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German Pages 534 Year 1996
BERLINER HISTORISCHE STUDIEN Herausgegeben vom Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin
Band 22
Großdeutsche Geschichtsschreibung im neunzehnten Jahrhundert Die erste Generation (1830 – 1848)
Von
Thomas Brechenmacher
Duncker & Humblot · Berlin
THOMAS
BRECHENMACHER
Großdeutsche Geschichtsschreibung im neunzehnten Jahrhundert
BERLINER HISTORISCHE STUDIEN Herausgegeben vom Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin und dem Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin
Band 22
Großdeutsche Geschichtsschreibung im neunzehnten Jahrhundert Die erste Generation (1830-48)
Von
Thomas Brechenmacher
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Brechenmacher, Thomas: Grossdeutsche Geschichtsschreibung im neunzehnten Jahrhundert : die erste Generation (1830 - 48) / von Thomas Brechenmacher. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Berliner historische Studien ; Bd. 22) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08874-3 NE: GT
D 188 Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6941 ISBN 3-428-08874-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Inhalt Vorwort
11
Einleitung: Historiographiegeschichtsschreibung und geschichtswissenschaftliche Traditionen in Deutschland
15
Wegele: Die Einführung der Großdeutsch-Kleindeutsch-Spaltung in die Historiographiegeschichtsschreibung 16 - Die historiographische GroßdeutschKleindeutsch-Kontroverse: vorübergehende Erscheinung oder tiefergründendes Phänomen? 20 - „Großdeutsche Geschichtsschreibung": Terminologie und Personenkreis 24 - Universalismus? 32 - Katholizismus 35 - Konservativismus 38 - Notwendigkeit der Aufarbeitung 42 - Von Wegele zu Wehler: die Traditionslinie 45 - Ansatz, Aufbau, Absicht der Geschichte großdeutscher Historiographie 66 Lebenswege
74
I. Johann Friedrich Böhmer
74
II. Friedrich Emanuel Hurter
87
ΠΙ. August Friedrich Gfrörer
100
IV. Ignaz Döllinger
120
V. Constantin Höfler
132
Denkwege
146
I. Die vergangene Zeit: Geschichte
146
1. Grundurteile
146
a) Das Alte Reich als Arbeitsfeld 147 b) Mittelalter: „status in statu" 154 Von der Entstehung deutscher „Nation" aus karolingischer Spätzeit (Gfrörer) 155 - Kaisertum und Papsttum unter Ottonen und Saliern (Gfrörer/ Höfler) 167 - Das Reich im Rahmen christlicher Weltordnung (Hurter) 173 — Vom Wendepunkt des Mittelalters I: der endgültige Bruch der universalen Einheit von Imperium und Sacerdotium; Friedrich Π., eine Studie de tyranno (Höfler) 186 - Vom Wendepunkt des Mittelalters Π: der Umbruch von Recht und Verfassung im deutschen Reich (Böhmer) 196 c) Neuzeit: Verlust des „status in statu" 209 Grundriß großdeutscher Reformationsdeutung (Döllinger) 209 - Reformation als Revolution (Höfler/Hurter)213 - Reformation und Reichsgeschichte
Inhalt
6
(Böhmer/Gfrörer)218 - Vom Augsburger Religionsfrieden zum Westfälischen Frieden 227 - Preußens Ursprung 236 2.
Urteilsgründe
239
a) Wissenschaft: „Irrthum, Zweifel und Wahrheit" 241 Vom Einen und vom Verlust der Mitte 241 - Döllinger über Irrtum, Zweifel, Wahrheit 244 - Höfler über katholische und protestantische Geschichtsschreibung 247 b) Historik: Geschichte, eine „adelige Wissenschaft" 249 Was ist „Geschichte44? 249 - Kontinuität und Diskontinuität: organisches Wachstum und revolutionärer Bruch 257 - Geschichte als Wissenschaft oder Die Aufgabe des Historikers 259 - Gfrörers „Historische Mathematik44 264 - Böhmers „Historik44 272: Quelle, Quellenedition (272); Forschung, Darstellung (281); Beurteilung, Verstehen (284) - Vom Endzweck der Geschichtsschreibung 285 Π. Die eigene Zeit: Politik 1.
Vormärzliche
288
Krisen
289
a) Aspekte der Unzufriedenheit mit Deutschlands Neuordnung von 1815 290 b) Julirevolution 295 Varianten gebundener Macht (Gfrörer / Höfler) 295 - Varianten der Rechtfertigung von Macht (Höfler / Hurter) 305 c) Kölner Wirren 308 Varianten des Konservativismus: Extrempositionen (Hurter / Gfrörer) 308 Modelle der Vermittlung (Böhmer / Döllinger) 320 2. Negativ und Positiv: Staat, Nation, Gesellschaft,
Kirche
a) Rückwärtsgewandte Utopie b) Das Schreckbild: Vom Radikalismus zum absolutistischen Konstitutionalismus c) Die konservative Antwort: Rückkehr zu denrichtigen Prinzipien auf Basis der Gerechtigkeit d) Begriff der „Nation" e) Österreich als Hoflnungsträger?
326
326 327 335 342 346
Traditionsstränge
350
1. Kraftfelder
350
1
Aufldärung,
Reichstradition,
Reichshistorie
350
2. Romantik
357
II. „Gränzsteine"
360
1. Bossuet
361
2. Friedrich
Schlegels Geschichtsphilosophie
3. Herder, Schelling, Hegel: abzulehnende Entwürfe 4. Friedrich
Schlegels Vorlesungen über neuere Geschichte
366 370 383
Inhalt 5. Burke
387
m . Wahlverwandtschaften
391
1. Hurier und Carl Ludwig von Haller
392
2. Böhmer und Johannes von Müller
401
IV. Gesinnungszirkel
408
1. Der Sehl osser-Kreis auf Stift Neub urg
410
2. Görres und sein Kreis in München
414
Öffentliches Handeln
427
I.
427
Mitgestalter der Politik
1. Hurter als Informant Metternichs
427
2. Gegen den gekrönten Radikalismus: Döllinger und Höfler in der bayerischen Politik der vierziger Jahre 431 3. Kirchliches 4.
und staatliches Einheitsband: Gfrörers
Einigungsplan
Vorschläge zu einer Neugestaltung Deutschlands: Johann Friedrich der „ mitteldeutsche Handelsverein " und die Triasidee
II. Gestalter der Fachwissenschaft 1. Geschichtswissenschaft Böhmer-Pamphlet 2. Bestandsaufnahme 3.
Böhmer, 449 456
in Deutschland während der vierziger
aus großdeutscher
442
Sicht: „Heidelberger
Jahre: Runkels 457
Dictatur"
und
„ Berliner Schule "
460
Versuche der Gegensteuerung
475
a) Böhmer, Gfrörer und der Streit um die Monumenta b) Historische Zeitschrift, Stiftung für deutsche Geschichte
475 481
c) Germanistenversammlung 1846: letzte Chance?
489
ΠΙ. Wissenschaft und Politik: Die Kontroverse Höfler - Hausser als Antizipation kommender Entwicklungen
496
Anhang
504
I.
504
Quellen-und Literaturverzeichnis
1. Ungedruckte
Quellen
2. Gedruckte Quellen
504 506
3. Sekundärliteratur
516
II. Abbildungsnachweis
525
ΙΠ. Personen- und Werkregister
526
Abkürzungen Allgemeine Deutsche Biographie Akademie der Wissenschaften Auflage Anmerkung Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt/M. Friedrich Wilhelm Bautz (Begr.): Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Hamm 1975ff. Biblioteca Vaticana Apostolica Rom Bibl. Vat. Apost. Bayerische Staatsbibliothek München Β SB Hermann Heimpel / Theodor Heuss / Benno Reifenberg (Hg.): DGD Die großen Deutschen. Deutsche Biographie, 5 Bde., Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1956-1966. Gulden fl. Generallandesarchiv GLA Geschichte in Wissenschaft und Unterricht GWU Herausgeber / herausgegeben Hg. /hg. Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien HHStA Historisches Jahrbuch HJb HPB11 Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland handschriftlich hsl. Hurter, GuW Friedrich [EmanuelJ Hurter: Geburt und Wiedergeburt. Erinnerungen aus meinem Leben und Blicke auf die Kirche, 2 Bde., 2. Aufl., Schaflhausen 1846/1847. HZ Historische Zeitschrift Killy Waither Killy (Hg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, 15 Bde., Gütersloh/München 1988-1993. LB Landesbibliothek Marbach, Dt. Lit. archiv Schiller-Nationalmuseum / Deutsches Literaturarchiv, CottaArchiv (Stiftung der Stuttgarter Zeitung), Marbach am Neckar MGH Monumenta Germaniae Historica Ms. Manuskript MVDGB Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen ND Nachdruck NDB Neue Deutsche Biographie NL Nachlaß ÖNB Österreichische Nationalbibliothek s. o. S. / s. u. S. siehe oben Seite / siehe unten Seite ADB AkdW Aufl. Anm. BA, Ff./M. Bautz
Abkürzungen SB Berlin 1 SB Berlin 2 StA SW TRE UAM u. d. T. UB Wetzer und Welte
WLB ZB ZBLG
9
Staatsbibliothek zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz, Haus 1: Berlin (Ost) Staatsbibliothek zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz, Haus 2: Berlin (West) Stadtarchiv Sämtliche Werke Theologische Realenzyklopädie Universitätsarchiv München unter dem Titel Universitätsbibliothek Heinrich Joseph Wetzer / Benedikt Welte (Hg.): KirchenLexikon oder Enzyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften, 1. Aufl., 12 Bde., Freiburg/Brsg. 1847-1856. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart Zentralbibliothek Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Vorwort Als studentischer Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften mit dem Auftrag versehen, für die posthume Veröffentlichung der Habilitationsschrift Gerhard Oestreichs die Literaturangaben zu überprüfen, stieß ich im Sommer 1987 zum erstenmal auf Johannes Janssens „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters". Aus meinem bisherigen Studium war mir Janssen ebensowenig bekannt wie der auf den Titelblättern der späteren Bände als Herausgeber erscheinende Ludwig Pastor, obwohl ich mich mit Historiographiegeschichte durchaus bereits befaßt hatte. Näheres Nachschlagen ergab, daß die Schuld an dieser Wissenslücke nicht allein bei mir lag. Janssen und Pastor fand ich in den einschlägigen Werken nur höchst selten erwähnt und wenn, dann oft mit deutlich abqualifizierendem Unterton. Das leuchtete nicht recht ein, schien doch Janssens „Geschichte des deutschen Volkes", deren Ansatz nicht nur die traditionelle Linie der Politik- und Ereignisgeschichte, sondern auch Kultur-, Wirtschafts-, Sozial-, ja,Alltagsgeschichte" umfaßte, recht modern, wenigstens aber studierenswert. Mit solchen Ansichten war ich mitten hinein geraten in ein Spezifikum deutscher Historiographiegeschichte im besonderen, vielleicht gar Geistesgeschichte im allgemeinen. Weitere Studien zeigten nämlich, daß die kollektive Erinnerung des Faches vor allem in den Bahnen eines Hauptstranges verläuft, der von Niebuhr und Ranke als den Begründern moderner kritischer Geschichtswissenschaft in Deutschland über die letzten Ausläufer einer Aufklärungshistorie - Rotteck, Schlosser, Gervinus - zu den „politischen", kleindeutsch-borussianisch orientierten Vertretern einer „Berliner Schule", Häusser, Droysen, Sybel und Treitschke, und schließlich zu einem dominanten neurankeanisch-nationalliberalen Feld von Historikern fuhrt. Daneben trat mir fast ausschließlich aus Heinrich Ritter von Srbiks Historiographiegeschichte jene andere Gruppe entgegen, der auch Janssen angehört: in der nationalen Frage grundsätzlich großdeutsch, am föderalistischen Ideal des Alten Reiches orientiert, katholisch oder dem Katholizismus nahestehend (katholizistisch). Hatte diese Historiker das Schicksal des Vergessens vor allem deshalb ereilt, weil sie nicht auf seiten der herrschenden Zeitströmung, weil sie nicht in Übereinstimmung standen mit der Idee des säkularen, vereinheitlichenden, allesübergreifenden Nationalstaates, die sich so mächtig im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland durchsetzte? Dabei repräsentierten ihre Ansichten deutscher Geschichte, ihre Vorstellungen von deutscher Zukunft doch zumindest diskutable
12
Vorwort
Alternativen zu jenem Weg, legten Wert darauf, zu zeigen, daß sich deutsche Geschichte nicht zwangsläufig auf den preußisch dominierten kleindeutschen Nationalstaat hinbewegen mußte, daß in dieser Geschichte eine Vielzahl von Möglichkeiten angelegt war, an die zu erinnern sinnvoll, wenn nicht gar notwendig schien. Hätte nun diese katholizistisch-konservative, großdeutsche Historiographie nur wie ein kümmerliches Pflänzchen neben der so herrlichen und gutgewachsenen protestantischen, kleindeutsch-borussianischen bestanden, so wären jene Beobachtungen vielleicht interessant, aber für die Historiographiegeschichte doch nur von marginaler Bedeutung gewesen. Gleichzeitig mit dem Studium ihrer Inhalte sah ich jedoch, daß einerseits die Produkte der „Großdeutschen" keineswegs von vornherein schlechter, minderwertiger oder wissenschaftlich weniger fundiert waren als die der „Kleindeutschen"; im Gegenteil, auch hier lag ernstzunehmende Geschichtswissenschaft vor, von deren Qualität nicht nur die Werke Janssens, sondern auch die Arbeiten Johann Friedrich Böhmers, August Friedrich Gfrörers, Constantin Höflers, Julius Fickers, Carl Adolf Cornelius' oder Moriz Ritters zeugen. Daß die Historiker auf der einen wie auf der anderen Seite im Rahmen bestimmter Voraussetzungen, mit einem bestimmten Grundverständnis von Geschichte und Wissenschaft arbeiteten, schien dabei selbstverständlich; wie bei diesen, muß auch bei jenen in der Kenntnis dieser Voraussetzungen ein wichtiger Schlüssel liegen zum Verständnis und zur gerechteren Würdigung der jeweiligen Historiographie. Schließlich zeigte sich auch, daß die großdeutsche Geschichtsschreibung in ihrer Zeit auf erhebliche öffentliche Resonanz gestoßen war. Ein breites, nicht nur katholisches bildungsbürgerliches Publikum hatte sein Geschichtsbild aus diesen Darstellungen bezogen. Lange vor den hohen Auflagenzahlen der Janssenschen „Geschichte des deutschen Volkes" war August Friedrich Gfrörers „Gustav Adolph" zu einem populären Geschichtsbuch avanciert. Julius Ficker erlangte größere Bekanntheit durch seine Kontroverse mit Heinrich von Sybel, Onno Klopp durch seine wortreichen Geschichtsbroschüren. Darüber hinaus trug eine weitgefächerte Publizistik der Genannten in Zeitungen und Lexika zur Verbreitung der großdeutschen Geschichtsansichten bei. Die katholizistisch-konservative, großdeutsche Historiographie stellte über drei Generationen von Historikern hinweg, von Friedrich Emanuel Hurter (1787-1865) bis Ludwig Pastor (1854-1928), einen bedeutenden Faktor des öffentlichen geistigen Lebens im deutschsprachigen Raum Mitteleuropas dar. Sollte eine Historiographie, deren Rang weit über den eines sekundären Nebenzweiges deutscher Geschichtswissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts hinausgeht, die vielmehr als unabtrennbare Kehrseite des hinlänglich bekannten Teiles dieser Wissenschaft erscheint, eine umfangreiche Gesamtwürdigung also nicht verdienen? Ohne die vertrauensvolle Aufmunterung meines Doktorvaters, Professor Dr. Hagen Schulze, hätte ich den Mut nicht aufgebracht, einen
Vorwort derartigen Versuch zu wagen, und wäre bei einer ursprünglich geplanten Arbeit über Johannes Janssen geblieben. Wenn statt dessen nun als Auftakt einer solchen Geschichte der großdeutschen Historiographie im neunzehnten Jahrhundert eine Studie über die „erste Generation", über die Grundlagen und Voraussetzungen dieser Historiographie erscheinen kann, so verdanke ich dies vor allem dem Impuls sowie der fortwährenden unbedingten Unterstützung durch Professor Schulze. Er hat mir von den ersten Anfangen der Arbeit an jenes fast unbegrenzte Vertrauen entgegengebracht, in dessen Bewußtsein ich erst sicher und zuversichtlich forschen konnte; er hat mir die möglichsten Freiräume gelassen und meinem Eifer nur dann Zügel angelegt, wenn es galt, mich vor sicheren Irrwegen zu bewahren. Für diese gelassene und großzügige Art von Doktorvaterschaft bin ich ihm herzlich dankbar. Um die erste Generation darstellen zu können, bedurfte es freilich des Studiums der gesamten Breite und Vielfalt großdeutscher Geschichtsschreibung. Dazu, zur Sammlung des Materials aus weitverstreuten, oft versteckten Nachlässen und Nachlaßsplittern, aber auch zur geistigen Verarbeitung der vielen Informationen, war vielfaltige Hilfestellung nötig. Ich danke den vielen Archivaren und Bibliothekaren, die Anfragen bereitwillig beantworteten und bei der Auffindung von Quellen behilflich waren, namentlich Ruth Landrock und Annabelle Böttcher (UB Freiburg/Brsg.), Christine Weidlich (UB Bonn) und G. Kroll (UB Frankfurt/M.), schließlich dem Leiter des Stadtarchivs Schaffhausen, Dr. Hans-Ulrich Wipf, und der Leiterin des Archivs der Ludwig-Maximilians-Universität München, Frau Professor Dr. Laetitia Boehm. Ein besonderer Dank geht an Inge Wojtke, die in der Berliner Zentralstelle der Autographen geduldig und freundlich immer neue Suchlisten bearbeitete, sowie an den Archivar des Benediktinerstifts Muri-Gries, Abt. Samen, Pater Adelhelm Rast OSB. Erst Pater Adelhelms wirklich aufopferungsvolle Hilfe erlaubte die Benutzung des in Samen aufbewahrten Nachlasses Friedrich Emanuel Hurters. Dr. Norbert Waschk betreute mich in Bonn; das DHI in Rom ermöglichte einen längeren Aufenthalt in Rom zum Studium des Nachlasses Ludwig Pastors; Dr. Florian Neumanns detaillierte Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse halfen, die Hürden der Benutzungsordnung der Biblioteca Vaticana zu überspringen. - Schließlich betrachte ich es nicht als eine Selbstverständlichkeit, sondern als ein Glück, die Bayerische Staatsbibliothek als Bibliothek „vor Ort" nennen zu können: ohne die Möglichkeit des täglichen Umganges mit den außergewöhnlichen Beständen dieser Bibliothek hätte ich die vorliegende Arbeit gar nicht zu beginnen brauchen. Für wertvolle Hinweise, für Anregungen, Kritik und Gesprächsbereitschaft danke ich Professor Dr. Hans Schmidt (München), Professor Dr. Reimer Hansen (Berlin), Dr. Hans Schenk (Frankfurt/M.), Markus Lischer in Luzern sowie Walter Troxler in Fribourg, mit dem ich über das gemeinsame Forschungsgebiet in lebhaften brieflichen Gedankenaustausch kam. Mit den Kommilitonen Michael Schaich und Andreas Edel verbindet mich neben der Erinnerung an
14
Vorwort
einen reichen Archivaufenthalt in Wien ein gemeinsames Doktorandendasein sowie das relativierende Bewußtsein, daß die so riesigen Probleme dieser Lebensphase auch andere zu tragen haben. Nicht allein für Vertrauen, Aufrichtigkeit und fachliche Förderung seit meinen ersten Semestern, sondern auch für menschliches Vorbild danke ich den Herrn Professoren Dr. Eberhard Weis und Dr. Michael Wolffsohn. Von beiden habe ich gelernt, daß der Beruf des Historikers nur dann Sinn hat, wenn er mit Verantwortungsgefühl und dem Ethos kritischer Pflichterfüllung gegenüber den Mitlebenden, sei es im unmittelbaren Lebensumkreis oder innerhalb einer größeren Öffentlichkeit, ausgeübt wird. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat durch ein großzügig und unbürokratisch über drei Jahre hinweg gewährtes Promotionsstipendium eine solide materielle Basis gelegt. Der Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin nahm die Arbeit im Wintersemester 1994/95 als Dissertation an. Vor der Drucklegung stand eine geringfügige Überarbeitung. Daß diese so relativ zügig erfolgen konnte, verdanke ich vor allem meinen Kolleginnen und Kollegen vom Historischen Institut der Universität der Bundeswehr München, allen voran Frau Privatdozentin Dr. Menth Niehuss, die mir die notwendigen zeitlichen Freiräume dafür bereitwillig zugestanden haben. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Berliner Historische Studien" bin ich Professor Dr. Kaspar Elm zu Dank verpflichtet. Barbara Köhler leistete wertvolle Hilfe bei Korrektur und Aufbereitung des Manuskripts. Verlagsseitig betreute Dieter H. Kuchta die Arbeit. Neben der fachwissenschaftlichen und der wirtschaftlichen existiert eine weitere, nicht minder wichtige Basis: diejenige gemeinsamen Lebens und daraus entspringenden inneren Gleichgewichts. Für beides zu danken entzieht sich den Möglichkeiten eines Vorworts. Deshalb sei mir erlaubt, diesen persönlichsten Dank auch auf persönliche Weise abzustatten. Meinen Eltern, Franz und Roswitha Brechenmacher, die mich immer ermuntert haben, eigene Wege zu suchen und zu beschreiten, sei das Buch zugeeignet. Wiewohl die vorliegende Studie über die erste Generation großdeutscher Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts als Teil eines größeren, in der Einleitung entwickelten Konzeptes erscheint, stellt sie doch eine in sich geschlossene Arbeit dar. Ob und in welchem zeitlichem Abstand andere Teile dieses Konzeptes realisiert werden können, hängt nicht allein vom Willen des Verfassers ab. An diesem zumindest soll es nicht fehlen. München, im Dezember 1995
Einleitung: Historiographiegeschichtsschreibung und geschichtswissenschaftliche Traditionen in Deutschland Historiographiegeschichtsschreibung in Deutschland ist ebenso alt wie die „klassische" deutsche Historiographie selbst, jene Art von Geschichtsschreibung, mit der die Allgemeinbildung in der Regel den Namen Ranke und den Begriff des Historismus verbindet. 1 Wie in vielen anderen Gebieten der Wissenschaft ergab sich auch auf diesem Felde früh das Bedürfiiis, kleinere Ansätze und Einzeluntersuchungen um eine zusammenfassende Bestandsaufnahme zu ergänzen. Bereits die Historische Kommission von 1858, die vom bayerischen König Maximilian II. unter maßgeblicher Mitwirkung Rankes begründete institutionelle Speerspitze deutscher Geschichtswissenschaft, 2 verfolgte das Ziel, nicht nur die wichtigsten Kräfte zu bündeln und neue Forschungen anzuregen, sondern in gewissem Sinne auch eine Art Ernte der Wissenschaftsgeschichte in Form einer Sammlung von Einzelgeschichten wissenschaftlicher Disziplinen einzubringen. 3 Das entsprach einerseits der Tendenz des Jahrhunderts zur Ausbildung der Wissenschaften in Richtung der heutigen modernen Fachdisziplinen,4 andererseits aber auch dem neuen umfassenden historisierenden Bewußtsein, das die Gegenwart als geschichtlich gewachsen begriff und nun daran ging, Traditionen und Entwicklungslinien aufzuarbeiten sowie sich selbst in diese einzuordnen.5
1
Zur Historiographiegeschichte in Deutschland allg. Horst Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart 1991 (= Fundamenta Historica. Texte und Forschungen, Bd. 3). 2 Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1858-1958, Göttingen 1958. 3 Die Geschichte der Wissenschaften, eine Lieblingsidee Rankes, gehörte zu den Projekten, die bereits in der ersten Vollversammlung der neuen Kommission im September 1858 beschlossen wurden; Franz Schnabel: Die Idee und die Erscheinung, in: Die Historische Kommission, S. 7-69, hier S. 46. 4 Stichwort: „Professionalisierung"; vgl., mit weiterführender Literatur, Wolfgang Krohn: Die Wissenschaftsgeschichte in der Wissenschaft. Zu einer Historiographie der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 1 : Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt/M. 1993, S. 271-290, hier bes. S. 281/282. 5 Stichwort: „Historismus"; vgl., mit weiterführender Literatur, Wolf gang Hardtwig: Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Libera-
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Einleitung
Der Geschichte der Historiographie, derjenigen Disziplin, die so Bedeutendes zu jenem Bewußtseinswandel beigetragen hatte, kam innerhalb dieser Reihe eine Schlüsselposition zu. Ausgerechnet diese mit Spannung erwartete Darstellung erschien - symptomatisch für die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens - aber erst 27 Jahre nach der ersten Konzeption der Gesamtreihe: Franz Xaver Wegeies „Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus".6 Groß war die Enttäuschung über das schließliche Resultat, aus vielen Gründen. Einer der intimsten Kenner deutscher Geschichtsschreibung, der Engländer John Dalberg-Acton, kritisierte beispielsweise: „Nine-tenths of his volume are devoted to the brave men who lived before Agamemmnon, and the chapter on the rise of historical science, the only one which is meant for mankind, begins at page 975, and is the last." 7 Das mag ungerecht klingen: Wegele stand doch viel zu nahe an dieser letzten Entwicklung, war ihr Zeuge, vielleicht gar partieller Mitgestalter, um ein abgewogenes, distanziertes Urteil über sie treffen, um mehr geben zu können als nur einen gedrängten Überblick. Tatsächlich aber zeichnet sich dieser Überblick nicht einmal durch den Versuch aus, die Tugend des sine ira et studio zu üben, sondern disqualifiziert sich durch jene unverhohlene Parteilichkeit, deren apodiktische Impertinenz Verblüffen auslöst und über dieses Verblüffen hinwiederum mitten hineinführt in die kardinale Problematik deutscher Geschichtswissenschaft im neunzehnten und deutscher Historiographiegeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Eingebettet in einen Abriß der Entwicklung historisch-kritischer Methode, dessen Schwerpunkt selbstredend auf der Behandlung der Generalprotagonisten des Historismus, Niebuhr und Ranke,8 liegt, passiert auf diesen wenigen Seiten eine Vielzahl von Namen Revue und muß sich, der höchstrichterlichen Autorität Wegeies folgend, in Weiß und Schwarz, Gut und Böse scheiden lassen. Zum Maßstab seiner Urteilsfindung erwählt er sich den Boden einer „modernen Weltanschauung", aus welchem überhaupt erst die Geschichtsschreibung in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zur ungeahnten Höhe habe emporsprießen können und dessen lebensspendendes Elixier neben der „exakten
lismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 103-160, hier zum Begriff des „Historismus" S. 103-111, bes. S. 108/109. 6 Franz Xaver von Wegele: Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus, München/Leipzig 1885 (= Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit, Bd. 20); zu Wegele (1823-1897), seit 1857 Prof. in Würzburg, vgl. Blanke, S. 330-340. 7 John Emerich Edward Dalberg-Acton: German Schools of History (1886), in: ders., Historical Essays and Studies, London 1907, S. 344-392, hier S. 344. 8 Wegele, Geschichte der deutschen Historiographie, Fünftes Buch, Kap. 2: Die historische Schule - B. G. Niebuhr (S. 987-1009) und Kap. 4: Leopold von Ranke und seine älteren Schüler (S. 1041-1061).
Historiographiegeschichtsschreibung Forschung" im „nationalen Staatsgedanken" bestehe.9 Welche Wertsetzungen sich mit den Vorgaben jener Haltung nicht vereinbaren lassen, demonstriert Wegele im besonderen an den Historikern Johann Friedrich Böhmer, Friedrich Emanuel Hurter, Constantin Höfler sowie August Friedrich Gfrörer. Gleichzeitig illustrieren seine Ausführungen über diese Negativbeispiele die kanonischen Inhalte der „modernen Weltanschauung" in höchst anschaulichen Worten. Immerhin vermag Wegele „Friedrich Jakob Böhmer" [sie!] noch „erhebliche Verdienste um die Förderung der Kenntnis unsrer mittelalterlichen Geschichte" zu attestieren. Davon abgesehen glaubt er freilich, dessen Abneigung gegen die „moderne [...] Richtung der Geister in Deutschland" anprangern zu müssen, wie sie in Böhmers höchst ungünstiger Beurteilung Kaiser Friedrichs II. zum Ausdruck komme.„In dieser Beziehung und durch seine einseitige Vorliebe für die Hierarchie [der katholischen Kirche] hat er manche schiefe geschichtliche Ansicht verbreitet, ohne doch mit seiner Abneigung gegen Preußen und der Vorliebe für Österreich in wünschenswerter Klarheit mit sich selbst zu sein." Eine „nahezu krankhafte Stimmung" offenbare sich da, beeinträchtige indessen Böhmers sonstige Leistungen kaum. 10 Schärfere Töne schon schlägt Wegele Friedrich Emanuel Hurter gegenüber an. Tendenziös sieht er in dessen Geschichte Papst Innozenz' III. die mittelalterliche Kirche verherrlicht und leitet den Erfolg dieses Werkes mehr aus der „katholisirenden Gesinnung des Verfassers" und aus den „falschen Farben seines Gemäldes" ab, denn aus der „exakten, methodischen Forschung und der objectiven Darstellung." Hurters zweites Hauptwerk, die Geschichte Kaiser Ferdinands II., zeichne sich schließlich durch einzigartige „Geistesarmut und Verranntheit", durch eine Weltanschauung aus, „gegen welche selbst Metternich hätte Protest einlegen müssen."11 Sodann Constantin Höfler, Autor eines seinerzeit vielberufenen Werkes über Kaiser Friedrich II.: dessen Urteil über den Staufer sei noch einseitiger als dasjenige Böhmers und zeuge nun gar vollständig vom „Mangel jeder wahren nationalen Gesinnung"! Der übrigens charakterisiere „diese Richtung" als Ganzes.12 Während aber Höfler wenigstens in späteren Jahren seinen Standpunkt gemäßigt und doch noch einiges von Wert produziert habe, seien die Werke August Friedrich Gfrörers - eines Konvertiten wie Hurter - insgesamt verfehlt. Zwar brillierte dieser „durch Scharfsinn und die Gabe kühner Kombination [...], ließ aber in
9 Ebd., S. 1017 (moderne Weltanschauung), S. 976 (nationaler Standpunkt und exakte Forschung); an Niebuhrs Römischer Geschichte hebt er u. a. hervor, daß sie „vom nationalen Standpunkte" aus verfaßt sei und „die gesammte nationale Entwickelung [...] in einem reichen und anschaulichen Gesammtbilde vor unseren Augen" aufbaue (S. 1009). 10 Ebd., S. 1017/1018. 11 Ebd., S. 1036/1037. 12 Ebd., S. 1037/1038.
2 Brechenmacher
18
Einleitung
demselben Maße die Vorzüge einer strengen Methode und unbefangenen historischen Sinnes vermissen." Den „nationalen Gesichtspunkt", welchen Wegele bei den Erstgenannten entbehren mußte, kann er Gfrörer freilich nicht ganz absprechen, erachtet ihn jedoch, besonders in dessen „Gustav Adolph", als zu „abstrakt" und zu wenig im Zusammenhang mit dem ,kirchlichen" [d. h. dem protestantischen] Standpunkt abgehandelt. „Schlimm genug, und darin liegt die Wurzel des Übels dieser Art Historiographie, daß diese Herren, die von der Macht des religiös-konfessionellen Elements nicht die mindeste Ahnung hatten, die Geschichte gerade dieser Zeit, der Reformation und des großen Krieges, schreiben wollten." 13 Wegele definiert und charakterisiert eine ganze Gruppe von Historikern durch Negativmerkmale: mangelnde oder falsche nationale Gesinnung, Tendenz zum Katholizismus, Nähe zur Hierarchie, also falsche religös-konfessionelle Gewichtungen, Abneigung gegen bestimmte historische Gestalten wie etwa Kaiser Friedrich II., Verurteilung Preußens, Vorliebe für Österreich, und darüber hinaus, die Arbeitsweise betreffend, Mangel an exakter Methodik sowie fehlender Wille zur objektiven, wahrheitsgemäßen Darstellung. Alles in allem: Antimodernismus und Aseriosität; trotz einzelner anerkennenswerter Leistungen insgesamt eine historiographische Literatur, deren Bestimmung nur in schnellem Vergessen liegen könne. Nun wäre Wegeies Werk selbst vom Schicksal des Vergessens längst betroffen, käme ihm mittlerweile nicht Quellenwert in zweierlei Hinsicht zu. Einmal: in diesem ersten Versuch einer zusammenfassenden Geschichte deutscher Historiographie nach der „historistischen Wende" spiegelt sich unübersehbar jener Riß, der die deutsche Geschichtswissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts durchzieht. Jedoch findet diese Spiegelung nicht im Sinne einer Aufarbeitung statt, sondern vielmehr im Sinne einer Parteinahme für jene Seite des Grabens, die den Tendenzen der Zeit besser entsprochen hatte und deren Geschichtsteleologie nachträgliche Rechtfertigung erhielt durch den Gang der Ereignisse, den Lauf der Politik. Schließlich: Wegeies Werk stellte eine wesentliche historiographiegeschichtliche Vorgabe dar. Wer es nach ihm anders und besser machen wollte, mußte darauf rekurrieren, mußte sich mit ihm auseinandersetzen: Die „Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus" markiert den leider sehr unglücklichen Beginn neuerer historiographiegeschichtlicher Tradition in Deutschland.14 13
Ebd., S. 1040/1041. Das Werk von Ludwig Wachler: Geschichte der historischen Forschung und Kunst seit der Wiederherstellung der litterärischen Cultur in Europa, 2 Bde., Göttingen 18ΠΙ 820, geht noch von älteren Anschauungsweisen aus und reicht im übrigen nur bis an den Beginn des 19. Jahrhunderts. Trotz seiner unbestrittenen Qualitäten rezipierte es, wie Blanke zeigt, die nachfolgende Fachwissenschaft kaum; Blanke, S. 193-204. 14
Historiographiegeschichtsschreibung
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Was lehrt Wegeies Darstellung - um beim ersten Punkt zunächst zu verweilen-über die andere, diejenige Schule, deren Schaffen sich besser mit den Erfordernissen „moderner Weltanschauung" im Einklang befinde? Selbstredend habe sich der Durchbruch zu einer neuen exakten Methode, zu quellenkritischem Denken im Gefolge der Vorgaben Niebuhrs und Rankes fast ausschließlich auf dieser Seite vollzogen - die bemerkenswerten Leistungen der Monumenta Germaniae Historica, repräsentiert durch den Namen Georg Heinrich Pertz, mitinbegriffen. Zwei Traditionslinien fließen für Wegele da zusammen: Ranke und seine „älteren Schüler", insbesondere Waitz, Giesebrecht und Sybel, schließlich die „Heidelberger Schule" Schlossers mit Gervinus und Häusser. Letztere hätten sich über ihren Meister, der zu stark noch den Auffassungen des achtzehnten Jahrhunderts huldigte, hinausentwickelt und hätten sich die methodischen Vorgaben der Ranke-Schule angeeignet. Und wiewohl Wegele auf die Pflicht des Historikers hinweist, „die Erscheinungen einer längst vergangenen Zeit nicht an den Anschauungen der Gegenwart zu messen", glaubt er doch, ein Charakteristikum der Heidelberger Schule besonders hervorheben zu müssen: in ihr habe die Geschichtsschreibung fast durchweg eine Entwicklung genommen, „die über die Grenzen der Wissenschaft hinaus eine praktische Richtung verfolgte und zugleich der Sache der Freiheit, der Nationalität u. dgl. dienen wollte." 15 Besonders Häussers „Deutsche Geschichte" sei in diesem Zusammenhang eine wahrhaft „nationale That". 16 Ähnliches gelte aber auch für Sybels „Geschichte der Revolutionszeit", des „Politikers" innerhalb der Gruppe der älteren Ranke-Schüler, „ohne daß mit dieser Bezeichnung seinen Verdiensten als Geschichtschreiber Abbruch geschehen" solle. Im Gegenteil, „die tiefe politische Einsicht, die Sybel überall begleitet, kommt diesem eminent politischen Stoffe im weitesten Sinn zu gute." 17 Schließlich, als homo per se außerhalb der Ranke- und der Heidelberger Schule stehend, darf Johann Gustav Droysen nicht fehlen. Dessen „Geschichte der preußischen Politik" unterwerfe diese in ihren bedeutendsten Momenten einer neuen Beleuchtung, stelle deren Evolutionen seit der Zeit des großen Kurfürsten mit Kunst und oft mit Meisterschaft dar. 18 Auch wenn Wegele den Namen Treitschke nur noch am Rande erwähnt, auch wenn er jene Schlagwörter zu vermeiden sucht, die von 1848/49 bis zur Reichsgründung Politik und Geschichtsschreibung sowie nach der Reichsgründung immerhin noch die Geschichtsschreibung auf Jahre hinaus beherrschten, liegt klar auf der Hand, welche historiographischen Deutungsmuster hier ihre Zensuren erhalten. Stellen doch Sybels „Geschichte der Revolutionszeit" (die B e gründung des deutschen Reiches" erschien erst seit 1889), Häussers „Deutsche
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Wegele, Geschichte der deutschen Historiographie, S. 1063 und 1075. Ebd., S. 1073. Ebd., S. 1059 und 1061. Ebd., S. 1077.
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Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des Deutschen Bundes" und Droysens „Geschichte der preußischen Politik" die programmatischen Hauptwerke einer kleindeutsch-borussianisch orientierten Historiographie dar 19 und repräsentieren die zuvor abqualifizierten Böhmer, Hurter, Höfler und Gfrörer eine Gruppe von Historikern, deren Werk in Anknüpfung an bestimmte Traditionen des Alten Reiches den Versuch unternimmt, auf der Basis einer großdeutschen Geschichtsanschauung alternative Vorschläge einer neuen Ordnung Deutschlands zu unterbreiten. Während aber diese und mit ihnen andere, deren Namen Wegele nicht einmal der Erwähnung ftir würdig hält, außerhalb von Spezialistenkreisen tatsächlich bald der Vergessenheit anheimfielen, genossen und genießen jene innerhalb des geistigen Horizontes eines größeren bildungsbürgerlichen Publikums nach wie vor den Ruf von Klassikern geschichtswissenschaftlicher Literatur - denen im übrigen vielleicht ein anderes, möglicherweise klassikertypisches Los droht: zu leeren Bildungshülsen zu erstarren und ebenfalls kaum mehr wirklich gelesen zu werden.
Am Anfang, heißt es, war Bismarck - auch die Historiker hatten seit 1862 mit ihm zu rechnen, hatten, wie alle anderen, denen die „deutsche Frage" am Herzen lag, sich mit dessen Art auseinanderzusetzen, das Ruder an sich zu nehmen und die preußisch dominierte Einheitsvariante nach und nach in den Bereich des Wahrscheinlichen, schließlich des Unausweichlichen zu erheben. Aber einen anderen Anfang bildete bekanntlich auch Napoleon. Dieser hinterließ unter anderem die Trümmer des Alten Reiches und damit prinzipiell sehr viel Kontingenz, Offenheit. Damals sollte es noch das „ganze Deutschland" sein; aber bald schon mehrten sich Stimmen, die einen Ausweg aus der unbefriedigenden Lösung „Deutscher Bund" nur im Zusammenhang mit einer klaren 19
Hierzu grundsätzlich Hardtwig, bes. S. 111 und 146-160: zusammenfassende Bemerkungen über das Geschichtsbild des Borussianismus. Der Begriff selbst stammt aus der Zeit; eine prägnante Definitionen prägte Wilhelm Emmanuel von Ketteier 1867 in der Schrift „Deutschland nach dem Kriege von 1866": „Unter Borussianismus verstehen wir nämlich eine fixe Idee über den Beruf Preußens, eine unklare Vorstellung einer Preußen gestellten Weltaufgabe, verbunden mit der Überzeugung, daß dieser Beruf und diese Aufgabe eine absolut notwendige sei, die sich mit derselben Notwendigkeit erfüllen müsse, wie der losgelöste Fels herabrollt, und daß es daher unstatthaft sei, diesem Weltberufe sich im Namen des Rechtes oder der Geschichte entgegenzustellen. Bei den Anhängern des Borussianismus steht dieser Beruf Preußens obenan, höher als alle Rechte, und alles, was sich ihm entgegenstellt, ist deshalb Unrecht. Er vollzieht sich mit absoluter innerer Notwendigkeit. [...] Nach demselben hat Österreich begreiflich keinen Platz mehr in Deutschland; es steht dem Berufe Preußens, der sich mit Naturnotwendigkeit vollzieht, hindernd entgegen." Wilhelm Emmanuel von Ketteier: Schriften, hg. von Johannes Mumbauer, Bd. 2: Staatspolitische und vaterländische Schriften, Kempten/München 1911, S. 63/64.
Historiographiegeschichtsschreibung Dominanz einer der beiden Vormächte dieses Bundes erkennen konnten. „Zum Teil war preußische Führung als militärisches Kommando oder nur als ,moralische6 Leitung unter milder österreichischer Oberhoheit gemeint; zum Teil war bereits an Verdrängung Österreichs, Gründung eines Deutschlandes neben Österreich gedacht. Politischem Blick konnte nicht verborgen bleiben, daß hier eine Machtfrage zwischen Preußen und Österreich lag. Das ganze Verhältnis aber wurde in der ersten Zeit noch sehr unbestimmt erfaßt." 20 Auch die Schlagworte „großdeutsch" - „kleindeutsch" fielen in diesen Jahren noch nicht. Sie erwuchsen aus der Revolution von 1848/49, als in den Debatten der Frankfurter Nationalversammlung der nationalpolitische Großdeutsch-Kleindeutsch-Gegensatz aus einem Stadium der Latenz in eines der Virulenz trat. Sie entstanden chronologisch zwischen jenen „Anfangen", verweisen faktisch jedoch weit darüber hinaus auf die „recht eigentlich beherrschende, elementarste Frage praktischer Nationalpolitik im ganzen 19. Jahrhundert." 21 Wie nun fugt sich die historiographische Großdeutsch-Kleindeutsch-Kontroverse in diesen nationalpolitischen Fragenkomplex ein? Seit wann instrumentalisierten Historiker die Vergangenheit, um etwa „die Suprematie Preußens [...] als das letzte conséquente Ziel der ganzen deutschen Geschichte, als eine historische, aus dem bisherigen Entwicklungsgange Deutschlands sich ergebende Notwendigkeit nachzuweisen", wie Ignaz Döllinger 1863 dem bayerischen König gegenüber die Bestrebungen der kleindeutsch-borussianischen Schule auf einen prägnanten Punkt brachte. 22 Ging die historiographische erst seit und nach 1848/49 aus der zugespitzten politischen Kontroverse hervor? Entfaltete sie sich als deren logische Folge in den Jahren zwischen der Revolution und der Reichsgründung oder vielleicht sogar nur der preußisch-österreichischen Auseinandersetzung von 1866, um abzubrechen, sobald die politische Lösung unter Dach und Fach war? Stellte diese historiographische Großdeutsch-Kleindeutsch-Kontroverse also lediglich ein sehr spezielles Phänomen jener Jahre, nur eine Funktion der tagespolitischen Aktualität dar? Wäre dem
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Adolf Rapp (Hg.): Großdeutsch - Kleindeutsch. Stimmen aus der Zeit von 1815 bis 1914, München 1922 (= Der deutsche Staatsgedanke, Deutsche Probleme, Bd. 1), S. XV; ebd., S. 1-43, Dokumente von „1815 bis vor den Ausbruch der Bewegung von 1848." Vgl. auch Alexander Scharjf: Der Gedanke der preußischen Vorherrschaft in den Anfangen der deutschen Einheitsbewegung, Bonn 1929. 21 Gerhard Ritter: Großdeutsch und Kleindeutsch im 19. Jahrhundert, in: ders., Lebendige Vergangenheit. Beiträge zur historisch-politischen Selbstbesinnung, München 1958, S. 101-125, hier S. 102. 22 Döllinger an König Maximilian Π., 8.6. 1863; aus Beständen des Münchener Geheimen Hausarchivs zit. bei Hans Rail: Geschichtswissenschaftlicher Fortschritt in München vor 100 Jahren. Gedanken zu zwei neuen Büchern, in: ZBLG 22 (1959), S. 145-153, hier S. 150.
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Einleitung
so: welche Relevanz eignete dann deren neuerlicher Aufarbeitung, auch wenn diese einmal auf der bisher vernachlässigten Seite der Großdeutschen ansetzte? Eine solche Aufarbeitung scheint nur geringe Relevanz zu besitzen, solange der historiographische Großdeutsch-Kleindeutsch-Gegensatz lediglich Behandlung um seiner selbst willen findet, solange er chronographisch auf die gut zwei Dekaden zwischen 1849 und 1866/71 sowie thematisch auf das vielfach höchst polemische Hin und Her in bezug auf die nationalpolitischen Windungen und Wendungen dieser Jahre reduziert bleibt. Dem käme allenfalls antiquarisches Interesse zu hinsichtlich der Feststellung von Sachverhalten und möglicherweise einer gewissen Rehabilitation der großdeutschen Historiker. Neue und vertiefte Lektüre der großdeutschen Historiographie läßt jedoch den Verdacht aufsteigen, bei diesem Gegensatz handle es sich - ganz analog zum engeren nationalpolitischen Großdeutsch-Kleindeutsch-Gegensatz zwischen 1848/49 und 1866/71 - nur um ein Symptom, das über sich hinausweist auf zwei grundverschiedene Geisteshaltungen, deren Frontstellung über das gesamte neunzehnte Jahrhundert hinweg und mit Modifikationen vielleicht bis heute nicht von ungefähr existiert, sondern hinwiederum selbst tief in der deutschen Geschichte wurzelt. Bestätigte sich der Verdacht, gewänne die historiographische Großdeutsch-Kleindeutsch-Kontroverse eine andere Dimension. Eine scheinbar marginale Episode, ein Streit etwas versponnener Gelehrter um die Interpretation längst vergangener Zeiten, wandelte sich dann zu einem Exemplum über Art und Unart deutscher Selbstreflexion. In diesem Lichte könnte die Aufarbeitung der Kontroverse aus der Sicht der großdeutschen Vertreter sehr wohl neue und erhebliche Relevanz besitzen: neben einer Korrektur der einseitig gewichteten deutschen Historiographiegeschichte leistete sie einen Beitrag zur Geschichte des deutschen Suchens nach nationaler Identität im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert und zur Frage nach der Bedeutung nicht nur der staatlichen Spaltungen jenes Gebietes in Mitteleuropa, das cum grano salis mit „Deutschland" bezeichnet wird, sondern auch der inneren, geistigen Spaltungen der Menschen, die dieses Gebiet belebten und beleben. Ein einfaches Gedankenspiel verdeutlicht die Richtung des genannten Verdachtes. Die Großdeutschen nur als Großdeutsche gedacht, die Kleindeutschen nur als Kleindeutsche: beide Parteien versuchen, mit Argumenten aus dem Reservoir der Geschichte Stellung zu beziehen in einer, immerhin bedeutenden, politischen Angelegenheit ihrer Zeit. Hätte nicht die Entscheidung von 1866, respektive 1871 die Auseinandersetzung definitiv beendet, hätten sich nicht die Parteien nach ausgetragenem Kampf in Frieden trennen, die Gegensätze vielleicht begraben, jeder aber auch seine eigenen Wege gehen können? Tatsächlich aber überwand die politische Lösung der deutschen Frage von 1866/71 den geistigen Zwiespalt nicht. Die kleindeutsche Geschichtsschreibung mündete in den fortan dominanten Strom nationalliberaler Historiographie, für die nichts Selbstverständlicheres existierte als das Bismarcksche Kaiserreich. Von den ehemals
Historiographiegeschichtsschreibung Großdeutschen akzeptierte zwar eine Gruppe diese Reichsgründung ebenfalls, arrangierte sich mit dem neuen Staat und bejahte ihn schließlich; eine andere dagegen verharrte in erbitterter Gegnerschaft. Nachdem das nationalpolitische Problemfeld durch die Realität des Faktischen erledigt war, schob sich aber nun ein anderer Aspekt in den Vordergrund der Auseinandersetzung: der konfessionelle. Der große Gegensatz kleidete sich in ein neues Gewand. Im Kulturkampf auf der einen, in der hitzigen Debatte um Janssens „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters" fand die alte Kontroverse ihre zeitgemäße Fortsetzung. Auf der anderen Seite: existierten nicht bereits vor 1848/49, vor der Zuspitzung des nationalpolitischen Konfliktes und vor der Entstehung der eigentlichen Großdeutsch-Kleindeutsch-Begrifflichkeit, ähnliche Kontroversen? Denn ebensowenig wie die historiographische Debatte nach 1871 einfach endete, sondern ihr Kernproblem sich auf die skizzierte Weise weiter- und umbildete, scheint die Annahme plausibel, der geistige Graben sei erst im Zusammenhang mit den politischen Parteibildungen der Frankfurter Nationalversammlung aufgerissen. Weisen nicht vielmehr neben den politischen Positionen und Stellungnahmen der Parlamentarier auch deren jeweilige Geschichtsbilder weiter zurück als bloß auf tagespolitische Stimmungen? Weisen sie nicht ihrerseits zurück auf geistige Entwicklungslinien, die viel älter waren als die Märzrevolution von 1848? Das Studium der Werke großdeutscher Historiker bestätigt derartige Erwägungen, liefert Belege, unter denen sich der Verdacht zur Gewißheit wandelt. Mit größerer Notwendigkeit als das Studium der kleindeutsch-borussianischen Historiographie, deren aktuell-politischer Endzweck ja mit der Reichsgründung von 1871 erfüllt und deren Existenz damit mehr oder weniger obsolet war, führt der Versuch, die großdeutsche Historiographie als ernstzunehmenden Faktor des geistig-kulturellen und auch des politischen Lebens in Deutschland zu verstehen, über jene beiden Ereignisse von 1848/49 und 1866/71 hinaus. Während die kleindeutsche Historiographie ohne weiteres nur als kleindeutsche, also in ihrer konkret politischen Zielsetzung begreifbar ist, während deren übergeordnete Dimension, obwohl natürlich existent, aufgrund dieser alles beherrschenden politischen Zielsetzung leicht zu übersehen ist, nötigt das Bestreben, die großdeutsche Historiographie zu verstehen, geradezu, deren Vertreter als Exponenten einer übergeordneten katholizistisch-konservativen Weltanschauung zu begreifen, die sich - als Konsequenz dieser Weltanschauung und des damit notwendig verknüpften Geschichtsbildes - 1848/49 nur im großdeutschen Lager wiederfinden konnten und dort in verschiedenen Modifikationen bis in die siebziger Jahre, zum Teil weit darüber hinaus verharrten. Anders ausgedrückt: während sich die kleindeutsche Historiographie zwischen 1848/49 und 1871 als solche weitgehend selbst trägt, weil sie als Ausdruck einer politisch starken Idee auftritt, deren Durchsetzungskraft offen zutage liegt, kann die großdeutsche sinnvoll nur als Symptom eines größeren weltanschaulichen Zusammenhangs
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erscheinen. Sie um diese Dimension zu reduzieren, bedeutete, ihr mit Unverständnis gegenüberzustehen. Ihr diese Dimension zu verweigern, bedeutet tatsächlich, sie zum hoflhungslosen, ja eigentlich lächerlichen kleineren Bruder jener anderen, kleindeutsch-borussianischen Historiographie herabzuwürdigen, auf deren Seite nun einmal der Geist der Zeit unverrückbar stand. Die Aufgabe einer Geschichte der großdeutschen Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts bestünde darin, diese Geschichtsschreibung nach jener anderen Dimension zu befragen, oder vielmehr deren Existenz in ihr nachzuweisen. Gelänge dies, so rückte in der Tat auch der engere historiographische Großdeutsch-Kleindeutsch-Konflikt der Jahre zwischen 1848/49 und 1866/71 in ein neues Licht. Den so übermächtigen Kleindeutschen stünde dann endlich wieder der gleichberechtigte Gegner zur Seite, der sich ja - auch dies hätte eine solche Historiographiegeschichte zu zeigen und kann es zeigen - in jenen Jahren der öffentlichen Resonanz nicht zu schämen brauchte. Die bisherige deutsche Historiographiegeschichte in der von Wegele begründeten Traditionslinie hat der großdeutschen Geschichtsschreibung diesen Ansatz beharrlich verweigert. Nur aus ihm heraus kann die Frage nach ihrer Bedeutung jedoch wirkliche Relevanz gewinnen.
Überlegungen dieser Art, die zu einem weitgreifenden Ansatz der Geschichte großdeutscher Historiographie raten, fuhren freilich sogleich zu erheblichen klassifikatorischen wie terminologischen Problemen. Worin bestünde nun genau „großdeutsche Geschichtsschreibung"? Welche Historiker zählten zu diesem Kreis? Grundsätzlich schillert der Terminus großdeutsch in seiner Übertragung auf die Historiographie nicht minder als in seiner eigentlichen Verwendung zur Bezeichnung einer bestimmten politischen Haltung in der deutschen Einheitsfrage. Wilhelm Mommsens Warnung „vor allzu unvorsichtiger Benutzung" des Schlagwortpaares großdeutsch/kleindeutsch in Hinsicht auf die politische Diskussion sollte auch für das Gebiet der Geschichtsschreibung gelten. Die B e zeichnung großdeutsch-kleindeutsch, die wir gern für die ganze Einheitsbewegung gebrauchen", habe „noch 1848/49 ziemlich selten" Anwendung gefunden und sei „als feste Parteibezeichnung erst in den 60er Jahren" entstanden. „Ebensowenig wie die Parteibezeichnung liberal und konservativ ist großdeutsch und kleindeutsch für das 19. Jahrhundert ein eindeutiger Begriff." Gerade „die politische Richtung, die man die großdeutsche zu nennen pflegt, [war] schon in der Paulskirche alles andere als eindeutig zusammengesetzt."23 Behutsamkeit in
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Wilhelm Mommsen: Zur Beurteilung der deutschen Einheitsbewegung, in: HZ 138 (1928), S. 523-543, hier S. 524; ganz ähnlich Willy Andreas: Die Wandlungen des großdeutschen Gedankens. Rede zur Reichsgründungsfeier der Universität Heidelberg
Historiographiegeschichtsschreibung zweierlei Hinsicht wäre aus Mommsens Erwägungen für die Übertragung des Terminus großdeutsch auf Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts abzuleiten. Historiographie der Zeit vor 1848 ziert er lediglich als Etikett, das in aller Regel der Zeit selbst noch fremd war. Schließlich aber sollte das Etikett, auch nachdem es in späterer Zeit tatsächlich zum Schlagwort avanciert war, nicht dazu verführen, den mit ihm verknüpften Inhalten allzugroße Einheitlichkeit, den damit apostrophierten historiographischen Anschauungen allzugroße Homogenität zu unterstellen. Im Gegensatz zu einer politischen Parteigruppierung, deren Ziel in erster Linie in der Gründung eines großdeutschen Nationalstaates - in welcher Form auch immer - lag, existiert „großdeutsche Geschichtsschreibung" ihrer Substanz nach vor 1848/49 sehr wohl. Freilich erscheint sie nicht um ihrer selbst willen, sondern als Folge und Funktion bestimmter, übergeordneter weltanschaulichpolitischer Haltungen. Sie bezeichnet sich in diesen Jahren auch noch nicht als großdeutsch; in Selbstcharakteristiken der Historiker fallen hingegen Epitheta wie kaiserlich, reichsbürgerlich, hin und wieder ghibellinisch. Freilich war Zeitgenossen, die nach 1848/49 Rückschau hielten, die Äquivalenz der Termini wohl bewußt. Als sich Wilhelm von Chézy 1864 an seinen Freund, den „großdeutschen" Historiker und Paulskirchenabgeordneten August Friedrich Gfrörer erinnerte und dessen Auftreten auf der Offenburger Volksversammlung vom am 18. Januar 1924, Berlin/Leipzig 1924, S. 21; wiederabgedruckt in ders.: Kämpfe um Volk und Reich. Aufsätze und Reden zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart/Berlin 1934, S. 213-241. - Zum Wort großdeutsch vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch 9 (1935), S. 521/522; A. Gombert: Noch einiges über Schlagworte und Redensarten, in: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 3 (1902), S. 308-336, hier S. 313 über kleindeutsch und großdeutsch. - Zur Begrifflichkeit und den damit bezeichneten nationalpolitischen Inhalten in verschiedensten Perspektiven vgl. neben den bereits genannten Rapp und G. Ritter Herbert Dankworth: Das alte Großdeutschtum. Versuch einer Bestimmung seiner kulturellen Grundlagen, Frankfurt/M. 1925 (= Die Paulskirche. Eine Schriftenfolge, Bd. 16); ders.: Die Entwicklung der großdeutschen Idee, Mönchengladbach 1926 (= Staatsbürger-Bibliothek, Bd. 141/ 142); Heinz von Palier: Der großdeutsche Gedanke. Seine Entstehung und Entwicklung bis zur Gegenwart, Leipzig 1928, ND Bremen 1985; Heidrun von Möller: Großdeutsch und Kleindeutsch. Die Entstehung der Worte in den Jahren 1848/49, Berlin 1937 (= Historische Studien, Bd. 321); Karl Demeter (Hg.): Großdeutsche Stimmen 1848/49. Briefe. Tagebuchblätter. Eingaben aus dem Volk, Frankfurt/M. 1939; Günter Wollstein: Das „Großdeutschland" der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977; ders.: Das Großdeutsche Reich als Demokratie. Ordnungsmodell ohne Chance, in: Jost Dülffer / Bernd Martin / Günter Wollstein (Hg.), Deutschland in Europa. Kontinuität und Bruch. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber, Frankfurt a. M. / Berlin 1990, S. 229-249; Adam Wandruszka: Großdeutsche und kleindeutsche Ideologie 1840-1871, in: Robert A. Kann / Friedrich Prinz (Hg.), Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch, Wien / München 1980, S. 110-142.
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19. März 1848 beschrieb, reflektierte er deutlich den Wandel der Begrifflichkeit. „Auf Gfrörers Anlaß war ein Banner mit dem kaiserlichen Adler angefertigt worden, um es in Offenburg dem Söller des Rathauses gegenüber aufzupflanzen. Die Kundgebung gelangte zu voller Ausführung, Dank dem wolgeordneten Zusammenhalten der „Oesterreicher", wie man damals die Großdeutschen bezeichnete, für die der rechte Name noch nicht vorhanden war; derselbe tauchte ja bekanntlich erst auf, nachdem der Mann vom ,kühnen G r i f f 2 4 in Frankfurt am Main die Gothaer erfunden hatte, die man später „Kleindeutsche" taufte. Gfrörer selbst bezeichnete sich auf der Flugschrift, welche er damals ausgehen ließ, als einen Reichsbürger." 25 Jener August Friedrich Gfrörer hatte schon seit 1837 damit begonnen, „großdeutsche" Geschichtsbilder publikumswirksam zu präsentieren: sein „Gustav Adolph" entwickelte sich in vier Auflagen, deren zwei vor der Revolution von 1848/49 erschienen, zu einem Grundbuch dieser Richtung. 26 1852 fühlte sich Gfrörer mit dieser geschichtspolitischen Position auf seiner Freiburger Professur nicht mehr sicher und begab sich auf die Suche nach einer neuen Wirkungsstätte. „Kaum war ich von meiner Reise nach Frankfurt zurück, als das Gerücht erscholl, daß schwere Schläge gegen die hiesigen Großdeutschen im Werke seyen. [...] Unsere Lage ist hier so peinlich, daß sich mir die Notwendigkeit aufdrängt, [...] bei Zeiten an eine andere Rast zu denken [...], im Falle wir hier trotz aller Vorsicht in ehrlichem Kampfe für Principien unterliegen." 27 Traditionsbildung durch Berufung auf ältere Vorbilder spielte für großdeutsche Historiker in den Jahren der hitzigsten Auseinandersetzungen um die nationale Zukunft Deutschlands eine wichtige Rolle. Ein Spezifikum der Geschichtsdeutung Onno Klopps bestand dabei in der Stilisierung des „unverdächtigen" Leibniz zu einer Art „erstem Großdeutschen". Unabhängig von einem
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Heinrich von Gagern am 24. Juni 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung bei seinem Plädoyer für die Wahl des Erzherzogs Johann zum Reichsverweser:„Ich tue einen kühnen Griff, und ich sage Ihnen: wir müssen die provisorische Zentralgewalt selbst schaffen." Vgl. zur Bedeutung dieses Ausspruchs und dieser Rede insgesamt Veit Valentin: Geschichte der deutschen Revolution von 1848-1849, Bd. Π: Bis zum Ende der Volksbewegung von 1849, Frankfurt a. M./Wien/Zürich 1977, S. 36-40. 25 Wilhelm von Chézy : Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. Π, 2: Helle und dunkle Zeitgenossen, Schaffhausen 1864, S. 27/28. 26 Vgl. Lebenswege, Anm. 179 und 186. 27 Gfrörer an Friedrich Wilhelm von Schulte, 28.7.1852 (BSB, Schulteana 21,30Hervorhebung Th.B.). Vgl. auch den Schluß der Autobiographie Gfrörers: „Später [im Herbst 1849] begab er sich nach Freiburg zurück und begann dort seine Vorlesungen wieder. Seit zwei Jahren lebt er dort stille aber nicht ohne schwere Anfechtungen durch die gothaische Partei, welche in Baden gegenwärtig herrscht." Gfrörer, Autobiographie (s. Lebenswege, Anm. 129), S. 34. - Zum Schlagwort „Gothaismus" vgl. u. S. 473-475.
Historiographiegeschichtsschreibung Urteil über Sinn und Unsinn dieser Traditionsstiftung 28 erscheint im Zusammenhang mit terminologischen Erörterungen die Beobachtung von Interesse, welche Charakteristika und Inhalte Klopp dabei „großdeutscher Geschichtsschreibung" zuweist. „Die kleindeutsche Geschichtschreibung", so Klopp in einem Entwurf eines Vorworts zu einem Werk über deutsche Geschichte, „nennt die großdeutsche Anschauung im Vergleiche zu ihr eine neue. Es muß mithin dargethan werden, daß die großdeutsche Auffassung älter ist als die kleindeutsche. [...] Die kleindeutsche Geschichtschreibung pflegt die großdeutsche Anschauung eine österreichische zu nennen. Es erwächst daraus für die großdeutsche Auffassung die Pflicht nachzuweisen, daß die großdeutschen Gedanken am nachdrücklichsten und am klarsten von einem Manne vertreten wurden, der sein Leben im Dienste eines deutschen Fürsten verbrachte und beschloß. [...] Die kleindeutsche Geschichtschreibung wirft der großdeutschen Auffassung Unklarheit, Mangel an politischem Blicke und dergleichen vor. Die großdeutsche Auffassung hat deshalb darzuthun, daß auf den Mann, den sie als den wissenschaftlich begabtesten Träger ihrer Ideen betrachtet, solche Vorwürfe nicht anwendbar sind. - Es bedarf zunächst zu diesem letzten Zwecke nicht einer längeren Untersuchung. Über die wissenschaftliche Begabung des Mannes, auf den wir unsere Ansichten zu stützen gedenken, über seine Clarheit oder Unclarheit, hat das Urtheil der Gelehrten Europas seit zweihundert Jahren entschieden. Wir nennen seinen Namen, dessen Gewicht dasjenige von einem Dutzend Anderer oder mehr in die Höhe schnellt. Es ist Leibniz." 29 Worin aber bestand nach Klopps Auffassung nun der „großdeutsche" oder, wie er an anderer Stelle schreibt, „rein deutsche" Charakter des Leibnizschen Geschichtsbildes? „Die historisch-politische Anschauung von Leibniz ist in ihrer Wurzel und in ihrem Wesen rein deutsch: sie ist zugleich und eben darum kaiserlich. Österreich ist ihm diejenige Macht, welcher die Vorsehung Gottes den Beruf anvertraut, Deutschland zu schützen, zu einigen, zu erhalten. - Nur von dem Fundamente dieser Überzeugung aus [...] kann der Neubau der Gestaltung Deutschlands sich erheben. Darum halte ich es für die Aufgabe einer wahrhaft deutschen Geschichtschreibung, diesen Charakter der Macht Österreich nachzuweisen und zur vollen Anschaulichkeit zu bringen." 30 Eine wissenschaftlich fundierte „großdeutsche" Historiographie, die sich an den dergestalt von Klopp dargelegten Grundsätzen orientierte, ergänzt noch durch eine mehr oder weniger ausgeprägte kritische Haltung dem preußischen Staat gegenüber sowie eine Hinneigung zum Katholizismus, setzte tatsächlich
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Vgl. auch Traditionsstränge, Anm. 29. Onno Klopp: Entwurf eines Vorworts zu einem Werk über deutsche Geschichte, dat. von Wiard Klopp auf 1863 (HHStA, NL Klopp, Karton 12). 30 Onno Klopp: Fragment „Urteil über die Stellung Österreichs in der Geschichte", datiert und signiert, Hannover, 18. Februar 1864, UB Bonn [Hervorhebungen Th.B.]. 29
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nicht erst mit dem Jahr 1848 ein, sondern entwickelte sich bereits in der Zeit des Vormärz. Lange vor dem Schlagwort „großdeutsch" bildete sich die dazugehörige Geschichtsanschauung aus. Eine ganze, erste Generation von Historikern legte, im wesentlichen in den Jahren seit 1830, deren Grundpositionen, schuf ihr eine feste Basis: dies wird in der vorliegenden Arbeit darzustellen sein. Neben dem bereits erwähnten Gfrörer (1803-1861) zählen zum Kreis dieser Begründer": Johann Friedrich Böhmer (1795-1863), Friedrich Emanuel Hurter (1787-1865), Johann Joseph Ignaz Döllinger (1799-1890) und Constantin Höfler (1811-1897). Entweder durch die Historiker der ersten Generation selbst oder in der Adaption durch die Vertreter einer zweiten Generation flössen diese Grundpositionen in den engeren historiographischen Großdeutsch-Kleindeutsch-Konflikt der Jahre zwischen 1848/49 und 1866/71 ein. Hier wäre neben demjenigen Onno Klopps (1822-1903) hauptsächlich das historiographische Werk Carl Adolf Cornelius' (1819-1903), Julius Fickers (1826-1902), Johannes Janssens (18291891) und Hermann Hüffers (1830-1905) heranzuziehen. Die politische Zäsur der Bismarckschen Reichsgründung erlebten immerhin noch zwei Hauptvertreter der ersten Generation - Döllinger und Höfler - sowie alle Repräsentanten der zweiten Generation mit. Allein daraus ergibt sich die Frage nach deren Reaktion auf die neue Lage, nach Veränderung oder Anpassung der Geschichtsbilder, wobei zusätzlich zu bedenken wäre, inwieweit neben der Reichsgründung andere Einflüsse, vor allem kirchenpolitischer Art, auf diese Wandlungsprozesse wirkten. Schließlich übernahm noch eine jüngere, dritte Generation großdeutsche Geschichtsbilder von ihren Lehrern und führte sie, wenn auch schon vielfaltig verändert, weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein: exemplarisch wären hier zu betrachten die biographisch wie historiographisch ganz konträren Entwicklungslinien Moriz Ritters (1840-1923) und Ludwig Pastors (1854-1928). Bei aller im einzelnen dann festzustellenden Heterogenität und Individualität ergibt sich der Gruppencharakter der genannten „großdeutschen" Historiker aus dem Zusammenspiel von drei Kriterien: der grundsätzlichen inhaltlichen Übereinstimmung in der Bewertung deutscher Geschichte,31 dem Bewußtsein, einer Gruppe anzugehören, die sich prinzipiell von einer oder mehreren anderen - im vorliegenden Fall vor allem eben von der „kleindeutschen" - abgrenzt, 32 sowie der Kontinuitätsstiftung durch Lehrer-Schüler-Beziehungen. 33
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Vgl. für die erste Generation unten das Kapitel „Denkwege". Vgl. für die erste Generation unten die Kapitel Bebenswege", „Traditionsstränge" und „Öffentliches Handeln". 33 Vgl. hierzu unten die Kapitel „Traditionsstränge" (Gesinnungszirkel) und „Öffentliches Handeln". 32
Historographiegeschchtsschreibung Die Einteilung in Generationen erfolgt schließlich nicht lediglich nach den jeweiligen Geburtsjahren. Sie geht vielmehr von der Annahme aus, daß sich Generationen in soziologischer Hinsicht auch durch das Miterleben bestimmter prägender Ereignisse in den besonders aufnahmefähigen Jahren der Jugend scheiden.34 Für die erste Generation großdeutscher Historiker spielte die napoleonische Zeit, die Zeit der Befreiungskriege und der Neuordnung Europas seit 1815 eine entsprechende Rolle, also indirekt die gewaltigen Nachwehen der großen Französischen Revolution von 1789.35 Die zweite Generation sah sich in diesem Sinne mit der Revolution von 1848/49 konfrontiert, die den Großdeutsch-Kleindeutsch-Antagonismus zu tagespolitischer Dringlichkeit erst wirklich erhob und damit auch die Voraussetzungen für Nationalgeschichtsschreibung veränderte. Der dritten Generation war eines wie das andere selbst bereits Geschichte. Sie fand sich betroffen von der preußisch-österreichischen Auseinandersetzung des Jahres 1866 und schließlich vom Krieg gegen Frankreich und der kleindeutschen Reichsgründung. Daß diese jeweiligen „Prägungen" die Historiographie der Einzelnen entscheidend beeinflußten, scheint selbstverständlich und bedarf keiner weiteren Erörterungen. Die Tradition großdeutscher Geschichtsschreibung erstreckt sich in der vorliegenden Konzeption über die Länge eines Jahrhunderts, von Ignaz Döllingers Ausführungen über die Reformation im „Handbuch der christlichen Kirchengeschichte" von 1828 bis zu Ludwig Pastors letzter biographischer Niederschrift über seinen Lehrer Johannes Janssen, 1929 posthum erschienen. 36 In personaler Hinsicht hat die Geschichte der großdeutschen Historiographie im neunzehnten Jahrhundert die Abfolge jener drei Generationen, exemplifiziert an den genannten Hauptvertretern, zum Thema. Dies bedeutet freilich nicht, daß andere Geschichtsschreiber, sofern sie zum Komplex „Großdeutsche Historiographie" beitrugen, keine Berücksichtigung und Erwähnung fanden. 37 Um jedoch eine
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Vgl. Karl Mannheim: The Problem of Generations, in: ders., Essays on the Sociology of Knowledge, hg. von Paul Kecskemeti, London 1952, S. 276-320. 35 Der erst 1811 geborene Constantin Höfler erfüllt dieses Kriterium nicht. Warum ihn die vorliegende Arbeit trotzdem zur „ersten Generation" zählt, begründet das Lebensbild u. S. 132-134. 36 Döllinger: s. Lebenswege, Anm. 238; Pastor: s. Anm. 129. Pastor war am 30. September 1928 gestorben. 37 In Verbindung mit der „ersten Generation" wären hier als „Gesinnungsverwandte" etwa zu nennen der Österreicher Joseph Chmel, der Schweizer Joseph Eutych Kopp (zu beiden s. Öffentliches Handeln, Anm. 188), schließlich der Kanonist und Rechtshistoriker George Phillips (s. u. S. 422/423). Sie alle trugen in Einzelheiten zur Ausbildung, Begründung und auch Verbreitung katholizistischer, konservativer und großdeutscher Geschichtsbilder bei. - Zur zweiten Generation wäre schließlich Joseph Edmund Jörg (1819-1901) zu rechnen, der großdeutsch orientierte spätere Herausgeber der „Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland". Jörg arbeitete in seiner Ju-
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lexikographische Kumulation von Lebensdaten und Fakten zu vermeiden, muß der Hauptakzent gleichwohl auf den maßgeblichen Vertretern jeder Generation verbleiben. Gewisse Vorentscheidungen erwiesen sich dabei als unvermeidlich. Einfluß auf die Auswahl nahmen neben der Bedeutung des jeweiligen Historikers für die deutsche Geschichtswissenschaft insgesamt sowie seiner Beiträge für die Ausgestaltung einer spezifisch großdeutschen Geschichtsbetrachtung vor allem das „politische" Bewußtsein eines unlösbaren Zusammenhanges zwischen Geschichte und eigener Gegenwart, aber auch der Grad seiner Wirksamkeit in einer größeren, nicht nur akademischen oder studentischen Öffentlichkeit, insbesondere die Publizität des jeweiligen historiographischen Werkes über einen engen Kreis von Fachkollegen und Schülern hinaus.
gend unter dem Einfluß Döllingers auf dem Gebiet der Reformationsgeschichte. Sein 1851 erschienenes Werk „Deutschland in der Revolutionsperiode von 1522 bis 1526. Aus den diplomatischen Correspondenzen und Originalakten bayerischer Archive dargestellt" sollte in der Geschichte großdeutscher Historiographie nicht ungenannt bleiben (s. u. S. 214 und Denkwege, Anm. 220). - Weiterhin: der jung verstorbene katholische, später altkatholische Bonner Historiker Franz Wilhelm Kampschulte (1831-1872). Moriz Ritter nennt ihn, wie auch seinen Freund Carl Adolf Cornelius, einen „Großdeutschen mit wahrer Leidenschaft", der jedoch öffentliches und politisches Engagement scheute (Moriz Ritter: Erinnerungen aus meinem Leben, UB Bonn, S 2036 a, S. 38). In der Tat konzentrierte sich Kampschulte sehr zurückgezogen auf seine Reformationsund Calvinstudien. Ein gewisser Reflex seiner großdeutschen Geschichtsanschauungen gelangte durch das Bändchen F [ranz] WfilhelmJ Kampschulte: Zur Geschichte des Mittelalters. Drei Vorträge, Bonn 1864, an eine größere Öffentlichkeit (hier insbes. der Vortrag „Die Kaiserkrönung Karl's des Großen und das christliche Universalreich des Mittelalters", S. 25-46); vgl. Carl Adolf Cornelius: Fr. Wilhelm K. Kampschulte, in: ders.: Historische Arbeiten vornehmlich zur Reformationszeit, Leipzig 1899, S. 619— 621.- Auch der Österreicher Alfred von Arneth (1819-1897) käme am Rande in Betracht. Freilich zählt Arneth nicht eigentlich zu den großdeutschen Historikern, obgleich er als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung großdeutsche Positionen vertrat., Auch damals schon stand aber sein Großösterreichertum über dem deutschen politischen Willen, und dann wurde Arneth [...] ein Typus jenes Altösterreichertums, das den josefinischen Beamtengeist in die Ära des Liberalismus fortführte und österreichischen Staatspatriotismus mit kulturellem Deutschbewußtsein vereinte." (Srbik, Geist und Geschichte - s. Anm. 93 - Π, S. 102). - Überhaupt erscheint die großdeutsche Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts als ein vorwiegend „deutsches", nicht „österreichisches" Phänomen. Viele der großdeutschen Historiker beschlossen ihre Berufslaufbahn in österreichischen Diensten; gebürtige Österreicher fanden sich jedoch unter ihnen - von Joseph Chmel vielleicht abgesehen - nicht. Erst mit jener neueren, „gesamtdeutschen" Tradition, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in stärkerem Maße Verbreitung fand, verlagerte sich das Gewicht nach Österreich (vgl. Anm. 53).
Historiographiegeschichtsschreibung Wenn im Titel der Begriff „Geschichtsschreibung" erscheint, so schließt er den Begriff „Geschichtswissenschaft" mit ein, ja setzt ihn voraus, soweit der Stand der fachlichen Spezialisierung während des neunzehnten Jahrhunderts, speziell dessen erster Hälfte, eine solche Grenzziehung zuläßt. Dabei steht zu berücksichtigen, daß die ganze Diskussion auch von fächerübergreifend engagierten und befähigten Teilnehmern lebt, daß Interdependenzen bestehen zwischen Geschichte, Theologie und Rechtswissenschaft. Solcher Überschneidungen eingedenk begreift die vorliegende Geschichte großdeutscher Historiographie im neunzehnten Jahrhundert Geschichtsschreibung als Ergebnis wissenschaftlicher Forschung und als deren Teil. Kategorien wie „großdeutsch" und „kleindeutsch" implizieren natürlich gleichzeitig Wertungen, die ebenso wie „katholisch" oder „protestantisch" einem modernen Verständnis von Wissenschaft zuwiderlaufen. Dieses Verständnis sollte jedoch nicht ignorieren, daß hiermit wichtige „Voraussetzungen" bezeichnet sind, die Wissenschaft in dieser Zeit maßgeblich determinierten, keineswegs aber behinderten oder gar erstickten. Selbstverständlich bestünde die Möglichkeit, neben der wissenschaftlich fundierten Geschichtsschreibung auch andere Formen der Vermittlung von Geschichtsbildern beizuziehen, reinen „Journalismus" etwa oder historische Romane, vielleicht auch Denkmäler und Gedenkfeiern, Museen oder historische Bildprogramme. Dies alles hat aber mit Geschichtsschreibung nicht mehr viel gemeinsam, erforderte auch eine andere Methode und blähte obendrein den Stoff unendlich auf. Kurz: das wäre eine andere Thematik. Gelegentliche Seitenblicke müssen deshalb nicht unterbleiben. 38
Zur Kennzeichnung des historiographischen Werkes der Genannten begegnen neben dem Terminus großdeutsch weitere Epitheta, deren Aussagekraft oftmals nur gering ausfallt, handelt es sich bei diesen doch um häufig gebrauchte, teils abgegriffene Schlagworte, um inhaltlich vielfach schon entleerte Worthülsen. Allein die Tatsache aber, daß Begriffe dieser Art immer dann zusätzlich fallen, wenn von großdeutscher Geschichtsschreibung die Rede ist, bestätigt freilich die Mahnung Mommsens zur Vorsicht im Umgang mit dem Terminus großdeutsch. Selbst nicht aussagekräftig genug, fordert er in der Regel ein ergänzendes Charakteristikum, um zu verdeutlichen, welche der vielfaltigen und heterogenen großdeutsch ausgerichteten Strömungen gerade im Zentrum der Betrachtung steht. Großdeutsche Geschichtsschreibung heißt selten nur groß38
Solche Seitenblicke könnten an gegebener Stelle Constantin Frantz (1817-1891) gelten - mehr mitteleuropäischer, antibismarckianischer Föderalist, denn eigentlicher Großdeutscher - , dem alldeutsch-„völkisch" orientierten Paul de Lagarde (1827-1891) sowie dem katholischen Publizisten Johann Baptist Pfeilschifter (1793-1874). Zu letzterem vgl. Denkwege, Anm. 479; zu Frantz und Lagarde die knappen Hinweise bei Srbik, Geist und Geschichte (s. Anm. 93) Π, S. 45/46.
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deutsch, sondern universalistisch, katholisch, konservativ. Gerade aufgrund der relativen Unverzichtbarkeit solcher Epitheta, darf der Versuch nicht unterbleiben, deren Tauglichkeit zur differenzierteren Kennzeichnung dieser Art von Historiographie überhaupt zu prüfen, sie entweder zu verwerfen oder aber in Hinblick auf die großdeutsche Geschichtsschreibung dem Bereich beliebiger Schlagworte zu entreißen und mit den korrekten Inhalten zu füllen. Als terminologischer Kurzschluß erscheint die Kopplung großdeutscher Geschichtsschreibung mit dem Begriff des Universalismus, wie sie vor allem der Titel jener immer noch bekanntesten Veröffentlichung zur historiographischen Großdeutsch-Kleindeutsch-Kontroverse der fünfziger und sechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, Friedrich Schneiders Edition der Streitschriften Julius Fickers und Heinrich von Sybels, nahelegt: Universalstaat oder Nationalstaat.39 Wenngleich die Wahl der Worte hier freilich in erster Linie auf die Charakterisierung des mittelalterlichen Kaiserreiches abzielt, legt sie doch den Umkehrschluß nahe, großdeutsche Historiker bevorzugten auch für die Lösung der deutschen Frage ihrer eigenen Zeit das Modell eines Universalstaates vor dem eines Nationalstaates. Einer vom Nationalsozialismus infizierten Geschichtswissenschaft konnte eine solche Interpretation nicht unrecht sein, spielte in deren Vorstellungswelt das nationale „Zweite Reich" doch nur die Rolle einer vorläufigen Lösung, während das „Dritte Reich" als ein Stadium der Vollendung erschien, das bewußt an das universale „Erste Reich" anknüpfte. 40 Zwar versuchte die in jenen Jahren - besonders von österreichischer Seite her propagierte - „gesamtdeutsche Geschichtsauffassung" 41 den Graben zwischen kleinund großdeutschen Positionen im Sinne einer Synthese zu überwinden, kritisierte also Einseitigkeiten beiderseits; trotzdem schien dem Bemühen, über die
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Friedrich Schneider (Hg.): Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich v. Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, Innsbruck 1941. 40 Schneider, Einleitung, S. XXXV: Die „Sehnsucht" nach der Größe des mittelalterlichen, „ersten" Reiches „ist heute im Großdeutschen Reich durch Adolf Hitler erfüllt worden." Vgl. ebd. S. XXXVI die Bezugnahme auf Hermann Heimpel: Deutschlands Mittelalter, Deutschlands Schicksal, Freiburg/Brsg. 1933; weiterhin Harold Steinacker: Weg und Ziel der deutschen Geschichtswissenschaft. Staatsgeschichte, Kulturgeschichte, Volksgeschichte, in: ders., Volk und Geschichte. Ausgewählte Reden und Aufsätze, Brünn/München/Wien 1943, S. 149-167, hier S. 155: „Wir aber waren nicht fertig, weder nach außen noch nach innen, weder 1815 und 1850 noch 1871 und 1919. Wir standen noch vor unserer Volkwerdung." Ders.: 1889 - 1919 - 1939. Rektorsrede am 50. Geburtstag des Führers, in: ebd., S. 378-395, hier S. 380: „Und ich meine die Geschichte, vor allem die Deutsche Geschichte. Sie sieht alle Linien der Vergangenheit in dieser einen Gestalt und in der von ihr geprägten Zeit zusammenlaufen"; ebd., 389/390: Defizite des „Zweiten Reiches". 41 Zur „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung" vgl. Anm. 53.
Historiographiegeschichtsschreibung Brücke völkischer Ideologeme das „Erste" in bezug zum „Dritten Reich" zu setzen, der „Universalismus" großdeutscher Historiker doch allemal brauchbarer als der „liberal-nationale", „politische" Reduktionismus der kleindeutschea42 Gegen solche Absurditäten nimmt sich ein andersherum angelegtes Mißverständnis der Großdeutschen geradezu harmlos aus: daß die Denunziation ihres vermeintlichen Universalismus als Ablehnung der so mächtigen Idee des Nationalstaates genügte, die Großdeutschen als unmoderne, weltfremde Träumer abzuqualifizieren, demonstrierte ja bereits Wegele mit Erfolg. Sicher, universalistisch geprägt erscheinen die Gedankengänge großdeutscher Historiker insofern, als sie in aller Regel an das Alte Reich als der Norm deutscher Staatlichkeit, als einer organisch im Laufe der Jahrhunderte gewachsenen Ordnung erinnern, die sich prinzipiell bewährt habe und aus deren Vorbild grundsätzlich eine Lösung der deutschen, der „nationalen" Frage abzuleiten sei. Sehr individuelle Vorstellungen existieren darüber, welche Strukturen und Elemente dabei zu verwerfen, welche zu übernehmen oder zu reformieren seien. Weitgehende Einigkeit herrscht hinsichtlich der Einschätzung, daß ein föderalistisch angelegtes Staatsgebäude einem zentralistischen vorzuziehen sei, wobei aber bereits das Gewicht der föderativen Komponente schon wieder unterschiedlichen Bewertungen unterliegt. 43 Auch zu Fragen übernationaler staatlicher
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Besonders Harold Steinacker arbeitete an der Begründung einer völkisch geprägten „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung". In diesem Zusammenhang forderte er auch eine „neue Schau unserer Mittelalters": „Die ganze bunt abgestufte Gesellschafts- und Lebensordnung des Mittelalters mit seinen Zünften und dem Begriff der »bürgerlichen Nahrung1 kann nicht wieder auferstehen. Wohl aber der Gedanke einer nicht von den materiellen Interessen allein bestimmten, sondern von einer ttóerwirtschaftlichen, sittlichen Gesinnung her geformten Ordnung der Völker nach Ständen, der Menschheit nach Völkern." (Vom Sinn einer gesamtdeutschen Geschichtsauffassung, in: Steinacker, S. 89-110, hier S. 104). Den durch diese Geschichtsauffassung implizierten „Universalismus" beschreibt er als einen Universalismus der „Volksgemeinschaften", der sich gegen die vom Nationalsozialismus beschworenen Gespenster des ,»Internationalismus" zu kehren habe. - Kritik an den Einseitigkeiten auch großdeutscher Historiker: Ders., Die Volksdeutsche Geschichtsauffassung und das neue deutsche Geschichtsbild, in: ebd., S. 111-148, hier S. 126. - Ablehnung der kleindeutsch-borussianischen, „politischen" Schule: Weg und Ziel der deutschen Geschichtswissenschaft, ebd., S. 153,155. 43 Der Terminus Föderalismus begegnet, soweit ich sehe, in der Zeit vor 1848 bei den Historikern der ersten Generation nicht, wenngleich die Begrifflichkeit im Prinzip des Alten Reiches natürlich mit enthalten ist. Unter den Historikern der zweiten Generation vgl. Carl Adolf Cornelius: Über die deutschen Einheitsbestrebungen im 16. Jahrhundert. Rede gehalten am 28. November 1862, München 1862, in: Ders., Historische Arbeiten, S. 558-568, hier S. 561: „Die heilsame Ergänzung, auf welche Erfahrung und Theorie hinweisen, liegt im Princip des Föderalismus, den man freilich nicht künstlich machen kann, wo die natürlichen Grundlagen fehlen, der aber auf deutschem Boden so 3 Brechenmacher
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Gebilde, ja sogar mitteleuropäischer Ordnungsmodelle finden Erwägungen in diesem Zusammenhang selbstverständlich statt. Einige der Großdeutschen (Hurter, Höfler, Klopp) favorisieren daneben und parallel dazu einen Universalismus orthodox-katholischer Prägung, der sich weigert, den säkular-nationalen Machtstaat in alle Bereiche des Lebens vordringen zu lassen und den Blick nach Rom, als der Hauptstadt einer letzten, geistig-geistlichen Universalmacht wendet, deren Sphäre der moderne Staat nicht ohne weiteres verletzen dürfe. Andere wiederum schwören, zumal nach 1866, jeglichem Universalismus ab, freunden sich an mit der nationalen Lösung der deutschen Frage - gerade auch Katholiken wie Carl Adolf Cornelius oder Moriz Ritter, die den Weg des ultramontanen Universalismus in den späten sechziger Jahren nicht mehr mittragen können.44 Aus der Konstruktion eines kategorischen Gegensatzes zwischen großdeutschuniversal und kleindeutsch-national erwüchsen krasse Fehlbewertungen der Ziele großdeutscher Historiographie aller drei Generationen. Auch die großdeutschen Geschichtsschreiber wollten zur Lösung der „nationalen" Frage beitragen. Dem Frankfurter „Reichsbürger" Johann Friedrich Böhmer etwa erschien die geschichtswissenschaflliche Pflege der Traditionen des „universalen" Alten Reiches sogar als der entscheidende Schlüssel zur neuen „Nation". Genau dafür, für die Nation arbeitete er, ja lehnte, ganz der nationalen Erweckung der Jahre nach 1815 verpflichtet, einen Universalismus Goethescher Prägung ausdrücklich ab. „National, nicht universal ist jetzt unser aller Losung." 45 Ohne Zweifel hing Böhmer einer anderen Art von Nationalismus an als später etwa Sybel und Treitschke. Daraus folgt freilich nicht das Recht, ihn zum anationalen Universalisten zu stempeln, sondern die Pflicht, sein Verständnis von „Nation" zu beschreiben und dieses dem der anderen zu kontrastieren. Der Geschichte großdeutscher Historiographie im neunzehnten Jahrhundert fallt mithin die Aufgabe zu, das Verhältnis der Historiker zur „nationalen" Frage zu beleuchten, in seinem Wandel über die drei Generationen hinweg. Universalismus spielt da in gewisser Hinsicht eine Rolle, bildet jedoch zunächst keinen Widerspruch zum Begriff des Nationalen, etwa in weltbürgerlich-kosmopolitischem Sinne. Um Verwirrungen im Umgang mit den verschiedenen inhaltlichen Füllungen dieser Schlagworte zu vermeiden, erscheint es sinnvoll, auf
alt ist, wie die Volksgeschichte selbst." - Zum Föderalismus allg. vgl. Emst Deuerlein: Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips, München 1972, hier bes. S. 116-127 zum Thema: Großdeutsch oder kleindeutsch - föderativ oder unitarisch? 44 Eine der interessantesten Quellen zu dieser Entwicklung ist noch immer unveröffentlicht: Moriz Ritters „Erinnerungen aus meinem Leben" (s. Anm. 37). 45 Böhmer an V. Müller, Rom 1819, zit. nach Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, (s. Anm. 117), S. 58.
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den Terminus Universalismus als spezifizierendes Epitheton großdeutscher Geschichtsschreibung weitgehend zu verzichten und stattdessen das komplexe Verhältnis der Großdeutschen zum Begriff der Nation differenziert zu klären.
Unter den Vertretern der ersten Generation großdeutscher Historiker befanden sich nur zwei,Katholiken von Geburt': Döllinger und Höfler. Von den drei Protestanten - zwei Lutheranern, einem Reformierten - Böhmer, Gfrörer, Hurter, konvertierten freilich zwei, Hurter und Gfrörer, und entwickelte einer, Böhmer, eine deutliche Sympathie zum Katholizismus. Innerhalb der zweiten Generation reichte die Bandbreite vom Konvertiten Onno Klopp über den Priester Janssen, die konfessionell maßvollen liberalen Katholiken Julius Ficker und Hermann Hüffer bis zu Carl Adolf Cornelius, dem Ziehvater der späteren altkatholischen Historikerfraktion. Eine ähnliche Polarität zeigt die dritte Generation: auf der einen Seite der streng ultramontane Ludwig Pastor, auf der anderen Moriz Ritter, Altkatholik seit 1871. Der Katholizismus spielt im Zusammenhang mit großdeutscher Geschichtsschreibung eine fundamentale Rolle, sowohl gruppenintern als auch in der Auseinandersetzung mit den kleindeutschen Gegnern. Aus der katholischen Gedankenwelt fließen vielfaltige Inhalte in die Argumentationslinien großdeutscher Geschichtswissenschaft ein, ebenso wie auf der anderen Seite protestantische Ideen kleindeutsch-borussianische Deutungsmuster begünstigen.46 Vielfach ermöglicht die Tradition katholischer Geschichtsschreibung seit Bossuet überhaupt erst großdeutsche Geschichtsschreibung. Anders und zugespitzt formuliert: Katholische Geschichtsschreibung, sofern sie sich auf deutsche Geschichte bezieht, steht im neunzehnten Jahrhundert, und zumal vor 1871, auf prinzipiell großdeutscher Basis; großdeutsche Geschichtsschreibung hinwiederum, sofern sie aus anderen Wurzeln entspringt, nähert sich dem Katholizismus mindestens an, wenn sie nicht geradezu „überläuft". 47
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Gollwitzer, Neuere deutsche Geschichtsschreibung (s. Anm. 103), S. 1389, deutet diese Zusammenhänge nur an, ohne in seinem gedrängten Überblick die tieferen Verbindungslinien freilegen zu können. „Die Auseinandersetzung zwischen politischem Katholizismus und politischem (Neu)Protestantismus ist von dem groß- und kleindeutschen Antagonismus nicht zu trennen." Wichtige grundsätzliche Bemerkungen zu dieser Thematik bei Rudolf Litt: Großdeutsch und kleindeutsch im Spannungsfeld der Konfessionen, in: Anton Rauscher (Hg.), Probleme des Konfessionalismus in Deutschland seit 1800, Paderborn 1984 (= Beiträge zur Katholizismusforschung, Reihe Β : Abhandlungen), S. 29-47. 47 Heinz Gollwitzer hat in einer Untersuchung zum Sybel-Ficker-Streit eine „dritte" Position beschrieben, die v. a. in den Jahren um die Reichsgründung weniger die Fachwelt als vielmehr das große geschichtsinteressierte Publikum bewegte: Heinz Gollwitzer: Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert. Eine ideologie*
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Aus solcher Kopplung von Konfession und Geschichtsanschauung sowie der gleichzeitigen Kopplung von Geschichtsanschauung und Politik leiten sich freilich auch Folgen ab für die Beantwortung der deutschen Einheitsfrage. Hinter dem Kleindeutsch-Großdeutsch-Gegensatz des neunzehnten Jahrhunderts lauert stets das konfessionelle Problem. Dabei scheint aufgrund der Eruptionen des Katholizismus zwischen 1815 und 1871, aber auch aufgrund der prinzipiell problematischen Stellung der römischen Hierarchie zum modernen National-
und wissenschaftsgeschichtliche Nachlese, in: Rudolf Vierhaus / Manfred Botzenhart (Hg.), Dauer und Wandel der Geschichte. Festgabe für Kurt von Raumer, Münster 1966, S. 483-512. Vermittelt durch „ideologisch-populäre Abwandlungen geschichtswissenschaftlicher Arbeit" (ebd., S. 498) habe diese Position, abweichend von der klassischkleindeutschen, „gothaischen" Auffassung, in einer bejahenden Anknüpfung an die Tradition mittelalterlichen Kaisertums unter Ablehnung der katholischen, „ultramontanen" Bindungen der Kaiser bestanden. Auf der Basis eines solchen „protestantischen" zumindest aber antiultramontanen Ghibellinismus hätten sich „die antiultramontanen Kreise Norddeutschlands und die gleichgesinnte süddeutsche Intelligenz" geschichtspolitisch finden können (S. 509). - Die großdeutschen Historiker der ersten Generation hätten einen derartigen Ghibellinismus sowie die Art der durch ihn implizierten „Traditionen" rundweg abgelehnt: geschichtswissenschaftlich nicht ganz zu Unrecht, knüpfte dieser doch an einen Kaiserbegriff an, der in solcher inhaltlicher Füllung in der Frühen Neuzeit zwar existiert hatte und diskutiert worden war, de facto jedoch bis zum Ende des Alten Reiches keine Realisation gefunden hatte (vgl. Heinz Duchhardt: Protestantisches Kaisertum und Altes Reich. Die Diskussion über die Konfession des Kaisers in Politik, Publizistik und Staatsrecht, Wiesbaden 1977 [= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Bd. 87]). Geschichts/?o/tec/ï erfüllte freilich die von Gollwitzer angesprochene „dritte" Position eine wichtige Funktion: die Identifikation mit einem neuen „protestantischen Kaisertum" herbeizuführen, scheinbar ohne mit den Traditionen der Vergangenheit brechen zu müssen. Mit großdeutscher Historiographie hat dieser dritte Weg allerdings wenig zu tun; sehr viel eher schon mit kleindeutscher. Beide Parteien versuchten bereits vor 1848 mit dem Schlagwort des Ghibellinismus zu arbeiten, jede - für die Großdeutschen wird davon ausführlich die Rede sein müssen - durch ihre eigene Begriffsbelegung. Während aber die Großdeutschen von Anfang an den Kaiser als obersten Repräsentanten des Imperium immer im Zusammenhang mit seinem sacerdotialen Gegenpol sahen und allenfalls das Verhältnis beider mit variierenden Akzenten beschrieben, versuchten die Kleindeutschen schon bald, beide Pole voneinander zu trennen und den Ghibellinismus auf den Imperator als unabhängigen und niemandem verpflichteten weltlichen Herrscher zurechtzuschneidern - so bereits Ludwig Häusser 1846 in der Auseinandersetzung mit Höfler. Heinrich von Sybel reduzierte dann später diese Position des „protestantischen Ghibellinismus" auf den von Gollwitzer so genannten „nationalstaatlichen JDefinitismus' " (S. 502), indem er die Politik der mittelalterlichen Kaiser in Italien grundsätzlich verurteilte. Bildete sich hieraus die klassisch gothaische Auffassung, so blieb doch als Nebenzweig der kleindeutschen Historiographie jene Position des „protestantischen Ghibellinismus" immer mit erhalten - und popularisierte sich in den sechziger Jahren
Historiographiegeschichtsschreibung Staat,48 das Verhältnis der Großdeutschen zum Katholizismus insgesamt komplexer und schwieriger zu bestimmen als auf der anderen Seite die Beziehungen zwischen Kleindeutschen und Protestantismus. Während bei den Kleindeutschen die politischen Fragen deutlich im Vordergrund standen, während das Verhältnis von Kirche und Staat in Hinsicht auf die Gründung eines Nationalstaates den Kleindeutschen nur ein untergeordnetes Problem darstellte und es die protestantischen Kirchen in der Regel auch nicht zum Problem erhoben, führten die großdeutschen Historiker nicht nur die politische Debatte im historischen Gewände, sondern gleichzeitig, und manche höchst persönlich betroffen, eine schonungslose Auseinandersetzung um ihre eigene Stellung zum Katholizismus. Während Kleindeutschtum und Protestantismus eine feste Linie bildeten, fanden sich im Lager der Großdeutschen infolge der innerkirchlichen Auseinandersetzungen um die Hermesianische und Günthersche Philosophie, um die Frage einer deutschen Nationalkirche, um Syllabus und Infallibilität schließlich mindestens drei verschiedene Haltungen zum Katholizismus, die sich mitunter bis aufs Messer bekämpften. Diese religiöse Zersplitterung absorbierte viel Kraft, auch der großdeutschen Historiker, vor allem der zweiten
auf die von Gollwitzer herausgearbeitete Weise. Aber es handelte sich dabei nicht um eine neue, sondern um eine schon länger geläufige Vorstellung im kleindeutschen Lager. Daß für die Großdeutschen auf der anderen Seite der Weg zum „protestantischen Ghibellinismus" zunächst kaum nachvollziehbar erschien, beweist das Beispiel August Friedrich Gfrörers, der in der ersten Auflage seines „Gustav Adolph" (1837) jene Idee gleichfalls entwickelte, jedoch auf dem Wege zur Ausprägung seines spezifisch „großdeutschen Ghibellinismus" sehr schnell wieder davon abrückte. In den späten sechziger Jahren gestaltete sich die Lage dann freilich anders, wobei die innerkatholische Entwicklung um das Vatikanum eine entscheidende Rolle mitspielte. „Ultramontanismus" unter Einschluß des Infallibilitätsdogmas war für einige großdeutsche Historiker nicht mehr akzeptabel (Döllinger, Cornelius, Ritter). U. a. über die Brücke des „protestantischen Ghibellinismus" sowie des Altkatholizismus konnten sie nun ihre großdeutsche Anschauung vom orthodoxen Katholizismus trennen und sich langsam mit dem neuen kleindeutsch-protestantischen Kaisertum anfreunden. Vgl. zu der ganzen Problematik auch das abschließende Kap. vorliegender Arbeit über den Höfler-Häusser-Streit. 48 Das Verhältnis von Kirchen, Konfessionen und Nationalstaat im allgemeinen bleibt aktuell und wird in dieser Aktualität auch wieder diskutiert. Vgl. Manfred Spieker: Vom katholischen Reich zum protestantischen Nationalstaat. Nation und Konfession - eine katholische Perspektive, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.3.1994, S. 11, hier: „Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Rekonstruktion der nahezu ein halbes Jahrhundert unterdrückten Nationen in Mittel- und Osteuropa rückt auch das Verhältnis von Nation und Konfession wieder in den Blick. Es hat von seiner Komplexität nichts verloren." Spieker spricht auch die grundsätzlich größere Distanz des Katholizismus zum Nationalstaatsgedanken an. Während das Kaiserreich von 1871 als ausgesprochen „protestantischer Nationalstaat" zu betrachten sei, war die „Relativierung der Nation [...] bei den Katholiken in Deutschland immer besonders ausgeprägt."
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Generation, und erwies sich als kaum geeignet, die Durchsetzungskrafl großdeutscher Geschichtskonzepte in der Debatte um die Einheitsfrage zu erhöhen. Angesichts dieser Verknüpfungen und den damit angesprochenen Problemkreisen stellt sich der Geschichte der großdeutschen Historiographie als weitere Hauptaufgabe die differenzierte Aufdeckung und Beschreibung der Interdependenz von Katholizismus und großdeutschen Geschichtsbildern. Bei grundsätzlicher Affinität besteht zwischen Annäherung an und Identifikation mit dem Standard des orthodoxen, „römischen" Katholizismus eine Vielzahl von Abstufungen, Nuancen, individuellen Positionen innerhalb aller drei Generationen großdeutscher Geschichtsschreiber. Insofern trifft eine Kennzeichnung dieser Historiographie als katholischer Historiographie im Sinne exakter Übereinstimmung mit den von Rom aus als „katholisch" definierten Positionen nicht zu. Sehr viel besser verweist stattdessen der Terminus katholizistisch auf jene gruppenspezifische Affinität bei gleichzeitiger Pluralität der Standpunkte, die im einzelnen dann zu bestimmen sind.
Konservativismus als Sigle einer Lebenshaltung, die alles Radikal-Revolutionäre, Konstruierte ablehnt, das organisch Gewachsene, die seit jeher bestehenden, möglicherweise gottgegebenen Ordnungen und Autoritäten hingegen favorisiert und sich politisch für deren Erhalt einsetzt, bezeichnet sicherlich korrekt und grundsätzlich eine Koordinate des Wertesystems der großdeutschen Historiker. Doch auch hier scheint Differenzierung am Platz. Vor dem Hintergrund der Französischen Revolution spaltete sich das politische Urteil in Zustimmung, modifizierte Zustimmung und Ablehnung, überspitzt in Worten der Zeit formuliert, in „Radicalismus", „Liberalismus" und „Conservativismus". Letzterer trat vor 1837 durchaus überkonfessionell auf, repräsentierte einen weltanschaulichen Konsens protestantischer und katholischer Intellektueller und ermöglichte beispielsweise das Studium bayerisch-katholischen Gelehrtennachwuchses in Göttingen, den Einfluß des Burke-Rezipienten August Wilhelm Rehberg auf den jungen Historiker Constantin Höfler. Mit der Eskalation des Kölner Kirchenstreites von 1837/38 und der damit verbundenen Politisierung des Katholizismus, zerbrach jene „christlich-konservative Front", 49 spaltete sich der Konservativismus in ein katholisches und ein protestantisches Lager. Die Geschichte der großdeutschen Historiographie sollte diese Entwicklung im Auge behalten, wenn sie daran geht, den „Konservativismus" der großdeutschen Historiker genauer zu bestimmen. Sie sollte darauf hinweisen, daß dieser Konservativismus nach 1837 als katholizistischer Konservativismus auftrat, der aber selbst wiederum ein breites Spektrum von Färbungen annehmen konnte:
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Vgl. dazu Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. IV: Die religiösen Kräfte, Freiburg/Brsg. 1937, ND München 1987, S. 143-148.
Historiographiegeschichtsschreibung vom restaurativen Legitimismus Friedrich Emanuel Hurters zu der mit aufklärerischen Relikten durchsetzten konservativen Gedankenwelt August Friedrich Gfrörers, von den nationalliberalen Tendenzen des späten Cornelius oder auch Hermann Hüffers zum stramm ultramontanen Konservativismus Ludwig Pastors. Konservativismus als Grundanschauung dominiert im Kreise der großdeutschen Historiker, wobei Offenheit liberalen Ideen gegenüber nicht immer fehlt; nahezu alle Vertreter der großdeutschen Historiographie begriffen aber diesen Konservativismus in der von Veit Valentin unter anderem am Beispiel Böhmers beobachteten Weise nicht als „stures, stumpfes Festhalten an altertümlichen Formen", sondern als neues Ideal eines „gemächlichen behutsamen Weiterbildens in Pietät und Achtung vor der Vergangenheit im Gegensatz zum zerstörenden, unhistorischen Radikalismus." 50
Interessanterweise läßt sich auf dem Gebiet der großdeutschen Historiographie keine Parallele finden zu jener demokratischen, „linken", politischen Gruppe, die in der Paulskirche ebenfalls großdeutsche Ziele verfocht oder aber wenigstens sich dem kleindeutschen Programm verweigerte. Einen Raveaux oder Venedey der Geschichtsschreibung sucht der Historiographiehistoriker vergeblich; auch Julius Fröbel, nach 1848 der aktivste großdeutsch-demokratische Agitator arbeitete ja in erster Linie als Publizist und nie als Geschichtswissenschaftler. Das sich ausbildende sozialistisch-marxistische Geschichtsbild lehnte im übrigen die eine wie die andere Seite dieser „bürgerlichen" Historiographie ab; freilich die preußische noch mehr, denn die österreichische. Im Prinzip aber galten beide Parteien als Geschichtsklitterer; „nationale" Geschichtsschreibung, in welcher inhaltlichen Füllung auch immer, konnte dem marxistischen Internationalismus kaum zusagen.51 Karl Marx und Friedrich Engels hatten für die ernsten Auseinandersetzungen der gfoß- und kleindeutschen Historiker nur beißenden Spott übrig, einen Spott, der auch die Betriebsblindheit jener Auseinandersetzungen der engeren Großdeutsch-Kleindeutsch-Debatte zwischen 1848/49 und 1866/71 geißelte und der die Geschichte der großdeutschen 50
Veit Valentin: Frankfurt am Main und die Revolution von 1848/49, Stuttgart 1908, S. 96. 51 „Die Väter der internationalen prolétarischen Revolutionsbewegung" hatten zum Nationalitätsprinzip insgesamt „nur ein »dialektisches" Verhältnis [...]; sie sahen in ihm ein mit der kapitalistisch-bürgerlichen Weit heraufkommendes und mit ihr verschwindendes Prinzip." Wenn etwa Friedrich Eitgels die Reichsgründung von 1871 dennoch begrüßte, dann deshalb, weil „sie der Arbeiterbewegung die notwendige größere Plattform gab." Theodor Schieder: Idee und Öestalt des übernationalen Staates, in: HZ 184 (1957), S. 336-366, hier S. 340/341.
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Historiographie vor ihrem eigentlichen Beginn zur Kritik ermahnt, davor warnt, solche Betriebsblindheiten, wo sie denn auf der großdeutschen Seite auftreten, schönzureden oder zu rechtfertigen. Am 17. Februar 1870 berichtete Engels Marx in London über die Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und dessen Bonner Kollegen, dem Rechtsprofessor und Historiker Hermann Hüffer, die Haltung Österreichs und Preußens im Revolutionskrieg betreffend: „Du weißt, es ist jetzt seit 3-4 Jahren ein großer Krakeel zwischen den preußischen und östreichischen Historikern wegen dem Frieden von Basel, weil der Sybel behauptet hat, Preußen hätte ihn schließen müssen, weil es von Ostreich in Polen verraten worden. Jetzt hat der Sybel wieder eine lange Geschichte darüber [...] in seiner historischen Zeitschrift. Während jede Zeile nachweist, wie Rußland sowohl Preußen wie Ostreich aneinander und zugleich in den Krieg gegen Frankreich 1792 hetzt, beide exploitiert, prellt, beherrscht, merkt der dumme Sybel das gar nicht, sondern sucht in diesem ganzen Saukram von Prellerei, Vertragsbruch und Niederträchtigkeit, in dem sie Alle gleich tief stecken, nur nach dem Einen: nach Beweisen, daß Ostreich doch noch schuftiger war als Preußen. Solche Ochsen sind noch nie dagewesen." Daraufhin Marx an Engels, 19. Februar: ,Apropos! Herr Siebel oder Sybel, wie der Kerl heißt, scheint zu vergessen, daß die Preußen die Östreicher bereits im Stiche gelassen hatten, um mit deren Ausschluß an der zweiten Teilung Polens teilzunehmen." Woraufhin wieder Engels an Marx, 22. Februar: „Die Vornahme der 2. Teilung Polens hinter dem Rücken Ostreichs hat Sybel wohl erwähnt, sucht aber ebenfalls wieder nachzuweisen, daß Preußen dazu durch irgendwelche vorhergegangene östreichische Verräterei berechtigt war. Sein ganzes Räsonnement dies: wenn P[reußen] sich mit R[ußland] gegen Ostreich verbindet, so ist dies in der Ordnung, aber wenn Ostreich sich mit R[ußland] gegen Pfreußen] zu verbinden sucht, so ist dies Verrat. Die Großdeutschen und Östreicher [...] behaupten nun wieder das Gegenteil; so daß die beiden Schulen Geschichtsklitterer jetzt sich, Rußland gegenüber, ebenso dumm verhalten wie damals die beiden deutschen Mächte." 52
Im Mittelpunkt der Geschichte großdeutscher Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts steht eine nuancenreich ausgeprägte katholizistisch-konservative, nicht unbedingt jedoch universalistische Alternative zu jener - konservativen oder liberalen - protestantisch-borussianischen Geschichtsdeutung, deren Ziel in der Teleologisierung deutscher Geschichte seit der Reformation in Richtung auf eine kleindeutsche Nationalstaatsgründung unter preußischer Führung liegt. Als Hauptcharakteristikum der Alternative erscheint hingegen das
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Karl Marx / Friedrich Engels: Der Briefwechsel. Mit einem Essay von Hermann Oncken, 4 Bde., München 1983, hier Bd. IV, Nr. 1342,1343,1345.
Historiographiegeschichtsschreibung Bestreben, eine gegebenenfalls nationalstaatliche Neuordnung Deutschlands nicht unter Verzicht auf einen Teil Deutschlands zuzugeben, der dessen Geschichte über viele Jahrhunderte so maßgeblich bestimmte. Die Geschichte dieser Art von Historiographie umgreift nicht lediglich jene Jahre der tagespolitischen Aktualität des Großdeutsch-Kleindeutsch-Gegensatzes, sondern bezieht über drei Historikergenerationen hinweg die Zeit der eigentlichen Entstehung großdeutscher Geschichtsschreibung seit etwa 1830 ebenso mit ein wie deren Weiter- und Umbildung in den Jahren nach der Reichsgründung von 1871, bis ins erste Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts hinein. 53 Obwohl der 53
Wenn sich nach 1918 vor allem in Österreich, jedoch auch unter deutschen Historikern verstärkt Erinnerungen an den „großdeutschen Gedanken" regten, so baute diese „Renaissance" nur zum Teil auf der alten Tradition großdeutscher Geschichtsschreibung auf. Nach dem Zusammenbruch des Vielvölkerstaates Österreich eröfiheten sich vielmehr Optionen, die eine Ausdehnung des kleindeutschen Nationalstaates auf den „deutschen" Teil Österreichs in den Bereich des Möglichen rückten. Forderungen nach einer nun falligen „ E r g ä n z u n g " des nur halben Bismarckreiches um die verlorene Hälfte - die auch um 1871 schon von österreichischen „alldeutschen" Gruppierungen erhoben worden waren - erwiesen sich freilich bald als Illusion. Der Unterschied jenes neuerwachten Großdeutschtums zum alten, katholizistisch-konservativen bestand v. a. in dessen nationalistischen, raumpolitischen und teils auch bereits „völkischen" Antrieben und Argumentationen. Ideen dieser Art flössen auch in die sogenannten „gesamtdeutschen" Geschichtskonzepte der zwanziger und dreißiger Jahre ein, wie sie insbes. Raimund Friedrich Kaindl (Österreich, Preußen, Deutschland. Deutsche Geschichte in großdeutscher Beleuchtung, Wien 1926) und Harold Steinacker (Volk und Geschichte) propagierten. Willy Andreas (Kämpfe um Volk und Reich) und Heinrich Ritter von Srbik (Gesamtdeutsche Geschichtsauffassung) versuchten hingegen, die ältere mit der neueren großdeutschen Tradition zu verbinden sowie gleichzeitig eine „verstehende" Synthese zwischen großdeutscher und kleindeutscher Geschichtsbetrachtung zu ermöglichen. Die Anfälligkeit großdeutscher Konzepte für die Ideen des Nationalsozialismus hängt m. E. in erster Linie mit dieser neueren, nationalistisch und völkisch bestimmten Tradition zusammen. Anhänger der älteren, katholizistischen Tradition, die die nationalsozialistische Diktatur noch miterlebten, wie etwa Ernst Laslowski oder Onno Klopps Sohn Wiard, verhielten sich dieser gegenüber sehr viel distanzierter. Falsch wäre es, die neuere großdeutsche Tradition als geradlinige Fortsetzung der älteren zu betrachten, die im wesentlichen mit dem Tode ihres letzten bedeutenden Vertreters, Ludwig Pastors, im Jahr 1928 endete. Vgl. Gyula Tokody: Der Weg der großdeutschen Geschichtsschreibung zum Faschismus, Budapest 1970 (= Studia Historica Academiae Scientiarum, Bd. 76, S. 427-453; zuerst in Etudes historiques 1970), der sich v. a. mit der neueren groß- und gesamtdeutschen Historiographie seit 1918 befaßt. Tokody arbeitet zwar den Unterschied zwischen beiden Traditionen heraus, stellt trotzdem jedoch beide in eine Linie; ich plädiere im Gegensatz dazu für eine deutlichere Zäsur, für eine stärkere Abgrenzung beider gegeneinander. Vgl. Thomas Brechenmacher: „Österreich steht außer Deutschland, aber es gehört zu Deutschland." Aspekte der Bewertung des Faktors Österreich in der deutschen Historiographie, in: Michael Gehler / Rainer F. Schmidt /
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Terminus großdeutsch sich in der Regel auf die Jahre zwischen 1848/49 und 1866/71 bezieht und vor 1848 noch kaum Verwendung fand, bestehen doch gute Gründe, ihn - unter der Voraussetzung genauer begrifflicher Bestimmung in erweitertem Sinne zur Kennzeichnung der gesamten Richtung heranzuziehen. Abgesehen von allen inhaltlichen Erwägungen spricht schon ein Argument der Praktikabilität für diese Entscheidung: unter der Voraussetzung eines korrekten methodischen Zugriffes scheint es leichter, ein Schlagwort, das bisher einen Teil eines Phänomens bezeichnete und der Fachwelt als solcher geläufig ist, zum Terminus für das Ganze umzuprägen, als einen neuen einzuführen. Gerade im vorliegenden Fall erwiese sich dies, wie die kurzen Einlassungen über Universalismus, Katholizismus und Konservativismus ohne weiteres demonstrieren, als äußerst schwierig.
Historiker verschiedenster Couleur betonen seit Jahrzehnten die Notwendigkeit einer gerechteren Würdigung der großdeutschen Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts, zumeist aus zwei Gründen. „Für die richtige Erkenntnis von politischem und wissenschaftlichem Leben ihrer Zeit, aber auch für die Beurteilung heute noch lebendiger Kräfte" müsse „die Erforschung und Klärung des Strebens und Schafifens jener Kreise" von großem Wert sein, führte 1951 Max Braubach in einer Besprechung des Lebensbildes Onno Klopps aus.54 Interessant, daß gerade die Zäsur von 1945, die ja auch das Scheitern eines „großdeutschen" Unternehmens ganz anderer Art markierte, Erinnerung an jene Historiker weckte. Dies konnte sinnvoll nur geschehen durch die Verdeutlichung des Kontrasts zwischen dem tausendjährigen Wahn und den davon vollkommen abweichenden geistigen Wurzeln großdeutscher Geschichtsbilder des neunzehnten Jahrhunderts. Nur so war es möglich, etwa Johann Friedrich Böhmer zum neuen „Leitbild" zu erklären, dessen Gedanken über deutsche Geschichte aktuelle Antworten auf eine „von Grund auf veränderte Weltlage" liefern könnten. 55 Solche Versuche, nach der Katastrophe von 1945 die groß-
Harm-Hinrich Brandt / Rolf Steininger (Hg.), Ungleiche Partner? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1996 (= Historische Mitteilungen der RankeGesellschaft, Beiheft 15), S. 31-53. 54 Max Braubach: Beiträge zur Geschichtsschreibung der neueren Zeit, in: HJb 71 (1951), S. 356-373, hier S. 364. 55 So 1959 Kleinstück (s. Anm. 122), S. 374/375 und 378/379. - Der bayerische katholische Historiker Anton Mayer(-Pfamiholz) plädierte 1947 für eine „Revision" des deutschen Geschichtsbildes in großdeutsch-föderalistisch katholischem Sinne, u. a. durch eine Rückbesinnung auf die Geschichtsbilder Janssens und Klopps. Anton Mayer(-Pfannholz): Probleme, Ziele und Grenzen der Geschichtsrevision, Nürnberg / Bamberg / Passau 1947 (= Reden und Vorträge der Hochschule Passau, Bd. 8); vgl.
Historiographiegeschichtsschreibung deutschen Historiker wiederzubeleben, verhallten weitgehend ohne Echo. Eine tiefgreifendere Auseinandersetzung unterblieb weiterhin. Damit geriet allerdings die Möglichkeit einer Rückbesinnung auf großdeutsche Geschichtsdeutungen des neunzehnten Jahrhunderts aus Gründen aktueller Selbstvergewisserung auf der Suche nach neuen Wegen nicht endgültig aus dem Blickfeld. Implizit steckte eine solche Aufforderung auch in den Anregungen Karl Dietrich Erdmanns, die österreichische Geschichte als wesentlichen Teil der deutschen Geschichte nicht zu vergessen oder gar bewußt hinauszudrängen. 56 Seit der vorläufig letzten Zäsur deutscher Geschichte schließlich, der Wiedervereinigung von 1989/90, hält eine neue Diskussion um deutsche Identität sowie darüber hinaus um die künftige Rolle Deutschlands in Europa, in der Welt an. Daß die Modelle der Großdeutschen des neunzehnten Jahrhunderts in diesem Zusammenhang Diskussionsstoff liefern können, daß auch sie im Zuge eines umfassenden Revirements der Traditionen deutscher Identitätsbildung Berücksichtigung finden müssen, scheint selbstverständlich und klingt als Forderung mit an, wenn etwa Werner Weidenfeld auf die Notwendigkeit verweist, das Nachdenken über den deutschen „Standort" aus dem ,Arsenal unsrer geschichtlichen Bilder von uns selbst" bestreiten zu müssen. Dabei stünden viele Möglichkeiten zur Diskussion: „Westwendung und Ostorientierung, das Bewußtsein von Sonderweg, von Mittellage, Vorstellungen von einer Vermittlerrolle zwischen Ost und West und der Traum von einem anderen Deutschland als geistiger Möglichkeit - dies sind nur einige Varianten aus einer schier unüberschaubaren Fülle von Dispositionen. Die geistig-politischen Standortbestimmungen der Deutschen oszillieren; nie findet sich ein Konsens zu einer unbefragt akzeptierten Perspektive. [...] Unterschiedliche Traditionslinien verlaufen nebeneinander; versunken geglaubte Bilder tauchen wieder auf, erhalten neue Prägekraft." 57 Von solchen aktuellen Bezügen abgesehen erscheint zunächst aber wohl die Forderung nach besserer Würdigung der Großdeutschen - davon spricht auch Braubach - durch den Drang nach vollständigerer Erkenntnis der Wissenschafts-, Historiographiegeschichte, ja auch der politischen Geschichte jener Zeit motiviert. Unbehagen über ein fragmentarisches, wenn nicht gar falsches Bild sowie Widerspruch gegen die Selektivität des historiographischen Erinnerns führen zu Klagen wie derjenigen Clemens Bauers: „Nur der wirklich
auch Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989 (= HZ, Beihefte N.F. 10), S. 212. 56 Karl Dietrich Erdmann: Die Zeit der Weltkriege, 2. Teilband (= Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl., Bd. IV, 2), Stuttgart 1976; ders.: Die Spur Österreichs in der deutschen Geschichte. Drei Staaten, zwei Nationen, ein Volk?, Zürich 1989. 57 Werner Weidenfeld: Der deutsche Weg, Berlin 1990, S. 8.
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gegangene Weg wird Gegenstand fur die historische Darstellung und das geschichtliche Verstehen. Nur die ,ausgezogenen Linien', nicht die Ansätze, ergeben in ihrem gesamten Verlauf den Sinn der Geschichte für den Betrachter. Die Ansätze aber fallen dem Vergessen anheim, treten in den Schatten; die, welche sie verkörpern, haben in einem pragmatischen Sinn ,unrecht' und verfallen dem noch schlimmeren Verdikt der ,Unzeitgemäßheit'."58 Nimmt Bauer hier vor allem Bezug auf den politischen Katholizismus als einer verschütteten Tradition deutscher Geschichte, so läßt sich die Linie unschwer weiterverfolgen bis zur katholizistisch-konservativen, großdeutschen Historiographie. Auch auf diesem Feld hat nicht nur das ,Wirklich-Gewordene' Recht und Anspruch auf Darstellung. Die Alternativen, die Möglichkeiten, die anderen Konzepte fordern ebenfalls Erinnerung ein. Den Hauptstrom deutscher Geschichtswissenschaft als der von Berufs wegen verantwortlichen Instanz für Vergangenheitsbewahrung trifft der Vorwurf einseitiger Selektivität besonders. Ausländischen Forschem fallt da hin und wieder ein „eigenartiger Charakter deutscher Geschichtsschreibung" auf, eine Spaltung „in die dominierende Tradition des Nationalliberalismus und in die Tradition der katholischen Minderheit." Letztere führe, besonders in ihren Beiträgen zur Innenpolitik des neunzehnten Jahrhunderts, etwa des Kulturkampfes, das Dasein einer „gelehrten Subkultur", während erstere sich noch nicht klar sei über die Bedeutung des katholischen Deutschland. Aber auch der neueren sozialhistorischen Reaktion auf den Historismus nationalliberaler Prägung entgehe diese katholische Tradition, weil sie „durch das Netz der Klassenanalyse und der ökonomischen Begrifflichkeit" falle. 59 Dieses Urteil Margaret Lavinia Andersons bezieht sich gleichfalls auf den Katholizismus als einer innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft unterrepräsentierten Tradition. Wie im Falle Bauers bietet sich jedoch auch hier die Ausdehnung des Befundes auf die großdeutsche Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts an, ja dessen leicht polemische Zuspitzung auf die Feststellung, Geschichtswissenschaft in Deutschland stehe heute noch immer in großen Teilen auf jener kleindeutsch-borussianischen und in deren Fortsetzung nationalliberalen Basis, gegen die sich in der DDR die Kritik marxistischer Geschichtsideologie, in der Bundesrepublik die Kritik des sozialhistorischen Paradigmenwechsels richtete.60 Weder für die 58
Clemens Bauer: Die Selbstbildnisse des Franz Xaver Kraus, in: ders., Deutscher Katholizismus. Entwicklungslinien und Profile, Frankfurt/M. 1964, S. 93-136, hier S. 95. 59 Margaret Lavinia Anderson: Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks, Düsseldorf 1988 (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 14), S. 4-6. 60 Vgl. auch Dieter Langewiesche: Reich, Nation und Staat in der jüngeren deutschen Geschichte, in: HZ 254 (1992), S. 341-381, hier S. 62: „Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Weg zum preußisch-hegemonialen Nationalstaat und vor allem dessen weitere Entwicklung zwar einer kritischen Revision unterzogen, doch in der Bundesrepublik wie auch in der DDR blieb die Historiographie zur deutschen Geschichte im
Historiographiegeschichtsschreibung Würdigung des politischen Katholizismus noch für die Aufarbeitung der großdeutschen Alternativangebote zur preußischen Lösungsvariante der deutschen Frage blieb Platz, im Hauptstrom so wenig wie in den kritischen Gegenentwürfen. Auch neuere, „postmoderne" Ansätze ändern daran nichts, im Gegenteil. Die Auflösung der Geschichte in die Geschichten mit ihrem an sich zu begrüßenden Zug zum pluralistischen Nebeneinander verschiedenster wissenschaftlicher Ansätze scheint gerade nicht zum Diskurs dieser Richtungen untereinander beizutragen, sondern lediglich zu weitgehend friedlicher Koexistenz zu führen. Die Gruppen neigen dazu, für sich zu bleiben. So steht zu befürchten, daß die katholischen Historiker auch weiterhin ihr gelehrtes Subkulturdasein führen werden neben den beiden großen Fraktionen der „nationalliberalen" Historisten oder Rankeaner sowie der historischen Sozialwissenschaftler, vielleicht künftig noch ergänzt von je einem Häuflein Postmodernisten und Altmarxisten. Müssen die unterrepräsentierten Traditionen also unterrepräsentiert bleiben, trotz der unbestrittenen Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Aufarbeitung sowohl in aktuellem als auch im Erkenntnisinteresse der Wissenschaft?
Wo gingen denn die Großdeutschen verloren auf dem Wege kollektiver Rückbesinnung der Zunft: der Historiographiegeschichte? Oder blieb ihnen bereits die rechte Aufnahme in diese verwehrt? Wegeies Werk - um am Anfangspunkt der Tradition wieder anzuknüpfen - , jene erste moderne deutsche Historiographiegeschichte, bestätigt letztere Vermutung durch seine Tendenz, einem borussianisch verstandenen „nationalen" Prinzip alles Abweichende zu opfern. Was bei Wegele immerhin ins Gesamtbild paßt, verwundert doch im Falle des Döllinger-Freundes Lord John Dalberg-Acton, der allein aus seiner Münchner Studienzeit im Hause des Stiftspropstes die Szene ganz genau kennen mußte und der schon aufgrund seines eigenen katholischen Bekenntnisses gewiß nicht im Rufe eines Parteigängers borussophil-protestantischer Geschichtsteleologie steht.61 Kein Thema stellt aber auch für Acton die Spaltung der deutschen Geschichtswissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts dar, wenn er - beschränkt auf jenes Jahrhundert - in seinem Essay von 1886, „German Schools of History" eine Art Antwort auf Wegele zu geben versucht. 62 In groben Strichen
19. Jahrhundert weiterhin in hohem Maße auf den kleindeutschen Nationalstaat fixiert. Österreichs Anteil an dessen Vorgeschichte verrann zu einer Nebenlinie. Das hat sich auch in den bedeutenden Werken von Thomas Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler und in der letzten offiziösen Gesamtdarstellung aus der DDR nicht grundsätzlich geändert." 61 Acton lebte und studierte von 1848 bis 1854 in Deutschland und brachte einen Großteil dieser Zeit als Gast Döllingers in München zu. Vgl. Ulrich Noack: Katholizität und Geistesfreiheit. Nach den Schriften von John Dalberg-Acton 1834-1902, Frankfurt/M. 1947, insbes. S. 31-39. 62 S. Anm. 7. Actons Essay erschien zuerst in English Historical Review 1 (1886), S. 7-42.
