Staat nicht Partei, nicht Wahrer einseitiger Interessen, sondern vielmehr „unparteiischer Hüter des Gemeinwohls"252. 251 252

FORSTHOFF Rechtsstaat im Wandel (Fn. 149) S. 105. SCHEUNER Neuere Entwicklung (Fn. 4) S. 232.

§18 Grundgesetz und Wirtschaftsordnung H A N S - J Ü R G E N PAPIER

Übersicht Rdn. I. Allgemeine Fragen zur grundgesetzlichen Ordnung der Wirtschaft 1. „Wirtschaftspolitische Neutralität" des Grundgesetzes 2. Die Wirtschaftsordnungen in Theorie und Praxis . . . 3. Wirtschaftsverfassungsrechtliche Grundaussagen des Grundgesetzes . . . a) Freiheitsrechte und Eigentumsgarantie . . . b) Wirtschaftsverfassungsrechtliche Bedeutung des Sozialisierungsartikels (Art. 15 GG) c) Aussagekraft objektiver Verfassungsnormen . . . d) Inhalt und Grenzen der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Rahmenordnung 4. Gemeinschaftsrecht II. Wirtschaftsverfassungsrechtliche Tragweite der Berufs- und Gewerbefreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) 1. Beruf und Gewerbe 2. Berufsfreiheit und öffentliche Monopole 3. Öffentliche Konkurrenzwirtschaft 4. Unternehmerfreiheit und Binnenordnung der Unternehmen 5. Berufsausübung und Berufswahl 6. Berufsfreiheit und Eigentumsgarantie

1-33 1—4 5 — 13 14 — 29 14—16

17, 18 19 — 22

23—29 30 — 33

34-61 34 — 37 38—43 44—47 48—51 52-58 59 — 61

Rdn. III. Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG) 1. Gesellschaftliche Privatautonomie 2. Inhalt und Grenzen des Verfassungsschutzes der Tarifautonomie IV. Grundrecht der allgemeinen Wirtschaftsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) 1. Dispositionsfreiheit des Unternehmers 2. Vertragsfreiheit 3. Wettbewerbsfreiheit V. Rechtsstaatliche (Mindest-) Anforderungen wirtschaftspolitischer Gesetzgebung . . . 1. Übermaßverbot und Prognosespielraum 2. Abwägungsgebot VI. Grundgesetz und Währungspolitik 1. Institutionelle Gewährleistung der Bundesbank . . . 2. Verfassungsrechtliche Gewährleistung der Bundesbankautonomie? VII. Grundgesetz und Besteuerungsgewalt 1. Rechtsstaat, Sozialstaat, Steuerstaat 2. Grundrechtsgarantien, insbesondere Eigentumsgarantie und Besteuerung 3. Rechtliche Bindungen des „Ausgaben"-Gesetzgebers? 4. Grundsatz der Lastengleichheit

62-74 62—68 69 — 74

75-78 75 76 77, 78 79 — 85 79 — 83 84, 85 86-93 86 — 89 90 — 93 94—110 94—96 97 — 104 105-107 108-110

800

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

I. Allgemeine Fragen zur grundgesetzlichen Ordnung der Wirtschaft 1. „Wirtschaftspolitische Neutralität" des Grundgesetzes 1 „Das Grundgesetz enthält keine unmittelbare Festlegung und Gewährleistung einer bestimmten Wirtschaftsordnung". Es überläßt die Ordnung der Wirtschaft „vielmehr dem Gesetzgeber, der hierüber innerhalb der ihm durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen frei zu entscheiden hat, ohne dazu einer weiteren als seiner allgemeinen demokratischen Legitimation zu bedürfen". Diese im Mitbestimmungs-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 19791 getroffene Feststellung wiederholt bzw. konkretisiert die in der deutschen Staatsrechtslehre vorherrschende Grundannahme einer „ordnungspolitischen Neutralität" des Grundgesetzes 2 . Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bringt sie ein Kontinuum zum Ausdruck: Bereits in seinem Urteil über die Verfassungsmäßigkeit des Investitionshilfegesetzes vom 20. Juli 19543 hat das Bundesverfassungsgericht auf die „wirtschaftspolitische Neutralität" des Grundgesetzes verwiesen, die es dem Gesetzgeber erlaube, jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte beachte4. 2

Das Bundesverfassungsgericht ist damit allen Versuchen entgegengetreten, dem Grundgesetz eine wirtschaftssystemkonstituierende Gesamtentscheidung des Verfassungsgebers zu entnehmen, die in einer die Grundrechte „überhöhenden Objektivierung" den Staat auf ein bestimmtes Ordnungsmodell verpflichtete. Das Gericht stellt sich dem Unterfangen entgegen, über einen wirtschaftsverfassungsrechtlichen Systementwurf des Grundgesetzes den Staat auf ein spezifisches Koordinationssystem nationalökonomischer Lehren und auf die Sicherung oder Durchsetzung ihrer Vorstellungen über die optimale bzw. richtige Ordnungspolitik festzulegen. In concreto sind Maßnahmen staatlicher Wirtschaftspolitik nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer

' B V e r f G E 50, 290 (337). Siehe etwa H. KRÜGER Staatsverfassung und Wirtschaftsverfassung, in: Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft, hrsg. von U. Scheuner, 1 9 7 1 , S. 125 ff; U. SCHEUNER ebd., Einleitung, S. 29; H. F. ZACHER Aufgaben einer Theorie der Wirtschaftsverfassung, ebd. S. 549 ff, bes. S. 558 ff; H. EHMKE Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 18 ff; P. BADURA Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den verfassungsrechtlichen Grenzen wirtschaftspolitischer Gesetzgebung im sozialen Rechtsstaat, A ö R 92 (1967) S. 382 ff; DERS. Grundprobleme des Wirtschaftsverfassungsrechts, J u S 1976, S. 205 ff; R. SCHOLZ Paritätische Mitbestimmung und Grundgesetz, 1974, S. 31 ff; M. KRIELE Einführung in die Staatslehre, 3. Aufl. 1988, S. 194 ff; DERS. Wirtschaftsfreiheit und Grundgesetz, in: Z R P 1974, 105 ff; E. BENDA Gerechte Wirtschaftsund Wettbewerbsordnung, in: Gemper Marktwirtschaft und soziale Verantwortung, 1973, S. 185 ff; E. R. HUBER Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl., Bd. 1 1953, S. 23 ff; PAPIER Staatliche Eigentumsgarantie und die Sozialbindung des Eigentums, in: Dickmann/Fels, Gesellschaftliche und ökonomische Funktionen des Privateigentums, 1993, S. 92 (106 ff). Dezidierte Gegenposition bei H. C. NIPPERDEY Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, 3. Aufl. 1965.

2

3 4

B V e r f G E 4, 7 (17/8). Siehe auch B V e r f G E 7, 337 (400); 14, 19 (23); 30, 292 (315).

§18

Grundgesetz und Wirtschaftsordnung (PAPIER)

801

Marktkonformität5, gesetzliche Mitbestimmungsordnungen und Unternehmensverfassungen nicht nach Maßgabe eines „institutionellen Zusammenhangs der Wirtschaftsverfassung"6 oder gar in Hinsicht auf ihre „Prinzipientreue" zur Wettbewerbsordnung verfassungsgerichtlich überprüft worden. Das Grundgesetz enthält im Unterschied zur Weimarer Verfassung (Art. 151— 3 165) keinen expliziten Regelungskomplex betreffend die Wirtschafts- und Sozialverfassung, was zur Stützung der Neutralitätsthese stets angeführt wird 7 . Im Parlamentarischen Rat stand der Gedanke im Vordergrund, „daß nur die klassischen Grundrechte aufgenommen werden könnten", „die Regelung der Sozialordnung aber der Zukunft überlassen werden müsse" (v. MANGOLDT 8 ). Der Verfassungsgeber des Jahres 1949 ging davon aus, mit dem Grundgesetz nur eine provisorische Verfassung zu konstituieren. Die verfassungsrechtliche Festlegung der Wirtschafts- und Sozialverfassung des deutschen Volkes sollte einer künftigen gesamtdeutschen Verfassung vorbehalten bleiben; jener wollte man nicht vorgreifen. Für den Entschluß der Verfassungsväter, allein die „klassischen Freiheitsrechte" zu garantieren, war außerdem der Wille maßgeblich, nicht Programmsätze und Verfassungsaufträge, sondern unmittelbar geltendes und vollziehbares Recht zu schaffen9. Die Zurückhaltung des Grundgesetzgebers in bezug auf die Wirtschafts- und 4 Sozialverfassung bedeutete sowohl einen Vorbehalt zugunsten künftiger (gesamtdeutscher) Verfassungsgesetzgebung als auch einen (vorläufigen) Verzicht auf die Normierung wirtschaftsordnender Handlungs/)///'^/«« des Staates. Das Schweigen des Verfassungsgesetzgebers in der Frage der Wirtschaftsverfassung betrifft eine „Wirtschaftsverfassung" in dem traditionellen „aggressiv"-gestalterischen Sinne10. In diesem, etwa im Art. 165 WV verkörperten Sinngehalt manifestiert die „Wirtschaftsverfassung" einen staatlich-politischen Gestaltungswillen und -auftrag in bezug auf die privatautonomen Vorgänge des Wirtschaftens. Die Enthaltsamkeit des Grundgesetzes in Fragen eines staatlichen Gestaltungsauftrages zur Wirtschaftsverfassung kann keinesfalls in eine reduzierte Garantiewirkung der Freiheitsrechte umgedeutet 5

6

Siehe demgegenüber NIPPERDEY Soziale Marktwirtschaft (Fn. 2); H. C. NIPPERDEY/G. WEISE Freie Entfaltung der Persönlichkeit, in: Κ. A. Bettermann/H. C. Nipperdey/U. Scheuner, Die Grundrechte IV/2, 2. Aufl. 1972, S. 741 (870 ff): grundgesetzliche Gewährleistung der „sozialen Marktwirtschaft". Vgl. aber H. H. RUPP Grundgesetz und „Wirtschaftsverfassung", 1974; P. BADURA/F. RITTNER/ B. RÜTHERS Mitbestimmungsgesetz 1976 und Grundgesetz, 1977, S. 248 ff; H.-J. PAPIER Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, in: V V D S t R L Bd. 3 5 ( 1 9 7 7 ) S. 5 5 (74 ff).

7 8

9

10

Siehe etwa BVerfGE 50, 337. Das Bonner Grundgesetz, 1953, Art. 12 Anm. 3; siehe auch H. v. MANGOLDT Grundrechte und Grundsatzfragen des Bonner Grundgesetzes, in: A ö R 75 (1949) S. 275. Siehe auch K . ZWEIGERT Die Neutralität des Grundgesetzes gegenüber der paritätischen Mitbestimmung, in: Mitbestimmung, Wirtschaftsordnung, Grundgesetz, Protokoll der Wissenschaftlichen Konferenz des Deutschen Gewerkschaftsbunds vom 1. bis 3. Oktober 1975 in Frankfurt am Main, 1976, S. 205 (214); H.-J. PAPIER Zur Verfassungsmäßigkeit der paritätischen Mitbestimmung unter historischen und entstehungszeitlichen Aspekten, in: Die Aktiengesellschaft 1978, S. 291. P. BADURA Grundprobleme des Wirtschaftsverfassungsrechts, in: JuS 1976, S. 206.

802

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

werden, soweit der einfache Gesetzgeber Fragen der Wirtschafts- und Sozialverfassung regelt und dabei Grundrechtseingriffe vornimmt". Die unbestreitbare Feststellung, daß im Grundgesetz eine explizit vorgenommene Grundentscheidung für einen bestimmten Typus der Wirtschaftskoordination fehle, daß eine ausdrückliche Verpflichtung zur Institutionalisierung einer bestimmten Wirtschaftsverfassung unterblieben sei, darf mit anderen Worten nicht von der Aufgabe ablenken, die Funktionalität der individual-personalen Freiheitsrechte auch im ökonomischen Geschehen zu sichern 12 . Der Verzicht auf die Normierung verfassungsrechtlicher Gebote zur Konstituierung einer spezifischen Wirtschafts- und Sozialordnung bedeutet keinesfalls die Schaffung eines grundrechtsfreien oder „-verdünnten" Raumes bei einfachgesetzlicher (Um-)Gestaltung der gegebenen Wirtschafts- und Sozialverfassung. 2. Die Wirtschaftsordnungen in Theorie und Praxis 5 Die ökonomischen Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte über Produktion, Investitionen, Distribution und Konsum bedürfen, soll die Volkswirtschaft funktionsfähig sein, der Koordination. Die Nationalökonomie kennt zwei konstruktive Grundformen der Koordination der Wirtschaftspläne: die zentral geleitete Wirtschaft (Zentralverwaltungswirtschaft) und die Verkehrswirtschaft 13 . In der Zentralverwaltungswirtschaft (Planwirtschaft) sind die wesentlichen ökonomischen Entscheidungen — im allgemeinen beim Staat — zentralisiert. Ein verbindlicher Gesamtplan ersetzt oder bindet die individuellen Wirtschaftspläne. Im verkehrswirtschaftlichen Strukturmodell vollzieht sich die Koordination der Wirtschaftspläne, der wirtschaftlichen Handlungen der Einzelwirtschaften und des gesamten Wirtschaftsprozesses durch ein System von Marktpreisen. Die Wirtschaftsplanung ist hier delegiert und dezentralisiert; es besteht eine privatautonome unternehmerische Planungs- und Betätigungszuständigkeit. 6

Es leuchtet ohne weiteres ein, daß diese Unterscheidung der Wirtschaftsordnungen nur die „idealtypischen Wirtschaftsformen" wiedergibt, „aus denen sich in Gegenwart und Vergangenheit die konkreten Wirtschaftsordnungen zusammensetzten und zusammensetzen" 14 . Die genannten Grundtypen der Koordination sind mit anderen Worten in Richtung auf den jeweiligen Konträrtyp modifizierbar mit der Folge, daß eine Typenreihe verschiedener Konkurrenz- und Lenkungssysteme zur Verfügung steht. So ist auch das verkehrswirtschaftliche Koordinationsprinzip weder unter nationalökonomischen Erkenntnissen, noch unter dem Gesichtspunkt juristi11 12

13

14

Siehe auch PAPIER Die Aktiengesellschaft (Fn. 9) S. 291 ff. H.-J. PAPIER Das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Z G R 1979, S. 444 (458); DERS. Gesellschaftliche und ökonomische Funktionen (Fn. 2), S. 106 ff. Siehe W. SCHLUEP Was ist Wirtschaftsrecht?, in: Festschrift für Walther Hug, 1968, S. 25 (74 ff); W. EUCKEN Die Grundlagen der Nationalökonomie, 9. Aufl. 1989, S. 78 ff. EUCKEN Grundlagen (Fn. 13) S. 72, siehe auch S. 196; vgl. ferner F. BÖHM Eine Kampfansage an Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, in: O R D O Bd. X X I V , S. 11 (24); SCHLUEP Wirtschaftsrecht (Fn. 13) S. 75, 89; R. ECKERT/A. HAHN Sozialismus ohne Dogma — Einige aktuelle Probleme, in: Wirtschaft und Gesellschaft, Ordnung ohne Dogma, 1975, S. 25 (48 ff); JÖHR Ist ein freiheitlicher Sozialismus möglich? 1948, S. 51 ff.

