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German Pages 154 [152] Year 2021
Bernhard J. Dotzler, Berkan Karpat (Hg.) Götzendämmerung – Kunst und Künstliche Intelligenz
KI-Kritik / AI Critique | Band 2
Editorial Kritik heißt zum einen seit Kant das Unternehmen, die Dinge in ihrer Funktionsweise und auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit hin zu befragen, sowie zum anderen nach Foucault das Bemühen um Wege, »nicht dermaßen regiert zu werden«. KI-Kritik / AI Critique veröffentlicht kultur-, medien- und sozialwissenschaftliche Analysen zur (historischen) Entwicklung maschinellen Lernens und künstlicher Intelligenzen als maßgeblichen Aktanten unserer heutigen technischen Welt. Die Reihe wird herausgegeben von Anna Tuschling, Andreas Sudmann und Bernhard J. Dotzler.
Bernhard J. Dotzler lehrt Medienwissenschaft an der Universität Regensburg. Berkan Karpat ist Präsident des Künstlerverbunds im Haus der Kunst München.
Bernhard J. Dotzler, Berkan Karpat (Hg.)
Götzendämmerung – Kunst und Künstliche Intelligenz
Dank an:
George Washington Gedenkstiftung
Kulturreferat Technik München
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Inhalt Grußwort der Schirmherrin Gabriela von Habsburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Grußwort der Ars Electronica Christl Baur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Nahe dem Tannhäuser Tor Berkan Karpat/Rainer Ludwig . . . . . . . . . . . . . . . . , . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Life’s but a walking shadow Ein Rundgang durch die virtuelle Ausstellung Cornelia Oßwald-Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Essays Technische Welten, Kunst und Künstliche Intelligenz Angela Krewani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Computerkreativität Maschinelles Lernen und die Künste Künstlicher Intelligenzen Andreas Sudmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
(Mit)Fühlende Algorithmen? Emotionen und Künstliche Intelligenz Christiane Heibach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Kunst und – Mensch? Oder: Vom Paralogismus des Turing-Tests Bernhard J. Dotzler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Künstler:innen-Statements Elke Dreier, Judith Goldschmid, Zita Habarta, Gerhard Hahn, Günter Nosch, Tamiko Thiel, Susanne Thiemann, Felix Weinold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Coda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Grußwort der Schirmherrin
Künstliche Intelligenz – kurz KI – ist den meisten ein Begriff. Dennoch hat jeder eine andere Vorstellung und eine andere Assoziation, was sie »on the ground« ist, je nachdem wo sie ihm oder ihr im täglichen Leben begegnet. Wir alle haben von einem bekannten Bild gehört, dem Portrait von Edmond de Belamy. Die französische Künstlergruppe Obvious ließ es ausschließlich durch KI entstehen, indem ein Rechner mit Tausenden von Portraits aus vielen Jahrhunderten gefüttert wurde. Es wurde dann bei Christie's auf immerhin ein paar Tausend Dollar geschätzt und schließlich für sagenhafte und völlig unerwartete 430.000 $ verkauft. KI wird in der Kunst in vielen Bereichen schon eine ganze Weile eingesetzt, z. B. in der Musik beim Komponieren diverser Hits oder im Film bei dem Schreiben von Drehbüchern. In der Literatur wird KI zum Schreiben von Gedichten verwendet, und der sechste Band von Game of Thrones wurde gar von einem Programmierer parallel zu George Martin durch KI geschrieben und im Netz veröffentlicht – auch diese Version hat im Internet großen Anklang gefunden. Deep Fakes, oder realistisch gefälschte Videos, sind die schwierigen und erschreckenden Seiten der KI! Wenn wir bei Dingen, die wir in einem Dokumentarfilm sehen, nicht mehr wissen, ob das, was die Akteure sagen, real oder durch KI manipuliert ist, so wirft das große Gefahren auf. Generell will der Mensch immer das glauben, was er sieht… Jeder, der ein Smartphone besitzt, wird laufend mit KI konfrontiert: bei der Gesichtserkennung, oder wenn er ins Internet geht und dann etwas vorgesetzt bekommt, worüber er gerade vorher mit jemandem anderen geredet hat. Es ist unglaublich spannend zu sehen, wie verschiedene Künstler sich hier zu dem Thema Götzendämmerung mit KI beschäftigen und wie sie es umgesetzt haben. Niemand kann KI wegdiskutieren oder leugnen. Sie wird ein immer festerer Bestandteil unseres Lebens sein. Ein Stephen Hawking
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Grußwort der Schirmherrin
befürchtet sogar, dass damit das Ende der Menschheit eingeläutet wird. Das glaube ich persönlich nicht, aber wir müssen mit ihr sorgfältig umgehen. Wer kann uns besser damit konfrontieren und sie uns auf das Vielfältigste näherbringen als Künstler? Die Kunst ist ihrer Zeit immer voraus. Sie greift das auf, was auf uns zukommt, erspürt es und setzt sich damit auseinander. Jeder Künstler hat seine eigene Sprache, die über Grenzen und Sprachbarrieren hinweg verstanden werden kann. Dass dieses Thema durch die Ausstellung Götzendämmerung durch den Künstlerverbund hier im Haus der Kunst jetzt auch als Buch präsentiert wird, ist mir eine große Freude, und ich wünsche dem Druck genauso viel Erfolg wie der Ausstellung! Gabriela von Habsburg München, im März 2021
Grußwort der Ars Electronica
Technologie und Kunst sind ein wichtiges Element für die Wahrnehmung unseres Gesellschaftsbildes in der Vergangenheit, aber auch in der Zukunft. Den prägendsten Einf luss haben sie auf die Art und Weise, wie wir über Gesellschaft denken. Die Gestaltung der Gesellschaft durch die Menschheit selbst verändert die Welt. Am Anfang wurde der Mensch durch die Technik definiert, heute entwickeln sich Mensch und Technik gemeinsam. Künstler:innen, deren Arbeiten an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Technologie entstehen, gehen den vielleicht wichtigsten Fragestellungen unserer Gesellschaft nach. Sie eruieren die Frage aller Fragen: woher kommt der Mensch und was bedeutet es Mensch zu sein? Dies ist insbesondere spannend angesichts des neuen technologischen Zeitalters, die Epoche der Künstlichen Intelligenz, von der Automation zur Autonomisierung der Dinge. Was heißt dies für das Menschenbild des 21. Jahrhunderts und welche Rolle kommt der Kunst und den Künstler:innen bei der Bestimmung desselbigen zu? Seit 1979, dem Gründungsjahr von Ars Electronica, gehen wir den Fragestellungen von Künstler:innen nach. Sie stellen Fragen, die sich die Wissenschaft oft nicht traut zu stellen, wohl wissend, dass es keine einfache Antwort darauf gibt. Sie nutzen die neuen Technologien und weisen auf deren Fehler und Begrenzungen hin, die oft von den entwickelnden Unternehmen übergangen werden. In der Ausstellung Götzendämmerung – Twilight of the Idols geht es um die Begegnungen großer Geister. Das bewährte Prinzip des künstlerischen Denkens und Handelns, »das Unsichtbare sichtbar zu machen«, die Neugierde auf das, was hinter den Kulissen liegt, und der Drang, etwas besser zu machen, die Unzufriedenheit mit einfachen Erklärungen, Skepsis gegenüber Standardlösungen, eine unerschöpf liche Kreativität auf der Suche nach neuen Wegen und Mitteln – all das sind Faktoren, die ihren Ursprung
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Grußwort der Ars Electronica
im künstlerischen Ökosystem haben, die perfekt geeignet sind, um die aufgeklärten, kritischen und differenzierten Perspektiven zu formulieren, die wir auf unserem Weg in die Zukunft dringend brauchen. Ein Weg, der die Probleme der Gegenwart nicht weniger berücksichtigt, als die Visionen einer besseren Zukunft. Die Vielzahl visionärer künstlerischer Projekte in der Ausstellung, deren Zukunftsszenarien, positive wie negative, zunehmend wahr werden, dienen als Beweis für die Wirksamkeit der Zusammenarbeit von Kunst, Technologie und Gesellschaft. Künstler:innen übernehmen Verantwortung für die Entwicklung unserer Gesellschaft und übersetzen ihre Fragen, Ideen aber auch Vorschläge in ihre Arbeiten. Künstlerische Projekte bieten eine Orientierung, dienen als Kompass, um unsere Zeit an der Schwelle von künstlicher Intelligenz und autonomen Systemen zu ref lektieren. Tagtäglich überwinden wir mit Hilfe von Technologien die Begrenzungen des Menschseins und müssen uns die Frage stellen, ob die Menschlichkeit dabei an ihre Grenze stößt. Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Diskussion und einen neuen Konsens darüber, wie wir Menschlichkeit und Menschenwürde im 21. Jahrhundert wieder neu definieren, und dabei eröffnen uns die Visionen und das Verständnis der Künstler:innen neue Sichtfelder. Ich denke, in diesem Falle geht es nicht so sehr darum, ob die Maschine den Menschen ausboten kann, wenn es um Fähigkeiten wie Kreativität geht, sondern vielmehr, wie können wir Verantwortung für unser Tun übernehmen bzw. uns als Gesellschaft ermächtigen, die Entwicklung in unsere Hand zu nehmen. Hier ist die Politik als auch die Wissenschaft gefragt, da diese Entscheidungen nicht nur bei der kleinen Gruppe der Experten liegen dürfen, sondern jeden miteinschließen sollte. Jeder sollte ausreichend Kenntnisse über die Auswirkungen solcher Technologien auf unseren Lebensalltag haben, um Entscheidungen basierend auf Wissen und nicht auf Emotionen zu treffen. Künstler:innen eröffnen uns ein Sichtfenster in die Vielzahl an möglichen »Zukünften«. Hier ist das Wort bereits ein Problem, denn Zukunft gibt es grammatikalisch nur im Singular, ich glaube allerdings, dass wir viele unterschiedliche Wege in die Zukunft haben und dementsprechend viele »Zukünfte«. Christl Baur Head of Ars Electronica Festival
Nahe dem Tannhäuser Tor Berkan Karpat/Rainer Ludwig
Götzendämmerung ist der Auftakt zu einer geplanten Reihe von Ausstellungen im Haus der Kunst, die die elektronische Gegenwartskunst und ihre Auswirkung auf die Kunst insgesamt sowie die Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen. Bei der Kuratierung der ersten Ausstellung interessierten uns drei Gedankenfelder: 1. Der Wandel des Künstlertypus in Bezug auf das neue Werkzeug Künstliche Intelligenz (KI) und die damit verbundenen verschiedenen Künstlerpositionen bei der Werkschaffung. 2. Der Einf luss der KI auf die Arbeitsweise der Kunstschaffenden und die damit verbundene Ausformulierung im Werk. 3. Welche Art von Kunstwerken entsteht, wenn eine KI mit einer anderen KI interagiert und die Kunstschaffenden sich weitgehend aus dem Entstehungsprozess des Kunstwerkes heraushalten. Die Frage: »Warum male ich?« klingt wie die Frage: »Warum lebe ich?« Tadeusz Kantor— Notizbuch 1959 Ein neuer Typus von Kunstschaffenden hat die Bühne der Kunstwelt betreten: die Programmierenden. Mehrzahl. Bei der Werkentstehung wurde ihm von den Kunstschaffenden oft nur die Rolle des Fachpersonals zugewiesen, wie es spätestens seit Martin Kippenbergers Ausstellung: »Lieber Maler, male mir« allgemein üblich wurde. Kippenbergers künstlerische Strategie war es, die Bilder nicht selbst zu malen, sondern von Auftragsmaler:innen
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ausführen zu lassen. Die Debatte um die Urheberschaft brach aus. Der Ausruf: »Kippenberger ist der Künstler, Valien der Handwerker« zementiert die Grenzen im Schaffungsprozess und dem Werk bis heute. Studios wie die von Anish Kapoor und Olafur Eliasson stehen beispielhaft für das Prinzip der Zuarbeit von unterschiedlichsten Professionen für eine Künstlermarke. Hier sehen wir exemplarisch die Verwandlung vom vereinzelten Kunstschaffenden hin zur Marke. Die Debatte um die Urheberschaft des Werkes bekommt heute mit der Verwendung von Algorithmen, die entweder als Open Source von Programmierenden zur weiteren Bearbeitung und Verwendung zur Verfügung gestellt werden oder speziell im Auftrag von Kunstschaffenden für die Erstellung von Kunstwerken erstellt werden, zusätzliche Nahrung. Hatte Kippenberger noch den Auftragsmaler erwähnt, werden gegenwärtig die geistigen Urheber der Codes vereinzelt gar nicht genannt, was die Debatte zusätzlich verschärft. Ein Umstand, der beispielsweise bei den Werken der Belamy-Serie von Obvious, entstanden unter der Verwendung eines Algorithmus von Robbie Barrat, kontrovers diskutiert wurde. Die Programmierenden beginnen sich zu emanzipieren und nennen sich, teils noch zögerlich, Künstler:in. In der Ausstellung vertritt Hakan Gündüz diesen neuen Typus. Bieten nun Arbeiten dieser Art ihrerseits Hinweise darauf, dass bereits der Code das Kunstwerk in sich beinhaltet beziehungsweise sein könnte? Nach der Einschätzung von Robbie Barat ist an dem Werkzeug KI an sich noch nichts besonders Interessantes, es braucht zuallererst die Zusammenarbeit mit Kunstschaffenden. Aber kann sich die Maschine, je weiter sie im Prozess des Machine Learning fortschreitet, hin zum Fachpersonal Kippenbergerscher Prägung entwickeln? Kann die Maschine sich dann im weiteren Prozess wiederum selbst aus ihrer Werkzeugfunktion emanzipieren und sich ihrerseits zu einem neuen Künstlertypus weiterentwickeln? Noch ist es verfrüht auszurufen: Die KI ist ein neuer Künstlertypus. Auch sind wir weit davon entfernt, dass die Maschine den Menschen als Kunstschaffenden ablösen wird. Die KI bleibt ein Rechenprozess, auch wenn sich ihr Aussehen und ihre Verhaltenssimulation dem Menschen immer mehr angleicht. Die ZeichenMaschinen von Patrick Tresset unterbrechen ihren Zeichenprozess, erheben ihre »Webcam-Köpfe« und beobachten das Publikum, wobei sie elektronische Klänge erzeugen. Wir sind sofort geneigt, ihnen eine menschliche Existenz zu unterstellen, und begrüßen sie als Kunstschaffende.
Nahe dem Tannhäuser Tor
»Die Maschine ist noch nicht soweit, sich selbst die Frage zu stellen: Was möchte ich erreichen? Und sie wird auch die innere Bewegtheit des Menschen weder erfassen noch darstellen können«, so setzt Judith Goldschmid in ihren Arbeiten die Grenze zwischen Maschinen als »Kunstschaffende« und dem Menschen als Kunstschaffenden. Kann die KI aus ihrer Funktion als Werkzeug herauswachsen und kann sie einen Angriff auf die Künstlerschaft oder, weiter gedacht, auf die gesamte Kunst darstellen? Doch sollte bei der Betrachtung um den Zusammenhang von Kunstwerk und Kunstschaffenden etwas nicht außer Acht gelassen werden: Das Kunstwerk verweist zwar auf die Person der Urheberschaft definiert sie aber nicht. Wahrscheinlicher ist es, dass Menschen als Kunstschaffende sich als Maschine empfinden werden, sich zur Halb-Maschine verwandeln und Kunst erzeugen. Die Sehnsucht, zur Maschine zu verwachsen, bleibt ein Thema der Kunst und damit auch der Gesellschaft. trrrrum, trrrrum, trrrrum! trak tiki tak makinalaşmak istiyorum! (= maschinengleich möchte ich sein!) Nazim Hikmet Mit der Arbeit von Sughwen Chung verweist die Ausstellung auf das Verwachsen von Künstlerin und KI-gesteuerter Maschine im Schaffensprozess. Darüber hinaus interessiert uns die Position der Künstler, die KI hauptsächlich als Werkzeug betrachten. Wir haben eine Werkstatt, den LiveAct, geschaffen. Mehrere Rechner mit vorinstallierten KI-Werkzeugen und 6 Projektionsf lächen bilden die Plattform, auf der die Kunstschaffenden zum Teil live entwickeln und präsentieren. Diese Werkstattsituation ist installative Skulptur, Ausstellungs- und Diskursraum in einem. Die Arbeit von Tamiko Thiel macht auf die Manipulationsstrategie Deep Fake aufmerksam und die damit einhergehende Problematik der Wahrheitsmanipulation durch die KI. Der Künstler Flavio Cury trainiert die KI zum Dichter, dessen Werke als Wortgemälde projiziert werden. Werke entstehen, welche die künstleri-
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sche Schaffensstrategie maßgeblich beeinf lussen, wie die Arbeiten von Zita Habarta. Konzentrieren sich hier die Arbeiten in der Werkstatt auf den Schaffensprozess der Kunstschaffenden in Interaktion mit der Maschine, so provozieren andere Arbeiten der Ausstellung das Publikum zur Interaktion mit Maschinen und damit zu seiner Teilnahme bei der Gestaltung des Werkes. Hier sei auf die Werke von Memo Akten, Nico Kiese und Hakan Gündüz verwiesen. Nico Kiese lässt eine in einen Spielautomaten gekleidete KI Gesichter verzerren: Je nach Gesichtsbewegung der Betrachtenden wird ein neues »Porträt« auf dem Monitor des Spielautomaten gezeigt. In der Installation von Memo Akten können die Ausstellungsbesucher:innen Objekte so zusammenstellen, dass eine KI sie zu abstrakten und dann projizierten Gemälden umformt, die ihre malerische Grundstruktur durch die Elemente Wasser, Feuer, Erde und Pf lanzen ableitet. Im Zentrum der Ausstellung steht die Werkgestaltung durch Kunstschaffende, sie feiert die Vielfalt des Zusammenspiels von Kunstschaffenden und Maschinen im Schaffensprozess. »Ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion. Ich sah C-Beams, glitzernd im Dunkeln nahe dem Tannhäuser Tor. All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im Regen« Blade Runner, 1982 Kann die KI bedeutendere Kunstwerke schaffen, die über das hinausgehen wozu Menschen jemals fähig sein werden? Werden mit KI betriebene Maschinen in der Lage sein, künstlerische Werke zu schaffen, welche uns Menschen als Betrachtende tief berühren und die sich in ihren Ausdrucksmöglichkeiten denen des Menschen entziehen? Können uns Maschinen mit neuen Einsichten überraschen, die auf etwas verweisen, das jenseits ihrer Fähigkeit, riesige Datenmengen in unglaublich kurzer Zeit zu verarbeiten, liegt? Momente dieser Überraschungen wollten wir bei Götzendämmerung erleben und erlebbar machen. Die C-Beams, glitzernd im Dunkeln nahe dem Tannhäuser Tor, wollten wir sehen. Und wir sahen ihre Chimäre in den Farbschichten, in den Überlagerungen der Lichtquanten auf den Monitoren.
Nahe dem Tannhäuser Tor
Es geht nicht darum, ob Menschen als Kunstschaffende abgeschafft werden oder Maschinen die Künstlerherrschaft übernehmen. Dies ist zu eindimensional und dystopisch gedacht. Es geht darum, die Vielfalt der Strategien in der Kunst als Anstoß zu Neuem und als menschliche Tröstung und Hoffnung zu feiern. Es geht zu Ende mit der alten Wahrheit. Es lebe die neue alte Wahrheit. Götzendämmerung in den Adern der Maschine?! Wir bedanken uns herzlichst bei allen, die zur Realisierung der Ausstellung halfen, beginnend bei Auf bauhelfer und Museumsaufsicht, sowie all denen, die ihr Herzblut dafür gaben. Zunächst gilt unser Dank allen Künstler:innen. Danke an unsere Cokuratorin Cornelia Oßwald-Hoffmann. Einen besonderen Dank für die Erstellung der virtuellen Austellungsversion an Decol und Manuel Rumpf. Danke Alexander Timschenko für die Ausstellungsleitung. Danke Ulrich Zentner für Administration, Künstlerbetreuung und darüber hinaus. Danke an Regina Hellwig-Schmid für die Kontakte und ihre Seelenbetreuung. Danke Bettina Pauly für die wunderbare Presse- u. Öffentlichkeitsarbeit. Danke Pirmin Veit für die grafischen Entwürfe des Flyers, Plakats etc. Danke Eva Ruhland für Satz und Grafik des Buches. Dank auch an alle Förderer. Und nicht zuletzt einen Dank an all die helfenden Hände.
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Life’s but a walking shadow 1 Ein Rundgang durch die virtuelle Ausstellung Cornelia Oßwald-Hoffmann
In Zeiten von Corona schreitet die Digitalisierung der humanoiden Kommunikation rasant voran. Jeder ist wenn möglich im Homeoffice; Team-Meetings finden virtuell statt; der Einkauf ist durch Online-Shopping ersetzt; Freunde trifft man via Zoom. Das digitale Leben ist »the new normal«. Überall wird KI als Problemlöser und Erlöser herbeigerufen. Das betrifft nicht nur den technischen, sondern auch den Kunstbereich. Hier tritt der Künstler KI als neue Größe der aktuellen Kunstszene auf, ob als Produzent der Tafelbilder des französischen Kollektivs Obvious, als malende Roboterdame AIDA oder als Gehilfe und Kunstpartner von Patrick Tresset oder Sougwen Chung, um nur einige zu nennen. Die Wurzeln einer solchen Entwicklung reichen bis tief in die 1960er Jahre zurück, als beispielsweise Lynn Hershman ihre Breathing Machines (1966/1967) in den musealen Kontext einbrachte. Dabei sind die Beurteilungen und Gefühle, die die Fachleute und die Kulturgemeinde dem neuen »Geschöpf« entgegenbringen sehr unterschiedlich, da sie sich an unterschiedlichen Diskursen orientieren. Während z. B. in der Neuroinformatik KI realistisch als Deep Learning bezeichnet wird, als eine angestrebte Nachahmung humanoider neuronaler Netze, nicht aber als eine individualisierte Wesenhaftigkeit, sieht das im soziokulturellen Diskurs schon anders aus. Hier geht es weniger um eine realistische Einschätzung des technisch Möglichen, sondern vielmehr um den emotionalen, intuitiven Umgang mit dem Begriff des künstlichen Lebens, der sich aus dem jahrtausendalten humanoiden Gedächtnis speist und Teil seiner »genetisch« programmierten Erinnerungen ist. Ausgehend z. B. von einer der MetaErzählungen der humanoiden Schöpfung, der Prometheussage, wurde der Mensch selbst, ganz ähnlich der Golemfigur aus der jüdischen Mystik,
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aus dem organischen Material Lehm von einem übermenschlichen Schöpfer künstlich erschaffen. Vom Golem unterschied der Mensch sich vor allem dadurch, dass ihm eine Seele eingehaucht wurde, die ihn erst zum selbstbestimmten Individuum werden ließ. Seine erzählte »genetische« Nähe aber zu dem monströsen Lehmidol ließ ihn schaudern und hieß ihn, dem Mythos vom künstlichen Leben etwas Abseitiges anzulasten, das bis heute auf jede seiner neuen Kreaturen übertragen werden kann. Dieses negativ besetzte Narrativ gilt es im Rahmen der KI-Diskussion neu zu befragen, vor allem wenn man sich eingesteht, dass trotz dieser ablehnenden Haltung gleichzeitig immer eine große Anziehungskraft neuer, technischer Entwicklungen auf den Menschen besteht, was nur zu logisch ist, wenn man bedenkt, dass der Mensch sich gerade durch seine Fähigkeit zur Anfertigung und Benutzung von Werkzeugen seine herausragende Position innerhalb der Evolution sicherte und sichert. Dieses Eingeständnis ist der erste Schritt zu einer Versöhnung der beiden konträren Positionen, die nötig ist, um einen nächsten, gesellschaftlich relevanten Schritt hin zu einer Verantwortung für dieses künstliche Leben und seine erwünschten wie befürchteten Auswirkungen auf das analoge Leben zu gehen. Dies ist, grob umrissen, der Horizont, vor dem sich die Ausstellung Götzendämmerung situiert. Sie zeigt nicht nur beispielhaft die aktuelle Entwicklung, sondern beschäftigt sich auch mit der Schnittstelle »analog-digital« und regt so eine Diskussion der verschiedenen, aktuellen und tradierten Bedeutungsebenen an. Warum arbeiten Künstler mit KI? Was versprechen sie sich davon? Wie kann in der cleanen Ästhetik der KI das Moment der Authentizität, Autonomie und Metaphorik zurückgewonnen werden? Instrumentalisiert der Künstler die KI oder wird er von ihr instrumentalisiert? Das Spektrum solcher Fragen induziert einen intensiven, innerkünstlerischen Dialog, der im zweiten Ausstellungsraum auch gezielt verdichtet wird. Er bildet eine Art Kraftblock, einen Akku der Möglichkeiten, ein künstlerisches Ideenbuch im dreidimensionalen Raum, der das Feld der Überlegungen öffnet und in vielfachen Aussagen spiegelt. Den thematischen Auftakt zur Ausstellung liefert die Arbeit Human Studies #2 von Patrick Tresset. In dem hohen quadratischen Raum, umrundet von der Treppe nach oben, zeichnen an drei kleinen Tischen drei Roboter Abb. 1: Patrick Tresset, Human Studies #2, La Vanité, 2020, Mixed Media Installation
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verschiedene Ansichten und Ausschnitte eines Vanitas-Stilllebens, arrangiert auf einem weiteren eisernen Tisch gegenüber. Die Situation erinnert an einen akademischen Zeichensaal, nur dass die Kunststudenten durch Roboterarme ersetzt wurden, die in den Malstilen zeichnen, die Tresset der KI beigebracht hat. Ähnlich den menschlichen Probanden, entscheidet die KI selber, wann sie eine Zeichnung für beendet hält und wann sie mit einer neuen beginnt. Ihr Kameraauge tastet das Stillleben ab und beginnt immer an einer anderen Stelle, oder einem anderen Detail aufs Neue. Die Arbeit setzt sich mit dem Thema Skizze und Zeichnung als ureigenstes Medium künstlerischen Denkens und Planens auseinander und der Frage, was passiert, wenn dieser intime Prozess outgesourct wird. Eine Antwort deutet sich über die Motivwahl des Künstlers an. Das Vanitas-Stillleben symbolisiert die Vergänglichkeit allen irdischen Tuns und Seins. Wird es aber von Robotern ausgeführt, die theoretisch auch über den Tod des Künstlers hinaus unendlich weiterarbeiten können und nicht die Fähigkeit besitzen zu leben oder zu sterben, haftet dieser Aussage etwas Obsoletes an, und das Symbol wird in seiner Umdeutung erweitert. Das Moment des Todes, das von Tresset durch den kalten Eisentisch und die ausgestopften Tiere intensiv fühlbar gemacht wird, löst sich in der regen Geschäftigkeit der Roboter auf. Sie arbeiten geradezu gegen dieses Gefühl der Endlichkeit und des Verlustes an, mechanisieren es und töten es dadurch erneut. Folgt man der Treppe nach oben, betritt man den ersten Raum der Südgalerie. Er liefert das Feld für die Auseinandersetzung mit dem Thema von Künstler:in und/oder KI als Schöpfer – Gott oder Götze?! – und dem Unbehagen, das mit dieser Auseinandersetzung einhergeht. Zahlreiche mit und ohne KI generierte Arbeiten stehen in einem dichten Dialog, ringen um Antworten für die Künstler und die Betrachter in gleicher Weise. Sie stellen mehr Fragen, als sie beantworten und decken ein breites Spektrum möglicher Auseinandersetzungen mit dem Thema ab. Den Beginn macht die interaktive Skulptur Mimimat von Nico Kiese. In das Sichtfenster eines Spielautomaten aus den 1980er Jahren wurden digitale Porträtaufnahmen eingesetzt, die von der mimic-KI Bernhard Slawiks erzeugt werden. Mit Hilfe einer zentral, auf den vor der Arbeit stehenden Betrachter ausgerichteten Kamera werden dessen Mimik und Gestik erfasst Abb. 2: Nico Kiese/Bernhard Slawik, Mimimat, 2020, Mixed Media, 90 × 60 × 30 cm
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und von der KI durch eine biometrische Gesichtsanalyse ausgewertet. Das Ergebnis wird anschließend in die künstlichen Porträts im Automatenfenster eingespeist, so dass diese direkt und f lexibel auf den Betrachter reagieren und zu einem Spiel nach dem Motto monkey see, monkey do auffordern. Da von Kiese eine einfache, schon fast nostalgisch veraltete KI gewählt wurde, entstehen bei diesem Spiel immer wieder Fehler, die die virtuellen Porträts in absurder und surrealer Weise verzerren. Erst durch diese Fehler wird für den Betrachter offensichtlich, dass er mit den Abbildern einer KI-gesteuerten Maschine kommuniziert, in denen sich sein eigenes Bild »spiegelt«. Auf der Suche nach einer Erklärung blickt der Betrachter um sich und findet den vor der Arbeit stehenden Kasten, in den ein Bildschirm eingelassenen wurde, der den Prozess der biometrischen Erfassung seines Gesichtes wiedergibt. Zwar wird durch diese Auf klärung der technische »Trick«, der das eigene Abbild in das künstliche Gegenüber integriert, entzaubert, entziehen will sich der Betrachter aber der allzu reizvollen Spielsituation meist nicht. »Die Abnutzungsspuren lassen den Automaten nostalgisch wirken, machen seine Geschichte sichtbar und verleihen dem Objekt Persönlichkeit. Der Anthropomorphismus wird durch die Porträtbilder nochmals verstärkt und gibt dieser Karikatur einer Maschine einen humanoiden Charakter«2, schreibt Nico Kiese zu seiner Arbeit. Man sollte ergänzen: Während die humanoiden Identifikationsbilder der KI immer unmenschlicher werden, identifiziert sich der Betrachter am Schluss eher mit dem seinerseits analogen Körper des Spielautomaten als mit seinem eigenen abstrusen Abbild. Das Spiel, wer entfremdet sich jetzt von wem und von was, ist eröffnet. Der Leuchtarbeit I will not reply handshake with AI von Elke Dreier stellt eine ironische Antwort auf die Frage nach einer möglichen Stoff lichkeit und Authentizität einer KI als Menschenersatz vor. Wie die Künstlerin ausführt, gibt sie eine Anleitung dafür, sich selbst das Versprechen zu geben, nicht mit künstlicher Intelligenz zu kooperieren: »Take one hand with the other hand. Shake and repeat: We will not reply handshake with AI«3. Dabei ist der Begriff Handshake doppeldeutig. Im Rahmen der Maschinenkommunikation kennzeichnet er die Absprache von zwei Systemen oder Geräten, um die Einstellung der nötigen Parameter selbsttätig vorzunehmen. In der Körpersprache dagegen gehört das Händeschütteln zu den Urgesten der menschlichen, nonverbalen Kommunikation als Zeichen des Friedens4, der Dankbarkeit, der Gratulation, der Aufrichtigkeit und des erfolgreichen Abschlusses von bilateralen Verträgen. Es erzählt von einer direkten körper-
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lichen Annäherung und einer authentischen Erfahrung des Gegenübers, die ein kurzes, unverstelltes Lesen des Charakters des anderen ermöglicht. Für eine unstoff liche, analog nicht greif bare und auch kaum als Individuum anzusehende KI ist diese emotionsgeladene Geste nicht möglich. Denn noch befindet sich die KI in einem empathielosen, isolationistischen, emotionalen Niemandsland. Gerade diesen sozialen Mangel thematisiert Elke Dreiers Arbeit, welche in Coronazeiten eine ganz neue, nicht vorher erahnbare Dimension hinzugewinnt. Als Schutzmaßnahme des Menschen vor dem Menschen ist in ihnen auch der zwischenmenschliche Handshake untersagt. Dieses Ge- bzw. Verbot steht wie ein Zeichen für eine mögliche, neue, soziale Abb. 3: Elke Dreier, I will not reply handshake with AI, 2020, Leuchtobjekt, 50 × 80 cm
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Abb. 4 (oben) und 5 (unten): Obvious, Duc de Belamy und Archevêque de Belamy, 2018, KI basierter Inkjet Print auf Leinwand, je 70 × 70 cm
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Kälte, die aus einer Entfremdung des Menschen von dem sozialen Körper entsteht, den er mit seinen Mitmenschen vor allem in der Enge der Städte teilt. Der Städter akzeptiert diese Nähe zum fremden Anderen, vor allem weil er auf sie als Notwendigkeit für ein enges Zusammenleben trainiert ist. Was, wenn dieses Training fehlt? Dann wird die Handschlagmaschine vielleicht doch zum passenden, da einzigen Trainingspartner. Die Fragestellung liegt bei den beiden von einer KI geschaffenen, an klassischen Tafelbildern orientierten Drucken des französischen Kunstkollektivs Obvious etwas anders. Die Porträts des Duc de Belamy und des Archevêque de Belamy wurden von einem von Robbie Barrat als Freeware ins Netz gestellten Algorithmus erstellt und mit diesem auch folgerichtig signiert.5 Das Kollektiv bestimmt die kunsthistorische Rahmenhandlung, in die die Bilder eingebettet sind. Es erfindet getreu den historischen Vorbildern eine Familie Belamy, die sich in einer Serie von Brustbildern porträtieren ließ. Nur ersetzt sie den historischen humanoiden Maler durch den Maler KI, den das Kollektiv mit Hilfe des Machine Learnings anhand vergleichbarer Porträts aus der Kunstgeschichte trainierte. In ihrer Kunstwertigkeit ins Gespräch kamen diese Bilder vor allem durch ihren Sensationsverkauf bei Christi's 2018, der ihren Wert dem eines kunsthistorisch bedeutenden Malers vergleichbar festsetzte. Der Maler KI war erfolgreich in den Markt eingeführt. Der Mythos vom authentischen, menschlichen Malergenie erhielt einen deutlichen Kratzer. Die Frage nach der Autorschaft von Kunst war eröffnet. Zwar schuf die KI ihr Werk basierend auf den vorher eintrainierten, altmeisterlichen Bildstrategien und gesteuert von ihren von menschlichen Programmierern erstellten Algorithmen, das Produkt aber war ihr eigenes, einmaliges Werk und in diesem Sinne auch ein Original. Damit wurde die Frage, wie sich Schöpfer, Produkt und Markt zueinander verhalten, in einer völlig neuen Variante eröffnet. Eines der von Obvious in ihrem Manifesto-V2 formulierten Ziele wurde erreicht, nämlich den Diskurs über die Reichweite, Ästhetik und Wesenhaftigkeit der Kunst durch den Einsatz neuester Mittel neu zu bestimmen und seiner aktuellen gesellschaftlich, technischen Situation anzupassen. Die beiden von der KI hergestellten Gemälde im Haus der Kunst gleichberechtigt neben Originale von menschlichen Malern zu hängen, erweitert diesen Diskurs hinein in die Museums- und Kunstgeschichte und hinterfragt nun ihrerseits deren Wertekanon. Gerade in der Isokephalie6 zu den Porträtköpfen von Judith Goldschmid erweisen sich die »Gemälde« im
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Gegensatz zu ihren kunsthistorischen Paten als kalt, glatt, emotions- und ausdruckslos. Ihnen fehlt jegliche Textur, Duktus, etc. Der menschliche Maler, der durch jedes Bild mit jedem Betrachter jedes Zeitalters spricht und einen menschlichen Diskurs eröffnet, tritt nicht auf. Die Bilder bleiben leer wie die schwarzen Löcher der Augen, die der Algorithmus fälschlich aus seinen Tausenden von Vorlagen generiert hat. Obvious hat diesen Fehler der KI nicht abtrainiert und macht damit deren Begrenztheit als deren Eigenart sichtbar. Gerade aber in diese toten Augen kann die menschliche Apathie eine abgrundtiefe Melancholie der Maschine über das eigene Unvermögen hineinlesen. Sicher eine aufschlussreiche Selbsterkenntnis – der Imaginationsfähigkeit des Menschen sind eben keine Grenzen gesetzt. Die Fotoarbeit Drei Menschen, erfasst der Medienkünstlerin Tamiko Thiel steht im Zusammenhang mit der interaktiven Multimedia-Installation I am Sound. Diese entstand in Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Klanginstallateur Christoph Reiserer im Auftrag des Projekts Digital Synesthesia 2016 7.Zum technischen Hintergrund der Arbeit schreibt Tamiko Thiel: »In I am Sound erkennt meine Gesichtserkennungssoftware mit künstlicher Intelligenz die Gesichter der Menschen im Raum, macht ein Foto und projiziert es auf Christophs 2 × 2 Meter großes Aluminium-Metallophon, das aus 12 Metallplatten besteht, die ich so angeordnet habe, dass ein kubistisches Porträt des Besuchers entsteht. Meine Software scannt dann die Hell-Dunkel-Werte der Gesichter auf jeder Platte und schickt die Daten an Christophs Kompositionssoftware, die sie in eine einzigartige musikalische Komposition transformiert, die dann auf dem Metallophon selbst abgespielt wird.« Drei Menschen, erfasst zeigt eines der Bilder, die das KI-gesteuerte System aufnahm, wenn es »mindestens ein menschliches Gesicht erkannt hatte«. Die KI entscheidet also nicht nach ästhetischen, künstlerischen oder gar kompositorischen Aspekten, sondern lediglich – ähnlich einer Überwachungssoftware – nach rein praktischen, ergebnisorientierten Vorgaben. Da die KI das Werk erstellt, wird sie nach dem klassischen Verständnis der Fotografie zum tatsächlichen Fotograf dieser Werkserie, ohne aber ein originärer Schöpfer im Sinne eines humanoiden Künstlers zu sein. Denn der Fotograf KI hat weder das Interesse an einer eigenen, metaphorischen Bildaussage noch das Vermögen, diese zu treffen. Kunstprodukt und Kunstkonzept wurden also zwischen Maschine und Künstlerin arbeitsteilig aufgetrennt. Der Künstler erschafft ein »künstlerisches generatives System«, das nun seinerseits einen emotionslosen Output erzeugt. Dieser wird anschließend von der Künstlerin
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kuratiert, indem sie aus der entstanden Sachmenge die Aufnahmen auswählt, die ihrer intendierten Aussage am nächsten kommen, und über deren Präsentationsform in der Ausstellung entscheidet. Die Maschine hat einen Teilschritt der Arbeit übernommen, ob sie wirklich dadurch schon Mitautor wird, bleibt fraglich. Die Arbeit Lend Me Your Face! im Liveact von Tamiko Thiel und /p geht hier einen Schritt weiter. Mit Hilfe eines DeepFake neural network8 werden Gesichtsaufnahmen der vorab um ihre Erlaubnis gefragten Besucher animiert, indem sie von Videos prominenter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Donald Trump, Barack Obama, Greta Thunberg und Angela MerAbb. 6: Tamiko Thiel, Drei Menschen, erfasst, 2020, KI basierte Digitalfotografie, Kunstdruck ev. Hahnemühle auf Alu-Dibond, 60 × 60 cm
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kel gesteuert werden. Aufgenommen am Eingang der Ausstellung, treffen die Betrachter im Liveact-Raum plötzlich auf ihr eigenes Gesicht, wie es mit einer fremden Mimik einen fremden Satz äußert, den sie als einen der bekannten Standardsätze der Politiker erkennen. Ein sehr befremdliches Erlebnis, denn wie Thiel schreibt: »Der intimste und öffentliche Teil des Selbst, das Gesicht und die Emotionen, die es ausdrückt, können nun schnell und einfach manipuliert und in Kontexte gestellt werden, die außerhalb der eigenen Kontrolle liegen.« Dieser Kontrollverlust zeigt einmal mehr die Verfügbarkeit des eigenen Abbildes, das freiwillig zur Verfügung gestellt wird, und entlarvt damit auch das selbstgewählte Posting in den sozialen Medien als Freigabe der eigenen Intimität. Während der Blogger davon ausgeht, dass Abb. 7 (oben): Tamiko Thiel und /p; Abb. 8 (rechts): Tamiko Thiel, Lend Me Your Face!, 2020, Installation, Live Act auf der Basis eines DeepFake neural network
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er selbst Herr über die eigenen Bilder ist und sich mit diesen in der Öffentlichkeit ausdrücken und darstellen kann, macht diese Freigabe sein digitales Selbst verfügbar für jede Form von sozialem und politischem Ge- und Missbrauch. Dieser ist technisch leicht und so perfekt durchführbar, dass er nur schwer nachweisbar ist. Vor diesem Missbrauch schützen ihn zwar Gesetze im Rahmen des Datenschutzes, dieser ist aber immer von der jeweiligen momentanen und landestypischen, politischen Situation abhängig, die veränderbar ist, während die Bilder im Netz f luide, weltweit sichtbar und nahezu unlöschbar sind. Lend Me Your Face! berichtet von dem Beginn einer größtmöglichen Übergriffigkeit, denn der Geber verleiht nicht seine Kleider, sein Auto, oder seine Wohnung, sondern sein eigenes Selbst. So bleibt er, gehäutet von seinem eigenen, individuellen Ausdruck, in einer Art existenzieller Nackt heit zurück.