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zeichnet er die Romantik als Gegenbewegung zu Aufklärung und Französischer Revolution, die Entwicklung der kritischen Ranke-Schule, die absterbende Tradition der Heidelberger Schlosser-Schule, schließlich die neue Qualität einer politischen Geschichtsschreibung nach 1848, deren Höhepunkt durchaus der kleindeutsch-borussianischen Historiographie zuzubilligen sei. Bewunderung kann Acton den Predigern des Zeitgeistes nicht versagen. Er verleiht ihnen die geschichtswissenschaftliche Krone, weil sie auf den Ideen aufbauten, die den Gang der Ereignisse bestimmten. „The men who took betimes the side of the big battalions, showed superior penetration into the things beneath the sun. They brought history into touch with the nation's life, and gave it an influence it had never possessed out of France; and they won for themselves the making of opinions, mightier than laws." 63 Wo die Aufgabe des Historikers darin besteht, vor allem jene Kräfte zu betrachten, „which, in the long-run, prevail", „to justify only that which is just by the judgement of experience", 64 da freilich können die Großdeutschen - allen partiellen Verdiensten eines Gfrörer oder Böhmer zum Trotz 65 - nur der Gruppe jener hoflhungslos gestrigen „investigators of irreclaimable dry bones" angehören, denen „the past had not revealed [...] its inmost secret." 66 Ähnlich Wegele war auch Acton miterlebender Zeitgenosse mit dem Hang zu stark subjektiven Wertungen, einer geistigen Entwicklung unterworfen, die ihn - wie Döllinger - vom orthodoxen Katholizismus wegführte und ihn - wie Carl Adolf Cornelius oder Moriz Ritter - die kleindeutsche Reichsgründung schließlich anerkennen ließ. Zusätzlich verhinderte möglicherweise sein britischer Pragmatismus ein tieferes Verständnis jener anderen Geschichtskonzeptionen, denen die Idee des modernen Nationalstaates nicht als adäquate Kategorie zur Beurteilung der Vergangenheit erschien. Brachten andere, spätere Historiographiehistoriker ein solches Verständnis eher auf? 67 Finden die Großdeutschen gerechtere Würdigung in jenen Werken, die im zweiten Jahrzehnt des 63
Dalberg-Acton, S. 378. Ebd., S. 382. 65 Kurze Würdigung Gfrörers, ebd. S. 359, Böhmers, S. 374. 66 Ebd., S. 378. 67 Zeitgleich mit Actons Essay publizierte Ottokar Lorenz (1832-1904, 1862 Prof. der Geschichte in Wien, 1885 in Jena) den ersten Band seines vielbeachteten Versuches, die Geschichtswissenschaft in „ H a u p t r i c h t u n g e n und Aufgaben" darzustellen. An sich schon eher eine Aneinanderreihung exemplarischer Einzelstudien, denn eine systematische Historiographiegeschichte, bringt auch dieses Werk keine Auseinandersetzung mit der katholizistisch-konservativen, großdeutschen Geschichtsschreibung. Lorenz" Kapitel über „Die politische Geschichtsschreibung" befaßt sich ausschließlich mit Dahlmann. Ottokar Lorenz: Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben, kritisch erörtert, Bd. I, Berlin 1886; Bd. Π: Leopold von Ranke. Die Generationenlehre und der Geschichtsunterricht, ebd. 1891. 64
Historiographiegeschichtsschreibung zwanzigsten Jahrhunderts ein neues, aus den Umständen der Zeit nicht schwer zu erklärendes Interesse an einer Selbstvergewisserung des geschichtswissenschaftlichen Standpunkts dokumentieren? 1911 setzte zunächst die Darstellung Fueters 68 einen bis heute gültigen Standard. Sicherlich, viel Platz konnte für die Großdeutschen nicht abfallen in seinem gedrängten Rundumblick, der nicht nur die deutsche, sondern die neuere europäische Historiographie insgesamt abhandelt. Dazu gesellen sich die geschichtstheoretischen Vorlieben des Schweizers, seine Sympathie für neuere Strömungen einer Kultur- und Sozialgeschichte der Massen, im Sinne der Vorgaben Karl Lamprechts oder Kurt Breysigs in Deutschland, Emile Dürkheims in Frankreich. 69 Vor allem im sechsten Buch dringen Urteilsmuster dieser Art durch, wenn Fueter „Die realistische Reaktion gegen die romantische Geschichtschreibung und die Einwirkung der sozialen Bewegung" 70 ins Auge faßt. Nicht ungerechtfertigt erscheint in diesem Zusammenhang die Behandlung Johannes Janssens in einer Gruppe zusammen mit Wilhelm Heinrich Riehl und Gustav Freytag als Kulturhistoriker. 71 Die im Ganzen deutlich ablehnende Haltung des Autors verbirgt der kurze Abschnitt über Janssen jedoch nicht. Fueter betrachtet aus Janssens umfangreichem Werk lediglich die „Geschichte des deutschen Volkes" ausführlicher, wirft Janssen Mißbrauch der Wissenschaft zu konfessioneller Polemik vor, Tendenzschriftstellerei, betont - unter Hervorkehrung eines, freilich bemerkenswerten Nebenaspektes zur Hauptsache - Janssen habe nur deshalb Anspruch auf Behandlung, „weil er den nationalpolitisch gewendeten Lehrsatz der katholischen Polemik mit einem kulturgeschichtlichen Unterbau versah, zu dem seine Vorgänger nichts Ahnliches aufzuweisen hatten." 72 Katholizistisch-konservatives, großdeutsches Geschichtsdenken bleibt Fueter fremd. Kaum einen der exponierten Vertreter jener Richtung erachtet er außer Janssen noch der namentlichen Nennung für würdig; 73 selbst ein nur kurzes 68
Eduard Fueter: Geschichte der neueren Historiographie, München 1911; 3. Aufl., München/Berlin 1936 (= Below / Meinecke, Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte); ND der 3. Aufl., Zürich 1985. Hier zit. nach dem ND. 69 Vgl. dazu Hans Conrad Peyers Einleitung zum ND des Werkes Fueters, Zürich 1985, S. VI. 70 Hier ζ. B. Unterkapitel IV: „Die Umwandlung der Verfassungsgeschichte in Frankreich unter dem Einfluß der sozialen Bewegung" oder VI: „Die Geschichtschreibung unter dem Einflüsse naturwissenschaftlicher Theorien und soziologischer Systeme." 71 Fueter, S. 566-575; über Janssen, S. 571-575. 72 Ebd., S. 572; 574: „Er war durch und durch ein Tendenzschriftsteller." 73 Döllinger etwa sei der Rede nicht wert, da er lediglich „die Argumente Bossuets (in stark vergröberter Form)" wiederhole: ebd., S. 572; vgl. hierzu auch die Ausführungen unten S. 364/365 über Döllinger und Bossuet. - Hurter, Gfrörer, Höfler, Cornelius, Hüffer, Ritter erwähnt Fueter kein einziges Mal. Böhmer erscheint nur in Verbindung
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Kapitel, das schon aus Gründen der Logik demjenigen über die „kleindeutsche Geschichtschreibung" 74 zu korrespondieren hätte, fehlt. Fast nur wie einer Antithese der Kleindeutschen, keinesfalls aber als eigenständiger geistiger Strömung gedenkt er der Großdeutschen: wie so oft erhalten diese auch bei Fueter den Sammelnamen „Julius Ficker" und finden ihre Erwähnung im Zusammenhang mit dessen Widerspruch gegen Sybels Auffassung vom Sinn und Unsinn der mittelalterlichen Kaiserpolitik in Italien. 75 Übernational in der Blickweite, wie Fueter, konzentriert auf das neunzehnte Jahrhundert, wie Acton, präsentierte George Peabody Gooch zwei Jahre nach dem Schweizer seine Studien über „History and Historians in the Nineteenth Century". 76 Stärker als letzterer dem klassisch individualistischen Konzept von Historie mit seinem Schwerpunkt auf Politik- und Diplomatiegeschichte verpflichtet, findet sich aber auch bei ihm nur unwesentlich mehr über die Großdeutschen. Kein korrespondierendes Kapitel stellt er demjenigen über die „Preußische Schule" gegenüber; einige Seiten über „Österreichische Historiker" bilden kaum ein adäquates Gegengewicht.77 Immerhin tritt Gooch der rein
mit Janssen (S. 572); gleichfalls Pastor (ebd.). Auf Klopp verweist ausschließlich eine spätere, gar nicht mehr von Fueter selbst stammende - Anm. auf S. 648. 74 Ebd., S. 535-549. 75 Ebd., S. 539: „er [Ficker] und die übrigen Gegner Sybels" (ohne Nennung von Namen). Fueter, der Ficker einer „älteren" Historiographie zuordnet, wertet klar zugunsten der von Sybel vertretenen Richtung: „Es war das Verdienst Sybels, daß er an alle Erscheinungen der Geschichte einen festen politischen Maßstab anlegte. [...] Ficker ging von viel weniger klaren Voraussetzungen aus. [...] Sein Urteil war (wenn er schon unter dem Einflüsse großdeutscher Tendenzen schrieb) nicht so schlechtweg den politischen Kämpfen der Gegenwart entnommen wie das Sybels. Aber er und die übrigen Gegner Sybels erkauften ihre größere Unbefangenheit damit, daß sie die politisch-militärischen Probleme, die mit dem deutschen Kaisertume zusammenhängen, überhaupt nicht scharf erfaßten. Historischfruchtbarer und forderlicher war wohl sicher der Versuch Sybels" (ebd.). 76 George Peabody Gooch: History and Historians in the Nineteenth Century, London 1913; überarbeitete deutsche Übersetzung.: Geschichte und Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1964. Hier zit. nach der deutschen Ausgabe. 77 Gooch, Geschichte und Geschichtsschreiber, Kap. VIE, 1: „Die Preußische Schule" (S. 141-169); 2: „Österreichische Historiker" (S. 169-173)! Auf letzteren fünf Seiten behandelt Gooch Arneth, Klopp, das Institut für Österreichische Geschichtsforschung sowie Ficker. - Auf Klopp kommt Gooch in einem anderen Werk, seiner Biographie Friedrichs des Großen, noch einmal zu sprechen. In einem abschließenden historiographiegeschichtlichen Überblick referiert er hier den Inhalt der Kloppschen Schrift „Der König Friedrich Π. von Preußen und die deutsche Nation", Schaffhausen 1860 (nicht, wie bei Gooch, 1866!), - 2. Aufl. u. d. T. „Der König Friedrich Π. von Preußen und seine Politik", ebd. 1867 - als Beispiel großdeutscher Geschichtsschreibung: George Peabody Gooch: Friedrich der Große. Herrscher - Schriftsteller - Mensch, Göt-
Historiographiegeschichtsschreibung katholischen Geschichtsschreibung mit größerer Verständnisbereitschaft gegenüber. Ihr widmet er einen ganzen Abschnitt, unter anderem mit längeren Ausfuhrungen über Döllinger, Janssen und Pastor. 78 Quer über das Werk verstreut bringt er zusätzlich diese oder jene Information zu großdeutschen Historikern unter, ja fugt sogar kurze Einzelwürdigungen Böhmers und Höflers ein, die aber sachlich nicht immer korrekt informieren. 79 Auch die Lektüre der Historiographiegeschichte Goochs bestätigt jenen typischen Eindruck: weniger um ihrer selbst, ihrer eigenen Werke, Gedankenwelten willen, viel häufiger jedoch in Zuordnung auf andere Historiker, oft auch in Verbindung mit Institutionen, Entwicklungen, Strömungen, die in keinem primären
tingen 1951 (zuerst engl., London 1947), S. 379-384. Klopp erscheint - tendenziell nicht zu Unrecht - als preußenhassender Fanatiker, ein Eindruck, der sich aber durch Goochs Reduktion der Großdeutsch-Kleindeutsch-Problematik auf die Frage nach der Zugehörigkeit Österreichs zu Deutschland, also auf den engeren politischen Großdeutsch-Kleindeutsch-Antagonismus der Jahre zwischen 1848/49 und 1866/71 (S. 380), noch zusätzlich verstärkt. Daß sich jedoch im großdeutschen Geschichtsbild nicht nur blinder Antiborussianismus und ebensolche Österreichidealisierung äußerte, sondern eine in längeren Traditionen wurzelnde katholizistisch-konservative Weltanschauung, gerät darüber leicht in den Hintergrund. Es bleibt der - von Gooch vielleicht nicht unbedingt beabsichtigte - Eindruck, großdeutsche Geschichtsschreibung neige insgesamt zu der von Klopp mitunter demonstrierten fanatischen Blindheit, was freilich die „akademische Welt" nicht ernst nehmen konnte (S. 384). - Übrigens war Klopp weder „geborener Oldenburger" noch „später Professor in Wien" (beides S. 379). Klopp wurde am 9. Oktober 1822 im ostfriesischen Leer (seit 1815 Kgr. Hannover) geboren; seit 1866 lebte er im Gefolge und in Diensten König Georgs V. im österreichischen „Exil". Eine Wiener Professorenstelle erhielt er nie, obgleich er gute Beziehungen zum Kaiserhof aufbauen konnte und von 1876 bis 1882 den späteren Thronfolger Franz Ferdinand unterrichtete. Zu Klopp vgl. neuerdings Matzinger (s. Anm. 127). 78 Gooch, Geschichte und Geschichtsschreiber, Kap. XXVI, hier über Döllinger: S. 574-576, 582-584, Janssen: S. 585-588, Pastor: S. 588/589. 79 Ebd., S. 79-82 (Böhmer); S. 453, 577/578 (Höfler); Beispiele: Höfler sei nach Prag berufen worden, um gegen Palacky aufzutreten (Ebd., S. 453 und 578; tatsächlich erfolgte Höflers Berufung im Zuge der Universitätsreformen des Grafen Thun. „Seine Beziehungen zu Palacky blieben noch lange Zeit durchaus korrekt." H. Bachmann s. Lebenswege, Anm. 244 - , S. 86, ebenfalls unter Bezugnahme auf jene Aussage von Gooch); Clemens Brentano habe Böhmer in katholische Kreise eingeführt (S. 80; Böhmer lernte Brentano im Juli 1823 im Hause des protestantischen Bürgermeisters Thomas kennen. Zu dieser Zeit verkehrte er durchaus schon in katholischen Kreisen, etwa in der Familie des konvertierten Rates Schlosser. Auch die Familie Görres war Böhmer damals bereits bekannt; die Verbindung zu Görres selbst stellte er 1824 in Straßburg von sich aus her, ohne Vermittlung Brentanos; vgl. u. S. 85, 415, 445); kurz nach Sybel folgten Cornelius und Giesebrecht nach München (S. 127; Cornelius kam als katholischer Gegenpart zu Sybel zusammen mit diesem 1856. Giesebrecht folgte 1861 auf Sybel). 4 Brechenmacher
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oder gar typischen Zusammenhang mit ihnen stehen, treten die Großdeutschen auf. Hurter erscheint in bezug auf Ranke, Böhmer in bezug auf die ,Monumenta Germaniae Historica", Döllinger in bezug auf das Vaticanum, Höfler in bezug auf Palacky, Cornelius in bezug auf die Historische Kommission, Hermann Hüffler und natürlich Ficker in bezug auf Sybel. Wenig deutet auf die Erkenntnis hin, hier könne ein eigener Strang deutscher Geschichtswissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts verlaufen, der aus gemeinsamen Wurzeln, gemeinsamen weltanschaulichen Haltungen emporwuchs, der eine eigenwillige und selbständige historiographische Literatur hervorbrachte, der sich freilich in der Auseinandersetzung mit den Strömungen der Zeit höchst vielfaltig entwickelte und verzweigte und insofern nicht immer auf den ersten Blick, so eindeutig zutage tritt wie sein kleindeutscher Gegenpart. Im Gegenteil, nur isolierte, vielleicht lose verknüpfte Einzelerscheinungen stehen da nebeneinander, entbehren des größeren Zusammenhanges und fallen so natürlich ab im Vergleich mit den anderen, dominanteren Richtungen, denen jener Zusammenhang bereitwilliger zugebilligt wird. Wie sollte aber auch den ferner stehenden Beobachtern aus der Schweiz und Großbritannien diese Einsicht gelingen, nachdem sie die Sachwalter im Lande selbst nicht vorbereitet hatten? Konnte das Bewußtsein der Existenz jener Alternative sich überhaupt zu breiterem Bildungsgut entwickeln, solange ein prominenter Vertreter deutscher Geschichtswissenschaft wie Georg von Below die Großdeutschen entweder schlechthin ignorierte oder aber deren Historiographie als deutlich minderwertig abqualifizierte? 1905 ins badische Freiburg, an jene Universität berufen, deren philosophische Fakultät ein halbes Jahrhundert zuvor August Friedrich Gfrörer zu ihren Mitgliedern gezählt hatte, gehörte der gebürtige Ostpreuße Below 80 einer Generation an, die zwar das politische Kleindeutschtum überwinden, anderen Ressentiments mancher ihrer geistigen Väter jedoch nicht so ohne weiteres entkommen konnte. Bonner Schüler Moriz Ritters zwar, fasziniert aber auch von Treitschke und Droysen, setzte er die Tradition Wegeies hinsichtlich der Beurteilung der Großdeutschen in seinen historiographiegeschichtlichen Schriften bruchlos fort. 81 Below entwickelt die moderne deutsche Historiographie aus dem Geiste der Romantik, deren politisches Streben er hinwiederum „in der Aufrichtung un-
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Vgl. Belows Selbstdarstellung in: Sigfrid Steinberg (Hg.), Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. I, Leipzig 1925, S. 1-49. 81 Georg von Below: Die deutsche Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen. Geschichte und Kulturgeschichte, Leipzig 1916. Ders.: Die deutsche Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen. Geschichtschreibung und Geschichtsauffassung, 2. wesentlich erw. Aufl., München/Berlin 1924 (= v. Below / Meinecke, Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, Abt. I).
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seres neuen Reiches" erfüllt sieht. 82 Keine Frage, die kleindeutschen Historiker, von Below kurzerhand als die „politischen Historiker" tituliert, 83 spielen erneut ihre besondere Rolle - die Großdeutschen fallen durch das Raster der Urteilskriterien. Wenigstens in der ersten Auflage des Werkes; die zweite, überarbeitete von 1924 fügt dem Kapitel über die „politischen Historiker" einen Appendix an, welcher sich kurz den Großdeutschen und Katholischen zuwendet.84 Anstatt aber neue, differenzierte Bewertungen vorzunehmen, vor allem die Verbindungslinien zwischen großdeutscher und katholischer Historiographie offenzulegen, wiederholt Below nur die seit Wegele und Acton sattsam bekannten Urteile. Statt diese einer grundlegenden Revision zu unterziehen, trägt er zu deren kritikloser Zementierung bei. Als „wahrhaft hervorragende Historiker" seien Döllinger und Ficker hervorzuheben; 85 ansonsten kennzeichne beide Gruppen - die großdeutsche wie die katholische - bei gewissen Überschneidungen doch große Heterogenität. Insbesondere die Großdeutschen hätten keine „Geschichtswerke in dem hohen Stil" vorlegen können, „wie sie die kleindeutsche Literatur aufweist". Below zögert keinen Augenblick, den tieferen Grund jener vermeintlichen Aseriosität und mangelnden Wissenschaftlichkeit großdeutscher Historiographie auf dem Felde der Politik zu suchen: „In der [...] sachlich-wissenschaftlichen Überlegenheit der kleindeutschen Geschichtsliteratur über die großdeutsche kommt zweifellos die Tatsache zum Ausdruck, daß damals die kleindeutsche Lösung der deutschen Frage die einzig mögliche Lösung war." 86 Unverhohlen erhebt er so den Einklang mit dem Zeitgeist zum Qualitätskriterium für Wissenschaftlichkeit! Erst ein Vierteljahrhundert nach Below sollte Heinrich Ritter von Srbik in dem vielleicht bis heute gelungensten Versuch einer deutschen Historiographiegeschichte Wertungen dieser Art entgegentreten.87 Denn auch Moriz Ritter,
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Ebd., 1. Aufl., S. 39. Ebd., S. 44; bemerkenswert auch die prägnante Definition der Kleindeutschen als Gruppe, ebd., S. 45: „Ihre Eigenart liegt in einer kräftigen Aktivität, in der Setzung konkreter politischer Ziele. Diese sind: konstitutionelle Verfassung, nationale Staatsbildung, Herstellung eines politisch geeinten Deutschen Reiches durch Preußen." 84 Ebd., 2. Aufl., S. 60-63. 85 Ebd., S. 61. 86 Ebd., S. 60. 87 Immerhin konnte der interessierte Leser 1925/26 aus dem zweibändigen Sammelwerk Steinbergs neben dem Lebensabriß eines „Großdeutschen" der neueren Richtung (s. Anm. 53), Raimund Friedrich Kaindls (Bd. I, S. 171-205), auch denjenigen eines führenden Vertreters der älteren großdeutschen Geschichtsschreibung, Ludwig Pastors (Bd. II, S. 169-198), kennenlernen, der freilich nur die orthodoxeste katholische Variante dieser Art von Historiographie repräsentierte. - Für ein größeres katholisches Publikum erschien in der Wochenschrift ,Allgemeine Rundschau" während der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre eine Reihe von Artikeln über „Großdeutsche Männer", dar83
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selbst in der Tradition katholisch-großdeutscher Geschichtsschreibung wurzelnd, hatte in seinem Werk von 1919, „Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft an den fuhrenden Werken betrachtet", kein Gegengewicht zu Below liefern können, ja nicht wollen. 88 Schon im Titel deutet Ritter an, daß seiner Zusammenstellung längerer Essays über die Entwicklung der abendländischen Historiographie seit Thukydides hauptsächlich daran liege, den Jeweilig erreichten Stand" jeder Epoche „durch Zergliederung und Beurteilung der maßgebenden Hervorbringungen darzulegen" und zwar aus „eigener Kenntnis der besprochenen Werke." 89 Wiewohl ein Drittel des Buches dem neunzehnten Jahrhundert seinen Stoff verdankt, erscheint die Großdeutsch-KleindeutschThematik nicht explizit. Allein Johann Friedrich Böhmer wendet Ritter seine Aufmerksamkeit kurz zu - selbstverständlich im Zusammenhang mit Pertz und den Monumenta.90 Ritters eigentliches Interesse in geschichtstheoretischer Hinsicht aber gilt jenem anderen, dem Streit um „politische" oder „Kulturgeschichte", der ihn zur Zeit der Abfassung seiner historiographiegeschichtlichen Studien selbst intensiv beschäftigte, der ihn nicht nur als Bekannter Karl Lamprechts, 91 sondern später auch in seiner Eigenschaft als Präsident der Historischen Kommission zur Stellungnahme nötigte. In diesem „Methodenstreit" lag die geschichtswissenschaftliche Kontroverse der Zeit, und wie im Falle Belows verwundert auch im Falle Ritters die intensive Auseinandersetzung damit nicht. 92 Schließlich aber Srbik. Der Österreicher beschloß 1950 sein Lebenswerk mit der großen zweibändigen Darstellung „Geist und Geschichte vom deutschen
unter auch Beiträge über Johann Friedrich Böhmer und Johannes Janssen. Hermann Ludwig Müller: Großdeutsche Männer XIII: Johannes Janssen, in: Allgemeine Rundschau. Wochenschrift fur Politik und Kultur 23 (1926), S. 341-343; Ernst Laslowski: Großdeutsche Männer XXV: Johann Friedrich Böhmer, in: ebd. 25 (1928), S. 292/293. 88 Moriz Ritter: Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft an den fuhrenden Werken betrachtet, München/Berlin 1919. 89 Ebd., Vorwort, S. III. 90 Ebd., S. 337-341. 91 Den aufschlußreichen Briefwechsel Ritter - Lamprecht aus den Jahren 1892 bis 1911, worin u. a. die Frage einer möglichen Schlichtung der Auseinandersetzung Lamprechts mit Below Erörterung findet, bewahrt die UB Bonn, S 2713, Kr. 10,1 und Korr. 45. Zu Lamprecht vgl. Luise Schorn-Schütte: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, München 1984. 92 Below, einer der Hauptakteure im Streit mit Lamprecht, feiert geradezu den „ B a n kerott des Versuchs, die politische Geschichte und die arbeitsteilige Geschichtswissenschaft durch eine allgemeine Kulturgeschichte zu ersetzen" (Below, Die deutsche Geschichtschreibung, 2. Aufl., S. XIV). Ritter, zurückhaltender, abwägender, widmet das abschließende Kapitel seiner Historiographiegeschichte der politischen und der Kulturgeschichte.
Historiographiegeschichtsschreibung Humanismus bis zur Gegenwart." 93 Sicherlich liegt dieser Historiographiegeschichte auch der Versuch zugrunde, angesichts eines folgenschweren Irrtums die eigene Position als Historiker noch einmal aus der Geschichte des Faches heraus zu überdenken und zu rechtfertigen. Untrennbar verbunden mit dem Gesamtwerk Srbiks und also auch in „Geist und Geschichte" auf dem Prüfstand, erscheint sein Entwurf einer „Gesamtdeutschen Geschichtsauffassung" als die Brücke, über die eine längere Betrachtung großdeutscher Geschichtsschreibung zum ersten Mal in eine deutsche Historiographiegeschichte Eingang findet. Srbik hatte einst kleindeutsche und großdeutsche Geschichtsanschauung in einer Synthese überwinden, hatte die jeweiligen Vorzüge beider Sichtweisen unter Verzicht auf den gegenseitigen Haß, auf die Polemik vereinigen wollen, um „nicht die Gräben noch [zu] vertiefen und nicht die alten Narben wieder auf[zu]reißen [...], sondern die Teile [zu] verstehen und das Gemeinsame auf[zu]suchen und die Werte des Alten und die Werte der neuen geschichtlichen Bildungen [zu] begreifen [...], und die im Beharren wie im Zerstören und Neubauen, in der Trennung und in der Vereinigung lebendige Triebe am uralten und immergrünen Baume unseres Volkes [zu] sehen und durch das Verständnis der Spaltungen zum Werden der Einheit bei[zu]tragen." 94 In welchem Maße Srbik diese Zielvorstellung in seiner eigenen Historiographie verwirklichen konnte, entscheidet das Urteil über sein Werk „Deutsche Einheit", das Hauptwerk jener „Gesamtdeutschen Geschichtsschreibung"; - politisch hat er sich mit diesem Ideal zumindest mißbrauchen lassen.95 Die Betrachtung der Historiographiegeschichte Srbiks muß stets vor diesem Hintergrund erfolgen. Ganz dem „gesamtdeutschen" Ansatz entspricht sein Bemühen, wirklich alle Strömungen deutscher Historiographie zu erfassen. Folgerichtig stellt er dem Kapitel über den „Kleindeutschen nationalstaatlichen Realismus" ein entsprechendes über „Die katholische und großdeutsche
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Heinrich Ritter von Srbik: Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, 2 Bde., München 1950/51. Der zweite Band erschien erst nach Srbiks Tod am 16. Februar 1951, herausgegeben von Taras von Borodajkewycz. 94 Heinrich Ritter von Srbik: Gesamtdeutsche Geschichtsauffassung, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur- und Geistesgeschichte 8 (1930), S. 1-12, hier S. 2. 95 Heinrich Ritter von Srbik: Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz, 4 Bde., München 1935-1942; Vgl. Bernd Faulenbach: Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980; zum Komplex „Geschichtswissenschaft und Nationalsozialismus" vgl. Adam Wandruszka: Nationalsozialistische und „gesamtdeutsche" Geschichtsauffassung, in: Karl Dietrich Bracher / Leo Valiani (Hg.), Faschismus und Nationalsozialismus, Berlin 1991 (= Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, Bd. 1), S. 137-150; über Srbiks Historiographiegeschichte Blanke, S. 659-667.
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Geschichtschreibung im Deutschen Bund und im Zweiten Reich" entgegen,96 worin er die Hauptvertreter aller drei Generationen großdeutscher Historiker vorfuhrt, bis auf Böhmer, den auch er im Zusammenhang mit den „Monumenta Germaniae Historica" abhandelt.97 Im Gegensatz zu Below verfolgt Srbik die Verbindungslinien zwischen Katholizismus und großdeutscher Geschichtsanschauung sorgfaltig; gleichzeitig aber stellt seine Einbeziehung der Publizisten Paul de Lagarde und Constantin Frantz sowie auf der anderen Seite der rein katholischen Kirchengeschichtsschreibung des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts (Hergenröther, Denifle, Grisar etc.) eher eine Verlegenheitslösung dar, die den ohnehin knapp bemessenen Raum für die eigentlich großdeutsche Historiographie auf das notwendigste Quantum reduziert. Auch wenn Srbik aufgrund des stofflichen Rahmens seiner Historiographiegeschichte, der demjenigen Wegeies gleicht, ausfuhrliche Analysen großdeutscher Geschichtsschreibung weder liefern kann noch will, korrigiert er doch funfundsechzig Jahre nach Wegele dessen Mißgriffe und fuhrt die großdeutsche Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts, ein erstes Mal in angemessener Behandlung, in die Tradition deutscher Historiographiegeschichtsschreibung zurück. Eine historiographiegeschichtliche Auseinandersetzung mit diesem Zweig deutscher Geschichtsschreibung hat nach wie vor bei Srbik zu beginnen. 1957 erschien zum neunzigsten Geburtstag von Walter Goetz eine Zusammenstellung autobiographischer und historiographiegeschichtlicher Aufsätze, die dieser zum Großteil bereits in den zwanziger Jahren an verstreuten, teils versteckten Orten publiziert hatte.98 Damit lag nun eine reiche Sammlung von Material vor allem über jene großdeutschen Historiker vor, die sich nach 1870/71 aus Opposition gegen die Beschlüsse des Vatikanums vom orthodoxen Katholizismus abgewandt und gleichzeitig die kleindeutsche Reichsgründung mehr und mehr akzeptiert hatten. Goetz hatte Döllinger und Carl Adolf Cornelius während seiner Münchener Studienzeit noch persönlich erlebt; mit Moriz Ritter verbanden ihn sogar familiäre Beziehungen.99 Selbst weder Katholik noch Großdeutscher, politisch ein „Naumannianer", 100 bewertet Goetz die Zu-
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Srbik, Geist und Geschichte, Kap. ΧΠ und XIV. Ebd. I, S. 233-238; wichtig auch Kap. XV: „Die deutsche Geschichtschreibung Österreichs vornehmlich im Zeitalter Kaiser Franz Josephs" mit Passagen über Höfler (S. 95/96) und Arneth (S. 102/103). 98 Walter Goetz: Historiker in meiner Zeit. Gesammelte Aufsätze, Köln/Graz 1957. Zu Goetz vgl. Wolf Volker Weigand: Walter Wilhelm Goetz (1867-1958). Eine biographische Studie über den Historiker, Politiker und Publizisten, Boppard am Rhein 1992 (= Schriften des Bundesarchivs, Bd. 40). 99 Goetz heiratete 1901 die Tochter Moriz Ritters; vgl. Goetz, Historiker in meiner Zeit, S. 38. 100 Ebd., die Einfuhrung von Theodor Heuss, S. IX. 97
Historiographiegeschichtsschreibung sammenhänge zwischen innerkatholischer Opposition und Hinwendung zum kleindeutschen Nationalstaat vielleicht etwas zu stark, überspannt auch im Urteil über Pastor den polemischen Bogen; trotzdem tragen gerade seine Abhandlungen über „Die deutsche Geschichtsschreibung des letzten Jahrhunderts und die Nation", über „Die bayrische Geschichtsforschung im 19. Jahrhundert", über „Ignaz Döllinger und seine Entwicklung", über Moriz Ritter und vor allem Carl Adolf Cornelius, „den geistvollsten Kopf der damaligen Münchner Universitätshistoriker", 101 nicht zuletzt aufgrund ihrer persönlichen, wenn freilich oft äußerst subjektiven Wertungen doch viel zur Kenntnis und zum Verständnis großdeutscher Geschichtsschreibung bei. Der historiographiegeschichtlich außerordentlich interessierte Goetz hatte um die Jahrhundertwende sogar das Konzept eines Werkes über „Katholische Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert" ausgearbeitet. Noch heute liegt in seinem Nachlaß eine diesbezügliche Projektskizze vor, die einen Bogen schlägt vom „Neuerwachen des Katholizismus" im ersten Jahrhundertdrittel über Möhler und Görres zu Böhmer, Döllinger, den ,JDii minores" Gfrörer, Hurter, Onno Klopp zu Janssen.102 Natürlich hätte die Frage der großdeutschen Orientierung der Genannten in diesem Zusammenhang breiten Raum einnehmen, wenn nicht gar zusätzlich als Schlagwort in den Titel rücken müssen. Denn abgesehen von Möhler, Döllinger und vielleicht Janssen erscheint die Kennzeichnung des skizzierten Kreises als primär „katholisch" doch wenigstens problematisch. Böhmer blieb zeit seines Lebens Lutheraner, Gfrörer, Hurter und Klopp konvertierten erst, nachdem ein maßgeblicher Teil ihres historiographischen Œuvres geschrieben war. Mehr noch fallt freilich ins Gewicht, daß gerade in der Geschichtsschreibung Böhmers, wie auch in derjenigen Gfrörers und Klopps der nationalpolitische Impetus dem katholizistisch-kirchenhistorischen zumindest gleichkam. Der Komplex „Katholizismus" läßt sich eben bei keinem dieser Historiker - auch bei Döllinger nicht, trotz und vielleicht gerade wegen seiner späteren Entwicklung - vom Komplex „großdeutsche Orientierung" trennen; beides muß im gebührenden Zusammenhang Abhandlung finden. Goetz hätte dem sicherlich Rechnung getragen, wäre er an die Ausarbeitung seines Projekts gegangen. So aber liegt nur die Skizze vor, die immerhin ein weiteres Mal belegt, daß die grundsätzliche Zuordnung der genannten Historiker zu einer Gruppe kaum je in Zweifel stand, wenn auch die Möglichkeit verschieden gelagerter Akzentuierungen durchaus besteht.
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Ebd., S. 3. Abgedruckt bei Christoph Weber: Kirchengeschichte, Zensur und Selbstzensur. Ungeschriebene, ungedruckte und verschollene Werke vorwiegend liberal-katholischer Kirchenhistoriker aus der Epoche 1860-1914, Köln / Wien 1984 (= Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte, Bd. 4), S. 152/153. 102
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Den tatsächlich erschienenen Beiträgen von Walter Goetz kommt aufgrund des persönlichen Erlebens des Autors in vielen Zügen bereits Quellencharakter zu. Die distanziertere wissenschaftliche Aufarbeitung der großdeutschen Historiographie setzte dagegen im Jahr des Erscheinens von „Historiker in meiner Zeit", 1957, Heinz Gollwitzer fort und vertiefte die Vorarbeit Srbiks. In seinem Überblicksartikel „Neuere deutsche Geschichtsschreibung" für Wolfgang Stammlers Sammelwerk „Deutsche Philologie im Aufriß" berücksichtigt Gollwitzer ausdrücklich auch die großdeutsche Richtung. Die größeren Talente, resümiert er, standen auf der kleindeutschen Seite. Aber: „Es waren die politischen Zeitläufe und Schicksale des 19. Jh., die die großdeutsche Richtung unterliegen ließen, nicht etwa eine mindere Gelehrsamkeit." 103 Freilich, mit dem „Paradigmenwechsel" innerhalb der (bundes)deutschen Geschichtswissenschaft seit dem Ende der sechziger Jahre fielen diese kleineren Talente erneut unter den Tisch. Übrig blieben unter neuen Fragestellungen und Interessen nur die wirklich großen Vertreter der traditionell politik- und diplomatiegeschichtlichen Richtung, während Pioniere der „historischen Sozialwissenschaft" Geschichte als neue Heilige inthronisiert wurden. Dies erfolgte vor allem über Hans-Ulrich Wehlers großangelegte Sammlung von Historikerkurzmonographien, „Deutsche Historiker". 104 In die neun Bände dieser Reihe fand kein einziger Artikel über einen der großdeutschen Geschichtsschreiber des neunzehnten Jahrhunderts Eingang, obwohl die Jüngeren Historiker und Historikerinnen" 1971 ausdrücklich angetreten waren, auch , Außenseiter" aufzunehmen, um der deutschen Geschichtswissenschaft aus ihrer „engen Fachüberlieferung" herauszuhelfen, ihr einen „größeren Horizont" zu schaffen, „der bisher schroff gegensätzliche Positionen umschließt." 105 Selbst unter den alleinigen Auswahlkriterien des neuen sozialwissenschaftlichen Paradigmas hätte mindestens Johannes Janssen Gnade finden müssen, aus dem gleichen Grunde, der Fueter schon 1911 bewogen hatte, diesen in den Kreis der „Kulturhistoriker" einzureihen. 106 103
Heinz Gollwitzer: Neuere deutsche Geschichtsschreibung, in: Wolfgang Stammler (Hg.), Deutsche Philologie im Aufriß, Bd. m, Berlin 1957, S. 1337-1406, hier S. 1386. Gollwitzer wandte sich auch in späteren Beiträgen wiederholt Themen aus dem Umkreis großdeutscher Geschichtsschreibung zu. Ders.: Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik; ders.: Westfälische Historiker des 19. Jahrhunderts in Österreich, Bayern und der Schweiz, in: Westfälische Zeitschrift 122 (1972), S. 9-50. 104 Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Deutsche Historiker, 9 Bde., Göttingen 1971-1982. 105 Ebd. I, Vorwort, S. 3. 106 Vgl. o. S. 47; erst jüngst hat Kaspar Elm auf die „sozialwissenschaftlichen" Qualitäten von Janssens „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters" hingewiesen, pointiert zwar, doch im Kern vollkommen treffend: „Johannes Janssen hat Jahrzehnte vor Karl Lamprecht und Max Weber die Möglichkeiten einer breit angelegten Sozialgeschichte dargetan und den Zusammenhang von Religion und
Historiographiegeschichtsschreibung Auch die Kritik des „deutschen Historismus", seiner „Krise" und seines „Verfalls", die ja jenen Paradigmenwechsel unter anderem motivierte, wäre im Kreise der katholizistisch-konservativen, großdeutschen Historiker des neunzehnten Jahrhunderts durchaus auf frühe Argumente gegen den „Gipfel des historischen Optimismus, die Preußische Schule", gestoßen. Wenn etwa Georg Iggers in einem Schlüsselwerk historiographiegeschichtlich angelegter Historismuskritik die „vorherrschend nationale Tradition der Historiographie von Wilhelm von Humboldt und Leopold von Ranke bis zu Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter" als eine Weltanschauung und ein politisches Wertesystem bezeichnet, „die angesichts der sich verändernden geistigen und sozialen Bedingungen ihre Statik weitgehend beibehielten", 107 so hätte er bereits in der großdeutsch orientierten Historiographie Gegenmodelle finden können, die dem Absolutum des einen, nationalen Prinzips schon damals konkurrierende und alternative Wertsysteme entgegenhielten. Diese alternativen Maßstäbe hatten aber in der Regel einen katholizistischen Einschlag. Erschienen sie deshalb nicht diskutabel? Iggers zumindest weiß zwar um deren Existenz, wie sein Hinweis auf Ficker und Döllinger als Grenzgänger der deutschen historistischen Tradition belegt, 108 verfolgt jedoch die Spur nicht weiter. Übt Iggers eine vorwiegend inhaltliche Kritik an der spezifisch „deutschen" Art des Historismus, so nimmt eine neuere, von postmodernistischen Ansätzen geprägte Variante der Historismuskritik dessen Weltverständnis grundsätzlich ins Visier. Mit der Infragestellung einer wie auch immer begriffenen Objektivität des Historikers, der Möglichkeit eines übergeordneten Beobachtungsstandpunktes, eines „transzendentalen Hügels", 109 rücken auch die jeweiligen Wissenschaftsbegriffe, die Formen historischen Denkens überhaupt sowie vor allem die narrativen Strukturen historiographischer Texte ins Zentrum der Kritik. Der klassische Begriff der Historiographiegeschichte verändert sich in diesem Zusammenhang, verschmilzt mit anderen Komplexen, etwa der Historik,
Gesellschaft erkannt [...]. Bereits ein halbes Jahrhundert vor Fernand Braudel und der École d'Annales hat er sich mehr für die Strukturen und den langfristigen Wandel der Gesellschaft als für die konkreten Ereignisse und die kurzfristigen Veränderungen interessiert." Kaspar Elm: Johannes Janssen. Der Geschichtsschreiber des deutschen Volkes, seiner Kultur und Frömmigkeit (1829-1891), in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1991, S. 88-101, hier S. 97. 107 Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971 (zuerst engl. 1968), S. 7. 108 Ebd., S. 12. 109 Frank R. Ankersmit: Historismus, Postmoderne und Historiographie, in: Küttler / Rüsen / Schulin, Geschichtsdiskurs I, S. 65-84, hier S. 67.
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und weitet sich auch inhaltlich aus: 110 er bezeichnet nicht mehr nur Geschichtsschreibung, sondern „Geschichtskultur" in weitestem Sinn. 111 Historiographiegeschichtsschreibung mutiert schließlich selbst zum Gegenstand von „Geschichtsschreibung". 112 Pluralität, „Multiversalität" 113 lauten die Schlagworte. Aber bei der Beobachtung solcher Veränderungen, die freilich noch nicht abgeschlossen sind, fallt doch auf: was auch immer in diesen neuen Zusammenhängen Behandlung findet - die großdeutsche Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts bleibt in der Regel ausgeschlossen. Jenes Segment, das sich auch in dieser neuen, erweiterten Form von „Historiographiegeschichte" mit Geschicht&scAre/bung befaßt, rezipiert - wenn auch unter neuen Fragestellungen - wieder nur das Repertoire der klassischen Texte. Bevor auch diese Tradition fortschreitet und unter ihr die katholizistischkonservative, großdeutsche Historiographie vielleicht für immer in Vergessenheit gerät, scheint ein Rettungsversuch an der Zeit. Obwohl das Studium der großdeutschen Geschichtsschreibung sehr wohl auch Antworten auf postmodernistische, strukturalistische Fragestellungen geben könnte, 114 spart die vorliegende Historiographiegeschichte solche Ansätze zunächst aus. Dies mag unzeitgemäß erscheinen. Jedoch: kein Hausbau beginnt mit dem Dach. Auch hier steht zuerst - und angesichts der historiographiegeschichtlichen Tradition seit Wegele durchaus sinnvoll - das Bedürfiiis nach einer inhaltlich zusammenfassenden und geistesgeschichtlich einordnenden Bestandsaufnahme im Vorder110
Der Sammelband von Küttler / Rüsen / Schulin eröfi&iet in diesem Sinne eine vierbändige „Geschichte der modernen Geschichtswissenschaft". (Fortsetzung: Dies. [Hg.], Geschichtsdiskurs Bd. 2: Anfänge modernen historischen Denkens, Frankfurt/M. 1994; Bd. 3 und 4 noch nicht erschienen). Ein ähnlich gelagertes Unternehmen präsentierte 1977-1988 in fünf Bänden eine Studiengruppe „Theorie der Geschichte": Reinhart Koselleck / Wolfgang
J. Mommsen / Jörn Rüsen (Hg.): Objektivität und Par-
teilichkeit in der Geschichtswissenschaft, München 1977; Karl-Georg Faber / Christian Meier (Hg.): Historische Prozesse, ebd. 1978; Jürgen Kocka / Thomas Nipperdey (Hg.):
Theorie und Erzählung in der Geschichte, ebd. 1979; Reinhart Koselleck / Heinrich Lutz / Jörn Rüsen (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung, ebd. 1982; Christian Meier/
Jörn Rüsen (Hg.): Historische Methoden, ebd. 1988 (= Beiträge zur Historik, Bd. 1-5). 111 Vgl. ζ. B. Hardtwig. 112 So etwa bei Blanke, Historiographiegeschichte. - Blanke, der seine Arbeit als „materialgesättigte, typologisierende Gesamtdarstellung der deutschen Geschichtswissenschaft seit der Spätaufklärung" charakterisieren möchte (S. 7), kann innerhalb seines riesigen Untersuchungsbereiches die katholizistisch-konservative, großdeutsche Geschichtsschreibung freilich nur streifen. Unter Hinweis auf Klopp sowie die SybelFicker-Kontroverse liefert er dabei eine gedrängte Zusammenfassung des bekannten Forschungsstandes (S. 213-217). 113 Ernst Schulin: Nach der Postmoderne, in: Küttler / Rüsen / Schulin, Geschichtsdiskurs I, S. 365-369, hier S. 366. 114 Ein Hinweis dazu in Denkwege, Anm. 467.
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grund. Erst, was in diesem Sinne der Tradition wieder zur Verfugung steht, läßt sich unter weiterfuhrenden Aspekten betrachten. Das hier unterbreitete Konzept einer Geschichte der großdeutschen Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts bewegt sich demzufolge im Rahmen eines durchaus klassisch verstandenen Begriffes von Historiographiegeschichte und hat kein schlechtes Gewissen dabei. Daß freilich jene Historiographie fast über das gesamte neunzehnte Jahrhundert hinweg einen bedeutenden Faktor deutscher „Geschichtskultur" darstellte, um auf diesen Terminus noch einmal zurückzukommen, daß sie öffentliches Geschichtsbewußtsein in bestimmten Bevölkerungskreisen entscheidend prägte, kann auch dieser klassische Ansatz ohne Zweifel erweisen. Zwei weitere seit dem ,Paradigmenwechsel' beliebte wissenschaftsgeschichtliche Ansätze erscheinen in der vorliegenden Geschichte der großdeutschen Historiographie gleichfalls nur indirekt: die an Laufbahnen und Karrieren interessierte Sozialgeschichte sowie die Institutionengeschichte. Beide können jedoch unter bestimmten Fragestellungen auch in diesem Zusammenhang zu durchaus tiefgreifenden Einsichten fuhren. Innerhalb der Geschichte der großdeutschen Historiographie vor allem für die Behandlung der zweiten und dritten Generation relevant, zeigen sie unter Umständen Verbindungslinien auf zwischen Herkunft, Karriere, universitären Laufbahnmöglichkeiten und der Verbreitung großdeutscher Geschichtsbilder, insbesondere über den Multiplikator Universität. Ein Beispiel: Heinrich von Sybel hatte sich bei seiner Berufung nach München 1856 zusammen mit der Leitung des historischen Seminars die alleinige Prüfungsberechtigung für das gymnasiale Lehramt ausbedungen. Der gleichzeitig berufene Carl Adolf Cornelius erhielt diese Berechtigung nicht und verlor damit eine entscheidende Möglichkeit, die von ihm vertretene großdeutsche Position vor umfangreichen studentischen Auditorien auszubreiten, ja als „prüfungsrelevant" abzufragen und gleichzeitig über die von ihm ausgebildeten Lehrer auch an den Schulen anzusiedeln.115 Das Wissen um das Faktum
Cornelius über seinen Besuch bei Minister von Zwehl am 27.4.1857 (BSB, NL Cornelius ANA 351, Π Β 2, Korrespondenzbuch 1852-1878, S. 175); Friedrich, Gedächtnisrede Cornelius, S. 37/38; Dickerhof-Fröhlich, Das historische Studium (s. folgende Anm.), S. 94-99. Nur am Rande sei hier bemerkt, daß das Verhältnis der beiden Kollegen Sybel und Cornelius aus dem Nachlaß Cornelius mit anderen Bewertungen darzustellen ist, als dies bei Friedrich und in dessen Nachfolge bei Dickerhof-Fröhlich geschieht. Der Ausschluß von der Leitung des historischen Seminars sowie von den Prüfungsangelegenheiten schien dem stillen Naturell Cornelius' eher entgegenzukommen, denn zu ihn brüskieren. Während Cornelius sich glücklich schätzen durfte, den Ruf nach München überhaupt erhalten zu haben, insofern also nicht allzu traurig über dessen Bedingungen war, ging Sybel sehr viel berechnender vor. Daß er jene Strategie, sich über Prüfungsberechtigungen Einfluß sowie Multiplikationsmöglichkeiten seines Geschichtsbildes zu verschaffen, gezielt übte, belegt zusätzlich die Geschichte seiner Berufung nach Bonn: dort stellte er dieselbe Bedingung und bekam sie gewährt. Vgl.
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der Prüfungsberechtigung bringt für sich allein genommen wenig; in Verbindung aber mit der Frage nach dessen Konsequenzen für die Akzeptanz der jeweils vertretenen Inhalte gewinnt es außerordentliche Aussagekraft. Wo also solche Einsichten zu erwarten sind, greift die Geschichte der großdeutschen Historiographie dankbar auf Arbeiten dieser Richtung zurück 116 oder versucht sich selbst in Methoden der genannten Art. Einen eigenen methodischen Schwerpunkt bilden diese Ansätze jedoch nicht. Führte und führt innerhalb der Tradition deutscher Historiographiegeschichtsschreibung von Wegele bis Wehler und weiter - mit der Ausnahme Srbik - die großdeutsche Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts ein eher stieftöchterliches Dasein, so existieren neben dieser Tradition freilich andere, meist Grenz- und Übergangsbereiche von klassischer und sozialwissenschaftlicher, von katholischer und regionaler, von universitäts- und institutionenkundlicher Geschichtsschreibung, in denen großdeutsche Historiker immer wieder Beachtung fanden. Die große Zahl der in diesem Zusammenhang relevanten Publikationen zwingt die Einführung dazu, auf Anmerkungsapparat und Literaturverzeichnis zu verweisen. Ein kurzer Blick jedoch auf die grundlegende biographische Sekundärliteratur zu den einzelnen der anvisierten Historiker kann nicht unterbleiben. Von Gfrörer und Höfler abgesehen existiert über jeden der Vertreter der ersten Generation eine umfangreiche Biographie, verfaßt von einem nahestehenden Zeitgenossen. Diesen Werken kommt im Grunde selbst Quellenwert zu. Sie überliefern das subjektive Bild eines verehrenden Miterlebenden, der freilich seinen „Helden" nur in einer späteren, meist der letzten Lebensphase
Moriz Ritter: Lebenserinnerungen (UB Bonn, NL Ritter S 2036 a), S. 63, sowie Paul Egon Hübinger: Das Historische Seminar der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn. Vorläufer - Gründung - Entwicklung. Ein Wegstück deutscher Universitätsgeschichte. Mit einem Beitrag von Wilhelm Levison, Bonn 1963 (= Bonner Historische Forschungen, Bd. 20), S. 84/85. 116 Zu wichtigen und anerkannten Nachschlagewerken haben sich die sozialhistorisch-statistisch angelegten Arbeiten Wolfgang Webers entwickelt. Wolfgang Weber: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft 1800-1970, Frankfurt/M. 21987; ders.: Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfangen des Faches bis 1970, ebd. 1984; daneben von besonderem Interesse die faktenreichen Institutionen- und universitätsgeschichtlichen Studien von Hedwig Dickerhof-Fröhlich: Das historische Studium an der Universität München im 19. Jahrhundert, München 1979, und Ursula Huber: Universität und Ministerialverwaltung. Die hochschulpolitische Situation der Ludwig-Maximilians-Universität München während der Ministerien Oettingen-Wallerstein und Abel (1832-1847), Berlin 1987 (= Ludovico Maximilianea. Forschungen, Bd. 12).
Historiographiegeschichtsschreibung kennenlernte. Der Eigenart der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entsprechend, stellt aber jedes dieser Werke eine Materialfundgrube dar, die nicht selten als Ersatz für heute verlorene Nachlässe dienen muß, wobei unnötig zu betonen - äußerste Vorsicht und wache Kritikbereitschaft geboten sind. Nach Rückvergleichen mit Beständen des Nachlasses scheint Johannes Janssens dreibändiges Werk über Johann Friedrich Böhmer von allen das zuverlässigste; seine Edition der Briefe Böhmers bleibt trotz der Kürzungen und der von Janssen getroffenen Auswahl die zentrale und im Rahmen des zu Erwartenden verläßliche Quelle zu Leben und Schaffen Böhmers. 117 Der leicht zu benutzende Nachlaß in Frankfurt/M. sowie eine vielfaltige zusätzliche BöhmerLiteratur ermöglichen ohne weiteres, die Janssenschen Wertungen zu kontrollieren und zu relativieren. Größere Schwierigkeiten bereitet der Umgang mit dem Döllingerbild des Altkatholiken Johannes Friedrich, 118 das geprägt ist von den Auseinandersetzungen um die Beurteilung der Person Döllingers in den Jahren nach dem Vatikanischen Konzil. Schließlich erreicht die Biographie Friedrich Emanuel Hurters durch dessen Sohn Heinrich bei insgesamt unzureichender Stoffbewältigung einen Grad von Apologetik, der das Leben des Antistes und Reichshistoriographen zum Zerrbild entstellt. 119 Bis jedoch - was kaum in Aussicht steht - der Nachlaß Hurters in Samen zur Grundlage einer modernen Biographie erhoben wird, bleibt auch Heinrich Hurters Werk, gerade für die Zeit nach der Konversion seines Vaters von 1844, ein unverzichtbarer Fixpunkt für die Beschäftigung mit Friedrich Emanuel Hurter. Liegt in diesen zeitgenössischen Biographien wenigstens umfangreiches authentisches Material zur sofortigen Vertiefung in Leben und Werk der Genannten vor, so gestaltet sich die Annäherung an August Friedrich Gfrörer und Constantin Höfler erheblich schwieriger. Mit Ausnahme von kürzeren Abhandlungen lassen sich zu beiden keine Biographien, weder älteren noch jüngeren Datums, finden. Über Gfrörer informiert noch immer am besten das Lebensbild Hagens, über Höfler dasjenige Hemmeries. 120 Großen Wert wird immer die Monographie Taras von Borodajkewyczs behalten, die sich freilich mit Schelling ebenso ausführlich befaßt wie mit Höfler und vor allem nur dessen Entwicklung bis in die frühen vierziger Jahre des Jahrhunderts hinein verfolgt. Die 117
Johannes Janssen: Johann Friedrich Böhmer's Leben, Briefe und kleinere Schriften, 3 Bde., Freiburg/Brsg. 1868. 118 Johannes Friedrich: Ignaz von Döllinger. Sein Leben auf Grund seines schriftlichen Nachlasses dargestellt, 3 Bde., München 1899-1901. 119 Heinrich von Hurter: Friedrich von Hurter, k.k. Hofrath und Reichshistoriograph und seine Zeit, 2 Bde., Graz 1876/77. 120 August Hagen: A. F. Gfrörer, in: ders., Gestalten aus dem schwäbischen Katholizismus, Bd. III, Stuttgart 1954, S. 7-43; Josef Hemmerle: Constantin von Höfler, in: Götz Freiherr von Pölnitz (Hg.), Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben, Bd. 2, München 1953, S. 376-395.
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knappe Präzision der geistesgeschichtlichen Arbeitsweise Borodajkewyczs sowie die von ihm vermittelten Einsichten in das geistige Leben Münchens der zwanziger und dreißiger Jahre erheben das kleine Buch gleichwohl in den Rang eines schätzenswerten „Klassikers" der Srbik-Schule. 121 Bei den Studien von Hagen, Hemmerle und auch Borodajkewycz handelt es sich bereits um neuere wissenschaftliche Literatur. Verglichen mit Gfrörer und Höfler fanden auf diesem Felde ebenfalls Böhmer, Hurter und Döllinger weitaus mehr Beachtung. 1959 trat Erwin Kleinstück mit einer umfangreichen Biographie Johann Friedrich Böhmers hervor, die an die Stelle der Janssenschen Böhmer-Werke treten sollte. 122 Dieses Ziel erreicht sie trotz ihrer ungeheuren Gelehrsamkeit nicht, liefert sie doch viel eher eine Geistesgeschichte Frankfurts zwischen Französischer Revolution und kleindeutscher Reichsgründung mit gewissen Schwerpunkten auf dem Leben des Stadtbibliothekars Böhmer. Ein spröder Stil erschwert die Lektüre ebenso wie der für ein modernes wissenschaftliches Werk unzulängliche Apparat die Benutzung zu weiteren Forschungszwecken. Kleinstück allein kann als Grundlage für die Beschäftigung mit Böhmer nicht dienen; Janssen bleibt weiterhin maßgeblich. - Peter Vogelsangers Biographie Friedrich Emanuel Hurters, gleichfalls aus den fünfziger Jahren, stellt den wichtigen Versuch einer gerechten Würdigung des Antistes aus protestantischer Sicht dar. Aber auch Vogelsanger konnte den Nachlaß in Samen nicht benutzen, so daß eine Hurter-Biographie auf der Basis dieser zentralen Quelle weiterhin aussteht.123 Über Döllinger schließlich existiert eine umfangreiche neuere Kleinliteratur. Thematisch kreist diese aber zumeist um den späteren Döllinger und dessen Konfrontation mit dem orthodoxen Katholizismus infolge der Beschlüsse des ersten Vatikanums. Während eine abgelegene altkatholische Döllinger-Rezeption diesen gerne als Vaterfigur in Anspruch nähme, 124 versucht die katholische Seite eine kritische Auseinandersetzung, die - wie der Gedenkband zum hundertsten Todestag Döllingers zeigt - mitunter
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Taras von Borodajkewycz: Deutscher Geist und Katholizismus im 19. Jahrhundert, dargestellt am Entwicklungsgang Constantins von Höfler, Salzburg/Leipzig 1935, hier S. 13/14 Borodajkewyczs Huldigung an seinen Lehrer Srbik. 122 Erwin Kleinstück: Johann Friedrich Böhmer 1795-1863, Frankfurt/M. 1959. 123 Peter Vogelsanger: Weg nach Rom. Friedrich Hurters geistige Entwicklung im Rahmen der Romantischen Konversionsbewegung, Zürich 1954. - Einige Bemerkungen zum Werk Vogelsangers in Lebenswege, Anm. 71 und Denkwege, Anm. 91. 124 Stellvertretend für diese altkatholische Döllinger-Rezeption sei auf die Beiträge und Rezensionen der in Bern erscheinenden ,»Internationalen kirchlichen Zeitschrift" verwiesen. Vgl. hierzu auch OlafR. Blaschke: Der Altkatholizismus 1870-1945. Nationalismus, Antisemitismus und Nationalsozialismus, in: HZ 261 (1995), S. 51-99, hier S. 53: in zahlreichen Studien machten sich Altkatholiken und Katholiken Döllinger bis heute streitig; ebd., Anm. 6: die „Insiderforschung" der altkatholischen „Internationalen kirchlichen Zeitschrift" sei für Historiker „kaum erhellend."
Historiographiegeschichtsschreibung etwas schwunglos ausfallen kann. 125 Leider scheint auch die große DöllingerBriefedition durch Victor Conzemius nur sehr langsam voranzukommen. 126 In Hinblick auf die Vertreter der zweiten Generation großdeutscher Geschichtsschreibung verzeichnet die Forschungsliteratur der vergangenen Jahre nur im Falle Klopps und Janssens Fortschritte und Neuansätze. Lange Zeit stellte die Biographie Wiard Klopps über seinen Vater, 1950 von Franz Schnabel veröffentlicht, die einzige umfangreichere Publikation zum Leben Onno Klopps dar. Vor kurzem legte nun Lorenz Matzinger eine Dissertation „Onno Klopp. Leben und Werk" vor. 1 2 7 Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf einer detailgesättigten chronographischen Rekonstruktion des Lebenslaufes Klopps, vor allem der politischen Aktivitäten als treuer Diener seines Königs Georg V. in Hannover und später in Wien. Matzingers Würdigung der Historiographie Klopps sowie deren Einbettung in den Gesamtkontext großdeutscher Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts fällt hingegen zu knapp aus, um über eine summarische Aufstellung der Hauptpunkte hinauszukommen. 128 Wenngleich Matzinger die Einseitigkeiten des Bildes Wiard Klopps sicherlich zurechtrückt, gelingt es ihm nur schwer, die Bedeutung Klopps als Historiker im spezifischen Umfeld seiner Zeit herauszuarbeiten. Nach den panegyrischen Werken Ludwig Pastors über seinen Frankfurter Lehrer Johannes Janssen sowie der überholten, ungedruckten Dissertation Wilhelm Baums, 129 kündigt in Fribourg Walter Troxler eine Janssen-Biographie
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Georg Dernier / Ernst Ludwig Grasmück{Hg.):
Geschichtlichkeit und Glaube.
Zum 100. Todestag J. J. I. von Döllingers (1799-1890), München 1990. Die hier versammelten Beiträge zu teils recht exotischen Fragestellungen vermitteln weder ein abgeklärtes noch ein anregendes Bild Döllingers, beleuchten sie doch vorwiegend Einzelaspekte. Als Wiederabdruck findet sich jedoch der Aufsatz von Owen Chadwick: Acton, Döllinger and History, London 1987 (S. 317-340). 126 Ignaz Döllinger: Briefwechsel, hg. von Victor Conzemius, München 1963-1981, bisher 4 Bde. (Bd. 1-3: Briefwechsel mit Lord Acton; Bd. 4: Briefwechsel mit Charlotte Lady Blennerhassett). 127 Wiard von Klopp: Onno Klopp. Leben und Wirken, hg. von Franz Schnabel, München 1950; Lorenz Matzinger: Onno Klopp (1822-1903). Leben und Werk, Aurich 1993 (= Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands, Bd. 72). 128 Kapitel Β II handelt „inhaltliche Aspekte" des Werkes Klopps auf zehn Seiten ab (S. 144-153), Kapitel Kap. Β V befaßt sich ebenfalls auf zehn Seiten (S. 165-174) mit „Werk und Wirken Onno Klopps im historisch-historiographischen Kontext". 129 Ludwig Pastor: Johannes Janssen. 1829-1891. Ein Lebensbild, vornehmlich nach den ungedruckten Briefen und Tagebüchern desselben, Freiburg/Brsg. 1892; ders.: Aus dem Leben des Geschichtschreibers Johannes Janssen (1829-1891). Mit einer Charakteristik Janssens, Köln 1929. - Wilhelm Baum: Johannes Janssen (1829-1891). Persönlichkeit, Leben und Werke. Ein Beitrag zur Theologie- und Geistesgeschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert, Diss, masch., Innsbruck 1971. Baums Arbeit krankt
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aufgrund des dort wieder zum Vorschein gekommenen, lange vermißten Nachlasses Janssens an. So steht zu hoffen, daß in den nächsten Jahren einer der wichtigsten deutschen Historiker der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts über hundert Jahre nach seinem Tod jene verdiente Würdigung erhält, die ihn ins Bewußtsein einer breiteren geschichtsinteressierten Öffentlichkeit zurückfuhrt. Zwei weitere bedeutende Vertreter dieser Generation, Julius Ficker und Carl Adolf Cornelius, scheinen darauf noch länger warten zu müssen. Für Ficker bleibt nach wie vor die Biographie Jungs aus dem Jahr 1907 einschlägig, 130 für Cornelius die längere Gedächtnisrede Friedrichs sowie die Abhandlung von Walter Goetz. 131 Während aber Ficker durch die oftmalige Erwähnung seiner Kontroverse mit Heinrich von Sybel sowie durch seine dauerhaften diplomatischen, mediävistischen und rechtshistorischen Leistungen gleichwohl in der Erinnerung des Faches haftet, ist Cornelius, vielleicht auch aufgrund seines quantitativ nur wenig umfangreichen Lebenswerkes, vergessen. Dabei wäre mit ihm einer der brillantesten Stilisten deutscher Geschichtswissenschaft wiederzuentdecken, dessen Hauptwerk über das Münsterische Wiedertäuferreich keineswegs nur eine regionalgeschichtliche Episode aus der Reformationszeit behandelt, sondern - von Cornelius' eigenem Erleben der revolutionären Ereignisse von 1848/49 her motiviert - eine Strukturgeschichte der Revolution an einem historischen Exempel aus dem sechzehnten Jahrhundert liefert. 132 Ahnliches gilt für die beiden Bonner Professoren Hermann Hüflfer und Moriz Ritter. Hüflfer, von Brotberuf Jurist, eigentlich jedoch Historiker und Literaturstrukturell an ihrer Einteilung in „Janssens Leben" - „Janssens Freunde" - „Janssens Werke", die eine gegenseitige Durchdringung der einzelnen Komplexe kaum zuläßt und zu einem Abhaken von Fakten unter der Gefahr oftmaliger Wiederholungen tendiert. Die Auseinandersetzung mit Janssens „Geschichte des deutschen Volkes" beschränkt sich weitgehend auf eine Nacherzählung der Inhaltsverzeichnisse (S. 419-434) sowie die anschließende Gegenüberstellung der zustimmenden und ablehnenden Kritik an Janssens Werk (S. 435-452). Dabei stützt er sich v. a. auf die von Robert Hippe: Johannes Janssen als Geschichtsschreiber, Diss, masch., Jena 1950, geleistete Vorarbeit. Zusätzlich gibt Baum, wie Stichproben belegen, die Inhalte der von ihm benutzten ungedruckten Quellen ungenau, in Einzelfallen gar entstellt wieder (ζ. B. die Briefe Janssens an Döllinger 1861-1864, BSB, NL Döllinger, Döllingeriana Π, bei Baum S. 188-197). 130 Julius Jung: Julius Ficker (1826-1902). Ein Beitrag zur deutschen Gelehrtengeschichte, Innsbruck 1907; vgl. auch Julius Ficker: Ausgewählte Abhandlungen zur Geschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters. Zusammengestellt und eingeleitet von Carlrichard Brühl, 3 Bde., Aalen 1981. 131 Johannes Friedrich: Gedächtnisrede auf Carl Adolf von Cornelius, München 1904; Walter Goetz: Carl Adolf Cornelius (1819-1903), in: ders., Historiker in meiner Zeit, S. 187-197. 132 Vgl. demnächst meinen Überblicksartikel „Carl Adolf Cornelius", in: Laetitia Boehm / Wolfgang Smolka (Hg.): Biographisches Handbuch des Lehrkörpers der Universität Ingolstadt - Landshut - München, Bd. Π: München (erscheint vorauss. 1997).
Historiographiegeschichtsschreibung Wissenschaftler aus Leidenschaft, liberaler rheinländischer Katholik, vielseitig, auch politisch aktiv, nimmt durch seine Forschungen zur Geschichte der Revolutionskriege und die daran anknüpfende Kontroverse mit Heinrich von Sybel eine exponierte Stellung unter den Großdeutschen zweiter Generation ein. Diese Kontroverse beschließt um 1870 eigentlich die lange Reihe der historiographischen Großdeutsch-Kleindeutsch-Debatten, die bereits vor der Revolution mit dem Höfler-Häusser-Streit beginnt. Während Sybels Auseinandersetzung mit Ficker auf dem Felde der mittelalterlichen Kaiserpolitk spielt, während Klopps Stellungnahme die Brücke zwischen Mittelalter und Neuzeit herstellt, diskutieren Sybel und Hüffer vor allem die Rolle Österreichs und Preußens in einer wichtigen Episode der jüngeren deutschen Geschichte. Hüffers ruhige und besonnene Art, die sehr an das Auftreten Fickers erinnert, sein penibler archivalischer Forschungsdrang sowie seine absolute wissenschaftliche und methodische Integrität tragen nicht nur dazu bei, die Kenntnis über die Zeit der Revolutionskriege zu vertiefen, sondern halten auch seine Art der „großdeutschen Geschichtsschreibung" von hitziger tagespolitischer Polemik weitgehend frei. 133 An den Historiker Hermann Hüffer erinnern außer seinen eigenen Werken heute nur noch seine Lebenserinnerungen, die Ernst Sieper 1913 veröffentlichte. 134 Größere Bekanntheit als Hüffer erlangte dessen Bonner Kollege Moriz Ritter durch seine „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges", aber auch durch seine Karriere innerhalb der institutionalisierten deutschen Geschichtswissenschaft, die er als Präsident der Historischen Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften abschloß.135 Zusammen mit Ludwig Pastor bildet Ritter den Kern sowie gleichzeitig die beiden entgegengesetzten Pole der dritten Generation großdeutscher Geschichtsschreibung. Weder über Ritter 136 noch über den Papsthistoriker Pastor liegt bis heute eine größere Biographie vor. Während Ritters Rang als Historiker jedoch kaum bezweifelt wird, schwankt das Bild Pastors in der Forschung zwischen der schonungslosen Verurteilung seines Charakters sowie seiner Arbeitsweise durch Walter Goetz 137 und der kritiklosen Verehrung durch Pastors Schüler und Adepten. Letztere Richtung brachte 1950 eine dicke Aus133
Einige Bemerkungen zur Sybel-Hüffer-Kontroverse in Brechenmacher, „Österreich steht außer Deutschland, aber es gehört zu Deutschland", S. 40-43. 134 Hermann Hüffer: Lebenserinnerungen, hg. von Ernst Sieper, Berlin 1913; dass., Neue Ausgabe mit Personenregister, ebd. 1914. 135 Vgl. demnächst meinen Überblicksartikel „Moriz Ritter", in: Boehm / Smolka, Handbuch des Lehrkörpers der Universität München (s. Anm. 132). 136 Die letzte kürzere Würdigung Ritters stammt von Stephan Skalweit: Moriz Ritter, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Geschichtswissenschaften, Bonn 1968, S. 209-224. 137 Walter Goetz: Ludwig Pastor (1854-1928), in: ders., Historiker in meiner Zeit, S. 232-245 (zuerst in HZ 145,1932). 5 Brechenmacher
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wahledition aus Pastors Tagebüchern, Briefen, Erinnerungen hervor, die - wie ein Vergleich mit den Originalen in Rom zeigt - die Texte bewußt und impertinent verfälscht und sich dadurch als Grundlage weiterer wissenschaftlicher Beschäftigung mit Ludwig Pastor regelrecht disqualifiziert. 138 Jede neue Arbeit über Pastor hat ganz von vorn mit dem Studium des Nachlasses zu beginnen. Die gedrängte Übersicht nur der wichtigsten biographischen Sekundärliteratur zu den Vertretern der drei Generationen großdeutscher Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts enthüllt eine Vielzahl von Aufgaben sowohl für die Erforschung dieser Historiographie und ihrer Vertreter im einzelnen als auch für deren Geschichte insgesamt. Nur wenige Bereiche dieses weiten historiographiegeschichtlichen Feldes erweisen sich als gut bestellt, viele Ausschnitte fanden bisher kaum Beachtung, bei vielen liegt diese Beachtung lange zurück und manche bedürfen einer Neubearbeitung von Grund auf. Wenn auch der nun vorgelegte Band über die erste Generation großdeutscher Geschichtsschreibung dies alles alleine freilich nicht leisten kann, so kann er doch vielleicht Impulse geben, die wiederum die Einzelforschung anregen und zu festeren und neueren Grundlagen für spätere Teile dieser Gesamtgeschichte führen. Gingen von diesem Band tatsächlich solche Impulse aus, wäre einer seiner wichtigen Zwecke schon erreicht.
Die nachfolgend zu beginnende Geschichte großdeutscher Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts erscheint weder als Nachschlagewerk noch als Handbuch. Vielmehr versteht sie sich als eine entwickelnde, prinzipiell hermeneutisch vorgehende Darstellung der wesentlichen Ansätze und Inhalte dieser Historiographie über die Folge der drei Generationen hinweg am Beispiel der bereits genannten ausgewählten Vertreter. Dabei legt sie Wert darauf, die Historiker und ihr Schaffen in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Gegenwart zu zeigen. Geschichtswissenschaft stellt Fragen, die immer nur im Zusammenhang mit der Gegenwart des Fragenden zu erklären und zu verstehen sind. In jeder Zeit existieren typische Fragen und auch typische Antworten, ebenso wie individuellere. Während sich über die ersteren Gruppenzugehörigkeit definieren läßt, eignet den letzteren ein „separatistisches", eigenbrötlerisches Moment, ein Zug zur Heterogenität. Nun fallt bei den Großdeutschen diese individualistische Komponente in so ausgeprägtem Maße auf, daß es geradezu Ziel der Arbeit sein mußte, neben dem „Typischen" das Vielfaltige, Individualistische dieser Geschichtsschreibung, das sich einer zu schematischen Behandlung entwindet, herauszuarbeiten.
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Ludwig von Pastor: Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, hg. von Wilhelm Wühr, Heidelberg 1950. Vgl. auch Thomas Brechenmacher: Art. „Ludwig Pastor", in: Bautz VI (1993), S. 1588-1594.
Historiographiegeschichtsschreibung
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Eine Summe klassischer Leben-und-Werk-Schilderungen hätte weder das Eine noch das Andere adäquat leisten können, hätte weder das GemeinsamEinigende noch das Individualistisch-Unterscheidende der großdeutschen Historiker verdeutlicht, sondern hätte lediglich parallel laufende Entwicklungen verfolgt, ohne aufzudecken, worin das eigentlich Interessante dieser Gruppe liegt: in den so vielfaltigen und unterschiedlichen Synthesen des Typischen und Individuellen im Laufe der Auseinandersetzung der einzelnen Historiker mit Geschichte und Gegenwart, mit den geistigen Traditionen, mit den Gleichgesinnten und mit den Gegnern. Diesem Grundzug schien am ehesten ein komparatistischer Ansatz zu entsprechen, mit dem Ziel, die behandelten Historiker in einer Art permanentem Diskurs im Rahmen systematisch vorgegebener Kriterien zu präsentieren. Die vorliegende Studie über „Die erste Generation", in deren Mittelpunkt die Grundlegungen und Anfange großdeutscher Historiographie in den Jahren zwischen 1830 und 1848 stehen - selbstverständlich mit chronologischen Rückwie Ausblicken - , versucht, diese Vorgabe in vier Kreisen umzusetzen. Um den Blick fur den eigentlichen Diskurs freizubekommen sowie um eine Basis von Fakten zu liefern, stehen im ersten Kreis biographische Abrisse der Hauptprotagonisten jener ersten Generation nebeneinander. Der Akzent der Biographien liegt, dem zeitlichen Rahmen der gesamten Abhandlung entsprechend, aber auch der Konzeption der drei Generationen folgend, auf der Zeit bis 1848. Diese Zäsur rechtfertigt sich in doppelter Hinsicht: einerseits waren die historiographischen und für die „großdeutsche" Geschichtsanschauung dann maßgeblichen Grundpositionen im Schafifen der fünf ausgewählt betrachteten Historiker bis zum Jahr 1848 gelegt; andererseits stellte im Leben eines jeden der Fünf das Jahr 1848 (für Böhmer, Gfrörer und Döllinger durch die Revolution direkt) oder die Zeit unmittelbar davor (für Hurter durch die Konversion sowie die Übersiedelung nach Wien 1844/1845, für Höfler durch die Entfernung aus dem Münchener Professorenamt 1847) einen wichtigen Einschnitt dar. Bereits in den biographischen Abrissen gilt als Prinzip, die Gemeinsamkeiten, auch die persönlichen Berührungspunkte der einzelnen, ebenso hervorzuheben wie die gleichzeitig bestehenden immensen Unterschiede in den Lebensläufen und Karrieren. Schon der Kontrast der fünf Biographien sollte etwas über die vielfaltigen geistigen, politischen, gesellschaftlichen Strömungen aussagen, die in den Komplex „großdeutsche Historiographie" einfließen. Als Gegenstück zu den „Lebenswegen" erscheinen im zweiten Kapitel, dem eigentlichen Hauptteil der Arbeit, die „Denkwege" In zweimal zwei Kreisen entwickelt dieses Kapitel zuerst das Denken der großdeutschen Historiker erster Generation über die vergangene Zeit, über die Geschichte, sodann aber auch das Denken über die eigene Zeit, die Politik, jeweils mit der Zielsetzung, sowohl die individuellen Akzentuierungen der Einzelnen als auch die gruppenspezifischen, typischen Momente herauszuarbeiten. Dabei geht die Richtung der Erörterung *
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von der Feststellung des konkreten Grundurteils zur Feststellung des abstrakteren Urteilsgrundes. Einem Kursus durch die deutsche Geschichte von den späteren Karolingern bis vor die Tore der Französischen Revolution, orientiert an den Hauptwerken jener Historiker, folgen Ausführungen über deren Wissenschaftsverständnis im allgemeinen sowie deren Begriff von Geschichte als Wissenschaft im besonderen. Analog schließt sich der Frage nach den konkreten politischen Stellungnahmen zu den Krisen der eigenen Zeit diejenige nach der politisch-weltanschaulichen Haltung insgesamt an: welche politischen Konzepte und Zielsetzungen stießen auf Ablehnung, welche Utopien fanden Zustimmung? Noch einmal aber: um der Gefahr eines pauschalierenden Schubladendenkens zu entgehen, bemüht sich die Darstellung immer, erst nach der Einzelanalyse die Einordnung in größere Zusammenhänge vorzunehmen und nicht von einem vorgegebenen, inhaltlich vermeintlich klaren Schlagwort, wie etwa „Konservativismus" oder „politischer Katholizismus" auszugehen und die einzelnen Historiker ohne Differenzierung, notfalls mit Gewalt hineinzupressen. Freilich läßt diese Methode mitunter Reibungsflächen und auch Widersprüche innerhalb des Denkens einzelner stehen, was, bezogen auf den Erkenntnisgewinn in anderer Hinsicht, jedoch vertretbar scheint. Welcher Gelehrte entwickelt schon im Laufe einer langen Schaffenszeit immer nur stringente und zueinander passende Gedanken? Anschließend an die Beschreibung der „Denkwege" rückt das dritte Kapitel deren Rückbindung an die „Traditionsstränge" in den Mittelpunkt. In welchen großen geistigen Kraftfeldern bewegen sich die Großdeutschen, an welche Vorbilder und Vordenker knüpft ihr historiographisches wie politisches Urteil an? In welche Traditionen geschichtsphilosophischer aber auch staatstheoretischer Art stellen diese sich selbst, auf welche Weise adaptieren sie das Übernommene, integrieren es in das eigene Werk und führen es selbst wieder als Tradition weiter? Zu diesem Weitergeben zählt schließlich auch die Umsetzung der Synthese aus „Denkwegen" und „Traditionssträngen", also des gesamten weltanschaulichen Gebäudes, in „Öffentliches Handeln": das vierte und abschließende Kapitel fragt nach den konkreten Versuchen tagespolitischer Mitgestaltung durch großdeutsch orientierte Historiker sowie schließlich nach deren gestaltender Einwirkung auf die Heranbildung der institutionalisierten Geschichtswissenschaft in Deutschland vor 1848. Hier gilt die Aufmerksamkeit auch bereits den Vorboten der späteren Spaltung innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft und deren Institutionen. Die Abhandlung schließt mit einem Blick auf die erste große Kontroverse zwischen Vertretern groß- und kleindeutscher Geschichtsanschauungen, die in vielen Zügen Charakteristika der nachfolgenden Auseinandersetzungen vorwegnimmt, ja die Reihe dieser Auseinandersetzungen eigentlich eröflhet: die Debatte zwischen Constantin Höfler und Ludwig Häusser über den Stauferkaiser Friedrich II.
Historiographiegeschichtsschreibung Die Märzrevolution des Jahres 1848 beendete nicht das Schaffen der ersten Generation großdeutscher Historiker - im Gegenteil - , aber sie beendete die Periode der Grundlegungen und führte eine grundsätzlich veränderte Situation herbei, die auch innerhalb der Geschichtswissenschaft Neubesinnung erforderte. Mit der „Erschütterung" von 1848/49 sowie der daran anschließenden Periode der „Neubesinnung", in deren Verlauf die zweite Generation der großdeutschen Historiker die dominante Rolle übernahm und auf den von der ersten entwickelten Grundpositionen weiterarbeitete, wird sich gegebenenfalls ein zweiter Teil der Geschichte der großdeutschen Historiographie befassen: „Erschütterung und Neubesinnung (1848/49-1858/59)" sowie Konfrontationen" (1859-1871), in dessen Mittelpunkt schließlich die Zeit der engeren politischen und historiographischen Großdeutsch-Kleindeutsch-Kontroverse stünde. „Getrennte Wege" (1872-1882) sowie »Ausläufer und Verlagerungen" beschriebe schließlich ein abschließender Teil. Hier wäre die aus dem Streit um die nationale aber auch erstes Vatikanum - um die kirchliche Einheit gespalten hervorgegangene Gruppe der großdeutschen Historiker in ihren weiteren Schicksalen darzustellen: die Entwicklung eines Teils zur Identifikation mit dem kleindeutschen Kaiserreich und deren gleichzeitige Hinwendung zum Altkatholizismus (Döllinger - mit Einschränkungen, Cornelius, Ritter), der Versuch eines anderen, eine Art integrierenden Mittelweg zu beschreiten (Hüffer, Ficker, auch Janssen), die distanzierte bis ablehnende Haltung eines dritten Teils (Höfler, Klopp, Pastor). Zu fragen wäre, wie sich die alte Kontroverse im Rahmen des Kulturkampfes umformte, etwa in der Auseinandersetzung um Janssens „Geschichte des deutschen Volkes", wie sich aber andererseits ein Geist neuer Wissenschaftlichkeit auch dort Bahn brach, wo zuvor unversöhnliche Polemik dominierte, kurz, wie sich die Großdeutschen und ehemals Großdeutschen in die geistige und politische „Kultur" des Kaiserreiches einfügten und in welcher Form die von ihnen vertretenen Geschichtskonzepte ins zwanzigste Jahrhundert hineinfanden, bis hin zur Revolution von 1918/19, in deren Gefolge großdeutsche Konzepte auch in konkret politischer Hinsicht wieder auf die Tagesordnung drängten.
Im Mittelpunkt des Interesses der Geschichte großdeutscher Historiographie im neunzehnten Jahrhundert stehen die gedruckten Werke, die öffentlichen, publizierten Äußerungen der großdeutschen Historiker. In formaler Hinsicht bezieht sie nicht nur die gelehrte Historiographie im engeren Sinne ein, sondern auch die Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften, in Lexika und Sammelwerken, sofern sie Ausfluß und Ergebnis jener geschichtswissenschaftlichen Arbeit sind. Gerade über solche Organe erlangten Geschichtsbilder im neunzehnten Jahrhundert, vor allem auch die großdeutschen, oftmals weite Verbreitung und hohe Publizität. Als Foren dieser Art standen den Großdeutschen unter anderem die Allgemeine Zeitung, insbesondere deren literarische Beilage sowie die Monatsblätter, seit 1838 die „Historisch-Politischen Blätter für das katholische Deutsch-
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land", seit 1865 die „Frankfurter zeitgemäßen Broschüren", aber auch die beiden Auflagen des großen Kirchenlexikons von Wetzer und Welte zur Verfügung. In inhaltlicher Hinsicht fordert der beschriebene Ansatz nicht nur die Berücksichtigung jener Werke, die sich mit deutscher Geschichte befassen. Eine Erkenntnis der jeweils zugrundeliegenden Gesamtkonzepte von Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung setzt grundsätzlich die Betrachtung des historiographischen Werkes der einzelnen insgesamt voraus, innerhalb der ersten Generation vor allem auch der kirchenhistorischen Werke. Entsprechend der Konzeption der „Denkwege" ergänzt schließlich die Analyse tagespolitischer sowie staatstheoretischer Abhandlungen diejenige der Historiographie nach der Seite des „Denkens über die eigene Zeit" hin. Daneben blieb es unerläßlich, die vielfach verstreuten und bisher wenig oder kaum benutzten Nachlässe und Nachlaßteile als zusätzliche Quellen heranzuziehen. Briefwechsel, Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen, Manuskripte und Notizen addieren dem Bild der gedruckten Quellen nicht nur persönlichere Farbtöne, ergänzen nicht nur die Charakterbilder der Historiker, sondern liefern auch interne Bewertungen und Urteile über den geschichtswissenschaftlichen Betrieb, die zu ihrer Zeit nicht für den öffentlichen Gebrauch bestimmt waren. Die Subjektivität solcher Äußerungen bleibt freilich immer kritisch in Rechung zu stellen. Während die Korrespondenzen die Kommunikation der Historiker untereinander belegen und Antworten geben auf die Frage nach der Dichte der „Vernetzung" großdeutscher Historiker, dokumentieren Manuskripte, Fragmente und sonstige wissenschaftliche Aufzeichnungen nicht wie die gedruckten Werke nur Endstadien, sondern auch Pläne, Vor- und Zwischenstufen, lassen also die jeweilige Art des Arbeitens nachvollziehen. Von den Repräsentanten der ersten Generation existieren komplette Nachlässe im Falle Döllingers (München), Böhmers (Frankfurt/M.) und Hurters (Benediktinerkloster Muri-Gries, Abt. Samen sowie Teilnachlaß in Schaffhausen). Langwierige Umbaumaßnahmen, vor allem aber der insgesamt ungeordnete Zustand erschweren dauerhaft die Benutzung des Nachlasses Hurters in Samen. Durch die aufopferungsvolle Hilfe des hochbetagten Stiftsarchivars Pater Adelhelm Rast konnte ich jedoch wichtige Teile dieses Nachlasses gleichwohl heranziehen. Auch die Unterstützung durch Markus Lischer aus Luzern, der vor einigen Jahren Teile des im Nachlaß erhaltenen Hurter-Briefwechsels auswertete und ein Briefverzeichnis anfertigte, hat mir wesentlich geholfen. - Obwohl von Constantin Höfler und August Friedrich Gfrörer keine geschlossenen Nachlässe mehr existieren, haben doch vielfaltige Überreste ihrer Hinterlassenschaften, insbesondere Korrespondenzen, den Weg in Bibliotheken und Archive gefunden. Für Einzelheiten sei in diesen wie in allen anderen Fällen auf das Quellenverzeichnis sowie auf den Anmerkungsapparat, vor allem der Kurzbiographien verwiesen. - Von den Nachlässen der Historiker der zweiten und dritten Generation erlangen diejenigen Carl Adolf Cornelius' (München), Julius
Historiographiegeschichtsschreibung Fickers (Wien), Onno Klopps (Wien), Moriz Ritters (Bonn) sowie Ludwig Pastors (Rom) auch bereits für die Darstellung der ersten Generation Bedeutung. Ein Nachlaß Johannes Janssens gelangte über bisher im einzelnen noch ungeklärte Wege nach Fribourg. Die selbstlose Unterstützung durch Walter Troxler ermöglichte mir, Teile dieses Nachlasses gleichfalls zu verwerten. Auch das fleißigste Bemühen, soviel wie möglich aus den primären Quellen zu erarbeiten und darzustellen, verdankt den mitstrebenden Vorgängern und Zeitgenossen noch immer außerordentlich viel, im vorliegenden Fall der bereits angesprochenen großen Menge älterer wie moderner Sekundärliteratur zu einzelnen der Historiker, zu Ausschnitten der Thematik, vor allem natürlich auch zur allgemeinen politischen Geschichte, zur Geistes-, zur Kirchengeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Keineswegs aber, schon um der Lesbarkeit willen, konnte jeder einzelne Titel im Text erscheinen, gar kritisch besprochen und vom Konzept, von den Urteilen der eigenen Arbeit abgesetzt werden. Als Forum der Diskussion von Sekundärliteratur verstehen sich in erster Linie die Fußnoten, in die sich vertiefen mag, wer will oder muß. Hingegen versucht der Text der Darstellung selbst so weit wie möglich eigene Gedankengänge, eigene Auffassungen zu entwickeln und zu begründen. Selbstredend vermerken die Fußnoten, wo sich dieser Gedankengang an der Literatur zustimmend orientiert; überall dort aber, wo er signifikant von wichtigen anderen Darstellungen abweicht, erfolgt die Diskussion dieser Abweichung und ihrer Gründe ausführlich in der Fußnote. Im Gegensatz zu einem eher lexikalistischen Aufbau verlangt die gewählte Art der Darstellung eine Lektüre en bloc und erschwert die Benutzung des Werkes als Kompendium zum Nachschlagen, zur schnellen Information. Beides zu liefern, ist unmöglich. Wenn die Entscheidung auch gegen die Form eines Handbuches, für eine systematisch entwickelnde Ausführung gefallen ist, so versuchen doch wenigstens einige Hilfestellungen die „nachschlagende" Benutzung zu erleichtern. Hierzu gehören neben dem detaillierten Inhaltsverzeichnis vor allem das ausführliche Personenregister mit dem Register der besprochenen Werke. Schließlich durchzieht den Fußnotenapparat ein System von Querverweisen, 139 anhand dessen auch bei Lektüre nur einzelner Kapitel oder Ausschnitte diejenigen Passagen anderer Kapitel, die zum Verständnis des Erörterten beitragen oder gar die Voraussetzungen bilden, leicht aufzufinden sind.
Die Geschichte großdeutscher Historiographie im neunzehnten Jahrhundert versucht, eine empfindliche Erinnerungslücke innerhalb der Geschichte des
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Zu den Fußnotenverweisen: „s. Anm...." verweist auf eine Fußnote im selben Hauptkapitel (Einleitung, Lebenswege, Denkwege, Traditionsstränge, Öffentliches Handeln). Bei Verweis auf eine Fußnote in einem anderen Hauptkapitel erfolgt genaue Nennung (also ζ. B. „s. Lebenswege, Anm. ...").
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Faches zu schließen. Sie versucht darzulegen, warum diese Historiographie für ihre Zeit bedeutend war, worin ihre Leistungen, worin ihre Irrtümer lagen, hinsichtlich der Ausbildung der wissenschaftlichen Disziplin „Geschichte" ebenso wie hinsichtlich der inhaltlichen Kenntnis und Erkenntnis deutscher Geschichte. Sie vertritt die Auffassung, daß die von den Großdeutschen beschriebenen Modelle dieser Geschichte weder richtiger noch verfehlter waren als konkurrierende Modelle, weder „besser" noch „schlechter", daß diese Modelle vielmehr jene gleichberechtigte andere Seite der Medaille darstellen, ohne deren adäquate Würdigung sich das Ganze der Erkenntnis entzieht. In diesem Bestreben aber geht sie gleichzeitig über eine bloß historiographiegeschichtliche Zielsetzung hinaus. Wie ihr Historiographie im allgemeinen als ein Indikator geistiger Strömungen gilt, so versteht sie die großdeutsche Historiographie im besonderen als eine Antwortmöglichkeit auf die Frage nach nationaler Identität. Sie glaubt, in dieser Historiographie den nachdrücklichen Hinweis darauf erkennen zu können, daß es für Deutschland nicht nur den einen Weg zum Nationalstaat, nicht nur den einen Weg zur nationalen Identität gegeben hat, den die Realpolitik schließlich gegangen ist. Sie vermeint zu sehen, wie die großdeutsche Historiographie entschieden auf die vielfaltigen alternativen Möglichkeiten deutscher Geschichte pocht, 140 die nicht bereits deshalb aus allen weiteren Erwägungen ausscheiden sollten, weil deren Realisierungen untergingen oder sie überhaupt den Weg bis zum Stadium der Realisierung nie fanden. Die Geschichte der großdeutschen Historiographie versagt sich dann aber auch eine Wertung nicht, versagt sich nicht den Hinweis auf die Aktualität einiger solcher Alternativen für jene gegenwärtige Identitätssuche Deutschlands nach „Überwindung der Teilung". Aus „Drei Staaten - zwei Nationen - einem Volk" 1 4 1 sind 1990 „Zwei Staaten - zwei Nationen - ein Volk" geworden. Der größere, wiedervereinigte beider Staaten muß sich eine neue Rolle zimmern, mitten in Europa, mitten in der Welt. Dazu gehört nicht nur die Einbettung in die Welt der Gegenwart, sondern auch - als deren Voraussetzung - die neu durchdachte Rückbindung an die eigene Geschichte. Muß nicht die Rekapitulation jener Alternativen zum zentralen Bestandteil solcher Rückbindung avancieren? Nicht freilich im Sinne einer vollkommen absurden Forderung, aus den „Zwei Staaten - zwei Nationen - einem Volk" nun noch „Einen Staat - eine Nation ein Volk" zu machen! Im Gegenteil, die Rekapitulation der geschichtlichen Alternativen, für die auch die Konzepte der großdeutschen Historiographen des neunzehnten Jahrhunderts stehen, hätte vor einer Neuauflage eines unitarischen
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Fritz Fellner: Die Historiographie zur österreichisch-deutschen Problematik als Spiegel der nationalpolitischen Diskussion, in: Heinrich Lutz / Helmut Rumpier (Hg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. Jahrhundert, München 1982, S. 33-59, hier S. 58. 141 Erdmann.
Historiographiegeschichtsschreibung Nationalchauvinismus sogar zu warnen, der ja in der tausendjährigen Variante des „Großdeutschen Reiches" einen Grad von Perversion erreichte, vor dem jeder „Großdeutsche" des neunzehnten Jahrhunderts angewidert zurückgewichen wäre, hätte er sich davon nur einen Begriff bilden können. Die Rekapitulation der Alternativen hätte vielmehr jenen eigenartigen geschichtlichen Reichtum vor Augen zu fuhren, der gerade die Unterschiedlichkeit der Regionen, der Mentalitäten, der staatlichen Organisationsformen betont, der dem Pluralismus, der Vielfalt des Gewachsenen Raum läßt, der aber durch eben diese gemeinsame Geschichte doch eine Zusammengehörigkeit begründet, welche weit hinausgreift über relativ engstirnige und begrenzte Konzeptionen staatlicher Einheit. Daß nämlich letztere ein Gefühl der Zusammengehörigkeit nicht automatisch herstellt, lehrt die bisherige Geschichte der deutschen Wiedervereinigung. Und daß trotz staatlicher Trennung unter bestimmten Voraussetzungen dieses Gefühl nicht verlorengeht, lehrt nach wie vor das Verhältnis der beiden Staaten Deutschland und Österreich. So läge also die Pflicht der Geschichtsrekapitulation für Deutschland-West und Deutschland-Ost in einem Beitrag zur Herstellung der inneren Zusammengehörigkeit; 142 sie läge für Deutschland und Österreich in der sorgfaltigen Pflege des bestehenden Zusammengehörigkeitsgefühls, welches die Frage staatlicher Einheit nicht mehr tangiert; 143 sie läge für die geographische Mitte Europas in der überzeugenden Realisation eines Konzeptes der „Zwei Staaten - einer (Kultur) Nation - eines Volkes". Dies wäre zumindest eine denkbare Möglichkeit der Orientierung des deutschsprachigen Mitteleuropa. In solchermaßen begriffener einheitlicher Vielfältigkeit könnte es sich dann einbringen in jenes Europa, das - schöne Utopie - im einundzwanzigsten Jahrhundert den unheilvollen Nationalismen des neunzehnten und zwanzigsten ein Ende setzte. Der Weg dorthin scheint weit und kompliziert. Nur ein marginaler Beitrag dazu kann die Erinnerung an die Alternativen deutscher Geschichte, an deren Historiographen, die großdeutschen Geschichtsschreiber des neunzehnten Jahrhunderts sein; ein marginaler nur, aber immerhin. 142
In Verbindung mit den Feiern zum fünften Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung klang die Forderung nach der ,»inneren Zusammengehörigkeit" verstärkt wieder auf. Der Stand ihrer bisherigen Realisierung fand nicht durchweg ganz pessimistische Beurteilung; gleichwohl erscheint das Streben nach weiterem „Zusammenwachsen" nach wie vor als dringlich. Der Suche nach „nationaler Identität" aus dem Fundus der Geschichte kommt dabei hohe Priorität zu. Vgl. ζ. B. Dieter Schröder: Ein Staat - zwei Nationen?, in: Süddeutsche Zeitung, 1.10. 1995, S. 4. 143 Angesichts eines zunehmenden „Österreich-Patriotismus" mit anti-deutschem Akzent, der gegenwärtig von rechtspopulistischen österreichischen Parteien kultiviert wird und sich u. a. aus den Ressentiments vieler Österreicher gegen den Beitritt zur Europäischen Union speist, scheint die Pflege dieses kulturellen Zusammengehörigkeitsgefühls besonders angebracht. Vgl. Joachim Riedl: I bin from Austria. In Österreich wurde das großdeutsche Erbe dem Zeitgeist geopfert, in: Süddeutsche Zeitung, 7. 9.1995, S. 13.
Lebenswege I. Johann Friedrich Böhmer München galt in den Jahren vor der Revolution von 1848 als eine Drehscheibe konservativer Strömungen aus allen Teilen Europas. Hauptsächlich im Hause des alten Joseph Görres versammelte sich eine Vielzahl gleichgerichteter Geister zum Austausch von Gedanken und Ideen über die bewegenden Themen der Zeit: Staat und Kirche, Volk und Nation - Geschichte und Gegenwart. 1 Zwar dominierte im Kreis um Görres das katholische Bekenntnis; doch auch Protestanten fanden sich ein. Regelmäßig kam etwa Johann Friedrich Böhmer aus Frankfurt am Main, seit er im Sommer 1833 auf einer Archivreise fur die „Monumenta Germaniae Historica" ein erstes Mal die Familie Görres aufgesucht hatte.2 Die Besuche in München flankierten den Gang seiner geistigen Entwicklung bis auf den Zenit seiner Schaffenskraft, den er im Laufe der vierziger Jahre erreichte. Im Januar 1848, unmittelbar „vor dem hereinbrechenden Sturme" stand Böhmer am Totenbett des „Propheten" Görres, dem es Gottes Gnade erspart habe, den Ausbruch der Revolution noch mitzuerleben, 3 und sah beunruhigt das Ende einer Epoche heraufziehen, deren relativ ruhigen Jahren sein eigenes Lebenswerk entsprungen war. Die beiden Neubearbeitungen seiner Kaiserregesten, in denen Böhmer jene von ihm selbst entwickelte Methode, mittelalterliche Urkunden auf ihre Essenz zu reduzieren und in dieser Essenz zu edieren, auf einen Höhepunkt gefuhrt
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Vgl. Franz Schnabel·. Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. IV: Die religösen Kräfte, Freiburg/Brsg. 1937, ND München 1987, S. 148/149 und 164/165; Joseph Galland: Joseph von Görres. Aus Anlaß seiner hundertjährigen Geburtsfeier in seinem Leben und Wirken dem deutschen Volk geschildert, Freiburg\Brsg. 21876, S. 407436; zu Görres und seinem Kreis in München vgl. auch u. S. 414-425. 2 Zur Biographie Böhmers vgl. in erster Linie Janssen, Böhmer's Leben und Briefe; ders.: Johann Friedrich Böhmer's Leben und Anschauungen. Bearbeitet nach des Verfassers größerem Werk, ebd. 1869; Kleinstück, Böhmer; Wilhelm Wattenbach: Art. „Johann Friedrich Böhmer", in: ADB 3, S. 76-78; Gottfried Opitz: Art. „Johann Friedrich Böhmer", in: NDB 2, S. 393/394. Die vorliegende Darstellung zieht noch zusätzlich den hsl. Lebenslauf Böhmers heran, den dieser „Auf wiederholtes Verlangen der Wiener Akademie der Wissenschaften" abfaßte (UB Frankfurt/M., NL Böhmer 1 A 4). 3 Böhmer an J. E. Kopp, 26.3.1848 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 511/512).
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hatte, waren nahezu abgeschlossen. Bereits seit 1844 lag deren eine Hälfte im Druck vor; die andere befand sich unmittelbar vor der Vollendung.4 Dabei hatte die Bestimmung zum „Urkundius Regestus"5 deutscher Geschichtswissenschaft keineswegs in Johann Friedrich Böhmers Wiege gelegen. Immerhin aber war seine persönliche Entwicklung bis zu der folgenreichen Begegnung mit dem Freiherrn vom Stein im Jahre 1823 nicht ohne eine gewisse Logik verlaufen. Vor allem seine ererbte materielle Unabhängigkeit, die ihn zeitlebens von der Notwendigkeit eines Brotberufes entband, war dem Sohn des Frankfurter Kanzleidirektors Carl Ludwig Böhmer zugute gekommen, hatte ihn in den Stand gesetzt, seine persönlichen Fähigkeiten zunächst suchend zu erproben und später völlig frei zu entfalten. Der vormals rheingräfliche Hofrat und Advokat im Herzogtum Zweibrücken, Carl Ludwig Böhmer hatte zu Beginn der 1790er Jahre ansehnlichen Grundbesitz aus den Händen der herzoglichen Familie erworben, den er durch die Wirren der Revolutionszeit, trotz der eigenen Übersiedelung zunächst nach Wetzlar und später nach Frankfurt, zu retten vermochte. Seit Carl Ludwigs Tod im November 1817 verwaltete sein Ältester Johann Friedrich zusammen mit der Mutter und den beiden Geschwistern diese „Böhmerschen Familiengüter". 6 Die Voraussetzungen dazu hatte er sich seit 1813 durch ein Studium der Jurisprudenz zuerst in Heidelberg, dann in Göttingen erworben, das ihm „wie durch ein Selbstverständniß" vorbestimmt war, sollte er doch auf den väterlichen Spuren in den Advokatenstand treten. Trotz „widerstrebender Anlage" hatte er sich „gewissenhafte Mühe" 7 gegeben und dieses Studium mit einem ,,Doktor beider Rechte" abgeschlossen, den er dem Vater noch auf dem Sterbebette präsentieren konnte. Freude bereitete ihm die Aussicht auf eine Anwaltslaufbahn in seiner Heimatstadt kaum; auch eine politische Karriere in der wiederhergestellten Freien Stadt Frankfurt lehnte er ab: die Wege, welche man nach der neuen Verfassung dazu gehen müsse, seien die seinigen nicht. 8
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Johann Friedrich Böhmer: Regesta Imperii inde ab anno MCCXLVI usque ad annum MCCCXIII. Die Regesten des Kaiserreichs unter Heinrich Raspe, Wilhelm, Richard, Rudolf, Adolf, Albrecht und Heinrich VII., 1246-1313. Neu bearbeitet, Stuttgart 1844; ders.: Regesta Imperii inde ab anno MCXCVÜI usque ad annum MCCLIV. Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV., Friedrich EL, Heinrich (VII.) und Konrad IV., 1198-1254. Neu bearbeitet, ebd. 1849. 5 So titulierte Clemens Brentano den Frankfurter Freund. Vgl. Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 195. 6 Kleinstück, S. 59. 7 Böhmer, Lebenslauf, Auf wiederholtes Verlangen..." (s. Anm. 2). 8 Ebd.
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Johann Friedrich Böhmer (1795-1863)
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In dieser Haltung offenbarte sich jedoch kein politischer Indifferentismus. Lebhaft hatte Böhmer schon als Student mit dem Vater über die Zeitereignisse korrespondiert, hatte in Göttingen die Vorlesungen Sartorius' über Politik und Finanzwissenschaft gehört, ja sogar die Ansicht geäußert, „daß dieß mein Fach und dieß der Lehrer war, der für mich paßte."9 Daneben waren aber auch Geschichte, Literatur und bildende Kunst früh in seinen Gesichtskreis gerückt: der Kunsthistoriker Fiorillo hatte ihn auf das Feld der letzteren geführt; er schwärmte für Goethe - nur vorübergehend - wie für Johannes von Müller - ein Leben lang. 10 So entdeckte sich Johann Friedrich Böhmer, den engen Bahnen seiner Kindheit und Jugend entkommen, während der Jahre seines Studiums als vielseitig interessiertes Talent, welches er nach dem Tode seines Vaters der trockenen Juristerei nicht ohne weiteres zu opfern geneigt war. Doch erst die Bekanntschaft mit der Boisseréeschen Gemäldesammlung in Heidelberg sowie der Entschluß zu einer italienischen Reise verhalfen seinem Leben zu einer festeren Richtung. „Vor den Bildern der Boisserée", schrieb er über seinen Heidelberger Besuch im September 1818, „habe ich alte Meinungen abgelegt. Die neuen will ich mir vollständig in Rom holen." 11 Vermeinte er, in diesen Kunstwerken - wie er später resümierte - eine echt „deutsche" und „christliche" Denkungsweise erkannt zu haben,12 so begeisterte ihn im Kreis der neudeutschen Maler in Rom der Schaffens- und Erneuerungsdrang einer aufbruchsbegierigen Jugend, welcher sich aus genau dieser Denkweise nährte und bestrebt war, aus ihr die Ideale einer neuen Zeit zu schöpfen. In „freundschaftlichem Verkehr" mit jenen b e s sern, mit denen [...], die da erkennen und thun", erwuchs ihm als „wichtigstes Resultat" der Rom-Reise „die erhöhte Schätzung und Liebe alles Vaterländischen."13 „Die Jugend", legte er in einem programmatischen Manifest „Von unserer Unzufriedenheit" seinen Studienfreunden Wippert und Pfeiffer dar, müsse sich auf allen Gebieten des Lebens erheben, um aus dem „Trieb zu neuerem besserem Leben", der sich im Bereich der Malerei zuerst geregt habe, „in Nach-
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Böhmer an seinen Vater, 5.4.1817 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 13). Die Briefe an den Vater bilden die wichtigste Quelle zu Böhmers Interessen während seiner Göttinger Studienzeit (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 1-14, 16-23); vgl. auch Kleinstück, S. 84-90. 10 Böhmer an seine Kommilitonen Wippert, 17.7.1817 und Schulz, 31.5.1818 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 14-16, 24-27). Über Böhmer in Göttingen vgl. auch u. S. 354-356; über den Einfluß Johannes von Müllers auf Böhmer S. 401-408. 11 Böhmer an Wippert, 10.9.1818 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 28). 12 Böhmer an Frau Sartorius, April 1823 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefen, S. 119). 13 Böhmer an Pfeiffer, 9.2.1819 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 31).
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ahmung des Alten" ein Neues zu schaffen und die Unzufriedenheit zu überwinden, „zur Ehre Gottes und des Vaterlandes." Jeder Einzelne sei gefordert, jeder auf seinem Felde. „Wir müssen die Zeit mit bilden helfen, sonst werden wir von ihr verworfen." 14 Böhmer versuchte, seine Unzufriedenheit auf dem Gebiet der bildenden Kunst zu bewältigen, nicht jedoch durch eigene künstlerische Produktion, sondern durch kunsthistorische und -philosophische Studien. Voller Anregungen und Pläne, mit mannigfachen neuen Perspektiven und Freundschaften kehrte er im August 1819 nach Frankfurt heim. Rege beteiligte er sich an der Entstehung der ersten Schrift seines Freundes Johann David Passavant,15 entwickelte zusammen mit diesem, dem Maler Julius Schnorr von Carolsfeld sowie den Kupferstechern Karl Barth und Samuel Amsler das Projekt einer Bilderbibel, 16 dachte an eine Geschichte der Architektur in Frankfurt, 17 ja an einen „Katalog der deutschen Kunstwerke", einen „deutschen Pausanias",18 und hielt kunstgeschichtliche Vorträge. 19 Die allgemeine politische Entwicklung im Jahr der Wiener Schlußakte, 1820, trat der Aufbruchstimmung allerdings empfindlich entgegen, enttäuschte ihn wie seine Freunde. „Es ist wieder die alte Leier und das langsame Wesen, wie vor der Franzosenzeit." 20 Waren die Erneuerungsbestrebungen ganz umsonst? Passavant müsse in seinem Buch, so mahnte Böhmer, deutlich herausarbeiten, aus welchem Grunde denn die neudeutschen Maler sich den alten mittelalterlichen Meistern zuwandten. „Kommst Du nun endlich auf die Künstler selbst, so kannst Du nicht weitläufig genug sein über den Hang zum Nachahmen des Altdeutschen, den man damals an ihnen bemerkte [...]. Es war ja damals die traurigste Zeit unseres Volkes, 1806, 1809, welche
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Böhmer an Wippert und Pfeiffer „Von unserer Unzufriedenheit", Rom 1818/1819 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 32-37). 15 Johann David Passavant: Ansichten über die bildenden Künste und Darstellung des Ganzen derselben in Toscana zur Bestimmung des Gesichtspunctes, aus welchem die neudeutsche Malerschule zu betrachten ist. Von einem deutschen Künstler in Rom, Heidelberg/Speyer 1820. Zur Mitarbeit Böhmers vgl. Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 77; Kleinstück, S. 111/112; aus kunsthistorischer Sicht: Kurt Karl Eberlein: Johann Friedrich Böhmer und die Kunstwissenschaft der Nazarener, in: Festschrift für Adolph Goldschmidt zum 60. Geburtstag, Leipzig 1923, S. 126-138 und Wilhelm Waetzoldt: Deutsche Kunsthistoriker, Bd. II, Leipzig 1924, S. 14-29 über Johann David Passavant. 16 Vgl. v.a. die Briefe Böhmers an Amsler, 24.1.1821, Barth, 16.2.1821, Passavant, 17.2.1821 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 69-76); Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 64/65; Kleinstück, S. 113. 17 Böhmer an Passavant, 4.8.1820 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 62). 18 Ders. an dens., 6.4.1821 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 84). 19 Kleinstück, S. 122-124. 20 Böhmer an Passavant, 16.1.1820 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 53).
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Jahre! Alle Kraft schien von uns gewichen, unwiderstehlich schienen die hochmütigen Sieger und Alles seufzte in der Unterdrückung. Was Wunder, daß edlere Gemüther einen Haß gegen das Fremde in sich empfanden, da die Fremden uns so mißhandelten; was Wunder, daß sie sich an unsere Vorzeit wandten, wo der Kraft, wenn auch ungeregelt und ungebildet, Fülle war; wo sich Religiosität aussprach, zu der ein gebeugtes Geschlecht hinneigte. [...] Vergiß mir ja nicht über diese Nachahmung des Altdeutschen zu sprechen [...]. Mache aufmerksam auf die in den alten Gemälden zu findende, den ächten Mann am meisten ansprechende Tiefe. [...] Und will man jetzt noch an sie anknüpfen, so gilt es nicht ihren dünnen Beinen, ihren Verzeichnungen, sondern vielmehr dem vollen Kunstleben jener ganzen besseren Zeit." 21 Böhmers eigener Blick weitete sich in den Jahren nach 1820 wirklich auf das „volle Kunstleben jener ganzen besseren Zeit", von der Malerei zur Skulptur zur Architektur, schließlich zur Literatur des hohen Mittelalters. Dabei blieb sein Hauptantrieb nach wie vor, die Kenntnis des Vergangenen in eine neugestaltete Gegenwart einzubringen, auch und gerade in einer Zeit, in der sich die Generation jener Erneuerer vom Restaurationskurs der realen Politik enttäuscht sah. „Im Übrigen kann mein Streben kein anderes Ziel haben als fur's Vaterland, und da nun in der Gegenwart nichts zu thun ist, so habe ich mich zur Vergangenheit gewendet, besonders zur Culturgeschichte des Mittelalters." 22 Auf diesem Wege gelangte er früh zu einem Urteil, das auch ein vierzigjähriges, der Geschichtsforschung gewidmetes Schaffen nicht wesentlich ändern sollte: „Nie hat Deutschland Größeres hervorgebracht, als im 13. Jahrhundert!" 23 Sah sich Böhmer durch jene Entwicklung auf eine bestimmte geistige Bahn gebracht, war sein äußerer Lebensgang hingegen noch vollkommen offen. Trotz materieller Unabhängigkeit wollte er nicht, konnte er nicht ganz auf einen ,3eruf ' verzichten. Allein durch Geistiges selig zu werden, liege ihm fern, er benötige das Gefühl eines Tagewerks, eines ehrlichen und weltlichen Geschäftes, das er mit Ernst, Wahrheit und Liebe betreiben könne. 24 Nach und nach wuchs er in ein solches Geschäft hinein, nachdem er im Sommer 1822 die Gelegenheit ergriffen hatte, nebenamtlich die Leitung mehrerer kleinerer Frankfurter Bibliotheken, meist ehemaliger Klosterbibliotheken zu übernehmen, die damals noch nicht mit der Stadtbibliothek vereinigt waren. 25 Zu diesem Schritt
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Ders. an dens., 18./31.8.1819 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 47). Böhmer an Amsler, 24.1.1821 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 72). 23 Böhmer an Passavant, 17.2.1821 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 79). 24 Böhmer an Melchior Diepenbrock, 21.12.1828 (BSB Schenkiana VI). 25 Zur Frankfurter Stadtbibliothek vgl. Friedrich Clemens Ebrard (Hg.): Die Stadtbibliothek in Frankfurt am Main, Frankfurt/M. 1896, zu Böhmers Wirksamkeit für diese ebd. S. 36-45; Werner Wenzel: Die Stadtbibliothek von 1668-1884, in: Klaus-Dieter Lehmann (Hg.), Bibliotheca Publica Francofurtensis. Fünfhundert Jahre Stadt- und Uni22
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trieb ihn auch Eigennutz: für seine kulturgeschichtlichen Studien wünschte er vor allem freien Zugang zu den Bibliotheken. 26 Als schließlich 1830 nach Fertigstellung des Neubaues der Stadtbibliothek auch deren Neuorganisation anstand, bewarb sich Böhmer um den Posten des Stadtbibliothekars. Nicht ohne Glück erhielt er diesen und begründete damit eine Ära. Erst 32 Jahre später, ein Jahr vor seinem Tode, reichte er beim Senat der Stadt Frankfurt um seine Entlassung ein. 27 Böhmers Wendung von der Kunst- und Kulturgeschichte des Mittelalters im weiteren Sinne zur politischen Geschichte oder vielmehr zu deren urkundlicher Überlieferung vollendete sich im Laufe der zwanziger Jahre parallel zu seiner Übernahme wissenschaftlicher Ämter in der Heimatstadt. Zur Bibliotheksstelle gesellten sich seit 1825 Aktivitäten für das Frankfurter Stadtarchiv. 28 Als er im darauffolgenden Jahr mit der Bearbeitung seines Frankfurter Urkundenbuches 29 aus den Schätzen jenes Archivs begann, war die Wendung im wesentlichen vollzogen. Die Gemäldesammlung der Gebrüder Boisserée hatte ihn zuerst eingeführt in eine Zeit, derer er sich sukzessive in allen ihren Zeugnissen bemächtigen wollte; der letzte Schritt dieses Aneignungsprozesses führte ihn zu den schriftlichen Überlieferungen, von der klassischen mittelhochdeutschen Dichtung zu den Geschichtsschreibern und Chronisten, von diesen zu den Urkunden, deren Unmittelbarkeit ihn tief faszinierte. „Diese staubigten Pergamene sind voll Tropfen geweihten Thaus, in denen der Himmel sich spiegelt und die um so klarer zu sein scheinen, je länger sich kein Mensch, sondern nur Gott im Himmel, der Alles weiß, daran erfreut hat." 30 Offenbarte sich in diesem frühen Zugang ein dunkler Drang, ein mystisches Sich-Versenken in eine idealisierte Vergangenheit eher denn pure Wissenschaftlichkeit, so stand doch der enge Bezug zur eigenen Zeit, wie schon im Falle der versitätsbibliothek Frankfurt am Main, Textband, Frankfurt/M. 1984, S. 57-117, über Böhmer ebd., S. 100-109. 26 Böhmer an Passavant, 8.8.1822 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 105/106). 27 Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 397-399 mit Böhmers Anstellungsgesuch von 1830 sowie seinem Entlassungsgesuch von 1862; Kleinstück, S. 188/189. 28 Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 130. 29 Das Urkundenbuch erschien 1836. Johann Friedrich Böhmer: Codex diplomaticus Moenofrancofurtanus. Urkundenbuch der Reichsstadt Frankfurt, Teil I, Frankfurt/M. 1836. 30 Böhmer an Clemens Brentano, 15.12.1826 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefen, S. 163). Vgl. auch Böhmers Ankündigung des „Codex diplomaticus" von 1829 bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΙΠ, S. 417-431, insbes. S. 418: „Stets gleichzeitige Nachrichten, zeigen sie [die Urkunden] die Sachen wie man sie damals sah und kannte, nicht wie man sie später dachte." Böhmer verteilte diese Ankündigung nur an Freunde, ohne sie in den Buchhandel gelangen zu lassen. Janssen verlieh dem Text im Wiederabdruck den Titel „Studienprogramm für Frankfurter Geschichte", gab ihn aber ansonsten, wie ein Vergleich mit dem Originalexemplar der BSB zeigt, wortgetreu wieder.
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kunstgeschichtlichen, so auch bei den historisch-diplomatischen Studien Böhmers in keinem Moment außer Frage. Die pflichtbewußte Actio des tätigen Einsatzes für die Gegenwart blieb einer der Hauptcharakterzüge Böhmers ein Leben lang. 31 „Ich darf es sagen, daß nicht Neugierde, Ehrgeiz oder bloße Liebhaberei mich bei diesen Studien antrieben. Es war die Liebe zum Vaterland, die Überzeugung, daß die Kenntniß der Vergangenheit belehrend für die Gegenwart sein könne, die Hoffnung, daß das Wahre zum Guten fuhren möge." 32 Was Böhmer 1846 auf der Höhe seines Erfolges solchermaßen kennzeichnete, hatte ihn 23 Jahre zuvor in den Gesichtskreis eines Mannes geführt, der aus sehr ähnlichen Antrieben heraus das Konzept einer Institution entwickelte. Böhmer war bestens informiert über jene „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde", welche der Freiherr vom Stein 1819 gegründet hatte. Bewegte er sich doch selbst in den reichsbürgerlich-konservativen Zirkeln Frankfurts, in denen die Bestrebungen des Freiherrn rege Unterstützung fanden. Im Gegensatz zum jüngeren Böhmer erinnerten sich diese älteren Persönlichkeiten noch lebendiger, aus tiefer sitzenden eigenen Erfahrungen an die Spätzeit des Heiligen Römischen Reiches, an die Zeit vor dem Umsturz. Wie er suchten sie an jene Traditionen anzuknüpfen, sie wiederzubeleben. Schöff Metzler, Vertrauter Carl Ludwig Böhmers nahm sich auch des Sohnes an, führte ihn ein in die Kreise um Rat Johann Friedrich Heinrich Schlosser und dessen Frau Sophie Du Fay, um den Bürgermeister Johann Gerhard Christian Thomas, um Marianne Willemer - Goethes „Suleika" und Brentanos „Großmütterchen"-, um den Stadtgeschichtsschreiber Johann Karl Fichard. 33 Letzterer, „der bedeutendste Historiker Frankfurts, den es je hatte", 34 dessen Einfluß Böhmer nachhaltig zu geschichtlichen Studien drängte, ihn insbesondere für die Stadtgeschichte Frankfurts gewann, stellte Böhmer am 11. März
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Vgl. etwa den Brief an Passavant vom 30.6.1822 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 103): „Nein! ich halte dafür, daß man eben die ächteste Contemplation mit dem activen Leben verbinden könne und solle. Wenn wir den sicheren Schatz im Herzen tragen, dann kann das äußere Leben uns nichts anhaben, wir aber können handelnd und duldend durch seine Bewegung das Göttliche hindurchfuhren und hinüber retten." 32 Böhmer an Superintendent Schaubach, 2.6.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 442). 33 Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 92-96; Kleinstück, S. 146-159. Böhmer selbst verfaßte zwei ausführliche Nekrologe auf Bürgermeister Thomas und Rat Schlosser (wiederabgedruckt bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΠΙ, S. 469-484). 34 Böhmer an Passavant, 1.5.1823 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 124); vgl. auch Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 96. Fichard veröffentlichte 1819 seine „Entstehung der Reichsstadt Frankfurt", die als Vorstudie zu einer ausführlichen Geschichte Frankfurts gedacht war. Wegen zunehmender Erblindung konnte er diese jedoch nicht mehr ausführen. Er starb 1829; vgl. E. Kelchner, in: ABD 6 (1877), S. 759/760. 6 Brechenmacher
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1823 dem Freiheim vom Stein vor. 35 Sofort brachte dieser dem jungen Mann großes Vertrauen entgegen, ja berief ihn einige Tage darauf als Mitglied der Gesellschaft in deren „Central-Direction". Böhmer bewährte sich in verschiedenen Aufgaben und wuchs schließlich seit dem Februar 1824 in die Position eines geschäftsführenden Sekretärs der Gesellschaft, zum zweiten Mann neben dem ebenfalls neu bestellten wissenschaftlichen Leiter Georg Heinrich Pertz. 36 Stein, in jener Phase seines Unternehmens dringend auf der Suche nach Persönlichkeiten, die sich der Herausgabe mittelalterlicher Geschichtsquellen in großem Stil gewachsen zeigten, bewies in der Wahl der beiden jungen Gelehrten treffliche Menschenkenntnis. Aus der fruchtbaren, auch spannungsgeladenen Zusammenarbeit Pertz' und Böhmers heraus etablierte sich in den Jahren bis zum Tode des letzteren eine wirklich „nationale", eine der noch gegenwärtig bedeutendsten geschichtswissenschaftlichen Einrichtungen Deutschlands.37 Der Eintritt in die „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde" blieb damit nicht ohne entscheidende Folgen für Böhmers weiteren Lebenslauf. Die Phase romantischer Schwärmerei nahm ein allmähliches Ende, sein Zugriff auf die Vergangenheit gestaltete sich exakter, systematischer, wissenschaftlicher. Gleichzeitig lockerten sich die Bande zur bildenden Kunst, nicht zuletzt auch infolge frustrierender Erfahrungen in der Administration des Städelschen Kunstinstitutes, der er seit 1822 angehörte. 38 Ein langwieriger Rechtsstreit um die Gültigkeit des Stiftertestamentes lähmte die Aktivitäten dieses Institutes auf Jahre und verwickelte Böhmer in zeitraubende juristische Spitzfindigkeiten, die ihn langweilten. Auch konnte er sich mit seinen Bestrebungen, das „Städel" in eine Pflanzstätte der neudeutschen Malerschule zu verwandeln, Overbeck nach Frankfurt zu ziehen sowie die Boisseréesche Sammlung zu erwerben, gegen
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Janssen, Böhmens Leben und Briefe I, S. 123; Kleinstück, S. 193/194. Böhmer an Frau Sartorius, April 1823 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 120): „Herr von Stein hat viel Zutrauen zu mir gefaßt und wollte mir, außerdem daß er mich in die künftigen Sitzungen der Central-Direction berief, noch größere Beweise seines Vertrauens in wichtigen, weitaussehenden Aufträgen geben." Weiterhin Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 125; Kleinstück, S. 189-202; Georg Heinrich Pertz: Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein, Bd. V, Berlin 1854, S. 790 und VI, Berlin 1855, S. 65; Harry Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, Hannover 1921, S. 121-124, 134-136, 146/147; ein knapper Überblick über die Geschichte der „Monumenta" bei Herbert Grundmann: Monumenta Germaniae Historica 1819-1969, München 1969. 37 Vgl. Grundmann, S. 3/4. - 1994 feierten die „Monumenta" ihr 175jähriges Bestehen; vgl. den Festvortrag von Horst Fuhrmann: Gelehrtenleben. Über die Monumenta Germaniae Historica und ihre Mitarbeiter, Sonderdruck München 1994. 38 Böhmer an Passavant, 14.2.1823 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 114/115; auch ebd. I, S. 92). 36
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seine Mitadministratoren nicht durchsetzen. 39 1834 gab er die Stelle auf; in Rückblicken auf sein Leben betrachtete er die Arbeit fur das Städelsche Institut als nutzlos und verloren.„Die viele Zeit, welche ich dieser Anstalt, auf welcher kein Segen ruht, vergeblich gewidmet habe, thut mir leid." 40 Mit umso größerem Elan stürzte er sich in die Geschichtsforschung. Nachdem Pertz und der Freiherr vom Stein unter Zustimmung der Mitglieder der „Central-Direction" im sogenannten „Cappenberger Programm" eine zukünftige Einteilung der „Monumenta" in fünf Abteilungen vorbereitet hatten,41 und Böhmer neben seiner Tätigkeit als Sekretär auch wissenschaftliche Arbeiten für die Gesellschaft übernehmen wollte, lag es ihm, dem Bearbeiter des „Frankfurter Urkundenbuches", nahe, sich der dritten Editionsgruppe, den „Diplomata", zu widmen. 42 Er begann zu reisen und zu sammeln. Hatte er jedoch schon als Grundlage für das relativ übersichtliche Urkundenbuch „Frankfurter Regesten" erstellt, 43 erschien es ihm nun umso notwendiger, solche kurzgefaßten Verzeichnisse auch als Basis einer Rekonstruktion des komplexen „Registrum Imperii" des vollständigen Urkundencorpus der deutschen Könige und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches seit den Karolingern - anzufertigen. Seit vier Wochen, berichtete er am 23. März 1829 dem Freiherrn, habe er „ein Verzeichniß der Kaiserurkunden bis auf den Tod Heinrichs VII. begonnen." Dieses Unternehmen sei „die unentbehrliche Grundlage für die diplomatische Abtheilung der Monumenta." 44 So erwuchs aus der Arbeit für die Monumenta, deren Zielsetzung ja darin bestand, die Dokumente selbst zu edieren, Böhmers eigenste wissenschaftliche Aufgabe. Mehr und mehr verselbständigte er sich mit dieser, emanzipierte sich vom eigentlichen Geschäft der Monumenta. Den 22. Februar 1829 feierte er in späteren Jahren regelmäßig als das Initiationsdatum seines Lebenswerkes: „Seit der edle Stifter der gesellschaft für ältere deutsche geschichte mich im märz 1823 zur mitwirkung berief, gab ich mich, wie meiner
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Dazu ausführlich Kleinstück, S. 133-138. Böhmer an Superintendent Schaubach (s. Anm. 32), S. 441. Ähnlich äußert er sich auch in dem Lebenslauf für die Wiener Akademie (s. Anm. 2). 41 August 1823; vgl. Pertz, Stein V, S. 824-826; Bresslau, Geschichte der MGH, S. 130/131 und 137-140: der endgültige Editionsplan vom Februar 1824; Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 124/125. Die fünf Abteilungen: Scriptores - Leges Diplomata - Epistolae - Antiquitates. 42 Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 152-154; Bresslau, Geschichte der M G H S. 170-173. 43 Böhmer, Studienprogramm (s. Anm. 30), S. 419/420 sowie Vorrede zum Codex diplomaticus Moenofrancofurtanus. Zum Begriff der Regesten, vgl. unten S. 274-276 und 279-281. 44 Böhmer an Freiherrn vom Stein, 23.3.1829 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 184); vgl. hierzu auch Böhmers Korrespondenz mit Pertz, bei Bresslau, Geschichte der MGH, S. 171/172. 40
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unkenntniss geziemte und mein guter wille mich antrieb, dem anstoße hin, der mich berührte, und suchte ich als untergeordneter mitarbeiter nach kräften zu fordern, was so rühmlich entstand. Als aber das hauptwerk in seinem fortschritt gesichert schien, und ich in dieser schule mitgelernt hatte, da folgte ich meiner eigenen eingebung, oder vielmehr dem beruf meines standpunctes und machte mir seit dem 22 februar 1829, als dem tage, an dem ich die kaiserregesten begann, eigene bahn." 45 Von geringfügigen Ausbrüchen abgesehen, verließ er diese Bahn seit jenem 22. Februar nicht mehr. 1831 erschienen die Kaiserregesten von 911-1313, die Regesten der Karolinger 1833, 1839 die Regesten Ludwigs des Baiern. 46 Mit dem Geschaffenen selten zufrieden, arbeitete er ständig an der Vervollkommnung und Ergänzung jener Werke: die höchste Stufe seiner Regestentechnik erreichte er mit den beiden Teilen der Neubearbeitung des Bandes von 1831, den Kaiserregesten von 1246-1313 (1844) und von 1198-1254 (1847/49). 47 Er hatte sein lange gesuchtes ,,Patmos" 48 , seine Berufung gefunden. Das sei ihm, wie er dem Superintendenten Schaubach rückblickend gestand, sauer geworden, und es habe lange gedauert, bis er zu Leistungen auf jenem Gebiete überhaupt fähig war. „Ich habe darum auch alle Kraft daran gesetzt, und auf Anderes, was rechts und links zur Seite verlocken konnte, weniger geachtet. So bin ich unverheirathet geblieben. In der That wäre es mir auch schwer gewesen, eine Genossin meiner idealen Richtungen zu finden, zumal hier in Frankfurt." 49 Böhmer blieb als Stadtbibliothekar in Frankfurt, bis zuletzt, ungeachtet mancher Pläne, fortzugehen, gar auszuwandern. 50 Das waren Gedankenspiele. Im Grunde genommen fühlte er sich zu tief verwurzelt in jenem alten reichsbürger45
Johann Friedrich Böhmer (Hg.): Martyrium Amoldi Episcopi Moguntini und andere Geschichtsquellen Deutschlands im zwölften Iahrhundert, Stuttgart 1853 (= Fontes Rerum Germanicarum. Geschichtsquellen Deutschlands, Bd. 3), Vorrede, S. VIII. 46 Johann Friedrich Böhmer: Regesta chronologico-diplomatica regum atque imperatorum Romanorum inde a Conrado I. usque ad Henricum VII. Die Urkunden der römischen Könige und Kaiser von Conrad I. bis Heinrich VII. (911-1313), Frankfurt/M. 1831; ders.: Regesta chronologico-diplomatica Karolorum. Die Urkunden sämtlicher Karolinger in kurzen Auszügen, Frankfurt/M. 1833; ders.: Regesta Imperii inde ab anno 1314 usque ad annum 1347. Die Urkunden Kaiser Ludwigs des Baiern, König Friedrichs des Schönen und König Johanns von Böhmen, Frankfurt/M. 1839. 47 S. Anm. 4. 48 Nach einem solchen „Patmos" sehnte er sich einmal in einem bekenntnisreichen Brief an Clemens Brentano (31.1.1824 - Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 145/146). 49 Böhmer an Schaubach (s. Anm. 32), S. 443. 50 V. a. während der Revolutionsjahre 1848/49 dachte Böhmer an eine Auswanderung nach Nordamerika oder Australien. Vgl. die Briefe an Kopp, Stälin, Guido Görres und Alexander Kaufmann von Oktober 1848 bis Januar 1849 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefeil, S. 519-527).
I. Johann Friedrich Böhmer
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liehen Boden Frankfurts, den noch die Kreise um Schlosser, Thomas, Fichard verkörperten. Ganz selbstverständlich entwickelte Böhmer in dieser Gesellschaft auch ein waches Interesse für die konfessionellen Probleme der Zeit. In Rom ein erstes Mal eingehend mit dem Katholizismus konfrontiert, hatte sich die Auseinandersetzung des Lutheraners mit dem „Sacerdotium" durch seine Hinwendung zur Geschichte des Mittelalters ohnehin bereits vertieft. Im übrigen herrschte in den Kreisen der konservativen Frankfurter Intellektuellen, vor 1837 allemal, eine eher „gesamtchristliche" Atmosphäre, die das interkonfessionelle Gespräch durchaus forderte. Das konvertierte Ehepaar Schlosser verkehrte freundschaftlich mit der Familie des lutherischen Bürgermeisters Thomas.51 Bei diesem wiederum konnte Böhmer den seit 1817 katholischen Clemens Brentano kennenlernen und eine facettenreiche Beziehung zu dem Dichter anknüpfen, die schließlich in Böhmers intensive Sorge um den Erhalt der Werke Brentanos mündete.52 Im gastfreundlichen Salon des Bürgermeisters stellte sich auch Joseph Görres ein, 53 von Böhmer seit seiner Jugend innig verehrt. 54 1824, während einer Reise ins Elsaß, hatte er Görres in Straßburg ein erstes Mal besucht;55 die Familie hingegen war ihm schon vier Jahre länger bekannt, von einer Visite im Görresschen Haus zu Koblenz. 56 Besonders Sohn Guido trat ihm aus dieser Familie nahe; dessen früher Tod sollte Böhmer 1852 besonders schmerzen. 57 So zurückgezogen, ja eigenbrötlerisch Böhmer lebte - zusammen mit Mutter und Bruder, nach beider Ableben allein in dem Haus am Großen Hirschgraben, dem „dritten abwärts vom Göthehaus"58 - , so intensiv pflegte er doch tiefempfundene Freundschaften - eine Haltung, die er sich aus seiner „romanti-
51 Zu Schlosser und Thomas vgl. die beiden Nachrufe Böhmers (s. Anm. 33); zu Schlosser und seinem Heidelberger Kreis zusätzlich u. S. 410-414. 52 Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 101-111; vgl. auch die Briefe Böhmers an Brentano, ebd. Π; Kleinstück, S. 165-171; Wolfgang Frühwald: Brentano und Frankfurt, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1970, S. 226-243. 53 Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 101. Zum Thomas-Kreis vgl. Böhmer, Nachruf auf Thomas, (s. Anm. 33), S. 475: „Wären die Vielen zu nennen, welche hier eintraten, Deutschland würde darunter von seinen edelsten Namen finden." 54 Böhmer an Karl Mosler, 10.9.1820 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 66/67). 55 Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 127/128. 56 S. Anm. 54. 57 Böhmer an Maria Görres, 31.7.1852 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΙΠ, S. 64-66). 58 Böhmer an Fridegar Mone, 20.12.1855, zit. nach: Friedrich von Weech{Hg.): Briefwechsel Johann Friedrich Böhmers mit Franz Joseph Mone und Fridegar Mone, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N.F. 16 (1901), S. 422-463 und 650-690, hier S. 658.
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Lebenswege 59
sehen" Frühzeit bewahrt hatte - und regen, nicht nur fachwissenschaftlichen Gedankenaustausch mit unzähligen Briefpartnern. Selbst die umfangreiche Edition Janssens erfaßt nur einen Bruchteil der ausgedehnten Korrespondenz Böhmers. 60 Rastlos schaffend vereinsamte Böhmer in den späteren Jahren seines Lebens in Frankfurt. Thomas war bereits 1838 gestorben, Brentano 1842, Görres 1848. Schnell aufeinanderfolgende Todesfalle im engsten Verwandten- und Bekanntenkreis zu Beginn der fünfziger Jahre stürzten ihn in tiefe Resignation,61 die seine Unzufriedenheit über die Zeitläufe nur verstärkte. Angesichts der Veröffentlichung von Briefen Brentanos und Görres' klagte er 1858 Maria Görres gegenüber: „Sonst hat mich freilich bei diesen Briefen noch etwas Anderes wehmüthig berührt: der große Kreis Befreundeter vor etwa 30 Jahren und der Werth, der Jeden auszeichnete, verglichen mit der Armuth heute." 62 Nicht nur auf sein eigenes Leben, seine eigenen Verhältnisse bezog sich Böhmers Eindruck von der Armut der Gegenwart - auch die politischen Entwicklungen seit den späten vierziger Jahren bereiteten ihm zunehmend Sorge. Sie ließen sich so nicht ableiten aus seinem Geschichtsbild, nicht begründen aus dem Gebäude seiner Wertvorstellungen. Ein Hauch von trauriger Melancholie, von Zukunftsangst umzieht das Bild des ahnungsvollen Historikers Johann Friedrich Böhmer am Sterbebett von Joseph Görres im Januar 1848. Zaghaft regte sich in ihm das Bewußtsein einer bevorstehenden Zäsur. „In einer der letzten Stunden sagte er [Görres]: ,Verrottete Völker leben nicht wieder auf.' Sollte das uns Deutschen, uns Europäern gegolten haben, sollte in innern Kämpfen und Wühlereien die Suprematie nunmehr zu Ende gehen, die wir über die Welt behaupteten?"63
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So hatte er am 19.10.1817 an seine Schwester geschrieben: „Ich halte [...] dafür, daß außer Wissenschaft und Kunst und dem Genuß der Natur [...] meine Freunde es sind, welche mir das Leben eigentlich werth machen." (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 23); eine Selbstcharakteristik Böhmers als „Romantiker" bei Janssen, Böhmens Leben und Briefe I, S. 100. 60 Stellvertretend sei nur auf den erst viel später edierten, äußerst gehaltreichen Briefwechsel Böhmers mit Fridegar Mone hingewiesen (s. Anm. 58). 61 Rat Schlosser starb im Januar, Böhmers Bruder Johann Georg im Juni 1851, Guido Görres im Juli 1852. 62 Böhmer an Maria Görres, 6. 3. 1858 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΙΠ, S. 236). 63 Böhmer an Kopp, 26.3.1848 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 512). Auch in der Vorrede zu seinen Kaiserregesten 1198-1254 erinnert Böhmer an jene Szene sowie an das „Mene, Mene, Tekel" des „grossen rheinischen sehers" (S. LXVI b ).
II. Friedrich Emanuel Hurter
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Π . Friedrich Emanuel Hurter Böhmer verkehrte m i t Friedrich Emanuel H u r t e r 6 4 seit er auf seiner Schweizerreise v o n 1837, die i h m so viele dauerhafte Beziehungen i n dieses Land brachte, den reformierten Pfarrer und damals noch amtierenden Antistes i n Schaffhausen kennengelernt hatte. 6 5 Hurter hatte den Besuch i m selben Jahr noch erwidert, zwar Böhmer selbst nicht angetroffen, aber doch i n Frankfurt Kontakte geknüpft zu den Kreisen u m Bürgermeister Thomas und Rat Schlosser sowie zu dem Buchhändler Schmerber. 66 Da er „einen besonderen Wert darauf setze, Söhne i n Städten unterzubringen, i n welchen ich auf Freunde zählen durfte", 6 7 war er bereits i m darauffolgenden Jahr i n Begleitung seines Sohnes Friedrich Benedikt erneut i n Frankfurt erschienen: Friedrich Benedikt sollte bei Schmerber eine Buchhändlerlehre absolvieren, u m anschließend den Buchverlag der Familie Hurter i n Schafïhausen zu übernehmen. 6 8
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Zur Biographie Hurters vgl. Friedrich Emanuel Hurter: Ausflug nach Wien und Preßburg im Sommer 1839, 2 Bde., Schafïhausen 1840; ders.: Geburt und Wiedergeburt. Erinnerungen aus meinem Leben und Blicke auf die Kirche, 2 Bde., Schafïhausen 2 1846/1847 (im folgenden GuW); C[arl] Mfaegis]: Die Schaffliauser Schriftsteller von der Reformation bis zur Gegenwart, biographisch-bibliographisch dargestellt, Schaffhausen 1869, S. 29-32; H. Hurter, F. Hurter; Franz Xaver Wegele: Art. „Friedrich Emanuel Hurter", in: ADB 13 (1881), S. 431-444; David August Rosenthal: F. von Hurter, in: Ders., Convertitenbilder aus dem 19. Jahrhundert, Bd. 1,2, Regensburg 31892, S. 284325; Eugen Is eie: Antistes Friedrich Hurter und seine Zeit, in: Festschrift zum Hundertjährigen Bestehen der Katholischen Genossenschaft Schaffhausen 1841-1941, Schaffhausen 1941, S. 105-154; Vogelsanger, Weg nach Rom; Karl Schib: Friedrich Emanuel Hurter, in: Schaffhauser Beiträge zur vaterländischen Geschichte 33 (1956), S. 210227; Markus Lischer: München als Zentrum und Ziel. Studien zum Briefwechsel von Friedrich Hurter mit besonderer Berücksichtigung seiner Beziehungen nach Deutschland, Fribourg 1989 (masch. Lizentiatsarbeit, Univ. Fribourg/Schweiz). 65 Böhmer an Jacob Thomas, 25. 5. 1837 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 248). Über Böhmers Reise von 1837 und die neuen Schweizer Beziehungen - neben Hurter zu Heinrich Maurer-de Constant, Ludwig und Gerold Meyer von Knonau sowie v.a. zu Joseph Eutych Kopp - vgl. Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 196-201 und Alois Lütolf: Joseph Eutych Kopp als Professor, Dichter, Staatsmann und Historiker, Luzem 1868, S. 146/147. 66 Böhmer an G.W. von Raumer, 14.10.1837 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 256/257); Hurter, GuW I. S. 356/357. 67 Hurter, GuW I, S. 397. 68 Lischer, S. 60/61; Hurter, GuWI, S. 397-400. Zu Friedrich Benedikt und dem Hurterschen Buchverlag vgl. auch Reinhard Frauenfelder: Der Verlag Hurter in Schaffhausen im Dienste der katholischen Wissenschaft, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 41 (1947), S. 51-57.