§18

Grundgesetz und Wirtschaftsordnung (PAPIER)

803

scher Normativität mit einer monistischen Vorstellung vom Rationalitätstypus, vom Markt-Preis-Mechanismus als ausschließlicher Steuerungstechnik und von der Unzulässigkeit jeder Form zentraler Wirtschaftsplanung in Verbindung zu bringen 15 . In der Nationalökonomie ist der Dualismus der Steuerungsmethoden nie streitig gewesen. Es ging und es geht immer nur um das optimale Rang- oder Prioritätsverhältnis. Das reale Wirtschaftssystem in diesem Lande, ebenso wie das in den anderen westlichen Ländern, muß dann auch als Mischsystem charakterisiert werden 16 , in dem — jeweils in unterschiedlicher Gewichtung — marktmäßige und planwirtschaftliche Elemente kombiniert sind. Auch am anderen Ende der Skala sind Mischsysteme denkbar und in der Realität 7 anzutreffen. Neben die „total zentralgeleitete Wirtschaft" 17 treten die Zentralverwaltungswirtschaften mit mehr oder weniger freier Konsumwahl 18 , aber auch Systeme mit „sozialistischer Eigentumsverfassung" und einem mehr oder weniger ausgeprägten dezentralen, marktkoordinierten Lenkungssystem 19 . Die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik ist entscheidend mitgeprägt wor- 8 den von den Vorstellungen des Neo- oder Ordoliberalismus, für den eine Verkehrswirtschaft nur in der Form einer Wettbewerbswirtschaft wirtschafts- und sozialpolitisch vertretbar ist 20 . Nach dieser Auffassung setzt die Verkehrswirtschaft nicht nur ein bestimmtes Rechtssystem voraus, wie etwa die Eigentumsfreiheit, die Berufs- und Gewerbefreiheit, die Gesellschaftsfreiheit, die Vertragsfreiheit und die Freizügigkeit, ein volkswirtschaftlich sinnvolles Einspielen der individuellen Wirtschaftspläne kann überdies nur bei funktionierenden Wettbewerbsmärkten erwartet werden. Ohne funktionierende Wettbewerbsmärkte büßt das Preissystem seine volkswirtschaftliche Orientierungskraft ein. Gewinn und Verlust eines Unternehmens sind dann keine Indizien für volkswirtschaftlich richtiges oder falsches Verhalten mehr. Staatliche Kartellgesetzgebung und -aufsieht, Fusionskontrolle und Mißbrauchsaufsicht bei eingetretener Marktbeherrschung sind die signifikanten normativen Konsequenzen oder doch die Postulate jener ordnungspolitischen Grundkonzeption. In den letzten Jahrzehnten haben in der realen Wirtschaftsordnung der Bun- 9 desrepublik die Elemente einer globalgesteuerten und tendenziell sozialpolitisch dirigierten Marktwirtschaft an Bedeutung gewonnen. Ausdruck dieses Prozesses sind u.a. die mit Änderungsgesetz vom 8. Juni 196721 eingefügte Verfassungsvorschrift des Art. 109 Abs. 2 GG, die Bund und Länder bei ihrer Haushaltswirtschaft auf die

15 16 17

Siehe PAPIER Unternehmen und Unternehmer (Fn. 6) S. 77 m. Nachw. ECKERT/HAHN Sozialismus ohne Dogma (Fn. 14) S. 48. Eue KEN Grundlagen (Fn. 13) S. 80 f.

18

EUCKEN G r u n d l a g e n (Fn. 1 3 ) S. 8 3 f f .

19

Siehe dazu THALHEIM Formen und Bedeutung des Eigentums an Produktionsmitteln in marktsozialistischen Systemen, in: Studien zum Marktsozialismus, Schriften des Vereins f ü r Sozialpolitik, Bd. 86 n. F., 1976, S. 61 ff. Siehe etwa BÖHM Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 141 ff; DERS. O R D O X X I V , S. l l f f ; EUCKEN Grundlagen (Fn. 13) S. 52 ff; vgl. auch F. RITTNER Wirtschaftsrecht, 2. A u f l . 1987, § 3 Rdn. 1 ff. BGBl. I 581.

20

21

804

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts festlegt, sowie das auf der Grundlage des Art. 109 Abs. 4 GG erlassene Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (Stabilitätsgesetz) vom selben Tage 22 . Dieses Gesetz konkretisiert die Ziele des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" dahingehend, daß alle finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen von Bund, Ländern, Gemeinden und sonstigen öffentlich-rechtlichen Körperschaften einschließlich der Bundesbank im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand, zu außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und zu einem stetigen und angemessenen Wirtschaftswachstum beizutragen haben. Nach Art. 1 Abs. 3 des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ist die Grundlage der Wirtschaftsunion die „Soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien". Nach der Präambel dieses Vertrages ist es der gemeinsame Wille der vertragsschließenden Seiten, „die Soziale Marktwirtschaft als Grundlage für die weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung mit sozialem Ausgleich und sozialer Absicherung und Verantwortung gegenüber der Umwelt auch in der Deutschen Demokratischen Republik einzuführen". 10

Ansätze für eine intensivere staatliche Planung in der Marktwirtschaft sind auch für die Bundesrepublik immer wieder diskutiert worden 2 3 , konnten jedoch keine Realisierung finden. Diese Ansätze waren auf einen „dritten Weg" zwischen „Markt und Lenkung" hin konzipiert. Dieser soll auf indikativen Lenkungsansätzen beruhen. Im Mittelpunkt jener Überlegungen standen langfristige Infrastrukturprogramme des Staates („Bundesentwicklungsplan") und regional und sektoral aufgegliederte Rahmenpläne über die künftige Struktur der Volkswirtschaft. Diese Rahmenpläne sollen für die privaten Investoren Orientierungscharakter haben.

11

Gegenüber solchen Vorschlägen ist in mehrfacher Hinsicht Skepsis geboten 24 . Zum einen werden die Möglichkeiten quantitativer Prognosen weit überschätzt 25 . Zum anderen wird es eine effiziente zentrale Planung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten, die vorrangig „indikativ" ist, nicht geben können. Dies ist eine Feststellung, die gerade nach eingehender Analyse der „Planification" in Frankreich von vielen Nationalökonomen geteilt wird. Die Umsetzung gesamtwirtschaftlicher Entwicklungspläne in die ökonomische Realität ist auf eine gewisse Verbindlichkeit der staatlichen Planung und damit auf eine unmittelbare Investitionskontrolle angewiesen. Der Staat steht wohl vor der Alternative, entweder seine Planungen unter Aufhebung der unternehmerischen Privatautonomie durchzusetzen oder aber seine 22 23

24 25

BGBl. I 582. Siehe Zweiten Entwurf eines ökonomisch-politischen Orientierungsrahmens der SPD für die Jahre 1975 — 1985, S. 33 f; C. NOÈ Selektive Angebotssteuerung in der Marktwirtschaft, in: Die neue Gesellschaft 7/1974, S. 541 ff; H. EHRENBERG Zwischen Marx und Markt, 1974, S. 53; weitere Stellungnahmen bei O. ISSING Investitionslenkung in der Marktwirtschaft?, 1975. Siehe auch ISSING Investitionslenkung (Fn. 23) insbes. S. 23 f. ISSING Investitionslenkung (Fn. 23); BOMBACH in: Planung ohne Planwirtschaft, Frankfurter Gespräche der List-Gesellschaft, hrsg. von PLETZKO 1964, S. 48.

§18

Grundgesetz und Wirtschaftsordnung (PAPIER)

805

Planungen den privatautonom gebildeten Unternehmerstrategien anzupassen und damit letztlich auf eine eigene umfassende Planungskompetenz in Ansehung der Volkswirtschaft zu verzichten 26 . Immerhin wird die globalgesteuerte und sozialstaatlich eingebundene Markt- 12 Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland heute durch einen „Superfiskalismus" 27 geprägt. Die Staatsquote, d. h. die Relation der öffentlichen Ausgaben zum Bruttosozialprodukt, war in der Bundesrepublik von rd. 39% im Jahre 1970 auf fast 50% im Jahre 1982 gestiegen und wird nach einer gewissen Abflachung in den achtziger Jahren (1990: 44%) 28 nunmehr wieder mit 48,9% angegeben 29 . Bei Einbeziehung der öffentlichen Unternehmen und den den Privatunterneh- 1 3 men aufgebürdeten „quasi-staatlichen" Verwaltungsleistungen wird sogar eine Staatsquote von etwa 78% errechnet 30 . Auch dieser Umstand rechtfertigt die vorhin getroffene Feststellung, daß die reale Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik nur noch als ein Mischsystem bezeichnet werden kann, das auf der Grundlage dezentraler und privatautonomer Wirtschaftsplanung von gewissen zentralplanwirtschaftlichen Elementen und intensiven staatlichen Wirtschaftsaktivitäten überlagert wird. 3. Wirtschaftsverfassungsrechtliche Grundaussagen des Grundgesetzes a) Freiheitsrechte

und

Eigentumsgarantie

Das Grundgesetz garantiert das Privateigentum einschließlich des unternehmensbe- 14 stimmten Eigentums und seiner ökonomischen Nutzbarkeit (Art. 14 GG). Es gewährt Berufs- und damit auch Gewerbe- und Unternehmerfreiheit sowie das Recht der freien Wahl des Arbeitsplatzes und der Ausbildungsstätte (Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG), ferner das Recht, an jedem Ort im Bundesgebiet Aufenthalt und Wohnung zu nehmen (Art. 11 Abs. 1 GG). Die Verfassung gewährt allen Deutschen überdies das Recht der Gründung von Handelsgesellschaften sozietärer und korporativer Art, das Recht der Betätigung in solchen Vereinigungen, des Austritts, der Auflösung und des Fernbleibens von Korporationen (Art. 9 Abs. 1 GG). Die Freiheit des Abschlusses von Verträgen und der autonomen Vertragsinhaltsbestimmung ist, sofern nicht spezielle Garantien wie Art. 12 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1 und 3 oder Art. 14 Abs. 1 betofffen sind, Bestandteil der in Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Handlungsfreiheit. Schließlich eröffnet Art. 9 Abs. 3 GG das Recht, Koalitionen zu 26

Siehe V. C. LUTZ Zentrale Planung in der Marktwirtschaft, 1974, insbes. S. 152; U. STEGER Alternative Konzepte der Investitionsplanung, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Bd. 26 (1975) S. 71 ff (91, 101); K . - G . ZINN Investitionskontrolle und -planung, Wirtschaftsdienst, Juni 1973, S. 3 0 4 f ; ISSING Investitionslenkung (Fn. 23) S. 2 4 f f ; VON HAYEK F A Z v o m 6. März 1976, S. 13; R. SCHOLZ Grenzen staatlicher Aktivität unter der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung, in: Der Staatssektor in der sozialen Marktwirtschaft, hrsg. von Duwendag, 1976, S. 1 1 3 (130); A . MÜLLER-ARMACK in: Planung ohne Planwirtschaft (Fn. 25) S. 42.

27

RÖPKE Der moderne Fiskalstaat, in: Steuerberater-Jahrbuch 1965/66, S. 35 ff. Siehe BORCHERT Grundsatzfragen der Haushaltspolitik, in: Rese/Falthauser (Hrsg.) Die Haushälter, 1990, S. 14 ff. Bundesfinanzministerium, zit. Die Zeit v. 13. 3. 1992, Nr. 12, S. 40. Institut der Deutschen Wirtschaft, F A Z v o m 25. 8. 1 9 8 1 , Nr. 195, S. 1 1 : etwa 7 8 % .