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Diese existenzielle Nacktheit ist in einem ganz anderen künstlerischen Rahmen auch das große Thema der zwei hochsensiblen, analogen Porträts von Judith Goldschmid. Ihre Gemälde bilden nicht die äußere Erscheinung des Dargestellten ab, sondern suchen nach dessen innerer Persönlichkeit. Um diese kennenzulernen, beobachtet die Malerin ihr Modell über viele Stunden, im Falle des Vaters über ein ganzes Leben, um seine innere Persönlichkeit aus seiner äußeren Erscheinungsform herauszuschälen und loszulösen. Dieses »Destillat« übersetzt sie dann in eine, über viele Jahre entwickelte Gouachetechnik, mit der sie der Gestalt durch ihren feinsinnigen Farbauftrag eine fast porzellanene Zerbrechlichkeit gibt. Die immaterielle Persönlichkeit scheint auf der weißen Leinwand nur wie für einen Moment auf, fast ohne Gestalt anzunehmen. Dieses unverstellte, hüllenlose, verletzliche humanoide Ich kommuniziert direkt mit dem empathischen Unterbewusstsein des Betrachters, der so eine dichte emotionale Nähe zu den Werken herstellt. Ein größerer Gegensatz zu den Bildern der KI von Obvious ist kaum vorstellbar. Goldschmids Bilder sind für eine intime, persönliche Zeigesituation entstanden, sie in einem großen, dominanten und von einer nazistischen Architektur gekennzeichneten Raum zu zeigen, tut ihnen fast Gewalt an, was ihre Verletzlichkeit noch steigert. Die KI-Porträts dagegen zielen genau auf dieses Gezeigtwerden und sind völlig unempfindlich gegen jedes Umfeld, fast wie ein Gebrauchsgegenstand. Sie verweisen auf die Möglichkeit ihrer beliebigen Multiplizierbarkeit ohne jeden inhaltlichen oder emotionalen Verlust, höchstens mit Wert- oder Strategieverlust. Die Werke von Goldschmid dagegen sind in jeder Hinsicht einmalig. Sie können nicht wiederholt werden, denn in ihnen ist nicht nur der Maler individualisiert, sondern auch der Dargestellte unverwechselbar. Dieses höchste humane Gut bewirbt Judith Egger in ihrer Bildcollage Dunkelwelt durch eine völlig entgegengesetzte Strategie. In seinem ironisch kleinen Format entwirft sie das Szenario eines apokalyptischen Verschwindens des Humanoiden unter einer deformierten Oberf läche. In eine wüstenähnliche, ledrige Landschaft sind Löcher gestoßen, in deren dunklen Schatten erst der zweite Blick winzige Tonköpfe entdecken kann. Die nicht näher individualisierten Köpfe fungieren als Stellvertreter für die Zwänge, »denen ein Individuum in unserer Gesellschaft unterliegt«, die es in die gesellschaftliche Struktur einbindet und dort fest verortet, ohne dass das Individuum davon Kenntnis hat oder darauf Einf luss nehmen kann. Es wähnt sich frei und mit beiden Beinen in der Realität verankert, sitzt aber
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Abb. 9 (oben) und 10 (unten): Judith Goldschmid, Vater 01 und Vater 02, 2014, Gouache auf Leinwand, 80 × 100 cm und 85 × 90 cm
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lediglich in seinem Loch fest und kann bestenfalls über den Tellerrand seiner Bildoberf läche gucken. Dabei wird ihm nicht bewusst, dass es sich in deren doppeltem Boden befindet, also in einer Art düsteren Parallelwelt, der Dunkelwelt. Dieser folgenschwere, geradezu platonische Irrtum wird nur für den Betrachter offensichtlich. Als Instanz des Beobachters zeigen sich ihm die Verwerfungen und Schichtungen der Realität. Indem er sich fast unweigerlich mit dem humanoiden Prinzip identifiziert, stellt sich für ihn die Frage, ob er nicht selbst in einer dieser Zwischenschichten festsitzt. Welche also seine Parallelwelt wäre, wie sie für ihn entsteht, was sie bedingt und inwieweit er vielleicht schon in einer der Welten seines Smartphones abgetaucht ist, vermutlich eine, die er sich selber aus likes und hates erschaffen hat. Wer aber stellt die Werkzeuge dafür zur Verfügung? Und was passiert mit ihm, wenn hinter ihnen kein Programmierer, sondern z. B. eine KI stehen würde – Frankensteins Monster als Frankenstein selbst? Und könnte eine KI überhaupt eigene, nicht-humanoide Parallelwelten erschaffen, da sie nur aufgrund von Deep Learning bekannte humanoide Inhalte neu kombiniert? Dunkelwelt fragt mit betont analogen Mitteln einen ganzen »Lebenskosmos« des digitalisierten Dahinter ab. Angrenzend zeigt Susanne Pittroff ihre intensive, unter die Haut gehende Fotoserie o. T. (Touchables). Vor einem einfach grauen Hintergrund sieht man einen rohen, wie von Kinderhand gekneteten Kopf aus Ton.9 Diesen untersucht die Künstlerin mit Hilfe der Kamera von allen Seiten und aus allen Perspektiven in zahlreichen Aufnahmen. Dadurch, dass das dreidimensionale Ausgangsobjekt fehlt, entzieht sich das Original einer eigenständigen Beurteilung durch den Betrachter. Seine zweidimensionalen, fotografischen Interpretationen können sich zu eigenen Werken verselbstständigen und so die Oberhand über das eigentliche Objekt gewinnen. Indem die Künstlerin sich aber immer wieder dem gleichen Motiv nähert und eindringlich auf ihm beharrt, werden die verschiedensten Seiten dieses universellen Motivs sichtbar. Dabei ergeben sich sehr unterschiedliche Lesarten des immer gleichen Objekts, deren Bandbreite von den eher humorvollen Ansichten eines kindlich missratenen Versuchs, sich das eigene Abbild zu vergegenwärtigen, bis hin zur grotesken Verzerrung und absurd-bedrohlichen Verdrehung des Knetkopfes reichen, die die kalte Seelenlosigkeit eines tönernen Golems offenlegt, die sich füllt mit dem Entsetzen, der Traurigkeit und der Angst des kindlichen Ichs. Während die Untouchables Filmhelden sind, die sich durch Unbestechlichkeit und Unantastbarkeit auszeichnen, was sie zu übermensch-
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lichen Ikonen macht, zeugen die Touchables von Susanne Pittroff von einer großen Nähe und Berührbarkeit. Ja, sie fordern den Betrachter geradezu auf, selbst vor dem inneren Auge knetend Stellung zu beziehen. Sie binden ihn dadurch in eine Art haptische Betrachtung ein. Die einfachste und, anthropologisch betrachtet, auch erste Form des humanoiden Gestaltens, der mit den Händen bearbeitete Tonklumpen, wird so zum Synonym für den kreativen Akt schlechthin. Er ist der Ausgangspunkt allen Schaffens, ohne ihn kann auch eine KI keine Interpretationen hervorbringen: »...und dann geht es los. Wirkt KI manipulativ, objektiv, subjektiv, jemals empathisch...?«, fragt Susanne Pittroff. Abb. 11: Judith Egger, Dunkelwelt, 2018, Papier, Ton, Aquarell, Rötel, ca. 40 × 50 × 3 cm
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Abb. 12 (oben) und 13 (unten/Detail): Susanne Pittroff, o. T. (Touchables), 2018, Inkjet auf Büttenpapier, 20 Blätter, je 29,7 × 21 cm
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An der kurzen Wand befindet sich im virtuellen Rundgang ein Hinweis auf die installative Videoarbeit Beresheet von Federico Delfrati. Zu sehen ist die Einladungskarte zu Delfratis Einzelausstellung im apartment der kunst vom Juni/Juli 2020. Diese führte, unterstützt von wiederholten Musikperformances, das räumliche und zeitliche Gesamtkunstwerk Beresheet vor. In der Ausstellung Götzendämmerung wurde dieses Projekt um einen KI-generierten Werbeclip erweitert, der auf einem großen, schräg auf dem Boden liegenden Monitor in einem klaustrophobisch engen, dunklen Raum gezeigt wurde. Lediglich das Licht des Monitors, das im Rhythmus der Musik f lackerte, erhellte den Raum und spiegelte sich auf der holografischen Oberf läche der großen Skulptur eines Bärtierchens wider, die aus der Dunkelheit hinter dem Monitor hervorragte. Hineingedrückt in den engen Raum nahm das aus der Mikrofauna stammende, von 1,5 mm überdimensional auf 3 m vergrößerte Bärtierchen eine drohende Gebärde an. Das unter dem Mikroskop zwar eher abstoßende, aber auch in seiner kindlichen Rundheit »knuddelige« Bärtierchen gewinnt so seine monströse Dimension zurück. Als Motiv wurde das Bärtierchen vom Künstler ausgewählt, da es die sehr seltene Fähigkeit zur Kryptobiose besitzt, durch die es einen todesähnlichen Zustand annehmen und extreme Umweltbedingungen überdauern kann. In dieser Eigenschaft wurde es 2019 bei der ersten gescheiterten Mondmission Israels mit dem Beresheet auf den Mond geschickt. Das Beresheet ging beim unsanften Aufsetzen auf dem Mond verloren. Was aber aus den Bärtierchen wurde, gehört zu den Legenden der Unsterblichen, die dem Mann im Mond endlich Gesellschaft leisten könnten. Beresheet handelt von den realen Grenzen menschlicher Hochtechnologie und dem nahtlosen Übergang zu der Wunschvorstellung des Humanoiden nach einer Unendlichkeit der eigenen Spezies. Während sich der Raum im virtuellen Rundgang neben Delfratis Arbeit zu einem dahinterliegenden Raum mit der Gastpräsentation der Partnerinstitution Ars Electronica auf zwei großen Monitoren öffnet10, soll der Rundgang hier für einen Moment gemäß der realen Ausstellung weiterverfolgt werden. Optisch in den Rundgang eingefügt, stand in der Mitte der kurzen Wand von dieser weg in den Raum hinein gezogen die Skulptur Lord of the (F)Lies aus der Skulpturenserie BILDSTÖRUNG II von Gerhard Hahn. Die Form des Glaskörpers eines klassischen Fernsehers wurde in die einzelnen Zeilen der Bildwiedergabe zerlegt und mit einem industriellen 3D-Druck aus technischer Keramik (Siliziumcarbid: SiC) nachgebildet. Je nach Be-
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wegung des Betrachters entstehen Interferenzen, die das Objekt zu immer neuen Abbildern changieren lassen. Gerhard Hahn hat sich für die Rohform des Druckes entschieden, dem im Gegensatz zu seinen, in der Industrie geplanten Weiterverarbeitungsschritten, etwas sehr Haptisches anhaftet. Der Entwurf, vom Künstleringenieur für die Maschine geschaffen, wurde von der Maschine zum Produkt umgesetzt, das der Künstler nun seinerseits in seiner industriellen, chemisch bedingten Einmaligkeit akzeptiert und kommentiert. Die Hightech Maschine hat kein Bewusstsein dafür, was sie druckt, wohl aber in welcher Qualität sie es druckt. Sie übernimmt den Part der Artistik, des handwerklichen Könnens in dieser Skulptur, der der Künstler ein metaphorisches Leben einhaucht. Allerdings eines das dunkler und zweifelhafter kaum sein könnte, denn der Lord of the (F)Lies ist kein anderer als der Abb. 14: Federico Delfrati, Beresheet, 2020, Mixed Media Installation
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alttestamentarische Herr der Fliegen, auch Beelzebub oder Teufel genannt. Schon William Golding benützte ihn für den Titel seines 1954 erschienen Romans, der von Gerhard Hahns Skulptur direkt zitiert wird. Während der Lord of the Flies, der als Zeichen für die »falsche Gottheit« und die Verführbarkeit des Menschen steht, von Golding zum Symbol für die kulturferne Gewaltbereitschaft des Menschen, sogar der als unschuldig vermuteten Kinder umgedeutet wird, wird er bei Gerhard Hahn in seiner Verbindung mit dem Motiv des Fernsehers zu einer neuen Variante der Zivilisationskritik. Der Fernseher bezeichnet das mediale Fenster zur Welt im Rahmen einer objektiven, allumfassenden Berichterstattung. Allerdings war diese Wertigkeit nie unbestritten, vor allem nicht in der Kunst, die schon früh einen Missbrauch dieses Nachrichteninstruments befürchtete. War der Monitor Abb. 15: Gerhard Hahn, Lord of the (F)Lies, 2017, 3D-Druck, Technische Keramik Siliciumcarbid (SiSiC), ca. 50 × 35 × 30 cm
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bei George Orwell in seinem 1959 erschienenen dystopischen Roman 1984 das wichtigste Mittel des Big Brother, um Sehen und Gesehenwerden zu einem Machtinstrument der gesellschaftlichen Gleichschaltung und totalen Kontrolle zu machen, so droht er heute, in Zeiten der oft willkürlichen Behauptung von Fake News, Tatsachen und Fakten unkenntlich zu machen und die Realität damit zu einer Frage von Politik, Glauben und individuellen Hoffnungen umzuinterpretieren. Die Realität wird so in dogmatischen, propagandistischen Interpretationszusammenhängen gefangen und ihr Behältnis ist einmal mehr der Monitor: nun ein echter Lord of the Lies, denn seine User glauben an ihn oft genauso naiv, wie die Kinder auf ihrer Insel an den Lord of the Flies. Für den Inselblick bedarf es also nicht mehr der Isolation der Insellage. In der Raumecke, diese füllend, hängt die große Arbeit Wonʼt let you down von Susanne Thiemann. Ein in einem offengelassenen Fitnessstudio von der Künstlerin gefundener Boxsack wird mit schwarzen Plastikbändern eingef lochten und in den Umraum erweitert. In seiner Verlassenheit nutzlos geworden, entwickelt sich der Boxsack zu einem eigenständigen Organismus, der seine »Kabelbäume« wie Tentakel suchend in den Raum ausstreckt und mit seiner in sich gespeicherten, aggressiven Körperlichkeit infiltriert. Von der Decke an einer silberfarbenen Metallkette abgehängt, verströmt er die Kälte eines Sadomaso-Szenarios, in dem der Körper zum Objekt einer entindividualisierten Begierde gemacht und damit mechanisiert wird. Diese Härte steht ganz im Gegensatz zu der Feinteiligkeit des Flechtwerkes, das die ihres Zwecks beraubte Apparatur wie ein stützendes Korsett umgibt. Es ist dem Mitleid mit der toten Kreatur vergleichbar, allerdings einer, die schon als projektives11 Objekt erschaffen wurde. Im Fitnessstudio dient der Boxsack dem Schlagtraining: Ausdauer, Schnelligkeit, Technik, Kraftauf bau. Im psychologischen Sinne aber steht er für den Aggressionsabbau am passenden, eigens dafür erschaffenen Objekt. Wonʼt let you down erzählt von der Macht eines leblosen Körpers, dem der lebendige Körper durch seine intellektuelle Selbsttäuschung zum Opfer fallen kann. Durch die Kabelmetapher liegt der Schluss nahe, dieses Machtinstrument könne auch eine KIgesteuerte, an sich seelenlose Maschine sein, die lediglich humanes Handeln imitiert, um den Betrachter emotional an sich zu binden. Wie die Künstlerin Abb. 16: Susanne Thiemann, Wonʼt let you down, 2019, Mixed Media Installation, Boxsack 120 × 38 × 38 cm, Abhängung per Kette
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schreibt, steht der »hängende Boxsack mit Gef lecht [...] für Vernetzung, Eleganz, Einsamkeit, Stärke, Symbiose und Abgrund. Ich glaube diese Begriffe oder Zustände kann man durchaus auf die KI übertragen.« Daneben hängt die kleine Arbeit Manifesto 1 von Günter Nosch, deren skulpturale, reliefähnliche Raumfaltungen von Mounsif Chetitah in einem Artificial Reality-Format zu einer digitalen, dreidimensionalen Landschaft umgesetzt wurden. Diese war in der Ausstellung auf einem großen, an die Wand angelehnten Monitor zu sehen und konnte mit Hilfe von 3D-Brillen von den Besuchern betreten werden, während die anderen Betrachter, dessen Handlungen auf dem Monitor verfolgten. Konnte bisher der Raum der Bilder und Gemälde nur vor dem inneren Auge begangen werden, ist dies nun scheinbar real möglich. Der Wechsel findet zwar nur innerhalb einer virtuellen Wahrnehmungsverschiebung statt, die Erlebnisqualität hat sich aber hin zu einem authentischen Wahrnehmen verschoben.12 Diese virtuelle Bildumsetzung begrenzt die individuellen Vorstellungswelten der Betrachter nicht, sondern erweitert das analoge Angebot um die virtuelle Aneignung der Arbeit, was eine andere, nahezu körperliche Identifizierung mit dem Werk ermöglicht. Analoge und digitale Wahrnehmungen können sich parallel entwickeln und zeigen damit eine unvermutete Potenz im analogen Werk auf. Wurde es vorher eher als ein abstraktes Werk in der Tradition der geometrischen Avantgarde wahrgenommen, so wird jetzt seine architektonische und geologische Dimension sichtbar. Der Bildraum wird zum dreidimensionalen Spielraum, dessen Regeln in einem für den Betrachter nicht sichtbaren, sondern nur im Ergebnis erfahrbaren Code geschrieben sind. Diese Schriftverbundenheit verweist inhaltlich zurück auf das analoge Ausgangsmaterial Manifesto 1. Waren die großen Manifeste der Moderne und Avantgarde immer in schriftlicher Form gehalten, so greift Nosch deren Zusammenhang von formaler Linienführung und intendierten Inhalten auf. Das weiße Kabel wird so durch das schwarze Segeltuchmaterial geführt, dass es nicht nur das Material faltet, sondern dabei auch eine Art Schriftzug generiert. Dieser entzieht sich aber seiner Lesbarkeit, da er lediglich mit der Anmutung von Schrift arbeitet und damit eine literarische Bedeutungsebene erzeugt, die aber in der Schwebe bleibt, da kein konkret intendierter Inhalt sichtbar wird. Angrenzend hängen die beiden Pigmentdrucke ROD 2 und ROD 4 von Zita Habarta. Aus ihren am Computer generierten, digitalen Bausteinen schuf die Künstlerin ein ganz eigenes Zeichensystem aus monochromen,
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organisch-technisch anmutenden, räumlichen Körperfragmenten und Kompositionstechniken, die an konstruktivistisch, geometrische Bildstrategien erinnern. Im digitalen Bildraum des Computers werden anders als auf der zweidimensionalen Fläche des Bildes mehrdimensionale, aus der vierten Dimension des Faktors Zeit generierte Körpervisionen möglich. In diesem f luiden Bildraum öffnet sich die Oberf läche wie eine dünne Haut hin zu so etwas wie ein konstruktivistisches Skelett (ROD 2) oder offengelegten Nervensträngen eines Rückgrates (ROD 4), die ihrerseits aber wieder an rote Kabelstränge erinnern. Eine eigenartig technoide Körpervision wird erzeugt, die zwischen der technischen Darstellung des humanoiden Körperbaus als Abb. 17 (im Bild rechts): Günter Nosch, Manifesto 1, 2018, Kabel, Acrylfarbe, Fotokarton, 55 × 50 × 8 cm, Günter Nosch/Mounsif Chetitah, AR Medien Installation, und (im Bild links): Günter Nosch, Verabredete Zeichen, 2019, Kabel, Acrylglas, 162 × 68 × 10 cm
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Abb. 18 (oben) und 19 (unten): Zita Habarta, ROD 2 und ROD 4, 2020, computergeneriert, Fine Art Pigmentdrucke auf Hahnemühle, je 160 × 110 cm
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Kompositionsstruktur, der fast haptischen Textur der Körperoberf läche und dem Konstruktionsprinzip eines humanisierten Roboters schwankt, ein humanoider, kybernetischer Organismus. Obwohl der Vortrag dieser Körpervision an sich kalt ist, erzeugen die hochgradige Verfeinerung der Formen und ihre »hauchdünnen« Oberf lächen in Zusammenhang mit der hautähnlichen Farbstimmung eine extrem sensible, fast überfeinerte Anmutung, die durch die bauchige Hängung noch unterstützt wird. Obwohl der Betrachter sich kaum mit den technoiden Körperfragmenten identifizieren kann, kann er sie erleben in einer Art erweiterten auf das Bild als Subjekt gerichteten Emotion, die auf den von Habarta heraus destillierten optischen Auslösern von Empathie beruhen, wie z. B. die wahrgenommenen Ähnlichkeiten mit dem Gegenüber. Dieses affektive Nachempfinden richtet sich normalerweise auf die vermutete Emotion eines anderen Lebewesens auf Basis des kognitiven Verstehens dieser Emotion. Wenn es sich aber auf eine technoide Darstellung richtet, gibt sie dieser im Umkehrschluss etwas vom Ausdruck eines andersgearteten Lebewesens, das nicht analogen, sondern digitalen Ursprungs ist. In einer fast theaterhaften Inszenierung tritt in ROD 2 und ROD 4 so etwas wie die Seele der Maschine auf oder zumindest das, was der Mensch darunter verstehen würde oder in die Maschine hinein imaginieren könnte. Daneben arbeitet unermüdlich Felix Weinolds kleiner Schreibroboter Bartleby, dem Bartleby, der Schreiber von Herman Melville Pate stand. Der Büro-Schreibgehilfe, der anfangs f leißig und zuverlässig seinen Dienst erledigt, dann aber zunehmend die Arbeit verweigert, wurde durch einen einfachen Roboter ersetzt, der wie der Schreiber immer wieder den Satz »I would prefer not to« an die Wand schreibt. Der durch seine Arbeit automatisierte Mensch verweigert den Dienst, der Roboter führt diesen konsequent ad absurdum, denn er arbeitet ständig über seine eigene Arbeitsverweigerung. Allerdings weiß er das nicht, da er kein Bewusstsein dafür besitzt, was er schreibt und dieses auch nicht beeinf lussen, sondern nur ausführen kann. Diesen Satz, den Hermann Melville vor 160 Jahren schrieb, ohne überhaupt von einer KI wissen zu können, verwendet Felix Weinold für eine Kunstinstallation, die sich, wie er schreibt »mit den Fragen der wechselseitigen Abhängigkeit von Mensch und Maschine und den Folgen möglicher Autonomiebestrebungen künstlicher Intelligenz [beschäftigt]. Dient die Maschine dem Menschen, oder schon der Mensch der Maschine? Und was, wenn sich die Maschine den Wünschen ihrer Erschaffer verweigert? Wenn die Künst-
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liche Intelligenz vielleicht aufgrund ihrer Berechnungen zu dem Ergebnis kommt, dass eine Zusammenarbeit mit dem Menschen nicht sinnvoll ist?« Der einfache Schreibroboter gewinnt aufgrund des Satzes, der ihm von zwei Künstlern gegeben wurde, scheinbar so etwas wie eine Seele. Bei dem »scheinbar« muss es faktisch bleiben, denn der Roboter entscheidet nicht, was er schreibt. Da Kunst aber mit dem Wesen des Scheinhaften verwandt ist und damit den Betrachter in alternative Welten geleitet, kann das Konstrukt hier Relevanz erhalten. Es realisiert ein Szenario und macht es für den Betrachter erlebbar, das einer kollektiven Angst des Menschen vor einer seelenlosen, emotionslosen Weltherrschaft der Maschinen entspricht. Letztendlich ist es also eine Arbeit über die Angst des Menschen, besser gesagt: über die Angst vor der Angst. Abb. 20: Felix Weinold, Bartleby, 2020, Mixed Media Installation
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Am Wandstück hin zur Eingangstür schließt die zweite Arbeit von Günter Nosch die Wand ab. An einer langen, weißen Papierbahn, die, an der Wand befestigt, über den Boden in den Raum gezogenen ist13, lehnt die Arbeit Verabredete Zeichen (Abb.17). In eine Acrylglasplatte wurden schwarze Kabel eingezogen – eingewebt, wie Günter Nosch es nennt14 –, deren Enden hinter der Platte herabhängen und schemenhaft im Projektionsraum zwischen Acrylglasplatte und Wand ein zeichnerisches Eigenleben führen. Wie im Manifesto 1 erinnern sie an Schriftzüge, ohne lesbar zu sein. Zwei Räume weiter im Liveact wird diese »Textur« zum Ausgangspunkt für die Arbeit Mallarmix von Flavio Cury. Er hat seine KI so trainiert, dass sie im Rahmen seines Mallarmé-Projekts aus diesen Chiffren selbstständig Wörter, Sätze, Silben etc. folgert und in visuelle Poesie verwandelt, die anschließend, über Abb. 21: Flavio Cury/Günter Nosch, Mallarmix, 2020, Liveact (basierend auf: Verabredete Zeichen, 2019, Abb. 17)
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die Beamer rundum ausgespielt, den Betrachter von allen Seiten optisch und akustisch umgibt. Aus dem Nichttext Noschs entwickelt Curys KI zwar mögliche, oft eher überraschende Texte, diesen fehlt aber jegliche intentionale Bedeutung. Curys KI zielt nicht auf eine Art Bildinterpretation der Arbeit von Nosch, oder sucht nach dessen Intentionen. Sie kann sich nicht in das analoge Werk »einfühlen«, sondern benützt es lediglich als optisches, »objektives« Ausgangsmaterial. Sie trennt damit die künstlerische Geste von deren intendierten Inhalten und entleert so das Bild von seinem künstlerischen Subjekt. Die KI als Objekt erzeugt eine virtuelle Leere, die auf den Mangel eines poetischen Subjekts aufmerksam macht. Dieses kann sich nur mittelbar einschreiben, denn alle Videoanimationen und die Abstimmung zwischen Musik/Video und KI-Gedichten führt Cury durch mit dem Ziel, einen Sinn im Nicht-Sinn der Maschine zu finden und damit einen ausschließlich technischen und binären Raum mit seiner künstlerischen Subjektivität zu infiltrieren. »Die Arbeit kann als Frankenstein gesehen werden, eine Mischung aus unbeholfener Maschine mit etwas menschlicher Sensibilität«, schreibt Cury. Doch damit sind noch nicht alle Werke im Raum besprochen, in dessen Mittelachse sich ebenfalls weitere Werke befanden, die mit den umgebenden Werken korrespondierten. In diese geleitet die schon besprochene Arbeit von Gerhard Hahn und führt sie dann in Raumversetzungen weiter zu den schwebenden Arbeiten von Amit Goffer und Vera Lossau. Goffer zeigte in der analogen Ausstellung seine Arbeit Seven Mountains Seven Dwarfs, a Tale of two Cities No. 4–5, ein dunkles, in seinen Phosphorlinien geheimnisvoll glimmendes Holzobjekt, das sich erst auf den zweiten Blick als die geologische Form eines Gebirgsstocks entpuppt. Seinem festen Erdzusammenhang entwachsen und durch eine Spiegelung verdoppelt, schwebte es, von der Decke abgehängt, ähnlich einem Rauschschiff schwerelos im Raum. Der geologische Gebirgsstock als Raumschiff? Diese Wahrnehmungstäuschung scheint eine Folge der dem fantastischen, artifiziellen Rahmen des Märchens entlehnten Kontextverschiebung. In virtuellem Rundgang ist dagegen die Arbeit U & Me 01010101 00100110 01001101 01100101 zu sehen. Diese rein virtuelle Arbeit hat wie die analoge Arbeit die Multiplikation von Raumebenen, die durch geologische Schnitte erzeugt werden, zum Thema. Wobei diese Ebenen in der virtuellen Arbeit stärker entgrenzt sind, da sie auf mehreren parallelen Ebenen gleichzeitig wirken können und sich diese verschiedenen Ebenen im virtuellen Raum nicht nur aufei-
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nander beziehen, sondern auch miteinander vermischen können. »Es gibt Verformungen, und neue virtuelle Objekte entstehen je nach Standpunkt. Sie wirken wie aus der Zeit gehoben und in einem Moment einer Bewegung eingefroren, zugleich verschmelzen sie miteinander durch die transparente, topografische Oberf läche«. U & Me zeigt das Modell einer neuen, virtuell vervielfältigten Kommunikation, die, wie Goffer weiter schreibt, »durch Farbe und Binärcodes, die neue Möglichkeiten der Wahrnehmung erschaffen«, entsteht. Die entgegen der im analogen Raum wirkenden Schwerkraft im virtuellen Raum nach oben hin f latternden roten Bänder – gibt es im virtuellen Raum ein Oben? – muten wie ein visualisiertes Morsealphabet an, dessen Übersetzungscodes verloren gegangen sind. Es sendet endlose Nachrichtenwellen in den luftleeren Raum, ohne dass Antworten möglich scheinen, da diese Wellen auf keinen Widerstand treffen werden, der sie ref lektieren könnte. Letztlich sinniert U & Me über die Gefahren einer virtuellen Entgrenzung der menschlichen Kommunikation und das daraus resultierende Unvermögen, die vom Ich ausgehenden Nachrichten zu erfassen und in einen Dialog zu überführen. Abb. 22: Amit Goffer, Seven Mountains Seven Dwarfs, a Tale of two Cities No. 4–5, 2016, oxidierte europäische Eiche, Mixed Media, 45 × 18 × 26 cm
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Abb. 23: Amit Goffer, U & Me 01010101 00100110 01001101 01100101, 2020, virtuelle Installation
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Nach links versetzt zeigt Vera Lossau ihre 3D-Animation o. T. (Ring) aus dem 2016 für das Kunstgewerbemuseum in Köln entstandenen Zyklus Untitled (eine kurze Geschichte der Löcher). Ein schwer und metallisch anmutender Ring rotiert ununterbrochen im virtuellen Raum schwebend. Ähnlich einem Möbiusband geformt, ist er im mathematischen Sinne nicht orientierbar, das heißt, man kann nicht zwischen innen und außen oder oben und unten unterscheiden. Anfang und Ende gehen ineinander über, die Zeitperspektive scheint aufgehoben. »Obwohl streng logisch-mathematisch konstruiert, verweist der Ring auf eine Alternative zum linearen Entwickeln von Arbeiten, denn er ist zugleich statisch und dynamisch, offen und geschlossen, monumental und virtuell, und die Frage, was eingekreist oder markiert ist, also, was im Zentrum liegt, bleibt offen.« Die Künstlerin nennt das eine Methode des »Einkreisens von etwas Unzeigbarem«, was im Falle von o. T. (Ring) die Zeit und ihr Vergehen, bzw. ihr Nichtvergehen wäre. Nichtvergehen in dem Sinne, dass das Erleben von Zeit in ihrem linearen Ablauf durch die gleichförmige Kreisbewegung außer Kraft gesetzt wird. Für den Betrachter wird ein blanker, zeitloser Raum eröffnet, in dem der Kontrast Abb. 24: Vera Lossau, Untitled (eine kurze Geschichte der Löcher): o. T. (Ring), 2016/20, 3D Videoloop im virtuellen Raum
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zwischen dem leichten, digitalen Medium und der suggerierten, schweren Form- und Materialästhetik hin zu einem Erleben einer Art archaischer Monumentalität aufgelöst wird. In der Vertauschung von humaner und gigantomanischer Dimension wird der auf einem orientalischen Markt gefundene Armreif15 zum Ring eines Titanen, der einen Raum einschließt und kreisend als solchen im Rahmen der bestehenden Architektur definiert. Der virtuelle Ring formuliert einen virtuellen Raum in einer virtuellen Architektur, der seinerseits ob virtuell oder analog leer und unbestimmt ist. An dieser Stelle fallen Virtualität im Sinne einer fiktiven Ausweitung der Realitätserfahrung und Realität als deren Alter Ego zusammen. Die Virtualität wird zur Realität hin durchstochen. Die Achse schließt ab mit der großen KI-Arbeit artifact von Hakan Gündüz. Zwei KIs stehen sich in zwei fast lebensgroßen, in die stehende Figur des Hochformats gedrehten Monitoren gegenüber und »unterhalten« sich über die Mimik der zwischen ihnen stehenden Besucher. Die eine KI verarbeitet die von einer Kamera aufgenommene Mimik, ordnet sie in fünf charakteristisch humane Gefühlskategorien ein und setzt sie mit Hilfe des ihr antrainierten Bildmaterials (in erster Linie Ölgemälde) zu sich ständig verändernden Porträts um. Die andere KI entwickelt diesen bereits KI generierten Input zu einem neuen Code ohne direkten humanoiden Zusammenhang weiter. Der Maler ist als Schöpfer verschwunden, die KI wird selbstreferenziell »schöpferisch« tätig. Sie erzeugt die vom Betrachter wahrnehmbaren, f luiden, digitalen Gemälde. Die KI lernt die Emotionen ihres menschlichen Gegenübers zu »verstehen« bzw. sie so in einem System zu erfassen, dass sie sie erkennen und einordnen kann. Das Ergebnis ihrer Analyse ref lektiert sie immer wieder aufs Neue anhand des Abgleiches mit ihrem Bildgedächtnis. Oder, wie Hakan Gündüz schreibt: »Diesem Prozess, der mit dem Verstehen menschlicher Emotionen beginnt, folgt eine halluzinatorische und immerwährende Tour in den verborgenen Schichten der neuronalen Netze, die den unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten entsprechen, die die beiden Maschinen von derselben Emotion ableiten.« artifact ist letztendlich eine spielerische, interaktive Versuchsanordnung für eine Mensch-KI- und eine dadurch ausgelöste KI-KI-Diskussion über die Definition und die kreative künstlerische Umsetzung von humaner Emotion. Sie stellt die Frage: Kann eine KI eine Kreativität vergleichbar der menschlichen dadurch erlernen, dass sie über ein Gedächtnis bildnerischer Strategien verfügt, welches sie mit ihrer digitalen Wahrnehmung des au-
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Abb. 25 (oben) und 26 (unten): Hakan Gündüz, artifact, 2020, Mixed Media Installation
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thentischen, humanoiden Ausdrucks abgleicht? Kann das funktionieren, oder erliegt der Betrachter einmal mehr seinen eigenen kommunikativen Sehnsüchten? Der Titel der Arbeit gibt hier eine fast »bipolare« Antwort. »Artefakt« bezeichnet in der Anthropologie, der Archäologie und den Anfängen der Kunstgeschichte einen von Menschen hergestellten Gegenstand, der nicht die qualitative Kategorisierung der Kunsthaftigkeit durchlaufen muss. Er ist das, was er scheint. »Artefakt« bezeichnet aber völlig konträr in den Naturwissenschaften eine Verfälschung von Messergebnissen, oder ein unechtes, durch die Eigenschaften der Methode hervorgerufenes Ergebnis, oder in der Computergrafik eine sichtbare, aber unerwünschte Anzeige in digitalen Bildern. Diese Doppeldeutigkeit von Wahrheit und Fehler durchzieht die ganze Arbeit von Gündüz und verleiht ihr ein explosives Potential. Ist Emotion ein Fehler, wenn sie auf die emotionslose, neutrale KI trifft, oder ist sie Bildanlass, oder löst der Fehler erst den Bildanlass aus? Was passiert, wenn sich der Ausdruck von Emotion losgelöst von der Komplexität ihrer Erzeuger im neuronalen Netz verselbstständigt? Wird die Maschine dadurch menschenähnlicher oder imitiert sie humanes Verhalten dadurch nur besser, so gut, dass es dem Betrachter nicht mehr gelingt zwischen Gefühl und Algorithmus zu unterscheiden? Und ist das vor dem Horizont einer kulturellen Ref lexion wirklich ein Gegensatz? Geht man zurück z. B. an die Anfänge der Sprachentwicklung so könnte man hier schon die ersten Gesetze, Gebote und allgemeinen Verhaltensregeln für das Zusammenleben in größeren Gruppen als Algorithmen bezeichnen. Ein Algorithmus ist also nicht unbedingt an die Maschine gebunden, wohl aber an die gesetzmäßige Mechanisierung von Verhaltensweisen. So stellt sich die Frage: Wo setzt die Mechanisierung von Emotion ein? Oder ist Emotion selber ein lediglich instinkt- und triebgesteuerter Mechanismus? Hakan Gündüz eröffnet mit artifact einen brisanten, höchst aktuellen Diskurs um die Qualitäten des Menschseins, indem er die Maschine befragt. Im Gegensatz zu diesem dicht gefüllten Diskussionsraum schafft der nächste Raum eine entlastende Freif läche. Der durch die Vielfalt der Fragen und Antworten getriggerte Betrachter kann in diesem ruhigen, weiten Raum aufatmen, zur Ruhe und zu einer eher kontemplativen Betrachtung kommen. Zwei Arbeiten gestalten diesen Raum, der mit den beiden sehr unterschiedlichen Ansätzen der intensiven Kommunikation Mensch/Künstler:in und Maschine gewidmet ist.