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Lebenswege
In den drei Jahren von 1838 bis 1841 entstand zwischen dem eigenbrötlerischen Böhmer und dem jungen Hurter eine Art Freundschaft, die ihre Fortsetzung in einem regen Briefwechsel fand. Auf diese Weise riß auch der Kontakt Böhmers zum Vater Friedrich Emanuel nicht ab. So schrieb Böhmer am Tag nach der Abreise Friedrich Benedikts aus Frankfurt an Friedrich Emanuel Hurter, um diesem sein Wohlgefallen über den Sohn auszudrücken. Gegen Ende des Briefes ging er auf die schwierige Stellung des alten Hurter selbst in Schaffhausen ein: „Daß ich an Allem, was Ihnen, hochverehrtester Herr Antistes, in diesen letzten Zeiten widerfahren ist, treuen und redlichen Antheil genommen habe, trauen Sie mir wohl schon selbst zu. [...] Jetzt kann ich Ihnen nach meiner besten Überzeugung nur Glück wünschen, daß Sie zwar dem Kampfe mit der numerischen Überzahl der kleinlich oder schlecht Gesinnten keineswegs zu leicht aus dem Wege gegangen sind, aber auch die Kraft, die auf die Länge dort im widrigen und doch erfolglosen Kreise vergeudet gewesen wäre, zu höherem und edlerem Berufe erhalten und gerettet haben." 69 Was war in Schafihausen geschehen? - Friedrich Emanuel Hurter hatte am 18. März 1841 das Amt des Antistes, des Vorstehers der evangelisch-reformierten Landeskirche, und die damit verbundenen Funktionen in kirchlichen und weltlichen Gremien niedergelegt. Vorangegangen waren erhebliche Auseinandersetzungen Hurters mit seinen ,Amtsbrüdern" - Gegnern aus den eigenen kirchlichen Reihen - als auch mit liberal orientierten Vertretern der kantonalen Staatsgewalt. Jene „Hurter-Wirren" des Jahres 1840 kulminierten in dem Vorwurf, der Antistes habe die neu gegründete katholische Gemeinschaft in Schaffhausen entschieden begünstigt, neige selbst dem Katholizismus zu, stehe also nicht mehr auf dem Boden reformierter Prinzipien. 70 Nicht ausschließlich religiös-konfessionelle Differenzen aber hatten den Konflikt auf die Spitze getrieben. Vielmehr kollidierte hierbei in einem engen Wirkungskreis eine ehrgeizige, hochtalentierte Persönlichkeit und ihr kompromißlos vertretenes Wertesystem mit einer gesellschaftlichen Majorität, die den Aufstieg dieses Wertesystems um keinen Preis hinnehmen konnte und wollte. Friedrich Emanuel Hurters Karrierebewußtsein stand im Widerspruch zu seiner undiplomatischen Starrheit, welche ihm nicht erlaubte, auch nur einen Zentimeter vom einmal bezogenen geistigen Standpunkt abzuweichen. Hurters Lebenslauf liefert reichlich Anhaltspunkte für eine solche Einschätzung, ja legt
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Böhmer an F. E. Hurter, 3.6.1841 (Samen, NL Hurter). En detail über die „Hurter-Wirren": Ernst Steinemann: Die geistigen Wandlungen in der Schaffhauser Staatskirche des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Schaffhauser Kirchengeschichte, in: Schaffhauser Beiträge zur vaterländischen Geschichte 36 (1959), S. 123-177, hier v.a. S. 137-141 und Karl Eschenmoser: Die Hurter-Wirren in Schaffhausen 1840/41, Basel 1974 (masch. Lizentiatsarbeit, Univ. Basel). 70
. Friedrich Emanuel Hurter
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nahe, in jener Konstellation den Grundwiderspruch zu erkennen, aus dem sich sein Werdegang entfaltete. 71 Von früh an spürte Hurter die Befähigung in sich, mehr zu erreichen als eine reformierte Landpfarrerstelle. Durch die Wahl des theologischen Faches beugte er sich einer alten Familientradition. 72 Gleichwohl behagte ihm die Aussicht auf eine Laufbahn als Pfarrer ebensowenig wie Böhmer diejenige auf den Advokatenstand. Am meisten mißfiel ihm dabei der Mangel an Büchern in den ländlichen Pfarreien, der ihn daran hindern würde, seinen wissenschaftlichen Neigungen nachzugehen: viel lieber hätte er eine Anstellung an einer Bibliothek gefunden. 73 Während des theologischen Studiums in Göttingen, das ihn - nach eigener Darstellung - nicht besonders ausfüllte, 74 hatte er bereits allerhand Nebenbeschäftigungen wissenschaftlicher Art kultiviert, nicht planlos, sondern durchaus mit Blick auf Zukünftiges. ,»Dagegen bewegte mich immer mehr der Gedanke, die Bearbeitung irgend eines Gegenstandes in der Absicht zu unternehmen, dieselbe bald möglichst durch den Druck bekannt zu machen. Dazu lockten die reichen Hülfsmittel der Universitätsbibliothek, der Kitzel, schon in früher Jugend mit einer gelehrten Arbeit vor der Welt zu erscheinen, am meisten aber die Hoffnung, hiedurch eine zusagende Laufbahn mir zu erößhen." 75 71
Dieser Ansatz stellt sich in einen gewissen Gegensatz zu der bedeutendsten neueren Arbeit über Hurter, der materialien- wie kenntnisreichen und tiefdringenden Biographie des protestantischen Pfarrers Peter Vogelsanger, „Weg nach Rom". Vogelsanger versucht, Hurters Leben in den Rahmen „romantischer Konversionsbewegung" der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einzuordnen. Er erkennt in dem Antistes „eine Persönlichkeit von reicher, scharfer Profilierung [...], die von Anfang an urkatholisch war in ihrem innersten Wesen und es nur immer bewußter wurde." (S. 223) Wenn Vogelsanger aus dieser Perspektive „alle Linien im Leben Hurters in jenem 16. Juni 1844 in Rom" konvergieren sieht (S. 224), reduziert er dessen Persönlichkeit zu einseitig auf den Katholizismus-Komplex. Quasi konditioniert, immer vom Ergebnis - der schließlichen Konversion - her argumentierend, wittert Vogelsanger in allen Äußerungen Hurters sofort die vermeintlich darin versteckte Katholizität, wobei er vor allem Hurters eigener retrospektiver Lebensstilisierung in GuW auf den Leim geht. Demgegenüber meine ich, auch andere Antriebe des Handelns Hurters betonen zu müssen, als jenen dunklen, an die Oberfläche drängenden Katholizismus: so etwa das angesprochene Spannungsverhältnis zwischen Karrieredrang und wertkonservativer Sturheit, aber auch die Opposition gegen eine Umwelt, die der Antistes als inferior, von falschen politischen Ideen fehlgeleitet betrachtete und die ihn fast notwendig ins weltanschaulich entgegengesetzte Lager treiben mußte. Da ich keine Biographie Hurters liefere, kann ich diese Auffassung unmöglich in der erforderlichen Ausführlichkeit auseinandersetzen, kann lediglich versuchen, sie in der kurzen Lebensskizze grundsätzlich herauszuarbeiten. 72 73 74 75
Isele, S. 105. Hurter, GuW I, S. 161/162. Ebd. I, S. 133/134. - Über Hurter in Göttingen vgl. u. S. 352-354. Ebd. I, S. 134.
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So kompilierte er eine Geschichte des Ostgotenkönigs „Theoderich", deren ersten Band - in der Hurterschen Familienbuchhandlung verlegt - er 1807 gleichzeitig mit seinem theologischen Examen präsentierte. 76 Johannes von Müller, der Landsmann, dankte dem zwanzigjährigen Verfasser brieflich für das ihm zugesandte Exemplar und attestierte ihm bereitwillig historiographisches Talent. 77 Allein, auch das prominente Lob half Friedrich Emanuel wenig; ihm blieb nichts anderes übrig, als den ungeliebten Weg in die Landpfarrei anzutreten. Diese Laufbahnentscheidung paralysierte ihn zwar für einige Zeit etwas,78 konnte ihn jedoch nicht ernsthaft bremsen. Als seit 1813 der Stern Napoleons schneller und schneller sank und sich auch in der Schweiz die Frage nach Restauration oder Reformation des Gemeinwesens drängender stellte, begann Friedrich Emanuel seine publizistische Tätigkeit für den ,Allgemeinen Schweizerischen Correspondenten": zusammen mit dem Bruder Franz übernahm er die Redaktion der im väterlichen Zeitungsverlag erscheinenden „Schaffhauser Zeitung", kleidete diese in neuen Titel und neues Gewand und etablierte mit dem „Correspondenten" in den folgenden Jahren ein weitschallendes Sprachrohr schweizerischer Restaurationspolitiker. 79 Hier zuerst fand Hurter das Mittel, vor größerem Publikum seine „antirevolutionären Gesinnungen zu befestigen, auch wohl kund zu geben." 80 Hurter meldete sich zu Wort, ergriff Initiative, besonders in Kirchen- und Schulangelegenheiten, setzte sich ein für die Hebung des geistlichen Standes, für die Beibehaltung des Heidelberger Katechismus als des verbindlichen Kodex reformierter Glaubenslehre, für die Reform der Gymnasien.81 Das brachte ihn schnell voran. Seit 1824 als Münsterpfarrer in die Stadt berufen und damit an die zweite Stelle innerhalb der kantonalen Geistlichkeit gerückt, betrieb er umsichtig seine Wahl zum ersten Mann, zum Antistes. Sein rückblickendes Understatement verrät genügend über die Kraft, die ihn motivierte: „Es darf nun 76
Friedrich [Emanuel] Hurter: Geschichte des ostgothischen Königs Theoderich und seiner Regierung, 2 Bde., Schaffliausen 1807/1808. 77 Zu Hurter und Müller vgl. u. S. 392. 78 Hurter, GuWI, S. 185: „Ich habe daher nie weniger gearbeitet, nie meine Zeit leichtfertiger verdämmert, als in den Jahren von 1809-1814." Nicht so sehr als Ausdruck tatsächlicher Faulheit, eher als Äußerung der Unzufriedenheit sollten diese Worte wohl verstanden werden. 79 So Schib, S. 216. Zum,Allgemeinen Schweizerischen Correspondenten" vgl. Hurter, GuW I, S. 196/197; H. Hurter, F. Hurter I, S. 44; Frauenfelder, S. 52; Isele, S. 106. 80 Hurter, GuWI, S. 196. 81 Ebd. I, S. 206-210 (Geistlichkeit), 220-223 (Heidelberger Katechismus), ebd. 215-219 (Gymnasien); H. Hurter, F. Hurter I, S. 54-56. Hurter nahm zu diesen Problemen auch schriftlich Stellung. Vgl. etwa Friedrich [Emanuel] Hurter: Über Schuleinrichtungen in einem Freistaat, Schafïhausen 1821; ders.: Für den Heidelberger Katechismus. Ein Votum, ebd. 1828.
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wohl gestanden werden, daß ich [...] immer blos an mich selbst [als neuen Antistes, Th. B.] dachte, nicht, weil ich glaubte, ich wäre gelehrter, würdiger, tüchtiger als Andere, sondern blos weil ich ahnete, es würde kein Anderer so wie ich den Willen zu einem Versuch in sich tragen: ob der Geistlichkeit ein Bewußtseyn ihres Standes eingeflößt, ob sie in demselben zu einem Ganzen vereinigt und ihr hierdurch eine würdigere Haltung und eine einflußreichere Stellung könnte verschafft werden." Hurter betrachtete sich „als eine Notwendigkeit für die Geistlichkeit." 82 Solch willensgetriebenes Karrierestreben in Verbindung mit entschiedener Neigung zu Standesbewußtsein und straffer hierarchischer Organisation mobilisierte Gegner, führte zum ersten Knick in Friedrich Emanuels Laufbahn. Wider Erwarten sah sich Hurter bei der Antistialwahl vom Januar 1833 übergangen, unter Verletzung einer alten Tradition, die dem zweiten Mann hinter dem Antistes ein regelrechtes jus succedendi garantierte. Erst zwei Jahre später sollte er zum Zug kommen. 83 Alle Konfliktpotentiale, welche 1840/41 zum großen Krach und schließlich zum Rücktritt des Antistes Friedrich Emanuel Hurter führten, waren zum Zeitpunkt dieser ersten Niederlage von 1833 bereits angelegt. Der aristokratischhierarchische Zug seiner Persönlichkeit, der ihm die Überzeugung eingab, der einzig Geeignete zu sein für das höchste Amt seiner Landeskirche, weist zurück auf die weltanschauliche Basis Hurters. In eben jenen Jahren seines Aufstiegs festigte diese sich mehr und mehr, versteifte sich solchermaßen, daß sie schließlich in strikten Gegensatz zu den Bedingungen dieses Aufstiegs geraten mußte. Als Sohn einer traditionsreichen Schaffhausener Familie 84 sehr stark in den politischen Formen der alten Eidgenossenschaft verwurzelt, prägte zunächst die Ablehnung der Französischen, späterhin die Ablehnung jeglicher Art von Revolution sowie - positiv formuliert - die streng legitimistische Verteidigung aller althergebrachten gewachsenen Ordnungen das Hurtersche Weltbild, welches er sich in dem Wappenspruch „Parta tueri" - „Gegebenes schirmen" - auf die kürzeste Formel brachte. 85 Eigenes Erleben scheint dieses Weltbild von Anfang an geprägt zu haben. Zumindest erhebt Hurter in seiner rückblickenden Selbststilisierung persönliche Schlüsselerlebnisse zu Fixpunkten seiner Entwicklung. So zeichnet er sich als den sechsjährigen Knaben, der die elterliche Entrüstung über die Hinrichtung Ludwigs XVI. durch die „Blutmenschen" der Revolution ganz zur eigenen erklärt und glühend österreichisch gesinnt alle Hoflhungen in das kaiserliche Heer setzt, welches den „zerlumpten Sanscülotten-Haufen"
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Hurter, GuW I, S. 223/224. Ebd. I, S. 279-285; H. Hurter, F. Hurter I, S. 58-60; Schib, S. 221; Isele, S. 124. Hinter, GuW I, S. 7-13; H. Hurter, F. Hinter I, S. 1-4; Schib, S. 210/211; Isele, S. 105. Hurter, GuW I, S. 4-7.
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schon werde Paroli bieten. 86 Er reflektiert über die innerste Triebkraft seiner Werturteile wie seines späteren politischen Handelns und stößt auf einen fanatischen „Haß gegen Unrecht", dessen Wurzel er ebenfalls in die Zeit frühester Kindheit verpflanzt: „Eine Gesinnung vorzüglich, die dann in dem Verfolg der Jahre immer mehr sich ausbildete und festigte, also daß ich sie wohl eine der Grundkräfte meines Lebens nennen mag, faßte in früher Kindheit schon Wurzel: entschiedener Haß gegen alles und jedes Unrecht, in welcher Art und gegen wen und durch wen immer es verübt werden mochte. Hiezu aber zähle ich auch Alles, was in Beiseitesetzung wohlerworbener Rechte und hierauf begründeter Ordnung durch wühlerische Mittel [...], will erstrebt werden, oder an das Ziel gelangt." 87 Er erinnert sich an den ersten Besuch Carl Ludwig von Hallers im väterlichen Hause und konstruiert eine Linie von diesem Besuch über den Eindruck, den 1808 dessen „Handbuch der allgemeinen Staatenkunde" auf ihn ausübte, bis zum späteren intensiven Verkehr mit dem alten Haller. 88 Er gedenkt des Aufenthalts im Kloster St. Blasien, dessen Aufhebung er, vom Göttinger Studium zurückkehrend, miterlebte. Zweierlei Aspekte jenes Erlebnisses scheinen ihm dabei besonderer Erwähnung wert: wie die Schließung der altehrwürdigen, gewachsenen Institution sein Rechtsgefühl tief verletzte, und, wie sein Gemüt von den Formen des katholischen Ritus ein erstes Mal ergriffen wurde, ohne mit deren tieferem Sinn auch nur andeutungsweise vertraut zu sein. 89 Im Anschluß an die Schilderung solcher Prädispositionen läßt schließlich Friedrich Emanuel den Geschichtsschreiber Hurter aus der öden Atmosphäre des Landpfarreralltags hervortreten. Interesse an Geschichte habe sich bereits während seiner Gymnasialzeit geregt, wenn auch eher kontraproduktiv zum Schulunterricht, der dem jungen Mann entschieden zu aufklärerisch-rationalistisch geprägt erschienen sei. Da man „kaum genug Ruß auftreiben konnte", 90 um das Mittelalter einzuschwärzen, habe sich sein Widerspruchsgeist erst recht jenen verpönten Jahrhunderten zugewandt. Historische Studien in Göttingen erwähnt Hurter, von der obligatorischen Kirchengeschichte abgesehen, in „Geburt und Wiedergeburt" nicht; freilich aber wird er es sich kaum haben entgehen lassen, die berühmten Göttinger Professoren Schlözer, Heeren und Sartorius in ihren Lehrveranstaltungen zu besuchen.91 Als entscheidende Triebkraft zu historiographischer Arbeit - neben dem eitlen Bestreben, schnell durch Gedruck86
Ebd. I, S. 28-31. Ebd. I, S. 40. 88 Ebd. I, S. 6-90. Zu den Beziehungen Hurter - Haller vgl. unten S. 392-400. 89 Ebd. I, S. 146-161, insbes. 153 und 154/155. 90 Ebd. I, S. 109. 91 Lischer, S. 33/34 mit diesbezüglichen Hinweisen aus Briefen Hurters an seinen Vater sowie an Johann Georg Müller. Vgl. auch die Bemerkungen u. S. 352-354. Große Wertschätzung brachte Hurter dem Philologen und Altertumskundler Christian Gottlieb Heyne entgegen; Hurter, GuW I, S. 351. 87
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tes zu glänzen - erkennt Hurters Selbstinterpretation jedoch die früh geweckte Liebe zu Büchern, die ihn besonders zum Umgang mit den reichen Schätzen der Göttinger Universitätsbibliothek veranlaßt habe.92 So sei denn auch das Jugendwerk über „Theoderich" weniger dem Drang nach geschichtlicher Erkenntnis, sondern eher der Kopplung jener beiden Momente zuzuschreiben. Und wenigstens dem einen, der Bücherliebe, billigt er auf dem Wege zu seiner bedeutendsten historiographischen Leistung eine fast schicksalshafte Funktion zu. Auf einer Göttinger Bücherauktion habe er, mehr zufallig, ein Werk erworben, „an dessen Besitz meine nachherige Thätigkeit, mein Ruf, meine spätem Verwicklungen und zum Theil die ganze Wendung meines Lebens sich knüpfte." 93 Um zwei Gulden und 24 Kreuzer sei er, vor allem des wohlfeilen Preises wegen, in den Besitz der zweibändigen Ausgabe der Briefe Papst Innozenz' III. durch Stephanus Baluzius gelangt, habe diese aber zunächst ins Regal, den anderen Büchern zugesellt und nicht weiter beachtet.94 Erst runde zehn Jahre später habe er in der Stille seiner Landpfarrei die Bände - erneut rein zufällig - dem Regal entnommen, habe sich in die Lektüre vertieft und sei so sukzessive in eine Arbeit hineingeraten, „der ich die Mußestunden des schönsten Theils meines Lebens gewidmet habe; der ich, in Ahnung, doch noch Etwas zu Tage fördern zu können, was mir zusagen dürfte, die heitersten Augenblicke verdanke; an die im Verfolg alle Wendungen meines äußern, und durch diese die Entwicklungen meines innern Lebens, ja selbst die endliche Feststellung von jenem sich knüpfen." 95 Hurters rückschauender Lebenskonstruktion des „per aspera ad astra" sei hier an faktischer Essenz lediglich entnommen, daß ihn die Konfrontation mit der Geschichte des hochmittelalterlichen Papstes tatsächlich in mehrfacher Hinsicht beeinflußte und dazu beitrug, sein Leben innerlich wie äußerlich zu verändern. Zwanzig Jahre währte diese Konfrontation, bis 1834 der erste Band der Geschichte Innozenz' III. erschien, 96 und nicht nur der Geschichtsschreiber, die europäische Berühmtheit Hurter entstieg diesem außerordentlichen Buch92 Hurter, GuW I, S. 112/113 (frühe Bücherliebe); ebd. S. 134/135, 143/144 (Universitätsbibliothek); zum „eitlen Bestreben" vgl. oben. Anm. 75. 93 Ebd. I, S. 142. 94 Epistolarum Innocentii III. Romani Pontificis Libri undecim; accedunt Gesta ejusdem Innocentii [...]. Stephanus Baluzius Tutelensis in unum collegit, magnam partem nunc primum edidit, reliqua emendavit, 2 Bde., Paris 1682; Hurter, GuW I, S. 142. 95 Hurter, GuW I, S. 201. 96 Friedrich [Emanuel] Hurter: Geschichte Papst Innocenz des Dritten und seiner Zeitgenossen Bd. I, Hamburg 1834; II, ebd. 1834; ΙΠ, ebd. 1838; IV, ebd. 1842. Die beiden letzten Bände tragen den Untertitel: Kirchliche Zustände zu Papst Innocenz des Dritten Zeiten. Zusätzlich erschien 1835 ein unveränderter Nachdruck der Bde. I und I I in Ebingen. Ich zitiere die Geschichte Innozenz' IÏÏ. nach folgenden Ausgaben: Bd. Ι/Π: Ebingen 1835; Bd. III: Hamburg 1838; Bd. IV: Hamburg 1842.
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erfolg, 97 sondern - zugespitzt formuliert - auch der gescheiterte Antistes sowie der spätere Katholik. In eigenartige Wechselwirkung mit den aristokratisch-hierarchischen Anlagen Friedrich Emanuels tritt das Bild des Papstes, wie Hurter es aus den Briefen extrahiert. Hinter der hellen Folie des großen Innozenz erscheint stets sein strebender, nacheifernder Biograph, dessen einleitende Worte über das „Nachleben" sich wohl nicht nur auf ein historiographisches Nachleben beziehen: „Aber auch je gleichmässiger auf weitem Schauplatz und unter regem Wechsel der Ereignisse die Handelnsweise eines Solchen [bedeutenden Menschen] sich bleibt; je folgerichtiger, bemessener und, weil durch eine Grundidee belebt, in sich übereinstimmender der Gang seines einflußreichen Lebens ist; je bestimmter er bey allen wichtigern Vorfallenheiten sich ausspricht; desto leichter auch läßt sich dessen Leben gewissermaaßen nachleben und kann dadurch ein desto getreueres Gesammtbild desselben hervorgestellt, desto sicherer wenigstens der innerste Kern dieses Lebens aufgefunden werden." 98 Spricht aus diesen Worten nicht die Bewunderung des konsequenten, kompromißlosen Einsatzes einer Person für ein Prinzip, eines Einsatzes, den Hurter so gerne auch in seinem eigenen Wirkungskreis praktizierte? Läßt sich schließlich nicht jener unbedingte Wille, die Lage des geistlichen Standes zu bessern, den er vor den Antistialwahlen von 1833 sich selbst als einzigem zugesteht, in gewisse Beziehung setzen zu dem innersten Lebenskern, den er Innozenz attestiert? „Dieser war bei Innocenz: Erkenntniß und Verwirklichung der höchsten Bestimmung des Pontificats, als einer zur Leitung der Kirche und hiemit zum allseitigen Heil des gesammten Menschengeschlechtes von Gott selbst geordneten Anstalt." 99 Was nimmt es wunder, wenn ein hochgestellter Pfarrer einer reformierten Landeskirche, ja nachmaliger Vorsteher dieser Landeskirche durch solcherlei Äußerungen über einen Papst, über die katholische Kirche seine Beliebtheit nicht durchweg steigerte. Hurter halfen alle Beteuerungen nichts, etwa einem kritischen protestantischen Rezensenten des „Innocenz" gegenüber, der alleinige Zweck seines Werkes liege darin, „die Idee des Pontificats, wie sie in
97 Zur Rezeption des „Innocenz" vgl. Hurter, GuWI, S. 297-303; Vogelsanger, S. 115 und Lischer, S. 48-56. Letzterer weist anhand des Briefwechsels Hurters mit seinem Verleger Friedrich Perthes, anhand der Kosten-, Honorarrechnungen und Auflagenzahlen auch den buchhändlerischen Erfolg des Werkes nach. Neben baldigen Neuauflagen eines jeden Bandes erschienen auch Übersetzungen ins Französische und Italienische; vgl. auch Maegis, S. 30. 98 Hurter, Innocenz III., I, Vorrede, S. V. 99 Ebd.
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Innocenz real geworden culminirte, historisch nachzuweisen."100 Während die katholische Geisteswelt über den „Innocenz" jubelte, 101 geriet dessen Urheber daheim in den Verdacht des Kryptokatholizismus, den seit 1836 Hurters zusätzliches, wenn auch vornehmlich politisch motiviertes Eintreten für die Besitzstandsrechte aargauischer Klöster nicht minderte. 102 Keimte hier der innerkirchliche Widerspruch der , Amtsbrüder" auf, die nicht geneigt waren, antirationalistische wie antipietistische Tendenzen ihres Antistes sowie dessen Drang zu straff hierarchischer Organisation der Landeskirche zu akzeptieren, so eckte Hurter mit seiner streng antirevolutionär-restaurativen Haltung in den Schaffhausener Verfassungskämpfen der zwanziger und dreißiger Jahre bei der stark vertretenen liberalen Partei auch in politischer Hinsicht an. 103 Kurz: Friedrich Emanuel Hurter, der frühe Karrierist, manövrierte sich durch pointiertes Auftreten gegen den dominierenden „ideologischen Konsens" kirchlich wie politisch nach und nach in ein Abseits, aus dem er schließlich nicht mehr zu agieren, nur noch zu reagieren vermochte. Die Spannung explodierte in den Hurter-Wirren von 1840; am Ende stand der Rücktritt Hurters von allen Ämtern am 18. März 1841. Erst jetzt, in der durch den Rücktritt gewonnenen Mußezeit, habe er mit dem Studium der katholischen Dogmatik begonnen, habe sich dem inhaltlichen Kern des Katholizismus zugewandt, dessen Gebäude er, eigenem Bekunden zufolge, bisher immer nur historisierend von außen betrachtet habe. Er habe sich anhand von Johann Adam Möhlers „Symbolik" in die Unterschiede katholischer und protestantischer Konfession vertieft und sei anhand der Schrift Innozenz' III. in die Geheimnisse der Heiligen Messe eingedrungen. 104 Im Februar 1844 begab
100 Hurter an einen nichtgenannten Rezensenten der Jenaer Litteraturzeitung, 10. 9. 1835, Hervorhebung Th.B. (SB Berlin 2, Slg. Darmst. 2f 1850 / Hurter). 101 Bezüglich der katholischen Reaktion auf den „Innocenz" vgl. die Verweise in Anm. 97; Carl Ludwig von Haller z.B. schrieb Hurter am 5.3.1835, er lese jeden Morgen im „Innocenz" und finde darin „kein protestantisches Wörtlein." {Emmanuel Scherer [Hg.]: Briefe Karl Ludwig von Haller's an David Hurter und Friedrich von Hurter, Samen 1914/15 [= Beilage zum Jahresbericht der Kantonalen Lehranstalt Samen 1913/ 14 und 1914/15], hier I, S. 42). 102 Hurter, GuW I, S. 335-340; H. Hurter, F. Hurter I, S. 232-284; vgl. hierzu auch Hurters - anonym erschienene - spätere Schriften: Die Aufhebung der Aargauischen Klöster. Eine Denkschrift, Aarau 1841, und: Die Aargauischen Klöster und ihre Ankläger. Auszug aus der Denkschrift, Schafihausen 1841. 103 Zu den Verfassungskämpfen in Schaphausen knapp und übersichtlich Isele, S. 116-124; Schib, S. 220/221; Hurter, GuWI, S. 227-232; Friedrich [Emanuel] Hurter: Einige Bemerkungen über das Projekt der Stadtverfassung, [1835]. 104 Hurter, GuW II, S. 46-55, 204-215; Johann Adam Möhler: Symbolik, oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten, nach ihren öffentlichen Bekenntnißschriften, Mainz/Wien 4 1835; Friedrich [Emanuel] Hurter (Hg.):
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sich Hurter nach Rom, wo er am 21. Juni desselben Jahres zum Katholizismus übertrat. 105 Während sich vor Hurters Schaffhausener Haus auf diese Kunde hin tumultuarische Szenen abspielten,106 war man im katholischen Freundeskreis, vor allem in München, begeistert. Constantin Höfler berichtete von der überschwenglichen Freude der Mitglieder des Görreskreises über Hurters Konversion, die „Historisch-politischen Blätter" feierten den Übertritt in einem eigenen Artikel. 1 0 7 Johann Friedrich Böhmer, dessen bedächtig abwägender Art konfessionspolitische Triumphgefühle von jeher fern lagen, urteilte nachdenklicher, erkannte vielleicht etwas von der Tragik, die in der Konfrontation Hurters mit der kirchlich wie politisch herrschenden Richtung in Schafïhausen lag. Einerseits, so Böhmer gegenüber Heinrich Maurer de Constant, glaube er, „daß Hurter ohne dieß Drängen [der opponierenden Geistlichkeit] gegen ihn nicht wäre katholisch geworden, und daß man die Kraft dieses Mannes der Schafihäuser'schen Kirche hätte erhalten können." 108 Andererseits, ergänzt er gelegentlich, sei bei allem Drängen von außen die Konversion doch „dem Charakter des Mannes nach, nicht aus irgend welchen egoistischen Beweggründen herzuleiten." 109 Beziehen sich „Charakter" auf Hurters weltanschauliche Unbeugsamkeit und „egoistische Beweggründe" auf seinen Karrierewillen, so leuchtet Böhmers Urteil sicherlich ein. Der Konsequenz seiner Überzeugung ordnete Hurter persönliche Belange, vor allem aber die Befriedigung seines immensen Karrierebewußtseins letztendlich unter, auch wenn ihm dies sehr schwer fiel.
Innocenz ΙΠ. Sechs Bücher von den Geheimnissen der heiligen Messe, Schafïhausen 1845,2. Aufl., ebd. 1857. 105 Über Romreise und Konversion ausführlich Hurter, GuW Π, S. 232-699; H. Hurter, F. Hurter I, S. 399-407 und Π, S. 1-49. 106 Hurter, GuW Π, S. 692-695; H. Hurter, F. Hurter Π, S. 40-42; vgl. auch Hurter an seinen Sohn Heinrich, 31.7.1844 (Ernst Steinemann: Die Entwicklung der Stadt Schaffhausen unter den Stadtpräsidenten Dr. Carl Spahn und Hermann Schlatter, 1894-1919. Beilage: Antistes Friedrich Hurter im Briefwechsel mit seinem Sohne Heinrich Hurter 1840-1845. Ein Beitrag zur Beleuchtung von Hurters Persönlichkeit, Schaffhausen 1969, S. 75/76). 107 Höfler an Hurter, 20.7.1844 (Samen, NL Hurter); Hurter's Conversion, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland (im folgenden HPB11) 14 (1844), S. 291-296 (Verf. des Artikels bei Albrecht / Weber - s. Denkwege, Anm. 338 - nicht nachgewiesen). 108 Böhmer an H. Maurer de Constant, 11.1.1845 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 394); auch Maurer de Constant teilte diese Ansicht Böhmers (vgl. Böhmer an Maurer de Constant, 31.1.1845; ebd. II, S. 397). 109 Böhmer in einer von Janssen mitgeteilten Äußerung im Gespräch (Janssen, Böhmens Leben und Briefe I, S. 442/443).
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Denn - wie auch immer die Bewertung seiner Konversion ausfallt - Friedrich Emanuels Stellung in Schaffhausen war seither völlig unhaltbar geworden. Zwar hatte er in der Zeit nach seinem Rücktritt seine geistige und relative materielle Freiheit betont, 110 hatte sich mit allerhand Unternehmungen und Aufträgen politischer und literarischer Art beschäftigt, 111 hatte sich aber andererseits infolge seiner Konversion einer derart feindseligen Stimmung in Schaffhausen ausgesetzt gesehen, daß er auf Dauer unmöglich bleiben konnte und wollte. Sein Temperament empfand die Vaterstadt im übrigen zunehmend „langweilig" und „geistig öde", und so signalisierte er die deutliche Bereitschaft, eine Stelle im Ausland anzunehmen, „die mir zusagen, das heißt, der ich mich gewachsen fühlen könnte." 112 Eine solche hingegen zu finden, erwies sich als schwierig, wiewohl Angebote nicht fehlten. Schon seit Jahren hatte ja Hurter, ausgewiesen durch die Geschichte Innozenz' III. und deren überregionales Echo, Kontakte zu konservativen und katholischen Kreisen in Deutschland, Österreich und Italien geknüpft. Dies war vor allem auf den Reisen nach Göttingen 1837, Frankfurt 1838, während des Aufenthalts in Mailand im selben Jahr, auf dem „Ausflug nach Wien und Preßburg" 1839 und während der drei Münchener Aufenthalte von 1839, 1840 und 1842 geschehen.113 Dem Görreskreis war Hurter über seine frühe Mitarbeit bei den „Historisch-politischen Blättern" nahegetreten, hatte dessen wichtigste Mitglieder aber erst bei dem längeren Aufenthalt in München vom Sommer 1840 näher kennengelernt. 114 Von den Historikern dieses Kreises Schloß sich 110
Hurter an H. von Greiffenegg-Wolffurt, 16.4.1843 (UB Freiburg/Brsg. Autogr. 1195): „In alle Fälle habe ich Ursache Gott zu danken, daß ich vollkommen frey bin, wegen meiner Handlungen, Schritte und Bemühungen [...]. Ich kann keine Sprünge machen, zu denen pecuniäre Mittel erfordert werden, aber ich hänge auch von Niemand ab." 111 In erster Linie hatte er sein Engagement gegen die Aufhebung der aargauischen Klöster fortgesetzt (Hurter, GuW I, S. 506-510; vgl auch o. Anm. 102), ein größeres Werk „Die Befeindung der katholischen Kirche in der Schweiz" verfaßt (Schaffhausen 1842), seine „Reden und Predigten" gesammelt herausgegeben (= Kleinere Schriften, Bd. I, Schaffhausen 1844) und schließlich - nach der Konversion - mit der Niederschrift seiner Autobiographie „Geburt und Wiedergeburt" begonnen. 112 Hurter an H. Hurter, 14.11.1844 (Steinemann, S. 79/80). 113 Einen knappen Überblick über die Auslandsaufenthalte Hurters vor seinem Umzug nach Wien bietet Lischer, S. 57-122; weiterhin ausführlich, H. Hurter, F. Hurter und Hurter selbst in GuWI. Die Wien-Reise von 1839 dokumentierte Hurter in einer Art Reiseführer: Ausflug nach Wien und Preßburg im Sommer 1839. 114 Hurter, GuW I, S. 338/339: Seine Mitarbeit bei den HPB11 habe sich durch einen Artikel angebahnt, den er in Sachen des Klosters Muri (vgl. oben S. 95) ursprünglich für die Augsburger ,Allgemeine Zeitung" verfaßt hatte. Diese habe jedoch den Artikel unerwarteterweise abgelehnt, worauf er sich damit an die HPB11 wandte. [Friedrich Emanuel Hurter]: Die Staatsstreiche der Regierung von Aargau gegen die Katholiken, 7 Brechenmacher
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ihm besonders Constantin Höfler an, „ein gar lieber Mann, wahrscheinlich Haupttriebrad meiner Ernennung als Mitglied der Academie." 115 „Trotz dem Widerstreben unserer Protestanten", 116 war - Höfler zufolge - diese Ernennung Hurters zum auswärtigen Mitglied der bayerischen Akademie der Wissenschaften im Spätsommer 1842 erfolgt, 117 und auch später, zumal nach Hurters Konversion, bestand innerhalb des Görreskreises größtes Interesse, den Papsthistoriker an München zu binden, ihn vielleicht ganz nach München zu ziehen, wie George Phillips bereits 1839 angeregt hatte. 118 „Sie wissen", verlautbarte Höfler bald nach Hurters Übertritt, „wie viele Freunde und Bewunderer Sie in Bayern zählen, welche Sie so gerne ganz den Ihrigen nennen möchten. So oft ergeht die Anfrage, wenn man nur wüßte, ob und unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen dies geschehen könnte. Ich habe keine Vollmacht, Ihnen solche zu stellen; allein um eine Antwort parat zu haben, wünschte ich recht sehr, etwas Genaues hierüber zu erfahren." 119 Doch Hurter fiel es offenbar nicht leicht, die Anfrage Höflers präzise zu beantworten. Nur eines stand ihm wohl fest: den Aufgaben eines akademischen Lehramtes fühlte er sich nicht gewachsen. Mit diesem Argument war er 1840 Spekulationen über die Annahme einer Professur in München entgegengetreten 1 2 0 und mit diesem Argument antwortete er auch 1844 auf Pläne, ihm ein Ordinariat für Kirchengeschichte im badischen Freiburg zu beschaffen. 121 Das Ende aller Unsicherheit bahnte sich an mit einem Schreiben des österreichischen Staatskanzlers Metternich vom 18. Januar 1845: Hurter möge sich sofern er keine besseren Pläne habe - in Wien irgend einem großen historio-
in: HPB11 2 (1838), S. 179-184, 214-218, 295-306. - München-Aufenthalt von 1840: Hurter, GuWI, S. 487/488; Hurter an F. B. Hurter, 9.8.1840 und 31.8.1840 (StA Schafïhausen, NL Hurter Ia, 38/39); Lischer, S. 92-96. 115 Hurter an H. Hurter, 19.1.1843 (Steinemann, S. 51); im NL Hurter in Samen befinden sich 37 Briefe Höflers an Hurter aus den Jahren 1842-1857, in denen Höfler ausführlich Bericht erstattet über die Ereignisse in München - besonders während der Lola-Montez-Affäre - sowie über seine eigenen Verhältnisse in München, Bamberg und schließlich in Prag (vgl. auch unten in der biographischen Skizze zu Höfler S. 143-145). 1,6
Höfler an Hurter, 16.9.1842 (Samen, NL Hurter). Vgl. Ulrich Thürauf: Gesamtverzeichnis der Mitglieder der bayerischen Akademie der Wissenschaften 1759-1984, fortgeführt von Monika Stoermer, München 1984 (= Geist und Gestalt. Biographische Beiträge zur Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Ergänzungsband, 1. Hälfte, neue, erg. u. erw. Ausg.), S. 78. 118 George Phillips an Hurter, 3.2.1839 (Samen, NL Hurter). 1,9 Höfler an Hurter, 14.11.1844 (Samen, NL Hurter), Hervorhebungen im Original. 120 Hurter an F. B. Hurter, 9.8.1840 (s. Anm. 114); vgl. auch Lischer, S. 130. 121 Hurter an Greiffenegg-Wolffurt, 9.11.1844 (UB Freiburg/Brsg., Autogr.1199); vgl. auch H. Hurter, F. Hurter II, S. 51/52 und Lischer, S. 152. 117
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graphischen Unternehmen widmen. 122 Friedrich Emanuel war dem Staatskanzler kein Unbekannter. Auf diplomatischer Mission im Auftrage schweizerischer Klöster hatte er 1838 in Mailand eine erste Audienz erhalten, eine zweite hatte sich 1842 angeschlossen.123 In Form geheimer Korrespondenzen über die politischen Ereignisse in der Schweiz, noch während des Jahres 1845 über die Vorstadien des Sonderbundskrieges, gelangten Berichte Hurters seit 1841 über den Bregenzer Landeshauptmann Johann Nepomuk von Ebner nach Wien und auch Metternich zu Gesicht. 124 Er, Metternich, habe sich darüberhinaus durch die Lektüre von „Geburt und Wiedergeburt" und des „Innocenz" von der Gleichartigkeit ihrer beider geistiger Bestrebungen überzeugt. Nun, und das habe er schon lange gehofft, sei durch Hurters Konversion das letzte Hindernis einer Wirksamkeit in Österreich gefallen. 125 Hurter begab sich auf den Metternichschen Brief hin im Mai 1845 nach Wien, um die Einzelheiten seiner neuen Anstellung zu besprechen. Nach Erteilung allerhöchster Zustimmung unterrichtete ihn der Staatskanzler Ende Juni zunächst noch inoffiziell von seiner Berufung zum Historiographen des österreichischen Kaiserreiches mit dem Titel und den Bezügen eines k. u. k. Hofrates. Gleichzeitig erging der Auftrag, Hurter solle sich in jener Eigenschaft als Reichsgeschichtsschreiber in erster Linie mit der Geschichte Kaiser Ferdinands II. befassen. 126 Friedrich Emanuel trat in eine neue Welt ein. Seine Eitelkeit fühlte sich durch diese unerwartete Berufung erheblich geschmeichelt. Triumphierend schrieb er
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Metternich an Hurter, 18.1.1845, bei H. Hurter, F. Hurter Π, S. 123/124. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat sich das Original des Briefes im Hurter-Nachlaß in Samen nicht erhalten. Zu den Einzelheiten der Berufung nach Wien vgl. Lischer, S. 113-115. 123 Hurter, GuW I, S. 400/401; Hurter an F. B. Hurter, 25.9.1838 (StA Schaflhausen, NL Hurter Ia, 7); H. Hurter, F. Hinter I, S. 129-131 und 289/290; Lischer, S. 77/78 und 108. 124 Aufschlußreich hierüber die Briefe Hurters an den Mittelsmann Ebner von 18411845 (ÖNB, Autogr. 52/48). - Vgl. auch u. S. 427-429. 125 Metternich an Hurter, 18.1.1845 (s. Anm. 122). 126 Metternichs Ernennungsschreiben an Hurter vom 28. Juni 1845, bei H. Hurter, F. Hurter II, S. 130. Die offizielle Bekanntgabe der Ernennung erfolgte erst am 7. 1. 1846. Hurters jährliches Gehalt betrug einschließlich des Quartiergeldes 4600 Gulden jährlich: Ernennungsdekret vom 7.1.1846, bei H. Hurter, F. Hurter, S. 139. - Beim Amt des „Reichshistoriographen" handelte es sich keineswegs um eine institutionalisierte Einrichtung, sondern eher um eine ad personam zu vergebende Würde von Metternichs Gnaden. Lange vor Hurter hatte Joseph von Hormayr dieses Amt bekleidet - bevor er in der Gunst des Fürsten fiel und sich in bayerische Dienste begab; vgl. Heinrich Ritter von Srbik: Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, Bd. Π, München 1925, S. 231-234 und ΙΠ, ebd. 1954, S. 176; hier eine Bemerkung des Metternich-Gegners Kolowrat: „Fürst Metternich hat die Manie, eine Sammlung von Konvertiten zu machen und darin will er Hurter als ein brillantes Exemplar aufnehmen."
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Sohn Heinrich: „Während versoffene Hunde m i c h angreifen, erhalte ich von Fürsten Zusicherungen ihres Wohlwollens und Freudenbezeugungen darüber, daß Gott so augenfällig für m i c h sorge." 1 2 7 I n Schafïhausen hielt es ihn nicht länger. N o c h i m November 1845, i m Anschluß an eine zweite Romreise, siedelte er m i t seiner Frau nach Wien ü b e r 1 2 8 und begann bald darauf m i t der Arbeit an seinem zweiten großen historiographischen Opus, der „Geschichte Kaiser Ferdinands II. und seiner Eltern."
Ι Π . August Friedrich Gfrörer Protestantischer Theologe wie Hurter - allerdings lutherischen Bekenntniss e s - war auch August Friedrich Gfrörer aus dem württembergischen C a l w . 1 2 9 Charakterlich glichen sich Hurter und Gfrörer durch ihr aufbrausend-dickschädeliges Temperament, das sie unbeirrbar festhielt auf einmal als richtig erachteten und konsequent eingeschlagenen Wegen. A u c h Johann Friedrich Böhmer ließe sich hier einreihen, was die Beharrlichkeit betrifft, die sich bei i h m jedoch introvertierter, stiller ausprägte. M i t Gfrörer rundet sich die Trias der bedeutenden großdeutschen Historiker der ersten Generation, deren Lebensweg
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Hurter an H. Hurter, 13.8.1845 (Steinemann, S. 90). H. Hurter, F. Hurter S. 137. 129 Zur Biographie Gfrörers vgl. Paul Alberdingk Thijm: A. F. Gfroerer, in: Revue catholique 19 (1861), S. 533-544; ders.: De geschiedschrijver Gfrörer en zijne werken, Haarlem 1870 (= Katholiek-Nederlandsche Brochuren-Vereeniging, Bd. 8); Rosenthal, Convertitenbilder Bd. 1,3, Schafïhausen 2 1872, S. 79-102; M. Gmelin: A. F. Gfrörer, in: Friedrich von Weech (Hg.), Badische Biographien, Bd. I, Heidelberg 1875, S. 300-304; ders.: A. F. Gfrörer, in: ADB 9 (1879), S. 139-141; Hagen, Gfrörer. Da keine neueren umfassenden Studien zu Gfrörer vorliegen, betrachte ich seinen Lebenslauf etwas ausführlicher als denjenigen Böhmers und Hurters. Einen wissenschaftlich-literarischen Nachlaß Gfrörers konnte ich nicht auffinden. Die wichtigste Quelle zu seinem Leben stellt eine kurze hsl. Autobiographie dar, die allerdings nur bis etwa 1850 reicht (UB Freiburg/Brsg. Autogr. 1134). Daneben ziehe ich seine Freiburger Personalakte (GLA Karlsruhe, Bestand Univ. Freiburg 201, Fasz. 135) sowie zahlreiche Korrespondenzen heran. Die beiden Gfrörer-Werkchen Paul Alberdingk Thijms, eines niederländischen katholischen Historikers, der eine der Töchter Gfrörers heiratete, zeichnen zwar nur ein panegyrisch geschöntes Bild des Meisters, überliefern trotzdem aber manches sonst verlorene Detail zu dessen Leben und Werk (zu Alberdingk Thijm vgl. Leo van Heemstede: Paul Alberdingk Thijm 1827-1904. Ein Lebensbild, Freiburg/Brsg. 1909; hier S. 20-30 auch einiges über Gfrörer). Zusätzliche Informationen bieten darüberhinaus die Tagebücher Ludwig Pastors in der Biblioteca Apostolica Vaticana. Der junge Pastor verbrachte ein Studienjahr in Loewen im Hause Alberdingk Thijms. Seine dortigen Gespräche mit diesem und dessen Frau drehten sich oft auch um Gfrörer, den Pastor als Vorbild sehr verehrte. 128
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auf protestantischer Basis begann und entweder - wie im Falle Böhmers - nahe an den Katholizismus heranführte oder gar in ihn hinein, wie im Falle der beiden anderen. Bemerkenswert, daß gerade diese späteren Konvertiten ursprünglich die protestantische Theologie zum Beruf erhoben hatten beziehungsweise erheben sollten. Doch genug der Parallelen. Individuell unterschieden sich die Laufbahnen der Genannten von Grund auf. Höchst differente Farben prägten ja bereits die Bilder aus Böhmers und Hurters Leben, eine weitere und krasser kontrastierende kommt nun hinzu. Wendet sich der Blick einmal wieder auf die Gruppe um den alten Joseph Görres in München und die Trabanten, die dieses Zentrum umkreisen, dann zeigt sich in der größeren Nähe Böhmers und Hurters, in der häufigeren Frequenz ihrer Besuche größere Anziehungskraft und ergo größere geistige wie menschliche Übereinstimmung. Gfrörer hingegen steht deutlich weiter außerhalb, und wenn auch ihn die zentripetalen Kräfte des Münchener Görreskreises zwar anziehen, dann doch nur schwächer und temporärer. Relativ spät erst, im Sommer 1843, trat Gfrörer dem Kreis um Görres persönlich näher. 130 Mit Döllinger stand er daraufhin für einige Jahre in loser Korrespondenz; wie Böhmer und Hurter brachte er es zur Mitgliedschaft in der Münchener Akademie der Wissenschaften. 131 Später, in den fünfziger Jahren, publizierte er hin und wieder in den,,Historisch-politischen-Blättern". Die Kontakte nach München bestanden, tiefere persönliche Beziehungen aber, wie etwa diejenigen Böhmers zu Guido Görres oder Hurters zu Constantin Höfler, blieben aus. Nicht so sehr aus weltanschaulicher Distanz resultiert Gfrörers größerer Abstand zum Görres-Kreis, eher aus seinem grobschlächtig-kernigen, polternden, leicht verletzenden Naturell, das in scharfen Kontrast tritt zur feinen Geistigkeit eines Döllinger, zu den leisen, aristokratischen Zügen eines Böhmer, zur beißenden Ironie eines Clemens Brentano, zur prophetischen Kraft des alten Görres selbst. Daß Gfrörer zeitlebens gezwungen war, um die materielle Grundlage seines Daseins zu kämpfen, sein und seiner zahlreichen Familie Brot vor allem auch mit den Produkten seiner Schrifistellerei zu erwirtschaften, wird jenen Charakterzügen wohl zu noch stärkerer Ausprägung verholfen haben. Gfrörer mußte auf sich aufmerksam machen, mußte sich verkaufen.
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Am 22.10.1843 dankt Gfrörer in seinem ersten Brief an Döllinger für „die freundliche und ehrenvolle Aufnahme [...], die ich bei Ihnen in München fand." Er schätzt sich glücklich, „einen so ausgezeichneten Mann kennengelernt zu haben" und bittet, den Herrn Aretin, Höfler sowie den beiden Görres in seinem Namen „für die wohlwollende Weise [...], mit der sie mir während des Aufenthalts in Ihrer Stadt entgegenkamen", zu danken. (BSB, NL Döllinger, Döllingeriana Π). 131 Korrespondierendes Mitglied 1845, auswärtiges Mitglied 1857 (Thürauf, S. 62).
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Geboren den 5. März 1803 zu Calw, war seine Kindheit keineswegs so ängstlich behütet wie etwa diejenige Böhmers, des Frankfurter Kanzleidirektorsohnes, und im übrigen auch nicht so belastet mit der schweren Würde altreichsbürgerlichen Standesbewußtseins. Gfrörers Vater, vormaliges Mitglied der 1797 aufgelösten Calwer Handelskompagnie,132 entwickelte bedeutendes Talent im Verschleudern des ererbten elterlichen Vermögens, was auch seine Ehe zerrüttete, schließlich zerstörte. So stand es mit der materiellen Absicherung von zuhause nicht allzugut, und August Friedrichs, nach der Trennung vom Vater alleinerziehende Mutter schien in einer Ausbildung des Sohnes zum lutherischen Pfarrer die aussichtsreichste, vor allem auch für sie preiswerteste Laufbahn zu sehen: übernahmen doch Staat und Landeskirche für den Kandidaten die Kosten des Studiums, nachdem sich dieser durch eine Reihe von Examina dafür qualifiziert hatte. 133 Für den jungen August Friedrich Gfrörer zog diese Entscheidung nach dem Abschluß der Lateinschule zunächst einige propädeutische Jahre auf der niederen Klosterschule in Blaubeuren nach sich, bevor er - 1821 - zum Studium der Theologie und Philosophie an das berühmte Tübinger Stift zu wechseln hatte. 134 Runde dreißig Jahre nach den Kommilitonen Hegel, Schelling, Hölderlin mochte Gfrörer dort von der einstigen Blüte nicht mehr viel verspüren. Geradewegs als „schlecht" qualifiziert er beide Fakultäten ab, würdigt sein dortiges Studium nur in negativen Tönen. 135 Nun sollte aber Behutsamkeit walten bei der Bewertung solch höchst apodiktischer Urteile Gfrörers aus einer späteren Zeit, in welcher er sich sein weltanschauliches Refugium bereits fertig gezimmert hatte. Der Weg dorthin verlief - anders als im Falle Böhmers oder Hurters - äußerst windungsreich. Gewagt erscheint jedenfalls Hagens Behauptung, Gfrörer habe seine Tübinger Zeit „mit dem vollendeten Unglauben" beschlossen.136 Eine vorsichtigere Befragung der einzigen ausführlichen Quelle über Gfrörers Tübinger Studium, seiner Selbstbiographie, wird nur soviel anerkennen, daß Gfrörer seit der Blaubeurer Zeit eine weniger „lyrisch-poetische", auch weniger eine „spekulative", sondern eher eine „realistisch-positivistische", 132
Hagen, S. 8. Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 3/4. - Zum Protestantismus in Württemberg allg. vgl. Heinrich Hermelink: Geschichte der evangelischen Kirche in Württemberg von der Reformation bis zur Gegenwart. Das Reich Gottes in Wirtemberg, Stuttgart/Tübingen 1949. 134 Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 4; Hagen, S. 8/9. 135 Ebd., S. 7-9; Hegel und Hölderlin studierten von 1788-1793 am Tübinger Stift, Schelling von 1790-1795. Allg. zur Geschichte des Stiftes vgl. Martin Leube: Das Tübinger Stift 1770-1950. Geschichte des Tübinger Stifts, Stuttgart 1954, und Ernst Müller: Stiftsköpfe. Schwäbische Ahnen des deutschen Geistes aus dem Tübinger Stift, Heilbronn 1938. 136 Hagen, S. 10. 133
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in weitestem Sinne „historistische" Ader entwickelte, die ihn von schwärmerisch-romantischer Dichtung ebenso abrücken ließ wie von der idealistischen Philosophie und die ihn auch den evangelisch-theologischen Zeitströmungen, dem Pietismus hier, dem Rationalismus da, nicht unbedingt näher brachte. 137 Besonders letzteren schien er schon damals abzulehnen, stelle dieser doch die Theologie „außer ihrem historischen Zusammenhang" dar. 138 Bei solcher Anlage kam ihm die theologische Preisaufgabe des Jahres 1825 gerade recht: eine Darstellung der Glaubenslehren jüdischer Sekten - Pharisäer, Sadduzäer, Essener - führte ihn ein erstes Mal auf religionsgeschichtliches Gebiet. Möglicherweise fesselte ihn bereits damals die Frage nach den gemeinsamen Wurzeln von Judentum und Christentum. 139 Jedenfalls zog es Gfrörer zu den Anfangen, den Grundlagen, den Ursprüngen - kein schlechter Ausgangspunkt für einen Historiker. Über eine Beteiligung Gfrörers an den politischen Strömungen seiner eigenen Gegenwart fließen die Nachrichten gleichfalls nur spärlich. Burschenschaft wie Korps stand er distanziert gegenüber. 140 Dagegen lassen sich Kontakte zum Kreis der schwäbischen Romantiker feststellen, wenngleich deren Gedankengut in Gfrörers Werk zunächst nicht unmittelbar erscheint. Mit Ludwig Amandus Bauer war er seit den Blaubeurer Jahren schon befreundet, mit Waiblinger verkehrte er zumindest in vertrautem Ton. 141 In Anfangsstadien also befand sich Gfrörers Entwicklung erst, als er im Herbst 1825 sein theologisches Examen ablegte. Die Richtung seines weiteren geistigen Wachstums stand noch keineswegs fest. Zunächst trieb es ihn in die Welt hinaus, beseelt vielleicht von einem ähnlichen Widerstand gegen die Laufbahn eines protestantischen Pfarrers, wie ihn auch Friedrich Emanuel Hurter bekennt. Mit dem Beginn seiner großen Bildungsreise tritt nun August Friedrich Gfrörer deutlicher aus den Quellen hervor, zeigen sich konturierter die Züge seiner „vierschrötigen" Persönlichkeit, seiner „tête carrée". 142 Erste Briefe,
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Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 3-9: über die Schul- und Studienzeit. Ebd., S. 7. 139 Ebd., S. 8. 140 Ebd., S. 9: „Gfrörer trat nicht in die Burschenschaft, weil er die großen und gewaltigen Worte, welche die Haufen im Munde führten, lächerlich fand, auch keinem Corps Schloß er sich an, weil er glaubte, es bedürfe keiner Verbindung - um Bier zu trinken." 141 Ebd., S. 5-7 (über Bauer); An Waiblinger richtet sich einer der frühesten erhaltenen Briefe Gfrörers, aus Lausanne vom 5.1.1826 (Marbach, Dt. Lit.archiv 51.710). 142 Unter Zuhilfenahme solcher Epitheta beschreibt Gfrörer sich selbst in seiner Autobiographie (s. Anm. 129), S. 1 und 11. Über eine Kontroverse mit seinem Arbeitgeber als Hofmeister berichtet er: „Der Vater der beiden Knaben hatte eine besondere Natur: ein kleiner Haustyrann plagte er Weib und Kind und wollte es an der tête carrée des deutschen Hofmeisters gleichfalls versuchen, aber da kam er an den Unrechten. Gfrörer 138
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erste Publikationen auch legen Zeugnis über ihn ab. Z w e i Charakteristika drängen sich dabei v o n Anfang an markant auf: der unbändige Wille, auf eigenen Füßen zu stehen, sich selbst durchzuschlagen, sowie der schier überbordende Erfindungsreichtum bei der Umsetzung seines bald erkannten literarischen Talents i n bare Münze. Z u jener Umsetzung sah er sich gezwungen, denn auf die mütterliche Unterstützung konnte, wollte er nicht rechnen, als er noch 1825 nach Frankreich und der Schweiz aufbrach, u m sich zunächst als Hofmeister zu verdingen. 1 4 3 Viel Erfolg war i h m i n solcher Position nicht beschieden, und von Glück konnte er reden, daß es i h m gelang, durch ein Empfehlungsschreiben Friedrich von Matthissons, zu jener Zeit Oberbibliothekar i n Stuttgart, Zutritt zum Hause des i n Genf ansässigen Publizisten und Philosophen K a r l Viktor von Bonstetten zu erhalten. 1 4 4 Damit begann Gfrörers eigentliche literarische Lehrzeit. Er avancierte zu einer A r t Eckermann des alten Bonstetten und sah sich schließlich mit der Übersetzung eines der philosophischen Werke des Meisters ins Deutsche beauftragt. So geriet Gfrörer zusehends i n Berührung mit geistigen Strömungen,
gab eine so scharfe Erklärung, wie sie der Genfer noch nie gehört hatte, pakte seine Sachen zusammen und zog nach Genf hinein." (Ebd., S. 11). 143 Die Autobiographie (s. Anm. 129), S. 10-12, in der Gfrörer von nur einer Hofmeisterstelle spricht, glättet hier. Zwei Briefe vom 5. und 18.1.1826 an Wilhelm Waiblinger (s. Anm. 141) und Gustav Schwab (Marbach, Dt. Lit.archiv, Schwab-Noltenius 58.1523) führen zu dem Schluß, Gfrörer habe zunächst in Yverdon eine Stelle antreten wollen, dort aber aufgrund schlechter Nachrichten davon wieder Abstand genommen. Völlig mittellos nach Lausanne weitergezogen, bemühte er sich nun darum, über Waiblinger und Schwab ein Empfehlungsschreiben Friedrich von Matthissons an dessen Freund Karl Viktor von Bonstetten zu erhalten. Während des Wartens auf dieses Schreiben nahm er die erwähnte Hauslehrerstelle bei einer Genfer Familie an, kündigte diese aber bereits im Frühjahr oder Sommer 1826 infolge eines Zerwürfnisses mit dem Hausherrn wieder (Autobiographie, S. 11/12; vgl. vorangehende Anm.). Erst danach inzwischen in Besitz des Empfehlungsschreibens - habe er „häufiger als früher" (Autobiographie, S. 12) Bonstettens Haus besucht. Der erste Brief an Cotta, der Gfrörers Zusammenarbeit mit Bonstetten bezeugt, stammt vom 6.9.1826 (Marbach, Dt. Lit.archiv, Cotta Br.). 144 Vgl. vorangehende Anm; daneben Gfrörers Vorwort zu Karl Viktor von Bonstetten: Philosophie der Erfahrung oder Untersuchungen über den Menschen und seine Vermögen, 2 Bde., Stuttgart/Tübingen 1828. Zu Bonstetten (1745-1832) vgl. Georg von Wyss, in: ADB 3 (1876), S. 135-137; Jürg Peter Walser, in: Waither Killy (Hg.), Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache (im folgenden Killy), Bd. 2 (1989), S. 109/110; zu Matthisson (1761-1831): Adalbert Eischenbroich, in: NDB 16 (1990), S. 414-416; Ulrich Joost, in: Killy 8 (1990), S. 14/15.
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von denen ihm das Tübinger Studium nicht zu berichten vermocht hatte. 145 Die Gedankenwelt Johannes von Müllers erschloß sich ihm in den Gesprächen mit dem einstigen Freund des Geschichtsschreibers ebenso146 wie durch das Fortschreiten der Übersetzung - allabendlich hatte er Bonstetten die neuen Passagen vorzutragen 147 - die politischen und philosophischen Grundanschauungen Bonstettens selbst. 1828 erschien, mit einem Vorwort des Übersetzers vom 20. Dezember 1826 versehen, Karl Viktor von Bonstettens „Philosophie der Erfahrung" in zwei Bänden im Cottaschen Verlag, eine stark psychologisierende Philosophie des Gefühls, nahezu ein Gegenstück zu den großen, kritizistischen Vernunftphilosophien Kants, Fichtes und Hegels. 148 Ohne vorerst der inneren Zusammenhänge näher zu gedenken, welche zweifellos bestehen zwischen der Rezeption des Bonstettenschen Werkes und Gfrörers späteren vernichtenden Urteilen über jene Philosophen einerseits 149 sowie gewissen psychologistischen Ansätzen seiner eigenen Historiographie andererseits, 150 fallen dem Betrachter des Lebenslaufes zunächst eher die äußeren Möglichkeiten ins Auge, die Bonstetten dem jungen Theologen eröflhete. Nicht nur, daß er ihn in die gehobene Genfer Gesellschaft einführte, ihn mit französischen Adeligen zusammenbrachte, um deren Ansichten über die Vorboten politischer Evulsionen in Frankreich kennenzulernen; 151 vor allem bahnte Bonstettens Name Gfrörer einen Weg zu einem königlich württembergischen Reisestipendium zur Fortsetzung seiner Bildungstour in Italien 152 sowie einen anderen zum Verlag des Freiherrn Cotta von Cottendorf. 153
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Gfrörer an Cotta, 19.10.1826 (Marbach, Dt. Litarchiv, Cotta Br.): „Ich selbst habe viel aus [...] dem täglichen Umgang mit Bonstetten gelernt, was ich in Tübingen oder einer anderen Universität nicht gehört hätte." 146 Vgl. Gfrörers Vorwort zu Bonstetten, S. ΠΙ. - Zur Einschätzung der Freundschaft Bonstettens und Johannes von Müllers durch konservative Müller-Verehrer vgl. u. S. 401-404. 147 Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 12. 148 Bonstetten, Philosophie der Erfahrung; zur Illustration des Inhalts genügen einige Kapitelüberschriften des Werkes: Bd. I, Abth. 1: Sinnenerregung - I, Abth. 3: Prinzip der Moral und Analyse des moralischen Sinns - Bd. Π, Abth. 1: Gedächtniß - Π, Abth. 3: Von der Methode in den Schlüssen auf die Existenz Gottes und die Existenz der Seele Π, Abth. 4: Psychologisches Gemälde vom Menschen. 149 Vgl. dazu, speziell über Gfrörers Auseinandersetzung mit der Hegeischen Geschichtsphilosophie, unten S. 378-380. 150 Vgl. dazu die Ausführungen zu Gfrörers „Historischer Mathematik'4 u. S. 264-272. 151 Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 12. 152 Ebd., S. 13/14. 153 Erste Kontaktaufhahmen Gfrörers mit Cotta unter Bezugnahme auf Bonstetten und die Übersetzung der „Philosophie der Erfahrung" am 6.9. und 19.10.1826 (Marbach, Dt. Litarchiv, Cotta Br.).
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Diesen ließ Gfrörer nach Abschluß der Bonstetten-Übersetzung nicht mehr unbehelligt, beabsichtigte er doch, sowohl der mäzenatischen Natur Cottas Früchte abzuringen als auch das Verlagshaus, insbesondere aber die großen publizistischen Organe Cottas, die ,Allgemeine Zeitung" mit ihrer Beilage sowie das „Morgenblatt für gebildete Stände", zur Bühne seiner künftigen literarischen Auftritte zu erheben. Tatsächlich schlug Cotta dem Reisestipendium 500 weitere Gulden zu, gegen die Versicherung Gfrörers, aus Italien Tagesneuigkeiten in Form von Korrespondenzen, Reiseberichte, literarische Übersetzungen, politische Nachrichten für Allgemeine Zeitung und Morgenblatt zu liefern. 154 Ungeachtet aber seines Unvermögens, diese Verpflichtungen in ausreichendem Maße zu erfüllen, 155 brillierte Gfrörer Cotta gegenüber hauptsächlich in der fortwährenden Entwicklung ausufernder Projekte, denen er - angemessene Besoldung vorausgesetzt - seine Arbeitskraft zu widmen versprach und denen er durchschlagenden geschäftlichen Erfolg für den Freiherrn prophezeite, so etwa einer „Revue Allemande" - einem literarischen Rezensionsblatt - , einer Sammlung deutscher Geschichtsquellen für ein breites Publikum, einer kommentierten Sammlung der Werke Raffaels in Kupferstichen, einer Ausgabe der Werke Manzonis auf Deutsch. 156 War es heillose Selbstüberschätzung eines jugendlichen Wirrkopfes oder äußerte sich in diesen immer neuen, grenzen- und maßlosen Projekten Gfrörers der ganze, leider so unstete Reichtum einer überquellenden Phantasie? Wie auch immer, grenzenlos, maßlos blieb Gfrörer ein Leben lang. Cotta ertrug solche Phantastereien mit Langmut, war aber Geschäftsmann genug, um von ihrer Verwirklichung abzusehen. Unter Kopfgeburten dieser Art erreichte Gfrörer, der Stürmer und Dränger, im Juni 1827 Rom. 1 5 7 Dort erlebte er - nach dem Aufenthalt im Hause Bon-
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Gfrörer an Cotta, 22. und 23.3.1827 (Marbach, Dt. Lit.archiv, Cotta Br.). 500 Gulden (ca. 330 Taler) waren keine übermäßig große, aber auch keine unerhebliche Summe. Sie entsprachen in etwa dem Honorar, das Nikolaus Lenau 1836 für seine - buchhändlerisch übrigens erfolgreiche - Faust-Dichtung von Cotta ausbezahlt bekam (366 Taler). Vgl. die Synopse in Dorothea Kuhn (Hg.): Cotta und das 19. Jahrhundert. Aus der literarischen Arbeit eines Verlages, Marbach/Neckar 1980 (= Marbacher Kataloge, Nr. 35), S. 153. 155 Gfrörer an Cotta, 3.11.1828 (Marbach, Dt. Lit.archiν, Cotta Br.): „Ich bekenne allerdings daß ich mein früheres Versprechen Zusendungen aus Italien zu machen nur spärlich erfüllt habe. [...] Außerdem hoffe ich auf anderen Wegen meine Verbindlichkeiten gegen Euer Gnaden erfüllen zu können, und ich wage es zu versichern, daß es mein innigstes Bestreben ist, vor Euer Hochwohlgeboren als ein ehrlicher Mann zu bestehen." 156 Gfrörer an Cotta, 11.5.1827 (Revue Allemande und Quellensammlung), 22.1.1828 (Raffael und Manzoni); weitere Projekte in den Briefen vom 17.7.1827 und 11.10.1827 (Marbach, Dt. Lit.archiv, Cotta Br.). 157 Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 16.
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stettens der andere große Eindruck seiner Wanderjahre - die katholische Kirche ein erstes Mal. Ähnlich Hurter, den in der Kirchenorganisation der Zeiten Innozenz' III. das prunkvolle äußere Gebäude zuerst fasziniert hatte, gibt sich auch Gfrörer geblendet von Macht, Majestät und Pracht der Kirche, den Strebepfeilern „einer großartigen weit hin über die Erde sich erstreckenden Organisation", in deren Inneres er aber damals noch nicht vorgedrungen sei. 158 Auch hier gilt es, die retrospektive Wertung Gfrörers zu relativieren, zu ergänzen durch den Hinweis auf die etwas größere Skepsis, welche sich in einem Brief Gfrörers aus Rom an Cotta über die Macht der Pfaffen äußert. Ohne diese zu beleidigen, könne man in Italien keinen historischen Roman schreiben, und diese vor allem stünden seiner Ansicht nach zusammen mit der Zensur der Veröffentlichung von Werken Manzonis im Wege. 159 Trotzdem: der Romaufenthalt hinterließ tiefere Eindrücke in Gfrörer, wenn diese auch zunächst noch weitgehend unbemerkt blieben. Im Frühsommer 1828 zurück in der Heimat, griff die Landeskirche auf ihn zu, erinnerte Gfrörer an seine Berufslaufbahn und die Verpflichtungen gegenüber dem Financier seines Studiums. Er sah sich als Repetent ans Tübinger Stift beordert. 160 Damit schien er sich nun jedoch nicht mehr abfinden zu wollen. Hatte er zwar Cotta gegenüber eingestehen müssen, die weitgezogenen Versprechungen der Italienreise nicht erfüllt zu haben, 161 war dies für einen Kopf vom Schlage Gfrörers noch lange kein Grund, an seinem literarischen Talent zu zweifeln. Und vermittelt er auch in seinen Lebenserinnerungen den Eindruck, als habe er damals schon mit dem Protestantismus gleich wie mit der diesen umgebenden Philosophie gebrochen, 162 so ließ ihn doch vielleicht eher der Reiz der großen Welt und die Versuchung, sich in dieser zu produzieren, aus dem engen Tübingen und aus der engen Pfarrerslaufbahn hinausdrängen. Denn hätte er tatsächlich in jenen Jahren das „philosophische Geträtsch" der „Schleiermacher, Fichte, Kant, zulezt gar noch Hegel und andere Armseligkeiten der Art" in solch barscher Art abgelehnt, wie er runde 35 Jahre später versichert, hätte er tatsächlich nichts wissen wollen von „Ich und Nichtich, Begriff, Vorstellung, Absolutum, Conkretum", 163 hätte er dann just im Oktober 1828 Cotta als neue Blüte seiner Regsamkeit ausgerechnet den Plan einer Gesamtausgabe „der ausgezeichneten neuen Philosophen, in einer Auswahl der besten einzelnen Schriften derselben" unterbreitet, in welcher gerade Kant, Fichte und Hegel
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Ebd., S. 16/17. Gfrörer an Cotta, Rom 22.1.1828 (Marbach, Dt. Litarchiv, Cotta Br.). Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 18/19. Gfrörer an Cotta, 3.11.1828 (s. Anm. 155). Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 19. Ebd.
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breiten Raum einnehmen sollten, ja mußten? 164 Hätte er schließlich mit den religionsgeschichtlichen Studien über „Philo und die jüdisch-alexandrinische Theosophie", dem ersten Teil der späteren „Geschichte des Urchristenthums" begonnen,165 wenn er absolut die Grundlagen negiert hätte, die ihn auf solche Fragestellungen erst führen konnten? Nein, Gfrörer stand noch ganz und gar auf dem Boden jener protestantischen Kultur, die - wie er selbst in der Vorrede zur ersten Auflage des „Philo" scharfsinnig bemerkt - den Offenbarungscharakter der heiligen Schriften und damit den göttlichen Ursprung des Christentums sich selbst erst beweisen mußte, weil sie im Gegensatz zum Katholizismus mit der Tradition beziehungsweise der Autorität gebrochen habe. 166 Beweise solcher Art konnten sehr verschiedene Wege gehen, und auch Gfrörer schlug im Laufe der Entstehung der „Geschichte des Urchristenthums" einen eigenen ein, der dann für die Betrachtung seines Geschichtsverständnisses Bedeutung gewinnen wird. Im Ausgangspunkt aber, in der Hinwendung zu den ,historischen Wurzeln" des christlichen Glaubens, befand er sich gar nicht so weit entfernt vom Ansatz seines späteren Intimfeindes David Friedrich Strauß. Lange freilich wanderten beide nicht auf ähnlicher Bahn. Vor allem an der Unterwerfung von Geschichte unter metaphysische Spekulationen und Entwicklungsverläufe Hegelscher Provenienz sollte sich einige Jahre später Gfrörers Zorn über den einstigen Tübinger Kommilitonen Strauß entzünden.167 So hatte Gfrörers geistige Gärung unter dem Einfluß jener merkwürdigen Mischung von Erfahrungen aus Lehr- und Wanderjahren eben erst begonnen,
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Gfrörer an Cotta, 15.10.1828 (Marbach, Dt. Lit.archiv, Cotta Br.); Gfrörers Projektskizze zufolge sollten auf Kant, Fichte, Hegel jeweils drei Bände, auf Schelling gar vier Bände entfallen, wobei er selbst als Herausgeber die Einleitungen zu den Werken verfassen wollte. Tatsächlich brachte Gfrörer zwei Teile des dritten Bandes (Spinoza) sowie einen Supplementband (Giordano Bruno) zustande, die allerdings nicht bei Cotta, sondern bei Metzler erschienen: August Friedrich Gfrörer (Hg.): Corpus Philosophorum optimae notae qui ab restauratone litterarum a Kantium usque floruerunt, Bd. ΙΠ, Sectio 1 und 2, Stuttgart 1830; Continuatio, ebd. 1835/1836. 165 August Friedrich Gfrörer: Philo und die jüdisch-alexandrinische Theosophie, Stuttgart 1831 (= Kritische Geschichte des Urchristenthums, Bd. I), hier zit. nach der zweiten Aufl., ebd. 1835; vgl. auch Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 19. 166 Gfrörer, Philo, Vorrede zur ersten Aufl., in der zweiten Aufl. auf S. X L I X L X X V I , hier insbes. S. L V I D - L X I ; vgl. allgemein zu dieser Problematik Albert Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung,Tübingen 2 1913, hier S. 164-167 über Gfrörer. 167 Strauß, geboren 1808 in Ludwigsburg, durchlief genau denselben Bildungsgang wie Gfrörer: Propädeutikum in Blaubeuren seit 1821, Tübinger Stift von 1825-1830, zu jener Zeit also, als Gfrörer dort Repetent war; vgl. E. Zeller, in: ADB 36 (1893), S. 538548 und Friedrich Wilhelm Graf, in: Killy 11 (1991), S. 248-250.
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als er sich im Frühjahr 1829 auf eine Stadtvikariatsstelle nach Stuttgart versetzen ließ. 168 Auf Dauer jedoch konnte ihn die seelsorgerische Tätigkeit nicht befriedigen, aufgrund seiner ganz anders gelagerten Talente, wohl aber auch schon aufgrund seiner fortschreitenden Studien über Philo und der damit verbundenen zunehmenden Distanz zum orthodox-lutherischen Protestantismus. Nur zu gerne ergriff er deshalb 1830 die Möglichkeit, mit Bonstettens Hilfe die Stelle des dritten Bibliothekars an der königlichen Bibliothek zu Stuttgart „mit Namen und Rang eines Profeßors" zu erhalten. 169 August Friedrich Gfrörer trat damit in jenen Wirkungskreis ein, dem er sechzehn Jahre lang, bis zu seiner Berufung nach Freiburg treu bleiben sollte und der ihm den äußeren Rahmen zur Entfaltung der grandiosen, bisweilen rabiaten Arbeitskraft bot, mit welcher er sich fortan seine geistige Bahn brach. 170 Kaum in seiner neuen Würde als Bibliothekar installiert, drängte sich vor den Wissenschaftler der ideenreiche politische Publizist Gfrörer. Wie schon zur Zeit seines Kontraktes mit Cotta verstand er mit seinen Pfunden zu wuchern. Das mußte er auch: mittlerweile Familienvater, reichte das Gehalt des Bibliothekars nicht sonderlich weit. 1 7 1 Also lotete er mit Geschick die Möglichkeiten des neuen, aufblühenden Stuttgarter Buchmarktes aus. Neben allem drängenden wissenschaftlichen Interesse äußert sich hier ein zusätzlicher, wichtiger Antrieb Gfrörerscher Schrifistellerei: der Aufwand mußte sich rentieren, denn die Familie wollte ernährt sein.„Die Feder in der Hand des rechten Gelehrten ist nicht bloß ein Werkzeug des Ruhms, über das gewiße Staatsmänner spötteln, während sie es furchten, sie ist auch ein Pflug." 172 Den Pflug führend also stellte Gfrörer seine Feder der Schweizerbartschen Verlagshandlung zur Verfügung, um, als königlich württembergischer Beamter selbstredend unter dem feinsinnigen Pseudonym „Ernst Freymund", eine „Geschichte unserer Tage" in Einzellieferungen zu verfassen. Öffentliches Interesse an solchen kompilatorischen Unternehmungen bestand, zumal nach den 168
Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 19. Ebd; vgl. auch Karl Löffler: Geschichte der württembergischen Landesbibliothek, Leipzig 1923, S. 100. 170 Keineswegs jedoch benutzte Gfrörer die Bibliotheksstelle nur als Basis für seine eigenen Arbeiten. Karl Löftier weist auf die ,Riesenarbeit" hin, die Gfrörer bei der Neukatalogisierung der Bibliotheksbestände leistete. Mit 145 Katalogbänden (!) habe er die Hälfte des ganzen Bestandes allein katalogisiert (Löftier, S. 152/153 und 250). 171 Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 20. 800 Gulden habe er zuerst jährlich auf der Bibliothek verdient, später 1000, erst im letzten Halbjahr seiner Stuttgarter Anstellung (1845/46) 1200, „ein wenig zuviel, um zu sterben, aber nicht genug um zu leben." Dies sei wohl, fügt er sarkastisch hinzu, Absicht der hohen Staatspolitik, die von der Ansicht ausgehe, „daß schlecht bezahlte Beamte aus Hunger fugsam werden und zu allem zu brauchen sind." 169
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revolutionären Ereignissen des Jahres 1830. So bilden denn auch die französische Julirevolution sowie die anschließenden revolutionären Bewegungen in Belgien und Polen den Schwerpunkt der beiden von Gfrörer bearbeiteten Jahrgänge 1830 und 1831. 173 Gfrörer trat hier ein erstes Mal als Schilderer und Kommentator politischer Tagesereignisse auf, keineswegs jedoch in der konservativ-legitimistischen Manier eines Friedrich Emanuel Hurter, sondern, ganz im Gegenteil, von einer Position aus, die sich den Werten von Aufklärung und Französischer Revolution offensichtlich verpflichtet fühlte und der Julirevolution in Frankreich ihre Berechtigung zuerkannte. Sicherlich mußte sich Gfrörer hier den Wünschen der Verlagshandlung nach einer Abfassung in „ächt liberalem Geiste" beugen, mußte seinen Standpunkt beziehen auf dem Boden der „allgemeinen Ideen und Forderungen des Jahrhunderts", sich einfinden auf „der Seite jener unveräußerlichen Rechte, die ohne Gefahr für den Bestand der ganzen Ordnung der Dinge kaum länger vorenthalten werden dürfen." 174 Aber dies scheint in jenen Jahren durchaus einem Grundzug seiner freilich noch ungereiflen politischen Ansichten zu entsprechen, aus deren Zentrum sich immerhin bereits die Idee einer durch Verfassung stark gebundenen Monarchie erhebt. 175 Zurecht auch wählte er das Pseudonym, um sich Ärger mit seinem
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Ernst Freymund: Die Geschichte unserer Tage. Das Jahr 1830, 4 Bde., Stuttgart 1831; Das Jahr 1831, 3 Bde., ebd. 1832. Jeder Band besteht aus vier bis sechs nacheinander erschienenen Einzelheften unter dem Titel: „Die Geschichte unserer Tage, oder getreue Erzählung aller merkwürdigen Ereignisse der neuesten Zeit. Nach den vorzüglichsten Quellen bearbeitet." Über die Art dieser Quellen gibt der Verfasser keine Auskunft. Sicherlich lohnte es sich, dieser Art von „politischer Bildung" einmal im Detail nachzugehen. - Soweit ersichtlich, liegt keine Äußerung Gfrörers vor, in der er von seiner Verfasserschaft dieses Werkes spricht; auch in der Autobiographie schweigt er darüber. Die Zuweisung stützt sich allein auf Alberdingk Thijm, A. F. Gfroerer, S. 534 (vgl. dazu die Ausführungen in Anm. 129); Rosenthal und Hagen übernehmen sie von diesem. Allerdings besteht wohl kaum ein Anlaß, die Aussage Alberdingk Thijms in Zweifel zu ziehen. Warum hätte er, der Leben und Werk seines Schwiegervaters nur in den positivsten Tönen würdigt, hier eine Schrift Gfrörers erfinden sollen? Übrigens ließe sich die Urheberschaft Gfrörers textkritisch und stilanalytisch zusätzlich untermauern. 174 ,Ankündigung die Fortsetzung der Geschichte unserer Tage betreffend" der Schweizerbartschen Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, Oktober 1832, dem 13. Heft des zweiten Jahrgangs (1831) beigebunden, S. 2/3. Die inhaltlichen Teile der Ankündigung stammen wahrscheinlich von Gfrörer selbst. 175 In Bd. 1 des Jahrgangs 1830 lobt er das Modell der englischen Verfassung. Wenn nur die englische Politik die soziale Problematik in den Griff bekomme, und die Verfassung „ohne Ruin verjüngt" werde, so sei der Beweis erbracht, „daß sie die trefflichste auf Erden ist." (Freymund/Gfrörer, Geschichte unserer Tage, Jg. 18301, S. 60); vgl. auch Gfrörers Übersetzung von Bonstetten, S. 365-372, wo die „großen Segnungen einer Volksvertretung" diskutiert werden. - Zu Gfrörer und Burke vgl. die Bemerkungen in Traditionsstränge, Anm. 145.
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obersten Dienstherm zu ersparen, ob solcher Äußerungen, wie etwa den französischen König Karl X. betreffend: „Ein König, der sich einer Parthei blindlings in die Arme wirft, der sich gegen die Freiheiten seines Landes verschwört, welche die einzigen Grundlagen seines Thrones sind, der die finstere Macht der Pfaffen über die Interessen einer weit vorgeschrittenen Civilisation setzt, der die Zeit mit Gewalt um einige Jahrhunderte zurückdrängen will, verdient seine Krone nicht mehr; so kann nur ein Rasender, oder ein Schwächling handeln." 176 Ebensowenig wie auf dem Wege zum Katholizismus befand sich Gfrörer also zu Beginn der dreißiger Jahre unterwegs zu einem legitimistischen Konservativismus Hurterscher Prägung. Er sah sich den liberalen Ideen der Zeit verbunden und blieb es in bestimmten Punkten auch bis weit über die Revolution von 1848 hinaus. Überhaupt wird seine spätere Position, im Gegensatz zu denjenigen Hurters, Höflers oder, in der folgenden Generation, Onno Klopps, von ,Jinks" her zu beschreiben sein als ein mit Liberalismen durchsetzter Konservativismus. Noch 1838, als Gfrörer erneut für Schweizerbart zur Feder griff, um in einem Heftchen „Die Tiare und die Krone" die Chronik des Kölner Kirchenstreites zu schreiben, bildeten - obwohl die Wandlungen sich in Ansätzen bereits abzeichnen - liberale Positionen den Ausgangspunkt seiner Betrachtungen. 177
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Freymund/Gfrörer, Geschichte unserer Tage, Jg. 1830 I, S. 13. [August Friedrich Gfrörer]: Die Tiare und die Krone oder der Kampf zwischen Rom und Berlin, Stuttgart 1838 (= Chronik der neuesten Zeit, Jahrgang 1837, Ausserordentliches Heft I). - Im Gegensatz zur Zuweisung der „Geschichte unserer Tage" an Gfrörer durch seinen Schwiegersohn Paul Alberdingk Thijm (s. Anm. 173) stützt sich die Zuweisung der anonym erschienenen Schrift „Die Tiare und die Krone" allein auf Hagen, S. 42, Anm. 22, der seine Behauptung nicht weiter belegt. Auch Michael Holzmann/Hans Bohatta: Deutsches Anonymen-Lexikon, 7 Bde., Weimar 1902-1928 liefert keinen Nachweis. Eingehende Beschäftigung mit der Schrift und ihrer Stellung innerhalb des Gesamtwerkes Gfrörers läßt jedoch keinen Zweifel an dessen Autorschaft. Wie die Analyse u. S. 315-320 darzulegen versucht, dokumentiert „Die Tiare und die Krone" eine Zwischenstufe in der Entwicklung der historisch-politischen Anschauungen Gfrörers. Neben verschiedensten stilistischen und inhaltlichen Merkmalen, vor allem im ersten Kapitel „Historische Einleitung" (Urteil über die Jesuiten, über den belgischen Katholizismus, über die „preußische Staatsphilosophie", über Preußens Rolle in der deutschen Geschichte, über die deutsche Zersplitterung und das Territorialfurstentum), deuten m. E. zwei entscheidende Indizien auf Gfrörer als Verfasser hin: eine bestimmte, für Gfrörer typische Art von Kombinatorik, die versucht, historische Ereignisketten durch das Freilegen „geheimer Umtriebe" oder „geheimer Triebfedern" zu motivieren und zu erklären (ζ. B. Tiare und Krone, S. 88) - vgl. dazu u. S. 264-272 - sowie der auch in anderen Werken Gfrörers mit Vehemenz verfochtene Gedanke der „Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren" als Garant der Kontrolle staatlicher Macht von unten vgl. u. S. 317. 177
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Lebenswege
Wann aber setzte denn nun der Hauptschub jenes tiefgreifenden geistigen Wandels im Leben des umtriebigen August Friedrich Gfrörer ein? Er setzte nicht ein als Resultat solch leichtfertiger Unternehmungen wie der „Geschichte unserer Tage" oder jener ,Neckar-Zeitung", mit der Gfrörer 1831/1832 publizistisch wie kaufmännisch erheblichen Schiffbruch erlitt. 178 Er vollzog sich vor allem in dem anderen, dem Wissenschaftler Gfrörer, erwuchs in religiöser Hinsicht aus den fortgesetzten Studien über die Geschichte des Urchristentums, in politisch-historischer Hinsicht aus der Vertiefung in ein Thema der europäischen, der Reichsgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts. Möglicherweise erneut als Auftragsarbeit, mit Sicherheit aber unter einem ähnlichen Erscheinungsmodus wie die „Geschichte unserer Tage", begann Gfrörer 1835 mit der Ausarbeitung eines der merkwürdigsten historiographischen Werke des neunzehnten Jahrhunderts, seiner Geschichte Gustav Adolfs, Königs von Schweden und seiner Zeit. 1 7 9 Das erste Mal habe er sich hier auf den Boden der neueren Reichsgeschichte gewagt. Und was sei dabei mit ihm geschehen? „Je weiter er mit seinen Studien kam, desto mehr überzeugte er sich, daß nur Dummheit und maßloser Partheigeist die Sache des Kaisers und der katholischen Kirche verlästert und schwarz gemacht hat. Da das Werk in Heften ausgegeben wurde, und deshalb der Verfasser die Erfahrungen, die er später gemacht hat, nicht mehr zu Verbeßerung des Anfangs benutzen konnte, geschah es, daß jenes Buch vorneherein im Tone der Guelfen gehalten ist [...], in der zweiten Hälfte aber die gibellinische Farbe trägt." 180 Gfrörers Schlagwort von der „ghibellinischen" Geschichtsanschauung nimmt das spätere Epitheton „großdeutsch" vorweg. Ein Schlüsselwerk flöß ihm da aus der Feder, ein Panoptikum aller Deutungsmuster der nachreformatorischen Reichsgeschichte, aus denen sich die spätere großdeutsche Position in der Debatte der fünfziger Jahre speisen sollte. Während die historiographischen Arbeiten Böhmers, Hurters, auch Döllingers und Höflers in diesen Jahren hauptsächlich Themen des Mittelalters galten, sich chronologisch lediglich bis ins Vorfeld der Reformation erstreckten, steckte Gfrörers „Gustav Adolph" das Feld ab für
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Gfrörer war als Besitzer und Redakteur der „Neckar-Zeitung" durch politische Verwicklungen sowie Betrügereien, die er nicht zu verantworten hatte, in erhebliche Verschuldung geraten, wogegen er jahrelang prozessierte; näheres u. S. 442/443. 179 August Friedrich Gfrörer: Gustav Adolph, König von Schweden und seine Zeit, Stuttgart 1837; dass., umgearb. ebd. 2 1845; ebd. 3 1852; hg. von Onno Klopp, ebd. 4 1863; zur Entstehung Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 25/26; Hagen, S. 19/20 belegt seine Behauptung nicht, das Werk sei auf Anregung des Stuttgarter Verlegers G. Krabbe entstanden. Tatsächlich erschien erst die zweite Aufl. im Verlag Krabbes, nachdem das Haus L. F. Rieger & Comp., Stuttgart und Leipzig, die erste Aufl. herausgebracht hatte. 180 Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 25.
III. August Friedrich Gfrörer
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eine großdeutsche Beurteilung der Reichsgeschichte nach Luther und bereitete Wege vor, auf denen nach ihm Carl Adolf Cornelius und Onno Klopp, Johannes Janssen und Ludwig Pastor auf ihre Weise weiterschritten. Gerade der Paradigmenwechsel während der Arbeit - gewöhnlich kein Gütesiegel wissenschaftlicher Werke - verleiht Gfrörers Geschichte Gustav Adolfs besonderen, zusätzlichen Reiz, ermöglicht er doch eine höchst ertragreiche Analyse des Wachsens einer Geschichtsanschauung. Bereits einem ersten, nur Orientierung suchenden Hinsehen offenbart sich die Radikalität dieses Wechsels anhand der Beurteilung der Hauptperson. Feiert Gfrörer in der „Geschichte unserer Tage" den Schwedenkönig noch als den „Retter des protestantischen Glaubens in Deutschland", 181 dämpft er sich im Laufe der Arbeit an der ersten Auflage des „Gustav Adolph" deutlich herab und sieht sich genötigt, dem Schutzherrn des Protestantismus höchst weltliche Ambitionen zu attestieren. Immerhin aber kann er der Behauptung noch zustimmen, im Gegensatz zur Herrschaft des - auch hier noch sehr pejorativ - „gekrönten Jesuiten" Ferdinand II. hätte sich Deutschland glücklich preisen können, seine Einheit unter einem solchermaßen fähigen Monarchen wie Gustav Adolf verwirklicht zu sehen.182 Entschieden widerspricht hinwiederum dieses Urteil dem in der nachträglich entstandenen Vorrede zur ersten Auflage so eifrig von Gfrörer verfochtenen „ghibellinischen", kaiserlichen Standpunkt.183 Schließlich die zweite Auflage von 1845: „Gustav stürzte sich [...] in den teutschen Krieg aus derselben Triebfeder, die 2000 Jahre früher den jugendlichen König von Macédonien, Alexander, zum Angriff auf Asien hinrieß. - Drang nach kriegerischem Ruhme, ein durch den Schimmer religiöser Ideen verhüllter Geist der Eroberung hat den Schweden über die Ostsee herübergeführt." 184 Endgültig war da der Schutzherr zum Frevler geworden, und auch die Bemerkung, allein durch eine Herbeiführung der Reichseinheit hätte man sich die „Herrschaft des Fremdlings" vielleicht gefallen lassen können, hellt das düstere Bild nicht mehr auf. 185 Trotz der Inhomogenität bereits der ersten Auflage wuchs sich „Gustav Adolph" zum ersten großen Bucherfolg Gfrörers aus, einem Erfolg, der dem Vergleich mit demjenigen des Hurterschen „Innocenz" durchaus standhält. 1845 hatte das Werk in 5000 Exemplaren „den Weg zu den Herzen der Teutschen" gefunden, eine zweite Auflage folgte, auch diese, wiewohl durch Umarbeitung „das Buch [...] ein neues geworden" w a r , 1 8 6 schlug ein. Gfrörer legte sieben
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Freymund/Gfrörer, Geschichte unserer Tage, Jg. 18301, S. 199. Gfrörer, Gustav Adolph, 1. Aufl., S. 1036.
Ebd., Vorrede, S. XVÜ/XVm.
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Ebd., 2. Aufl., S. 684. 185 Ebd., 2. Aufl., S. 1016. 186 Ebd., 2. Aufl., Vorrede, S. V. Wilhelm von Chézy beschreibt in seinen Erinnerungen an Gfrörer die öffentliche Wirkung des „Gustay Adolph". Gfrörer habe damit zu
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Lebenswege
Jahre später eine dritte Auflage nach; die vierte und letzte erschien, nach dem Tode des Verfassers, 1863, herausgegeben von Onno Klopp. Das Werk, von Gfrörer zeitlebens mit Wohlgefallen betrachtet, hatte seine Bahn vollendet. „Sie werden darin meine Art zu denken kennen lernen." 187 Das Ansehen Gfrörers als Historiker im Bewußtsein einer größeren Öffentlichkeit begründete sich mit „Gustav Adolph" viel mehr, denn mit den 1838 sukzessive erscheinenden Folgebänden der „Geschichte des Urchristenthums". 188 Doch vollzog sich in diesen Bänden die religiöse Wandlung des ehemaligen protestantischen Pfarramtskandidaten, ebnete sich jener Weg, an dessen Ende die Konversion stand. Schon in der Vorrede zum „Jahrhundert des Heils" fühlte Gfrörer sich veranlaßt, heftig gegen Strauß und dessen Hegelianismen zu polemisieren, auch dagegen, daß Strauß viel zu viel und gerade das Wesentlichste, das historisch wohl Begründete, angegriffen habe. 189 Entschieden lehnte er alle Versuche ab, seinen „Philo" zur Antizipation „dieses modernen Vorkämpfers negativer Wahrheit" zu stilisieren, setzte dem Straußschen Zweifel seinen „durch klare Beweise gestüzten historischen Glauben an eine außerordentliche [...], übernatürliche Erscheinung" entgegen.190 Gfrörers eigene Untersuchungen, vor allem des Bandes, „Die heilige Sage", führten ihn schließlich zur vollen Überzeugung vom tatsächlichen Offenbarungscharakter der neutestamentlichen Bücher, den er hinter dem „Sagenhaften" der drei ersten Evangelien zu entdecken vermeinte und den er ganz besonders dem vierten, dem Johannesevangelium, zuerkannte. 191 Lapidar resümierte er in der Autobio-
seiner eigenen Verwunderung erfahren, „was Lord Byron einst von sich selber gesagt: ,Eines Morgens erwachte ich und war berühmt4." (Chézy, S. 22/23). 187 Gfrörer an Karl Theodor Andrée, 30. 8. 1845 (SB Berlin 2, Slg. Darmst. 2 d 1841 [3]). 188 August Friedrich Gfrörer: [Kritische] Geschichte des Urchristenthums, 4 Bde., Stuttgart 1835-1838; Bd. I: Philo, 2. Aufl. 1835 (s. Anm. 165); Bd. II: Das Jahrhundert des Heils; Bd. III: Die heilige Sage; Bd. IV: Das Heiligthum und die Wahrheit. 189 Gfrörer in einem Memorandum über die Inhalte seiner Geschichte des Urchristentums für Cotta (Marbach, Dt. Lit.archiv, Cotta Br.), 27.4.1837, S. 9; Gfrörer, Urchristenthum II (Das Jahrhundert des Heils), Vorrede, S. V I - X I X ; Strauß' „Leben Jesu" war 1835/1836 erschienen und nötigte Gfrörer förmlich zu einer Stellungnahme. 190 Gfrörer, Urchristenthum II (Das Jahrhundert des Heils), Vorrede, S. V I und VII. 191 Vorabzusammenfassung des Inhalts durch Gfrörer, Urchristenthum II (Das Jahrhundert des Heils), Vorrede, S. X I X / X X ; vgl. auch Schweitzer, S. 164-167; Hagen, S. 14-19; Gfrörer an R. Ullmann, 25.10.1837, unmittelbar nach Fertigstellung des zweiten Bandes (UB Heidelberg, Heid. Hs. 2808): „Meine Resultate sind von der Art, daß sie dem gläubigen Theologen angenehm seyn müßen, denn ich beweise z.B. daß das Evangelium Johannes [...] von einem Augenzeugen herrührt und uns die wahrhaftige Geschichte unseres Erlösers gibt. Dieß zeige ich nicht aus theologischen Gründen, sondern aus felsenfesten historischen."
ΠΙ. August Friedrich Gfrörer
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graphie das Ergebnis seiner Bemühungen: „Die genaueste und schärfste historische Untersuchung des Urchristenthums führt auf das Resultat, daß vor 18 Jahrhunderten etwas ganz Außerordentliches in Judäa geschehen seyn muß, über das sich jedoch nichts ermitteln läßt, als was in den Evangelien und der alten Tradition steht. Daraus folgt freilich, daß es Unsinn ist, so weit gehende Untersuchungen anzustellen um am Ende auf das, was jedes Kind wißen kann, zurückzukommen. Der Fehler liegt nicht in den Evangelien, sondern in dem Mißtrauen gegen das Herkommen und die Geschichte." 192 Mit anderen Worten: nicht durch wissenschaftliche Kritik, nicht durch Vernunft lassen sich die Ursprünge christlicher Heilsgewißheit gleichsam aus der Geschichte herausschälen. Nur positive Annahme des Überlieferten, mithin Glaube können das Unergründbare erfassen. Wer aber garantiert die Kontinuität des Überlieferten, die Sicherheit der Tradition? Die von Gott eingesetzte Kirche. 193 Unter solchen Überlegungen hatte sich die Tür zum Katholizismus für Gfrörer einen Spalt weit geöffnet. Weiter noch öffnete sie sich durch Gfrörers Arbeit an einer Kirchengeschichte. Gewiß haben diese Studien, denen er sich seit 1834 - parallel zur Ausarbeitung des „Urchristenthums" sowie des „Gustav Adolph" - unterzog, zu seiner veränderten Ansicht der „una sancta ecclesia" beigetragen. Wieder fallt der Blick zurück auf Hurter und dessen Faszination von der Kirchenorganisation unter Papst Innozenz III. Mußte sich nicht Gfrörer, dem sich im Laufe der Untersuchungen über die biblischen Schriften die Vernunft als Mittel zur Überprüfung der Glaubenssicherheit mehr und mehr entwand, in ähnlicher Weise zu jener Hierarchie hingezogen fühlen, welche dem Katholiken als Garant religiöser Gewißheit steht? Während aber Friedrich Emanuel Hurter mit dem „Innocenz" ein relativ einheitliches Werk präsentierte, ergab sich für Gfrörer der Wandel seiner Orientierungen, wie bereits im „Gustav Adolph", auch hier wieder erst im Zuge des Voranschreitens. „Das Buch geht im ersten, theilweise noch im zweiten Bande von protestantischen Anschauungen aus, je weiter der Verfaßer in das Mittelalter eindringt, desto mehr sieht er die Dinge im katholischen Lichte." 1 9 4 Und wie hier, so dort, beugte sich sein unbefangen wahrheitssuchendes Auge selbstredend keiner anderen als der Macht, der Kraft der nackten Tatsachen!195 1841 erschien der erste Band der Gfrörerschen Kir-
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Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 26/27. Gfrörer geht in der „Geschichte des Urchristenthums" diesen Schritt noch nicht ganz, doch deutet er ihn bereits an, etwa in der unverstellten Bewunderung, welche er der römisch-katholischen Kirche zollt (Gfrörer, Urchristenthum II: Das Jahrhundert des Heils, Vorrede, S. X I V - X V I ) . 194 Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 27. 195 Ebd., S. 25 und 27/28. 193
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chengeschichte; innerhalb von sechs Jahren führte er sie bis ins Jahr 1056, bis nahe an den Beginn des Pontifikats Gregors VII. (1073). 196 Mit den vier Bänden „Urchristenthum", den sieben Bänden „Kirchengeschichte" sowie den bis 1845 zwei Auflagen des „Gustav Adolph" erwarb sich Gfrörer trotz aller Unausgeglichenheit das Ansehen eines intimen Kenners der Kirchen- und Profangeschichte sowohl der Spätantike und des Mittelalters als auch der Neuzeit, daneben den Ruf eines talentierten und geistvollen Schriftstellers, dessen Werke eine fesselnde Lektüre bildeten. 197 Erhob sich auch von diversen Seiten Kritik an inhaltlichen Positionen wie methodischen Ansätzen Gfrörers, 198 so konnte andererseits eine Erwähnung seines Namens in Berufungsverhandlungen über Neubesetzungen kirchengeschichtlicher oder allgemeinhistorischer Professuren nicht ausbleiben. Im Juli 1841 war eine Anfrage aus Bonn an Gfrörer gegangen, ob er bereit wäre, das dortige Ordinariat für protestantische Kirchengeschichte zu übernehmen. 199 Gfrörer hatte abgelehnt, wohl aufgrund seiner damals bereits geringen Neigung, sich erneut eingehender beruflich an den orthodoxen Lutheranismus zu binden. Eher disponiert, Stuttgart, den engeren Kreis seiner Heimat zu verlassen, traf ihn 1846 ein Ruf aus dem badischen Freiburg, dort ein Ordinariat für Geschichte anzutreten, welches man neben dem bestehenden Lehrstuhl für Weltgeschichte - dem ehemaligen Lehrstuhl Rottecks - einzurichten gedachte.200 Gfrörer erklärte sich sofort bereit, anzunehmen. Seit dem Erscheinen seiner Kirchengeschichte mit ihrer katholisierenden Tendenz fühlte er sich im protestantischen Stuttgart nicht mehr wohl. Ja, er bat gar Böhmer, als sich die Freiburger Angelegenheit noch in der Schwebe befand, „bei etwaiger Gelegenheit der Einwirkung" ein gutes Wort für
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August Friedrich Gfrörer: Allgemeine Kirchengeschichte, 4 in 7 Bden., Stuttgart 1841-1846. 197 Vgl. etwa die hochgestimmte Rezension Jakob Philipp Fallmerayers: A. F. Gfrörers allgemeine Kirchengeschichte. Drei Bände in V I Abtheilungen. Stuttgart 18401844, in: Monatsblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung, Mai 1845, S. 200205. Fallmerayer spart hier auch nicht mit Spott über die „gelehrten" Kritiker Gfrörers. 198 Gfrörer antwortet z. B. in der Vorrede zur zweiten Aufl. des „Philo", S. V - X L V I I ausführlich - und natürlich nicht immer unpolemisch - auf die Kritik von protestantischer Seite. 199 Der Kurator der Universität Bonn, Rehfues, an Gfrörer, 8.7.1841, abgedruckt bei Heinrich Finke: Die Geschichtswissenschaft an der Universität Freiburg und die Berufung Gfrörers, in: HJb 50 (1930), S. 70-96, hier S. 91/92; ebd. S. 92: Gfrörer an den König von Württemberg, 9.9.1841 über seine Entscheidung, den Ruf nicht anzunehmen; vgl. auch Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 28. 200 Hans-Günter Zmarzlik: Die Geschichtswissenschaft an der Universität Freiburg in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Clemens Bauer / Emst Walter Zeeden / HansGünter Zmarzlik (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Freiburger Philosophischen Fakultät, Freiburg/Brsg. 1957, S. 141-182, bes. S. 143.
. August Friedrich Gfrörer
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ihn einzulegen. „Ich bin des Aufenthalts in Stuttgart satt, und würde am liebsten auf einer katholischen Universität Geschichte lehren, da meine Ansicht von der vaterländischen Historie im Allgemeinen und insbesondere von deutschem und mittelalterlichem Kirchenwesen bei entschiedenen Lutheranern nie Anklang finden wird." 2 0 1 Genau jene Haltung gab aber bei den langwierigen Verhandlungen in Freiburg den Ausschlag für die definitive Berufung des Protestanten Gfrörer. 202 Seit Beginn der vierziger Jahre hatte sich die Debatte um den katholischen Charakter der Freiburger Universität, auch unter dem Einfluß der allgemeinen Verschärfung des konfessionspolitischen Klimas durch die Kölner Ereignisse von 1837/38, heftiger entzündet. Beharrte vor allem die theologische Fakultät auf einer Berufung speziell katholischer Gelehrter zur Aufwertung des etwas daniederliegenden Faches Geschichte, standen einer solchen radikalen Ansicht Widerstände sowohl von Seiten der philosophischen Fakultät als auch der großherzoglichen Regierung entgegen. Bereits 1842 war mit dem Vorschlag aus dem Innenministerium, den jungen Ludwig Häusser zum außerordentlichen Professor zu ernennen, eine erste Verhandlungsrunde eingeläutet worden, allerdings nach Ablehnung Häussers durch die Universität ergebnislos geblieben. In einer zweiten Runde erhielt den Ruf 1845 der Katholik Jakob Philipp Fallmerayer, der sich allerdings nicht bereit fand, Bayern zu verlassen. Nun schritt der Kurator zur Prüfung weiterer katholischer Kandidaten, unter ihnen Joseph Aschbach, Constantin Höfler, Wilhelm Heinrich Grauert, Joseph Eutych Kopp. Keinem dieser Historiker konnte hinwiederum das Ministerium zustimmen; entweder vermißte man eine ausreichende wissenschaftliche Qualifikation oder eine genügende pädagogische Eignung. Im Falle August Friedrich Gfrörers hingegen ein Name, der peripher bereits im Bericht des Kurators gefallen war - glaubte man, beide Kriterien erfüllt sehen zu können. Aber, der Protestant Gfrörer erregte den neuerlichen Widerspruch der theologischen Fakultät. 203 Nur langsam konnte dieser Widerstand gebrochen werden, unter Hinweis auf die katholisierenden Tendenzen und Anschauungen der kirchengeschichtlichen Werke Gfrörers. Am 21. Oktober 1846 nahm Gfrörer den Ruf auf einen Lehrstuhl der Geschichte an der Universität Freiburg an. Die materielle Situation des damals bereits 43-jährigen besserte sich durch diese Berufung ein erstes Mal ent-
201 Gfrörer an Böhmer, 27.4.1846 (UB Frankfurt/M., NL Böhmer, Ms.Ff. Böhmer 1 Κ 5 G). 202 Den Gang dieser Berufungsverhandlungen schildert in allem Detail Finke, an dessen Darstellung ich mich im folgenden orientiere; vgl. auch Zmarzlik, S. 143. 203 Gfrörer an Böhmer, 27.4.1846 (s. Anm. 201): „Der Ruf wäre wohl bereits zu Stande gekommen, wenn nicht bisher die dortige theologische Fakultät sich gegen mich ausgesprochen hätte. Dieser Widerstand ist jedoch neuerdings, wie es scheint, beseitigt."
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scheidend: 1700 Gulden jährlich, zuzüglich 108 Gulden „Natural-Competenz" sprach ihm die großherzogliche Regierung als Besoldung zu. 2 0 4 Wie ein Vorspiel zu den hochschulpolitischen Konflikten der Zeit nach der Revolution von 1848 nehmen sich die die Umstände der Berufung Gfrörers nach Freiburg aus, wenngleich das konfessionelle Motiv 1846 noch sehr über das erst später an Bedeutung gewinnende politische dominierte. In Freiburg versuchte zunächst die katholische Fraktion, ihren Einfluß erneut stärker zur Geltung zu bringen, konnte aber selbst bei Wohlwollen von Seiten der Regierung im Falle der Besetzung der Geschichtsprofessur auf kein geeignetes Kandidatenreservoir zurückgreifen. Außer vielleicht Fallmerayer und Höfler fielen die katholischen Kandidaten doch recht blaß aus im Vergleich mit den „wirklichen Celebritäten", von denen bereits in der ersten Verhandlungsrunde von 1842 mehr oder weniger hypothetisch die Rede war: 2 0 5 Luden und Leo, Karl Adolf Menzel, Friedrich von Raumer und Hurter - auch er damals noch Protestant. So offenbart die Geschichte der Berufung Gfrörers nach Freiburg viel über jenes katholische Defizit an wissenschaftlichem Nachwuchs aus den eigenen Reihen, dem Abhilfe zu schaffen dringendes Bedürfiiis sein mußte, wollten die Katholiken ihrer religiösen und ihrer eng damit verbundenen politischen Haltung auf Dauer größere Akzeptanz verschaffen. Scheinbar war der Weg vom Katholizismus zur Wissenschaft Geschichte schwieriger als der umgekehrte Weg von der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Geschichte zum Katholizismus. Denn merkwürdigerweise kam, von Döllinger und Höfler abgesehen Joseph Görres arbeitete ja nie eigentlich geschichtswissenschaftlich - , die Mehrzahl jener Initiatoren der neuen katholizistisch-konservativen, großdeutschen Historiographie, kamen Böhmer, Hurter und Gfrörer allesamt vom Protestantismus. Erst in der zweiten Generation traten, als deren Schüler, Katholiken von Geburt in stärkerer Zahl auf. - Für die katholische Partei in Freiburg stellte, in diesem Lichte betrachtet, die Berufung Gfrörers keinen Nachteil dar, und auch die mehr auf wissenschaftliche und pädagogische Eignung abzielende Regierung konnte zufrieden sein. August Friedrich Gfrörer aus Calw siedelte im Herbst 1846 nach Freiburg über, um dort seine Lehrtätigkeit aufzunehmen. Schon am 6. Dezember 1846 berichtete er seinem Freunde, dem Stuttgarter Bibliothekar Stälin, von ersten Erfolgen. Seine Antrittsrede über „Wallensteins Schuld" 206 sei gut angekom204
Bericht des Innenministeriums an den Großherzog, 23. 11. 1846: Annahme des Rufes durch Gfrörer; Höhe der Besoldung (GLA Karlsruhe, Personalakt Gfrörer, s. Anm. 129). Nach 16 Jahren Bibliotheksdienst hatte Gfrörer in Stuttgart nur 1200 Guldenjährlich bezogen (s. Anm. 171). 205 Finke, S. 84. 206 [August Friedrich Gfrörer]: A. Fr. Gfrörer über Wallenstein. Öffentliche in der Aula zu Freiburg im Breisgau gehaltene Rede, mit welcher der neuemannte Professor
. August Friedrich Gfrörer
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men. „Morgen oder übermorgen lese ich wieder, ich habe nahe an 60 Zuhörer und bekomme wohl noch mehr und man ist mit meinen Vorträgen sehr zufrieden." Die Radikalen allerdings, „hier ein unausstehliches Geschlecht", seien ihm bereits heimlich feind. 207 Mit Elan ging er an die Vorbereitung von Kollegien, 208 was allerdings seine literarischen Projekte nicht bremsen konnte: neben einer weiteren kirchengeschichtlichen Studie über ,Alter, Ursprung und Werth der Dekretalen des falschen Isidorus", arbeitete er mit Hochdruck an der zweibändigen „Geschichte der ost- und westfränkischen Carolinger", sozusagen dem Eingangstor seines „Cursus completus" der deutschen Geschichte, zu dem in der Kirchengeschichte und im „Gustav Adolph" bereits zwei wichtige Teilstücke vorlagen. 209 Kaum richtig in Freiburg etabliert, sah sich Gfrörer im Februar 1848 mit der Revolution konfrontiert, die von Frankreich und der Schweiz aus ins Badische herüberschwappte. Da erwachte erneut der Publizist, ja der Politiker Gfrörer, drängte sich vor den Wissenschaftler, drängte ihn hinaus in die stürmische Öffentlichkeit. Ein Wahlkreis seiner württembergischen Heimat, Ehingen an der Donau, wählte ihn in die Nationalversammlung. 210 Im Mai 1848 gewährte der Großherzog dem politisierenden Historiker Urlaub, und Gfrörer reiste nach Frankfurt ab. 211
der Geschichte A. Fr. Gfrörer Mitte November 1846 seine Vorlesungen eröffnete, in: Monatsblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung, Januar 1847, S. 34-45 (im folgenden Wallensteins Schuld). 207 Gfrörer an Stälin, 6.12.1846 (WLB, Cod.hist.fol.866). 208 Carl Adolf Cornelius, der in seinem Tagebuch um diese Zeit penibel Buch führt über die Vorlesungen deutscher Geschichtsprofessoren, notiert, Gfrörer habe im Sommersemester 1847 gelesen: Deutsche Reichsgeschichte von den Ottonen zu den Hohenstaufen; Geschichte des 17. Jahrhunderts; Literaturgeschichte des Mittelalters (BSB, NL Cornelius ANA 3 5 1 1 D 29, S. 89). 209 August Friedrich Gfrörer: Untersuchungen über Alter, Ursprung und Werth der Dekretalen des falschen Isidorus, Freiburg/Brsg. 1848; ders.: Geschichte der ost- und westfränkischen Carolinger vom Tode Ludwigs des Frommen bis zum Ende Conrads I. (840-918), 2 Bde., ebd. 1848. 210 Gfrörer, Autobiographie (s. Anm. 129), S. 30/31; zur Wahl Gfrörers im DonauKreis VI, Ehingen vgl. auch Bernhard Mann: Die Württemberger und die deutsche Nationalversammlung 1848/49, Düsseldorf 1975 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 57), S. 409. 211 Gfrörer an das Kuratorium der Universität Freiburg, 4. 5. 1848; Gewährung des Urlaubs durch den Großherzog, 19.5.1848 (GLA Karlsruhe, Personalakt Gfrörer, s. Anm. 129).
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Lebenswege IV. Ignaz Döllinger
Im Frühjahr 1846 erschien im Verlag G. Joseph Manz zu Regensburg der erste Band eines Werkes, dessen Zugriff auf eines der zentralen Ereignisse neuerer europäischer Geschichte heftige Reaktionen in den Lagern der deutschsprachigen Historiker und Theologen beiderlei Konfessionen auslösen sollte. August Friedrich Gfrörer, dem - selbst Urheber eines ähnlich aufwühlenden Geschichtswerkes - ein Gespür für die Brisanz historiographischer Ansätze zugebilligt werden muß, erging sich dem Verfasser gegenüber in enthusiastischen Prophezeiungen: „Ich hatte das Buch sogleich nach Erscheinen [...] angeschafft und mit größter Begierde gelesen. Ob ich gleich eine ähnliche Ansicht vom 16ten Jahrhundert habe, wie Sie, hätte ich früher nie geglaubt, daß in den Schriften der Reformatoren selbst so unumwundene Bekenntniße vorhanden seyen, wie ich jetzt zu meinem Erstaunen sah. Das Buch muß Epoche machen. Lassen Sie sich durch das Geschrey der Berliner nicht schrecken, es beweist nur, daß sie sich getroffen fühlen." 212 Gfrörers Ausdruck der Bewunderung galt dem Münchener Professor für Kirchengeschichte und Kirchenrecht Johann Joseph Ignaz Döllinger und dessen Werk „Die Reformation, ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen im Umfange des Lutherischen Bekenntnisses".213 Der Richtung dieser Bewunderung folgend neigt sich die tour d'horizon über die Lebensläufe der ersten Generation großdeutscher Historiker, indem sie einmündet ins Zentrum des Görreskreises und sich den beiden bedeutenden Geschichtsschreibern jener Gesellschaft zuwendet, Döllinger eben, und Constantin Höfler. Wie ein Kontrapunkt zu den Protestanten Böhmer, Hurter und Gfrörer, deren Weg konfessionell zu einem mehr oder weniger orthodoxen Katholizismus sowie politisch zum kompromißlosen Großdeutschtum führte, erscheint die Gestalt Döllingers. 214 Im politisch aufgeheizten Klima Münchens der späten 212
Gfrörer an Döllinger, 2.5.1846 (BSB, NL Döllinger, Döllingeriana Π). Ignaz Döllinger: Die Reformation, ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen im Umfange des lutherischen Bekenntnisses, 3 Bde., Regensburg, 1846-1848; dass., ebd. 2 1851. 214 Zu Leben und Werk Döllingers liegen mehrere kleinere Überblickspublikationen neueren Ursprungs, jedoch keine umfangreiche moderne Biographie vor. Standardcharakter kommt trotz seiner altkatholischen Tendenz (vgl. o. S. 61) weiterhin dem dreibändigen Werk Johannes Friedrichs zu, vor allem aufgrund dessen reicher Materialfülle: Friedrich, Döllinger; ders.: Art. „Ignaz von Döllinger", in: ADB 48 (1904), S. 1-19. Weiterhin Carl Adolf Cornelius: Gedächtnisrede auf Ignaz von Döllinger, in: ders., Historische Arbeiten, S. 601-612; Joseph Edmund Jörg: Döllinger. Erinnerungen seines alten Amanuensis, in: HPB11 105 (1890), S. 237-262; Fritz Vigener: Drei Gestalten aus dem modernen Katholizismus. Möhler, Diepenbrock, Döllinger, München/Berlin 1926 (= HZ, Beiheft 7), hier S. 108-188; Walter Goetz: Ignaz Döllinger und seine Ent213
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dreißiger und der vierziger Jahre ein brillanter Anwalt ultramontan-katholischer Prinzipien, wandelte er sich unter dem Eindruck seiner Studien über Urkirche, Kirchenstaat, Nationalkirchen, wie infolge seiner Enttäuschung über den autokratischen Kurs Pius' IX. zum Gegner des papstkirchlichen Absolutismus, zum Gegner vor allem der dogmatisierten päpstlichen Infallibilität, zum geistigen Vater des Altkatholizismus. Auch der Idee einer großdeutschen Reichseinigung entfremdete er sich zumindest, wozu seine Erfahrungen als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 ebenso beitrugen wie das Miterleben der politischen Entwicklung seit 1866. Döllinger akzeptierte früher oder später den kleindeutschen Bismarckstaat. Gleichwohl bleibt es problematisch, Döllinger in dieser Hinsicht mit Böhmer, Hurter und Gfrörer zu vergleichen, schon aufgrund der wesentlich längeren Lebensspanne, die ihm beschieden war. Gfrörer starb 1861, Böhmer 1863, Hurter 1865, alle drei vor jenen entscheidenden ereignisgeschichtlichen Höhepunkten der späten sechziger und beginnenden siebziger Jahre - deutsch-österreichischer Krieg, Reichsgründung und Vatikanum - , zu denen auch sie hätten Stellung beziehen müssen. Und obendrein herrscht doch, bei allem Unbehagen vor der Arbeit mit unsicheren Operatoren wie „menschlicher Größe", eine innere Distanz zwischen jenen und Döllinger. Wie innovativ auch Böhmer und Gfrörer arbeiteten, der eine still-beharrlich, der andere impulsiv und polternd vorwärts drängend, zuweilen wirr: sie waren doch in erster Linie „nur" Historiker. Hurter schließlich, Historiker unter anderem, vor allem aber von den dreien derjenige mit der erstaunlichsten äußeren Laufbahn, drehte sich geistig viel zu sehr um sich selbst, um noch wirklich bedeutend und dauerhaft nach außen wirken zu können. Döllinger hingegen war nie „nur" Historiker, war Theologe, Philosoph, war Lehrer, Politiker, Dogmatiker und Polemiker, ja Agitator. Döllinger war - ähnlich Joseph Görres - eine charismatische Figur, in dem sich die geistigen Strömungen seines Jahrhunderts wie in einem Prisma bündelten und in neuer Brechung wieder abstrahlten. Auch auf die großdeutsche Geschichtsschreibung fielen diese Strahlen.
Wicklung (1799-1890), in: ders., Historiker in meiner Zeit, S. 175-186; Georg Schwaiger: Ignaz von Döllinger, München 1963 (= Münchener Universitätsreden, NF 37); ders.: Ignaz von Döllinger (1799-1890), in: Heinrich Fries/Georg Schwaiger (Hg.), Katholische Theologen Deutschlands im 19. Jahrhundert, Bd. 3, München 1975, S. 9 43; Werner Küppers: Ignaz von Döllinger (1799-1890), in: Hermann Heimpel / Theodor Heuss / Benno Reifenberg (Hg.), Die großen Deutschen. Deutsche Biographie (im folgenden DGD), Bd. 5, Frankfurt a. M . / Berlin / Wien 1966, S. 301-308; ders.: Art. „Ignaz von Döllinger", in: NDB 4 (1959), S. 21-25; Johann Finsterhölzl (Hg.): Ignaz von Döllinger, Graz 1969 (= Wegbereiter heutiger Theologie, Bd. 2); Victor Conzemius: Art. „Ignaz Döllinger", in: TRE 9 (1982), S. 20-26; Denzler / Grasmück (mit ausführlicher Bibliographie).
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Während aber der streitbare und unbequeme Theologe der späteren Jahre i m Zentrum immer neuer Forschungsbemühungen steht, gilt für den politischen Historiker Döllinger und seine Position i m Koordinatenfeld der GroßdeutschKleindeutsch-Kontroverse nach wie vor das Urteil Ferdinand Seibts: „ D ö l l i n gers Weg v o m entschiedenen Verteidiger des Kniebeugeerlasses 1838 gegen die Protestanten bis h i n zum Protest gegen das Erste Vatikanum 1871 ist bekannter als sein politischer W a n d e l . " 2 1 5 Der Versuch einer Standortbestimmung D ö l l i n gers auf diesem Gebiet, das j a untrennbar auch zusammenhängt mit seinem B i l d der deutschen Geschichte, erfordert eine genaue Kenntnis der Ausgangsposition und der i n dieser angelegten Optionen, erfordert aber auch, wie bei allen anderen Historikern der ersten Generation, die Vergegenwärtigung einiger entscheidender Lebensstationen. Gfrörer prophezeite 1846 richtig: jenes Werk Döllingers über die Reformation zeitigte ungeahnte Wirkungen, wenigstens für den A u g e n b l i c k . 2 1 6 U m ein
215
Ferdinand Seibt: Die bayerische „Reichshistoriographie" und die Ideologie des deutschen Nationalstaats 1806-1918, in: ZBLG 28 (1965), S. 523-554, hier S. 537. Döllinger nahm erst 1843 schriftlich zur Kniebeugefrage Stellung. 216 Die Einschätzung Dieter Albrechts, Döllingers „Reformation" sei „ohne die erhoffte breitere Wirkung" geblieben {Joseph Edmund Jörg: Briefwechsel 1846-1901, bearbeitet von Dieter Albrecht, Mainz 1988 [= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen, Bd. 41], hier Einleitung, S. X X V I ) , trifft nur zum Teil zu. Sicher, schon von seiner Anlage her konnte das Werk auf eine ganz große Massenwirkung nicht rechnen. Möglicherweise schwingt in dieser Beurteilung aber auch noch eine Traditionslinie mit, die - bewußt oder unbewußt - dazu tendierte, entweder Döllingers gesamtes Schaffen oder zumindest Teile dieses Schaffens in ihrer Bedeutung zu relativieren. Die ganz unterschiedlichen Döllinger-Interpreten Joseph Edmund Jörg und Johannes Friedrich trafen sich in diesem Bestreben hinsichtlich der Bewertung des Reformationswerkes. Jörg, der seit 1844 eine Art Privatsekretär Döllingers war und einen Großteil der Quellenexzerpte für die „Reformation" besorgte, also einen erheblichen Anteil an der Entstehung dieses Werkes für sich beanspruchen durfte, blieb im Gegensatz zu seinemfrüheren Mentor geistig der orthodox-katholischen Linie treu und brach mit Döllinger in den sechziger Jahren. In seinen „Erinnerungen" an Döllinger schätzte er nach dessen Tod den buchhändlerischen Erfolg aller größeren Werke Döllingers vor „Kirche und Kirchen" (1861) nicht übermäßig hoch ein („Von seinen großen Werken hatte nur der erste Band der Reformationsgeschichte eine zweite Auflage erlebt, die beiden Bände über die Anfänge der Kirchengeschichte gar keine." - Jörg, Döllinger, S. 249/250). Der Altkatholik Friedrich hingegen identifizierte sich vor allem mit Döllingers zweiter Schaffensphase und neigte zu überzogener Kritik an den früheren Werken, also auch an der „Reformation". - Gegen diese Urteile steht freilich zu bemerken: Vor allem der erste Band - erschienen 1846 - zeitigte die von Gfrörer angesprochene Wirkung sowohl in katholischen als auch in protestantischen Kreisen (Belege bei Friedrich, Döllinger Π, S. 244-251). Die Berliner „Litterarische Zeitung" zeigte den Band am 14. März 1846 in einem polemischen Artikel an, dessen Ton jedoch kaum - wie Fried-
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geschichtswissenschaftliches Werk im strengen Sinne handelte es sich freilich nicht. Mehr als die äußere Geschichte der Reformation ein weiteres Mal darzustellen, lag Döllinger daran, deren innere Entwicklung in einem bestimmten Lichte vorzuführen. „Die Aufgabe, welche hier zu lösen [...] versucht wird, ist eine andere; es ist der innere Entwicklungsgang des Protestantismus, die fortschreitende Bewegung der Lehre, die Mittel, durch welche der Sieg des protestantischen Systems erkämpft und seine Herrschaft befestigt wurde, der Einfluß, der durch ausgezeichnete Persönlichkeiten auf dessen Gestaltung geübt worden, die allmälig auf seinem eigenen Gebiete eintretenden Reaktionen, die religiöse Haltung und Stimmung, die durch das neue System erzeugt wurde, der Gegensatz der katholischen und protestantischen Institutionen, die Wirkungen, welche sich theils an die Vernichtung der altkirchlichen Einrichtungen, theils an die neuen Surrogate geknüpft haben - dieß sind die Materien, denen hier eine sorgfaltigere und umfassendere Erörterung, als ihnen sonst noch zu Theil geworden, gewidmet werden soll." 2 1 7 Als „Methode" wählte Döllinger, „die bedeutendsten Männer der Zeit und ihre Äußerungen und Zeugnisse über das Werk der Reformation vorzuführen." Außer Luther und Melanchthon wolle er im ersten Band nur solche behandeln, „die von der Theilnahme an der kirchlichen Bewegung sich ferne hielten, oder die sich wieder von derselben lossagten, oder die eine eigenthümliche, von der herrschenden abweichende Richtung ein-
rich (II, S. 245) spekuliert - auf Ranke als Verfasser hinweisen dürfte. Verständlich scheint, daß der zweite und dritte Band weniger Resonanz erhielten: der Reiz des Ungewöhnlichen, Neuen war verflogen. Zudem: beide Bände erschienen während der Revolutionszeit, die „beinahe alles Interesse an nichtpolitischen Erörterungen erstickt und den Buchhandel fast ganz gelähmt" hatte (ebd. Π, S. 346). Über die Schwierigkeiten, „gute Werke" abzusetzen, berichtete Buchhändler Manz ausfuhrlich an Döllinger (ebd. Π, S. 346-349). Trotzdem schrieb Döllinger über eine mögliche Fortsetzung des Werkes in einem vierten Band - woran er auch während seiner Frankfurter Zeit mit der Münchener Unterstützung von Jörg arbeitete - im September 1848, „kompetente Stimmen" hätten ihn zur Fortsetzung ermuntert, „und der Absatz ist auch nicht so gering, daß ich mich abschrecken lassen sollte." (Döllinger an Jörg, o. D. [September 1848] - Jörg, Briefwechsel, S. 14). Seit 1851 konnte Manz mit der Auslieferung einer zweiten Auflage beginnen; ein Nachdruck aller drei Bände erschien schließlich 1853/54 in Arnheim innerhalb einer ,3ibliothek für Geschichte, Philosophie und Theologie" - beides für ein Werk vom Charakter der „Reformation" unter den genannten Zeitumständen immerhin erstaunlich. - Hinsichtlich einer Langzeitwirkung bliebe freilich weiterhin zu differenzieren. Hier ginge es, vor allem in Zusammenhang mit der Behandlung der „Deutschen Geschichte" Janssens, um die Frage einer „inneren" Nachwirkung der „Reformation" Döllingers auf Janssens Werk sowie um die Bestimmung der Traditionslinie spezifisch katholischer Reformationsgeschichtsschreibung von Döllinger über Janssen bis zu Joseph Lortz und darüber hinaus (vgl. dazu auch die Literaturhinweise in Denkwege, Anm. 205). 217
Döllinger, Reformation I, Vorrede S. V/VI.
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schlugen und verfolgten." Später wolle er jedoch alle „bedeutenden Reformatoren" - immer im Umfange des lutherischen Bekenntnisses - , „dann ihre Schüler und Freunde" präsentieren. Polemische Autoren der katholischen Seite schließe er hingegen absichtlich aus. 218 So entstand ein umfangreiches Kompendium kommentierter zeitgenössischer Äußerungen zur Reformationsgeschichte auf beachtlichem Niveau zwar, aber doch unverhohlen vom orthodoxkatholischen Standpunkt aus, der jene Reformation ohne Wenn und Aber ablehnte. Nicht zu Unrecht haben kritische Analysen den Wissenschaftscharakter des Reformationswerkes Döllingers in Zweifel gezogen. Hinter der scheinbaren, pseudokritischen Objektivität der in Wirklichkeit höchst einseitig gewählten und aus dem Zusammenhang gerissenen Zeugenaussagen verberge sich ein zugegebenermaßen brillant konstruiertes Inquisitionsverfahren gegen Reformation und Protestantismus überhaupt. 219 Jene seltsame, herausfordernde Kombination von höchster kirchengeschichtlicher Gelehrsamkeit und Quellenkenntnis und äußerst kühl kalkulierter polemisch-rhetorischer Potenz veranlaßte wohl auch das von Gfrörer prophezeite Aufsehen. Liegt in dieser Kombination die eigentliche Originalität des Reformationswerkes, so gehen von deren Erkenntnis gleichzeitig Fragen aus, nicht nur über das Werk selbst, sondern auch über dessen Verfasser: Wer war dieser Döllinger, der hier über drei dicke Bände hinweg mit scheinbar leichter Hand eine Menge an Material ausbreitete, deren intime Kenntnis gut und gerne als Frucht eines Lebenswerkes hätte gelten können? Nach normalen Maßstäben geurteilt, hatte Döllinger den Höhepunkt eines Gelehrtenlebens längst erreicht, als er 1846 den ersten Band der „Reformation" veröffentlichte. Seit fast zwanzig Jahren bekleidete der 47jährige damals bereits einen Lehrstuhl für Kirchengeschichte und Kirchenrecht an der Münchener Universität, seit 1835 gehörte er der Bayerischen Akademie der Wissenschaften an. 1844/45 führte er seine Universität als Rektor und 1845/46 vertrat er sie als 218
Ebd. I, Vorrede, S. VII. So bereits Friedrich, Döllinger Π, S. 244; schließlich besonders Vigener, S. 121— 130, vgl. hier etwa S. 123: „Die Quellenzeugnisse, die Döllinger mit einem durch Kircheneifer angefeuerten Forschungseifer zusammengebracht hat, müssen allerdings berücksichtigt, müssen kritisch verwertet werden: bei Döllinger selbst aber fehlt eben diese kritisch abwägende, besonnene, lediglich auf wissenschaftliche Erkenntnis gerichtete Quellenverwertung durchaus. [...] Was er aus seinem eigenen Geiste heraus in dieses Buch trägt, ist wesentlich kirchlich-apologetisch, nicht wissenschaftlich: das Werk, das mit der Unzahl von Belegen und der breiten Masse der Auszüge den Laien verwirrt und die bescheidenen kritischen Bedürfnisse flüchtiger Leser durch Scheinkritik beschwichtigt, will durch seine protestantischen Zeugnisse gegen den Protestantismus gleichsam eine innerprotestantische Polemik mit katholischen Zielen eröffnen." Vgl. weiterhin Walter Beyna: Das moderne katholische Lutherbild, Essen 1969 (= Koinonia, Bd. 7), S. 15-19. 219
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Abgeordneter in der zweiten Kammer des bayerischen Landtages.220 Ignaz Döllinger zählte Mitte der vierziger Jahre zu den herausragenden katholischen Gelehrten sowie zu den auffalligsten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der königlich-bayerischen Hauptstadt. Geboren 1799 zu Bamberg als Sohn jenes Mediziners Ignaz Döllinger, der empirische Beobachtungen über embryonale Entwicklungen im Hühnerei mit naturphilosophischen Spekulationen Schellingscher Art verband 221 - von Hause aus also mit akademischer Gelehrsamkeit vertraut-, wandte sich Döllinger junior in Würzburg bald der Theologie zu, die er von Anfang an, auf der Suche nach dem „eigentlichsten und tiefsten Thema der Welt- und Menschengeschichte", als Wissenschaft, um ihrer selbst willen zu studieren gedachte. Nicht um Priester zu werden, sondern um Theologie als Wissenschaft zu betreiben, wählte Döllinger dieses Fach. 222 Trotzdem besuchte er das Bamberger Priesterseminar, empfing 1822 die Priesterweihe und verbrachte sogar eine kurze Kaplanszeit in einem fränkischen Flecken Marktscheinfeld. Wohl dem Einfluß seines Vaters verdankte Döllinger 1823 die Berufung auf eine Gymnasialprofessur nach Aschaffenburg. 223 Hier begann er eigentlich seine lebenslange Auseinandersetzung mit Kirchengeschichte und Patristik, 224 inspiriert und getrieben von der Frage, worin der kirchliche Anspruch auf Katholizität, also auf allumfassende und ausschließliche Repräsentanz der irdischen Gemeinde des Herrn wurzle beziehungsweise allein wurzeln könne. Wie der fast gleichaltrige Johann Adam Möhler in seiner aufsehenerregenden Erstlingsschrift suchte auch der junge
220
Vgl. den tabellarischen Lebensabriß in Denzler / Grasmück, S. 483-485, sowie grundsätzlich Friedrich, Döllinger, insbes. Bd. II. 221 Über Döllingers Vater vgl. Friedrich, Döllinger I, S. 30-59. 222 Vgl. eine frühe Aufzeichnung Döllingers,,pleine Wahl der Theologie", bei Friedrich, Döllinger I, S. 91. 223 Ebd. I, S. 142. 224 Vgl. etwa Döllinger an seinen Großoheim, 29.4.1826 (Friedrich, Döllinger I, S. 168/169) mit Überreichung seines Erstlingswerkes: „Ich werde mich daher von jetzt an unablässig bestreben, meine theologischen Kenntnisse immer zu erweitem, damit ich im Stande sei, künftig auch in anderen Schriften als Verteidiger der Wahrheit und der guten Sache aufzutreten; denn welchen erhabeneren Beruf gibt es, als den, mündlich und schriftlich dazu beizutragen, daß die Wahrheit und Alleingültigkeit der katholischen Religion immer mehr erkannt, und besonders der Vorwurf der Veränderlichkeit im Glauben, der ihr von protestantischen Theologen so oft gemacht wird, abgewiesen werde! Daher habe ich mir auch Kirchengeschichte und Patristik als meine Hauptfacher gewählt, denen ich alle Zeit und alle meine Kräfte widme, damit ich auf diesem Felde einst etwas Gründliches zu leisten vermöge."
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Döllinger nach der Einheit der Kirche, nach dem Princip des Katholicismus 225 sowie schließlich nach Möglichkeiten einer Erneuerung der Kirche durch die Rückbesinnung auf jenes Prinzip. Döllinger fand es begründet in der Lehre von der Unveränderlichkeit des Dogmas, die er gegenüber protestantischen Kirchenhistorikern und deren Ansicht vom beständigen Wechsel der Dogmen und von der Wandelbarkeit des kirchlichen Lehrbegriffes zu entwickeln suchte. Zweifellos stellen die Einleitungssätze jener Schrift „Die Lehre von der Eucharistie in den drei ersten Jahrhunderten", mit der Döllinger 1826 seine literarische Laufbahn begann, in dieser Hinsicht einen „Fixpunkt für jede Beurteilung" 2 2 6 seines Lebenswerkes dar: „Es ist bekanntlich der erste und heiligste Grundsatz der katholischen Kirche, kein Dogma anzunehmen, welches nicht in der Tradition aller früheren Jahrhunderte vollkommen gegründet ist; und wenn es möglich wäre, durch vollgültige Beweisgründe darzuthun, dass seit dem Ursprünge des Christenthums bis auf unsere Zeiten auch nur in einem einzigen Glaubenssatze eine wesentliche Veränderung statt gefunden habe, und von der Kirche angenommen worden sei, so würde diese Kirche in ihrem Grundprincip, der Katholicität, angegriffen sein, und der Vorzug dieser Allgemeinheit und Unveränderlichkeit, welchen sie vor allen übrigen christlichen Religionsparteien ausschliesslich zu besitzen sich rühmt, wäre ihr hiermit entrissen." 227 Wenn auch dieser ,,Fixpunkt" eine Richtung vorgibt, so scheint es doch bedenklich, Döllingers gesamten weiteren Lebensweg bis zur Ablehnung des Dogmas der päpstlichen Infallibilität aus ihm wie mit zwingender Logik abzuleiten, um diesen Lebensweg dann je nach eigenem katholischem oder nichtkatholischem Standpunkt zustimmend oder ablehnend zu bewerten. 228 Eine wichtige Motivation für sein späteres Urteilen und Handeln offenbart er freilich doch. Mit der Schrift über die Eucharistie als fähiger Theologe ausgewiesen, konnte Döllinger zunächst an seiner weiteren Karriere arbeiten. Bereits in Kenntnis der Absicht des neuen bayerischen Königs, seine wichtigste Landesuniversität in die Hauptstadt zu verlegen und insgesamt zu reorganisieren, ließ er sich noch 1826 in Landshut zum Doktor der Theologie promovieren, so daß einer Berufung auf ein Extraordinariat der neuen Münchener Universität 225 Johann Adam Möhler: Die Einheit der Kirche oder das Princip des Katholicismus, Tübingen 1825. Über den Eindruck dieser Schrift Möhlers auf Döllinger vgl. Friedrich, Döllinger I, S. 150. 226 Küppers, S. 302. 227 Johann Joseph Ignaz Döllinger: Die Lehre von der Eucharistie in den drei ersten Jahrhunderten. Historisch-theologische Abhandlung, Mainz 1826 (= Die Eucharistie in den drei ersten Jahrhunderten. Erste - dogmatische - Abtheilung), S. 1. 228 So etwa, mit zustimmender Wertung, bei Friedrich, Döllinger I, S. 170. Döllinger sei diesem „Maßstab seines Handelns" bis zu seinem Tode immer treu geblieben, habe sich aus dieser Maxime heraus letztendlich gegen die römische Kirche selbst wenden müssen, als diese die Basis der Katholizität verlassen habe.