28

29 30

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

gründen, ihnen beizutreten oder fernzubleiben und über die Koalitionen die Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen in einer Ordnung der sozialen Selbstverwaltung privatautonom festzulegen. Auf der Grundlage eines solchermaßen freiheitsrechtlich ausgestatteten Verfassungsgesetzes kann eine Wirtschaftsordnung weder entstehen noch durch politischen Entscheid konstituiert werden, die die Koordinationsfrage der Volkswirtschaft prinzipiell durch ein Zentralverwaltungssystem und ein System imperativer und zentralisierter Staatsplanung lösen will 31 . 15 Das Grundgesetz ist also im Hinblick auf die politische Grundentscheidung über das Koordinationssystem der Wirtschaft nicht in dem Sinne neutral, daß die von ihm vorgefundene bzw. die bisher gewachsene (gemischte) Wirtschaftsordnung als eine prinzipiell auf dem Koordinationstyp „Zentralverwaltungs- oder Zentralplanwirtschaft" gründende Ordnung umstrukturiert werden könnte. Die angeführten Freiheitsrechte stehen zwar unter in sich mannigfach abgestuften Regelungs- und Eingriffsvorbehalten zugunsten der einfachen Gesetzgebung und der von ihr gelenkten Exekutive. Für alle Grundrechte gilt aber die allgemeine Eingriffsschranke des Art. 19 Abs. 2 GG, nach der die Grundrechte in keinem Fall in ihrem Wesensgehalt angetastet werden dürfen, sowie des rechtsstaatlich begründeten Übermaßverbots. Überdies gewährt Art. 14 Abs. 1 GG nicht nur eine Rechtsstellungsgarantie zugunsten des einzelnen Eigentümers. Er garantiert auch das Privateigentum und das Erbrecht als Institute der Rechts- und Wirtschaftsordnung und begründet damit für den Gesetzgeber spezifische Einrichtungsbegründungs- und erhaltungspflichten. Eine das unternehmensbestimmte Privateigentum prinzipiell abschaffende und negierende, alle wesentlichen ökonomischen Entscheidungen zentralisierende und damit die dezentrale-privatautonome Wirtschaftsplanung ausschließende Wirtschaftsordnung kann die Institutsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG und den Wesensgehalt der genannten Freiheitsrechte nicht wahren. 16 Das Grundgesetz enthält in den erwähnten Gewährleistungen vielleicht keine spezifisch wirtschaftsbezogenen politischen Grundentscheide. Dies aber ist nicht das Entscheidende. Wesentlich ist, daß der allgemeine Grundrechtskatalog der Verfassung dem einzelnen als Rechtsperson einen bestimmenden Anteil an der Sozial- und Wirtschaftsgestaltung eröffnet. Der einzelne soll am sozialen und wirtschaftlichen Leben nicht nur zur „Abstimmung der Feinproportionen" als öffentlicher Planvollstrecker, sondern eigenverantwortlich, autonom und (auch) mit privatnütziger Zielsetzung an der Gestaltung der Rechts-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung mit31

Siehe PAPIER Unternehmen und Unternehmer (Fn. 6) S. 75 ff; DERS. Wirtschaftsreformen in Mittel- und Osteuropa — Verfassungsprobleme und Eigentumsordnung, in: Mittel- und Osteuropa im marktwirtschaftlichen Umbruch, FIW-Schriftenreihe Heft 142 (1991) S. 23 ff; DERS. Gesellschaftliche und ökonomische Funktionen (Fn. 2) S. 1 0 6 ff; R. SCHOLZ Paritätische Mitbestimmung und Grundgesetz, 1974, S. 37 ff; DERS. Grenzen staatlicher Aktivität (Fn. 26) S. 1 1 6 ff; RUPP Grundgesetz (Fn. 6) S. 5 ff, 22 f, 34 f; RÜFNER Unternehmen und Unternehmer, in: DVB1. 1976, S. 691; Κ . H. FRIAUF Eigentumsgarantie, Leistung und Freiheit im demokratischen Rechtsstaat, in: Gemper, Marktwirtschaft und soziale Verantwortung, 1973, S. 4 3 8 (450 f); P. BADURA Eigentum im Verfassungsrecht der Gegenwart, 49, DJT, Bd. 2, 1972, S . T 2 4 ; LUTTER Unternehmensverfassung und Wettbewerbsordnung, in: BB 1975, S. 614.

5 18

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Grundgesetz und Wirtschaftsordnung (PAPIER)

wirken. Dem Grundgesetz ist kein homogenes, von der Totalität des Hoheitsaktes, der staatlichen Richtigkeitsgewähr und den Gründen des öffentlichen Interesses geprägtes Gestaltungssystem inhärent. Die Eigentumsgarantie und die anderen Grundrechte des privatautonomen Handelns und der privatautonomen Teilhabe an der Wirtschaftsgestaltung schließen eine potentiell absolute Herrschaft des politischen Systems (auch) über die Wirtschaft aus32. b) Wirtschaftsverfassungsrecht liehe Bedeutung des So^ialisierungsartikels

(Art. 15 GG)

Das bereits im Grundgesetz angelegte duale System der Wirtschaftsgestaltung und 17 -planung kann auch über die Sozialisierungsermächtigung des Art. 15 GG nicht in Frage gestellt bzw. beseitigt werden. Über diese Verfassungsvorschrift kann der Gestaltungsbereich des demokratischen Staates allenfalls erweitert werden. Ungeachtet des umstrittenen Inhalts des im Art. 15 verwendeten Produktionsmittelbegriffs33 kann dieser Verfassungsvorschrift die ihm häufig zugedachte „wirtschaftsverfassungsrechtliche Konträrfunktion" aus folgenden Gründen nicht zugebilligt werden: Das Institut der Sozialisierung ist ebenso wie das der Enteignung schon wegen des Entschädigungsjunktims als ein Instrument zur Substitution individueller Rechtsbex/izW-rgarantien durch eine bloße Wertgarantie charakterisiert. Beide Verfassungsvorschriften (sc. Art. 14 Abs. 3 und Art. 15 GG) relativieren damit allein den Schutz bestehender konkreter Rechtsstellungen. Ebenso wie Art. 14 setzt auch Art. 15 GG das Fortbestehen von Eigentum als Einrichtung der Privatrechts- und Wirtschaftsordnung voraus. Sein Entschädigungsgebot schließt nicht nur faktisch die Eigentumsinstitutsgarantie ablösende Sozialisierungen aus34. Art. 15 GG kann ferner nicht zugleich die Berufsfreiheitsgarantie des Art. 12 18 Abs. 1 GG derogieren35. Das im Art. 15 GG zum Ausdruck kommende Prinzip eines relativen, d. h. substituierbaren Primärrechtsschutzes bezieht sich allein auf die Rechtsstellungsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG. Für die anderen Grundrechtsgarantien ist der Verfassung eine solche Relativität unbekannt. Eine Sozialisierung muß nämlich nicht notwendigerweise mit einer Monopolisierung oder Berufssperre zugunsten der öffentlichen Hand für alle oder einzelne Wirtschaftsbereiche verbunden sein. Es ist andererseits auch nicht ersichtlich, weshalb eine Monopolisierung von den Schranken des Art. 12 Abs. 1 GG freigestellt sein soll, wenn und weil sie 32

33

34

35

PAPIER Unternehmen und Unternehmer (Fn. 6) S. 82 ff; DERS. Wirtschaftsreformen in Mittelund Osteuropa (Fn. 31) S. 26 f. Nach h. L. gilt ein enger Produktionsmittelbegriff, der nur die Herstellung und Gewinnung von Sachgütern betrifft und bei dem die Dienstleistungen aller A r t ausgeklammert bleiben (s. MAUNZ in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 15 Rdn. 14, 15; KIMMINICH in: Bonner K o m mentar zum Grundgesetz, Zweitbearbeitung 1965, Art. 15, Rdn. 30; a. Α . Κ . A . BETTERMANN Versicherungsmonopole und Verfassungsrecht, in: W i R 1973, S. 184 (249 f); B.-O. BRYDE in: von Münch/Kunig (Hrsg.) Grundgesetzkommentar, Bd. 1, 4. Aufl. 1992, Art. 15 Rdn. 18. Siehe auch W. LEISNER Privateigentum ohne privaten Markt?, BB 1975, S. 1 (4F); DERS. Das Eigentumssyndikat, DVB1. 1976, S. 125; RÜFNER Unternehmen und Unternehmer (Fn. 31) S. 690, Fn. 15; PAPIER Unternehmen und Unternehmer (Fn. 6) S. 85; a. A. G. SCHWERDTFEGER Unternehmerische Mitbestimmung der Arbeitnehmer und Grundgesetz, 1972, S. 241 f. Ebenso BETTERMANN Versicherungsmonopole (Fn. 33) S. 250 ff.

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

zugleich unter Rückgriff auf Art. 15 GG auf bestehende Privatunternehmen Zugriff nimmt36. c) Aussagekraft objektiver

Verfassungsnormen

19 aa) Eine zentralverwaltungsrechtliche oder zentralplanwirtschaftliche Koordination der Volkswirtschaft erfordert schließlich ein staatliches Handlungsinstrumentarium, das dem Grundgesetz völlig fremd ist37. Eine nach außen, d. h. dem Bürger gegenüber bestehende Verbindlichkeit kann eine Wirtschaftsplanung nach der dem Grundgesetz immanenten Formentypik nur dann haben, wenn sie rechtssatzmäßig ergeht. Da ein Parlamentsgesetz selbst jedenfalls nicht die Masse der Detailregelungen vorsehen kann, ist die exekutivische Rechtsverordnung ein notwendiges Gestaltungsinstrument. Sie ist aber nach dem Grundgesetz (Art. 80 Abs. 1 GG) und den Verfassungen der Länder an inhaltlich bestimmte und limitierte Gesetzesermächtigungen gebunden. Die vielfältigen Gestaltungsaufgaben des Staates bei einer planwirtschaftlichen Koordination könnten auch über exekutivische Rechtsverordnungen und notwendigerweise limitierte Gesetzesermächtigungen kaum geleistet werden. 20

bb) Es kommt die föderative Struktur des Grundgesetzes hinzu. Der Bund besitzt zwar für den Bereich der Wirtschaft ein sehr ausgeprägtes Gesetzgebungsrecht (s. insbes. Art. 74 Nr. 11 i. V. m. Art. 72 GG). Die Verwaltungshoheit einschließlich der Befugnis zur Gesetzesausführung liegen jedoch im wesentlichen bei den Ländern (Art. 83 ff GG). Bund und Länder sind überdies in ihrer Haushaltswirtschaft selbständig und voneinander unabhängig (Art. 109 Abs. 1 GG). Die gemeinsame materiell-rechtliche Bindung an die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 2 GG) geht gerade von einer prinzipiell marktwirtschaftlichen Ordnung der Wirtschaft aus, die über die Haushaltspolitik der öffentlichen Hände einer gewissen Globalsteuerung unterworfen werden soll. Alles in allem läßt sich auch wegen der föderativen Grundstruktur der Verfassung, wegen der Verwaltungs- und Haushaltshoheit der Länder, übrigens aber auch wegen der verfassungsrechtlich verbürgten kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) die zentralisierte Ordnung einer staatsgeleiteten und -geplanten Wirtschaftsordnung nicht konstituieren.

21

cc) Der „Mischcharakter" der realen Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik findet seine verfassungsrechtliche Fundierung auch im Nebeneinander der Eigentumsgarantie und der Wirtschaftsfreiheiten einerseits, der „Staatszielbestimmung" der Sozialstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) einschließlich der staatlichen Verantwortung für das „gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht" (s. Art. 109 Abs. 2 GG) andererseits. Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes verpflichtet den Staat zur Gestaltung der sozialen Ordnung. Es umschließt das Mandat, in der Wirtschafts-, Sozial-, Finanz- und Haushaltspolitik den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen

36 37

Siehe auch PAPIER Unternehmen und Unternehmer (Fn. 6) S. 85 f. M. KRIELE Wirtschaftsfreiheit und Grundgesetz, in: Z R P 1974, S. 108; DERS. Staatslehre (Fn. 2) S. 198 ff.

§18

809

Grundgesetz und Wirtschaftsordnung (PAPIER)

Gleichgewichts Rechnung zu tragen38. Art. 109 Abs. 2 GG bezieht die Pflicht zur Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausdrücklich nur auf die „Haushaltswirtschaft" von Bund und Ländern. Damit ist aber nicht gesagt, daß jene Verpflichtung des Staates auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht allein in jenem Teilbereich bestünde39. Art. 109 Abs. 2 GG konkretisiert nur den allgemeinen sozialstaatlichen Verfassungsauftrag, so daß jene staatliche „Gleichgewichtsvorsorge" einen umfassenden Verfassungsauftrag für die Politik von Bund, Ländern, Gemeinden und sonstigen Körperschaften des öffentlichen Rechts darstellt. Die genannten Verfassungsaufträge nimmt der Staat durch Maßnahmen der 22 Globalsteuerung wahr, insoweit implizieren diese Verfassungsgebote ein Mandat zur staatlichen Konjunkturpolitik. Instrumente der im Grundsatz verfassungsrechtlich aufgegebenen und determinierten Wirtschaftslenkung sind neben der Globalsteuerung der Wirtschaft u. a. die Vergabe öffentlicher Subventionen und der Einsatz der Steuern und Abgaben zu nichtfiskalischen (Lenkungs-)Zwecken. Alles dies setzt Wirtschaftsplanung des Staates, d. h. eine planmäßige staatliche Wirtschaftslenkung voraus. Wirtschaftsplanung ist mithin eine notwendige, normativ geforderte bzw. gebilligte Konsequenz der staatlichen Verantwortung für die soziale und ökonomische Ordnung, für das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht und insbesondere für ein angemessenes Wirtschaftswachstum40. Sie ist das von der Verfassung anerkannte Gegengewicht zu den dezentralen Steuerungsmechanismen der Privatautonomie. d) Inhalt und Genien der wirtschaftsverfassungsrechtlichen

Rahmenordnung

aa) Der wirtschaftsverfassungsrechtliche Ordnungsrahmen ist implizit gesetzt, viel- 23 leicht nur reflexweise konstituiert. Er ist von einer prinzipiell verkehrswirtschaftlichen Koordination der Volkswirtschaft und von einer grundsätzlich privatautonomen Unternehmens- und Einzelwirtschaftsplanung geprägt. Es besteht daher eine gewisse Komplementarität zwischen allgemeiner freiheitsverbürgender Staatsverfassung und Wirtschaftsordnung. Diese Feststellung darf allerdings nicht dahin mißdeutet werden, daß die rechtliche und tatsächliche Ausgestaltung dieses Wirtschaftssystems ausschließlich von den (wirklichen oder vermeintlichen) ökonomischen Eigengesetzlichkeiten eines nationalökonomischen Lehrsystems bestimmt werde. Die von der Verfassung im Prinzip normativ entschiedene Frage, wer für welche wirtschaftlichen Entscheidungen und Planungen zuständig sein soll und welche Wirkungsmöglichkeiten oder Mittel der Realisation den Zuständigkeitsträgern zur Verfügung stehen, ist von der nach dem Inhalt des wirtschaftlichen oder wirtschaftspolitischen Verhaltens der Zuständigkeitsträger streng zu unterscheiden41. Diese verschiedenen Fragenkomplexe 38

39

40 41

Siehe auch P. BADURA Wachstunisvorsorge, in: Hamburg, Deutschland, Europa, Festschrift für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 367 (369). Vgl. H.-J. PAPIER Eigentumsgarantie und Geldentwertung, A ö R 98 (1973) S. 528 (548 f); K . VOGEL Steuerrecht und Wirtschaftslenkung. Ein Überblick, in: Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht, 1968/69, S. 225 (241); P. BADURA Auftrag und Grenzen der Verwaltung im sozialen Rechtsstaat, in: D Ö V 1968, S. 446 (449). Siehe auch BADURA Wachstumsvorsorge (Fn. 38) S. 369 f. Siehe auch BÖHM Ordnungstheorie (Fn. 14) S. 26, 28.