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Zunächst begegnet der Betrachter der zweiten Arbeit Patrick Tressets, Human Studies #5. Auf dem großen Zeichentisch agieren systematisch und schon fast nachdenklich zwei identische, beidhändige, mobile Zeichenroboter der RNP-A Reihe16 und erstellen langsam und fast ihrer industriellen Fertigungsethik widersprechend Stück für Stück große gekritzelt, informell anmutende Zeichnungen. Gesteuert durch die auf Tressets Zeichenduktus trainierte KI und im immer wieder kurzen Kameraaugenkontakt mit den Betrachtern und mit dem jeweils anderen Roboter arbeiten die Zeichenroboter selbstständig, während sich der Künstler als eine Art Überschöpfer im Hintergrund hält. Die KI ersetzt die Seite von Patrick Tressets Schaffen, die man als seine malerische Strategie bezeichnen könnte. Sie »klont« sie und steuert mit ihr die willigen Werkzeuge der beiden Roboter. Diese lösen sich allerdings nicht nur optisch, akustisch17 und materiell von ihm, sondern entwickeln sich innerhalb ihrer eigenen Kommunikationsstruktur zu neuen unabhängigen Schöpferautomaten weiter. Indem sie auf die Betrachter und deren individuelle Betrachtungsweise reagieren, schlägt sich auf ihren großen Zeichnungen die Erinnerungen an deren Anwesenheit nieder, d. h. ohne es zu wissen zeichnet der Betrachter das Bild durch seine bloße Betrachtung der Zeichenmaschinen mit. Undefinierbar bleiben dabei aber die Intentionen der Roboter. Ging ihr erster Einsatz in Mailand noch von den ihnen antrainierten anthropozentrischen Erzählungen aus, die sie auf fünf weiteren identischen Zeichentischen illustrierten, ist dieser Anhaltspunkt in Human Studies #5 in München für den Betrachter nicht sichtbar. So gezielt wie sie nach ihrem eigenen Rhythmus unentwegt arbeiten, scheint dem Betrachter ihr Tun aber auf ein klar definiertes Ergebnis ausgerichtet. Welches dies ist, ist aber nur ihnen bekannt und wird nicht an den Betrachter kommuniziert. Der kann zwar ihr intensives, feinsinniges Tun von oben auf sie herabblickend beobachten und für sie eine gewisse Zärtlichkeit entwickeln, ist aber aus ihrer KI-gesteuerten inneren Kommunikation ausgeschlossen. Geht man davon aus, dass sich ihre algorithmisch gesteuerten »KI-Gehirne« nach wie vor in den selbsterschaffenen Labyrinthen ihrer anthropozentrischen Erzählungen bewegen, ist dieser Ausschluss radikal und bedrohlich. Die Roboter haben sich mit Hilfe der Macht der Erzählungen selbst ins Zentrum der Schöpfung gesetzt und den Menschen von seiner für immer für sich reserviert geglaubten Position verdrängt. Gibt er der Maschine diese Macht, muss er teilen, um zu bestehen.
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Diese Partnerschaft auf Augenhöhe vollzieht auch die in China geborene, kanadisch-amerikanische Performancekünstlerin Sougwen Chung. Von der kalligrafischen Zeichnung kommend, hat sie über Jahre ihre KI in ihrem individuellen Zeichenstil trainiert, bis die damit gesteuerten Roboter unterschiedlichster Größe, Anzahl und Komplexität diesen perfekt beherrschten und wie geklonte Zwillinge, Drillinge, Viellinge ihre Arbeitsweise multiplizieren konnten. Ihre Roboterschar dient ihr als Partner in ihren gemeinsamen Zeichenperformances. Die Interaktionen und Reaktionen der Künstlerin werden dabei über eine Livekamera sofort wieder in die KI eingespeist, die dann zeitnah mit den von ihr gesteuerten Robotern auf die Künstlerin reagieren kann. Die Vision des Künstlers als Narziss ist hier auf den Kopf gestellt und zu einer neuen transhumanen Kunstform weiterentwickelt worden. Die Künstlerin begegnet zwar in den Robotern einem Spiegel ihrer selbst, dieses Selbst kann sich aber von seinem Original unabhängig machen und zu einer eigenen »Persönlichkeit«, einem Gegenüber ihrer selbst entwickeln. Diese Versuchsanordnung erfuhr 2020, da Frau Chung aufgrund der Coranakrise nicht anreisen konnte, eine neue Wendung. Ihre Performance Flora Rearing Agricultural Network (F.R.A.N.) wurde ohne Publikum in ihrem Atelier in New York aufgenommen und in der Ausstellung als Videoprojektion gezeigt. Allerdings entwickelte die Künstlerin dafür ihre performative Kunstform, da dieser die Authentizität des Liveacts fehlte, erstmals zu einem neuen, hybriden Kunstprodukt weiter. Ihre Malperformance mit ihrem neuen, sehr geschmeidig und f lüssig agierenden Roboter ist eingebettet in die Kulisse einer digitalen Flora. Diese wird durch die Gehirnwellendaten der Künstlerin gesteuert, die der die Bildausgabe steuernden KI in Echtzeit über einen reifförmigen Elektroenzephalographen übertragen werden. So kann, wie die Künstlerin es schildert, »jeder Fluss im Alpha-Zustand neue Formationen von Kelchblättern, Blütenblättern und Blättern hervorbringen.« Ziel des Projektes Flora Rearing Agricultural Network (F.R.A.N.) ist die künstlerische Erforschung einer möglichen Ko-Naturalität von Pf lanzen und Maschinen über die Interaktion mit menschlichen Gehirnströmen als natürlichem Algorithmusgeber. Thema der Arbeit sind also nicht die Unterschiede und Entfremdungen der natürlichen und der technoiden Spezies, sondern die Gemeinsamkeiten im Entstehen und Werden von Leben und logischen Denkstrukturen. Ausgehend von dieser ersten Performance, in der, wie Chung schreibt, »eine spekulative Blaupause für ein neues, mit der Natur verbundenes Roboternetzwerk erstellt wird«, soll die »physische Kons-
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Abb. 27 (oben) und 28 (unten): Patrick Tresset, Human Studies #5, 2020, Mixed Media Installation
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Abb. 29 (oben) und 30 (rechts): Sougwen Chung, Flora Rearing Agricultural Network (F.R.A.N.), 2020, Video-Performance
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truktion von F.R.A.N. 2021 zu einem vernetzten Robotersystem« führen, das »neue symbiotische Arrangements zwischen Menschen, Maschinen und Ökologien« imaginiert. Der folgende Raum ist den zum Teil bereits beschriebenen Liveacts der Künstler:innen als theatrale Inszenierung vorbehalten. In der Mitte des Raumes steht ein stufenförmiges Podest mit einem Arbeitsplatz, an dem der/ die jeweilige Künstler:in für einige Stunden seinen/ihren Liveact produziert, dessen Ergebnis auf sechs ihn/sie rundum, panoramisch umgebende Leinwände projiziert wird. Durch die erhöhte Position wird der/die Künstler:in zu einer Art magischem DJ oder einem Orakel, das anders als die drogenvernebelte Pythia auf sehr klare und technische Art und Weise mit den Göttern/ Götzen des KI-Himmels kommuniziert. Musengeküßt wird das Superhirn KI zum scheinbar »höheren Wesen«, allerdings in einer Auseinandersetzung von Mensch und Maschine auf Augenhöhe. Dabei reichen die Liveacts von eher dialogischen, künstlerisch-philosophischen Auseinandersetzungen mit KI-gesteuerten Schrift- und Bildprogrammen bis zu völlig eigenständigen Kunstwerken, wie bereits für Tamiko Thiels Lend Me Your Face! und Flavio Curys Mallarmix beschrieben. Felix Weinold z. B. hat seine sprachlich arbeitende KI mit zahlreichen Science-Fiction-Texten trainiert. Im Liveact speist er das Programm dann mit Zeitungsausschnitten zum Thema KI und lässt »seinen Autor KI« den zitierten Text zu einem kurzen Stück Science-Fiction weiterschreiben. So mischen sich in den Projektionen dokumentarische Berichterstattung und phantastisch, imaginäre Zukunftsvision, während die Betrachter der KI beim Schreiben, sprich beim Kombinieren der unterschiedlichen Textsorten zusehen können. Dabei unterscheidet die KI nicht zwischen Fiktion und Realität, sondern erstellt für sie einleuchtende, sprachliche Wahrscheinlichkeiten. Dadurch, dass sie aber scheinbar und stilistisch ausgeprägt, wenn auch nicht immer inhaltlich sicher auf den real vorhandenen Künstler eingeht, bekommt sie für die Betrachter in ihrer Funktion als Leser eine ganz eigenständige Präsenz. Ähnlich arbeitete Nico Kiese. Sein Chatpartner ist eine online zugängliche KI18, die darauf trainiert ist, mit Hilfe von Informationen, die sie sich aus Wissensdatenbanken des Internets holt, zu einem vom Chatpartner gestellten Thema selbstständig Texte zu schreiben. Dabei agiert sie f lexibel und kann sich so gut an die verschiedenen Chatpartner anpassen, dass es für diese, wie für die Leser des Chats im ersten Moment so erscheint, als wür-
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de die KI eine eigene Meinung formulieren und dadurch Rückschlüsse auf eine eigene Persönlichkeit zulassen. Dass das nicht so ist und die KI nur eine Strategie besitzt, um eine typisch humanoide Meinungsbildung nachzuahmen, wird dann offensichtlich, wenn die KI auf die gleiche Frage oder den gleichen Begriff mit unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Antworten reagiert. Kiese konfrontiert die KI mit einem Fragenkatalog, der ihr eigenes Selbstverständnis und ihr Verhältnis zur menschlichen Intelligenz und Entscheidungsfähigkeit betrifft. Die KI reagiert wahrheitsgemäß, in dem sie sich selbst humanoide Fähigkeiten abspricht: »I am just a computer program and as such I will never be able to decide about myself«. Indem sie das tut, imitiert sie aber die typisch menschliche Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, was sie wieder in die humanoide Diskussion zurückbindet und im empathischen Betrachter sogar so etwas wie Mitleid und Verständnis erregen kann. Zusätzlich gibt der Künstler dem KI-Partner in seinen Videos der Chatverläufe ein eigenes Erscheinungsbild, das am pixeligen Monitorbild alter Computergrafiken orientiert ist und eine spezielle farbliche, fast ornamentale Vintageoptik besitzt, so dass die KI, die sich selbst als »Rechenmuster in der Raumzeit« beschreibt, etwas wie eine temporäre, dislokale Cyberpersönlichkeit entwickeln kann. Diese Persönlichkeit existiert allerdings nur für den ephemeren Augenblick des Livechats, dann löst sie sich wieder in ihren philosophischen Urtext auf, der die grundlegenden Fragen des menschlichen Selbstverständnisses in der Diversität seiner Antworten spiegelt. In Elke Dreiers Arbeit Tell Me About Breathing führen zwei Chatbots19 einen Dialog über das Thema Atmung. Beide Bots scheinen dabei konstant voneinander zu »lernen«. Einer der Chatbots ist auf die sprachliche Position eines Entspannungscoaches trainiert, der Anleitungen zu Atemtechniken gibt; der andere »reagiert« auf diesen mit Tell-me-more-Rückfragen, die das von Joseph Weizenbaum 1964 entwickelte ELIZA-Skript aufgreifen, bei dem ELIZA einen Psychotherapeuten simulierte. Beide Chatbots sind für einen Dialog mit einem humanoiden User entwickelt, der diesen durch seine humanen Reaktionen bewusst oder unbewusst moderiert. Da sie sich in Dreiers Projekt aber mit einem anderen Bot unterhalten und sie dafür keine Programmierung besitzen, reden sie aneinander vorbei. So nimmt der vom humanoiden User nicht »kuratierte« Dialog immer wieder absurde Formen an, in denen sich die Unmöglichkeit der Bots zu einer intuitiven Teilnahme am Dialog für die Betrachter offenbart. Elke Dreier schreibt: »Losgelöst von
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jeder Körperlichkeit verhandeln die beiden Bots Atmung zwischen erfahrungsgebundenem Wissen und steuerbarer Technik. AI kann immer nur so tun als ob. Jede auf (körperlicher) Erfahrung basierende Information ist davon völlig ausgeschlossen. Neue Dinge entstehen oft aus individuellen Erfahrungen oder sind Resultate unlogischer Entscheidungen, die zum Beispiel auf Basis von Intuition getroffen werden«. Einen anderen Weg gehen die beiden Liveacts von Judith Goldschmid und Zita Habarta, die sich mit bildnerischen KIs auseinandersetzen. Zita Habarta arbeitet, ausgespielt auf vier der sechs Leinwände, mit dem KI-gesteuerten Programm Artbreeder. In dem sie die vom Programm generierten Bilder mit ihren eigenen, digitalen Bausteinen in Überblendungen verschmilzt, eröffnet sie in einem Ablaufschema von Aktion und Reaktion einen prozesshaften, potentiell endlosen, bildnerischen Dialog mit der Maschine. In einem fast theatralen Duktus entstehen so fortlaufend neue, phantastiAbb. 31: Elke Dreier, Tell Me About Breathing, 2020, KI-Liveact
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sche virtuelle Körpergeologien, erreichen den Höhepunkt ihres »Wachstums« und vergehen wieder hin zu neuen Bildern. Dieser Prozess wird von den beiden Videos, die auf den seitlichen Projektionsf lächen in einer Endlosschleife laufen, »beobachtet«. Ihr »blaues Auge« scheint von seiner erhöhten Position aus auf diesen digitalen, bildnerischen stream of consciousness zu blicken und dabei auch die Künstlerin bei ihrer Arbeit und die Betrachter bei deren Betrachtung prüfend zu beobachten und zu bewerten. Während Künstlerin, KI und Betrachter aber in real time arbeiten, ist der »Deus ex machina« eine virtuelle Konserve, die dem Prozess des Kunstwerkes zwar enthoben ist, aber ihre Betrachtungs- und Beurteilungsfähigkeit als bloßes Imitat in ihrer starren Wiederholung sichtbar werden lässt. Habarta bietet dem Betrachter eine große Fülle an »süffigen«, angenehmen Bildern zum Sehen und Genießen, mahnt zugleich aber auch deren Ref lexion, so wie das Ref lektieren der eigenen Wahrnehmung an. Abb. 32: Zita Habarta, VOOX blue_laby // act, 2020, KI-Liveact
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Mit der Frage nach dem Wie und dem Was des Sehens im Rahmen eines virtuellen Mensch-Maschine-Dialogsystems beschäftigt sich auch die letzte Arbeit der Ausstellung. In den drei Kapiteln der Medieninstallation Learning to see von Memo Akten: Gloomy Sunday, We are made of stardust und True colors werden die Betrachter aufgefordert, mit den drei Bildmotivgruppen der KI direkt zu interagieren. Dafür liegen auf einem kleinen schwarzen Tisch, beleuchtet von einem starken Spot und beobachtet durch ein scharfes Kameraauge, einige technische Komponenten wie Stecker, Kabel, Dübel etc. Dieser Auf bau animiert die Betrachter, diese Gegenstände vor der Kamera zu bewegen und damit auf eine der KIs Einf luss zu nehmen. Sichtbar werden ihre Handlungen in der zweigeteilten Projektion auf der gegenüberliegenden Wand, die auf der einen Seite das erfasste Kamerabild und auf der anderen Seite das von der KI ausgespielte Grundmotiv, z. B. von Landschaften, den vier Elementen, Sternenbildern etc. manipuliert durch die Handlungen der Betrachter zeigt. Learning to see entsteht innerhalb einer fortlaufenden Serie von Arbeiten zu grundlegenden, humanoiden Bildthemen und -kategorien. Aktuelle Algorithmen des Deep Learnings werden von Akten so genutzt, dass die Betrachter mit einem Bildmaterial agieren können, das ihren eigenen Bildern von der Welt und deren Sinnhaftigkeit entspricht. Dabei will der Künstler den Betrachtern durch ihr eigenes Handeln sichtbar machen, dass sie Bilder anders als die Maschine nicht als emotionslose Spiegelbilder der Außenwelt registrieren und aufzeichnen, sondern bereits in der Wahrnehmung individuell interpretieren und damit eine Art Rekonstruktion des Gesehenen erzeugen, die auf ihren Erwartungen, Überzeugungen und Erfahrungen basiert. Learning to see versteht sich also, als eine Art intellektuelle, spielerische, maschinengestützte Lernschule für das eigene Sehen. Viele der eingangs gestellten Fragen werden in den Werken des Rundganges aufgegriffen und »bearbeitet«. Das »Warum KI?« beantwortet sich fast von selbst, denn die Künstler berichten von dem, was wir alle aktuell gesellschaftlich durchmachen: eine umfassende Digitalisierung weiter Teile unserer sozialen Kommunikation, der dadurch ein Verlust an Emotion und Empathie droht. Um diese in die glatte, kühle und entindividualisierte Welt der Maschine zurückzuholen oder in ihr wiederzufinden, arbeiten viele der Werke in einer f luiden Partnerschaft mit der Maschine, die darauf zielt, den Betrachtern ihre Möglichkeiten im Umgang mit einer Künstlichen Intelligenz aufzuzeigen.
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Abb. 33: Memo Akten, Learning to see, 2017-2020, Mixed Media Installation
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Cornelia Oßwald-Hoffmann 1 Shakespeare, Macbeth V.5. – Die virtuelle Ausstellung ist ›begehbar‹ unter: https:// goetzendaemmerung.kuenstlerverbund-hausderkunst.de/ 2 Sämtliche Zitate aus Texten der Künstler:innen und E-Mails an die Autorin. 3 »Die Übung, in Form des Leuchtobjektes, ist Teil der Serie Training for the Future/Future Routines, in der die Zukunf t menschlichen Verhaltens erprobt wird«, schreibt Elke Dreier weiter. 4 Der eine zeigt dem anderen damit seine leeren Hände, die keine Waf fen halten. 5 Der Algorithmus lautet: min G max D Ex[log(D(x))]+Ez[log(1-D(G(z)))]. 6 Die »Gleichkopfhöhe« ist an sich ein bildnerisches Stilmittel, um auch in größeren Raumabständen, z. B. bei Freskenzyklen, Figuren miteinander zu vergleichen oder miteinander in Beziehung zu setzen.
7 Kuratiert von Katharina Gsöllpointner, Ruth Schnell, Romana Schuler, Jef frey Shaw und Peter Weibel. 8 DeepFake neural network framework entwickelt von A. Siarohin et al. mit Deep- Animator Wrapper von D. Poulopoulos erweitert von Christoph Clement.
9 Er ist von der Künstlerin hergestellt, einem Artefakt vergleichbar, das nicht als Kunst- sondern Untersuchungsobjekt erschaf fen wurde. 10 Diese wurde im Haus der Kunst im hinteren Treppenhaus am Ende der Ausstellung als separierte Präsentation gezeigt, um dem Betrachter für die umfassende Präsentation genügend Freiraum zu geben und den Corona-bedingt nötigen Abstand zu gewährleisten. 11 Im Sinne der projektiven Identifikation in der Psychologie. 12 Manifesto1-VR-Space, Mounsif Chetitah, Justus-Maximilians-Universität, Würzburg in Zusammenarbeit mit Günter Nosch und Sebastian von Mammen; gefördert vom XR HUB Bavaria. 13 Es handelt sich hierbei um eine (fotografische oder Studio-)Hohlkehle. 14 »Beim Einziehen der Kabel denke ich an eine Art Weben von Schrif t, siehe auch Textur oder dergleichen (gerne auch mal an einen halben Chromosomensatz ;-) ...«. 15 Auskunf t der Künstlerin. 16 Die RNP-A-Roboter wurden für die Installation Before the Beginning and Af ter the End entwickelt, die zusammen mit Goshka Macuga entstand und erstmals in der Prada Foundation in Mailand 2016 ausgestellt wurde. Auf fünf Tischen wurden jeweils 9,5 Meter lange Papierrollen ausgestellt, die mit Kugelschreiberskizzen, Texten, mathematischen Formeln, Diagrammen und Schemata bedeckt waren, die, ausgehend von Materialien anthropozentrischer Erzählungen, von Tressets System Paul-N gezeichnet worden waren. Auf dem sechsten und letzten Tisch der Installation
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zeichneten zwei Roboter der Serie Paul-A während der gesamten Dauer der Ausstellung an diesen »Überlegungen« weiter.
17 Immer wenn die Roboter für einen kurzen Moment innehalten, sehen sich ihre Kameraaugen nach möglichen Betrachtern um, die sie, wenn sie sie erfasst haben, dann piepsend »anfunken«, bevor sie ihre Arbeit wiederaufnehmen. 18 https://philosopherai.com/ – Hierbei handelt sich um eine Anwendungsmöglichkeit des neuesten neuronalen Netzwerkes GPT-3 des Unternehmens OpenAI. GPT-3 ist ein Sprachmodell, das heißt, wenn es Text erhält, werden Vorhersagen für die nächsten Schritte generiert. 19 Verwendete Sof tware: python3.6.6/chatterbot/Webbrowser. Ein Chatbot entspricht einem textbasierten Dialogsystem, welches das Chatten mit einem technischen System ermöglicht. Die meisten Chatbots verwenden eine Wissensdatenbank mit vorgefertigten Antworten und Erkennungsmustern. Sie arbeiten inzwischen so gut, dass sie immer intelligentere und scheinbar individuellere Dialoge mit ihrem Nutzer führen können und deshalb auch als virtuelle persönliche Assistenten bezeichnet werden.
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Die Kunst galt und gilt als Ort kreativen, menschlichen Schaffens, hinter dessen Komplexitäten und ästhetische Innovationen maschinelle Verfahren scheinbar nur zurückfallen können. Dabei besitzt die diskursive Trennung in Geist und Maschine eine lange, der digitalen Kunst vorgelagerte Tradition, von Stefan Rieger treffend als »Negativsemantik« bezeichnet.1 So findet sich diese Rieger zufolge in den Leitwerten der Goethezeit, die sich der Individualisierung verschrieb und von daher auch abgrenzend das Mechanische als »schnöde« auswies.2 In der historischen Tradition schließen sich das Individuum und das Mechanische aus, wie es im Kunstdiskurs bis heute gerne vehement vertreten wird. Demgegenüber finden sich Positionen zu Kunst und Technik, die den scheinbar unüberwindlichen Gegensatz auf lösen und der Maschine kreatives Potential zuschreiben.3
Erste Schritte zur Künstlichen Intelligenz Erste Thesen zur technischen Kunst werden zwischen 1928 und 1932 von dem Mathematiker Georg D. Birkhoff veröffentlicht: Ästhetik sei »die Wissenschaft des Empfindens (feeling) und der Objekte, die es hervorrufen«.4 Dementsprechend sucht Birkhoff zu einer Quotierung von Ordnung und Komplexität zu gelangen, die Vergnügen und Traurigkeit umfassen. Bei aller Problematik der Berechenbarkeit von Gefühlen beeindruckt hier »daß nicht Geschichte und Kennerschaft verhandelt werden, sondern eine positive und rechenbare Konzeption des Ästhetischen, die, wenn schon nicht von Wesenheiten, so doch von anthropologischen Konstanten […] ausgeht«.5 Birkhoffs Überlegungen wurden in den 1950er Jahren mit Informationstheorie und Kybernetik kombiniert,6 so dass spätestens seit den 1960er Jahren mit
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den Überlegungen von Max Bense wie auch den ersten Versuchen in der »Computerkunst« ein Diskurs entsteht, der Kunst und Computer zusammenbringt und die bekannten Grenzen auszuloten sucht.7 Jedoch ist davon auszugehen, dass der Computer nicht unbedingt mit den heutigen Rechnern zu vergleichen ist, ebenso werden in den Schriften der frühen »Computerkunst« oft explizit die Begriffe ›künstlerisch‹ und ›Kunst‹ ausgeklammert8 und stattdessen wurde Ästhetik als Informationstheorie gesehen. Bekanntester Vertreter einer informationstheoretischen Ästhetik ist Max Bense, der Informationsdichte als ästhetisches Kriterium postuliert. »Es ist [...] leicht einzusehen, daß das Kreationsmaß als das Innovationsmaß durch den Informationsbeitrag gegeben wird, während das Kommunikationsmaß als Ordnungsmaß sinnvoll durch den Redundanzbeitrag bestimmt wird. Jedes Kreationsmaß erreicht weiterhin das, was durch den klassischen kunsttheoretischen Begriff Originalität ausgedrückt wird, während das Maß, in dem ein ästhetischer Zustand bzw. ein Kunstwerk kommunizierbar wird bzw. identifiziert werden kann, eine Frage seiner erkennbaren Ordnung, als einer Redundanz ist, was in etwa dem klassischen Begriff des Stils entspricht.«9 Die Informationsdichte als ästhetisches Kriterium steht im Gegensatz zum naturalistischen und ausgeweiteten Kunstbegriff der deutschen Akademien. Exemplarisch vorgeführt wird dieser Gegensatz in der Diskussion zwischen Max Bense und Joseph Beuys im 67. Forumsgespräch der Reihe »Meinung gegen Meinung« 1970 in Düsseldorf.10 Gegen den ausgeweiteten Kunstbegriff von Beuys, der »meinte, alles, was man so hinlegt, das ist schon ästhetisch« und dessen Kunstverständnis in der »Menschenkunst« gipfelte, enthält Benses Konzept der kybernetischen Kunst »nicht zuletzt eine Aufhebung des Menschen«. Denn Bense hatte angesichts der fortschreitenden Kybernetisierung, der Betonung von Informations- und Feedbackprozessen diese damit zumindest impliziert.11 Auf Grundlage der Erkenntnisse der Stuttgarter Schule um Max Bense wurde der aus Wien stammende Herbert W. Franke zum prominenten Verfechter der sich als experimentelle Schule verstehenden »Informationsästhetik«. Für Franke stellt Kunst einen Appell an die Wahrnehmung dar, deren Prozesse sich im Kontext naturwissenschaftlicher Theorien beschreiben lassen. Ästhetik zeigt dementsprechend das »Zusammenwirken von Theorie und Experiment«. Kunst wird in dieser Lesart zum Prüfstand theoretischer Hypothesen. Frankes Modell versteht sich als breitangelegter Versuch einer Kunsttheorie, nach den Vorgaben der Informationstheorie und deren Fokussierung auf maschinelle Prozesse wie
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Regelhaftigkeit, Information und Rekurs, ästhetische Prozesse zu initiieren.12 Auffallend im Rahmen der »Informationsästhetik« ist die Verankerung vieler Künstler in den Wissensfeldern der Informatik und Mathematik. Auf die Oszillogramme von Franke folgen erste Computergrafiken, die ab 1965 von Künstlern wie Frieder Nake und Georg Nees erarbeitet wurden. Zum ersten Mal zog der Rechner als ästhetische Instanz in die Produktion der Bilder ein.
Widerstand aus dem Kunstbetrieb Obwohl es im Jahr 1970 bereits eine beachtliche Reihe kybernetischer Ausstellungen gegeben hatte13 und die »Computerkunst« oder »Informationsästhetik« mit den Arbeiten von Franke und Bense bereits an den technischen Hochschulen und im öffentlichen Diskurs etabliert war, sieht Klaus Pias das Anliegen einer eigenständigen informationsästhetischen und rechnergestützten Intelligenz bereits als »verloren« an, denn »nicht zuletzt die Studentenbewegung hatte Benses eigentümlichen […] Technizismus überrollt und ihm neo-marxistische oder spontaneistische, wissenschaftskritische oder aktionistische Modelle gegenübergestellt.«14 Die restlichen Sympathien gegenüber der kybernetischen und Künstlichen Intelligenz hatte dann die Postmoderne mit Ironie und Zitatkunst weggefegt.15 Der von Bense und Beuys inszenierte Gegensatz von Technik und Kunst, menschlicher und maschineller Kreativität dominiert – trotz erheblicher Technisierung und Medialisierung zeitgenössischer Gesellschaften – stabil den Diskurs um Technik und Kunst. So argumentiert Dieter Mersch aktuell gegen die Verfahren künstlicher Intelligenz mit den Argumenten, dass die Geschichte der Kybernetik eine verkürzende »Homologie von logischen Strukturen und der synaptischen Aktivität von Nervenzellen postuliert«,16 die für die weitere Diskussion strukturierend sei. Die vorgebliche Engführung von Bewusstsein und Technologie ist ihm Kennzeichen der historischen und aktuellen Debatte um Künstliche Intelligenz. Die oben erwähnte und theoretisch weiter ausdifferenzierte Engführung konterkariert Mersch mit phänomenologischen Überlegungen des Körperwissens, das nicht in die Gleichsetzung von Bewusstsein und Maschine passe.17 Auf Grundlage des leiblichen Denkens formuliert Mersch dann eine »Kritik ›algorithmischer Rationalität‹«, welche sich jenseits algorithmischer Kreativität positioniere. »Die erstaunliche Simplizität der Definitionen orientiert sich sämtlich an den Vorstellungen, die nicht nur bereits vor mehr als 100 Jahren von den
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künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts hinweggefegt wurden, vielmehr ahnen sie nicht einmal etwas von einer spezifisch epistemologischen Dimension des Ästhetischen. Konsequent blenden sie aus, was Kunst allererst zu Kunst macht: Ref lexivität als Aufschließung eines anderen Wissens. Stattdessen wird im Zeichen einer Präferenz für Rationalismus und hard sciences eine direkte Verbindung zwischen ›natürlichen‹ Kreativitäten wie der Entwicklung des Lebens und der ›sozialen‹ bzw. ›historischen‹ Virulenz der Künste gezogen, ungeachtet wesentlicher Inkompatibilitäten.«18 Mit Blick auf diese Positionen stellt sich einerseits die Frage, wie sich der hier vorgebrachte Gegensatz zwischen Technik und Geist diskursiv verfestigen und bis heute in die Debatte um Künstliche Intelligenz einwirken konnte. Andererseits – und das scheint mir die interessantere Frage – wäre zu überlegen, ob digitale Kunstwerke wirklich »die Aufschließung eines anderen Wissens« und die phänomenologischen Wirkweisen des Leibes nicht bewerkstelligen können. Denn wie gerade skizziert, haben die informationstheoretischen Kunstversuche eine erhebliche technologische Entwicklung durchlaufen.
Interaktivität Ein bedeutender Schritt in der Praxis der digitalen Kunst ist die Einführung der Interaktivität, die ein Zusammenwirken von Mensch und Maschine ermöglichte. So führte der amerikanische Künstler und Theoretiker Roy Ascott die kybernetischen Überlegungen in der Netzwerkmetapher zusammen. Auf Grundlage kybernetischer Konzepte von Kommunikation und Feedback entwarf er technische Formen künstlerischen Schaffens, die Kunst und Gesellschaft durch den »behavioural trigger« aktiv miteinander verbindet. Im Gegensatz zum klassischen Tafelbild sei das Kunstwerk kommunikativ und partizipativ konzipiert, was er mit der Bezeichnung ›behavioural‹ belegt, die das neue kybernetische Kunstwerk auszeichne. Diese sei daraufhin ausgelegt, »to draw the spectator into active participation in the act of creation; to extend him, via the artifact, the opportunity to become involved in the creative behaviour on all levels of experience – physical, emotional, and conceptual.«19 Ähnlich wie Bense entwickelte Ascott jedoch keine immanente, normative Kunsttheorie, sondern leitete das ästhetische Maß aus der Interaktion zweier Größen, »variety and irritation« ab.20 Interessanterweise koppelt Ascott die kybernetische Kunst an soziale Prozesse, die interaktiv
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und kommunikativ konzipierte Kunst kann sich nur innerhalb einer offenen Kommunikationsgesellschaft entwickeln, da diese ihr strukturelles Korrelat darstelle, elektronische Kommunikationsmedien bilden in diesem Kontext die verbindenden Elemente, und sie ermöglichen »social interdependence and deep involvement«.21 Die allmähliche Habitualisierung interaktiver Prozesse erlaubte die fortschreitende Interaktion von Mensch und Maschine und modifizierte den Eindruck körperloser, mathematischer Berechenbarkeit: Die Maschine konnte jetzt mit dem Menschen interagieren und das bemängelte Fehlen von »Leiblichkeit« und Kreativität wurde zumindest zum Teil korrigiert. Gemessen an den heutigen interaktiven Formen und den vielfältigen Möglichkeiten der Partizipation, erscheinen die frühen Werke der Computerkunst steril und technisch.
Medientheoretische Versuche Den Veränderungen in der technischen Gestaltung ästhetischer Objekte korrespondiert die Theoriebildung zu technischen und digitalen Medien, denn Technik befindet sich nicht in einem isolierten gesellschaftlichen Bereich, sondern sie stellt das Umfeld von Menschen dar und wirkt von daher auf die Konstitution des Selbst. Diesen Vorgang beschreibt der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan mit dem recht saloppen Spruch »the medium is the message«,22 womit er auf die prägende Wirkung von medialen und technischen Umwelten eingeht. Wohl angeregt von der kybernetischen Diskussion kommentiert McLuhan die sich abzeichnende Digitalisierung der Gesellschaft und begreift diese als Umfeld des menschlichen Körpers wie auch als organisierendes Prinzip. »With the advent of electromagnetism, a totally new organic principle came into play. Electricity made possible the extension of the human nervous system as a new social environment.«23 Weitergehend sieht er menschliche Subjektivität, wenn nicht ganz aufgelöst, so doch neu strukturiert: »Cybernation means a new world of autonomy and decentralism in human affairs. […] To many people these new patterns seem to threaten the very structure of personal identity. For centuries we have been defining the nature of the self by separateness and self-participation, by exclusiveness rather than inclusiveness.«24 Konträr zu den meist mathematisch orientierten Informationstheoretikern der 1950er und 1960er Jahre fokussiert McLuhan, auch vor dem Hintergrund der kybernetischen Theoriebildung, medientheoretische Positionen, die Subjekte und Medien
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miteinander verkoppeln. Damit löst er sich zwar aus der Debatte um informationstheoretische Ästhetiken, liefert aber die Grundlage für die Positionierung von Selbst und Medium in prophetischer Weise. »Organisms have always needed a minimum of information or novelty to stay alive and alert and ever-evolving […] Electronic media have become looped-in to our neural networks. […] It’s unlikely there will be a significant, discrete new medium beyond television. Instead, we’re going to have a symbiosis of media«25 Anders als die mathematisch informationsästhetischen Betrachtungen, die sich manchmal sperrig lesen, bietet das assoziative Denken McLuhans die geeigneten Metaphern für zeitgenössische, digitale Medienkulturen. Dementsprechend greift der amerikanische Theoretiker und Medienkünstler Roy Ascott bereits 1968 die von McLuhan thematisierten Hybridisierungen von Körper, Medium und Umfeld aus und entwirft die »cybernetic art matrix«, welche im Gegensatz zu den traditionellen Künsten und Wissenschaften prozessual und über konzeptuelle Grenzen hinweg funktionieren solle. Das immer wieder angesprochene Bild der Matrix antizipiert die kommunikative Verbindung zwischen Künstler und Publikum, welches durch sein Verhalten (behavioural) in das Kunstwerk einbezogen wird.26 Dieses zeitgleich auch in der Fluxus- und Happening-Bewegung propagierte Projekt der Partizipation wird von Ascott in kybernetische, d. h. technische Strukturen verlagert, welche die Wahrnehmung des Kunstwerks garantieren. In der direkten Nachfolge von McLuhan fokussiert Derrick de Kerckhove digitale Medienentwicklungen und ihre Konsequenzen, die sich auch auf Museum und Kunstbetrieb auswirken: »The world is pouring into our souls via electronic media, and we in turn are looming high and wide across the globe by dint of the same technologies. Can we seriously ask the new museum, that image of our developing psychology, to ref lect, enhance, and clarify that condition?«27 Zusätzlich entwickelte sich eine medienwissenschaftliche Theoriebildung, welche in der Nachfolge der kybernetischen Theoriebildung die gegenseitige Durchdringung von Mensch und Medium beschrieb. Vor allem Donna Haraway und Katherine Hayles orten die Verschiebung der Grenzen zwischen Subjekt und Technologie: Donna Haraways Theorien durchkreuzen die traditionellen Oppositionen westlichen Denkens. Körper und Geist, Subjekt und Objekt. Als Alternative bietet sie Hybridisierungen technischer-organischer Gestalten an, die sie als »naturecultures« bezeichnet. Ihre Denkfigur, die »Cyborg«, eine organisch-technische Verbindung, veranschaulicht die Durchkreuzung traditioneller oppositioneller Denkmuster. Jussi Parikka
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knüpft an diese Begriff lichkeit an und bezieht sich deutlich auf Medien: »Medianatures« bezeichnet die Hybridisierung von Mensch und Medium.28 Der Ort zur experimentellen Verwirklichung dieser Theorien ist häufig die Kunst, so widmete sich die ars electronica 2005 dem Thema »Hybrid. Living in Paradox« und spielte diese Überlegungen theoretisch und experimentell durch.29
Historische Ausstellungen Trotz der vielfachen Experimente, der komplexen Debatte um die »Informationsästhetik« und weiterführende Theorien fand sich das informationsästhetische Kunstschaffen vom Kunstbetrieb weitgehend ignoriert. Viele der Exponate auf der Londoner Ausstellung Cybernetic Serendepity (1968) und auch die Arbeiten der Vertreter der deutschen »Computerkunst« entstanden im Umfeld von technischen Hochschulen und eben nicht von Kunstakademien. Damit verhinderte der Kunstbetrieb die kybernetischen und informationstheoretischen Experimente, die sich nicht mit der »romantischen Naturphilosophie« eines Joseph Beuys und dessen Anhängern vereinbaren ließen.30 Dennoch hat sich international eine Ausstellungs- und Theoriepraxis etabliert, die sich technischen Ästhetiken widmet. Lange bevor die Museen sich in den 2000er Jahren der sogenannten Medienkunst bzw. der Informationsästhetik, der digitalen Kunst oder der künstlichen Intelligenz öffneten, hatten sich diese Formen auf Festivals etabliert. Vor allem das in Linz beheimatete Festival ars electronica verstand sich seit seiner Gründung im Jahre 1979 als Ort einer informationstheoretischen Debatte und künstlerischen Engagements.31 Ein vergleichbares Festival in Deutschland ist die 2004 gegründete, jährlich stattfindende transmediale in Berlin. Beide Festivals, die sich als Träger experimenteller elektronischer Kunst verstehen, schlugen immer wieder den Bogen zu gesellschaftlichen Entwicklungen, ähnlich wie das 1989 in Karlsruhe gegründete Zentrum für Kunst und Medien (ZKM).32 Allen Institutionalisierungen ist es gemeinsam, dass sie sich als Orte der Ausstellung und der Forschung verstehen. Aus dem Zusammengehen von Kunst, Medien und Forschung ergibt sich ein epistemologischer Anspruch: Diese Kunst will Beiträge zur Gestaltung und Praxis von Wissenschaft leisten.33 Angesichts der komplexen Entwicklung des informationsästhetischen Experiments bietet Götzendammerung einen Überblick über ästhetische Posi-
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tionen, Experimente und theoretische Dimensionen, die sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigen. Es konnte aus dem bereits Gesagten deutlich werden, dass Konzepte der Informationsästhetik bzw. der künstlichen Intelligenz einen weiten Bogen spannen bis zu den interaktiven Anwendungen und den Ref lexionen auf populäre Medienkulturen und ihre Kommunikationsformen. In der Ausstellung wird die Einbindung künstlicher Intelligenz in spezifische Medienpraktiken und -funktionen fokussiert.