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nichts mehr im Wege stand. 229 Noch im selben Jahr betrat er die Stätte seines weiteren Wirkens, die er dauerhaft nicht mehr verlassen sollte, und nahm seine Lehrtätigkeit auf. Döllinger fand sich in ein Klima aufblühenden, regen, aber auch spannungsgeladenen geistigen Lebens versetzt, innerhalb dessen er seine Talente voll entfalten konnte. Verschiedene Gruppen buhlten um die Gunst des forschen jungen Monarchen Ludwig I., rangen bildungspolitisch um den maßgebenden Einfluß an der neuen Universität. Dabei stand die orthodox-katholische, „ultramontane" Partei zunächst nicht in vorderster Reihe. Die Bestrebungen des Königs richteten sich, bei grundsätzlicher Katholizität, auf eine offenere, gesamtchristlich ausgelegte Integration verschiedenster Strömungen. Der extremste Rationalismus der Aufklärung sollte zwar Überwindung finden; gleichwohl galt es nicht, die Schraube zurückzudrehen, sondern nach Synthesen, vor allem nach einer philosophisch-theologischen Synthese von Wissen und Glauben zu suchen. In dieser Hinsicht stand die neuhumanistische Richtung des Schulreformers Friedrich von Thiersch nicht unbedingt gegen die gemäßigte und offene katholische Linie Johann Michael Sailers und des Bildungspolitikers Eduard von Schenk. Und auch der katholische Naturphilosoph Franz von Baader sowie der protestantische Idealist Schelling konnten gemeinsam an der neuen Universität versuchen, sich jener Synthese von zwei verschiedenen Seiten her zu nähern. 230
229
Ebd. I, S. 173; zur Landshuter Universität vgl. allg. Alfons Beckenbauer: Die Ludwig-Maximilians-Universität in ihrer Landshuter Epoche 1800-1826, München 1992. 230 Grundsätzlich zu den politischen und geistigen Entwicklungen während der Regierungszeit König Ludwigs I.: Michael Doeberl: Entwicklungsgeschichte Bayerns, Bd. III, hg. von Max Spindler, München 1931, S. 3-168; Max Spindler: Die Regierungszeit Ludwigs I. (1825-1848), in: ders. (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV,1, München 1974, S. 87-223; Heinz Gollwitzer: Ludwig I. von Bayern. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie, München 2 1987 (mit umfangreicher Bibliographie) sowie ders.: Ein Staatsmann des Vormärz: Karl von Abel (1788-1859). Beamtenaristokratie - Monarchisches Prinzip - Politischer Katholizismus, Göttingen 1993 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 50). - Von besonderem Interesse für das geistige München der Jahre vor 1848 weiterhin Philipp Funk: Von der Aufklärung zur Romantik. Studien zur Vorgeschichte der Münchener Romantik, München 1925; Borodajkewycz. Mit Blick auf die vierziger Jahre Heribert Raab: München im Vormärz. Bemerkungen zum gesellschaftlichen und geistigen Leben nach den Tagebüchern des Schweizer Studenten Josef Gmür (1844-1846), in: Andreas Kraus (Hg.), Festgabe für Max Spindler zum 90. Geburtstag, Bd. III, München 1984, S. 157-180; hinsichtlich der außeruniversitären Geschichtspolitik des bayerischen Staates Hans-Michael Körner: Staat und Geschichte im Königreich Bayern 1806-1918, München 1992 (= Schriftenreihe zur bayerischen
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Der Extraordinarius Döllinger Schloß sich in seinem Bestreben, das Prinzip der Katholizität zu verteidigen, der orthodox katholischen Gruppe an. Diese konnte mit der Berufung Joseph Görres' auf eine Professur für Geschichte 1827 immerhin die Besetzung einer universitären Schlüsselposition in ihrem Sinne erreichen. 231 Mit der Zeitschrift „Eos" begann alsbald ein Versuch des sich sogleich um die neue Zentralfigur Görres scharenden Kreises, sich publizistisch Öffentlichkeit und vielleicht auch größeren Einfluß auf den König zu verschaffen. 232 Auch Döllinger steuerte bei, unter anderem einen programmatischen Artikel, die orthodox-katholischen Vorstellungen über das Verhältnis von Kirche und Staat betreffend. 233 Indessen stießen solche Unternehmungen beim König zunächst noch auf Ablehnung. Als sich jedoch infolge der Julirevolution von 1830 sein Regierungsstil änderte, sich langsam in eine konservativ-klerikalistische Richtung bewegte, gewannen auch die orthodoxen Katholiken an Boden. Endgültig sollten aber erst die Kölner Ereignisse von 1837/38 Ludwig auf deren Seite führen, sollten in München jene glanzvolle Periode des Görreskreises einleiten, in der die „Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland" das Gesicht des aufstrebenden politischen Katholizismus prägten. 234 Döllinger, seit 1827 Ordinarius, legte in dem Jahrzehnt bis 1837 Grundlagen, auch seines Bildes der deutschen, der Reichsgeschichte im Rahmen der allgemeinen Kirchengeschichte. Sicher, seine Bemühungen um das Prinzip der Katholizität hatten ihn zunächst auf die Zeit der Urkirche, des frühen Christentums verwiesen, hatten ihm die Aufgabe gestellt, „die vollkommene Übereinstimmung des katholischen Lehrbegriflfs, wie er jetzt allgemein geltend ist, mit dem Glauben der alten Kirche nachzuweisen." Darin gerade bestehe die Hauptaufgabe des katholischen Theologen, „dass er durch eine vertraute Bekanntschaft mit dem christlichen Alterthume im Stande sei, von jedem einzelnen Dogma darzuthun, wie dasselbe nach allen seinen wesentlichen Bestimmungen schon in den ersten Jahrhunderten gültig gewesen, folglich als ächtapostolische Lehre betrachtet werden dürfe." Aber der postulierte Zusammenhang zwischen Urkirche und Gegenwart verwies den Theologen auch auf das Zwischenstück, die Geschichte der Kirche, den „Lauf der Zeiten", in dem sich jene Dogmen, wie Döllinger überzeugt war, „unverfälscht erhalten und fortgeLandesgeschichte, Bd. 96). - Die biographische Skizze Höflers, u. S. 132-145, geht auf Schelling noch gesondert ein. 231 Vgl. Karl Alexander von Müller: Görres' Berufung nach München, in: Karl Hoeber (Hg.), Görres-Festschrift. Aufsätze und Abhandlungen zum 150. Geburtstag von Joseph Görres, Köln 1926, S. 216-246. 232 Zur „Eos" vgl. Traditionsstränge, Anm. 267. 233 Ignaz Döllinger: Staat und Kirche, in: Eos. Münchener Blätter für Literatur und Kunst 13 (1829), S. 555-560; Wiederabdruck in Auszügen bei Finsterhölzl, S. 73-81. 234 Vgl. Doeberl m , S. 94-147; Gollwitzer, Ludwig I., S. 561-582, 605-633; ders.,
Abel, S. 215-232, S. 244-255. - Zum Görres-Kreis sowie den HPB11 vgl. u. S. 414-425.
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pflanzt" hatten. Seine Grundhaltung als Theologe und Kirchenhistoriker begriff er demgemäß als eine beweisende: ihm falle die Aufgabe zu, „den Beweis zu fuhren, dass nur dasjenige den Inhalt des katholischen Glaubens-Systems ausmache, was überall, von Allen und zu allen Zeiten geglaubt worden ist." 2 3 5 Für eine Beurteilung Döllingers als Geschichtsschreiber stellt die Würdigung jener Grundhaltung eine entscheidende Vorbedingung dar. Sie bildet die Basis, von der aus Döllinger in den Jahren vor 1848 seinen Beitrag zur Ausbildung der Grundpositionen katholizistisch-konservativer, großdeutscher Historiographie leistete. Theologie und Geschichte stehen da in engem Zusammenhang, wobei letztere der ersteren gegenüber eine eher dienende Funktion einnimmt. Beide jedoch teilen sich die Ausrichtung auf Gott als Ausgangspunkt und Quell aller Wissenschaft. Sinnvoller, als Döllingers kirchenhistorisches Werk der früheren Phase, als insbesondere die „Reformation" an einem modern-säkularen Wissenschaftsbegriff zu messen, scheint der Versuch, dieses Werk im Rahmen des von Döllinger selbst zugrundegelegten Wissenschaftsbegriffes zu untersuchen, wie er ihn etwa 1845 in seiner Rektoratsrede über „Irrthum, Zweifel und Wahrheit" formulierte. 236 Indes, auch im Lichte dieses Wissenschaftsbegriffes bleibt doch der Vorwurf, Döllinger verstecke in der „Reformation" seinen Standpunkt und seine Zielsetzung hinter einer schein-objektiven Sammlung von Zeugenaussagen mit der Absicht, naivere Rezipienten seines Werkes durch ein Materialbombardement zu Fall zu bringen. Sicher, Döllingers Speerspitze kehrt sich in der „Reformation" auch gegen Rankes „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation", der Döllinger selbst wiederum vorwarf, hinter scheinbarer Objektivität ein bewußt manipuliertes Bild zu liefern. Und sicher, Döllinger beabsichtigte, gegen dieses Bild neues Material beizubringen, um einerseits die Gegenposition zu verteidigen, andererseits aber auch Ranke zur Fortführung des Diskurses herauszufordern, den Döllinger bereits gegen Ende der dreißiger Jahre in zwei RankeRezensionen begonnen hatte. 237 Gleichwohl verstieg er sich in dieser Absicht und fertigte statt eines überzeugenden Werkes ein überredendes. Aus der „Reformation" spricht weniger der gelehrte Wissenschaftler Döllinger, sondern vielmehr der Agitator, der seine Gelehrsamkeit in den Dienst zu stellen weiß. Wo aber läßt sich dagegen nun der Wissenschaftler Döllinger greifen? Denn, er führte seinen , 3 eweis" ja nicht mit ganz absurden oder aus der Luft gegriffenen Argumenten. Was er im Werk über die Reformation so agitatorisch auf235
Alles Döllinger, Eucharistie, S. 1. Johann Joseph Ignaz Döllinger: Irrthum, Zweifel und Wahrheit. Eine Rede an die Studierenden der kgl. Ludwig-Maximilians-Universität in München; gehalten am 11. Januar 1845, München [1845]; gekürzt wiederabgedruckt bei Finsterhölzl, S. 141-158; zum Wissenschaftsbegriff Döllingers vgl. die Ausführungen u. S. 244-247. 237 Vgl. u. S. 468/469. 236
9 Brechenmacher
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bereitet ausführte, summiert lediglich die Interpretationslinien einer bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückreichenden Tradition katholischer und katholizistischer Reformations- sowie Kirchengeschichtsschreibung im allgemeinen, die von den Vertretern der ersten Generation katholizistisch-konservativer, großdeutscher Historiographie während der dreißiger und vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts weitergeführt, modifiziert und durch Forschung und Kritik mit wissenschaftlichem Unterbau versehen worden war. Von historiographischer Seite her konnte Döllinger die Weiterbildung dieser Tradition in den Arbeiten Böhmers, Hurters, Gfrörers und Höflers verfolgen. Aber auch er selbst hatte zu dieser Weiterbildung beigetragen, in Werken, die freilich weit weniger Aufsehen erregten als die spektakuläre „Reformation". 1827/28 hatte Döllinger das kirchengeschichtliche Handbuch seines älteren Kollegen Johann Nepomuk Hortig fortgeführt und vollendet, 1833-1835 davon eine teilweise Neubearbeitung geliefert sowie 1836-1838 ein eigenes „Lehrbuch der Kirchengeschichte" begonnen.238 Natürlich verleugnet er auch in diesen Arbeiten seinen persönlichen Standpunkt nicht, im Gegenteil, er legt ihn offen dar und versucht ihn zu begründen, im Einklang mit jener historiographischen Tradition, zu der er sich bekennt. Sogar an der Person des Reformators Martin Luther übte er sich in dieser Weise, in einer biographischen Skizze, die er gegen Ende seiner ersten Schaffensperiode für das bei Herder in Freiburg erscheinende Kirchenlexikon von Wetzer und Welte verfaßte. 239 Viel mehr denn aus der „Reformation" spricht aus diesen Werken der Wissenschaftler Döllinger, und viel eher muß hier die Analyse ansetzen, um Döllingers wirklichen Beitrag zu den Grundpositionen großdeutscher Historiographie zu erkennen. Wenn auch das typologisierende, zunächst an Inhalten orientierte Interesse einer Geschichte wissenschaftlicher Historiographie Ignaz Döllingers „Reformation" nicht in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen kann, ändert dies doch
238
Johann Nepomuk Hortig: Handbuch der christlichen Kirchengeschichte. Fortgesetzt und beendigt von Ignaz Döllinger, Bd. II, 2, Landshut 1828: Döllinger behandelt die ,»fünfte Periode" der Kirchengeschichte, vom »Anfang des Protestantismus bis auf die neueste Zeit."; Ignaz Döllinger: Geschichte der christlichen Kirche, 2 Bde., Landshut 1833-1835 (Neubearbeitung von Hortig, Handbuch der christlichen Kirchengeschichte: unvollendet; behandelt die Kirchengeschichte bis ins frühe Mittelalter, einschließlich einer Abhandlung über den Islam; ders.: Lehrbuch der Kirchengeschichte, 2 Bde., Regensburg 1836-1838; dass., 2 1843: unvollendet; behandelt die Kirchengeschichte von den Anfängen bis 1073 sowie die daran anschließende Papstgeschichte von Gregor VII. bis Leo X. - Einschlägig für Döllingers Behandlung der Reformations- und neueren Kirchengeschichte im Rahmen der Reichsgeschichte ist also nur das „Handbuch" von 1828. 239 Ignaz Döllinger: Art. „Luther", in: Wetzer und Welte V I (1851), S. 651-678; Separatdruck u. d. T. Luther, eine Skizze, Freiburg/Brsg. 1851. - Zum Kirchenlexikon von Wetzer und Welte vgl. u. S. 151/152 und Denkwege, Anm. 19.
IV. Ignaz Döllinger
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nichts an dessen grundsätzlicher Einschätzung als eines mächtigen und originellen Werkes, das in seiner spezifischen Form jene katholizistisch-konservative, großdeutsche Reformationsdeutung natürlich auch innerhalb einer größeren Öffentlichkeit verbreitete, wenngleich es im Vergleich etwa mit Gfrörers „Gustav Adolph" wohl eher zu jenen Büchern zählt, die auf längere Sicht mehr genannt, denn wirklich gelesen wurden. Am getreuesten von allen Werken der früheren Schaffensperiode spiegelt die „Reformation" freilich die charismatische Persönlichkeit dieses katholischen bayerischen Professors Döllinger, welche auf Zeitgenossen einen ungeheuren Eindruck auszuüben vermochte und welche Döllinger seit 1845/46 auch eine „politische" Laufbahn eröffnete. Selbst weltanschauliche Gegner konnten sich diesem Charisma nur schwer entziehen. Robert Wilhelm Heller etwa, 1848 ein Beobachter der Paulskirchenverhandlungen, zeigte sich trotz seiner eigenen klaren kleindeutsch-protestantisch-preußischen Orientierung durchaus fasziniert von Döllinger, den er für den bedeutendsten Vertreter der „ultramontanen" Abgeordnetengruppe des Parlaments hielt. „Die interessanteste Bekanntschaft unter diesen katholischen Herren war aber jedenfalls die des Herrn Ignaz Döllinger. [...] Sein erdfahles Wort und Antlitz, sein kaltes Auge und sein Muth sind von dämonischer Ruhe. Nur sein buschiges Haar verräth, daß nicht blos Geist und mächtige Doktrin, sondern daß auch Temperament in dieser mäßig hohen, ledernen Gestalt wohnt, aber ein mit eiserner Strenge beherrschtes Temperament. Herr Döllinger ist einer von den Kämpfern, die sich ihren Mann mitten aus dem Gedränge holen. Und dann, wie viele Hunderte vorher auch um den Ereilten tobten, wird es plötzlich einsam um ihn, das ganze Gefilde leer, todtenstill, nur die zwei Gegner bleiben darauf zurück. Das Verfahren der Schlange ist bekannt, wie sie ihr Opfer umstrickt und wie sie es mit grausamem Belecken zum Verschlingen vorbereitet. Ihrem Muster hat Herr Ignaz Döllinger seine rhetorische Kampfweise entlehnt. Seine ersten Bewegungen gleiten dem Feinde leise und fast schmeichelnd um die Glieder. Aber das unerbittlich Harte folgt. Die Glieder des Feindes werden von immer strafferen Banden umwunden und endlich ist's um jeden Widerstand gethan, so daß wir dem unzweifelhaften Ausgange nur noch mit anatomischem Interesse zusehen." 240 Dieser charismatisch fundierten „rhetorischen Kampfweise" bediente sich auch der bayerische König Ludwig mit Vorliebe, solange er glaubte, die Interessen seines persönlichen Regiments im Einklang mit der orthodox-katholischen Partei verfolgen zu müssen. Im Januar 1847 noch drückte er Döllinger gegenüber seine Wertschätzung aus, indem er ihn zum Propst des Hofkollegiatstifies St. Kajetan ernannte, eine Stelle, die mit nicht unbedeutendem Gehalt sowie Mitspracherechten bei der Besetzung aller geistlichen Hofstellen verbunden
240
9*
[Robert Wilhelm Heller]: Brustbilder aus der Paulskirche, Leipzig 1849, S. 83/84.
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war. 2 4 1 Aber bald schon zeigte sich der Monarch ungnädiger. I m Februar stürzte ob seines Protestes gegen den wachsenden Einfluß der königlichen Mätresse L o l a Montez das klerikale Ministerium A b e l sowie anschließend, nach und nach, jene vorwiegend katholischen Professoren und Anhänger des Görreskreises, die sich m i t A b e l solidarisiert hatten. 2 4 2 Relativ spät zwar, aber gleichwohl, ereilte auch Döllinger die Relegation: am 27. August 1847 unterzeichnete L u d w i g die Versetzung des Professors i n den zeitweiligen Ruhestand. 2 4 3
V. Constantin Höfler A u c h Carl A d o l f Constantin Höfler geriet i n den Sturm der Auseinandersetzung der „ultramontanen Partei", des Görreskreises mit K ö n i g Ludwig. I m Gegensatz zu Döllinger aber riß ihn der Sturm mit sich, stürzte ihn i n eine existentielle Krise und veränderte sein Leben. 1811 i n der vormaligen Reichsstadt Memmingen geboren, 2 4 4 16 Jahre jünger als Böhmer, 24 Jahre jünger als Hurter, mag Höflers Zuordnung zur ersten 241
Vgl. Friedrich, Döllinger Π, S. 315/316. Die ereignisgeschichtlichen Einzelheiten der Lola-Montez-Affare ausführlich in Doeberl m , S. 135-145; Spindler, S. 210-223; Gollwitzer, Ludwig I., S. 668-705; ders., Abel, S. 498-551; Huber, S. 464-467; Axel Wernitz: Lasaulx und die vorrevolutionäre Münchner Szene im Februar 1847. Ein unbekannter Brief des Professors an seinen Würzburger Kollegen Aloys Mayr, in: Oberbayerisches Archiv 93 (1971), S. 185-189. 243 Friedrich, Döllinger II, S. 328. 244 Auch Constantin Höfler wartet noch auf seinen modernen Biographen. Einen literarischen Nachlaß konnte ich, wie auch im Falle Gfrörers, nicht auffinden. Zu Höflers Leben vgl. bis 1851 v. a. seine „Selbstbiographie", in: Almanach der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften (im folgenden AkdW) Wien 48 (1898), S. 262280; daneben: Adolf Bachmann: Constantin von Höfler, in: Mittheilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen (im folgenden MVGDB) 36 (1898), S. 381411; Ludwig Frankel: Art. „Konstantin von Höfler", in: ADB 50 (1905), S. 428-433; Borodajkewycz, Deutscher Geist und Katholizismus; Wilhelm Wostry: Der junge Höfler, in: MVGDB 75 (1937), S. 75-84; dass, auch in: Zeitschrift für sudetendeutsche Geschichte 1 (1937), S. 210-219; Hans Lades: Constantin Höfler, ein Leben zwischen Sacerdotium und Nation, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 3 (1937), S. 97129; Hemmerle, Höfler; ders.: Art. „Konstantin von Höfler", in: NDB 9 (1972), S. 313315; Art. „Karl Adolf Constantin von Höfler", in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950 2 (1959), S. 353/354; Harald Bachmann: Constantin von Höfler (18111897), in: Neue Österreichische Biographie 15 (1963), S. 82-89; Heribert Sturm (Hg.): Biographisches Lexikon zur Geschichte der böhmischen Länder, Bd. I, München/ Wien 1979, S. 648. - Eine vollständige Bibliographie der vielfältigen und weitverstreuten Schriften Höflers existiert nicht. Werkverzeichnisse: Almanach der ksl. AkdW Wien 4 (1854), S. 294-299; ebd. 48 (s. o.), S. 280-283 und Isolde Hienstorfer: Personalbiblio242
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Generation großdeutscher Historiker problematisch erscheinen. Aber wie eine solche Generationenfolge als nützliches Hilfskonstrukt zur Erfassung vergangener Wirklichkeit dient, muß sie auch Zwischentöne, Schattierungen zulassen. Tatsächlich eignen Höflers Werdegang viele typische Züge der zweiten Generation. Anfanglichen Studienversuchen in der juristischen Fakultät kehrte er bald den Rücken, wandte sich dezidiert der Geschichte zu, die er dann auch, zunächst eher geschichtsphilosophisch orientiert, schließlich in Göttingen die handwerklichen Grundlagen sich erarbeitend, wirklich studierte. Höfler war von Anfang an Fachhistoriker, nichts anderes, nicht Theologe wie Döllinger, nicht Jurist aus Pflichtbewußtsein wie Böhmer, nicht verhinderter beziehungsweise unerfüllter protestantischer Pfarrer wie Gfrörer und Hurter. Auch fand er sich durchaus bereit, diesen Älteren gegenüber die Rolle des Schülers einzunehmen, bezeichnete etwa Hurter als seinen „Meister in historischen Dingen". 245 Obwohl in solchen Momenten Höflers Lebensweg eher demjenigen Janssens oder Julius Fickers gleicht, sprechen gewichtige Gründe dafür, Höfler jener ersten Generation zuzuordnen, welche in den Jahren vor der Revolution von 1848/49 die Grundpositionen großdeutscher Historiographie vorbereitete. München bot dem Talent des jungen Mannes nach anfanglich eher ungünstigen Aussichten eben die Bühne, deren es zu früher Entfaltung bedurfte; einmal an der Universität etabliert, durchlief er schnell die Hierarchie, erwies sich als glänzender Lehrer und produktiver Schriftsteller mit universalhistorischer Blickrichtung. Das erinnert hinwiederum an Döllinger oder Gfrörer, hebt Höfler ab vom Spezialistentum der Nachfolgegenerationen. Andererseits - während seiner Münchner Zeit vor allem - verband ihn mit Hurter beispielsweise aber auch jener größere Abstand zur kritischen Methode Rankescher Prägung, deren Innovativität sich bezeichnenderweise nur die beiden wirklich bedeutend weiterwirkenden Geister jener Generation ganz aufschlossen: Johann Friedrich Böhmer und Ignaz Döllinger. Höflers eigentliche Bedeutung für die Grundpositionen großdeutscher Geschichtsanschauung erwächst jedoch aus zwei zentralen Beiträgen zur Entstehung dieser Anschauung: der bewußt polarisierenden Reflexion über katholische und protestantische Geschichtsschreibung sowie dem Buch über den Stauferkaiser Friedrich I I . 2 4 6 Mit letzterem setzte er eine Art weltliches Pendant zum Hurterschen „Innocenz", formulierte ex nega-
graphien von Professoren der philosophischen Fakultät zu Prag im ungefähren Zeitraum von 1800-1960 mit biographischen Angaben, gesichtet im Hinblick auf die Beziehung zur Lehre und Forschung in der medizinischen Fakultät, 2. Teil, Erlangen/Nürnberg 1970, S. 73-96. 245 Höfler an Hurter, 14.11.1844 (Samen, NL Hurter). 246 [Constantin Höfler]: Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, in: HPB11 16 (1845), S. 297-321; ders.: Kaiser Friedrich Π. Ein Beitrag zur Berichtigung der Ansichten über den Sturz der Hohenstaufen, München 1844.
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tivo die orthodox-katholische Idealvorstellung vom Kaisertum und dessen Aufgaben. Und schließlich deutet Höflers Auseinandersetzung mit einem der Exponenten der kleindeutsch-protestantischen Schule - Ludwig Häusser - über eben jenen Friedrich II. voraus aufkommende Entwicklungen, legt die unüberbrückbaren Gräben offen, welche die deutsche Geschichtswissenschaft drei Jahre vor der Revolution bereits trennte. Wiewohl Katholik, war nun aber auch Höflers Entwicklung zu orthodoxkatholischen, großdeutschen Gesinnungen keineswegs so eindeutig vorprogrammiert, wie er selbst sie in der knappen Biographie über seine erste Lebenshälfte zu betrachten neigt. Höflers Werdegang fügt den vielfaltigen Wegen, auf denen sich diese Gedankenwelt heranbildete, einen weiteren hinzu. Der Vater, Appellationsrat im Corps des Montgelasschen Beamtenapparates, sah sich 1817 von der Peripherie Memmingen in die Metropole versetzt, schließlich, mit dem Appellationsgericht nach Landshut, kurz darauf wieder zurück nach München verpflanzt. 247 Aus solcherlei Wechselfallen des Lebens ergab sich Sohn Constantins Bildungsgang: Gymnasium in München, philosophischer Cursus als Propädeutikum des eigentlichen Universitätsstudiums am Lyceum in Landshut, 2 4 8 anschließend Studium an der erst seit kurzem in München residierenden Universität. Gleichfalls standen damit die beherrschenden geistigen Impulse fest, personifizierten sich in zwei Mentoren vor allem: Jakob Philipp Fallmerayer und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Fallmerayer, der genialische Byzantinist und Orientalist, 249 1827/1828 Höflers Lehrer der Geschichte und Philologie am Lyceum zu Landshut, erweckte in ihm überhaupt erst die Liebe zu geschichtlichen Studien. Das vergaß ihm Höfler nie, so sehr sich auch beider Wege später trennten, so sehr er auch im Rückblick Fallmerayers „trostloses Festhalten an Naturgesetzen" geißelte, „die keine Freiheit der Entwicklung gestatteten", dessen „Befreundung mit Voltairischen Anschauungen", die „extrem-liberalen Grundsätze, zu denen er sich auch in seinen Vorträgen oft in fast cynischer Weise bekannte." 250 Besonders angezogen habe ihn dagegen Fallmerayers große Kenntnis des (ost)römischen Reiches, die Art, ihm einen weiten Ausblick nach dem Südosten zu öffnen, ihn auf byzantinische Quellen hinzulenken. 251 So deuteten sich hier
247
Höfler, Selbstbiographie, S. 262; vgl. auch Constantin Höfler: Erinnerungen an Philipp Jacob Fallmerayer. Ein Licht- und Schattenbild, in: MVGDB 26 (1888), S. 395416, bes. S. 397. 248 Höfler, Fallmerayer, S. 397: „Die baltischen Lyceen standen den philosophischen Facultäten der Universitäten gleich." 249 Zu Fallmerayer allgemein Walter Schmitz: Art. „Jakob Philipp Fallmerayer", in: Killy 3 (1989), S. 333/334; zu Fallmerayer in Landshut Beckenbauer, S. 248-250. 250 Höfler, Fallmerayer, S. 398; vgl. auch Höfler, Selbstbiographie, S. 262/263. 251 Höfler, Fallmerayer, S. 399.
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bereits Orientierungen an, welche für Höflers Verständnis von der Reichsgeschichte spätestens seit seiner Bamberger Zeit immense Bedeutung gewinnen sollten. Und sicherlich hat auch der Eindruck des glänzenden Stilisten, des „topographischen (descriptiven) Genies" Fallmerayer den jungen Höfler in Landshut beschäftigt, zur Nachahmung angeregt. 252 Sensibilisiert für Geschichtliches in einem Maße, das ihn nur kurz ausharren ließ in der ursprünglich gewählten juristischen Fakultät, 253 kehrte Höfler nach München zurück. Wohl selbst noch nicht ganz frei von „Voltairischen Anschauungen", Schloß er sich dem Kreis der „Allgemeinen Akademischen Gesellschaftsaula" an, einer unpolitischen Verbindung idealistisch-klassizistisch gesinnter Kommilitonen, deren Wirken sich in einer fortwährenden ,Apotheose der Vernunft" erschöpfte. 254 Freilich, auch dabei blieb er nicht lange. Schelling, seit 1827 Professor der Philosophie an der Universität München, dessen überragende Persönlichkeit „den gewähltesten Kreis der akademischen Jugend" 255 um sich versammelte, zog auch Höfler in den Bannkreis seiner „positiven" Spätphilosophie. Die Welt erschien da als Ergebnis freien göttlichen Willens. Eine spekulative Geschichtsphilosophie sollte als „Philosophie der Offenbarung" sowie als „Philosophie der Mythologie" das göttliche Wirken und damit Gott selbst nachweisen. Rationalismus als Methode reichte Schelling dazu nicht hin: die Betrachtung von Geschichte lediglich subsumiert unter die Gesetze menschlicher Vernunft schien diese Aufgabe nicht erfüllen zu können. Seine Ansätze spitzten sich zu auf eine christlich-theosophische Geschichtsdeutung, deren entscheidende Zäsur im Erscheinen des Erlösers in der Weltgeschichte besteht. 256 Unter solchen Prämissen rückte das klassische Altertum als vorbereitende Phase in eine entscheidende Position - und rückte auch für den Studenten
252
Ebd., S. 405. Höfler, Selbstbiographie, S. 263. 254 Höfler, Selbstbiographie, schweigt sich über diese Periode seiner Jugend aus und äußert sich nur negativ über den Rationalismus an den deutschen Universitäten (S. 263). Erforscht und im Detail dargestellt hat diese Jugendjahre Borodajkewycz, S. 50-55. 255 Höfler, Selbstbiographie, S. 265. 256 Die Grundtexte der „positiven" Philosophie: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System der Weltalter. Münchener Vorlesung 1827/1828 in einer Nachschrift von Emst von Lasaulx, hg. von Siegbert Peetz, Frankfurt/M. 1990; ders.: Grundlegung der positiven Philosophie. Münchener Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833, hg. von Horst Fuhrmans, Turin 1972; ders.: Philosophie der Offenbarung, hg. von Manfred Frank, Frankfurt/M. 1977. Über Schelling vgl. Alois Dempf: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, in: DGD 3, S. 75-85 und, mit neuester Literatur: Siegbert Peetz, in: Killy 10 (1991), S. 185-190. 253
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Höfler ins Zentrum seiner Interessen. 257 Durch Fallmerayer, durch die Münchener Neuhumanisten mit allen Voraussetzungen bestens ausgestattet, stürzte er sich in ein ausschließliches Studium der griechischen und römischen Geschichtsquellen, allerdings unter dem neuen, von Schelling gesetzten Blickwinkel, „das organische Leben in der Mythologie zu zeigen, ihren Verlauf als eine Art von praeparatio evangelica nachzuweisen, mit der ,Philosophie der Offenbarung' Glauben und Wissen in einen Einklang zu bringen." Höfler arbeitete sich durch das „Heidenthum" hindurch, um an den Punkt zu gelangen, „wo das Alterthum seine Fülle natürlicher Erkenntniss in das Christenthum hinübergetragen hatte." 258 Als Frucht seiner Bemühungen legte er unter anderem 1831 eine Doktordissertation „Zur Geschichte der Anfänge der Griechen" vor, ein spekulatives Werkchen voll der Schellingschen Theoreme - auch ohne dessen Namen nur ein einziges Mal explizit zu erwähnen - , abgefaßt in einer rhythmisierten Sprache mit Anklängen an die Hexameter der homerischen Ilias, welche ihm, von kritischer Methode in keiner Weise berührt, als Hauptquelle dient. 259 Hinabzusteigen verheißt Höfler, zu einem „von den Regungen der Welt ungetrübten Bewußtseyn", in ein „Reich der Natur, der noch festgehaltenen Freyheit; je tiefer wir steigen, desto mehr umfangt uns die Nähe der Gottheit." 260 Dort, „wo aber nur Sänger reden", höre die Historie auf und die tiefste Geschichte, die Philosophie beginne; dort sei das Mysterium der Historie. 261 Ganz Hilfswissenschaftler des sehenden Meisters, will Höfler „dem philosophischen Entwicklungsgange den historischen Anknüpfungspunkt geben" 262 und sekundiert dem Schellingschen Konzept von der Entfaltung der (göttlichen) Freiheit im Laufe der Geschichte, wenn er darlegt, wie sich aus der noch vollkommen „mythologischen", also unfreien, mithin unhistorischen „Nation" der Pelasger, gemäß dem Walten der Vorsehung, durch die Abspaltung der Hellenen - eines Volkes größerer Freiheit - eben das Reich der Freiheit eröffnet habe. 263 „Erst wo Freiheit erwachte, erwacht auch die Historie, höheres Leben; bis sie erstarkt, ist noch heilige Dämmerung." 264 Mythos und Historie sind verknüpft in ihrem
257
Über Schellings Einfluß auf Höfler ausführlich Borodajkewycz, S. 60-72. Höfler, Selbstbiographie, S. 265/266. 259 Constantin Höfler: Zur Geschichte der Anfange der Griechen, München 1831 (14 Seiten). 260 Ebd., S. 3. 261 Ebd., S. 4. 262 Ebd., S. 5. 263 Ebd., S. 6-8. 264 Ebd., S. 9. 258
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Bezug auf die Freiheit. Und im Hinblick auf jene auch koppelt sich das Weltgeschehen an den ersten Urheber Gott. 265 Was nahm Höfler aus der Schellingschen Schule nun mit auf seinen weiteren Werdegang, abgesehen von solchen, nicht immer in letzter Brillanz ausgefeilten Gedankengängen? Sicherlich seine Neigung zur geschichtsphilosophischen Spekulation, zur Erfassung des Einzelnen in einem geschichtstheologischen, wenigstens aber universalhistorischen Kontext. Zunächst aber wichtiger: die Zeit baren Rationalisierens war vorbei, Höflers Geschichtsanschauung mündete ein in einen christlichen, wenn auch eher noch pantheistischen, denn spezifisch katholischen Rahmen. 266 Interessant am Rande, daß sich im Falle Höflers diese „christliche Wendung" aus der Beschäftigung mit einem spekulativen System demjenigen Schellings - vollzog, während etwa Gfrörer dem Christentum nach einer eher ablehnenden Phase aus intensivem und kritischem Quellenstudium heraus wieder nähertrat. Zum wirklichen Handwerk des Historikers mußte Höfler noch finden. Er lernte es in Göttingen, der Hochburg nüchtern-positivistischer Historie, wohin ihn - Resultat seines glänzend bestandenen Promotionsverfahrens - 1832 ein königliches Reisestipendium führte. 267 Den Alten zwar wollte er treu bleiben, aber sich dann auch, dem Wunsch der Stipendiengeber folgend, ein erstes Mal, neuerer, insbesondere der englischen Geschichte zuwenden.268 So entstand als Vorstufe eines geplanten aber nie ausgeführten größeren Werkes und als Hauptresultat der Göttinger Zeit die „Geschichte der englischen Civilliste", 269 eine trockene Abhandlung über die Finanzen des britischen Königshauses seit 1689, gearbeitet aus den gedruckten Debatten des Parlaments. Ein größerer Kontrast als derjenige zur „Geschichte der Anfange der Griechen" ist kaum denkbar. Mit der „Civilliste" fand die geistige Vorbereitungsphase des Historikers Höfler ihr Ende. Doch mußten beide Seiten, die geschichtsphilosophisch-spekulative und die handwerklich-technische der Grundlagenarbeit aus Quellen noch zusammenwachsen. Erst mit dieser Verschmelzung der bisher nur getrennt geübten Ansätze sollte in Rom Höflers eigentliches historiographisches Schaffen beginnen. Eine Frage läßt den Blick noch kurz auf Höflers Göttinger Studien verweilen. Unter welchen Einflüssen vollzog sich denn sein Abschied von der klassischen 265 In seinen Disputationsthesen präzisierte Höfler dieses Geschichtsbild zusätzlich; vgl. u. S. 252. 266 Bezeichnend erscheint in diesem Zusammenhang die Ablehnung eines Gesuchs Höflers um eine Anstellung als Gymnasiallehrer in Augsburg mit der Begründung, Höfler sei Protestant! Borodajkewycz, S. 71. 267 Höfler, Selbstbiographie, S. 266. 268 Borodajkewycz, S. 85 sowie Höfler an Friedrich von Thiersch, 15.12.1832 (BSB Thierschiana 187). 269 Constantin Höfler: Geschichte der englischen Civilliste, Stuttgart/Tübingen 1834.
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Antike, arbeitete er sich in die Geschichte des Mittelalters, der Neuzeit und hier insbesondere in die neuere englische Geschichte hinein? Hing mit dieser Wendung auch eine Veränderung seiner Anschauungen über Politik und Staat, seiner Auffassung der Ereignisse zusammen, die Europa seit 1789 so revolutioniert hatten? Höfler schweigt darüber in der äußerst verkürzten Selbstbiographie. Borodajkewycz hingegen legt aus Höflers Berichten an die bayerische Akademie der Wissenschaften - der Kontrollinstanz des stipendiengebenden Staates - dar, wie der junge Gelehrte in Göttingen in den Umkreis jenes Zweiges der Romantik geriet, der versuchte, in Form von ,Altertumswissenschaft" die Wurzeln des „ächt deutschen Volkslebens" freizulegen. Friedrich Emanuel Hurter und auch Johann Friedrich Böhmer, dessen geistiger Weg ja vor allem über die Heidelberger Romantik und dann über die Rezeption deutsch-mittelalterlicher Baukunst und Malerei zu diesen Wurzeln führte, hatten davon während ihrer Göttinger Jahre 1804-1806 und 1814-1817 wenig erst verspüren können. Aber Höfler nun kam durch die Berührung mit Jacob und Wilhelm Grimm, beide seit 1829 in Göttingen, mit dieser fruchtbaren Strömung in Berührung. 270 Das war jedoch nur die eine Seite. Obendrein sah er sich konfrontiert mit der konservativen, von den britischen Inseln herüberdrängenden Rezeption der Französischen Revolution, vermittelt durch den greisen Staatsmann August Wilhelm Rehberg, dem „frühesten Künder von Burkes Lehren in Deutschland." 271 Rehberg, ein schrankenloser Bewunderer der englischen Verfassung, lenkte ihn in Privatissima über neuere Geschichte vor allem auf dieses Land hin, impfte Höfler mit den Grundideen organologischer Staatslehre, mit Abneigung gegen jeglichen revolutionären Umsturz, fügte, nach Schelling, dem konservativen Höflerschen Weltbild kommender Jahre einen weiteren Baustein hinzu. 272 In seinem engen Kontakt zur Rehberg liegt wohl auch der Hauptgrund für Höflers relativ geringes Interesse an den geschichtswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen der Universität. Immerhin, auch mit Arnold Hermann Ludwig Heeren verkehrte er, wenngleich - wie mit Rehberg - doch eher privatim. Den anderen berühmten Historiker der Göttinger Universität in diesen Jahren, Dahlmann, ignorierte er jedoch ganz. 273 Neben Höflers Göttinger Fortschritten in handwerklich-methodischer Hinsicht sollten diese Verlagerungen in seinem inneren Wertesystem gebührend
270
Borodajkewycz, S. 81. Schnabel, Deutsche Geschichte I, S. 321; vgl. auch ebd., S. 194. 272 Einzelheiten bei Borodajkewycz, S. 82-84. Höfler selbst bezeichnet in einer seiner Göttinger Rezensionen die englische Verfassung als , jedem Revolutionsschwindel abhold." C[onstantin] Hföfler]: Besprechung von E. Dumont, Souvenirs sur Mirabeau et sur les deux premières assemblées législatives, Paris 1832, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 1834 I, S. 193-196, hier S. 193. 273 Borodajkewycz, S. 84-86. 271
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Berücksichtigung finden bei der Betrachtung seines weiteren Lebensweges.274 Ein Blick auf - von Heeren vermittelte - frühe Buchrezensionen in den Göttinger Gelehrten Anzeigen wird deren publizistische Niederschläge nicht mißkennen: Aufgabe des Geschichtsschreibers sei es - läßt er da unter anderem verlauten - , die rätselhafte Geschichte des Volkes, seines Volkes, zu lösen, zu durchdringen. 275 An Novalis gemahnt Höflers Einschätzung des Mittelalters als Zeit der Einheit und unbescholtener Naivität, „wo frommer Glaube mehr galt als unbefriedigendes Wissen", wo die Institution des Kaisertums segensreich wirkte, mit dem „schönsten Beruf', „einen Glauben und den Frieden unter den Völkern herzustellen". 276 So ging Höfler schwanger mit Konservativismen und Romantizismen, als er Göttingen 1834 verließ, um seine staatsfinanzierten Studien in Rom fortzusetzen. König Ludwig höchstselbst, dem Rom durchaus näher lag als die zur Diskussion stehende Alternative Paris, nach der Revolution von 1830 zumal, stand hinter dem Beschluß, die Ausbildung des Dr. Höfler dort weiter zu unterstützen. 277 Indirekt trieb er damit auch dessen Wandlung zum überzeugten Katholiken voran. Wenn sich Höfler in Rom aus der Vorstellungswelt des Schellingschen Pantheismus endgültig löste, sich derjenigen des orthodoxen Katholizismus anverwandelte, hing dies in erster Linie zusammen mit den Eindrücken der ewigen Stadt, denen sich einst ja auch die Protestanten Böhmer und Gfrörer nur schwer hatten entziehen können. Im Gegensatz zu diesen war Höflers, des Katholiken, Empfänglichkeit noch zusätzlich vorbereitet, sowohl durch Schelling als auch durch die Göttinger Zeit, durch das organologischromantisch-konservative Gedankengut Burkes, Rehbergs, der Grimms, welches ihm die neue Orientierung erleichterte. Gleichwohl bleiben die inneren Stufen des Weges Höflers zum Katholizismus in Rom schwer nachzuvollziehen. Die Quellen fließen, was seine Jugend betrifft, spärlich, und Borodajkewycz hat mit den Akademieberichten das Wesentliche hinlänglich ausgewertet. 278 Doch das für den Historiker Höfler und dessen weiteres Schaffen entscheidende Faktum der Annäherung an katholi-
274
Lades, S. 100/101, legt darauf zu wenig Wert, obgleich er sich dauernd auf Borodajkewycz bezieht. So erscheint denn auch in seiner Darstellung die römische Wandlung Höflers zu abrupt, zu unvorbereitet und übergangslos. 27 5 C[onstantin] H [öfter]: Besprechung von F. Palgrave: The rise and progress of the English Commonwealth, London 1832, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 18341, S. 100-104, hier S. 101. 27 6 C[onstantin] H [oft er]: Besprechung von F. W. Barthold, George von Frundsberg oder das deutsche Kriegshandwerk zur Zeit der Reformation, Hamburg 1833, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 1833 m , S. 1526-1528, hier S. 1526. 277 Höfler, Selbstbiographie, S. 266; Borodajkewycz, S. 88/89. 278 Borodajkewycz, S. 96-100 mit Einzelheiten über Höflers inneren Werdegang in Rom.
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sches Geschichtsdenken demonstriert zur Genüge sein Werk über die deutschen Päpste, jenes Resultat seiner römischen Studien, mit dem Höfler endgültig die historiographische Arena betrat. 279 Da zeigte er sich ein erstes Mal auf dem Gebiet der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches, setzte seine Fragen an im Spannungsfeld von Kaisertum und Papsttum, von Ghibellinen und Guelfen jenes Begriffspaares, das die erste Generation der Großdeutschen so gerne von der eigenen Gegenwart her mit Bedeutung füllte. Höfler durchforschte italienische Archive und Bibliotheken, um „den nachhaltigsten Wendepunkt in der Geschichte des Mittelalters zu beschreiben", „in einem Bilde von beiläufig 100 Jahren (1250 bis 1350)" eine „Geschichte des grossen Kampfes der Guelfen und Ghibellinen von dem Tode Kaiser Friedrichs II. bis zum Ausbrechen jener schrecklichen Pest" zu liefern, „welche auf die Veränderung der Sitten, Lebensart und Geschichte Italiens so grossen Einfluss ausübte". 280 Die Geschichte der deutschen Päpste bildete den Prolog dieses Unternehmens, die spätere Geschichte Friedrichs II. dessen ersten Akt. Tatsächlich stellte Höfler in den „Deutschen Päpsten" die wichtigsten Themen bereit, deren Verarbeitung in vielfacher Variation sein historiographisches Schaffen fürderhin charakterisieren sollte: Regnum - Sacerdotium und, zwischen diesen Polen, die ihn vor allem dann in Prag persönlich so betreffende Frage der Nationalität. 281 Diese Beobachtung im Einzelnen zu erörtern, griffe der Betrachtung der „Denkwege" vor; gleichwohl verlangt die Beschreibung der geistigen Disposition Höflers bei seiner Rückkehr aus Italien ein kurzes Schlaglicht auf die „Deutschen Päpste". Leitmotiv „Nationalität": seine Untersuchung solle Aufschluß geben über die Frage, „ob und welchen Einfluß die Nationalität auf die obersten Lenker der christlichen Kirche ausgeübt habe." 282 - Leitmotiv „Sacerdotium": aus den Trümmern der Völkerwanderungszeit habe sich in der apostolischen Kirche eine neue, gottgegebene Weltordnung erhoben, an deren Spitze der Papst stand, „der oberste Bischof, als Nachfolger des Apostelfürsten, als Bewahrer apostolischer Tradition, in diesen Zeiten nur der apostolische genannt. Neben ihm der Kaiser" - Leitmotiv „Regnum" - „der Beschützer der Kirche, der, wie er die Krone im Namen Jesu Christi empfangen, sie auch nur zur Bereitung Seines Reiches tragen sollte. Denn nicht Zufall war es oder Politik, sondern in dem Wesen der Kirche gegründete Fügung, daß der
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Constantin Höfler: Die deutschen Päpste nach handschriftlichen und gedruckten Quellen, 2 Bde., Regensburg 1839. 280 Höfler, Selbstbiographie, S. 267. 281 Lades stellt Höfler in ein ganz ähnliches thematisches Spannungsfeld. Das zeitbedingte Blut-und-Boden-Vokabular Lades' vergällt jedoch die Lektüre seiner Ausführungen. Im übrigen bringt er dem Höflerschen Werk der vierziger Jahre zu wenig Verständnisbereitschaft entgegen, um ihm gerecht werden zu können. 282 Höfler, Die deutschen Päpste I, Vorrede, S. V.
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Papst [...] die innigste Verbindung zwischen der Kirche und der politischen Macht schuf, damit jene, unter Barbaren ausgebreitet, fortan ihren durch Krönung und Salbung berufenen Vertheidiger finde." 283 Da erschien Höfler nun gut gerüstet für den bayerischen Staatsdienst, als er im September 1836, Fragmente dieses Geschichtswerkes in der Tasche, wieder in München eintraf. 284 Sympathie für liberales, gar revolutionäres Gedankengut konnte man ihm seit Göttingen nicht mehr unterstellen - im Gegenteil, streng monarchische Gesinnung sprach aus dem Büchlein über die Civilliste. 285 Auch seine Hinwendung zum Katholizismus, wie sie sich dann in den „Deutschen Päpsten" vollenden sollte, mußte in höchsten Kreisen - nach König Ludwigs eigener katholischer Wendung allemal - zufriedenstellen. Doch Höfler betrat ein explosives Terrain; ein wenig erfreulicher Stern stand über seinen Beziehungen zum Landesherrn. Gleich nach seiner Rückkehr stürzte Höfler in eine Krise. Geradezu prädestiniert fühlte er sich für eine Karriere als Hochschullehrer an der Münchener Universität. Eine Stelle als Extraordinarius jedoch ließ sich aus finanziellen Gründen für ihn nicht finden, ebensowenig eine unbesoldete Privatdozentur: nach wie vor währte der Einstellungsstop für junge Privatdozenten, eine Marotte des Königs und seines zunehmenden Zornes über vermeintliche politische Opposition aus Kreisen des wissenschaftlichen Nachwuchses.286 Der traf ironischerweise im Falle Höflers eine höchst loyale Persönlichkeit. Daß ein Gelehrter, „welcher vier Jahre zur wissenschaftlichen Ausbildung ins Ausland geschickt worden war, im Inlande [...] nicht ankommen konnte", ging über dessen Verständnis. Also darbte er in „kummervollen Tagen" und brachte die „Deutschen Päpste" zum Druck. 287 Doch Constantin Höflers Stunde sollte mit dem 20. November 1837 schlagen, dem Tag der Festnahme des Erzbischofs von Köln durch preußisches Militär, jenem folgenreichen Ereignis, welches in Bayern zunächst König Ludwigs Aufschwung zum Schutzherrn der katholischen Kirche katalysierte. 288 Ausdrücklich königlicher Befehl beorderte Höfler zum Redakteur der „Münchener Politischen Zeitung", des offiziellen Regierungsblattes, mit der Aufgabe, dieses auf den neuen Kurs zu bringen. Dadurch rückte Höfler in die erste Reihe des sich politisierenden Katholizismus. Nicht geradezu begeistert von der Zwangs283
Ebd., I, S. 6-11; Zitat: S. 9/10. Höfler, Selbstbiographie, S. 267. 285 Minister von Oettingen-Wallerstein an König Ludwig I., 29.11.1836 (zit. nach Borodajkewycz, S. 88). 286 Höfler, Selbstbiographie, S. 267/268; vgl. Huber, S. 433/434: Ablehnung eines Gesuchs Höflers auf Anstellung als Extraordinarius im November 1836; ebd., S. 166182 über die „Privatdozentenfrage". 287 Höfler, Selbstbiographie, S. 268. 288 Vgl. Anm. 234. 284
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Verpflichtung, doch geschickt gestaltete er das Blatt um zum wichtigen Sprachrohr der Hauptvertreter jener Richtung. 289 Über diese Tätigkeit fand er schnell Anschluß an den Kreis um Joseph und Guido Görres, Döllinger, Phillips, Jarcke und trug von Anfang an auch bei zu deren eigentlichem publizistischen Streitorgan, den „Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland". 290 Mit den beiden 1839 erscheinenden Bänden der „Deutschen Päpste" festigte er gleichzeitig sein wissenschaftliches Ansehen innerhalb dieses Kreises als vielversprechender Junghistoriker der katholischen Sache. Und auch an der Universität standen ihm seit dem Wechsel der Regierungsverantwortlichen die Türen offen. Versuche einer Katholisierung der Universität München, schon seit den frühen dreißiger Jahren hin und wieder bemerkbar, fanden unter dem neuen Ministerium Abel schärfere Ausprägung. 291 Höfler, von Abel immer protegiert, erhielt seine Ernennung zum Privatdozenten noch im Januar 1838 und stieg bis 1842 unter Entfaltung einer erfolgreichen und weitgespannten Lehrtätigkeit zum Ordinarius der Geschichte auf. 292 Quasi aus dem Nichts war Höfler damit arriviert zu einer der intellektuellen Speerspitzen der katholisch-konservativen Bewegung in München und ihres - vom König damals mitgetragenen - Bestrebens, die Fahne der Freiheit und Unabhängigkeit der katholischen Kirche hochzuhalten gegen die Ansprüche eines allesumgreifenden bürokratischen Staatsapparates vom Schlage des bischofsverhaftenden Preußen. Aber freilich ging jene bayerische Ehe von Thron und Altar nur gut, solange sich beider Belange deckten, solange die königlichen Interessen vereinbar waren mit denen der katholischen Partei. Bald schon begannen sich die beiden Sphären zu reiben. Der Redakteur Höfler bemerkte dies daran, daß ihm eine hundertprozentige Identifikation mit der königlichen Politik zunehmend schwerfiel. Um nicht weiter - wie er selbst ausführt - deren Zickzacksprünge nach außen vertreten zu müssen, beschwert obendrein durch ein wirres Dickicht von Zensurbestimmungen, ergriff er die erste Gelegenheit, dem Posten zu ent-
289
Höfler, Selbstbiographie, S. 268/269. Höfler trat den Posten ungern an; er betrachtete sich in erster Linie als Wissenschaftler, fühlte sich zum politischen Publizisten nicht berufen. Vgl. auch Borodajkewycz, S. 110-114. 290 Höfler steuerte zum ersten Band der HPB11 von 1838 einen Artikel über Maria Stuart bei. [Constantin Höfler]: Urtheile über Maria Stuart, in: HPB11 1 (1838), S. 457469 (Zuweisung durch Albrecht / Weber - s. Denkwege, Anm. 338 - , S. 16). 291 Ausführlich dazu Huber, Teil 2: Die Universität München und der Staatsminister des Innern, 1837-1847, S. 276-503; Gollwitzer, Ludwig I., S. 556/557; ders., Abel, S. 400-406, über die ,Abelsche Studienreform". 292 Personalakt Höflers ( U A M Ε Π 134); Höfler, Selbstbiographie, S. 269/270; Borodajkewycz, S. 114; eine Zusammenstellung der Lehrgebiete Höflers bei Huber, Anhang C, Tab. 21, S. 632/633; Höfler selbst berichtet über seine Lehrtätigkeit am 5. 4. 1840 an Rat Schlosser: „Ich war den Winter über durch Collégien ungemein beschäftigt. Ich hatte beinahe 400 Zuhörer." (BSB Autogr. Höfler).
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sagen.293 Die Ernennung zum Extraordinarius im März 1839 mit 550 jährlichen Gulden Gehalt verhalf ihm zum Abgang mit Anstand; endlich konnte er sich fast ausschließlich und materiell einigermaßen abgesichert geschichtswissenschaftlicher Forschung und Lehre widmen. 294 In der Retrospektive seiner Selbstbiographie stilisiert Höfler nun sein Wirken bis zur Zäsur von 1847 zum Kampf gegen eine politisch-weltanschauliche Strömung hoch, die auf der Skala seiner Negativwerte mehr und mehr nach oben rückte. „Vergeblich war es ja, den politischen Radicalismus zu bekämpfen, so lange die falsche Wissenschaft bestand, die ihn gross gezogen." 295 Seine historiographische und wissenschaftliche Tätigkeit betrachtete er unter solchen Vorzeichen gleichzeitig als eine politische. Er nahm den Kampf auf gegen die „falsche", die protestantisch-aufklärerisch-rationalistische, die „zersetzende" Wissenschaft, theoretisch wie praktisch: in der Abhandlung über katholische und protestantische Geschichtsschreibung ebenso wie in seinem großen Werk dieser Jahre, dem „Friedrich II.", 2 9 6 welches er in den größeren Zusammenhang eines Vorläufers des geplanten dritten und abschließenden Bandes über die deutschen Päpste stellte, „der die Entwicklung des deutschen oder sog. ultramontanen Princips in unserer Geschichte enthalten soll." 2 9 7 Eine fulminant freche Begriffsbelegung, aber auch ein bemerkenswerter Schlüssel zum Geschichtsdenken Höflers! Nicht genug damit, erhielt er den offiziell-ministeriellen Auftrag, ein Lehrbuch der Allgemeinen Geschichte für die bayerischen Gymnasien zu bearbeiten, worauf er sich mit Elan stürzte. 298 Hätte er eine bessere Gelegenheit finden können, seinen Begriffen von Geschichte eine breite Publizität zu verschaffen? So verfügte der Professor Höfler während der ersten Hälfte der vierziger Jahre über einen guten Stand in München. Er selbst hat dies wohl auch so empfunden. „Ja, die Stellung, welche noch bei Gelegenheit des Landtages 1846 wie Andere insbesondere Höfler eingenommen, [...] bewies gleichsam [...] vor Sonnenuntergang, wie noch kein Grund vorhanden sei, dass die Monarchie 293
Höfler, Selbstbiographie, S. 269. Personalakt Höfler (s. Anm. 292); Höfler, Selbstbiographie, S. 270 spricht von 600 Gulden. 295 Höfler, Selbstbiographie, S. 273. 296 S. Anm. 246. 297 Höfler an Böhmer, 10.2.1845 (UB Frankfurt/M. Ms. Ff. Böhmer 1 Κ 5 H). Erst 35 Jahre später veröffentlichte er eine Monographie über Hadrian VI., dessen Pontifikat urspünglich die „Geschichte der deutschen Päpste" hätte abschließen sollen: Constantin Ritter von Höfler: Papst Adrian VI., 1522-1523, Wien 1880. 298 Höfler an Hurter, Ostersonntag [23.3.] 1845 (Samen, NL Hurter); Constantin Höfler: Lehrbuch der allgemeinen Geschichte, 3 Bde., München/Regensburg 18451856; Bd. 1: Geschichte des Alterthums; Bd. 2: Geschichte des Mittelalters; Bd. 3: Geschichte der neueren Zeit. 294
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Gewaltstreiche gegen ihre Freunde bedürfe. [...] Erst mit der Ankunft einer Fremden, welche mit den Häuptern der antimonarchischen Bewegung in vertrautester Berührung gestanden, konnte man eine Veränderung ,nach der Weise des Pendelschwunges' bemerken." 299 Der Pendelschwung stieß Höfler mit herber Macht herab von der Höhe des Erfolges. Auch ihn traf König Ludwigs Reaktion auf die Solidarisierung prominenter katholischer Professoren mit dem entlassenen Minister Abel und dessen Widerstand gegen Indigenat und Nobilitierung der Tänzerin. Auch ihn traf die Amtsenthebung zusammen mit Lasaulx, George Phillips, Ernst von Moy, Johann Nepomuk Sepp und - einige Monate später - Döllinger. 300 Doch gerade im Fall Höflers schlug der königliche Zorn mit einer besonderen Härte zu, deren letzte Motivation nach wie vor zu klären bleibt. 301 Höflers oppositionelle Haltung in der Lola-Montez-Frage reicht allein nicht hin, diese Härte zu begreifen. Sein Briefwechsel mit Friedrich Emanuel Hurter offenbart demgegenüber, daß er sich schon viel länger in einer Art latenter Ungnade beim streitbaren Ludwig befand. Diese Ungnade hing nicht allein mit Höflers politischer Haltung, sondern entscheidend auch mit seiner Geschichtsschreibung, vor allem mit dem Werk über Friedrich den Staufer zusammen. Eine treffendere Erklärung des eigentlichen Grundes der königlichen Verstimmung liefert zusätzlich eine der Antworten auf die Frage, warum aus dem München des Görres-Kreises kein Zentrum der katholizistisch-konservativen, großdeutschen Historiographie, kein Gegengewicht Berlins werden konnte. Freilich aber müssen die ,,Denkwege" dieser Historiographie erst offenliegen, um das eine wie das andere ganz verstehen zu können. 302 Höfler sah sich schon aus finanziellen Gründen gezwungen, das ihm dargebotene Gnadenbrot - Archivdienst in Bamberg - anzunehmen.303 Dort igelte er sich ein in seinen „ultramontanen Löwenzwinger", 304 trieb umfangreiche fränkische Quellenstudien und gab im übrigen die Hoffnung nicht auf, rechtsgemäß
299
Höfler, Selbstbiographie, S. 274/275. Vgl. o. S. 131 und Anm. 242. 301 Im Gegensatz zu Lasaulx, Sepp und Döllinger erhielt Höfler nie nur die geringste Chance, seine Münchener Stelle wieder anzutreten, nachdem er auf Betreiben seines Intimfeindes, des neuen Archivdirektors Hormayr, am 5. September 1847 die Hauptstadt hatte fast fluchtartig verlassen müssen (Höfler an Hurter, Ende Dezember 1847 - Sarnen, NL Hurter). - Borodajkewycz bricht seine Untersuchung im Jahre 1845 ab und geht nicht weiter ein auf die Beziehung Höflers zum König. Die weitere Sekundärliteratur (s. Anm. 244), die zumeist auf Borodajkewycz aufbaut, begnügt sich zur Erklärung der „Verbannung" Höflers mit dem Hinweis auf seine oppositionelle Haltung in der Lola-Montez-Affare. 302 Zur Analyse des „Friedrich Π.", s. u. S. 186-196; über Höfler und König Ludwig I. während der bayerischen Krise von 1847 s. u. S. 434-442. 303 Höfler an Hurter, 23.6.1847 (Samen, NL Hurter). 304 Ders. an dens., 8.11.1847 (ebd.). 300
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auf seine Professur restituiert zu werden. 305 Das schreiende Unrecht des Königs ihm gegenüber, veranlaßt durch die Hexenkünste einer vermeintlichen Agentin des Radikalismus, 306 so war er überzeugt, mußte Sühnung finden, wenn nicht unter Ludwig selbst, dann wenigstens unter dessen Nachfolger. Aber in dieser HofBiung täuschte er sich. 307 Das Jahr 1852 lenkte mit dem Ruf nach Prag Hôflers Kräfte in österreichische Dienste, gab seinem Lebensweg eine ganz andere Richtung. 308 Trotzdem: den Münchener Schlag konnte er so bald nicht überwinden. Seinen Geburtstag habe ihm der König Ludwig, so schreibt er Döllinger noch 1863 in bitterer Erinnerung an die Ereignisse von 1847, „zeitlebens versalzen". 309
Böhmer - Hurter - Gfrörer - Döllinger - Höfler: fünf höchst verschiedene Lebensläufe historiographisch arbeitender Gelehrter mit Kulminationspunkten in den vierziger Jahren: Was vereinigt sie, die einen häufiger und eher im Zentrum, die anderen weniger und eher an der Peripherie, in München, im Bannkreis des Joseph Görres? Jeder auf seine Weise repräsentieren sie das Spektrum der verschiedenen Ansätze jenes katholizistisch-konservativen Weltbildes und der entsprechenden Geschichtsanschauung, welcher - infolge der Zuspitzung der nationalen Frage in und nach der Revolution von 1848/49 - das Epitheton „großdeutsch" zuwachsen wird. Das historiographische Werk jener fünf Gelehrten hauptsächlich setzt vor der großen Zäsur die Grundpositionen dieser Geschichtsanschauung.
305
Ders. an dens., 3. 5.1850 (ebd.). Höfler sah in der „vergilbten Lustdirne" Lola Montez wie die meisten katholischen Oppositionellen den Lockvogel einer radikal-antimonarchischen „Camarilla", deren Ziel es sei, das System zu stürzen. Die quieszierten Professoren, also auch sich selbst, betrachtete er als Opfer von Proscriptionen, ähnlich denjenigen des zweiten römischen Triumvirats: Höfler an Hurter, 25.4.1847 (Samen, NL Hurter); vgl. auch Gollwitzer, Ludwig I., S. 670/671. 307 Vgl. dazuu. S. 438-141. 308 A. Dürrwächter: Konstantin von Höfler und diefränkische Geschichtsschreibung, in: HJb 33 (1912), S. 1-53, zeigt, wie die Arbeit der Bamberger Jahre Höfler diese neue Perspektive erst öfihete. Vgl. außerdem Lades, S. 109-119. 309 Höfler an Döllinger, 25.3.1863 (BSB, NL Döllinger, Döllingeriana Π). König Ludwig hatte 1847 die Gelegenheit nicht versäumt, Höfler den Bescheid über seine Quieszierung als Geschenk zum 36. Geburtstag zu überreichen (Höfler, Selbstbiographie, S. 276). 306
10 Brechenmacher
Denkwege I. Die vergangene Zeit: Geschichte 1. Grundurteile Reflexion über deutsche Geschichte stand sicherlich mit im Zentrum des Schaffens eines jeden der fünf Historiker, wenngleich mit jeweils sehr unterschiedlichen Gewichtungen. Keinem jedoch, selbst dem jungen August Friedrich Gfrörer nicht, der ja in seinen Anfangen jener Idee noch am stärksten verhaftet war, diente sie zu irgendeinem Zeitpunkt der historiographischen Legitimation eines zentralistischen, mehr oder weniger liberal-konstitutionellen, nationalen Machtstaates, noch dazu unter preußischer Führung - ein Hauptunterscheidungskriterium der späteren großdeutschen von der kleindeutsch, „politisch" 1 motivierten Schule. Fällt in diesem Zusammenhang das Adjektiv „universalistisch" als Charakteristikum großdeutsch orientierter Geschichtsschreibung, sollte es nicht mißverstanden werden. Weder bezeichnet es eine Tendenz zur Universalhistorie ohne „vaterländische" Bindungen noch einen kategorischen Antagonismus zur Idee des Nationalen schlechthin. Vielmehr verweist dieses Adjektiv auf das Gegenmodell einer Geschichtskonzeption, die in der Verwirklichung jenes „nationalstaatlichen" Prinzips deutscher Einigung unter preußischer Führung den alleinigen und obersten Wert, den Zielpunkt deutscher Geschichte erblickt. 2 Ein „universalistisches" Geschichtsbild in
1
Vgl. dazu Below, Deutsche Geschichtschreibung, der die kleindeutsche Schule generell, die „politische" nennt. 2 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 4 1987, S. 300 bezeichnet eine solche Wertsetzung mit „Nationalismus": „Wir sprechen von Nationalismus, wo die Nation die Großgruppe ist, der der einzelne in erster Linie zugehört, wo die Bindung an die Nation und die Loyalität ihr gegenüber in der Skala der Bindungen und Loyalitäten obenan steht, ein oberster innerweltlicher Wert wird. Nicht Stand und nicht Konfession, nicht Region und nicht Stamm [...] bestimmen primär die Zugehörigkeit zu einem überpersonalen Zusammenhang [...], sondern eben die Nation." Keiner der großdeutschen Historiker hätte das Nationale auf diese Weise zum Nationalismus übersteigert. - Auf die grundsätzliche Schwierigkeit einer inhaltlichen Füllung des Begriffs „Nation" im 19. Jh. weist Hagen Schulze: Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, München 2 1986, S. 7 hin. Zum Nationsbegriff der großdeutschen Historiker erster
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diesem Sinne beschriebe Deutschland hingegen als vielschichtigen - multikulturellen, multistaatlichen, teils gar multinationalen - Faktor europäischer Geschichte, dessen einheitliche Repräsentanz in einer stärker oder schwächer akzentuierten institutionellen Spitze durchaus Gegenstand lebhafter Diskussionen sein kann. Solche Perspektiven bestimmen gleichzeitig die Aufgaben spezifisch großdeutscher Historiographie und fordern im übrigen dem Geschichtsschreiber selbst gewisse - chronologische wie thematische- „Universalität" ab. Doch beschreiben da Worte des zwanzigsten Jahrhunderts die Gedanken eines Böhmer oder Hurter. Denen fiel, dachten sie an „deutsche" Geschichte, zuallererst das Alte Reich ein, dessen Ende im August 1806 sie alle - bis auf Höfler (Jahrgang 1811) und mit Einschränkungen Gfrörer (Jahrgang 1803) persönlich miterlebt hatten. Deutsche Geschichte war für sie Geschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Eine Annäherung an diese Geschichte konnte auf unterschiedlichen Wegen, ganz entsprechend den jeweiligen persönlichen Motivationen, durch verschiedene Themen, verschiedene Fragestellungen und Zugriffsweisen erfolgen. Zwar verfaßte keiner der Fünf eine Gesamtgeschichte des Heiligen Römischen Reiches, aber jeder für sich durchschritt den Cursus von den Karolingern bis auf Napoleon von seinem speziellen Schwerpunkt aus, nicht allein in großen Werken, sondern auch in oftmals verstreuten Aufzeichnungen, Werksplittern, Äußerungen. Eine Zusammenschau dieser Stellungnahmen führt zur Basis großdeutschen Geschichtsverständnisses. In der Herausarbeitung des Typischen zeigt sie die Einigkeit im Grundsätzlichen, in der Betonung des jeweils Individuellen verweist sie andererseits auf die Breite des Spektrums. Durch die Konzentration auf das Schaffen der ersten Generation in den Jahren des Vormärz schließlich dokumentiert sie, daß diese Basis bereits vor der Revolution von 1848/49 gelegt war. a) Das Alte Reich als Arbeitsfeld Johann Friedrich Böhmer, dem Abkömmling der alten Kaiserwahlstadt Frankfurt, schien das Heilige Römische Reich bereits in jungen Jahren nicht nur sprichwörtlich ein Denkmal wert. Ein solches zu errichten, nahm er am Beginn der zwanziger Jahre zu einer Diskussion über den Erwerb eines Kunstdenkmals für seine Heimatstadt Stellung, sei geradezu vaterländische Pflicht, viel mehr als die Anschaffung eines Goethemonuments, woran der Frankfurter Magistrat in erster Linie dachte. Goethe habe sich ja durch seine Werke ohnehin schon
Generation vgl. u. S. 342-346 sowie zusätzlich die Ausführungen in der Einleitung S. 32-35.
1*
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genug verewigt. 3 Das Reichsdenkmal kam nicht zustande, doch Böhmer erinnerte in den voluminösen Regestenbänden seit 1831 auf andere Weise an die untergegangene Welt. Eine neue Ordnung Deutschlands, davon war er überzeugt, lasse sich nur unter Rückbesinnung auf das Alte Reich, dessen Traditionen und vor allem dessen Verfassung gestalten. „Jeder von uns, welcher vor dem 6. August 1806 geboren ist, wurde noch unter Kaiser und Reich, also unter einer einheitlichen Verfassung Deutschlands, geboren. Hatte dieses allgemeine Band auch im Lauf der Zeiten an Kraft verloren, so gewährte es uns doch immer noch sehr Vieles, und es konnte bei einem Wiederaufleben der Nationalgesinnung eine treffliche Grundlage abgeben zur Erneuerung. Es war noch bis zuletzt durch den Kaiser, welchem Fürsten und Volk Treue schuldig waren, für Einheit nach Außen, durch den Reichstag, auf welchem sich Churfürsten Fürsten und Städte in drei verschiedenen Kammern versammelten, für eine Nationalrepräsentation und durch die Reichsgerichte für die Gerechtigkeit im Inneren gesorgt. Indem wir nun neuerdings diese und andere Güter wieder zu gewinnen suchen, liegt die Frage nahe: Wie und durch wessen Schuld haben wir jenen uns angeborenen Besitz verloren, und wie war die ältere Gesammtverfassung unserer Nation überhaupt beschaffen?" 4 Antworten auf diese Fragen lieferte die Reichsgeschichte, deren Perspektive für Böhmer selbstverständlich die kaiserliche war. 5 Im Kaisertum erkannte er das Zentrum von Macht und Recht, fundiert und spezifisch definiert in den Reichsverfassungsgesetzen, erkannte er gleichzeitig das natürliche Kontinuum deutscher Geschichte, welches allein das Widerspiel der partikularen Gewalten und zentrifugalen Kräfte erst sinnstiftend ordnete. Früh schon hatte er aus diesen Grundsätzen seine Einteilung der deutschen Geschichte in allgemeine und partikulare abgeleitet.6 Beides gehörte für ihn jedoch untrennbar zusammen. Die Vorstellung des Partikularen, losgelöst von der Rückbindung an das Allgemeine, womöglich das Allgemeine sogar zerstörend, bereitete ihm Unbehagen. 3
Janssen, Böhmer*s Leben und Briefe I, S. 79. Johann Friedrich Böhmer: Fragment „Das Reich und die Stämme" (UB Frankfurt/M., NL Böhmer 1 F ΠΙ 9). Das undatierte Fragment stammt - nach Inhalt, Schriftbild, Art des Ms. zu schließen - aus der mittleren Lebensperiode Böhmers, jedenfalls aber aus der Zeit vor 1849. - Kleinstück, S. 328 zitiert eine ähnliche Niederschrift, jedoch ohne Quellennachweis, so daß offen bleiben muß, ob sein Wortlaut ebenfalls auf das Fragment„Das Reich und die Stämme" zurückgeht. Ich konnte allerdings im Nachlaß Böhmers kein weiteres Ms. gleichen Inhalts finden. s So Böhmer noch 1860 bei Gelegenheit einer Stellungnahme zur zweiten Auflage der „Deutschen Geschichte" Häussers: „Sonst ist er [Häusser, Th. B.] bekanntlich ein Gothaer, während doch Kaiser und Reich der Standpunkt für unsere Nationalgeschichte sein sollte." (Böhmer an F. B. Hurter, 24.3.1860 - Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΙΠ, S. 325). 6 Böhmer, Regesten 911-1313,1831, Vorrede, S. VIII, ΧΙΙ/ΧΠΙ. 4
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„Viele Menschen glauben auch, daß sich aus der Masse der Einzelgeschichten eine allgemeine deutsche Geschichte herausdrücken lasse. Aber das ist nur Folge des schlechten Geschichtsunterrichtes wo alles von Carl dem Großen an bis auf Franz I I in einem Zuge und nach gleicher Melodie abgeleiert wird. Deutschland erwuchs aus vielen Wurzeln zum Baum, und als solches hat es auch bis ins 13 te Jahrhundert eine Gesammtgeschichte, die nicht auf Particulargeschichte beruht. Sind Widukind, Lambert, Otto von Freisingen Particularschriflsteller? Hernach kommen die Zwänge, da muß man horchen wo gerade der Wind weht in dem sie sich drehen und wachsen. Doch genug."7 Genug, tatsächlich. Böhmers später zunehmende Enttäuschung und Resignation über den Gang der Politik entsprang diesem Geschichtsbild ebenso wie seine relative Fixierung auf das Hochmittelalter sowie sein streckenweise notorisches Desinteresse am fünfzehnten Jahrhundert und an der nachreformatorischen Geschichte.8 Wie wohl mußte er sich dagegen in jener Periode fühlen, von der er den Eindruck hatte, daß in ihr „eine deutsche Centrairegierung mit Wirksamkeit bestand", in der „ersten Hälfte des Mittelalters, mit einer Verfassung, welche aus der Freiheit entstanden und auf das Recht gegründet war, und unter Regenten, von denen ich nicht weiss, ob je ein anderes Volk innerhalb vierhundert Jahren eine Reihe von mannichfaltigerer Größe besessen."9 Wie bitter mußte er schließlich aus dieser Ansicht heraus den Niedergang des Allgemeinen, die Verselbständigung des Partikularen beklagen, jenen Prozeß, den er von der Zeit Kaiser Friedrichs II. bis zur Reformation sich im wesentlichen vollziehen sah. Schon Kaiser Sigmund habe ganz richtig erkannt, „daß die Fürsten das Reich genommen und ihm nichts mehr davon übrig gelassen hätten." 10 So habe sich die Desorganisation Deutschlands allmählich Bahn gebrochen, „seit Jahrhunderten durch Landeshoheit der Stände und durch Reformation, in neuester Zeit durch Napoleon und den Wiener Congreß." Sei es da, meint
7
Böhmer an Karl Klüpfel, 30.6.1845 (UB Tübingen M d 756-4). Dieses Urteil betont die Hauptrichtung des Böhmerschen Interesses. Natürlich blieben auch Böhmers Ansichten nicht ganz frei von Wandlungen. Während er etwa am 26.2.1844 an Thomas Georg Karajan schrieb, das 15. Jahrhundert habe lediglich ein größeres Interesse, die ständische Verfassung, sei ansonsten aber, im Gegensatz zur früheren, bauenden Zeit, nur Auflösung und Zersetzung (ÖNB Autogr. 168/42), zog ihn dieses Jahrhundert in späteren Jahren etwas mehr an, wie er Kopp im November 1861 gestand. Charakteristischerweise befaßte er sich auf dem Gebiet des 15. Jahrhunderts vor allem mit Niedergang und Restauration der anderen Zentralmacht neben dem Kaisertum, des Papsttums. Nach wie vor hingegen könne er übrigens seinen Widerwillen gegen die handelnden Personen des 16. Jahrhunderts nicht überwinden (Böhmer an Kopp, 5.11.1861 - Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΙΠ, S. 370). 9 Böhmer, Regesten 911-1313,1831, Vorrede, S. X I und ΧΙΠ. 10 Böhmer an Stälin, 10.3.1844 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 373/374, Zitat S. 374). 8
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Böhmer am Vorabend der Revolution von 1848, verwunderlich, „wenn in der Nation eine Reaction dagegen entsteht, wenn diese endlich selbst sich helfen will?" 1 1 Nüchterner, pauschaler, das Hochmittelalter weniger idealisierend denn Böhmer, vielleicht aber auch nicht so liebevoll und tief eindringend, betrachtete August Friedrich Gfrörer die Reichsgeschichte als Ganzes. Die Hinfälligkeit des Reichskörpers erschien ihm schreiend manifest in der Schwäche der Reichsverfassung. Bereits in der „Geschichte unserer Tage" hatte er das Corpus der Reichsinstitutionen und Reichsgrundgesetze als eine ,»Antiquität"12 bezeichnet; in der späteren Schrift „Die Tiare und die Krone" beschrieb er das Alte Reich als einen ,Riesen von tölpischen Gliedmassen, aber ohne alle Kraft gegen Außen." 13 Die Zwänge der Lohnschreiberei trugen möglicherweise bei zur Entstehung solcher Urteile; 14 mit Sicherheit spielte Gfrörers Herkunft aus protestantisch-aufklärerischen Bildungstraditionen mit, in denen Reichsbewußtsein weniger ausgeprägt war als im Böhmerschen Frankfurt. Aber, und darin liegt ein wichtiger Angelpunkt seiner Entwicklung zum großdeutschen Historiker, Gfrörer verwarf die Reichsgeschichte nicht in Bausch und Bogen als einen Irrweg, sondern hielt das Alte Reich im Grunde für die richtige, für eine reformierbare Ordnung. Reformversuche zogen daher sein historiographisches Interesse besonders an, sei es in der Geschichte der Karolinger, im „Gustav Adolph" oder in der Freiburger Antrittsrede über Wallensteins Schuld. Da bewegte er sich in Böhmers Nähe vor allem auf verfassungsgeschichtlichem Gebiet, um Lösungsversuche jenes reichsgeschichtlichen Fundamentalproblems zu rekonstruieren, welches er im Bestreben der „deutschen Stämme" erkannte, „vor tausend Jahren, wie heute noch, ein Einzel-Leben zu führen." 15 Demgegenüber verweisen klerikalistischere Töne der Gfrörerschen Analyse in den „Carolingern" auch auf andere Möglichkeiten, die Reichsgeschichte anzufassen: „Nur das Band der Kirche und der Metropolitangewalt hat uns in den sieben Jahrhunderten [vom 10. Jahrhundert bis zur Reformation], da wir das große Wort im Abendlande führten und an der Spitze der Völker standen, zu einer Einheit verknüpft." 16 Die römische Kirche, repräsentiert im Papsttum, neben dem Kaisertum die zweite wesentliche institutionelle Komponente zur Definition von Geist und
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Beide Zitate: Böhmer an F. B. Hurter, 1.8.1847 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 501/502). 12 Freymund / Gfrörer, Geschichte unserer Tage, Jg. 18301, S. 490. 13 Gfrörer, Tiare und Krone, S. 94. 14 Vgl. o. S. 109. 15 Gfrörer, Carolinger Π, S. 488/489. 16 Ebd.
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Gestalt des Heiligen Römischen Reiches,17 fixierte den Blickwinkel des orthodox-katholischen oder ultramontanen Geschichtsdenkens,18 wie es innerhalb der ersten Generation großdeutscher Historiker Höfler, Döllinger und später auch Hurter vertraten. Bei aller Übereinstimmung im Grundsätzlichen zwischen diesen und Böhmer sowie Gfrörer, durchaus auch hinsichtlich prinzipieller Wertschätzung der katholischen Kirche, scheint gleichwohl die Beobachtung zutreffend, letztere betonten eher die säkulare Sphäre der Reichsgeschichte, erstere hingegen die spirituell-kirchliche Komponente. Innerhalb jener ersten Generation bleiben diese unterschiedlichen Prioritäten noch weitgehend miteinander vereinbar; in der folgenden Generation, in der Historiographie Cornelius', Fickers, Klopps, Janssens sowie später Ritters, Hüffers, Pastors, prägen sie sich jedoch unter dem Einfluß der kirchen- wie nationalpolitischen Zeitereignisse umso schärfer aus, polarisieren sich bis zur Unversöhnlichkeit und zeichnen auf diese Weise entscheidend verantwortlich für die mangelnde Homogenität der Gruppe großdeutscher Historiker in den Jahren der hitzigsten Debatten um die deutsche Frage. Ein Text Constantin Höflers führt auf diesen orthodox-katholischen Strang hin, bietet gleichzeitig aber auch einen Leitfaden zur detaillierteren Auseinandersetzung mit der Reichsgeschichte, wie sie großdeutsche Historiker insgesamt, mit jeweils verschiedenen Akzentuierungen, vortrugen. Im Freiburger Verlag Benjamin Herders erschien 1852 der neunte Band des Kirchenlexikons von Wetzer und Welte, eines Prestigeobjektes katholischer Wissenschaft der vierziger und fünfziger Jahre, das nicht nur in theologischer Hinsicht weite Kreise süddeutsch-katholischen Bildungspublikums erreichte. 19 Auch zur Verbreitung großdeutscher Geschichtsdeutungsmuster trug das Lexikon seinen Teil bei, nicht zuletzt durch die Mitarbeit Hurters und Döllingers, vor allem aber Höflers, der für diesen neunten Band unter anderem einen Artikel „Reich,
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Realiter hielt sich die Verbindung des „Imperium" mit dem „Sacerdotium" allenfalls bis ins vierzehnte, höchstens bis ins fünfzehnte Jahrhundert, idealiter hingegen viel länger, worauf schon der bis unmittelbar vor den Zusammenbruch des Reiches gebräuchliche Titel „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" hinweist. Vgl. Fritz Härtung: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 9 1969, S. 5/6. 18 Anstelle des negativ konnotierten Adjektivs „ultramontan" neigt vorliegende Arbeit zur Verwendung eines neutraleren „orthodox-katholisch", um den klassischen, an Rom orientierten Hauptstrang katholischen Weltverständnisses zu kennzeichnen. 19 Die erste Auflage des Kirchenlexikons erschien zwischen 1847 und 1856 und war bereits 1863 vergriffen. Einefranzösische Übersetzung des Werkes erlebte zwei Auflagen. Vgl. Albert Maria Weiß: Benjamin Herder. 50 Jahre eines geistigen Befreiungskampfes, Freiburg/Brsg. 1889, S. 15-34; Hermann Sacher: Die Lexika, in: Der Katholizismus in Deutschland und der Verlag Herder, 1801-1951, Freiburg/Brsg. 1951, S. 242-273, hier S. 243-247.
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teutsches" verfaßte. 20 Wiewohl das Erscheinungsjahr des Bandes in die Zeit nach der revolutionären Zäsur von 1848 fallt, darf dieser Artikel doch als eine Art Summe der historiographischen Urteile gelten, wie Höfler sie sich in jener vormärzlichen Periode der Grundpositionierungen erarbeitet hatte. Zugleich eignet ihm aber auch eine Repräsentanz, die über Höflers Schaffen weit hinausweist. Höfler subsumiert seine gedrängte Skizze unter das Thema des Niedergangs. Seine Reichsgeschichte behandelt vor allem die Auflösung der großen idealisierten Einheit von Kaiser und Papst. In diesem Lichte zeigen sich wenige Höhepunkte, umso mehr dagegen die mannigfachen Krisen, welche schließlich in das „revolutionäre" Ereignis der Reformation münden und von da an in einen sich immer schneller drehenden Strudel der Destruktion bis zum unvermeidlichen Ende von 1806. Bereits das Reich Karls des Großen, so hebt die Klage an, sei ein „christliches, d. h. römisch-katholisches" gewesen, errichtet auf der „innigen und gegenseitigen Durchdringung des kirchlichen und des weltlichen Elementes [...], auf dem Frieden beider Gewalten, auf ihrer tiefen, klaren Verständniß über das, was Beiden zugleich Noth that." 21 Die Kaiserkrönung durch Papst Leo habe die „große geistige Ehe zwischen dem Papstthum und dem Kaiserthum" 22 besiegelt, das ehemalige weströmische Kaisertum auf einer Basis neu begründet, die dann auch für die Erben der Kaiserkrone Karls, die „deutschen" Könige verpflichtend geworden sei. Vielversprechend hätten sich die Anfange unter Otto dem Großen denn auch gestaltet, „indem er das deutsche Königthum dadurch an die Spitze aller andern Staaten stellte, daß er ihm den Schutz und die Ausbreitung der christlichen Kirche als seine Lebensaufgabe zuwies" - eine der Hauptbedingungen der schließlichen translatio imperii a Francis ad Germanos von 962. 23 Dessen eingedenk werde stets, so Höfler, auch wenn es dazu andere Ansichten gebe, „die Geschichte auf diejenige Periode als die großartigste und der natürlichen Entwicklung der Dinge angemessenste verweisen, wo Ein großes Princip das Kaiserthum wie das Priesterthum, die Hauptfactoren christlicher Größe, beseelten, und in Folge dieser Vereinigung eine siegreiche Entfaltung des orbis christianus statt fand." 24 So lange, „als es 20 Constantin Höfler: Art. „Reich, teutsches", in: Heinrich Joseph Wetzer / Benedikt Welte (Hg.), Kirchen-Lexikon oder Enzyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften (im folgenden Wetzer und Welte), Bd. I X (1852), S. 128-149. Höfler trug eine Vielzahl von Artikeln zum Kirchenlexikon bei; eine Auswahl davon im Quellenverzeichnis. - Von Döllinger stammt beispielsweise der Artikel „Luther" (ebd., Bd. VI, 1851, S. 651-678, Separatdruck bei Herder im selben Jahr), von Hurter der Artikel „Rom" (ebd., Bd. I X , 1852, S. 335-385; Separatdruck 1855). 21 Höfler, Art. „Reich, teutsches", S. 129 und 130. 22 Ebd., S. 130. 23 Ebd., S. 132/133, Zitat S. 132. 24 Ebd., S. 132.
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selbst den in seine Fundamente gelegten Principien treu blieb", konnte das deutsche alle anderen Völker und Reiche überragen. 25 Trotzdem: die „geistigen Gegensätze" ließen sich nicht bändigen. Jener Kampf „zwischen dem sacerdotium und regnum in drei großen Abtheilungen (1073-1122,1159-1177,12201250)" 26 begann, der die Fundamentalprinzipien sprengte und die Periode des Verfalls einleitete. Freilich versteigt sich Höfler nicht dazu, die Alleinschuld den Vertretern des Regnum aufzubürden. Dazu habe, neben dem Scheitern der großen Reformbewegungen des fünfzehnten Jahrhunderts schon auch der Verfall der deutschen Kirche im Vorfeld der Reformation mit beigetragen. 27 Erst jedoch, „als Luther das Signal gab zur großen teutschen Revolution", seien die Gegensätze wirklich irreparabel aufgebrochen, habe sich das Verhängnis angebahnt, welches nur durch ein „Gericht Gottes" zu erklären sei. „Es gibt von dieser Zeit an nicht mehr Ein Teutschland, sondern der Geschichtschreiber muß die Geschichte zweier feindlichen Lager, bald nachher dreier berichten, in welche das bei aller politischen Anarchie bisher doch noch immer im Wesentlichen Eine Teutschland zerfiel und zerfallen blieb." 28 Höfler erkennt diese dritte Partei im Calvinismus, dessen Festsetzen im Reich zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges entscheidend beigetragen habe. Nach dem Eindringen der Schweden habe dieser Krieg Deutschland in ein Schlachtfeld auswärtiger Mächte verwandelt. Nur kurze Dauer war der Erholung seit 1648 vergönnt. Ehrgeiziges Streben nach Erfüllung eigener Interessen an den deutschen Höfen, das Erlöschen des Mannesstammes im Hause Habsburg, dazu die Politik des Preußenkönigs, zunehmende Schwäche der Mittelstaaten und das Vordringen des irreligiös-aufklärerischen Geistes, welcher schließlich der französischen Revolution in Deutschland geistig Bahn brach, habe in den hundert folgenden Jahren das Reich zugrunde gerichtet. Das Zeitalter des Josephinismus „machte das alte Reich fertig". Als obendrein 1803-1806 die Säkularisation geistlicher Territorien als Entschädigungsprinzip Anerkennung, mithin die Reichsstandschaft des Klerus ein Ende fand, war der Zeitpunkt der Auflösung gekommen. Das Kaisertum habe damit die Grundsätze definitiv aufgegeben, „um deren Willen es begründet worden war." 29 Deutschlands Aufgabe könne nicht darin bestehen, wie Höfler beiläufig resümiert, „irgend einem Gegensatze den vollendeten Sieg zu verschaffen, sondern in den Gegensätzen, die die Welt bewegen, die Vermittlung zu üben." 30 Nur zu Blutvergießen, Verderben, Verfall habe das Abweichen von diesem
25 26 27 28 29 30
Ebd., S. 134. Ebd., S. 135. Ebd., S. 141-143. Ebd., S. 143 und 144. Alles ebd., S. 148. Ebd., S. 147.
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Wege gefuhrt. - Bei aller Atemlosigkeit, aller generalisierenden Eile dieses Sturmschrittes durch die Reichsgeschichte bleibt Höfler doch ein kurzer Moment der Ruhe, um seinen Betrachtungen eine Erkenntnis von bedrückender Zeitlosigkeit zu entwinden. Geistige Gegensätze können „nur zum allgemeinen Verderben mit dem Schwerte gelöst werden", jeder Versuch dieser Art führe „unausbleiblich zum entgegengesetzten Ziele, als man ursprünglich glaubt", und nur „der Zeit, bessern Einsicht, gutem Willen und der Entwicklung des Rechtsgefühles" könne es überlassen werden, „Knoten dieser Art zu lösen." 31 Einheit, zentrale Sinnstiftung, Einigkeit auch des scheinbar Gegensätzlichen behandeln diese Geschichtsbilder vor allem und - ex negativo - die Auflösung, den Verfall des Einheitlichen, des Allgemeinen, zugunsten der Zersplitterung. Hier treffen sich, bei allen Unterschieden im Individuellen, Böhmer, Gfrörer und Höfler. Auch die konkreten Erfahrungen ihrer Jugend, ihrer Zeit überhaupt spielen da mit, die Tendenzen der Auflösung seit der Französischen Revolution und die mühsame Suche nach einer neuen, dauerhaften Ordnung. Aus dem Studium der Geschichte fließen Argumente für und wider das eine oder andere Modell einer Neugestaltung. An welchen Brennpunkten der Reichsgeschichte die katholizistisch-konservativen und großdeutschen Historiker für ihre geschichtspolitische Argumentation besonders fündig zu werden glauben, gibt Höflers Abriß vor. Dem Mittelalter als Epoche relativer Einheit kommt eine besondere Rolle zu, schließlich, als endgültigem Bruch mit dieser Einheit, der Reformation und ihren ,Auswirkungen" im weiteren Sinne: dem Dreißigjährigen Krieg, der Arrondierung moderner, „cäsaropapistischer" Territorialstaaten, vor allem aber dem Aufstieg Preußens und - während der Regierungsjahre König Friedrichs II. - dem Vordringen einer geistigen Bewegung, des Rationalismus und der Aufklärung. An jenen Schnittstellen gilt es im einzelnen anzusetzen, um die jeweiligen Deutungen tiefer und differenzierter zu sehen, um die Argumente genauer kennenzulernen, die dann von großdeutscher Seite mit denen der Gegner im Streit der Historiker konkurrieren. b) Mittelalter: „status in statu" „Darin liegt Scheidung des Mittelalters von der Neuzeit. Jenes anerkennt nur statum in statu, diese sagt: kein status in statu." 32 Böhmers Aphorismus trennt eine primär statische, in sich geschlossene von einer primär dynamischen, offenen Epoche. Nicht nur großdeutschen Geschichtsschreibern erschien jene vermeintliche Statik des Mittelalters als zentrale Bezugsgröße, von der aus die weiteren Entwicklungen deutscher Geschichte zu bemessen waren. Daß der
31
Ebd., S. 148. Böhmer an Gerold Meyer von Knonau, 29.3.1847 (ZB Zürich, Familienarchiv M.v.K. 321.53). 32
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Blick des Historikers früher oder später selbstverständlich auf diese ,Periode der Geschlossenheit' fiel, war nicht ungewöhnlich in einer Zeit, als romantische Volksgeistlehren und historische Rechtsschule die Aufmerksamkeit jenen Wurzeln besonders zuwandten, als aber auch die disziplinare Differenzierung der Historie noch keineswegs den Mediävisten vom Frühneuzeitler, Neuzeithistoriker oder vom Zeitgeschichtler so strikt zu scheiden erlaubte. Das galt, von strengen Adepten der Aufklärungshistorie vielleicht abgesehen, allgemein, für die Rankeschule33 ebenso wie für die erste Generation der Großdeutschen, ob sie - Döllinger, Hurter, Gfrörer - von Theologie und Kirchengeschichte kamen oder - Böhmer - kunsthistorisch inspiriert mit zunehmendem rechts- und verfassungsgeschichtlichem Interesse herantraten. Auf eine Auseinandersetzung mit dem Mittelalter zu verzichten, erschien unmöglich. Freilich fixierte sich ein jeder auf andere Ausschnitte dieser - faßt man den Begriff „Mittelalter" weit - nahezu tausend Jahre, je nachdem, welche Segmente das besondere persönliche Interesse im Einzelfall erregten. Aber nicht selten beinhalten die in den Werken der Betreffenden jeweils ausgeleuchteten speziellen Forschungsräume auch das Konzept des Ganzen, spiegeln sich im Ausschnitt die grundsätzlichen Prämissen. Die Frage nach den spezifischen Grundlegungen großdeutscher Historiographie in bezug auf jene Einheit „Mittelalter" muß und kann von diesen Gegebenheiten ausgehen und zunächst die Behandlung signifikanter Punkte der Epoche durch Vertreter der ersten Generation ins Auge fassen: chronologisch dem Fortgang des Mittelalters folgend tritt dabei immer ein Werk ins Zentrum der Darstellung. Dabei wird zu zeigen sein, wie sich - sowohl innerhalb des einzelnen Werkes aber auch im Rahmen der Gruppe - individuelle Interessen und typische Deutungsmuster durchdringen. Aus dem Vergleich mit eventuellen Abhandlungen oder Äußerungen der jeweils anderen Autoren zur selben Thematik ebenso wie aus dem themenübergreifenden Vergleich der Werke untereinander entsteht so ein ausdifferenziertes Bild der von Böhmer als Epoche des „status in statu" gekennzeichneten Einheit des Mittelalters in der Auffassung der ersten Generation katholizistisch-konservativer, großdeutscher Historiker.
Zweimal hat August Friedrich Gfrörer das neunte Jahrhundert bearbeitet: aus kirchenhistorischer Perspektive im dritten Band seiner Allgemeinen Kirchengeschichte (1843/44) sowie aus dem Blickwinkel des entstehenden deutschen 33 Vgl. zur Rankeschule Gunter Berg: Leopold von Ranke als akademischer Lehrer. Studien zu seinen Vorlesungen und seinem Geschichtsdenken, Göttingen 1968 (= Schriftenreihe der historischen Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 9). Zusätzlich genügt der Hinweis auf die bekannten mediävistischen Anfänge Heinrich von Sybels: Geschichte des ersten Kreuzzugs, Düsseldorf 1841; ders.: Entstehung des deutschen Königthums, Frankfurt/M. 1844.
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Reiches in der „Geschichte der ost- und westfränkischen Carolinger". 34 Als Vorveröffentlichung aus den „Carolingern" präsentierte er kanonistische „Untersuchungen über Alter, Ursprung und Werth der Dekretalen des falschen Isidorus", worin er die Dauer seiner intensiven Forschungen über die spätere Karolingerzeit bis auf den Winter 1846 zurückdatiert. 35 Der Großteil des Werkes lag demnach vor, als Gfrörer im Frühjahr 1848 zum Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung gewählt und also in die von der Revolution bewegte aktive Politik gezogen wurde. Gleichwohl aber weist nicht nur die nachträglich entstandene Vorrede zum zweiten Band in direktem Bezug auf die Tagesereignisse hin; auch im Text der „Carolinger" selbst läßt Gfrörer deutliche Anspielungen auf die deutsche Frage seiner Gegenwart nicht fehlen. Im Gegensatz zur Kirchengeschichte, deren Entstehungszeit noch ruhiger war, deren Materie aber auch einen solchen Gegenwartsbezug nur am Rande zulassen konnte, 36 erscheinen diese Anspielungen in den „Carolingern" in einer Häufung, die Rückschlüsse auf die erregte Spannung erlaubt, unter der Gfrörer in jenen Jahren das deutsche Einheitsproblem neuerlich zur Entscheidung heranreifen sah. Als er im März 1848 den zweiten Band der „Carolinger" korrigierte, zum Druck brachte sowie „unter den neuesten ewig denkwürdigen Schlägen, welche die Nacht der Trübsal [...] zu beendigen bestimmt sind" die Vorrede verfaßte, 37 glaubte er all seine Hoffnungen bestätigt, glaubte das Ziel nahe, dem er auch seine Tätigkeit als Historiker gewidmet habe.,,Das Reich deutscher Nation wird wieder auferstehen. Ich habe, seit ein klares Bewußtsein menschlicher Dinge in mir erwachte, fur dieses hohe Ziel - nach dem Maaße meiner Kräfte als Historiker zu wirken gesucht."38 Dieses Bekenntnis ex post kann im Laufe einer Betrachtung der „Carolinger" zu möglicherweise unzulässigen Rückschlüssen führen. Unabhängig von der Beantwortung der Frage, wie stark nun die Eindrücke der aufflammenden Revolution sich tatsächlich in den „Carolingern" spiegeln, scheint soviel allerdings sicher: Gfrörer verstand das Mittelalter sehr wohl als Projektionswand eigener tagespolitischer Anschauungen und scheute
34
S. Lebenswege, Anm. 209. Gfrörer, Falscher Isidorus, Vorrede, S. I. 36 Aufgrund der genannten „deutschen" Perspektive sowie des starken aktuellen Bezuges konzentriert sich die folgende Analyse karolingischer Spät- bzw. deutscher Frühgeschichte im Werk Gfrörers auf die „Carolinger", verweist gleichwohl aber hie und da auf die „Kirchengeschichte", um zu belegen, daß Gfrörers Weitungen im einzelnen dort nicht wesentlich abweichen. Allerdings gelingt ihm bei teilweise gleichbleibendem Stoff der Perspektivenwechsel von der Kirchengeschichte zu den „Carolingern" nicht immer reibungslos. Dies schlägt sich in Form innerer Spannungen des späteren Werks nieder und begründet die zusätzliche Notwendigkeit, zum besseren Verständnis jener Spannungen an gegebener Stelle auf die „Kirchengeschichte" zurückzugreifen (s. u. S. 164). 37 Gfrörer, Carolinger Π, Vorrede, S. ΙΠ. Die Vorrede datiert vom 28. März 1848. 38 Ebd. Π, S. LH/TV. 35
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nicht davor zurück, in die Darstellung des neunten Jahrhunderts Lehr- und Mahnstücke über seine Vorstellungen von der Zukunft des modernen Deutschland einzuflechten. Entsprechend formulierte er seinen Anspruch. Er sieht sich nicht lediglich die Bahn brechen zum „Verständniß der folgenden Jahrhunderte des Mittelalters", sondern auch „mehrere von den sieben Siegeln" lösen, „welche das Buch unserer Nationalschicksale schlossen."39 August Friedrich Gfrörer bereitet sich zum Ciceronen durch jenen Zeitraum, „in welchem der deutsche Reichskörper entstand", um eine sichere Grundlage zu legen „für eine wahre Geschichte unserer Nation". 40 Bei dem Versuch, zwischen dieser weit entfernten Grundlage und der eigenen Gegenwart Brücken zu schlagen, gerät sein Scharfsinn in ein mühseliges Ringen, weniger mit Quellen und Fakten, vielmehr mit Strukturen, Begriffen und Prinzipien. Der Ernst dieses Ringens bezeugt am besten, wie sehr Gfrörer wünschte, seine Gegenwart möge bei ihrem Bemühen, das Gebäude der „Nation" neu zu errichten, auf jene idealisierte spätkarolingische Basis zurückkehren. Gfrörer findet sich umhergetrieben zwischen den Polaritäten von Universalität und Partikularismus, von starker monarchischer Macht und ständischer Kontrolle, von weltlichem Herrschaftsanspruch und geistlichem Regulativ. Einerseits lobt er die Macht und Kraft der karolingischen Universalmonarchie, andererseits die „nationalen" Bestrebungen einzelner Völker. Je mehr er letzteren ihr Recht zugesteht, desto mehr sieht er sich nachher mit immer weiteren „nationalen" Bestrebungen auf anderen Ebenen konfrontiert, die den nationalen Gedanken zum Partikularismus verkleinern. Wo ist die Grenze „nationalen Strebens"? Verbindet sich schließlich die Zentralgewalt gegen den Partikularismus mit dem Klerus, kann Gfrörer auch dies nicht immer gutheißen: gewinnt ihm die Geistlichkeit doch dadurch bald zuviel Macht, droht, den Monarchen zu beherrschen. - Gfrörer fallt es unter solchen Umständen nicht leicht, ein Deutschland aus karolingischen Wurzeln erstehen zu lassen, die Zeugnisse der Vergangenheit in den Räumen seines geistigen Koordinatensystems anzuordnen. Dabei geht es bereits am Anfang dieser deutschen Geschichte um eine historiographische Integration von Einheits- und Zerfallstendenzen, von These und Antithese zu neuer Synthese. Zunächst: Gfrörer erkennt - wie für das neunzehnte Jahrhundert, so für das neunte - das Prinzip der Nationalstaatsbildung als Triebkraft geschichtlicher Veränderung. Nur der Genialität aber auch der Gewalt Karls des Großen, den er mit Napoleon vergleicht, habe es gelingen können, Auseinanderstrebendes, „durch Sprache und Blut geschiedene Völker", für kurze Zeit zu verbinden:
39 40
Ebd. Π, S. m . Ebd. I, Vorrede, S. m .
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„Nachdem hier die Kälte eines russischen Winters, dort die Zwistigkeiten im Innern des herrschenden Hauses dem Glücke Beider den ersten Stoß versetzt hatten, wirkt sofort Anziehungs- oder Abstoßungskraft des nach Blut Gleichartigen oder Verschiedenen als Keil, welcher das stolze Gebäude Beider auseinander sprengt, und wie im 9ten schaaren sich im 19ten Jahrhundert die Völker unter dem Banner der Nationalität." 41 Unter Einfluß dieses Prinzips, begünstigt aber auch durch die Streitigkeiten um die Erbfolge Karls des Kahlen, sei bereits in der Enkelgeneration das Universalreich endgültig zerfallen. Im Vertrag von Verdun habe sich 843, neben dem lotharingischen Provisorium, der französische und der deutsche Reichskörper, jene Ordnung also ausgebildet, auf welcher „das politische Gleichgewicht Europas seit einem Jahrtausende" beruhe. 42 Interessanter als die Erörterung der müßigen Frage nach dem „Beginn" der deutschen Geschichte, dessen Identifikation mit dem Vertrag von Verdun ja bereits Böhmer anläßlich der Tausendjahrfeier dieser Übereinkunft ablehnte,43 scheint die Erkenntnis der Zwangslage, in die sich Gfrörer durch sein Operieren mit dem Nationalitätsprinzip alsbald hineinmanövriert. Hatte er dem Ideal des blutsverwandten und sprachlich geeinten Volkes das eine, fränkische Universalreich geopfert, wie gedachte er nur die Existenz des nächsten zu begründen? Hatte er die „französische" und „deutsche" Nation aus dem Geiste des Vertrages von Verdun hervorgehen sehen, hatte er Individualität in Volksrecht und Volkssprache eingefordert, wie wollte er unter solchen Prämissen nur auf die gut hundert Jahre später erfolgte Besiegelung des ottonisch-deutschen Universalreiches zusteuern, jenes Vorgängers des Reiches, welches er just in der Revolution seiner eigenen Tage wiedererwachen sah? Dann: Gfrörers Ausführungen über das jeweilige Verhältnis der Herrscher in den Teilreichen zu ihren Vasallen hinterlassen den Eindruck einer Diskussion des neunzehnten Jahrhunderts über absolute oder konstitutionelle Monarchie. Beharrliches Verlangen nach „ständischer" Mitbestimmung sieht er im Konflikt mit dem Anspruch auf absolute monarchische Gewalt. Bereits unter dem Regiment Karls des Großen selbst, einer „unter dem Scheine des Fortbestands alter germanischer Freiheiten verhüllten Willkür", seien „leise Spuren" eines „ständischen Kampfes gegen die Wucht der königlichen Allgewalt" hervor41
Ebd. I, S. 65. „Kaum gibt es zwei Herrscher, die solche Ähnlichkeit haben, als Carl der Große und Napoleon." 42 Ebd. I, S. 70; vgl. auch I, S. 55/56 sowie Gfrörer, Kirchengeschichte III, S. 775: „Ein neuer Reichskörper, der teutsche, trat durch den Vertrag von Verdun in die christliche Staatenfamilie ein." 43 Böhmer an Pertz, 9.8.1843 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefeil, S. 355); vgl. auch [Johann Friedrich Böhmer]: Die neueste Sammlung geschichtlicher Quellenschriften Deutschlands, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 262 vom 19.9.1843 und 263 vom 20.9.1843, S. 2045/2046 und 2053/2054, hier S. 2045 [Autorzuweisung durch Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 232].
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getreten. 44 Während der Regierung Ludwigs des Frommen zu noch stärkerer Geltung gelangt, hätten die „weltlichen Vasallen des Reiches" in den nachfolgenden Diadochenkämpfen politische Mitbestimmungsrechte zum Preis für tatkräftige Unterstützung der jeweiligen Thronprätendenten erhoben. 45 Schon „vor und nach Abschluß des Verduner Vertrages" habe sich „überall ein entschlossenes Streben der weltlichen Stände nach politischer Freiheit" manifestiert. 46 Nicht allein das „deutsche" Reich entspringt in Gfrörers Darstellung also aus jenem Vertrag. Auch die ersten Ansätze ständischer Strukturen, insbesondere eines Reichsfürstenstandes und damit einer der Grundkomponenten der späteren Reichsverfassung, lokalisiert Gfrörer in der Zeit um 843. Keinen Augenblick zögert er, wie schon Napoleon auf Karl den Großen, so nun die Folgen des Freiheitskampfes der Völker gegen das napoleonische System auf diejenigen der spätkarolingischen Machtstreitigkeiten zu reprojizieren. „Weil nach dem Sturze Napoleonischer Gewaltherrschaft die Völker Bürgschaften gegen die Wiederkehr ähnlicher Unterdrückung verlangten, ist seit dem Jahre 1814 das Ringen um ständische Rechte Losungswort durch ganz Europa geworden. Dasselbe geschah 1000 Jahre früher." 47 Solche Kühnheit versetzt Gfrörer nur allzubald in eine weitere Zwangslage, in dem Moment nämlich, als die aufklärerischliberalistischen Relikte seiner Werteskala in Konflikt mit den katholizistischkonservativen, großdeutschen Deutungsmustern geraten, nach denen er zunehmend greift, um eine Theorie über den Niedergang des Reichskörpers, gleichzeitig aber auch über dessen prinzipielle Reformfahigkeit zu entwickeln. Sukzessive wandelt sich die Bewertung des „ständischen" Mitbestimmungskampfes im Fortlauf der Erzählung. Die Straßburger Eide figurieren zunächst als der „erste Sieg ständischer Rechte über das von Carl dem Großen [...] eingeführte unbeschränkte Königthum"; die Stände erhalten die Aufgabe, den karolingischen Bruderkampf einzudämmen, um einen ewigen abendländischen Krieg zu vermeiden; als Regulativ treten sie der überzogenen Herrschaflsweise Arnulfs von Kärnten entgegen. Während Beispiele dieser Art die Ansicht zu belegen scheinen, königliche Willkür solle grundsätzlich durch das Gewicht ständischer Einwilligung beschränkt sein,48 überrascht die anschließende Darstellung der Zustände im neustrischen Reiche Karls des Kahlen nach dessen Kaiserkrönung (875) um so mehr. Deren Fazit lautet, gerade die Zugeständnisse an die - weltlichen - Stände hätten die kaiserlich-königliche Macht entschei-
44
Gfrörer, Carolinger I, S. 68. Ebd. I, S. 68/69. 46 Ebd. I, S. 71. 47 Ebd. I, S. 68. 48 Ebd. I, S. 35 (Straßburger Eide), S. 41 (abendländischer Krieg), II, S. 311 (Arnulf von Kärnten), I, S. 162 (Machtbeschränkung durch ständische Einwilligung). 45
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dend zerrüttet. 49 Eine neue Sichtweise auf die Stände gewinnt langsam Oberhand. „Seit den lezten 40 Jahren" des neunten Jahrhunderts offenbarte sich „in den höheren Classen der Gesellschaft ein eifersüchtiges Streben nach politischer Gewalt, nach Erweiterung und Sicherung ständischer Rechte", welches keine Bändigung mehr erfahren habe. „Von den Großen lernten allmählich die Kleinen: das Volk erlaubte sich zu denken, daß es nicht bloß der Herrn wegen auf der Welt sei; es sorgte gleichfalls für seinen Vortheil." 50 Solche Entwicklungen, so schließt Gfrörer pessimistisch, trieben den Verfall der königlichen Gewalt im West- wie im Ostreich voran, beförderten gar, durch ihre negativen Auswirkungen auf die Pflanzstätten der „litterae", die Klöster, den schleichenden Kulturverfall des beginnenden zehnten Jahrhunderts. 51 Eine eingehendere Zergliederung des Gfrörerschen Begriffes „Stand" löst den Widerspruch zwar nicht auf, erklärt ihn aber. Sie fuhrt gleichzeitig zu einem weiteren Spannungsfeld hin und trägt, nach einer Bestimmung des individuellen Gedankengutes Gfrörers, abschließend zur Entwicklung zweier grundlegender Deutungsmuster katholizistisch-konservativen, großdeutschen Geschichtsverständnisses bei. - Wie begründet Gfrörer denn genauer seinen Meinungsumschwung bezüglich der Einschätzung ständischer Macht, vor allem in seiner Beurteilung des Kaisertums Karls des Kahlen? Was veranlaßt ihn, jene deutliche Parallele zwischen diesem Kaisertum und dem späteren römisch-deutschen zu ziehen: „Im Übrigen ist das neustrische Kaiserthum ein Vorbild des deutschen, nur mit dem Unterschiede, daß was dort schnell erfolgte, hier erst im Laufe von sechs Jahrhunderten zur Reife gedieh." 52 Hier wie dort seien Zugeständnisse den Vasallen gegenüber notwendig geworden, um einerseits die neue kaiserliche Macht den Untertanen schmackhaft zu machen, um sich andererseits aber auch deren Unterstützung gegen allfallige Widerspenstigkeiten und Ansprüche der kaiserkrönenden Päpste zu versichern. Mit Theoremen dieser Art liefert Gfrörer behende Erklärungen zweier Spezialitäten deutscher Geschichte: des Wahlkönigtums sowie der Entstehung landesfurstlicher Territorialgewalten. 53 „Damit die Stände sich sein Kaiserthum gefallen ließen, verlieh Carl der Kahle denselben das Recht der Königswahl. Auch Deutschland ist in Folge des Widerstands, welchen die Päbste unsern Kaisern leisteten, ein Wahlreich geworden. 49
Ebd. Π, S. 160. Ebd. Π, S. 430. 51 Ebd. Π, S. 491: „Der Verfall königlicher Gewalt, das Anschwellen der großen Vasallen versezte zugleich dem Fortbestand oder wenigstens der Unabhängigkeit klösterlicher Wissenschaft einen tödtlichen Streich." Vgl. Gfrörer, Kirchengeschichte ΙΠ, S. 1321. 52 Ebd. II, S. 160. 53 Vgl. Härtung, S. 1-3, sowie Gerhard Oestreich: Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches (= Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl., Bd. 2, §§ 90-109), Stuttgart 1970, hier zit. nach der Taschenbuchausgabe, München 1974, S. 13. 50
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Um ein Heer für den Römerzug des Jahrs 877 zu erhalten, bewilligte Carl die Erblichkeit der Grafschaften [...]. Um desselben Zweckes willen gestand bei uns Otto III. die Erblichkeit der großen Lehen zu [...]. Gleichwie Carl, um den Widerwillen der Großen gegen die Römerzüge zu besiegen, die Landeshoheit der hohen Vasallen vorbereitete, so gewährte bei uns, aus der nämlichen Ursache, Friedrich II. [...] den Reichsfürsten Privilegien, welche die Macht der Krone untergruben." 54 Gfrörers Urteilsänderung in Sachen „Stände" erfolgt fast unmerklich infolge einer Akzentverschiebung. Erscheint ständische Gewalt gerade recht, um willkürliche Alleinherrscher in ihre Schranken zu weisen, gelangt sie in dem Moment an ihre Grenze, wo sie sich selbst zur Herrschaft entwickelt, deren Ansprüche die Macht der Zentralgewalt auszuhebeln drohen. Das kurze Kaisertum Karls des Kahlen dient Gfrörer als Zeitrafferversion der Genese unheilvoller „ständischer" Mitbestimmung in Deutschland, als deren Hauptsymptome er diagnostiziert: Entstehung eines Wahlkönigtums sowie Erblichwerdung aller Lehen. Bezogen auf das „Ostreich" Ludwigs des Deutschen nimmt sich Ähnliches in Gfrörers historischer Kurzschrift so aus: Während dessen Regiment (843-876) hätten sich die Stammesherzogtümer - von Karl dem Großen einst unterdrückt - neu ausgebildet, wieder formiert und hätten im Laufe des Jahrhunderts ihre eingeborenen Separationstendenzen mit „berechnender Arglist" kultiviert, um „die Einheit des Reichskörpers zu sprengen und Germanien in eine Masse kleiner Staaten aufzulösen." 55 In fließenden Übergängen vermischt Gfrörer zwei Problembereiche. Einmal: soll eine Zentralgewalt ungebunden oder „ständisch" reguliert sein? Antwort: eine in gewissen Grenzen kontrollierte Zentralgewalt sei zu befürworten. „Ständische" Mitbestimmung in diesem Sinne ja. Schließlich: soll überhaupt eine Zentralgewalt sein oder nur ein Nebeneinander von selbständigen Partikulargewalten? Antwort: Zentralgewalt sei zu bevorzugen. „Ständische" Gewalt im Sinne selbstbewußt und mächtig auftretender Territorialherrn dürfe sich dagegen nicht entwickeln, geschweige denn die Zentralgewalt lähmen oder gar zerstören. Da Gfrörer beide Fälle nicht deutlich trennt und in beiden undifferenziert von „Ständen" beziehungsweise „ständischer Mitbestimmung" spricht, muß der Eindruck einander entgegenlaufender Bewertungen fast zwangsläufig entstehen. Von den mitbestimmenden Vasallen zum separatistischen Stammesherzogtum: unheilvolle Entwicklungen späterer deutscher Geschichte sieht Gfrörer in der Entstehung erblicher Lehen sowie in der Etablierung von Königswahlrechten vorprogrammiert. Fast ausschließlich aber handelt er bei der Darlegung solcher Prozesse von weltlichen „Ständen". Wie urteilt er dagegen über die Geistlichkeit? 54 55
Gfrörer, Carolinger Π, S. 160/161. Ebd. I, S. 171 und Π, S. 348 (Zitat).
11 Brechenmacher
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Ein letztes Spannungsfeld eröffnet sich aus der Polarität von geistlicher und weltlicher Macht. Einem zweiten Hauptthema gleich durchzieht die Kirchengeschichte des neunten Jahrhunderts Gfrörers „Carolinger", wobei die kanonistischen und kirchengeschichtlichen Untersuchungen über die „Pseudo-Isidorischen Dekretalen" sowie die sogenannten „Gottschalkschen Händel" mit zu den kenntnisreichsten Partien des Werkes zählen.56 Freilich spielt im Endurteil über diese Episoden Gfrörers eigene Zeit erneut kräftig mit herein. Auf der einen Seite erkennt er in den „Gottschalkschen Händeln", eine „plebejische Bewegung" niederer Kleriker gegen die bischöfliche und zentrale kirchliche Macht, „zugleich ein Kennzeichen des Verfalls bischöflicher Gewalt und ein[en] Versuch, den Sturz derselben zu beschleunigen",57 fast eine Miniatur-Reformation, die er deutlich negativ beurteilt. Sehr viel mehr Sympathie bringt Gfrörer auf der anderen Seite dem „aristokratischen" Versuch hoher Geistlicher entgegen, einer gefälschten kirchenrechtlichen Kompilation („Pseudo-Isidorische Dekretalen") kanonische Geltung zu verschaffen, mit dem Ziel, den Einfluß weltlicher Gewalt auf den Klerus zu zerstören, die Bischöfe nicht mehr königlich kontrollierten Metropoliten, sondern direkt dem Heiligen Stuhl zu unterstellen und damit dessen Macht indirekt zu stärken. 58 Folgt aus der Art der Bewertung dieser kirchenpolitischen Verwicklungen, Gfrörer wünsche sich die Kirche als eigenständiges Institut, neben und unabhängig von weltlicher Herrschaft, repräsentiert durch eine starke Hierarchie von Papst und Bischöfen, unter Ablehnung nationalkirchlicher Bestrebungen nach größerer Unabhängigkeit von
56
Komprimiert gab er diese Partien als eigenes Buch heraus: Gfrörer, Falscher Isidorus. Gfrörer, Carolinger I, S. 259. 58 Zusammenfassung der weitläufigen Ausführungen zu Gottschalkschen Händeln und Pseudoisidor, ebd. I, S. 261-265; noch weniger intensiv erforscht, doch mit gleicher Tendenz in Gfrörer, Kirchengeschichte III, S. 779-794 und 828-895. - Theologisch entfachten sich die von Gfrörer sog. „Gottschalkschen Händel" an der Lehre des sächsischen Mönchs Gottschalk (um 807-867/869) von der zweifachen Prädestination des Menschen, entweder zum ewigen Heil oder zum Verderben. Diese Lehre, die erhebliche theologische Diskussionen hervorrief und sogar als Häresie Verurteilung fand, entsprang sicherlich dem Revolutionsdrang des unorthodoxen Wanderpredigers gegen die Macht der hohen Bischöfe und Metropoliten. Die neuere Forschung betrachtet den Prädestinationsstreit aber doch hauptsächlich als eine theologische Angelegenheit, weniger als eine soziale und politische. Die Stoßrichtung der pseudo-isidorischen Fälschung wird hingegen noch immer in der von Gfrörer beschriebenen Weise gesehen. Freilich aber habe die mit der Fälschung „eingeleitete Erhöhung der päpstlichen Autorität [...] im 9. und 10. Jahrhundert [...] noch keinenfruchtbaren Boden in Rom gefunden." Eduard Hlawitschka: Vom Frankenreich zur Formierung der europäischen Staaten- und Völkergemeinschaft. 840-1046. Ein Studienbuch zur Zeit der späten Karolinger, der Ottonen und der frühen Salier in der Geschichte Mitteleuropas, Darmstadt 1986, S. 68; zu Gottschalk vgl. ebd. S. 70/71 sowie Franz Brunhölzl: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. I, München 1975, S. 359-364. 57
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Rom? Durchaus, und noch mehr. Papst Nikolaus I. gerät ihm nicht lediglich zum Wächter über Kirchenzucht und öffentliche Sittlichkeit, sondern zum Schutzherrn der Völker vor den absolutistischen Machtansprüchen weltlicher Gewalthaber, zum Fürsprecher „nationaler" Selbständigkeit. „Das europäische Staatensystem, das noch heute besteht, die Idee einer Familie von Völkern, die wie gleichberechtigte Söhne sich um die Mutterkirche reihen, ist das Werk des Stuhles Petri. [...] Was wäre aus dem Abendlande ohne die wohlthätige Gewalt der Päbste geworden?" 59 Als ob er diesmal die Gefahr, mit seiner Interpretation in eine neuerliche Zwangslage zu geraten, witterte, läßt Gfrörer jedoch die Einschränkung auf dem Fuße folgen. Diese wohltätige Wirksamkeit der „erhabenen Anstalt" Papsttum sei keineswegs so zu verstehen, als dürfe sich der Pontifex einem Weltenherrscher gleich über jegliche weltliche Macht erheben. Zuviel der Wohltätigkeit sei nicht akzeptabel; Nikolaus I. habe schließlich in dem Bestreben, ein geistliches Weltreich aus den Trümmern des Karolingerreiches zu errichten, den Bogen deutlich überspannt. „Wir begreifen recht gut, warum Nikolaus unter damaligen Umständen auf den Gedanken gerieth, die carolingischen Fürsten dem Stuhle Petri zu unterwerfen. Dennoch war dieses Streben ein unmögliches. Königthum und Papstthum sind ihrer Natur nach unvereinbare Gewalten, keines darf das andere aufsaugen und die Päbste müssen sich begnügen, dem Königthum das Gleichgewicht zu halten. [...] Das Geheimniß päbstlicher Macht liegt in dem Kampfe gegen Verderbniß oder übermäßiges Anschwellen des weltlichen Fürstenthums."60 In dieser Hinsicht habe dann ein späterer Papst, Johannes X., seine Aufgabe besser erledigt. Zwar auf höchst verwerfliche Weise auf den Thron der Christenheit gelangt,61 adelte er sein Pontifikat gleichwohl durch das Bündnis mit König Konrad I. „zu einem kirchlichen Kampfe wider die herzoglichen Empörer, welche Deutschland in Stücke zerreißen wollten. Es konnte nicht fehlen, daß diese entschiedene Betheiligung Roms Kraft und Wirksamkeit der Maaßregeln, die im Werke waren, bedeutend erhöhte. Wir Deutsche haben deshalb keinen Grund in das schadenfrohe Geschrei über das sogenannte römische Hurenregiment mit einzustimmen. Mag Pabst Johann X. erhoben worden sein wie er will, um unser Volk hat er sich ein hohes Verdienst erworben." 62 Gfrörer war nichts weniger als ein Gesinnungsethiker: stimmte nur das päpst59
Gfrörer, Carolinger I, S. 355/356 (Nikolaus I.); S. 456 (Zitat). Ebd. I, S. 457 und 504 (Zitat). Zu den Weltreichsplänen Nikolaus' I. auch Gfrörer, Kirchengeschichte III, S. 985-987. 61 Die neuere Papstforschung hält die Ansicht, Johannes X. sei aufgrund einer Affare mit einer mächtigen römischen Sippenführerin zum Papst aufgestiegen, für ein Gerücht; vgl. John Norman Davidson Kelly: Reclams Lexikon der Päpste, Stuttgart 1988, S. 137. 62 Gfrörer, Carolinger II, S. 482. Vgl. auch Gfrörer, Kirchengeschichte ΙΠ, S. 11551159 (mit stärkerer Verurteilung der „Unmoralität" Johannes' als in den „Carolingern") und S. 1185-1189. 60
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liehe Verhalten überein mit seinen Ansichten über Wohl und Wehe deutscher Angelegenheiten, dann mochte er es schon für gut befinden. Allerdings opferte er mit dieser Bewertung die zuvor vollmundig proklamierte päpstliche Unabhängigkeit doch wieder - den „nationalen" deutschen Belangen. Papst Johannes X. reüssiert. Welche Rolle aber kommt, nach solcherlei Erwägungen über geistliche und weltliche Macht, dem Klerus in seiner Eigenschaft als „Reichsstand" zu? Soll er, wie Hinkmar von Reims, für den König gegen den Papst Partei ergreifen, durch Verteidigung der weltlich kontrollierten Metropolitanverfassung? Soll er, wie derselbe Hinkmar in späteren Jahren, als rücksichtsloser Verteidiger „der Freiheit der Kirche gegen die Eingriffe der Staatsgewalt", dem Papst gegen den König zur Seite stehen? Soll der Klerus als geistlicher Stand regulativ den Ansprüchen des Monarchen entgegenwirken, wie im Falle Arnulfs von Kärnten? Oder soll er auf die Seite des Monarchen treten, gegen die zerstörerisch-separatistischen Tendenzen der Herzöge, wie insbesondere Erzbischof Hatto von Mainz in seinem Kampf gegen den Sachsenherzog Heinrich, 63 wie aber auch der Klerus auf der Synode von Hohenaltheim (916), um „alle Blitze der Kirche, alle Schrecken der Hölle gegen Diejenigen zu waflhen, welche die Kraft der Krone geschwächt, die Einheit des Reiches angetastet hatten"?64 Größere Ambivalenzen noch als im Falle der Beschreibung weltlicher Partikulargewalt ergeben sich aus Gfrörers Erörterungen über das Verhältnis der geistlichen zur weltlichen Macht. Sicher, seine geistige Odyssee war auch zum Zeitpunkt der Abfassung der „Carolinger" noch keineswegs ganz abgeschlossen, wenngleich sie sich ihrem Ziel zuneigte. Nicht immer hatte ja Gfrörer so relativ freundlich über die Rolle von Kirche und Papsttum geurteilt, hatte in der ersten Auflage des „Gustav Adolph" Rom alleinverantwortlich für die Zerrüttung Deutschlands, den Papst zum Haupte der „guelfischen" Partei erklärt. 65 Aber doch war der Wandel spätestens seit der kleinen Schrift „Die Tiare und die Krone" von 1838 erkennbar. Sehr viel erinnert darin an die Urteile der „Carolinger", etwa die Betonung des Aspekts der Zähmung kaiserlicher Macht durch die mittelalterlichen Päpste, schließlich auch der Hinweis auf den vorwiegend geistigen Charakter päpstlicher Herrschaft, die selbst dem Verderben anheimfalle, sobald sie sich über das Kaisertum erhebe. 66 Vollends im Laufe der Arbeit an der , Allgemeinen Kirchengeschichte" war Gfrörer mehr und mehr auf einen katholizistischen Standpunkt übergegangen.67 Eine Berufung auf jenen gei-
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Ebd. II, S. 467. Ebd. I, S. 482-485 und II, S. 241 (Hinkmar); 296 (Arnulf); 484 (Synode von Hohenaltheim). 65 Gfrörer, Gustav Adolph, 1. Aufl., S. 297 und 301. 66 Gfrörer, Tiare und Krone, S. 2/3. 67 Vgl. dazu Gfrörers Autobiographie, oben S. 115. 64
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stigen Wandel, den Gfrörer bis dahin im wesentlichen vollzogen hatte, genügt also nicht zur Erklärung der Spannungen innerhalb der „Carolinger". Besser erfaßt wohl ein Blick auf den Wechsel der Perspektive zwischen „Kirchengeschichte" und „Carolingern", wie jene Spannungen zustande kamen. Stellte in jener die Kirche des Abendlandes im wesentlichen das Zentrum der Konzentration dar, trat in dieser mit dem „nationalen" Standpunkt ein neues, Dominanz forderndes Leitprinzip hinzu. Gfrörer schrieb in den „Carolingern" nationale Geschichte, wozu ihn auch sein tagespolitisches Interesse antrieb. In diese Darstellung mußte er sein neugewonnenes, in Richtung Katholizismus tendierendes, zum Teil sich noch weiter ausprägendes Bild der Kirche integrieren. Der historische Dualismus von Imperium und Sacerdotium erscheint in Gfrörers „Carolingern" auf literarischer Ebene wieder, als inneres Spannungsmoment des Werkes, dessen Ambivalenzen aus den wechselnden Dominanzen jener beiden Pole entstehen. Verschiedene Wertsysteme widerstreiten in den „Carolingern", legen Zeugnis ab von jenem geistigen Entwicklungsprozeß Gfrörers, in dessen Verlauf alte Deutungsmuster langsam aufbrechen und neuen Platz machen. Auf der einen Seite die aufklärerisch-liberale Tradition, die mit konservativeren Orientierungen um ein Begreifen der spätkarolingischen Geschichte ringt. Die politischen Fragen der Gegenwart bestimmen dabei freilich das Erkenntnisinteresse nur zu offenkundig, wenn Gfrörer etwa Antworten sucht auf die Frage nach Ideal und Sinn von mehr oder weniger ständisch kontrollierter Königsmacht, von lockerem Föderalismus oder straffem Zentralismus. Auf der anderen Seite gesellt sich dem die neue, dem Katholizismus zuneigende Position mit ihren nicht weniger von Gfrörers Gegenwart her motivierten Bemühungen hinzu, dem Studium der Geschichte Aufschlüsse über ein praktikables Verhältnis von Kirche und Staat abzugewinnen. Jene neuen - konservativen und katholizistischen - Wertungen setzen sich gegen Ende des Werkes im Versuch Gfrörers durch, weltliche und geistliche Zentralmacht (König/Kaiser - Papst) sowie weltliche und geistliche Partikulargewalten (Stammesherzöge/Territorialherrn - Klerus) zu einem Gesamtdeutungsgebäude zu integrieren. Von der Rolle des Papsttums als geistlichem Gegengewicht der weltlichen Herrschaft, als Schutzinstanz möglicherweise unterdrückter Völker war bereits die Rede, ebenso wie von dessen Beschränkung auf jene Stabilisierungsfunktion, die nicht selbst in weltliches Machtstreben umkippen dürfe. In der Frage nach der deutschen Reichseinheit gelangt Gfrörer zu einer wahrlich überraschenden Konstellation der drei Faktoren König - weltliche - geistliche Stände. Der schwarze Peter, auch dies bereits bekannt, fallt den Stammesherzögen zu, denen er ein nicht zu bändigendes Streben nach Eigenherrschaft, nach Selbständigkeit diagnostiziert. Gegen dieses Streben aber idealisiert Gfrörer eine prozentralistische Politik des hohen Klerus - nach
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dem Muster Hattos von Mainz 6 8 - zum Unterpfand der Reichseinheit: „Die deutschen Stämme strebten vor tausend Jahren, wie heute noch, ein EinzelLeben zu fuhren. Nur das Band der Kirche [...] hat uns in den sieben Jahrhunderten, da wir das große Wort im Abendlande führten und an der Spitze der Völker standen, zu einer Einheit verknüpft." 69 Verständlich, daß aus diesem Blickwinkel der Reformation des sechzehnten Jahrhunderts dann eine besondere Bedeutung zukommen muß, und verständlich auch, daß Gfrörer in seinen politischen Äußerungen im Vorfeld der Nationalversammlung der kirchlichen Wiedervereinigung hohen Wert für die Beantwortung der Frage nach der deutschen Einheit zumessen wird. 7 0 Denn im letzten Grunde erscheint ihm die Entstehung eines „deutschen Reiches" nicht so sehr als ein politischer, sondern vielmehr als ein missionarischer Akt, erscheint ihm kein weltlicher Herrscher, sondern ein irischer Mönch als „der eigentliche Gründer des deutschen Reiches". Der Vertrag von Verdun habe nämlich die Grenze des neuen Reiches gemäß jener „kirchlichen Eintheilung" gezogen, „welche vor 100 Jahren der h. Bonifatius dem von ihm bekehrten Germanien gegeben."71 So führt Gfrörer die Vorstellung eines „kirchlichen Einheitsbandes" vom Apostel der Deutschen über Erzbischof Hatto von Mainz bis hinein in die Debatten der Paulskirche, in welche er Geschichtskonstrukte dieser Art als Munition tagespolitischer Argumentation tragen wird. Aus dem Widerstreit der Wertsetzungen in der „Geschichte der ost- und westfränkischen Carolinger" hebt sich letztendlich doch die individuelle Linie Gfrörers hervor, zeichnet sich die Richtung ab, in die sein Weg geht. Abgesehen von jener höchst eigenwilligen Integration der Spannungsmomente arbeitet er aus den Wirren des spätkarolingischen neunten Jahrhunderts, die er als deutsche Geschichte bereits verstanden wissen will, zwei Grundkomplexe tatsächlich deutscher Geschichte heraus: die Problematik des Dualismus von weltlicher und geistlicher Gewalt sowie die Problematik des Föderalismus von zentraler und partikularer Herrschaft. Wenn Gfrörer bei aller Widersprüchlichkeit im Einzelnen zuletzt der Tendenz nachgibt, das Sacerdotium, verkörpert in einer unabhängigen übernationalen Institution, neben das Imperium zu stellen, beiden die Aufgabe zuweist, sich gegenseitig zu stützen, zu ergänzen und zu begrenzen, wenn er schließlich den Niedergang des Reiches den verderblichen separatisti-
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Gfrörer, Carolingern, S. 319: Hatto nehme „einen der ersten Plätze" ein „in der Reihe unserer Staatsmänner, welche sich Verdienste um des Vaterland erwarben." Ebd., S. 467: „einer der größten kirchlichen Staatsmänner, welche unsere Nationalgeschichte aufweist." 69 Ebd. Π, S. 488/489. 70 Vgl. u. S. 442-449. 71 Ebd. Π, S. 467 und I, S. 54 (Zitat); vgl. auch Gfrörer, Kirchengeschichte m , S. 537 und 1551.
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sehen Bestrebungen der Stammesherzöge zuschreibt, welche im Laufe der Zeit und über verschiedene Zwischenstufen sich zu Territorialfürsten wandeln, so gründet er seine Geschichtskonstruktion auf zwei historiographische Deutungsmuster, die katholizistisch-konservative, großdeutsche Geschichtsschreibung in ihren „Grundurteilen" wesentlich und typisch kennzeichnen.
Die Auseinandersetzung zwischen Kaisertum und Papsttum steht mit im Zentrum des Interesses der ersten Generation großdeutscher Historiker am hohen und späteren Mittelalter. Dem stauferzeitlichen Gipfel dieser Kontroverse widmen sie dabei besondere Aufmerksamkeit, während sie über die Vorstufen in der Regel eilig hinwegziehen und allenfalls das Nötigste dazu bemerken. Natürlich, das Zeitalter Gregors VII. sollte in Gfrörers großem Spätwerk der fünfziger Jahre noch seine besondere Behandlung finden. 72 Dieses jedoch entstand schon unter anderen, veränderten Bedingungen, baute auf jenen Grundpositionen auf, die in den dreißiger, vierziger Jahren erst zu beziehen waren. Noch einmal Gfrörer: Großes Gewicht maß er den ottonischen Anfangen deutscher Reichsgeschichte kaum bei. Was er in den „Carolingern" nicht mehr behandeln mußte, war ihm in der „Kirchengeschichte" allerdings nicht erspart geblieben. Ungewöhnlich geht er da mit dem sächsischen Kaiserhaus um, doch innerhalb des Gesamtgefüges seiner Historiographie durchaus konsequent. Eine Initialfunktion konnte er den Ottonen ja nicht mehr zuweisen, nachdem er die Weichen deutscher Geschichte - in der „Kirchengeschichte" nicht anders als in den späteren „Carolingern" - im Wirken des Apostels und schließlich im Vertrag von Verdun bereits gestellt hatte. Daß er innere Widersprüche seiner Konzeption auch im Zusammenhang mit den Sachsen nicht abzubauen vermochte, sei am Rande angemerkt, im Bilde König Heinrichs I. etwa, der gelegentlich als „Gründer teutscher Reichseinheit" erscheint, obgleich Gfrörer einige hundert Seiten früher ausgeführt hatte, Heinrich sei nie eigentlich „der Teutschen, sondern der Sachsen und Franken König" gewesen.73 Erst dessem Sohn Otto sollte tatsächlich das Kunststück gelingen, „alle teutschen Stämme unter eine Krone zu bringen." 74 Freilich schreibt Gfrörer dieser Episode nicht übermäßig viel Bedeutung zu; in der „Allgemeinen Kirchengeschichte" legt er der Reichsgeschichte keine anderen Eckdaten zugrunde als in den „Carolingern", unerachtet des grundsätzlichen Perspektivenwechsels zwischen beiden Werken. Ein Problemkreis eröffnet sich zu näherer Betrachtung allerdings doch aus dem Bild der Ottonen in Gfrörers „Kirchengeschichte": derjenige des abend-
72 August Friedrich Gfrörer: Papst Gregor VII. und sein Zeitalter, 7 Bde., Schaffhausen 1859-1861. 73 Gfrörer, Kirchengeschichte IH, S. 1584 und 1194. 74 Ebd. ΙΠ, S. 1190.