810

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

sind in der Vergangenheit nicht immer auseinandergehalten worden. So ist die verfassungsrechtliche Konstituierung eines Rahmens der ökonomischen Zuständigkeitsordnung immer wieder dazu verwandt worden oder in den Verruf geraten, von Verfassungs wegen die Wettbewerbsordnung zu institutionalisieren, den Staat also auf eine „Ordnungssicherungspolitik" und selbst die privaten Wirtschaftssubjekte wegen eines institutionellen Gesamtzusammenhangs der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung zu einem strikt-wettbewerblichen Verhalten zu verpflichten42. 24 Gegenüber solchen Intentionen muß in Erinnerung gerufen werden, daß die maßgeblichen Grundlagen des ökonomischen Zuständigkeitsrahmens die Freiheitsrechte sind. Eine derartige Instrumentalisierung oder Funktionalisierung zugunsten einer „optimalen Wettbewerbsordnung" ist den Freiheitsrechten geradezu fremd43. Die Grundrechte des privatautonomen Wirtschaftens und des privatautonomen Verfügens über Wirtschaftsgüter gewähren dem einzelnen das Recht zu marktinkonsistentem Verhalten, zur Berücksichtigung auch metaökonomischer Gesichtspunkte. Denn von privatautonomer Gestaltung kann eben nur dann gesprochen werden, wenn dem einzelnen das grundsätzliche Recht zugebilligt wird, nicht nur als homo öconomicus auf Marktsignale zu reagieren, sondern aktiv und initiativ nach eigenen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu handeln. Die Freiheitsrechte des Grundgesetzes können also nicht auf eine Zuständigkeit zu ökonomisch determiniertem und ökonomisch-rationalem Reagieren reduziert werden. Den wirtschaftsplanenden Subjekten — dem Staat wie den privaten Wirtschaftssubjekten — ist es nach dem Grundgesetz im Prinzip nicht verwehrt, sich wirtschaftlich oder wirtschaftspolitisch richtig oder falsch, vernünftig oder unvernünftig, ordnungskonform oder -inkonform zu verhalten44. Bezogen auf den Inhalt des wirtschaftlichen oder -wittschaitspolitischen Verhaltens der Zuständigkeitsträger ist das Grundgesetz in der Tat neutral. 25

bb) Die wirtschaftsrechtlich relevanten Grundrechte des Grundgesetzes setzen gewisse Grundpflöcke einer dezentralen Zuständigkeitsordnung. Sie ziehen der wirtschaftspolitischen Gesetzgebung eindeutig Grenzen, soweit diese sich anschicken sollte, zum konträren Prinzip der Zentralverwaltungswirtschaft und der planwirtschaftlichen Koordination überzugehen. Mit diesem, für den einfachen Gesetzgeber relativ weit gesteckten, von dem Garantiegehalt der Einzelgrundrechte und ihren jeweiligen Schranken konstituierten Rahmen kann durchaus von (wirtschafts-)systembegründenden Wirkungen der Freiheitsrechte gesprochen werden. Allerdings ist vor der mit einem solchen „Systemdenken" vielfach verbundenen „überschießenden" Tendenz zu warnen45. Die systemkonstituierende Wirkung der Grundrechte darf 42

43

44 45

Dem ist z. B. auch der B G H entgegengetreten. Er hat es in B G H Z 45, 204 ff, abgelehnt, einen „zwingenden wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundsatz" des Zusammenfallens v o n Herrschaft und Haftung anzuerkennen, der bei einer andersartigen gesellschaftsrechtlichen Verteilung der Machtverhältnisse stets zu beachten sei. Siehe auch O. NELL-BREUNING Können Neoliberalismus und katholische Soziallehre sich verständigen?, in: Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, Festschrift für Franz Böhm, 1975, S. 459 (462 ff); PAPIER Unternehmen und Unternehmer (Fn. 6) S. 78 f. Siehe auch BÖHM Ordnungstheorie (Fn. 14) S. 26. Vgl. auch BADURA Wirtschaftsverfassungsrecht (Fn. 10) S. 206 f.

§18

Grundgesetz und Wirtschaftsordnung (PAPIER)

811

nicht in dem Sinne hochstilisiert und von den Garantie- und Schrankengehalten der maßgeblichen Einzelgrundrechte abstrahiert werden, daß es letztlich nationalökonomische Systemvorstellungen und Doktrinen über die optimalen Steuerungstechniken sind, die in usurpierter Normwirkung den wirtschaftspolitisch agierenden Staat binden. Die Freiheitsrechte des Grundgesetzes sowie andere Normen und Prinzipien des objektiven Verfassungsrechts sind für solche nationalökonomischen Systemvorstellungen vielfach notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzungen. Die Zugrundelegung jener Doktrinen über das optimale Rang- oder Prioritätsverhältnis der Koordinations- und Steuerungsmethoden würde die Lösung vom geltenden Verfassungsrecht bewirken und würde die Rechtsanwendung der „normüberhöhenden Sphäre" wissenschaftlicher Lehrmeinungen überantworten. cc) Einen Vorgang vergleichbarer Beliebigkeit in der Handhabung der Frei- 26 heitsrechte stellt umgekehrt auch die wiederholt zu beobachtende ,,Sinnentleerun¿' oder „Entfunktionalisierung' der Freiheitsrechte dar, soweit es um wirtschaftsverfassungsrechtliche Konsequenzen der Garantiewirkung geht oder gehen könnte. In diesem Zusammenhang ist das Bestreben zu nennen, etwa die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG in Mißdeutung des an sich richtigen Sachzusammenhangs von Freiheit und Eigentum46 im wesentlichen nur auf das dem persönlichen Gebrauch und Bedarf dienende, gesamtgesellschaftlich und gesamtwirtschaftlich aber funktionslose Vermögensrecht zu beziehen47. In diesem Kontext ist auch die Tendenz hervorzuheben, die Freiheitsrechte insgesamt einem nahezu grenzenlosen Gestaltungsrecht des Gesetzgebers zu überantworten, je mehr die Grundrechtswahrnehmung „in einem sozialen Bezug und in einer sozialen Funktion steht"48. Darauf wird bei den Ausführungen zu den Einzelgrundrechten zurückzukommen sein. dd) In engem Zusammenhang mit dem eben Angesprochenen steht die Ver- 27 nachlässigung einer prinzipiellen Verknüpfung grundrechtlicher Freiheitsverbürgungen mit der Binnenverfassung der Privatunternehmen. Der einzelne kann seine grundrechtlichen Wirtschaftsfreiheiten unter den heutigen ökonomischen Bedingungen und bei einem kaum revidierbaren Wachstumsprozeß der dominierenden Wirtschaftseinheiten zum großen Teil nur in der Assoziation mit anderen Grundrechtsträgern wahrnehmen. Das Organisations- und Verfahrensrecht der wirtschaftlichen Assoziation erlangt damit eine existenzielle Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der wirtschaftlich relevanten Grundrechte49. Individuelle Freiheitswahrnehmung wird heute 46

47

Siehe PAPIER Unternehmen und Unternehmer (Fn. 6) S. 82 ff; DERS. Wirtschaftsreformen in Mittel- und Osteuropa (Fn. 31) S. 26 f. Siehe auch E.-J. MESTMÄCKER Mitbestimmung und Vermögensverteilung in der Marktwirtschaft. Alternativen zur Umverteilung von Besitzständen, in: Harbusch/Wiek, Marktwirtschaft, 1975, S . 2 7 9 ( 2 8 1 , 2 8 5 ) ; RÜFNER U n t e r n e h m e n u n d U n t e r n e h m e r ( F n . 3 1 ) S . 6 9 0 ; O . I S S I N G / W . LEISNER

48 49

„Kleineres Eigentum", 1976, S. 55. Siehe etwa die Ansätze in B V e r f G E 50, 290 (340 f, 355 f, 364 f). Siehe PAPIER Unternehmen und Unternehmer (Fn. 6) S. 87 f; DERS. Paritätische Mitbestimmung (Fn. 9) S. 293; DERS. Mitbestimmungsurteil (Fn. 12) S. 457 ff; H. H. RUPP Vom Wandel der Grundrechte, in: A ö R 101 (1976) S. 1 8 7 f f ; E.-J. MESTMÄCKER Stellungnahme zu den Fragen des BT-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, ob der vorliegende Gesetzesentwurf der Bundesregierung über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer mit Art. 9 Abs. 3 und Art. 14 G G vereinbar ist; veröffentlicht als Protokoll Nr. 62 des genannten Ausschusses.

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

zunehmend zu einer Organisationsfrage. Verfassungsrechtlich garantierte Individualfreiheiten können über Veränderungen in jenen korporativen Innenbereichen obsolet oder disfunktional werden. 28

Das Bundesverfassungsgericht hat im Mitbestimmungsurteil 5 0 die Frage nach der Wirkkraft der wirtschaftlich relevanten Freiheitsrechte auf das Korporationsrecht und nach der notwendigen Wahrung eines gewissen Mindeststandards struktureller Entsprechung von außenrechtlicher, individual-personaler Freiheitsverbiirgung einerseits und binnenrechtlicher Organisation und Willensbildung sowie binnenrechtlichem Verfahren andererseits nicht problematisiert und nicht näher behandelt 51 . Es scheint eher geneigt zu sein, die grundgesetzlichen Wirtschaftsfreiheiten vorrangig aus ihrer vergangenen geistigen Entstehungssituation heraus zu interpretieren und damit auf einen engen personal-individualen Bezug zu reduzieren. Es nimmt damit in Kauf, daß Groß- und Größtassoziationen und damit wichtige Ausdrucksformen privatautonomer Tätigkeiten wegen ihres teilweise unerläßlichen, jedenfalls irreversiblen Assoziations- oder Kollektivierungsgrades in einen quasi-öffentlichen und damit letztlich grundrechtsfreien Status hineinwachsen.

29

Demgegenüber ist festzustellen, daß der durch Privateigentum, Berufsfreiheit und sozietäre wie korporative Privatautonomie (Art. 14, 12, Abs. 1, 9 Abs. 1 GG) konstituierte Ordnungsrahmen auch für die Binnenordnung der Unternehmen gewisse Direktiven gibt: (Mit-)Trägerschaft des Unternehmens und Mitherrschaft im Unternehmen sollte der Gesetzgeber zu subjektiven Privatrechten ausformen, die den verfassungsrechtlichen Eigentumsvorstellungen entsprechen. Jede den Willensbildungsprozeß mitbeherrschende Stellung sollte mit einer Inkorporation in den Unternehmensträger- oder „Eigentümerverband" und damit in die Gewinnträgerund Risikogemeinschaft verknüpft werden 5 2 . Es gilt m. a. W. zu erkennen, daß es der binnenstrukturellen Aussagekraft von Eigentumsgarantie und Wirtschaftsfreiheit nicht gerecht wird, wenn der einfache Gesetzgeber für (bestimmte) Unternehmenskategorien nur quasi-anstaltlich oder stiftungsähnlich strukturierte Rechtspersonen mit externer Trägerschaft und Herrschaft vorsieht bzw. zuläßt 53 . 4. Gemeinschaftsrecht

3 0 a) Die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik wird nicht allein durch das nationale Recht, sondern auch durch das Europarecht, insbesondere den EG-Vertrag bestimmt. Er sieht mehrere Wirtschaftsfreiheiten vor, die dem einzelnen EG-Bürger unmittelbar zustehen: den freien Warenverkehr, freien Personenverkehr, freien Dienstleistungsverkehr und — in derzeit noch begrenztem Umfange — freien Kapital- und Zahlungsverkehr. Diese Freiheiten werden ergänzt durch eine Wettbewerbsordnung 50 51 52

53

BVerfGE 50, 290 ff. Siehe zur Kritik auch PAPIER Mitbestimmungsurteil (Fn. 12) S. 457 ff. Vgl. PAPIER Unternehmen und Unternehmung (Fn. 6) S. 87 ff; DERS. Gesellschaftliche und ökonomische Funktionen (Fn. 2) S. 105 ff. Vgl. auch F. RITTNER Öffentlich-rechtliche Elemente in der Unternehmensverfassung, in: Planung V , h r s g . v o n H . COING u n d J . H . KAISER 1 9 7 1 , S. 5 9 ( 9 1 ) ; DERS. U n t e r n e h m e n s v e r f a s s u n g u n d

Eigentum, in: Gesellschaftsrecht und Unternehmensrecht, Festschrift für Schilling, 1973, S. 363 ff).

(366

§18

Grundgesetz und Wirtschaftsordnung (PAPIER)

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(Art. 85 ff EGV) sowie die Bestimmungen über die Ordnung der Agrarmärkte (Art. 38 bis 47 EGV). Der Vertrag über die Europäische Union 54 formuliert durch Änderung des Art. 2 EGV den Grundsatz, daß es Aufgabe der Gemeinschaft sei, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion „eine harmonische und ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, ein beständiges, nichtinflationäres und umweltverträgliches Wachstum, einen hohen Grad an Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Beschäftigungsniveau, ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität..." zu fördern. Zu diesem Zweck sieht Art. 3 i. d. F. des Vertrages über die Europäische Union die Schaffung eines Binnenmarktes, der durch die Beseitigung der Hemmnisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedsstaaten gekennzeichnet ist, eine gemeinsame Handelspolitik, eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der Landwirtschaft, der Fischerei und des Verkehrs, ein System zum Schutze des Wettbewerbs, eine Sozialpolitik und eine Politik auf dem Gebiet der Umwelt vor. Im Art. 3 a ist die Einführung einer Wirtschaftspolitik vorgesehen, „die auf einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten, dem Binnenmarkt und der Festlegung gemeinsamer Ziele beruht und dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist". b) Neben den ausdrücklichen Freiheitsverbürgungen der Gemeinschaftsver- 31 träge (s. z. B. Art. 7, 48 f, 52 f, 59 f, 67 f EGV) ist vornehmlich durch die Rechtsprechung des EuGH ein gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsstandard bzw. -katalog entwickelt worden, der nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes „im wesentlichen gleich zu erachten ist" 55 . Die Gewährleistung gemeinschaftsrechtlicher Grundrechte wird von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten getragen. Der EuGH erkennt keine Maßnahme von Gemeinschaftsorganen als rechtens an, „die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Grundrechten" 56 . Zur gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung des Inhalts und der Reichweite von Grundrechten hat der EuGH auch auf die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle zurückgegriffen 57 . Dies gilt namentlich für die Eigentumsgewährleistung. Hier hat der EuGH 58 auf Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMK verwiesen, der folgenden Wortlaut hat: „Jede natürliche oder juristische Person hat ein Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, daß das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen". 54

55 56 57

58

Gesetz v o m 28. 12. 1992 zum Vertrag v o m V. 2. 1992 über die Europäische Union, BGBl. II, S. 1251. B V e r f G E 73, 339 (378); vgl. auch BVerfG, N J W 1993, 3047 (3049). S. EuGH, Urteil v. 14. Mai 1974, RS 4/73, Amtl. Slg. 1974, 491 (507) - Fall Nold. EuGH, Urteil v. 28. Oktober 1975, RS 36/75, Amtl. Slg. 1975, 1 2 1 9 (1232); Urteil v. 15. Mai 1986, Rs 222/84. Urteil v o m 13. Dezember 1979, Rs 44/79, Amtl. Slg. 1979, 3727 (3745 ff).