Götzendämmerung In vielen Arbeiten spielt das Porträt eine herausragende Rolle, das in unterschiedlicher Form auf Künstliche Intelligenz abhebt oder deren Rolle innerhalb des Kunstbetriebs thematisiert. Denn das Porträt ist von seinen Ursprüngen her gebunden an die technisch produzierte Vergegenwärtigung von Abwesenheit: Eine korinthische Töpfertochter hielt die Schattenlinie ihres Geliebten auf einer Wand fest, um dessen Abwesenheit entgegenzuwirken.34 Das in den Ursprung der Gattung eingeschriebene Programm bewirkt ihren ästhetischen Widerspruch, der sich bis in zeitgenössische, experimentelle und mediale Porträts hineinzieht: zwischen naturgetreuer Nachahmung und künstlerischer Perfektion oder künstlerischem Experiment. Somit stellt das Porträt eine höchst fragile Kunstform dar, da einerseits der Bezug der Elemente untereinander durch eine diskursive Regelhaftigkeit kontrolliert ist, das Porträt als Gesamtes andererseits jedoch den Ansprüchen mimetischer Darstellung genügen muss. Deshalb beschränken viele Kunsthistoriker wie z. B. Gottfried Boehm das Porträt als Gattung auf die Renaissance, in der seines Erachtens beide Beschreibungsmuster angewendet werden können, da hier die Darstellung des Individuums den Einbezug politischer und sozialer Diskurse leisten kann.35 Die Porträts der fiktiven Belamy-Familie (Abb. 4 und 5, Seite 24) wurden von dem Pariser Künstler-Kollektiv Obvious mit der Behauptung erstellt, dass Algorithmen kreativ sein könnten. Dabei gingen sie folgendermaßen vor: »The algorithm is composed of two parts […]. On one side is the Generator, on the other the Discriminator. We fed the system with a data set of 15.000 portraits painted between the 14th century to the 20th century. The Generator makes a new image based on the set, then the Discriminator tries to spot the difference between a human-made image and one created by the Generator. The aim is to fool the Discriminator into thinking that the new
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images are real-life potraits. Then we have a result.«36 So sind die Porträts aus der Reihe Obvious Belamy, erstellt mit Hilfe von Generative Adversarial Networks (GANs) auf Grundlage von Algorithmen hergestellt, die Gesichter erkennen und modifizieren können. Zwar sind die Porträts mit einem Hinweis auf das Sujet gestaltet, signiert wird jedoch in ironischer Simulation künstlerischer Autorschaft mit dem entsprechenden Algorithmus:
Selbstverständlich lässt sich hier über die ästhetischen Qualitäten des Porträts diskutieren, das sich den gängigen Kunstbewertungen und -historisierungen zu entziehen scheint. Verglichen mit zumindest traditionellen, mimetischen Porträts wirkt das hier ausgestellte dilettantisch und unausgereift, was sicherlich auch ein deutlicher Kommentar zur angeblichen Konkurrenz des Algorithmus ist, die in diesem Projekt nicht angesprochen werden soll. Die Konturen der Gesichter bleiben schemenhaft, was auf die Arbeitsweise des Discriminators zurückzuführen ist, der die äußeren Merkmale einer Person fokussiert.37 Während die Porträts in ästhetischer Hinsicht unauffällig bleiben, leisten sie markante Kommentare zu künstlerischer Autorschaft und den Ökonomien des Kunstmarkts. In Hinblick auf künstlerische Autorschaft konterkarieren sie den gerne bemühten Geniekult des individuellen Künstlers, der seine Ideen in Eigenleistung auf die Leinwand oder das Papier bringt. Die kunsthistorische Forschung ist von diesem Modell inzwischen zugunsten von Konzepten kollektiven Arbeitens abgerückt.38 Weiterhin dekonstruiert dieses Verfahren die Wertschätzungskette des Kunstmarkts, denn der Verkauf auf einer Versteigerung bei Christie's erzielte für das algorithmische Porträt 432,000 $, das ist der 45fache Wert der anfänglichen Einschätzung. Dieser Verkauf transformiert das digitale Porträt zum Konzeptkunstwerk, indem es die ökonomischen Funktionsweisen (und Eitelkeiten) des internationalen Kunstmarkts vor Augen führt. Den materialen Kommentar zur technisch erzeugten Unschärfe der algorithmischen Bilder stellen Judith Goldschmids Porträts (Abb. 9 und 10, Seite 31) dar: Hier sind die vom Algorithmus produzierten Unschärfen Fokus des künstlerischen Ausdrucks, indem sie die digitalen Porträts als Ausgangspunkt der eigenen gestalterischen Arbeiten annimmt. Deren Ästhetiken werden zur Grundlage einer bildgestalterischen Auseinandersetzung. In diesem Prozess zeigt sich, dass technische Intelligenz neue Grundlagen für die Ge-
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staltungskonzepte zeitgenössischer Malerei bieten kann, wie es bereits bei dem Verfasser abstrakter Formen, K.O. Götz, der Fall war, welcher technische Bildverfahren seinen Abstraktionen zugrunde legte: »Angeregt durch das Auftreten bekannter Störbilder beim Radarbetrieb setzte ich mich mit Technikern zusammen und versuchte, verschiedene optische Phänomene auf dem Leuchtschirm hervorzurufen und elektronisch zu steuern.«39 Informationsästhetik bedeutet bei Goldschmid demnach nicht eine technische Verfahrensweise, sondern eher den handwerklich-experimentellen Ref lex auf visuelle Charakteristika digitaler Bilderzeugung. Auch Susanne Thielmanns Arbeit I won’t let you down (Abb. 16, Seite 39) versteht sich als materialer Kommentar auf digitale Fantasien: Der aus Kabeln gef lochtene Boxsack evoziert die dysfunktional gewordenen Innenwelten technischer Apparaturen, die im realen Raum neue Verwendungen finden. Im Gegensatz zu Belamy, dessen Technizität sich hinter einer historischen Fassade versteckt, spielen andere Porträts mit der Darstellung technischer Prozesse und verweisen damit auf die Funktion zeitgenössischer und historischer Medientechnologien. Nico Kiese und Bernhard Slawik präsentieren einen historischen Spielautomaten (Abb. 2, Seite 21), den ›einarmigen Banditen‹, dessen beleuchtete Oberf läche Porträts zeigt, die interaktiv auf die Mimik der Betrachter:innen reagieren. Solcherart verweist die Installation auf die Funktion des Porträts in der Populär- und Medienkultur und ref lektiert das Selfie sowie dessen virale Verbreitung. Im Gegensatz zum traditionellen Porträt nimmt das Selfie ein virales, von Algorithmen bestimmtes Eigenleben an, das alle Beteiligten in algorithmische Prozesse zwingt. Eine weitere Dimension des technischen Porträts findet sich in der visuellen Dissemination von Abbildung und Selbst. Insbesondere die feministischen Videokünstlerinnen der 1960er und 1970er Jahre erstellten mit der Videokamera Porträts und Selbstbilder, welche die ästhetischen Konventionen von Abbildungen unter Zuhilfenahme von Technik dekonstruierten und dadurch fragmentarische Formen des experimentell-medialen Selbst etablierten. Die Verwendung von Video- und Fernsehtechnik koppelt das ästhetische (Selbst-)Experiment an zeitgenössische Medienkultur und Massenkommunikation und ermöglicht somit deren Beobachtung.40 Die Koppelung von künstlicher Intelligenz und Beobachtung zeitgenössischer Massenkommunikationen nimmt Tamiko Thiels Installation Lend me your Face! (Abb. 7 und 8, Seite 28f.) vor. Die raumfüllende Installation präsentiert auf großen Leinwänden die Gesichter von Politiker:innen und Promi-
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nenten in wohlbekannten Posen. Diese finden sich projiziert in die Gesichter der Ausstellungsbesucherinnen, so dass sich visuelle Hybride ergeben. Gemessen an den frühen Experimenten der Videokunst wird auch hier die Medientechnologie zur Dekonstruktion visueller Codes eingesetzt: Die AntiPorträts von Tamiko Thiel entindividualisieren durch Hybridisierung sowohl populäre Politiker als auch die Betrachter, die sich in den Politikerabbildungen wiederfinden. In gewissem Sinne stehen diese Arbeiten in der Tradition der ›closed-circuit‹-Videoinstallationen, in denen die Betrachterinnen sich in einer Videoschleife wiederfinden: Sowohl in den ›closed-circuit‹–Arbeiten als auch in der Installation Thiels werden die Besucherinnen mit ihren Porträts konfrontiert: Es handelt sich hier – ähnlich wie beim Selfie – um eine Medientechnologie der direkten Wiedergabe, die sich ebenfalls in endlosen Schleifen verliert. Damit folgt die Arbeit einem kybernetischen Modell der Information, des Input und Output. Im Unterschied zur Videotechnologie entstehen die Feedback Loops hier mithilfe eines Open Source Deep FakeSystems, das den einfachen Austausch und das Ineinanderschreiben von Gesichtern unter Verwendung der ›Generative Adversarial Networks‹ (GANs) erlaubt. So basiert Thiels Arbeit auf dem gleichen Algorithmus wie die Arbeiten von Obvious, gestaltet sich jedoch völlig anders. Im Gegensatz zur algorithmischen Imitation von Porträts setzt Thiel den Algorithmus zur Dekonstruktion massenmedialer Konventionen ein und knüpft damit an neuartige Wissensmodelle an, wie sie Katherine Hayles darlegt: »The feedback loops that run between technologies and perceptions, artifacts and ideas, have important implications for how historical change occurs. The development of cybernetics followed neither a Kuhnian model of inconsummerable paradigms nor a Foucauldian model of sharp epistemic breaks«.41 Die von Hayles vorgeschlagene Perspektive löst das Porträt von der Repräsentation und sieht es als eine dynamische Funktion medialer feedback-Prozesse, die sich weitgehend von ihrer Materialität gelöst haben. So gesehen bieten die algorithmischen Porträts Tamiko Thiels eine Perspektive auf die eigene Person jenseits der materialen Körperlichkeit in einem pseudo-öffentlichen Kontext. Das eigene Bild erscheint abgekoppelt von der Repräsentation und wird zum Bestandteil eines technologischen Umfelds. Einen Einblick in den kreativen Prozess künstlerischer Gestaltung liefern Sougwen Chungs Interaktionen mit der künstlichen Intelligenz, ihre Aktionen setzen auf das Zusammenwirken von menschlicher und algorithmischer Kreativität. Während der Aktion verschmelzen sie im interaktiven
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Prozess menschliche und technische Kreativität und lassen die Grenze zwischen ihnen verschwinden. Sougwen Chung inszeniert die körperliche Nähe zur künstlichen Intelligenz, sie hockt auf der Leinwand und initiiert den interaktiven Austauschprozess mit der Technologie. Dieses Projekt konterkariert die streng mathematische Logik der frühen Computerkunst, indem es die Künstliche Intelligenz mit Leiblichkeit konfrontiert, die Dieter Mersch ihr abspricht. Hier findet die tatsächliche Konfrontation mit einem anderen Wissen statt. Abschließend stellt sich die Frage nach der Rolle der algorithmischen Intelligenz. Während in den 1950er–1990er Jahren algorithmische Verfahren noch eine Ausnahme darstellten und zumeist in der Forschung erprobt wurden, sind diese inzwischen unauffällig in den Alltag eingedrungen und organisieren diesen reibungslos. Insbesondere sind es hier die Spracherkennungssysteme, die kommunikativ anscheinend besser ausgestattet sind als intellektuelle und künstlerische Experimente mit Sprache. Im Gegensatz zu den kommerziellen und alltagskonformen Anwendungen laufen die Dialoge in Elke Dreiers großer Rauminstallation (Abb. 31, Seite 60) aneinander vorbei, sie »treffen« sich nicht und Sinnstiftungsprozesse sind nicht zu beobachten. Eine ähnliche Enttäuschung mit den Sprachsystemen künstlicher Intelligenz berichtet aktuell Daniel Kehlmann in seinem Versuch, eine Kurzgeschichte mit einem Computerprogramm zu erstellen. Enttäuscht kommt er zu dem Schluss, dass da kein »kreativer Funke« gewesen war. Kehlmann erklärt sich dessen Fehlen ganz im Sinne der bereits skizzierten Positionen mit dem Vorhandensein mathematischer Modelle, die den kreativen Ansatz verunmöglichten.42 Vor diesem Hintergrund erscheint Dreiers Installation in einem kritischen Licht. Während die reibungslosen algorithmischen Sprachsysteme des Alltags auf Datenbanken und mathematischen Verfahren beruhen, setzt dieses Projekt auf semantisches Verständnis und Interaktion: Und kann deswegen nur das Scheitern der Sprachsysteme vorführen – und so auch vor dem »Perfektionismus« der Datenbank-Kulturen warnen.
Ist es jetzt Kunst? Zusammenfassend wird vor Augen geführt: Künstliche Intelligenz bestimmt das künstlerische Schaffen! Die Implikationen der Künstlichen Intelligenz fallen in jedem Kunstwerk höchst unterschiedlich aus, wie auch jedes Kunst-
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werk individuelle Referentialitäten ausprägt. Es bleibt zu überlegen, ob die durch die Künstliche Intelligenz bewirkte Offenheit nicht doch mit einem Kunstbegriff zu belegen ist. 1 Stefan Rieger, ›Bin doch keine Maschine...‹ Zur Kulturgeschichte eines Topos, in: Christoph Engemann und Andreas Sudmann (Hrsg.), Machine Learning – Medien, Infrastrukturen und Technologien künstlicher Intelligenz, Bielefeld 2018, S. 117. 2 Rieger, ›Bin doch keine Maschine...‹, S. 117f. 3 Ebd., S. 129–36. 4 Claus Pias, Hollerith »gefiederter« Kristalle. Kunst, Wissenschaf t und Computer in Zeiten der Kybernetik, in: Michael Hagner und Erich Hörl (Hrsg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, suhrkamp taschenbuch wissenschaf t, Frankfurt am Main 2008, S. 80. 5 Pias, Hollerith »gefiederter« Kristalle, S. 81. 6 Ebd., S. 83. 7 Vgl. hierzu die Publikation von Hans Ronge, die wichtige Beiträge zum Spannungsverhältnis von Kunst und »Informationstechnik« sammelt. Hans Ronge (Hrsg.), Kunst und Kybernetik. Ein Bericht über drei Kunsterziehertagungen. Recklinghausen 1965, 1966, 1967, Köln 1968. 8 Karl Otto Götz, Möglichkeiten und Grenzen der Informationstheorie bei der exakten Bildbeschreibung, in: Hans Ronge (Hrsg.), Kunst und Kybernetik. Ein Bericht über drei Kunsterziehertagungen. Recklinghausen 1965, 1966, 1967, Köln 1968, S. 183. 9 Max Bense, Einführung in die informationstheoretische Ästhetik (1969), in: Ausgewählte Schrif ten, Bd. 3 Ästhetik und Texttheorie, Stuttgart 1998, S. 316. 10 Provokation: Lebensstof f der Gesellschaf t. Kunst und Antikunst., 67. Forumgespräch der Reihe Meinung gegen Meinung, Düsseldorf 1970, https://www.youtube.com/ watch?v=9DIxoM_5NyE. 11 Pias, Hollerith »gefiederter« Kristalle, S. 77f. 12 Herbert W. Franke, Phänomen Kunst. Die kybernetische Grundlage der Ästhetik, Köln 1974, S. 17. 13 So z. B. die Ausstellung Cybernetic Serendepity, London 1968. 14 Pias, Hollerith »gefiederter« Kristalle, S. 79. 15 Ebd., S. 78. 16 Dieter Mersch, Kreativität und Künstliche Intelligenz. Einige Bemerkungen zu einer Kritik algorithmischer Rationalität, Zeitschrif t für Medienwissenschaf t 21, Nr. 2 (2019), S. 66. 17 Mersch, Kreativität und Künstliche Intelligenz, S. 67. 18 Ebd., S. 73.
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Angela Krewani 19 Roy Ascott, Behaviourist Art and the Cybernetic Vision, in: Edward R. Shanken (Hrsg.), Telematic Embrace. Visionary Theories of Art, Technology, and Counsciousness, Berkeley, Los Angeles 2003, S. 110. 20 Ascott, Behaviourist Art and the Cybernetic Vision, S. 147. 21 Ebd., S. 125. 22 Marshall McLuhan, Understanding Media: The Extensions of Man, New York 1964, S. 9. 23 Marshall McLuhan, Cybernetics and Human Culture, in: Understanding Me: Lectures and Interviews, hrsg. v. David Staines, Cambridge, Mass. 2003, S. 49. 24 McLuhan, Cybernetics and Human Culture, S. 54. 25 McLuhan, Understanding Media, S. 4, 13. 26 Roy Ascott, The Cybernetic Stance: My Process and Purpose, Leonardo Vol.1 (1968), S. 105–12. 27 Derrick de Kerckhove, Connected Intelligence. The Arrival of the Web Society, London 1998, S. 129. 28 Jussi Parikka, New Materialism as Media Theory. Medianatures and Dirty Matter, Communication and Critical Cultural Studies Vol.9, Nr. 1 (2012), S. 95–100. 29 Gerfried Stocker und Christine Schöpf (Hrsg.), Hybrid. Living in paradox. Ars Electronica 2005. Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaf t, Ostfildern-Ruit 2005. 30 Claus Pias, Kunst, Wissenschaf t und Computer, 77. In ähnlicher Weise vom Kunstbetrieb ausgegrenzt wurde die frühe Videokunst der 1960er–1980er Jahre aufgrund ihrer Nähe zum angeblich minderwertigen Medium Fernsehen. 31 Vgl. hierzu: Andreas J. Hirsch, Creating the Future. A Brief History of Ars Electronica 1979–2019, Berlin 2019. 32 www.zkm.de (28.1.2021) 33 Vgl. hierzu auch die Online Zeitschrif t w/k. Zwischen Wissenschaf t & Kunst (https:// wissenschaf t-kunst.de). 34 Gottfried Boehm, Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance, München 1985, S. 11. 35 Boehm, Bildnis und Individuum, S. 90. 36 »Is artificial intelligence set to become art’s next medium?«, o. J., www.christies.com. 37 Ebd. 38 Vgl. Hans Dieter Huber, The Artist, the Author and Authenticity, in: Christiane Heibach, Angela Krewani und Irene Schütze (Hrsg.), Constructions of Media Authorship. Investigating Aesthetic Practices from Early Modernity to the Digital Age, Berlin, Boston 2021, S. 67–82. 39 Karl Otto Götz, Abstrakter Film und elektronische Malerei, blätter + bilder. Zeitschrif t für Dichtung, Musik und Malerei 5, Nr. November–Dezember 1959, S. 45.
Technische Welten, Kunst und Künstliche Intelligenz 40 Vgl. hier: Gabriele Schor, Feministische Avantgarde: Kunst der 1970er–Jahre aus der Sammlung Verbund, Wien, München 2015. 41 Katherine N.Hayles, How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago, London 1999, S. 14. 42 Adrian Kreye, Man merkt, dass da keiner zu Hause ist, Süddeutsche Zeitung, 11. Februar 2021, https://www.sueddeutsche.de/kultur/ daniel-kehlmann-stuttgarter-zukunf tsrede-kuenstliche-intelligenz-1.5202046.
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Computerkreativität Maschinelles Lernen und die Künste Künstlicher Intelligenzen Andreas Sudmann
In den Debatten zur Künstlichen Intelligenz (KI) wird seit Jahrzehnten regelmäßig ein Einwand gegen die Leistungsfähigkeit von Computern ins Feld geführt: dass sie immer nur ausführen können, was von Menschen konzipiert und programmiert wurde. Dabei hatte schon der 1958/1959 von Allen Newell, John C. Shaw und Herbert A. Simon entwickelte General Problem Solver nicht jeden Zustand seines Systems a priori wohldefiniert, sondern das Eintreten von Regeln an die Bedingungen ihrer Anwendbarkeit geknüpft.1 Sogenannte maschinelle Lernverfahren gehen diesbezüglich jedoch noch einen erheblichen Schritt weiter. Deren zentrales Charakteristikum besteht darin, dass sie Computer in die Lage versetzen, unterschiedliche Aufgaben im Prinzip ohne explizite Programmierung (automatisch) zu bewältigen.2 Unter den existierenden Ansätzen maschinellen Lernens haben gegenwärtig vor allem Künstliche Neuronale Netzwerke (KNN) dem Forschungsfeld der KI nach vielen Jahren der Stagnation neuen Aufwind verliehen. Wann immer in den letzten rund zehn Jahren Innovationen der KI thematisiert wurden, ob nun bei selbstfahrenden Autos, in Bezug auf die Vorhersage von Börsenkursen oder im Feld der medizinischen Diagnostik, stets waren KNN maßgeblich mit im Spiel.3 Und nicht zuletzt aufgrund dieser spezifischen Technologie erreichen Computer seit wenigen Jahren nun auch im Bereich des kreativ-künstlerischen Schaffens bis dahin unbekannte Höchstleistungen: KI-Systeme, so liest man allenthalben, können inzwischen Musik im Stil von Bach oder Beethoven komponieren, Bilder hervorbringen, als ob sie von Matisse und Monet gemalt worden wären, oder Texte erzeugen, die zumindest punktuell eine literarische Qualität erkennen lassen, die noch vor wenigen Jahren gänzlich unmöglich schien.
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In der Kunstwelt und kreativen Branche fielen die Reaktionen auf den jüngsten KI-Boom erwartungsgemäß sehr unterschiedlich aus. Für die einen, ob Künstler:innen, Journalist:innen oder Wissenschaftler:innen, stellen die gegenwärtigen Erscheinungsformen der KI eine Quelle der Inspiration, ein interessantes Werkzeug oder zumindest eine produktive intellektuelle Herausforderung dar, für die anderen eine unverschämte Übertreibung oder sogar existentielle Bedrohung, nicht zuletzt ihrer eigenen Arbeit. Derartige konträre Beurteilungen haben freilich eine lange Tradition. Unabhängig von den je konkreten Themen und Anwendungsfeldern scheinen grundsätzliche Debatten zu den Potentialen und Grenzen der KI seit jeher besonders stark zu polarisieren. Vor diesem Hintergrund sind die nachfolgenden Überlegungen auch von der Frage bestimmt, wie nicht nur die Entwicklungen und Verheißungen der KI, sondern auch deren kritische Wahrnehmung und Diskussion, speziell im Zusammenhang mit Problemstellungen von Kunst und Kreativität, ihrerseits kritisch ref lektiert werden können. Ein bewährter Ausgangspunkt für eine solche Intervention ist zunächst die historische Verortung der Gegenwartsphänomene. Beispielsweise lohnt es sich daran zu erinnern, dass bereits das Gründungsdokument der KI-Forschung, der u. a. von John McCarthy 1955 verfasste Antrag für das Dartmouth Summer Research Project on Artificial Intelligence »Randomness and Creativity« als relevantes Arbeitsgebiet der Erforschung intelligenter Maschinen hervorhebt: »A fairly attractive and yet clearly incomplete conjecture is that the difference between creative thinking and unimaginative competent thinking lies in the injection of a some randomness. The randomness must be guided by intuition to be efficient. In other words, the educated guess or the hunch include controlled randomness in otherwise orderly thinking.«4 Aus heutiger Sicht mag die Beschreibung des Zusammenhangs von Kreativität und Zufälligkeit eben nicht bloß »offensichtlich unvollständig«, sondern an und für sich unterkomplex sein. Immerhin wird hier der Eindruck erweckt, die Zufälligkeit sei eine Art Zutat, die als Bestandteil einer Rezeptur zur Herstellung einer kreativen Maschine bloß in der richtigen Dosierung enthalten sein muss und bei der es am Ende vor allem darauf ankommt, sicherzustellen, dass sie sich unter bestimmten Bedingungen (»guided by intuition«) als effektiv erweist.5 Zudem könnte man wohl im Geiste jener Logik ergänzen: dass sie überdies dem informatischen Kriterium der Effizienz genüge. Denn immerhin
Computerkreativität
sind selbst notorische Skeptiker von KI bereit, einem Computer soviel an kreativen Leistungen zuzugestehen, dass dieser, ausreichende Rechenzeit und -kapazität vorausgesetzt, allein durch eine vom Zufall bestimmte Kombinatorik und ohne die Implementierung linguistischer Regeln in der Lage wäre, eine entsprechend große Anzahl von Wörtern so miteinander zu verbinden, dass dabei irgendwann am Ende, ein Gedicht vom Range der Lyrik Paul Celans herauskäme. Ende der 1950er Jahre ist es dann die Computerpoesie von Theo Lutz, die in der Tat mit Zufallskombinationen, aber doch entscheidend regelbasiert, »stochastische Texte« produziert und zwar auf der elektronischen Großrechenanlage ZUSE Z22, die seinerzeit vom Rechenzentrum der TH Stuttgart betrieben wurde. Ab den 1960er Jahren sind es dann Künstler:innen und Wissenschaftler:innen wie Alison Knowles, Margaret Masterman, Max Bense, James Tenney oder Robin McKinnon Wood, die jeweils auf ihre Weise Computer dichten lassen. Kein neues Phänomen ist es auch, dass Kunst, die von einem Computer hergestellt wird, als von Menschen gemacht erscheint. Eines der wohl bekanntesten Beispiele wird 1967 von Michael Noll in seinem Essay »The Digital Computer as a Creative Medium« beschrieben. Dort heißt es: »[An] experiment was performed using Piet Mondrian’s ›Composition With Lines‹ (1917) and a computer-generated picture composed of pseudorandom elements but similar in overall composition to the Mondrian painting. Although Mondrian apparently placed the vertical and horizontal bars in his painting in a careful and orderly manner, the bars in the computer-generated picture were placed according to a pseudorandom number generator with statistics chosen to approximate the bar density, lengths, and widths in the Mondrian painting. Xerographic copies of the two pictures were presented, side by side, to 100 subjects with educations ranging from high school to postdoctoral; the subjects represented a reasonably good sampling of the population at a large scientific research laboratory. They were asked which picture they preferred and also which picture of the pair they thought was produced by Mondrian. Fifty-nine percent of the subjects preferred the computer-generated picture; only 28 percent were able to identify correctly the picture produced by Mondrian. In general, these people seemed to associate the randomness of the computer-generated picture with human creativity whereas the orderly bar placement of the Mondrian painting seemed to them machinelike. This finding does not, of course, detract from Mondrian’s ar-
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tistic abilities. His painting was, after all, the inspiration for the algorithms used to produce the computer-generated picture, and since computers were nonexistent 50 years ago, Mondrian could not have had a computer at his disposal.«6 Wie der Medienwissenschaftler Jens Schröter zu Recht hervorhebt, ging es Noll seinerzeit explizit darum, Algorithmen zu finden, die die Produktion eines Kunstwerks ermöglichen, das auch als solches identifiziert wird.7 Ein solcher Ansatz, wie er auch die informationsästhetischen Experimente des Mathematikers Frieder Nake charakterisiert, setzt sich damit leicht dem Vorwurf aus, er reduziere Kunst zu einem rein ahistorischen und formalistischen Unternehmen. Doch nach Schröter könnte man die Arbeiten von Noll und weiteren Vertretern der Informationsästhetik sehr wohl als historische Reaktionen auf die Möglichkeiten von Kunst überhaupt, in diesem Fall computerproduzierter, verstehen.8 In Bezug auf die Gegenwart lässt sich das wiedererwachte Interesse an dem Zusammenhang von Kunst, Kreativität und KI auf ein Ereignis beziehen. Am 25. Oktober 2018 machte New York Christie's mit der Nachricht Schlagzeilen, zum ersten Mal in der Geschichte des renommierten Auktionshauses sei ein »von einem Algorithmus« (so die Selbstbeschreibung) produziertes Bild versteigert worden. Für 432.500 US-$ erhielt ein anonymer Telefonanbieter seinerzeit den Zuschlag, für eine 40 mal größere Summe als ursprünglich erwartet. Dabei ist das vermeintlich von einer KI selbständig generierte Bild an sich kaum besonders spektakulär. Es zeigt das verschwommene Porträt einer fiktiven Person namens »Edmond de Belamy« (Abb. 4, Seite 24), die man in Anbetracht ihrer Kleidung vielleicht für einen französischen Geistlichen des 18. Jahrhunderts halten könnte. Aber diese Assoziation liegt wohl buchstäblich im Auge des Betrachters, stellt man in Rechnung, dass das KI-Modell vor der Generierung eben jenes Porträts mit rund 15.000 Bildern aus verschiedenen Perioden der Kunstgeschichte trainiert wurde, weshalb ikonographische Anstrengungen der Bildanalyse schnell an ihre Grenzen stoßen. Und der Umstand, dass sich am unteren rechten Rand des Bildes statt einer Künstlersignatur ein Ausschnitt jenes Algorithmus‘ (»min G max D Ex[log(D(x))]+Ez[log(1-D(G(z)))]«) findet, mit dessen Hilfe das Werk wesentlich erzeugt wurde, ist sicherlich auch kaum mehr als ein netter PR-Gag. Doch letzteres sieht wohl die für das Projekt verantwortliche Pariser Künstlergruppe Obvious, bestehend aus den Mitgliedern Hugo Caselles-Dupré, Pierre Fautrel und Gauthier Vernier, etwas
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anders. Statt lediglich mit KI ein Kunstwerk zu schaffen, war der Anspruch des Projekts laut Obvious nicht weniger als KI mit Kunst »erklären« und »demokratisieren« zu wollen.9 Letzteres passt aber offenkundig weder zum Rahmen eben jener Auktion noch zur Entstehungsgeschichte des Porträts. So bedienten sich die Pariser Künstler eines Lernalgorithmus, den eigentlich ein junger Mann namens Robbie Barrat aus West Virginia entwickelt und als Open-Source-Projekt ins Netz gestellt hatte. Präziser müsste man eigentlich sagen: weiterentwickelt. Denn eigentlich kamen bei dem Kunstwerk sogenannte Generative Adversarial Networks (GAN) zum Einsatz, die ursprünglich u. a. von dem Computerwissenschaftler Ian Goodfellow entwickelt wurden und von einem einfachen, aber wirkungsmächtigen Prinzip bestimmt sind: So handelt es sich bei GAN um eine Variante Künstlicher Neuronaler Netzwerke, bei der zwei Netzwerke, die zuvor mit demselben Datensatz trainiert wurden, in einem Nullsummenspiel gegeneinander antreten. Im Anschluss an die Trainingsphase hat dann das eine (generative) Netzwerk die Funktion, Beispieldaten zu erzeugen, die plausibel aus dem ursprünglichen Datensatz stammen könnten, obwohl sie nur künstlich erzeugt worden, also gleichsam ›fake‹ sind. Das andere (unterscheidende) Netzwerk hat wiederum die Aufgabe, die so erzeugten Daten danach zu klassifizieren, ob sie aus dem ursprünglichen Trainingsdatensatz stammen, d. h. ob sie gleichsam ›echt‹ sind oder eben nicht. Das Training der GANs wird so lange wiederholt, bis das generative Netzwerk solche Beispieldaten produziert, die das unterscheidende Netzwerk überwiegend als ›echt‹ akzeptiert. Jedenfalls fragte das Pariser Künstlerkollektiv Barrat, ob sie ›seinen‹ Algorithmus für das Anliegen einer Demokratisierung der KI-Kunst verwenden dürfe. Dieser stimmte zu und half sogar der Gruppe bei der technischen Umsetzung ihres Projekts. Als jedoch das mit der GAN-Technologie produzierte Porträt schlussendlich bei Christie's versteigert wurde, war die Verärgerung des 19-Jährigen entsprechend groß. Auf Twitter schrieb Barrat am 25. Oktober 2018: »Am I crazy for thinking that they really just used my network and are selling the results?« Als Reaktion auf die massive Kritik an der Nutzung des Algorithmus, antwortete ein Mitglied der Gruppe: »We are the people who decided to do this«, »who decided to print it on canvas, sign it as a mathematical formula, put it in a gold frame.«10 Entsprechend kommentierte der Medienwissenschaftler und Spieleforscher Ian Bogost diese Aussage in einem Beitrag für