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ländischen Kaisertums. Wenn 962, nach verschiedenen karolingischen Wiederbelebungsversuchen, die Kaiserkrone Karls des Großen endlich auf den Sachsen Otto überging, so wertet Gfrörer dies keineswegs als großartige translatio imperii a Francis ad Germanos, sondern vielmehr als Ausgeburt der „maaßlosen Ehrsucht" Ottos, seines Bestrebens, sich über die Kaiserwürde zur Weltherrschaft aufzuschwingen sowie die Päpste zur „kläglichen Rolle byzantinischer Patriarchen" herabzudrücken. 75 Aus solchen cäsaropapistischen Bemühungen, von Otto ganz nach dem Muster Karls angestrengt, sieht Gfrörer den Konflikt zwischen Kaisertum und Papsttum zu seinem „natürlichen Charakter einer Auseinandersetzung der strittigen Rechte des Hohenpriesterthums und der Kaiserkrone" heranreifen. 76 Für Deutschland aber auch Italien habe dieser Kampf erhebliche Folgen gezeitigt, da „fast alle Nachfolger Otto's die nämliche Bahn" einschlugen, den Weg „unseliger Herrschgier" weiterverfolgten, die Hände nach dem „Phantom der Kaiserkrone" weiterhin ausstreckten. 77 So stürzte sich Otto II., zusätzlich angefeuert von seiner byzantinischen Gattin Theophanu, in den „italischen Strudel", und ebenso Otto III., wiederum beseelt vom großväterlichen „Werk des Fluches" wie von der mütterlichen Gier nach einem „Kaiserthum im griechischen Sinne". 78 Fazit: „Das germanische Kaiserthum hielt [...] die politische Entwicklung zweier großer Nationen, der Teutschen und Italiener auf." Einerseits. Andererseits: „Es erzeugte einen Kampf zwischen geistlicher und weltlicher Macht, welcher in Europa die bürgerliche Freiheit groß gezogen hat." 79 Gfrörer liefert keine Erläuterung dieser letzten interessanten Wendung seines Denkens.80 Er stellt eine Behauptung in den Raum, die, zusammen mit den
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Ebd. ΠΙ, S. 1271 und 1258/59.
Ebd. m, S. 1259. Ebd. m , S. 1271. Ebd. m , S. 1414/1415 (Otto Π.) und 1510/1511 (Otto m.)
Ebd. m, S. 680.
Mit oder ohne Erläuterung: Gfrörers Beobachtung scheint nicht völlig abwegig, ja sie wird später von einer ganz anderen Seite her, in präziserer Formulierung bestätigt. Otto Hintze hat im Rahmen seiner Forschungen zu einer ,Allgemeinen Staats- und Gesellschaftslehre auf historischer Grundlage" darauf hingewiesen, daß „in dem Zwiespalt zwischen Staat und Kirche [...] während des Mittelalters ja überhaupt die gesellschaftlichen Mächte erst zu vollständiger Bedeutung im öffentlichen Leben gelangt" seien. „Staat und Gesellschaft treten gewissermaßen auseinander, während sie im Altertum noch ungeschieden beieinander geblieben waren; die gesellschaftlichen Kräfte organisieren sich in mannigfaltigen Formen und erlangen auch politische Bedeutung. [...] Ich meine also, daß in den eigentümlichen Verhältnissen der Staatenbildung, wie sie das Mittelalter charakterisieren (Dualismus zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, Ausbildung einer Gruppe von rivalisierenden Staaten), wichtige Bedingungen für die Entwicklung der ständischen und repräsentativen Verfassungen liegen." (Otto Hintze:
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anderen Aussagen der „Kirchengeschichte" über das Kaisertum, einen ähnlichen Eindruck von Ambivalenz erzeugt, wie er in den „Carolingern" bereits zu beobachten war. Die italienische Kaiserpolitik habe die nationalstaatliche Entwicklung Deutschlands wie Italiens entscheidend gehemmt. Argumentiert so nicht fünfzehn Jahre später auch der kleindeutsch orientierte Heinrich von Sybel gegen den großdeutschen Julius Ficker? Drängt sich nicht mit solchen Erwägungen auch in Gfrörers „Kirchengeschichte" die national-deutsche Perspektive bei der Bewertung des abendländischen Kaisertums in den Vordergrund? Streckenweise sicher. Im Argument von der Selbständigkeit der Kirche, die nicht zum Unterinstitut eines Cäsaropapisten herabgewürdigt werden dürfe, verschafft sich hingegen die ekklesiastische Perspektive letztlich doch Oberwasser. Weder von der einen noch von der anderen, weder von der nationalen noch von der ekklesiastischen Warte aus, findet jedoch das Kaisertum Gnade in Gfrörers Augen. Muß diese Institution also grundsätzlich der Verdammnis anheimfallen? Keineswegs, denn - so wiederum Gfrörer in der selben „Kirchengeschichte" die Auseinandersetzung des Kaisertums mit dem Papsttum habe wenigstens eine positive Folge gezeitigt und, auf welche Weise auch immer, in Europa die „bürgerliche Freiheit" hervorgebracht, einen von Gfrörer äußerst geschätzten Wert. Ein Vergleich mit anderen Stellungnahmen Gfrörers zum Problem des abendländischen Kaisertums und seines Verhältnisses zum Papsttum als auch zu den aufstrebenden territorialfürstlichen Gewalten in Deutschland kann größere Klarheit schaffen. In der ersten Auflage des „Gustav Adolph" (1837) schrieb er, wie erwähnt, die deutsche Zerrüttung nicht auf das Konto des Kaisertums, sondern auf das der Heiligen Römischen Kirche. In schillerndem Vokabular ergänzte er jedoch, „die Summe aller schlimmen Gaben, die wir vom römischen Stuhl
Staatenbildung und Verfassungsentwicklung. Eine historisch-politische Studie, in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hg. von Fritz Härtung, Leipzig 1941, S. 24-41, hier S. 33). Freilich spricht Hintze nicht wie Gfrörer einem der beiden Pole des dualistischen Systems das Verdienst4 zu, diese Entwicklung katalysiert zu haben, sondern betrachtet sie als Folge der „eigentümlichen Verhältnisse" insgesamt. - Daß das „europäische Gesellschaftsverständnis" dem Streben mittelalterlicher Korporationen nach Freiheit gegenüber Alleinherrschaftsansprüchen des Kaiser- und des Papsttums entsprang, gilt heute als communis opinio der Mediävistik. „Diese Freiheitsforderung [...] beförderte nachhaltig Denkmodelle, die nicht in der Geschlossenheit eines durchgängigen Herrschaftsaufbaus, sondern in der Selbständigkeit kleinerer gesellschaftlicher Glieder ihre Verantwortung für das Ganze als die angemessene Ordnung erkannten." (.Ferdinand Seibt: Von der Konsolidierung unserer Kultur zur Entfaltung Europas, in: Handbuch der europäischen Geschichte, hg. von Theodor Schieder, Bd. 2 (1987), S. 1-174, hier S. 43). Insofern kann Gfrörers Beobachtung in der »Allgemeinen Kirchengeschichte" - auch ohne eine eingehendere Begründung von seiner Seite - durchaus als Vorläufer solcher Bewertungen gesehen werden.
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erhielten", sei „befaßt in dem unseligen Verhältnisse zwischen der Kirche und dem Staate, das der Kaiserkrone von vorne herein eingeimpft war." 81 Das Interregnum, die kaiserlose Zeit des dreizehnten Jahrhunderts beispielsweise erscheint in diesem Lichte als „eine der schändlichsten Perioden unserer Geschichte." Nutzten in jenen Jahren doch „die großen Vasallen des Reichs" den päpstlichen Sieg über das Kaisertum aus, um in das Vakuum zu stoßen, ihre Macht zu festigen und das Kaisertum noch weiter zu schwächen.82 In „Die Tiare und die Krone" (1838) erhöhte Gfrörer dann allerdings den Wert des Heiligen Stuhles als des Bändigers kaiserlich-weltmonarchischer Ambitionen. Genau hier aber läßt sich Gfrörers eigentliche Intention hinsichtlich der Bewertung des Dualismus von Kaiser- und Papsttum am schärfsten erkennen. Nachdem die Päpste die kaiserliche Macht gebrochen, seien sie selbst dem Verderben verfallen. ,3ald nachdem es [das Papsttum] durch Vernichtung der herrschgierigen Plane des deutschen Kaiserthums der Welt jenen Dienst erwiesen, war der Sieger selbst zum Grabe reif. Auf den Trümmern der kaiserlichen Macht hatte sich nicht nur in Germanien, sondern auch in andern Theilen Europa's, die Landeshoheit der Fürsten gehoben."83 Was nun aber Gfrörer von letzterer hielt, bedarf nach Kenntnisnahme der „Carolinger" keiner weiteren Erläuterung; daß im übrigen jene Geschichtsdeutung von der Entstehung fürstlicher Territorialgewalt eine direkte Linie zum Sieg der Reformation zieht, sei hier vorwegnehmend nur angedeutet. - Mit anderen Worten: Einer kommt ohne den anderen nicht aus. Gfrörer neigt dazu, ein Gleichgewichtssystem empfindlich gestört zu sehen, wann immer der eine Pol Oberhand über den anderen gewinnt, ihn vielleicht gar zu unterjochen droht. Weltmonarchische kaiserliche Bestrebungen erscheinen ihm im Grunde sowenig akzeptabel wie päpstliche. „Die Tiare und die Krone" nimmt in diesem Urteil die Tendenz der späteren „Carolinger" bereits vorweg. Gfrörer betrachtet Kaiser- und Papsttum prinzipiell vom Idealmodell eines gleichgewichtigen dualistischen Systems her. Aber ihm gelingt nicht, dieses System neutral anzunehmen und in seinen Auswirkungen distanziert zu studieren. 84 Auf den Spuren der großen mittelalterlichen Auseinandersetzung von Kaiser und Papst fallt er hingegen erheblich schwankende Werturteile über Schuld und Unschuld, Erfolg und Versagen des einen wie des anderen Pols, je nachdem, welches der von ihm durchlaufenen weltanschaulichen Entwicklungsstadien, seinen Blickwinkel gerade bestimmt. Nicht anders als in den „Caro-
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Gfrörer, Gustav Adolph, 1. Aufl., S. 297. Ebd., S. 301. 83 Gfrörer, Tiare und Krone, S. 4. 84 Ein Gegenbeispiel etwa bei Hintze, S. 31-33, hier insbes. die Ausführungen über die Entstehung eines europäischen Staatensystems aus dem Zwiespalt zwischen Kaiser und Papst, ebd. S. 32. 82
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lingem" durchdringen sich auf diese Weise auch in der „Kirchengeschichte" wechselnde Bewertungen und Perspektiven und lassen oftmals Widersprüche stehen. - Hinsichtlich der Auffassung des Kaisertums kam Gfrörers historisches Denken schließlich auch zu weiteren und anderen Ergebnissen, je mehr es in den Bereich der Neueren Geschichte vorstieß. Besonders im Laufe der einzelnen Auflagen des „Gustav Adolph" nahm dabei sein „ghibellinischer Standpunkt" 85 konkretere Gestalt an und führte zu einer Basis, von der aus sich Gfrörers Forderung des Vorwortes zum zweiten Band der „Carolinger" nach dem Wiedererwachen des Reiches inhaltlich präziser füllen läßt. Während August Friedrich Gfrörer aus Calw solchermaßen mit Kernproblemen der Reichsgeschichte rang, verfertigten andere ihre historiographischen Konstrukte nach stringenteren Urteilsmaßstäben. Constantin Höfler beispielsweise hätte jener Auffassung vom grundsätzlich verderblichen Weltherrschaftsstreben des mittelalterlichen Kaisertums kaum zugestimmt. Seit er sich Schelling entfremdet sowie dem orthodoxen Katholizismus zugewandt hatte, stand er auf festerer weltanschaulicher Basis denn Gfrörer, orientierte sich deutlicher an einem römisch-katholischen Universalismus als an einem deutschen Nationalgedanken. Einem klaren Idealbild der Funktion beider Gewalten, des Kaisers und des Papstes, trachtete er das historische Geschehen zu subsumieren. Zur Genüge verdeutlicht sein bereits bekanntes Gesamtkonzept der Reichsgeschichte unter dem Thema des Zerfalls der großen abendländischen Einheit von Kaiser und Papst die Differenz zu den Ansätzen Gfrörers. 86 Gleichwohl gilt es, den entscheidenden Punkt aus anderer Position noch einmal herauszuarbeiten, um einerseits die klassisch-katholische Variante großdeutscher Geschichtsdeutungen gebührend aufzubauen und dem Gfrörerschen Modell der vierziger Jahre kontrastierend zur Seite zu stellen, um andererseits aber den chronologischen Weg zum Gipfelpunkt jener Auseinandersetzungen zwischen Kaisertum und Papsttum fortzuschreiten und in den beiden Werken Hurters über Innozenz III. und Höflers über Friedrich II. schließlich zu erreichen. Der negativen Zeichnung Ottos I. hätte also Höfler kaum beigepflichtet, hätte auch kaiserliche Italienpolitik nicht so ohne weiteres verdammt: „Es gelang [...] Otto nicht, vollständige Ruhe in Italien herzustellen und es bleibt durchaus wahr, daß dieses Land die Arena wurde, in welcher die teutschen Kaiser ihre beste Kraft vergeudeten. Allein deßhalb den Römerzügen zürnen und sagen die Teutschen hätten zu Hause bleiben sollen, heißt nichts anderes als sich dem natürlichen Fortschritte, der unaufhaltsamen Bewegung der Zeit widersetzen." 87 Während Gfrörer zum nationalstaatlichen Standpunkt neigt, verficht Höfler einen universalistisch-ekklesiastischen. Er beschreibt die Aufgabe des Kaisertums 85 86 87
Gfrörer, Autobiographie (s. Lebenswege, Anm. 129), S. 25. S. o. S. 152-154; insbes. S. 152 (Karl der Große und Otto der Große). Höfler, Art. „Reich, teutsches", S. 133.
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anders und kommt demnach auch zu einer anderen Bewertung dessen historischer Bestimmung. Nicht bereits in einem cäsaropapistischen Bestreben Karls des Großen gewahrt Höfler den Keim der Auseinandersetzung beider Gewalten; vielmehr erkennt er deren ideale Einheit als verwirklicht, bis in der Mitte des elften Jahrhunderts, bedingt durch die Entwicklung des Lehenssystems, die Gräben aufbrachen. "Der vorherrschende Charakter des Mittelalters", so eröffnet Höfler wiederum für Wetzer und Weltes Lexikon seinen Beitrag zum Thema „Investiturstreit", „war bis zur zweiten Hälfte des Ilten Jahrhunderts die gegenseitige Durchdringung der geistlichen und der weltlichen Macht zu einem und demselben Endzwecke, der Ausbreitung und innern Förderung des Christenthums. [...] Der Sache des Christenthums zu dienen, war der Hauptgedanke, welcher in den Thaten der glorreichsten Kaiser sich ausprägte, und wo er einer rein weltlichen (heidnischen) Anschauungsweise Platz zu machen drohte, schnell durch das Eingreifen der Päpste und Bischöfe einer höhern und bessern Erkenntniß weichen mußte." 88 Erst die Belehnung geistlicher Würdenträger mit weltlichen Ämtern und weltlicher Gewalt, der kaiserliche Versuch also, jene Würdenträger in ein vasallitisches Verhältnis zu bringen, habe das System der Einheit ins Wanken gebracht. Mit dem Investiturstreit erst habe das große Drama begonnen, „das vorzüglich in Teutschland spielte, und, nachdem es scheinbar mit dem Wormser Concordate 1122 geschlossen war, unter Friedrich Barbarossa unter veränderten Formen sich wieder erneute [...], dann mit Heinrich VI., Otto IV. und Friedrich II. aufs Neue begann und dießmal nicht bloß mit der Demüthigung des Kaisers, sondern mit der Vernichtung des alten Kaiserthums Schloß."89 Auch ohne weitere Bezugnahme auf die Einzelheiten der InvestiturstreitDarstellung Höflers scheint deutlich, worin die unterschiedliche Beurteilung von Kaisertum und Papsttum sowie der Konfrontation beider Gewalten liegt. Im Gfrörerschen Ansatz existiert immer eine säkulare Sphäre rein weltlicher Macht neben der geistlichen. Beide Sphären sollten zueinander in einem System des Gleichgewichts stehen, keine die andere beherrschen, gar nach Weltmonarchie streben. Der Keim der Konkurrenz steckt aber bereits in der bloßen Existenz beider Gewalten, muß also von Anfang an in Form von Machtkämpfen immer wieder zum Vorschein kommen. Im Gegensatz zu solch realistisch-nüchterner Auffassung steht die idealistische der orthodox-katholischen Lehre. Beide Gewalten durchdringen sich da zu einer Einheit mit einer Aufgabe, einem Ziel primär geistlicher Natur: der Verbreitung und Verwurzelung des Christentums. Anders ausgedrückt: das Kaisertum steht letztlich unter, das heißt im Dienste des pontifex maximus. Freilich erscheint dieser Standpunkt ideologieverhafteter
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Constantin Höfler: 687, hier S. 682. 89 Ebd., S. 683.
Art. „Investiturstreit", in: Wetzer und Welte 5 (1850), S. 682-
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als derjenige Gfrörers, geht er doch aus von einer tatsächlichen Verwirklichung des Ideals unter Karl dem Großen, unter Otto, unter den ersten Saliern und unterliegt danach in seinen weiteren Urteilen einem gewissen Systemzwang. Zwar leugnet er nicht Gipfel- und Tiefpunkte, sieht aber den eigentlichen Konflikt erst mit dem Investiturstreit wirklich aufbrechen, dann jedoch linear von Höhepunkt zu Höhepunkt voranschreiten, bis zum schließlichen, logisch folgenden Verfall des Kaisertums. Daß innerhalb eines solchen Geschichtsbildes der nationalen Problematik nur sekundäre Bedeutung zufallt, leuchtet ein. Gleichfalls werden unter seinen Prämissen allfallige gegenwartsbezogene Überlegungen, werden „Lehren der Geschichte" hinsichtlich einer Neugestaltung Deutschlands der Kirche eine andere Position zuweisen, als sie in der Konzeption Gfrörers einnimmt. Das Thema des Verhältnisses von weltlicher und geistlicher Macht, historisch verkörpert in Kaisertum und Papsttum, tritt sowohl in Gfrörers „Carolingern" als auch in den Darlegungen Höflers zur Reichsgeschichte allgemein wie zum Investiturstreit als ein typisches Thema großdeutscher Historiographie auf. Welche Interpretationsspielräume es zuläßt, geht aus den Beispielen gleichfalls deutlich hervor. Freilich: andere Themen müssen hinzukommen, werden hinzukommen, um die Typologie großdeutscher historiographischer Sujets zu vervollständigen. Zunächst jedoch gilt die Aufmerksamkeit den weiteren Spuren dieses einen und verfolgt den Weg zum Höhepunkt der Auseinandersetzung beider Gewalten. Die sacerdotiale Perspektive bestimmt hierbei die Blickrichtung.
Gfrörers aber auch Böhmers Beispiel lehrt, daß es so ausgefallen nicht war, als „protestantischer" Historiker in die Nähe „katholischer" Geschichtsanschauungen zu gelangen. In diesen Zusammenhang gestellt, relativiert sich die vermeintliche Ungewöhnlichkeit des Hurterschen „Innocenz" 90 ein wenig. Erstaunen bleibt aber doch über die Konsequenz, mit welcher da ein hoher reformierter Würdenträger sein erstes großes historiographisches Werk in rein orthodox-katholischem Sinne verfaßt. Abseits von konfessionalistisch geprägten Urteilen, auch jüngerer Forschung über Hurters „Innocenz", 91 fordert die 90
Gesammeltes zeitgenössisches Echo auf „Innocenz" bei Lischer, S. 53-56; vgl. auch Vogelsanger, S. 115. 91 Die einzige ausführliche neuere Analyse des „Innocenz ΠΙ." bei Vogelsanger, S. 114-142. U. a. liefert er einen ins Detail gehenden Vergleich der Ausführungen Hurters mit den Ergebnissen der modernen Forschung über Innozenz (S. 129-137). Dies zeigt zwar sehr deutlich die Defizite des Hurterschen Werkes hinsichtlich der Sachurteilsbildung über seinen Papst auf, mißt das Werk damit jedoch an Maßstäben, denen Hurter nicht gerecht werden konnte. Bei allem Materialreichtum und Scharfsinn der Einlassungen Vogelsangers über Hurters ,»Innocenz" dominiert daneben die Kritik an den
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Geschichte großdeutscher Historiographie dessen Einordnung in den Gesamtzusammenhang dieser Art von Geschichtsschreibung. Auf welche Weise durchdringen sich bei Hurter stereotype Deutungsmuster und deren individuelle Verarbeitung und fügen sich zum Bild jenes Papstes, unter dessen Pontifikat der Konflikt zwischen Imperium und Sacerdotium seinem Gipfel zusteuerte? Neben allen persönlichen Zügen, die einen Charakter vom Schlage Hurters zu einer geschichtlichen Gestalt wie Innozenz formlich hinziehen mußten, sobald nur erste flüchtige Bekanntschaft geschlossen war, 92 scheint doch im Laufe der Arbeit die Idee einer Weltregierung Hurter mit steigender Intensität fasziniert zu haben. Vorsichtig noch urteilte er diesbezüglich zu Beginn des „Innocenz", beschreibt jene Idee zwar, schränkt jedoch ein, „wenn sie auch in ihrer Wirklichkeit nie zur Vollendung gedieh", sei sie „doch aus so manchen Ereignissen und Verhältnissen [...] bald dunkler, bald bewußter hervorgetreten." 93 Später allerdings vertrat er durchaus die Überzeugung, Papst Innozenz III. habe eine solche Weltregierung tatsächlich realisiert, „gestützt, nicht auf Gewalt der Waffen und auf materielle Kräfte, sondern bloß auf ein geistiges Ansehen, als dessen alleinige Quelle die stäte Beziehung auf eine von oben eingeführte Weltordnung und die Verpflichtung, über diese zu wachen, erkannt werden mußte." 94 Nie verhehlte Hurter die Gültigkeit jener Grundannahme einer gottgegebenen WeltGrundeinstellungen des Autors, womit sich in diesem Teil die Gesamtproblematik seines Hurter-Buches widerspiegelt (vgl. dazu Lebenswege, Anm. 71). Ständig auf der Suche nach Äußerungen eines Ultramontanismus krassesten Zuschnittes, unternimmt Vogelsanger gar nicht den Versuch, Hurter in den relativierenden Zusammenhang katholizistisch-konservativer Historiographie seiner Zeit einzuordnen (S. 273, Anm. 1 schreibt als „interessante" Parallele zu Hurters „Innocenz" Gfrörers Werk über Papst Gregor VII. Böhmer zu!). In heftigen Wertungen vertritt er v. a. seinen eigenen Standpunkt, anstatt nach einer Position des gerecht urteilenden Verständnisses zu suchen. Eine kleine Auswahl dieser Wertungen: „schwerfälliger Prunk" (S. 114) - ,Anmaßung und Unverfrorenheit" (S. 116) - ,,Mängel in der Darstellungskunst" (S. 121) - verfehlte Komposition (S. 122) - „geistloser Schematismus" (ebd.) - manisch-depressiver Charakterzug (S. 123) - „breit, langfadig und manieriert" (ebd.) - „gefahrlicher Irrealismus" (129). 92
Einige Andeutungen dazu o. S. 94. - Über die außergewöhnliche Persönlichkeit Lothars von Segni besteht auch in der neueren Forschung kein Zweifel. Vgl. Manfred Laufs: Politik und Recht bei Innozenz ΙΠ. Kaiserprivilegien, Thronstreitregister und Egerer Goldbulle in der Reichs- und Rekuperationspolitik Papst Innozenz' III., Köln / Wien 1980 (= Kölner historische Abhandlungen, Bd. 26), S. 13/14. 93 Hurter, Innocenz III., I, S. 93/94. 94 Hurter, GuW I, S. 202; vgl. auch ders., Innocenz III, II, S. 645: „In dem Christenthum lag für alle seine Bekenner eine vereinigende und bindende Macht. Die Rechte Aller waren unter dessen Obhut gestellt, Aller Pflichten durch dasselbe bestimmt, geweiht; derjenige, der an der Spitze der großen christlichen Verbindung stand, sollte jene schützen, an diese erinnern. Es wurde hiedurch ein Weltregiment begründet, welches rechtmässige Befugniß in jedem angewiesenen Kreise ehrte."
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Ordnung auch für sich selbst. Historiographisch spürte er - von persönlicher Hinneigung vielleicht zunächst angetrieben - der Möglichkeit nach, aus ihr ein reales Weltregiment unter Papst Innozenz hervorgehen zu sehen und fand, weil seine Wahrnehmung vorher alles Zuwiderlaufende ausfilterte, diese Möglichkeit mehr und mehr bestätigt. Sicher, eine panegyrische Tendenz ist aus Hurters „Geschichte Papst Innocenz des Dritten" nicht wegzudiskutieren. Verglichen mit den anderen Spitzenleistungen der Papstgeschichtsschreibung seiner Zeit zeichnet sie sich auch weder durch Johannes Voigts Gerechtigkeitsstreben nach allen Seiten hin, noch gar durch die analytische Schärfe, die zurückhaltende und überlegen beobachtende Parteilosigkeit Rankes aus.95 Beides zu erwarten, hieße, Falsches von ihr zu erwarten. Aus Hurters idealistisch-hingebungsvollem Ansatz erwächst vielmehr eine andere Art von Reiz, welche sich aus jenem Grundgefühl des Autors speist, im Papsttum verberge sich mehr als eine nur irdische Institution. 96 Hurter schließlich mit den Anforderungen eines modernen Wissenschaftsbegriffes, insbesondere mit dessen Forderung nach größtmöglicher Objektivität, entgegenzutreten, bedeutete vollends, ihn falsch zu verstehen. Ebenso wie Gfrörer in den Jahren vor der Revolution einem Konglomerat zusammengeflickter Versatzstücke aus aufklärerisch-protestantischen Rationalismen und aufkeimenden katholizistischen Konservativismen die Stoßrichtung seiner historiographischen Irrungen, Wirrungen verdankte, ebenso wie Höfler und Döllin95 Johannes Voigt: Hildebrand als Papst Gregor VII. und sein Zeitalter, Weimar 1815 ( 2 1846); Leopold Ranke: Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im 16. und 17. Jahrhundert, 3 Bde., Berlin 1834-1836. Da es hier nicht um eine vergleichende Geschichte der Papsthistoriographie geht, sondern um eine Typologie großdeutscher Geschichtsdeutungen, muß auf einen Vergleich der drei Werke verzichtet werden; vgl. diesbezüglich aber Eugen Guglia: Leopold von Rankes Leben und Werke, Leipzig 1893, S. 222-228; Srbik, Geist und Geschichte I, S. 224 und 267-269; Vogelsanger, S. 114. Allgemein Horst Fuhrmann: Papstgeschichtsschreibung. Grundlinien und Etappen, in: Arnold Esch / Jens Petersen (Hg.), Geschichte und Geschichtswissenschaft in der Kultur Italiens und Deutschlands. Wissenschaftliches Kolloquium zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Tübingen 1989, S. 141191, hier insbes. über Ranke S. 148-152 und 171-175. Zu Voigt vgl. auch Thomas Brechenmacher: Art. „Johannes Voigt", in: Killy 12 (1992), S. 54. 96
Ranke etwa betrachtete das Papsttum nicht als eine von Gott gegebene Institution. Wenn er für eine gerechtere Würdigung dessen universalhistorischer Rolle eintrat, so rückte das Papsttum doch gerade deswegen als weltliche und politische Macht in den Mittelpunkt seines Interesses. Diese Haltung bewog übrigens auch die vatikanische Indexkongregation mit dazu, das Werk im September 1841 zu indizieren. Ranke habe, so lautete der Vorwurf, das „Proprium" der katholischen Kirche nicht erfaßt, habe „die entscheidend geistlichen und übernatürlichen Intentionen so gut wie vollständig ausgeblendet." (Fuhrmann, S. 174); zu Rankes Einschätzung des Papsttums vgl. auch Leopold von Ranke: Weltgeschichte. Textausgabe, Bd. ΠΙ, Leizig 3 1910, S. 131.
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ger, in dieser Zeit noch eindimensionaler als später, die Fahne stramm orthodoxkatholischer Dogmatik vorantrugen, so erscheint auch die Geschichtsschreibung Hurters fest eingesponnen in weltanschauliche Voraussetzungen. In seinem Fall dominiert der politisch konservative, legitimistische Grundzug, auf dessen Basis sich die ursprünglichen religiös-konfessionellen Orientierungen langsam zu katholischen wandeln, um letztendlich, ohne daß die äußere Konsequenz vor 1844 erfolgte, dort zu landen, wo Döllinger und Höfler bereits standen, ja, über deren Wertsetzungen ein Stück noch hinauszuschießen in Richtung extremerer Positionen. Unter dem Aspekt der Verwirklichung einer Weltherrschaft im Einklang mit dem göttlichen Wollen dominiert die universale Perspektive eindeutig im „Innocenz"; die vier Bände fügen sich paarweise zu zwei monolithischen Blöcken, 97 deren Struktur exakt dem hierarchisch-statischen Mittelalterbegriff, ja dem Weltbild Hurters überhaupt entspricht. Mag die Kritik am „geistlosen Schematismus", an der Jähmenden Monotonie" der Komposition 98 noch so berechtigt sein, so vernachlässigt sie doch deren bestechende Äquivalenz zum gesamten Weltverständnis Hurters. Nicht aus Mangel an Geist oder Begabung, sondern aus innerster Überzeugung komponierte er den „Innocenz" in jener kompromißlosen Statik. Zwei Kreise umreißen die „Weltherrschaft": ein chronologisch-annalistischer (Band I und II), ein sachlich-strukturalistischer (Band III und IV). Von der Spitze der Hierarchie aus nach unten exerziert Hurter in strenger Systematik die Abhandlung der einzelnen Teile. Im Anschluß an das einführende Kapitel über Innozenz' Jugend, geistige Entwicklung, Papstwahl folgen neunzehn weitere Jahr um Jahr dem Lauf des Pontifikates, wobei Hurter, in jedem Kapitel aufs Neue, von oben den Blick über urbem et orbem des Weltenregiments schweifen läßt. Den Verhältnissen in Rom, im Kirchenstaat schließt er die italienischen an (Sizilien, Neapel, Venedig, Lombardei, etc.), schreitet fort über die Kaiserfrage nach Deutschland, dann von Frankreich über England im Uhrzeigersinn den skandinavischen Ländern, dem Nord- und Südosten zu, über Byzanz hinab ins „Morgenland", um regelmäßig mit der Kreuzzugsbewegung den Schluß des Kapitels zu erreichen. Die Folgebände I I I und IV rollen die Thematik von anderer Seite auf, behandeln die kirchliche Institutionengeschichte der „Weltherrschaft" in Einzelbildern, erneut streng hierarchisch oben beim Pontifex beginnend, herabschreitend bis zu den kirchlichen Orden. Ein langes Kapitel „Die Zeit" beschließt das Werk mit dem Versuch einer überhöhenden, idealisierend verklärenden Gesamtschau.99
97 Hurter selbst war keineswegs abgeneigt, die beiden Blöcke als zwei eigenständige, in sich geschlossene Werke zu betrachten; vgl. Hurter, Innocenz ΠΙ., ΠΙ, Vorrede, S. VI. sowie den eigenen Titel der Bände ΠΙ und I V (s. Lebenswege, Anm. 96). 98 Vogelsanger, S. 122 und 280, Anm. 55. 99 Hurter, Innocenz E l , IV, S. 394-754.
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Friedrich Emanuel Hurter (1787-1865)
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Wie gestaltet sich in dieser Konzeption das Miteinander von Papst- und Kaisertum, welche Würdigung erfahrt da Deutschland als die „Trägernation" des letzteren? Von gleichgewichtigem Nebeneinander beider Gewalten kann die Rede nicht sein, wie schon der Blick auf die Gesamtkonzeption des Werkes lehrt. Aber die zentrale Stellung des Kaisertums innerhalb des hierarchisch aufgebauten Cursus legt doch die Annahme eines besonderen Verhältnisses beider sehr nahe. Gleicht die Beschreibung dieses Verhältnisses durch Hurter jener Höflerschen Position der gegenseitigen idealen Durchdringung zum einen Zweck? Oder existierte noch eine andere, dritte Konstellation, und welche Schlüsse wären aus ihr zu ziehen für die historiographische Behandlung der Jahre des Zenits staufischer Macht in Deutschland, insbesondere auch der prekären Situation des Jahres 1198? Zunächst: das Ideal. „Wie die Kirche die überirdische Richtung des Menschengeschlechtes in ihren Grundtiefen bis hinaus in ihre äußersten Verzweigungen erfassen, ordnen und zu einer Gesammtheit beleben sollte, deren Herzschlag der Papst war, so sollte das ,Heilige Reich', welches, durch alle Rangstufen emporsteigend, auf seiner Spitze den Kaiser trug, die irdische Richtung desselben zu einem Ganzen vereinen. Aus der Fülle geistlicher Machtvollkommenheit des Einen sollte alles Kirchliche, aus der Fülle zeitlicher Machtvollkommenheit des Anderen alles staatsrechtliche Leben ausströmen. [...] Wie jede besondere Kirche ihren Schutzvogt hatte, so sollte er [der Kaiser] der Schirmherr der allgemeinen und derjenigen, in welcher diese ihre sichtbare Stellvertretung fand, im besondern seyn."100 Hurter schlägt die Thematik des Verhältnisses von Sacerdotium und Imperium an, ohne seine Vorstellungen vom hierarchischen Verhältnis beider vorerst zu präzisieren. Bald aber äußert er sich deutlicher. Seit der Kaiserkrönung Karls des Großen habe sich eine „stete Wechselwirkung" beider Institutionen angebahnt, „aus welcher, so lange diese ungestört blieb, beide in vollendeterer Ausbildung zu größerer Kraft sich erhoben." Worin aber lagen die konkreten Aufgaben, solange das Verhältnis ungestört blieb? „Die Kirche sicherte das Reich gegen Alleingewalt, welche kein Recht neben sich dulden will; das Ansehen des Reiches gewährte der Kirche jene allgemeine Anerkennung in allen Ländern, ohne die das Christenthum [...] in [...] Secten zerfallen oder bloß das Eigenthum einer Schule geblieben wäre. So hingegen bildete es sich zu dem Band, welches die Völker umschlang [...] und das Abendland als Ganzes in lebendigem Glauben dem durch die jugendliche Kraft einer die menschlichen Leidenschaften entflammenden Lehre nach der Weltherrschaft strebenden Morgenlande gegenüberstellte."101 Auf der einen Seite das Papsttum als Korrektiv kaiserlichen Allmachtstrebens - soweit im Sinne der Gfrörerschen Theorie gegenseitiger Beschränkung 100 101
Ebd. I, S. 93. Alles ebd. I, S. 94.
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auf der anderen Seite hinwiederum das Kaisertum als der Garant des Aufstiegs christlicher Religion zur Weltreligion - soweit im Sinne Höflers und dessen Überzeugung von der Ausbreitung und äußeren Förderung des Christentums als letztem Zweck des „Imperiums". Hurter teilt jedoch keine jener beiden Positionen exakt, im Gegenteil, er fügt eine dritte Deutungsvariante hinzu. Stellt Gfrörer die weltliche relativ eigenständig neben die geistliche Sphäre, immerhin mit der Aufgabe gegenseitiger Förderung wie Kontrolle, läßt Höfler beide sich durchdringen zum einen, höchsten Zweck, so ordnet Hurter - zur Erlangung desselben höchsten Zweckes - die weltliche Sphäre der geistlichen deutlich unter. In der absoluten Dominanz päpstlicher Gewalt enthüllt sich der Kern seiner Position, in der Forderung, der Papst möge befugt sein, „frei (weil der Geist edler ist als der Körper, das Ewige höher steht als das Zeitliche) für alles, was durch die Kirche geheiligt wird" zu walten. In solcher Freiheit „lag für das Christenthum ein Schutzmittel, daß es weder der weltlichen Obergewalt dienstbar, bloß ein Theil der Staatseinrichtungen [...] geworden, noch, der Willkür preisgegeben, durch die Anmassung des Menschengeistes zum bloßen Gegenstand objectiver Speculation oder subjectiver Meinung" herabgesunken.102 „Unverrückt" stand Hurter mit seinem Papste in der Überzeugung, „daß alle weltliche und irdische Gewalt Ausfluß der himmlischen und ewigen, und der oberste Stellvertreter von dieser über jene gesetzt seye, daß er bestätigen oder verwerfen, gutheißen oder mißbilligen könne."103 Hurter bezieht mit dieser Auffassung den extremen ,/echten" Rand jenes breiten Spektrums katholizistisch-konservativen Geschichtsdenkens, dessen Markierung Jinks" demzufolge die Gfrörersche, in der „Mitte" die Höfler-Döllinger-Position darstellte.104 Auch im Falle Hurters impliziert die Grundhaltung gewisse Konsequenzen hinsichtlich des Bildes deutscher Geschichte. Der Indikativ des Textes erlaubt den Schluß, Hurter sei ebenso wie Höfler von einer zeitweiligen Realisierung des Ideal Verhältnisses beider Gewalten seit Karl dem Großen ausgegangen.105 Was aber, sobald eine Krise dieses Idealverhältnis zu stören begann? Mußte dann der Pontifex nicht sein Augenmerk besonders auf seinen weltlichen Ge102
Ebd. Ebd. I, S. 145. Diese Haltung begegnet im „Innocenz" fortwährend; vgl. etwa auch III, S. 51/52 oder I, S. 53/54: „Ist auch die weltliche Gewalt von Gott geordnet, so ist sie es doch nicht in dem Sinne und in dem Maaße und in der Bestimmtheit, wie die höchste geistliche Macht in jenen Zeiten es war, deren Ursprung, Entwickelung, Ausdehnung und Einfluß [...] die merkwürdigste Erscheinung der Weltgeschichte ist." 104 Selbstverständlich hat ein solches Rechts-Links-Schema nichts mit der modernen politischen Klassifikatorik gemein. Diese Einteilung dient hier einfach der Anschaulichkeit; darüberhinaus weiß sie sich im Einklang mit Heinrich Ritter von Srbik, der - ohne freilich das Schema im Sinne vorliegender Arbeit zu vervollständigen - Hurter ebenfalls dem „äußersten rechten Flügel" zuordnet (Srbik, Geist und Geschichte II, S. 55). 105 Vgl. das Zitat o. Anm. 101 sowie Hurter, Innocenz m, m, S. 51-68, insbes. S. 59-61. 103
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schäftsftihrer richten, mußte er dann nicht geradezu sein Recht wahrnehmen, lenkend einzugreifen? Hurter spricht nicht über vormalige Störungen des Verhältnisses, schweigt sich aus über Gregor VII. Vielmehr wendet er sich sogleich einem der Hauptthemen des Pontifikates von Papst Innozenz zu: der Doppelwahl von 1198 sowie dem Eingreifen des Papstes in den daraus entspringenden deutschen Thronstreit. Solch moderne Formulierung vermittelt allerdings bereits sprachlich einen Zugriff auf die Problematik, den Hurter kaum hätte billigen können. „Eingreifen", der Einwand wäre denkbar, sei der falsche Terminus wohl, verleite dieser doch Böswillige zu dem Glauben, Innozenz habe sich da in eine Angelegenheit eingemischt, die eigentlich seine nicht gewesen sei. Keineswegs: „In zweifacher Hinsicht, zuerst seines besondern Verhältnisses zur Kirche, sodann der Natur des deutschen Reiches, als eines Wahlreiches wegen, mußte es fur das Oberhaupt der Kirche wichtiger seyn, wer an dasselbe komme, als auf wen die Krone irgend eines andern Reiches übergehe; und nicht nur lag es in der Möglichkeit, sondern in der Pflicht des Papstes, den Einfluß, welchen ihm seine hohe Stellung einräumte, geltend zu machen."106 Waren doch Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche gefährdet durch eine mögliche Wandlung Deutschlands zum Erbreich, und stand schließlich das „höchste Ziel alles Bestrebens in diesem Jahrhunderte" auf dem Spiel: „die Befreiung des heiligen Grabes." 107 Nationale, deutsche Angelegenheiten geraten zu universellen Schicksalsfragen: da rückt im Inneren die Wahlverfassung des Reiches ins Blickfeld, erscheint erneut die Frage nach der Stellung der Reichsfürsten; nach außen aber geht es um die Haltung des deutschen Königs und designierten Kaisers zum Kreuzzuggedanken und damit um die Durchsetzung des Weltherrschaftsanspruches gegen jene andere, nichtchristliche Welthälfte, der man ein ähnliches Bestreben unterstellte. In zweiter Generation bereits beschickte das Haus der Hohenstaufen gegen Ende des zwölften Jahrhunderts den Kaiserthron, verglichen etwa mit dem Geschlecht der Weifen - „ältern Ursprungs, und durch Reichthum und Macht früher hervorragend" - eine Familie von homines novi, von Newcomern, immerhin freilich letzteren ebenbürtig „in Fürstensinn und Heldenmuth [...], und durch Heinrichs des Löwen Fall [...] weit über alle andern Fürstenhäuser" emporragend. 108 „Friedrich zwar hatte das Kaiserthum höher gehoben, die Macht desselben weiter ausgedehnt als keiner seiner Vorfahren." 109 Aber - so Hurter - zwei Gefahren erwuchsen dem Papst aus der Machtpolitik des staufischen Kaiserhauses, „dessen Glieder für die Unabhängigkeit der Kirche nicht 106 107 108 109
Hurter, Innocenz III, I, S. 94. Ebd. I, S. 94/95. Ebd. I, S. 129. Ebd.
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günstig gestimmt waren." 110 Er fühlte sich bedroht von den Versuchen Barbarossas, unter Nichtachtung päpstlicher Ansprüche auf Lehnshoheit in Italien Einfluß zu gewinnen, den Kirchenstaat nach beharrlicher Okkupation der mathildischen Güter im Norden vielleicht gar in die Zange zu nehmen durch die sizilianische Thronfolge des Sohnes Heinrich, fühlte sich bedroht aber auch durch das nicht weniger beharrliche Streben jener Staufer, „die erbliche Herrschaft" über Deutschland zu erlangen.111 Aufmerksam mußte demnach der junge Papst nach dem Ableben Heinrichs VI., dieses „treulosen habsüchtigen, doch gegen Freunde, Diener und je bisweilen nach Umständenfreigebigen und grausamsten Hohenstaufen", die Vorgänge im Reich beobachten.112 Konnte es verwundern, wenn er schließlich, nach einigem beobachtenden Zuwarten, im Thronstreit Partei für Otto, gegen den Staufer Philipp ergriff, selbstredend der „Würde des Reiches" wegen, „dem Wesen des Imperators" zuliebe, „den man sich nicht sowohl als Regenten, denn als Feldherrn, nicht als Ordner der innern Angelegenheiten [...], sondern als den ersten Gesetzgeber, als den obersten Kriegsfürsten der Christenheit dachte"?113 Sich eines treuen „obersten Kriegsfürsten" zu versichern, darum ging es Innozenz insbesondere. Eine drohende Parteispaltung in Deutschland war zu verhindern, um „die wichtigste und gemeinsame Angelegenheit aller christlichen Völker des Abendlandes"114 weiterverfolgen zu können: den Krieg um den Besitz des Heiligen Landes. Deshalb des Papstes pflichtgemäßes Engagement im deutschen Thronstreit. Freilich, als erwünschtes Nebenergebnis rückte mit der Entscheidung für Otto auch eine Schwächung der Staufer in den Bereich des Möglichen, auf daß dies Geschlecht nicht länger durch eine Vereinigung der Reichskrone etwa mit der Herrschaft über Sizilien, „dem unabhängigen Landbesitz der römischen Kirche" zu drohen imstande wäre. 115 Aber erst in zweiter Linie! - Als zehn Jahre später schließlich derfrischgekrönte Kaiser Otto IV. selbst begann, die Hand nach Italien auszustrecken, schien jene Angst vor einer Bedrohung des Kirchenbesitzes dann doch an die erste Stelle der politischen Kalkulation des Papstes zu rücken. Eilig ließ er den Weifen fallen, überwand seinen Widerwillen gegen die Staufer und wandte sich dem jungen Friedrich II. zu, als dessen Lehensherr er sich bezeichnen konnte, seit Friedrichs Mutter vor ihrem Tode 1198 Sohn und sizilianisches Erbe unter die Vormundschaft des Papstes gestellt hatte.116
110 111 112 113 1,4 115 116
Ebd. I, S. 58. Ebd. Ebd. I, S. 65/66. Ebd. I, S. 321. Ebd. I, S. 188; eine ähnliche Bewertung I, S. 152. Ebd. I, S. 321. Ebd. Π, S. 274/275.
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Einzelheiten dürfen erspart bleiben, wo es darum geht, das Charakteristische zu würdigen. Unnötig zu betonen, daß Innozenz von Seiten seines Biographen kein Vorwurf des Wankelmutes trifft. Als kluger und weiser Schiedsrichter, umsichtiger Lenker des Weltenregimentes bleibt sich der Papst treu, schenkt seine Gunst demjenigen, der als „Imperator" in das Konzept jenes Gebäudes jeweils am besten zu passen scheint. „Innocenz, dafür zeugt all sein Thun [...], führte das Kirchenregiment in seiner zweifachen Richtung als Haupt der christlichen Kirche im allgemeinen, dann als Schlußstein des gesammten hierarchischen Gebäudes in seiner wohlgefügten Gliederung, streng und ernst, im Bewußtseyn, daß die Kraft des Mittelpunktes das Leben durch alle Kreise treibe, den Zusammenhang des Ganzen erhalte." 117 Hurter erkennt sehr präzise die politische Genialität jenes Lothar von Segni. Wenn der moderne Historiker - freilich unvoreingenommener und unter Hinweis auf Innozenz' Mißerfolge, Fehleinschätzungen, auf Aspekte seines Scheiterns - dazu neigt, das Bild eines gerissenen Taktikers, talentierten Realpolitikers im Dienste seiner, wie auch immer bewerteten Sache zu zeichnen,118 so liegt dies nicht so weit entfernt vom Charakter der Gestalt, welche unter der gewiß idealisierenden und verklärenden Patina der Arbeit Hurters hervorscheint. Daß diese Patina durchaus zur Diskussion stehen konnte, dessen war sich der manchmal so engstirnig und borniert auftretende Hurter sehr wohl bewußt. Mehr das Bestreben nach ernsthafter
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Ebd. II, S. 645. Vgl. etwa Werner Maleczek: Art. „Innozenz III.", in: Lexikon des Mittelalters V (1991), S. 434-437; Kelly, S. 203-205. Selbstverständlich verzichtet die neuere Mediävistik auf Apotheosen und verklärende Überbauten der Hurterschen Art. Daß aber Innozenz' Politik der territorialen Konsolidierung des Kirchenstaates in Mittelitalien sowie seine mit dieser Politik eng verbundene Haltung zum Thronstreit nicht abgetrennt zu sehen sind von seinem Bestreben nach Erreichung der „libertas ecclesiae", bleibt gleichwohl unbestritten. „Nur von einem eigenen Territorium versprach sich Innozenz die notwendige Sicherheit und Unabhängigkeit, umfrei und ungehindert den göttlichen Auftrag der Kirche erfüllen zu können" (Laufs, S. 2). Unterhalb dieses Konsenses lassen sich dann freilich verschiedene Akzente setzen, v. a. hinsichtlich der Frage, ob diese Territorialpolitik in erster Linie die Entscheidung des Papstes im Thronstreit fur den Weifen Otto motivierte. Während etwa Friedrich Kempf mit seiner Ansicht, bei Innozenz' Eintreten für Otto habe wesentlich ein anderer, prinzipiellerer Gegensatz mitgewirkt, „in dem es um die einander ausschließenden Auffassungen der Staufer und der Kurie über das Wesen des mittelalterlichen Kaisertums gegangen sei" (Laufs, S. 1, unter Bezugnahme auf Friedrich Kempf: Papsttum und Kaisertum bei Innocenz ΙΠ. Die geistlichen und rechtlichen Grundlagen seiner Thronstreitpolitik, Rom 1954), näher bei Hurter steht, konzentriert Laufs die Abhandlung dieser Problematik ganz auf den territorialpolitischen Aspekt: die päpstliche Thronstreitpolitik, „insbesondere in ihren konkreten Einzelheiten", könne nicht primär unter der Kategorie „Kampf zwischen zwei Weltanschauungen" hinreichend erklärt und begriffen werden. „Jede Detailerörterung [...] führt immer wieder unausweichlich auf die Territorialfrage zurück." (Ebd., S. 1/2). 1,8
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Selbstrelati vierung, denn Koketterie scheint ihn jedenfalls zu bewegen, den zweiten Band mit einer Reflexion seines Standpunktes zu schließen, deren Kenntnis einer gerechten Würdigung des „Innocenz" nicht abgehen sollte. „Ob wir Innocenzen der Herrschsucht beschuldigen wollen, hängt von der Beurtheilung ab, ob er die Macht, die er geübt, die Weise in der er alle Weltverhältnisse durchdrungen [...], auf seine Person, oder rein objectiv auf die große Idee von der Bedeutung und den Pflichten des Pontificats bezogen habe; ob die Stelle an ihn, oder er an die Stelle aufgegangen seye. [...] Die Frage aber: ob das Pontificat überhaupt je eine solche Entwicklung hätte nehmen sollen [...]; ob der prüfende Blick von dieser Erscheinung in der Weltgeschichte mit Unmuth sich abwenden müsse, oder mit Wohlgefallen auf derselben verweilen dürfe? - diese Fragen werden wohl nie übereinstimmend gelöst werden, da deren Entscheidung überhaupt nothwendig durch die Weltanschauung bedingt ist, die sich dem Einzelnen als die gültigere bewährt hat." 119 Im Anschluß an die Bestimmung des Hurterschen Ideals vom Verhältnis zwischen Sacerdotium und Imperium sowie seiner eng damit zusammenhängenden Auffassung vom Thronstreit des Jahres 1198 gilt es, rückblickend einige Überlegungen noch zu vertiefen, um schließlich die Reihe großdeutscher Geschichtsdeutungsmuster in typisierender wie individualisierender Hinsicht weiter fortschreiben zu können. Eine denkwürdige Bemerkung Hurters über Kaiser Otto IV. weist die Richtung: „Wir aber möchten sagen, daß Otto [...] aus einem welfischen Kronbewerber zu einem gibellinischen Kaiser geworden seye. Groß mit der Kirche und durch die Kirche, verließ ihn sein Glücksstern, als er über sie, ja wider sie sich erheben wollte." 120 Weist der zweite Satz ein weiteres Mal auf jene „rechte" Position Hurters vom absoluten Primat des Papsttums hin, so gibt das Spiel mit dem Begriffspaar „weifisch (guelfisch) - ghibellinisch" Anlaß zu einigen vergleichenden Spezifikationen großdeutscher Kaiser-Begriflflichkeit. Was wie ein Pleonasmus erscheint, ergibt für Hurter durchaus Sinn: der Terminus ghibellinischer Kaiser trägt deutlich negative Konnotation, bezeichnet den nach Abkoppelung von der geistlichen Sphäre strebenden, rein weltlichen Imperator; umgekehrt stellt auch das nicht ausgesprochene aber implizierte Kompositum vom guelfischen Kaiser keine Contradictio in adjecto dar, sondern verweist auf den für Hurter ,gichtigen", den sich der geistlichen Obergewalt unterwerfenden Kaiser. „Ghibellinen - Guelfen": jene Schlagworte der italienischen Parteienkämpfe des Hochmittelalters121 erscheinen wieder in der Geschichtsdebatte des neunzehnten Jahrhunderts, im Kreise der ersten Generation großdeutscher Histo119
Hurter, Innocenz ΠΙ, Π, S. 686/687. Ebd. Π, S. 546. 121 Vgl. Franco Cardini : Art. „Ghibellinen", in: Lexikon des Mittelalters IV (1989), S. 1436-1438 und ders.: Art. „Guelfen", ebd., S. 1763-1765. 120
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riker. So begegneten sie bereits im Denken Gfrörers, werden in dessen „Gustav Adolph" mit größerer Emphase noch begegnen, so gebraucht Hurter sie im „Innocenz", Höfler im „Friedrich II." Interessant, wie sich aber ihre jeweilige Verwendung zum Indikator jener feinen Interpretationsdifferenzen innerhalb der auf den ersten Blick so stereotypen katholizistisch-konservativen, großdeutschen Historiographie auswächst. Während ihre Inhalte im groben konstant bleiben (ghibellinisch = kaiserlich / guelfisch = antikaiserlich, mithin „päpstlich"), variieren die Konnotationen erheblich. Gfrörer und Hurter markieren ein weiteres Mal die entgegengesetzten Pole: links der „Ghibelline" Gfrörer, rechts der „Guelfe" Hurter. Jene Zwangslage, die Gfrörer mit seinen undifferenzierten Ausführungen zur „ständischen Mitbestimmung" evoziert, bleibt Hurter aufgrund der eindeutigen Perspektive des „Innocenz" erspart. Hatte Gfrörer, aus aufklärerischer Tradition kommend, „ständische Mitbestimmung" zur Eindämmung kaiserlicher Alleinherrschaft gefordert, war er doch, in Richtung seiner zukünftigen „ghibellinischen" Anschauung sich weiterentwickelnd, davon abgerückt, als er einsah, wie sehr jene Mitbestimmung die kaiserliche Macht entscheidend schwächen, ja vernichten konnte, sobald sie als reichsfürstliche Territorialgewalt der Zentralgewalt über den Kopf wuchs. Und Hurter? Von einer der Gfrörerschen diametral entgegengesetzten, „guelfisch"-papalistischen Ausgangsposition her zwar, aber mit ähnlichem Endzweck, paßte es auch ihm vorzüglich ins Konzept, eben nämliche Mitbestimmung einzufordern: zur Verhinderung eines allmächtigen weltlichen Herrschers - freilich in seinem Falle zugunsten der Theorie vom päpstlichen Primat. Deshalb Hurters penetrante Ablehnung staufischer Ambitionen in Richtung der Etablierung eines Erbkönigtums, deshalb sein Appell an die Wahlfreiheit der Reichsfürsten, deshalb seine merkwürdige Parallelisierung der deutschen Königs- (bei ihm „Kaiserwahl") zur Papstwahl.122 Das Reich sollte Wahlreich sein und bleiben, „denn es sollte der Kaiser nicht einem Lande, noch weniger einem Geschlechte, sondern der Christenheit angehören. Wie die Für122
Vogelsanger, S. 285, Anm. 137 sieht in Hurters Eintreten für das Wahlkönigtum dessen eigene „legitimistische Leitidee ,νοη den Vorzügen der Geburt* " erschüttert. Sicherlich verteidigte Hurter stets die althergebrachten, überkommenen Ordnungen und Autoritäten gegen revolutionäre Umsturzversuche, wobei das aristokratische Element eine große Rolle spielte. Auf den Adel der Geburt setzte er aber nicht allein; Adel des Geistes, Adel der Lebenshaltung mußten sich hinzugesellen, um den Adel der Geburt erst zu läutern. Im übrigen geht Vogelsanger von einem Begriff der „Wahl" aus, den Hurter nicht gebilligt hätte: verstand dieser unter „Wahl" doch viel eher einen Akt der Kür des Geeignetsten aus einem fest umrissenen Kreise durch eine genau definierte Gruppe von Wählern - die zusätzlich alle den Adel der Geburt ja bereits mitbrachten - , als eine allgemeine, gleiche Mehrheitswahl beliebiger Kandidaten in modernem Sinne. Grundsätzliches zu Hurters politischen Anschauungen s. u. Π, 2 („Negativ und Positiv"), hier insbes. S. 339/340 zu Hurters Adelsbegriff.
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sten der Kirche, die zu dem Mittelpunkte, von welchem aus diese die Christenheit zusammenfaßte [...] in näherer Beziehung standen, den Papst wählten, so sollten die Fürsten des deutschen Königreichs [...] den Kaiser wählen."123 Und auf dem Fuße folgt, konsequent zu dieser Haltung passend, die Ablehnung eines einheitlichen, zentral gelenkten Reichs. Wenn Innozenz für die Erhaltung des Wahlkaisertums eingetreten sei, dann verdanke ihm Deutschland, „daß es nicht in eine Gesammtmasse zusammengeflossen ist, welche zwar gegen außen größere Macht, im Innern aber nicht diese geistige Ausbildung und vielverzweigte Regsamkeit würde entwickelt haben, worin das deutsche Volk doch vor allen übrigen Völkern Europa's sich auszeichnet."124 Führt in Gfrörers „Carolingern" die wechselnde Dominanz von „national"imperialer und „universaP'-sacerdotialer Perspektive ebenso wie die Konkurrenz zweier Wertsysteme, eines aufklärerisch-protestantischen und eines katholizistisch-konservativen, zu Ambivalenzen innerhalb des Werkes, so bleibt Hurter im „Innocenz" einer papalistisch, geistlich-universalistischen, im wahrsten Sinne des Wortes „guelfischen" Linie treu. Der nationalstaatliche Aspekt - bei Gfrörer immer mit angesprochen - fehlt vollkommen; Erörterungen in dieser Richtung erscheinen lediglich als Funktion der übergeordneten weltstaatlichen Kardinalthematik. Und doch sollte auch Hurter bei seiner Forderung nach Beschränkung kaiserlicher Macht durch reichsfürstliche Wahl nicht bleiben. Sobald auch er sich gezwungen sah, die Perspektive zu wechseln, sobald er Jahre später - im „Ferdinand II." sich ebenfalls einer „ghibellinischen" Position annähern mußte, sollte sich auch sein Verständnis der Reichsfursten grundsätzlich anders gestalten.125
123
Hurter, Innocenz m, I, S. 129. Ebd. I, S. 131. 125 Im gänzlich gewandelten Rahmen der Reichsgeschichte des siebzehnten Jahrhunderts geht es nicht mehr um die Frage einer Beschränkung etwaigen kaiserlichen Weltmachtstrebens, im Gegenteil. Die Reichsfürsten erscheinen im „Ferdinand Π." als Haupthindernis einer einheitlichen, vom Kaiser getragenen Reichsführung und -politik. Im Detail handelt Hurter ab, wie einige, insbesondere Friedrich von der Pfalz, die Wahl Ferdinands zum Kaiser hintertreiben, ja, wie die Frage nach der Notwendigkeit des Kaisertums überhaupt gestellt wird. Friedrich [Emanuel] von Hurter: Geschichte Kaiser Ferdinands Π. und seiner Eltern. Personen-, Haus- und Landesgeschichte, Bd. 8, Schaffhausen 1857, S. 1-55, bes. S. 3 und 5-32). Wenn bei seinen Urteilenfreilich ein starker antiprotestantischer Zug mitschwingt, so bleibt Hurter dabei doch nicht stehen. Ob katholisch oder protestantisch,-jede, in welcher Richtung auch immer konfessionell verbrämte Sonderpolitik der Reichsfürsten habe letztendlich den Belangen des Reichs geschadet. „Am kaiserlichen Hofe waltete aber schon zu Kaiser Rudolphs Zeit die richtige Einsicht: in Verbindung mit seinem Oberhaupt seye das Reich ein unzertrenntes Ganzes; durch Sonderbündnisse, ob Unionen oder Ligen, könnte es nur zu dessem schweren Nachtheil zerrissen werden. Es fehlte nicht an Vaterlandsfreunden, welche auf 124
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Themen bleiben, Bewertungen variieren. Ein fundamentaler Grundzug, vielleicht ein fundamentales Problem großdeutscher Historiographie tritt immer deutlicher zutage: der verbindliche Blickwinkel auf deutsche Geschichte fehlt. Die Multiperspektivität der Ansätze entspricht derjenigen, die sich bereits im Gegenstand der Betrachtung selbst verbirgt, und worauf die - in der Frühneuzeit entstandene - Titulatur dieses Gegenstandes implizit hinweist: „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation". Unabhängig davon, welchen Teil dieses schillernden Begriffes der Geschichtsschreiber zum Zentrum seiner Darstellung erwählt, stimmt die Perspektive, solange ein Element des Kompositums allein die Ebene der Betrachtung eindeutig definiert - wie im Falle des Hurterschen „Innocenz". Sobald jedoch zwei oder mehrere Kompositionselemente das Werk gleichzeitig von verschiedenen Ebenen aufziehen wollen - wie in Gfrörers „Carolingern" - , können perspektivische Spannungen entstehen, die das Bild verzerren, vielleicht gar vollkommen entstellen.
Den schwergelehrten, detailverbissenen Opera Gfrörers und Hurters stellt Constantin Höfler mit seinem Buch über Kaiser Friedrich II. einen kühnen Wurf von prägnanter Kürze und essayistischer Brillanz entgegen. Er führt mitten hinein ins dreizehnte Jahrhundert, jener - wie Böhmer bemerkt - „wichtigen Übergangszeit, in welcher das deutsche reich als einheit zerfiel und in welcher die grundlagen der späteren zustände sich bildeten."126 Zerfall der Einheit, Bruch der Statik des Mittelalters, Zeitwende: was Böhmer aus der „nationalen" Perspektive des deutschen Reiches abhandelt, peilt Höfler noch einmal unter dem Aspekt des Universums aus Sacerdotium und Regnum an. Aber der Schwerpunkt wechselt nun, im Gegensatz zu Hurters „Innocenz", herüber von der geistlichen zur weltlichen Spitze, vom Papst zum Kaiser. Im vollen Bewußtsein seiner sprachlichen Kraft, seiner rhetorischen aber auch polemischen Potenz, präsentiert Höfler die fulminante Studie eines Tyrannen: „Kaiser Friedrich II. Ein Beitrag zur Berichtigung der Ansichten über den Sturz der Hohenstaufen." 127 Bereits der Untertitel indiziert eine neue Qualität: „falsche" Ansichten über den Sturz der Hohenstaufen sollen da offensichtlich Korrektur finden. Da spricht einer, der es besser zu wissen glaubt. Höfler wirft die nachtheiligen Wirkungen solcher Verbindungen [...] aufmerksam machten, darauf hinwiesen, wie der Religionsfriede, würde er von beiden Theilen gewissenhaft beobachtet, die ächte, Alle umfassende Einigung gewähren müßte. [...] Möge man doch bedenken, daß das Reich weder auf die Katholischen, noch auf die »Evangelischen* allein, sondern auf Beide zugleich gegründet seye." (Ebd., Bd. 9, Schaffhausen 1858, S. 2). 126 Böhmer, Fontes Π (s. u. Anm. 435), Vorrede, S. Vm. 127 München 1844. Vgl. auch Lebenswege, Anm. 246. In einem Artikel für Wetzer und Weltes Kirchenlexikon gab Höfler einige Jahre später eine Kurzfassung des Werkes. Constantin Höfler: Art. „Friedrich Π." in: Wetzer und Welte IV (1850), S. 226-230.
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mit „Friedrich II." einen Fehdehandschuh in die geschichtswissenschaflliche Arena, und erwartungsgemäß bleibt dieser nicht lange dort liegen. Worin liegt aber der besondere Zündstoff des Werkes, welches keineswegs nur die geschichtswissenschaftliche Gegenpartei auf den Plan ruft, sondern auch den König von Bayern, dessen Urteil Höfler dauerhaft seine Professur kosten wird? 128 Höfler empfand es als besondere Tragik der Geschichte, daß ausgerechnet Friedrich II., das Mündel des großen Papstes Innozenz, die hohenstaufische Kaisermacht auf Höhe- und Scheitelpunkt führte und gleichzeitig jenen „Wendepunkt des Mittelalters" 129 heraufbeschwor, jenen „Umsturz einer halben Welt", welcher „die seit 300 Jahren bestehende Ordnung" mit sich riß. 130 „Da erhielt der Sohn des grimmigsten Gegners der Kirche und aller christlichen Freiheit, Heinrichs VI, der von allen deutschen Fürsten wohl allein den Namen eines schnöden Tyrannen verdiente, - der Enkel Friedrichs I, der den rechtmäßigen Papst und die canonisch gewählten Bischöfe [...] verfolgt hatte, - der Knabe Friedrich I I den nöthigen Schutz für sein Leben, seine Erziehung und Bildung, sein erbliches Königreich durch eine seltsame Fügung von der Kirche, die sein Geschlecht zu unterdrücken sich berufen fühlte." 131 Aus dem komplexen, von vielschichtigen Einflüssen geprägten und bewegten Persönlichkeitsbild dieses Kaisers 132 hebt Höfler vor allem jene Züge hervor, die Friedrich II. als Despoten charakterisieren. Friedrichs Idee des Kaisertums sowie bestimmte Züge seines daran orientierten Verhaltens als Kaiser helfen ihm in erster Linie, den Staufer als einen sich selbst zum Absolutum erhebenden, jeglicher übergeordneter Bindung sich entziehenden Herrscher zu zeichnen.133 In
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Vgl. u. S. 434-442. Höfler, Friedrich Π, Vorrede, S. VII. 130 Ebd., S. 9 und 296. 131 Ebd., S. 10. 132 Jede moderne Einschätzung Kaiser Friedrichs Π. geht von diesem facettenreich schillernden Persönlichkeitsbild aus, erkennt an, daß Friedrich nicht „eines", sondern „alles" war. Gunther Wolf: Einleitung, in: ders. (Hg.), Stupor Mundi. Zur Geschichte Friedrichs Π. von Hohenstaufen, Darmstadt 1966 (= Wege der Forschung, Bd. 101), S. 1-4, hier S. 4. Friedrichs Persönlichkeit hafte etwas Geheimnisvolles an, sein Bild erwecke einen zwiespältigen, „wenn auch vielleicht grade darum besonders reizvollen Eindruck, beruhend auf einer Mischung mannigfacher und sehr verschiedenartiger Elemente, die sich in seiner genialen Natur zu einer nicht durchweg einheitlichen, aber immer glanzvollen und bedeutenden Wirkung durchdrangen." Friedrich Baethgen: Kaiser Friedrich Π. 1194-1250, in: DGD I, S. 154-170 (auch in: Wolf, Stupor Mundi, S. 459481), hier S. 170. 133 Neuere Darstellungen unterscheiden hier zwischen dem nach außen zur Schau gestellten Byzantinismus Friedrichs und seinem sehr viel moderateren tatsächlichen politischen Handeln, auch gegenüber der Kurie; vgl. etwa Baethgen, S. 163-165. 129
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diesem Gewände mußte er Verurteilung finden, gleichgültig, welchem der drei möglichen Standpunkte innerhalb der Diskussion katholizistisch-konservativer, großdeutscher Historiker um das Verhältnis von Papst- und Kaisertum die Sympathie sich jeweils zuneigte. Denn nicht einmal ein unabhängiges Nebeneinander beider Gewalten - darauf weist diese Geschichtsdeutung immer wieder hin - mochte der Kaiser akzeptieren, geschweige denn ein gegenseitiges Zusammenwirken zum höheren Ziel oder gar eine pontifikale Suprematie. Friedrich II., der Tyrann per se: stellvertretend für die Ansichten der gleichgesinnten Historiker und mit deren Beifall, tritt er als solcher hervor aus Höflers Schrift. 134 Aber nicht aus bloß plakativer, vulgär-katholizistischer Ablehnung einer antipapalistischen Politik erfolgt Friedrichs Verdammung; sie wurzelt viel tiefer, indem sie prinzipiell des Kaisers Vorgehen gegen die jahrhundertealte, gewachsene Ordnung ächtet: Friedrich, der revolutionäre Umstürzler. Den vom orthodoxen Katholizismus geprägten Werturteilen gesellt sich das klassisch konservative Motiv des Schutzes organisch gewachsener Strukturen vor gewaltsamem Umbruch hinzu. Erst die Berücksichtigung beider Stränge enthüllt das ganze Ausmaß der Verachtung, welches die Historiker jener ersten Generation dem letzten Stauferkaiser entgegenbrachten.135 „Alle Gewalt war aber dem Begriffe jener Zeit gemäß, wenn sie rechtlich seyn sollte, nur eine gegebene; es gab keine Rechte ohne besondere Pflichten. In der Bewahrung jener, in der Erfüllung dieser bestand die Freiheit jener Tage. Die neueren Zeiten haben diesen Grundsatz zu nichte gemacht und die Freiheit in die Willkür gelegt, so daß aufs neue Herrschen oftmals nichts anderes heißt als die Willkür üben. Auf dieser Bahn ist, wie mehrere Hohenstaufen, vor allem Friedrich II. ihnen vorangegangen."136 Immerhin legt Höfler einen Maßstab Friedrichs eigener Zeit an, wenn er den Kaiser als Tyrannen zu beschreiben 134
Hier v.a. Böhmer; vgl. dazu u. S. 196. Dieses so stark von den grundsätzlich weltanschaulichen Prämissen her gezeichnete Feindbild „Friedrich Π." wich unter den großdeutschen Historikern erst innerhalb der zweiten Generation einer differenzierteren Wertung. Vor allem Julius Ficker sollte hier die Auffassungen seines Lehrers Böhmer wesentlich korrigieren. Julius Ficker (Hg.): Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV, Friedrich Π, Heinrich (VII), Conrad IV, Heinrich Raspe, Wilhelm und Richard. 1198-1272. Nach der Neubearbeitung und dem Nachlasse Johann Friedrich Böhmer's neu herausgegeben und ergänzt. Erste Abtheilung (= J. F. Böhmer Regesta Imperii, Bd. V,l), Innsbruck 1881, hier die „Vorbemerkungen" Fickers, S. ΧΙ-ΧΧΧΙΠ. „Was die auffassung der geschichte kaiser Friedrichs II betrifft, so dürfte es außerfrage stehen, dass das bild, welches B[öhmer] von der persönlichkeit und dem vorgehen des kaisers entwirft, im allgemeinen ein überaus einseitiges ist, vor allem da, wo es sich um seine beziehungen zur kirche handelt." (ebd., S. XI). Dieser Wandel des Friedrich-II-Bildes wäre im Zusammenhang mit der zweiten Generation im einzelnen darzustellen. 136 Höfler, Friedrich Π., Vorrede, S. ΧΙΠ. 135
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versucht. Durchaus im Einklang mit hoch- und spätmittelalterlichen Denkern definiert er den Tyrannen hauptsächlich durch zwei Kriterien: der unrechtmäßigen, der ungerechten Herrschaftsweise sowie des illegitimen Thronerwerbs. 137 „Auf ganz andere Weise als das sächsische oder fränkische Kaiserhaus war somit das schwäbische zu seiner Größe gelangt. Weder durch die einstimmige Wahl der Nation berufen, noch durch jene edle Selbstverläugnung ausgezeichnet, welche die Ottonen, den zweiten und dritten Heinrich so groß machten, waren die Hohenstaufen durch den Kampf mit der Kirche, in der Zeit der Entartung der Kaisermacht groß geworden und hatten ihre Größe behauptet, wie sie dieselbe erlangt hatten."138 Bereits Barbarossa habe schleichend die Reichsverfassung, wenn nicht zerstört, so doch pervertiert, indem er sich - durch den Sieg über Heinrich den Löwen sowie durch das Heranziehen abhängiger großer Fürstenhäuser - zu einer Macht erhob, „die keinen Widerspruch mehr aufkommen ließ." 139 Heinrich VI. sei auf gleichem Wege weitergeschritten, habe versucht, ,Apulien und Sicilien fur immer mit dem Reiche zu vereinigen, die Erblichkeit aller Lehen und dafür auch des deutschen Reiches einzuführen." 140 So erscheint der extraordinäre Sündenfall Friedrichs II. in der Hybris seiner anverwandten Vorgänger schon angelegt: der initialen Rechtsverletzung illegitimen Machterwerbs folgen weitere Verstöße auf dem Fuße! Friedrich selbst zerstört nachträglich die Rechtsbasis seines Kaisertums, indem er wortbrüchig die dem Papste gegebenen Zusagen nicht einhält. Weder läßt er ab von dem Versuch, das unteritalische Königreich mit dem Reich nördlich der Alpen zu vereinigen, seinen Sohn Heinrich als königlichen Statthalter in Deutschland zu installieren, noch erkennt er vertragsgemäß die päpstliche Lehenshoheit über Sizilien an, noch erfüllt er sein Versprechen, das Kreuz zu nehmen.141 Der Tyrann mißachtet die kaiserlichen Pflichten, die, als Kehrseite der Medaille, er mit den Rechten zugleich übernommen habe. Anstatt zu Schutz, Bewahrung, Ausbreitung der Kirche beizutragen, bekämpft er diese, anstatt im Kreuzzug den ,»Anforderungen seiner Zeit und Würde" gerecht zu
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Zentrale Positionen der hoch- und spätmittelalterlichen Tyrannendebatte: Gregor der Große: Moralia in lob ΧΠ, 38; Isidor von Sevilla: Etymologiae IX, 423,19/20; Johannes von Salisbury: Policraticus VIII, 17/18; Thomas von Aquin: De regimine principum 1,1; Marsilius von Padua: Defensor Pacis 1,1,3. Unrechtmäßiges Herrschen bedeutet in diesen Werken i. d. R. willkürliches Herrschen zum eigenen Vorteil. 138 Höfler, Friedrich II., S. 9; vgl. auch ebd., S. 1: „Die Herrschaft der Hohenstaufen war ursprünglich eine Parteiherrschaft, selbst mehr durch Hinterlist und die Befriedigung eigennütziger Interessen als durch einen glänzenden Sieg begründet, der das Haupt der Weifen, Heinrich den Stolzen [...], zu Boden warf." 139 Ebd., S. 5/6. 140 Ebd., S. 9. 141 Ebd., S. 16/17.
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werden, zieht „der [...] Kaiser das beschränkte Interesse seines Hauses, die Erweiterung seiner eigenen Macht vor." 142 Nicht nur seine Pflichten vernachlässigt der Tyrann, vielmehr bricht er mutwillig althergebrachtes Recht, stürzt gewachsene Ordnungen um und übergeht ehrwürdige Autoritäten. Unter jene Rubrik faßt Höfler alle von gegnerischen Ansichten hochgelobten Bemühungen Friedrichs, Sizilien in einen modernen zentralistischen Musterstaat zu verwandeln, erkennt darin lediglich das Bestreben des Diktators wieder, sich selbst zur Quelle jeglichen Rechtes zu erheben. Die Reduktion des Einflusses der „großen Lehensträger", die Aufhebung eigenständiger republikanischer Stadtverfassungen, der Aufbau eines zentralistisch-hierarchischen Beamtenapparates, geschickte Finanzpolitik - drückende Steuerlasten, grausame Methoden des Eintreibens, Handelsmonopole - : all dies zeugt Höfler von den strategischen Schachzügen des Tyrannen auf dem Wege zu einer anderen Art von Weltherrschaft, als derjenigen, welche Hurter im „Innocenz" zu beschreiben wußte. ,3ald konnte man gewahren, daß der oberste Grundsatz Friedrichs, von ihm solle die Richtschnur der Gerechtigkeit ausgehen, den bestimmten Sinn annahm, daß kein Recht in seinem Reiche existiere, inwiefern es nicht von ihm ausgegangen war." 143 - „So schienen denn die Einrichtungen, welche Friedrich II. seinem Lieblingskönigreiche gab, zuletzt fast nur noch einem Zwecke zu dienen, der Vermehrung der königlichen Einkünfte und der unumschränkten Gewalt." 144 Ein schwacher Papst vom Schlage Honorius' III. habe dem teuflischen Genie nichts entgegensetzen können. Anders freilich habe sich das Verhältnis gestalten müssen, sobald ein Gregor EX., ein Innozenz IV. dem schnöden Pflichtverletzer und Rechtsbrecher entgegentrat. Diese seien vor dem äußersten Mittel des Bannes nicht zurückgeschreckt, hätten die Bande durchschnitten, welche beide Gewalten verknüpften, und den Kampf auf Leben und Tod eröffnet, der zuletzt „das Kaiserthum oder das Papstthum vernichten mußte."145 Und sie hätten darin nicht unrecht gehandelt. Erregt zeichnet Höfler die neue Qualität einer geschichtlichen Situation, die es nie zuvor in ähnlichem Maße gegeben habe. „Nie wohl, so lange es germanische Reiche gab, war die Freiheit der Völker durch die fürstliche Macht mehr bedroht gewesen als jetzt, wo Papst Gregor IX hochherzig sie rettete; nicht in der Zeit der großen carolingischen Monarchie, wo die Völker, wenn sie auch ihre Stammherzoge verloren, doch ihre heimischen Gesetze behielten; nicht in den Tagen Heinrichs IV, wo der perfiden Willkür des Königs die Hälfte der Nation gewaflhet entgegentrat; selbst nicht unter dem gewaltigen Barbarossa, wo einflußreiche und hochbegüterte Orden und das 142 143 144 145
Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.
21. 41. 46/47. 28.
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mächtige Haus der Weifen noch immer ihr Gewicht in die Wagschale des trotzigen Siegers warfen und das deutsche Volk wohl mißleitet aber nicht gebrochen werden konnte."146 Wieviel auch immer vom Ideal der großen Einheit aus Sacerdotium und Imperium bis dahin Verwirklichung gefunden habe - Friedrich II. sei erschienen, um sowohl dem Ideal als auch dessen Realisat den Todesstoß zu versetzen. Nicht überall freilich habe Friedrichs Regime gleichermaßen verheerend durchgreifen können. In Deutschland beispielsweise habe des Kaisers Sohn Heinrich (VII.) versucht, als König gegen den Tyrannensinn des Vaters Selbständigkeit zu beweisen. Hier findet Höfler nun seine Vorstellungen von einer dem deutschen Königreich angemessenen Politik besser verwirklicht: In der Würdigung dieses Heinrich (VII.) kehren einige wohlbekannte Deutungskonstanten katholizistisch-konservativer, großdeutscher Historiographie in ihrer hartnäckigen Permanenz wieder. So etwa die seit Hurter geläufige Forderung, Deutschland müsse Wahlkönigtum bleiben. Heinrichs Absetzung durch den Kaiser kann nur als kaum beschönigter Akt tyrannischer Willkür Bewertung finden, ebenso wie die Einsetzung des anderen Sohnes, Konrad, zum König mit einer Option auf die Kaiserkrone, welche selbst diese in den Bereich der Erblichkeit zu rücken droht. 147 „Da sich kein Absetzungsdecret der deutschen Fürsten vorfindet, sondern nur in der spätem Wahlacte K. Konrads gesagt ist, Heinrich entbinde nach dem Ermessen seines Vaters die deutschen Fürsten von dem Eide der Treue, so war es dem Kaiser gelungen, ohne Beobachtung der gehörigen Form, nur weil er es so wollte, Deutschland seines Königs zu berauben, wie wenn dasselbe in unbedingter Abhängigkeit von ihm gestanden wäre, und dem Hauptreiche, gleich als wenn es nur eine Provinz wäre, eine beliebige Anordnung zu geben."148 Höfler erkennt den tieferen Grund der Absetzung König Heinrichs in der „Verschiedenheit ihrer Regierungszwecke": wollte Heinrich eigenständiger König sein, betrachtete ihn der Kaiser lediglich als seinen „Großjustiziarius" in Deutschland.149 Versuchte Friedrich, „Deutschland unter 146
Ebd., S. 108/109. Ebd., S. 102. 148 Ebd., S. 90. 149 Ebd., S. 82. - Daß die „Regierungszwecke" Friedrichs und Heinrichs in Deutschland möglicherweise so verschieden nicht waren, hebt Odilo Engels hervor. Ob Heinrich (VII.) seine Wege „so wenig zielbewußt und ohne Rücksicht auf Erfordernisse der kaiserlichen Gesamtpolitik verfolgte, wie die Forschung urteilte, ist nicht sicher. In den Augen der Fürsten mag sein Regiment Züge der Willkür gehabt haben, doch es ist nicht ausgeschlossen, daß sich dahinter eine Konzeption verbarg, die auf eine Fortfuhrung der Politik seines Vaters [Eingrenzung des fürstlichen Emanzipationsdranges, Th.B.] hinauslief." Odilo Engels: Die Staufer, Stuttgart/Berlin 31984, S. 135/136. Entscheidende Bedeutung kommt hier der Frage nach der Bewertung der großen Reichsgesetze Friedrichs zu, der „Confoederatio cum principibus ecclesiasticis" von 1220 sowie dem 147
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dieselbe Regierungsform zu bringen, welche er zur Behauptung seines unumschränkten Ansehens in seinem Königreiche Sicilien mit Beseitigung hergebrachter Rechte bereits eingeführt hatte", orientierte sich Heinrich in der Zeit der langen Abwesenheit des Kaisers vor Ausbruch des Konfliktes besser an den spezifisch deutschen Verhältnissen. So sei er bestrebt gewesen, jene Spannungen zu schlichten, welche sich aus dem Aufstieg bestimmter Fürsten zu mäch-
„ Statutum in favorem principimi" in den Fassungen von 1231 und 1232. Höfler betrachtet die „Confoederatio" als negativen Schritt in Richtung der Herausbildung großer Fürstentümer (Höfler, Friedrich II., S. 62), hingegen die erste durch Heinrich ausgestellte Fassung des „Statutum" alsrichtigeMaßnahme des Königs, um die verschiedenen Interessen zu vereinigen, die in dem sich wandelnden Königreich kollidierten (ebd., S. 70/71). Die schließlich vom Kaiser gebilligte revidierte Fassung des „Statutum" von 1232 verurteilt Höfler hinwiederum aufgrund der in dieser festgeschriebenen Restriktionen kommunaler Selbstbestimmung, die der Kaiser bereits seit dem Reichstag von Ravenna, Ende 1231, durchzusetzen bestrebt war (ebd., S. 72/73). In der hier sich äußernden städtefeindlichen Gesinnung Friedrichs erkennt Höfler den Hauptgrund für das Zerwürfnis mit dem Sohn. Der Kaiser „trat [...] nicht nur der ganzen Entwicklung des ständischen Elements entgegen, sondern hatte sich auch hierdurch in eine [...] offene Opposition mit seinem Sohne, dem deutschen Könige, gesetzt." Die 1232 erfolgte „Versöhnung" von Cividale „scheint nur formell gewesen zu seyn. Dem Kaiser mußte bei den übertriebenen Ideen von kaiserlichen Vorrechten, die er hatte, sein Sohn als unfähig erscheinen die kaiserliche und königliche Würde mit dem Nachdrucke zu behaupten, der sich seiner Überzeugung nach gebührte." (ebd., S. 74). Höfler zeichnet hier autonom nach bestimmten Ideen handelnde Subjekte; die konkrete politische Lage sowohl Friedrichs als auch Heinrichs berücksichtigt er nicht. Friedrich Π. betrieb ja nicht von vornherein eine restriktive, sondern eher eine offensive Städtepolitik. Schon die „Confoederatio" von 1220 diente nicht nur als „Tauschvertrag", um die Zustimmung der geistlichen Fürsten zu Heinrichs Erhebung zum König zu gewinnen, sondern auch zur ,Abgrenzung fürstlicher Rechte gegen Hoheitsrechte der Königsgewalt" bei der Gründung von Städten (Engels, S. 134/135). Das „Statutum" - in seiner ersten Fassung nicht, wie von Höfler suggeriert, einfreier Akt Heinrichs, sondern vielmehr ein Diktat der Fürsten - verschärfte diese Tendenz zuungunsten des Monarchen, schränkte die Ausübung königlicher Regalien ein und stärkte die territorialen Fürstentümer, in beiden Fassungen, wenn auch in der zweiten noch mehr als in der ersten. Aufgrund seiner Auseinandersetzungen mit dem Lombardischen Städtebund sowie aufgrund der Mithilfe bei der Vermittlung des Friedens mit Papst Gregor IX. sah sich Friedrich auf die Seite der Fürsten gezwungen. „Der antifürstliche Kurs des Sohnes störte [...] in der gegebenen Lage seine Politik." Am Ende dieser Entwicklungen diagnostiziert aber auch die moderne Forschung eine Situation, die der Höflerschen Sicht doch immerhin nahekommt, wenngleich natürlich unter Bezugnahme auf ganz andere Ursachen sowie mit ganz anderen Bewertungen der handelnden Personen: Das „Statutum" habe die ,fürstliche Landesherrschaft im Territorialstaat nicht erst geschaffen", aber es erkenne sie an und verzichte darauf, ihr von Reichs wegen entgegenzuwirken und sie rückgängig zu machen. ,.Damit fiel die Entscheidung für die Kaiser- und Fürstenpolitik gegen die Königs- und
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tigen Territorialherrn 150 ergaben, habe sich bemüht, jedem das Seine zu geben und die Rechte der „Reichsstände" gegeneinander genauer abzugrenzen. „Man mußte sagen, die Gerechtsame der Territorialfürsten, die hohe Aristokratie der principes und magnates war bisher in beständigem Steigen begriffen gewesen, ohne daß die Monarchie, welche in Deutschland stets durch Herkommen beschränkt war, dadurch wesentlich gelitten hätte. Nur die Allgewalt, welche seit Friedrich I. dem Kaiserthume beigelegt worden war, vertrug sich nicht damit, und die Rechte der Reichsritterschaft, welche keine Lust hatte, sich unter den Territorialfürsten zu beugen, die sie als ihres Gleichen anzusehen gewohnt war, mußten noch auseinander gesetzt werden, um nicht eine lebhafte Opposition hervorzurufen." 151 Neben der Rolle der Reichsritterschaft sei in diesem Zusammenhang auch diejenige der Reichsstädte, insbesondere die Frage der corporativen Selbstverwaltung, zur Klärung angestanden.152 Friedrich aber habe, zum höchsten Bedauern Höflers, Heinrichs Aktivitäten durch seine Intervention unterbunden, sei „der ganzen Entwicklung des ständischen Elements" entgegengetreten153 und habe den Sohn gestürzt, der sich freilich in seiner letz-
Städtepolitik, für den staatlichen Ausbau der Territorien statt der Reichsgewalt in Deutschland." {Herbert Grundmann: Wahlkönigtum, Territorialpolitik und Ostbewegung im 13. und 14. Jahrhundert [= Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl., Bd. 1, Stuttgart 1970, §§ 128-190], hier zit. nach der Taschenbuchausgabe, Bd. 5, München 1973, S. 52). Einschränkend wird neuerdings aber auch von einer zu starken Gewichtung der Fürstenprivilegien von 1220 und 1231/32 als Kapitulation der Reichsgewalt vor den fürstlichen Landesherrn Abstand genommen, da sie nie als Gesetze exekutiert worden seien. Im Gegenteil, Heinrich (VII.) habe sich rasch über sie hinweggesetzt. (Helmut Beumann: Das Reich der späten Salier und der Staufer 10651250, in: Theodor Schieder [Hg.], Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 2, Stuttgart 1987, S. 280-467, hier S. 376/377). Damit hätte er, wie von Engels vermutet, wieder im Einklang mit den ursprünglichen Intentionen seines Vaters gehandelt. Dieser aber mußte nun ausgerechnet dagegen vorgehen, weil er in seiner aktuellen Lage auf die deutschen Fürsten angewiesen war. - Zur Diskussion um die Fürstenprivilegien vgl. auch Erich Klingelhöfer: Die Reichsgesetze von 1220, 1231/32 und 1235. Ihr Werden und ihre Wirkung im deutschen Staat Friedrichs Π. und Erich Schräder: Zur Deutung der Fürstenprivilegien von 1220 und 1231/32, in: Wolf, Stupor Mundi, S. 396-454. 150 Höfler, Friedrich II., S. 70/71: ,3ei der Auflösung der alten großen Nationalherzogtümer waren so viele neue Verhältnisse entstanden, war so vielesfrüher Bestandene schwankend geworden; die den alten Herzogen unterworfenen Grafen suchten sich den neuen zu entziehen, diese durch Gründung von Städten sich zu verstärken; die Interessen des Reiches und damit des Königs waren mit denen der Fürsten in so mannichfaltige Collisionen gerathen, daß einefriedliche und ruhige Ausgleichung der Rechte der Fürsten und der Rechte der übrigen Reichsstände höchst nothwendig ward." 151 Ebd., S. 71. 152 Ebd., S. 72/73. 153 Ebd., S. 74. - Vgl. auch Anm. 149. 13 Brechenmacher
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ten Zeit als König durch politische Dummheiten den Beifall jener Stände gleichfalls verscherzt habe. 154 Friedrich, der Tyrann, blieb Sieger - zunächst. Die Dynamik in Deutschland habe sich jedoch nicht aufhalten lassen. Sinkend stürzte Friedrichs Stern nach dem Absetzungsdekret des Konzils von Lyon (Juli 1245) das Reich in „gränzenlose Verwirrung", wovon vor allem der „charakterlose Ehr- und Ländergeiz" seiner Fürsten profitierte." 155 Wenn Höfler dagegen seine Hoffnungen auf Reorganisation des Reiches in jene, teils von der Kurie unterstützten, kurzlebigen Gegenkönige zum Staufer Konrad setzt, spricht daraus der vergebliche Wunsch, in Deutschland ein System gegenseitiger Begrenzung und Durchdringung aller relevanten Kräfte zu einem organischen Regelkreis wiedererstarken zu sehen. So erkennt er als Positivum innerhalb des allgemeinen Chaos im Reiche wenigstens die vorteilhafte Entwicklung des Städtewesens, kürt König Wilhelm von Holland zum obersten Protektor, zum Garanten „der Blüthe der deutschen Städte, die nicht sowohl auf Bündnissen gegen außen als auf der Freiheit im Innern, der Regsamkeit und dem politischen Leben der Bürger beruhte." 156 In der Unterstützung des rheinischen Städtebundes habe Wilhelm einen richtigen Weg aufgezeigt, den die deutsche Geschichte hätte nehmen können. „Es war dieß die schönste königliche That, welche seit vielen Decennien in Deutschland stattfand, da sie einerseits bewies, wie die innere organische Entwicklung des corporativen Lebens, zum Bewußtseyn ihrer Kraft gelangt, den schönen Pfad strengen Rechtes behaupten wolle, und andrerseits dem Reiche eine neue, glücklichere Periode versprach, in welcher nicht mehr das Interesse eines Hauses oder weniger Fürsten dem allgemeinen Aufschwung hemmend entgegenzutreten vermöge." 157 Aber auch Wilhelm fand sein Grab unter dem Trümmerhagel, der dem Sturze des Tyrannen folgte. Papst Innocenz IV., das Dekret von Lyon, die Niederlage vor Parma zerstörten mit äußerster Konsequenz „den künstlichen Bau absoluter Herrschaft, an welchem der [...] Kaiser 30 Jahre lang rastlos gearbeitet hatte."158 Welche Folgen zeitigte dieser einzigartige Niedergang für die alte Ordnung der abendländischen Welt? Die Idee der Einheit von Papst und Kaiser zum höheren Zweck war vernichtet, das Gleichgewicht zerstört. Bezeichnenderweise schreckt Höfler aber davor zurück, nach dem Höllensturz des Rex tyrannus den Papa triumphans als neuen Weltenherrscher zu präsentieren. „Während der heillose Bruch das Kaiserthum dem Abgrunde zuführte, ward das Papstthum auf eine schwindelnde, unhaltbare Höhe emporgetragen, auf welcher es einsam
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Ebd., S. 74-90. Ebd., S. 251/252. Ebd., S. 255. Ebd., S. 256. Ebd., S. 273.
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stehend, den Stürmen nicht mehr zu gebieten vermochte."159 Der eine Pol kann ohne den anderen nicht existieren; fallt der eine, fällt früher oder später mit dem anderen das gesamte dualistische System. Gfrörer hie, Hurter da hätten womöglich Akzente anders gesetzt, ersterer mit Blick auf Deutschland die Ausübung strafferer königlicher Gewalt eingefordert, letzterer mit Blick auf die Kurie den päpstlichen Primatanspruch stärker betont. Höfler markiert eine Position der Mitte. Bemerkenswert erscheint am „Friedrich II." vor allem eines: die kompromißlose Ablehnung unumschränkter weltlicher Gewalt. Keine höhere Bindung anzuerkennen, sich selbst zum letzten Maßstab zu erheben, zeugt von der Hybris des Tyrannen. Daraus den Schluß zu ziehen, die Ablehnung des absolut Weltlichen bedeute für Höfler automatisch die Forderung der Suprematie des absolut Geistlichen, sprich Päpstlichen, hieße aber, ihn mißzuverstehen. Sicherlich, das System der dualistischen Einheit beider Gewalten kann nur funktionieren durch die Achtung der geistig-geistlichen Autorität des Pontifex durch den Imperator. Und gerade deren Mißachtung durch Friedrich erzeugt ja den Kampf zum Untergang. Aber andererseits überlebt auch die geistliche Autorität ohne den Schutz der weltlichen nicht. Auf ihrer neuen Höhe bleibt sie einsam zurück, kann den angreifenden Stürmen nichts mehr entgegensetzen. Schließlich: der Blick auf die untergeordnete, nationale Ebene, auf das Gegenmodell Deutschland unter Heinrich (VII.), unter Wilhelm von Holland belegt Höflers Aufgeschlossenheit auch für andere Lösungsmöglichkeiten der Eindämmung absoluter weltlicher Gewalt als der kurialistischen. Ebenso wie für den Kaiser gilt für den deutschen König die Warnung vor der Hybris des autokratischen Zentralismus. Gerade in Deutschland erforderten die Verhältnisse das bestimmte aber sorgfaltige Regieren mit, nicht gegen die Teilgewalten, weder gegen die alten noch gegen die neuen, sich aus den alten entwickelnden Ordnungen. Der weise König regle alles, setze Eines in sinnvollen Bezug zum Anderen. Von einer Dominanz des Geistlichen spricht Höfler nicht. Weltliche Gewalt, so lehrt Höfler im „Friedrich II.", kann nur rechtens und von Dauer sein in der Beschränkung, in der Anerkennung höherer Ordnungen, im Respekt vor dem Althergebracht-Gewachsenen. Wer glaubt, als Herrscher diese Bindungen zerreißen zu können, gilt - und davon wird noch ausführlich zu sprechen sein - als Handlanger der Revolution. Nicht lediglich aufgebrachte Massen können als deren Träger erscheinen - sondern auch gekrönte Häupter! Genau auf diesen Grundgedanken des Werkes sollte der scharfe Geist des bayerischen Königs erbarmungslos pochen, als er zur außergewöhnlich harten Disziplinierung seines Professors Höfler schritt. Die geschichtspolitisch-publizi-
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Ebd., S. 282.
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stische Kritik jenes anderen Professors - Häusser - nimmt sich dagegen nachgerade harmlos aus. 160 Höflers Werk über Friedrich II. schließt mit dem Bruch des großen mittelalterlichen Einheitsideals von Imperium und Sacerdotium durch den Fall des Tyrannen. Auch für Deutschlands Geschichte habe dieser Tyrannensturz elementare Konsequenzen gezeitigt. Durch den Verlust der Zentralgewalt sieht Höfler dort alle positive organische Entwicklung abgebrochen, sieht die unheilvolle Laufbahn eingeleitet, auf der die Partikulargewalten antraten, das einige, geeinte Deutschland zu vernichten. „Deutschland ward die Beute der Factionen. Gewalt trat an die Stelle des Rechtes, das Interesse der einzelnen Fürstenhäuser verdrängte die Sorge für die Wohlfahrt des Reiches. Die Krone mußte erstritten werden, und selbst als die Ansprüche der Spanier, Engländer und Slaven, die sich irgendwie einer Verwandtschaft mit den Hohenstaufen rühmen konnten [...], beseitigt worden waren, zieht sich noch ein blutiger Streif erschlagener Könige, wilder Schlachten um die deutsche Krone tief in das vierzehnte Jahrhundert hinein."161
Johann Friedrich Böhmer hatte mit Spannung auf das Erscheinen des Höflerschen „Friedrich II." gewartet. Die Entscheidung der Frage, wer im Streite des Kaisers mit der Kirche Recht hatte, sei doch gar zu wichtig.162 Mit Höflers Antwort war er schließlich inhaltlich zufrieden, wenngleich dessen rhetorischer Prunk seinem nüchternen Sinn nicht behagen konnte. Daß der Inhalt des Buches manchen Streit entzünden würde, sah Böhmer klar voraus;163 ändern konnte er daran nichts - , fast lautete ja sein eigenes Urteil über den Staufer noch schärfer als dasjenige Höflers. 164 Im Gegensatz zu diesem folgte es jedoch unmittelbarer aus dem sorgenvollen Blick auf die deutsche Geschichte, nahm weniger Bezug auf die Idealkonstellation von Papst und Kaiser. In Friedrich II. personifiziert sich für Böhmer jenes Unheil, das die deutsche Geschichte auf den abschüssigen Kurs in Richtung Reformation gebracht habe. „Der Zerfall deutscher Größe und Einheit" falle diesem Kaiser am meisten zur
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Vgl. u. S. 496-503. Höfler, Friedrich Π., S. 281/282. 162 Böhmer an Stälin, 14.1.1844 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 362). 163 Böhmer an Karajan, 24.11.1844 (ÖNB, Autogr. 168/42): Er - Böhmer - zweifle nicht, „daß Höflers Buch über Friedrich Π manchen Streit entzünden wird. Die Ansicht desselben mag im Ganzen dierichtigesein; allein die mehr declamirende als beweisende Form unter der sie vorgebracht wird, scheint mir Schwächen zu bieten." - Ders. an dens., 26.12.1843 (Ebd.): „Schade daß seine [Höflers, Th. B.] Perioden durch zu große Verschlingung etwas undeutlich sind." 164 Vgl. auch Anm. 135. 161
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Last, 165 ja, „die Wurzel des Kirchenstreites, der Deutschland die Todeswunde gegeben, fuhrt eigentlich auf ihn zurück." 166 Wie kommt Böhmer zu solch befremdlicher Linienführung? Verbirgt sich dahinter der Haß des verkappten Proselyten auf die Grundwerte echt reformatorischer Gesinnung? Freilich, auch Böhmer legt Wert darauf, eine allgemeine Kirchenfeindlichkeit Friedrichs, der Staufer insgesamt hervorzuheben, und unterläßt nicht die obligatorische Klage über das Unheil, welches der kaiserliche Dauerfeldzug gegen das geistliche Oberhaupt hervorgebracht habe, nicht nur hinsichtlich der Verwirklichung des Kreuzzugsgedankens.167 Auch Böhmer weist auf den barbarischen Charakter weltlicher Herrschaft, besonders während der späten Stauferzeit hin und stellt dagegen, idealisierend genug, das heilsame Regulativ der großartigen Institution Kirche. 168 In diesen Bewertungen unterscheidet er sich so fundamental nicht von Hurter oder Höfler. Aber Böhmers Originalität, sein spezifisches Interesse liegt in Wirklichkeit woanders. Zu plump, seinem Format nicht angemessen, erschiene ja auch eine hemmungslose Parallelisierung von Kirchenfeind Nummer eins - Friedrich II. - und Kirchenfeind Nummer zwei - Luther! Vielmehr bewegen sich Böhmers Analysen zunächst relativ unabhängig von kirchlichen Fragen, konzentrieren sich auf das Heilige Römische Reich als Reich, dessen oberster weltlicher Funktionär - der Kaiser - deutscher König, dessen Trägernation Deutschland ist. Dieses, konstituiert durch ein spezifisches Recht, eine spezifische „Verfaßtheit" 169, sieht Böhmer infolge der Ereignisse seit 1198, vor allem seit der Regierung Friedrichs II., in einer gefahrlichen Krise. Aus dieser Krise sei Deutschland von Grund auf verändert hervorgegangen. Böhmer beschreitet den Weg von Friedrich II. zu Luther über das Konstrukt einer „Staatsumbildung" während des dreizehnten Jahrhunderts. 170 Anders
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Böhmer an Janssen, 5.5.1854 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΠΙ, S. 118). Böhmer an A. Schott, 21.1.1844 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 364). 167 Böhmer, Regesten 1198-1254, 1849, Einleitung, S. VI/VD. Hier auch, S. XXILIV, Böhmers eigene umfangreiche Darstellung des Lebens Friedrichs Π. 168 Ebd., Einleitung, S. V/VI. 169 Zu den Begriffen „Verfaßtheit" und „Verfassung" im Böhmerschen Gebrauch vgl. u. Anm. 365. 170 Daß sich seit dem dreizehnten Jahrhundert eine solche „Staatsumbildung" nicht nur in Deutschland, sondern in allen großen europäischen Staaten vollzieht, ist eine geläufige Vorstellung auch der modernen Frühneuzeitforschung, insofern diese - mit ganz anderer Terminologie und ganz anderen Wertungen als Böhmer natürlich - die Entstehung von „Frühformen des modernen Staates" in diesem Jahrhundert einsetzten läßt. Kennzeichnend für diese Frühformen sei ein „notwendiger Dualismus" von Fürst und Ständen, durch deren Zusammenwirken „eine genügende und geordnete Staatstätigkeit erst zustande kommen konnte." Vgl. Werner Näf: Frühformen des „modernen Staates" im Spätmittelalter, in: HZ 171 (1951), S. 225-243 (auch in Wolf, Stupor Mundi, S. 244-265), die Zitate S. 227/228. Ob Böhmer sich dieser Sichtweise in bezug auf 166
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gewendet und auf die Kirchenreformation des sechzehnten Jahrhunderts bezogen: nur unter der Voraussetzung einer spezifischen „Verfaßtheit" des deutschen Staatswesens, deren Ursprünge in die späte Stauferzeit zurückreichen, kann Böhmer Etablierung und Ausbreitung des Protestantismus erklären. Im Unterschied zu Gfrörer, Hurter und Höfler legte Johann Friedrich Böhmer seine Ergebnisse nie in einem großen darstellenden Werk vor. Er war und blieb der Regestenmacher, der Quelleneditor, der Bereiter des Fundaments - eine Rolle, über die er intensiv auch theoretisch nachdachte, die er manchmal bedauerte, alles in allem aber pflichtbewußt annahm. Aus den Dokumenten des Rechts, der staatlichen Verfaßtheit, flöß ihm geschichtliches Wissen, geschichtliche Gewißheit in erster Linie; zum Dienste solcher Gewißheit sah er sich als Historiker berufen. 171 Dies bedeutete aber keineswegs, daß Böhmer sich nicht gestattete, die Früchte seiner Grundlagenarbeit zu ernten, sie formend und wertend anzuordnen. Anfangs verfuhr er dabei noch zögernder, später, vor allem in seinem großen Hauptwerk, den beiden Bänden der überarbeiteten Kaiserregesten von 1198 bis 1313, packte er beherzter zu, formulierte das seiner Ansicht nach Wesentliche präzise und knapp auf den Punkt hin. 172 Die beiden ausführlichen Einleitungen zu den erneuerten Regesten stellen denn auch die Hauptquellen des Böhmerschen Denkens über den entscheidenden Umbruch deutscher Geschichte dar, über jenen hochmittelalterlichen Fixpunkt seines gesamten historiographischen Gebäudes. Flankierend treten selbstverständlich viele verstreute Äußerungen hinzu, etwa die Einleitungen zu den weiteren Regestenbänden, zu den Ergänzungsheften, zu den „Fontes", die hinterlassenen Fragmente sowie, unverzichtbar, das umfangreiche Briefwerk.
Deutschland hätte öffnen können, steht doch sehr zu bezweifeln. Den Übergang von der „älteren" zur „neueren" Reichsverfassung betrachtete er ja als einen willkürlichen Umbruch und nicht als organisch oder gar mit Notwendigkeit ablaufenden Prozeß. Den Aufstieg der territorialen Fürstentümer, in denen sich der Fürst-Stände-Dualismus vor allem zunächst entwickelte, war ihm ein Dom im Auge, weil er die Einheit des Reiches, die Zentralgewalt schwächte. Deshalb studierte Böhmer die Vorgänge in den Territorialstaaten kaum, konzentrierte sich vielmehr auf das Reichsganze. Auf dieser Ebene fand er schließlich jenen Verfassungswandel in Richtung der Entstehung des Kurfürstenkollegs vor, den er gleichfalls nur im Rahmen seiner Theorie vom Ende der „allgemeinen" deutschen Geschichte und deren Zerfall in „Partikulargeschichten" (s. o. S. 148/149) betrachtete. Von dieser Position aus war es ihm kaum möglich, weder in Hinsicht auf das Reich noch auf die Verhältnisse in den Einzelstaaten auf Wandlungen der Staatsformen zu reflektieren, was ja wiederum vorausgesetzt hätte, auch die gewandelten Herrschaftsformen (Feudalisierung) zur Kenntnis zu nehmen sowie die Zusammenhänge zwischen diesen Veränderungen und den neuen „dualistischen" Staatsformen zu beschreiben. 171 Zur „Historik" Böhmers, zu seinem Verständnis von Geschichte sowie seinen Vorstellungen von den Aufgaben des Historikers vgl. u. S. 254-257,258-262 und 272-286. 172 Die Bände erschienen 1844 (1246-1313) und 1849 (1198-1254).
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Böhmer erkannte in den Stämmen die Keimzellen des deutschen Staatswesens, in deren Verbund das Grundgerüst des Königreiches. Die ältere der beiden „unter einander sehr verschiedenen Reichsverfassungen", welche Deutschland bis zu den neueren Zeiten besessen, leitete er ab aus dem Verhältnis von Stämmen, Stammesherzögen und Königen. „Daß gerade Deutschland als ein Selbstständiges aus demselben [demfränkisch-karolingischen Großreich] sich aussonderte, daß es weder Theil eines größeren Ganzen wurde, noch selbst in mehrere unabhängige Theile zerfiel, war Folge einer glücklichen Übereinkunft der beiden wichtigsten Stämme, der deutschen Franken und Sachsen, denen die anderen sich anschlossen. Denn nach dem Verfalle der Centraigewalt waren nun wieder die einzelnen Stämme die nächsten Einheiten, die Vereinigung der Franken, der Sachsen, der Baiern, der Schwaben und der Lotharinger bildete das Reich. Das gemeinschaftliche Band war der König. In Bezug auf diesen war das ältere fränkische Recht beibehalten. Die königliche Würde war in dem regierenden Geschlecht erblich, doch bedurfte der Nachfolger jedesmal einer besonderen Anerkennung. Nur beim Aussterben des Geschlechts wurde ein neues Regentenhaus frei gewählt. Unter dem König standen die Herzöge der einzelnen Stämme, die auch ferner untergeordnete Einheiten bildeten."173 Nicht als Zufälligkeiten oder gar als willkürliche Konstrukte begriff Böhmer diese Stämme. Als organisch gewachsenen Einheiten wies er ihnen den Rang überindividueller Persönlichkeiten, wies er ihnen „Stammespersönlichkeit" zu, manifest vor allem im jeweiligen Recht. „Diese persönlichkeit, wie bei dem individuellen so bei dem volke grundlage des rechtes und der ehre, ist bei den deutschen Stämmen älter als ihre Verbindung zu einem deutschrömischen reiche, und ihre erhaltung war in dessen Verfassung iedem einzelnen stamme auf die bewundernswertheste weise gesichert, wenn auch zu verschiedenen zeiten in verschiedener weise."174 Die uralte germanische Gemeinfreiheit, wie sie Tacitus beschrieb, habe sich in den Stämmen zu Recht umgebildet, „so daß, wasfrüher Freiheit war, nun Recht wird, und was jetzt Recht ist, früher Freiheit war." 175 Wer die Stammespersönlichkeiten, die Rechte und deren gemeinsame Wurzeln in der germanischen Freiheit, wer schließlich, auf Deutschland insgesamt bezogen, die ältere Reichsverfassung als die Integration jener Komponenten zum höheren Ganzen176
173 Johann Friedrich Böhmer: Untituliertes, undatiertes Fragment (UB Frankfurt/M., NL Böhmer 1 F V 8), Bl. 19. Datierung wie beim Fragment „Das Reich und die Stämme" wohl vor 1849 (s. Anm. 4). 174 Johann Friedrich Böhmer: Fragment „Über nationale Persönlichkeit" (UB Frankfurt/M., NL Böhmer 1 F i l l 11), Bl. 1 R . Dieses Fragment zitieren in Auszügen auch Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 348/349 und Kleinstück, S. 326, jedoch nicht immer im genauen Wortlaut. Hier nach dem Original. 175 Böhmer an E.de Groote, 9.6.1831 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S.194). 176 Im Fragment „Über nationale Persönlichkeit" bringt Böhmer die Vorstellung jener Integration der stammespersönlichen Rechte zur älteren Reichsverfassung sowie deren
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kennenlernen wolle, müsse die überlieferten Zeugnisse der Rechtszustände studieren, müsse etwa in den Capitularien der Karolinger „diesen Wurzeln eines tausendjährigen Rechtszustandes (den man gewöhnlich mit dem Namen der germanischen Freiheit bezeichnete)"177 nachspüren oder eben im Urkundenregister der königlich-kaiserlichen Kanzlei, welches die Erinnerung bewahre an eine „Verfassung [...], aus der Freiheit entstanden und auf das Recht gegründet."178 Ein gutes Stück individualistischen Regionalismus, dem Böhmer, selbst stammespatriotischer „Rheinfranke", 179 keineswegs abhold war, steckt in solcher Rückerinnerung an die ältere Stammesverfassung. Daneben enthält sie aber auch genügend Argumente für ein politisches Erneuerungskonzept des Ganzen. Denn keinesfalls in separatistischer Absicht forschte ja Böhmer so hartnäckig den unterschwelligen Relikten jener älteren Verfassung bis in seine eigene Gegenwart nach, sondern gerade mit Blick auf eine allfallige Neugestaltung Deutschlands unter dem Vorzeichen dieses stammesgeschichtlich fundierten, individualistischen Regionalismus. Auch darauf wird die Erörterung zurückkommen. Vorerst aber: wie dachte sich Böhmer die Ablösung der älteren Verfassung, wie sah er die neue sich herausgestalten und worin erkannte er den Unterschied beider? Eine Möglichkeit, Antworten auf diese Fragen zu entwickeln, ergäbe sich aus einer Radikalkritik der Vereinigung des römischen Kaisertums mit dem deutschen Königtum sowie der damit verbundenen Orientierung der Monarchen in Richtung Italien mit dem Effekt einer Schwächung der Zentralgewalt in Deutschland zugunsten der separatistischen Partikulargewalten. Eine solche, in Richtung kleindeutsch-protestantischer Geschichtsdeutung tendierende Einschätzung begegnete ansatzweise ja auch in der Kirchengeschichte des ProteRückwirkung auf die Stämme selbst, also die gegenseitige Durchdringung der Teile und des Ganzen, auf einen seltsam uneindeutigen Nenner: „So lange die herzogthümer dauerten, trat die stammesverfassung des ganzen in ihnen unmittelbar in den Vordergrund." (Bl. 1R). 177 Böhmer, Regesta Karolorum, Vorrede, S. VII. 178 Böhmer, Regesten 911-1313, 1831, Vorrede, S. ΧΙΠ. Das Eindringen des römischen Rechts verurteilte Böhmer kategorisch; vgl. Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 35/36 und Böhmer, Regesten 1198-1254, 1849, Einleitung, S. Vm, Anm.: „Zu dem unsegen welchen uns Deutschen die Staufer gebracht haben, rechne ich vorzüglich auch das römisch-byzantinische recht." 179 Johann Friedrich Böhmer: Additamentum primum ad Regesta Imperii inde ab anno MCCCXim usque ad annum MCCCXLVn. Erstes Ergänzungsheft zu den Regesten Kaiser Ludwigs des Baiern und seiner Zeit. 1314-1347, Frankfurt/M. 1841, Vorrede, S. IV: „Möchtet doch auch ihr, landsleute, rheinische Franken von Speier bis Andernach und von Andernach bis Düsseldorf, euch eures wahren namens erinnern!" Noch 1845 phantasierte Böhmer in einer Abhandlung über ein mögliches Königreich Rheinfranken (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 271/272). - Vgl. auch u. S. 450.
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stanten August Friedrich Gfrörer, wenngleich eingestrickt in allerhand Ambivalenzen. Selbstverständlich zeigt sich auch Böhmer der Probleme jener Verbindung, der fatalen Folgen für die Entwicklung des deutschen Königtums durchaus bewußt. Aber er weicht deshalb nicht von der Annahme grundsätzlicher Sinnfalligkeit der translatio imperii a Francis ad Germanos ab. Nicht in einer prinzipiellen Unzulänglichkeit der Idee des universalistisch-abendländischen Kaisertums in seiner Vereinigung mit dem deutschen Königtum erkennt er das Problem, sondern in der Pervertierung der Kaiserpolitik durch einzelne deutsche Könige. Gegen jene Art der Radikalkritik, die dann Sybel in der Auseinandersetzung mit Julius Ficker üben sollte, die aber schon denfrühen vierziger Jahren bekannt war, wehrt er sich explizit. „Doch aber sind Deutschlands bezüge zu Italien immer reich und befruchtend gewesen; welche blüthe, welcher glänz würden unserer geschichte entzogen mit der idee des kaiserthums! Ja auch heute noch meine ich (trotz Nicolai und allen sonstigen ultramontanismusgespensterfurchtpredigern) dass beide länder vorzugsweise zu nützlichen wechselverhältnissen berufen seien."180 Aus dem Lot geraten seien letztere Wechselverhältnisse allerdings durch die Frontstellung der Kaiser gegen die Kirche, woraus sich hinwiederum prekäre Folgen für die innere Entwicklung Deutschlands ableiteten. „Wie beklagenswerth aber ist es, daß das Herzvolk Europas durch jene Streitigkeiten mit der Kirche von positivem Berufe abgezogen, in seiner Kraftentwicklung unterbrochen, von der Säure der Leidenschaft und Negation im Innern zersetzt, zu dem kränklichen Zustande gekommen ist, in dem es bald von Fieberhitze durch einander geworfen wird, bald in Mattigkeit verfault." 181 In der frühen Stauferzeit bereits lägen da die Wurzeln; wirklich zugespitzt habe sich die Situation freilich erst infolge der Konstellation von 1198. An dieser trage nun das italienische Engagement tatsächlich deutliche Mitschuld, wie Böhmer, etwas differenzierter als infrüheren Urteilen, bei Gelegenheit der Einleitung in den Regestenband von 1849 ausführt. Die „Verbindung mit dem edelsten der romanischen länder gewährte unsern vorfahren einerseits die reichste anregung und die höchste glorie, war aber hinwieder andrerseits in zwei beziehungen für sie vom allergrössten nachtheil. Einmal dadurch, dass Deutschland in deren folge in conflicte mit dem päbstlichen stuhle geriet, wie dieselben kein anderes land Europas durchzumachen hatte, und dann dadurch, dass das clima Italiens nicht blos ganze heere aufrieb, sondern [...] auch die könige selbst hinraffte, und somit minderiährigkeiten der nachfolger und aussterben der dynastien herbeiführte." 182 Heinrich VI. insonderheit habe sich mit „grausamkeit und blut" in Italien, vor allem in dessen Süden festgesetzt. Um welchen Preis aber! Nachdem er durch sein sizilianisches Abenteuer „die Stau-
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Böhmer, Additamentum primum, Vorrede, S. V, Fußnote. Böhmer an Kopp, 27.12.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 461). Böhmer, Regesten 1198-1254,1849, Einleitung, S. VI.
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fer in fremde erde verpflanzt", sei er in der Mannesblüte verstorben, unter Hinterlassung eines minderjährigen Sohnes sowie eines Machtvakuums in Deutschland, welches sogleich in das Chaos der Doppelwahl gefuhrt habe.183 Damit habe sich die Schicksalspforte zum dreizehnten Jahrhundert eröffnet, habe sich der endgültige Verfall der Zentralgewalt in Deutschland angekündigt, jener Prozeß des Hervortretens privilegierter Fürstenhäuser, welcher den Umbruch von der alten zur neuen Verfassung begleitete. Böhmer setzt wenige, aber präzise Worte: „die drei grossen häuser aus Sachsen Franken und Schwaben, die glorreich an der spitze der nation gestanden hatten, waren dahin. Eine minderiährigkeit und ein dadurch veranlasster thronstreit hatten die kraft des hohenstaufischen hauses schon vor seinem erlöschen wankend gemacht; die landeshoheit, welche sich mit und nach dem zerfall der herzogthümer zu entwickeln begann, enthielt den keim der auflösung des reichs. Vielleicht hätte sich dieser noch aufhalten lassen, denn reichbegabt gleich seinen ahnen wuchs endlich Friedrich heran. Aber der verhängnisvolle besitz Siciliens entfernte ihn aus Deutschland [...], und statt in der heimat die zügel des regiments mit seiner kräftigen hand zu halten und von dort aus zu wirken, verpflanzte sein trauriger streit mit der kirche neue und unheilbare entzweiung in das verwaiste Vaterland."184 Die „Verpflanzung" der Staufer nach Sizilien habe deren Entfremdung von Deutschland nach sich gezogen. Das Hauptreich sei unter Friedrich II. zum Nebenreich verkommen, nach dem Willen des Kaisers verwaltet von jungen, gar minderjährigen Satrapen.185 Um dieses System durchzusetzen, habe Friedrich jedoch die Zustimmung der Mächtigen in Deutschland erkaufen müssen. Damit habe er wiederum jenem Prozeß zugearbeitet, der die Macht der monarchischen Zentralgewalt zerstörte, sie in die Hände aufsteigender Territorialherrn transferierte. „Um die fürsten für die Scheinregierung seiner unmündigen söhne zu gewinnen, genügte es nicht ihnen dasienige zu lassen was sie vom reichsgut usurpirt hatten, es musste ihnen für ihren günstigen willen noch mehr gegeben werden, und da kein gut des reichs mehr verfügbar war, gab ihnen Fr. nun auch die rechte des reiches. Durch die grossen einräumungen an die geistlichen fürsten für die königswahl Heinrichs (VII) von 1220 waren die weiteren an alle fürsten von 1231 schon eingeleitet, und somit war die landeshoheit gestiftet, die monarchie zum bundesstaat herabgedrückt, in welchem noch im laufe des iahrhunderts die sieben ausschliesslichen churfürsten und die ganz willkührliche kö-
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Ebd., S. Vm. Johann Friedrich Böhmer (Hg.): Johannes Victoriensis und andere Geschichtsquellen Deutschlands im vierzehnten Iahrhundert, Stuttgart 1843 (= Fontes Rerum Germanicarum. Geschichtsquellen Deutschlands, Bd. I), Vorrede, S. V/VI. 185 Böhmer, Regesten 1198-1254, 1849, Einleitung, S. XXXIX. 184
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nigswahl (nämlich die ohne rücksicht auf das zuletzt regierende geschlecht) zur ausbildung gelangten."186 Inbegriffen in jenen Prozeß, sah Böhmer nun die Reichsverfassung sich wandeln, besonders augenfällig in der Umgestaltung des Königswahlrechts. Pervertiert erschien ihm nach dem Niedergang der Stammesherzogtümer der Gedanke einer „Vorwahl" durch die Stammesherzöge sowie einer anschließenden Bestätigung per Akklamation durch das Volk, worin er den eigentlichen Kern der Königswahl nach älterem Recht erkannte. 187 Noch 1858 schrieb er darüber an Phillips, jene Frage: „wer denn eigentlich nach der zerfallenen aber nicht aufgehobenen Grundverfassung Deutschlands dermal von Rechtswegen Reichsoberhaupt sein sollte", habe ihn immer beschäftigt. Auf der Suche nach einer Antwort habe er herausgefunden, wie mit der Auflösung der Stammesherzogtümer und der Entstehung der Landeshoheit das Substrat der älteren Königswahl zergangen sei „und [...] nun der Organismus" fehlte, „der das persönliche Auftreten der Stämme ermöglichte." Daher sei ein Übergangszustand eines „allgemeinen Wahlrechts aller Fürsten" eingetreten. Anschließend an diesen habe sich das Gremium der sieben Kurfürsten ,jnü willkürlichem Wahlrechte" ohne Notwendigkeit etabliert, wobei der alte Akt der Volksakklamation, wiewohl in den Zeremonien bis zuletzt beibehalten, jeglichen Sinn verloren habe.188 Nicht ohne konkrete Aussichten auf ein Wiedererstarken der Zentralgewalt sei aber die Übergangsperiode verstrichen, nicht schlagartig und schicksalsmächtig habe sich der Umbruch der Verfassung vollzogen. Daß Chancen ungenutzt blieben, mußte Böhmer allerdings als Tragödie empfinden. So neigte er besonders dazu, in den beiden Habsburgern Rudolf und Albrecht I. Hoflhungsträger eines erneuerten starken Königtums zu sehen.189 Doch Rudolf, nach anfanglichen Erfolgen, „alterte ohne die kaiserkrone auf dem haupte zu tragen", Albrecht, gerade weil er das Reich wiederherzustellen trachtete, fiel dem „mordstahl" zum Opfer. Am meisten mißbehagte Böhmer jene neue Institution der „churfürsten", deren „übermuth" er jeglichen Ansatz einer Kontinuitäts186
Ebd.; vgl. auch ebd., S. LVD. - Zu den Fürstenprivilegien vgl. Anm. 149. Böhmer, Regesten Ludwigs des Baiern, Vorrede, S. ΧΠ/ΧΙΠ, Fußnote. 188 Böhmer an George Phillips, 15.3.1858 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefein, S. 237-239) [Hervorhebung, Th. B.]. 189 Vgl. außer den nachfolgenden Belegen: Böhmer an Kopp, 26.4.1856 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefein, S. 184/185); Böhmer an G. Meyer von Knonau, 25.7. 1844 (ZB Zürich, FA Μ. ν. Κ. 32t. 53): „Wenn Kopps und meine Ansicht über König Albrecht richtig ist, so stießen die Mörder damals wahrhaft dem deutschen Volk ins Herz." Böhmer an Georg von Wyss, 7.4.1853 (Ebd., FA v. Wyss, IX 303. 35): Rudolf von Habsburg, der „für die Weltgeschichte wichtigste Sohn der Schweiz." Schließlich [Johann Friedrich Böhmer]: Ehrenrettung König Albrechts des Ersten, in: Monatsblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung, August 1845, S. 365-367; zur Zuweisung vgl. Kleinstück, S. 398. 187
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Stiftung zerstören sah! Einerseits, fuhrt er in der Vorrede zum ersten Fontesband aus, sei das Kollegium der Sieben „im dritten viertel des dreizehnten iahrhunderts" keineswegs schon so fest verwurzelt gewesen, daß durch beherzte Rückbesinnung dessen Etablierung nicht hätte verhindert werden können. Allein von einem erfolglosen König zum anderen habe sich die „anmassliche" Stellung der Kurfürsten zusehends gefestigt, habe sich der schleichende Verfassungswandel irreversibel Bahn gebrochen.190 Böhmer schreitet von einer Destruktion zur anderen und verliert dabei mitunter die Freiheit des Blickes, erkennt kaum anderes noch. Doppelwahl jagt Doppelwahl, die Reichsfürsten, der Verein kurfürstlicher Usurpatoren triumphiert, die Macht der Zentralgewalt wankt. „Damals als es noch zweifelhaft, ob der ström deutscher geschichte wieder in einheit gesammelt nochmals mächtig durch Stufenländer dahin brausen, oder ob er schon zu seinem delta gelangt nun in sand und schlämm sich verlieren sollte: da erfolgte die doppelwahl Friedrichs und Ludwigs. Nun schwankte die wage ein drittel iahrhundert hindurch zwischen Habsburg-Oestreich und Baiern und Lützelburg [...]. Da sehen wir die schöne einigkeit des habsburgischen hauses [...]. Dann Ludwig [...], unruhig [...], hin und her schwankend weil seine macht für sich allein nirgends den ausschlag gab [...]. Endlich könig Iohanns ungestüme thätigkeit [...]; während sein erstgeborener klüger aber nicht tapferer heranwächst und die krone, die ihm der vater im fluge aufgesetzt hat, sicher zu tragen weiss, aber auch die krone nur, denn sie war nun ohne macht, bald auch ohne glänz!"191 Während der Regierung Karls IV. finden Destruktion und Verfassungsumbruch ein erstes Ziel, findet das Gremium der Kurfürsten höchst gesetzliche Verankerung in der Goldenen Bulle. Diese freilich kann Böhmer kaum als „Hauptstaatsgrundgesetz" Deutschlands anerkennen.192 Wenn er vorderhand auch lediglich deren „negativen" Charakter kritisiert, steht dahinter doch die Ablehnung einer Kodifikation, welche die neue territorialfürstlich dominierte, „bundesstaatliche" Verfassung, festschreibt vor der älteren, stammesgeschichtlichen, organologischen, zentralstaatlich-,»monarchischen".193 Mit Kaiser Karl IV. endet in Böhmers Version deutscher Historie die Dominanz der „allgemeinen" Geschichte Deutschlands, in der Regierung des Luxemburgers „scheidet sich diefrühere Hälfte von der späteren, deren Charakter fortan [...] der Particularismus ist." 194 „Denn das meiste was sonst die Deutschen verband war losgelockert, das reichsgut war verschleudert, die hoheitlichen rechte waren zerstreut unter die stände; diese selbst waren einer einheitlichen regierung entwöhnt: die krone 190 191 192 193 194
Alles Böhmer, Fontes I, Vorrede, S. VI. Ebd., S. VIAOI. Böhmer, Regesta Karolorum, Vorrede, S. VII. Böhmer, Regesten 1198-1254,1849, Einleitung, S. XXXIX. Böhmer, Die neueste Sammlung, S. 2045.
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bildete fortan keinen wirksamen mittelpunct mehr. Das hat vornehmlich Friedrich I I um uns verschuldet."195 Zurückgekehrt zum Ausgangspunkt der Betrachtung, steht nun der Weg schon freier vor Augen, der Böhmer vom letzten Stauferkaiser zur Reformation führt. Geschwächte Zentralgewalt, dominantes partikulares Interesse fürstlicher Territorialherrn: mußte da nicht geradezu der Reformator zum Schutze seines Anliegens vor dem verlängerten Arm der römischen Kirche - vulgo dem Kaiser - in genau den Armen derjenigen Partikulargewalten landen, die im Sinne ihrer eigenen egoistischen Interessen nur darauf warteten, der kaiserlich-königlichen Monarchie noch den letzten Streich versetzen zu können? Mußte sich damit nicht die Spaltung der „Nation" ganz vollenden? Hätte nicht ein neues starkes Königshaus auch an der Wende vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert das Ruder noch herumwerfen können? Schien ein solches dem so habsburgfreundlichen Böhmer sich nicht in Friedrich III. und Maximilian zu erheben?196 Zu spät: die Fürsten hatten das Reich genommen, dem Kaiser nichts mehr davon übriggelassen.197 In diese geschichtliche Situation sieht Böhmer den Wittenberger Mönch treten, und nicht dessen Kirchenkritik verübelt er ihm in erster Linie, sondern dessen Pakt mit der Partikulargewalt: „Das kann ich den Reformatoren nicht verzeihen, daß sie die freigeborene Kirche der weltlichen Macht als Magd hingaben"198 - als Magd, ganz wörtlich, um der weltlichen Macht in deren Sinne zu dienen! Hätte jener Prozeß ablaufen, hätte die Reformation jemals Fuß fassen können unter den Rahmenbedingungen der älteren Reichsverfassung, unter der starken königlichen Spitze, getragen von der Einigkeit der Stämme? Wenn auch Böhmers Interesse als Geschichtsforscher an den Zeiten seit dem von ihm postulierten Ende der „allgemeinen" Reichsgeschichte, spätestens aber seit dem Sieg der Reformation deutlich abnahm, so schwand damit keineswegs seine grundsätzliche Überzeugung vom Modellcharakter des Alten Reiches für eine zukünftige Neugestaltung Deutschlands. Zwar, schrieb er ja mit Blick auf das tatsächliche Ende des Reiches von 1806, hatte das „allgemeine Band" der Verfassung im „Lauf der Zeiten an Kraft verloren", gleichwohl aber bis dato doch noch auf irgendeine Weise, in irgend einheitlicher, wenn auch inhaltsleerer Form fortbestanden. Bezieht sich diese Aussage zunächst auf die ,neuere4, die im und nach dem Umbruch des dreizehnten Jahrhunderts entstandene Reichsverfassung, so steht dahinter doch sogleich die Frage nach der eigentlichen, der „älteren Gesammtverfassung" des Reiches, auf deren Vergegenwärtigung Böh-
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Böhmer, Regesten 1198-1254,1849, Einleitung, S. LXIV. Über die Maximilian-Begeisterung des jugendlichen Böhmer vgl. Janssen, Böhmens Leben und Briefe I, S. 67. 197 Böhmer an Stälin, 10.3.1844 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 373/374) mit einer Kurzfassung seiner Deutung deutscher Geschichte von Kaiser Friedrich Π. an. 198 Böhmer an Pertz, 6.9.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 453). 196
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mer in erster Linie abzielt. 199 Das Alte Reich - so wäre also zu präzisieren - in dieser, seiner „älteren Gesammtverfassung" war und blieb für Johann Friedrich Böhmer die verbindliche Bezugsgröße, wenn es um Deutschlands Zukunft ging. Die historiographische Analyse des rechts- und verfassungsgeschichtlichen Umbruchsprozesses zwischen Friedrich II. und Karl IV. lieferte ihm die Basis, von der aus die aktuell politische Diskussion seiner Tage zu beginnen hatte. Doch berührt dies die Abhandlung der „Grundurteile" nicht mehr. In deren Rahmen bleibt noch Böhmers individuelle Bedeutung innerhalb der ersten Generation großdeutscher Historiker etwas deutlicher hervorzuheben. Wirklich und ausschließlich trägt ihn die Sorge um Deutschland, nährt sich sein geschichtliches Denken aus dieser Sorge, wogegen im Falle Höflers und Hurters die Perspektive des universalen Kaiserreiches doch sehr viel klarer dominiert. Allenfalls im Werk August Friedrich Gfrörers mischt ein Ansatz solcher Besorgnis um Deutschland noch mit, nicht ohne den wackeren Schwaben Beispiel „Carolinger"! - mitunter in allerhand Turbulenzen zu stürzen. Erst die Ereignisse von 1848 sollten auch Höfler und Döllinger dazu veranlassen, den „nationalen" Aspekt mehr in den Vordergrund zu stellen, während Hurter selbst nach jener Zeit weiterhin auf der universalistischen Position ausharrte. 200 Wie jeder andere der fünf spricht Böhmer seine unverwechselbar eigene Sprache im historiographischen Diskurs der ersten Generation jener großdeutschen Historiker, dessen faszinierende Spannung sich ja gerade aus diesen eigenwilligen Wegen jedes einzelnen bei doch so vielfaltigen Berührungspunkten ergibt. Verweist Gfrörer auf die Separationstendenzen der einzelnen Stämme, hebt Böhmer gerade deren organische Einheit zum Ganzen hervor, läßt die zentrifugalen Kräfte erst mit der Herausbildung territorialer Fürstentümer einsetzen. Ordnet Hurter den Kaiser als Diener der höchsten geistlichen Macht unter, so betont Böhmer - da wieder mit Gfrörer einig - dessen eigenständig weltliche Sphäre. Und beschreibt Höfler Friedrich II. als Tyrannen fast nach dem Lehrbuch des scholastischen Staatstheoretikers, bettet Böhmer den Staufer sehr viel individualisierender in den Zusammenhang jenes großen Umbruchsprozesses in Deutschland ein, dem dieser mehr unbewußt als bewußt zugearbeitet habe. So sehr dieser Umbruchsprozeß ihn beschäftigt, kann doch auch Böhmer auf die Frage nach dem Hergang der Wandlung von Stammesherzog- zu Territorialfürstentümern im Detail ebensowenig eine exakte Antwort geben wie eine genaue Erklärung für die Entstehung des Kurfürstenkollegiums liefern. Beide Phänomene bleiben für ihn, wie für so viele spätere Historiker, nur schwer er-
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Böhmer, Fragment„Das Reich und die Stämme" (s. Anm. 4). Vgl. dazu auch die Ausführungen zum Begriff „Nation", u. S. 343-348, insbes. Anm. 651. 200
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klärbar, verstehbar. 201 Aber ihn betrübt das Absterben des althergebrachten, dem Volke typischen, das Absterben des germanischen Rechts zugunsten anderer, fremder, ja gar, wie es in der Institution der Kurfürsten erscheint, ganz willkürlichen Rechtes. Böhmer sieht keine tiefere Notwendigkeit für die Entstehung gerade dieses Kollegiums. Trotzdem, und dagegen lehnt sich sein Rechtsverständnis auf, steht es da am Ende eines Umbruches in der Zeit, am Ende eines geschichtlichen Prozesses. Möglicherweise dient Böhmers hartnäckiges Erforschen dieser Vorgänge auch der verzweifelten Suche nach einer solchen tieferen Notwendigkeit, die er doch nicht zu finden vermag. Böhmer fühlt durch und durch als „Ghibelline", in dem Wortsinn, den er selbst definiert: „die Macht der Krone und die Einheit der Nation" 202 stehen an der Spitze seiner Werteskala, jedoch klar spezifiziert durch den Blick auf die Geschichte. Vielfalt, scheinbare Gegensätze synthetisieren sich Böhmer zur organischen Einheit. Das Individuell-Eigene bleibe gewahrt, trage aber zur Gestaltung des Ganzen bei: Starke königlich-kaiserliche Zentralgewalt fuße auf ausgeprägtem Regionalismus der Stämme. Erbrecht innerhalb der Dynastie gewähre Kontinuität, Wahlrecht bei Aussterben der Dynastie Offenheit und Möglichkeit zum Wandel. „Nationale" Belange wiegen schwer, doch nicht alles; in der übergeordneten Konstruktion des Kaisertums, im sinnvollen Streben über die eigenen Grenzen hinaus, besonders nach Italien, überhöhe die universale Einheit von Kaiser- und Papsttum die nationale Idee. Während die „erste Hälfte des Mittelalters" 203 nach einer Realisierung dieser Utopie gestrebt, ja sie - in der „älteren Gesammtverfassung" des deutschen Königreiches - teils erreicht habe, sei sie seit Friedrich II., dem letzten Stauferkaiser, sowie vollends im Zuge der Entwicklung bis zur Reformation und darüber hinaus abhanden gekommen.