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Es kann demgemäß davon ausgegangen werden, daß in bezug auf die das Wirtschaftsleben betreffenden Grundrechte auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene ein den deutschen Grundrechten des Eigentums und der wirtschaftlichen Betätigung gleichwertiger Standard besteht59. Die die Wirtschaftsordnung prägende Wirkkraft der Grundrechte entspricht für das Gemeinschaftsrecht nach Inhalt und Tragweite also weitgehend derjenigen, die vom Grundgesetz ausgeht. 33 c) Auf der anderen Seite kann die Frage der Grundrechtmäßigkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorgane allein nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts entschieden werden. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des EuGH60 und wird auch vom Bundesverfassungsgericht seit dem Beschluß vom 22. Oktober 1986 („Solange II")61 anerkannt. Aufgrund der Entwicklung, Anerkennung und Durchsetzung eines wirksamen Grundrechtsschutzes auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene überprüft auch das Bundesverfassungsgericht Akte des gemeinschaftsrechtlichen Sekundärrechts nicht mehr am Maßstab der deutschen Grundrechte. Dem Gemeinschaftsrecht kommt somit im Verhältnis zum nationalen Recht, auch zum nationalen Verfassungsrecht, grundsätzlich62 ein Vorrang zu. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 12. 10. 199362a in Abweichung von seiner bisherigen Rechtsprechung62b auch Akte einer supranationalen Organisation als geeignet angesehen, seinen Aufgabenbereich zu eröffnen, da der Grundrechtsschutz in Deutschland nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen zu gewährleisten sei. Gleichwohl ändert dies am grundsätzlichen Vorrang des Gemeinschaftsrechts nichts, da es das Verhältnis seiner Rechtsprechung zu der des EuGH als „Kooperationsverhältnis bezeichnet, in dem der EuGH den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert und das Bundesverfassungsgericht sich daher auf eine generelle Gewährleistung des nach dem Grundgesetz unabdingbaren Grundrechtsschutzes beschränken kann62c.

II. Wirtschaftsverfassungsrechtliche Tragweite der Berufsund Gewerbefreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) 1. Beruf und Gewerbe 34 Art. 151 Abs. 3 WV enthielt die „Proklamation" der Gewerbefreiheit als eines objektiven Prinzips der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung63. Die GewerbefreiSiehe auch B V e r f G E 73, 339 (379 ff) m. w. Nachw. aus der Rspr. des EuGH. Siehe etwa Urteil v. 13. Dezember 1979, Rs 44/79, Amtl. Slg. 1979, 3727 (3744); s. auch schon EuGH, Urteil v. 15. Juli 1964, Amtl. Slg. 1964, 1251 (1269 f); Urteil v. 9. März 1978, Amtl. Slg. 1978, 629 (643 ff). 61 B V e r f G E 73, 339 ff. 62 Eine Ausnahme will das BVerfG nur für die grundlegenden Bedingungen der nationalen Verfassungsordnung gelten lassen (s. B V e r f G E 73, 339 (376)). 62a BVerfG N J W 1993, S. 3047 (3049). 62b BVerfG 58, 1 (27). 62c B V e r f G N J W 1993, S. 3047 (3049); vgl. auch B V e r f G E 73, 339 (387) und BVerfG N J W 1990, S. 974. 63 Siehe auch B V e r f G E 7, 377 (397); 50, 290 (362). 59

60

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heit war demgemäß auch nur „nach Maßgabe des Gesetzes" gewährleistet. Das Grundgesetz ist mit seinem Art. 12 Abs. 1 GG über die Regelung der Weimarer Verfassung in mehrfacher Hinsicht hinausgegangen·. Art. 12 Abs. 1 GG enthält ein echtes Grundrecht-, er gewährleistet dem einzelnen das Recht, „jede Tätigkeit, für die er sich geeignet glaubt, als ,Beruf zu ergreifen, d. h. zur Grundlage seiner Lebensführung zu machen"64. Der Gesetzgeber ist also nicht nur an das Prinzip „Gewerbefreiheit" gebunden mit der Folge, im Rahmen eines allgemeinen Gesetzesvorbehalts jede ihm im Rahmen seiner Wirtschaftspolitik sachgemäß und erwünscht erscheinende Ausnahme vorsehen zu dürfen. Die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers im Anwendungsgebiet des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG ist weit enger65. Die relativ stringente Garantiefunktion dieses Grundrechts gründet auf der Tatsache, daß die Berufsfreiheit im Sinne dieses Artikels in einem engen Sachzusammenhang zur freien Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit steht und eine zentrale Bedeutung für die existentielle Lebensgestaltung des einzelnen gewinnt 66 . Nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG unterliegt zwar die Berufsausübung der gesetzlichen Regelung. Gesetzgeberische Eingriffe in das Recht der freien Berufs wähl als eines für den einzelnen weit wichtigeren Rechts zur freien Persönlichkeitsentfaltung unterliegen aber strengen materiellen und formellen Voraussetzungen67. Abgesehen von seiner Grundrechtsqualität geht der Art. 12 Abs. 1 GG aber 35 auch insoweit über die Garantie der Gewerbefreiheit hinaus, als er dem einzelnen nicht nur das Recht zur selbständigen Ausübung eines Gewerbes gewährleistet. Zwar ist das Recht, eine selbständige gewerbliche, d. h. auf Gewinnerzielung gerichtete Tätigkeit zu ergreifen, von Art. 12 Abs. 1 GG mitumfaßt. Die Berufsfreiheit bezieht sich aber darüber hinausgehend auf jede Tätigkeit, die für den einzelnen Lebensaufgabe und Lebensgrundlage ist und „durch die er zugleich seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung erbringt"68. „Beruf im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG ist daher die selbständige ebenso wie die unselbständige Tätigkeit 69 . Von wirtschaftsverfassungsrechtlicher Tragweite ist diese Aussage vor allem 36 deswegen, weil sie zum einen eine Fixierung des Art. 12 Abs. 1 GG auf traditionelle oder normativ strukturierte „Berufsbilder" nicht gestattet70. Dem einzelnen ist durch Art. 12 Abs. 1 GG vielmehr das Recht gewährleistet, auch bisher unbekannte, unübliche oder untypische — mit der allgemeinen Rechtsordnung zu vereinbarende — Betätigungen zur Grundlage seiner Lebensführung zu machen, d. h. als

64

65 66

67 68 69 70

BVerGE 7, 397. Zum Berufsbegriff siehe R. SCHOLZ in: Maunz/Dürig G G (Fn. 33) Art. 12 Rdn. 1 7 ff. Grundlegend BVerfGE 7, 377 (399 ff). BVerfGE 7, 397; 13, 97 (104); 30, 292 (334); 50, 362; O. BACHOF Freiheit des Berufs, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner Die Grundrechte, III. Bd., 1. Halbbd., 2. Aufl. 1972, S. 155 ff (168 f). Grundlegend BVerfGE 7, 377 ff. BVerfGE 7, 397; zum Berufsbegriff s. ferner BVerfGE 54, 301 (313); 59, 302 (315). BVerfGE 7, 398 f; 50, 290 (365); 59, 231 (266); BACHOF Freiheit des Berufs (Fn. 66) S. 160. BVerfGE 7, 397; H.J. PAPIER Art. 12 G G - Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, in: DVB1. 1984, S. 801 (802).

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Beruf zu wählen. Daraus mögen sich im Laufe der Zeit neue, fest strukturierte Berufsbilder ergeben; dem Art. 12 Abs. 1 GG ist indes eine Funktion der Versteinerung vorgegebener Berufsbilder fremd. Dem Gesetzgeber ist es grundsätzlich nicht verwehrt, bestimmte Berufsbilder festzulegen, die darin liegenden Beschränkungen der freien Berufsausübung müssen den allgemeinen Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips genügen. Soweit damit zugleich in die Berufswahlfreiheit Dritter eingegriffen wird, ist der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers entsprechend enger 71 . 37 Die Garantiewirkung des Art. 12 Abs. 1 GG endet zum zweiten nicht schon bei all denjenigen Tätigkeiten, die sich der Staat für sich selbst bzw. für sonstige öffentlich-rechtliche Träger vorbehält. Das gilt im Grundsatz selbst für die im „öffentlichen Dienst" ausgeübten Tätigkeiten, so daß auch die Berufe des Beamten oder Richters vom einzelnen frei gewählt werden können und keinem ihre Wahl aufgezwungen oder verboten werden darf 72 . Art. 33 GG enthält bzw. ermöglicht jedoch weitreichende Sonderregelungen für den Zugang zum öffentlichen Dienst, so daß sich aufgrund dieser Spezialnorm der Verfassung die Berufsfreiheit letztlich auf das Recht des gleichen Zugangs zu den öffentlichen Ämtern reduziert 73 . Zum Teil läßt der Staat hoheitliche Funktionen und öffentliche Aufgaben von Personen wahrnehmen, die nicht in den öffentlichen Dienst integriert sind („staatlich gebundene Berufe", ζ. B. des Notars). Der Staat hat einen gewissen Ermessensspielraum in der Gestaltung der öffentlichen Aufgabenerledigung. Überträgt er eine bestimmte öffentliche Funktion nicht der öffentlich-rechtlichen Organisation selbst, sondern Privatpersonen, so hat er aufgrund des Art. 33 GG das Recht, über die allgemeine Schrankenregelung des Art. 12 Abs. 1 GG hinausreichende Begrenzungen der freien Berufswahl und Berufsausübung zu bestimmen, soweit dies wegen der öffentlichrechtlichen Funktionswahrnehmung geboten ist 74 . 2. Berufsfreiheit und öffentliche Monopole 38 Von wesentlicher wirtschaftsverfassungsrechtlicher Tragweite ist die umfassende Garantiewirkung des Art. 12 Abs. 2 GG aber vor allem deswegen, weil dieser auch einen grundrechtlichen Schutz gegen staatliche oder sonstige öffentlich-rechtliche Monopolisierungen begründet 75 . Öffentlich-rechtliche Monopole schließen erwerbswirtschaftliche Betätigungen Privater in ihrem Anwendungsbereich mit normativer Wirkung aus. Sie nehmen dem einzelnen also das Recht der freien Berufswahl und stellen wegen ihrer normativen Sperrwirkung für einzelne Berufe einen äußerst 71 72 73 74 75

Siehe auch B V e r f G E 54, 301 (314 ff); 59, 302 (315 ff). B V e r f G E 7, 397 f; 17, 371 (377); B V e r w G D Ö V 1987, 289 (290). B V e r f G E 7, 398; vgl. auch B V e r w G D Ö V 1987, 289 (290). Siehe auch B V e r f G E 17, S. 377; PAPIER Freiheit des Berufs (Fn. 70) S. 801 (803). Vgl. B V e r f G E 21, S. 245 (249) — Arbeitsvermittlungsmonopol. In der Sache zurückhaltender: B V e r f G E 41, S. 205 (218) — Gebäudeversicherungsmonopole. Siehe ferner BETTERMANN Versicherungsmonopole (Fn. 33) S. 201; K . OBERMAYER/U. STEINER Die Monopole der öffentlichen Sachversicherung und das Grundrecht der Berufsfreiheit, in: N J W 1969, S. 1458 f; SCHOLZ in: Maunz/Dürig G G (Fn. 33) Art. 12 Rdn. 401 ff; PAPIER Freiheit des Berufs (Fn. 70) S. 801 (803).

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schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG dar. Zu unterscheiden ist zwischen Finanzmonopolen und Verwaltungsmonopolen. Im ersten Fall ist eine erwerbswirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand monopolisiert, das Finanzmonopol dient also der Erzielung von Einnahmen. Im zweiten Fall wird eine Tätigkeit als Wahrnehmung materieller Verwaltungsfunktionen beim Staat bzw. einem sonstigen öffentlich-rechtlichen Träger konzentriert, das Verwaltungsmonopol dient also der unmittelbaren öffentlichen Aufgabenerfüllung. Als Eingriffe in die Berufswahlfreiheit durch Normierung objektiver Zugangs- 39 hindernisse bzw. -sperren können die öffentlichen Monopole an sich nur unter der Voraussetzung vor Art. 12 Abs. 1 GG legitimiert sein, daß die Monopolisierung erforderlich ist, um nachweisbare oder höchst wahrscheinliche schwere Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut abzuwehren76. Diese Voraussetzungen können bei den auf Gewinnerzielung ausgerichteten, erwerbswirtschaftlich orientierten Finan^monopolen nicht erfüllt sein. Auf der anderen Seite ist zu beachten, daß das Grundgesetz die Finanzmonopole in den Art. 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 und 108 Abs. 1 GG ausdrücklich erwähnt und bestimmt, daß der Bund die ausschließliche Gesetzgebung über Finanzmonopole hat, daß ihm die Erträge zufließen und daß die Finanzmonopole von Bundesfinanzbehörden verwaltet werden. Das Bundesverfassungsgericht77 sieht in diesen Vorschriften des Finanzverfassungsrechts eine grundgesetzliche Bestätigung der beiden vorhandenen Finanzmonopole, des Brandweinmonopols und des Zündwarenmonopols und damit eine sektorale verfassungsunmittelbare Beschränkung des Rechts der freien Berufswahl. Die Einführung neuer Finanzmonopole hingegen dürfte an der Berufsfreiheitsgarantie des Art. 12 Abs. 1 GG scheitern. Finanzmonopole können — wie erwähnt — die äußerst strengen Voraussetzungen einer legitimen Zugangssperre zu bestimmten Berufen nicht erfüllen. Verwaltungsmonopole, durch die der Staat bestimmte Tätigkeiten als öffentliche 40 Aufgabenerledigung an sich zieht, können in der Weise ausgestaltet sein, daß Privaten jene Tätigkeit verboten ist. Möglich ist aber auch eine Adressierung der Normwirkung an die jene Tätigkeit Nachfragenden, also die Bestimmung eines Gebots zur ausschließlichen Nutzung der öffentlichen Veranstaltung oder Einrichtung. In beiden Fällen ist die oben beschriebene Eingriffswirkung in bezug auf die Berufswahlfreiheit gegeben, in beiden Fällen ist Privaten die Möglichkeit genommen, die betreffende Tätigkeit als Beruf zu ergreifen und auszuüben. Im zweiten Fall des Anschluß- und Benutzungsgebots wird überdies in die Grundrechte der „Nachfrager" eingegriffen. Für den Regelfall wird insoweit das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) tangiert sein. Doch während jenes Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG seine Schranken in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung findet 78 , also letztlich unter einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt steht, muß sich der mit der Begründung des Verwaltungsmonopols verbundene Eingriff in die Berufswahlfreiheit den weit 76 77 78

BVerfGE 21, 251 unter Hinweise auf BVerfGE 7, 377 (405, 408); 11, 168 (183). BVerfGE 14, 105 (111). BVerfGE 6, 32 (37/8).