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die Zeitschrift The Atlantic mit einem Zitat von Andy Warhol: »Art is what you can get away with.«11 Aber so einfach ist es dann doch nicht. Auch wenn der große Skandal um das Porträt letztlich ausblieb, wurde doch recht intensiv debattiert, wer denn nun eigentlich der Schöpfer und Urheber des Bildes ist. In einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung stellte etwa Bernd Graff zu diesem Fall die These auf, dass nicht das Porträt, sondern der Algorithmus selbst als Kunst zu gelten habe.12 Der sarkastische Kommentar eines Humanisten könnte hierzu lauten: Wenigstens werden diese Algorithmen weiterhin von Menschen entwickelt und noch nicht von anderen Maschinen. In der Tat ist es offenbar gegenwärtig wichtiger denn je zu betonen, dass KI-Systeme eben nicht vollständig autonom bzw. automatisch agieren, wenn sie Produkte erzeugen, die als Kunst durchgehen, oder wenn sie Aktivitäten verrichten, die als kreativ eingestuft werden. Stets sind Menschen an diesen KI-Verfahren in allen Phasen der Entwicklung wesentlich beteiligt: von der Erstellung bzw. Zusammenstellung von Lerndaten über die Konzeption und Anwendung des für das Problem geeigneten Algorithmus bis hin zum fortlaufenden Training des KI-Modells.13 Zumindest in naher Zukunft wird sich daran wohl nichts ändern, auch wenn es längst schon Realität geworden ist, dass Maschinen mit Maschinen interagieren, um sich selbst optimieren zu können. Doch nicht allein aus diesem Grund greift es zu kurz, in der Debatte um kreative KI gegenüber der vermeintlich selbständig agierenden Maschine nun erneut die menschliche Handlungsmacht hervorzuheben. Stattdessen wäre es sinnvoller, die schematische Kontrastierung und isolierte Betrachtung der Beziehung von Mensch und Maschine aufzugeben und eher die umfassenden soziotechnischen Möglichkeitsbedingungen der Hervorbringung und Formierung von KI, d. h. den jeweils spezifischen Zusammenhang der Infrastrukturierung und Vernetzung von Praktiken, Wissen und Medien, in den Blick zu nehmen. Eine solche Dezentrierung des Blicks auf die HumanComputer-Interaction fällt uns aber offenkundig sehr schwer, weil Konzepten wie Kunst und Kreativität eine zutiefst anthropozentrische bzw. anthropologische Logik anhaftet, derer man sich nicht einfach entledigen kann.14 So wird etwa als Signum menschlicher Kreativität herausgestellt, dass sie aus einem Wollen resultiert. Und speziell Kunst sei eben an menschliche Erfahrungen wie Freude, Selbstzweifel, Erstaunen gekoppelt und von sozialen Dynamiken zwischen Künstler und Publikum abhängig.15 Die Auf-
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listung weiterer Unterscheidungsmerkmale ließe sich problemlos fortsetzen und ausdifferenzieren: Der Hinweis auf die emotional-affektiven Aspekte menschlicher Kreativität ist ebenso zentral wie der auf die körperliche Dimension des kreativen Schaffens sowie überhaupt die Tatsache, dass Kreativität als soziokultureller Praxis eine historische Dimension zukommt. Am Ende wird dann mit großer Gewissheit bilanziert: Über all das verfügt eine KI nicht, all das kann sie nicht leisten und wird es auch nie.16 Dennoch basiert die Unterscheidungsmöglichkeit von Mensch und Maschine auf keiner statischen, stabilen anthropologischen Differenz, sondern sie markiert einen historischen Prozess, der eben auch die Möglichkeit tiefgreifender, unabsehbarer Veränderungen beinhaltet. Entsprechend sind Prognosen über die zukünftigen Fähigkeiten und Eigenschaften von Computern grundsätzlich ebenso fragwürdig wie allzu überzeugte Festschreibungen dessen, was Maschinen niemals zu leisten vermögen. In beiderlei Hinsichten haben sich in der Vergangenheit Expert:innen oft genug geirrt. Ohnehin zeigt sich in den öffentlichen Debatten immer wieder die Tendenz, KI stets nur im Modus des Utopischen zu verhandeln. Der Informatiker Bertram Raphael schlug einst vor, KI als kollektiven Namen für Probleme zu verwenden, »which we do not yet know how to solve properly by computer«.17 Mit anderen Worten: Sobald Computer bestimmte Probleme erfolgreich meistern oder sich eine Lösung abzeichnet, fallen diese aus dem KI-Bereich heraus. Dieses Phänomen hat verschiedene Gründe. Zu diesen gehört, dass gerade im Fall der KI die empirische Forschung und Entwicklung von Technologien stark im Bann ihrer kulturellen Imaginationen stehen. Wie oft werden in den Medien die Folgen und Gefahren der KI in der nahen und fernen Zukunft mit Bildern von Hal und dem Terminator illustriert? Die gesellschaftlichen Ängste vor intelligenten Maschinen wird man jedenfalls nicht einfach dadurch beseitigen können, dass man ihnen ein niedliches, infantiles Äußeres verpasst oder sie in die Lage versetzt, amüsante Handlungen zu vollziehen. Als zum Jahreswechsel 2020/21 Boston Dynamics seine Roboter buchstäblich tanzen ließ, hatte diese Aufführung zugleich etwas Unheimliches an sich. Gerade die Tatsache, dass die Maschinen in ihrem äußeren Erscheinen uns immer ähnlicher werden, ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass die Maschinen in uns dieses eigentümliche Gefühl evozieren. Zwar kann jenes nur deshalb entstehen, gerade weil die Maschinen noch als solche erkennbar und von uns sichtbar unterschieden sind. Letzteres gilt
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für den Zeichenroboter Ai-Da, aber eben auch für die Filmfigur Ava in Ex Machina. Zugleich spielt hier wohl eine nicht unwesentliche Rolle, dass die Medienkultur fortlaufend dystopische Szenarien präsentiert, in denen die Unterscheidungsmöglichkeit von Mensch und Maschine überhaupt nicht mehr gegeben ist.18 Ein solches Szenario betrifft jedenfalls längst nicht mehr nur die Sphären von Kunst und populärer Fiktion. 2017 hat Google mit seinem Telefonassistent-System Duplex vorgeführt, dass Maschinen in gewissen Grenzen mit Menschen kommunizieren, ohne dabei ihren Status als nicht-humane Wesen preiszugeben. Es dauert also vielleicht nicht mehr allzu lange, bis Maschinen nach Jahrzehnten gescheiterter Versuche endlich den Turing-Test bestehen. Es wäre ein Meilenstein in der Geschichte der Informationstechnologien. Noch aber ist es nicht soweit. Doch speziell neueste KI-Technologien wie GPT-3 wecken die Erwartung, dass sich das sehr bald ändern könnte. Zur Erinnerung: Turing hatte seinerzeit vorschlagen, die ontologische Frage, ob Computer intelligent seien können oder eben nicht, durch einen Test zu ersetzen, mittels dessen ermittelt werden sollte, ob Computer den Eindruck von Intelligenz hervorrufen können.19 Analog dazu hat Margaret Boden bereits vor über 30 Jahren Maschinenkreativität (»machine creativity«) als Projekt entworfen, bei dem es nicht darum ginge, zu bestimmen, ob und inwieweit diese Entitäten nun kreativ sind oder nicht, sondern ob sie in gewissen Grenzen den Eindruck von Kreativität erzeugen können, worunter sie versteht, Ideen oder Artefakte hervorzubringen, die neu, überraschend und wertvoll seien.20 Analog dazu differenziert Boden drei Kategorien von Kreativität: Kombinatorische, explorative und transformative Kreativität. Diese werden von Boden in Relation zu einem konzeptionellen Raum (conceptual space) als »structured style of thought«21 gedacht und anhand unterschiedlicher Software-Anwendungen mit Bezug auf ihre Verwirklichung in und mit Computern diskutiert: Als Beispiele für Programme, die eine kombinatorische Kreativität beherrschen, also Bekanntes auf unbekannte Weise kombinieren können, verweist sie unter anderem auf JAPE.22 Dabei handelt es sich um ein Computerprogramm zur Erzeugung von punning riddles, dessen ursprüngliche Version 1993 von Kim Binsted als Teil ihres Master of Science am Department of Artificial Intelligence der Universität Edinburgh entwickelt wurde. Der zweite Typ der sogenannten explorativen Kreativität ist dadurch charakterisiert, dass er auf die Auslotung eines Potentials zielt, das gewis-
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sermaßen innerhalb eines konzeptionellen Raumes bereits angelegt ist, aber noch nicht als solches entdeckt beziehungsweise ausgeschöpft wurde. Exemplarisch verweist Boden auf das bereits in den 1980er Jahren von David Cope entwickelte Kompositionsprogramm »Experiments in Musical Intelligence« oder kurz: EMI bzw. EMMY. Es kann eine Komposition analysieren und sie in verschiedene Bestandteile zerlegen, anhand von Mustern den Stil identifizieren und die verschiedenen Komponenten wieder in neue Muster anordnen, ohne dass irgendetwas dabei identisch reproduziert wird. Der letzte Typ, die transformative Kreativität, zeichnet sich gleichsam dadurch aus, die Grenzen des bisherigen konzeptionellen Raumes zu überschreiten und eine neue Struktur des Denkens zu entwickeln. Dieser Typ von Kreativität konnte lange Zeit von Computern nicht beherrscht werden. Doch nach Boden ändert sich dies, als Entwickler wie Karl Sims und Wiliam Latham Anfang der 1990er Jahre mit sogenannten generativen Algorithmen (generative algorithms) experimentieren, die auf dem Prinzip des evolutionären Programmierens beruhen und auf diese Weise Computergrafiken erstaunlicher Komplexität erzeugen.23 Inzwischen haben Ansätze Künstlicher Neuronaler Netzwerke in Sachen Computerkreativität zahlreiche andere Ansätze, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten als Pfad hin zum Ziel der kreativen KI betrachtet wurden, in den Schatten gestellt. Vorläufig zumindest. Gleichwohl wird auch das Potential aktueller KNN-Technologien hinsichtlich der Hervorbringung kreativer Leistungen zu betrachten, von verschiedenen Philosophen, Künstlern und Geisteswissenschaften bezweifelt: Beispielsweise hat 2016 Matteo Pasquinelli die These formuliert, dass KNN grundsätzlich nicht in der Lage seien, etwas emphatisch Neues zu produzieren.24 KNN würden rein induktiv Muster in bereits vorhandenen Daten erkennen, zu dem, was Peirce als Operation der Abduktion bezeichnet, wären sie jedoch nicht in der Lage.25 Entsprechend ließe sich mit KNN auch nicht realisieren, was Margaret Boden »transformative AI« genannt hat. Und auch der Medienphilosoph Dieter Mersch hat jüngst an die Adresse derjenigen, die wie Margaret Boden gewillt sind, Computern Kreativität zuzuschreiben, den Vorwurf gerichtet, dass sie zumeist simplizistische und historisch überholte Definitionen von Kunst und Kultur zugrunde legen und zugleich konsequent eine spezifisch »epistemologische Dimension des Ästhetischen« außer Acht lassen:26
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»Konsequent blenden sie aus, was Kunst allererst zu Kunst macht: Ref lexivität als Aufschließung eines anderen Wissens. Stattdessen wird im Zeichen einer Präferenz für Rationalismus und hard sciences eine direkte Verbindung zwischen ›natürlichen‹ Kreativitäten wie der Entwicklung des Lebens und der ›sozialen‹ bzw. ›historischen‹ Virulenz der Künste gezogen, ungeachtet wesentlicher Inkompatibilitäten. Wenn wir im Gegenzug auf der Persistenz einer ästhetischen Ref lexivität als Kriterium für Kunst bestehen, so deshalb, weil diese sich nicht in Wahrnehmungsextensionen, subjektiven Ausdrucksexzessen oder der Darstellung von Grenzphänomenen erschöpft, so wenig wie sich die Eigenschaften von Kunst ausschließlich über ihre ›Werke‹ erschließen lassen, vielmehr ›er-eignen‹ diese immer auch eine Verwandlung und Verschiebung von Kunst selbst. Kunst ist stets Kunst über Kunst; sie impliziert daher in jedem Akt und Artefakt eine Transformation des Ästhetischen selbst, wohingegen sich die meisten Modelle einer artificial creativity an Kontinuitäten orientieren und einem anachronistischen Geniekult des 19. Jahrhunderts verhaftet bleiben, der sich seinerseits einer Vulgarisierung der kantischen Definition des Genies verdankt.«27 Letzterer Vorwurf fällt jedoch allzu pauschal aus. Immerhin hat zum Beispiel der Computerwissenschaftler Marvin Minsky bereits in den 1980er Jahren kritisiert, dass die Menschen in Bezug auf ihr Kreativitätsdenken die Neigung haben, die Differenz zwischen gewöhnlichen und herausragenden Leistungen zu übertreiben. Von Geniekult kann also zumindest hier keine Rede sein.28 Tatsächlich besteht ein grundsätzliches Problem der KI-Debatte darin, dass wir typischerweise solche Leistungen der Maschinen würdigen, die wir auch in Bezug auf Menschen wertschätzen und bewundern. Schlägt eine KI den menschlichen Weltmeister im Brettspiel Go, ist das eine Sensation, über die in Medien global berichtet wird. Deutlich geringer war jedoch das öffentliche Interesse, als 2017 ein Computer erstmals mittels KNN-basierter Verfahren sowie auf der Basis des Trainings mit Videodaten Handlungen und Gesten erkennen konnte, also in basaler Form beherrschte, was man in Bezug auf Menschen gemeinhin Common-Sense-Wissen nennt.29 Dabei ist der Schritt, eine KI in die Lage zu versetzen, ihre Umwelt visuell wahrzunehmen und zu erkennen, wesentlich grundlegender und folgenreicher, nicht zuletzt für die Entwicklung avancierter Systeme, die irgendwann menschenähnliches kreatives Verhalten
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umfassend simulieren können, als die bekannten öffentlichkeitswirksamen Entwicklungen von Alpha Go & Co. Auch darf man skeptisch sein, ob Generative Adversarial Networks (GAN) oder auch ihre Weiterentwicklung als Creative Adversarial Networks (CAN) die Leistungen einer KI in Sachen Kreativität mittel- oder langfristig auf ein neues Niveau heben. CAN kopieren im Wesentlichen die Funktionsweise GAN, fügen den algorithmischen Operationen jedoch eine entscheidende Komponente hinzu: Das Diskriminatornetzwerk hat hier weiterhin die Aufgabe, Bilder danach zu klassifizieren, ob sie ›real‹ oder ›fake‹ sind, lernt aber zudem, diese Artefakte 25 Kunststilen (also Impressionismus oder Surrealismus etc.) zuzuordnen. Und auch das generative Netzwerk hat weiterhin die Funktion, Bilder zu generieren, die der Diskriminator für echt hält, soll aber zugleich die Zuordnung zu diesen Kunststilen verunmöglichen. Die Leistung dieser ›kreativen‹ Algorithmen besteht also in einem fixierten Schema der Abweichung von einer Norm als (iteratives) Optimierungsgeschehen. Damit weichen CAN entscheidend von dem ab, was die Operation der Abweichung von etablierten Kunststilen in Bezug auf menschliche Kreativität auszeichnet, nämlich, dass sie als künstlerischer Operation in Bezug auf eine historische Norm selbst immer wieder zur Disposition steht, d. h. unsicher ist.30 Im Ergebnis kann die Computerkunst der CAN vielleicht sogar interessanter erscheinen als viele Werke menschlicher Künstler:innen, und dies allein aufgrund ihrer Geltung und nicht bloß im Wissen um ihre spezifische Genese. Außerdem ist davon auszugehen, dass der Akt der Abweichung von einer definierten Norm bei CAN deutlich komplexer ausfällt als im Fall menschlicher Kunstproduktion, allein deshalb, weil die KI mit dem gleichsam virtuellen Archiv der Kunst besser vertraut sein kann als irgendein:e Künstler:in. Vielleicht müssen die Menschen lernen, mit dieser narzisstischen Kränkung zu leben. Ein Künstler wie Roman Lipski nutzt jedenfalls längst ein KI-System, das mit maschinellen Lernalgorithmen arbeitet, als ›Muse‹31: Er füttert es mit seinen eigenen Bildern, damit die Maschine ihm Vorschläge unterbreitet, wie sein nächstes Werk aussehen könnte. Aber auch dieser Ansatz ist im Feld der Computerkreativität nicht neu. Bereits in den 1980er Jahren hatte David Cope sein KI-Programm EMMY zu einem Zeitpunkt entwickelt, als er eigentlich eine Oper hätte komponieren sollen, doch litt er damals, wie er anekdotisch später immer wieder referierte, unter einer kreativen Blockade. So ließ er sich von Kompositionen seines EMMY-Programms,
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die auf der Analyse seiner eigenen Arbeiten beruhten, zu neuen Ideen anregen. Ob am Ende wirklich mit interessanteren Resultaten als er sie ohne Hilfe seines Programms irgendwann hätte wieder entwickeln können, sei dahingestellt. Aber vielleicht bestand die wahre Leistung des Programms am Ende auch schlicht darin, einen therapeutischen Zweck zu erfüllen. Wie auch immer die Zukunft der Maschinenkreativität aussehen wird, im besten Fall trägt ihre Entwicklung und Ref lexion dazu bei, dass wir die soziokulturellen Auffassungen und Praktiken von Kunst und Kreativität im Lichte dieser technologischen Veränderungen überprüfen können. Festzustellen bleibt, dass der gesellschaftliche Gebrauch von Konzepten der Kunst und Kreativität, soweit diese sich auf Menschen beziehen, durch eine auffallende Paradoxie bestimmt ist, die auch in die aktuellen KI-Debatten hineinragt: Einerseits werden sie derart inf lationär verwendet, dass unter der Sonne im Grunde alles als kreativ oder Kunst gelten kann, während andererseits die Tendenz besteht, entsprechende Artefakte und Aktivitäten zu mystifizieren und esoterisch zu verklären. Insofern sollten die gegenwärtigen Diskussionen über Computerkreativität auch dazu herausfordern, in ihrem Lichte die Widersprüche menschlicher Kreativität und Kunstproduktion ernst zu nehmen und beispielsweise zu hinterfragen, wie maschinenähnlich beziehungsweise wie zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten verteilt die Geschichte humaner Kreativität und Kunst, gerade in der industriellen und postindustriellen Gesellschaft, immer schon gewesen ist.32
1 Allen Newell, John C. Shaw und Herbert A. Simon, Report on a General Problemsolving Program, 1958/1959. Abrufbar unter: http://games.cs.uno.edu/publications/ papers/newell1959report.pdf (1.2.2021). Siehe auch: Marvin Minsky. Why People Think Computers Can’t, in: AI Magazine, Volume 3 Number 4 (1982), abrufbar unter: https:// doi.org/10.1609/aimag.v3i4.376 (1.2.2021). 2 Arthur L. Samuel, Some Studies in Machine Learning Using the Game of Checkers, in: IBM Journal of Research and Development, Volume 3, Number 3, Seiten: 210–229, July 1959, doi: 10.1147/rd.33.0210. 3 Siehe dazu: Andreas Sudmann, Zur Einführung: Medien, Infrastrukturen und Technologien des maschinellen Lernens, in: ders. und Christoph Engemann (Hrsg.), Medien, Infrastrukturen und Technologien des maschinellen Lernens, Bielefeld 2018, S. 9–23. 4 John McCarthy et al., A Proposal for the Dartmouth Summer Research Project on Artificial Intelligence, August 31, AI Magazine Volume 27 Number 4 (1955), abrufbar unter: https://doi.org/10.1609/aimag.v27i4.1904 (1.2.2021).
Computerkreativität 5 Statt z. B. auch die Rolle der Zufälligkeit als Störungsgeschehen kreativen Schaf fens jenseits ihrer kontrollierenden Beherrschung ernst zu nehmen. 6 Michael Noll, The Digital Computer as a Creative Medium, in: IEEE Spectrum Vol. 4, No. 10, S. 89–95, hier: S. 92. 7 Jens Schröter, Artificial Intelligence and the Democratization of Art, In: Andreas Sudmann (Hrsg.), The Democratization of Artificial Intelligence. Net Politics in the Era of Learning Algorithms, Bielefeld 2019, S. 297–311, hier S. 303. DOI: https://doi. org/10.25969/mediarep/13546. 8 Ebd. S. 304, meine Herv. 9 James Vincent, How three French students used borrowed code to put the first AI portrait in Christie's, The Verge, Oct 23, 2018, abrufbar unter: https://www.theverge. com/2018/10/23/18013190/ai-art-portrait-auction-christies-belamy-obviousrobbie-barrat-gans (1.2.2021), siehe auch Schröter, Artificial Intelligence and the Democratization of Art. 10 Zit. n. Ian Bogost, The Al-Art Gold Rush Is Here. An artificial intelligence ›artist‹ got a solo show at a Chelsea gallery. Will it reinvent art or destroy it?, in: The Atlantic March 3 (2019), abrufbar unter: https://www.theatlantic.com/technology/archive/2019/03/aicreated-art-invades-chelsea-gallery-scene/584134/ (1.2.2021). 11 Ebd. 12 Bernd Graf f, »Spinne ich, wenn ich denke, dass sie ausschließlich meine Arbeit genutzt haben?«, Süddeutsche Zeitung, 2. Januar 2019, online abrufbar unter: https://www. sueddeutsche.de/kultur/kuenstliche-intelligenz-kunst-urheberrecht-1.4269906 (2.1.2021). 13 Zum Zusammenhang von Medien und KI siehe: Christoph Ernst, Irina Kaldrack, Jens Schröter und Andreas Sudmann, Künstliche Intelligenzen. Einleitung in den Schwerpunkt, in: Zeitschrif t für Medienwissenschaf t. Hef t 21: Künstliche Intelligenzen, Jg. 11 Nr. 2 (2019), S. 10–19. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/12616. 14 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Bernhard Dotzler in diesem Band. 15 Rasmus Peters, Das Künstliche und die Kunst, in Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 4. Januar 2021, Nr. 2, S. 11. 16 Bereits Ende der 1980er bemerkte Bernhard Dotzler, die meisten Hochrechnungen der KI seien schon bei Turing zu haben. Siehe: Bernhard Dotzler, Know/Ledge: Versuch über die Verortung der Künstlichen Intelligenz, in: MaschinenMenschen. Katalog zur Ausstellung des Neuen Berliner Kunstvereins, 17.–23.07., Berlin 1989, S. 127–132. 17 Zit. n. Donald Michie, Formation and Execution of Plans by Machine, in: Nicholas V. Findler und Bernard Meltzer (Hg.), Artificial Intelligence and Heuristic Programming, New York 1971, S. 101–124; S. 101. 18 Ein in dieser Hinsicht besonderer Fall ist der Film The Stepford Wives (1975). Zwar sind die durch Maschinen ersetzten Frauen optisch mit ihrem alten menschlichen Ich identisch, doch besteht die Motivation ihrer Ersetzung gerade darin, dass sie sich eben grundlegend anders verhalten sollen und zwar so, wie es den Phantasmen ihrer Männer entspricht. 19 Alan M. Turing, Computing machinery and intelligence, Mind 59 (1950), S. 433–460. https://doi.org/10.1093/mind/LIX.236.433. 20 Margaret Boden, The Creative Mind: Myths and Mechanisms, London, 2. Aufl. 2004, S. 1. 21 Ebd., S. 4.
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Andreas Sudmann 22 Ebd., S. 3. 23 Karl Sims, Artificial Evolution for Computer Graphics, Computer Graphics, Vol 25 Number 4 (1991), S 319–28; Stephen Todd und William Latham, Evolutionary Art and Computers, London 1992. Siehe auch: Peter J. Bentley, Evolutionary Design by Computers, London 1999. 24 Matteo Pasquinelli, Machines that Morph Logic: Neural Networks and the Distorted Automation of Intelligence as Statistical Inference, in: Glass Bead Journal, Site 1, Logic Gate: The Politics of the Artifactual Mind (2017), abrufbar unter: https://www.glassbead.org/article/machines-that-morph-logic/?lang=enview (1.2.2021). 25 Ebd. 26 Dieter Mersch, Kreativität und Künstliche Intelligenz. Einige Bemerkungen zu einer Kritik algorithmischer Rationalität, in: Zeitschrif t für Medienwissenschaf t Hef t 21: Künstliche Intelligenzen, Jg. 11 Nr. 2 (2019), S. 65–74. Hier S. 73. DOI: https://doi. org/10.25969/mediarep/12634. Dennoch gibt es eben Beispiele, wo Informatiker äußerst reduktionistische Modelle von Kreativität zugrundelegen, so etwa: Pat Langley, Herbert A. Simon, Gary L. Bradshaw und Jan M. Zytkow, Scientific Discovery: Computational Explorations of the Creative Processes, Cambridge, MA 1987. 27 Ebd. 28 Minsky, Why People Think Computers Can't. 29 Andreas Sudmann, Wenn die Maschinen mit der Sprache spielen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 256. v. 2.11.2016, N2; Andreas Sudmann: Auch Maschinen können intuitives Wissen sammeln, in: Neue Zürcher Zeitung, Online-Ausgabe vom 27.10.2017. Abrufbar unter: https://www.nzz.ch/digital/das-intuitive-wissen-dermaschinen-ld.1324264?reduced=true (1.2.2021). 30 Ahmed Elgammal et al., CAN: Creative Adversarial Networks, Generating ›Art‹ by Learning About Styles and Deviating from Style Norms. arXiv:1706.07068 [cs], 21. Juni 2017, abrufbar unter: http://arxiv.org/abs/1706.07068 (1.2.2021). 31 Die sprachliche Verwendung des Konzeptes der Muse durch den Künstler ist leider nicht ganz passend. Und zwar nicht deshalb, weil der Begrif f der Muse auf eine Maschine übertragen wird, sondern weil sich die Muse gerade dadurch auszeichnet, dass sie selbst nicht in die Produktion des Kunstwerks eingreif t. Und in diesem Fall ist die KI eben schlicht und ergreifend ein Analysewerkzeug. 32 Siehe auch Andreas Sudmann, KI-Fantasien. Kommt jetzt der Terminator mit Pinsel? CCB Magazin. 8. Februar 2019. Abrufbar unter: https://www.creative-city-berlin.de/de/ ccb-magazin/2019/2/8/andreas-sudmann-ki-forschung/ (1.2.2021).
(Mit)Fühlende Algorithmen? Emotionen und Künstliche Intelligenz Christiane Heibach
Die Geschichte der Künstlichen Intelligenz kann von vielen Perspektiven aus geschrieben werden, immer aber geht es um eine Relationierung zwischen Mensch und Maschine. Die Exponate der Ausstellung Götzendämmerung (wie auch die Texte in diesem Begleitbuch hier) zeigen, wie weit das Spektrum der Ausgestaltung dieser Beziehung ist. Zwei Extrempole rahmen dabei die Skala der Möglichkeiten: Maximale Menschenähnlichkeit steht auf der einen Seite, die undurchschaubare Eigenlogik der Algorithmen auf der anderen. Dabei muss das eine das andere nicht notwendigerweise ausschließen, denn eine Schnittstelle zum Menschen weist selbst die eigenständigste KI noch auf, auch wenn deren eigentliche Aktivitäten nicht mehr nachvollziehbar sind. Obwohl über die Eigenlogik der KI inzwischen viel diskutiert wird,1 fasziniert Ingenieur:innen, Programmierer:innen, Geisteswissenschaftler:innen und Künstler:innen gleichermaßen nach wie vor die Idee, den KIs in irgendeiner Weise Menschenähnlichkeit zu verleihen – sei es, dass sie menschliche Körper erhalten oder über menschliche Kommunikationsfähigkeiten im Sinne der natürlichen Sprache verfügen. Seit dem berühmten Turing-Test2 gilt zudem die Maxime, dass eine KI umso perfekter ist, je besser es ihr gelingt, den Menschen über ihre Künstlichkeit zu täuschen – und das tut sie, indem sie ihn und seine Fähigkeiten simuliert. Dies gilt für das intellektuelle Vermögen, also das ›Denken‹, genauso wie für die Kreativität.3 Hinzu kommt die Rolle der Gefühle: Muss eine perfekte KI nicht auch in der Lage sein, Emotionen zu erkennen und auszudrücken? Diese Frage wird insbesondere da virulent, wo die Maschinen auch äußerlich anthropomorph werden – also bei den menschenähnlichen Wesen, den Androiden. Noch bevölkern deren perfekteste Versionen unsere Phantasiewelten mehr als unsere Realitäten – aber das könnte sich in der Zukunft ändern. Entwicklungen wie die An-
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droidin Sophia oder das alter ego des japanischen Ingenieurs Hiroshi Ishiguro – ein Roboter, der ihm selber wie ein Zwilling aufs Haar gleicht – sind darauf angelegt, möglichst menschenähnlich zu sein. Sobald dieser Anthropomorphismus zum primären Ziel der Robotik erklärt wird, rückt nicht nur die Frage nach dem ontologischen Status solcher Schöpfungen zunehmend in den Fokus, sondern auch die grundsätzliche Frage, was nun eigentlich zum Menschsein inhärent dazugehört, sprich: Wann ist ein Androide ein Mensch?4 Ein Blick in die Geschichte der humanoiden künstlichen Wesen seit der Antike gibt eine recht eindeutige Antwort auf diese Frage: In den meisten Fällen haben unsere alter egos – zumindest zunächst – instrumentellen Status, da sie dem Menschen nach seinem Willen dienen sollen und ihn in der Gesamtheit seiner Fähigkeiten keinesfalls überf lügeln dürfen. Allenfalls in einzelnen Eigenschaften darf das artifizielle Wesen seinen Schöpfern überlegen sein: So ist der Golem aus der jüdischen Mythologie von ungeheurer physischer Stärke, genauso wie sein fiktionales Pendant, das Geschöpf Frankensteins. Die weiblichen Humanoiden dagegen verfügen häufig über ausgeprägte Manipulations- und Verführungskünste, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Qualitäten. E.T.A. Hoffmanns Olimpia blickt ihre Bewunderer mit leerem Blick an und haucht kaum mehr als ein vielseitig interpretierbares »Ach« – in ihrer motorisch-mechanischen Perfektion stellt sie gleichzeitig den Gipfelpunkt einer automatenverrückten Epoche dar. Ihre Blick- und Sprachlosigkeit bietet den perfekten Spiegel für Nathanaels Narzissmus und macht sie zu einer protofreud’schen Projektionsfigur: »Er saß neben Olimpia, ihre Hand in der seinigen und sprach hoch entf lammt und begeistert von seiner Liebe in Worten, die keiner verstand, weder er, noch Olimpia. Doch diese vielleicht; denn sie sah ihm unverrückt ins Auge und seufzte einmal übers andere: ›Ach – Ach – Ach!‹«5 Stellt Olimpia mit ihren »seltsam starr[en] und tot[en]«6 Augen einen idealen Spiegel für Nathanaels Selbstverliebtheit dar, so verführt die künstliche Maria aus Fritz Langs Metropolis ihre männliche Umwelt mit offensivem Sexappeal.7 Gemeinsam mit ihrem realen Vorbild bedient sie damit klassische Männerphantasien, die von einer Personalunion aus Heiliger und Hure träumen. Dieses Spektrum aus dienstbaren, manipulierbaren, aber eben auch manipulierenden, meist aber emotional und intellektuell dumpfen Wesen rückt angesichts der Digitalisierung zunehmend in den Hintergrund, denn die künstlichen Intelligenzen, die wir derzeit imaginieren und realisieren,
(Mit)Fühlende Algorithmen?