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Die Frage nach der Entstehung des Kurfürstenkollegiums ist bis heute nicht definitiv geklärt. Die sehr intensive Auseinandersetzung der Forschung mit diesem Problem seit der Mitte des neunzehnten flaute etwa seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts deutlich ab. Ein Beitrag von Martin Lintzel aus dem Jahr 1952 markiert diese Zäsur und summiert die zentralen Positionen der älteren Forschung. Martin Lintzel: Die Entstehung des Kurfürstenkollegs, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. Π: Zur Karolingerund Ottonenzeit, zum hohen und späten Mittelalter, zur Literaturgeschichte, Berlin 1961, S. 431-463, zuerst in: Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen AkdW zu Leipzig, Phil.-hist. Klasse, Bd. 99, Heft 2, Berlin 1952. Neuere Arbeiten: Winfried Becker: Der Kurfürstenrat. Grundzüge seiner Entwicklung in der Reichsverfassung und seine Stellung auf dem westfälischen Friedenskongreß, Münster 1973; Wolfgang Giese: Der Reichstag vom 8. September 1256 und die Entstehung des Alleinstimmrechts der Kurfürsten, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 40 (1984), S. 562590. 202 Böhmer an Kopp, 19.6.1844 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 383). 203 Vgl. obenAnm. 9.
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„Darin liegt Scheidung des Mittelalters von der Neuzeit. Jenes anerkennt nur statum in statu, diese sagt: kein status in statu."204 Am Ende der exemplarischen Betrachtung der Grundurteile katholizistisch-konservativer, großdeutscher Historiker erster Generation über das Mittelalter erhärtet sich der Eindruck, jener status sei ein mehr ideeller denn real existierender. Denn allein Hurter beschreibt im Weltherrschaftskonzept des Papstes Innozenz die vermeintliche Materialisation eines solchen, während alle anderen den status als Ideal der großen Welteneinheit mehr oder minder nur voraussetzen, um sich sogleich auf jene Zäsuren des Umbruchs und der Auflösung zu konzentrieren, die ihnen eigentlich nur Unbehagen hätten bereiten dürfen: Gfrörer auf die Zeit der späten Karolinger, verglichen mit der universalistischen Epoche Karls des Großen eher eine Periode des Zerfalls; Höfler und Böhmer auf die lange Epochenschwelle des dreizehnten Jahrhunderts, mit dem Kaisertum Friedrichs II., mit den entscheidenden Stufen des Rechts- und Verfassungswandels in Deutschland. Sicher, die ausgewählten - aber doch für jeden der Fünf jeweils zentralen Beispiele spitzen zu, erfassen nicht immer alle Nuancen, unterdrücken zugunsten solcher Befunde gern die reiche Palette anderer Aspekte, die jeden der genannten Historiker auch bewegten. Trotzdem entbehrt die Beobachtung nicht eines wahren Kernes, daß, wie in Historikerkreisen anderer Couleur, so innerhalb dieser ersten Generation großdeutscher Geschichtsschreiber, Perioden der Veränderung mehr Interesse finden als Perioden der Statik. Ein altes Grundmuster: wer aus Geschichte lernen will, studiert die Krise, nicht das veränderungslose Dahinstreichen der Zeit. Wo sich dagegen letzteres mit dem Bestreben verbindet, in der scheinbaren Verwirklichung eines Idealzustandes ein irdisches Paradies zu zeigen, rückt der Historiker gefahrlich in die Nähe eines blinden Dogmatismus. Im Falle des Hurterschen „Innocenz" scheint diesbezügliche Skepsis angebracht, suggeriert dieses Werk doch den Soll-Zustand des status als real-geschichtlichen Ist-Zustand, erstrebt und erreicht im Weltherrschaftsmodell des Papstes. Da gibt es keine Krise, kein Hoch und Tief, keine Wandlung, nur zielgerichtetes, stetig erfolgreiches Handeln. Gfrörer, Höfler, Böhmer sind offener, näher am Puls des Tatsächlichen. Auch sie setzen, einer mehr als der andere, in ihren Mittelalterstudien das Ideal voraus, lassen es aber ruhig Ideal bleiben, um anhand der Historie die jeweilige Diskrepanz zwischen Idealität und Realität aufzuzeigen, vielleicht zu beklagen, nie aber zu glauben, diese Diskrepanz wäre überbrückbar.
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Vgl. oben Anm. 32.
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c) Neuzeit: Verlust des „status in statu" Dem tiefergehenden Blick unterscheidet sich also das Mittelalter von der Neuzeit weder durch die Annahme einer realen Existenz der großen Einheit, des status in statu, noch durch das Postulat eines graduellen Aufbrechens solcher Einheit. Auch hinter Böhmers Aphorismus steckt das eine wie das andere nicht wirklich. Der vollkommene Wegfall der Idealität, der Utopie des status trennt die Zeitalter. Wo dieses Ideal fallt, endet das Mittelalter, beginnt die Neuzeit, definitiv. Katholizistisch-konservative, großdeutsche Historiker identifizieren die Vollendung dieses Übergangs in der Regel mit einem konkreten Ereignis: der Reformation. Von katholischer Seite her setzte Ignaz Döllinger zentrale Akzente zur Bewertung dieses Ereignisses. Theologe in erster Linie, dann Kirchen-, zuletzt Profanhistoriker, dominiert bei ihm jedoch die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Kernaussagen lutherischer Lehre. 205 Die Frage nach der Bedeutung des Ereignisses „Reformation" für den Gang deutscher Geschichte bewegt ihn vergleichsweise nur am Rande. Gleichwohl aber entspringen seinen knappen Antworten aus der Zeit vor 1848/49 konturenscharf die typischen Grundlinien der katholizistisch-konservativen und großdeutschen Reformationsdeutung. Lange vor dem großen Reformationswerk, vor der prägnanten Luther-Skizze trat Döllinger mit seiner Variante der Reformationsgeschichte ein erstes Mal hervor. Wenn er in seiner Fortsetzung von Hortigs „Handbuch der christlichen Kirchengeschichte", 1828, „das Territorialsystem mit seinen verderblichen Folgen" etwas kurzsichtig als eigentliche „Ausgeburt des Protestantismus" erkennen zu können glaubte, ging dies zunächst freilich auf das Konto einer recht
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Döllingers Reformationsdeutung in ihren vielfaltigen theologischen und kirchengeschichtlichen Aspekten, in ihrem Wandel im Lauf der Jahre gar, bedarf hier nicht der Darstellung im Detail, wenngleich eine solche trotz der reichen Döllinger-Literatur einen neuen Versuch verdient hätte. Vgl. dazu allgemein Friedrich, Döllinger Π, S. 234251, 342-349, sowie Heinrich Bornkamm: Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten Texten von Lessing bis zur Gegenwart, Heidelberg 1955, 2. Aufl., ebd. 1970; Beyna, S. 15-21, und A. G. Dickens /John Tonkin: The Reformation in Historical Thought, Cambridge/Mass. 1985, S. 181-183. Winfried Becker: Luthers Wirkungsgeschichte im konfessionellen Dissens des 19. Jahrhunderts, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 49 (1985), S. 219-248, erwähnt Döllinger nur am Rande und in bezug auf Johannes Janssens „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters" (S. 221/222). - In der vorliegenden Betrachtung gilt die Aufmerksamkeit denjenigen Punkten des Reformationsbildes Döllingers, welche im Zusammenhang mit der Frage nach einer Typologie großdeutscher Geschichtsauffassung, insbesondere hinsichtlich der Bewertung der Folgen der Reformation für den weiteren Verlauf deutscher Geschichte, Bedeutung erlangen. 14 Brechenmacher
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eigenwillig akzentuierten Anschauungsweise.206 Da sollte Böhmer später in seiner Rückführung jenes Territorialsystems auf den Verfassungswandel seit dem dreizehnten Jahrhundert präziser zugreifen, sollte plausibler erklären, daß dieses System im Kern bereits habe bestehen müssen, um mit der Reformation in Wechselwirkung überhaupt treten zu können. Abgesehen von solchen Einschätzungen aber bleibt doch bemerkenswert, wie selbstverständlich Döllinger schon in frühen Jahren auf das Deutungsmuster „Territorialfürstentum" rekurrierte, um Erklärungen für Erfolg und Durchsetzungsvermögen der protestantischen Bewegung zu liefern. Natürlich, auch innere Gründe sieht er dabei mitspielen, magische Anziehungskräfte, die im Begriff „Evangelium" als der „kürzesten Bezeichnung des protestantischen Religions-Systems" zusammenfließen: „es war die diesem Ausdruck zu Grund gelegte und stets in der Meinung des Volkes wie der Theologen und Prediger damit verbundene Idee, daß die Lehre, die man jetzt die evangelische nannte, einen kürzeren, leichteren, bequemeren und angenehmeren Weg zum Himmel zeige, den die Reformatoren jetzt erst wieder aufgefunden." 207 Aber alles in allem gilt ihm der „Sieg der Reformation", 1828 nicht anders als zwanzig Jahre später, zum großen Teil als „Werk der Politik, des Eigennutzes und der Habsucht" und nicht primär als Folge überwältigender theologischer Kritik. „Fürsten und Magistrate sahen in ihr ein erwünschtes Mittel, allen den - gegründeten oder ungegründeten - Beschwerden, welche sie bisher gegen Päpste, Bischöfe und Clerus gehabt, mit einem Male und für immer abzuhelfen, und sich zugleich durch die Kirchengüter zu bereichern." 208 Hinter derart lapidarer Kürze steckt in einem Doppelvorwurf sowohl an die Protagonisten der Reformation als auch an die Träger weltlicher Macht jener nicht bloß historiographische, sondern generell weltanschauliche Spaltstoff, welcher in deutschen Köpfen nicht zu unterschätzende Hindernisse einer nationalen Einigung zu errichten imstande war. Die Reformatoren, so lautet der eine Vorwurf, hätten die Einheit der Kirche als selbständiges, unabhängiges Institut geopfert. Weltliche Herrscher, so lautet der andere, hätten nicht gezögert, das Opfer anzunehmen, um sich zum Zwecke der Arrondierung eigener territorialer Macht den lästigen Widerspruchsgeist „Kirche" vom Halse zu schaffen sowie sich obendrein an deren Reichtum schadlos zu halten, alles unter der Tarnkappe des Beschützers der Freiheit von Geist und Gewissen vor papistischer Tyrannei. Da liegt der Nerv katholizistisch-konservativer und großdeutscher Reformationsdeutung. Freilich fallt die Akzentuierungsbreite wiederum weit aus, erheben die Orthodoxen („Ultramontanen") den ersteren Vorwurf lauter, die eher
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Döllinger, Handbuch der christlichen Kirchengeschichte, S. 687. Döllinger, Reformation II, S. 694. 208 Döllinger, Handbuch der christlichen Kirchengeschichte, S. 670; vgl. beispielsweise auch Döllinger, Reformation II, S. 695. 207
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von der Reichspolitik her Argumentierenden den zweiten. Mit der Reformation, so mußte es dieser Sichtweise insgesamt aber erscheinen, vollendete sich die Umgestaltung einer Welt. Im Umbruch der einen Kirche erfolgte lediglich der komplementäre Prozeß zum bereits vollzogenen Umbruch des einen Staates. Das Ideal war zerborsten: dem Gedanken höchster Einheit von Staat und Kirche, von Kaiser- und Papsttum, stand nun eine Vielzahl denkbarer Möglichkeiten des Verhältnisses von Staaten und Kirchen gegenüber, als deren schlimmste Variante die cäsaropapistische erschien, die absolute Vereinigung weltlicher und kirchlicher Herrschaft in der Hand des weltlichen Machthabers, oder, die Herabwürdigung der Kirche zum bloßen Staatsinstitut. Döllinger beschreibt im Handbuch der christlichen Kirchengeschichte jenen entscheidenden Prozeß sehr genau, und wenn auch die Detailkraft, der Differenzierungsgrad seiner Studien in der „Reformation" und vor allem dann in der Luther-Skizze zunimmt, wenn dort Optionen neuer Sichtweisen bereits aufzukeimen beginnen, ändert sich der Gesamttenor seines Urteils doch noch nicht wesentlich gegenüber demjenigen von 1828. Völlig neu habe die Reformation das Verhältnis von Kirche und Staat gestaltet. In ihrer Auflehnung gegen die Kirchengewalt des Papstes und der Bischöfe mußten sich die Reformatoren dem Schutz und der Hilfe ihrer Fürsten unterstellen: „an diese also gieng die Fülle der Kirchengewalt über, und die Reformatoren waren damit zufrieden, denn sie sahen wohl, daß die neue Kirche sowohl eine Stütze gegen äussere Angriffe, als eines Mittelpunktes der Einheit bedürfe; zu beyden eigneten sich nur die Landesfürsten. [...] Auf solche Weise geschah [...], daß die große, allgemeine, alle Länder und Völker gleichmässig umfassende Kirche, so weit der Protestantismus in ihr Platz griff, in einzelne, von einander isolirte Landeskirchen aufgelöst wurde." 209 Solch düsteren Urteilen über den Zusammenbruch einer Welt zum Trotz, billigt Döllinger der Zentralgestalt der Reformation gewisse Berufung, Gabe, historische Größe gleichwohl zu. Hätte nur „der Geist der Liebe und der Demuth" Luther beseelt, „so wäre er vielleicht ein wahrer Reformator in der Kirche geworden." Aber seine Hybris habe „die legitime Autorität der Kirche" verworfen, Jene Schranke, die gerade ihm, dem hochfahrenden, von den wildesten Leidenschaften bewegten Manne, vor allen unentbehrlich war." 210 Die Lutherskizze greift dieses Thema auf, zeichnet, heftig psychologisierend, den triebhaft zerrissenen Reformator, fast tragisch schwankend zwischen Selbst209
Ebd., S. 687/688; vgl. auch Döllinger, Reformation II, S. 695 und 697 sowie Döllinger, Luther (zit. nach Wetzer und Welte), S. 658 und 660: „zugleich bot die Einziehung der Bisthümer sich den Großem als erwünschtes Mittel dar, ihre Staaten zu arrondiren und ihre Territorialmacht erst jetzt fest zu begründen und auszubilden." Ebd., S. 666/667, die Ursprünge des „protestantischen Cäsaropapismus". 210 Döllinger, Handbuch der christlichen Kirchengeschichte, S. 455. 1*
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Überhebung und Selbstzerfleischung, weit entfernt von jener göttlichen Gnade, die Luthers Lehre selbst dem Menschen apriori zubilligen mochte. Doch auch hier nicht unbedingte Herabsetzung, Verteufelung, im Gegenteil - : wenn man den mit Recht einen großen Mann nenne, „der mit gewaltigen Kräften und Gaben ausgerüstet Großes vollbringt, der als ein kühner Gesetzgeber im Reiche der Geister Millionen sich und seinem Systeme dienstbar macht - dann muß der Sohn des Bauern von Möhra den großen, ja den größten Männern beigezählt werden." 211 Ein Großer in gewisser Hinsicht also, andererseits ein Revolutionär mit dunklen Abgründen, ein egomanischer „Despot", ein „Kirchendictator". 212 Daß Döllinger zwischen diesen Polen Raum läßt für Nuancen, zeugt wenigstens von seinem Bemühen - von der Basis orthodox-katholischer Anschauung her natürlich - , einen Versuch des Verstehens zu wagen, zeigt aber auch schon die Spur eines Weges hinüber zum veränderten Lutherbild der nachrevolutionären und der Jahre nach dem Vatikanum, wie es Döllinger dann seit „Kirche und Kirchen" formulieren wird. 213 Ähnliches gilt für die Frage nach dem äußeren Anlaß der Reformation, dem Verfall katholischer Kirchenzucht an der Wende vom fünfzehnten zum sechzehnten Jahrhundert. Zwar führt Döllinger scharfsinnig aus, wie Luther den Kern seines dogmatischen Gebäudes - die Lehre von der Rechtfertigung - lange schon entwickelt hatte, bevor er öffentlich gegen den Ablaßhandel aufgetreten, also auf den Karren der Kirchenkritik aufgesprungen sei; 214 dennoch beschönigt er nicht die tatsächlichen Mißstände innerhalb der Kirche, die grundsätzliche Reformbedürftigkeit, verschweigt nicht deren katalysierende Funktion in Hinsicht auf die Popularisierung des Augustinermönches und seiner Anliegen.215
211 212 2.3
Döllinger, Luther, S. 673. Ebd., S. 670. Johann Joseph Ignaz von Döllinger:
Kirche und Kirchen, Papstthum und Kir-
chenstaat. Historisch-politische Betrachtungen, München 1861, hier insbes. S. 10/11, 386/387; weiterhin wichtig: Ders.: Die deutsche Reformation, in: ders., Über die Wiedervereinigung der christlichen Kirchen. Sieben Vorträge, gehalten zu München im Jahre 1872, Nördlingen 1888, S. 52-72. 2.4 Döllinger, Luther, S. 654. 215 Ebd., S. 659: „Da stand auf der einen Seite eine ganze Schaar von Prälaten, kirchlichen Dignitären und Pfründenträgem, die, mit irdischen Gütern überreich ausgestattet, sorglos dahin lebten, sich wenig um die Noth und den Verfall der Kirche kümmerten, und auch jetzt den stürmischen Angriffen auf die Kirche in ruhiger Trägheit zuschauten; auf der andern Seite stand ein einfacher Augustinermönch, der Alles das, was jene in Fülle hatten oder erstrebten, weder besaß noch suchte, der aber dafür mit Waffen stritt, wie sie jenen nicht zu Gebote standen, mit Geist, mit hinreißender Beredtsamkeit, mit theologischem Wissen, mit festem Muthe und unerschütterlichem Selbstvertrauen, mit dem Schwünge der Begeisterung, der Energie eines zur Herrschaft über die Geister berufenen Willens, und mit eiserner Arbeitsamkeit."
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Wenn er auch solche Züge der Reformation stärker erst seit 1861 betont,216 eröffnen sich verborgene aber kaum wegzudiskutierende Spannungsfelder aus solchen Abschattierungen doch bereits in denfrüheren Texten und zeigen einen differenzierten Döllinger, der nicht lediglich und ausschließlich - wie freilich im zweiten Bande des Reformationswerkes - seine Geistesschärfe darauf verwendet, den Sittenverfall im Gebiete des sich ausbreitenden Protestantismus in grellsten einseitigen Farben zu malen. Befunde dieser Art konterkarieren ein Döllingerbild, welches vor 1848/49 den ultramontanen Hundertprozentigen, nach der Zäsur, vor allem dann während der Konzilszeit, den radikal Gewandelten präsentieren will, ein Döllingerbild, das - je nachdem, welche Partei es zeichnet - jeweils den einen Döllinger lobt, den anderen aber ablehnt.217 Insgesamt prägt sicherlich die orthodox-katholische Dogmatik Döllingers Verständnis der Reformation vor 1848/49. Weder erscheint dieses Verständnis jedoch in seiner eigenen Mischung aus typischen und individuellen Elementen undifferenziert noch halsstarrig - das zeigt bereits die verkürzte Analyse, welche noch gar nicht auf die wichtige theologische Seite des Döllingerschen Denkens über die Reformation eingeht. Überschreiten konnte dieses Verständnis, wer wollte, nach beiden Seiten, vor allem nach „Rechts". Ein Weg dorthin führte besonders über die Reduktion gerade der theologischen Aspekte zugunsten einer „Politisierung", als deren Charakteristikum die Kopplung des Begriffes „Reformation" mit dem konservativen Negativwert schlechthin erscheint: der Revolution. Reformation und Revolution in Zusammenhang zu bringen, lag einem historisch-politischen Denken nahe, dessen Erfahrungshorizont geprägt war von revolutionären Erschütterungen, dessen Rechtsempfinden Revolution als gewaltsamen Umsturz gewachsener Ordnungen kategorisch ablehnte und dessen historiographisches Urteil in der Reformation eben solchen Umsturz zu erkennen glaubte.218 Dahingestellt mag bleiben, ob die antirevolutionäre Haltung in
216
Etwa Döllinger, Kirche und Kirchen, S. 10. Vgl. o. S. 62/63, die biographische Skizze zu Döllinger und bes. Lebenswege, Anm. 216. 218 Zu komplex erscheint das Problem der Revolution im Denken der katholizistischkonservativen, großdeutschen Historiker, um es nur aus einer Perspektive erfassen zu können. Immer wieder wird im folgenden die Untersuchung darauf zurückkommen, bereits Gesagtes wiederaufnehmen und Neues hinzufügen, in der Absicht, verschiedene Mosaiksteine zum Gesamtbild zu vereinigen. Vgl. insbes. unten S. 257/258 (Revolution und Geschichtsbegriff), S. 295-308 (Julirevolution 1830), S. 328 (Radikalismus und Revolution), S. 387-391 (Edmund Burke) sowie S. 434-442 (die Münchener „Revolution von oben", 1847). - Daß das Erlebnis einer Revolution - deijenigen von 1848/49 - sogar den entscheidenden Schlüssel zum Verständnis fast des gesamten 217
214
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tagespolitischen Fragen dabei mehr auf die Einschätzung des historischen Ereignisses Reformation einwirkte, oder eher das Studium der Reformationsgeschichte auf die Verurteilung von Revolution schlechthin. Wie so oft bedingt auch hier in einem Zirkel eines das andere und umgekehrt. Wichtiger hingegen erscheint, jene tertia comparationis zu bestimmen, welche überhaupt erst erlaubten, die Brücke zu ziehen von der Reformation des sechzehnten zur Französischen Revolution des achtzehnten Jahrhunderts, daneben aber auch zu den europäischen Revolutionen des Jahres 1830. Denn alle wurden sie ja nur begriffen als Emanationen des einen Prinzips „Revolution" in jeweils bestimmten historischen Situationen: Was also kennzeichnet die Reformation als Revolution? Reformation als Revolution. Durchaus allgemeine Verbreitung findet dieses Interpretationsmuster in katholizistisch-konservativen, großdeutschen Historikerkreisen. Döllinger zwar, von dessen Grundpositionierungen im Handbuch der christlichen Kirchengeschichte der Weg nicht weit wäre, hält sich in der letzten Konsequenz - aufgrund des ihm eigenen hohen Reflexions- und Differenzierungsgrades? - zurück und deutet allenfalls Analogien an, wenn er der Reformation als Gemeinsamkeit „mit einer andern großen Umwälzung der neuern Zeit" zuschreibt, „daß ihre Folgen und Wirkungen sich zunächst Verderben bringend gegen die eigenen Urheber und Beförderer gekehrt haben." So gleiche die Reformation einer gigantischen Maschine, deren Räderwerk zuerst die Glieder jener zermalme, die es mit kurzsichtiger Hast und leidenschaftlichem Ungestüm, ohne die Folgen zu berechnen, in Bewegung setzten.219 Den Bauernkrieg von 1525 wenigstens mittelbar diesen „Folgen" beizurechnen, liegt nahe, wenngleich Döllinger die Betrachtung der Reformation als Revolution so weit nicht treibt. Sein ,Amanuensis" Joseph Edmund Jörg freilich sollte in seinem ersten Werk den Bogen vollenden, inspiriert vom Geiste des Stiftspropstes, noch umhüllt vom Dunstkreis der Reformationsstudien des „ultramontanen" Döllinger, zu einer Zeit, als dieser sich innerlich schon zu neuen Ufern unterwegs befindet: Deutschland in der Revolutionsperiode von 1522 bis 1526, erschienen bei Herder in Freiburg, 1851. 220 Viel mehr als Döllinger jemals, bemühten innerhalb der ersten Generation der großdeutschen Historiker Höfler sowie Friedrich Emanuel Hurter das Deutungsmuster „Reformation als Revolution". Wie immer stürmischer denn Döllinger, der feingeistige Freund, rührte Höfler früh schon die polemische Trommel. Jahre, bevor er in Prag die hussitische Bewegung ausgraben, neue Zusam-
historiographischen Werkes eines der großdeutschen Historiker zweiter Generation, Carl Adolf Cornelius9, liefert, kann an dieser Stelle nur angedeutet werden. 219 Döllinger, Reformation Π, S. 687. 220 Vgl. auch Jörg, Briefwechsel, Einleitung, S. XXVI.
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menhänge, vor allem eine Komponente sozialen Protestes entdecken sollte,221 war ihm die Reformation vor allem eins: Revolution. In zu guter Erinnerung hafteten wohl Ansatz und Erfolg des „Friedrich II." noch im Gedächtnis Höflers, als daß es ihn im übrigen nicht hätte reizen können, in seiner Studie „Über katholische und protestantische Geschichtschreibung" 1845 stilistisch Ahnliches ein zweites Mal zu versuchen. Also liest sich seine Kurzfassung des reformatorischen Geschichtsunglücks, wenn auch kaum den Katalog der Grundinterpretamente im Vergleich zu Döllingers Darstellung von 1828 variierend, erheblich polarisierender, unversöhnlicher. Darauf, heißt es, mit Blick auf die Arbeiten des unorthodoxen Protestanten Karl Adolf Menzel, 222 hätten die Geschichtsschreiber die Deutschen lange schon hinweisen müssen, „wohin sie mit ihrer hochgepriesenen, religiösen Emancipation, mit dem großen Lichte, das die Reformation aufgesteckt haben soll, in politischer, in socialer, in geistiger Beziehung gekommen waren. Welcher Tyrannei stupider Büreaukratie, welchem Despotismus des widrigsten Cäsaropapismus, welcher inneren Zersplitterung, welchem Mangel an nationalem Gefühle, welcher politischen Nichtswürdigkeit sie und ihre Leiter, groß und klein, hoch und gering verfielen!" 223 Aber Revolution? Ja, Revolution - und nicht lediglich in Hinblick auf den Bauernkrieg, den Höfler innerhalb des Ganzen nur als - freilich blutige - Teilstufe erachtet. 224 Viel höher zielt die explizite Auffassung des „Reich"-Artikels von der Reformation als der „großen teutschen Revolution",225 zielt auf jenen Umsturz einer Welt, dessen Maßlosigkeit in keinerlei Verhältnis stehe zur tatsächlichen Reformbedürftigkeit der Kirche im ersten Viertel des sechzehnten Jahrhunderts. Keine der zahlreichen Spaltungen, welche die Geschichte des Christentums verzeichne, habe die vulkanische Umwälzungskraft der lutherischen Bewegung 221
Vgl. Höfler an Karajan, 16.2.1854: Die Bekanntmachung seiner Prager Quellenstudien werde „der ganzen bisherigen Auffassung der Reformation eine wesentliche Veränderung beibringen, wie doch überhaupt die sociale Bedeutung des Hussitismus im Gegensatze zu der blos dogmatischen, die Fo/foauffassung und die Auffassung der Gelehrten erst durch diese Quellen recht hervortreten. Der Bauernkrieg des Jahres 1525 erhält einen Vorläufer; dem Aufstande der deutschen Bauern geht der der slavischen vorher, wie Hus dem Luther." (ÖNB Autogr. 169/63, 4). Ähnlich Höfler an Döllinger, 26.2.1854 (BSB, NL Döllinger, Döllingeriana Π). 222 Karl Adolf Menzel (1784-1855); seit 1824 Konsistorial- und Schulrat in Breslau; Geschichte der Teutschen, 8 Bde., 1815-1823. Höfler bezieht sich aber wohl auf Menzels „Neuere Geschichte der Teutschen von der Reformation bis zur Bundesakte", 13 Bde., 1826-1846; 2. Aufl. u. d. T. „Neuere Geschichte der Deutschen seit der Reformation", 6 Bde., Breslau 1854-1856, und hebt v. a. dessen kritische theologische Ausführungen zur Reformation hervor. Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 307. 223 Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 307/308. 224 Höfler, Art. „Reich, teutsches", S. 143. 225 Ebd.
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erreicht, immer war noch „Gleichheit der Sacramente, selbst des äußern kirchlichen Lebens geblieben."226 Jetzt aber fiel alles, „was 1500 Jahre lang gelehrt, gepredigt und geschehen war" in den Ruch satanischen Irrtums, Trugs und Gewebes menschlicher Bosheit, zerstörten die Anhänger der Revolution ihre Vergangenheit, schlugen Vätern, Müttern, Ahnen ins Angesicht.227 Höfler projiziert das groteske Gemälde einer verkehrten Welt. Nicht der Fanatismus des ultramontanen Polemikers allein führt ihm die Feder, sondern zum größeren Teil sicher die echte Verstörung des konservativen Legitimisten über den radikalen Bruch alter - und natürlich idealisierter - Ordnung. Kirchliche Zersplitterung und Zerfall des weltlichen Herrschaftssystems gehen ihm Hand in Hand. Das alte stolze Reich, wo sei es geblieben im Gewimmel der fürstlichen Revolutionsgewinnler, deren Usurpationsgelüste vor denjenigen der Bauern, der Ritterschaft und der Städte den eigentlichen politischen Sieg davontrugen? „Die wichtigsten und dringendsten Geschäfte konnten nicht erledigt werden, die Reichstage zu keinen Beschlüssen kommen; eine gewafihete Faction (der schmalkaldische Bund) hauste im Reiche nach Wohlgefallen, verjagte Fürsten oder setzte sie ein; nicht Carl V. war Kaiser, sondern Philipp von Hessen, und Papst war der wittenbergische Mönch, der, weil er (katholischer) Doctor der Theologie geworden, protestantische Bischöfe, Pastoren sc. ordinirte, consecrirte, Dogmen machte, die Evangelien nach Belieben auslegte, Apostelbriefe annahm oder verwarf und einen Abgrund von Haß gegen Papst und Kirche, somit gegen die Teutschen, welche seine usurpirte Autorität verwarfen, den Seinen als theure Hinterlage übermachte."228 - Den vornehmen Pfad der Differenzierung liebt Höfler weniger; symptomatisch für sein Reformationsverständnis bleibt, daß er Döllinger gegenüber noch 1861 kategorisch ablehnt, dem Reformator „wahre Größe" zuzubilligen.229 Ja, Revolution. Kaum einer unter den älteren großdeutschen Historikern hat wohl intensiver und abstraktionsbereiter über den Zusammenhang von Reformation und Revolution nachgedacht, denn Friedrich Emanuel Hurter. Auch sein Werturteil leitet sich her aus innerer Auflehnung gegen den Zusammenbruch jenes Welteneinheitsideals des Mittelalters. Stärker vielleicht noch als die Kollegen mußte Hurter sich zur Empörung veranlaßt fühlen, hatte er doch als einziger in seinen Mittelalter-Studien nicht bloß die Wirklichkeit dem Ideal kontrastiert, sondern das Ideal in der „Weltherrschaft" des Papstes Innozenz für realisiert erklärt. Solcherart motivierter Empörung mußte die Reformation vornehmlich als Zerrissenheit und Subjektivismus erscheinen, als Heraustreten aus
226 227 228 229
Ebd., S. 144. Ebd. Ebd., S. 145/146. Höfler an Döllinger, 13.12.1861 (BSB, NL Döllinger, Döllingeriana Π).
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dem Kreise, der alles um eine Mitte ordnet. 230 Origineller und neue Wege vorwegnehmend greift aber Hurters komparative Analyse der Reformation des sechzehnten Jahrhunderts und der Revolutionen seiner eigenen Zeit - 1830 zu. Zwar verhehlt er nicht die unterschiedlichen Ansätze beider, hier die „kirchliche" Reformation, dort die „politische" Revolution, zeigt sich gleichwohl aber höchst „überrascht von der merkwürdigen Gleichartigkeit, welche durch beide Bewegungen sich durchzieht."231 Nicht nur auf das Luthertum beschränkt sich Hurters Blickfeld, auch - einem reformierten Schweizer selbstverständlich Zwinglianismus, Calvinismus und Wiedertäuferei bezieht er mit ein, kann revolutionäre Stadien aller Art, von bescheiden dogmatischen Anfangen bis zum Terror also wohl aufspüren. Reformation und Revolution: beide, so Hurter, zerstörten jedwede Autorität, indem sie die Menge aufhetzten mit Schlagworten und Parolen. Stünden der modernen Revolution dafür Zeitungen zur Verfügung, habe sich die Reformation Kanzelpredigten und Flugblättern bedient; Geschichtsverfalschung gehöre zum Werkzeug des Reformators wie des Revolutionärs. Das Prinzip des Demagogen laute innerhalb beider Bewegungen Masse gegen Intelligenz; so lange opportun, legitimiere sich die Herrschaft hier wie da aus der Akklamation der Straße; ziehe die Plebs nicht mehr mit, trete die Fratze der Diktatur nur zu bald hervor. Stereotyp folge dem Sieg von Reformation oder Revolution der Versuch, alles Gegnerische, alle Opposition auszurotten, sei es mit äußerster Gewalt, mindestens aber durch Herabsetzung, Verunglimpfung jeglicher Kritik. So greife der Gesinnungsterror schließlich ein in alle Bereiche des Lebens, besonders aber, durch Gleichschaltung von Schule und Unterricht, in die Ausbildung der Jugend.232 - Hurter verifiziert seine Beobachtungen am konkret historischen Demonstrationsobjekt der Reformation in Basel;233 „ein Bild kann für alle gelten, weil die wesentlichsten Züge überall die gleichen sind, die Verschiedenheit nur in unbedeutender Schattierung besteht."234 Ungeachtet aller reaktionären Klischees, die Hurter in seinen Reformationsstudien aufwendet, um nur allzu schnell, allzu erwünscht die restlose Verworfenheit revolutionärer Prozesse zu demonstrieren, erscheint der rudimentäre Ansatz zum Strukturvergleich doch bemerkenswert. Existieren innerhalb der Geschichte stereotype Ablaufmuster, die sich in den verschiedensten Situationen immer neu wieder entfalten? Könnte „Revolution" ein solches Ablaufmuster darstellen? Ohne Zweifel, Hurter liefert seine Antworten etwas vorschnell. Er versucht erst gar nicht, den Eindruck zu vermeiden, daß vor seiner 230 231 232 233 234
Hurter, GuW I, S. 239-251 und 375. Ebd. I, S. 539. Soweit die Essenz der ausführlichen Passage Hurters in GuW I, S. 539-567. Ebd. I, S. 580-589. Ebd. I, S. 580.
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historiographischen Analyse die Ideologie vom ewigen Kampf des Bewahrenden, Erhaltenden, ergo Guten, gegen den neuerungssüchtigen Teufel umstürzlerischer und einreißender Gewaltanmaßung stehe, und daß jeder Blick in die Geschichte diese nie endende Auseinandersetzung sogleich erspähen könne. Gleichwohl weist Hurters Ansatz auf Kommendes voraus. Wie aufschlußreich eine strukturanalytische Beschreibung der Reformation als Revolution sich tatsächlich gestalten kann, sobald der weltanschaulich-ideologischen Wertung ein wirklich „unvoreingenommen" forschendes, methodisch zielgerichtetes Streben nach geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis vorausgeht oder sich wenigstens ehrlich um solches Vorausgehen bemüht, anstatt in der Geschichte lediglich die Bestätigung bereits bestehender überzeitlicher Wahrheiten zu suchen, wird innerhalb der zweiten Generation großdeutscher Historiker Carl Adolf Cornelius mit seinen Wiedertäuferstudien erweisen. Was Hurter nur unvollkommen andeutet und umsetzt, wird Cornelius in die bestechendste Form gießen.235
Gleich Döllinger beurteilt Hurter die Reformation vor allem in bezug auf die una sancta ecclesia. Auch Hurters schwerster Vorwurf an die Reformatoren betrifft deren Zerstörung der kirchlichen Autonomie.236 Hinsichtlich der Bedeutung der Reformation für die weitere Geschichte des Reiches geht Hurter weniger ins Detail. Selbstverständlich, deren Einschätzung aus katholizistisch-konservativer und großdeutscher Perspektive hatte ja Döllinger am Rande bereits skizziert, hatte Höfler präzisiert, und Hurter fallt da insgesamt nicht aus dem Rahmen. Wie aber bewerten jene beiden Historiker den Komplex „Reformation und Reichsgeschichte", in deren Reformationsdeutung das Reich eine ausgeprägtere Rolle spielt? Nirgends tritt im historiographischen Schaffen der großdeutschen Historiker erster Generation so deutlich vor Augen, wie nahe im Koordinatensystem jener Geschichtsauffassung die Frage der deutschen Einheit dem Problem der Kirchenspaltung benachbart lag, als in den Arbeiten Böhmers und Gfrörers. Die längeren und differenzierteren Linien zu ziehen, verstand dabei der Frankfurter Stadtbibliothekar. Aus den Zerfallserscheinungen des mittelalterlichen Einheitsideals seit Kaiser Friedrich II. - das war ja bereits zu beobachten - leitete er sich ein Deutungsmuster her, welches ihm das Gedeihen der Reformation im deutschen Reich erklären konnte. Die destruktiven Kräfte treten innerhalb dieses 235
Vgl. v. a. Carl Adolf Cornelius: Die Münsterischen Humanisten und ihr Verhältnis zur Reformation. Ein historischer Versuch, Münster 1851; ders.: Der Antheil Ostfrieslands an der Reformation bis zum Jahr 1535, ebd. 1852; ders.: Berichte der Augenzeugen über das Münsterische Wiedertäuferreich, ebd. 1853 (= Geschichtsquellen des Bisthums Münster, Bd. 2); ders.: Geschichte des Münsterschen Aufruhrs, Bd. I: Die Reformation, Leipzig 1855, Bd. Π: Die Wiedertäufer, ebd. 1860. 236 Hurter, GuW Π, S. 7-23, insbes. S. 20/21.
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Deutungsmusters in großartige Wechselwirkung: Überhebung und Fall der obersten weltlichen Instanz stärkt die aufstrebenden Partikulargewalten; die Kündigung des Bündnisses von Imperium und Sacerdotium stürzt nicht nur den imperialen Kündiger, sondern auch den papalen Partner in Machtlosigkeit. Keiner von beiden vermag schließlich der - berechtigt oder nicht - aufflammenden Kirchenkritik wirkungsvoll Widerstand zu leisten. Keiner von beiden vermag das Eintreten ehrgeiziger Partikulargewalten für das reformatorische Anliegen zu verhindern, vermag den endgültigen Abschied des alten Ideals hinauszuzögern, der definitiven Spaltung des Reiches Einhalt zu gebieten. Bestünde angesichts solcher Auffassungen die Aufgabe des großdeutschen, „kaiserlichen" Geschichtsschreibers nicht in einem Beitrag zur Überwindung des geistig-konfessionellen Grabens als einer unabdingbaren Vorstufe der politischen Einigung? Tatsächlich berichtet Janssen von Plänen Böhmers bereits der zwanziger Jahre, eine Zusammenstellung persönlicher Charakteristiken, von Briefen und Selbstbekenntnissen zentraler Handlungsträger der Reformation zu publizieren, um durch besseres Kennenlernen Heilmittel zu finden „für eine Annäherung und einstige Wiedervereinigung der Getrennten." Nur auf diese Weise sei ein wesentlicher Schritt möglich gegen die innere Krankheit des deutschen Volkes seit der Reformation, gegen die Spaltung in zwei „sich einander bekämpfende Theile." 237 Das Werk, wäre es denn entstanden, hätte wohl als Präfiguration der „Reformation" Döllingers gelten können. Böhmer aber wandte seine Aufmerksamkeit schließlich doch einem anderen Arbeitsfeld zu; seine Diagnose, seine Forderungen hingegen blieben. Die neueren Streitigkeiten zwischen Süd- und Norddeutschen, schrieb er 1846 an Pertz, knüpften sich seiner Ansicht nach „fast nur an die religiöse Trennung." 238 Wolle man die überwinden, seien auch Anstrengungen auf dem Gebiete der Geschichte vonnöten, um der „objectiven Wahrheit" zum Durchbruch zu verhelfen. „Kaum ein Theil der Geschichte Deutschlands bedarf solcher Hülfe mehr, als die Reformationsperiode." 239 Auch August Friedrich Gfrörer begriff seine Historiographie als Beitrag und Vorstufe zur Überwindung der geistigen und politischen Spaltung, nicht erst, aber besonders in der zweiten Auflage des „Gustav Adolph". Ein Ziel vor allem stand ihm bei seiner Arbeit vor Augen: der politischen Einigung Deutschlands Vorschub zu leisten durch die Erforschung und Erzählung seiner Geschichte im „ghibellinischen" Sinn sowie durch den implizit wie explizit formulierten Aufruf zur Reunion der Konfessionen. Gfrörers diesbezügliches, aktuell-politisches 237
Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 131/132. Weder im NL Böhmer noch im NL Janssen (Fribourg) waren von diesen Plänen Spuren zu finden; auch die von Janssen hier zitierten Aufzeichnungen Böhmers haben sich offensichtlich nicht erhalten. 238 Böhmer an Pertz, 6.9.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 453). 239 Böhmer an F. X. Remling, 23.6.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 446).
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Manifest in der Vorrede zum zweiten Band der „Carolinger" sollte von seiner geistigen Verankerung im Geschichtsbild der Großdeutschen nicht abgetrennt betrachtet werden; erst dann gewinnt es an Verständlichkeit, die freilich das grundsätzliche Erstaunen über Gfrörers höchst eigenwillige politische Nutzanwendung dieses Geschichtsbildes nicht mindert. 240 Gfrörers persönlicher Werdegang erfordert Berücksichtigung auch in Hinsicht auf das Verständnis seiner Äußerungen zur Reformationsgeschichte. Nicht weniger windungsreich als im Falle der Frage nach „universaler" oder „nationaler" Perspektive, nach „ständisch" stärker oder schwächer eingehegter Zentralgewalt, verläuft sein Weg zur „Einsicht, [...] die Erniedrigung unseres Vaterlandes" sei bedingt „durch die heillose religiöse Zerklüftung." 241 Ein Unterschied zu den Irrungen der „Carolinger" bleibt allerdings: im Falle der Reformationsdeutung langt Gfrörer letzten Endes doch bei einer relativ klaren Position an. Bereits in der ersten Auflage des „Gustav Adolph" sucht Gfrörer Zuflucht zu abenteuerlichen Konstruktionen, um die zwei Seelen seiner Brust im Gleichgewicht zu halten. Deutlich kennzeichnet er schon hier seinen Standpunkt als „ghibellinisch",242 muß also der kaiserlichen Politik wenigstens mit Wohlwollen gegenüberstehen, ohne allerdings die gesamte universalistisch-imperiale Idee des abendländischen Kaisertums, dessen idealiter unlösbaren Konnex mit dem Papsttum, wirklich anerkennen zu können. Andererseits fallt dem protestantischen Theologen der Schritt zur Ablehnung der Reformation noch schwer, erkennt er in dieser doch eine „demokratische" Befreiungstat vom Joche papaler Geistesknechtschaft. 243 Im Zwiespalt seiner Bewertungen sucht Gfrörer einer Synthese der sich abstoßenden Pole das Wort zu reden, mischt von beiden jeweils nur diejenigen Bestandteile, welche ihm zweckdienlich scheinen und votiert für die Option eines „protestantischen Kaisertums", konkret, für einen protestantischen Kaiser Karl V. 2 4 4
240
Zu Gfrörers, JCircheneinigungsplan" vgl. u. S. 442-449. Gfrörer, Autobiographie (s. Lebenswege, Anm. 129), S. 29. 242 Gfrörer, Gustav Adolph, 1. Aufl., Vorrede, S. XVÜ/XVIII. 243 Ebd., S. 313/314: „In Allewege ist das eine demokratische Bewegung, die sich auf Wahrheit, auf Recht, auf dasjenige, was allen Menschen (nicht einzelnen Klassen), heilig seyn soll, von vome herein, als auf ihre einzige Stütze und mit großem Ernste beruft. [...] Diejenigen welche behaupten, die teutsche Reformation sey keine demokratische Bewegung gewesen, weil Luther sich dem wilden Aufruhr des Volkes widersezt, haben Unrecht, ihr Irrthum hat darin seinen Grund, daß sie unter Demokratie nur Gewalttaten des Haufens verstehen, was wir für einen ganz falschen Begriff des Wortes halten." 244 Gfrörers in historischen Konjunktiven und ohne präzisen Rekurs auf eine bestimmte Quellenbasis gehaltene Erwägungen beziehen sich nicht auf die später dann von Duchhardt erforschte frühneuzeitliche „Diskussion über die Konfession des Kaisers in 241
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Welche Grundeinstellung nämlich definiert Gfrörer erst als „Ghibellinen"? Die Überzeugung von der Notwendigkeit starker, einheitlicher Zentralgewalt, wolle Deutschland als mächtiges Reich erblühen.245 Und welches Verdienst schreibt er dem Reformator in der Hauptsache zu? Die Auslösung einer wahrhaft „nationalen" Bewegung auf breiter Basis mit dem Ziel geistiger Emanzipation des deutschen Volkes. Luthers ,,Haß gegen das Papstthum nahm von vorne herein eine ganz nationale, teutsche Richtung. [...] Während er die Anmaßungen der römischen Kirche niederschlägt, erhebt er das kaiserliche Recht hoch empor." 246 Auch Gfrörer bringt den Begriff der „Revolution" ins Spiel, nicht jedoch in pejorativem Sinne; als „positive" Revolution vielmehr habe sich die Reformation gerade dadurch erwiesen, daß sie „den wichtigsten Theil des Bestehenden, den Staat oder hier das Kaiserthum", so außerordentlich begünstigte.247 „Alle geistigen Fähigkeiten, die nicht an das Interesse der Kirche durch besondere Vortheile gekettet waren, fühlten für die Reformation"; diese hinwiederum stellte die weltliche Autorität nicht in Frage. „Luther war ein durch und durch ghibellinischer Kirchenreformator." 248 Kurz, hätte sich nur Karl V. beizeiten auf die Seite der Reformation geschlagen, hätte er sich in einen protestantischen Kaiser verwandelt, - welche Stärkung hätte seine Position erfahren durch den Impetus der Bewegung, wie schnell hätte er auf deren Rücken die Macht in ganz Deutschland erobert, sich als unumschränkter Herrscher etabliert! Die Synthese von Ghibellinentum und Reformation wäre gelungen. Welche Verwicklungen wären Deutschland erspart geblieben!249
Politik, Publizistik und Staatsrecht." Während es Duchhardt darum geht, nachzuvollziehen, „welche Persönlichkeiten außer den Habsburgern, und zwar, noch enger umgrenzt, aus dem Kreis der protestantischen Fürsten, in der Frühen Neuzeit überhaupt noch Interesse an der Kaiserkrone gezeigt haben, auf wen man die Hoffnung setzte bzw. von wem man befürchtete, er werde sich um die Kaiserwürde bemühen" (Duchhardt, S. 1), interessiert Gfrörer der Komplex „protestantisches Kaisertum" ausschließlich unter dem Aspekt einer Konversion Karls V. selbst. Zu dessen Zeit scheint sichfreilich ein solcher Gedanke nie in greifbarer Form ausgebildet zu haben, was zentral - wie ebenfalls Duchhardt ausführt - mit der Kaiseridee Karls zusammenhängt (ebd., S. 8-28; s. auch Anm. 253). Überhaupt seien lediglich „erste Ansätze" der Diskussion um ein protestantisches Kaisertum in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts zu lokalisieren; die Blütezeit der Spekulationen und Projekte" sieht Duchhardt mit der Wahl Maximilians II. 1562 beginnen (ebd., S. 52). 245 Gfrörer, Gustav Adolph, 1. Aufl., Vorrede, S. XX: „Einheit und Kraft der Staatsgewalt oder der Krone [...] ist das nothwendigste und nützlichste Ding." 246 Ebd., S. 304. 247 Ebd., S. 305. 248 Ebd., S. 307 und 304. 249 Ebd., S. 305-307.
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Karl V. habe sich dazu leider nicht entschließen können. - Erst nach dem Abwinken des Kaisers, fuhrt Gfrörer weiter aus, sei die Reformation auf abschüssiges Terrain geraten. „Ihr Wesen wurde von nun an ein anderes. Aus des Kaisers Palaste vertrieben, mußte sie Schutz suchen bei der Aristokratie des Reichs, dadurch büßte sie ihren hohen politischen Charakter ein. Die kühne Ghibellinin, welche seit ihrer Geburtsstunde dazu bestimmt schien, alle, nicht nur die kirchlichen Mißbräuche abzuschaffen und den alten Glanz germanischer Nation wieder herzustellen, wurde zur Schützlingin der Fürsten, bald zur Pfahlund Spiesbürgerin des Reichs."250 Ghibelline Gfrörer benötigt seine ganze argumentative Kraft, um angesichts dieser für ihn bedauerlichen Entwicklung darzulegen, daß der Kaiser gleichwohl nicht als Versager, sondern als eines der verständigsten Häupter auf dem Kaiserthrone überhaupt zu beurteilen sei. 251 Karls Persönlichkeitsstruktur, seine Erziehung, die spanische Krone sowie außenpolitische Orientierungen im allgemeinen, dienen Gfrörer zur Konstruktion einer kaiserlichen Zwangslage, welche dem Imperator keinen Handlungsspielraum gelassen habe. 252 Daß Karl V. allein vom Grundverständnis seiner kaiserlichen Würde sowie von seiner Auffassung des Imperiums her niemals willens und in der Lage gewesen wäre, vom römischen Glauben abzufallen, 253 berücksichtigt Gfrörer nicht; zu sehr nährt sich sein Ghibellinismus auf dieser Stufe aus einem Wunschbild deutscher Geschichte, welches das Bündnis der „guten" Teile des Kaisertums mit den „guten" Teilen der Reformation zum vermeintlichen Garanten nationaler Stärke hochstilisiert. Da spielt noch reichlich aufklärerisches Schablonendenken mit, so, als hätte das nach rationalen Erwägungen vielleicht sinnvolle Modell eines Bündnisses zwischen Karl V. und Luther lediglich des Entwurfs auf dem Reißbrett bedurft, um, ebenso rational realisiert, fürderhin dem Wohle Deutschlands dienen zu können.
250
Ebd., S. 316. Ebd., S. 308. 252 Ebd., S. 308-314. 253 Hierzu Duchhardt, S. 8-12, hier S. 8/9: „Die Forschung ist sich im wesentlichen einig darüber, daß Karl V. eine zugleich im humanistischen Geist erzogene wie von tiefer kirchlicher Religiosität erfüllte Persönlichkeit war. In der durch unvorhersehbare Entwicklungen ererbten riesigen Machtfülle [...] erblickte er eine sichtliche Fügung und einen Auftrag Gottes, der Kaiseridee und damit der Idee vom Heiligen Reich zur Verwirklichung zu verhelfen." Ebd., S. 10/11: „Die Voraussetzung für Karls Kaiseridee bildete das konstantinisch-mittelalterliche Postulat des einen, einheitlichen Glaubens und Kultes im Reich. Die lutherische Bewegung, der Abfall von der römischen Obedienz [...] mußte dem advocatus papae [...] nicht nur als eine innerkirchliche Entwicklung, sondern als eine Gefahrdung seiner eigenen Reichs- und Kaiseridee erscheinen. Die Religion bildete die geistige Voraussetzung des Reiches; eine neue, im Gegensatz zur römischen Kirche stehende religiöse Form mußte eine Infragestellung der überlieferten Reichsordnung implizieren." 251
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Daneben fordern neue Deutungsmuster ihr Recht, auch bereits innerhalb jener ersten Auflage des „Gustav Adolph". Einer der Hauptvorwürfe katholizistisch-konservativer und großdeutscher Reformationskritik, derjenige des schändlichen Bündnisses der Reformatoren mit den Territorialgewalten, spricht schon sehr deutlich aus Gfrörers Kennzeichnung der zweiten, „degenerierten" Phase der Reformation. Offenbar empfand Gfrörer selbst seine Konstruktion eines protestantischen Karl V. zu bald schon als spekulatives Wunschdenken und beschloß, seinen „ghibellinischen" Blickwinkel auf die Reformationszeit von einer anderen Basis aus neu zu justieren. Er akzeptierte die Unmöglichkeit, das Kaisertum im Verständnis Karls V. vom römischen Katholizismus ohne Gewalt trennen zu können und schwenkte im folgenden konsequent auf die Hauptlinie katholizistisch-konservativer, großdeutscher Interpretation ein. Wiederum belegt die Schrift „Tiare und Krone", 1838 nur ein Jahr später erschienen als die erste Auflage des „Gustav Adolph", wohin Gfrörer steuerte. Keine Spaltung der Reformation in einen „guten" und „schlechten" Teil, nur letzterer noch scheint da auf. Die Gier der Landesherren auf die Kirchengüter allein habe den Reformatoren Unterbau und Durchsetzungskraft verliehen. 254 Und schließlich setzt Gfrörer in der überarbeiteten Auflage des „Gustav Adolph", 1845, ganz andere Akzente: „Auch sehr viele neuere Gelehrte sind im Hinblick auf die spätere Entwicklung der Dinge der Ansicht, daß die Reformation zum Segen Teutschlands ausgeschlagen wäre, hätte Karl V zu Worms den deutschen Reformator in Schutz genommen. Wir glauben, daß der Kaiser nicht anders handeln konnte, als er gehandelt hat." 255 Gfrörer entwickelt nach solch vorsichtigem doch aber unverkennbarem Abrücken von seiner Option des „protestantischen Kaisertums" kein neues Erklärungsmodell, diagnostiziert lediglich noch eine tragische, schicksalshafte Konstellation als verantwortlich für den weiteren unglücklichen Verlauf deutscher Geschichte. Durch die Wormser Achterklärung, der definitiven Absage des Kaisers an den Reformator, sah sich Luther zwangsläufig „der Reichsaristokratie in die Arme geworfen und genöthigt, ihren Dank zu verdienen." 256 So weit wie die Böhmerschen ins Mittelalter greifen Gfrörers Ansätze, den Durchbruch der Reformation in Deutschland zu erklären, nicht zurück. Kein Wort auch mehr über den „teutschen", nationalen Charakter der Reformation. Im Gegenteil, stetig habe diese das Reich auf einen weiteren Tiefpunkt seiner Entwicklung geführt. „Es ist [...] klar und der Erfolg hat es bewiesen, daß die Reformation [...] zur Erniedrigung der kaiserlichen Macht, folglich auch zum Umstürze der Reichseinheit, und zum politischen Verderben der Nation ausschlagen mußte. Denn wie konnte der Kaiser fürder den Übermuth 254 255 256
Gfrörer, Tiare und Krone, S. 4. Gfrörer, Gustav Adolph, 2. Aufl., S. 233. Ebd.
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der Fürsten bemeistern, wenn diese durch Plünderung des Kirchenguts ihre Macht verdoppelten."257 Der Option des „protestantischen Kaisertums" entkleidet, bleibt Gfrörers modifiziertem „Ghibellinismus" kaum mehr etwas anderes übrig, denn die Reformation insgesamt als deutsches Unglück abzulehnen. Worin aber hätte sein so sich ausgestaltendes Ghibellinentum nun einen Ausweg erkennen können aus der Schwäche des Reiches zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts, welche es mitverantwortlich erklärte für den schließlichen Sieg der Reformation? Politische wie kirchliche Reformbedürftigkeit leugnete es ja durchaus nicht, leugnete nicht die unhaltbare Lage der kaiserlichen Zentralgewalt in der Zange zwischen den Ansprüchen geistlicher wie weltlicher Partikulargewalten. Eine Chance habe tatsächlich bestanden. Originell, ja singulär innerhalb der ersten Generation großdeutscher Historiker verweist Gfrörer auf die Reichsreformbestrebungen des ausgehenden fünfzehnten Jahrhunderts, 258 speziell der Reichstage von 1495 und 1500, unter der antreibenden Ägide des Grafen Berthold von Henneberg, Erzbischofs von Mainz. 259 Bemerkenswert erscheint ihm daran der Versuch, das Reich straffer zu organisieren, das Bestreben aller Kräfte, einmal zum Aufbau der Res Publica zusammenzuwirken, anstatt immer nur die partikularen Interessen zu verfolgen. Unnötig zu betonen: Probleme der Gegenwart Gfrörers leiten ein weiteres Mal den Blick auf die Geschichte. Ganz besonders nämlich sucht Gfrörer jene Züge der Reichsreform herauszuheben, welche sich im Sinne der Etablierung einer Art „ständischer Verfassung" begreifen lassen. Deutlicher als die „Carolinger" zeigen diese Ausführungen, daß Gfrörers Ghibellinismus den ungebunden regierenden, absoluten Herrscher nicht akzeptiert: der Kaiser bilde lediglich die unumstrittene Spitze eines präzise verfaßten Systems gegenseitiger Kontrolle aller politisch relevanten Kräfte. Auf der Gegenseite sei freilich das übermäßige Machtstreben der großen Reichsfürsten durch Einbindung sowie Ausrichtung ihrer Interessen auf den Zweck des Ganzen unter Kontrolle zu bringen. In den Vorschlägen der Reichsreformer des ausgehenden fünfzehnten und beginnenden sechzehnten Jahrhunderts bezüglich der Einrichtung eines Reichsregimentes, der Einberufung allgemeiner Reichstage, der Etablierung eines zentralen Reichsgerichts, schließlich der Erhebung einer allgemeinen Reichssteuer, des gemeinen Pfennigs, erkennt Gfrörer wünschenswerte Schritte in Richtung einer solchen Verfassung. „Das Reich, bis dahin eine wüste formlose Masse, wo eine Faust die andere bekämpfte, stand auf dem Punkt sich in einen wohlgegliederten Staat zu ver-
257
Ebd., S. 235. Erst Carl Adolf Cornelius wird Jahre später auf die Reichsreform wieder zu sprechen kommen. Cornelius, Geschichte des Münsterschen Aufruhrs Π, S. 1-5; ders.: Über die deutschen Einheitsbestrebungen im 16. Jahrhundert, München 1862. 259 Gfrörer, Gustav Adolph, 2. Aufl., S. 224-228. 258
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wandeln [...]. Ein gemeinsames, die Ehrsucht der einzelnen großen Stände hemmendes, die öffentliche Wohlfahrt forderndes Band sollte wieder alle Teutsche umschlingen. Ferner ist klar, daß die von Berthold's Parthei beschlossenen jährlichen Landtage den Keim einer doppelten ständischen Macht, eines Oberhauses, das aus den geistlichen und weltlichen Fürsten, und eines Unterhauses in sich Schloß, das aus den Städten gebildet werden mochte. Alles ließ sich so an, als würden die deutschen Verhältnisse hinfort dieselbe Wendung nehmen, wie in England."260 Nie hätte in einem dermaßen wohlgeordneten Staat eine der kirchenreformatorischen ähnliche Bewegung Fuß fassen können. Die Voraussetzungen dazu wären schlicht entfallen. Denn, „die unförmliche Verfassung des Reiches, die Zwietracht der Stände war es, was dem Pabst die Möglichkeit verlieh, seine Zumuthungen an Teutschland bis zur Ungebühr zu steigern; ein starkes Regiment würde ohne Schwierigkeit den Einfluß Roms auf ein billiges Maaß herabgedrückt haben, wie es wirklich in Spanien und Frankreich geschah."261 Kaiser Maximilian jedoch habe - und da trifft der Vorwurf des Ghibellinen einmal ein Reichsoberhaupt - Bertholds Reichsreformbestrebungen nicht wirklich unterstützt, habe, eine große Aufgabe freilich, nicht die Hände geboten „zur Beschränkung seiner eigenen, durch das Herkommen geheiligten Herrscherrechte", habe nicht zugunsten des Gesamtwohls auf eigennützige Hausmachtpolitik verzichtet. „Der Preis, der ihm winkte", schließt Gfrörer mit Bedauern, wäre „eines solchen Opfers werth gewesen."262 Gfrörer präsentiert sein Geschichtscredo im Lichte eines kontrollierten, ständisch verfaßten Ghibellinismus. Wie in den „Carolingern" projiziert er seine politischen Lieblingsideen auch im „Gustav Adolph" zurück auf die Vergangenheit. Seine optimistische Einschätzung, die von der Reichsreform intendierte politische Umstrukturierung des Reichskörpers hätte bei konsequenter Umsetzung auch erfolgreich sein müssen, speist sich doch eher aus der Überzeugung von der grundsätzlichen Tauglichkeit einer Idealverfassung nach englischem Vorbild, denn aus der nüchternen Betrachtung der reichsgeschichtlichen Realitäten des ausgehenden fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts. Auch hier kommen einmal wieder die aufklärerisch-rationalistischen Wurzeln des Gfrörerschen Denkens zum Ausdruck. 263 Immerhin jedoch verlaufen für ihn die
260
Ebd., S. 226. Ebd., S. 228. 262 Ebd., S. 227. 263 Mit weniger Optimismus als Gfrörer debattiert die moderne Forschung, ob die Reichsreform überhaupt als ,Ansatz zu staatlicher Verdichtung der Reichsverfassung" verstanden werden kann (bes. Heinz Angermeier). Gleichfalls steht zumindest in Zweifel, inwiefern die tatsächlich ja vorhandenen „ständischen" Elemente bei größerem Erfolg der Reform insgesamt jene von Gfrörer erhoffte Eindämmung des einzelfürst261
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Fronten im sechzehnten Jahrhundert klarer, denn im neunten. Bereitet ihm dort die Anpassung seines Begriffes „Stand" an die historische Wirklichkeit Schwierigkeiten, entstehen Widersprüche und Ambivalenzen, weil ihm die späten Karolinger dessen exakte inhaltliche Füllung verweigern, 264 so erlaubt ihm die ausdifferenzierte Situation der Reformationszeit präzisere Aussagen: starke Zentralgewalt unter der Bedingimg „ständischer", das heißt reichsfürstlicher wie reichsstädtischer Kontrolle: ja - starke Partikulargewalten mit dem separatistischen Bestreben, ihre Territorien zu selbständiger Staatlichkeit zu arrondieren: nein! Das Scheitern der Reichsreform habe jedoch gerade letztere Entwicklung außerordentlich begünstigt. Mit dem vorwiegenden Ziel, die eigene Macht auszubauen, so Gfrörer, nahmen sich die Landesfürsten der Reformation an, bereicherten sich nicht nur am Kirchengut, sondern stürzten gleichzeitig ein uraltes Prinzip „latinisch-germanischer Freiheit". Jenes zweite große Thema der „Carolinger" fehlt auch im „Gustav Adolph" nicht: die Forderung nach dem Dualismus von Kirche und Staat, unverzichtbarer Bestandteil katholizistischkonservativer, großdeutscher Geschichtsbilder. „Denn da Kirche und Staat, Priesterthum und königliche Gewalt sich gegenseitig beschränkten, konnte im Mittelalter nirgend eine geregelte Tyrannei aufkeimen. Dieß wurde durch die Reformation anders. Nachdem man das Joch Roms abgeschüttelt, erbten in den lutherischen Gebieten die Landesfürsten den ganzen Nachlaß des Pabsts, d. h. sowohl seine oberherrliche Gewalt über die Kirche, als seine Einkünfte." 265 Der Augsburger Religionsfriede habe jene Sachlage schließlich in Gesetzesform festgeschrieben, 266 die „Nacht der Trübsal" 267 sei über Deutschland hereingebrochen. Gfrörer hatte in der zweiten Auflage des „Gustav Adolph" die Genese seiner „ghibellinischen" Grundanschauungen deutscher Geschichte vollendet. Mit diesen nahm er drei Jahre später die Bearbeitung der spätkarolingischen Periode auf, und diese trugen ihr Teil bei zu den Ambivalenzen der „Carolinger". Zu inkommensurabel waren die Eckwerte des „Ghibellinismus" dem Europa des
liehen Machtdranges zugunsten einer Konzentration auf das Reichsganze wirklich hervorgerufen hätten. Denn abgesehen vom Reichsregiment „behaupteten sich die Institutionen der ständischen Reichsreform durchaus", v. a. im Reichstag; von einer Stärkung des Reichs als Einheit konnte aber trotzdem kaum die Rede sein. Überblick, Bemerkungen zum Forschungsstand und Literatur bei Horst Rabe: Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 1500-1600, München 1989 (= Die neue deutsche Geschichte, Bd. 4), S. 76-85; die Zitate ebd., S. 76/77. 264 Vgl. o. S. 158-161. 265 Gfrörer, Gustav Adolph, 2. Aufl., S. 250. 266 Ebd., S. 248/249. 267 Gfrörer, Carolinger II, Vorrede, S. ΠΙ.
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neunten Jahrhunderts, als daß sie nicht Widersprüche hätten provozieren müssen. Ja sogar Gfrörers neugewonnenes Reformationsverständnis erscheint in den „Carolingern" wieder, wenn er den Streit um die Kirchenkritik des Mönches Gottschalk als eine Art Miniatur-Reformation nach identischem Deutungsmuster vorführt: Wer sich als hoher weltlicher Herr am Kirchengute bereichern wolle, schwinge sich lediglich zum Schutzherrn eines beliebigen theologischen Schreihalses auf, verhelfe dessen destruktiven Theoremen zur Durchsetzung und sich selbst via Enteignung der teufelsbesessenen Amtskirche in den Besitz deren materieller Güter! 268 Nacht der Trübsal - Reich und Reformation. Waren alle Weichen des weiteren Unglücksweges deutscher Geschichte mit der Festschreibung konfessioneller Spaltung im Augsburger Religionsfrieden unwiderruflich gestellt? In der Revolutionsdämmerung des Jahres 1848 erinnert Gfrörer an ein weiteres Schicksalsdatum, dessen Gedenken sich augenfälliger jähre: zwar im Augsburger Religionsfrieden vor gut 300 Jahren über Deutschland hereingebrochen, habe doch erst der „Westphälische Friedensvertrag" - genau 200 Jahre zurückliegend - die Nacht der Trübsal wirklich „versiegelt".269 Hätte demnach jenes knappe Jahrhundert zwischen den beiden denkwürdigen Ereignissen noch Möglichkeiten bereitgehalten, vom falschen Wege auf denrichtigenzurückzufinden?
Die Ansicht, daß der Augsburger Religionsfriede keineswegs schon das Ende aller Hofihungen für ein Wiedererstarken des Heiligen Römischen Reiches bedeutete, entsprang nicht lediglich einer Gfrörerschen Privatinterpretation. Constantin Höfler etwa betonte den Kompromißcharakter des Religionsfriedens, der ja nicht allein die - der Confessio Augustana anhängenden - Protestanten begünstigte, sondern auch der schwer angeschlagenen katholischen Seite zumindest eine Atempause verschaffte. So sei es wenigstens gelungen, der drohenden vollständigen „Säcularisation reichsstandschaftlicher Territorien" Einhalt zu gebieten. So konnte die „ruhige besonnene Klugheit Kaiser Ferdinands I." daran gehen, dem Reiche wieder aufzuhelfen, in Interaktion mit der gegenreformatorischen Bewegung innerhalb der katholischen Kirche sowie den Beschlüssen des Tridentinums. Höfler erkannte darin Anzeichen eines Wiedererstarkens genug, - „allein diesen [...] conservativen Momenten traten um dieselbe Zeit zwei destructive entgegen": das Eindringen des Calvinismus nach Deutschland sowie - ein europäischer Krisenfaktor - der Abfall der Niederlande von Spanien, eruptiv ins niederrheinische Reichsgebiet ausstrahlend. Gegen Widrigkeiten solcher Art, so Höflers Fazit, konnte der Geist der Regeneration nicht erfolgreich ankämpfen, konnte nicht kräftig genug erblühen, um der
268 269
1*
Ebd. I, S. 279; vgl. auch o. S. 162. Ebd. II, Vorrede, S. m.
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nach wie vor beherrschenden allgemeinen Sinnkrise im Reich entgegenzusteuern: ,AUes Vertrauen, alles Gefühl für Ehre und Nutzen des Reiches hatte seit Luthers Auftreten beinahe völlig aufgehört; das confessionelle Interesse verdrängte jedes andere. Je schwächer die Reichs- und Kaisergewalt wurde, welche nach dem Religionsfrieden sich wieder etwas erhoben hatte [...], desto unverhohlener griff man nach dem noch übrigen Kirchengut, verzweigten sich die Verbindungen nach außen." Heinrich IV. von Frankreich, calvinistische Propaganda im Reich, andauerndefranzösische Bestrebungen, die habsburgische Macht zu brechen, leisteten schließlich das Ihrige, um in einer calvinistisch-antihabsburgischen Verschwörung unter Benutzung des dümmlichen Friedrich V. von der Pfalz eine neuerliche „Revolution" auszulösen und das Reich endgültig in den Abgrund zu stoßen.270 Trotz des Eingeständnisses partiell positiver Auswirkungen kann der großdeutsche Historiker orthodox-katholischer Couleur allenfalls so weit gehen, den Augsburger Religionsfrieden als instabilen Deich zu betrachten, derfrüher oder später brechen mußte, um die Flut des reformationsbedingten Unglücks voll und ganz über Deutschland hereinbrechen zu lassen. Der Religionsfriede habe „die Wehen eines 30jährigen Krieges so lange von Teutschland ferne" gehalten, „bis die Begierde, mit Gewalt zu behaupten, was wider Sinn und Buchstaben des Friedens verbrochen worden war, zur offenen Rebellion und Verschwörung mit dem Auslande führte." 271 Immerhin wenigstens! Nichtsdestoweniger endet auch Höflers Version der deutschen Geschichtstragödie zwischen 1555 und 1648 zwangsläufig beim Westfälischen Frieden als dem endgültigen und unwiderruflichen Fanal. Aller individuellen Nuancierungen ungeachtet läuft auch Höflers Version auf jene Interpretationslinie hinaus, welche - wie schon im Falle der wichtigsten Komponenten der späteren katholizistisch-konservativen und großdeutschen Reformationsdeutung - spätestens seit der kompilatorischen Zusammenfassung durch Döllingers „Handbuch der christlichen Kirchengeschichte" von 1828 feststand. Erst im Westfälischen Frieden, heißt es da, erhielten die Vorgaben des Religionsfriedens volle Bestätigung und letzte Verbindlichkeit; erst im Westfälischen Frieden fand Deutschlands Unglück sozusagen seine Ratifikation. „Der verderbliche Einfluß auswärtiger Mächte auf Deutschlands Angelegenheiten" wurde durch jenes Abkommen „verfassungsmäßig begründet, der Rest der kaiserlichen Gewalt vollends gebrochen, dagegen die Territorialhoheit der Fürsten, auf Kosten der Freyheit des Bürgerstandes, gesteigert, und so das Band, welches bisher die Stände des Reiches zusammengehalten hatte, immer mehr gelöst. Die Religions-Spaltung aber war nun dahin gediehen, daß jetzt zwey mit 270
Der ganze Abschnitt nach Höfler, Art. „Reich, teutsches", S. 146/147. Constantin Höfler: Art. „Ferdinand I.", in: Wetzer und Welte IV (1850), S. 1215, hier S. 14. 27 1
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feindseligem Argwohn sich beobachtende Parteyen einander gegenüberstanden, die nur noch dem Scheine und dem Namen nach Glieder eines Körpers waren [...]; der Grund war gelegt zur völligen Auflösung des alten, ehrwürdigen Staatskörpers, ja zu aller Schmach, zu all dem Unheil, welches sich später über Deutschland in so reichem Maße ergossen hat." 272 Höfler, der besonders noch die Festschreibungfranzösischer und schwedischer „Präponderanz" in Deutschland durch den Westfälischen Frieden betont, 273 reihte sich in jene Deutungslinie ebenso ein wie Gfrörer. Letzterer vollzog diese Wendung im Zuge der Modifikation seines „Ghibellinismus", teils bereits innerhalb der ersten Auflage des „Gustav Adolph", teils im Übergang von der ersten zur zweiten. 1845 jedenfalls weicht Gfrörers Bewertung nicht mehr wesentlich von derjenigen Döllingers und Höflers ab. „Was hat uns der westphälische Friede gekostet! Macht, Ehre, Einheit, Nationalität, Selbstbewußtsein."274 Origineller jedoch, individueller noch als bei Höfler, erscheinen die Wege, auf denen Gfrörer dem Lauf deutscher Geschichte bis zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts folgt. Dieser Eindruck bezieht sich freilich nicht in erster Line auf die kühne Unverfrorenheit, womit Gfrörer seinen Geistesumschwung zur unverhohlen katholizistisch-konservativen, großdeutschen Auffassung innerhalb zweier Auflagen ein und desselben Werkes exerziert, eines Werkes, das ursprünglich dazu gedacht war, den Schwedenkönig wie auch den Westfälischen Frieden in ganz anderem Lichte erscheinen zu lassen.275 Der Eindruck entsteht zunächst allein aus der Analyse des Ergebnisses jener Unverfrorenheit - der zweiten Auflage des „Gustav Adolph" als einer Art „Normalfassung": 276 ein großdeutsches Grundbuch zur Geschichte Deutschlands jener Zeit, ein breit angelegtes Panorama der ersten Hälfte des Dreißigjährigen Krieges, weit zurückgreifend in die Reformationszeit, aber auch weit ausblickend auf Kommendes, viel mehr denn eine eigentliche Geschichte des Schwedenkönigs, welcher bereits in der ersten Auflage zu sehr am Rande piaziert war, um
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Döllinger, Handbuch der christlichen Kirchengeschichte, S. 483/484. Höfler, Art. „Reich, teutsches", S. 148. 274 Gfrörer, Gustav Adolph, 2. Aufl., S. 1018. 275 Vgl. die Ausführungen in Gfrörers Autobiographie über seine Sinneswandlungen schon während der Arbeit an der ersten Aufl. des „Gustav Adolph", o. S. 112. 276 Gfrörer selbst betrachtete die überarbeitete zweite Auflage als „bereinigte" Fassung, aus der seine „Art zu denken" beispielhaft hervorgehe (Gfrörer, Autobiographie s. Lebenswege, Anm. 129 - , S. 26: „Gfrörer hat diesen schreienden Mißton in der zweiten Auflage [...] nach Kräften verbessert", sowie Gfrörer an Andrée, ο. Lebenswege, Anm. 187). Die dritte Auflage, 1852, unterscheidet sich von der zweiten vor allem durch erhebliche Textkürzungen (ca. 125 Seiten weniger bei gleichem Satzspiegel) sowie durch handlichere Kapiteleinteilungen, nicht jedoch durch neue inhaltliche Aspekte oder Veränderungen. Erst nach Gfrörers Tod, 1863, erschien eine vierte Auflage, hg. von Onno Klopp (vgl. zum „Gustav Adolph" allgemein o. S. 112-114). 273
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wirkliche Hauptfigur sein zu können.277 Sicher, das Urteil über die eigene Originalität des „Gustav Adolph" bezieht Gfrörers Sprachgewalt ebenso ein, wie seine ungestüme Kraft der Darstellung, seine Liebe zur Detailschilderung und Charakterzeichnung. 278 Besonders und erneut aber weist es hin auf die eigenwillige Verwebung der Deutungstraditionen mit Gfrörers ganz persönlichen Zutaten: der Sorge um Größe und Einheit des Reiches, den historischen Konjunktiven über die verflossenen Chancen sowie den impliziten oder auch expliziten Appellen, solche Chancen bei neuer Gelegenheit nicht wieder zu vergeben. Im Gegensatz zu Höfler gewinnt Gfrörer dem Augsburger Religionsfrieden nichts Positives ab. Jener habe durch das Prinzip des „cuius regio eius religio" zusätzlich zu allem Übel auch noch das verderbliche Eindringen des Calvinismus nach Deutschland gefordert. 279 Die gegenreformatorischen Bemühungen innerhalb der katholischen Kirche, schließlich des Konzils - insgesamt begrüßenswert - , kamen für Deutschland zu spät und dienten im übrigen auch nicht primär der Stabilisierung des Kaisertums als dem Haupterfordernis eines Wiedererstarkens deutscher Staatlichkeit. In der Beurteilung der zweiten Hälfte des sechzehnten sowie der ersten des siebzehnten Jahrhunderts durch Höfler und Gfrörer treten erneut jene beiden Positionen innerhalb des katholizistischkonservativen, großdeutschen Geschichtsdenkens der ersten Generation auseinander, welche bereits im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von Papst- und Kaisertum im Mittelalter begegneten. Während Höflers Ausführungen noch in Hinblick auf die deutsche Nationalgeschichte des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts implizieren, was gut sei für die römische Kirche, sei per se auch gut für das Kaisertum, sprich für Deutschland, trennt Gfrörer wieder deutlich die beiden Sphären: hier die Wiedererweckung der Kirche in Gegenreformation und Konzil, das Abschaffen nahezu aller Mißbräuche, „wegen deren Luther sich ursprünglich erhoben hatte", die Rückeroberung lange verlorener Achtung der Völker, 280 dort das Reich, dessen Interessen durch diese kirchlichen Entwicklungen nicht automatisch mitgefördert wurden. 277
1. Aufl.: Buch I (Gustav Adolph und seine Zeit) und II (Gustav Adolphs erste Epoche): ca. 300 S.; dagegen Buch ΠΙ (Der dreißigjährige Krieg bis zum Jahr 1630): ca. 370 S. - 2. Aufl.: Buch I (Schwedische Geschichte von Gustav I. Wasa bis zum Frieden mit Polen 1629): 220 S.; dagegen Buch Π (Reichsgeschichte von der Reformation bis zur Entlassung Wallensteins 1630): 462 SA - 3. Aufl.: Buch I (Von Gustav I. Wasa bis zum Frieden mit Polen): ca. 170 S.; dagegen Buch Π (Reichsgeschichte von Maximilian I. bis zur Entlassung Wallensteins 1630): ca. 400 S. - Die beiden abschließenden Bücher (Gustav Adolph in Deutschland, 1630/1631 - Von Wallensteins Wiederberufung bis zum Tod Gustav Adolphs) verhalten sich quantitativ über alle drei Aufl. hinweg gleich (ca. 200 S. zu ca. 110 S.). 278 Vgl. beispielsweise Gfrörers „Nachruf4 aufTilly, Gustav Adolph, 2. Aufl., S. 946/947. 279 Ebd., S. 252/253. 280 Ebd., S. 254.
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Wo Höfler ein weiteres Mal die orthodox-katholische Position markiert päpstliche und kaiserliche Belange durchdringen und ergänzen sich zum einen Zweck - , stellt Gfrörer die Blöcke unverbunden nebeneinander, konstatiert überlappende Interessen, aber eben auch auseinanderklaffende. Besonders plastisch tritt ein solcher Interessenskonflikt aus Gfrörers Einschätzung der Rolle des Jesuitenordens im „Gustav Adolph" hervor. Beständig auf der Suche nach den „geheimen Triebfedern" des historischen Geschehens,281 rückt er die Gesellschaft Jesu in die Position eines verborgenen Drahtziehers des Dreißigjährigen Krieges. 282 Als hocheffiziente, pseudomilitärische Organisation zur Bekämpfung protestantischer Irrlehren 283 sieht Gfrörer die Jesuiten schon bald nach der Ordensgründung an den Schaltstellen katholischer Macht in Deutschland aktiv, am Kaiserhof in Wien ebenso wie im herzoglichen Bayern. Gfrörer glaubt, einen großen jesuitischen Feldzugsplan zur Rekatholisierung Deutschlands entdecken zu können, freilich nicht unter der Führung eines der schwächlichen Nachfolger Kaiser Maximilians II., sondern unter bayerischer Ägide. Kurz: die Gründung der katholischen Liga 1609 in München ein Werk der Gesellschaft Jesu! Die Annahme eines diplomatischen Spagats der Ordenspolitiker scheint Gfrörers Idee Plausibilität zu verleihen: ,Allein sie wünschten zwei Streiche mit einem Hiebe zu führen: der Protestantismus sollte 281
Über Gfrörers „Historische Mathematik" vgl. u. S. 264-272. Gfrörers Urteile über den Jesuitenorden variieren und hinterlassen insgesamt betrachtet den bekannten Eindruck von Ambivalenz. Im Grunde basieren sie wohl auf einerfrühen Bewunderung der Gesellschaft Jesu. So enthält gerade die 1. Aufl. des „Gustav Adolph", diejenige Aufl. also, in der am stärksten noch „protestantische" Geschichtsbilder vorherrschen, erstaunlicherweise auch die ausgeprägteste Jesuitenapologetik. Im Zuge der Überarbeitungen reduzierte Gfrörer diese Apologetik jedoch deutlich (vgl. Gfrörer an Döllinger, 2.5.1846 mit der Ankündigung, in der dritten Aufl. einen Passus über die Jesuiten zu entschärfen, um nicht Mißverständnisse zu erregen, Β SB, NL Döllinger, Döllingeriana Π). An seiner Haltung grundsätzlicher Bewunderung des Ordens änderte sich allerdings wenig: dessen Effizienz, Intelligenz und Schlagkraft schienen Gfrörer zu beeindrucken, unabhängig davon, daß diese Tugenden im Dienste der Kirche stehen, was er zumindest zur Zeit der Abfassung der ersten Aufl. noch bedauert hatte. - Die Jesuitenapologetik der drei ersten Auflagen des „Gustav Adolph" erscheint nicht automatisch in anderen Werken Gfrörers wieder. In „Die Tiare und die Krone" etwa kommen die Jesuiten ebenso schlecht weg (ζ. B. S. 88, 200) wie in der Vorrede zum zweiten Band der „Carolinger", worin Gfrörer gar ein Niederlassungsverbot für Jesuiten in Deutschland fordert (S. V). Detaillierte Einzelanalysen wären hier möglich, wenn auch mitfraglichem Erkenntnisgewinn: letztendlich dürften sie nur einmal mehr das Bild eines hin- und hergetriebenen Geistes bestätigen, den in nationalpolitischer Hinsicht allein die Vorstellung eines wiedererstarkten und einigen Reiches auf Grundlage des alten Kaisertums bewegte, wobei ihm die Rahmenbedingungen innerhalb gewisser Grenzen und je nach Gestaltung der aktuellen Situation disponibel blieben. 283 Gfrörer, Gustav Adolph, 2. Aufl., S. 254. 282
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erdrückt, und doch der Kaiser nicht mächtiger werden, als er es schon vorher war. Diese beiden Zwecke widersprachen sich. [...] Als Kirchenfürst mußte der heilige Vater allerdings um jeden Preis die Ausrottung der protestantischen Ketzereien wünschen, aber als Landesherr fühlte er die größte Eifersucht gegen Erneuerung kaiserlicher Gewalt." Nur ein schlauer Plan konnte aus dem Dilemma helfen: die Rekatholisierung Deutschlands, so beschreibt Gfrörer diesen Plan, stütze sich auf die beiden katholischen Vormächte, baue aber gleichzeitig die schwächere als Gegengewicht zur stärkeren auf, so daß diese nach anfälligem Sieg nicht so sehr erstarke, um wiederum die höchst säkularen politischen Interessen des Papstes durchkreuzen zu können. „Die Dynastie der Wittelsbacher, alte Nebenbuhlerin Österreichs, wurde ausersehen, den hohen Flug, den die kaiserliche Macht im bevorstehenden Religionskriege nehmen mochte, zu beschneiden, den Habsburgern das Gleichgewicht zu halten, und Teutschland in seiner alten Zerrissenheit zu bewahren. Die Aufstellung einer von Österreich unabhängigen Kriegsmacht unter dem Befehle des Herzogs von Bayern, neben den kaiserlichen Heeren, hat sich nicht bloß von selbst gegeben, sie ist vielmehr das Werk einer tiefen, weitaussehenden Politik." 284 Selbstverständlich kann eine solche Ausgangskonstellation dem Ghibellinen Gfrörer kaum gefallen, wenn er auch dem Vorgehen der Gesellschaft Jesu aus deren Sicht Bewunderung und Achtung zollen muß. Die Interessen des Kaisertums sieht er dagegen nicht gewahrt, eine sinnvolle Option auf Wiedererstarken des Reiches nicht gegeben. Denn die mutmaßlich jesuitisch gesteuerte Rekatholisierungspartei stützte sich in ihrem Plan doch auf einen jener so machthungrigen Territorialherrn, denen Gfrörer auch dann keine partikularistisch orientierte Politik konzedieren will, wenn sie katholisch geblieben sind. Zunächst aber: der Krieg fand in der böhmisch-calvinistischen Verschwörung seinen Anlaß. Was blieb dem 1619 auf Kaiser Matthias gefolgten Ferdinand II. anderes übrig, als mit Hilfe der jesuitisch kontrollierten Liga einzuschreiten? Schien sich das jesuitische Kalkül also schon bald zu erfüllen? Vorerst nicht - der Krieg expandierte; dem Kaiser aber erstrahlte ein Licht der Hoffnung in Gestalt des ganz und gar ghibellinisch gesonnenen Feldhauptmannes Wallenstein. Dieser drohte, das jesuitische Gewebe zu zerreißen, wollte „dem 30jährigen Kriege einen rein kaiserlichen Charakter aufdrücken." Darin sei schließlich auch der tiefere Grund seines Sturzes zu suchen. Gfrörer ist am Ziel: „Wir haben hier [...] den leitenden Faden dargelegt, der das Labyrinth des 30jährigen Krieges entwirrt." 285 Unberührt von jeglicher Skepsis verfolgt Gfrörer seine Interpretationslinie durch das Dickicht der Geschichte. Nur was dem Kaiser frommt, frommt Deutschland; gesellt sich der römische Katholizismus hinzu, umso besser; wehe 284 285
Ebd., S. 262/263. Ebd., S. 263.
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jedoch, dieser versucht eigenständig gegen die kaiserlichen Interessen in Deutschland zu agieren! Gegenseitige Kontrolle und Beschränkung von Kaisertum und Papsttum im europäischen Maßstab, so lautete die Lehre der „Carolinger", abgeleitet aus dem Studium der mittelalterlichen Verhältnisse. Nach Kenntnisnahme der Ausführungen des „Gustav Adolph" wäre ihr die Forderung Gfrörers nach Dominanz des Kaisertums im nationalen Maßstab unbedingt hinzuzufügen. Mehr als Gustav Adolf, der ab der zweiten Auflage spätestens unverklausuliert im Gewände desfremden Aggressors daherkommt - genial zwar, visionär, heldenmütig, aber eben doch nach Eroberung der Macht in Deutschland strebend286 - , rückt Wallenstein ins Zentrum der Gfrörerschen Regenerationshoflhungen deutscher Herrlichkeit. In Wallenstein personifiziert sich Gfrörers Glaube, das Reich hätte nach dem Augsburger Religionsfrieden noch eine reelle Chance besessen, dem endgültigen Untergang zu entkommen. Und auf das Scheitern eines vermeintlichen „Einheitsplanes" Wallensteins spielt Gfrörer an, wenn er Böhmer gegenüber „die ganze furchtbare Tragödie der Geschichte unseres Vaterlands [...] in den Zeitraum der Jahre 1618-1632 zusammengedrängt" sieht.287 Gfrörer vertiefte seine Wallenstein-Studien für die Freiburger Antrittsvorlesung von 1846. Anfang 1847 konnte ein breites bildungsbürgerliches Publikum in den Monatsblättern zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung Kenntnis nehmen von den Ansichten des neuernannten badischen Professors über die geheimen Hintergründe einer der umstrittensten Gewalttaten deutscher Geschichte: der Ermordung des kaiserlichen Feldhauptmannes zu Eger am 24. Februar 1634. 288 War Wallenstein ein Verräter an der kaiserlichen Sache, hatte er den Tod verdient? Keinesfalls, versichert August Friedrich Gfrörer nach „sorgfaltiger Prüfung" und „mühsamsten Forschungen in den Archiven". 289 „Wallenstein war bis zum Januar 1634 kein Verräther am Kaiser, er wurde es erst im Februar desselben Jahres, und zwar nothgedrungen und um seiner Selbsterhaltung willen." 290 Zur eingehenden Begründung rollt Gfrörer seine bekannte Version des Dreißigjährigen Krieges auf. Wallenstein, der „große Gibelline", allein habe die kaiserliche Fahne hochgehalten gegen die jesuitisch-papistisch gesteuerte Liga unter Herzog Maximilian. Wallenstein allein gedachte, militärisch die Reichseinheit zu erzwingen, die Reichsverfassung notfalls mit Gewalt in jenem Sinn zu reformieren, den Gfrörer gerne bereits als Ergebnis der Reichsreform des beginnenden sechzehnten Jahrhunderts gesehen hätte: Teilentmachtung der 286 287 288 289 290
Ebd., S. 1015/1016; vgl. auch o. S. 113. Gfrörer an Böhmer, 5.7.1845 (UB Frankfurt/M. Ms. Ff. Böhmer 1 Κ 5 G, 57). Gfrörer, Wallensteins Schuld. Ebd., S. 35 und 44. Über das von ihm benutzte Material führt er weiter nichts aus. Ebd., S. 35.
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großen Reichsfürsten und Umlenkung beziehungsweise Konzentration ihrer Kräfte auf das Reichsganze durch Erteilung ständischer Mitbestimmungsrechte, Etablierung einer starken kaiserlichen Zentralmacht, gestützt vor allem auf die kleineren Reichsstände, niederen Adel, Ritterschaft, Städte und Bauern. Wallenstein allein stellte die Belange des Reiches vor die Belange der Kirche. Wäre es ihm gelungen, das Reich zu reformieren, dann wäre auch die konfessionelle Einigung auf nationaler Basis nicht lange ausgeblieben!291 Aber, Wallensteins Militärputsch in kaiserlichen Diensten entfiel. Nach dem Sieg über die Dänen gab der Kaiser unter erpresserischem Drängen der Ligisten dem Feldherrn die Entlassung. Infolge des schwedischen Siegeszuges durch Deutschland blieb ihm schließlich jedoch nichts anderes übrig, als Wallenstein reumütig zurückzubeordern. Im Vertrag von Znaim allerdings, das gibt Gfrörer gerne zu, habe der restituierte Friedländer den Bogen überspannt, habe zuviele Befugnisse gefordert. 292 Darüber sei er endgültig und in jenem Moment gefallen, als sich der Kaiser selbst von seinem Feldhauptmann bedroht fühlte. Januar 1634 entlassen, in die absolute Defensive gedrängt, versuchte Wallenstein verzweifelt, durch Annäherung an die Protestanten, sein Leben zu retten. Erst hier, so Gfrörer, habe er eigentlich Verrat begangen, wenn auch gezwungenermaßen. Bis dahin habe er seinen ghibellinischen Einheitsplan unbeirrt und mit kühner Verstellung weiterverfolgt. Denn, was seien seine fingierten Verhandlungen mit Frankreich, aus denen die Gegner ihm so gerne einen Strick drehten, anderes gewesen, als „List oder jene Macchiavellistische Kunst auf welche sich Wallenstein so meisterlich verstand?"293 Was war sein Hinhalten der Schweden nach Gustav Adolfs Tod anderes als Taktik, um deren Gemüt zu zermürben, um schließlich durch Auszehrung Oxenstierna zum Rückzug zu bewegen?294 Sogar den Erwerb des Herzogtums Mecklenburg „auf krummen Wegen [...] von Dänemark, von den Jesuiten [!], endlich vom Kaiser selbst, theils erschlichen, theils ertrotzt," kann Gfrörer dem Friedländer nicht verübeln, habe dieser dadurch doch erst die notwendige territoriale Basis gewonnen, den Einheitsplan umzusetzen.295 Nein, ungeachtet der Verfehlungen Wallensteins im Znaimer Vertrag, ungeachtet auch tragischer Fehltritte seines letzten Lebensmonats, „die Schmach eines schändlichen, am Kaiser, unserm Nationaloberhaupt, verübten Verraths trifft den großen Ghibellinen nicht, der für des Kaisers Macht und Deutschlands Einheit seine Seele einsetzte."296
291 292 293 294 295 296
Ebd., S. 37; vgl. auch Gustav Adolph, 2. Aufl., S. 623/624 und 794/795. Ebd., S. 40,44. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Gfrörer, Gustav Adolph, 2. Aufl., S. 623. Gfrörer, Wallensteins Schuld, S. 44.
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Mit Feuereifer und Phantasie ergreift Gfrörer jeden Strohhalm einer vermeintlich verpaßten Chance deutschen Wiedererstarkens. Offenbart sich aber hinter der Schwadronierkunst seiner Spekulationen über Wallensteins Einheitsplan - mit denen er übrigens auch im Lager der Großdeutschen hoflhungslos allein stand297 - nicht ein Stück Verzweiflung über den weiteren Werdegang des Reiches seit dem Religionsfrieden, eine aufbäumende Verzweiflung, die sich zur Akzeptanz des Faktischen nicht bereit finden wollte, die insgeheim noch der Hoffnung Raum ließ, irgendwo könne sich hinter diesem Faktischen ein anderes, positiveres Bestreben enthüllen, ja müsse sich enthüllen, um wenigstens Trost zu spenden? Konstruktionen, wie die vom geheimen Wirken der Jesuiten, wie die des „Wallensteinschen Einheitsplanes", der aus tragischen Gründen mißriet, erleichtern den Umgang mit dem Faktischen, gaukeln Einsicht vor und die Existenz von Optionen zum Besseren. Gfrörer scheint solche Optionen besonders dringend zu benötigen, vielleicht, um das Gefühl einer Sinnhafitigkeit deutscher Geschichte nicht ganz zu verlieren. Wie sinnlos mußte ihm tatsächlich der weitere Verlauf dieser Geschichte erscheinen, nachdem er in der Ermordung Wallensteins auch seinen letzten Rettungsanker zerstört sah, nachdem ihn das Faktische dazu nötigte, den Krieg noch vierzehn weitere Jahre zu verfolgen, bis zu jenem für ihn definitiven Unglückssiegel von Münster und Osnabrück? Trotz weiterer Versuche des Erklärens, des Verstehens - Gfrörer bemüht erneut das Ausland, die Jesuiten, den Papst, ja schließlich die Vorsehung298 - dominiert am Ende des „Gustav Adolph" eine resignierte Stimmung. Der Krieg habe nicht allein das deutsche Einheitsband zerrissen, auch den Charakter des deutschen Volkes habe er zerstört, habe ein „Volk von Bedienten" hinterlassen.299 Gfrörers Blick wandert zurück zu den Stämmen des zehnten Jahrhunderts, vergleicht glorreiches Einst und trauriges Jetzt. „Da in den Heimathländern der 4 Stämme, welche seit dem 10. Jahrhundert das Reich gegründet, und 500 Jahre lange die erste Rolle in 297
Hurter wird in seinen Wallenstein-Studien der fünfziger Jahre sogar zu diametral entgegengesetzten Urteilen gelangen. „Nachdem ich eine Masse von Actenstücken über Wallenstein durchlesen," berichtet er im Dezember 1859 darüber an Klopp, „ist es rein unmöglich, sein Verschulden auch nur [...] leise anzuzweifeln. Ohne sein Organisationstalent und seine Thätigkeit bei diesem zu mißkennen, läßt sich nicht in Abrede stellen, daß er ein kalter, herzloser, hochmüthiger Egoist gewesen seye, der die Umstände und die Menschen bloß seinen Zwecken dienstbar machen wollte, und den Kaiser zu bethören wußte, daß er ihm eine Macht einräumte und nur allzulange überließ, die am Ende ihm selbst gefährlich werden mußte und es wirklich geworden ist." (Hurter an Klopp, 13.12.1859, HHStA, NL Klopp, Karton 8). Ergebnisse dieser Studien: Friedrich [Emanuel] von Hurter: Zur Geschichte Wallensteins, Schafihausen 1855; ders.: Wallensteins vier letzte Lebensjahre, Wien 1862. 298 Gfrörer, Gustav Adolph, 2. Aufl., S. 1020/1021. 299 Ebd., S. 1020.
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Europa gespielt, gab es nicht blos eine von Beamten gegängelte, zum Dünger fürstlichen Wachsthums erniedrigte, unter der Peitsche gehaltene Menge, sondern eine Nation, deren niederste wie höchste Glieder das Leben für die Gegenstände ihres Hasses und ihrer Liebe einsetzten. Nun eben diese Kernprovinzen des alten Kaiserthums hat jener Friede [der Westfälische] zu Grunde gerichtet. Das Reich ward vom Kaiser losgetrennt, die Wechselwirkung zwischen Haupt und Gliedern in der Art unterbunden, daß kein allgemeines teutsches, sondern nur ein provinzielles Leben übrig blieb." 300
Ein neues Thema klingt langsam an. Bei der konfessionell-geistigen Spaltung Deutschlands blieb es nicht: die kontinuierliche Bildung zweier Machtblöcke setzte neue politische Bedingungen. Vielleicht hätten nicht alle großdeutschen Generationsgenossen Gfrörers Urteil über die Hinausdrängung Österreichs aus dem Reich in „eine slavische, ungarische, oder wälsche Richtung"301 als eines der wichtigen Ergebnisse des Dreißigjährigen Krieges uneingeschränkt geteilt. In einer Hinsicht aber sammelten sie sich alle einig um den Markierungspunkt 1648, sonstiger Bewertungsunterschiede, individueller Nuancierungen ungeachtet: um von hier aus Rückblick und Vorausschau zu halten auf den Aufstieg einer Macht, die Deutschlands Geschicke im siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert so entscheidend mitgestalten sollte. Ginge es nach Gfrörers Modell, träte Preußen wie von einem geheimnisvollen Sog gezogen in die deutsche Geschichte ein: hier Hinausdrängung Österreichs aus dem Reich, dort, im Norden, das Hereindrängen ,jener slavischteutschen Gewalt, welche die innerliche Zerspaltung Germaniens vollenden half." 302 Preußen, eine nordöstliche Macht, fremd, nicht deutsch, ja „slavisch" in verächtlichstem Sinne. Da steht am Ende der „Grundurteile" eines der polemischsten, der haßerfülltesten Verdikte großdeutscher Historiographie: die Denunziation der nördlich-protestantischen Vormacht als minderwertigen Ursprungs, unter wohlweislicher Vernachlässigung der Tatsache, daß der Markgraf von Brandenburg, 1618 Erbe des Herzogtums Preußen,303 seit dem späteren Mittelalter einen Kurhut des Reiches trug, also zu dessen hervorgehobenen Fürsten zählte. Aber die großdeutsche Denunziation klammert ja das Brandenburg" bewußt aus, betont die Komponente „Preußen" Sogar der ruhig sachliche Johann Friedrich Böhmer hielt mit spitzer Polemik dieser Art nicht hinter dem Berg: „Da werde ich zu den Berlinern gehen, die sich BoRussen heißen? Nein, 300
Ebd., S. 1019. Ebd. 302 Ebd. 303 Vgl. etwa Harm Klueting: Das Konfessionelle Zeitalter 1525-1648, Stuttgart 1989, S. 324; hier auch über die Bedeutung dieses Erbes als „Weichenstellung" für die weitere deutsche Geschichte. 301
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ich bleibe in Deutschland, in meinem Land. Schon dieses Wort,Preußen 4 [...] hindert in meinen Augen jede ordentliche Auffassung des Vaterländischen."304 Denn, so ergänzte er in seiner „Dithyrambe" des Jahres 1849: „Preussen, noch heute undeutschen namens, so weit es wirklich deutschordensland und nicht verkapptes Polen ist, hat von seiner eroberung und Christianisierung an bis zum abfall des hohenzollerischen deutschordensmeisters Albrecht überhaupt nicht einmal dreihundert iahre, also verhältnismässig kurz, und nur als nebenland [...] zu Deutschland gehört." 305 Zum Vorwurf „undeutschen" Ursprungs gesellt sich ein zweites Stigma. Vor allem die orthodox-katholische Historikergruppe neigt dazu, die Anfange Preußens als eines weltlichen Herzogtums in der Reformationszeit herauszukehren, diesem Faktum306 dann allerdings gleichzeitig die negative Bewertung mitzugeben. Sei es nicht der Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg gewesen, der, gegen die Verlockungen reformatorisch-lutherischer Verheißungen nicht gefeit, widerrechtlich und gewaltsam das Ordensland zum weltlichen Herzogtum säkularisierte? Implicite: was kann solchen Ursprüngen schon Gutes entwachsen!307 Tagespolitische Leidenschaft, konfessionelle Verbiesterung vernebelte die historiographische Urteilskraft der Großdeutschen, wenn sie sich über die Entstehung Preußens äußerten, wie kaum anderswo und drückte das Niveau der Urteile zuweilen weit unter den sonstigen Standard der Urteilenden. - Neben solchen Ausfallen existierten selbstverständlich tiefergreifende, besser motivierte Einwände gegen Preußen und dessen Politik, vor allem seit 1740. Bei inhaltsleerer Polemik blieben Böhmer, Hurter, Gfrörer, Höfler und Döllinger nicht stehen, wenn sie im Vorgehen König Friedrichs II. schreiendes Unrecht, wenn sie, wie Gfrörer bereits in der ersten Auflage des „Gustav Adolph", die 304
Böhmer an Klüpfel, 21.7.1844 (UB Tübingen Md 756-4). Mit ähnlicher Schärfe beantwortet Böhmer in einem hsl. Fragment - wahrscheinlich von 1849 - die Frage „Was ist Preußen?"-,,1) ein slavisches Wort. 2) Ein Barbareskenstaat, nur durch das suum cuique rapit hat er sich so vergrößert. 3) Eine Mameluckenregierung - die Herrn in Berlin sind u[nd] waren bisher fast lauter Fremde." (UB Frankfurt/M., Ms.Ff. Böhmer 1 F IE 10; vgl. auch, ungenau und ohne Nachweis, Kleinstück, S. 249). 305 Böhmer, Regesten 1198-1254,1849, Einleitung, S. LXVI C , Anm. 306 Vgl. Rabe, S. 224. Neben der konfessionellen Entscheidung Albrechts von Brandenburg für die Reformation spielten bei der Säkularisation des Deutschordenslandes auch ganz konkrete politische Überlegungen eine gewichtige Rolle: „Daß Albrecht von Brandenburg [...] diese Konsequenz wirklich zog, lagfreilich auch daran, daß er für seinen Kampf um die Unabhängigkeit des Ordens von Polen bei Kaiser und Reich keine emsthafte Unterstützung fand." Schließlich arrangierte er sich mit dem König von Polen, der seinerseits bereit war, „um seiner politischen Oberherrschaft willen die katholische Kirche in Preußen preiszugeben." (ebd.). 307 Döllinger, Handbuch der christlichen Kirchengeschichte, S. 427.
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„Epoche vom Ende des siebenjährigen Kriegs bis zur Theilung Polens" als einen neuerlichen Tiefpunkt deutscher Geschichte erkannten. Absichtlich und machthungrig habe der Preuße das Spiel soweit getrieben, habe „in der Kaiserin Maria Theresia's höchster Noth ungerechte Waffen gegen sie" erhoben. „So etwas hatte man bisher in christlichen Ländern noch nicht gesehen, daß ein Krieg, ganz ohne allen Vorwand des Rechts, aus bloßem Appetit gefuhrt ward. [...] Dieser Friedrich ist es, der durch seine blutigen Thaten von weitem her die französische Revolution groß gefuttert hat." 308 Nicht aber nur durch die konkret politische Verletzung von „Recht und Gerechtigkeit" als den „Grundpfeilern der menschlichen Gesellschaft" 309 avanciert Friedrich II. von Preußen zu einem mittelbaren Wegbereiter der großen revolutionären Stürme des ausgehenden Jahrhunderts, sondern auch und vor allem durch seine geistige Adaption des „atheistischen" Rationalismus. In dieser Hinsicht markiere er die Spitze des Fortschrittes jenes ,irreligiösen Geistes bei den Fürsten und Großen, welche kein Hehl trugen, sich mit den destructivesten Plänen der erklärtesten Feinde aller christlichen Ordnung der Dinge zu verbinden, alle Moral zu untergraben, der Nation selbst allen innern Halt zu rauben" - eine Spitze leider, an der ihm ausgerechnet ein Österreicher, ein Kaiser selbst, Joseph II., nachfolgen sollte. „Jeder Stand verlor das Gefühl seines inneren Berufes; diefranzösische Revolution fand nirgends eifrigere Bewunderer als in Teutschland. Nirgends waren ihre politischen Grundsätze bereits von oben herab stärker gehandhabt worden. Der Altar des Chronos war gebaut, er brauchte nur seine eigenen Kinder zu verschlingen."310 Recht, Unrecht, Ordnung, Staat, Gesellschaft, Revolution: „Grundpositionen" anderer Art, allgemeinere Prinzipien kommen da ins Spiel, die ihrerseits natürlich die geschichtlichen „Grundpositionen" selbst ständig durchdringen, und umgekehrt. Wie immer läßt sich eines vom anderen schwer trennen. Aber diese allgemeinen Prinzipien nehmen bei der Diskussion über die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts nun doch überhand, fordern eingehendere Betrachtung, um schließlich beitragen zu können zur Bestimmung des Selbstverständnisses der ersten Generation katholizistisch-konservativer, großdeutscher Historiker in ihrer Gegenwart. Die Bemühungen, deutsche Geschichte seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zu fassen, vollziehen sich für diese Generation fast 308 Gfrörer, Gustav Adolph, 1. Aufl., S. 1042; vgl. auch Höfler, Art. „Reich, teutsches", S. 148 und Böhmer an Karajan, 28.2.1851 (ÖNB, Autogr. 168/42, 6): Er, Böhmer, möchte wetten, in den österreichischen Archivenfinde sich kein Brief Maria Theresias, „wie jener Friedrichs des Preußen an seinen General: Laßt den Pfarrer erschießen, der gesagt hat, daß die Dessertation (gepreßter Menschenscharen) ein Verbrechen sei, welches Gott vergeben könne." 309 Hurter, GuW I, S. 83. 310 Höfler, Art. „Reich, teutsches", S. 148; ähnlich Döllinger, Handbuch der christlichen Kirchengeschichte, S. 932/933.
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eher schon im Bereich des Denkens über die eigene, als in demjenigen des Denkens über die vergangene Zeit. Die geschichtlichen Grundpositionen des letzteren werden auch da ihre gewichtige Rolle spielen, weiterer Ergänzungen bedürfen sie selbst zunächst nicht mehr. Ganz unterschiedliche Gebäude katholizistisch-konservativer, großdeutscher Geschichtsdeutung führt das historiographische Werk der ersten Generation jener Historiker vor 1848/49 auf. Obwohl sich jedes vom anderen unterscheidet, bleibt unverkennbar, daß die Architekten einer Schule entstammen.
2. Urteilsgründe
Vor der Betrachtung des ,Denkens über die eigene Zeit' bleibt das ,Denken über die vergangene Zeit' nach der abstrakteren, der theoretischen, der MetaEbene hin zu vervollständigen. Wenig diskussionswürdig, ja nachgerade inakzeptabel wären jene kompliziert konstruierten Gebäude deutscher Geschichte, erhöben ihre Erbauer nicht den Anspruch, mehr zu geben als nur Meinungen, Subjektivitäten. Entschieden hätten diese wohl den Vorwurf zurückgewiesen, ihren Geschichtsbauwerken ermangele es an Statik, also an Wissenschaftlichkeit. So muß, wer ihnen den Anspruch auf Ernsthaftigkeit nicht von vornherein versagen will, der Betrachtung der Grundurteile eine Untersuchung der Urteilsgründe folgen lassen. Mit welchem Verständnis von „Wissenschaft" treten sie heran an das Sujet „Geschichte", was begreifen sie überhaupt unter diesem, wie definieren sie Geschichte als Wissenschaft und, welchem letzten Zweck dient die Beschäftigung mit Geschichte? Die Frage nach dem Wissenschaftsbegriff im Kreis der katholizistisch-konservativen, großdeutschen Historiker gewinnt Bedeutung in Hinblick auf die weitere Entwicklung dieser Gruppe, weniger zwar im Zusammenhang mit den nationalpolitischen Ereignissen nach 1848, sondern eher mit den innerkatholischen Auseinandersetzungen der sechziger und siebziger Jahre um Syllabus und Infallibilität. Denn gerade in liberal-katholischen Kreisen wird die Forderung nach „freier Wissenschaft" einen wesentlichen Beweggrund der Opposition gegen die „Ultramontanen" bilden, wird beitragen zur weiteren Aufspaltung der ohnehin schon heterogenen Gruppe der Großdeutschen und dadurch deren Stellung in der historiographischen Debatte um die deutsche Einheit den Kleindeutschen gegenüber noch mehr schwächen.311 Um aber zu einem Ver-
311
An dieser Stelle können nur einige Hinweise auf diese spätere Entwicklung stehen: Die beiden Historiker der ersten Generation, die jene innerkatholischen Auseinandersetzungen der sechziger und siebziger Jahre noch erlebten und auch mitgestalteten, Döllinger und Höfler, entfremdeten sich darüber gegenseitig. Von den wichtigen Vertretern der zweiten Generation trat Carl Adolf Cornelius zum Altkatholizismus über,
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ständnis dieses zentralen Prozesses hinzufuhren, bedarf es auch hier einer differenzierten Bestimmung der Ausgangspositionen. Vom Wissenschaftsbegriff führt anschließend ein logischer und schneller Weg zu dessen Anwendung auf den jeweiligen Gegenstand der Bemühungen, im vorliegenden Fall auf die Geschichte. Reflektiert ein Historiker auf die stillschweigenden und tagtäglichen Voraussetzungen seiner Arbeit, denkt er nach über die Bedingungen von Geschichte als Wissenschaft, dann betreibt er Historik^ 1 Ergänzend zu den methodischen und methodologischen fließen dabei in der Regel zusätzliche, metahistorische, Erwägungen mit ein, speziell solche, die der strenge Systematiker lieber dem Bereich der Geschichtsphilosophie zuwiese, die aber hinwiederum Historik im engeren Sinne selbst erst legitimieren: Erwägungen über Wesen und Zweck von Geschichte. Wer beides negiert, braucht weder mit Historik, noch mit Geschichtswissenschaft überhaupt zu beginnen. Zulässig, wenn auch klassifikatorisch nicht ganz exakt erscheint es jedenfalls, auf der Suche nach einer Historik der großdeutschen Geschichtsschreiber solche eigentlich metahistorisch-geschichtsphilosophischen Fragen mit anzusprechen.313
desgleichen sein Schüler Moriz Ritter. Johannes Janssen unterwarf sich in priesterlicher Disziplin trotz innerer Distanz zum Dogma. Julius Ficker und Hermann Hüffer blieben auf der Linie eines kritischen und liberalen Katholizismus, während Onno Klopp und Ludwig Pastor das Dogmafreudig annahmen und in kämpferischem Ultramontanismus verteidigten. 312 ist die Selbstreflexion des Historikers auf die Wissenschaftlichkeit seiy yHistorik nes Faches." Horst Walter Blanke: Die Rolle der Historik im Enstehungsprozeß modernen historischen Denkens, in: Küttler / Rüsen / Schulin, Geschichtsdiskurs Π, S. 282291, hier S. 282. Freilich weitet auch Blanke im Laufe seines Aufsatzes diese eingangs gegebene Definition aus und formuliert abschließend:„Historik geht nicht darin auf, die Praxis geschichtswissenschaftlicher Arbeit metatheoretisch zu reflektieren und in Form von wissenschaftlichen Standards [...] festzuschreiben, sondern sie dient auch der Perspektivierung; sie geht also über die jeweils aktuelle Praxis hinaus." (ebd., S. 288). 313 Die vorliegende Arbeit verwendet den Begriff „Historik" in einem weiten Sinn, wobei sie sich orientiert an dem Modell von Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983. Hier S. 21: „Historik ist eine Reflexion des historischen Denkens, durch die dessen Verfassung als Fachwissenschaft in den Blick kommt." Sie müsse „die maßgebenden Faktoren der historischen Erkenntnis [...] im einzelnen identifizieren und ihren systematischen Zusammenhang aufweisen." (ebd., S. 24) Dies erfolgt durch die Konstruktion einer „disziplinaren Matrix" der Wissenschaft „Geschichte", eines dynamischen Systems fünf gegenseitig sich beeinflussender Faktoren: „Interessen (interpretierte Bedürfnisse nach Orientierung in der Zeit) - Ideen (leitende Hinsichten auf die Erfahrungen der Vergangenheit) - Methoden (Regeln der empirischen Forschung) - Formen (der Darstellung) - Funktionen (der Daseinsorientierung)" (ebd., S. 29). Der Faktor „Ideen"
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Das Verbum „suchen" trifft im übrigen genau den Sachverhalt. Keiner der großdeutschen Historiker - das gilt für alle drei Generationen - hat sich als Theoretiker einer Historik jemals in solcher Tiefe und Systematik profiliert, wie auf protestantisch-kleindeutscher Seite etwa Johann Gustav Droysen in seinen Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Aber jeder von ihnen hat sich, wenn auch verstreut und nicht immer alle Bereiche abdeckend, zu diesem Thema geäußert. Zumindest Bausteine lassen sich also sammeln zu einer Historik katholizistisch-konservativer Couleur; ob ein System daraus erwächst, muß sich zeigen. a) Wissenschaft: „Irrthum, Zweifel und Wahrheit" Als Georg von Hertling am 4. September 1893 vor die Generalversammlung der Görresgesellschaft in Bamberg trat, um über „die Aufgaben der katholischen Wissenschaft und die Stellung der katholischen Gelehrten in der Gegenwart" öffentlich nachzudenken, sah er sich inmitten der alten Kaiserstadt veranlaßt, jene Zeit zu beschwören, „da die kirchliche Einheit unzerrissen unser Vaterland umschloß, da die großen Gewalten, Kirche und Staat, Papst und Kaiser, vereint den gemeinsamen, gleichmäßig erkannten Endzielen nachstrebten, da kein feindseliger Gegensatz Wissenschaft und Glaube trennte." 314 Mehr als zwanzig Jahre nach der Gründung des kleindeutsch-preußischen Nationalstaates erschien in diesen Ausführungen des wichtigsten Theoretikers einer Renovatio katholischer Wissenschaft am Ende des neunzehnten Jahrhunderts315 erneut das Ideal von der großen Einheit des Spirituellen und des Säkularen. Aber Hertling beschwor dieses Ideal keineswegs mit primärem Bezug auf die alte politische Reichsidee der Einheit von Imperium und Sacerdotium, sondern mit Blick auf einen daraus abgeleiteten, katholischen Wissenschaftsbegriff, der auf eine Einheit von Glauben und Wissen abzielte. Gerade eine solche lag ja mitinbegriffen in jenem größeren Einheitsideal, bildete eine besondere Spielart dieses Ideals. Obwohl die politische Variante der Reichsidee definitiv der Geschichte angehörte, bestand doch noch die Möglichkeit, über jene andere Variante der
beinhaltet durchaus die Möglichkeit, die eher geschichtsphilosophische, metahistorische Kategorie des „Sinnes" der Geschichte mit in die Historik zu integrieren. 314 Georg Freiherr von Hertling: Über die Aufgaben der katholischen Wissenschaft und die Stellung der katholischen Gelehrten in der Gegenwart, in: Ders., Kleine Schriften zur Zeitgeschichte und Politik, Freiburg/Brsg. 1897, S. 538-549, hier S. 539. 315 Zu Hertling, dem Philosophen, katholischen Kulturpolitiker, späteren bayerischen Ministerpräsidenten und Kanzler des Deutschen Reiches, vgl. dessen „Erinnerungen aus meinem Leben", 2 Bde., Kempten/München 1919/1920 sowie Winfried Becker: Georg von Hertling 1843-1919, Bd. I: Jugend und Selbstfindung zwischen Romantik und Kulturkampf, Mainz 1981 (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B,31). 16 Brechenmacher
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geistigen Einheit von Wissen und Glauben ein Stück des Ideals herüberzuretten in die Gegenwart. Sicherlich resultierte aus dieser Möglichkeit ein Teil der Faszination, den dieses von Hertling so umschriebene orthodox-katholische Wissenschaftsideal immer auf großdeutsch orientierte Historiker ausübte. Wie diese augenfällige Korrespondenz von Geschichte und Gegenwart, Begriff und Inhalt geeignet war, katholische Wissenschaftler zur großdeutschen Geschichtsanschauung zu führen, 316 so brachte sie im Gegenzug, vor 1871 zumal, großdeutsche Historiker zur katholischen beziehungsweise dem Katholizismus nahestehenden Wissenschaft. Zwischen Wissen und Glauben - dies sei die tiefste Überzeugung des katholischen Gelehrten - , so Hertling weiter, bestehe an sich kein Gegensatz. Beide seien dazu bestimmt, „einander in inniger Harmonie zu durchdringen." 317 Wodurch aber sei diese Einheit des Geistigen gestört, zerstört worden? Durch Geschichtliches, durch Weltliches, ja, wie er drei Jahre später bei gleicher Gelegenheit versicherte, durch zwei „große welthistorische Thatsachen": „die Auflösung des alten Reiches und die Säcularisation", 318 ergo durch den endgültigen Bruch der anderen, der gesellschaftlich-politischen Einheit von Kirche und Staat, Papst und Kaiser, dessen erste Keime die Großdeutschen ja - die Betrachtung der Grundpositionen hat es gezeigt - bereits im ausgehenden Mittelalter lokalisieren. 319
316
Diese Aussage zielt pointierend auf den Hauptstrom katholischer Wissenschaft, der auch nach 1871 dem orthodoxen, „ultramontanen" Katholizismus verhaftet blieb. Sie bezieht sich nicht auf den Altkatholizismus, in dessen Reihen sich ja mit dem Wissenschaftsideal auch das Geschichtsbild sehr schnell änderte; vgl. dazu o. S. 239. Um die prinzipielle Affinität von orthodox-katholischem Wissenschaftsideal und großdeutscher Geschichtsanschauung zu verdeutlichen, erscheint es zulässig, hier allein die Grundposition und deren Permanenz bis zum Ende des Jahrhunderts aufzuzeigen und die Abweichungen davon später und anderen Ortes im Zusammenhang mit den Ereignissen der sechziger und siebziger Jahre darzustellen. - Allg. zum Thema „Katholische Wissenschaft im neunzehnten Jahrhundert" der Überblick von Heribert Raab: „Katholische Wissenschaft" - Ein Postulat und seine Variationen in der Wissenschafts- und Bildungspolitik deutscher Katholiken während des 19. Jahrhunderts, in: Anton Rauscher (Hg.), Katholizismus, Bildung und Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 1987 (= Beiträge zur Katholizismusforschung, Reihe B: Abhandlungen), S. 61-91, hier v.a. S. 65/66 über die Grundströmungen, S. 67-71 über die Bestrebungen, Glauben und Wissen zu versöhnen, S. 72-75 über die Verbindung von katholischer Wissenschaft und großdeutscher Orientierung. 3,7 Hertling, Über die Aufgaben, S. 539. 318 Georg von Hertling: Über die Ursachen des Zurückbleibens der deutschen Katholiken auf dem Gebiete der Wissenschaft, in: Ders., Kleine Schriften (s. Anm. 314), S. 561573, hier S. 568. 319 Vgl. o. S. 186-207 (Vom Wendepunkt des Mittelalters I und II).
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Wenn Hertling 1893/1896 den Verlust der Einheit, den Verlust des Bezugspunktes beklagte, wenn er es ablehnte, sich „auf den Boden einer lediglich relativistischen Denkweise" zu stellen, „die zuletzt in dem ödesten Skepticismus ausmündet",320 so stand er mit dieser Haltung in einer Tradition mit den Vertretern der ersten Generation katholizistisch-konservativer, großdeutscher Historiker in den vierziger Jahren des Jahrhunderts, arbeitete er mit denselben Argumenten wie diese, sobald sie über Wissenschaft nachdachten. Daß Hertling in der Situation seiner Zeit zu anderen Schlüssen kommt, bleibe dahingestellt. Es geht um Grundsätzliches. Verlust der Mitte, Wertrelativismus, Skeptizismus - damit ist zunächst kein spezifisch katholisches, sehr wohl aber ein erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Zentralproblem der Moderne angesprochen: das der Letztbegründung von Urteilen. Auch in den kleinen Kreis jener ersten Generation großdeutscher Historiker drängte dieses Problem und forderte Antwort, beschäftigte auch und gerade die Protestanten unter ihnen. Implizit steht es hinter Johann Friedrich Böhmers Urteil über neuere protestantische Forschungen zur Reformationszeit: deren Verfasser täuschten sich, wenn sie glaubten, in ihrer wissenschaftlichen Haltung dem Geist der Reformationsväter zu entsprechen. „Freie Forschung und Fortschritt, wovon man jetzt so überzeugt ist, daß das die Grundsätze des Protestantismus sind, würden Luthern ein Gräuel gewesen sein." Auch Luther habe seinen festen Bezugspunkt, seinen Glauben, den er „ebenso unentweglich für den allein wahren hielt, wie die alte Kirche den ihrigen", nie aus den Augen verloren. 321 Das Streben nach einer Mitte beschäftigte Böhmer selbst seit Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn. In der Vorrede zum ersten Regestenband von 1831 auf der Suche nach dem „dermaligen Standpunct" hatte er diesen in einer Positionsbestimmung des Geographen Carl Ritter gefunden, derzufolge die gegenwärtige Zeit Universalität und Totalität begehre, ein Überund Ineinandergreifen der Gebiete in räumlicher, physischer, organischer, intellektueller Dimension, und von da aus die Rückkehr zu einer vollen, lebendigen Mitte. 322 Wenig religiös noch, konfessionalistisch gar, erheben sich in diesem Bekenntnis des Historikers zu den romantisierenden Idealen des Geographen die Anfange eines wissenschaftlichen Programmes; unnötig zu betonen, daß Böhmer im Prolog zu seinem Lebenswerk die Diagnose Ritters kaum als Beschreibung eines tatsächlichen Zustandes begreift, sondern vielmehr als Mani-
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Hertling, Über die Aufgaben, S. 544. Böhmer an Remling, 1.1.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 427). 322 Böhmer, Regesten 911-1313, 1831, Vorrede, S. VII; das Zitat Carl Ritters, von Böhmer wörtlich in die Fußnote übernommen, entstammt dem ersten Band der „Erdkunde im Verhältniß zur Natur und zur Geschichte des Menschen oder allgemeine, vergleichende Geographie", Berlin 21822, S. 55/56; zu Carl Ritter vgl. Dieter Löffler, in: Killy 9(1991), S. 485/486. 321
1*
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fest, als Markierungslinie einer Richtung, in der wissenschaftliches Bemühen sich zu bewegen habe. Der weiland reformierte Pfarrer Hurter hätte Böhmer in solcher Ablehnung eines bindungslos schweifenden, zerfleddernden Geistes nicht widersprochen, hätte aber früher und dezidierter wohl auf eine religiöse Bestimmung des Sinnzentrums gepocht. In gewohnter Wortgewalt geißelt er, freilich bereits nach seiner Konversion, den Zweifel als das schlechthin negative Agens der Neuzeit, das sich, einem Virus ähnlich, in allen Lebensbereichen festgesetzt habe, hauptsächlich jedoch „in den Gebieten des Wissens" - „da vornehmlich schreibt er Gesetz, Ordnung und Gang vor." 323 Und ähnlich wie Hertling verknüpft Hurter den Bruch der geistigen Einheit mit einem welthistorischen Ereignis, mit der Reformation. Diese habe gewaltsam gebrochen mit dem ,3orn alles Wahren, von Gott strömenden, zu Gott wieder sich wendenden Lichtes und Lebens."324 Der Wissenschaftsbegriff wirkt zurück auf das Geschichtsbild und umgekehrt. Nicht um wertende Beurteilung der stark apologetischen Haltung Hurters kann es gehen, sondern lediglich um den Aufweis des Weges, welcher von der Erfahrung eines Alleinseins mit dem Zweifel zum Katholizismus und seiner unifizierenden Lehre führen kann. Hurter hat diesen Weg vollständig beschritten, Böhmer zumindest in Ansätzen, beide jedoch, ohne einmal umfassende Reflexionen über dessen Zusammenhang mit ihrem Wissenschaftsideal schriftlich niederzulegen. Wenigstens aber sind von den beiden „reinen" Katholiken der Gruppe diesbezügliche Ausführungen überliefert, auf allgemeinerer Basis von Döllinger und, mit stärkerem Bezug schon zur Historik, von Höfler.
Zwar nicht ausdrücklich über den Begriff der Wissenschaft, doch aber über Wissenschaft im Spannungsfeld von „Irrthum, Zweifel und Wahrheit" zu sprechen, ergriff Ignaz Döllinger im Januar 1845 die Gelegenheit einer Rektoratsrede an der Ludwig-Maximilians-Universität München, welche ihm die Aufmerksamkeit „einer gemischten Versammlung von Studierenden aller Fakultäten" bescherte.325 Da fühlte er sich aufgerufen, ein Bild einer orientierungslos verlorenen studentischen Jugend zu zeichnen, hin- und hergerissen im Widerspruch der Richtungen, im Kampf der Doktrinen, so daß am Ende niemand mehr das Gefühl habe, „seine Ansichten seyen getragen und bewährt durch die imponirende Authorität einer allgemein verbreiteten Ueberzeugung, und er wisse sich in wesentlicher Uebereinstimmung mit allen tüchtigen Köpfen und hervorragenden Geistern Europa's." 326 Die Klage über den Verlust des geistigen
323 324 325 326
Hurter, GuW I, S. 387-397, hier S. 390. Ebd. I, S. 387. Döllinger, Irrthum, Zweifel und Wahrheit, S. 3. Ebd., S. 5.
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Zentrums kehrt hier wieder. Doch Döllinger wäre nicht der geschickte Rhetor, verschösse er seine Munition voreilig durch allzu plumpen Hinweis auf den göttlichen Zeigefinger. Er hält sich bedeckt, gestaltet das Szenario nach verschiedenen Richtungen aus: sehr wohl könne der Einzelne beitragen zur Herstellung einer „gesunden öffentlichen Meinung", indem er auftrete gegen die Marktschreier des schnellen Vorurteils, gegen falsche Autoritäten, gegen das kritiklose Aneignen von Tagesmeinungen.327 Wie traurig jedoch, daß, solchen Verführungen ausgeliefert, „so Viele ihr ganzes Leben hindurch über ein stetes Schwanken und unruhiges Zweifeln nicht hinauskommen",328 dem „sinneverwirrenden Wirbel der Skepsis wie festgebannt" gegenüberstehend, sich dahin gedrängt sähen, „sich auch gegen den eigenen Zweifel skeptisch zu verhalten", das heißt, zu zweifeln, ob sie zu zweifeln berechtigt seien, „und so fort in endloser Progression." 329 Was könne da abhelfen, außer der Rekonstruktion eines festen Bezugspunktes als Ankerplatz des um sich selbst in freier Skepsis kreisenden Geistes? Behutsam und ohne aufgesteckten missionarischen Eifer baut Döllinger jene Brücke, die Hurter und Böhmer unter anderem beschreiten. Er führt sie über eine Definition des Begriffes „Irrthum" sowie über eine ethisch-sittliche Fundierung von Erkenntnis, von Wissenschaft schlechthin. Mit seiner begrenzten Erkenntnisfahigkeit müsse der Mensch leben. Das sei aber auch kein Problem, solange nur diese durch den Willen recht geleitet werde. Welche Instanz aber wiederum gestalte den Willen zum richtigen, zum recht gerichteten Willen, auf daß dieser sich nicht falsch orientiere und also die Erkenntnis fehlleite, zum Irrtum führe? 330 Das Gewissen, jenes Sensorium menschlicher Sittlichkeit, dessen Regungen sich der Wille „gewissenhaft" unterzuordnen habe. Je höher die Sensibilität des Gewissens - erreichbar durch stete Übung - , je unbeugsamer das willensgeleitete Streben gemäß den Maximen des Gewissens, desto wahrheitsnäher die Erkenntnis, desto größer überhaupt die Affinität des Menschen zur Wahrheit. 331 Über den Begriff der Sittlichkeit gelangt nun Döllinger zum festen Bezugspunkt seiner Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Fungiere das Gewissen sozusagen als Gradmesser der jeweils durch den Einzelnen erreichten Sittlichkeitsstufe, so stelle sich die Frage, worin denn nun Sittlichkeit selbst bestehe.
327
Ebd., S. 8 (gesunde öffentliche Meinung), S. 11-14 (falsche Autoritäten, mit Beispielen), S. 14-18 (Tagesmeinungen, mit Beispielen, worunter Döllinger u.a. auch die Geschichtsphilosophie Hegels nennt, S. 18). 328 Ebd., S. 18. 329 Ebd., S. 19/20. 330 Irrtum entstehe genau dann, „wenn unsre Erkenntnißkraft durch den Einfluß des Willens in ihrer Thätigkeit entweder gehemmt oder mißleitet wird." (Ebd., S. 21). 331 Ebd., S. 30/31.