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

strengeren Voraussetzungen einer schweren und nachweisbaren Gefahrdung überragender Gemeinschaftsgüter einfügen. 41 Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Voraussetzungen für das Arbeitsvermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit (damals Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung) in seinem Urteil vom 4. April 196779 bejaht und dieses Verwaltungsmonopol daher für vereinbar mit Art. 12 Abs. 1 GG erklärt80. Die „monopolfreudige" Judikatur des Gerichts ist mit der Entscheidung vom 14. Januar 197681 fortgesetzt worden. Mit ihr sind nach Landesrecht bestehende öffentlich-rechtliche Gebäudeversicherungsmonopole für grundgesetzmäßig erklärt worden. Der Nachweis, daß ohne die öffentlich-rechtliche Monopolisierung überragenden Gemeinschaftsgütern schwere Gefahren drohen, ist aber hier mit Sicherheit nicht möglich. 42 Die öffentlichen Versicherungsmonopole werden im allgemeinen mit einer (angeblichen) organisatorischen Vereinfachung der Versicherungsarbeit und mit der Reduzierung der Kosten insbesondere wegen des Wegfalls der Werbung gerechtfertigt 82 . Selbst wenn dies zuträfe und öffentliche Monopole für den Versicherungsnehmer günstigere Versicherungsbedingungen bieten (könnten), ist damit der Eingriff in die Berufsfreiheit der Privatversicherer nicht legitimiert. Denn hier geht es um Gesichtspunkte der zweckmäßigsten Form der Sachversicherung und des optimalen Versicherungsschutzes, angesichts des heute existierenden umfassenden und leistungsfähigen privaten Versicherungswesens aber keinesfalls um solche der Gefahrenabwehr für überragende Gemeinschaftsgüter83. 43 Das Bundesverfassungsgericht rechtfertigt das Versicherungsmonopol dann auch nicht mit dem Art. 12 Abs. 1 GG immanenten Gründen. Vielmehr folgert es seine Legitimation aus der Kompetenzvorschrift des Art. 74 Nr. 11 GG, die dem Bund das Recht der konkurrierenden Gesetzgebung u. a. für das „privatrechtliche Versicherungswesen" zuweist84. Daraus folgt sicherlich, daß das „öffentlich-rechtliche Versicherungswesen" der (ausschließlichen) Landeskompetenz nach Art. 70 GG unterfällt. Bedenklich erscheint aber die weitere Annahme des Bundesverfassungsgerichts, aufgrund dieser Kompetenzzuweisung an die Länder seien jene trotz Art. 12 79 80

81 82 83

B V e r f G E 21, 245 ff. Vgl. hierzu aus neuester Zeit einerseits den Vorlagebeschluß des B G H v o m 25. 9. 1991 — IV ZR 87/90, N Z A 1992, S. 45 ff, der das Arbeitsvermittlungsmonopol insoweit für verfassungswidrig hält, als es Führungskräfte der Wirtschaft betrifft, andererseits die Entscheidung des B S G v o m 26. 3. 1992 - 11 R A r 25/90 - N Z S 1992, S. 67 ff, das verfassungs- und europarechtliche Bedenken verneint, sofern die untersagte private Arbeitsvermittlung weder die Vermittlung v o n Führungskräften der Wirtschaft noch eine grenzüberschreitende Vermittlungstätigkeit zum Gegenstand hatte. B V e r f G E 41, 205 ff. Vgl. die Nachweise bei OBERMAYER/STEINER Monopole (Fn. 75) S. 1462, Fn. 94, 95. Zutreffend OBERMEYER/STEINER Monopole (Fn. 75) S. 1462; vgl. auch BETTERMANN Versicherungsmonopole (Fn. 33) S. 263 ff; E. LAMM/U. MLITZKO Versicherungszwang und Grundgesetz, in: D V B 1 . 1 9 6 4 S. 9 4 4 f; P. BADURA D a s V e r w a l t u n g s m o n o p o l , 1 9 6 3 , S. 1 1 7 .

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B V e r f G E 41, 2 1 8 ff; ebenso BETTERMANN Versicherungsmonopole (Fn. 33) S. 245 f. Zur Kritik siehe auch SCHOLZ in: Maunz/Dürig G G (Fn. 33) A r t . 12 Rdn. 234.

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Abs. 1 GG auch zur Regelung öffentlich-rechtlicher Versicherungen mit Monopolwirkung berechtigt. Beides ist nicht untrennbar miteinander verknüpft. Öffentlichrechtliche Versicherungseinrichtungen existieren zum großen Teil ohne Monopolisierung. Zu nennen sind hier die Regelungen bei vielen freien Berufen, die zwar häufig auch einen Versicherungszwang, nicht aber eine Monopolisierung zugunsten der öffentlich-rechtlichen Einrichtungen kennen. Wegen der besonderen Garantiewirkung des Art. 12 Abs. 1 GG bei Eingriffen in die Berufswahlfreiheit durch Aufrichtung objektiver Hinderungsgründe können auch Verwaltungsmono^ole. nur in seltenen Ausnahmefällen verfassungslegitim begründet werden. Allein aus der ausdrücklichen oder impliziten Zuweisung von Regelungskompetenzen für bestimmte Sachgebiete (ζ. B. für das „öffentlich-rechtliche Versicherungswesen") kann eine Ermächtigung zu einer Einführung oder Aufrechterhaltung von Verwaltungsmonopolen nicht hergeleitet werden, auch wenn in jenem Sachgebiet vorkonstitutionell begründete Monopolisierungen anzutreffen bzw. üblich waren. 3. öffentliche Konkurrenzwirtschaft Eine vergleichbare Schutzfunktion zugunsten privatwirtschaftlicher Berufs- und 44 Unternehmertätigkeit durch Privatrechtssubjekte entfaltet der Art. 12 Abs. 1 GG nach herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Lehre nicht gegenüber der staatlichen Konkurren^wirtschaft85. Die staatliche Eigenbetätigung im Wirtschaftsbereich ist zwar ein Fremdkörper in einem auf Privatautonomie und Dezentralisation gründenden Wirtschaftssystem! Dem Grundgesetz kann indes — wie oben ausgeführt 86 — ein die Garantiewirkung der Einzelgrundrechte verlassendes, allgemeines und striktes Systembefolgungsgebot nicht entnommen werden. Es kann mithin allein auf die Schutzfunktion der Grundrechte, also insbesondere auf Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 GG, rekurriert werden. Nach traditioneller Auffassung gewährt die Berufsfreiheitsgarantie Schutz nur 45 gegenüber hoheitsrechtlichen Interventionen, nicht aber gegenüber staatlichem Wettbewerb und nicht gegenüber staatlicher Konkurrenzwirtschaft. Dies gilt selbst dann, wenn der öffentliche Wettbewerber den Vorteil öffentlicher Subventionierungen genießt oder wenn die konkurrierende Betätigung des Staates auf dem Markt nicht in den Formen des Privatrechts, sondern des öffentlichen Rechts erfolgt (ζ. B. Betätigungen von Sozialversicherungsträgern im Wettbewerb mit privaten Krankenkassen) 87 . Der Privatunternehmer kann sich in diesen Fällen auch nicht unter Berufung auf Art. 14 GG gegen die staatliche Konkurrenztätigkeit zur Wehr setzen 88 . Denn dieses Grundrecht umfaßt nicht die (bloßen) Erwerbschancen im Falle einer konkurrenzfreien oder konkurrenzgeminderten Unternehmensbetätigung. Der Pri85

B V e r w G E 39, 329 (336 £); B V e r w G , BayVBl. 1978, S. 376. Zur Problematik siehe auch R. STOBER Rein gewerbliche Betätigung der öffentlichen Hand und Verfasssung, in: ZHR 145 (1981) S. 5 6 5 ff; SCHOLZ in: M a u n z / D ü r i g G G

86 87 88

(Fn. 33) A r t . 1 2 R d n . 4 0 1 ff.

Siehe oben Rdn. 1 ff. Siehe H.-J. PAPIER Fälle zum Wahlfach Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2. Aufl. 1984, S. 195 (207). Siehe auch B V e r w G BayVBl. 1978, 376.

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vate ist also nach traditioneller Auffassung im Grundsatz gegenüber staatlicher Konkurrenz-Wirtschaft grundrechtlich nicht geschützt. Sein Schutz kann dann allein aus dem auch für den wirtschaftenden Staat geltenden allgemeinen Recht des UWG und GWB folgen 89 . Viele öffentliche Unternehmungen sind allerdings von der Geltung des GWB befreit (siehe §§ 99 ff GWB). 46

Ein Grundrechtsschutz aus Art. 12 Abs. 1 GG muß aber in jedem Fall dann Platz greifen, wenn die staatliche Konkurrenzwirtschaft faktisch zur öffentlichen Monopolisierung führt, die wirtschaftliche Betätigung der Privaten in jenem Bereich also zum Erliegen kommt. Solche (faktischen) Einwirkungen müssen wie rechtlich wirkende Monopolisierungen behandelt werden 90 . In der Literatur nimmt aber die Tendenz zu, der staatlichen Konkurrenzwirtschaft über die Freiheitsrechte des Art. 12 Abs. 1, 14 GG auch darüber hinaus Grenzen zu setzen 91 . Dies erscheint angesichts der allgemeinen Erkenntnis plausibel, daß die Freiheitsrechte nicht nur vor finalen und direkten Eingriffen, sondern auch vor mittelbaren belastenden Einwirkungen der öffentlichen Gewalt Schutz gewähren. Soweit es um staatliche Konkurrenztätigkeit ohne monopolmäßige oder monopolähnliche Auswirkungen geht, laufen die grundrechtlichen Argumentationen auf die Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hinaus, der jedoch nicht in dem strikten Sinne einer Subsidiarität staatlicher Eigenbetätigungen wirken kann und soll 92 .

47

Immerhin muß die staatliche Konkurrenztätigkeit und die darin implizierte Betroffenheit des Berufsgrundrechts der privatwirtschaftlich Tätigen nach dieser Auffassung durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls gerechtfertigt sein, und sie darf jene Privatrechtssubjekte nicht übermäßig und unzumutbar beeinträchtigen. Auf diese Weise könnten Wettbewerbshandlungen der öffentlichen Hand abgewehrt werden, die etwa auf einem zweckwidrigen Einsatz öffentlicher Mittel beruhen oder die auf einen Vernichtungs- oder Behinderungswettbewerb hinauslaufen 93 , weil z. B. der öffentlich-rechtliche Wettbewerber nicht auf Gewinnerzielung angewiesen ist, kein unternehmerisches Risiko trägt und auch steuerlich oder in sonstiger Hinsicht normativ begünstigt ist. 4. Unternehmerfreiheit und Binnenordnung der Unternehmen

48 Die Berufsfreiheit umschließt auch die „Unternehmerfreiheit", also das Recht der freien Gründung und Führung von Unternehmen 94 . Art. 12 Abs. 1 GG überant89

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92 93

94

Siehe auch R. SCHOLZ in: R. Scholz/J. Isensee, Zur Krankenversicherung der Studenten, 1973, S. 10 f; DERS. Wettbewerbsrecht und öffentliche Hand, in: ZHR Bd. 132 (1969) S. 97 (129). Vgl. auch B V e r f G E 39, 337 unter Hinweis auf B V e r w G E 17, 306 (314) in bezug auf Art. 14 G G . Weitere Nachw. bei SCHOLZ in: Maunz/Dürig G G (Fn. 33) Art. 12 Rdn. 405. Vgl. etwa SCHOLZ in: Maunz/Dürig G G (Fn. 33) Art. 12 G G , Rdn. 401 ff; H.-J. PAPIER Sozialversicherung und Privatversicherung — verfassungsrechtliche Vorgaben, in: Zeitschrift für Sozialreform 1990, S. 344 (351). So ausdrücklich auch SCHOLZ in: Maunz/Dürig G G (Fn. 33) Art. 12 Rdn. 405. Vgl. auch PAPIER Freiheit des Berufs (Fn. 70) S. 809; DERS. Sozialverischerung und Privatversicherung (Fn. 91) S. 351. B V e r f G E 50, 363.