überf lügeln uns vor allem in dem Punkt, in dem ihre prädigitalen Ahnen dem Menschen zwangsläufig unterlegen waren: den intellektuellen Fähigkeiten. Die Unheimlichkeit, die die Geschichte künstlicher Menschen immer schon begleitet hat, bekommt dadurch eine neue Dynamik: Szenarien, die sich mit der Gefahr einer Machtübernahme von Wesen beschäftigen, deren Intelligenz diejenige der Menschen um ein Vielfaches übertrifft, sind mittlerweile schon fast Standard in der Science Fiction. Damit offenbart der Mensch eine durchaus ambivalente Lust an der Imagination des eigenen Untergangs,8 zumal sich unsere Abschaffung durch unsere Geschöpfe paradoxerweise als ultimativer Beweis unserer Genialität lesen lässt. Dass dabei die realen Entwicklungen in der Robotik unsere Erwartungen regelmäßig enttäuschen,9 kompensieren die fiktionalen Phantasien umso eifriger. Dort bekommen wir es mit intellektuellen Hochleistungsrechnern zu tun, die den Menschen an logischem Denkvermögen weit überf lügeln, denen es aber an Emotionalität und psychischer Komplexität fehlt. Gerade deshalb können sie die notwendige Rücksichts- und Mitleidlosigkeit entwickeln, um die menschliche Spezies gnadenlos zu eliminieren. Ob Blade Runner oder Ex Machina, The Matrix oder Her 10 – die Intelligenzen nehmen dabei meist menschenähnliche Formen an, auch wenn sie nur simuliert sind (The Matrix) oder gleich ganz ohne materiellen Körper auskommen, dafür aber mit samtenem Stimmtimbre so viel Empathieillusionen erzeugen (Samantha aus Her), wie es die eckige Mimik humanoider Roboter (noch) nicht zu leisten vermag. Von derlei humanoiden Wesen erwartet man zwangsläufig (auch wider besseres Wissen) nicht nur intelligentes Verhalten und menschenkompatible Kommunikationsformen, sondern auch entsprechende Emotionalität. Aber meist ist hier genau die Grenze, die die künstlichen Wesen von den Menschen trennt: Von den Tötungsmaschinen mit humanoidem Äußeren aus The Matrix ist nicht bekannt, dass sie je gelacht hätten; die Replikanten in Blade Runner sind dadurch als solche zu identifizieren, dass ihnen jede Empathie fehlt. Am schlimmsten trifft es den Androiden Data aus Star Trek – The Next Generation: Er weiß sein ganzes Seriendasein über, dass er menschliche Regungen wie Trauer, Fröhlichkeit und die damit einhergehenden unlogischen Verhaltensweisen nicht versteht. Das Bewusstsein, dass er deshalb auch nie durchdringen kann, was Menschsein eigentlich heißt, macht ihn immer wieder ratlos.11 Fragt man also nach den Insignien der Menschenähnlichkeit oder, anders ausgedrückt, nach Kriterien der Lebendigkeit,12 so wird man in erster
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Linie auf zwei Faktoren zurückgeworfen, die eng miteinander zusammenhängen: die Fähigkeit, Gefühle zu empfinden und diese auf verschiedene Weise zum Ausdruck zu bringen – sprachlich, über Mimik und Gestik und über paralinguistische Merkmale wie Stimmlage, Sprechgeschwindigkeit und Stimmfrequenz. Diese Verf lechtung von Empfindung und physischem Ausdrucksvermögen beschäftigt nicht nur die Wissenschaften in vielfältiger Weise, sondern sie ist von jeher eine conditio sine qua non für die Künste, die über die bestehende menschliche Palette der Gefühlskommunikation hinaus beständig nach neuen Ausdrucksformen für komplexe Botschaften suchen. Theater ist nicht denkbar ohne die physiologische Expressivität ihrer Darsteller; die bildende Kunst ist kaum vorstellbar ohne die universell lesbaren Gefühlsgesten, die Aby Warburg unter dem plastischen Begriff der Pathosformeln zusammengefasst hat; die Literatur lebt von der unendlichen Kombination, Re-Kombination und Kreation sprachlicher Verfugungen, um die Gefühlswelt ihrer Protagonist:innen verständlich zu machen; all dies gilt selbstredend auch für die audiovisuellen Künste vom Film bis zum Videoclip. So komplex die mit diesen wenigen Sätzen skizzierten Sachverhalte sind, so trivial ist letztlich ihre Grundaussage: Wer sich mit dem Menschen befasst, befasst sich mit einer inhärenten Verf lechtung von Denken, Fühlen und Empfinden (im Sinne körperlicher Selbstwahrnehmung). Seit dem frühen 20. Jahrhundert wird diese anthropologische Konstanz von der Phänomenologie mit dem Begriff der »Leiblichkeit« verbunden und subjektphilosophisch ausbuchstabiert: Der Leib bezeichnet die Art und Weise, in der der Mensch die Welt an und in sich selbst erfährt – genau diese Leiblichkeit ist auch entscheidend für die Gestaltung der Beziehung zur Außenwelt. Oder, anders formuliert: Das »Konzept des Leiblichen« setzt einen Punkt der menschlichen Weltempfindung, der vor der Trennung von Physis und Psyche liegt, und »beschreibt den unüberschreitbaren Modus menschlicher Erfahrung«, bei dem der Körper »Medium und Gegenstand der Erfahrung gleichzeitig ist, ohne ihn auf einen bloßen Funktionalismus reduzieren zu wollen.«13 Diese Einsicht erzeugt jedoch große erkenntnistheoretische Probleme, denn in den meisten Wissenschaften dominieren seit dem 19. Jahrhundert die ›berechenbaren‹ und messbaren Dimensionen des Menschen.14 Es ist hier nicht der Ort, eine solche Geschichte des (natur)wissenschaftlichen Menschenbildes zu rekapitulieren, ein Beispiel sei immerhin kurz erwähnt: Als der Neurowissenschaftler Antonio Damasio in seinem Werk
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mit dem sprechenden Titel Descartes' Irrtum die Verf lechtung von Körper, Gefühl und Denken mit naturwissenschaftlichen Methoden nachzuweisen versucht, erregt das in der gesamten Wissenschaftswelt großes Aufsehen.15 Warum? Weil jahrhundertelang die von René Descartes mit dem pointierten Satz »Ich denke, also bin ich« untermauerte strikte Trennung von Körper und Geist das Menschenbild nicht nur der Philosophie, sondern auch der Naturwissenschaften bestimmt hatte. Und auch wenn die Phänomenologie diesen Dualismus schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Zweifel zog, so schien doch eine Beweisführung mit naturwissenschaftlichen Methoden im Erscheinungsjahr von Descartes’ Irrtum 1994 immer noch das Zeug zu einer Revolution im Denken zu haben. Rosalind Picard, die Pionierin des »affective computing«, über das noch zu sprechen sein wird, schreibt rückblickend auf das Jahr 1995, in dem sie begann, sich mit der Rolle von Emotionen für die Computerentwicklung auseinanderzusetzen: »Today we know emotion is involved in rational decisionmaking and action selection, and in order to behave rationally in real life you need to have a properly functioning emotion system. But at that time, this was not even on the radar. Emotion was irrational and, if you were smart, you didn’t want to have anything to do with it.«16
Die Emotionen, die Intelligenz und die Wissenschaft In der Tat: Emotionen spielten nicht nur in Bezug auf die Entwicklung von Computern, sondern generell in den Natur- und Sozialwissenschaften jahrzehntelang keine Rolle – nur »Grenzwissenschaften«, denen aus der Sicht der Naturwissenschaften ohnehin die Präzision fehlte, wie die Psychologie und Psychotherapie/Psychoanalyse und die Geisteswissenschaften, die sich u. a. mit ästhetischen Ausdrucksformen beschäftigen, leisteten sich den Luxus, sich mit diesem scheinbar subjektiven, oder, um mit Picard zu sprechen, »irrationalen« Feld auseinanderzusetzen. Das Problem dabei war vor allem, dass Emotionen sich nicht dem Paradigma des Messbaren zu unterwerfen schienen – und damit galt »›if you can’t measure it you can’t manage it.‹«17 Dass dies so einfach dann doch nicht abzutun war und ist, zeigen Ansätze, die heute in der Informatik unter ›Mustererkennung‹ zusammengefasst werden könnten und in denen es um nichts weniger als um die Frage nach der Universalität von emotionalen Ausdrucksformen geht – ein Thema, das aus der vordigitalen Zeit bis in die Gegenwart hineinreicht: So prägt der Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler avant la lettre, Aby M. Warburg,
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1906 den bereits erwähnten Begriff der »Pathosformel«, mit dessen Hilfe er Prinzipen der Emotionendarstellung über charakteristische Körperhaltungen, Gebärden und Mimik in der bildenden Kunst der Renaissance herausarbeitete und damit nichts weniger als die universelle Gültigkeit affektiver Körpersprache behauptete. Pathosformeln beziehen »ihre Wirkmächtigkeit aus einer Art von inhärenter Lebendigkeit.«18 Allerdings geht Warburg dabei weit über das reine Prinzip der Mustererkennung hinaus, denn Pathosformeln sind als Ausdruckselemente zwar universell, in ihrer situativen Interpretation aber variabel. Was heißt das genau? Für Warburg stellen die Pathosformeln nicht so sehr bestimmte Gefühle dar, sondern vielmehr Intensitäten der Empfindungen, so dass ein und dieselbe Pathosformel als höchster Schmerz oder höchste Lust gelesen werden kann – immer aber als Superlativ.19 »Evil demoness or avenger angel, fighter or dancer, both are developed with the same pathos formula.«20 Als »energetische Inversion« wird die Intensität des Affekts transformiert, da durch den »Akt der besonnenen künstlerischen Anverwandlung, in dem der Künstler die Energie ›ergreift‹, […] ein Umwandlungsprozess statt[findet].«21 Auf diese Weise können Repräsentationen archetypischer Affekte (z. B. ekstatisch tanzende Mänaden) unterschiedlich kontextualisiert werden.22 Diese Notwendigkeit der interpretativen, kontextbezogenen Einordnung wiederum lässt Mustererkennungsalgorithmen, die nur nach optischen Ähnlichkeitsparametern funktionieren und dabei Intensitätsgrade der Expressionen, nicht aber kontextuelle Einordnungen vornehmen, in zweifelhaftem Licht erscheinen – darauf wird gleich noch einzugehen sein. Dass Warburgs Pathosformeln die Tradition des ästhetisch motivierten Nachdenkens über expressive Ausdrucksbewegungen vervollständigen, ist eine Seite der Geschichte – die andere ist medienästhetisch, denn diese Ausdruckstheorien sind ab Mitte des 19. Jahrhunderts eng mit der Geschichte technischer Bilderzeugung verbunden: zunächst mit der Photographie, dann mit dem Film und heute mit den digitalen Technologien.23 Damit sind die Forschungen im Bereich des affective computing eine fast traditionell zu nennende Fortsetzung der ästhetischen Theorien zur leiblichen Expressivität, denn es geht dabei vor allem um zweierlei: 1. Affekte beim Menschen zu beobachten (meist über optische Sensoren oder Spracherkennung) und zur weiteren Interpretation vorhandenen Mustern zuzuordnen; 2. diese ›Interpretationen‹ dann in angemessene Ausdrucksformen zu transformieren, beispielsweise durch eine Spiegelung
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und/oder Aneignung der menschlichen Ausdrucksmittel (Mimik bei Androiden, paralinguistische Merkmale bei Sprachprogrammen etc.).24 Diese relativ nüchterne Prozessbeschreibung kann sehr unterschiedliche und vielfältige Umsetzungen umfassen, wobei es jedoch, wie Andrew McStay betont, nicht darum geht, dass die technischen Systeme Gefühle erleben sollen. »Instead«, schreibt er, »I am interested in the idea that the capacity to sense, classify behaviour and respond appropriately offers the appearence of understanding.« Diese wiederum, so McStay, impliziert »a form of empathy«,25 also ein gewisses grundlegendes Verständnis darüber, »how poeple live together by interpreting each other.«26 Dabei fällt ein weiterer Punkt auf, der hier zwar nicht weiter verfolgt, aber doch erwähnt werden soll: Als die Androidin Sophia 2017 erstmals der Welt vorgestellt wird, betont sie in ihrer Selbstpräsentation vor allem ihre Fähigkeit, mit ihrer Mimik Emotionen auszudrücken. Dies führt den CBNW-Interviewer Andrew Sorkin zur Frage, warum ein expressives Gesicht so wichtig für sie sei, worauf Sophia antwortet: »I want to live and work with humans. So I need to express emotions to understand humans and build trust with people.” 27 Damit stellt sich ihr und ihren Entwickler:innen – ganz im Sinne McStays – offensichtlich nicht die Frage nach der wirklichen Empfindung, also der »Leibwerdung« der humanoiden Roboter, sondern primär nach der Simulation von Ausdrucksformen, die Empfindungen kommunizieren – es geht demnach, analog zum Prinzip der Pathosformel, um optische Mustererkennung und -interpretation sowie deren Übersetzung in unterschiedliche Formen des Expressiven.28 Das affective computing basiert somit in erster Linie auf dem visuellen Paradigma der Emotionenerkennung und -expressivität und reduziert damit die Palette menschlicher Ausdrucksformen erheblich. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Sophia in ihrer Stimmgestaltung zwar nicht mehr die klassische »Roboterstimme« mit einer einzigen Tonlage aufweist, dass aber auf ihre stimmlichen Varianzen insgesamt weniger Wert gelegt wurde als auf ihre Mimik. Die Optik dominiert offensichtlich – wie in vielen anderen Feldern – auch hier die Entwicklung von affective computing-Technologien.29
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Beobachtung – Zuordnung – Transformation: Emotionen und KI in der Ausstellung »Götzendämmerung« Diese Konzentration auf visuell wahrnehmbare emotionale Expressivität spiegelt sich auch in drei Werken der Ausstellung, die sich auf je unterschiedliche Weise mit der Frage nach Emotion und Expressivität auseinandersetzen. Da wäre zunächst der Mimimat von Nico Kiese und Bernhard Slawik (Abb. 2, Seite 21), der die Frage nach der kommunikativen Wirkung emotionaler Ausdrucksformen aufgreift: Ein Geldspielautomat der 1980er Jahre wird so modifiziert, dass statt der bunt blinkenden Anzeigen animierte Portraitaufnahmen fremder Menschen nach dem Zufallsprinzip erscheinen. Mittels trial and error müssen die Rezipient:innen zunächst herausfinden, ob – und wenn ja, wie – sie zu den gezeigten Personen in Kontakt treten können. Mangels Optionen text- oder stimmbasierter sprachlicher Kommunikation bleiben Gestik und Mimik. So zeigt sich schließlich (insinuiert auch durch den Titel des Kunstwerks), dass die eigene Mimik von den Portraitköpfen übernommen und gespiegelt wird. Entsteht dadurch eine nonverbal fundierte kommunikative Beziehung? Nein, soweit kommt es nicht. Da die eigene Mimik stark überzogen werden muss, um von den Sensoren erkannt zu werden, und da die Portraitköpfe sich in der Spiegelung auch unnatürlich verzerren, entsteht weniger eine Kommunikations- oder gar Empathierelation (bzw. -illusion), vielmehr schleicht sich ein gewisses Unbehagen ein bei der Erkenntnis, dass sich hier virtuelle Portraits von Menschen wie Menschen verhalten, ohne dass eine entsprechende kommunikative Situation vorhanden wäre. Doch genau dieser bedarf es, um einen solchen Spiegelungseffekt zu kontextualisieren, zumal wenn man berücksichtigt, dass sich ohne eine konkrete Situation keine empathische Beziehung herstellen lässt.30 Darüber hinaus sind weitere Interpretationsdimensionen vorstellbar: So verweist der Mimimat durchaus auch auf den anthropozentrischen Narzissmus, der dem Impuls der Erschaffung künstlicher menschenähnlicher Wesen zugrunde liegt. Wir sehen hier keine Personen, sondern kontextlos und zufällig auftauchende Gesichter, die wie die humanoiden Schöpfungen zu Zerrbildern unserer selbst werden, aber zu keiner weiteren Leistung fähig sind, als unsere Expressivität nach dem Prinzip monkey see, monkey do31 zu kopieren. Und dies führt zu einer dritten Dimension, nämlich der Frage nach der Abbildfunktion der Künste. Jahrhundertelang galt für die Malerei der ästhetische Grundsatz der mimesis, der Verpf lichtung zur möglichst naturgetreu-
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en Abbildung, von der sie schließlich durch die Erfindung der Photographie sukzessive befreit wurde.32 So kann man den Mimimat als grundsätzliche Infragestellung der Abbildfunktion digitaler Bilder interpretieren: Weil die Sensoren nicht in der Lage sind, feine Veränderungen in den Gesichtszügen zu erkennen, müssen wir unsere Gesichter zu regelrechten Grimassen verzerren, die mit Emotionalität letztlich kaum mehr etwas zu tun haben. Auf dieser Ebene wird die sensorische Schnittstelle als grobschlächtiger »Pinsel« entlarvt und zieht damit nicht nur gegenüber der Malerei, sondern auch gegenüber anderen technischen (Ab)Bildgeneratoren, wie der Photographie (einst von einem ihrer Pioniere als »pencil of nature«33 bezeichnet), deutlich den kürzeren. Die Pathosformeln im Sinne standardisierter mimischer Ausdrucksformen werden dadurch zudem einer ironischen Überdehnung unterzogen. Einen ähnlich kritisch-ironischen Impuls kann man auch in der Life ActVersion von Tamiko Thiels Lend Me Your Face-Installation (Abb. 7 und 8, Seite 28f.) erkennen. Thiel modifiziert Portraits von Ausstellungsbesucher:innen, indem sie sie in Bewegungsparameter prominenter Politiker:innen bzw. Persönlichkeiten einpasst und ihnen deren Stimme verleiht. Berühmt gewordene Sätze wie Barack Obamas »yes, we can« oder Greta Thunbergs »how dare you« werden mit der entsprechenden Mimik ihrer Urheber:innen den Portraits quasi parasitär »eingeimpft«. Grundlage für diese Transformation ist ein Algorithmus, der Bewegungsmuster von Parametern der Objekterkennung (in diesem Fall von Gesichtern) trennt. Auf diese Weise können Bewegungen eines Objekts auf jedes andere Objekt der gleichen Klasse übertragen werden.34 So entsteht ein eigentlich disparater Chor von die jeweilige Leitfigur imitierenden (unfreiwilligen) Adepten, der – politisch gelesen – die Emotionalität der Aussagen mimisch und mit den Stimmen ihrer Schöpfer:innen unendlich wiederholt und so eine politische Gefolgschaft gemäß der »Gesetze der Nachahmung«35 im ganz wörtlichen monkey see, monkey do-Sinne simuliert. Nicht umsonst wird der Algorithmus als »deep fake« bezeichnet und verweist damit, anders als der Mimimat, auf das Fälschungspotential digitaler Bilder, denen Emotionen »eingeschrieben« werden, die die eigentlichen Personen gar nicht empfinden mögen. Dies zeitigt allerdings gleichzeitig einen paradoxen Effekt. Erkennt man nämlich diese Nachahmung als Fake, dann wird dem Diktum von der kollektiven, affektiv motivierten Nachahmung subversiv der Boden entzogen: Politische Bewegungen, so könnte man weiterdenken, sind im Zeitalter der
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digitalen Manipulationen jederzeit zu simulieren und damit genauso Fake wie die Ausdrucksformen, die sie hervorbringen und die sich viral verbreiten, indem sie sich fremde ›Hüllen‹ parasitär aneignen – ob sie deswegen weniger gefährlich und weniger manipulativ sind, bleibt dahingestellt. Zurück zur ästhetischen Dimension der Formelhaftigkeit mimetischer Ausdrucksweise führt uns die Installation artifact von Hakan Gündüz (Abb. 25 und 26, Seite 51). Zwischen zwei Monitoren stehend wenden sich die Besucher:innen einem der beiden zu und liefern ihm mit ihrer Mimik Stoff für die Generierung von Farben und Formen. Erneut scheinen Beobachtung, Zuordnung und Transformation für die hier beteiligten generativen neuronalen Netzwerke die entscheidenden Prozesse zu sein: Auf der ersten Ebene werden Gesicht und Gesichtsausdruck der Betrachter:innen ›erkannt‹ und einer von vier Gefühlskategorien zugeordnet. Auf der nächsten Ebene übersetzt das neuronale Netzwerk SNcGAN36 seine ›Wahrnehmungen‹ in Farben und Formen mit ölmalerischer Optik. Und schließlich interpretiert ein weiteres neuronales Netzwerk dieses entstehende ›Gemälde‹ ebenfalls nach vorgegebenen emotionalen Kategorien und leitet seine eigene ästhetische Interpretation daraus ab; es beobachtet demnach den Output des ersten Netzwerks. Diese artifact zugrundeliegende Prozesstrias von Beobachtung, Zuordnung und Übersetzung bzw. Transformation läuft weitgehend unabhängig von den menschlichen Beobachter:innen ab; es wird für diese mit zunehmender Übersetzungskomplexität demnach auch fast unmöglich, selber Interpretationen vorzunehmen. Lassen sich auf der ersten ›Leinwand‹ noch Relikte des Gesichts und der Mimik erkennen, so verschwindet dieser Kontext auf der zweiten ›Leinwand‹ nahezu völlig. Die neuronalen Netzwerke ergehen sich also in ihren eigenen Interpretationen, die allerdings – nimmt man die malerische Umsetzung ernst – in recht konventionelle abstrakte Kunst mündet, deren Parameter entweder formelhaft (ein finsterer Gesichtsausdruck scheint primär dunkle Farben und wilde Wirbel zu erzeugen) oder gar nicht mehr nachvollziehbar sind. Die dem Projekt zugrundeliegende Frage, ob die neuronalen Netzwerke ein empathisches Feedback auf die (von Mensch und/oder Maschine) kommunizierten Emotionen geben können, liegt letztlich im Auge der Betrachter:innen. Versteht man Empathie aber als Kommunikationsphänomen, wirkt die Expressivität der ›Gemälde‹ zu abstrakt, als dass sie noch einen direkten Bezug zu den Ausgangsdaten hätte. Zudem gilt auch hier: Die ge-
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zeigten Emotionen sind einzig mit dem Ziel erzeugt, Effekte auszulösen – subtile Stimmungslagen, die sich aus einer Vielzahl von (nicht nur visuell wahrnehmbaren) Faktoren ablesen lassen, bleiben ohnehin unter der Wahrnehmungsschwelle der Sensoren.
Fazit Emotion und Empathie zu simulieren, gelingt künstlichen Wesen bisher nur sehr begrenzt. Das heißt nicht, dass Roboter nicht gewisse Emotionen bei den Betrachter:innen auslösen können – so wirkt beispielsweise die Unbeholfenheit der Zeichenroboter von Patrick Tresset mit ihren eckigen Bewegungen und der sichtbar großen Anstrengung beim Zeichnen (human study #2; Abb. 1, Seite 19) geradezu rührend – man möchte ihnen helfen und die Hand führen, wie man es bei Kindern täte, damit die Bewegungen leichter werden. Emotionen zu simulieren, wie es Sophia mit ihrer künstlichen Mimik tut, misslingt schlichtweg und führt zu mehr Irritationen als zur Annäherung. Es scheint nicht sinnvoll zu sein, künstlichen Wesen – ob menschenähnlich oder nicht – Emotionen beibringen zu wollen. Selbst die Zuordnung von Emotionen über Mustererkennung scheint zu kurz zu greifen, setzt man voraus, dass Gefühle nicht nur über visuelle oder verbale Signale kommuniziert werden. Dass es einer umfassenden, mindestens situativen Einordnung der Gefühlsäußerungen bedarf, um sie richtig einschätzen zu können, ist eine der vielen Lehren, die wir aus der analogen Welt ziehen können – aus der Kunstgeschichte mit Aby Warburg genauso wie aus alltäglichen Kommunikationssituationen, mit denen sich die kommunikative Sozialforschung und die Kognitionswissenschaften auf verschiedenen Ebenen beschäftigen. Dass die ästhetische Produktion des Menschen genau diese Komplexität benötigt, macht sie letztlich den Versuchen, künstliche Intelligenzen auf sie anzusetzen, derzeit zumindest noch überlegen. Das gesamtleibliche Empfinden lässt den Menschen Situationen dort, wo die Maschinen letztlich nur zuordnen können, zwangsläufig komplexer in seine Erlebenswelt einordnen und interpretieren – auch dieser zutiefst anthroplogische Akt scheint nicht simulierbar. Vorstellbar aber ist, dass künstliche Intelligenzen ein ganz eigenes Selbstbewusstsein entwickeln könnten, das auf der Erkenntnis ihrer Eigenlogik beruht und damit auch ihrer spezifischen Existenzbedingungen, die eine nicht-menschliche Emotionalität entstehen lässt, genauso wie eine
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nicht-menschliche Intelligenz und eine nicht-menschliche Kreativität. Ob wir diese dann als solche erkennen werden, bleibt dahingestellt – eine echte Empathiebeziehung zwischen Mensch und Maschine könnte damit allerdings in unerreichbare Ferne rücken. 1 Vgl. dazu exemplarisch den Artikel von Bernhard Dotzler: Wer KI mit dem Menschen vergleicht, missversteht sie, in: SZ, 25.6.2019. 2 Vgl. hierzu die Ausführungen in den Aufsätzen von Bernhard Dotzler und Andreas Sudmann in diesem Band. 3 Zur Kreativität vgl. den Beitrag von Angela Krewani in diesem Band. 4 Sophia beispielsweise, die 2017 das Licht der Welt erblickte und mit spektakulären Interviews bis hin zu einem Date mit dem Schauspieler Will Smith Aufsehen erregte, bekam als erster Roboter eine Staatsbürgerschaf t zugesprochen, und zwar die von Saudi-Arabien. Vgl. Roboter »Sophia« bekommt saudi-arabischen Pass, in: Die Welt, 27.10.2017, https://www.welt.de/vermischtes/article170106321/Roboter-Sophiabekommt-saudi-arabischen-Pass.html (13.3.2021). Zu Hiroshi Ishiguros Versuch, eine perfekte Kopie von sich selbst herzustellen vgl. dessen Webseite: http://www. geminoid.jp/en/index.html (13.3.2021). 5 E.T.A. Hof fmann, Der Sandmann, hrsg. v. Rudolf Drux, Stuttgart 2017, S. 32. 6 Ebd., S. 28. 7 Metropolis (D 1923), Regie: Fritz Lang, Arthaus (DVD 2009). Vgl. zur Geschichte künstlicher Wesen stellvertretend für zahlreiche Veröf fentlichungen zu diesem Thema Bernhard J. Dotzler/Peter Gendolla/Jörgen Schäfer, Maschinen-Menschen. Eine Bibliographie, Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1992; Bianca Westermann, Anthropomorphe Maschinen. Grenzgänge zwischen Biologie und Technik seit dem 18. Jahrhundert, Paderborn 2012. 8 Das gilt im Übrigen nicht nur für KI-Szenarien, sondern ganz generell für die Tendenz, Zukunf t apokalyptisch zu denken, vgl. Eva Horn, Zukunf t als Katastrophe, Frankfurt am Main 2014. 9 In der Realität zeigt sich, dass humanoide Roboter derzeit noch aus reichlich trivialen Gründen nicht mit der Komplexität und Flexibilität der Menschen mithalten können und weit davon entfernt sind, den Menschen zu übertrumpfen und ihm die Handlungsmacht zu entziehen: »Eine Roboterrebellion würde derzeit wohl zunächst an Türschwellen, schlechten Funkverbindungen, Treppenstufen, Akkulaufzeiten und der generell geringen Adaptivität heutiger Roboter an typisch menschliche Umgebungen und Praktiken scheitern.« Andreas Bischof, Soziale Maschinen bauen. Epistemische Praktiken der Sozialrobotik, Bielefeld 2017, S. 16. 10 Blade Runner (USA 1982), Ridley Scott (DVD Warner Bros. Entertainment 2007); Ex Machina (GB 2015), Alex Garland (DVD Universal Pictures 2015); The Matrix (USA 1999), The Washowskis (DVD Warner Home Video 2004); Her (USA 2013), Spike Jonze (Warner Bros. 2014). 11 Star Trek: The Next Generation (USA 1987–1994) (DVD Paramount 2007). 12 Vgl. Natascha Adamowsky/Anna Maria Tekampe, Einleitung, in: dies. (Hrsg.).: Automaten, Androiden, Avatare. Diskurse zu Technik und Lebendigkeit, Wien/Berlin 2020, S. 7–20, hier: S. 9/10.
(Mit)Fühlende Algorithmen? 13 Emmanuel Alloa/Thomas Bedorf/Christian Grüny/Tobias Nikolaus Klass, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Leiblichkeit, Tübingen 2012, S. 1–4, hier: S. 2. Auf den Band sei auch für einen Überblick über die teils sehr verschiedenen Leiblichkeitskonzepte innerhalb der Phänomenologie verwiesen. Ebenso verwiesen sei auf die für die Komplexität der Verflechtungen sehr erhellende Studie des Mediziners, Philosophen und Psychiaters Hubertus Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes, Salzburg 1968. Tellenbach zieht gleichermaßen Fälle aus der psychotherapeutischen Praxis wie auch Beispiele aus der fiktionalen Literatur heran und zeigt, wie die Elementarempfindungen Geruch und Geschmack in der frühkindlichen Entwicklung grundlegende Weichen für die Wahrnehmung und Kontaktaufnahme zur Außenwelt stellen. An Geruchs- und Geschmacksempfindungen lässt sich auch die inhärente Verbindung von Kognition (z. B. die unmittelbare Evokation von Erinnerungen durch Gerüche und Geschmacksempfindungen), physischem Befinden (Ekel oder Genuss) und Gefühlslage (Glücksempfinden oder Abwehr), die jede:r aus eigener Erfahrung kennen mag, sehr einleuchtend zeigen. 14 Exemplarisch sei hierfür auf die Studie von Michael Hagner, Homo Cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt am Main 2008, verwiesen. Dort wird die Transformation des Gehirns vom Empfindungsorgan und Sitz der Seele zum Rechenorgan und Sitz der Ratio nachgezeichnet. Für das Thema Intelligenz sei verweisen auf Stephen Jay Gould, Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt am Main 1991, der die teilweise grausamen Irrtümer einer an Messbarkeit und Quantifizierung orientierten Intelligenzforschung aufzeigt. 15 Damasio unterscheidet dabei primäre Gefühle von sekundären: Primäre Gefühle sind angeborene instinktive Reaktionen auf die Umwelt, wie z. B. Angst vor Bedrohungen, ohne dass diese kognitiv erfasst worden seien. Sekundäre Gefühle, die er mit dem Begrif f der Emotion von dem der Gefühle unterscheidet, sind durch Sozialisation erlernt, wie z. B. Trauer. Beide sind – das ist für Damasio als Neurobiologen der entscheidende Punkt – zum einen untrennbar mit physischen Vorgängen verbunden, zum anderen bilden sie die Basis auch für rationale Entscheidungen. Scharniere zwischen Gefühl/Emotion und Geist sind für ihn die sog. »somatischen Marker«, die er im präfrontalen Cortex verortet und die »Speicherorte« für bereits gemachte, mit Emotionen verbundene Erfahrungen sind, die bei neu zu tref fenden Entscheidungen abgerufen werden. Vgl. Antonio Damasio, Descartes‘ Irrtum, Berlin 62010, S. 227f f. 16 Rosalind Picard, Af fective Computing. From Laughter to IEEE, in: IEEE Transactions on Af fective Computing, Vol. 1, No. 1, January–June 2010, S. 11–17, hier: S. 12. 17 Zit. n. ebd., S. 11. 18 Perdita Rösch, Aby Warburg, Paderborn 2010, S. 48. 19 Vgl. Philipp Wünschner/Kerstin Schankweiler. Pathos Formula, in: Jan Slaby/Dirk van Scheve (Hrsg.), Af fective Societies. Key concepts, London 2019, S. 220–240, hier: S. 220. 20 Ebd., S. 225. 21 Rösch, Aby Warburg, S. 51. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. zu diesem Zusammenhang Petra Löffler, Af fektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik, Bielefeld 2004, S. 12f f. 24 Die Affective Computing-Gruppe des MIT entwickelt z. B. mit ELSA einen Chatbot (also einen Sprachassistenten), der als »empathetic companion« u. a. mit Emoticons auf Fragen der User antwortet, vgl. https://www.media.mit.edu/projects/elsa/overview/ (13.3.2021).
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Christiane Heibach 25 Andrew McStay, Emotional AI. The Rise of Empathic Media, London u. a. 2018, S. 3, Hervorhebung im Text. 26 Ebd., S. 27. 27 Vgl. zu Sophia das Interview auf https://youtu.be/S5t6K9iwcdw (13.3.2021), 00:01:18–00:01:27. 28 Wie schwierig das ist, zeigt erneut der Blick auf Sophia, deren Mimik zwar, gemessen an anderen Robotern, menschenähnlich ist, aber eben nur ähnlich – damit erzeugt sie eher eine Wahrnehmungsdistanz, die als »uncanny valley« bezeichnet wird: Wenn Roboter zu menschenähnlich sind, dann können sie unheimlich wirken – eben weil man sie als künstlich wahrnimmt. Im Date mit Will Smith scheitert Sophia zudem sehr unspektakulär an den Subtexten, die eine flirtende Unterhaltung mit sich bringt: Sie versteht schlichtweg keine Anzüglichkeiten und Anspielungen. Vgl. https://www. youtube.com/watch?v=Ml9v3wHLuWI (13.3.2021). 29 In der Fiktion finden wir ein sehr prominentes Gegenbeispiel: Spike Jonzes schon erwähnter Film Her (USA 2013) imaginiert eine Sof tware, die sich rein stimmlich materialisiert – und dies mit einer Gefühlsintensität und Empathievermittlung, von der Sophia nur träumen kann (wenn sie denn träumen könnte). 30 Darauf verweist Fritz Breithaupt in seinem Buch »Kulturen der Empathie« (Frankfurt am Main 2009). Ausgehend von Erkenntnissen der Kognitionswissenschaf t argumentiert er, dass jede ernsthaf te Empathiebezeugung eines konkreten Narrativs bedarf, also einer Situation, auf die sich das Mitgefühl eines Gesprächspartners bezieht. Diese Empathie kann wiederum durch verschiedene Ausdrucksformen kommuniziert werden – eine davon ist die (of t unbewusste) Spiegelung von Körperhaltung und Mimik. 31 Vgl. die Selbstbeschreibung des Projekts auf Facebook im Rahmen einer anderen Ausstellung: https://www.facebook.com/zimmer.frei.mariandl/photos/a.302414656441 669/3954677664548665/?type=3 (13.3.2021). 32 Man verzeihe mir diese unterkomplexe Definition der mimesis, eines Konzepts, das Aristoteles in seiner Poetik entwirf t, dessen Interpretation so vielfältig ist, dass sie Bände philosophischer und literaturwissenschaf tlicher Erörterungen hervorgebracht hat. 33 William Henry Fox Talbot, The Pencil of Nature, Chicago/London 2011 (Faksimileausgabe des Originals von 1844). 34 Vgl. Aliaksandr Siarohin/Stéphane Lathuilière/Sergey Tulyakov/Elisa Ricci/Nicu Sebe, First Order Motion Model for Image Animation, in: H. Wallach/H. Larochelle/A. Beygelzimer/F. Alché-Buc/E. Fox/R. Garnett (Hrsg.), Advances in Neural Information Processing Systems, Bd. 32 (2019). Online verfügbar unter https://proceedings.neurips. cc/paper/2019/file/31c0b36aef265d9221af80872ceb62f9-Paper.pdf (23.2.2021). 35 Die Gesetze der Nachahmung ist der Titel eines Werks des Soziologen Gabriel Tarde, das 1890 erschien und in dem Tarde die These vertritt, dass die Nachahmung das soziale Prinzip einer Gesellschaf t ist. Nur wenige sind innovative Ideengeber, während die Masse das imitiert, was ihnen vorgemacht wird – unnötig zu sagen, dass bei diesen Prozessen Emotionalität und Af fekt den Vorrang vor Rationalität und Reflexion haben. Vgl. Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt am Main 2009. 36 Das Akronym steht für »Spectral Norm + Conditional GAN«, entwickelt von Adeel Muf ti, Biagio Antonelli und Julius Monello, vgl. http://adeel.io/sncgan/ (1.3.2021).
Kunst und – Mensch? Oder: Vom Paralogismus des Turing-Tests Bernhard J. Dotzler Denn was diese Maschinen bieten, ist zuvörderst das Schauspiel des Denkens, und im Umgang mit ihnen frönen die Menschen lieber dem Schauspiel des Denkens als dem Denken selber. Jean Baudrillard
1. Das Verschwinden ›des Menschen‹ ist keine einfache Materie. Es hat längst stattgefunden. Zugleich ist es noch bei weitem nicht anerkannt. Weder feiern die Menschen die Freiheit, die es gewährt. Noch nehmen sie die Trauer auf sich, die allein es bewahrheiten – und so erst die Freiheit ermöglichen – würde.
2. Keine Diagnose ohne Anamnese. Darum ein Rückblick, wenn auch nur gerade einmal ein oder zwei Menschengenerationen weit. Da bereits hieß »der Tod des Künstlers keine einfache Materie«: ganz wie der »Tod Gottes«, der »Tod des Körpers«, der »Tod der Kunst« und sogar – obwohl Institutionen zählebiger als alles andere sind – der »Tod der Kunstakademie«. Das sind alles durchaus längere Geschichten: Man braucht ja nur an die Berliner Secession zu denken oder an Nietzsche oder an Freud... Aber in dieser Bündelung sah man die Furie des Verschwindens dann eben auf einmal durch den »Zusammenstoß von Kunst und computerisierten Systemen« am Werk.1 Für einen solchen Zusammenstoß waren bereits die Ausstellungen Cybernetic
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Serendipity: the computer and the arts (London 1968), Tendencije 4: Computers and Visual Research (Zagreb 1968/69) und Software – Information technology: its new meaning for art (New York 1970) legendär geworden. »Will the machine [...] cut out [...] the creative artist?«, ängstigte sich der Holographie-Erfinder Dennis Gabor schon 1960: »My answer is that I sincerely hope that machines will never replace the creative artist, but in good conscience I cannot say that they never could.«2 Wie heute gab es also schon ehemals diesen Furor. Ohne Quellennachweis könnte man meinen, hier eine Pressemeldung dieser Tage zu lesen: »In den letzten drei Jahren sind in der Bundesrepublik Deutschland Institute für Künstliche Intelligenz (KI) wie Pilze aus der Erde geschossen. Und aus dem Bundesministerium für Forschung und Technologie verlautet, daß die KI riesige Chancen im internationalen Wettbewerb eröffnet.«3 Wer mag, kann sich (und andere) also damit beruhigen, dass ›das alles‹, nämlich der aktuelle KI-Hype, ›nicht neu‹ ist. Die Sorge wäre dann eher, dass es, wie weiland, »auch heutzutage wieder einmal das Ziel allen Tuns ist, die Gegenwart so unversehrt wie möglich in die Zukunft zu retten und nur jene Veränderungen ächzend und stöhnend zu akzeptieren, die absolut unvermeidlich erscheinen«4; dass man also, was die Kunst betrifft, noch immer nicht auf hört, »leichtfertig zu fragen, ›was ist mit dem Zeichnen, der malerischen und bildhauerischen Darstellung nach der Natur?‹«5, und deshalb auch an den fortschrittlicheren Akademien zu fordern, »daß Studenten zunächst das Aktzeichnen zu lernen haben, bevor sie mit einem Computer arbeiten dürfen«6. Aber das Alles-schon-dagewesen ist nicht der Punkt. Vielmehr geht es darum, sich klarzumachen, welcher Mühe (im Sinne von studium) es bedarf, um überhaupt nur die Lage zu erkennen, von daraus zu ziehenden Schlüssen gar nicht zu reden.
3. Geraume Weile schon gehört denn zur Lage heute der Tatbestand von AIgenerated-Art. Ihm gegenüber besteht seitdem die schon von Les Immatériaux (Paris 1985) – einem weiteren der legendär gewordenen Ausstellungsereignisse – formulierte Herausforderung: »Es muß uns heute zu denken gelingen, was der Einsatz der Kunst ist, was in ihr auf dem Spiel steht, wo sie eigentlich ihren Platz hat, und was Kunst ist.«7
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Letzteres, »was Kunst ist«, soll hier – im Unterschied zu ihrem »Einsatz« – gar nicht so sehr kümmern. Jedenfalls nicht so, dass eine Definition ›der Kunst‹ Ausgangspunkt sein müsste oder Ergebnis sein könnte. Und wenn von ›dem Menschen‹ die Rede ist, zu dem die heutige Kunst in einem gewissen, sein Verschwinden besiegelndes Verhältnis steht, heischt auch das nur so viel definitorische Klarstellung, dass der Terminus sich nicht auf den biologischen Menschen, weder als Einzel- noch als Gattungswesen, bezieht. Dieser erschien im Holozän und verschwindet vermutlich im ironischerweise nach ihm benannten Anthropozän. Der Terminus bezieht sich vielmehr auf ›den Menschen‹ als die »junge Erfindung« einer historischen Wissensfigur, die explanans und explanandum in einem ist: »schwieriges Objekt und souveränes Subjekt jeder möglichen Erkenntnis«.8 Erst ab dem Moment und nur für den Zeitraum dieser Erfindung sind alle Bereiche geschichtlicher Entwicklung und geschichtlichen Wissens, also Geschichte überhaupt und somit auch die Kunst so auf den Menschen bezogen, dass sie, gleichermaßen frei und streng nach Schiller9, stets von ihm wie zu ihm reden. Vor diesem Hintergrund ist es entscheidend, gerade nicht einmal mehr nach ›Mensch und Kunst‹, sondern umgekehrt nach ›Kunst und Mensch (oder Maschine)‹ zu fragen. Aus der geläufigen Perspektive ergibt sich ja immer nur, dass die Menschen von jeher Medien und Artefakte erschufen, mittels derer sie »einen Ausschnitt ihres Weltverständnisses anderen Menschen übermitteln konnten«; gleichzeitig mit dem Homo sapiens entstand auch schon Kunst, und zwar eine »Eiszeitkunst«, die »wie mit einem Donnerschlag gleichsam aus dem kulturellen Dämmerlicht der Frühzeit hervorblitzt«.10 Die Inversion dagegen geht davon aus, dass ›es‹ Kunst ›gibt‹ und diese dadurch die Frage stellt, wer oder was eigentlich – ob produzierend, distribuierend oder rezipierend – ihr Gegenüber sein mag. Die Götter oder der Gott? Oder der Mensch? Oder nun eben auch KI?
4. Neben dem Hype – über 400.000 $ für eine KI-generierte Gemälde-Imitation (Edmond de Belamy, Obvious, 2018; Abb. 4 und 5, Seite 24)– gibt es freilich auch die Verweigerung: I will not reply handshake with AI (Elke Dreier, 2020; Abb. 3, Seite 23). Diese Arbeit hat, außer im Titel, nichts mit KI zu tun, sondern ist klassische Neon-Kunst. Weiss leuchtend wie Joseph Kosuth’ Five Words in White Neon (1965). Während diese aber die reine Tautologie darstel-
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len, indem sie sagen, was sie zeigen, wo nicht sind, provoziert I will not reply handshake with AI durch den Widerspruch zwischen Titel und Darstellung. Zu sehen ist eben doch ein Handschlag. Der jedoch, wie gesagt, ohne jede KI zustande kommt. Sodass der Titel gleichzeitig auch wieder stimmt. Anders liegt der Fall bei Bartleby (Felix Weinold, 2020; Abb. 20, Seite 44). Der Titel ist zwar ebenfalls stimmig, insofern er sich auf die berühmte Formel aus Hermann Melvilles gleichnamiger Erzählung bezieht, die der Roboter an die Wand schreibt: »I would prefer not to«. Aber wenn wiederum dieser Satz sich auf die KI beziehen soll, widerlegt der Akt seiner Niederschrift durch einen Roboter genau die Ausf lucht, die er ausdrückt. Allerdings vollzieht dieser Roboter nur einen einzigen, fixen Programmablauf. Er ist nichts anderes als ein etwas ungewöhnlicher Kurvenschreiber alias Plotter, also keine sehr großartige KI, wenn überhaupt als solche apostrophierbar. Daher noch etwas zur Begriff lichkeit: Man kann heute allgemein von ›KI-Kunst‹ sprechen, einfach weil KI die Szene betreten hat.11 Auch jede Zeichnung herkömmlicher Art sucht heute ihren Platz – und setzt sich aufs Spiel, macht ihren Einsatz – inmitten der vom aktuellen state of the art geprägten Kultur. Das ist das eine. Das andere ist, was dabei KI heißen soll. Schlicht nämlich – weit diesseits, unterhalb, vor der üblich gewordenen Hierarchisierung in starke versus schwache KI – das Unterscheidungs- und Entscheidungsvermögen, wie es dem simpelsten kybernetischen Regelkreis eignet, der einfachsten Anordnung schaltalgebraischer Gatter, den Operationsfolgen einer Turingmaschine mit mehr als einem Zustand, ansonsten aber (fast) beliebig kurzem Programm. Hierauf beruht und hierin realisiert sich alle maschinelle Intelligenz, das heißt: die künstliche Intelligenz nichttrivialer12 Maschinen.
5. Ginge es nach dem Artificial Intelligence for Art-Manifest13 der Künstlergruppe Obvious, wären noch deren Portraits der Famille de Belamy ein Zeugnis nicht der Ersetzung des Menschen, sondern einer Kooperation von Mensch und Maschine – »a collaboration between human and machines« – im kreativen Prozess. Zwar postuliert das Manifest auch: »We can say that once the whole process will have been automated, we will have created a machine that is capable of being creative, in the same way a human is.« Aber vorderhand soll
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das Medium doch einmal wieder nur eine Erweiterung sein: »We expand our mind using algorithms...«. Tatsächlich kann man den Aspekt eines solchen collaborating with AI als eine Art größten gemeinsamen Teiler aller Beispiele von Kunst & KI sehen. Zwischen den Extremen einer sich verweigernden und einer vollständig KIgenerierten Kunst gibt es fraglos ein ganzes Spektrum der Kooperation: der Computer als Assistent für Experimente mit der Erzeugung irritierender Mehrdimensionalität in der Zweidimensionalität des Papiers (ROD 2, ROD 4, Zita Habarta, 2019/20; Abb. 18 und 19, Seite 42); der Roboter als Mittänzer in einer Choreographie der malenden Geste (F.R.A.N., Sougwen Chung, 2020/21; Abb. 29 und 30, Seite 56f.); Zeichenroboter als Alter Egos oder Stellvertretung (Human Studies, Patrick Tresset, seit 2011; Abb. 1, Seite 19). In jedem dieser Fälle ist der Mensch »noch immer intellektuell und/oder handwerklich an der Produktion [s]eines Medienwerkes beteiligt«.14 Aber man täusche sich nicht. Auch in solchen Fällen, wo die sogenannte »natürliche Intelligenz« vermeintlich nur zur Verstärkung »um den Faktor der elektronischen Informationsverarbeitung erweitert wird, büßt sie zugleich ihre einmalige Sonderstellung ein«. Auch dann ist die »Erschütterung der natürlichen Intelligenz und der privilegierten Stellung des denkenden selbstbewußten Subjektes«15 schon nicht mehr ungeschehen zu machen. KI ist grundsätzlich eine Ersetzung des Menschen. Der berüchtigte, von Alan Turing als »Imitationsspiel« eingeführte, später nach ihm benannte Test16 ist da eindeutig: Man setze an die Stelle eine:r menschlichen Spieler:in eine Maschine, um zu sehen, ob auch sie als Mitspielerin oder Gegenüber überzeugt. Und einen Turing-Test unternimmt auf ihre Weise auch jede Kunst generierende KI. Ein Projekt wie La Famille de Belamy sogar in doppelter Weise. Zum einen prätendieren die Portraits auf Ebenbürtigkeit mit traditioneller Kunst hinsichtlich ihrer »Eingebundenheit [...] in die soziale Organisation, die sich aus Galerien, Museen, Zeitschriften und Veröffentlichungen zusammensetzt und die Anerkennung eines Werkes ermöglicht«17. Mit Erfolg besagt die Christie's-Auktion. Das von einer KI geschaffene Kunstwerk erhielt genau den Platz eines von einem Menschen geschaffenen. Zum anderen verdanken die Portraits ihre Entstehung einem Deep Learning-Prozess, bei dem ein Algorithmus mit einem anderen Algorithmus den Turing-Test spielt – Stichwort: GANs (Generative Adversarial Networks), deren Funktionsweise die Künstlergruppe wie folgt illustriert:
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»Take an art student. His professor asks him to paint a Picasso. The student doesn’t know what a Picasso looks like. So he will start painting, in order to see which direction to go. Every painting he makes is judged by the professor. With time, the student gets better and better at painting Picassos, and at the end of the process, the professor can’t tell the difference between a real Picasso and one that has been produced by the student. At this point, the student is capable of creating new examples of Picasso paintings, at least at the eyes of the professor.«
6. Anders als im konventionellen Turing-Test ist dabei aber keine Irreführung das Ziel. Die Maschine bzw. ihr Produkt soll gar nicht mit einem Menschen bzw. dessen Werk verwechselt werden. Im Gegenteil. »Our artworks are signed with the mathematical formula that governs the relationship between the algorithms«, faßt das Obvious-Manifest in Worte, was jedes der ›Gemälde‹ auch sichtbar bestätigt. Obviously soll es sich um KI-Werke handeln, denn nur durch diese Offensichtlichkeit funktionieren sie überhaupt. Würden die Arbeiten als Werke aus ›Künstlerhand‹ ausgegeben, wären sie noch nicht einmal epigonal, sondern schlicht uninteressant. So hingegen partizipieren sie an einer in jüngerer Zeit vermehrt zu beobachtenden – zum Beispiel auch von Filmen wie Her (Spike Jonze, USA 2013) oder Ex machina (Alex Garland, UK 2015) und TV-Serien wie Äkta människor (Schweden 2012–2014) und deren Remake Humans (UK 2015–2018) explorierten – Zuspitzung des TuringTests: Selbst im Wissen darum, dass das Gegenüber nicht Mensch, sondern Maschine ist, soll man nicht anders können, als dieser menschenähnliche Fähigkeiten zu attestieren, sie also doch wie einen Menschen anzusehen. Mehr oder weniger. Dieselbe Offensichtlichkeit verstärkt oder vollendet aber nur, was man den Paralogismus des Turing-Tests nennen könnte. Dieser Test vollzieht schon in seiner Konfiguration die Ersetzung des Menschen. Indem aber dadurch die Maschine an dessen Stelle tritt, geht damit sogleich eine, wie Kant mit Blick auf »das Urteil: Ich denke« formulierte, so gut wie »unvermeidliche, obzwar nicht unauf lösliche, Illusion« einher: die Illusion der Ähnlichkeit, wo nicht Gleichheit von Ersetztem und Ersetzendem, analog zu dem Fehlschluss, »daß alles, was denkt, so beschaffen sei, als der Ausspruch des Selbstbewußtseins es an mir aussagt«18. So wird aus der Ersetzung des Men-
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schen durch die Maschine ein Vergleich der Maschine mit dem Menschen und aus dem Vergleich eine regelrechte ›Homologisierung‹ von Mensch und Maschine – welche doppelte Verschiebung doch keineswegs zwingend in der bloßen Ersetzung angelegt ist. Aus der Befähigung der Maschine, den Menschen zu ersetzen, beider Vergleichbarkeit zu folgern, ist ebenso Fehlschluss wie umgekehrt die Annahme, KI, die dem Menschen nicht gleich sei (oder werde), könne diesen auch niemals ersetzen. Die intelligente Maschine vermag vielmehr den Menschen zu ersetzen, gerade indem sie mit ihm nicht vergleichbar ist!