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Döllinger: „Was ist Sittlichkeit, als die freie Uebereinstimmung des Menschen mit Gott?"332 Diese Übereinstimmung, soll sie vollkommen sein, könne sich nicht auf eine vereinzelte Tätigkeit beziehen, sondern müsse „das ganze Daseyn des Menschen und jede Kraft und Funktion desselben beherrschen", 333 also auch das Streben nach Erkenntnis. Erkenntnis von Wahrheit ist nur möglich in Übereinstimmung mit Gott. Elegant liefert Döllinger mit solcherlei Definitionen viel mehr als lediglich eine Absage an einen sinnlosen totalen Skeptizismus. Er hebt Wissenschaft sogleich auf ein religiös-ethisches Fundament, ohne nur mit einem Wort darauf einzugehen, daß ja auch andere feste Bezugspunkte denkbar wären und Halt bieten könnten: außerreligöse ethische Konzepte oder vielleicht gar die Vernunft als letzte Instanz. Aber freilich, das hieße, unhistorisch von Döllinger zu verlangen, was er nicht geben kann und will. Er begründet Wissenschaft spezifisch katholisch, wobei er aber wiederum in der vorliegenden Rede nicht so weit geht, die alleinseligmachende Institution beim Wort zu nennen, welche in jenem System verantwortlich zeichnet für die verbindliche Dogmatik der Sittlichkeit: die römische Kirche. Diese findet keine besondere Erwähnung; selbstverständlich führt aber von Döllingers Ausführungen nur ein kleiner Schritt zu ihr hinüber. Barem Rationalismus als letztem wissenschaftlichen Erkenntnisprinzip erteilt er jedenfalls eine klare Absage: alle Erkenntnis werde „auf ethischem oder das ethische Gefühl berührendem Boden, nicht durch bloße Verstandes-Operationen gewonnen."334 Wahrheit, ,/eelle Wahrheit und in ihrer Begleitung ruhige Zuversicht und freudige Sicherheit ist also nur zu finden auf dem Wege des ethischen Gehorsams und des Gefühls einer durchgreifenden Verantwortlichkeit; sie ist geknüpft an jene gewissenhafte Treue und Standhaftigkeit, die im ununterbrochenen Umgange mit Gott als Quelle aller Wahrheit wie aller Güte und in steter Selbstprüfung ihren Willen mehr und mehr zu reinigen und eben dadurch den Verstand zu erleuchten und aus den Banden der Täuschung und des Wahnes zu befreien trachtet." 335 Döllinger leugnet nicht, daß mit der Rückführung aller Wahrheit auf Gott die Kategorie des Glaubens ins Spiel kommt, welche der skeptische Rationalist gerne aus jeglicher Diskussion um Wissenschaft verbannt sähe. Glaube bezeichnet ihm vielmehr jenen Akt, aus dem heraus der letzte Schritt zum festen 332
Ebd., S. 24. Ebd., S. 24/25. 334 Ebd., S. 33. Döllinger bezieht dies übrigens nicht nur auf geisteswissenschaftliche, sondern ausdrücklich auch auf naturwissenschaftliche Erkenntnis, indem er sich dem Diktum Bernardins de St. Pierre anschließt, es könne nicht einmal einen physikalischen Irrtum geben, der nicht seine Quelle in einem moralischen Mangel habe (ebd., S. 20). 335 Ebd., S. 34. 333
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Bezugspunkt Gott erst erfolgen kann. Nicht als Gegensatz zum Wissen begreift Döllinger den Glauben, vielmehr beschreibt er ihn als eine Art Ur-Wissen, eine letzte, keiner rationalen Skepsis mehr zugängliche Gewißheit. Allerdings muß ein durch das unumstößliche Zeugniß des Gewissens getragenes, allem Zweifel unerreichbares Glauben und Wissen vorhanden seyn; auf diesem festen Grunde aber beginnt erst die rechte, ernste und anhaltende Arbeit des Denkens."336 So treffen sich Glauben und Wissen in ihrer Ausrichtung auf den Zentralpunkt ,Gott als Quelle der Wahrheit', verlieren ihre Gegensätzlichkeit, bedingen sich, verschmelzen zum großen System, zur umfassenden Einheit. - Einheit des Spirituellen (Glaube) und des Säkularen (Wissen): Ignaz von Döllinger formuliert das Wissenschaftsverständnis vor, an dem Hertling ein halbes Jahrhundert später wiederum anzuknüpfen versucht.337
Noch im selben Jahr - 1845 - trat Constantin Höfler, deutlich polemischer, konfessionell polarisierender als Döllinger, mit einer Untersuchung „Über katholische und protestantische Geschichtschreibung" hervor. 338 Die Tendenz konnte er sich erlauben, veröffentlichte er seine Studie doch in der Hauspostille des Görreskreises, den „Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland", mußte also nicht wie Döllinger befürchten, ein wertneutraleres, mindestens aber nicht durchweg orthodox-katholisches Publikum durch Ideologentöne zu vergraulen. Überspitzt aber scharf spiegeln sich in Höflers Essay zwei entgegengesetzte Auffassungen von Wissenschaft, deren gegenseitige Unversöhnlichkeit viel beigetragen hat zum ebenso unversöhnlichen Streit um die Geschichtsbilder. Dies sollte im Auge behalten, wer glaubt, bei letzterem handle es sich um marginale Differenzen verschrobener Gelehrter aus einem längst vergangenen Jahrhundert, deren Grundlage spätestens die Bismarcksche Art von Realpolitik aus dem Felde geräumt habe. Zuinnerst streiten sich in der Auseinandersetzung um die Geschichtsbilder, die sich nach 1848/49 in die Groß-
336
Ebd., S. 36. Vgl. Hertling, Über die Aufgaben, S. 539: „Gott ist die Quelle aller Wahrheit." Zur Harmonie von Glaube und Wissen ebd.; vgl. auch o. S. 242. 338 Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung. Der größte Teil der Beiträge in den HPB11 erschien ohne Verfassernennung. Ein unentbehrliches Hilfsmittel zur Identifikation der Urheber liegt seit einigen Jahren vor: Dieter Albrecht / Bernhard Weber: Die Mitarbeiter der „Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland", 1838-1923. Ein Verzeichnis, Mainz 1990 (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 52; hier, S. 17 die Zuweisung des o. g. Artikels an Höfler. Darüberhinaus nennt Höfler die Studie über kath. und prot. Geschichtschreibung selbst unter seinen Schriften, in dem Verzeichnis, das er 1854 für die Wiener AkdW anfertigte (s. Lebenswege, Anm. 244), S. 298. 337
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deutsch-Kleindeutsch-Debatte kleidet, zwei Wissenschaftsbegriffe, zwei Wertsysteme, zwei Weltanschauungen. Höfler faßt diese - seiner Zeit entsprechend - konfessionell, hie katholisch, da, sozusagen als Feindbild, protestantisch. Das Unterscheidungskriterium glaubt er erkennen zu müssen im Bestand ,/ester, unerschütterlicher Principien" auf der einen, katholischen, in ,individueller Willkühr" auf der anderen, protestantischen Seite.339 Diese Distinktion gelte für Philosophie wie für Geschichtsschreibung. Gerade diejenigen, welche „mit der größten Emphase das Prädicat wissenschaftlich für sich in Anspruch nehmen", vermieden es permanent, die Frage nach den letzten Prinzipien, nach der „allgemein anzuerkennenden, unvergänglichen Basis" zu beantworten. Ohne eine solche Basis aber sei doch ein wissenschaftlicher Diskurs zwischen Vertretern verschiedener Ansichten ganz unmöglich.340 Der Sieg des Subjektivismus sei der „Tod aller Wissenschaft." 341 „Die vielgepriesene Freiheit der Philosophie ist deshalb nur scheinbar. Sie besteht nur im Irrthume allein. Will sie Wahrheit erstreben, so muß sie von Principien ausgehen, welche nicht selbst der Wahrheit den Zugang verweigern, freventlich die natürliche wie die göttliche Offenbarung in Frage ziehen. Sonst tritt sie in Zwiespalt mit der menschlichen Natur, mit sich, der Welt, und hat keine andere Action als die der Selbstzerstörung." 342 Viel weniger tief dringend, weniger geprägt von jener existentiellen Erfahrung der Verlorenheit eines Subjekts ohne transzendierende Orientierung, als die Ausführungen Döllingers, viel aggressiver, in einer den Gegner oftmals verletzenden Sprache gehalten,343 kommt doch hier dasselbe Streben nach dem einen, objektiven, über-menschlichen Fixpunkt zum Ausdruck, das Streben nach dem Prinzip der Einheit, im Gegensatz zur Beliebigkeit der subjektivistischen, bloß-menschlichen Vielheit, welche Höfler der „protestantischen" Wissenschaft, ihrem Rationalismus, Relativismus, Skeptizismus vorwirft. Wenn er allerdings meint, der Wissenschaftler, der Philosoph müßte neben den Gesetzen der Logik lediglich die Tatsachen von Natur und Geschichte berücksichtigen, an denen sich „nichts düpfeln und nichts deuten" lasse, um auf das letzte Prinzip gött-
339
Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 299 und 303. Ebd., S. 299. 341 Ebd., S. 309. 342 Ebd., S. 299. 343 Kleine polemische Blütenlese: „Ignoranten" (ebd., S. 298) - „Gesinnungslosigkeit" (S. 300) - „Pamphlete" (S. 302) - „Verhöhnung aller Moral, des Anstandes, des Rechts und der Billigkeit" (über Friedrich Christoph Schlossers Geschichte des 18. Jh., S. 302) - „bloß geistreich" (über Ranke, S. 305) - „Große Männer haben sich unter den Protestanten nur in sofern gebildet, als sie sich von den Fesseln ihrer Confession frei machten." (S. 311). 340
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licher Wahrheit ganz von selbst zu kommen,344 umgeht er behende das Zugeständnis jenes Ur-Glaubens, Ur-Wissens, welches Döllinger in der „Gewissenhaftigkeit des Gewissens" lokalisiert. 345 Höfler verflacht damit das System der Einheiten zugunsten der Polemik, zugunsten des vielleicht unbewußten Bestrebens, dem Gegner mit dessen eigenen, den Mitteln des Wissens beizukommen. Bei der Forderung nach Ausrichtung des menschlichen Erkenntnisstrebens auf das eine Urprinzip Gott bleibt er stehen, unter Verzicht auf eine wichtige Voraussetzung dieser Ausrichtung, auf die Einheit von Wissen und Glauben. Wie auch immer formuliert, in der vornehm zurückhaltenden Art Döllingers oder in der vorwärtsstürmenden, angriffslustigen, auch verflachenden Polemik Höflers - : der Katholik auf dem Boden orthodoxer Dogmatik kann eine „freie", „voraussetzungslose", das heißt nicht auf die eine Wahrheit göttlicher Offenbarung bezogene Wissenschaft nicht zugestehen; das gilt von Döllinger bis Hertling und darüberhinaus. Bei aller möglichen und berechtigten, hier aber nicht thematisierten Kritik an solchen Begriffen von Wissenschaft sollte jedoch nicht das unter Umständen auch verlockende Angebot des Katholizismus aus den Augen geraten, sollten nicht die Antworten verkannt werden, die er auf erkenntnistheoretische Fragen durchaus existentieller Natur zu geben vermag. Solche Fragen, in engem Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Studium der Geschichte, bewogen schließlich auch Historiker protestantischer Provenienz wie Böhmer, Hurter und Gfrörer, jene Antworten - der eine mehr, der andere weniger - anzunehmen. b) Historik: Geschichte, eine „adelige Wissenschaft" Daß der Geschichte innerhalb einer Hierarchie der Einzelwissenschaften eine besondere Rolle zukomme, darüber herrschte kein Dissens im Kreise Böhmers, Hurters, Gfrörers, Höflers und Döllingers. Letzterer gar, um in der Gedankenwelt der bereits bekannten Abhandlungen kurz noch zu verweilen, beförderte seinen Studenten gegenüber die Historie zusammen mit der Philosophie zu den „beiden Augen des menschlichen Geschlechtes." Sähen diese verdunkelt oder verzerrt, dann sei überhaupt „alle menschliche Erkenntniß verfinstert und zerrüttet." 346 Philosophie und Geschichte: Hauptleitsysteme des Erkenntnisstrebens - einen ähnlichen Weg beschritt auch Höfler, wenngleich mit anderen Gewichtungen. Da sekundieren Natur und Geschichte als Garanten des Tatsächlichen der Philosophie, um diese vor bindungslosem Umherirren zu bewah-
344
Ebd., S. 298. Döllinger, Irrthum, Zweifel und Wahrheit, S. 36: „Das also steht fest, daß der eigentliche Sitz der Gewißheit eben nirgends anders als in unserm Gewissen zu suchen und zu finden sei." Vgl. auch o. S. 246. 346 Ebd., S. 31. 345
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ren. 347 Nicht als Auge des Menschengeschlechtes, doch aber in ihrer alten Rolle der magistra vitae erscheint die Geschichte, als „objective", als „thatsächlichste aller Wissenschaften." 348 Sehen, Erkennen, den rechten Kurs halten: Geschichte gibt Orientierung. Kurz und prägnant, davon war Böhmer, vor den Enttäuschungen der Revolution von 1848 allemal, überzeugt, Geschichte - präziser, Vaterlandsgeschichte sei eine „adelige Wissenschaft". 349 Wodurch aber komme dieser Adel zustande? Ohne Zweifel durch die besondere Natur des Gegenstandes jener Wissenschaft von der Geschichte - der Geschichte eben. So richtet sich der Blick, einer Erörterung der Frage vorerst ausweichend, wie denn Geschichte als Wissenschaft verfaßt und betrieben werden solle, auf die Meta-Ebene des Prinzipiellen. Über das Wesen der Geschichte selbst gilt es mit den fünf Historikern zu philosophieren, um deren Ansichten über die Art des Adels zu bestimmen, den die Geschichte als Gegenstand von Wissenschaft verleihe. Friedrich Emanuel Hurter hätte seinem Bekannten Böhmer hinsichtlich des Adels der Historie sicherlich zugestimmt und sogleich auf deren göttlichen Ursprung verwiesen. Denn, so belehrt er zumindest Sohn Heinrich, die Welt lasse sich nicht nach Theorien schnitzeln; die Gestaltung ihrer Verhältnisse erfolge nach ganz anderen verborgenen Gesetzen und zwar nach dem Willen desjenigen, der gesagt habe: meine Gedanken sind nicht euere Gedanken und meine Wege sind nicht euere Wege, meist aber so, daß oft Jahrhunderte verliefen, bis jene Gedanken und deren Absichten dunkler oder klarer sich enthüllten.350 Eine einfache Angelegenheit: Geschichte gleich Lauf der Welt, gelenkt nach Gottes, des Weltschöpfers, Willen. Dem Historiker kommt dann lediglich die Aufgabe zu, diesen oft dunklen, verborgenen Willen retrospektiv zu rekonstruieren. Damit beginnen jedoch die Probleme, auf eine andere Ebene verlagert, von neuem. Auf welchem Wege nämlich kann eine solche Retrospektive erfolgreich sein? Dies aber führt weg von Hurter, hinein in den Komplex der Fragen nach den Möglichkeiten historischer Erkenntnis, welcher andere Antworten fordert, als die schlichten des Hofhistoriographen, in dessen Worten an Sohn Heinrich fast schon die Quintessenz seiner ,,Historik" erscheint. Übe der Geschichtsschreiber nur die kardinale Tugend der Wahrhaftigkeit, hatte Hurter bereits in „Geburt und Wiedergeburt" ausgeführt, lasse er schlechten Vorurteilen keinen Einfluß auf sich, dann befinde er sich schon auf dem richtigen Weg, stehe er „an der
347
Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 298. Ebd., S. 309 und 314. 349 Böhmer, Fragment „Über nationale Persönlichkeit" (s. Anm. 174), Bl. 7 V ; vgl. auch Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 233, allerdings ohne Quellennachweis. 350 Hurter an Heinrich Hurter, 13.11.1845 (Steinemann, F. Hurter - H. Hurter, S. 105). 348
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Pforte der Wahrheit". 351 Und dann müsse er sehen, wie Hurter einige Jahre später seinem weiland obersten Dienstherrn, dem „Durchlauchtigsten Fürsten Clemens Wenzeslaus Metternich-Winneburg" gegenüber hinzufügte, daß Geschichte durchaus etwas anderes sei, „als die vor den Augen der gesammten Mitwelt verlaufenden Thatsachen, wie Kriege und deren Wechselfalle, Friedensschlüsse und deren untrennbare Folgen für die Staaten", und daß dieses Andere keinesfalls aus „subjectiver Combination" sich ergebe. 352 Nicht zusammenhanglos und zufallig entfaltet sich also Geschichte, sondern gelenkt durch ein oberstes Prinzip. Daß ein solches die Welt im Innersten zusammenhält, war gleichfalls die Überzeugung von Hurters Kollegen, wenn die sich auch nicht unbedingt und zu jeder Zeit alle auf die Identifikation dieses Prinzips mit dem göttlichen Beweger im Sinne katholischer Dogmatik eingelassen hätten. Sowohl Döllinger und Höfler als auch Gfrörer und Böhmer verfügten da über größere geistige Spielräume als Hurter, durchliefen vielfaltigere Entwicklungsstadien. Aber grundsätzlich, vor 1848 zumal, leugnete keiner von ihnen eine Sinnhafitigkeit des Geschichtsverlaufes, einen Bezug auf ein oberstes Prinzip, das unter Umständen auch göttlich genannt werden durfte. Im Zusammenhang mit den „Grundpositionen" müssen die Entwicklungsnuancen vor allem der späteren Jahre ausgespart bleiben. Ignaz Döllinger und Constantin Höfler als renommierte Mitglieder des Görres-Kreises jedenfalls hätten während der vierziger Jahre an der Hurterschen Position noch kaum Korrekturen vorgenommen. Wer ihre Stellungnahmen aus„Irrthum, Zweifel und Wahrheit" sowie „Über katholische und protestantische Geschichtschreibung" zusammennimmt und etwas weiterdenkt, ist schon angekommen bei deren Begriff von „Geschichte" in jenen Jahren. Daß Geschichte sich - ohne große Interpretationsspielräume - unbedingt einzuordnen habe in jenen von der christlichen, und das heißt orthodox-katholischen Theologie gesetzten Rahmen des Weltverständnisses, erhebt sich im übrigen als Forderung gewissermaßen zwischen den Zeilen des großen Anti-Schelling-Aufsatzes Döllingers, folgt ganz selbstverständlich aus dessen Darlegungen über den göttlichen Schöpfungsakt. „Nach der christlichen Theologie existirt die Welt durch den Willen Gottes, sie hat einen Anfang [...], sie ist eine Schöpfung Gottes [...]. Die Welt hat keinen Grund ihres Daseyns in sich selbst, sie kann nicht unabhängig von Gott fortbestehen. Wie Er sie erschaffen hat, so muß Er sie auch erhalten, und ohne diese Erhaltung würde sie vergehen und sich in ihr Nichts wieder auflösen. Sie wird aber bestehen, denn so wie Gott die Welt gewollt hat, so will Er sie immer, weil
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Hurter, GuW I, S. 413. Vgl. auch ebd. Π, S. 155/156 Hurters Lob neuerer Entwicklungen in derfranzösischen Geschichtswissenschaft, die von solchen „Vorurteilen", etwa über das Mittelalter, zusehends Abstand nehme. 352 Hurter an Metternich, 1.11.1850 (UB Freiburg/Brsg., Autogr. 1376).
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der göttliche Wille unveränderlich ist." 353 Im Gegensatz aber zu Döllinger, der vor 1847 relativ kontinuierlich, auch hinsichtlich seines Geschichtsverständnisses, dem „klassischen Ultramontanismus" verpflichtet war, 354 wenn er diesen auch - wie anhand der Rektoratsrede demonstriert - gegebenenfalls nicht plump apologetisch sondern geschickt pädagogisch zu vertreten wußte, hatte Höfler zunächst die Philosophie Schellings angenommen und deren Inhalte dann für sich selbst, vor allem unter den römischen Eindrücken, zu orthodox-katholischem Weltverständnis umgemünzt. So herrschen Schellingsche Theoreme in Höflers Dissertation „Zur Geschichte der Anfange der Griechen" ebenso vor wie in seinen Disputationsthesen, welche seine Ansichten über Geschichte etwas abstrakter formulieren: Historie erscheint ihm da expressis verbis als permanente Offenbarung Gottes, wobei dem Geschichtsphilosophen die Aufgabe zufalle, als wahres Geschehen jenes Walten Gottes in der Geschichte zu enthüllen.355 Denn nicht als spezialisierter Fachhistoriker sieht sich ja der Schüler Schellings, sondern vielmehr als Philosoph mit universalhistorischem Blickwinkel. Ohne an dieser Stelle den komplexen Schellingschen Zusammenhang zwischen Geschichte und Natur, Mythos, göttlicher Offenbarung und Freiheit darzulegen, auf den Höfler permanent Bezug nimmt, 356 genügt der Hinweis, daß der spekulative Kopf auf der Suche nach Gott in der Geschichte dem Geist relativ freien Lauf lassen kann, während dem orthodoxen Katholiken die Weisungen der römischen Kirche für die Richtung der Suche maßgeblich werden, um wenigstens den formalen Unterschied Schellingscher und ultramontaner Position sofort zu erfassen. Im übrigen verdeutlichen die nach Höflers Wende entstandenen „Deutschen Päpste" auch den inhaltlichen Unterschied: da vollzieht sich nämlich auf einmal der göttliche Heilsplan durch die Einsetzung und in den Geschicken der römischen Kirche, inkarniert sich göttliches Walten in einer irdischen Institution und kann sich keineswegs mehr den Augen des Pantheisten überall zeigen.357
353 [Ignaz Döllinger]: Die Schelling'sehe Philosophie und die christliche Theologie, in: HPB11 11 (1843), S. 585-601 und 753-769, hier S. 756/757; Zuweisung durch Albrecht/Weber, S. 16. 354 Vgl. dazu auch Hermann H. Schwedt: Vom ultramontanen zum liberalen Döllinger, in: Denzler / Grasmück, S. 107-167, hier S. 107. 355 Borodajkewycz, S. 69. - Trotz intensiver Nachforschungen im Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität München, für die ich zusätzlich Herrn Michael Schaich zu Dank verpflichtet bin, konnte das Original der Disputationsthesen Höflers nicht mehr aufgefunden werden. Bis auf weiteres bleibt deshalb nichts anderes übrig, als von den knappen Angaben bei Borodajkewycz auszugehen. 356 Einige Andeutungen dazu o. S. 136/137; ausführlicher Borodajkewycz, S. 68-70. 357 Höfler, Die deutschen Päpste; hier z. B. I, S. 6 über die Zeit der Völkerwanderung: ,»zugleich [...] brach die Vorsehung von dem äußeren Bau der Kirche wieder ab, was Menschliches daran war, entfesselte die noch übrigen Reste heidnischer Wuth und
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Geschichte, begriffen als Manifestation göttlichen Waltens - eine Sichtweise mit Wurzeln in eher religiös-theosophischen Interessenbereichen. Auf der Hand liegt, daß sich der hier ansetzende Historiker zunächst weniger Fragen politik- und diplomatiegeschichtlicher Natur zuwenden wird, daß er sich universalistischer orientiert, weniger auf eine Nation, ein Vaterland bezogen, im historischen Kosmos bewegen wird. Da bestätigt sich im geschichtsphilosophisch erweiterten Bereich der „Historik" ein Befund der „Grundurteile": der reformierte Pfarrer Hurter auf seinem persönlichen Weg zum Katholizismus, der Theologe und Kirchenhistoriker Döllinger, der philosophisch orientierte Schellingadept Höfler, sie alle neigen in ihrer Frühzeit jener Richtung zu. Als sie sich seit der zweiten Hälfte der vierziger Jahre stärker auch mit „vaterländischer", deutscher, mit politischer Geschichte befaßten - Hurter im „Ferdinand II.", Döllinger mit Einschränkungen bereits in der „Reformation" sowie wenig später in der Lutherskizze, Höfler im „Friedrich II." - , schwangen diese Ursprünge natürlich mit und prägten auch diese Werke. Anders bei Gfrörer und Böhmer. Sicher, auch Gfrörer begann als Theologe, auch er wandte sich zunächst der Geschichte des Christentums, der Kirchengeschichte zu, auch er war der Meinung, nicht gerade Kriege, Friedensschlüsse und Staatsaktionen machten das Wesen der Geschichte aus.358 Aber diese interessierten ihn besonders; einem hypothetischen Walten Gottes in der Geschichte hinterherzuspüren, erschien ihm zu abstrakt; Konkretes wollte er wissen: „in der Geschichte gilt nur das, was wirklichen Einfluß auf das Bestehen und Gedeihen der Länder hat." 359 Gfrörer drängte es, auch in seinen kirchengeschichtlichen Werken, zu harten Fakten, und seit der „Geschichte unserer Tage", seit „Gustav Adolph", seit den „Carolingern" besonders zu harten Fakten in Zusammenhang mit der Geschichte seines Landes, Deutschlands. Aber worin bestand dann jenes Band, welches all das Einzelne seiner Ansicht nach zum Sinnvollen zusammenfaßte? Da legte sich Gfrörer prinzipiell nicht fest, entschied im Einzelfall. Allemal aber sah er verborgene und geheime Motoren das Rad der Geschichte treiben; deren Entdeckung stellte Gfrörer dem Historiker zur Aufgabe, wolle dieser wirklich ins Innerste der Historie vordringen. „Um die Begebenheiten in ihr natürliches Licht zu stellen, muß der Geschichtschreiber die wahren Triebfedern der handelnden Personen und ihren Charakter enthüllen; denn nur auf dem angegebenen Wege mag er ein wohlgetroffenes Bild
richtete diese gegen die Kirche selbst, eine ewig denkwürdige Probe veranstaltend, ob, im Sturme untergehend, sich ihre Ordnung als Menschenwerk, ob sie, im fürchterlichen Drange bestehend, sich göttlicher
Art und des verheißenen Geistes würdig
[Hervorhebung Th. B.]; s. auch o. S. 141/142. 358 Freymund / Gfrörer, Geschichte unserer Tage, Jg. 18301, S. 453. 359 Ebd., S. 461.
bewähre
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verschwundener Zeiten entwerfen." 360 Von Gfrörers eigentümlicher Methode auf dem Wege zu diesen Triebfedern wird die Rede noch sein. Vorerst genügt der Hinweis auf jenen anderen Impetus, der ihn beflügelte, dachte er an Geschichte, und der ihn sehr viel früher als Hurter, Döllinger, Höfler zu einer Beschäftigung mit der „deutschen Frage" brachte. Wie schließlich Johann Friedrich Böhmer, der Jurist, berührt worden war von dem ersten nationalen Aufbruch der Befreiungskriege, von der romantischen Rückwendung zum „ächt teutschen", von der reformatorischen Bewegung der neudeutschen Künstlerschule, bedarf keiner Wiederholung.361 Wohl aber ergibt es Sinn, die Linie von diesen prägenden Einflüssen aus bis auf seinen Begriff von Geschichte zu verlängern, schon deshalb, weil Böhmer von den fünfen am intensivsten im Sinne einer Historik theoretisierte und dann auch, über Johannes Janssen und Julius Ficker, stark weiterwirkte. Wo die einen Gott ins Zentrum historischen Geschehens rücken, erscheinen bei Böhmer Begriffe wie „Volk" und „Nation", „Recht" und „Constitution" als die Essentia geschichtlicher , Adeligkeit". Führte von diesen Begriffen aus bereits ein Weg zu seinen Grundurteilen über deutsche Geschichte,362 so helfen sie gleichzeitig mit, auch deren Urteils-Grund verstehen zu lernen. Fast erübrigt sich der Hinweis auf hochromantische Ursprünge, wenn die Geschichte auftritt als Charakterprofil ,überindividueller Gesamtpersönlichkeiten',363 wenn Böhmer seine Auffassung vom Wesen der Geschichte in das Postulat kleidet, diese sei nichts anderes als der Heilige Schrein des Selbstbewußtseins der Völker und Nationen. Leitmotivisch kehrt jene Grundauffassung in den Jahren vor der Revolution immer wieder, als müsse sich Böhmer des letzten Grundes seines historiographischen Schaffens ständig vergewissern - in der Ankündigung des Codex diplomaticus Moenofrancofiirtanus, in diesem selbst, in den Karolingerregesten von 1833, in den Selbstrezensionen der Fontes, in der Programmschrift der geplanten „katholischen Stiftung für deutsche Geschichte" von 1844: „In der Geschichte einer Nation scheint mir auch ihr Selbstbewußtsein zu liegen, und das ,Erkenne dich selbst4 scheint mir nicht bloß auf die Individuen anwendbar, sondern auch auf die Nationen, zumal dann, wenn deren äußere Zustände gewaltsam erschüttert 360
Gfrörer, Kirchengeschichte II, Vorrede, S. V. S. o. S. 77-79. 362 Vgl. dazu o. S. 196-207. 363 Hier im Sinne von Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, München 91969 (= Friedrich Meinecke Werke, Bd. V), S. 17: „Die hohe, all unser Denken und Sorgen um den Staat tragende und rechtfertigende Erkenntnis, daß der Staat eine ideale, überindividuelle Gesamtpersönlichkeit sei, konnte erst voll errungen werden, als die Gemeinschaftsgefühle und Energien der einzelnen Bürger in ihn hineingetragen wurden und ihn zum Nationalstaat umwandelten." - Auch Böhmer begriff ja sein Wirken als Dienst an einer solchen Umwandlung, wenn auch nicht unbedingt unter den Vorzeichen preußischer Hegemonie. 361
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wurden und wenn dadurch die ursprüngliche Persönlichkeit derselben (welche doch kein willkürliches Menschenwerk ist) Verdunkelungen erlitten hat." 364 Doch bleibt Böhmer nicht stehen bei einer Begriffsbelegung, die für sich allein kaum weniger formalistisch wäre als diejenige vom Walten Gottes. Das zeichnet sein Denken aus, im Gegensatz zum oftmals nebulösen Schwärmen Hurters oder Höflers, daß es präziser zu fassen weiß, worum es ihm geht. Wenn die Geschichte Auskunft erteile über den Charakter einer Nation, über deren ,Persönlichkeitsprofir, so nur deshalb, weil sie die Entwicklung des spezifischen Rechtes, der spezifischen „Verfaßtheit" 365 dieses Organismus bewahre,
364 Johann Friedrich Böhmer: Katholische Stiftung für deutsche Geschichte, 1844 (bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 412-422; Zit. S. 413); bereits in den Kunstvorträgen der frühen zwanziger Jahre im Frankfurter Museum entwickelte Böhmer diesen Gedanken (zit. bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 78). Die weiteren Stellen: „Um so dringender ist es nun, daß wenigstens der Geschichtschreiber das Gedächtniß der Vergangenheit erhalte und - wie solches das Amt der Historie ist - dem Gemeinwesen die Selbstkenntniß bewahre." (Studienprogramm - s. Lebenswege, Anm. 30 - , S. 431). - Die Archive „bewahren [...] einen grossen theil der geschichte, also der selbstkenntniss unserer nation." (Codex diplomaticus Moenofrancofurtanus, Vorrede, S. XII). - „Wenn es wahr ist, dass das Selbstbewußtseyn der Nationen in ihrer Geschichte ruht, und wenn Niemand seiner selbst vergessen, sondern vielmehr sich kennen soll, so werden Zeit und Kraft hier nicht vergeudet seyn." (Regesta Karolorum, Vorrede, S. X). - „Wir würden dann an unserer Geschichte im vollsten Sinne des Wortes besitzen, was sie uns seyn soll: das Selbstbewußtseyn der Nation." (/Johann Friedrich Böhmer]: Die neueste Sammlung geschichtlicher Quellenschriften Deutschlands, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, 262 vom 19.9.1843 und 263 vom 20.9.1843, S. 2045/2046 und 2053/2054, hier S. 2045 - Zuweisung des anonymen Artikels durch Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 233). 365
Böhmer spricht von „Verfaßtheit", synonym dazu aber auch von „Verfassung". Fällt letzterer Terminus, so sollte sein weites inhaltliches Spektrum in der Verwendung durch Böhmer bewußt sein. Wo ein modernes Verständnis nur allzuleicht an die Errungenschaften der parlamentarischen Demokratien, an Grundgesetze und Verfassungstexte denkt, begreift Böhmer unter „Verfassung" („Verfaßtheit") die Summe all jener „ReichsGesetze", die im Laufe von Jahrhunderten den Rechtszustand eines Reiches, eines Staatswesens konstituierten, festschrieben. Für das Heilige Römische Reich schlug er bereits 1832 als Reichs-Gesetze vor: 1) eigentliche zwischen Kaiser und Reich verabschiedete Gesetze; 2) einseitige Verfügungen des Reichsoberhauptes in bezug auf schon bestehende Gesetze oder allgemeine Gnadenverleihungen; 3) für das ganze Reich gültige Verträge, ζ. B. Konkordate mit den Päpsten; 4) fremde Verfugungen mit politischen Auswirkungen auf das Reich, ζ. B. die päpstliche Absetzungsbulle gegen Friedrich II.; 5) Urkunden, ganze oder mehrere Provinzen des Reiches betreffend; 6) Rechtssprüche der Kaiser; 7) Bündnisse und Landfriedensschlüsse der Reichsstände, welche die Grundlage des ewigen Landfriedens und der Kreiseinteilung wurden (Johann Friedrich Böhmer: Die Reichs-Gesetze von 900 bis 1400, Frankfurt/M. 1832, S. 3/4). Vgl. hierzu, wie
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auf daß Generation um Generation - besonders in Krisenzeiten - damit vertraut werde. „Das Rechtsgefühl weist uns auf die Anerkennung des unbestrittenen Besitzstandes und auf die Beachtung des thatsächlich Überkommenen hin, und dieses vermögen wir hinwieder in den größeren Verhältnissen nur aus der Geschichte verstehen zu lernen." 366 Folgerichtig markiert Böhmer die Geschichte von Recht und Verfaßtheit einer Nation beziehungsweise eines Staates als das Zentrum der Geschichte überhaupt. „Die Geschichte der äußern Grenze ist nur das Äußere der Geschichte. Die Constitution ist das Innere." 367 Bleibe zunächst die Frage nach Böhmers Begrifflichkeit von „Nation", „Staat", „Recht" und „Constitution" zurück und sei erinnert an die diesbezüglichen Ausführungen in den „Grundurteilen", 368 genüge auch hinsichtlich des inneren Weges Böhmers der Hinweis auf die Logik, mit welcher aus diesem Geschichtsverständnis die Urkundenregesten folgen, als eine Art Sicherung des Rechtszustandes des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. 369 Beharre der Blick dagegen weiter noch auf dem Vergleich der beiden Urteilsgründe, aus denen sich katholizistisch-konservative, großdeutsche Historiographie entwickeln kann. Wie Hurter, Döllinger, Höfler, wie Gfrörer lehnt auch Böhmer ab, die bloße Folge äußerer Ereignisse als Geschichte zu begreifen. Aber während die religiös-theosophische, letztlich katholizistische Position ersterer den inneren Zusammenhang im Walten Gottes erkennt, während Gfrörer in seltsamer Zwischenstellung das rein Faktische einerseits zurückweist, dann aber unter der Prämisse verborgen wirkender, geheimer Kräfte doch wieder darauf zurückkommt, stellt Böhmer die Tradierung des Rechtszustandes einer Res Publica in den Mittelpunkt geschichtlichen Seins. Beide Ansätze liegen nahe beieinander. Gerade katholizistisch-konservative Legitimisten vom Schlage Hurters und Höflers leiten ja staatliche Rechtsverhältnisse gleichfalls aus der göttlichen Fügung ab. Doch hinsichtlich des Geschichtsbegriffes unterscheidet sich Böhmer ganz massiv von dieser Haltung, eben durch seinen direkten Rekurs nicht auf Gott, sondern auf das Recht als Indikator nationaler Persönlichkeit. Mag auch für ihn der Rechtszustand nicht absolut menschlichem Bemühen entspringen, mag auch er ihn letztendlich auf Gott zurückführen, 370 so entzieht sich dieses Verhältnis von Gott und Recht für Böhmer doch der Frage nach dem Wesen der auch zu Böhmers Begriff von „Staat" und ,Ration" o. Kap. „Grundurteile", S. 147-150 und 196-207 sowie u. Kap. „Negativ und Positiv", S. 342-346. 366 Böhmer, Katholische Stiftung für deutsche Geschichte, 1844 (bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 412-422; Zit. S. 413). 367 Böhmer an Guido Görres, 12.12.1833 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 222). 368 Vgl. Anm. 365. 369 Das „innerste Herz" der allgemeinen Reichsgeschichte, so Böhmer, schließe sich in den Regesten auf (Böhmer, Regesten 911-1313,1831, Vorrede, S. XIII). 370 Im Fragment „Über nationale Persönlichkeit" spricht er einmal ausdrücklich von der „gottgeschaffenen Stammespersönlichkeit"; vgl. u. Anm. 380.
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Geschichte. Als Funktionsverhältnis von Mensch und Recht in der Zeit bleibt Geschichte ganz irdisch, während ihr im anderen Falle als Funktionsverhältnis von Mensch und Gott in der Zeit auch eine überirdische Komponente anhaftet.
Ob aber nun irdisch oder nicht, ob Recht oder Gott als Nucleus der Historie: beide Zugriffe - und schon verlaufen sie wieder ganz parallel - implizieren bestimmte Vorstellungen von der Kontinuität geschichtlicher Prozesse. Bedeutend erscheint da vor allem die Beobachtung, daß abrupte Veränderungen, radikale Brüche sich niemals einfügen lassen in den Rahmen solcher Begrifflichkeit. Was aber sind abrupte Veränderungen, radikale Brüche im Erfahrungshorizont der Fünf anderes als Revolutionen? Eine der Erklärungen des Negativcharakters, den jenes Phänomen „Revolution" im Denken der katholizistischkonservativen, großdeutschen Historiographen einnimmt, folgt so aus der Analyse ihrer Geschichtsbegriffe. Denn wenn tatsächlich, um Hurters Perspektive wieder aufzugreifen, die Welt sich nach den Gesetzen Gottes bewegt, jedoch deren Richtung sich oftmals erst nach Jahrhunderten enthüllt,371 muß dann nicht jedes gewaltsame menschliche Eingreifen als „Umsturz göttlicher Ordnung in Kirche und Staat"372 Verurteilung finden? Und wenn tatsächlich, wie in Höflers frühen Thesen, Gott als fatum divinum die Geschichte treibt, wenn schließlich in den katholisch-orthodoxeren „Deutschen Päpsten", im „Friedrich II." dieses fatum divinum zur Vorsehung als geschichtlicher Kraft mutiert, 373 muß dann nicht das Verdikt gegen die Revolution lauten, die Völker hätten kein Recht, in gewissen Verhältnissen zu rebellieren? 374 Selbstverständlich feiert da das Gottesgnadentum als Rechtfertigung von Herrschaftsverhältnissen unter Umständen fröhliche Wiederkehr und selbstverständlich kann diese Haltung noch die maßloseste Restaurationspolitik legitimieren. Aber die Ablehnung jeglicher Revolution entspringt nicht aus bloß tagespolitischen Urteilen und sie bezieht sich nicht nur auf Tagespolitik, wenngleich solche Erfahrungen natürlich zur ihrer Bestätigung beitragen. Sie wurzelt vielmehr tief in grundsätzlichen Regionen der Weltsicht jener Historiker, in deren Grundverständnis von Geschichte. Von hier aus entwickelt sich das Schlagwort „Revolution" zum Signum der
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Hurter an Heinrich Hurter, 13.11.1845 (Steinemann, F. Hurter-H. Hurter, S. 105). Hurter, GuWI, S. 28. 373 Borodajkewycz, S. 69. Zu Höflers Disputationsthesen vgl. Anm. 355. - Im „Friedrich Π." beispielsweise erscheint die Niederlage des kaiserlichen Heeres vor Parma 1248 als „Gottesurteil" (S. 248); der deutsche König Wilhelm von Holland tritt auf als Vollstrecker, berufen von einer höheren Ordnung (S. 256). 374 So Höfler an Hurter, 10.1.1845 (Samen, NL Hurter) über Niebuhr. Dessen Vorlesungen über das Revolutionszeitalter hingen zwar diesem„Irrthum" an, seien ansonsten aber ein „Manuale conservativer Gesinnungen und conservativer Lebensanschauung." Vgl. zum Urteil der Großdeutschen über Niebuhr auch u. S. 464/465. 372
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geschichtlichen Negativkraft schlechthin, welche immer dann zur Interpretation bemüht wird, wenn radikale Brüche die vermeintliche, göttlich geleitete Kontinuität historischen Geschehens stören. Im Zusammenhang mit den Grundurteilen über die Reformation vor allem trat dieses Deutungsmuster auf und wird auch fürderhin, gerade mit Blick auf die Bewertung Preußens durch die Großdeutschen noch Erwähnung finden. Und schließlich wird, mit den Ereignissen von 1848/49 die Frage der „Revolution" sowie der Revolution als geschichtlicher Kraft neue Nahrung erhalten, wird in der zweiten Generation der Großdeutschen, insbesondere bei Carl Adolf Cornelius, neuer Behandlung entgegengehen. Revolution als Negativkraft bricht gewaltsam ein in den kontinuierlichen Lauf göttlichen geschichtlichen Waltens. Sogar August Friedrich Gfrörer, beständig auf der Suche nach höchst menschlichen „geheimen Triebkräften", mochte eine solche übergeordnete Kontinuität nicht leugnen. Die Vorsehung, konstatiert er mit Blick auf die deutsche Geschichte als Ganzes und möglicherweise am Ende seiner kombinatorischen Weisheit, habe die Einigung Deutschlands zu einem starken Zentralstaat wohl verhindert. Dieser sollten „wir uns ohne Murren unterwerfen." 375 Murren stünde im übrigen dem Betrachter solcher etwas verschwommener Ansichten von Vorsehung und göttlichem Walten durchaus an, fände er im Denken der ersten Generation großdeutscher Historiker nicht auch präzisere Theoreme über maßgebliche geschichtliche Wirkungskräfte. Da führt der Weg einmal wieder zu Johann Friedrich Böhmer, wenngleich auch Hurter die Richtung gelegentlich bereits andeutet: organologische Metaphorik als Deutungsmuster geschichtlichen Werdens und Vergehens.376 „Ich bin kein Freund der chemischen Entwicklung, sondern der organischen; jene macht stinken", überliefert Janssen eine Gesprächsäußerung Böhmers. 377 Diese Einstellung ergänzt sich sinnfällig mit Böhmers Konzept von der Geschichte als dem Speicher des Selbstbewußtseins der Nationen und vom Recht als sozusagen genetischem Code dieses Selbstbewußtseins. Kein weiter Weg führt von der überindividuellen Gesamtpersönlichkeit „Nation" zu einem organologischen Bild ihres „Lebens". Böhmer kleidete seine Vorstellungen oft und gern in solche Bilder, am ausführlichsten in den beiden Fragmenten der vierziger Jahre, „Das alte Reich und die Stämme" sowie „Über nationale Persönlichkeit". Seinen Begriff von Geschichte - und auf diesem soll weiterhin der Akzent der Betrachtung liegen - verwob er dabei eng mit der tagespolitischen Zwecksetzung dieser Entwürfe. „Eine Nation gleicht dem einzelnen Menschen. 375
Gfrörer, Gustav Adolph, 1. Aufl., S. 1041; vgl. auch ebd., S. 300. Hurter, GuW I, S. 40: Plädoyer für die Verteidigung des Gewachsenen und von alters her Überkommenen; ebd., S. 327: organischer Aufbau und organische Scheidung der Glieder der Kirche in Leib und Seele. 377 Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 264, Anm. 376
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Dieser ist Anfangs hülflos und lernt erst allmählig seine Kräfte zu gebrauchen, seine Lage zu erkennen, und seinen Beruf zu erfüllen, dergestalt, daß seine eigentliche Persönlichkeit wesentlich in diesem Bewußtsein besteht, und daß er, wenn er plötzlich das Gedächtniß verlöre, unfähig wäre, sich zu ernähren und zu kleiden, zu arbeiten und zu feiern, Freunde und Feinde zu unterscheiden. Ähnlich hängen die Nationen mit der Vergangenheit zusammen, die ihnen das Land überliefert hat, in dem sie wohnen, der Boden, der sie nährt, die Kenntnisse und Fähigkeiten welche sie üben, mit einem Wort: das Bewußtsein, das sie zu denjenigen macht was sie sind."378 So besteht zwischen der Geschichte einer Nation und deren „Persönlichkeit" ein fundamentaler Zusammenhang, welcher wiederum durch organisches Wachstum entsteht. „Ich sage, da Staaten keine Maschinen sind, so darf nicht Willkür sie zusammensetzen, sondern als Organismen bestehen sie aus historisch erwachsenen Gliedern." 379 Hier erfolgt auch Böhmers Rückkopplung der Geschichte an das göttliche Wollen: die „organisch entstandene" ist identisch mit der „gottgeschaffenen Stammespersönlichkeit". Dagegen entspringt „willkührlich und oft gewaltsam aufgebautes staatenthum, für welches der ausdruck Vaterland ein schnöder mißbrauch der spräche wäre", 380 dem störenden Eingriff der Revolution in den Ablauf organischen Werdens. Der Schlamm derfranzösischen Revolution, heißt es in einer wahrscheinlich früheren Aufzeichnung Böhmers, sei auf unseren Feldern liegengeblieben.381 - Überflüssig zu betonen, daß auch innerhalb dieser organologischen Geschichtsmotorik die Revolution den ersten Rang auf der Skala der Negativwerte einnimmt. Der Unterschied zur rein katholischen Auffassung bedarf hingegen noch einmal der Verdeutlichung. Nicht primär um die Be- und Ergründung göttlichen Waltens durch Historiographie geht es Böhmer, sondern - mit einem Impetus in Richtung aktiven Handelns - um die Beschreibung jenes organischen Werdens als Grundlage der Kenntnis des Selbstbewußtseins seiner „Nation", Deutschlands, auf daß sich, in einem nächsten Schritt, aus dieser Kenntnis eine neue Ordnung erhebe.
Vielfältige Implikationen hinsichtlich der Aufgaben des Geschichtsschreibers, hinsichtlich des Berufes des Historikers leiten sich aus solchen Vorgaben ab. Sie weisen hinüber in das eigentliche und engere Feld der Historik, welches 378
Böhmer, Fragment„Das alte Reich und die Stämme" (s. Anm. 4). Böhmer an Passavant, 8.8.1822 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 107). 380 Böhmer, Fragment „Über nationale Persönlichkeit" (s. Anm. 174), Bl. 1R. 381 Johann Friedrich Böhmer: Fragment „Verfall der Religion und Kirche seit 1750" (UB Frankfurt/M., NL Böhmer 1 F V 8, Bl. 9/10). Aus dem Vergleich mit anderen Aufzeichnungen Böhmers, v. a. aus der Handschrift, kann ein vorsichtiger Schluß auf das höhere Alter dieses undatierten Fragments gezogen werden. 379
1*
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Auskunft erteilen soll, wie denn nun aus diesem so oder so begriffenen Wesen, dem so oder so beschriebenen Adel der Geschichte eine Wissenschaft von der Geschichte erwachsen solle. Nicht nur innerhalb der ersten Generation der Großdeutschen, sondern innerhalb der Gesamtentwicklung deutscher Geschichtswissenschaft des neunzehten Jahrhunderts, kommt da Johann Friedrich Böhmer eine zentrale Position zu. Allein der Blick auf die Hauptfrucht seines Schaffens, die Kaiserregesten, belegt, wie sehr Böhmer bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts sein Fach geleitet hat auf dem Weg von der „Historia vulgivaga" zur „Historia critica". 382 Böhmers historiographisches Wirken entbehrte keinen Augenblick der methodologischen Unterfütterung. Aber nicht nur das „materielle" Ergebnis seiner Reflexion, die Regesten, vielmehr auch der Versuch, in Briefen und sonstigen vielfaltigen Aufzeichnungen, ja in einer - dann freilich nie ausgeführten - „Historik" diese methodischen und methodologischen Bemühungen zu fixieren, weiterzugeben, mit ihnen Anregung zu stiften, führt Böhmer nahe heran an den Kreis der ganz großen Gestalter deutscher Geschichtswissenschaft: Ranke, Pertz, Waitz, Droysen. 383 Wenn Böhmer noch acht Jahre vor seinem Tode die Forderung nach einer „Hodegetik zur Geschichte, einer Methodik der historischen Arbeit" aufstellte, einen,Angriffsplan für das gesamte Geschichtsstudium" als „pium desiderium" reklamierte, so verschwieg seine vornehme Art, wieviel er selbst bereits dafür geleistet hatte.384 Böhmers Lebenslauf, insbesondere seine Mitarbeit bei den Monumenta Germaniae Historica seit 1823, die ihn für Grundsatzfragen äußerst sensibilisierte, trug besonders zu seiner späteren Brillanz auf diesem Gebiete bei. Im Gegensatz zu den Theologen Döllinger und Hurter „lernte" Böhmer Geschichte als Handwerk ausschließlich durch eigene, konkrete Forschungstätigkeit. Dies unterschied ihn andererseits auch von Höfler, der Geschichte als Fachwissenschaft an der Universität studierte, noch dazu mit einer anfangs stark geschichtsphilosophischen Akzentuierung. So nimmt es nicht wunder, wenn sich
382
Böhmer an Kopp, 1. 1. 1854 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe m, S. 105). Srbik, Geist und Geschichte I, S. 236/237 bewertet Böhmers Leistungen ähnlich hoch, wenn er betont, der „bedeutende Mann" sei der erste gewesen, der „ein wissenschaftlich tragfahiges Urkundenbuch" herausgab, und auf den „gewaltigen Fortschritt in der Methode der Urkundenverwertung" hinweist, den Böhmer mit den Kaiserregesten erreicht habe. Da spiegelt sich die allgemeine Anerkennung Böhmers innerhalb der kollektiven Erinnerung der Zunft, wenngleich sich diese oftmals zu einseitig auf die, freilich gewichtigen, konkreten Ergebnisse seiner Arbeit bezieht und vor allem jene theoretischen Leistungen vergißt, auf die im folgenden ausführlicher einzugehen sein wird. Auch Kleinstücks Böhmer-Biographie deutet übrigens diesbezüglich allenfalls an, statt konturiert die Historik Böhmers herauszuarbeiten (etwa S. 225-229). 384 Böhmer an Chmel, 23.6.1855 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΙΠ, S. 147). 383
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Böhmer vor diesen in der Historik auszeichnet - was andererseits nicht heißt, daß unter den Fünfen nur er in jene Richtung dachte. Nur er aber dachte unter ihnen so ganzheitlich, alle Aspekte von Geschichte als Wissenschaft erfassend, durchschritt in theoreticis den gesamten Weg des Historikers von der ersten Quellensammlung bis zur abschließenden Darstellung. „Die verschiedenen Functionen bei der geschichtlichen Arbeit, die aber in einander überfließen und auch mit Absicht vereinigt werden können, hatte ich mir so gedacht: 1) Aufsuchung und Bereitlegung des Materials, 2) Discussion der zweifelhaften Puncte, der Lücken u.s.w., also Forschung, 3) Darstellung des Verlaufs. Diese setzt die gewonnene Verständniß voraus und ist Gegenstand von Kunstbehandlung, 4) Beurtheilen und Verstehen."385 Dieser Einteilung zufolge entsteht Geschichte als Wissenschaft zunächst in methodisch-technischer Hinsicht (Punkt eins und zwei) durch Festlegung und Beschreibung der handwerklichen Voraussetzungen, die der Historiker zu erbringen hat, um als Wissenschaftler gelten zu können? Erst mit Punkt drei und vier betritt er Gebiete, welche sein Wirken unmittelbarer an die Bedürfnisse der eigenen Gegenwart knüpfen: Darstellung, Beurteilung und schließliches Verstehen seiner Forschungsergebnisse verleihen diesen einen aktuellen Bezug, und dadurch erst erfüllt sich seine Aufgabe ganz. Die Frage nach Geschichte als Wissenschaft stellt in Böhmers Einteilung demnach lediglich die Frage nach den Aufgaben des Historikers in anderer Form. Beide, Geschichte als Wissenschaft sowie der Historiker als Wissenschaftler, können nicht im methodisch-technischen Raum allein stehen: ihre Rückkopplung an die drängenden Probleme der Gegenwart bleibt unerläßlich. Welche Stellung, wo überhaupt, beziehen die anderen Vertreter der ersten Generation großdeutscher Historiker zu Vorgaben dieser Art, wie füllt sie Böhmers Ansatz selbst mit weiterem Inhalt, und schließlich: welche Antworten erteilt das metahistorische Denken dieser Historiker auf die abschließende Erkundigung
385
Böhmer an Fridegar Mone, 25.10.1858 (Weech, S. 677; leicht verändert und ohne Nachweis auch bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 357). Wenn auch diese Einteilung aus Böhmers letzten Lebensjahren stammt, aus einer Periode, in der sich seine Ansichten in vielerlei Hinsicht gewandelt hatten, kann doch gerade sie als eine Konstante, eine „Grundposition", aufgefaßt werden, von der Böhmer im Wesentlichen nie abgegangen wäre. Seine Äußerungenfrüherer Jahre faßten, wie die Ausführungen unten zeigen, die Trennung der vier Punkte eher noch kategorischer. Ein zusätzlicher wichtiger Grund, Böhmers Schema hier anzuführen, liegt in den Möglichkeiten, daraus wiederum eine Schematik für die Darstellung der metahistorischen, theoretischen und methodologischen Überlegungen der ersten Generation katholizistisch-konservativer, großdeutscher Historiker, insbesondere auch der„Historik" Gfrörers und Böhmers selbst abzuleiten. - Die Wandlungen des späten Böhmer wären im Zusammenhang mit seiner Wirkung auf die zweite Generation der großdeutschen Historiker darzustellen.
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nach dem höchsten und letzten Zweck von Historiographie, nach der höchsten und letzten Berufung des Historikers? Wenig nur, Allgemeinplätze fast immer, bieten hierzu Döllinger, Höfler, Hurter. Ihre knappen Einlassungen beziehen sich obendrein ausschließlich auf die beiden letzten Punkte des Böhmerschen Schemas - über Handwerklich-Technisches schwieg man sich aus. Höfler zog erst in späteren Jahren solche Probleme in seinen Gesichtskreis, nachdem die Bamberger Zeit ihm dahingehend neue Impulse vermittelt hatte.386 Döllinger arbeitete primär über Fragen ganz anderer Natur und auch Hurter hielt sich nicht lange mit der Diskussion solch grundlegender Aspekte auf. Zwar erkennt er es als eine hohe Aufgabe des Historikers an, ,jene todten [archivalischen, Th. B.] Schätze in den Verkehr zu bringen, sie in nutzbares Gemeingut zu verwandeln", 387 wofür er - ganz im Einklang mit seinen Ausführungen über die Wahrhaftigkeit als historiographische Kardinaltugend - eine Gewissenhaftigkeit des Geschichtsschreibers fordert, welche der christlichen Gewissenhaftigkeit sehr nahe verwandt sei. 388 Aber diese Ausführungen bleiben vage und mögen als typisch stehen für die Art der theoretisierenden Äußerungen Hurters, Höflers, Döllingers zum Thema Historik, zumindest in den Jahren vor der Revolution. Andererseits heißt dies jedoch nicht, quellenkritisches Denken als Voraussetzung historischer Erkenntnis fehle gänzlich in deren Werken jener Zeit. Sowohl Hurter im „Innocenz III." als auch Höfler in den „Deutschen Päpsten", ja sogar Döllinger in der „Reformation" betrachten Anmerkungsapparat beziehungsweise Quellenanhang durchaus als Orte „critischer" Betätigung. Während alle drei in den Fußnoten die Wahrheit von Fakten, Echtheit und Aussagewert von Quellen diskutieren, auch die eigenen Entscheidungen, welcher Quelle im Zweifelsfall zu folgen sei, ausführlicher begründen,389 finden sich bei Höfler 386
Vgl. dazuLades, S. 109-119. Hurter an Metternich, 1.11.1850 (s. Anm. 352). 388 Hurter an Kopp, 20. 6. 1836 (ZB Luzern - in Auszügen auch bei Lütolf, S. 162). Am 19.10.1839 hebt Hurter erneut die „historische Gewissenhaftigkeit", diesmal als besondere Eigenschaft Kopps hervor (ZB Luzern). 389 Vgl. etwa Hurter, Innocenz ΠΙ., I, S. 111, Anm. 81; S. 112, Anm. 84; S. 259, Anm. 266; S. 349, Anm. 13; S. 351, Anm. 33; Π, S. 116, Anm. 317; S. 170, Anm. 158; S. 178, Anm. 205. Obwohl eine hohe Anzahl von Fußnoten bekanntlich noch kein Qualitätsmerkmal darstellt, scheint doch bemerkenswert, daß gerade Hurters Werke mit die größte Dichte von Einzelbelegen aufweisen, die in Geschichtswerken des 19. Jh. zu beobachten ist. - Sogar Vogelsanger, der nicht viel an Hurter zu lobenfindet, hebt positiv hervor, „daß Hurter sich auf der ganzen Linie verpflichtet hat, durch die gesamte Literatur seiner Zeit, durch den Wust von Kompendien und oberflächlichsten Urteilen über das Mittelalter zu allen ihm zugänglichen Quellen vorzudringen. [...] So kommt Hurter bei weitem nicht an Rankes Meisterschaft in der philologisch-kritischen Methode heran, wenn er auch unbedingt den kritischen Historikern im Sinne der Quellenfor387
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zusätzlich ausführliche Anhänge, die in Teilen durchaus an die berühmten „Analecten" Rankes erinnern. Der erste Band der „Deutschen Päpste" liefert da neben kommentierten und erläuterten Quellenauszügen auch kritische Vergleiche einzelner Quellenstellen zur Ermittlung der jeweiligen Abhängigkeiten und des jeweiligen Informationsgehaltes, der zweite Band unter anderem eine vergleichende Charakteristik der Biographien Papst Leos IX. sowie eine erläuternde Anmerkung zu Höflers Kopierverfahren in den Archiven. 390 Weniger befriedigend erscheint in diesem Lichte Höflers Buch über „Friedrich II.": auch
schung zugezählt werden muß." (S. 120/121). Über mögliche Einflüsse des Göttinger Studiums auf diese „kritische" Haltung Hurters vgl. u. S. 353/354. - Döllinger, Reformation I, z. B. S. 162, Anm. 6: Überlegungen zum Entstehungsjahr des PirckheimerAufsatzes „Von den Verfolgern der evangelischen Wahrheit"; ebd., S. 176, Anm. 6: über die Echtheit eines Zasius-Briefes; Döllinger argumentiert mit Ranke; ebd., S. 361, Anm. 34: über die Echtheit eines Melanchthon-Briefes; ebd. II, S. 36/37, Anm. 68: über die variierenden Vorreden zum Evangelienkommentar Bucers; ebd., S. 44, Anm. 79: Neobulus als Pseudonym Bucers? In der überwiegenden Zahl der Anmerkungen führt Döllinger die von ihm im Text zitierten Quellenstellen im Originalwortlaut an. - Höfler, Die deutschen Päpste I, z. B. S. 47/48, Anm. 74: über die Echtheit zweier Urkunden Johannes' XII. und Leos VIII.; ebd., S. 90, Anm. 79: über die Unsicherheit der Angaben des Aimoin von Fleury; ebd., S. 148, Anm. 1: enthält sich „hypothetischer Erläuterungen" einer mehrdeutigen Urkunde über päpstliche und kaiserliche Gerichtsbarkeit; ebd., Anm. 2: Erläuterung einer Emendation; ebd. II, S. 19, Anm. 48: über die Unechtheit einer Leo IX. zugeschriebenen Urkunde; ebd., S. 140, Anm. 142: Begründung der Entscheidung, einer Quelle gegen eine andere zu folgen; ebd., S. 147, Anm. 3: Unechtheit einer Leo IX. zugeschriebenen Urkunde. Auch Höfler gibt in einer Vielzahl der Anmerkungen Quellenstellen im Originalwortlaut wieder. 390 Höfler, Die deutschen Päpste I, S. 275-340: Beilagen I - X X (ζ. B. über die Kaiserkrönung Ottos des Großen, S. 282-285; über die Crescentier, S. 300-307; über Abbos Reise nach Rom, S. 307-310; über den Gegenpapst Johannes und die Rebellion des Crescentius, S. 311-319); ebd. II, S. 361-384: Beilagen I-IV, hier S. 364-366 (Leo IX.) und S. 369/370 (Kopierverfahren). - Eine Gleichsetzung mit Rankes »Analecten" ist sicher nicht hinsichtlich der quantitativen Ausführlichkeit und auch nicht hinsichtlich der Qualität der kritischen Erörterungen möglich (besonders in den großen Geschichten Englands, Frankreichs, Preußens sowie in der Geschichte der Reformationszeit nehmen die ,Analecten" das Ausmaß eigener, gut gegliederter Bücher an, die zum Teil ganze Quelleneditionen enthalten), doch aber hinsichtlich des Prinzips: „Urkunden, Auszüge und kritische Bemerkungen" zur behandelten Thematik zusammenzustellen (.Leopold von Ranke: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. VI: Analekten der deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation. Urkunden, Auszüge und kritische Bemerkungen, Leipzig 41868 [= SW, Bd. VI]). Vgl. beispielsweise die ,Analecten zur Geschichte der Katastrophe Wallensteins" in: Leopold von Ranke: Geschichte Wallenstein's, Leipzig 1869, S. 457-532.
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hier liegt zwar ein umfangreicher Anhang mit Quellenauszügen vor, freilich jedoch ohne jeglichen kritischen Kommentar.391 Wenn auch ausführliche und systematische theoretische Reflexionen fehlen, so bleibt doch im Einzelfall anhand konkreter Probleme Platz für die Frage nach dem tatsächlichen Aussagewert von Quellen. Daß weltanschauliche Prämissen freilich den Rahmen ziehen für Spielraum und Stoßrichtung der Kritik, manchmal enger, manchmal weiter, gilt hier wie für jede Art von Geschichtsschreibung. Bestand also - vom Wirken Böhmers abgesehen - bei zwar kritischen Ansätzen in praxi ein gewisses Defizit an Theorie und Methode im Kreise der ersten Generation großdeutscher Historiker? Nicht unbedingt. Diese Einschätzung bestätigt vor allem ein Blick auf die Arbeiten des impulsiven August Friedrich Gfrörer: originell im Ansatz, wenn auch nicht immer erfolgreich in den Ergebnissen, bezeugte er bereits in seinen frühen Werken der dreißiger Jahre waches Bewußtsein für Fragen der Semantik von Quellen. Verglichen mit dem Grund-legenden Böhmer erscheint Gfrörer eher als sprühender, zuweilen freilich phantasierender Anreger. So erlebten wohlwollende Zeitgenossen seine Person, 392 und so wird auch der spätere Leser sein Werk
391
Höfler, Friedrich Π., S. 325-434. - Höfler verweist in der „Vorrede", S. IX, nach der Feststellung, an dieser Stelle sollte „ausführlich der kritische Wert" seiner Quellen „besprochen werden", auf „mehrere Aufsätze" der Münchener Gelehrten Anzeigen, in denen dies bereits geschehen sei. Tatsächlich hat Höfler in der Akademie immer wieder über von ihm benutzte Quellen, nicht nur zum „Friedrich II.", referiert. Vgl. z. B. Constantin Höfler: [Notizen über zwei historische Manuscripte, Alberts von Beham und des Card. Aegidius von Viterbo], in: Gelehrte Anzeigen, herausgegeben von den Mitgliedern der kgl. bayerischen AkdW 18 (1844), S. 591-599: hier über eine der Hauptquellen des „Friedrich Π.", das Konzeptbuch des Beauftragten Gregors IX. in Deutschland, Alberts von Behaim. Dieses, zusammen mit einer weiteren zentralen Quelle seiner Darstellung, den Regesten Innozenz' IV., edierte Höfler einige Jahre später: Constantin Höfler (Hg.): Albert von Beham und Regesten Pabst Innocenz IV., Stuttgart 1847 (= Bibliothek des literarischen Vereins, Bd. 16, 2). Weiterhin ders.: [Über den Werth und den Inhalt der großen handschriftlichen Chronik Salimbene d'Adami s von Parma], in: Gelehrte Anzeigen 14 (1842), S. 673-696; ders.: [Über einige von ihm benutzte historische Handschriften], in: ebd. 21 (1845), S. 316-327. 392 Eine lebendige Charakteristik der impulsiven Persönlichkeit Gfrörers gibt Chézy; hier S. 21 über Gfrörers Eloquenz im kleinen geselligen Kreis: „Gfrörer ließ sich selber keinen Durst leiden, und da er nicht rauchte, konnte er um so ungehinderter reden, woran er es nicht fehlen ließ. Sobald seine gewaltige Stimme ertönte, klangvoll und biegsam, stark und vom reinsten Metall, legten die Spieler im großen Saale [...] Billardstecken und Karten nieder, füllte sich der Römertisch, gab es Gedränge im weiten Raum.
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beurteilen, im einzelnen vielleicht mit Verwunderung, im ganzen aber doch fasziniert und nicht, ohne sich in die von Gfrörer dargestellte Vergangenheit hineingezogen zu fühlen. Die diesbezüglichen Qualitäten Gfrörers hängen wenigstens, solange er es nicht übertrieb - wesentlich zusammen mit seiner spezifischen Art, geschichtlich zu denken, historiographisch zu arbeiten: der „Kunst historischer Mathematik, auf welche sich [...] sehr wenige Gelehrte verstehen."393 Gfrörers Ansatz entspricht dem zweiten Punkt der Böhmerschen Schematik („Discussion der zweifelhaften Puncte, der Lücken u.s.w., also Forschung"). Durch den Versuch, hinter der litteralen Bedeutung eines Quellentextes deren „eigentlichen" Sinn zu entdecken, bewegt er sich jedoch in eine etwas andere als die von Böhmer intendierte Richtung. Die Armut der Quellen zunächst zwingt den Verfasser der „Urgeschichte des Christenthums", der ,Allgemeinen Kirchengeschichte", der „Carolinger" zu dieser Methode der Schriftauslegung, schließlich aber doch auch die durchaus kritische Einsicht, in dem auf Papier Überlieferten offenbare sich nicht immer gleich die ganze Wirklichkeit vergangener Welten. Sicherlich überträgt Gfrörer eigene Erfahrungen mit der Zensur auf das frühe Mittelalter, wenn er Chronisten bedroht sieht von herrscherlicher Allgewalt, gezwungen, das, was eigentlich gewesen, zwischen den Zeilen zu verstecken. Ganz Gfrörer, ersteht auf diese Weise bereits im Mittelalter der Typus des Historikers als eines Freiheitskämpfers, dessen Wirksamkeit ein „stetes Ringen gegen Lüge und Betrug sei." 394 Was dem modernen Historiker recht, nur billig müsse es auch für den mittelalterlichen Chronisten gelten: der „ächte Historiker" könne nicht leben mit dem unerträglichen Gefühl, „die Wahrheit verbergen zu müssen", ergo verschlüssele er diese, was schließlich nach Jahrhunderten wiederum den modernen Forscher zwinge, die verborgenen Informationen mittels „historischer Mathematik" ans Tageslicht zu befordern. 395 „Wir steigen hinan auf die Berge des Morgenlands" verspricht Gfrörer in der „Geschichte des Urchristenthums", „von denen überirdische Himmelslüfte den Geist anwehen. Unsere Wegweiserin aber sey die historische Mathematik, eine Wissenschaft, die freilich noch wenige kennen."396 Gleichermaßen auf das Neue Testament wie auf mittelalterliche Chroniken als Geschichtsquellen wendet er seine Wissenschaft an, um hinter die „geheimen Triebkräfte" 397 der
Und wenn die ehrsamen Gatten erst spät nach Mittemacht statt zur gewohnten Stunde nach Hause kamen, sagten die Weiber: ,Gewiß hat der Gfrörer wieder gepredigt.4 " 393 Gfrörer, Carolinger Π, S. 247. 394 Ebd., S. 248. 395 Ebd. 396 Gfrörer, Urchristenthum ΠΙ (Die heilige Sage), S. 336. 397 Auf diese Weise „entdeckte" er etwa die „geheimen Triebkräfte, welche die Auflösung der carolingischen Monarchie und den Verduner Vertrag herbeiführten" (Carolin-
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Begebenheiten zu gelangen: „Zuerst fiel mir bei wiederholtem Durchlesen der Chronik Herrmanns des Lahmen auf, daß dieser treffliche Kopf mittelst einer Art von Hieroglyphik, d. h. durch künstliche Zusammenstellung gewisser Sätze, durch feine Wendungen zu verstehen gibt, ein geheimer Sinn sei in seinen Worten verborgen. Zu meinem nicht geringen Erstaunen entdeckte ich später, daß schon Prudentius [von Troyes], Rudolf [von Fulda] und Hinkmar [von Reims] dieselbe Kunst übten."398 In welcher Weise Gfrörer seine Kunst übte, demonstriert ein Beispiel aus jenem Zeitabschnitt, den er gegen Ende der vierziger Jahre so eindringlich erforschte, den er - in der Spezialabhandlung über die Pseudo-Isidorischen Dekretalien, im dritten Band der Kirchengeschichte399 und schließlich in den „Carolingern" - am ausführlichsten mit historischer Mathematik zu durchleuchten suchte. Dabei bezeichnet der Terminus „Mathematik" in erster Linie eine bestimmte Art von Kombinatorik, etwa so: 400 Gegen Ende des neunten Jahrhunderts sterben in den beiden „äußeren" Nachfolgereichen der Universalmonarchie Karls des Großen innerhalb weniger Jahre (879-882) eine Reihe von Herrschern sowie ein Thronfolger „in blühendem Alter unter verdächtigen Umständen". Im Westreich Ludwig der Stammler (879) sowie dessen Sohn Ludwig (882), im Ostreich („Deutschland") Karlmann (880) und Ludwig der Jüngere (882), zuvor bereits dessen Sohn Ludwig (879). Gleichfalls fallt ein Papst (Johannes VIII. - 882) einem Mordanschlag zum Opfer. Mathematiker Gfrörer, dessen Aufmerksamkeit vorzüglich der Verwirklichung eines „seit 40 Jahren von deutschen und neustrischen [westfränkischen, Th. B.] Carolingern in feindseliger Einstimmigkeit erstrebten Ziel" nachspürt, nämlich der Wiederherstellung der fränkischen Universalmonarchie, kombiniert diese Fakten mit den Nachrichten der Quellen. Bezüglich eines der Todesfalle (Ludwig der Stammler) „spricht der Chronist das Wort,Vergiftung 4 geradezu aus, und ein anderer Zeuge gibt wenigstens zu verstehen, daß eine verbrecherische Hand das Söhnlein des Sachsen Ludwig [des Jüngeren, Th. B.] 4 0 1 aus der Welt schaffte." Planmäßiges Handeln, geheime Triebkräfte? Wem könnten die gehäuften Todesfalle nützen? Den beiden überlebenden Thronprätendenten, Karl III., dem Dicken, dritter Sohn Ludwigs des Deutschen oder aber dessen Neffen, Arnulf von Kärnger I, Inhaltsverzeichnis zu Kapitel 1,2), aber auch die „geheime Geschichte" der Feldzüge von 1625-1628, des „dänischen Krieges" (Gustav Adolph, 2. Aufl., Kap. Π, 8). 398 Gfrörer, Carolinger Π, S. 248. 399 S. Lebenswege, Anm. 209 (Ps.-Isidorische Dekretalien) und Anm. 196 (Kirchengeschichte). Der dritte Band der Kirchengeschichte Gfrörers behandelt den Zeitraum vom 7. bis zum Beginn des 11. Jh. und erschien in drei Teilen 1843/1844. 400 Nachfolgendes Beispiel aus Gfrörer, Carolinger Π, S. 235/236; alle Zitate ebd. 401 Ludwig der Jüngere hatte noch einen zweiten Sohn, Hugo, der seinen Bruder Ludwig um ein Jahr überlebte, aber ebenfalls vor dem Vater, 880, starb. Gfrörer erwähnt diesen Hugo nicht. Vgl. Hlawitschka, Stammtafel 1.
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ten. Daß auch der Einzige, der einem „allgemeinen Kaisertum" Karls des Dicken noch im Wege stehen könnte, Ludwig des Stammlers Sohn Karlmann, ebenfalls 884 einem angeblichen Unglücksfall erliegt, scheint die Hypothese nur zu bestätigen. Gfrörer resümiert: „Muß man im Angesichte solcher Thatsachen nicht auf einen höllischen Plan schließen, der wohl am Heerde Carls des Dicken, zum Theil vielleicht auch Arnulfs auslief?" Zur Untermauerung zieht er weitere Chroniken heran, aus denen deutlich das Gefühl hervortöne, „daß unnatürliche Dinge vorgingen." Warum aber äußern sich diese nicht deutlicher? „Die Chronisten mußten sich gewisser Gründe wegen, die wir im nächsten Capitel entwickeln werden, sehr vorsichtig ausdrücken." Bleiben die ränkischen Spätkarolinger mit ihren vermeintlichen Intrigen zurück. Das beliebige Beispiel zeigt den Kern der ,historischen Mathematik" Gfrörers: unstrittige Fakten - die Todesfalle - setzt er in Beziehung zu dunklen oder mehrdeutigen Quellenaussagen. Unter Zuhilfenahme von Logik, Kombinatorik, etwas Psychologie sowie „bewährter" Grundsätze der Politik („wem ein Verbrechen nützt, der hat es angestiftet" 402), enthüllt er die ,verborgene Antriebskraft' des Geschehens, blickt sozusagen der Geschichte in den Maschinenraum. Skurril, sicher, und nicht selten wunderlich muten solche Gedankengänge an, durchdrungen von der naiven Sicherheit, mit Logik und gewisser Menschenkenntnis sei Geschichte restlos zu erklären, auch bei dünner Quellengrundlage. Sie verweisen aber auch auf jenes personalistische Konzept, welches nicht nur die Geschichtsschreibung dieser Generation beherrscht. Bestimmte Handlungsträger ,flachen" Geschichte - möglicherweise von Gott auserwählt, von der Vorsehung inspiriert - , lenken Geschichte nach Motivationen und Antrieben, die vielleicht nicht auf den ersten Blick, durch die richtige Methode aber, wenigstens in Gfrörers Historik, klar und deutlich zum Vorschein kommen können. Ein optimistisches Konzept mit stark rationalistischen Wurzeln, aber auch einem Einschlag psychologistischer Spekulation. Wer Gfrörers Bildungsgang, seine Abkunft aus protestantisch-aufklärerischer Tradition rekapituliert, wer seine Lehrjahre im Hause Bonstettens, die Bekanntschaft mit dessen psychologistischer „Philosophie der Erfahrung" hinzudenkt, wird diese eigenartige Mischung so unnatürlich bei ihm nicht finden. 403 Zweifellos unterlag Gfrörer mehr und mehr dem Sog des Glaubens, durch seine Kombinatorik alles und jedes bis ins Detail freilegen zu können.404 Dabei
402
Gfrörer, Carolinger II, S. 235. Vgl. o. S. 104/105. 404 Allein Albert Schweitzer hat sich innerhalb der neueren wissenschaftlichen Literatur ausführlicher mit Gfrörers „historischer Mathematik" befaßt. U. a. charakterisiert er die psychologischen Implikationen dieser Geisteshaltung: ,Aber der Verfasser [Gfrörer] gehört eben zu den kritischen Epileptikern, für welche die Kritik nicht ein Erlebnis zur natürlichen Gesundung einer Anschauung ist, sondern die durch die kritischen An403
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verstieg er sich in teilweise abenteuerliche Konstruktionen, wie diejenige vom geheimen Versuch Wallensteins, die Reichsverfassung auf der Basis einer „Militairaristokratie" zu reformieren, worin Gfrörer die „wichtigste, aber auch geheimste, bisher fast gänzlich verborgene Seite des 30jährigen Kriegs" zu erkennen glaubte405 - und worin sich vor allem eine der glänzendsten Leistungen der ,historischen Mathematik" verbirgt. Auch vor der neueren Geschichte mit ihrer größeren Quellendichte schreckte der Zugriff der „Mathematik" also nicht zurück. Gfrörer wurde berühmt mit dieser Methode, aber auch berüchtigt. Je exzessiver und unkontrollierter er mit ihr arbeitete, desto mehr Kritik erntete er, selbst aus Kreisen, die ihm nahestanden. Bereits in der Vorrede zum ersten Band der „Carolinger" verteidigte er präventiv seine Art des ,historischen Calculs".406 Böhmer hingegen neigte dazu, dieses Calcul indirekt als „schwadronierend" zu kennzeichnen,407 Cornelius Will warnte in einer Rezension des „Gregor VII." vor den „Gefahren der bekannten überreichen Combinationsgabe und der regen schöpferischen Vorstellungsweise Gfrörer's" 408 und Joseph Edmund Jörg bekrittelte die „criminalistische Liebhaberei" des seligen Freundes Gfrörer,,hinter den offenen Thatsachen der Geschichte geheime Umtreiber und Verbrecher zu entdecken."409
fälle, denen sie ausgesetzt sind, und die sie noch nach Kräften steigern, in einen Zustand der Erschöpfung kommen, wo das Bedürfnis ,nach dem festen Punkt' sich so gebieterisch einstellt, daß sie sich denselben, wie vorher die Kritik, durch Selbstsuggestion schaffen und nun des Glaubens leben, ihn wirklich zu besitzen." (Schweitzer, S. 167). Abgesehen davon, daß Schweitzer wohl zu kurz greift, wenn er Gfrörers schließliche Konversion zum Katholizismus allein aus dem Bedürfiiis „nach dem festen Punkt" ableitet (ebd.), scheint seine Kennzeichnung der Methode Gfrörers als „kritische Epilepsie" ganz treffend. Allerdings gibt sich die vorliegende Arbeit im Gegensatz zu Schweitzer schon zufrieden mit der Feststellung, daß Gfrörer überhaupt zu diesem kritischen Ansatz fähig war, und versucht - bei allem Bewußtsein der Unzulänglichkeiten „historischer Mathematik" - dessen doch auch vorhandene innovative Momente zu betonen. 405 Gfrörer, Gustav Adolph, 2. Aufl., S. 623-638, Zit. S. 624; vgl. auch o. S. 233-235. 406 Gfrörer, Carolinger I, Vorrede, S. IV. 407 Böhmer an Ficker, 29.6.1860 über ein Werk Franz von Löhers: „Dagegen haben mir die schwadronirenden Betrachtungen über Conrad I. und Friedrich I., in denen er Gfrörer überbietet, nicht gefallen." (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe III, S. 338). 408 Cornelius Will: Besprechung von Gfrörer, „Papst Gregor VII. und sein Zeitalter", in: HPB11 47 (1861), S. 33-59, Zit. S. 40. - Auch Julius Ficker, der in seinen Anfängen Gfrörer sehr bewunderte, äußerte in späteren Jahren (1871) die Ansicht, dieser habe der Phantasie doch zu großen Spielraum gelassen: Jung, Ficker, S. 138, Anm.l. 409 Joseph Edmund Jörg: Besprechung von Gfrörer, „Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts", in: HPB1149 (1862), S. 816-821, Zit. S. 819.
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August Friedrich Gfrörer (1803-1861)
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Gegenüber den dreißiger und vierziger Jahren freilich hatte sich die Geschichtswissenschaft in Deutschland verändert, wesentlich weiterentwickelt, als jene beiden Besprechungen Wills und Jörgs zu Beginn der sechziger Jahre erschienen. Im Gesamtton höchst wohlwollend, würdigten sie in Gfrörers letztem großen Werk über Papst Gregor VII. (Will) und den erst posthum edierten Vorlesungen zur Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts (Jörg) mehr oder minder das Gesamtschafifen eines Gelehrten, das selbst fast schon Geschichte war. 410 Angesichts dieser Kritik von Zeit- und Gesinnungsgenossen, angesichts der Unzulänglichkeiten der ,historischen Mathematik", die den Ansprüchen einer späteren Zeit nicht mehr entsprach, Gfrörer mit wegwerfender Geste der erinnerungslosen Entsorgung zu überliefern, hieße aber, seinen Beitrag zur Entwicklung geschichtswissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu mißkennen 411 und mit der Arroganz desjenigen zu urteilen, der vergißt, wie sehr die eigene so fortschrittliche' Position doch immer auch in solchen Anfängen wurzelt. „Jene Kraft der Phantasie", welche dem Historiker ermögliche, „sich in verschwundene Zeiten zurück zu versenken, und dieselben vor den Augen des Lesers wieder zu beleben" 412 - bestritte heute jemand, daß auch diese das Talent des Historikers bereichern muß? 413 - , jene Kraft trieb den Motor der 410
August Friedrich Gfrörer: Papst Gregor VII. und sein Zeitalter, 7 Bde., Schaffhausen 1859-1861; ders.: Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts, hg. von Johann Baptist Weiß, 4 Bde., Basel/Schaffhausen 1862-1887. 411 Hinsichtlich der Rezeption der Werke Gfrörers, insbes. des „Gustav Adolph", in einer breiteren gebildeten und wissenschaftlichen Öffentlichkeit vgl. das o. S. 112-114, 116 und 118/119 in der biographischen Skizze Gesagte. Hier sei nur wiederholt, daß Gfrörer durchaus kein Nobody der geschichtswissenschaftlichen Szene im Deutschland der dreißiger bis fünfziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts war. Chézy allerdings übertreibt wohl, wenn er Gfrörer den „in der ganzen Welt berühmten Geschichtschreiber" nennt (Chézy, S. 14). 412 Gfrörer, Gustav Adolph, 1. Aufl., Vorrede, S. IV. 413 Wenn auch nicht bestritten, so wird doch gerade in jüngster Zeit über den Stellenwert und den Ort der Phantasie im Arbeitsprozeß des Geschichtsschreibers sowie im Endprodukt, der historiographischen Darstellung, sehr wohl gestritten, wie die Kontroverse zwischen Gerd Althoff und Johannes Fried über Frieds Buch, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024, Berlin 1994 (= Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 1), zeigt. Gerd Althoff: Von Fakten zu Motiven. Johannes Frieds Beschreibung der Ursprünge Deutschlands, in: HZ 260 (1995), S. 107-117; Johannes Fried: Über das Schreiben von Geschichtswerken und Rezensionen. Eine Erwiderung, in: ebd., S. 119-130. - Im Vergleich der jeweiligen Zugriffsweisen Frieds und Gfrörers auf die (quellenarme) Anfangszeit deutscher Geschichte sind gewisse Parallelen übrigens unverkennbar. Phantasie und Spekulation, so Fried in seiner Entgegnung auf Althoff, zählten zweifellos mit zu den wertvollsten Fähigkeiten des Historikers. „Wie sollten ohne sie Fakten zueinander finden, wie verflossenes Geschehen in
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,historischen Mathematik". Sie verhalf Gfrörer zu der festen Überzeugung, man könne das Mittelalter „mit den vorhandenen Quellen so lebendig und genau schildern [...], als die Zeiten seit der Reformation." 414 Sie verhalf ihm tatsächlich zu Geschichtsschilderungen von epischer Kraft, die andererseits ihre Bausteine natürlich aus einer ungeheuren, aktiven Kenntnis des verfugbaren Quellenmaterials bezogen,415 angesichts dessen sich auch der moderne gelehrte Leser eines Staunens nicht erwehren kann. Aber wichtiger erscheint demgegenüber doch die Art des Gfrörerschen Zugriffs auf Geschichte, welche sich, ungeachtet auch der letztendlichen Fehlleistungen ,historischer Mathematik", in dieser Methode dokumentiert: jener kritische Impetus, bemüht, hinter das Plakative, Vordergründige zu schauen, um es in seinem Wesen zu erkennen, oder anders ausgedrückt, in seinem Charakteristischen, seiner Individualität zu begreifen: „ M a n muß keinen allgemeinen Maßstab weder an Menschen noch Ereignisse, noch Thaten legen, sondern jede betrachten nach ihrer Zeit." 4 1 6 Zum Erfolg dieses Bemühens hält im übrigen die ,historische Mathematik" durchaus Instrumente bereit, die allesamt in den Methodenschatz moderner Geschichtswissenschaft eingegangen sind. Dazu gehören etwa Vergleich und Kritik entgegengesetzter Äußerungen zum selben Ereignis, oder aber, das Verständnis historischer Quellen ganz allgemein betreffend, die Entschlüsselung spezifischer „Hieroglyphik", spezifischer Redeweisen - hochmodern: spezifischer Semantik und Semiotik - mit dem Ziel, tiefer zu blicken, um zu verstehen. Insofern kommt August Friedrich Gfrörer seine eigene, wenn vielleicht auch kleine Rolle innerhalb der Geschichte historistisch-hermeneutischer Verfahren zu. Die Bedeutung dieser Rolle hat die Historiographiegeschichte - unter anderem -
einer sich der Vergangenheit erinnernden Gegenwart aufgefunden werden? [...] Jedes Faktum, alle Geschichte bedarf eines schöpferischen Aktes des Historikers, der ohne jene beiden kaum zustande käme und Geschichte und Faktum im Nirwana unbekannter Möglichkeiten dahinschlummern ließe." (S. 119/120) Daß beide, Phantasie und Spekulation, nicht ungezügelt um sich greifen dürfen, steht fur Fried ebenso außer Zweifel wie fur Gfrörer. Unabhängig vom letztendlichen Scheitern der „historischen Mathematik" stellt diese letzten Endes ja nichts anderes dar, als einen Versuch, Phantasie und Spekulation methodisch zu bändigen, kann also durchaus verglichen - natürlich aber nicht gleichgesetzt - werden mit der von Fried aufgestellten Forderung nach „historischer Plausibilität" und „Referentialität" (S. 120). 414
Gfrörer an NN, 13.8.1846 (ÜB Frankfurt/M., Autogr. Gfrörer). Beides trug zur starken Nachwirkung Gfrörers auf die zweite und dritte Generation der großdeutschen Geschichtsschreiber, auf Onno Klopp, auf Ficker, auf Ludwig Pastor, bei. Letzterer überliefert zur Charakteristik des Stils Gfrörers ein Bonmot aus dem Munde von Gfrörers Tochter, der Gemahlin Paul Alberdingk Thijms: „Gfrörer schreibt, wie Rubens malt." (Pastor, Tagebücher, S.58). Im einzelnen wären die genannten Nachwirkungen in einem Folgeband der Geschichte großdeutscher Historiographie zu beschreiben. 416 Gfrörer, Gustav Adolph, 1. Aufl., S. 814. 415
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noch zu würdigen, will sie den Umbruch wirklich genau erfassen und beschreiben, welcher die Geschichtswissenschaften im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts so tief wandelte, und der nicht dem ausschließlichen Wirken einiger begnadeter Genies entsprang, sondern dem konstanten Bemühen vieler Einzelner. Auch dem Bemühen Böhmers. Was war es denn eigentlich, das etwa August Friedrich Gfrörer veranlaßte, Böhmers Regestenwerke euphorisch zu lobpreisen, „diese mühsame, gelehrte, gewißenhafte Arbeit unbedingt für das wichtigste" zu halten, „was seit langer Zeit für die deutsche Historie geschehen ist", Böhmer als dem Bahnbrecher einer „wahren deutschen Geschichte" den dritten Band seiner Kirchengeschichte zu widmen? 417 Was war es denn eigentlich, das Döllinger bewog, in seiner Gedächtnisrede, Böhmer das Prädikat ins Grab zu legen, „in unseren Tagen der gründlichste Kenner der deutschen Geschichte gewesen" zu sein? 418 War es lediglich der gebührende Respekt vor einem fleißigen, teils kommentierten Sammelwerk von Urkundenauszügen, war es nur das Lob des Gleichgesinnten, oder war es nicht vielmehr die Erkenntnis, da habe einer durch sein Gesamtkonzept der Aufbereitung deutscher Geschichte die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser auf neue Grundmauern gesetzt? Ein tieferes Eindringen in Böhmers System der Historik, welches parallel zur Arbeit an den Regesten und in ständiger Auseinandersetzung mit dieser entstand, bestätigt die letztere Vermutung. Tatsächlich plante Böhmer während der vierziger Jahre, eine „Historik", mindestens aber eine „Einleitung in das deutsche Geschichtsstudium" zu verfassen. 419 Wie so viele seiner Pläne blieb auch dieser unausgeführt; hingegen überliefern vielfaltige Aufzeichnungen und Fragmente wenigstens in nuce dessen Hauptinhalte. Erstens, um den Einstieg zu finden über die bereits hinlänglich bekannte Schematik Böhmers: ,Aufsuchung und Bereitlegung des Materials." 420 Böhmer erkannte darin fast schon eine eigene Wissenschaft, die er in der Regel von jeglicher Art der Weiterverarbeitung des Materials strikt zu trennen anempfahl. „Ich bin keineswegs der Meinung daß Quellenherausgabe und Erörterung des einzelnen Gehaltes der Quellen unmittelbar verbunden werden müssen. Die Bereitlegung der Quellenschriften, dieser Urgranite, auf denen die Geschichtsforschung ruht, ist eine ganz besondere Function, zu trennen von 4,7
Gfrörer an Böhmer, 10.8.1844 (Widmung), 5.7.1845, 6.2.1846 (UB Frankfurt/M., NL Böhmer 1 Κ 5 G, 56-58). 418 Ignaz Döllinger: Gedächtnisrede auf Böhmer, 1863, in: Ders., Akademische Vorträge, Bd. Π, Nördlingen 1889, S. 115-127, Zit. S. 116. 4,9 Böhmer an G. Meyer von Knonau, 25.7.1844 (ZB Zürich, FA MvK 32t.53); Böhmer an F.B. Hurter, 5.4.1842 (ZB Zürich, Ms. Ζ Π 310). 420 Vgl. ο. S. 261.
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Erörterungen, welche dem Bereich der Meinungen angehören, bei denen Irrthümer, Mängel und Fehlgriffe nicht zu vermeiden sind." 421 Wer nun jedoch glaube, diese Grundlagenarbeit der Quellenbereitlegung als mechanistischstumpfsinnige Tätigkeit disqualifizieren zu müssen, täusche sich gar sehr. Denn: was könne es fordern, am Gebäude der Geschichte weiter zu bauen, wenn der Boden noch nicht untermauert sei? „Weg mit solchem Danaidengeschäft und lieber hin zu grundlegenden Arbeiten." 422 Mit Worten wie diesen beschrieb Böhmer nicht nur die Stoßrichtung seines eigenen Wirkens auf geschichtlichem Gebiet; beständig zielte er damit auch auf die Gewinnung von Mitstreitern und Schülern zur Umsetzung seines Programmes auf breiterer Basis. Nicht nämlich durch bloße ,Auffassung", sondern in erster Linie durch „ B e t h e i l i g u n g d Forschung" sei guter Nachwuchs zu gewinnen - eine Einsicht, die er in späteren Jahren auch in Hinblick auf den Gegensatz der großdeutschen und kleindeutschen Schule formulierte. Hätten doch die Vertreter der letzteren vor allem durch das Seminar Rankes eine fundierte methodische Ausbildung erhalten, welche ihnen hinwiederum bei der Begründung und Durchsetzung ihrer ,Auffassung" zugute komme. Wolle der „Standpunkt, auf dem ich geboren, der alte reichsbürgerliche nämlich, in der vaterländischen Geschichte ferner noch Vertretung finden", so hänge das entscheidend von der guten methodischen Schulung des wissenschaftlichen Nachwuchses auf dieser Seite ab, da bei der argumentativen Auseinandersetzung um die Positionen der ,Auffassung" die Gediegenheit jener Schulung eine bedeutende Rolle spiele. 423 Nicht aber erst im verschärften Klima geschichtswissenschaftlicher Polemik der fünfziger Jahre, viel früher schon hatte Böhmer auf ein gewisses methodisches Defizit seiner Gesinnungsgenossen im Gegensatz zu den „Norddeutschen" hingewiesen. Leider, hatte er 1845 Höfler gegenüber geklagt, fanden seine Regesten viel zu wenig Nachfolger. „Möchte doch gerade in Süddeutschland diese philologischkritische Seite mehr Würdigung finden, die nun doch einmal Anfang und Grundlage des Studiums ist und deren größere Ausbildung denen in Nordosten ein äußerliches (mir widriges) Uebergewicht gibt." Überlasse man dieses Feld ganz den anderen, habe man sich auf böse Überraschungen einzustellen.424 Sehr deutlich sah Böhmer, daß die geschichtswissenschaftliche Kontroverse über die „richtige" Ansicht deutscher Geschichte nicht lediglich auf dem Felde subjektiver Meinungsäußerungen bestritten, sondern daß es sehr darauf ankomme, von welcher handwerklich-methodischen Basis, von welchen sicheren oder m
421
e r
Gesprächsäußerung Böhmers, überliefert von Janssen (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 454); vgl. auch Böhmer an Fridegar Mone, 3.4.1858 (Weech, S. 666): „Reinigung und Bereitlegung der Quellen ist eine ganz eigenthümliche, von der Erklärung und weiteren Verarbeitung derselben verschiedene Funktion." 422 Böhmer, Regesten 911-1313,1831, Vorrede, S. XIII/XIV. 423 Böhmer an J. Fischer, 26.5.1856 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe m, S. 192/193). 424 Böhmer an Höfler, 31.1.1845 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 395/ 396). 18 Brechenmacher
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unsicheren, gut oder schlecht aufbereiteten (Quellen)Grundlagen aus argumentiert würde. Genaue Quellenkunde sei das erste Erfordernis eines Historikers 425 - nicht nur, um mit sich selbst ins Reine zu kommen über geschichtliche Wahrheit, vielmehr auch, um im Wettstreit um die Besetzung geschichtlicher Positionen für die politische Tagesdiskussion von einem seriösen und soliden Fundament aus zu starten, um sich nicht schon im Bereich der Voraussetzungen vom Gegner aus den Angeln heben zu lassen. Daß Böhmer in der Urkunde die genuine Geschichtsquelle erkannte, klang hie und da bereits an, 426 offenbart freilich auch seine Begrenztheit auf die politische Geschichte des Mittelalters. Quellenkunde der Neuzeit war sein Metier nicht, wie ihm überhaupt die Wandlungen der Entscheidungs- und Verwaltungsprozesse in den sich neu arrondierenden Territorialstaaten seit dem sechzehnten Jahrhundert fremd blieben. So reichte auch sein großer Plan der Rekonstruktion des Registrum Imperii - des Urkundenregisters der kaiserlichen Kanzlei - allenfalls bis zum Regierungsantritt Kaiser Maximilians I., 4 2 7 und zerfiel ihm die spätere Entwicklung in ein Konglomerat von Partikulargeschichten, das ihn abstieß. Ja, eigentlich sah er die Zeiten zentraler Einheit - an die „Grundurteile" sei erinnert 428 - bereits seit Karl IV. als beendet an. Quellenbegriff hier - historiographischer Interessensbereich da: die Befunde passen zueinander. Was Böhmer hingegen auf jenem Gebiet der Urkundenforschung und -aufbereitung vorlegte, zählt sicherlich zu den säkularen Leistungen deutscher Geschichtswissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts. Klaren Blickes beschrieb er seine methodische Innovation bereits in der Ankündigung des Codex Diplomaticus Moenofrancofurtanus von 1829. Zum ersten Mal werde nicht zufällig oder fur einen einzelnen Zweck gesammelt, sondern systematisch, „ohne Einmischung subjectiver Ansichten und Verhältnisse die Gesammtheit dessen mitgetheilt [...], was das 13. Jahrhundert, sei es nun in Bezug auf das öffentliche oder das Privatleben, für Frankfurt urkundlich hinterlassen hat, so daß hier jede Seite des städtischen Wesens in ein gleichmäßiges Licht gesetzt wird, und die Aufeinanderfolge der Urkunden zur gegenseitigen Erklärung derselben wesentlich beiträgt." 429 Ohne weiteres konnte Böhmer diesen Ansatz von dem partikulargeschichtlichen Exempel Frankfurt auf die allgemeine Reichsgeschichte in den Kaiserregesten übertragen. Systematische und vollständige Zusammenstellung unter Verzicht auf interpretierenden Kommentar beschreibt indessen nur den spezifischen Zugriff 425
Janssen, Böhmens Leben und Briefe I, S. 122. Vgl. etwa o. S. 80. 427 Böhmer, Regesten 911-1313, 1831, Vorrede, S. V I I I - X ; ders., Regesta Karolorum, Vorrede, S. VIII. 428 S. o. S. 204. 429 Böhmer, Studienprogramm (s. Lebenswege, Anm. 30), S. 423. 426
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Böhmers auf sein Material; als entscheidender inhaltlicher Faktor gesellt sich der Sammlungsgegenstand selbst, die Urkunde als - wie Böhmer glaubte unmittelbarer und objektiver Informationsspeicher vergangener Zeiten, hinzu. ,,Fast ausschließlich von Solchen abgefaßt, welche die Wahrheit kannten und sie sagen wollten, ist ihre [der Urkunden] Glaubwürdigkeit nicht leicht einem Zweifel unterworfen. Stets gleichzeitige Nachrichten zeigen sie die Sachen wie man damals sie sah und kannte, nicht wie man später sich sie dachte. Aufs sorgfaltigste mit der Zeit und dem Orte der Ausstellung versehen, gewähren sie fur die Aufeinanderfolge der Begebenheiten und für die räumliche Bewegung der handelnden Personen einen unfehlbaren Leitfaden. Sie berühren alle Verhältnisse. Sie verlassen uns auch an jenen Orten und zu jenen Zeiten nicht, wo kein Geschichtschreiber das Dunkel der Vorzeit erhellt. Sie sind uns meist in authentischer Form erhalten." 430 Aber noch einen anderen Vorteil besitzen Urkunden, einen Vorteil, der ihren Wert für Böhmer ins Unschätzbare steigen lassen mußte: sie dokumentieren Rechtszustände, Rechtsbeziehungen. Und definierte nicht Böhmer „Geschichte" als einen Schrein des Selbstbewußtseins der Nationen, welches sich wiederum konstituiere aus der Summe des jeweils gewachsenen Rechts? Jener Aspekt der Überlieferung von Rechtsverhältnissen bewog Böhmer sogar, in den Karolingerregesten den Begriff der Urkunde bis auf die karolingischen Capitularien auszudehnen, um auf deren „Wichtigkeit für das deutsche Staatsrecht aufmerksam zu machen." 431 Deutlich genug zeigt sich da, wie sehr Böhmer den Quellenwert historischer Dokumente auch nach deren Aussagewert bezüglich des von ihm so stark akzentuierten gewachsenen Rechtszustandes bemaß. 432 Gleichfalls verharrte er nicht bei einer ausschließlichen Verzeichnung von Urkunden und Gesetzestexten der kaiserlichen Kanzlei, je mehr er in die Reichsgeschichte vordrang, umso weniger. Sehr wohl wußte er, mit solcher Eindimensionalität die Pluralität der Vergangenheit nicht erfassen zu können. Im übrigen entsprach es nur der Logik seiner eigenen Hypothese von der Durchsetzung des Partikularen seit dem dreizehnten Jahrhundert, wenn er in den Regesten Ludwigs des Baiern neue Perspektiven berücksichtigte, wenn er Papsturkunden, Urkunden wichtiger Reichsfürsten und ausländischer Herrscher 430
Böhmer, Regesten 911-1313,1831, Vorrede, S. ΙΠ. Böhmer, Regesta Karolorum, Vorrede, S. VII. In den Capitularien - so Böhmer lägen „die eigentlich politischen Actenstücke" vor: „die Wahl- und Krönungsacten, die Friedensschlüsse, die Theilungen des Reichs, die gegenseitigen Eidesformeln, die Botschaften an die Reichsversammlung, die geistlichen und weltlichen Gesetze u.s.w." (Ebd.). 432 Ebd.: „Wir sind glücklicher, da uns in den Capitularien diese Wurzeln eines tausendjährigen Rechtszustandes (den man gewöhnlich mit dem Namen der germanischen Freiheit bezeichnete) in dem ächtesten, amtlichsten, klarsten, ureigensten Ausdruck erhalten sind." 431
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aufiiahm, soweit diese sich nur auf das Reich bezogen, und wenn er obendrein Wahlakten, Landfrieden und Städtebünde einarbeitete. 433 Ebensowenig mochte Böhmer hinsichtlich der Quellengattungen auf dem Felde der Kaiserurkunden stehenbleiben. Schon in den Karolingerregesten hatte er das starre Schema aufgebrochen und auf die Annalistik hingewiesen. Sechs Jahre später beklagte er den Mangel an guten Ausgaben mittelalterlicher Chronisten und Geschichtsschreiber, dem leider auch die Monumenta so schnell nicht abhelfen würden. 434 1843 endlich trat er mit dem ersten Band seiner „Fontes Rerum Germanicarum" an die Öffentlichkeit, einer Sammlung von Leseausgaben deutscher Geschichtsquellen des vierzehnten (Bandi), dreizehnten (Bandii) und zwölften (BandIII) Jahrhunderts, zusammengestellt und ediert zum Zwecke weiterer Verbreitung dieser Quellen im Kreise eines größeren gebildeten Publikums. 435 Böhmers vaterländischer Impetus hauptsächlich trieb ihn zur Sammlung der „Fontes", jener Drang, die Nation mit ihrer Geschichte bekanntzumachen, um sie sich ihrer selbst bewußt werden zu lassen, dann aber auch die planvolle Historik, welche den Urkunden auf der einen die Berichte der Annalisten, Chronisten, Geschichtsschreiber auf der anderen Seite entgegenstellt. „Ein vollständiges und richtiges bild" der Vergangenheit könne „vorzugsweise nur aus der vergleichung der auf verschiedenen standpuncten stehenden mitlebenden beobachter unter sich und mit den urkunden geschöpft werden." 436 Die Entstehungsgeschichte der „Fontes" steht in engem Zusammenhang mit Böhmers Engagement im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica. Auf die persönliche Konstellation Pertz - Böhmer sowie auf die Kontroverse Böhmers mit Gfrörer über das Verhältnis der Fontes zu den Monumenta wird die Rede im Zusammenhang mit der Frage nach den gestalterischen Impulsen der Großdeutschen im Bereich ihrer Fachwissenschaft noch kommen. 437 Wichtig fur Böhmers Historik und als Überleitung zum Komplex der Fragen nach dem Wie der Aufbereitung von Quellen in Böhmers System, erscheint zunächst der Hinweis auf das Prinzip der handlichen Leseausgabe wichtiger „Fontes", wissenschaftlich seriös, doch nicht ,»historisch-kritisch", konzipiert als tägliches Handwerkszeug des Gelehrten, als Studienobjekt des Lernenden, als Hand-
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Böhmer, Regesten Ludwigs des Baiem. Ebd., Vorrede, S. XI. 435 Johann Friedrich Böhmer (Hg.): Fontes Rerum Germanicarum. Geschichtsquellen Deutschlands, Bd. I, 1843 (s. Anm. 184); Bd. II: Hermannus Altahensis und andere Geschichtsquellen Deutschlands im dreizehnten Iahrhundert, Stuttgart 1845; Bd. III, 1853 (s. Lebenswege, Anm. 45). 436 Böhmer, Fontes I, Vorrede, S. V. 437 S.u. S. 475-481. 434
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reichung des Gymnasiallehrers. 438 Existiert heute im akademischen Leben nichts Selbstverständlicheres als jene Zweiteilung in schwere kritische Gesamtund leichte aber trotzdem zuverlässige Handausgaben, so darf Johann Friedrich Böhmer für sich in Anspruch nehmen, mit seinen „Fontes" einer der Geburtshelfer dieser Entwicklung gewesen zu sein. Die klassischen Texte der Griechen und Römer, klagte er, lägen mannigfach vor, warum nicht die Werke der mittelalterlichen deutschen Geschichtsschreiber, welche doch den Deutschen viel mehr beträfen? 439 Da hoffe er mit Handausgaben Abhilfe zu schaffen, welche gut genug seien, „um selbst dann brauchbar zu bleiben, wenn einst nach manchem iahr die Monumenta Germaniae historica medii aevi mit grösseren Kräften hier und da gebesserte abdrücke liefern sollten." 440 Eine Reduktion des Lebenswerkes Böhmers auf die Kaiserregesten allein nähme ihm eine Dimension seiner Innovativität. So enthüllt insbesondere die Sammlung der„Fontes" wesentliche Momente seiner historiographischen Visionen, enthüllt aber auch, im Konzept der handlichen Quellenedition verborgen, Böhmers Praktikernatur: Effizienz ging ihm über ein Streben nach Vollkommenheit, das nie zu einem Abschluß kommt. Effizient zweifellos war sein Ansatz, den jeweiligen Quellentext nach einer guten erreichbaren Handschrift zu drucken und allfallige Abweichungen anderer Überlieferungen in wichtigen Fällen zu vermerken, ohne sich in Stemmata zu verzetteln und in Konjekturen 438
Böhmer, Fontes I, Vorrede, S. DC. Ebd.; vgl. auch Böhmer, Regesten Ludwigs des Baiem, Vorrede, S. XI. 440 Ebd.; vgl. auch Böhmer, Fontes ΙΠ, Vorrede, S. VII: Die M G H seien „ein generalconservatorium unserer geschichtlichen Überlieferungen wie es als ein von dem deutschen bunde beschütztes und unterstütztes nationalunternehmen nach gehalt und form nicht würdiger geliefert werden konnte. Aber sie sind keine handausgabe wie sie die bequemlichkeit des täglichen gebrauches fordert." - Der Wunsch nach einer Reihe preiswerter Handausgaben, insbes. der „Scriptores", wurde mehrfach auch an die M G H herangetragen, etwa von Böhmers Korrespondenzpartner, dem Stuttgarter Bibliothekar Stälin. Unter der wissenschaftlichen Leitung von Georg Heinrich Pertz fanden solche Anträge jedoch nie recht Gehör. Aus Sorge um den Absatz der großen Folio-Ausgaben stand Pertz dieser Idee eher ablehnend gegenüber. Trotzdem erschienen einige Bände der Reihe „Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi" bereits zu Lebzeiten Böhmers, waren aber in keiner Weise mit dessen „Fontes" vergleichbar (ζ. B. Georg Heinrich Pertz [Hg.]: Ruotgeri Vita Brunonis archiepiscopi Coloniensis, 1841; Ludwig Bethmann [Hg.]: Chronicon Novaliciense, 1846). ,3is auf wenige Ausnahmen brachten diese Bände in Pertzens Zeit nur unveränderte Abdrucke aus der Folioserie, ohne Berücksichtigung der späteren Literatur und ohne gründliche Revision des Textes; und da die Einleitungen öfter nicht vollständig waren, da der kritische Apparat regelmäßig weggelassen war und Register gänzlich fehlten, so waren sie für streng wissenschaftliche Arbeit unbrauchbar." (Bresslau, Geschichte der MGH, S. 572). Erst unter Georg Waitz sollte das halbherzige Unternehmen eine energischere Fortsetzung finden (ebd., S. 572-574). 439
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zu vergrübein. 441 Nicht die verzweifelte Suche nach dem vermeintlich wahren, dem tatsächlichen Text des Geschichtsschreibers bestimmte ihn, sondern das Bestreben, einer Hauptüberlieferung folgend ein praktisches Arbeitsinstrument vorzulegen. Vielleicht eher unbewußt, denn bewußt verhalf er hierdurch einer Methode mit zum Durchbruch, die ins Standardrepertoire moderner mediävistischer Editionsphilologie - besonders im Umgang mit spätmittelalterlichen Texten - eingegangen ist: dem Prinzip der sogenannten Leithandschrift. 442 Wiewohl Böhmer in den Geschichtsschreibern „os ex ossibus nostris et caro de carne nostra, [...] lebendige und wahrhaftige zeugen der geschichte unsers Vaterlandes" erblickte 443 und deren Kenntnis in den „Fontes" so maßgeblich forderte, galt sein Hauptinteresse doch zeitlebens den Urkunden als den „sichersten denkmalen der historié." 444 Freilich hat die nie ruhende Forschung Böhmers optimistischen Urkundenbegriff bald überholt und zurechtgerückt. Dem modernen Skeptiker, um nur ein beliebiges Beispiel anzuführen, wäre etwa die Annahme größter Unmittelbarkeit und Authentizität von Urkunden sogleich ein Dorn im Auge, wozu die Mediävistik der jüngsten Vergangenheit in großangelegten Fälschungsforschungen Grund genug lieferte. Harry Bresslau im übrigen hat die Entwicklungslinien auf dem engeren Felde der Diplomatik, von Böhmer über Ficker bis Sickel und weiter, tiefschürfend verfolgt, hat vor allem die Voraussetzung der „Kanzleimäßigkeit" als das Hauptproblem der Böhmerschen Auffassung beschrieben. Böhmer und sein zeitweiliger Schüler Karl-Friedrich Stumpf-Brentano 445 hätten sich im Kreise bewegt, indem sie von einer festen 441
So edierte Böhmer etwa die Autobiographie Kaiser Karls IV. (Böhmer, Fontes I, S. 228-270) nach einer Wiener Leithandschrift (Hist. prof. 746, später 556) unter Beiziehung dreier weiterer Hss. der heutigen ÖNB. - Der modernen Studienausgabe der Vita Karls liegt u. a. Böhmers Text noch immer zu Grunde (Kurt Pfisterer / Walther Bulst [Hg.]: Karoli IV. Imp. Rom. Vita ab eo ipso conscripta, Heidelberg 1950). 442 Vgl. Joachim Kirchner: Germanistische Handschriftenpraxis. Ein Lehrbuch für die Studierenden der deutschen Philologie, München 2 1967, S. 114/115. 443 Böhmer, Fontes I, Vorrede, S. V m . 444 Böhmer, Regesten Ludwigs des Baiem, Vorrede, S. ΧΠ. 445 Karl Friedrich Stumpf, geb. 1829 in Wien, Studium der Geschichte seit 1853; 1856 und 1858-1860 in Frankfurt im Umkreis Böhmers; Freundschaft mit Johannes Janssen; heiratete 1861 eine Nichte Clemens Brentanos; seit diesem Jahr auch Professor für historische Hilfswissenschaften in Innsbruck; gest. 1882 ebd. Stumpf und Janssen veröffentlichten 1859 eine kleine Festschrift zum dreißigsten „Geburtstag" der Böhmerschen Regesten. Johannes Janssen/ Karl Friedrich Stumpf (Hg.): Johann Friedrich Böhmer zur Feier des dreißigsten Geburtstages seiner Regesten des Kaiserreiches in dankbarer Verehrung gewidmet, Frankfurt/M. 1859. Stumpfs unvollendetes Hauptwerk: Die Reichskanzler vornehmlich des Χ., XI. und ΧΠ. Jahrhunderts. Nebst einem Beitrag zu den Regesten und zur Kritik der Kaiserurkunden dieser Zeit, 3 Bde., Innsbruck 1865-1881. Zu Stumpf vgl. Almanach der AkdW Wien 32 (1882), S. 169-172, Jung, Ficker, S. 284 u. 468 sowie Weber, Biographisches Lexikon, S. 592.
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Ordnung im Kanzleiwesen ausgegangen seien, diese aber nur dadurch erweisen konnten, daß sie alles, was sich jener angenommenen Ordnung nicht fügte, außer Betracht ließen. 446 Aber das ändere nichts daran, daß Böhmers „großartige Urkundenverzeichnisse" die „diplomatischen Arbeiten, wie sie seitdem üblich geworden sind, überhaupt erst ermöglicht haben." 447 In den Kaiserregesten spiegelt sich Böhmers gesamte wissenschaftliche Persönlichkeit, verkörpert sich die Essenz seiner Historik. Sein Geschichtsbegriff mußte ihn zu den Urkunden führen, sein Konzept der Allgemeinen Reichsgeschichte wiederum zu den Kaiserurkunden von den Karolingern bis Maximilian I. Sein nüchtern-logischer Pragmatismus schließlich, die Einsicht, daß der Hausbau mit den Fundamenten zu beginnen habe, brachte ihn zum Sammeln. Die ungeheure Zahl der kaiserlichen Urkunden zuletzt legte ihm das Erstellen von Regesten - für das partikulargeschichtliche Frankfurter Urkundenbuch nur das Vorspiel - als Hauptarbeit nahe. Böhmers Prinzipien der Systematik, der möglichsten Vollständigkeit und, ganz historistisch, der „Unmittelbarkeit", fanden als Charakteristika dieses Sammeins schon ihre Erwähnung: nicht um mittelbare Belange politischer oder juristischer Natur ging es Böhmer, sondern vordergründig um die Dokumentation des Geists der Zeiten, der freilich zur Gegenwart sprechen sollte, aber über sich selbst und nicht im Dienste fremder Zwecke. Zu solchem Behufe, und darauf legte Böhmer größten Wert, durfte ein weiteres Charakteristikum nicht fehlen, das der exakten Form. Um Verbindlichkeit anzunehmen, mußte die Dokumentation von Geschichte im Gewände strengster Wissenschaftlichkeit daherkommen. Stetig aber nicht immer erfolgreich 448 bemühte sich Böhmer, allgemeinverbindliche Richtlinien für die Präsentation von Urkunden in seiner Form der Regesten sowie darüberhinaus auch für die schließliche Edition der Urkunden selbst zu entwerfen. Im Vorwort zu den Regesten Ludwigs des Baiern, in zahlreichen Briefen an befreundete Historiker 449 und schließlich in einem freilich etwas abgelegen publizierten Aufsatz ,»Ansichten über die Wiedergabe hand446
Harry Bresslau: Handbuch der Urkundenlehre fur Deutschland und Italien, Bd. 1, Leipzig 2 1912, S. 40. 447 Ebd., S. 38. 448 So bedauerte er etwa Thomas Georg von Karajan gegenüber den ausgebliebenen Erfolg seines Aufsatzes in Friedemann's Zeitschrift (s. Anm. 450): Böhmer an Karajan, 11.11.1855 (ÖNB Autogr. 168/42). 449 Böhmer, Regesten Ludwigs des Baiem, Vorrede, S. XV. Aus dem Briefwerk erscheinen folgende - von Janssen nicht veröffentlichte - Briefe in Hinblick auf Böhmers Historik besonders interessant: Böhmer an Kausler, 10.11.1840 (WLB, Cod. hist. 4° 590); an G. Meyer von Knonau, 25.7.1844 (s. Anm. 419); an Klüpfel, 30.6.1845 (UB Tübingen Md 756-4); aus späteren Jahren: Böhmer an Georg von Wyss, 29.1.1858 (ZB Zürich, FA v. Wyss I X 303.35) sowie der gesamte Briefwechsel mit Fridegar Mone (Weech).
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schriftlicher Geschichtsquellen im Druck" 4 5 0 entwickelte er jene Grundsätze des Wie, deren Nüchternheit erneut Zeugnis ablegt von der pragmatischen Nuance des Böhmerschen Wissenschaftsverständnisses: konkreter Nutzen für möglichst Viele rangiere vor der Pflege eines elitär-gelehrten Sektierertums. Seine Ablehnung des letzteren bezog sich vor allem - mit einem Seitenblick in Richtung Monumenta - auf die skurrilen neulateinischen Einleitungen, welche in Verbindung mit dem monströsen Folioformat die Benutzung geschichtswissenschaftlicher Werke kaum erleichterten. 451 Eine ganze Reihe detaillierter Ausführungen über „Schreibung", „Textbehandlung im Allgemeinen", „Urkunden und Urkundenauszüge" zeigt Böhmer auf einer erstaunlichen methodologischen Reflexionshöhe, deren Konsequenz und Exaktheit unter den katholizistisch-konservativen, großdeutschen Historikern erst in der folgenden Generation wieder erreicht und weiterentwickelt wurde. Besonders Julius Ficker hat seit 1854 mit der von ihm begründeten „Innsbrucker Schule" Böhmers Vorgaben kreativ aufgenommen und - wie von Böhmer immer gewünscht - schulbildend umgesetzt. Mit dem didaktischen Kernstück, seiner ,^Anleitung zur historischen Kritik", sowie seinen Vorlesungen und Übungen zur Rechts- und Verfassungsgeschichte des Reiches etablierte Ficker in Innsbruck einen Standard, der sogar die Bemühungen der Wiener Schule unter Sickel antizipierte, ja, der überhaupt in diesen Jahren für Österreich und Süddeutschland einmalig war. Daß Ficker als einer der Nachlaßverwalter nach dem Tode Böhmers die Fortsetzung des Regestenwerkes sich selbst und seiner Schule auftrug, erscheint da nur folgerichtig. 452 Den Höhepunkt der Böhmerschen Überlegungen im Aufsatz über die Wiedergabe handschriftlicher Geschichtsquellen bildet sicher die verbindliche Festschreibung dessen, was unter „Regesten" überhaupt zu verstehen sei. 453 Böhmer kontrastiert seinen Begriff des Urkundenregests in einzelnen Punkten seiner Vorstellung von der idealen Urkundenedition: „Urkundenregesten sollen den wesentlichen Inhalt der Urkunden wiedergeben, aber doch auch nicht allzu weitläufig sein, weil dadurch einerseits die Übersicht erschwert würde, welche den eigenthümlichen Vorzug der Regesten bildet, und weil es andererseits zweckmäßiger wäre, noch einen Schritt weiter zu gehen und die Urkunden vollständig abzudrucken. Das Regest soll dem Inhalte der vollständigen Ur450
Johann Friedrich Böhmer: Ansichten über die Wiedergabe handschriftlicher Geschichtsquellen im Druck, in: Friedemann's Zeitschrift für die Archive Deutschlands 2 (1850), S. 131-137; Wiederabdruck in: Janssen, Böhmer's Leben und Briefein, S. 461-468; hier zit. nach Janssen. 451 Ebd., S. 465/466. 452 Hierzu passim Jung, Ficker, bes. S. 202-241. Ficker und die Innsbrucker Schule wäre ausführlich im Rahmen einer Studie über die zweite Generation großdeutscher Historiker zu behandeln. 453 Böhmer, Ansichten über die Wiedergabe, S. 466-468.
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künde folgen", es habe sich - soweit möglich - am Original zu orientieren, nicht an irgendwelchen Drucken, es habe in Vollständigkeit zu berichten über ,,a) Namen des Ausstellers, b) Namen der Person, welcher die Urkunde gegeben ist, c) Betreff oder Gegenstand der Urkunde, d) Ausstellort, Jahr, Monat, Tag nach jetzigem Kalender." 454 Mit seinen Regestensammlungen einschließlich der diesbezüglichen theoretisch-methodologischen Überlegungen gesellt sich Böhmer eher unfreiwillig zur Gruppe der Begründer moderner Diplomatik. Gegen deren Image einer „Hilfswissenschaft" hätte er mit Sicherheit protestiert. Wirklichen Unwillen hingegen hätte die Reduktion seines Schaffens auf bloße Vorbereitungs- und Zuträgerarbeit erregt. Denn immer noch ist ja nur die Rede vom ersten - freilich wichtigen - Punkt der Böhmerschen Historik, von einem Teil nur, dem sich drei weitere anfügen müssen, um den ganzen Aufgabenbereich der Wissenschaft „Geschichte", des Historikers, zu durchschreiten. Und als Historiker fühlte sich Böhmer, nicht als Diplomatiker! Zweitens deshalb: ,discussion der zweifelhaften Puncte, der Lücken u.s.w., also Forschung." Böhmer umgreift da verschiedene Bereiche. Aufgaben philologischer Kritik fließen in diese zweite Rubrik ebenso ein wie erste Interpretationsansätze hermeneutischer Art. Der Wissenschaftler legt gestaltende Hand an das Urgestein der Überlieferung. Böhmer schwankte selbst, inwieweit er die ersten Bearbeitungsschritte abkoppeln sollte vom Geschäft der puren Quellenbereitstellung, neigte grundsätzlich zur Trennung der beiden Bereiche, sah aber, daß dies in praxi nicht immer konsequent durchführbar sein könne. Hatte er noch im Aufsatz für Friedemann's Archivzeitschrift eine striktere Trennung befürwortet, 455 gestand er später dem jungen Mone gegenüber die Möglichkeit einer sehr viel größeren gegenseitigen Durchdringung aller vier von ihm beschriebenen Aufgabenbereiche des Historikers immerhin zu. 4 5 6 Fließende Übergänge zwischen dem ersten und zweiten sowie dem zweiten und dritten Block seines Schemas bestritt Böhmer also keineswegs, trat jedoch nie zurück von der Forderung, alles Subjektive des bearbeitenden Historikers kategorisch zu scheiden vom Objektiven der Quellenüberlieferung. Agierte der Historiker vorwiegend als Editor, so hatte er sich möglichst urteilender Interpretamente zu
454
Ebd., S. 466/467. Ebd., S. 464: „Überlieferter Urtext und moderne Erläuterung sind immer möglichst zu trennen. Jener ist der Urstoff, den alle gleichmäßig anerkennen und der eben nur rein zu Tage zufördern ist. Dagegen ist die Erläuterung der Discussion unterworfen, und steht eben dadurch in einem ganz andern Verhältnisse." Vgl. auch o. S. 272. 456 Böhmer an Fridegar Mone, 25.10.1858 (Weech, S. 677): „Die verschiedenen Functionen bei der geschichtlichen Arbeit, die aber in einander überfließen und auch mit Absicht vereinigt werden können, hatte ich mir so gedacht [...]." [Hervorhebung Th. B.]. 455
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entschlagen, wenngleich ihm Böhmer „unmittelbare und unzweifelhafte Hülfen zum Verständniß" durchaus zugestand, ja ihm Einleitungen abverlangte zur Einführung in Leben, Werk, Überlieferung des jeweils edierten Autors 457 sowie Kommentare, welche den Leser in den Stand setzten, den Wert des herausgegebenen Materials zu erkennen. 458 Agierte der Historiker aber schließlich als schildernder Geschichtsschreiber - womit schon Punkt drei, „Darstellung des Verlaufs", in den Blick rückt - , unterwarf er sich anderen Gesetzen, begab er sich auf das Terrain von, JCunstbehandlung". Jener dritte Block des Schemas erscheint als Schlüsselstelle zum Verständnis der Historik Böhmers. Diese Rubrik erst vervollständigt Böhmers Ansichten über Aufgaben und Ziele des Historikers im Allgemeinen. Gleichzeitig charakterisiert und spezifiziert sie aber auch das individuelle Bild des Historikers Böhmer. Geschichte besteht dann eben nicht nur im trockenen Recherchieren und Bereitstellen von Relikten, sondern auch in deren kreativer, künstlerischer Weiterverarbeitung durch Historiographie, Geschichtsschreibung. Und der Historiker Böhmer tritt nicht lediglich als nüchtern pedantischer Urkundius Regestus in Erscheinung, sondern - seine Wurzeln in der romantischen Kunsttheorie nicht verleugnend - als künstlerischer Abbildner des Geschichtlichen. „Auch der Historiker soll ein Dichter sein, aber nicht erlogener Geschichten, wie die Poeten der spätem Perioden, sondern ein Wahrheitsdichter wie die alten Epiker. Die Kunst liegt dann im Gruppiren und im Ausdruck." 459 Böhmers eigene Entwicklung als Historiker widerspiegelt sich augenfällig in der Verwischung der Grenzen seiner schematischen Aufgabenbeschreibung. Als Ziel und Höhepunkt seiner Bemühungen betrachtete er in späteren Jahren jenen dritten Block der kreativen Geschichtsschreibung, zu welcher er sehnlichst überzugehen wünschte, angesichts der Last der Aufgaben aus den beiden ersten Komplexen jedoch den richtigen Übergang nicht fand. Diese Tendenz war nicht von vornherein angelegt in ihm, ja eine gewisse Abneigung gegen das Darstellerische hatte ihn einst sogar mit zum „Registermachen" bewogen; 460 seit Mitte der vierziger Jahre aber drängte es Böhmer doch mehr und mehr, seinem historiographischen Schaffen die gestalterische Krone aufzusetzen. „Noch ein Jahr habe ich Forschungsarbeiten, dann könnte ich zur Geschichtsschreibung übergehen. Aber, wie gesagt, es ist sehr zweifelhaft, ob ich das erlebe. Leider ist auch kein einziger Mensch vorhanden, der mich fortsetzen könnte." 461 Nichts
457
Böhmer, Ansichten über die Wiedergabe, S. 464 und 465. Böhmer an Emst Birk, 14.4.1849 (HHStA, NL Birk Nr. 221). 459 Böhmer an Kopp, 3. 8. 1852 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe m , S. 70). 460 Böhmer an Johann Baptist Pfeilschifter, 31.3.1838: ihm, Böhmer, gehe die Fertigkeit im Darstellen ab, ja er könne wohl sagen, „daß solches für mich das peinlichste Geschäft ist." (SB Berlin 2, Slg. Darmst. 2 f 1843, J. F. Böhmer). 461 Böhmer an NN, 1.2.1846 (SB Berlin 2, Slg. Darmst. 2 f 1843, J. F. Böhmer). 458
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wurde aus der großen Geschichtsdarstellung, jedoch konnte Böhmer den Impetus dazu ebensowenig zügeln, und so brach sich das Darstellerische in den überarbeiteten Kaiserregesten immer breitere Bahn. Die knappen Einführungen der ersten Regestenbände wuchsen zu ausufernden Prologen mit eindringlichen Charakterisierungen der Epochen jedes Kaisers. Böhmer ging dabei weit hinaus über das, was er theoretisch als Geschäft des Editors beschrieb, mischte Subjektivitäten durchaus bei, nicht nur in den Einleitungen, auch in den Regestentexten selbst gar, 462 und schreckte 1849 nicht davor zurück, seine Meinung über die Frankfurter Nationalversammlung in einer „Dithyrambe" am Ende der Einleitung der Regesten von 1198 bis 1254 niederzulegen. 463 Tatsächlich erreichte er bei solchen Versuchen seine beste Form dort, wo es ihm gelang, in kurzen prägnanten Strichen das Gesicht einer Zeit so zu skizzieren, wie er sie verstand. Hier lag sein darstellerisches Talent, nicht in der breiten, wirklich „epischen" Schilderung, 464 und hier wiederum entspricht Böhmers persönliche Veranlagung besser den theoretischen und methodischen Forderungen seiner Historik. Denn, was formuliert er als Kern des dritten Blockes, der „Darstellung"? Sie solle einen Kompaß liefern, „der mich durch die Masse des Details zur Auffassung dessen, was wesentlich ist, führen konnte", sie solle die „klare Erkenntniß des Fadens" fordern, „an dem sich die Ereignisse fort-
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Beispiel: Urkunde Ks. Friedrichs Π., Straßburg 1. Juli 1216: „verspricht dem pabst Innocenzin und setzt fest, dass wenn er die kaiserliche krone erlangt haben werde, er alsbald seinen bereits zum könig gekrönten söhn Heinrich aus der väterlichen gewalt entlassen und ihm das reich Sicilien gänzlich überlassen wolle um es von der römischen kirche zu tragen, dergestalt dass er selbst von da an weder könig von Sicilien sei und sich nenne [...] und somit iede Vereinigung dieses königreichs mit dem kaiserreich vermieden sei. [Kommentar Böhmers, Th. B.:] Dass doch Friedrich dieses sein feierliches versprechen welches er am 10. feb. 1220 wiederholte, gehalten hätte! Aber neunzehn tage später starb pabst Innocenz, und im aprii 1220 enthüllte sich was Friedrich damit beabsichtigt hatte, dass er seinen kleinen söhn Heinrich noch in diesem laufenden iahr nach Deutschland kommen Hess." (Böhmer, Regesten 1198-1254, 1849, S. 87/88) - Dieses grundsätzlich kritisierbare Vorgehen gab 1845 den äußeren Anlaß zu einer bitter polemischen Pseudonymen Streitschrift gegen Böhmer und die „historischpolitische Schule". Vgl. u. S. 457-460. Freilich hätte Böhmer seinen Kritiker darauf hinweisen können, trotz der Aufnahme persönlicher Kommentare in die Regestentexte, „Subjektives" und „Objektives" nie unzulässig kontaminiert zu haben. 463 Böhmer, Regesten 1198-1254, 1849, Einleitung, S. L X V T ° . Die Kennzeichnung dieser Ausführungen als „Dithyrambe" stammt von Böhmer selbst; vgl. z. B. Böhmer an O. Cornili, 24.8.1850 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe m , S. 23). 464 Eine der vorzüglichsten Abhandlungen dieser Art gelingt Böhmer in der Vorrede zum ersten Band der Fontes, worin er auf knappstem Raum die wesentlichen Entwicklungslinien deutscher Geschichte zwischen Friedrich II. und dem frühen Karl IV. verfolgt; Böhmer, Fontes I, Vorrede, S. V - V I I .
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spinnen." 465 Der Geist der Zeit erfordere im übrigen die Tugend der Konzentration. „Ich meine, wir Historiker müßten einer immer geschwinderen [...] Zeit gegenüber uns mehr und mehr an gedrängte Darstellung gewöhnen." 466 Reduktion auf das Wesentliche in Verbindung mit Kunstfertigkeit der Komposition, lautet das Credo Böhmerscher Historik im dritten Teil seines Schemas: Geschichte als Gegenstand von Kunstbehandlung, als Gattung von Literatur! 467 Größten Wert legte Böhmer auf die Entwicklung der schöpferisch-gestaltenden Hand des darstellenden Historikers, und als Nachhilfe für österreichische Historiographen war es gedacht, wenn er Julius Ficker anhielt, seine Innsbrucker Schüler gerade in diesem Aspekt zu üben, und ihm gleich zusammenfaßte, was etwa eine Monographie über eine geschichtliche Persönlichkeit enthalten müsse: „die allgemeine Lage beim Beginn, die Persönlichkeit die auftritt, wie sie die überkommenen Geschäfte ergreift, was Neues dazwischen tritt, ob und welche Ziele der Handelnde sich gesteckt hat, wo die Knotenpunkte seines Lebens liegen, was die Rolle werth gewesen, die er gespielt, und wie er das ihm Anvertraute gelassen hat; allem vorausgehend aber die Quellen, auf denen unsere Kenntniß beruht." 468 Am Ende des Cursus schließlich mündet der historiographische Prozeß in Punkt vier: Beurteilung und Verstehen als Resultat der Arbeit des Historikers allerdings nicht Beurteilen und Verstehen durch den Historiker selbst, sondern durch die Rezipienten des Werkes. Das Verstehen des Geschichtsschreibers hatte Böhmer ja bereits im dritten Komplex als Resultat der beiden ersten und als Voraussetzung der komponierenden, darstellerischen Arbeit beschrieben. 469 Block vier faßt dagegen nun den letzten Endzweck geschichtswissenschaftlicher Tätigkeit überhaupt: durch die Summe der drei vorangehenden Komplexe nicht
465
Böhmer an Chmel, 23.6.1855 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe m , S. 146). Böhmer an Watterich, 13.3.1857 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe III, S. 207). 467 Wenn neuerdings im Zusammenhang mit der Suche nach geschichtstheoretischen und -philosophischen Antworten auf die „Herausforderungen der Postmoderne" die Rhetorizität und Narrativität historiographischer Texte näher in den Blick rückt, meist unter Verweis auf die Untersuchungen Hayden Whites, so sollte nicht in Vergessenheit geraten, daß auch die so typischen Vertreter des „modernen" Historismus sich dieses Aspekts sehr wohl bewußt waren. Gerade die theoretischen Ausführungen Johann Friedrich Böhmers sprechen für eine Mehrdimensionalität jenes Historismus, welche der „postmoderne" Vorwurf vermeintlich fataler, technokratisch-konstruktivistischer Vernunftlastigkeit nicht wirklich trifft. Vgl. dazu Jörn Rüsen: „Moderne" und postmoderne" als Gesichtspunkte einer Geschichte der modernen Geschichtswissenschaft, in: Küttler / Rüsen / Schulin, Geschichtsdiskurs I, S. 17-30, bes. S. 23 und 26 mit Hinweis auf das, JCunstbewußtsein" bei Ranke. 468 Böhmer an Ficker, 27.4.1856 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe m , S. 188). 469 „3) Darstellung des Verlaufs. Diese setzt die gewonnene Verständniß voraus und ist Gegenstand von Kunstbehandlung." (s. Anm. 385). 466
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nur dem Fachhistoriker, vielmehr dem großen Publikum schlechthin Handhabe zu liefern zum Verständnis, zur Beurteilung des Vergangenen; in anderen Worten und um den Kreis inhaltlich im Sinne Böhmers zu schließen: zum Verständnis der Persönlichkeit der Nation.
Geschichte - eine adelige Wissenschaft? Kaum eine würdigere Beschäftigung, so hatte ja bereits der junge Böhmer 1822 in fiktiven ,3riefen an einen rheinischen Jüngling" geschrieben, könne man sich denken, als dem Studium der Geschichte seine Kraft zu widmen, „theils um sich selbst zu stärken, theils Anderen dadurch ein Stärkungsmittel zu bereiten, um der Gegenwart den rechten Spiegel der Erkenntniß vorzuhalten." 470 „Den boden zu kennen, worauf man steht, zu wissen was einst gewesen nun aber verschwunden, einzusehen wie das gekommen, zu begreifen was in der vorzeit wurzelnd noch aufrecht steht: das scheint mir anfang und Vorbedingung aller besseren bildung; doppelt wichtig einem volke dessen selbstständige entwicklung gehemmt war, welches neu sich erheben will, und nun doch nicht die letzten iahrhunderte der versunkenheit fortsetzen, sondern anknüpfen möchte an die früheren der kraft und grosse. So wird es denn würdige aufgabe für vaterländische gesinnung sein hier an den ächtesten künden der vorzeit sich selbst wieder finden zu lernen [...] und gereinigt von leidenschaften durch den anblick des grossen dramas zur aufgabe der gegenwart mit veredelter kraft zurückzukehren." 471 Diese Grundüberzeugung bewahrte er sich ein Leben lang: Geschichte war Böhmer nichts anderes als Politik. „Ich ahnde, ich verkünde eine Zeit, wo die vaterländische Geschichte als wirksames Moment in die Gestaltung des Tages eingreift." 472 Insofern schrieb die Böhmersche Historik dem Geschichtsschreiber eine höchst verantwortungsvolle Aufgabe und eine wichtige Position innerhalb der Gesellschaft zu. Kein bloß passiv-kontemplatives Gelehrtendasein vergönnte sie ihm; als Sachwalter des Erbes der Vergangenheit beförderte sie den Historiker vielmehr zum ,,Lord Siegelbewahrer" der handelnden Politiker. Während aber Böhmer seine Gedanken trotz ihres starken Gegenwartsbezuges nicht ohne weiteres sofort in den Dienst der konkreten Tagespolitik stellte, während er ihnen bewußt eine Aura visionärer Unbestimmtheit ließ und eifersüchtig seine Unabhängigkeit zu wahren bestrebt war, diente beispielsweise der Reichshistoriograph Hurter sehr ähnliche Überlegungen dem restaurativen Kurs Metternichs an. Wo Böhmer aus geschichtlichem Grund Neues organisch wachsen lassen wollte, bestand bei Hurter eher die Neigung, in der Geschichte
470
Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 121. Über die ,3riefe an einen rheinischen Jüngling" vgl. ebd. S. 117-121 und Kleinstück, S. 143-145. 471 Böhmer, Fontes II, Vorrede, S. VII. 472 Böhmer an Stälin, 31.1.1846 (UB Frankfurt/M., MS. Ff. Böhmer 1 Κ 2).
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das Arsenal jener Argumente zu sehen, welche die Restauration des Gewesenen restlos begründeten, die Rückkehr zu den unveränderten alten Zuständen billig legitimierten: „Euer hochfürstliche Durchlaucht sind ein zu tief schauender Staatsmann, um nicht festzuhalten an der Überzeugung, daß thatkräftiges Bewußtseyn der Dynastien und der Völker in der Kenntniß ihrer Vergangenheit wurzle, daß schöpferische Lebensfülle in Beide nur aus dieser hinüber pulsire. Wäre in den Einen oder in den Anderen die Anmuthung für der Vorvordern Größe, Thun und Wirken, für deren Manneswerth in heiteren wie in trüben Tagen erloschen, dann müßte ihnen auch die Bürgschaft für die Zukunft entschwinden; dann möchte man sich bloß noch mit der Lebensfristung von dem heutigen auf den morgigen Tag begnügen, des höchst kärglichen Glückes sich freuen, wenn jener eben so bequemlich zu Ende liefe, wie der gestrige vollbracht worden. Könnt' es befremden, wenn in solcher Erstorbenheit die Geschichte keine Gunst fände, sie viel eher als etwas Lästiges gälte, und Reichshistoriographen dem Gewesenen beigezählt würden, welches die Revolutionen sammt deren Erben und Nachfolgern, so glücklich überwunden zu haben wähnen?" 473 Ob konkret-politisch, ob eher visionär-divinatorisch, Einigkeit herrschte in jener ersten Generation großdeutscher Historiker über die exponierte gesellschaftliche Stellung des Geschichtsschreibers. Höfler, sicher durch persönliche Erfahrungen motiviert, stilisierte seinen Beruf zum Martyrium, welchem man wie er Böhmer bekannte - seine persönliche Existenz opfern müsse, „um nur der Wahrheit insoweit Gehör zu verschaffen, als sie eruirt und festgestellt ist. Dadurch ist dem Irrthum, der Lüge, immer eine Lection gegeben."474 Gfrörer hinwiederum, um des Effektes willen gerne zu aufklärerischem Pathos bereit, erklärte den herkulisch ringenden Geschichtsschreiber zum lichtumkränzten Freiheitshelden: „Freiheit ist die Lebensluft, in welcher Historiker allein gedeihen, Sklaven besitzen keine Geschichte."475 Keineswegs aber jeden historiographisch Schaffenden reihte Gfrörer ein in den Kreis der wirklich vollendeten Historiker. Carl Adolf Cornelius erzählt, wie Gfrörer eine geschichtswissenschaftliche Klassengesellschaft errichtete, drei Gruppen von Historikern unterschied: „Mein guter Gfrörer sagte mir einmal, als er abends con amore trank und räsonierte: Es gibt drei Sorten von Historikern; das eine sind die Maurer, die suchen die Steine beieinander und pappen sie mit Mörtel zusammen; daraus wird dann eine gute Mauer; das zweite sind die Steinmetzen, die behauen einen groben Klotz fein und zierlich, dass er schön zu sehen ist und ein gutes Werkstück abgibt; aber die die Gewölbe sprengen und die weiten und hohen Gebäude
473
Hurter an Metternich, 1.11.1850 (s. Anm. 352). Höfler an Böhmer, 10.2.1845 (UB Frankfurt/M., MS. Ff. Böhmer 1 Κ 5 H). 475 Gfrörer, Carolinger II, S. 493; vgl. ebd., S. 248: die ganze Wirksamkeit eines Historikers gleiche „einem steten Ringen gegen Lüge und Betrug." 474
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aufführen, das sind noch ganz andere Leute, das sind die Baumeister." 476 Demjenigen also nur gebührt die Krone, der wirklich Neues, Großes, Erhabenes aus den Baumaterialien errichtet, der gottgleich, prometheisch, gestaltet und belebt: „die Hauptsache ist, das Getrennte, Todte zu einen, zu beseelen, Feuer, Leben, Athem in den historischen Plunder hineinzublasen, die disjecti membra poetae zusammenzuziehen. " 4 7 7 Geschichte - eine adelige Wissenschaft! Aufgabe und Zweck des Historikers erfüllen sich erst in jener letzten Stufe der Darstellung, der lebendigen Gestaltung. Geschichte erscheint nicht als bloße forschende Analyse, sondern auch und gleichberechtigt als bauende Synthese. Ein enger Begriff von Wissenschaft greift nicht; der künstlerische Prozeß des Formens bleibt unerläßlicher Bestandteil des historiographischen Aufgabenbereiches. So erscheint als Summe der Historik innerhalb der ersten Generation katholizistisch-konservativer, großdeutscher Geschichtsschreiber, gipfelnd in den Überlegungen Gfrörers und Böhmers, zweierlei: ein sensibilisiertes kritisches Bewußtsein, welches einerseits versucht, die Grundlagen weiterer Arbeit durch die Bereitstellung von Quellen zu legen (Böhmer), andererseits sich aber auch darum bemüht, interpretatorisch unter die Oberflächen zu dringen, um die Überlieferungen weitgreifender deuten, verstehen zu können (Gfrörer), und welches sich durchaus darüber Rechenschaft ablegt, daß dies alles nach bestimmten Regeln zu geschehen habe. In dieser Hinsicht steht die Historik jener ersten Generation sicherlich auf der Höhe ihrer Zeit, ja besitzt in Johann Friedrich Böhmer einen wegweisenden Kopf. Schließlich: Geschichte bleibt nicht begrenzt auf bloßes Regelwerk, dem nur technokratisch im Sinne eines Handwerks zu entsprechen sei, um zu akzeptablen Ergebnissen zu gelangen. Eine künstlerisch-literarische Komponente des Gestaltens und Neuschaffens muß sich hinzugesellen. Grundlagenarbeit und Quellenkritik hier, erschaffende Divinatorik da - erst im Zusammenspiel beider Faktoren erfüllt Geschichte als Wissenschaft ihre Aufgabe, deren inhaltliche Ausrichtung von jedem der Historiker zwar etwas anders beschrieben, die jedoch insgesamt als eine hohe, dem Menschen essentiell wichtige verstanden wird. Große geschichtsphilosophische, metaphysische, spekulative Überbauten Hegelscher Art fehlen dieser Historik; daß aber Geschichte sich auf ein Eines und Letztes hin zu orientieren habe, auf ein göttliches Prinzip, sei es nun orthodox-katholisch oder anders gefaßt, bleibt als weltanschaulicher Konsens unumstritten und bettet auch die Historie ein in den Gesamtbegriff von Wissenschaft, welcher jene Gruppe von Historikern charakterisiert.