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wortet damit den Privatrechtssubjekten und ihrer Autonomie das Recht, Produktionsfaktoren durch dezentrale Planungs- und Leitungsakte zu einem Produktionserfolg zu kombinieren. Dieses Recht ist gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auch den (inländischen) juristischen Personen eingeräumt, was das Bundesverfassungsgericht trotz seines betont individualrechtlich-personalen Ansatzes bei der Berufsfreiheit akzeptiert95. Träger des Unternehmergrundrechts ist bei Unternehmen, die nicht von Einzelpersonen getragen werden, die juristisch verfaßte Willenseinheit, die von Rechts wegen die bestimmenden Entscheidungen für das Unternehmen trifft, also die juristische Person oder handelsrechtliche Gesamthand, in deren Namen, auf deren Rechnung und Risiko andere unternehmerisch handeln. Weder der Anteilseigner noch der „Manager" ist danach Träger der grundrechtlichen Unternehmerfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG96. Dem Art. 12 Abs. 1 GG ist eine Begrenzung der Unternehmerfreiheit auf das 49 „Kleingewerbe", auf kleine oder mittlere Unternehmen unbekannt. Das Grundrecht gilt auch für die Träger von Großunternehmen und Konzernen97. Allerdings ist die Regelungs- und Eingriffskompetenz des Gesetzgebers nach Maßgabe des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG bei diesen unterschiedlichen wirtschaftlichen Sachverhalten differenziert ausgestaltet: Die Berufsfreiheit der Träger von Großunternehmen kann nur im Zusammenwirken vieler anderer Grundrechtsträger wahrgenommen werden. Auch sind die gesamtwirtschaftlichen Implikationen derartiger Grundrechtswahrnehmungen weit intensiver als bei der Tätigkeit von Klein- und Mittelunternehmen. Einem solchermaßen erhöhten „sozialen Bezug" und einer erhöhten „sozialen Funktion" der Grundrechtswahrnehmung entsprechen gesteigerte Möglichkeiten des Gesetzgebers, die Bedingungen dafür zu gewährleisten, daß die im Grundsatz privatnützige Grundrechtsausübung mit dem Gemeinwohl und mit den Freiheitsrealisierungsbedürfnissen Dritter vereinbar bleiben kann. Die legislatorischen Eingriffsberechtigungen sind mit anderen Worten weitgehender als in den Fällen, in denen die Berufsfreiheitsausübung des Unternehmers Ausdruck einer individuellen Persönlichkeitsentfaltung ist98. Auf der anderen Seite gehen von der Berufsfreiheit als Freiheit zur selbständigen 50 Erwerbstätigkeit auch gewisse Wirkungen auf die sozietäre und korporative Privatrechts- bzw. Gesellschaftsrechtsordnung aus. Gerade der anerkannt personale Gehalt des Art. 12 Abs. 1 GG erzwingt gesetzgeberische Transformations- und Einrichtungsakte im gesellschafts- oder unternehmensrechtlichen 5/»w»bereich99. Es gilt zu 95 96 97 98 99

B V e r f G E 30, 292 (312); 50, 363. PAPIER Unternehmen und Unternehmer (Fn. 6) S. 58. Ebenso B V e r f G E 50, 363 f. Siehe auch B V e r f G E 50, 363 ff. PAPIER Unternehmen und Unternehmer (Fn. 6) S. 99 ff. Zur Transformation von Individualgrundrechten in den korporativen Innenbereich siehe allgemein die Diskussionsbeiträge von D. MERTEN und R. SCHOLZ in: Der Staatssektor in der sozialen Marktwirtschaft, 43. Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung 1975 der Verwaltungshochschule Speyer, 1976, S. 136; siehe ferner E.-J. MESTMÄCKER Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, in: Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, Festschrift für Franz Böhm zum 80. Geburtstag, 1975, S. 383 (410 ff); RUPP Wandel der Grundrechte (Fn. 49) S. 161 (164).

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erkennen, daß allgemein bei den Freiheiten zu privatautonomem Handeln ein Grundrechtsverständnis viel zu kurz greift, das Freiheitsrechtsgewährungen als „Verzichtserklärungen des Staates" und Überantwortung der Lebensbereiche an ihre „vorrechtlichen Eigengesetzlichkeiten" versteht. Denn diese Freiheiten können nur auf der Grundlage und mittels einer bereitgestellten Privatrechtsordnung ausgeübt werden. Diese Erkenntnis gilt in besonderem Maße für die Wahrnehmung der Berufsfreiheit in sozietärer oder korporativer Assoziation. Art. 12 Abs. 1 GG schließt eine Reduktion der Möglichkeiten von Unternehmertätigkeit auf die schlichte Alternative aus, in allen oder bestimmten Wirtschaftsbereichen entweder als Einzelunternehmer oder aber als (nur) externer Investor am Wirtschaftsverkehr teilzunehmen, der dann von anstalts- oder stiftungsähnlichen Unternehmungen getragen wird. Wegen Art. 12 Abs. 1 GG müssen auch (Zwischen-)Formen sozietärer und korporativer Assoziation mit interner Willensbildungsautonomie eröffnet sein. 51

Ein Gesetzgeber, der unter den heutigen ökonomischen Bedingungen gesamthänderische oder korporative Vereinigungen zur Wahrnehmung der Unternehmerfreiheit verböte und verhinderte, würde eine weitreichende Zugangssperre zum Markt und zur Ausübung von Unternehmerfreiheit bewirken 100 . Es läge nicht nur eine Beschränkung der gesellschaftsrechtlichen Vertragsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) vor, sondern auch eine Verletzung der Berufsfreiheitsgarantie des Art. 12 Abs. 1 GG 101 . Die Zulassung oder Einführung anstaltlich strukturierter oder sonstiger Unternehmensorganisationen mit externer Trägerschaft, Herrschaft und Willensbildung allein oder neben dem Einzelunternehmer stellt also keine hinreichende gesetzgeberische Gewährleistung der Berufsfreiheit als Unternehmerfreiheit dar. 5. Berufsausübung und Berufswahl

52 a) Die Regelungsbefugnisse des Gesetzgebers nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG beziehen sich entgegen dem Wortlaut dieser Verfassungsbestimmung nicht allein auf die Berufsausübung. Sie erstrecken sich im Grundsatz auch auf den Zugang zu und das Verbleiben in einem Beruf, also auf die Betuisivah/freiheit102. Nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit als einer allgemeinen rechtsstaatlichen Eingriffsschranke ist der Regelungsspielraum des Gesetzgebers aber unterschiedlich weit 103 : Der Gesetzgeber ist um so freier, je mehr er sich auf reine Ausübungsregelungen beschränkt; er ist um so begrenzter, je mehr er auch die freie Berufswahl berührt. Die Unterscheidung von Berufsausübungs- und Berufswahlfreiheit im Anwendungsbereich des Art. 12 Abs. 1 GG darf aber nicht zu einer Formelhaftigkeit überbetont werden 104 . Sie hat eine indiziell-symptomatische Bedeutung oder Aussagekraft für die Eingriffs100 101

102 103 104

Vgl. auch LUTTER Unternehmensverfassung (Fn. 31) S. 615. Vgl. auch RÜFN Unternehmen und Unternehmer (Fn. 31) S. 690, der meint, Art. 12 Abs. 1 G G stünde einer Begrenzung des selbständigen Unternehmertums auf das „Kleingewerbe" nicht entgegen. Grundlegend B V e r f G E 7, 4 0 2 ff. B V e r f G E 7, 377 ff, bes. 405 ff. Siehe auch B V e r f G E

16, 1 4 7 (167); 17, 2 3 2 (242); 17, 2 6 9 (276); 3 0 , 3 3 6 (351); 32, 1 (23);

1 2 5 ( 1 6 0 ) ; PAPIER F r e i h e i t d e s B e r u f s ( F n . 7 0 ) S . 8 0 1

(803).

33,

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Grundgesetz und Wirtschaftsordnung (PAPIER)

823

schwere. Eine endgültige Abstufung der Eingriffsintensität läßt sich damit vielfach nicht vornehmen. Es gibt Eingriffe in die Berufsfreiheit, die — mögen sie aus formaler Sicht auch nur die Freiheit der Berufsausübung tangieren — hinsichtlich ihrer materiellen Eingriffsschwere den Beschränkungen der Berufswahlfreiheit gleichkommen und deshalb den für sie geltenden Eingriffsschranken unterliegen müssen105. Das oben angesprochene landesgesetzliche Gebäudeversicherungsmonopol muß ζ. B. bei materieller Betrachtung als Beschränkung der Berufswahlfreiheit angesehen werden, auch wenn es vielleicht keinen selbständigen Beruf des „Feuerversicherers" gibt und daher in bezug auf die allgemeine Sachversicherungstätigkeit nur eine bestimmte Sparte monopolisiert ist, pro forma also nicht der Zugang zu einem (eigenständigen) Beruf, sondern nur eine bestimmte Art der Berufsausübung betroffen wird. Die Garantiewirkung des Art. 12 Abs. 1 GG kann mit anderen Worten nicht von häufig mehr oder weniger zufällig gebildeten, manchmal nur in gewisser subjektiver Beliebigkeit fixierbaren Berufsbildern abhängen. Auch das Bundesverfassungsgericht ist letztlich stets so verfahren, hingewiesen sei in diesem Zusammenhang nur auf die Kassenarzt-Entscheidung vom 23. 3. 1967106 und den Facharzt-Beschluß vom 9. 5. 1972107. b) Die Freiheit der Berufsausübung kann zugunsten eines jeden Gemeinwohl- 53 zwecks beschränkt werden. Der Gesetzgeber ist hier im wesentlichen nur durch das allgemeine Übermaß verbot in seiner Regelungsbefugnis begrenzt108. Dieses Übermaßverbot oder Verhältnismäßigkeitsprinzip besitzt gerade für den Aktionskreis der wirtschaftspolitischen Gesetzgebung einige signifikante Komponenten, die mit dem legislatorischen Prognosespielraum, dem gesetzgeberischen Abwägungsgebot und der Reaktionspflicht auf erkannte Fehlprognosen umschrieben werden können und die weiter unten gesondert behandelt werden sollen109. c) Die Freiheit der Berufs wähl darf nur zum Schutz besonders wichtiger Gemein- 54 schaftsgüter beschränkt werden110. Hier genügt also nicht jeder Gemeinwohlbelang als verfassungslegitimer Eitigriffsgrund. Der konkrete gesetzgeberische Eingriff muß überdies zum Schutze dieses überragenden Gemeinschaftsgutes unumgänglich sein. Werden die Aufnahme eines Berufs oder das Verbleiben im Beruf nicht nur von subjektiven Voraussetzungen abhängig gemacht (ζ. B. Vor- und Ausbildung, Alter, Eignung und Zuverlässigkeit), sondern gelten objektive Beschränkungen, so bedeutet jene „Unumgänglichkeit" des Eingriffs folgendes111: Die Beschränkung muß zur

105

106

107 108 109 110 1,1

Siehe auch O. BACHOF/HEIDENHAIN in: Rechtsschutz im Sozialrecht, 1965, S. 9 ff; H. H. RUPP Bundesverfassungsgericht und Berufsfreiheit, in: AöR 92 (1967) S. 224 ff; PAPIER Freiheit des Berufs (Fn. 70) S. 801 (803); DERS. Die Verlängerung der kassenärztlichen Vorbereitungszeit in verfassungsrechtlicher Würdigung, in: SGb. 1984, S. 221 (222). BVerfGE 11, 30 (42 f); s. ferner BVerfGE 12, 144 (147); dazu RUPP Berufsfreiheit (Fn. 105) S. 235. BVerfGE 33, 125 (161 f); s. auch PAPIER Freiheit des Berufs (Fn. 70) S. 801 (803). BVerfGE 7, 377 ff (Ls. 6 a, 405 ff). Siehe unten Rdn. 79 ff. BVerfGE 7, 377 ff (Ls. 6 b, 405 ff). BVerfGE 7, 377 ff (Ls. 6 c, 405 ff).

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

Abwehr nachweisbarer oder höchst wahrscheinlicher schwerer Gefahren für das überragend wichtige Gemeinschaftsgut notwendig sein. In bezug auf die Gefahrenlage gibt es dann keine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers mehr, an ihre Stelle treten die volle richterliche Nachprüfung und im Falle der Nichterweislichkeit der vom Gesetzgeber angenommenen schweren Gefahrenlage der GtunAtzcYitsverstoß. Entsprechendes gilt für das gewählte Eingriffsmittel der objektiven Zulassungsvoraussetzungen. Auch hier geht die Nichterweislichkeit mangelnder oder nicht hinreichender Schutzfunktionen von bloßen Ausübungsregelungen und Berufswahlbeschränkungen subjektiver Art zu Lasten des staatlichen Gesetzgebers. 55 d) Die Abhängigkeit eines Berufszugangs von staatlichen Bedürfnisprüfungen ist als objektive Zulassungsvoraussetzung danach nur noch in Ausnahmefällen vor Art. 12 Abs. 1 GG legitimierbar. So war die alte Apothekenkonzession112 ebenso unzulässig wie die Bedürfnisprüfung nach § 9 Abs. 2 PBefG a. F. bei der Zulassung zum Gelegenheitsverkehr mit Mietwagen und Droschken113. Eine Bedürfnisprüfung, die sich in der Statuierung eines Konkurrenzschutzes vorhandener Betreiber erschöpft oder aber auf die Durchsetzung — nach Vorstellung des Gesetzgebers oder der Verwaltung — optimaler Angebotsstrukturen abzielt, dient sicherlich nicht der Abwehr von Gefahren für überragende Gemeinschaftsgüter. Das schließt aber nicht jede Kontingentierung und Limitierung der Berufszugänge aus. Das Bundesverfassungsgericht hat solche Begrenzungen gerade im Verkehrsrecht gebilligt: Die Existenz- und Funktionsfähigkeit des örtlichen Droschkengewerbes ist in BVerfGE 11, S. 186f, als ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut angesehen worden, weil das Droschkengewerbe ein notwendiger (Mit-)Träger der öffentlichen Verkehrsbedienung sei. Daraus folgt die Zulässigkeit einer objektiven Zugangsbegrenzung, soweit dies zum Existenzschutz des Gewerbes und damit zur Wahrung öffentlicher Verkehrsinteressen erforderlich ist (vgl. § 13 Abs. 3 PBefG). Ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut stellt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch die Erhaltung des Bestandes, der Funktionsfähigkeit und der Wirtschaftlichkeit der Deutschen Bundesbahn dar. Die umfängliche Begrenzung privatwirtschaftlicher, mit der Bahn konkurrierender Verkehrsträger kann dann, soweit es für jenen Schutzzweck unumgänglich ist, vor Art. 12 Abs. 1 GG legitimierbar sein. Das Bundesverfassungsgericht hat demgemäß die Festsetzung von Höchstzahlen für Kraftfahrzeuge des allgemeinen Güterfernverkehrs nach § 9 Abs. 1 GüKG als mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar erachtet114. 56

e) Die Existenz eines wichtigen Gemeinschaftsgutes kann nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts auch aus den besonderen wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Gesetzgebers resultieren, braucht also nicht unbedingt der jeweiligen Politik des Gemeinwesens in einer Absolutheit vorgegeben zu sein. So ist die dem großen Befähigungsnachweis im Handwerksrecht als einer subjektiven Zulassungsvoraussetzung zugrunde liegende Anschauung des Gesetz1,2 113 114

Siehe dazu BVerfGE 7, 377 ff. Siehe dazu BVerfGE 11, 168 ff. BVerfGE 40, 196 ff.