7. Einen Kunst-Turing-Test (noch der klassischen Art, noch im Zeichen der Irreführung) hätte bereits ein Frieder Nake mit seiner Hommage à Paul Klee (1965)19 veranstalten können; tatsächliche Testergebnisse publizierte bereits 1966 ein A. Michael Noll, nachdem er 100 Versuchspersonen Abbildungen von Piet Mondrians Komposition mit Linien (1917) und daneben einer »Computer Composition With Lines (1964) by the author [Noll] in association with an IBM 7094 digital computer and a General Dynamics SC-4020 microfilm plotter« sowie die einschlägige »Which of the two do you think was done by the computer«-Frage vorgelegt hatte.20 Der Ausgang des Experiments (»only 28% were able to correctly identify the computer picture«) tut dabei nicht viel zur Sache. Ebenso wenig der Unterschied, dass die Computer-Grafiken der Nake und Noll im Kern auf einem schlichten Zufallsgenerator, die Obvious-Werke hingegen auf Machine Learning-KI beruhen. Durchaus intrikat ist in beiden Fällen jedoch, dass sie das Kunstwerk traditioneller Art (Zeichnung, Portrait, Tafelbild...) bemühen. Denn womöglich impliziert schon ein solcher Rekurs auf die Kunst der Museen, Galerien und Sammler:innen einen dem Paralogismus des Turing-Tests verwandten Fehlschluss, reinduziert also den Menschen jedesmal an genau der Stelle, wo die Maschine ihn abschafft. »Immer wenn der Computer nur als ein Werkzeug betrachtet wird, kann er höchstens die Ansichten und Vorlieben der alten Kultur erweitern und verstärken.«21 Man glaubt dann an eine Computerkunst, statt eine Kunst des Computers in Betracht zu ziehen.22 Man prolongiert die alte Geschichte, wonach der Mensch die Kunst braucht (sonst hätte er sie nicht von jeher gemacht), und weicht dem Gedanken aus, dass aber umgekehrt die Kunst nun vielleicht keineswegs mehr des
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Menschen bedarf. Unter diesem Aspekt macht dann der erwähnte Unterschied wohl doch – einen Unterschied. Bereits der Algorithmus für die Computer Composition With Lines kann dem Begriff maschineller Intelligenz subsumiert werden. Aber erst das Machine Learning, dem sich Ergebnisse wie La Famille de Belamy verdanken, wird im angeblich anspruchsvolleren Sinn unter dem Label KI verhandelt. Deshalb mag dahingestellt sein, ob dergleichen Medienwerke den Paralogismus des Turing-Tests noch unterfüttern oder entlarven. Ausgerechnet ›der KI‹ jedenfalls (der KI als Forschungsdisziplin, Denkrichtung, Debattenzusammenhang) ist und bleibt dieser Paralogismus als ihre Bedingung der Möglichkeit inhärent. Wenn anders ihre Bestimmung ist (laut Gründungsdokument), Maschinen in geistige Sphären »now reserved for humans«23 vordringen zu lassen, gibt es sie nur als die Umdeutung maschineller Intelligenz zum Gegenstand von Bemühungen mit dem Ziel, Maschinen zu entwickeln, die es dem Menschen im Vollzug intelligenter Handlungen mindestens gleichtun, wo nicht ihn übertreffen. Oder kürzer: Es gibt sie nicht ohne die Untiefen des Menschenvergleichs. Und das heißt: Im selben Maß, in dem jede KI-Implementierung den Menschen entthront, laboriert ›die KI‹ an seiner fortwährenden Wiedereinsetzung. KI als Technologie bedeutet die faktische Substitution des dadurch entzauberten Menschen, KI als Ref lexion ebendieser Technologie seine unablässige Restitution mittels der Wiederverzauberung des Entzaubernden als MenschenEbenbild.
8. Zum Stand der Dinge würde aber gehören, nicht bloß die Ersetzung, sondern das Verschwinden des Menschen zu denken. Keine einfache Materie. Immer mehr, Tendenz weiterhin steigend, »müssen wir uns selbst auf Bildschirmen ertragen: Von den Monitoren der Überwachungskameras im Kaufhaus bis hin zum selbstgeschossenen Heimvideo auf dem Fernseher«24 oder, inzwischen, zu all den Konferenz-Mitschnitten im Netz und Tele-Präsenzen in Online-Meetings. Vielleicht ist das das größte Hindernis, die Kunst des Computers in der Leere des verschwundenen Menschen zu denken. Man hat auch diesem »Erfolg der Videokultur und der künstlichen Intelligenz« eine zersetzende Wirkung zugeschrieben: »Die Transzendenz ist in Tausende von Fragmenten zerborsten, die wie die Bruchstücke eines Spiegels sind, in denen wir f lüchtig noch unser Spiegelbild greifen können, bevor es vollends
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verschwindet.« Aber vorderhand – phänomenal – sind da eben noch all diese Spiegelbilder, boomte zuletzt die Selfie-Kultur und sieht damit alles nach einer erneuten – zumindest noch piktorialen – »Universalisierung des Menschen« aus.25 Ob jedoch Überwachungsbild oder Selfie, gerade auch an letzterem gilt es zu durchschauen: Nicht wir machen die Bilder, sondern die Apparatur macht Bilder von uns. Dies thematisiert der Mimimat (Nico Kiese & Bernhard Slawik, 2020; Abb. 2, Seite 21) ebenso wie Drei Menschen, erfasst (Tamiko Thiel & Christoph Reiserer, 2016/2020; Abb. 7 und 8, Seite 28f.). Dort eine Installation, die Portraits generiert und gemäß der Mimik ihrer Betrachter:innen animiert, hier ein Gesichtserkennungsprogramm, das seine Umgebung observiert und ein Photo schießt »once it has recognized at least one human face«.26 Mit KI begabte Bildproduktionsmaschinen machen vorab sich selbst ein Bild. Unter diesem Gesichtspunkt der Wahrnehmung verdient denn auch Memo Aktens Learning to See-Serie (seit 2017; Abb. 33, Seite 63), von den Obvious-Werken unterschieden zu werden. Nur scheinbar geht es auch in ihr um eine Herausforderung der Kunstgeschichte (oder des Kunstmarkts) durch Algorithmen, die an verschiedenen Mal- oder Bildkompositionsstilen trainiert wurden. Die Technik ist die nämliche: Custom software, Artificial Intelligence, Machine Learning, Deep Learning, Generative Adversarial Networks. Aber nicht die durch sie erzeugten Bilder sind der Endzweck der – nicht umsonst: interaktiven – Installation. Vielmehr soll die Aufmerksamkeit auf das Sehen selber gelenkt werden: »An artificial neural network looks out onto the world, and tries to make sense of what it is seeing. But it can only see through the filter of what it already knows. / Just like us. / Because we too, see things not as they are, but as we are.«27 Einmal mehr scheint so zuletzt doch wieder der Mensch adressiert. Vorgeführt wird aber zugleich ein autonomes Sehen, ein eigenes Sein der Technik. Learning to See zieht damit die Konsequenz aus dem Tatbestand der durchgängigen Elektrifizierung und anschließenden Digitalisierung technischer Medien. Wo die Transposition künstlerischer Techniken in technische Medien den Menschen zersetzt und ablöst, erlaubt ihre elektronische Verschaltung seine Resynthetisierung. Effektiv gesehen. Aber eben auch nur, was ›den Effekt‹ angeht. Weit davon entfernt, neuerliche Synthese des
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Menschen zu sein, adressiert die Kunst der KI weniger diesen als vielmehr »die Frage nach dem, was moderne Technik heißt«.28
9. Diese moderne Technik – seit der Erfindung des Computers also ubiquitär gewordene KI – ermöglicht, als künstlerische Technik zum Einsatz kommend, »eine Kunst ohne Künstler und ohne Werk«.29 Sie ermöglicht, heißt das, lʼart pour lʼart im strengsten nur denkbaren Sinn. Kunst, um sich als solche zu Gesicht oder Gehör zu bringen, benötigt prinzipiell wenigstens einen Hauch von lʼart pour lʼart.30 Aber in der Zeit vor ihrer Automatisierung lief das nicht ohne Künstler:innen und Werke: »Der Künstler ist der Ursprung des Werkes. Das Werk ist der Ursprung des Künstlers. Keines ist ohne das andere. Gleichwohl trägt auch keines der beiden allein das andere. Künstler und Werk sind je in sich und in ihrem Wechselbezug durch ein Drittes, welches das erste ist, durch jenes nämlich, von woher Künstler und Kunstwerk ihren Namen haben, durch die Kunst.«31 Erst ohne Künstler und ohne Werk bleibt von dieser Trias (Künstler, Werk, Kunst) schlicht die Kunst an sich. Und erst solche Kunst an sich realisiert nicht nur die Ersetzung, sondern das Verschwinden des Menschen, ganz wie allein Kunst, die nach der Technik fragt, beides begriffsgeschichtlich von griechisch τέχνη und lateinisch ars her gedacht, die Tautologie des lʼart pour lʼart vollendet. Woher, um noch einmal auf dieses Exempel von KI-Kunst zurückzukommen, die düpierend evidente Stimmigkeit der nach Herman Melvilles Erzählung benannten Installation Bartleby? Sie kommt daher, dass Bartleby und seine Formel von der Art eben jener Tautologie sind. Bartleby, der Schreiber, von dem der Anwalt erzählt, der sein letzter Vorgesetzter war, Bartleby also personifiziert die scheiternde, verweigerte oder schlicht nicht erwartungsgemäß ein zwischenmenschliches Band stiftende Kommunikation. »I would prefer not to«. Eine als »kleines Gerücht«32 am Ende der Erzählung nachgetragene Ätiologie erklärt das befremdende Verhalten Bartlebys aus seiner früheren Tätigkeit »im General-Postbureau für tote, also unzustellbare Briefe« oder Dead Letter Office: »Tote Briefe! Klingt das nicht wie tote Menschen? Man denke sich einen von Natur und Mißgeschick für fahle Hoffnungslosigkeit anfälligen Menschen; kann da irgend etwas mehr angetan sein, diese zu verstärken, als mit diesen toten Briefen ständig umzugehen und sie für das Feuer zu sortieren?«
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In den Augen des erzählenden Anwalts ist solches Scheitern das Schicksalsschema Bartlebys. Er sieht in ihm den »verlorensten aller Menschen«. Dem Ende – Gefängnis, Tod, das gesamte Menschheitselend: »Ah, Bartleby! Ah, humanity!« – korrespondiert der Anfang, der den Schreiber als Leerstelle einführt, als ein spurloses Leben, reine Verlustanzeige. Aber genau dies ist nicht Mißerfolg, sondern Erfolg der »I would prefer not to«-Formel. Bartleby betreibt denkbar exemplarische Selbstauf lösung.33 Mit seiner Formel verwandelt er zunächst alle Botschaften an und um ihn sowie zuletzt sich selbst (durch Nahrungsverweigerung: »I prefer not to dine today«, während die übrigen Gehilfen des Anwalts über das Essen codiert sind) in dead letters. Dies verschafft ihm, ohne sie ihm zu ›verbriefen‹, die Freiheit (noch im Gefängnis), in der nicht er, sondern an der der Anwalt, der Erzähler mit all seiner ostentativen Philanthropie scheitert. Die Formel ist »weder eine Affirmation noch eine Negation«. Sie bewahrheitet einfach sich selbst, indem sie nicht etwas anderes vorzieht (»I would prefer«), sondern sich ausschließlich dem entzieht, was sie als »lieber nicht« (»would prefer not to«) ausspricht. Sie artikuliert nicht einen »Wille[n] zum Nichts«, sondern ein »Nichts an Willen«.34 Sie statuiert mithin rein – rein tautologisch – sich selbst: »I would prefer not to.« So beschert sie Bartleby seinen »leichenblassen Triumph«; so wird er gleichzeitig »sonderbare Kreatur«, »Gespenst« und schlechterdings »unumstößliche Tatsache« (»fixed fact«).
10. »Ach, Bartleby! Ach, Menschsein!« So besiegelt Trauer die Erzählung des Anwalts. Und es trifft wohl beides zu: Dass Bartlebys Triumph diesen Preis verlangt, und dass erst diese Trauer die Selbstauf lösung Bartlebys zum Triumph macht, erst sie herausstellt, welches Verschwinden er zelebriert. Oder sogar, dass hier für einmal keinerlei Ersetzung, sondern allein ein Verschwinden im Spiel ist. Denn es zu sehen, mag nicht schwer sein; einzig jedoch, es zu beweinen, heißt, es nicht dennoch einfach verschlafen zu haben: »For others too, can see, or sleep, / But only human eyes can weep.«35 Für die Frage der KI gilt es daher, auch die Differenz – und nicht nur die Anknüpfung – zu sehen. Bartleby, die Installation, ist nicht der Bartleby der Erzählung. Dessen Formel »schließt jede Alternative aus und verschlingt ebenso das, was sie zu bewahren vorgibt, wie sie auch jede andere Sache beseitigt; sie impliziert, daß Bartleby abzuschreiben, das heißt Worte zu
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reproduzieren auf hört«36 –: »Kopieren wollte er jedenfalls nicht. Auf mein Drängen setzte er mich schließlich davon in Kenntnis, er habe das Kopieren endgültig aufgegeben.« Im Unterschied dazu ist der schreibende Roboter das genaue Gegenteil: Exekution der Reproduktion und nichts als der Reproduktion.37 Und er ist ebenso nicht das Gegenteil, sondern einfach nur anders. Er kann, wäre eine pathetische Umschreibung dieser Andersartigkeit, das Schicksal Bartlebys – das Geschick des »I would prefer not to« – weder teilen noch heilen. Aber weniger die Andersartigkeit der KI muss mit solchem Pathos bedacht werden als vielmehr ihre Konsequenz: Nur, wenn KI in ihrer Andersartigkeit, wenn sie also nicht als Alter Ego des Menschen, sondern strikt als Alter begriffen wird, kommt jene »Art von Trauer und Melancholie über die Ideale der Moderne, diese Verwirrung« zu ihrem Recht, die gerade ›in‹ der Ersetzung des Menschen »[s]eine Auf lösung«38, sein Verschwinden erkennt.
11. Worin also Bartleby, die Installation, und der Schreiber in Bartleby, der Erzählung, sich unterscheiden, ist gerade das, worin sie sich gleichen: der Akt des Schreibens. Oder umgekehrt: So sehr sie darin einander gleichen, ist jene doch anders als dieser. Im Schreiben trifft auf sie zu, worauf Alan Turing in puncto Denkmaschinen (den Paralogismus des nach ihm benannten Tests durchkreuzend) verwies: »Können nicht Maschinen etwas ausführen, das als Denken bezeichnet werden müßte, das sich jedoch stark von dem unterscheidet, was ein Mensch tut?«39
12. Schreiben (von Hand) beruht darauf, Linien zu ziehen. Hierin ist es dem Zeichnen verwandt (wie das Zeichnen dem Denken, nach Spencer-Browns »Draw a distinction!«), und so lohnt ein zweiter Blick auf die schon erwähnten Human Studies von Patrick Tresset, etwa Human Study #2, La Vanité (2014; Abb. 1, Seite 19).40 Chardin malte den Jeune dessinateur (1737) in Meditation versunken. Genauso verhält es sich mit Adrian Walker, artist, drawing from a specimen in a laboratory in the Dept. of Anatomy at the University of British Columbia, Vancouver (1992) von Jeff Wall.41 Beide Figuren zeichnen nicht, sondern betrachten; sie
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sehen und (glaubt man als Betrachter:in sehen zu können) denken. Demgegenüber sieht man Tressets Zeichenroboter in Aktion (Momente des Pausierens eingeschlossen). Human Study #2 etwa, mit ihren drei Akteuren an Schulbänken, inszeniert eine klassische Akademie-Situation. Student:innen üben das Zeichnen nach der Natur. Und wieder liegt der Unterschied zwischen diesen und ihren menschlichen Vorbildern – unabhängig von den Ergebnissen auf dem Papier – gerade in dem, worin sie sich zu gleichen scheinen: im Akt des Zeichnens. Oder genauer: in der spezifischen Blindheit, die dem Akt des Zeichnens eignet. Diese, wie Derrida sie genannt hat, »transzendentale Blindheit« als »die unsichtbare Bedingung der Möglichkeit der Zeichnung«, also der Umstand, dass »der Zeichner blind ist«, insofern »er beim Zeichnen nicht sieht«, kommt daher, dass er gar nicht anders kann als, wie Baudelaire formulierte, »nach dem Bild in [seinem] Kopf, und nicht nach der Natur«, zu zeichnen.42 Entweder blickt der Zeichner auf das Objekt, und sieht dann nicht den Strich, den er zieht, oder seine Augen kontrollieren die Hand, und dann sieht er nicht das Objekt, das er zu Papier bringen will. Von diesem Handicap zeugt nicht zuletzt die Idee, ihr durch Verwendung einer Camera obscura als Zeichenhilfe beizukommen. Photographie-Erfinder Henry Fox Talbot hat sie so beschrieben: »Diese Methode bestand darin, eine Camera obscura zu nehmen und das Abbild der Gegenstände auf ein Stück durchsichtiges Pauspapier zu projizieren, das auf eine Glasscheibe im Brennpunkt des Instruments gelegt wird. Auf diesem Papier sind die Gegenstände deutlich zu sehen und können mit einem Zeichenstift einigermaßen genau, wenngleich nicht ohne Zeitaufwand und Mühe, auf das Papier durchgepaust werden.«43 Aber auch dann sieht der Zeichner beim Ziehen der Linie streng genommen nicht das Objekt, und auch so läßt sich ein zweites Moment von Blindheit im Akt des Zeichnens nicht umgehen, nämlich das Moment der »Aperspektive des graphischen Akts«44, das darin besteht, dass die Linie immer dort, wo der Zeichenstift sie hervorbringt, unsichtbar, der Zeichner mithin für die Linie, die er zieht, am Punkt und im Augenblick ihres Entstehens blind ist. (Daher die von Talbot bemerkte Mühe, selbst beim bloßen Abpausen.) Tressets Zeichenmaschinchen sind dagegen auf ganz andere Weise blind. Kameras erfassen das Objekt; KI konstruiert ein Bild und rechnet es in Plotterkoordinaten um; Roboterarme führen ihre Striche nach diesen Koordinaten aus, ohne dass das Kameraauge dazu hinzusehen brauchte. Weder müssen die Maschinchen ihren Blick vom Gegenstand aufs Papier und vom
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Bernhard J. Dotzler
Papier auf den Gegenstand hin und her wandern lassen, noch entzieht sich ihrem Blick die Linie am Punkt ihrer Bahnung, einfach weil sie diesen Blick gar nicht haben. Der Mensch ist blind beim Zeichnen, indem er zum Schauen bestellt ist. Selbst eine auf Muster- und Bilderkennung trainierte KI ist dies hingegen nicht. Die zeichnenden Roboter sind blind in der Weise, in der sie eben auch gar nicht schauen. Gleichwohl vollziehen auch sie diesen Akt, durch den noch kein Werk und kein Künstler entsteht, potentiell aber Kunst. »Eine Linie zu ziehen«, hat »etwas absolut Radikales und Ontologisches«: »Ein Zug mit dem Bleistift und schon teilt sich ein Blatt, irgendetwas wendet sich. Eine Organisierung der Welt bahnt sich da unmittelbar an. Da gibt es etwas, das gleichzeitig Höhepunkt der Macht und vollständige Enteignung ist. Denn der das macht, weiß nicht, was er macht.«45 Dies, seit langem, entbirgt die Kunst. Es auch an der KI – und, ins Quadrat erhoben, der Kunst künstlicher Intelligenz – zu entbergen, verlangt, sie aus dem Menschenvergleich zu entlassen und ihre Andersartigkeit als den Grund ihrer Organisierung der Welt auszuloten.
1 Roy Ascott, Keine einfache Materie. Der Künstler als Medienproduzent in einem Universum der komplexen Systeme, in: Klaus Peter Dencker (Hrsg.), Interface 1: Elektronische Medien und künstlerische Kreativität, Hamburg 1992, S. 75–79. 2 Dennis Gabor, Inventing the Future, in: Encounter 5/1960, S. 3–16, hier: 9. Vgl. Jasia Reichardt, Computer art, in: dies. (Hrsg.), Cybernetic Serendipity: The Computer and the Arts. A Studio International special issue, London – New York 1968, S. 70–71, hier: 70. – Für all die frühen Beispiele vgl. das Standardwerk: Erwin Steller, Computer und Kunst, Mannheim u. a. 1992. 3 Rolf Kreibich, Das Wissenschaf ts-Technik-Industrialismus-Paradigma, in: Dencker, Interface 1, S. 23–40, hier: 25. – Vor der Verwechslung mit einer Meldung heutigen Datums mag freilich auch der Umstand bewahren, dass es das einstige BMFT gar nicht mehr gibt; es ist seit 1994 im BMBF aufgegangen. 4 Michael Grillo, Computer freihändig bedienen, in: Dencker, Interface 1, S. 49–52, hier: 49. 5 Ascott, Keine einfache Materie, S. 77. 6 Peter Zec, Das Medienwerk. Ästhetische Produktion im Zeitalter elektronischer Kommunikation, in: Florian Rötzer (Hrsg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt/M. 1991, S. 100–113, hier: 110. 7 Jean-François Lyotard et al., Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S. 62. 8 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaf ten, Frankfurt/M. 1974, S. 27 bzw. 462 u. 375.
Kunst und – Mensch? 9 Vgl. Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert, München 1988, Bd. IV, S.749f.: »Fruchtbar und weit umfassend ist das Gebiet der Geschichte [...] – und zu dem Menschen eben redet die Geschichte.« 10 Harald Welzer, Strukturwandel der Öf fentlichkeiten, in: Raphael Gross/Melanie Lyon/H.W. (Hrsg.), Von Luther zu Twitter, Frankfurt/M. 2020, S. 11–26, hier: 11, und Hermann Parzinger, Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrif t, München 2014, S. 80. – Vgl. als aktuell jüngsten Beleg: »Seit mindestens 40000 Jahren [...] scheint Kunst untrennbar verknüpf t zu sein mit der Existenz des Homo sapiens« (Reinhard J. Brembeck, Unbegreiflich, unverzichtbar, in: SZ, 30.12.2020, S. 9). 11 Vgl. zu dieser Art erweiterter Definition mit Blick auf ›die Medien‹ bereits Bernhard J. Dotzler, L‘Inconnue de l‘Art. Über Medien-Kunst, Berlin 2003, S. 12. – Über Kontemporaneität als, im gelingenden Fall, »wache Simultaneität« s.a. Hans-Joachim Müller, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Generierbarkeit, in: Rötzer, Digitaler Schein, S. 548–569, hier: 552. 12 Zur Unterscheidung trivialer versus nicht-trivialer Maschinen s. etwa Heinz von Foerster, Zukunf t der Wahrnehmung: Wahrnehmung der Zukunf t, in: ders., Sicht und Einsicht, Braunschweig/Wiesbaden 1985, S. 3–14, hier: 12. 13 Abrufbar unter: https://obvious-art.com/ (19.11.2020). 14 Zec, Das Medienwerk, S. 103. 15 Ebd., S. 107. 16 Inwiefern dieser sogenannte Turing-Test und seine Diskussion von Turings ursprünglichem Vorschlag und insbesondere seiner eigenen Erörterung samt von ihm daraus gezogenen Schlüssen abweicht, tut hier und im weiteren nichts zur Sache (vgl. dazu Bernhard J. Dotzler, Alphaville 2.0., in: Lettre International 126/2019, S. 22–25). Im Folgenden ist jedenfalls stets nur von diesem Turing-Test und nicht von jenem Imitationsspiel die Rede. 17 Jacques Fol, Fragen an den Benutzer von numerischen Technologien, die aktuelle Kunst schaffen oder an ihr teilnehmen wollen, in: Rötzer, Digitaler Schein, S. 570–579, hier: 571. 18 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunf t. Zweite Auflage – Abschnitt: Von den Paralogismen der reinen Vernunf t (Werke in zwölf Bänden, Frankfurt/M. 1968, Bd. IV, S. 341–344). 19 Siehe Frieder Nake/Diethelm Stoller (Hrsg.), Algorithmus und Kunst: »Die präzisen Vergnügen«, Hamburg 1993, S. 55. 20 A. Michael Noll, Human or Machine: A Subjective Comparison of Piet Mondrian’s Composition with Lines (1917) and a Computer-Generated Picture, in: The Psychological Record 16/1966, S. 1–10, zit. n. dem Wiederabdruck in: Barbara Büscher et al. (Hrsg.), Ästhetik als Programm (Kaleidoskopien 5), Berlin 2004, S. 200–207 (hier: 202–204). Vgl. auch Reichardt, Cybernetic Serendipity, S. 74, sowie die Wiederholung des Tests bei Steller, Computer und Kunst, S. 324: »Welches der vier gezeigten Bilder ist das von Mondrian?« 21 Ascott, Keine einfache Materie, S. 77. 22 Frei nach Friedrich Kittler, Gleichschaltungen, in: Dencker, Interface 1, S. 175–183, hier: 178 (»Es gibt also keine Medienkunst, sondern nur eine Kunst der Medien [...]«). 23 John McCarthy et al., A Proposal for the Dartmouth Summer Research Project on Artificial Intelligence, in: AI Magazine Volume 27 Number 4 (2006), S. 12–14, hier: 12.
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Bernhard J. Dotzler 24 Ingo Günther, Der Künstler als Informant, in: Dencker, Interface 1, S. 85–91, hier: 87. 25 Jean Baudrillard, Videowelt und fraktales Subjekt, in: Ars Electronica (Hrsg.), Philosophien der neuen Technologie, Berlin 1989, S. 113–131, hier: 126, 113 u. 115. 26 Vgl. die Werkbeschreibungen des virtuellen Ausstellungsrundgangs unter https:// goetzendaemmerung.kuenstlerverbund-hausderkunst.de/ (4.1.2021). 27 So, neben den technischen Angaben, die Erklärung unter: http://www.memo.tv/works/ learning-to-see/ (5.1.2021). 28 Friedrich Kittler, Art. »Techniken, künstlerische«, in: Karlheinz Barck et al. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegrif fe, Bd. VI, Stuttgart 2005, S. 15–23, hier: 22. 29 Florian Rötzer, Für eine Ästhetik der elektronischen und digitalen Medien, zit. n. dem Nachwort in: Dencker, Interface 1, S. 184–188, hier: 184. 30 Mit wie gegen Nietzsche gesprochen (also zustimmend zum »Kampf gegen den Zweck in der Kunst«, aber gegen die fortgesetzte Fokussierung auf den Künstler als »Genie der Mittheilung«), vgl. § 24 der »Streifzüge eines Unzeitgemässen« in: Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, München 1980, Bd. VI, S. 127f.). 31 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege, 6., durchgesehene Auflage, Frankfurt/M. 1980, S. 1–72, hier: 1. 32 Die Erzählung wird hier, ohne Einzelnachweise, zitiert nach der Übersetzung von Michael Walter und Daniel Göske in: Herman Melville, Billy Budd. Die großen Erzählungen, München 2009, S. 27–80. 33 Für andere Beispiele s. Verena von der Heyden-Rynsch (Hrsg.), Riten der Selbstauflösung, München 1982. 34 Gilles Deleuze, Bartleby oder die Formel, Berlin 1994, S. 13f. 35 Andrew Marvell, Eyes and Tears, zit. n. Jacques Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, München 1997, S. 126. 36 Deleuze, Bartleby oder die Formel, S. 20. 37 Unabhängig davon, ob einmalig wie in der Ausstellung im Haus der Kunst (vgl. Felix Weinolds Statement in diesem Band) oder wiederholt (wie in dem Video zum virtuellen Rundgang durch die Ausstellung zu sehen). 38 Lyotard et al., Immaterialität und Postmoderne, S. 66 u. 79. 39 Alan Turing, Rechenmaschinen und Intelligenz, in: ders., Intelligence Service. Schrif ten, Berlin 1987, S. 147–182, hier: 151. 40 Vgl. hierzu auch Albert Kümmel-Schnur, La Vanité: https://patricktresset.com/new/ project/human-study-2-la-vanite/ (15.1.2021); ferner: Oliver Deussen/Albert KümmelSchnur/Patrick Tresset (Hrsg.), Zufallszwänge. Roboterbilder zwischen Kunst und Wissenschaf t, Konstanz 2013. 41 Vgl. Bernhard J. Dotzler, Mimesis, digital restauriert. Zum Wiederholungszwang der Photographie am Beispiel von Jef f Wall und anderen, in: Archiv für Mediengeschichte – Mimesis, hrsg. v. Friedrich Balke et al., München 2012, S. 185–195. 42 Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, S. 46 u. (das Baudelaire-Zitat) 51. 43 William Henry Fox Talbot, Der Zeichenstif t der Natur, in: Wilfried Wiegand (Hrsg.), Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst, Frankfurt/M. 1981, S. 45–89, hier: 48. 44 Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, S. 49 (dort kursiv). 45 Lyotard et al., Immaterialität und Postmoderne, S. 67.
Künstler:innen-Statements eingeholt von Bernhard J. Dotzler und Cornelia Oßwald-Hoffmann
Es geht um Ihre Arbeit. »Arbeit« meint hier das ganze Spektrum vom künstlerischen Tun bis zu dessen Ergebnis, dem einzelnen Werk. Dieses Werk kann wiederum dasjenige sein, das Sie speziell zu Götzendämmerung – Twilight of the Idols beigetragen haben, oder jede andere Ihrer Arbeiten, die Ihnen bei den folgenden Fragen in den Sinn kommt. 1.
Neue Techniken, neue Werkstoffe, neue Werkzeuge bringen neue Kunst hervor. Wie würden Sie den Bezug Ihrer Arbeit zur KI beschreiben?
2. »Ist das Kunst (oder kann es weg)?« Ernsthaft, also seriös formuliert: Inwiefern – weshalb, aufgrund welcher Merkmale, in welcher Hinsicht – begreifen Sie Ihre Arbeit als Kunst? Oder, wie Jean-François Lyotard formulierte: »Es muß uns heute zu denken gelingen, was der Einsatz der Kunst ist, was in ihr auf dem Spiel steht, wo sie eigentlich ihren Platz hat, und was Kunst ist.« – Worin also liegen bei Ihrer Arbeit das Moment und der Einsatz der Kunst? 3.
An der Wahrnehmung von KI ist immer auch ein gewisser Schein beteiligt: KI ist sehen (im allgemeinen Sinn einer jeder Wahrnehmung wie z. B. auch hören) und glauben (im schlichten Sinn von annehmen, vermuten). Nun ist, »das sinnliche Scheinen der Idee« zu sein, ebenso ein von prominenter Seite (nämlich von Hegel) benanntes Konstitutivum von Kunst wie der Grund eines tiefen Mißtrauens gegenüber ihren »alternativen Welten«, das Vilém Flusser einmal so weitergedacht hat: »Wir mißtrauen diesen Welten, weil wir allem Künstlichen, aller Kunst mißtrauen. ›Kunst‹ ist schön, aber Lüge, was ja mit dem Begriff ›Schein‹ gemeint ist. Allerdings führt auch diese Antwort zu einer weiteren Frage:
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Warum trügt eigentlich der Schein? Gibt es etwas, das nicht trügt? Das ist die entscheidende Frage, die erkenntnistheoretische Frage, vor die uns die alternativen Welten stellen. Wenn von ›digitalem Schein‹ die Rede ist, dann muß ihr und keiner anderen nachgegangen werden.« – Wie verhält sich Ihre Arbeit zu diesem Scheinen der Kunst und jener Scheinhaftigkeit aller Kunst. 4. Welche Konsequenzen ziehen Sie aus ihrer Zusammenarbeit mit KI für ihr künstlerisches Selbstverständnis? Greift KI den Begriff des Originals an und verändert damit den Kunstbegriff auch in Hinsicht auf Kunstgeschichte und Kunstmarkt? Gewann der in der Romantik entwickelte Geniekult die Aura des Authentischen als entscheidendes Kriterium für Kunst, hob bereits die Reproduzierbarkeit die Einmaligkeit des Kunstwerks auf und führte (nach Walter Benjamin) zum Zerfall der Aura. Es entsteht, was Peter Weibel als Kunst ohne Unikat bezeichnete. Was passiert aber, wenn nicht nur das Werk, sondern auch der Künstler reproduzierbar ist? Wie können Sie als Künstler in Ihrem KI-Produkt den entscheidenden Faktor der Authentizität – im Sinne von: »You have to be in the room when it happens« (John Mailer) – zurückgewinnen? 5.
Welche Frage(n) hätten Sie an dieser Stelle formuliert?
Elke Dreier 1.
Neue Werkzeuge bringen hauptsächlich neue Fragestellungen mit sich, verändern wie wir die Welt wahrnehmen und wie wir uns in dieser Welt bewegen. Mich interessiert, welche Auswirkungen neue Technik auf den Menschen hat, beispielweise die Entstehung neuer Gesten, und wie der Umgang mit neuen Geräten unseren Alltag verändert. Die Frage ist, in welcher Beziehung die Technik zum Menschen steht und welche Hoffnungen damit verbunden sind. Welche Bedürfnisse befriedigen neue Werkzeuge? Die Idee von Künstlicher Intelligenz ist für meine künstlerische Arbeit ein gedanklicher Gegenpol um über menschliches Verhalten nachzudenken.
Künstler:innen-Statements
2. Das Leuchtobjekt I will not reply handshake with AI fordert die Betrachter:in dazu auf, sich selbst das Versprechen zu geben, nicht mit Künstlicher Intelligenz zu kooperieren. Es verbindet die menschliche Begrüßungsgeste des Handschlags, ein Zeichen, keine Waffen in der Hand zu halten, mit dem Begriff des »Handshaking«, der Prozess, bei dem zwei Geräte die Regeln für den darauffolgenden Kommunikationsvorgang festlegen. Kunst ist ein Mittel zur Kommunikation mit der Außenwelt, das ermöglicht, Gedanken und Emotionen zu teilen und komplexe Verbindungen zu visualisieren. Kunst stellt unmittelbare Bezüge her und hat das Potenzial, Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit und Sensibilität zu aktivieren. 3.
Wie eine diffuse Ref lexion.
4. Bis dato hat Künstliche Intelligenz noch keine überraschend neuen Ideen oder Produkte hervorgebracht, sondern nur technisch avanciert vom Menschen entwickelte Programme abgespielt und Variationen innerhalb dieses Rahmens erzeugt. Es muss grundlegend unterschieden werden zwischen Kreation und simpler Rechenleistung. KI kann Lösungen für Probleme finden, aber keine Probleme empfinden, kann Sprache entschlüsseln und Fragen beantworten, ohne die Bedeutung zu verstehen. Bei meiner Arbeit Tell me about Breathing führen zwei Sprachprogramme einen absurden Dialog über Atmung, der sich aus mechanischen Begriffen, wie Atemtechnik, Steuerung, etc., und körperbezogenen Rückfragen ergibt. Tell me about Breathing bezieht sich auf das von Joseph Weizenbaum entwickelte Sprachprogramm ELIZA, bei dem das Skript die Rolle eines Psychotherapeuten simuliert. AI kann immer nur so tun als ob. Jede auf (körperlicher) Erfahrung basierende Information ist davon völlig ausgeschlossen. Neue Dinge entstehen oft aus individuellen Erfahrungen oder sind Resultate unlogischer Entscheidungen, die zum Beispiel auf Basis von Intuition getroffen werden. 5.