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825

gebers, an der Erhaltung des Leistungsstandes und der Leistungsfähigkeit des Handwerks bestünden überragende Interessen der Gemeinschaft, vom Bundesverfassungsgericht vor dem Art. 12 Abs. 1 GG gerechtfertigt worden 115 . Die wirtschaftspolitische Grundannahme des Gesetzgebers von der volkswirtschaftlichen Unentbehrlichkeit des Handwerkers als Teil des gewerblichen Mittelstandes und einer Eingrenzung der Zugänglichkeit zum handwerklichen Beruf nach Maßgabe subjektiver Anforderungen ist demgemäß einer legislatorischen Einschätzungsprärogative für ein überragendes Gemeinschaftsgut im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG zugerechnet worden. Alles in allem stellt sich die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht das Kri- 57 terium des „überragend wichtigen Gemeinschaftsgutes" in seiner späteren Spruchpraxis nicht allzu großzügig gehandhabt und damit die strikten Anforderungen des „Apotheken-Urteils" ohne Not stark relativiert hat. f) Was für die abgestuften Voraussetzungen der Berufsfreiheitsbeschränkungen 58 in materieller Hinsicht gilt, ist auch Anlaß einer Differenzierung in der EingriffskompetenInsoweit geht es vor allem um die Regelungsbefugnisse der körperschaftlich organisierten öffentlich-rechtlichen Berufsverbände, d. h. um das Ausmaß ihrer Satzungsautonomie im Garantiebereich des Art. 12 Abs. 1 GG116. Einschränkungen der freien Berufswahl können nur durch den förmlichen Gesetzgeber bestimmt werden. Den körperschaftlichen Berufsverbänden ist es daher wegen Art. 12 Abs. 1 GG versagt, die Zugangsvoraussetzungen zum Beruf autonom zu normieren und damit insbesondere auch die Belange von Berufsanwärtern und Nichtmitgliedern zu tangieren. Berufsregelungen hingegen, die allein die Freiheit der Berufsausübung der Verbandsmitglieder betreffen, stehen als prinzipiell minderschwere Freiheitseingriffe auch der untergesetzlichen Satzungsgebung der Selbstverwaltungskörperschaften offen. Aber auch für diese Abgrenzung darf keine allein formale Sicht zugrunde gelegt werden. „Einschneidende, das Gesamtbild der beruflichen Betätigung wesentlich prägende Vorschriften über die Ausübung des Berufs", etwa solche über die Facharztanerkennung, müssen — auch wenn sie in einem formalen Sinne nicht die Berufs»^/ betreffen — jedenfalls in den Grundzügen vom Gesetzgeber selbst erlassen werden 117 . 6. Berufsfreiheit und Eigentumsgarantie Die gewerbliche und berufliche Tätigkeit ist nicht allein durch Art. 12 Abs. 1 GG 59 grundrechtlich geschützt. Unter gewissen Voraussetzungen greift auch der verfassungsrechtliche Eigentumsschutz ein, der den „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb" umschließt118. Art. 14 GG schützt jedoch nur den vorhandenen BeB V e r f G E 13, 97 (107). " 6 Siehe dazu insbes. B V e r f G E 33, 125 (155 ff). " 7 BVerfGE 33, 160; vgl. auch B V e r w G E 51, 235 (238 ff). 118 Grundlegend B V e r f G E 1, 264 (277 f); s. ferner B G H Z 33, 157 (162); 67, 1 9 0 (192); 81, 21 (33); 92, 34 (37); B V e r w G E 62, 224 (226); PAPIER in: Maunz/Dürig G G (Fn. 33) A r t . 14 Rdn. 96 m. w. Nachw.; KIMMINICH in: B K (Fn. 33) Art. 14 Rdn. 77 ff; das B V e r f G läßt neuerdings die Frage eines Eigentumsschutzes des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes offen: BVerfGE 66, 1 1 6 (145); 68, 193 (222 f); 77, 84 (118); 81, 208 (228).

1,5

826

4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

stand an Vermögenswerten Gütern, also das bereits Erworbene, nicht aber die mit der gewerblichen Tätigkeit verbundenen Erwerbschancen und Verdienstmöglichkeiten119. Insoweit ist Art. 12 Abs. 1 GG von der Eigentumsgarantie wie folgt abzugrenzen120: Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Erwerbs- und Leistungstätigkeit des einzelnen sind dem Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG zuzuordnen, während hoheitsrechtliche Beschränkungen der Innehabung, Nutzung und Verwendung erworbener und vorhandener Vermögensgüter an Art. 14 GG zu messen sind. Eine strikte, alternative Exklusivität bedeutet die unterschiedliche Garantiefunktion von Berufsfreiheit und Eigentumsgarantie allerdings nicht. Ist die hoheitsrechtliche Beschränkung im Einzelfall sowohl tätigkeits- bzw. erwerbsbezogen als auch objektbezogen, so sind die Vorschriften der Art. 12 Abs. 1 und 14 GG kumulativ heranzuziehen121. Auch das Bundesverfassungsgericht zieht etwa im MitbestimmungsUrteil vom 1. März 1979122 Art. 14 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG nebeneinander als Prüfungsmaßstab heran. Die Schrankenregelungen beider Grundrechte weisen in diesem Fall allerdings eine weitgehende Identität auf. Eine rechtswidrige Inhaltsund Schrankenbestimmung des Eigentums im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG stellt in der Regel auch eine unzulässige Beschränkung der Berufsausübungsfreiheit im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG dar123. 60

In der gesetzlichen Inpflichtnahme privater Unternehmer zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben hat das Bundesverfassungsgericht124 allein einen Eingriff in die Berufsfreiheit, nicht aber (auch) eine Einwirkung in die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG erblickt. Es ging dabei um die gesetzliche Verpflichtung zur Vorratshaltung bei Erdölerzeugnissen, die die betroffenen Unternehmer nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts nicht in ihrer Eigenschaft als Eigentümer des Unternehmens, sondern allein als Unternehmer und damit als Träger des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG belastet. Wegen der Versorgungssicherung als eines wichtigen Gemeinschaftsgutes ist die Indienstnahme vor Art. 12 Abs. 1 GG legitimiert worden.

61

Die Pflicht zur Vorratshaltung verlangt indes spezifische Dispositionen über sachlich-gegenständliche Substrate im Unternehmen, begrenzt deren privatautonome und privatnützige Verwendbarkeit, tangiert mithin auch die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG, die das „Haben" ebenso wie das „Gebrauchmachen" der Eigentumsgegenstände schützt. Ist aber die Indienstnahme privater Unternehmer für öffentliche Aufgaben auch ein Eigentumseingriff125, so darf diese wegen des im Art. 14 Abs. 3

1,9 120 121

122 123 124 125

Siehe BVerfGE 20, 31 (34); 28, 119 (142); 30, 292 (334/5). Siehe insbes. BVerfGE 30, 292 (334 f); 65, 237 (248); 81, 70 (96). Siehe auch PAPIER in: Maunz/Dürig GG (Fn. 33) Art. 14 GG, Rdn. 208; GUBELT in: von Münch/ Kunig GG (Fn. 33) Art. 12 Rdn. 98. BVerfGE 50, 290 (339 ff, 362 ff). Siehe auch BVerfGE 50, 290 (364). BVerfGE 30, 292 (334 f). Siehe auch P. SELMER Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Eingriffe zur Sicherung der Energieversorgung, in: Emmerich/Lukes, Die Sicherheit der Energieversorgung, Bd. 4 der Schriftenreihe Recht-Technik-Wirtschaft 1974, S. 5 (19f, Fn. 58).

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GG zum Ausdruck gelangten Rechtsgedankens 126 sowie wegen des Art. 3 Abs. 1 GG und des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei Auferlegung eines Sonderopfers zugunsten der Allgemeinheit nur gegen Leistung einer angemessenen Entschädigung erfolgen. Wesentlich ist hier der Gesichtspunkt der Lastengleichheit aller bei der Erfüllung der allgemeinen öffentlichen Aufgaben. Sonderbelastungen bestimmter Personen oder Gruppen stellen nur dann kein ausgleichspflichtiges Sonderopfer dar, wenn diesen Personen oder Gruppen wegen ihrer sozialen und/oder rechtlichen Eigenheiten eine ganz besondere Sachnähe zum normativen Eingriffszweck zukommt127. Fehlt es hingegen wegen des Allgemeinbezuges des Eingriffszwecks an jener spezifischen Sachnähe, dann müssen prinzipiell alle (Steuer-)Bürger zu den Aufgaben und Lasten beitragen. Eine ausschließliche Belastung einzelner begründet ein u. a. wegen des Rechtsgedankens des Art. 14 Abs. 3 GG ausgleichspflichtiges Sonderopfer. Die Indienstnahme Privater für öffentliche bzw. staatliche Zwecke ist also mit den Wirtschaftsfreiheiten des GG prinzipiell vereinbar, wenn sie zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter erforderlich ist. Jedoch bedeutet dies wegen Art. 14 GG — außerhalb seines Anwendungsbereichs sind allein der allgemeine Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG und/oder die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG maßgeblich128 — nicht unbedingt die Zulässigkeit einer unentgeltlichen bzw. entschädigungsfreien Inanspruchnahme. Daß auch im Regelungsbereich des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG — also jenseits der eigentlichen Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG — Entschädigungsleistungen verfassungsrechtlich geboten sein können, und zwar wegen des Gebots verfassungskonformer, insbesondere verhältnismäßiger und den Rechtsgedanken des Art. 14 Abs. 3 GG wahrender Inhalts- und Schrankenbestimmungen, entspricht der neueren Judikatur des Bundesverfassungsgerichts 129 und des Bundesverwaltungsgerichts 130 .

III. Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG) 1. Gesellschaftsrechtliche Privatautonomie a) Art. 9 Abs. 1 GG garantiert allen Deutschen das Recht, Vereine und Gesellschaften 62 zu gründen. Er konstituiert damit ein weiteres Prinzip unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung: Es ist das der freien Assoziation und der gesellschaftsrechtlichen Privatautonomie, das eine ständisch-syndikalistische Ordnung durch Zwangskorporierungen der Wirtschaftssubjekte ebenso ausschließt wie eine staatlich durchformierte und beherrschte Gruppenbildung zum Zwecke zentraler Lenkung des Wirt126

127 128 129 130

Daß die im Art. 14 Abs. 3 G G zum Ausdruck gelangte Wertung auch für die Eingriffe nach Art. 14 Art. 1 S. 2 G G maßgebend ist, betont auch das Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 83, 201. Siehe zur vergleichbaren Problematik bei den Sonderabgaben: BVerfGE 55, 274 ff. Siehe hierzu BVerfGE 54, 251 (270 £). BVerfGE 58, S. 137 (145 ff); 79, 174 (192). DVB1. 1990, 585 (587).

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4. Kapitel. Die rechts- und sozialstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

schafts- und Soziallebens131. Die Freiheit des Art. 9 Abs. 1 GG umschließt die Gründungs- und Beitrittsfreiheit sowie die Freiheit, aus einer Vereinigung auszutreten oder ihr fernzubleiben132. Neben der individuellen garantiert Art. 9 Abs. 1 GG auch die kollektive Vereinigungsfreiheit. Ohne die zweite Komponente wäre der individualrechtliche Gehalt des Art. 9 GG nicht hinreichend gesichert133. 63 Die kollektiv-rechtliche Vereinigungsfreiheit gewährt der sozietären oder korporativen Assoziation selbst eine Bestands- und Funktionsgarantie sowie die Handlungsfreiheit; Art. 9 Abs. 1 GG verleiht also einem kollektiv wahrgenommenen Zweck denselben Grundrechtsschutz wie dem individuell verfolgten134. Doch damit ist der Grundrechtsschutz der Assoziation selbst noch nicht erschöpfend umschrieben135. Art. 9 Abs. 1 GG kann nicht allein als „formales Ausübungsrecht" qualifiziert werden, dem kein größerer Garantiegehalt zukomme als dem kollektiv ausgeübten „Inhaltsrecht", etwa aus Art. 14, 12 Abs. 1 oder 2 Abs. 1 GG136. Art. 9 Abs. 1 garantiert der Vereinigung im Grundsatz die Gründungs-, Typenwahl-, Satzungs-, Willensbildungs- und Auflösungs- bzw. Änderungsautonomie137. Der Schutz des Grundrechts umschließt die Selbstbestimmung über die Organisation, das Verfahren und den Inhalt der Willensbildung sowie die Führung der Geschäfte138. 64 b) Der Grundrechtsschutz, den Art. 9 Abs. 1 GG dem Zusammenschluß selbst zuteil werden läßt, erstreckt sich auch auf die kollektiv wahrgenommene Unternehmerfreiheit, wirkt also auch zugunsten der sozietär oder korporativ verfaßten Unternehmensträger. Die genannten Freiheiten der Gründung, der Typenwahl, der Satzungsgebung, der Willensbildung und der Auflösung schließen gesetzliche Regelungen der Organisation und der Willensbildung von Unternehmensträgern ebenso wie von anderen Personenvereinigungen nicht aus139. Im Gegenteil: Die Effizienz grundrechtlicher Freiheiten zu privatautonomem Handeln allgemein und der gesellschaftsrechtlichen Autonomie im besonderen ist abhängig von der Existenz einer die Organisation und die Willensbildung in gewissem Grade regelnden Rechtsordnung, sofern diese vom Prinzip einer in der Entstehung und im Willen freien Assoziation geleitet ist140. 131 132 133 134 135

,3