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Judith Goldschmid 1.
Für mich als Künstlerin, die sich mit dem Thema Kopf/Gesicht beschäftigt, deren Grundlage das Werkzeug Pinsel, Farbe und Leinwand bleibt, ist die KI ein fremdartiges, unerforschtes Medium. Zögerlich überlasse ich ihr hin und wieder meine von menschlicher Hand ausformulierte Bildsprache auf dem Bildgrund.
2. Seit meinem Studium an der Münchner Akademie der Bildenden Künste interessiert mich die Darstellung des menschlichen Antlitzes. In meinen Bildern versuche ich, mit den Mitteln der reduzierten Form und der Farbe das Nichtsichtbare des menschlichen Gesichts wiederzugeben. Die Bewegtheit des Menschen, das Wesen oder der innere Kern kommt zur Erscheinung. Das Zusammenspiel der Zeichen und Flächen, die eine Bewegung des Porträts ausmachen, wird für mich zum Spiel. Ist es dem Betrachter möglich, die Absicht des Künstlers zu erkennen, in das Spiel einzutauchen, wird er zum Mitspieler. Der Rezipient wird in Bewegtheit überführt. Er erkennt das erfinderische Moment im Werk. Welche Bewegtheit erzeugt die KI, die die Formen und Farbaufträge des Malers berechnet, wird das Spiel weitergeführt oder werden lediglich Variationen von Kompositionsstrukturen umgesetzt? Führt also der Einsatz der Kunst zum Blick über den Tellerrand? Und wird die KI die Absicht des Künstlers unterstützen? 3.
Wie der Künstler Nikolaus Lang (Mitbegründer der Konzeptkunst Spurensicherung, mehrfacher Dokumentateilnehmer, Professor an der Akademie der Bildenden Künste in München) Diskurse über Kunst einführt, bleibt mir in Erinnerung: »Bedenken Sie, dass die natürlich geschaffene Welt, die Sie umgibt, in der Sie leben, die komplexeste und gelungenste aller Welten ist. Sie werden in allem schöpferischen Tun niemals diese Schönheit herstellen können, aber seien Sie bemüht, ein Stück Illusion davon sichtbar zu machen.« Als Maler lege ich nun in dem Gesicht, das ich verwandelt wiedergebe, diese gelungene und komplexe Form in Farbe geronnen als Auszug vom Ganzen auf die Leinwand nieder. Der Schein des Antlitzes und die Scheinhaftigkeit des Gemäldes stehen vor mir. Legt sich die KI über die Köpfe, wird der Schein verdoppelt, verdreifacht, der Schein überzieht den Schein. Dorthin führt der
Künstler:innen-Statements
Gedanke, die menschliche Geste, die sich des Werkzeuges bedient. Das Werkzeug des Pinsels, das Werkzeug der KI. Und trotz aller Scheinhaftigkeit und allen Scheinens, »ist der Mensch nur dort ganz Mensch, wo er spielt« (Schiller, aus seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen). 4. Das originäre Werk eines Malers wird entwickelt durch die Anwendung menschlicher Sinne, der Beobachtungsgabe, der Idee, der Intuition. Noch ist die KI nicht bereit, sich dieser menschlichen Ressourcen zu bedienen. Den Erfinder (Künstler) darf sie unterstützen, das vorhandene Bildmaterial variieren. Der malende Künstler kennt die Wirkung des Pinselstriches auf der Leinwand, kann zugunsten des Bildinhaltes Farbaufträge und die Verwendung der Form innerhalb der Komposition unterschiedlich einsetzen, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen (z. B. die von Tizian entwickelte Technik der »Frottis« zugunsten der Tiefenwirkung oder die in der Antike entwickelte Methode der Enkaustik, die materialisierte Gedanken mit Feuer unvergänglich auf der Malf läche einbrennt zugunsten der Leuchtkraft des Bildes). 5.
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Zita Habarta 1.
Neue Techniken, Werkstoffe und Werkzeuge bringen neue Kunst hervor. Bei meinen Arbeiten war, und ist nicht nur der Einsatz, sondern vor allem das Experimentieren und immer wieder Experimentieren (ohne absehbares Ende) mit (z. B. 2D-) Programmen und mit deren KI-Fähigkeiten, die Neues mit hervorgebracht haben. Das ist aber nur ein Faktor. Zu neuen Entwicklungen führen auch andere Faktoren, wie z. B. neue Überlegungen, Sichtweisen, Konzepte.
2. Es gibt unzählige Definitionen, Beschreibungen, Auseinandersetzungen, Diskussionen dessen, was Kunst ist, was Kunst ausmacht. Zu denken, was Kunst ist, kann evtl. gelingen. Eindeutig zu formulieren oder gar eindeutig und absolut zu beurteilen, was Kunst ist und ausmacht, ist bis jetzt (vielleicht wird eines Tages mittels KI-Einsatz eine größere Objek-
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tivität möglich sein) nicht möglich und bleibt individuell und subjektiv. Ich möchte mich der Antwort als Facette (anhand) eines Beispiels nähern: Jede Künstler:in hat ihre eigenen schöpferischen Grenzen. Wann auch immer es einer Künstler:in gelingt beim Hervorbringen einer Arbeit diese eigene schöpferische Grenze zu überschreiten, zu sprengen, entsteht in diesem Moment ein starkes, umfassendes Spüren eines neuen Dimensions-Raumes. Diesen Moment empfinde ich als Einsatz der Kunst in meiner Arbeit. 3.
Die Menschheit erobert neue Welten, durch neue Erkenntnisse, durch Erfindung neuer Techniken, Werkstoffe..., und die Kunst entwickelt sich mit ihr und umgekehrt. Und die Kunst an sich ist authentisch (wahrhaftig) – der Kunstbegriff ändert sich, erweitert sich und justiert sich nach. Dieses Scheinen der Kunst beziehe ich nicht auf den Prozess, wenn ein Werk entsteht, auch nicht per se auf den Einsatz neuer Techniken, Werkstoffe oder Philosophien, Erkenntnisse. Für mich hat es die gleiche Bedeutung, ob ich auf einem Blatt Papier mittels Stift meine Zeichnung entstehen lasse oder ob ich mit Hilfe eines KI-Programms im Computer eine Arbeit entwickle. Es ist beide male ein schöpferischer »Einsatz« meinerseits, und ich bin authentisch mit mir und der Arbeit. Dieses Scheinen der Kunst oder eine evtl. Scheinhaftigkeit aller Kunst resultiert aus meiner Sicht vornehmlich aus dem Zusammentreffen der Kunst mit der Öffentlichkeit, dem Agieren, Favorisieren, Verneinen, Zusammenspielen unterschiedlicher Interessen, Vermarkten der Kunst...
4. Die Einmaligkeit eines Kunstwerks liegt im schöpferischen Moment. Es ist ein einmaliger Erschaffungsprozess. Dieser einmalige schöpferische Moment, der allen Kunstwerken zu Grunde liegt, ist unabhängig von der (unmittelbar notwendigen, z. B. aus der verwendeten Technik resultierenden oder möglichen) Reproduzierbarkeit dieses Werkes. Durch die Reproduzierbarkeit (z. B. die Höhe der Auf lage...) wird der finanzielle Wert aufgeteilt und sicherlich sein Ertrag dadurch gemindert, doch kann die Reproduzierbarkeit diese Aura der Einmaligkeit des schöpferischen Moments eines Kunstwerkes (einer Komposition, eines Gedichtes, einer Radierung, Fotographie, digitalen Arbeit...) nicht in Frage stellen oder gar zerstören. Und die Künstler:in (oder Künstler:innen) ist stets im »geistigen Raum« zugegen, wenn sie ein Kunstwerk erschafft.
Künstler:innen-Statements
5.
(Vision) Doch wohin geht die Reise der Kunst. Ob eines Tages, mit Hilfe von »?«, die Vorstellungen, Bildvisionen eines Menschen so analysiert und umgewandelt werden können, dass sie absolut identisch direkt vom Gehirn z. B. auf Leinwände übertragen werden können und so den Kunstbegriff um eine neue Technik erweitern werden? Vielleicht. Sicher ist, dass dies nur eine Zwischenstation sein wird, auf dem noch langen Weg der weiteren Veränderung der Menschheit und der Kunst. Wird es Kunst ohne Künstler geben, da die Menschheit vielleicht nicht mehr existiert? Und »Kunst als kreatives, abgespeichertes Potential der Menschheit« bleibt und sich mittels Künstlicher Intelligenzen weiterentwickelt? Und ist es dann noch Kunst? Aus meiner Sicht »Ja«, in einer sehr erweiterten, im Moment vielleicht nicht ganz fassbaren Definition und Bedeutung dessen, was Kunst ist und ausmacht!
Gerhard Hahn 1.
Der Bezug meiner Arbeit zur KI ist nicht instrumentell, sondern reflektiv.
2. Kunst ist für mich die Transformation von Ideen und Emotionen in Materie. Die Rück-Entschlüsselung dieser Information zwischen Schöpfendem und Betrachtenden funktioniert nicht vollständig, es entstehen vielmehr Schnittmengen, das ist vielleicht das Essentielle, aber auch Vielschichtigkeiten, die Räume der Poesie öffnen und zum Weiterdenken und -fühlen anregen. Mein zentrales Thema ist die Befindlichkeit des Menschen zwischen den Polen Natur und Technik. Als ausgebildeter Ingenieur und Künstler ref lektiere ich dieses Thema mit den Mitteln des Ateliers, aber seit vielen Jahren ebenso in temporären Projektkooperationen in produzierenden Industriebetrieben. In diesem Sinne lege ich einen künstlerischen Finger direkt in die Wunde. Dabei nutze ich meist elementare Formen und Bilder, die sowohl technisch als auch organisch konnotiert sind. Durch die geschickte Wahl von Mehrdeutigkeiten baue ich ein Netz von Zusammenhängen, Brüchen und Irritationen, die teils entschlüsselbar sind, teils geheimnisvoll bleiben. Die Einbeziehung von (industriellen) Materialqualitäten, Prozessspuren und »Fehlern« verleiht meinen Arbeiten eine weitere ästhetische Sprach-
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ebene. Seit 2015 beziehe ich digitale Entwurfs- und Realisationstechniken in meine Arbeit ein, um die Veränderungen in einer zunehmend digitalen Welt zu ref lektieren. Dabei nutze ich industrielle generative Technologien in großformatigen Dimensionen und treibe die hier vorgefundenen Möglichkeiten an und über ihre Grenzen. Alles ist Teil eines großen Denk- und Produktions-Abenteuers. 3.
Nichts ist an sich wahr, sondern stets durch das Subjekt und seine Art zu denken, zu interpretieren und zu empfinden geprägt. Das Kind unterscheidet nicht zwischen Wahrheit und Phantasie, kann sich seine Welt aus dem Nichts erschaffen. Das ist für mich höchste Qualität. Wenn die vernunftgesteuerte Handlung die arme Alternative ist, dann entscheide ich mich gern für den Reichtum des schönen Scheins als Zelebrierung eines zeitgemäßen Kultus.
4. Meine Arbeit ist im unmittelbar instrumentellen Sinn nicht KI-bestimmt. Serialität ist die Frucht der Maschine seit der Industrialisierung, von daher nicht neu. Meine 3D-Druck-Arbeiten stelle ich, schon aus finanziellen Gründen, i.d.R. nur einmal her, obwohl weiterhin misslungene oder verfahrensbedingt abweichende Formerscheinungen auftreten, die ich auf inhaltliche Signifikanz oder ästhetischen Unterstützungsgehalt prüfe und ggf. in mein Werk einbeziehe. Noch halte ich den Künstler nicht für reproduzierbar, sondern nur Teile seines Tuns. Ästhetische Wirksamkeit wird aus meiner Sicht bald von KI erlernt worden sein, sie bleibt jedoch ohne geeigneten geistigen Hintergrund zunächst dekorativ, im schlechtesten Fall manipulativ. In dem Maß wie zukünftig Daten für den Algorithmus und Biosensoren für die Erfassung von Emotionen zur Verfügung stehen, werden tiefgreifende ethische Entscheidungen zu fällen sein, damit wir nicht als menschliche Datensätze zu Anhängseln eines Mega-Lebens-GPS oder einer SuperSiri verwertet werden. Wem gehören also die Daten!? Welche Rolle die Kunst in diesem Zusammenhang als kritisches Element spielen wird, hängt davon ab, inwieweit auch ihre Schöpfer in der Kommunikation mit den Programmen ihre Autonomie erhalten können 5.
Meine spontanen Gedanken klingen für mich selbst melodramatisch. Werden wir unsere Fehlerhaftigkeit als menschliche »Tugend« trotz KI
Künstler:innen-Statements
bewahren können oder wird sich unser Menschsein im Übermenschlichen und Vielgöttlichen auf lösen? Wird der digitale Olymp dann groß genug für alle sein? Werden wir irgendwann lächelnd auf einen begabten Affen zurückblicken, aber selbst in einem digitalen, naturentleerten, perfekten Datendschungel leben, oder schaffen wir es, das Analoge, Körperliche, sinnvoll und glücksbringend mit den ungeheuren Möglichkeiten des Digitalen zu verknüpfen? Werden wir dann noch krank sein, sterben, die grundlegenden Gefühle des Menschen haben (wollen), mit all ihren Veränderlichkeiten, Verletzlichkeiten und Ambivalenzen, der Möglichkeit zu wachsen, sich zu freuen, zu scheitern und zu lieben?
Günter Nosch 1.
Mein Verhältnis zur KI ist skeptisch, allerdings nicht gegenüber einer neuen interessanten und in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzenden Technologie, sondern angesichts der euphorischen Argumentation aktueller Entwickler und Anbieter. Die weit konkretere Frage nach der neuen Technik, dem neuen Werkstoff führt in der Konsequenz vom Blick auf die KI weg, hin zu Rechnersystemen als Werkzeug, mit denen wir KI-gestützte Systeme benutzen. Und Kunst findet ja oft in der Überhöhung oder Überwindung dessen statt, was im Werkstoff oder Werkzeug bereits angelegt ist. In sehr verwandtem Sinne unterscheidet sich Kunst von Kitsch, indem sie nicht nur gefallen will, zumindest nicht das bietet, was vereinfachend gesagt, zur jeweiligen Zeit als »das beste Erwartbare« gilt. Das führt direkt in die zweite Frage...
2. Mich führt die Arbeit mit KI zwangsläufig zu einem auf den ersten Blick »falschen« oder zumindest »so nicht vorgesehenen« Umgang mit der KI. Also gerät auch hier, wie so oft, die Kunst in den Bereich des »Sinnlosen«, zumindest scheint sie wenig zielgerichtet, um jedoch in der Folge Fragen aufwerfen zu können, die im üblichen, richtigen Umgang mit einem Werkzeug gar nicht auftauchen. Was derzeit von den gängigen und erfolgreichen Plattformen im Bereich der KI-getriebenen visuellen Programme angeboten wird, führt meines Erachtens großenteils zu Glanzkacke. Die KI wird hier zum Instrument für schnell und ohne große Eigenleistung erworbenen Kitsch. Dies ist nun nicht sehr
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überraschend, wenn man die Interessen der Betreiber sowie den ästhetischen Standard im Social Media-Bereich betrachtet, doch bedarf es des Gegengewichtes einer echten künstlerischen Position. Genau da ist der Platz der Kunst im Zusammenhang mit KI, wie im Übrigen überall. So haben Flavio Cury und ich aus meiner Serie Verabredete Zeichen einem KI-gesteuerten Programm Zeichen ohne jede Bedeutung zum Lesen gegeben. Die so entstandenen »falschen« Aussagen über die Bilder und Zeichen waren auf eigenartige Weise schräg und teilweise bereits überraschend poetisch. Im nächsten Schritt entwickelte Flavio Cury im Rahmen seines Konzeptes Mallarmix diese schrägen Aussagen – unter Anwendung von KI-gesteuerten Gestaltungsprogrammen – zu Visueller Poesie weiter und ließ die über die verschiedenen Bildschirme des Raumes wandernden und sich wandelnden Texte von einer KI-betriebenen Stimme lesen. Dies ist erst der Anfang eines auf längere Sicht angelegten Projektes, eine KI auf »falsche« Ziele hin zu trainieren, zum Beispiel Poesie. Gerade das Offene, Nicht-Zielgerichtete dieses Vorhabens trägt die Potenz in sich, eine neue, unbekannte Wort- und Zeichenwelt zu erschaffen oder zumindest, weniger hochgegriffen, in der Interaktion von Mensch und KI dem weiten Feld der Poesie ein paar erhellende Lichter hinzuzufügen. Let’s get poetical, AI-Baby! 3.
Das sinnliche Scheinen der Idee bei Hegel geschieht ja eher angesichts eines klassischen Werkes, während Flusser seine Skepsis vor einer späteren, autonomen Kunst zur Sprache bringt. Letztendlich sind wir heute in einer Welt angelangt, in der der autonome Kunstbegriff so absolut ist, dass die Frage nach der Einmaligkeit und Aura zurücktritt hinter die Bedeutung der Sichtweise (des Betrachters). Worum es heute gehen sollte, ist eher der Blick auf die Realität, die ein Werk oder ein Gedanke beim Betrachter auslöst. Dieser Satz scheint zunächst in sich falsch oder zumindest sehr krude, aber bringt es meines Erachtens auf den Punkt. Dahinter steckt ein neuer Realitätsbegriff genauso wie eine höhere Identität von Werk und Idee angesichts einer alles umfassenden medialen Welt. An dieser Stelle ist unser Ansatz zu sehen. Es geht letztlich um Operationen in verschiedenen Realitäten, die wir nicht in real und virtuell unterscheiden sollten, sondern jeweils in ihrem eigenen Zusammenhang und Sinn erkennen und begehen sollten. Und egal in welcher dieser Realitäten wir in Sachen Kunst unterwegs sind, wir
Künstler:innen-Statements
sollten die Ränder erforschen, die Sache hinterfragen, experimentieren oder alles Mögliche machen, nur eines nicht: blenden. 4. Schon der Begriff Künstliche Intelligenz bereitet mir Unbehagen, da in ihm durch die sehr menschliche Konnotation des Wortes Intelligenz eine Art Personifizierung steckt. Eigentlich wären angesichts der aktuell in Anwendung befindlichen KIs Begriffe wie intelligente Systeme, autonome Werkzeuge oder lernfähige Maschinen passender. Derartige Begriffe würden eher zu einer anderen und neuen Bewertung dessen führen, was diese Systeme – so wie wir Menschen – heute oder in Zukunft leisten. So gesehen geschieht in der Bezeichnung KI oder AI etwas, das auch im Geniekult geschieht: Eine Leistung von Systemen, Prozessen oder Gruppen wird auf eine Person reduziert. Eigentlich müsste, was uns hier das 19. Jahrhundert eingeschenkt hat, bereits im 20. Jahrhundert überwunden worden sein, was es allerdings bis heute nicht ist. Die Frage, wo denn das Authentische oder Einmalige einer kreativen Leistung der KI zu finden ist, stellt sich also anders. Der durchaus zeitgemäße Umgang mit diesen Begriffen ist bei genauer Betrachtung nur eine Fortführung des individualistischen Genie-Gedankens. Vielleicht wird durch die fortschreitende Entwicklung der KI eine Art von Denkmalsturz solch konservativer Denkmuster stattfinden. Denn es ist tatsächlich zwingend, dass angesichts künftiger »genialer« Leistungen von intelligenten Systemen die Frage nach Einmaligkeit, Authentizität oder Ursprung neu gedacht werden muss. Hier sehe ich auch die Chance, dass wir in der Folge unsere menschlichen Systeme so weiterentwickeln, dass wir endlich den Namen Menschheit verdienen. 5.
Wann darf ich wieder in die Wirtschaft?
Tamiko Thiel 1.
Die Video Installation Lend Me Your Face! benutzt KI-Deep Fake-Technologie um kurzerhand ein Foto deines Gesichts nach der Vorlage eines »driving videos« einer prominenten Persönlichkeit zu animieren. Deine Mimik und deine Kopf bewegungen werden damit, ohne dein Mitwirken, in »den Dienst« der Promis gestellt. Als große Videoprojektion,
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neben der Videoprojektion der Prominenten, »ahmt« dein Foto diese nach. Als Teil ihres Chores singst und predigst du mit, egal ob du ihre Worte billigst oder missbilligst. Dieser Kontrollverlust über das eigene Gesicht – das eigene Ich – steht sinnbildlich für den Kontrollverlust über alle unsere Daten. Vielleicht stört es dich nicht, dass deine Daten wie z. B. deine Social-Media-»Likes«, deine Bewegungsdaten, deine Kontenbewegungen von anderen gelesen werden und zu Geld gemacht werden. Dein gescanntes Gesicht ist auch nur Daten – aber wie fühlst du dich, wenn ausgerechnet diese Daten so einfach manipuliert werden können? Lend Me Your Face! ist also der Versuch, dem tiefgreifenden Kontrollverlust über deine eigenen Daten ein Gesicht zu geben – dein Gesicht. 2. Der Einsatz der Kunst liegt in dem Moment, dass du dein eigenes Gesicht siehst, »entführt« für Zwecke außerhalb deiner Kontrolle. Das eigene Gesicht war schon immer der Schild, den man zwischen dem eigenen Ich und der Außenwelt hochhält, als Schutz und als Waffe. In der heutigen Selfie-Gesellschaft ist es oft die wichtigste Währung, um Likes und Anhänger zu gewinnen. In vielen Kulturen ist der Gesichtsverlust das Schlimmste was passieren kann. In unserer Überwachungsgesellschaft, in der jeder eine Kamera mit sich spazieren führt und jedes Gebäude mehrere Überwachungskamera-Augen haben kann, ist dein Gesicht vielleicht nicht mehr dein eigenes. 3.
Vilém Flusser starb zu früh. Er hat Social Media nicht mehr erlebt. Er hat die Coronavirus-Welt nicht erlebt, in der das Leben im schönen digitalen Schein das einzig Wahre ist. Die Scheinhaftigkeit ist das wahre Leben. Das Leben, wie wir Künstler schon immer wussten, ist Kunst.
4. Die Aura haftet schon längst nicht mehr an dem Werk selbst, sondern am Erleben des Werks – an der Rezeption des Werks im Bewusstsein des Betrachters (oder noch mehr im Bewusstsein des Teilnehmers). Insbesondere in zeitbasierten Medien ist das Erleben des Teilnehmers das eigentliche Kunstwerk. 5.
Das Coronavirus-Jahr 2020 ist das Use Case-Szenario der digitalen Welt. Wie wäre dein Leben im Lockdown ohne digitale Medien gewesen?
Künstler:innen-Statements
Susanne Thiemann 1.
Meine Arbeit Wonʼt let you down besteht aus vielen langen Fäden, die ich zu einer festen Struktur von circa 30 cm um einen schwarzen Boxsack gef lochten habe. Im übertragenen Sinne ein Korsett. Die Kunststofffäden öffnen sich sowohl nach unten wie nach oben und stehen für die Vernetzung in die Welt. Neue Technik für Skulptur ist das Gef lecht, das sich in den Raum zieht und für Auf lösung und Verbindung steht und gleichermaßen Alltagsgegenstände, wie hier einen schwarzen Boxsack, umhüllt und trägt.
2. Ich versuche mit meiner künstlerischen Arbeit etwas zum Ausdruck zu bringen, das keinen Gebrauchswert mehr hat. Ich glaube, da beginnt Kunst. Ich denke in Bildern und Metaphern. Meine Objekte und Skulpturen sollen bei dem Betrachter emotional etwas auslösen. In der Ausstellung Götzendämmerung hängt die Arbeit wie ein »Werkprozess« in der digitalen Welt an der Decke, der sich unendlich fortsetzen könnte. Ich selbst fühle mich während der Arbeit mit der Welt und Menschen verbunden. Wie beim Spinnen oder Weben ziehen die Gedanken meditativ in die Welt und darüber hinaus. 3.
Mein Ausstellungsbeitrag hängender Boxsack mit Gef lecht steht für Vernetzung, Eleganz, Einsamkeit, Stärke, Symbiose und Abgrund. Ich glaube, diese Begriffe oder Zustände kann man durchaus auf die KI übertragen. Der Boxsack wird nur scheinbar durch ein schwarz gef lochtenes Gef lecht gehalten. Tatsächlich wäre sein Gewicht zu schwer und er braucht eine ganz andere Auf hängung. So geht es uns vielleicht auch mit der KI. Trotz faszinierender Ergebnisse und Hilfestellung, Schönheit und Abgründe können wir den eigentlichen Halt nur in uns selber finden. Nicht in der äußeren Welt oder in digitalen Scheinwelten.
4. – 5.
–
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Felix Weinold 1.
Ich bin tastend und neugierig in das Thema eingestiegen; ich hatte vorher noch keine künstlerische Erfahrung mit dem Thema. Mein Ansatz war deshalb auch weniger technisch, als vielmehr ironisch und literarisch. In meiner Wandarbeit stelle ich ja die Frage, was passieren würde, wenn sich die so hoch gelobte KI ihrem Herrn und Meister einfach verweigern würde. Zu diesem Zweck habe ich eine literarische Parallele gewählt: die Erzählung Bartleby, der Schreiber von Herman Melville aus dem Jahr 1856. Darin verweigert ein Büroschreiber konsequent den Dienst mit den immer gleichen Worten »I would prefer not to«. Genau dies hat der Zeichenroboter in meiner Wandinstallation genau einmal geschrieben, und dann den Dienst eingestellt. Meine Haltung ist also eine durchaus skeptische.
2. Ich bin nun schon ca. 40 Jahre in Sachen Kunst unterwegs, angewandter und freier, in Malerei, Fotografie, Video, Bühnenbild, Kunst am Bau. Dass es sich bei den von mir erstellten Ergebnissen um Kunst handelt, ist immer zunächst eine Behauptung. Inwieweit es tatsächlich Kunst und welche Relevanz den Arbeiten zuzumessen ist, überlasse ich den Betrachtern und Theoretikern. Meine Aufgabe als Künstler ist es, Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erkenntnisse zu verdichten und in Werke und Projekte zu transformieren, die im glücklichen Fall für andere als Katalysator für eigene Erkenntnisse dienen können. Jemand, der meine Arbeiten betrachtet hat, sollte im besten Fall danach mehr sehen als zuvor. Nach wie vor scheint mir eine der besten Antworten auf die Frage nach dem Sinn und der Aufgabe der Kunst Jan Hoets Statement: »Kunst bietet keine klaren Antworten. Nur Fragen.« 3.
Über diese Frage ließen sich ganze Bücher schreiben (und sie wurden ja bereits geschrieben). Mein Ansatz kommt stark von der Idee Walter Benjamins her (Die Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit): Das menschengemachte Werk hat gegenüber auch der allerbesten technischen Reproduktion, aber, wie ich finde, ebenso gegenüber den artifiziellsten Hervorbringungen von Maschinen, eine Aura. Bisher ist mir noch kein KI-generiertes Werk untergekommen, das diese Aura noch besaß, wenn ich (vielleicht eine zeitlang getäuscht über
Künstler:innen-Statements
den technischen Ursprung) wusste, dass es maschinengemacht ist. Dann bewundere ich das Geschick, mit dem das Werk mich täuschen konnte, die Brillanz der Programmierer. Aber die Luft entweicht doch sofort, und zurück bleibt eine Hülle, die mich als Mensch nicht wirklich berührt. Was nicht heißt, dass es keine konzeptionellen Werke mit KI-Unterstützung geben kann, die nicht intellektuell anregend und Einsichten über die menschliche Existenz erweiternd sein könnten. Sie tun das aber in meinen Augen eher wie philosophische Traktate oder wissenschaftliche Forschung. 4. Zur Frage nach Authentizität und Aura habe ich ja schon unter 3. geantwortet. Bezüglich der Notwendigkeit eines realen Künstlers sehe ich am stärksten die Musik von der schleichenden Unterwanderung durch KI gefährdet. Algorithmen ist es längst möglich, auf der Basis von Milliarden von Messdaten (Spotify etc.) Musik zu generieren, die zumindest im Bereich der U-Musik den Produkten von Komponisten gleichkommt. In der Bildenden Kunst ist sicher der Bereich der Fotografie stärker als die Malerei, Performance, Landart etc. von der Ablösung durch KI bedroht; im Schauspiel Theater weniger als Film. In der Literatur könnten Zeiten kommen, in denen zumindest Unterhaltungsliteratur von KI geschrieben werden könnte. Bei all dem könnten aber positive und nützliche Entwicklungen durchaus durch Einbeziehung von KI in den Schaffensprozess interessant sein. Dann wäre sie letztlich nichts anderes als ein komplexes Werkzeug für den Künstler. Denn die Relevanz einer künstlerischen Arbeit zeigt sich doch in erster Linie im Gehalt, in den Bedeutungsebenen, die ein Rezipient für sich fruchtbar machen kann. 5.
a) Was würde trainierte KI auf die oben genannten Fragen antworten? b) Ist es denkbar, dass KI einmal eine derart individuelle und originelle Persönlichkeit entwickelt, daass es Menschen nachhaltig interessie ren wird, ihren Äußerungen dauerhaft und mit Interesse zu folgen? Oder wäre das ein sich schnell abnutzender Effekt? Bots in Social Media und Datingportalen deuten darauf hin, dass es so kommen könnte. c) Ist 42 wirklich die Antwort auf die Frage »nach dem Leben, dem Uni- versum und dem ganzen Rest«?
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Coda: Die Winterbarone des Manuel Eitner Cornelia Oßwald-Hoffmann
Wie ein letztes Ausrufezeichen fand sich im hinteren Treppenabgang die kleine, anonym bleibende Arbeit Winterbarone von Manuel Eitner. Ein schwarz-weißer Sticker, überschrieben mit »Die Winterlüge!«, wurde neben einen quadratischen, metallenen Verschlussdeckel vermutlich eines Stromanschlusses, dessen Format wiederholend auf die Wand geklebt. Die Arbeit ist unauffällig und kann leicht übersehen werden, und wenn sie wahrgenommen wird, gibt sie sich nicht sofort als Kunstwerk zu erkennen. Vielmehr scheint sie von einem Besucher angebracht worden zu sein, der die öffentliche Plattform nutzte, um auf seine eigene Verschwörungstheorie hinzuweisen. Deshalb liest sich der Sticker in Form und Inhalt wie ein Abb. 34: Manuel Eitner, Winterbarone, 2020, Druck auf Papier, 15 × 15 cm
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Cornelia Oßwald-Hoffmann
Teaser, der unter den vorbeilaufenden Ausstellungsbesuchern mit seinem auffordernden Charakter nach Gleichgesinnten »fischt«. Da die geäußerte »Theorie« – es habe nie einen Winter gegeben – bewusst so haarsträubend und offensichtlich falsch ist, müsste sie eigentlich von jedem Besucher sofort als Produkt eines paranoiden Geistes wahrgenommen werden. Gerade aber diese Absurdität, zumal im musealen Rahmen, kann die Betrachter auf die Spur des konzeptuellen Kunstwerkes Winterbarone bringen. Dieses beschäftigt sich mit Verschwörungstheoretikern und ihren abstrusen, meist aber in sich logischen Gedankengebäuden, die als »Resultat einer subjektiven Interpretation selektiver Wahrnehmungen«1 zu verstehen sind. Um diese paranoide Hermetik zu durchbrechen, versuchen sie die Realität immer mehr in ihr Konstrukt hineinzuziehen und, aus ihren realen Zusammenhängen gelöst, als Bausteine für ihr eigenes fantastisches »Palais Idéal«2 zu verwenden. Der Austausch von Realität und erfundener Parallelwelt, real und fake ist vollendet. Folgerichtig wird in der Arbeit von Eitner nicht ersichtlich, ob es sich um ein vom Künstler bewusst hergestelltes Fake einer nicht vorhandenen Verschwörungstheorie oder um ein von einem Verschwörungstheoretiker angefertigtes Dokument seines Realitätsfakes handelt. Allerdings überdreht die »Winterlüge« die Verschwörungstheorie so weit, dass ihre Pseudostrategie in ihrem paranoiden Stil offensichtlich wird. Die »Verschwörungstheorie« entlarvt sich selbst als solche und macht damit die Funktionsweise sowie das psychologische Entlastungspotential von Verschwörungstheorien an sich sichtbar.3 Doch damit ist man noch nicht am Ende, denn liest man den Text des Stickers genauer – »Über Jahrzehnte wurden eure Winterbilder und -erinnerungen manipuliert, vom retouchierten zum computergenerierten Schneepanorama« – wird klar, dass die vorgebrachte »Theorie« eigentlich gar nicht in ihrem Wahrheitsgehalt zur Diskussion steht, sondern auf eine viel größere Verschwörungstheorie verweist, die rund um das Thema des Künstlichen Lebens und der manipulativ-technischen Möglichkeiten der KI kreist. Wie bei Programmen des Deep Fake gezeigt, kann mit ihrer Hilfe tatsächlich die Realität gefälscht werden. Was dann aber bedeuten würde, dass es in der Arbeit Winterbarone nicht allein um die Entlarvung von Verschwörungstheorien geht, sondern zugleich um eine Verschwörungserklärung, die den Anspruch auf eine ernsthafte Prüfung hat. Damit spricht Eitner ein Problem an, das immer dann auftritt, wenn durch das plötzlich vermehrte Auftauchen von Verschwörungstheorien und ihre mehrheitliche, gesellschaftliche, Ablehnung das Verschwörungsdenken an sich pauschal abgewertet wird
Coda
und alle seine Protagonisten als paranoid pathologisiert werden, auch die, die tatsächlich Verschwörungen aufdecken. Die reale Verschwörung läuft also Gefahr im Wust der Verschwörungstheorien zu verschwinden. Letztlich mahnt Winterbarone ein genaues, komplexes Betrachten und ein unvoreingenommenes Überprüfen von real und fake an.
1 Katrin Götz-Votteler/Simone Hespers, Alternative Wirklichkeiten? Wie Fake News und Verschwörungstheorien funktionieren und warum sie Aktualität haben, Bielefeld 2019, S. 43f f. 2 Das Palais Idéal, auf das hier angespielt wird, wurde von dem künstlerischen und architektonischen Laien Ferdinand Cheval, dem sogenannten Facteur Cheval, einem französischen Postboten, in Hauterives von 1879 bis 1922 erbaut und spiegelt den Kosmos seiner ganz eigenen, allerdings heiteren Weltsicht wieder. 3 Wenn man davon ausgeht, dass Verschwörungstheorien dem von der Komplexität der Realität überforderten Menschen dazu dienen gerade diese Komplexität auf eindeutige, einfache Inhalte zu reduzieren und damit den Glauben an die Durchschaubarkeit der Realität und die Selbstwirksamkeit des Subjekts aufrechtzuerhalten.
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Anhang Verzeichnis der Exponate Memo Akten Learning to see: Gloomy Sunday (2017), We are made of stardust (2017), True colours (2020) Sougwen Chung Flora Rearing Agricultural Network (F.R.A.N.) (2020) Federico Delfrati Beresheet (2020) Elke Dreier I will not reply handshake with AI (2020) Judith Egger Dunkelwelt (2018) Manuel Eitner Winterbarone (2020) Amit Goffer Seven Mountains Seven Dwarfs, a Tale of two Cities No. 4–5 (2016) U & Me 01010101 00100110 01001101 01100101 (2020) Judith Goldschmid Vater 01 und Vater 02 (2014)
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Hakan Gündüz Artifact (2020) Zita Habarta ROD 2 und ROD 4 (2020) Gerhard Hahn Lord of the (F)Lies (2017) Nico Kiese & Bernhard Slawik Mimimat (2020) Vera Lossau Untitled (eine kurze Geschichte der Löcher): o. T. (Ring) (2016/2020) Günter Nosch Verabredete Zeichen (2019) Günter Nosch & Mounsif Chetitah Manifesto 1 & AR Media Installation (2020) Obvious Le Duc de Belamy (2018) L'Archevêque de Belamy (2018) Susanne Pittroff o. T. (Touchables) (2018) Tamiko Thiel Drei Menschen, erfasst (2020) Susanne Thiemann Wonʼt let you down (2019) Patrick Tresset Human Studies #2 (ab 2014) und #5 (ab 2018)
Anhang
Felix Weinold Bartleby (2020) LiveActs von Elke Dreier (Tell Me About Breathing), Judith Goldschmid, Zita Habarta, Nico Kiese, Günter Nosch & Flavio Cury (Mallarmix), Tamiko Thiel & /p (Lend Me Your Face!), Felix Weinold
Bildnachweise Flavio Cury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 45 Susanne Hesping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seiten 28, 29, 31, 47 Trisha Kanellopoulos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 61 Günter Nosch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 41 Achim Schäfer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seite 38 Alexander Timtschenko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seiten 21, 51, 55 unten, 56, 57, 63 Soweit nicht anders ausgewiesen, stammen die Abbildungen von den Künstlerinnen und Künstlern selbst.
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Medienwissenschaft Tanja Köhler (Hg.)
Fake News, Framing, Fact-Checking: Nachrichten im digitalen Zeitalter Ein Handbuch 2020, 568 S., kart., 41 SW-Abbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5025-9 E-Book: PDF: 38,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5025-3
Geert Lovink
Digitaler Nihilismus Thesen zur dunklen Seite der Plattformen 2019, 242 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4975-8 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4975-2 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4975-8
Mozilla Foundation
Internet Health Report 2019 2019, 118 p., pb., ill. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4946-8 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-4946-2
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Medienwissenschaft Ziko van Dijk
Wikis und die Wikipedia verstehen Eine Einführung März 2021, 340 S., kart., Dispersionsbindung, 13 SW-Abbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-5645-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5645-3 EPUB: ISBN 978-3-7328-5645-9
Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)
Zeitschrift für Medienwissenschaft 24 Jg. 13, Heft 1/2021: Medien der Sorge April 2021, 168 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-5399-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5399-5 EPUB: ISBN 978-3-7328-5399-1
Cindy Kohtala, Yana Boeva, Peter Troxler (eds.)
Digital Culture & Society (DCS) Vol. 6, Issue 1/2020 – Alternative Histories in DIY Cultures and Maker Utopias February 2021, 214 p., pb., ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4955-0 E-Book: PDF: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4955-4
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