476 Cornelius an seinen Oheim Theodor Brüggemann, 24.9.1849 (BSB, NL Cornelius ANA 351 Π Β 1). 477 Gfrörer an Emilie Ringseis, 19.9.1859 (BSB, Ringseisiana III).
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Denkwege Π. Die eigene Zeit: Politik
Geschichte und Politik - die vergangene Zeit, die eigene Zeit - hängen untrennbar zusammen. Jeder Mitgestalter des Gegenwärtigen, selbst der radikalste Revolutionär, der entschlossenste Baumeister eines neuen, scheinbar gänzlich allem Gewesenen abgekoppelten Systems, sieht sich früher oder später konfrontiert mit der Notwendigkeit, Bezug zur Vergangenheit herzustellen, sie formend, umformend, vielleicht unter Mißbrauch einzuordnen, kurz, ihr ein Verhältnis zur Gegenwart zu geben. Historikern fallt in diesem Zusammenhang eine gewichtige Rolle zu, die zu spielen in der Regel als heikle und schwierige Aufgabe empfunden wird. Genügt es, gelehrt und fleißig nur die wissenschaftlichen Pflichten zu erfüllen, dem Vergangenen nachzuspüren, Einordnung und Sinngebung aber anderen zu überlassen, ja notfalls Sinngebung in verkehrter Richtung in Kauf zu nehmen? Steht es dem Historiker nicht vielmehr an, besteht nicht gar Verpflichtung, selbst das Arsenal seiner Forschungsergebnisse zu nutzen und sich in die öffentliche Diskussion zumindest einzuschalten, wenn nicht selbst politisch handelnd aufzutreten, unter der Gefahr auch, dem Sog des Populären zu unterliegen und dabei an Schärfe des kritischen Blickes zu verlieren? Weit differierende Urteile sind da denkbar und legitim. Entsprechend verzeichnet auch die Historiographiegeschichte Perioden (zu) starker Zurückhaltung der gelehrten historischen Zunft ebenso wie solche (zu) starken Engagements. Besondere Lehrstücke über Historiker als Politiker liefert das neunzehnte Jahrhundert. Hinlänglich bekannt, erscheint die kleindeutsch-borussianische Schule gern als Musterbeispiel; nicht weniger interessant aber, interessanter vielleicht aufgrund des Scheiterns ihrer realpolitischen Ziele, steht daneben die Gruppe der Großdeutschen. Kaum minder als in jener herrscht jedenfalls auch in dieser das Bewußtsein, der Historiker habe in politicis ein Wort mitzureden, ein Stück mitzuhandeln. Nach dem Blick auf die historiographischen Grundpositionen und deren theoretischen wie methodologischen Überbau, die Historik, bedarf das keines näheren Kommentars mehr. Wie aber gestaltet sich nun im Zusammenspiel mit diesen historiographischen Urteilen das politische Denken der ersten Generation großdeutscher Historiker? An welchen Krisen des Vormärz bilden deren Repräsentanten ihre politische Urteilskraft aus, auf welche Maximen stützen sie diese, neben und außer den Geschichtsbildern? Auf welche Weise, nach welcher Seite hin rundet solch politisches Denken das Denken dieser Historiker überhaupt ab zu einer Basis, auf der dann im gegebenen Fall allgemeinpolitisches wie fachwissenschaftliches Handeln in größerer Öffentlichkeit, also öffentliches Handeln, gründet?
. Die eigene Zeit: Politik 1. Vormärzliche
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Krisen
„Gar sehr lieb" sei ihm, antwortete Johann Friedrich Böhmer am 21. Mai 1835 dem „Hochgeehrtesten Herrn Legationsrath" Johann Baptist Pfeilschifter, „daß Sie näher an eine Geschichte unserer Zeit seit dem Wiener Congreß, oder wie Sie das nennen oder begränzen wollen, denken." Damit nehme er, Pfeilschifter, sich etwas vor gegen das öffentliche Interesse, welches dem „jetzigen Gang der Dinge, so entscheidend er auch für eine künftige Zeit seyn mag", wenig Aufmerksamkeit entgegenbringe. Überhaupt lebe man ja in einer seltsamen Gegenwart: „Die Tories wollen gemäßigte Reformer, und die Reformer wollen in gewissen Stücken Conservative seyn; überall entwickelt sich der Charakter eines langweiligen, wenn auch vielleicht verrätherischen Juste milieu, oder richtiger er steht überall in schönster, bewundertster Blüthe." Keiner, weder Zeitungen und Journale noch sonstige Marktschreier öffentlicher Meinung, wisse etwas „Markirendes aufzustellen. Dagegen zeigt sich seit einiger Zeit eine Neigung dicke Bücher zu lesen [...] aber auch eine Richtung zum Besinnen, zum Selbstbewußtwerden, die zu benutzen seyn möchte, komme sie nun her, woher sie wolle. Im Grunde ist sie natürlich. Das Julikönigthum hat nun schon V3 so lang gedauert als die zwei Regierungen der Restauration; es ist ein neuer Abschnitt eingetreten; man sieht sich um, wie der gekommen. Dieser Stimmung im Publicum entspricht in seinem Kreise ganz vollständig das Protocolliren der Diplomaten." Wäre es angesichts solcher Befunde nicht erstrebenswert, kommt Böhmer zum Schluß, wenn Pfeilschifter in einem Buche die rechte Form für diese Zeit suchte, die Wahrheit sagte „über das, was wir fast am wenigsten wissen: das Neuste nämlich im geschichtlichen Sinn, also die letzten 20 Jahre"? 478 Zwei Jahrzehnte nach einer großangelegten Neuordnung Europas kann Böhmer weder den Eindruck breiten öffentlichen Einverständnisses mit dieser Neuordnung noch denjenigen breiter Ablehnung vermitteln. Vielmehr sieht er sich veranlaßt zu einem Gemälde zwiespältiger biedermeierlicher Ruhe, gekennzeichnet durch ein Bestreben weiter Kreise, erst einmal zuzusehen und abzuwarten, nach welcher Seite der labil gleichgewichtige Status schließlich kippen werde. Daß jedenfalls dem Wiener Kongreß nichts Endgültiges entsprossen sei, unterbreitet Böhmer als allgemeinen Konsens; die Erschütterung der Julirevolution nach kaum fünfzehn Jahren der „ R e s t a u r a t i o n " liefert ihm obendrein einen trefflichen Beleg für die Unbeständigkeit des Ordnungswerkes von Wien. Kaum überhörbar formuliert er Pfeilschifter gegenüber den Ruf nach einem Exegeten dieser unsicheren Gegenwart: Umbruch allerorten - wie wichtig wäre
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Böhmer an Johann Baptist Pfeilschifter, 21.5.1835 (SB Berlin 2, Slg. Darmst. 2 f (1843) 6, Böhmer J. F.). 19 Brechenmacher
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da ein Sinnlieferant, der aus den Erfahrungen der Geschichte heraus den rechten Weg wiese! a) Aspekte der Unzufriedenheit mit Deutschlands Neuordnung von 1815 Böhmers Appell an den historiographisch arbeitenden katholischen Publizisten Pfeilschifter 479 mag gut und gerne stellvertretend stehen für einen Aufruf an die Partizipanten des geschichtswissenschaftlichen Metiers insgesamt. Denn all diesen als Funktionsverwaltern vaterländischer Aufgaben wachse ja, getreu der Böhmerschen Historik, besondere Sinngebungskompetenz zu, im Sagen der Wahrheit zuerst und später auch im aktiven Umsetzen des Erkannten. Worin aber hätte im Böhmerschen, im Sinne der Großdeutschen erster Generation jene ,Wahrheit' geschichtsbewußter Kommentatoren des Zeitgeschehens seit Niederschlagung des napoleonischen Weltherrschaftsgespenstes zu gründen? Gründete sie allein in der Diagnose tiefer Enttäuschung über das Resultat der Neugestaltung Deutschlands, dann stünden Böhmer und mit ihm die Großdeutschen keineswegs besonders separiert von anderen jungen Historikern, die, nicht minder berührt von den Erweckungsidealen der Befreiungskriege, von ersten Anflügen des Nationalgedankens, sich in jenen Jahren gleichfalls anschickten, ihrer Wissenschaft Bedeutendes zu leisten. Aus dieser Enttäuschung ein Kriterium früher Spaltung deutscher Geschichtswissenschaft in Nord und Süd, protestantisch und katholisch abzuleiten, griffe gründlich daneben. Das tönt unmißverständlich bereits aus Rankes Reflexionen zum Leben Böhmers hervor, in des Meisters fast eifersüchtigem Insistieren auf der allgemeinen und damit auch der eigenen Empörung über das Ende des Alten Reiches wie über die schließliche Etablierung des Deutschen Bundes. „Wir lebten auch in dem Norden mehr oder minder in dem Gefühl, dem großen Reich anzuhören. Ich besinne mich, wie mich das Wort »Kaiserliche Majestät', als ich es zuerst mit einigem Verständniß vernahm, durchzuckte. Wir empfanden es auch an unserer Stelle, daß der deutsche Kaiser abdicirte. [...] Es war fast ein allgemeiner Wunsch, daß die alte Grenze des Reichs wiederhergestellt und das Kaiserthum als Organ der Einheit in bestimmten Formen renovirt werden möge. Daß dann ein bloßer Bund zu Stande kam, in welchem die besonderen Souveränetäten
479 Johann Baptist Pfeilschifter, geb. 1793, Publizist und katholischer Schriftsteller; u. a. Korrespondent der ,Allgemeinen Zeitung", Redakteur der „Katholischen Kirchenzeitung" (Aschaffenburg); 1837-1841 Mitarbeit am „Herold des Glaubens"; gest. Regensburg 1874; Werke u. a.: Zurechtweisungen für Freunde und Feinde des Katholizismus, 1831; Politische Studien, 1839; Papst Gregor XVI., 1846; vgl. H. Reusch, in: ADB X X V (1887), S. 657/658 sowie Ewald Reinhard: Johann Baptist von Pfeilschifter, der bayerische Plutarch, München 1955.
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gewahrt wurden und die Einheit nur schwach repräsentirt war, konnte Niemand befriedigen." 480 Empörte Enttäuschung in Verbindung mit dem Bewußtsein der Vorläufigkeit dieses Deutschen Bundes war demnach fur sich allein noch kein Erkennungszeichen konservativ-katholizistischer, großdeutscher Zeitkritik. Nicht in der oberflächlich begriffsgleichen Grunddiagnose, sondern vielmehr im inhaltlichen Detail lagen die Keime der Entfremdung, welche sich im Lauf der Krisen des Vormärz entfalteten und welche Böhmer und die Gesinnungsgenossen der ersten Generation großdeutscher Geschichtsschreibung auch auf dem Gebiete der Tagespolitik zu anderen Antworten führten als Ranke und vor allem dann einige seiner Schüler. Freilich geht, ohne erst tiefer in die historiographische Welt Rankes vordringen zu müssen, schon aus genauerem Hinhorchen auf dessen Anmerkungen zur gemeinsamen Jugendzeit und eingedenk der Ausführungen zu den geschichtlichen Grundpositionen der Großdeutschen nur zu deutlich hervor, wie unterschiedlich Rankes und Böhmers Vorstellungen hinsichtlich der Wiedererrichtung eines ,deutschen' Kaisertums tatsächlich sein konnten. Ranke legt den Akzent seiner Restitutionsforderung auf die „bestimmten Formen", in denen „das Kaiserthum als Organ der Einheit [...] renovirt werden möge." So sehr seine Toleranz auch jenen anderen Restitutionsgedanken derjenigen, „die mit ihrer persönlichen Existenz an das Bestehen von Kaiser und Reich gebunden waren", 481 billigt, kann er selbst doch die Vorstellung einer Neuordnung Deutschlands nach Muster und Abbild des Alten Reiches nur ablehnen, aus der Überzeugung heraus, daß die Kernidee jenes Reiches, die Idee des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation abgedankt habe. 482 Eine solche Grundhaltung widerspricht entschieden den revisionistischen Bemühungen verschiedenster Gruppen - Böhmers Zeugnis zufolge auch der Reichsstadt Frankfurt - , auf dem Wiener Kongreß die „möglichste Wiederherstellung des deutschen Reiches und die Wiederannahme der Krone seitens des Kaisers Franz" zu erreichen. 483 Auch Böhmer, sicher, stand unter dem Einfluß seines
480
Leopold von Ranke: Rede zur Eröffnung der IX. Plenarversammlung [der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften] am 30. September 1868, in: Ders., Abhandlungen und Versuche, Neue Sammlung, Leipzig 1888 (= Sämmtliche Werke Bd.51/52), S. 535-545, hier S. 537/538. Ranke nahm in dieser Rede das eben erschienene dreibändige Werk Janssens, Böhmer's Leben und Briefe, zum Anlaß, eine Würdigung Böhmers mit eigenen persönlichen Erinnerungen und Eindrücken aus seiner Jugend zu verbinden. Ranke war im selben Jahr wie Böhmer, 1795, geboren. 481 Ebd., S. 537. 482 Ebd., S. 542. 483 Böhmer, Nachruf auf J. G. Ch. Thomas, in: Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΠΙ, S. 469-477, hier S. 472. 1*
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Mentors und Freundes, des Bürgermeisters Thomas, Gedanken dieser Art nahe, aber auch er reduzierte, dem Druck der Realität nachgebend, deren politische Substanz auf den Grundsatz „ohne Österreich kein Deutschland". 484 Trotzdem: daß 1815 ein, Anrecht" der Nation bestanden habe, das Kaisertum unter Franz II. restituiert zu sehen, davon rückte Böhmer auch in späteren Einlassungen über deutsche Geschichte und Zeitgeschichte nicht ab. 485 Ebensowenig, wie von jener dezidierten Schuldzuweisung, deren Heftigkeit ihm nie erlaubte, mit der wachsenden Bedeutung der nordöstlichen deutschen Vormacht in Sachen deutscher Einheit ins Reine zu kommen. Preußen, so ergänzt er folgerichtig nach der tagespolitischen Seite hin das Urteil der geschichtlichen Grundpositionen über dessen Entstehung, trage die Schuld sowohl am Untergang des Alten Reiches als auch an der verhinderten Wiedererweckung des Kaisertums. Ersterer, fuhrt Böhmer in seiner ,Dithyrambe" - dem aktuell-politischen Appendix zur Einleitung der erneuerten Kaiserregesten 1198-1254 - aus, knüpfe „sich bekanntlich zuletzt an den 1795 von Preussen mit der französischen republik geschlossenen Separatfrieden, welcher zugleich das ganze nördliche Deutschland aus dem kämpfe gegen den reichsfeind zurückzog, und demselben [...] das linke Rheinufer gegen das versprechen der vergrösserung Preussens auf kosten seiner deutschen mitstände preis gab; welche vergrösserung dann auch, als das allein gelassene Oestreich besiegt war, durch den reichsdeputationshauptschluss von 1803 verwirklicht wurde"; die Politik Preußens in letzterem Falle schließlich spreche deutlich aus der Intervention des preußischen Staatskanzlers Hardenberg beim Redakteur des Rheinischen Merkur - Joseph Görres - , „die fortwährend erneute anregung der Wiederbelebung der deutschen kaiserwürde im hause Oestreich als etwas was die leidenschaften der Deutschen gegen einander aufregen könnte", zu unterlassen. 486 Da liegt der Kern Böhmerscher „Wahrheit" über die ,neuste Zeit", und dahin konnte ihm freilich Ranke nicht folgen, bei aller augenscheinlich so gleich empfundenen Empörung über die Ereignisse von 1815. Trotz grundsätzlicher Anerkennung stellt Ranke in seiner Charakteristik diese Position Böhmers doch deutlich überzogen dar. Während Böhmer vor allem an den verfassungsrechtlichen Aspekten einer Neuordnung Deutschlands aus dem Geiste des alten Kaisertums interessiert war, im Kaisertum selbst lediglich die Spitze der alten („älteren") Reichsverfassung erkannte und allenfalls in sehr nachgeordneter Linie an eine Restitution des mittelalterlichen Imperium-Sacerdotium-Dualismus dachte, betont Ranke in den kritischeren Passagen seiner Würdigung genau diesen letzten Punkt, wenn auch wohl mit der Absicht, eher die orthodox-katholische Gruppe der großdeutschen Historiographen, denn Böhmer
484 485 486
Ebd. Böhmer, Regesten 1198-1254,1849, Einleitung, S. L X V I \ Anm. („Dithyrambe"). Ebd., S. L X V r * , Anm.
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persönlich zu treffen. „Wenn das Schöne nur der Heiligung dient, so ist das Wahre nur das dogmatisch Festgestellte, das Gute selbst nur das, was der Kirche dient. Wir fallen in den alten Staat zurück. [...] Die menschliche Gesellschaft würde keinen anderen Zweck haben, als die kirchliche Idee zu verwirklichen, die weltliche Gewalt ihre höchste autonome Bestimmung verlieren." 487 Tatsächlich greift diese Kritik dort an, wo in der Zeitdiagnose katholischer Historiker die Kirche dem Staat anspruchsvoll zur Seite rückt, wo jene Gruppe ihrer Unzufriedenheit mit den Ergebnissen von 1815 durch die Feststellung Ausdruck verleiht, die Neuordnung habe kein erträgliches Verhältnis beider Institutionen zustande gebracht. Stellvertretend markiert einmal wieder Constantin Höfler den Standpunkt in Wetzer und Weltes wertsetzendem Lexikon durch einen Artikel zum Thema „Wiener Congreß". 488 Das Kaiserreich, pflichtet er durchaus der Klage Böhmers bei, habe man nicht wieder hergestellt, „als der Zustand Teutschlands wie Europas auf dem Fürstencongresse zu Wien nach der gezwungenen Abdankung Napoleons geregelt wurde." Eine beklagenswerte Entwicklung, sei doch dadurch-und hier kommt auch Höfler auf die alte Reichsverfassung zu sprechen - , „die in allen schwierigen Fragen einst so wohlthätige, auf Vermittlung und Versöhnung der Parteien angewiesene Würde des Reichserzkanzlers [...] wie die der geistlichen Churfursten" weggefallen. Dies bedeutete die Amputation eines wesentlichen Standbeines der alten Ordnung: der selbständigen Stellung der Kirche als der dem Staate korrespondierenden Institution auf geistlich-geistigem Gebiete. Dies bedeutete die Herabwürdigung letzterer zu einer staatlichen Unteranstalt, also die eigentliche Vollendung dessen, was mit der Reformation, was mit den Grundsätzen des Westfälischen Friedens begonnen.„Das neue Bundesreich trug einen ganz weltlichen Charakter." Mehr noch: nicht nur das staatliche Einheitsband Deutschlands war mit dem Kaisertum gefallen, sondern auch jenes religiöse, welches Historikern mit Neigung zum Katholizismus - an Gfrörers Modell vom heiligen Bonifatius als dem eigentlichen Gründer der Nation sei nur kurz erinnert 489 - als Unterpfand nationaler Identität mindestens gleichwertig galt. „Die katholische Kirche [hatte] aufgehört [...], eine teutsche Kirche zu sein. Der alte Diöcesanverband war theils gelockert theils gelöst, die alten Bischöfe waren meist gestorben, die katholische Heerde ohne Hirten, die Staatsomnipotenz, riesengroß emporgestiegen, hatte selbst das Andenken an die frühere Zeit verwischt." Anstelle der sinnlosen Entsendung eines Nuntius an den Frankfurter Bundestag, der unbedeutenden Vertretung des gesamten Deutschen Bundes, blieb Rom, um überhaupt Einfluß zu wahren, nichts anderes übrig, denn auf Konkordanzbasis
487
Ranke, Rede zur Eröffiiung, S. 541. Constantin Höfler: Art.„Wiener Congreß", in: Wetzer und Welte X I (1854), S.1078/ 1079; die Zitate des nachfolgenden Abschnittes entstammen alle diesem Artikel. 489 S. o. S. 166. 488
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mit den einzelnen Mitgliedern des Bundes zu verhandeln, am Hofe von Kleinstaaten also zu deren Bedingungen zu antichambrieren. „Die teutsche Kirchengeschichte seit dem Wiener Congresse ist [...] noch die längste Zeit in gar vielen teutschen Staaten ein fortwährender Kampf des Rechtes mit einem Gewebe von Lüge und Treulosigkeit, mit heimlicher und offener Verfolgung [...], der Kampf mit dem uniformirten Radicalismus." Sicherlich spricht aus dem erst 1854 erschienenen Artikel nicht die Unmittelbarkeit des zwanzig Jahre älteren Böhmer-Briefes an Pfeilschifter. Natürlich wertet Höfler die Zäsur des Wiener Kongresses aus der Kenntnis der nachfolgenden Entwicklung bis zur Revolution von 1848; und freilich räumt er, dem Zweck des katholischen Kirchenlexikons entsprechend, dem Komplex „Kirche und Staat" außerordentlich viel, für eine ausgewogene Gesamtwürdigung des Kongresses zu viel Platz ein. Gleichwohl aber bringt Höfler einen der Hauptaspekte katholischer Reflexion über Deutschlands Zukunft nach 1815 exakt auf den Punkt: die Frage einer Neuordnung Deutschlands, die deutsche Einheitsfrage war im Rahmen dieses Geschichtsverständnisses nicht zu beantworten ohne eine gleichzeitige Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche. Jede Lösung des nationalen Problems, welche sich auf das Knüpfen eines bloß staatlichen Einheitsbandes beschränkte, konnte den Katholiken nicht zufriedenstellen; unverzichtbar mußte das „kirchliche Einheitsband" hinzukommen. Von den beiden möglichen inhaltlichen Seiten dieser Medaille stand allerdings während der dreißiger Jahre zunächst diejenige der Überbrückung des Zwiespaltes von Kirche und Staat im Vordergrund - worauf ja auch Höflers Artikel noch primär Bezug nimmt; daneben konnte das Verlangen nach dem kirchlichen Einheitsband die Forderung nach der Wiedervereinigung der Konfessionen beinhalten: diese aber sollte sich in den Gedankenspielen der katholisch orientierten Großdeutschen erst seit den vierziger Jahren deutlicher ausgestalten. Daß der Frage nach dem künftigen Verhältnis von Staat und Kirche, mit welchen inhaltlichen Akzentuierungen auch immer, in den Jahren nach 1815 tatsächlich zentrale Bedeutung zukam, sie nicht nur in der Rückschau des Historikers Höfler oder im Selbstmitleid einiger dogmatisch-katholischer Intellektueller existierte, belegen hinlänglich die Ereignisse einer zweiten großen vormärzlichen Krise, in denen sich zuspitzte, wovor Döllinger bereits 1829 in einem eher abstrahierenden Artikel des Görres-Blattes „Eos" gewarnt hatte: das Auseinanderdriften von Staat und Kirche in zwei feindliche, unversöhnliche Lager, die sich gegenseitig zu zerstören suchen, ohne zu erkennen, daß ihr Streit „gar nicht im Wesen des einen oder des anderen" gründe, daß beide einander vielmehr umschlössen und aufeinander wiesen „wie in der Pflanze der Blätterstand auf den Blüthenstand weist." 490 Sowohl Döllinger als auch Höfler argu490
Döllinger, Staat und Kirche, S. 560.
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mentieren, unnötig zu betonen, von Positionen romantisch-katholischer Staatslehre aus; diese allerdings erlauben ihnen, den Kern des Problems besser zu erkennen als Ranke von seiner Warte des entstehenden säkularen Nationalstaates. Stellt Ranke nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche als prinzipiell überlebte, mittelalterliche dar, über die der moderne Nationalstaat auf seinem Wege nach oben bedenkenlos hinwegschreiten könne, so erkennen Döllinger und Höfler darin eine aktuelle Brisanz, zu deren Entschärfung beide Institutionen nolens volens, entweder einvernehmlich oder aber unversöhnlich Beitrag leisten müssen. Die Krise von 1837 hat der Position letzterer Recht gegeben. Aspekte der Unzufriedenheit: das Problem „Deutschland" erschien nach 1815 offener denn je; Böhmers Zeitdiagnose des gespannten Wartezustandes traf zu. Die spezifische Unzufriedenheit der katholizistisch-konservativen Großdeutschen speiste sich dabei aus zwei Quellen vor allem: hier aus der ungelösten Frage deutscher Staatsverfassung im Zusammenhang mit dem Blick auf das untergegangene Alte Reich, dort aus derselben Frage, aber mit Blick auf das zukünftige Verhältnis von Staat und Kirche als zwei möglichen und gegebenenfalls gleichberechtigten Trägern von „Einheitsbanden". Die Spannung explodierte zunächst in zwei Krisen, deren eine, von außen kommend, jenes erste Problem in den Mittelpunkt rückte, deren andere, von innen heraus, das zweite. Beide Krisen boten Anlaß genug für die Historiker, ihrer vaterländischen Pflicht des „Wahrheitssagens" nachzukommen, so, wie es Böhmer von Pfeilschifter forderte. b) Julirevolution Daß aber manchem bereits die Suche nach der ,Wahrheit' nicht leicht fiel, spricht durchweg aus den Bändchen, welche August Friedrich Gfrörer, vielseitiger Bibliothekar in der Rolle des Chronisten der Tagesereignisse, nach den Turbulenzen von 1830 für ein größeres Publikum zu verfassen die Gelegenheit erhielt, weil da offensichtlich ein Markt befriedigt sein wollte. Beständig hinund herlavierend zwischen den umsatzorientierten Verlegeranforderungen einerseits und seinen eigenen unausgegorenen Wertmaßstäben andererseits, den „geheimen Triebfedern" des Geschehens im Falle der eigenen Zeit nicht weniger hart auf den Fersen als im Falle der vergangenen Zeit, verbreitet seine „Chronik unserer Tage" vor allem den Eindruck suchender Irritation, kaum notdürftig kaschiert von vollmundigen Worten. 491 Zwiespältig und widersprüchlich gestalten sich Gfrörers Urteile nicht nur in den „Carolingern", sondern auch in der „Chronik". Interesse gewinnen sie, hier wie dort, vor allem durch ihr Zeugnis eines eigenwilligen Weges von „links", 491
Freymund / Gfrörer, Geschichte unserer Tage. Zur Stellung dieses Werkes innerhalb des Lebenslaufes Gfrörers vgl. o. S. 109-111.
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von aufklärerisch-liberalen Positionen zu konservativ-katholizistischem Großdeutschtum. Keineswegs, wie er behauptet, „ohne Haß und ohne Zuneigung", sondern sehr deutlich auf der Bahn eines gemäßigten Liberalismus beginnt Gfrörer, jene Veränderungen der politischen Verhältnisse Europas zu beschreiben, die das einzige Jahr 1830 impulsiver hervorgebracht habe, denn Jahrhunderte zuvor. Er sieht sie aufkeimen aus dem unversöhnlichen Gegensatz der beiden beherrschenden Themen der Zeit, des ,,Royalismus" und des „Liberalismus". 492 Der französischen „Juliusrevolution" kann er Berechtigung nicht aberkennen, habe in ihr doch ein schwächlicher König, manipuliert von reaktionären Ratgebern, die Quittung erhalten fur seine Politik der Mißachtung jener Freiheiten und Mitbestimmungsrechte, welche das französische Volk 1789 bereits erstritten habe. Da sei nun die angestaute Erbitterung darüber explodiert, daß die Wortführer der Restauration „im Jahre 1814 und 1815 zweimal hintereinander die Bourbon mit fremden Waffen auf einen Thron zurücktrugen, zu dessen selbstständiger Behauptung sie durchaus keine Fähigkeit besaßen."493 Spricht da ein Revolutionär? Keineswegs. Soweit geht selbst der junge Gfrörer nicht, sich ganz auf die Seite jener Partei zu schlagen, welche „des Volkes Willen als den einzig rechtmäßig herrschenden geltend zu machen" versuche. 494 Republik als Staatsform sei, für die großen europäischen Mächte zumindest, abzulehnen.495 Ebenso sei aber nach der anderen Seite hin die unbeschränkt absolutistische Monarchie zu verwerfen. Sei diese doch die Staatsform derjenigen Aristokraten, die den Fürsten „als den ersten der bevorrechteten Geschlechter" betrachteten, „der mit ihnen gemeinschaftliche Sache gegen das Volk machen muß", „auf ein Recht pochend, das durch Jahrtausende befestigt ist." 4 9 6 Tatsächlich scheint der klassische Liberalismus der Mitte aus Gfrörers Chronik zu sprechen: die Überzeugung vom Staatsvertrag zwischen Herrscher und Beherrschten, niedergelegt in einer Mischverfassung, die im übrigen die Souveränität des Monarchen nicht anzweifle, 497 sehr wohl aber durch „ächte Volks-
492
Ebd., Jg. 1830 I, S. 5 und 7. Ebd., Jg. 1830 II, S. 77; Darstellung der Julirevolution insgesamt ebd.II, S. 5-303. 494 Ebd., Jg. 1830 I, S. 6. 495 Ebd., Jg. 1830 II, S. 257-259. 496 Ebd., Jg. 1830 I, S. 6. 497 Ebd., Jg. 18301, S. 238/239: „Dieselbe [diefranzösische Charte, Th. B.] ist, wie jede andere Constitution, ein Vertrag zwischen der Regierung und dem Volke, kraft dessen der König die heilige Beobachtung der verbliebenen Rechte, und die Nation Gehorsam und Steuern verspricht. [...] Der höchste Vorzug einer Verfassung besteht nämlich darin, daß der König hoch über allen Partheien steht, daß er keine Verantwortung auf sich hat, und im rechtlichen Sinne weder irren noch einen Fehler begehen kann; denn in constitutionellen Staaten ist ein großer Unterschied zwischen dem König und der Regierung. Diese, aus den Ministem der Krone bestehend, ist dem Kampfe der Kammern und der öffentlichen Meinung ausgesetzt. Sie ist verantwortlich [...]. Da493
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Repräsentation" mittelbaren Einfluß „auf die wichtigsten Angelegenheiten und Beschlüsse des Staats" nehme, also die Regierung kontrolliere sowie „eine gleichmäßige Vertheilung der öffentlichen Lasten unter die privilegirten und nicht-privilegirten Classen der Staatsgesellschaft" gewährleiste. 498 Die Forderung nach Zulassung politischer Opposition innerhalb eines so verfaßten Staates gesellt sich ebenso selbstverständlich hinzu wie diejenige nach Freiheit der Presse. 499 Aber diese Grundsätze formieren sich nur auf den ersten Blick zum Gebäude einer liberalen Ideal Verfassung. So sehr Gfrörer den Konstitutionalismus bejaht, so sehr er zur Bevorzugung eines Zweikammersystems, bestehend aus einer oberhausartigen „Erbkammer" sowie einer wählbaren Volkskammer, neigt, 500 zweifelt er doch fast im gleichen Atemzug Arbeitsweise und Effizienz solcher Institutionen an. Gerade die ureigenste Tätigkeit parlamentarischer Verfassungsorgane kritisiert er fundamental, wenn er etwa beide Kammern der eben noch hochgelobten britischen Verfassung als Schwätzerversammlungen abqualifiziert, worin hoher Aufwand „von Witz, Geist und Beredsamkeit zu spärlichem Ertrag" nur führten. 501 Sollten solche Urteile schon den Keim der späteren Parlamentsschelte Gfrörers in sich tragen, seiner ostentativen Verachtung der Frankfurter Nationalversammlung beispielsweise, der er doch selbst als Abgeordneter angehörte? 502 Jedenfalls erscheint jenes verwirrende Wertechaos, welches schon in den historiographischen Werken des jüngeren Gfrörer zu beobachten war, gleichfalls in der „Geschichte unserer Tage". Gegensätzliches fließt durcheinander, fast alle Entwicklungsmöglichkeiten bleiben offen. Hier die Revolution im Dienste der Verteidigung konstitutioneller Freiheit gegen die Bestrebungen eines Despoten: im Falle Frankreichs kann Gfrörer zustimmen; dort - in Belgien - eine ähnliche Revolution, nicht minder auf dem Wege zum Konstitutionalismus, noch stärker aber motiviert durch den Impetus einer Nationalbewegung, deren Berechtigung Gfrörer gleichfalls anerkennt: „Nur in einem despotischen Reiche können Völker von verschiedenen Sprachen zusammengehalten
gegen kann die Person des Monarchen von dem Kampfe nie erreicht werden." Vgl. auch ebd. I, S. 57 (Mischverfassung). 498 Ebd., Jg. 1830 I, S. 109. 499 Ebd., Jg. 1830 I, S. 118,474 und II, S. 284. 500 Ebd., Jg. 1830 Π, S. 265/266 und I, S. 57, 60 (Lob der britischen Verfassung) Über Gfrörers Lob der britischen Verfassung im Verhältnis zur Gedankenwelt Burkes vgl. die Bemerkungen in Traditionsstränge, Anm. 145. 501 Ebd., Jg. 1830 I, S. 450; vgl. ebd. I, S. 428. 502 Gfrörer, Autobiographie, S. 33: „Mit einem Reichstag zusammengesetzt wie der Frankfurter, oder vielleicht überhaupt mit einem Reichstage läßt nimmermehr sich etwas Dauerndes organisiren, denn er müßte dann mit seiner eigenen Auflösung anfangen."
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werden unter Einem Scepter, mit Einer Regierung!" - „Die Unnatur des belgisch-holländischen Staats Verbandes [drängte] zu einem gewaltsamen Ende." 503 Trotzdem findet der Umsturz im Falle Belgiens Gfrörers Zustimmung nicht, weil - der Katholizismus auf dessen Seite steht! 504 „Das war der Fluch dieser unbedachten, nur auf den Nutzen und die Interessen Einzelner berechneten Revolution, daß sie in ihrer eigenen Grube sich fangen, daß sie an der allgemeinen Auflösung erkranken mußte. Denn hier war es der Pöbel, der die Hauptrolle übernahm, aufgereizt von denen, die sich nicht gern in den Vordergrund stellen, von Jesuiten." 505 Alles sicherlich für die Belgier ebenso wie für die Franzosen legitime Streben nach Konstitution, alles legitime Streben nach nationaler Eigenständigkeit büßt in den Augen Gfrörers dort sein Recht ein, wo der Katholizismus sich ihm anschließt: in herbem Antikatholizismus besteht eines der wenigen konstanten, wenn auch nicht positiven, sondern höchst negativen Werturteile der „Geschichte unserer Tage". 506 Erst die Arbeit an der „Kirchengeschichte", am „Gustav Adolph", zum Teil aber auch die Auseinandersetzung mit der Krise von 1837, sollte Gfrörer in dieser Hinsicht auf eine andere Bahn führen. Welchen positiveren Orientierungen aber folgt Gfrörer bis dahin? Seine Kampfansage an den ungebundenen Despotismus gilt im Lichte der unterschiedlichen Bewertung beider Revolutionen ja nur bedingt, seine Forderung nach nationaler Freiheit gilt nur, solange diese nicht aus katholischem Munde kommt, sein Verlangen nach Konstitution nur, solange sein Urteilsvermögen ein Volk erkennen kann, das einer solchen würdig wäre. 507 Gfrörers „Geschichte unserer Tage" liefert ein Musterbeispiel für den Geist jenes verräterischen, auch langweiligen Juste Milieu der Böhmerschen Zeitdiagnose: das „Markirende" fehlt; Wertindifferentismus in liberalistischem Gewände dominiert, zeugt von der Unsicherheit des kommentierenden Betrachters, 503
Freymund / Gfrörer, Geschichte unserer Tage, Jg. 1830 I, S. 507/508 und 542. Gfrörers Schilderung der belgischen Revolution von 1830 ebd., Jg. 1830 Π, S. 304421 sowie in einem zusätzlich erschienenen , Außerordentlichen Heft". 505 Ebd., Jg. 1830 II, S. 343; vgl. auch ebd. II, S. 328: Die nationale Trennung „war ja das nächste Hauptziel, zu dem die geheimen Hauptlenker des Aufstandes hinstrebten, der so plötzlich in entfernten Städten zugleich ausgebrochen war, der Niemandem unerwartet zu kommen schien, bei dem es keinen Streit der Absicht und Ansichten gab. Sicherlich hing Alles an Einem Faden, der in den Händen der ultramontanistischen Großen und Geistlichen sein Ende hatte." - Zu Gfrörers schwankenden Urteilen über den Jesuitenorden vgl. auch Anm. 282. 506 Dieser Antikatholizismus zieht sich bereits durch die gesamte Darstellung der französischen Julirevolution. Vgl. ζ. B. ebd., Jg. 1830 II, S. 279/280 über die „Gefahr, welche der Priesterstand an sich darbietet." 507 Ebd., Jg. 1830 Π, S. 412. - Über Belgien: „Der National-Congreß war gewählt, die Verfassung gemacht, nur Eines fehlte noch, ein Volk für eine so freie Constitution." 504
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der selbst noch nicht erkennt, wohin die Waagschale sich neigen wird, und der sein eigenes Urteil noch nicht auf eine bestimmte Seite festlegen will. Gfrörer befand sich 1831 kaum in der Lage, die von Böhmer geforderte Aufgabe eines Artikulators der „Wahrheit" zu erfüllen: weder sah er weit genug voraus, noch verfügte er bereits über gefestigte eigene „Wahrheiten", die er zielsicher hätte vertreten können. Nirgends kommt dies deutlicher zum Ausdruck als in Gfrörers Erörterung der Julirevolution und ihrer Mahnungen an Deutschland. Auch Gfrörer teilt selbstverständlich die Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der Neuordnung von 18 1 5. 5 0 8 Auch er lokalisiert den Kern deutscher Einheitsproblematik in der Verfassungsfrage, welche, nach dem Wiener Kongreß von den Trägern der absolutistischen Restauration unterdrückt, auf dem Rücken der Julirevolution nun wieder nach Deutschland herüberdränge und eine Lösung fordere. 509 Gfrörer wittert Morgendämmerung in jenen Einzelstaaten des Bundes, welche Konstitutionen zwar versprochen, nie aber erlassen hatten Preußen eingeschlossen - , oder ohne ein solches Versprechen in finsterster absolutistischer Vorzeit wie eh und je lebten. 510 Penibel verzeichnet der Chronist die mehr oder weniger turbulenten Bewegungen in den einzelnen Teilen des Deutschen Bundes und freut sich über die laue Frühlingsluft konstitutionellen Erwachens. 511 Jedoch beschleicht ihn Ratlosigkeit, sobald es darum geht, über das Ganze zu sprechen, aus den Lehren der revolutionären Erschütterung Perspektiven für eine Neuorientierung der deutschen Einheitsfrage abzuleiten. Zwar: der Bundestag zu Frankfurt, nicht von gewählten Vertretern des Volkes, sondern von entsandten Bütteln der Regierungen besetzt,512 stelle doch bloß ein Gaukelbild deutscher Einheit dar. Bei allem Enthusiasmus über die Auswirkungen der Revolution sei aber andererseits zu begrüßen, daß eine Eskalation, eine militärische Auseinandersetzung Frankreichs mit den Repräsentanten des Ancien Régime unterblieb. Denn, ,glicht nur, daß Deutschland wie früher so auch jezt wieder der Tummelplatz der kriegführenden Mächte wurde, niemals war es mehr in Gefahr, bei einer äußern Krise mit sich selbst zu zerfallen." 513 Unter solchen Vorzeichen sieht Gfrörer sich gezwungen, die Nichtinterventionspolitik der „Heiligen Allianz", also auch des Deutschen Bundes, dem revo508
Ebd., Jg. 1830 I, S. 104: „Die Einheit Deutschlands soll der Deutsche Bund darstellen, aber dieses hohe Institut scheint in vielen Stücken an ähnlichen Widerwärtigkeiten zu leiden, wie das ehemalige Reichskammer-Gericht zu Wetzlar; noch ist es ihm nach fünfzehnjährigen Sitzungen nicht gelungen, die Sache der westphälischen Domänenkäufer zu entscheiden." 509 Ebd., Jg. 1831 II, S. 354-358. 510 Ebd., Jg. 1830 II, S. 451 und Jg. 1831 Π, S. 364-366. 511 Ebd., Jg. 1830 Π, S. 422-570: Deutschlands Geschichte nach der Pariser Julirevolution bis Ende des Jahres 1830. 512 Ebd., Jg. 1831 Π, S. 354/355. 513 Ebd., Jg. 1831 Π, S. 361.
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lutionären Frankreich gegenüber gutzuheißen. Mit anderen Worten: den Krieg der beiden Systeme, für Gfrörer identisch mit der aggressiven Ausdehnung des revolutionären Prinzips nach Deutschland und ergo mit der Zerschlagung des Bundes, wünscht er nicht; diejenige Politik, welche eine solche Ausdehnung verhindert, erkennt er an. Ein seltsames Dilemma: in bezug auf die Einzelstaaten zeitige das Eindringen revolutionärer Ideen durchaus begrüßenswerte Wirkung; hinsichtlich des Ganzen aber stehe eher das Handeln des Deutschen Bundes, des Vertreters des alten Systems, in Deutschlands „wohlberechnetem Interesse". 514 Was nämlich wäre die Konsequenz eines Zerfalls des Deutschen Bundes infolge erneuten Revolutionskrieges? Eine Konfrontation der beiden Vormächte, Österreichs und Preußens, ergäbe sich augenblicklich; mittendrin stünde der Staatenkreis des „konstitutionellen Südens", ratlos, an welchen Seniorpartner sich anzulehnen.515 Suchte dieser an Preußen, an Österreich, ja ans Ausland Anschluß oder verharrte er in neutralem Genüsse seiner „konstitutionellen Freiheiten"? 516 Für jede dieser Optionen existierten Befürworter; Chronist Gfrörer aber gewinnt keiner rechte Freude ab: vergeblich suche man nämlich bei jenen Strömungen „feste Begriffe; auch fließen ihre Ansichten und Tendenzen mannigfach ineinander über. Namentlich ist der Punkt über die Einheit noch so in Dunkel gehüllt, daß wir, so überzeugt wir sind, daß ein nationaleres Band als das jezt bestehende Noth thut, die Mangelhaftigkeit unserer Einsichten in dieser Sache offen bekennen, und wenn von Einheit Deutschlands im strengsten Sinne die Rede seyn soll, wir uns diese nur in einem Kaiserreich oder einer Union republikanischer Freistaaten vorzustellen vermögen." 517 Einen Lichtstrahl allein sieht Gfrörer durch dieses Dunkel dringen. Wenn schon unklar sei, wie eine politische Lösung der Einheitsfrage aussehen könne, scheine doch in „commercieller" Hinsicht durch die Bemühungen Württembergs und Bayerns, eine Zollunion zustande zu bringen, wenigstens eine Perspektive gegeben. Ließe diese wirtschaftliche Ebene Impulse erwarten für die politische? Gfrörer hofft und baut auf die Überzeugung, „der entschiedene Wille der Nation" werde am Ende doch obsiegen.518 Trotzdem: „Mangel fester Begriffe" - „Einheit [...] in Dunkel gehüllt"„Mangelhaftigkeit unserer Einsichten"; Gfrörers Chronik beschreibt die Initialfunktion der französischen Julirevolution für einen Neubeginn der deutschen Diskussion um Einheit und zukünftige Verfassung. Doch kann er weder aus dem unentschlossenen Diskurs von „Partheien" einen „entschiedenen Willen der 5,4 515 516 517 518
Ebd., Jg. 1831 Π, S. 369. Ebd., Jg. 1831 Π, S. 362. Ebd., Jg. 1831 Π, S. 366. Ebd., Jg. 1831 Π, S. 368. Ebd., Jg. 18301, S. 104/105.
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Nation" hinsichtlich politischer Einheitsbildung ausmitteln noch selbst eine Richtung dieser Willensbildung vorschlagen. Jene Worte, mit denen Gfrörer die allgemeine Unentschlossenheit charakterisiert, fallen auf seine eigene Chronik zurück: feste Begriffe fehlen ihm selbst. So markiert die „Chronik unserer Tage" erst den Anfangspunkt des langen Weges Gfrörers in die Paulskirche. Den nur oberflächlich zur Schau getragenen Liberalismus wird er bis dahin ablegen, ebenso den überzogenen Antikatholizismus; die weite, alles oder nichts umfassende Alternative: deutsche Einheit entweder durch Kaiserreich oder durch Union republikanischer Freistaaten, wird sich auf erstere Option reduzieren, das Bild Preußens sich verdunkeln. Bleiben allerdings wird seine Angst vor einer bewaffneten Auseinandersetzung der beiden deutschen Vormächte; und bleiben wird im wesentlichen auch die Grundvorstellung von monarchischer Gewalt als einer irgendwie zu bindenden, sei es konstitutionell einzuhegenden Gewalt. In seinen Reflexionen über die Krise von 1830 erscheint August Friedrich Gfrörer wie eine Inkarnation des von Böhmer beschriebenen gesellschaftlichen Zustands indifferent zuwartender Unruhe über die kommenden Entwicklungen; seine „Chronik" nährt sich aus solcher Art öffentlicher Befindlichkeit und gibt dieser auch gleichzeitig wieder Nahrung. Dem Gelehrten Gfrörer selbst hilft die „Chronik" auf die Bahn eines politischen Denkprozesses, welcher hinfort mit seinen historiographischen Denkprozessen in Wechselwirkung tritt, um am Ende einen Großdeutschen eigener Couleur hervorzubringen. Wenn gegenüber der Unbestimmtheit Gfrörers die Kommentare Constantin Höflers zur Julirevolution von 1830 härter, durchdachter und prinzipienfester erscheinen, liegt dies zum Teil an der Eigenart der Quellen, welche jene Unmittelbarkeit des aktuellen Verarbeitens der Ereignisse, der postwendenden Stellungnahme einer „Chronik unserer Tage", in dessen Fall nicht überliefern. Höflers rückschauende Wertung als Resultat größeren Erfahrungsreichtums, größerer Distanz kann da freilich schneidender, eindeutiger wertend auftreten. Andererseits beinhaltete sein katholisch-legitimistischer Konservativismus solche weiten Spielräume, solche Wertindifferenz nie, wie sie sich Gfrörer noch bis in die vierziger Jahre hinein offenhielt. Nicht der gesamte Kontrast geht also auf das Konto der Quellenlage. Immerhin verleugnet Höfler nicht, neunzehnjährig, noch „voltairisch"-rationalistisch gesinnt, 519 den „ersten Enthusiasmus" über die Revolution geteilt zu haben. Dieser sei aber mittlerweile dem „alten und unveräußerlichen Recht der Geschichte" gewichen. Trotz solcher Desillusionierung scheue er sich allerdings nicht, die Ansicht zu bekennen, „daß die Juliusrevolution, ganz abgesehen von
519 Zu Höflers früher geistiger Entwicklung unter dem Einfluß Fallmerayers vgl. o. den Lebensabriß, S. 134/135.
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allen Motiven, rechtlichen Fragen und politischen Folgen für Frankreich, für uns Deutsche eine große Wohlthat war." 5 2 0 Revolution als Wohltat - , das überrascht nun doch angesichts der historiographischen Grundpositionen Höflers, angesichts seiner Ausführungen über die Französische Revolution und das Ende des Alten Reiches, über die Reformation als Revolution. Allenfalls eingedenk der Schelte des Rex tyrannus Friedrich II. scheint der Gedankengang verständlich. Führt da über die Bewertung der Julirevolution nicht sogar plötzlich ein Weg hinüber zu den liberalistisch getönten Gedanken August Friedrich Gfrörers? Revolution als Wohltat für Deutschland. Nur zum Auftakt dient ein Argument außenpolitischer Natur - die Julirevolution habe eine gegen Deutschland eingeleitete französisch-russische Allianz zerstört 521 - , um sofort dem Hauptthema zu weichen. Wie Böhmer, wie Gfrörer, nimmt sich auch Höfler, fast ganz unter Zurückstellung seiner sonstigen tagespolitischen Lieblingsthematik „Staat und Kirche", diesmal des Problems der Beschränkung staatlicher Macht an, wenn auch nicht so konkret auf die Verfassungsfrage bezogen. „Wir mögen sie beklagen, sie verabscheuen, und zögern dennoch keinen Moment die Juliusrevolution ein Ereigniß zu nennen, das den Fürsten wie den Völkern unberechenbaren Nutzen brachte, indem es das Verhältniß zwischen beiden durch Hinweisung auf gegenseitige Rechte und Pflichten mehr naturgemäß machte": Menetekel, Warnung der Vorsehung an beide Konkurrenten um die Macht im Staate, an die Fürsten sowohl als an die Völker! „Nichts entsetzlicheres als wenn ein Fürst oder ein Volk nicht von Zeit zu Zeit gewarnt werden würde maßloser uneingeschränkter Freiheit sich nicht zu überlassen; das ist, was ohne zum Thier zu werden und in den eigenen Eingeweiden zu wühlen, kein Sterblicher, nicht der Einzelne und nicht die Masse zu ertragen vermag." 522 Bemerkenswert, daß Höfler die Mahnung der Revolution nicht ausschließlich an die Völker adressiert, nicht lediglich das Gebot der Unterwürfigkeit unter die Fürstenmacht aus dem Unglück der Revolution ableitet, wie ein oberflächliches Verständnis katholisch-konservativen politischen Denkens vermuten könnte; bemerkenswert, daß er mit jener Warnung vor der grenzenlosen Hybris der Macht gerade auch die Fürsten anspricht. War nicht Friedrich II., der Tyrann, das historische Exempel solcher Verfehlung? Erscheint die Forderung jenes Werkes nach Eingrenzung staatlicher Macht nicht hier wieder in der Beurteilung
520
[Constantin Höfler]: Fürst Polignac über die Juliusrevolution. Nach den Études historiques, politiques et morales sur l'état de la société européenne, vers le milieu du dix-neuvième siècle. Par le prince de Polignac, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 27.2.1845, S. 457-459 und 28.2.1845, S. 465-467, hier S. 457 a . Den anonym erschienenen Artikel weist sich Höfler selbst zu in seiner ersten Bibliographie für die Wiener AkdW von 1854, S. 297. 521 Ebd. 522 Alles ebd.
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der revolutionären Krise von 1830? Fordert also Höfler wie Gfrörer den konstitutionellen Staat? - Tatsächlich bewegen sich beider Zielsetzungen nur vordergründig in die gleiche Richtung. Tieferes Eindringen in die Beweggründe Höflers enthüllt die Differenz und fuhrt gleichzeitig und nach der anderen Seite hin auch zur Erkenntnis nuancenreicher Unterschiede in den Haltungen Höflers und Hurters zur Legitimität monarchischer Gewalt; schließlich trägt es weiter bei zum Verständnis jenes unwiderruflichen Verbannungsurteils, welches König Ludwig I. seinem Professor Höfler nur zwei Jahre nach dessen Betrachtungen über die Julirevolution ausstellen sollte. 523 Zunächst: Höfler und Gfrörer. Beinhaltete die „Wahrheit" des Württembergers über die Lehren der Revolution für Deutschland - soweit sie durch die Analyse der „Chronik" auf den Punkt zu bringen war - letztlich eine Aufforderung an die Einzelstaaten, sich in einer Art Herrschaftsvertrag zu konstitutionalisieren, also gemäß Prinzipien der Vernunft neue Machtverhältnisse auszuhandeln, mahnt diejenige des Bayern doch viel eher eine Rückbesinnung an auf die jeweils überkommenen, gewachsenen Verhältnisse. Zu einer Rekapitulation gegenseitiger Rechte und Pflichten habe das Ereignis der Revolution die Fürsten und Völker Deutschlands aufgefordert. Dies bedeute nun aber nicht, einem falschen Begriffe politischer Freiheit das Wort zu reden und Reißbrettverfassungen zu konstruieren, welche, „ohne Rücksicht auf historische Entwicklung" durch allgemeines Nivellement „dem Volke und dessen einzelnen Theilen die natürlichen Sphären seiner Wirksamkeit, seiner eigenthümlichen Bewegung" raubten. 524 Und dies bedeute ebensowenig, den unsinnigen Versuch zu wagen, „zwei einander ausschließende Principien unversöhnt", das monarchische Prinzip sowie das Prinzip der Volkssouveränität „in offenem Kampf begriffen nebeneinander bestehen" zu lassen.525 Beides aber sei in Frankreich geschehen. Die Restauration habe nach Niederschlagung der Revolution von 1789 ihre Aufgabe nicht erfüllt, das „revolutionäre Element zum Dienst eines Besseren" zu überwinden. Sie habe durch die Perpetuierung napoleonischer Gesetze den Bann nicht aufgehoben, „mit dem die Revolution die Rechte der einzelnen Stände des französischen Volkes geschlagen hatte", 526 habe eine fünfzehnjährige Konspiration der zweiten Kammer zugelassen, welche die Stellung des Königthums unterhöhlte, habe also und da wendet Höfler seinen Angriff frontal gegen den Monarchen, gegen Ludwig XVIII. - durch insgesamt verfehlte königliche Politik die Revolution von 1830 erst herangezogen. 527 1824, beim Tode Ludwigs XVIII., sei noch Zeit 523 524 525 526 527
Vgl. dazu u. S. 434-442. Höfler, Polignac, S. 458". Ebd., 457 b . Ebd., 458 b . Ebd., 457 b /458 a .
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gewesen, ,jene Schöpfungen einer revolutionären Centraigewalt zu stürzen, die historische Eintheilung des Landes zu erneuern und die provincielle Entwicklung im Gegensatz zur alles verschlingenden Metropole zu begünstigen." Zwar hätten Karl X. und dessen Minister Polignac den Versuch unternommen, den Kurs des Landes wieder ins Lot zu bringen, doch zu spät. 528 Eine eigenwillige Besetzung der Begriffe, deren Offenlegung die tatsächliche Differenz der Positionen Höflers und Gfrörers erst eigentlich veranschaulicht! Der irrende, ohne Maß herrschende Monarch: nicht der gegen die Konstitution regierende KarlX. spielt im System Höflers diese Rolle, sondern Ludwig XVIII., eben derjenige, der versuchte, sein Königtum auf eine Verfassung zu gründen. Dem katholischen Legitimisten Höfler bedeutet dieser Versuch nichts anderes als die Fortsetzung der Revolution des Volkes, der Revolution von unten, durch den König, durch die Revolution von oben. Nur durch Rückführung seiner Machtbasis auf die alten, hergebrachten Grundlagen, auf die „Rechte und Pflichten" des Ancien Régime, hätte Ludwig seine Herrschaft wirklich legitimieren können. Nicht Bindung an eine per Staatsvertrag ausgehandelte Verfassung begrenzt im Sinne Höflers königliche Macht, sondern nur die Bindung an das göttlich gegebene, geschichtlich gewachsene Recht. Und wenn „Verfassung" schon sein muß, dann allenfalls eine altständische, worin die jeweils individuell geschiedenen Teile der Gesellschaft gemäß ihrer „natürlichen Sphären" Repräsentation finden, nicht aber jene modern-parlamentarische Variante, die womöglich gar die Souveränität des Fürsten beschneidet und diesen an ein gewähltes Parlament bindet. In solchem Lichte gewinnt schließlich auch Höflers Diktum von der „wohlthätigen" Wirkung der Julirevolution auf Deutschland schärfere Kontur. Nicht in der Mahnung an die Staaten Deutschlands, in Richtung einer Konstitutionalisierung ihres Lebens weiterzugehen, die Ziele der Revolution also zu verwirklichen, bevor die Revolution selbst kommt, sondern im Aufruf, zurückzukehren, sich des Ursprünglichen zu besinnen, um die Revolution zu vermeiden, liegt ihre Lehre in der Interpretation Höflers. Das ist nichts anderes als das Gegenteil der Lehre des jungen, liberalistischen Gfrörer, das ist der Aufruf zur konsequenten Restauration! Keineswegs aber beinhaltet dieser Aufruf - und darin zieht Höfler die folgerichtige Konsequenz aus der romantisch-katholizistischen Staatslehre - eine Legitimation fürstlich-absolutistischer Willkürpolitik. Indem er nämlich Fürsten wie Völker daran erinnert, sich einer „naturgemäßeren" Ordnung unter Besinnung auf gegenseitige Rechte und Pflichten zuzuwenden, weist er gleichzeitig auf eine über den Völkern wie über den Fürsten stehende höhere Ordnung hin, der beide sich unterwerfen sollten. Wer diese Unterwerfung verweigert, „maßlose uneingeschränkte Freiheit" für sich einfordert, dient der Revolution, sei es Fürst, sei es Volk. Die historiographisch am 528
Ebd., 458 b .
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Exempel des Staufers entwickelten Grundsätze, kehren hier auf die Tagespolitik bezogen wieder. Die Urteilskriterien ändern sich nicht: Friedrich II. und Ludwig XVIII. fielen denselben Sündenfall, herrschten unrechtmäßig, wenn auch der Staufer mehr vorsätzlich, der Bourbone mehr unklug. 529 „Die Revolution bleibt sich immer gleich, sie mag von unten oder von oben ausgehen."530 Höfler entwickelt sein Konzept in zwei Kreisen, im Blick auf die Geschichte wie im Blick auf die Tagespolitik seiner eigenen Zeit. Geschichtliches und tagespolitisches Denken durchdringen sich vollkommen. Allerdings bezieht er mit dieser Konzeption den Posten eines unbequemen Mahners, setzt sich zwischen die Stühle. Seinem Dienstherrn, König Ludwig I., mißfiel Höflers Begriff der Revolution von oben zutiefst; vielleicht noch hätte er hinnehmen können, daß der Professor solche Gedanken nur historiographisch verbreitete. Als sie aber Höfler und andere 1847 in die erbittertste politische Opposition führten, reagierte er auf seine Weise. 531 Ludwigs Zorn richtete sich gegen einen politischen Katholizismus, welcher ihm nicht zugestehen wollte, die Motivationen seines königlichen Wollens allein aus der nackten Tatsache seines König-Seins abzuleiten. Da stand ihm eine Art von Legitimismus entgegen, dessen Prinzipien vielmehr eine genau umschriebene Rolle der katholischen Kirche zum Ausgangspunkt wie zur Rechtfertigungsquelle staatlicher Macht bestimmten. Hätte womöglich dem wittelsbachischen Herrn jene andere Art von Legitimismus besser gefallen, die beim Nachdenken über den Staat, über das Wesen obrigkeitlicher Macht selbst ansetzte, ohne dabei zunächst der katholischen Kirche zu gedenken - weil sie vor allem protestantischen Traditionen entsprang? Von dort her bewegte sich die Entwicklung Friedrich Emanuel Hurters. Freilich endete auch dessen Weg letztendlich im katholischen Lager, ja fand sein Ziel im Extremismus des Konvertiten, der umso unversöhnlicher und starrer auf seine neuen Positionen pocht, je mühsamer er sie sich erkämpfen mußte. Wichtiger als das Ergebnis erscheint ein weiteres Mal, die Unterschiede der geistigen Wurzeln vor Augen zu führen, um das immense Spektrum jener katho529
Vgl. o. S. 195. Höflers Ausführungen der Vorrede zum „Friedrich II.", S. XII, sollten in diesem Zusammenhang noch einmal besondere Beachtung finden: „Alle Gewalt war aber dem Begriffe jener Zeit gemäß, wenn sie rechtlich seyn sollte, nur eine gegebene; es gab keine Rechte ohne besondere Pflichten. In der Bewahrung jener, in der Erfüllung dieser bestand die Freiheit jener Tage. Die neueren Zeiten haben diesen Grundsatz zu nichte gemacht und die Freiheit in die Willkür gelegt, so daß aufs neue Herrschen oftmals nichts anderes heißt als die Willkür üben. Auf dieser Bahn ist, wie mehrere Hohenstaufen, vor allem Friedrich Π. ihnen vorangegangen." 530 Höfler, Polignac, S. 466 b . 531 Vgl. dazu u. S. 434-442. 20 Brechenmacher
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lizistisch-konservativen, großdeutschen Geschichts- und Gegenwartsanschauungen zu erkennen und bewußt zu halten. Die katholischen Gelehrten Höfler und Döllinger traten aus der Beschäftigung mit Geschichte beziehungsweise Theologie in eine zuerst geistige, später auch aktiv-handelnde Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit, mit der Politik ein, welche - wenn auch erst nach 1848 - wiederum auf ihre Geschichtsbilder zurückwirkte. Der reformierte Pfarrer Hurter als leitendes Mitglied eines oligarchisch-staatskirchlichen Kantonalregiments gelangte über die aktive Politik zur Auseinandersetzung mit Geschichte und katholischer Theologie sowie von dort zu einer vollkommen veränderten Weltsicht, die schließlich erhebliche Konsequenzen für sein eigenes, politisches wie privates Leben zeitigte. 1844, nachdem er den Wandel bereits vollzogen hatte, kennzeichnete er dessen Stoßrichtung treffend: „Die politische Orthodoxie mußte mich zuletzt nothwendig [...] zur kirchlichen führen, denn die politische Irrlehre ist nur eine conséquente Entwicklung der kirchlichen." 532 Höfler und Hurter. Die Überlegungen zu den verschiedenen Ausgangspunkten des Denkens beider über die eigene Zeit führen zurück zu deren Denken über die vergangene Zeit, reichen einer Beurteilung jener beiden historiographischen Werke über den Kaiser und über den Papst notwendige zusätzliche Aspekte an die Hand. Lieferte der katholische Professor Höfler 1844 mit unübersehbarem Bezug zur Gegenwart eine der ,religiösen Orthodoxie" exakt entsprechende Deutungsvariante des Tyrannen Friedrich II., so suchte wenige Jahre zuvor der reformierte Pfarrer und Politiker Friedrich Emanuel Hurter, aus der Gegenwart in die sichere Entfernung der Vergangenheit hinaustretend, im Studium des Lebens Innozenz' III. vor allem Selbstvergewisserung zu finden. Hier schrieb ein Wissender, dort ein Suchender. Noch 1842, dem Ziel seiner Suche zu diesem Zeitpunkt immerhin schon näher, sah sich Hurter zu dem Bekenntnis veranlaßt, die „Retrospective" der „Perspective" weiterhin vorzuziehen, „indem ich anderer Thun und Walten mir vergegenwärtige und von der Gegenwart gerade nur so viel Notiz nehme, als ich eben muß." 533 Wenn auch letzterer Äußerung gegenüber Vorsicht am Platze sein mag - hätte der impulsive Gegenwartsmensch Hurter sich jemals ganz ausblenden können aus der Aktualität? - : in der „Retrospective" fand er tatsächlich und nicht nur im positiven Sinne des „Innocenz" neue Orientierung, neue „Perspective". Gerade auch hinsichtlich zukünftiger Negativwerte habe, so gibt er an, der fragende und suchende Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart ihm neue Einsichten eröffnet. Durch die „mit dem Jahr 1830 neuerdings hervorgebrochene Revolution" seien ihm „Veranlassung und Muße" erwachsen, wiederum unzufrieden mit der Gegenwart, die Vergangenheit zu befragen. So sei er 532
Hurter an Greiffenegg-Wolffurt, 31.7.1844 (UB Freiburg/Brsg., Autogr. 1198). Hurter an Dens., o. D. (Bearbeitungsvermerk des Empfängers: 12.1.1842- UB Freiburg/Brsg., Autogr. 1192). 533
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zu jenem Vergleich mit der Reformationszeit gekommen, welcher ihm so viel über strukturelle Ähnlichkeiten beider Phänomene offenbart und welcher ihn schließlich dazu bewogen habe, ein erstes Mal kritisch nachzudenken über einen der Grundpfeiler seines eigenen bisherigen Lebens, über „die gegebene, festgestellte, zu allgemeiner Anerkennung und Geltung erhobene Thatsache der Reformation." 534 So stieß im Falle Hurters die Enttäuschung über die eigene Zeit, auf der Suche nach Trost aus der vergangenen Zeit auf unerwartete Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die gewünschte Läuterung sei wie Hurter in „Geburt und Wiedergeburt" nicht oft genug wiederholen kann gleichwohl nicht ausgeblieben! Die zwiefach beleuchtete Episode zeigt, ohne die früher betrachteten inhaltlichen Aspekte des Revolutions-Reformationsvergleiches wiederholen zu müssen, 535 Hurter suchend im Spannungsfeld von Vergangenheit und Gegenwart und offenbart eine der Haupttriebfedern seiner Beschäftigung mit Geschichte in den Jahren vor seiner Konversion: das Streben nach der richtigen Position seiner selbst in seiner Gegenwart, aus der historiographischen Rückbesinnung heraus. 536 Wenn Hurters „Innocenz III." als fruchtbares, spannungsreiches, utopiegeladenes Werk erscheint, dann vor allem aufgrund dieses Impetus. Und wenn, der Vorblick sei erlaubt, Hurters historiographisches Schaffen seit der Wiener Zeit, im „Ferdinand II." vor allem, so stark nachläßt, dann nur aufgrund des Fehlens dieses seines eigenen Antriebs: er hatte seine eigentliche historiographische Aufgabe bereits erfüllt und sich seiner selbst vergewissert. Historismus als Geschichtsbetrachtung um ihrer selbst willen war seine Sache nicht weshalb auch Kritik von dieser Seite Hurters Werk weder trifft noch adäquat begreift. So entfaltete sich der Weg Friedrich Emanuel Hurters von der „politischen" zur „kirchlichen" Orthodoxie oder, wie er selbst es wohl ausgedrückt haben könnte, zur Vervollständigung seiner Orthodoxie, über jene Dialektik von Vergangenheit und Gegenwart, zu der auf Seiten letzterer auch die vormärzlichen Krisen von 1830 und 1837 zählten. Einer Schicht älteren Gesteins ähnlich, durchziehen Relikte seiner früheren, nur „politischen" Orthodoxie in der nachträglichen Selbstrechtfertigung „Geburt und Wiedergeburt" gerade die Rekapitulation seiner Gedanken über die Revolutionen des Jahres 1830. Die entscheidende Vorstellung „kirchlicher Orthodoxie", diejenige der Revolution von oben,
534
Hurter, GuWI, S. 538/539. Vgl. o. S. 216-218. 536 Georg Wolf hat diesen Antrieb Hurterscher Historiographie erkannt und in einer Studie über dessen geistige Entwicklung zum Anlaß genommen, um in einer Art Dialog mit Hurter über seine eigene Stellung zu Wissenschaft, Geschichte und Gegenwart zu reflektieren. Georg Wolf: Studie über Friedrich Hurter bis um die Zeit seiner Konversion, in: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte 9 (1929), S. 276-325, 385-443. 535
2*
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fehlt diesen Ausführungen nämlich ganz, obwohl Hurter sie sich in der Auseinandersetzung mit den Ereignissen von 1837 inzwischen sehr wohl erarbeitet hatte, sie ihm also durchaus zu Gebote stand. Diese Feststellung erscheint umso verwunderlicher, als Hurter in seinem Revolutions-Reformationsvergleich vom Einzelereignis zwar ausgeht, doch aber von dem Bestreben erfüllt ist, zu einer Typologie der Revolution zu abstrahieren, welches ein Eingehen auf jene Idee der Revolution von oben durchaus erfordert hätte. Nein, selbst in der Darstellung von „Geburt und Wiedergeburt" bezieht Hurter in Hinblick auf die Revolutionen von 1830 diesen Gedanken noch nicht mit ein, sondern erfaßt sie allein mit dem Instrumentarium seines älteren, „politischen" Legitimismus. Sein Revolutionsbegriff zeigt sich in diesen Partien geprägt von der gängigen Vorstellung der Revolution von unten, der illegitimen Massenbewegung mit Stoßrichtung gegen die gottgegebenen Autoritäten, manipuliert und gesteuert von geschickten Demagogen.537 c) Kölner Wirren Natürlich: spätestens seit den „Kölner Wirren", und damit schwenkt der Blick langsam hinüber zur zweiten großen vormärzlichen Krise, war Hurter vertraut mit ,/evolutionären" Vorgängen ganz anderer Natur. Auch er hatte 1837 das preußische Vorgehen gegen den Erzbischof von Köln mitverfolgen können, hatte sich also konfrontiert gesehen mit politischen Aktionen, deren Ursprung im Verantwortungsbereich jener obrigkeitlichen Autoritäten zu suchen war, die sein „politischer" Legitimismus eigentlich hätte anerkennen müssen. Sein tiefverwurzeltes Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden, der immer bereitwillig beanspruchte Maßstab seines Urteilens, 538 war angesichts dieser Aktionen in ein Mißverhältnis zum Gedanken der Legitimität einer zwar gottgegebenen und alther überlieferten, aber doch weitgehend unkontrollierten Staatsmacht getreten. Entladung suchte Hurter zunächst im Protest gegen ein ihm näherliegendes und vorerst noch begreiflicheres Skandalon, welches er gleichwohl in Beziehung setzte - da regte sich wieder sein strukturvergleichendes, typologisierendes Interesse - zum Skandalon des Jahrzehnts: „Köln und Zürich". In der Festnahme
537
Vgl. Hurter, GuW I, S. 543/544; 545: „An sie, an die Menge, wendet man sich, auf sie wirkt man durch Schlagworte und Vorspiegelungen am leichtesten, sie ist am schnellsten erregbar, wenig zum prüfen geneigt; ist sie erst gewonnen, dann ist halb schon alles gethan." Ebd., S. 547: Mißstimmung der Masse gegen geistliche (Reformation des 16. Jh.) wie gegen weltliche (Revolution des 19. Jh.) Autoritäten; S. 550: „Zu beiden Zeiten sollten die höchsten Lebensfragen in letzter Instanz durch das Gewicht der Massen entschieden werden." 538 Vgl. Hurter, GuW I, S. 40-53: „Haß gegen Unrecht" und o. S. 92.
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des Erzbischofs durch preußisches M i l i t ä r i m November 1 8 3 7 5 3 9 habe sich die Staatsmacht ebenso überhoben wie i n der Berufung des bekannt atheistischen Hegelianers D a v i d Friedrich Strauß auf eine Lehrkanzel protestantisch-theologischer Dogmatik und Kirchengeschichte nach Z ü r i c h , 5 4 0 kommentierte Hurter i m neugegründeten publizistischen Hausorgan des erwachten politischen Katholizismus, den „Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschl a n d " . 5 4 1 I n beiden Fällen habe die weltliche Gewalt, so Hurter noch ohne nennenswerte katholische Tendenz, auf die endgültige Vernichtung der „ v o n oben gegebenen christlichen Glaubenslehre" abgezielt, habe jedoch nicht gerechnet mit „einer Masse christlicher und kirchlicher Überzeugungen, deren Vorhandenseyn man kaum ahnen d u r f t e " , 5 4 2 die aber i m Sinne des „des alten, positiven Christenglaubens", gegen „die Feinde desselben auf ihren Cathedern, auf ihren Ratsherrnstühlen, an ihren Schreibpulten" aufbegehrt hätten. 5 4 3 „Machthaber", j a die ,/evolutionären M a c h t h a b e r "
544
Gegen die
regte sich da auf einmal
539
Zum faktischen Hintergrund der „Kölner Wirren" nur so viel: im November 1837 hatte sich ein langwieriger Streit der preußischen Regierung mit der katholischen Kirche der Rheinprovinz, vertreten durch die Erzbischöfe von Köln, Graf Spiegel und vor allem dann Clemens August Droste zu Vischering, über die Anerkennung gemischtkonfessioneller Ehen so weit zugespitzt, daß die Staatsgewalt angesichts des Widerstandes des Letzteren sich zu dem Versuch veranlaßt sah, diesen durch gewaltsame Amtsenthebung und Festnahme aus dem Weg zu schaffen. Das Ereignis schlug erhebliche Wellen. Der Katholizismus in Deutschland solidarisierte und politisierte sich eigentlich erst im Gefolge der „Kölner Wirren"; als Bannerträger voraus marschierte Joseph Görres mit seiner Streitschrift Athanasius" (Regensburg 1838). Vgl. allgemein Nipperdey, S. 418420; Schnabel, Deutsche Geschichte IV, S. 106-164 sowie spezieller u.a. Heinrich Schrörs: Die Kölner Wirren, Berlin/Bonn 1927; Rudolf Amelunxen: Das Kölner Ereignis, Essen 1952; Rudolf Lill: Die Beilegung der Kölner Wirren 1840-1842. Vorwiegend nach Akten des Vatikanischen Geheimarchivs, Düsseldorf 1962 (= Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 6); Friedrich Keinemann: Das Kölner Ereignis. Sein Widerhall in der Rheinprovinz und Westfalen, 2 Bde., Münster 1974; ders.: Das Kölner Ereignis und die Kölner Wirren (1837-41). Weichenstellungen, Entscheidungen und Reaktionen mit besonderer Berücksichtigung Westfalens, Hamm 1986; Markus HänselHohenhausen: Clemens August Freiherr Droste zu Vischering. Erzbischof von Köln 1773-1845. Die moderne Kirchenfreiheit im Konflikt mit dem Nationalstaat, 2 Bde, Frankfurt/M. 1991. 540
Vgl. Walter Hildebrandt: Der „Straußenhandel" in Zürich (1839) im Spiegel der zeitgenössischen Literatur, Zürich 1939 (= Quellen und Studien zur Geschichte der helvetischen Kirche, Bd. 9); [Friedrich Emanuel Hurter]: Berufung des Dr. Strauß nach Zürich, in: HPB11 3 (1839), S. 321-349; Zuweisung durch Albrecht / Weber, S. 15. 541 [Friedrich Emanuel Hurter]: Köln und Zürich, in: HPB11 3 (1839), S. 482-498; Zuweisung wie vorangehende Anm. 542 Ebd., S. 482/483. 543 Ebd., S. 484. 544 Ebd., S. 490.
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die Masse des Volkes - stracks wendet Hurter die Begriffe: die Revolutionäre sitzen oben, die Vertreter des Rechts, eines rechtlichen Empfindens zumindest, unten, im Volk, in der anderwärts so verurteilenswerten Masse! Während im Vergleich der Reformation des sechzehnten Jahrhunderts mit der Revolution des neunzehnten offensichtlich klar geschiedene Fronten, klar abgegrenzte Bezirke des Oben und Unten vorliegen, scheinen im Falle des Kölner Kirchenstreites sowie im Falle der Strauß-Berufung die Trennungslinien zu verschwimmen und neue Festlegungen zu fordern. Für Hurter selbstverständlich: in der „kirchlichen" Revolution des sechzehnten Jahrhunderts wogte die Bewegung des „Unrechts" von unten gegen die legitime alte Ordnung des „Rechts"; selbstverständlich auch: in der französischen Revolution von 1830 führte eine ähnliche Bewegung auf politischem Gebiete von unten nach oben. Beide Umwälzungen waren vergleichbar, Staat und Kirche als die Prinzipien des „Oben" blieben vereint, die alte legitimistische Ehe von Thron und Altar bestand fort. In der Situation der späten dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts hingegen sieht sich der konservative Legitimist plötzlich genötigt, zu einer anderen Konstellation Stellung zu beziehen, zur Konfrontation jener beiden Prinzipien des „Oben", zum Gegeneinander von Kirche und Staat. Das war, für sich genommen, keine neue Situation. Allerdings gewann sie in diesen Jahren erhebliche Brisanz durch ein gesteigertes politisches Bewußtsein vieler Vertreter der Kirchen, nicht nur der katholischen, sondern eben auch der protestantischen. Bestrebungen wie diejenigen des reformierten Pfarrer-Politikers Hurter, seiner Kirche neue Eigenständigkeit zu verleihen, der weltlichen Sektion seines Kantons nicht die alleinige Dirigentenrolle zu überlassen, mußten diesen Konflikt ebenso schüren wie der Widerstand von Katholiken gegen staatliches Vordringen ins Terrain eigener beziehungsweise als solcher beanspruchter Rechte. A u f verschiedenen Seiten forderte neues Bewußtsein dieser Art ein Überdenken der Positionen. Besonders aber fand sich das Lager des Konservativismus betroffen: sobald die legitimistischen Grundpfeiler Staat und Kirche auseinander und gegeneinander traten, mußte sich der Konservativismus selbst konfessionalisieren, und je nachdem, welche Rolle der Einzelne in dieser Auseinandersetzung furderhin der Kirche zuschrieb, blieb ihm in der äußersten Konsequenz nur der Weg in einen protestantischen Konservativismus, welcher den Primat des Staates in umfangreicherem Maße akzeptierte oder in einen katholischen Konservativismus, welcher mindestens die Gleichstellung der Kirche, auf jeden Fall aber deren völlige Unabhängigkeit vom Staat forderte. 545
545 Nichts anderes ist gemeint mit dem Schlagwort vom Auseinanderbrechen der „christlich-konservativen", überkonfessionell gegen die Ideen der Französischen Revolution gerichteten „Front". Sehr eindrucksvoll beschreibt diesen Vorgang Schnabel,
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Der geistige Werdegang Hurters erlaubt, diesen Prozeß exemplarisch nachzuvollziehen; weniger rein, aber doch ebenso unverkennbar spiegelt er sich in den Wegen Böhmers und sogar Gfrörers, wenn auch in dessen Fall mit größerer zeitlicher Verzögerung. Mit welcher individuellen Ausprägung aber auch immer: ohne den Rückbezug auf Geschichte waren geistige Entwicklungen dieser Art kaum denkbar. Die historiographische Arbeit der Großdeutschen erster Generation, entstanden mehr oder weniger als Frucht solcher Entwicklungsprozesse, lieferte nach außen wirkend die Geschichtsmodelle für Andere, die sich auf dem selben Wege befanden. Der 1837 entstehende katholizistische Konservativismus fand in der großdeutschen Geschichtsauffassung die ihm adäquate historiographische Perspektive; die großdeutsche Geschichtsauffassung hinwiederum begann erst richtig aufzublühen, nachdem sie mit jener neuen Art von Konservativismus verschmolzen war. Staat und Kirche: angesichts der Ereignisse von 1837 (Köln) und 1839 (Zürich) sah Hurter sich genötigt, für sich selbst zunächst beide in ein neues Verhältnis zu setzen. Im Rahmen dieses Prozesses rückte auch die Möglichkeit einer „Revolution von oben" in sein Blickfeld. Hinsichtlich des Widerstandes einer in ihren religiösen Gefühlen verletzten Menge Züricher Bürger gegen die Berufung David Friedrich Strauß' fiel ihm diese Annahme nicht sonderlich schwer: war doch die berufende Regierung selbst aus den Stürmen einer Revolution hervorgegangen, also dem Antistes von vornherein nicht sonderlich akzeptabel, 546 und fügte sich in diesem Lichte die Berufung gut ein ins Bild des „ekelhaftesten Radikalismus", der sich trefflich des „ganzen Revolutionsarsenals" zu bedienen verstehe. 547 In bezug aber auf die Auseinandersetzung des preußischen Staates mit der katholischen Kirche in Person des Erzbischofs von Köln, ausgelöst durch die Frage der Anerkennung konfessionell gemischter Ehen, mochten wohl größere Schwierigkeiten hinsichtlich der Konstruktion
Deutsche Geschichte IV, S. 143-148. Mit näherem Bezug auf Hurter, jedoch in seiner Spiegelung innerhalb des politischen und historiographischen Werks Hurters nicht exakt herausgearbeitet: Eugen Isele: Antistes Friedrich Hurter und seine Zeit, in: Festschrift zum Hundertjährigen Bestehen der Katholischen Genossenschaft Schafihausen 1841— 1941, Schaphausen 1941, S. 105-154, hier S. 135. 546 Hurter, Köln und Zürich, S. 496: „Der große Rath versammelte sich am 18. März. Es war ein anziehendes Schauspiel zu sehen, wie die Schlange der Zerstörungswuth sich krümmte und zischte und Gift und Geifer ausspie, wie jenen Gesellen, die im Spätjahr 1830 das Volk gehetzt und aufgewiegelt und gegen die rechtmäßige Ordnung in die Empörung hineingetrieben [...], wie jenen Gesellen jetzt mit einemmal das Volk zum monstrum horrendum [...] geworden war." - Zur Revolution von 1830 in der Schweiz vgl. allg. Jean-Charles Biaudet: Der modernen Schweiz entgegen, in: Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 2, Zürich 1977, S. 871-986, hier bes. Kap. „Regeneration", S. 918-970. 547 Hurter, Köln und Zürich, S. 495.
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einer Revolution von oben auftreten. Denn in Berlin herrschte ein altes Fürstenhaus, dessen Legitimation Hurter kaum bestreiten konnte. Hier aber nimmt die neuerwachte Problematik des Gegeneinander von Staat und Kirche erst wirklich den Charakter eines Dilemmas an, und von hier aus erst läßt sich Hurters langsamer Wandel vom christlich-konservativen zum katholischen Konservativismus ablesen. In den Historisch-politischen Blättern beschränkte er die Diagnose der Parallelität beider Ereignisse auf deren jeweilige Wirkungen - „Beide glichen einem Stein, in ein stagnirendes Wasser geworfen, beide haben dieses Wasser in Bewegung gesetzt" 5 4 8 -, ging also keineswegs so weit, die preußische Regierung als revolutionär sowie deren Vorgehen gegen Bischof Clemens August als radikal zu bezeichnen. Worauf sich der Konflikt aber zwangsläufig zuspitzte, hatte Hurters seismographischer Instinkt bald schon erkannt. Wenn auch nur privatim, mit Sympathie, aber ohne eindeutige Parteinahme, hatte er das Streben der katholischen Kirche hervorgehoben, ihre Rechte dem Staat gegenüber zu sichern, gleichzeitig jedoch auch deren Reformbedürftigkeit betont. „Ich hege immer noch die Hoflhung", schrieb er im März 1838 seinem neuen Freund, dem damals bereits konvertierten Frankfurter Rat Johann Friedrich Heinrich Schlosser, über das Kölner Ereignis, „daß hiermit zwar eine nothwendige aber auch eine heilsame Crisis für die katholische Kirche in Deutschland eingetreten seye. Die wichtigsten Fragen haben nun einmal gründlich erörtert werden müssen und in letzter Beziehung wird das oberste Princip zur Erörterung kommen: ob für die katholische Kirche auch ferner ein eigenes und selbständiges Leben wolle anerkannt und zugestanden werden, oder ob auch sie, wie die akatholischen Kirchen, nur eine secundäre, nach dem Gutbefmden der Staatsgewalt zugemessene Existenz haben dürfe." Nicht um Gleichstellung katholischer oder protestantischer Individuen hinsichtlich ihrer bürgerlichen Rechte gehe es da, wie die Verfechter der preußischen Maßregel gegen den Erzbischof meist behaupteten; ,ziemlich, wenn einer eine Runkelrübenzuckerfabrik anlegen oder Eisenbahnactien kaufen will, so wird man wahrscheinlich keinen Unterschied machen, ob der Unternehmer oder der Käufer katholisch seye oder nicht. Nimmt man aber beide Confessionen als moralische Personen, so kann doch Gleichstellung der Rechte nicht das Nivelliren der einen auf den tiefen Standpunct der anderen involviren, sondern sie besteht nach meinem Dafürhalten darin, daß der Staat die Rechte der einen anerkenne und stütze wie die der anderen, ohne Rücksicht auf größeren oder geringeren Umfang." Leider aber hänge „der Zustand des deutschen Episkopats" seinen Hoffnungen „ein schweres Bleigewicht an. Nicht nur ist es in unwürdige Fesseln geschlagen, sondern es will mich fast bedünken, es schreite in denselben ganz behaglich einher. Jetzt wäre es an der Zeit so manche Rechte, ohne deren vollen und freien Genuß es seinen Obliegenheiten
548
Ebd., S. 482.
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in ihrer ganzen Fülle niemals genug thun kann, mit Nachdruck zu reclamiren. Aber davon dürfte es noch sehr fern stehen." 549 Entsprechen diese Bemerkungen durchaus der kirchenpolitischen Linie des Antistes, auch der von ihm vertretenen Institution größeres eigenständiges Gewicht zu verleihen, beinhalten sie, bei aller Kritik an den Bestrebungen des Staates, solche Eigenständigkeit zu reduzieren, doch noch nicht jenes Zeter und Mordio über die vom revolutionär-radikalen Staate vergewaltigte Kirche. Letzteres jedoch spielt sich in Hurters Kommentaren zunehmend in den Vordergrund. Sehr genau beobachtet er aus der distanzierten Ruhe seines ,Ausfluges nach Wien und Preßburg" das drohende Auseinanderbrechen des deutschen Konservativismus in zwei konfessionelle Lager, welches letztendlich nur - und da rückt die weltliche Macht schon in deutlich schlechtere Position - der Stärkung des von Aufklärung und Revolution infizierten Staates Vorschub leiste. Angesichts solcher, den Konfessionen gemeinsamer Gefahr erfolgt sein Appell, sich nicht an marginalen Fragen wie denen der gemischten Ehen gegenseitig zu zerfleischen, sondern „entweder sich zu verbinden, oder wenigstens gegenseitig sich friedlich gewähren zu lassen, um Blick, Kraft und That gegen diejenigen zu richten, die im Grunde gar nichts wollen; daher die gefahrlichsten Feinde Beider sind. Das wenigstens wäre eine Irenik, wodurch der Stand der Sachen im Alten, jede Parthei bei ihrem Recht [...] belassen würde, und jedem Theil Freiheit [...] bliebe, ungetheilt die Aufmerksamkeit auf näher Liegendes [...] zu wenden [...]. Denn bei dem Kampfe, wie er jetzt schwebt, gewinnen nur diejenigen, welche beiden Orts Alles wegzudeuteln, wegzuvernünfteln, wegzutoleranzeln [...] sich bestreben. Gegen diese waffhe, gegen diese ziehe, gegen diese streite man!" 5 5 0 Und endlich - eine neue Motivation „großdeutschen" Strebens - , meint Hurter, wäre es an der Zeit, die deutsche Spaltung zu überwinden zugunsten einer Allianz des Positiven gegen den Geist des „Indifferentismus, den so Manche mit Toleranz verwechseln" und der mehr und mehr sich ausbreite gegen alle, „welche doch noch Etwas wollen. [...] Stellt ihn ein den Ruf, der allmitternächtlich hinüberschallt von einem Kriegslager zum andern: Hie Weif! Hie Waibling! Es schleicht durch beide Heere ein ganz anderer Feind, der in Treuen weder zum Weifenpanier noch zur Waiblingsstandarde geschworen hat, sondern eine eigene Fahne in der Tasche führt [...]. Er folgt einem ganz andern Heerfursten, als Weif und Waibling; er hofft eine ganz andere Herrschaft zu begründen, als dieser oder jener; er träumt sich, beide einst niederzutreten." 551 Keimt 1839/40 noch die Hoffung in Hurter, wenigstens die überkonfessionelle Einheit des Bewahrenden, des Konservativen gegenüber einer sich zu549 550 551
Hurter an Rat Schlosser, 20.3.1838 (BSB, Autogr. Hurter). Hurter, Ausflug nach Wien und Preßburg Π, S. 213/214. Ebd., S. 210/211,213 und 214.
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nehmend „radikalisierenden" Staatsgewalt zu retten, markieren seine weiteren Ausführungen zum Thema in „Geburt und Wiedergeburt" nur wenige Jahre später den Endpunkt seiner Entwicklung. Kein Wort fallt da mehr von der konservativen Allianz, im Gegenteil, die ehemaligen Konfessionsgenossen müssen sich nun den Vorwurf des Konvertiten gefallen lassen, auf „die Forderung des Indifferentismus an die Glaubensfestigkeit" eingegangen und fortan in diesem Indifferentismus aufgegangen zu sein. 552 Als Erbe des älteren gesamtchristlichen erscheint nunmehr nur noch jener neue katholische Konservativismus allein resistent gegenüber den revolutionären Anfechtungen von unten wie von oben. Einer apokalyptischen Schreckensvision gleich läßt Hurter nun den Blick über Europa schweifen, um die „revolutionären" Herrscher, allen voran den Zaren - einen der Hauptprotagonisten der Heiligen Restaurationsallianz! - als „kronentragenden Oberradicalen", in ihrem luziferischen Drachenkampf gegen die bedrängte Kirche zu geißeln. „Da sah ich eine, aus revolutionären Elementen hervorgegangene und solchen gemäß sich fortbildende Gesetzgebung nicht blos hinübergreifen in das Gebiet der Kirche, sondern formlich ihr Joch derselben aufladen, deren natürlichste Lebensregung hemmen, ihren innern Organismus lösen, ihre Rechte beseitigen, über ihr Gut zum unbeschränkten Vogt sich setzen, Würde und Tüchtigkeit nach der Schmiegsamkeit unter die postulirte Gewalt bemessen. [...] Da sah ich den ministeriellen Despotismus an hegel'scher Frechheit und Straussischer Fortbildung des Protestantismus aufranken, bei verblendeter Befangenheit in höhern Regionen um so tobsüchtiger sich gebahrend, die Kirche wie ein Beamten-Bureau behandeln, die Fähigkeit zur höchsten Gewalt über sie nach dem Maaß der Mißkennung und nach dem Willen zur Beseitigung ihrer Rechte bemessen; [...] jedem Angriff auf sie, jeder Lästerung gegen sie, jeder Verhöhnung derselben freyen Lauf lassen, hemmen hingegen jede Vertheidigung, Jagd machen auf jede Darlegung der Thatsachen, knebeln selbst das wahrheitsgemässe Wort in einfacher Geschichtserzählung." 553 Der Rex absolutus und die Schergen seines Apparates als Revolutionäre: Friedrich Emanuel Hurter hat den Höflerschen Standpunkt erreicht. Wortreich, polemisch, kompromißlos formuliert er ihn in der Bekenntnisschrift „Geburt und Wiedergeburt", ohne jedoch - wie in den Ausführungen über die Revolutionen von 1830 - immer verbergen zu können, von welcher Seite her dieses politische Denken seinen Ausgangspunkt nahm. Während sich Hurter auf dem Wege von der protestantisch-politischen zur katholisch-kirchlichen Orthodoxie der Gefahr aussetzte, in der aussichtslosen Situation eines Extremisten zu enden, dessen Forderungen nach kirchlicher 552
Hurter, G u W n , S. 37. Die ganze Vision ebd. I, S. 513-519; hier S. 513 (kronentragender Oberradicaler) und das Zitat S. 515/516. Vgl. zu den Kölner Wirren, etwas sachlicher, jedoch gleichen Inhalts, ebd. I, S. 535-538. 553
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Autonomie, ja Präponderanz bei keinem noch so wohl wollenden Vertreter eines sich modernisierenden Staatswesens je hätten Akzeptanz finden können, konzentrierte sich August Friedrich Gfrörer in seinem Kommentar zu den Kölner Wirren in zeitgemäßerer Weise auf den Kern des Problems - zumindest für die Seite des Staates. Daß er in der Auseinandersetzung beider Institutionen letzterer den Joker zuspielte, hat selbstverständlich auch mit seinen geistigen Wurzeln im Boden des süddeutsch-protestantischen Liberalismus zu tun, wie er sie, wenn auch nicht ungebrochen, in der „Geschichte unserer Tage" offengelegt hatte. Daß er andererseits von hier aus eine weitere Strecke zum Konservativismus des späteren Katholiken zurückzulegen hatte als Hurter, liegt ebenso auf der Hand wie die letztendlich ganz andere Ausprägung dieses Konservativismus. Markierte Hurters Position bereits im Koordinatensystem der geschichtlichen Grundurteile den äußerst rechten Rand des Spektrums, so mag diese Schematik auch hier wieder dazu dienen, Gfrörer ihm gegenüber auf der Linken zu piazieren. Noch dominierten freilich die Liberalismen, als Gfrörer 1838 das bereits mehrfach erwähnte Schriftchen „Die Tiare und die Krone" publizierte. Eine Art Flaggschiff, diente es der Schweizerbartschen Buchhandlung zur Eröffnung einer „Chronik der neuesten Zeit", dem Nachfolgeunternehmen jener „Geschichte unserer Tage", für die Gfrörer 1831/32 bereits zur Feder gegriffen hatte. 554 Die nämliche weltanschauliche Basis also setzte dem hier wie dort pseudonym beziehungsweise anonym auftretenden Gfrörer die Spielräume, innerhalb derer sich seine Werturteile zu bewegen hatten. Und schließlich sei daran erinnert, daß die Teilnahme an solchen kommerziell orientierten Schriftenreihen Gfrörer auch dazu dienen mußte, sein Talent in den Dienst des Familienauskommens zu stellen. 555 Gleichwohl zeigen sich auch in den Brechungen der „Tiare" die weiteren Wendemarken der Gfrörerschen Anschauungen deutlich genug, um, zusammengedacht mit den Ergebnissen sowohl der Analyse der „Geschichte unserer Tage" als auch der Historiographie Gfrörers, jenen originellen geistigen Weg nachvollziehen zu lassen, der das Spektrum des großdeutsch orientierten historisch-politischen Denkens in der ersten Generation so eigenwillig erweitert. Im Gegensatz zur „Geschichte unserer Tage" fließen in die „Tiare" Erfahrungen aus Gfrörers historiographischer Arbeit schon stärker ein, Erfahrungen vor allem aus der ersten Auflage des „Gustav Adolph". Wenn Gfrörer sich auch in den historisierenden Teilen der neuen tagespolitischen Schrift noch nicht als „Ghibelline" tituliert - was zusammenhängen könnte mit jenem von der Verlagsbuchhandlung vorgegebenen weltanschaulichen Rahmen - , so geht er doch 554
Gfrörer, Tiare und Krone. Konzeptionelle Einzelheiten der neuen Reihe sowie weltanschauliche Rahmenbedingungen nach dem Prospektus der Verlagsbuchhandlung zur Ankündigung der Reihe (beigebunden dem Exemplar der BSB). 555 Vgl. den biographischen Abriß, bes. S. 109.
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gerade in den einleitenden Passagen über die Reformation sehr viel forscher „ghibellinisch" voran als in dem von ihm selbst mit diesem Epitheton belegten ersten Gustav-Adolf-Buch. Hinsichtlich der aktuell politischen Orientierungen Gfrörers fallt jedoch vor allem auf: der Konstitutionalismus der „Geschichte unserer Tage" erfahrt in der „Tiare" deutliche Abschwächung, ebenso der kategorische Antikatholizismus. An die Stelle des letzteren tritt differenziertere Verständnisbereitschaft für die Belange der katholischen Kirche. Trotz solcher Verständnisbereitschaft aber kann Gfrörer sich schwerlich zum Anwalt dieser Belange aufschwingen, da er ihnen gleichzeitig Grenzen gesetzt sieht von Seiten der Interessen eines mächtigen, zentralistischen weltlichen Staatswesens. Die Vorstellung vom starken Staat rückt zunehmend ins Zentrum des sich langsam ausprägenden Konservativismus Gfrörers; übertragen auf die deutsche Einheitsfrage wird sie schließlich seine großdeutsche Haltung wesentlich bestimmen. Unverändert propagiert Gfrörer die Notwendigkeit einer gewissen Kontrolle staatlicher Gewalt. Jedoch scheint ihm dazu konstitutionell-parlamentarisch gewährleistete Mitbestimmung der Regierten nicht mehr unbedingt tauglich. Der Staat, so denkt Gfrörer nun von oben her, habe sich mehr oder minder selbst zu kontrollieren, habe sich einfach bestimmten Gesetzen zu unterwerfen, welche ihm wiederum unabänderlich aus den Grundfaktoren seiner jeweiligen Existenz erwachsen. Das oberste Gebot dabei laute, „daß die öffentliche Wohlfahrt überall das höchste Gesetz sey, vor der jede andere Rücksicht verstummen muß." 556 Im Falle des Staates Preußen beispielsweise fordere dies einerseits Beachtung jener Institution, die ihm sowohl während der Befreiungskriege zu neuer Größe mitverholfen habe als auch weiterhin dazu beitrage, diese Größe zu garantieren, notfalls militärisch zu schützen: der Landwehr. In ihr besitze Preußen „eine volksthümliche Bürgschaft gerechter Staatsverwaltung, [...] ein[en] Gegenstand gerechten Stolzes für alle preußischen Unterthanen [...], die wir höher anschlagen, als alle süddeutschen Konstitutionen." 557 Da nun aber die männlichen Mitglieder einer katholischen Bevölkerung Preußens von fünf Millionen Menschen in der Landwehr dienten, erwachse dem Staate Preußen daraus als Gesetz der Staatsklugheit die Pflicht, durch eine moderate Konfessionspolitik die Identifikation dieser Katholiken mit der Res publica nicht zu zerstören, um die Wehrkraft, also die Macht nach außen, nicht zu schwächen.558 Eine solche Politik habe man bis in die dreißiger Jahre hinein durchaus verfolgt. 559 Als allerdings die katholische Kirche den Versuch einleitete, die eigene Macht dem Staat gegenüber zu stärken, war eine scharfe Reaktion sehr wohl angebracht, um zu demonstrieren, wer Herr im Hause sei. Trotz Nach556 557 558 559
Gfrörer, Tiare und Krone, S. 41. Ebd., S. 28/29. Ebd., S. 29/30. Ebd., S. 31/32.
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giebigkeit und Verhandlungsbereitschaft der Regierung habe sich aber Erzbischof Clemens August, angetrieben - wie immer - von geheimen, in diesem Fall belgisch-jesuitischen Kräften, als „ein offener Rebell gegen die Staatsgesetze" gestellt, habe das preußische Landrecht mißachtet. 560 Abfuhrung und Festsetzung des Bischofs waren als Reaktion auf diese rebellische Haltung demnach ganz gerechtfertigt. Jedoch habe die Regierung in dem Moment einen Fehler begangen, habe verstoßen gegen ein anderes Erfordernis preußischer Staatsklugheit, als sie den Bischof nicht vor ein öffentliches, das heißt, vor ein Geschworenengericht stellte, wie dies vor allem katholische rheinische Intellektuelle, auch liberalere, verlangten. 561 Erst durch jenen Willkürakt habe man die unheilvolle Solidarisierung großer Teile der Bevölkerung in den Westprovinzen wirklich vorangetrieben und habe beigetragen zur Erhöhung des Unzufriedenheitspotentials; erst dadurch habe man gegen das eigene Staatsinteresse gehandelt. Nur von untergeordneter Bedeutung erscheint, inwieweit Gfrörers Analyse den tatsächlichen Tatbestand erfaßt; sehr viel bemerkenswerter dagegen, wie der Konstitutionalismus der „Geschichte unserer Tage" veränderten Wertsetzungen weicht. Der Landwehr, als dem einen, bereits bestehenden Garanten preußischer Staatsraison, gesellt Gfrörer die Forderung nach Einrichtung öffentlicher Gerichtsbarkeit als anderen Garanten hinzu. Wie jenen, erachtet er auch diesen für „mehr werth, als jene liberalen Verfassungen, mit welchen die kleineren süddeutschen Staaten beschenkt worden sind." Die Einführung der öffentlichen Gerichte „in der ganzen Monarchie" könnte „dem preußischen Staat einen sehr bedeutenden Einfluß in ganz Deutschland verschaffen." 562 Sicher, der Eindruck läßt sich nur schwer vermeiden, Gfrörer blähe da eine neue fixe Idee zu unverdienter Bedeutung auf. Gleichfalls ließe sich einwenden, im Vergleich zum Konstitutionalismus der „Geschichte unserer Tage" variierten nur die Akzente, nicht aber die grundsätzlich liberale Haltung Gfrörers. Natürlich, in der Hochschätzung der Landwehr, in der Forderung nach Geschworenengerichten manifestieren sich kaum Lieblingsideen der hochkonservativen
560
Ebd., S. 137; ähnlich S. 130. Ebd., S. 199: „Wichtiger ist, daß alle Liberalen, den Advokatenstand an der Spitze, Partei für den Erzbischof nehmen, den sie sonst haßten. Da heißt es, man habe den Prälaten seinem natürlichen Richter entzogen, vor die Geschworenen hätte er gehört, das sey ein neuer Eingriff in das rheinische Rechtsverfahren, dem die Berliner längst ans Leben wollen. Ich glaube auch, daß man diese letztere Partei nicht befriedigen wird, so lange man in Berlin sich nicht aufrichtig mit der Öffentlichkeit der Gerichte versöhnt." 562 Ebd., S. 90 und 199. 561
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Berliner-Wochenblatt-Partei; 563 und in der vom Mythos athanasischer Märtyrerqualen ganz freien Charakteristik Clemens Augusts brechen genausowenig Grundurteile eines orthodox-katholischen Konservativismus durch. Aber noch einmal: um die Ansätze zur Wende im Denken Gfrörers geht es, nicht um reine Lehren. Da fallt dann doch auf, wie die Vorstellung vom Herrschaftsvertrag, von der Regierungsverantwortlichkeit in der „Tiare" fehlt, wie jenes schon in der „Geschichte unserer Tage" angeklungene Mißtrauen gegenüber der Tätigkeit von Parlamenten sich konsequent fortsetzt in der Abwertung der süddeutschen Konstitutionen und wie schließlich ein Modell öffentlicher Wohlfahrt, über welche allein die Regierung befinde, ins Zentrum der Ausführungen rückt. Nicht aus einem verfassungsdefinierten Diskurs politischer und gesellschaftlicher Kräfte ergibt sich die Festlegung dessen, was unter öffentlicher Wohlfahrt zu verstehen sei, sondern als Folge obrigkeitlicher Überlegungen hinsichtlich kluger Politik im Machtinteresse des Staates. Gfrörers Betrachtungen zu den Kölner Wirren zeigen ihn unterwegs zu einem neuen Konservativismus des starken Staates, dessen Handeln er legitimiert aus Erwägungen der Staatsraison. Während Hurter, altbewährter Mitstreiter der christlich-konservativen, antirevolutionären „Front", unter dem Eindruck der Krise zwischen Staat und Kirche seinen Konservativismus langsam in katholischer Richtung konfessionalisiert, entscheidet sich Gfrörer, dem ja die aufklärerisch-rationalistischen Grundlagen der Französischen Revolution von jeher mehr bedeuteten, 1837 zunächst für den Staat, ohne sein Denken zu konfessionalisieren. Letztere Wendung vollzieht er erst im Laufe der Arbeit an den nach 1837/38 entstandenen historiographisch-kirchengeschichtlichen Werken - aber auch dann niemals so, daß der konfessionelle Akzent sich über den dominanten Wert des starken Staates erhöbe. Einige Beobachtungen über die Abschwächung des früheren Antikatholizismus Gfrörers in „Die Tiare und die Krone" bleiben gleichwohl noch mitzuteilen. Sie zeigen, daß Gfrörer im historisierenden Einleitungskapitel seine zukünftigen Urteilsmaßstäbe bereits weiter entwickelt hat als im politisierenden Hauptteil. Das betrifft nicht nur die schon erwähnte, gegenüber der ersten Auflage des „Gustav Adolph" gewandelte Sicht auf die Reformation, sondern geht auch hervor aus jener Bestimmung der welthistorischen Rolle der Kirche als eines Gleichgewichtsorgans gegenüber universalherrschaftlichen Bestrebungen der römisch-deutschen Kaiser. 564 Der Trend setzt sich fort in der historiographischen Charakteristik des Jesuitenordens als eines höchst effektiven Instruments der Gegenreformation 565 und endet immerhin in der Anerkennung der 563
Im Gegenteil, die preußischen Hochkonservativen kommen gleichfalls nur höchst negativ davon: ebd., S. 89, 93,102. 564 Vgl. o. Anm. 66. 565 Gfrörer, Tiare und Krone, S. 5.
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Bestrebungen, mittels derer die Kirche nach 1815 in den Kreis ernstzunehmender politischer Faktoren zurückkehrte. „Eine Macht, welche im vorigen Jahrhundert ihrem unaufhaltsamen Untergange entgegen zu eilen, welche durch Napoleon für immer begraben schien [...], erhebt sich in Deutschland, wo die Reformation ihr vor 300 Jahren den ersten Hauptschlag beigebracht hat, von Neuem mit großem Nachdruck. So schlau und thätig sind ihre Diener, so sicher und geheim treffen ihre Waffen, daß sie sicherlich in der nächsten Zeit noch mehr Boden gewinnen wird. Unsere Staatsmänner sind ihr, fürchten wir, nicht gewachsen."566 Am Übergang von der Geschichte zur Gegenwart gesellt sich zu leicht kaschierter Bewunderung der Effizienz einer straff gegliederten hierarchischen Ordnung, als deren intellektuelle Haupttriebfeder Gfrörer den Jesuitenorden erkennt, die Furcht vor dem Sieg eben dieser Effizienz. Die Verwirklichung der Prädominanz des starken Staates erfordere, daß dieser den klug berechneten Anfechtungen von kirchlicher Seite auf keinen Fall weiche. Gerade für Preußen gelte dies, welches ja, stelle es sich dabei nur intelligent genug an, für Deutschland noch eine besondere Aufgabe erfüllen könne! Preußen? Jenes Preußen, dessen Vergangenheit bereits in der ersten Auflage des „Gustav Adolph" nicht so durchweg positiv beurteilt erscheint und dessen Politik Gfrörer in der zweiten Auflage dieses Werkes noch heftiger kritisieren wird? Mittendrin zwischen beiden Auflagen und bezogen auf die eigene Gegenwart scheint Gfrörer noch zu hoffen. „Der preußische Staat stellt ein Heer von 200 000 Mann ins Feld, und gebietet über eine Landwehr von mehr als 300 000. Seine Geschichte bietet die schlagendsten Wechselfalle dar, und ist glänzender als irgend welche eines andern deutschen, ja europäischen Staates, ausgenommen England und Frankreich. Wieviel Preußen gethan, um Napoleon zu stürzen, ist weltkundig. Kriegsruhm umstrahlt ihn [sie!], auch in den Künsten des Friedens ist Löbliches geschehen."567 Trotzdem unterbleiben auch Mahnungen nicht: Preußen möge immer bedenken, worauf denn eigentlich seine Größe zurückzuführen sei. „Hätte irgend einer unserer ältern deutschen Kaiser den Muth gehabt, in dem Geiste Ludwigs XI. von Frankreich, des wahren Gründers von Frankreichs Größe und Ruhm, zu handeln, den höchst nachtheiligen Vorrechten des hohen Reichsadels, der Alles verwirrte, durch jegliches Mittel, wenn es nur zum Ziele führte, wäre es auch Schwertern und Kanonenkugeln gleich, ein Ende zu machen, so wären wir Deutsche eine gewaltige Nation, und die Krone Preußens würde dann nicht die Rolle spielen, die sie jezt zu spielen berufen ist. Preußen ist bloß durch die Fehler des alten heiligen römischen Reichs, namentlich durch die heillose Aristokratie dieses unförmlichen Körpers, groß geworden." 568
566 567 568
Ebd., S. 26/27. Ebd., S. 131/132. Ebd., S. 94.
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Auch wenn die „Tiare" nicht eben viele Anmerkungen Gfrörers zur Einheitsproblematik aufweist, spricht doch aus der Projektion des Theorems vom starken Staat auf das Heilige Römische Reich die Wunschvorstellung eines zentralistischen Nationalstaates französischer Prägung, zu errichten aus einer Reform des alten Reichsmodelles unter Abscheidung des Negativen bei Wahrung der positiven Elemente. Noch deuten einzelne Aussagen der „Tiare" daraufhin, daß Gfrörer 1838 Hoffnungen dahingehend hegte, unter preußischer Führung könne eine solche Reform erfolgen. Vom „protestantischen Kaisertum" Karls V., jener Vision Gfrörers in der ersten Auflage des „Gustav Adolph", wäre ja ein dazu passender Weg zum Konzept eines protestantisch-preußischen Kaisertums denkbar. Aber wie Gfrörer diese Vision auf Karl V. beschränkte und alsbald von ihr abrückte, so ließ er auch jene Hoffnungen fallen. Im „Gustav Adolph" von 1845 zeigt er sich neu orientiert: Preußen als Führungsmacht kommt für ihn nicht mehr in Frage. Die Vorstellung vom starken Staat, von der starken Zentralmacht aber dominiert weiterhin. Am Beispiel der Reichsreform des frühen sechzehnten Jahrhunderts versucht er nun, über deren Realisationschancen im Rahmen eines habsburgischen Kaiserreiches historiographisch nachzudenken. Bis auch Gfrörer allerdings die Rolle der katholischen Kirche diesem Gedanken des starken Staates gegenüber neu gewichtet, bis auch er in den „Carolingern" dem staatlichen das kirchliche Einheitsband hinzugesellt, werden noch ein paar Jahre vergehen. Die Wurzeln des Gfrörerschen Konservativismus treten in seiner Stellungnahme zu den Kölner Wirren offen zutage. Im Gegensatz zu Hurter konfessionalisiert Gfrörer sein Denken 1837/38 noch nicht, wird es in vergleichbarem Maße auch nie konfessionalisieren. So sehr sich Gfrörer auch bis zur Konversion von 1853 dem Katholizismus nähert, wird diese Annäherung doch sein Konzept vom starken Staat nie verdrängen können.
Repräsentieren Gfrörer und Hurter einmal mehr die entgegengesetzten Pole des Spektrums, so entfalten sich zwischendrin maßvollere Varianten des Miteinanders der beiden Institutionen. Johann Friedrich Böhmer etwa, der dritte Protestant im Bunde, denkt vom Staate her und legt diesem nahe, sich doch auf seine ureigensten Aufgaben der Rechtswahrung zu besinnen. Ignaz Döllinger andererseits geht vom Standpunkt der katholischen Kirche aus und versucht dem weltlichen Gegenüber zu erklären, auf welche Weise beide Sphären ganz gut nebeneinander leben könnten, ohne sich gegenseitig zu stören. Selbstverständlich ergreift Böhmer im Kirchenstreit die Partei der Katholiken - „ich Lutheraner halte es übrigens mit dem Erzbischof, mit dem Rheinland, mit den Katholiken" - , nicht aber, ohne den eigentlichen Beweggrund seiner Stellungnahme zu nennen, - „auch deßhalb, weil ich weiß, mit welcher empörenden Rechtswidrigkeit und Härte man gegen meine Glaubensgenossen in
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Schlesien verfahren." 569 Kein konfessionelles Interesse bindet ihn primär: auch für das verzweifelte Bestreben einer Gruppe von ,Altlutheranern", ihre Eigenständigkeit gegenüber staatlich gelenkter Zwangsvereinigung von Lutheranern und Reformierten zu wahren, nimmt er engagiert Partei. 570 Den Problemkern des Kirchenstreites verortet er nicht in einem oberflächlich konstruierten Gegeneinander von Staatsgewalt und Protestantismus versus Katholizismus, sondern vielmehr in der Frage, wie weit Staatsgewalt überhaupt in die Belange gesellschaftlicher Gruppen eingreifen dürfe, die sich unter ihrem Dach versammeln. Böhmers Stellungnahme liegt weder auf der Gfrörerschen Linie des starken Staates, welchem im Sinne der Wahrung seiner Interessen Eingriffe der Kölner Art zu erlauben seien, noch auf der Linie jenes polternd konfessionalisierten Endstadiums der Hurterschen Entwicklung, des polemischen Lamentos der vom schrankenlosen Despotismus cäsaropapistischer Staatsmacht vergewaltigten armen katholischen Kirche. Sie erinnert viel eher an die noch besonnenere Warnung Hurters im „Ausflug nach Wien und Preßburg", sich nicht in Parteikämpfen zu zerfleischen, sondern vielmehr gemeinsam zu sehen, wo der Feind eigentlich stehe. Gerade in der Parteinahme sowohl für die Katholiken als auch für die Altlutheraner widersetzt sich Böhmer entschieden jener Konfessionalisierung konservativen Denkens, und wird, bei aller Sympathie für den Katholizismus, dabei auch bleiben. Allerdings kann er diese Strategie nur deshalb erfolgreich behaupten, weil er nicht, wie Hurter zuletzt, wie die Katholiken Döllinger und Höfler, von der Kirche, sondern weil er gerade vom Staate her denkt, ein Ansatz, der ihn Gfrörer näher hinzugesellt. Gleichwohl ziehen beide fundamental verschiedene Schlüsse aus diesem Ansatz, Schlüsse, die mit dem jeweiligen Geschichtsverständnis eng zusammenhängen. Gfrörer bewegt sich von der Diagnose der Schwäche des Alten Reiches auf die Annahme der Notwendigkeit einer umfassenden Reform mit dem Ziel eines zentralistischen, starken Nationalstaates zu und kann von hier aus zumindest zeitweilig Hoffnungen auf Preußen setzen. Böhmer aber erkennt ja gerade die alte Reichsordnung und deren rechtliche Grundlagen als jenes Optimum an, welches tausend Jahre lang die den Deutschen adäquate staatliche Organisationsform repräsentierte. „Die Geschichte kennt kein Beispiel einer Nation, welche von ihrem ersten Auftreten an im Ganzen und im Einzelnen mehr Freiheit besessen hätte und eifersüchtiger auf diesen
569 Böhmer an Freiherm Hans von Gagem, Frühjahr 1838, zitiert aus dem Archiv der Familie von Gagem bei Ludwig von Pastor: Leben des Freiherm Max von Gagem 1810-1889. Beitrag zur politischen und kirchlichen Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Kempten 1912, S. 92. 570 Zu Böhmers Eintreten für die Altlutheraner vgl. Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 258-264 (Briefe Böhmers an den altlutheranischen Pfarrer Scheibel) sowie ausfuhrlich Kleinstück, S. 244-248.
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Besitz gewesen wäre, als die verschiedenen germanischen Völker es waren. [...] Ganz unvermischt blieben bis auf den heutigen Tag diejenigen germanischen Volksstämme (die Ostfranken, Baiern, Schwaben und Sachsen), die sich zum heiligen römischen Reiche deutscher Nation vereinigten, welches durch ein Jahrtausend, bis vor acht und zwanzig Jahren noch bestanden, dessen letzter rechtmäßiger Kaiser und Herr [...] noch lebt. Kein fremder Staat hat dieses deutsche Reich überwunden, kein Despot hat den Deutschen sein Joch aufgelegt. Wo ist denn ihre gepriesene Freiheit hingekommen? - Hierauf ist die Antwort: Diese germanische Freiheit ist im römischen Reiche nie untergegangen, sie war bis vor acht und zwanzig Jahren noch erhalten, sie bestand in dem von Kaiser und Reich ausgesprochenen Schutze jedes wohlerworbenen Rechtes. [...] Dem gemäß waren denn auch Recht, Freiheit und Herkommen [...] in Deutschland ganz untrennbare Begriffe. [...] Ihr Inbegriff, also mit Einem Worte, das urkundliche Recht, ist die germanische Freiheit." 571 1832 dermaßen sententiös formuliert, begegnen diese Ansichten, wie schon als Kern Böhmerschen Verständnisses von deutscher Geschichte, so auch als Credo seines tagespolitischen Urteilens. Der Staat fungiere als Garant alter, überkommener Freiheiten und Rechte, also auch als Garant der Freiheitsrechte konfessioneller Gruppierungen, sofern durch Reichsverfassungsgesetze niedergelegt, ergo der Freiheiten sowohl der katholischen Kirche als auch der lutherischen beziehungsweise reformierten Religionsgemeinschaften. Böhmers Grundhaltung - dieses Spiel mit der schillernden Begrifflichkeit drängt sich auf - erscheint so „liberaler" als diejenige Gfrörers, reduziert sie doch den Einflußbereich des Staates deutlich. In ihrem klaren Rekurs auf die Rechtsgrundsätze des Alten Reiches färbt sie sich jedoch gleichzeitig sehr viel „konservativer" ein. Nie aber könnte sie sich eine Zustimmung zur Politik Preußens abringen. Weil Preußen jene alten Rechte nicht respektiere, weil es Katholiken wie Altlutheraner bedränge, kann Böhmer Berlin nur die Herrschaft eines „Staatsdespotismus" attestieren. 572 Die Einrichtung einer „von der weltlichen Staatsgewalt ausgehenden und zu einer Unterabtheilung der Polizei herabgewürdigten Staatsreligion" sei nicht hinzunehmen; nur zu sehr befürworte er die Suche nach einem „festen Rechtszustand", der die Anmaßungen eines „neuen Absolutismus" eindämme.573 Beherztes Vorgehen sei erforderlich. „Wenn so die
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Johann Friedrich Böhmer: Das Zollwesen in Deutschland geschichtlich beleuchtet, Frankfurt/M. 1832 (= Geschichtliche Beleuchtungen des deutschen Staatsrechts I), S. 42/43. 572 Böhmer an den Altlutheraner Scheibel, 9. 8. 1838 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 264). 573 Böhmer an dens., 31.1.1838 und an G. Struckmann, 1.3.1838 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 258,260).
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Klagen über religiöse Verfolgungen von allen Seiten kommen, wird der revolutionär-absolutistische Staat in Berlin endlich nachgeben müssen." 574 Der „revolutionär-absolutistische Staat": da kehrt jene Vorstellung der Revolution von oben wieder und schließt den Kreis, der mit Höflers Betrachtungen zur Julirevolution begann. Bei tendenzieller Nähe der legitimistischen Haltungen Höflers, Hurters und Böhmers, bestehen Unterschiede gleichwohl. Gott als Spender jeglicher Macht steht im Hintergrund, hier wie dort. Im Denken Höflers, im Denken des „konfessionalisierten" Hurter freilich nimmt die Kirche als Stellvertreterin Gottes auf Erden dem Staat gegenüber einen ganz anderen Stellenwert ein, denn im Denken Böhmers. Dieses schreibt zwar dem Staat unter sehr konkretem Bezug auf die Verfassungsordnung des Alten Reiches die Aufgabe zu, Kirche und Konfessionen zu schützen, legitimiert die weltliche Ordnung selbst aber zunächst durch den Rückgriff auf die alte Ordnung des Rechts und nicht auf die von Gott via Kirche delegierte Gewalt. Bedeutet dem konfessionell-katholischen Konservativismus „Revolution von oben" Revolution gegen die göttliche Ordnung in ihrer irdischen Repräsentanz, so bedeutet derselbe Begriff dem neutraleren Konservativismus Böhmers in erster Linie Revolution gegen jene Rechtsordnung. Die weiteren Implikationen freilich gleichen einander sehr; auch das Negativexempel par excellence bleibt sich gleich: Preußen. Böhmers Eintreten für Altlutheraner wie für Katholiken läßt sich als tatkräftiger Diskussionsbeitrag gegen das drohende Auseinanderbrechen der „christlichkonservativen Front" werten; sein Plädoyer in Sachen Staat läßt sich nicht nur begreifen als entschiedene Stellungnahme gegen ein revolutionär-absolutistisches Preußen, sondern gleichzeitig auch für einen maßvoll die Rechte wahrenden Verfassungsorganismus. Alles in allem korrespondiert diese Position der Mitte recht gut mit derjenigen Döllingers, welche vom Boden der katholischen Lehre aus zur Verständigung zwischen Kirche und Staat, zwischen Katholiken und Protestanten aufruft. Nüchtern sachbezogen, präzise und kenntnisreich in der Argumentation, erscheint Döllingers Beitrag „Über gemischte Ehen" als eine „Stimme zum Frieden". 575 Sicherlich, sein Standpunkt nötigt ihn durchaus, Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche vom Staat zu fordern und zu verteidigen. 576 Gleichwohl geht er aber doch nicht soweit wie etwa der späte Hurter,
574
Böhmer an dens., 9.4.1838 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 262/263). Ignaz Döllinger: Über gemischte Ehen. Eine Stimme zum Frieden. Vierte, durch Kritiken der beiden Artikel der Allgemeinen Zeitung: „Über die Europäisch-publicistische Seite der Kölnischen Frage" vermehrte Auflage, Regensburg 1838. 576 Vgl. ebd., S. 10 und 11: „Kann die Kirche gezwungen werden, eine ihrer Segnungen zu ertheilen, so kann sie zu allen gezwungen werden; kann ein solcher Zwang bei der Segnung eintreten, so wird er auch bei den Sakramenten nicht ausbleiben, kurz das Innerste, Geistigste, Heiligste, was die Kirche besitzt, ist dann Domaine des Staates, 57 5
21*
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Denkwege
jegliche Staatlichkeit als barbarisch zu beschimpfen, die sich nicht explizit als Ausfluß Gottes von päpstlichen Gnaden verstünde. Wenn möglicherweise auch Döllinger in der Theorie legitimistischen Positionen dieser Art anhängt, worauf jene Ausführungen des Eos-Artikels über das gegenseitige Sich-Umschließen beider - „wie in der Pflanze der Blätterstand auf den Blüthenstand weist" 5 7 7 hindeuten könnten, so geht er doch in der politischen Praxis und konkret im Falle der Mischehenfrage von einer strikten Trennung beider Sphären aus. Im selben Eos-Artikel hatte er nämlich auch die „ewige, unbedingte Gränze zwischen beyden" darin erkannt, „daß der Staat blos auf die That gehen, blos das sichtbar und wirksam gewordene, äußerlich bestrafen und äußerlich belohnen könne", daß die Kirche dagegen in Willen und Gewissen dringe, diese zu immer höherer Vollendung hinanbilde und daher auf Willen und Gewissen allein ihr Recht und ihre Erscheinung zu gründen habe. 578 Aus der Möglichkeit einer Verständigung über diese „natürlichen und nothwendigen Gränzen des Geistlichen und des Weltlichen" folgerte er später, daß „ein wahrer Friede und eine Ausgleichung der scheinbar so schroff einander entgegenstehenden Ansprüche der beiden Confessionen, und hier und dort der weltlichen Gewalt zulässig, ja leicht zu bewirken sey." 579 Die katholische Kirche, so bittet Döllinger um Verständnis, könne eheliche Verbindungen keinesfalls segnen, deren Zweck nicht in jenem Sinne liege, den gewöhnlich der Segen zu heiligen habe: in der Erziehung der Kinder zu Schäflein der - katholischen - Herde des Herrn. 580 Andererseits tangiere der fehlende Segen weder Gültigkeit und Rechtmäßigkeit581 noch den Sakramentscharakter der Ehe, da nicht Priester, sondern Ehegatten selbst das Sakrament der Ehe sich gegenseitig spendeten.582 Im übrigen sei der Heilige Stuhl den Bedürfnissen insoweit entgegengekommen, als er die Bestimmungen des Tridentinums hinsichtlich der Anwesenheitspflicht eines katholischen Geistlichen beim Abschluß gemischter Ehen bereits suspendiert habe. 583 - Theologische Distinktionen dieser Art, weniger historisch-staatsrechtliche Erwägungen, dienen Döllinger vor allem zur Vermittlung einer Botschaft: ein äußerer Friede sei möglich, „nach welchem zwei Confessionen in allen bürgerlichen und politischen Verhältnissen und die Priester werden zu Werkzeugen der Polizei herabgesetzt, welche nicht mehr nach der Lehre und den Vorschriften der Kirche, nach ihrem Gewissen und Überzeugung, sondern nach dem Willen und den Verfügungen dieses oder jenes Beamten lehren, segnen, lossprechen." 577 Döllinger, Staat und Kirche, S. 560. 578 Ebd., S. 555. 579 Döllinger, Über gemischte Ehen, S. 3. 580 Ebd., S. 8/9. 581 Ebd., S. 6/7. 582 Ebd., S. 28/29. 583 Ebd., S. 6.
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ruhig und einträchtig neben einander bestehen, und ihre Berührungspunkte und wechselseitigen Beziehungen jede nach den ihr eigenen Grundsätzen ordnen können." 584 Mitnichten, dies stelle er als Prämisse ausdrücklich voran, fordere er Sonderrechte. Der katholische Klerus habe nirgends ein Recht in Anspruch genommen, „welches er nicht auch dem protestantischen Geistlichen einzuräumen bereit wäre." 585 Angesichts des tagespolitisch aktuellen Ereignisses liefert Döllinger einen Vorschlag für die Praxis. Unter Trennung der Sphären von Staat und Kirche zeigt er Verständnis für die Belange der anderen Konfession bei gleichzeitigem Insistieren auf den Rechten der eigenen. Seine Warnung an den Staat, sich nicht zu vergreifen, beinhaltet, wie auch bereits im Falle Böhmers, den Appell, maßvoll die Rechtsbereiche der Religionsgemeinschaften zu schützen. Eine Utopie freilich enthält die „Stimme zum Frieden" nicht, wie überhaupt Döllingers Ausführungen von allen betrachteten Stellungnahmen zu den vormärzlichen Krisen sich am wenigsten auf Utopien zurückbeziehen, sondern ganz und gar realitätsverbunden auftreten. Das zeugt vielleicht auch schon vom höchst konkreten politischen Interesse desjenigen, der, um wirklich Veränderung zu erreichen, mit den realen Gegebenheiten zurechtkommen muß. Wer sich dagegen auf gelehrte Kommentare beschränkt, kann leichter mit Utopien spielen. Sicher gehören Höfler, Hurter und auch Gfrörer eher zu jenen Utopisten, deren Idealvorstellungen immer aufscheinen hinter ihren Äußerungen zur konkreten Tagespolitik. Die unterschiedlichen Präzisionsgrade und Entwicklungsstadien dieser jeweiligen Ideale wirken sich freilich auf das Denken über die eigene Zeit ebenso aus wie auf dasjenige über die vergangene, zeigen dieses wie jenes begriffen in einem Wachstum aus vielfaltigen Ansätzen. Aber immerhin, die verschiedenen Stoßrichtungen dieses aufkeimenden katholizistisch-konservativen, in der nationalen Frage großdeutsch orientierten Politikverständnisses offenbaren sich schon deutlich: hier die vom Liberalismus kommende neukonservative Position des starken Staates - Gfrörer - , dort - Hurter - der christlich-konservative Protestant unter dem Eindruck der Kölner Wirren unterwegs zu einem ultraorthodoxen Katholizismus; mittendrin, vom alten Reichsbürgerbewußtsein geprägt, Johann Friedrich Böhmer mit seinem germanisch-freiheitlichen Staatsverständnis der Sicherung alten, organisch gewachsenen Rechts. Schließlich: die beiden Katholiken, deren einer, Höfler, historiographisch wie tagespolitisch am konsequentesten den Begriff der Revolution auch auf monarchische Staatsgewalt ausdehnt, deren anderer, Döllinger, konkret gangbare, „realpolitische" Wege erkundet. Aus den fruchtbaren Spannungsverhältnissen der jeweiligen Begriffe von Vergangenheit und Gegenwart, angespornt von zentralen Problemstellungen vormärzlicher Krisen, sucht und formuliert jeder 584 585
Ebd., S. 45. Ebd., S. 5.
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von ihnen Wahrheiten, welche sich, wie immer, auf ihre jeweils eigene Weise der Wahrheit lediglich annähern können. Böhmer übrigens vermochte angesichts des Kölner Ereignisses knapp drei Jahre nach dem ersten Brief an Pfeilschifter durchaus ein Aufbrechen jenes damals konstatierten Juste milieu festzustellen, vermochte auch Diskussionsbeiträge ganz im eigenen Sinne zu vermelden. Gleichwohl blieb sein Pessimismus, ja steigerte sich hinein in dunkle Befürchtungen, nur erklärbar als Angst vor weiterem Ausgreifen jener Staatlichkeit, welche sich nicht bereit fand gemäß Böhmers Vorstellungen - , altes Recht maßvoll zu wahren, sondern willkürlich darüber hinwegschritt. „Denn ich kann", meldete er Ende März 1838 dem Legationsrat, mit Anspielung wohl auf den „Athanasius" des Joseph Görres, „trotz den würdigen Stimmen die hier einmal wieder erklungen sind, und welche einen freilich durch ihre innere Kraft hinreißen könnten, im Hinblick auf die faulen und morschen Massen diesem allen keine größere wirklich eingreifende Wirksamkeit beilegen, als welche es dereinst in vollkommen unberechenbarer Weise durch den Hinzutritt viel profanerer Beweggründe, die denn auch die Hauptrolle spielen werden, erhalten kann. Möge doch die Belebung, welche den Bessergesinnten geworden ist, sie zu keiner Überschätzung ihrer Kräfte verleiten!" 586
2. Negativ und Positiv: Staat, Nation, Gesellschaft, Kirche a) Rückwärtsgewandte Utopie Man stürze sich, so Böhmers Botschaft, angesichts der Realität also nur nicht in Illusionen, - Illusionen hinsichtlich der Umsetzungsmöglichkeiten jener Utopien, die hinter den Geschichtsbildern sowohl als auch hinter den Urteilen über die Krisen der eigenen Zeit stehen. Aber, von Böhmers Warnung einmal abgesehen: wie sahen denn diese Utopien vom besseren Leben, vom besseren Staat aus? In welchen Idealen rundet sich nun der Cursus dieser Denkwege aus Geschichte und Gegenwart? Lautete die Frage im Anschluß an die Betrachtung der Geschichtsbilder, vom Einzelnen ins Allgemeinere gehend, nach den Vorstellungen von Wesen und Sinn der Geschichte als solcher, so fuhrt ein analoger Gedankengang nun von den Auseinandersetzungen mit konkreten Krisen des Vormärz zur Frage nach Wesen und Sinn der Politik. Da diese aber in jener anderen nach der Möglichkeit eines Optimums menschlichen Zusammenlebens gipfelt, und da auf beide hinwiederum kaum Antwort denkbar scheint ohne die Retrospektive kollektiver Erinnerung, ohne die Würdigung von Geschichte also, führen die Denkwege 586
Böhmer an Pfeilschifter, 31.3.1838 (SB Berlin 2, Slg. Darmst. 2 f (1843) 6, Böhmer J.F.).
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über vergangene wie über eigene Zeit in diesem abschließenden, abstraktesten Komplex wieder zusammen und präsentieren als Summe der Betrachtungen aus den Einzelanalysen ein Vademecum oberster Prinzipien jenes katholizistischkonservativen, großdeutschen Geschichts- und Gegenwartsverständnisses. Zweifellos liegt in demonstrativer Rückwendung und in plakativem Antimodernismus ein Hauptcharakteristikum dieses Weltverständniskonglomerats. Nach den Irrungen, Wirrungen der dreißiger Jahre nimmt es während der vierziger, der Jahre unmittelbar vor der neuerlich herausfordernden revolutionären Krise von 1848/49, seine geschlossenste Form an und läßt sich im Rahmen einer Historiographiegeschichte repräsentativ darstellen am Werk jener fünf ausgewählten großdeutschen Geschichtsschreiber der ersten Generation. Notorisch erscheint diese Rückwärtsgewandtheit in Böhmers Bekenntnis zum Reichsbürgertum - zum Bürgertum eines längst untergegangenen Reiches. Auch Hurter labte sich vor allem ja am Exempel des Papstes Innozenz, um einer Bedrohung durch die Kräfte der modernen Welt zu entfliehen, angesichts derer er das Bedürfiiis verspürte, nicht bloß zurückzugehen, sondern zurück zu „gallopiren". 587 „Unsere Zeit ist eben eine große Lüge; sie spricht von Freiheit, Recht, Fortschritt, und der einzige Fortschritt, den sie aufweisen kann, ist derjenige, alles mehr zu knechten und den einen unbeschränktes Recht der Dictatur und der Verläumdung, den anderen in dasjenige sich fügen zu müssen, zu vindiciren." 588 In solchem Lichte mag die Konversion auch als Protesthandlung gelten, als individuelle Möglichkeit, sich dem diagnostizierten Druck moderner „Negation" nicht fügen zu müssen. Hurter deutet diese Option selbst an, wenn er „die Verschwörung der Jacobiner, Doctrinäre, Weisheitskrämer und Bureaukraten aller Länder, ingleichen die Ballbruderschaft zwischen dem Radicalismus und dem Absolutismus" unter die „vornehmsten Beweggründe" seines Übertritts einreiht. 589 b) Das Schreckbild: Vom Radikalismus zum absolutistischen Konstitutionalismus Das Zurück aus der modernen Welt impliziert jedoch nicht gleichzeitig die Forderung nach dem Zurück in eine konkrete vergangene Welt, im Sinne deren identischer Reproduktion. Das Zurück bedeutet zunächst die Stigmatisierung jener modernen als ungeschichtlicher und gewalttätiger Kräfte sowie die Formulierung der eigenen als geschichtlich gewachsener Prinzipien. Geschichtlichkeit beziehungsweise Ungeschicklichkeit von Zuständen, Einrichtungen, Verhältnissen wird zum ersten Legitimationskriterium; auf der Negativseite dagegen
587 588 589
Hurter an Greiffenegg-Wolffurt, 17.5.1840 (UB Freiburg/Brsg., Autogr. 1188). Hurter an dens., 12.5.1843 (UB Freiburg/Brsg., Autogr. 1196). Hurter an dens., 9.11.1844 (UB Freiburg/Brsg., Autogr. 1199).
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versammeln sich all diejenigen Werte, die Umsturz und abrupten Bruch predigen, die anstelle des organisch Gewachsenen das als willkürlich und widerrechtlich empfundene Konstrukt preisen. Der Begriff des „Radicalismus" kennzeichnet in diesem System die vorherrschende Triebkraft der Moderne. „Über alle Begriffe furchtbar" empfindet da beispielsweise Höfler 1845 die Umtriebe in der Schweiz, beklagenswert „die Ruchlosigkeit der Radicalen. Leider dürfte dieser Zustand der Auflösung zuletzt doch nichts anderes seyn, als der Spiegel der Zukunft Deutschlands, wo ganz ähnlichen Dingen mit einer Emsigkeit und Rührigkeit in die Hände gearbeitet wird, die mich schaudern machen." 590 Gut zwei Jahre später sieht er seine Befürchtungen bestätigt, sieht den Feind im eigenen Haus toben. „Ja wir haben innerhalb 6 Wochen eine Probe des Radicalismus gesehen, vor welchem Aargau und Bern sich nicht zu schämen brauchten. Die Camarilla sprengt absichtlich Lügen aller Art aus, um darauf Maßregeln begründen zu können [...]. Alle welche dem Regime nicht gefallen, werden bereits als todt angesehen. [...] Das sind Scenen welche an die Proscriptionen des zweiten Triumvirats erinnern." 591 Umsturz und Auflösung, Willkürherrschaft und Rechtlosigkeit: Höfler schöpft das inhaltliche Spektrum des konservativen Radikalismusbegrififes voll aus. Verlängerter Arm nur, Lieblingsinstrument des Radikalismus ist die Revolution. „Umsturz göttlicher Ordnung in Kirche und Staat", erziehe sie „durch Rohheit zur Rohheit." 592 Beide, Radikalismus wie Revolution, entwuchsen dem geistigen Nährboden der „materialistischen Philosophie" des achtzehnten Jahrhunderts. 593 Johann Friedrich Böhmer stellt diesen Zusammenhang in seiner Aufzeichnung zum Thema „Verfall der Religion und Kirche seit 1750" her. „Der mächtigste protestantische Fürst Deutschlands verspottete aus dem Kreise voltairischer Freundschaften die Religion und um so übler war sein Einfluß, je mehr ihn sonstige großartige Eigenschaften auszeichneten". - Kant „trat auf und sprach [...] von Kritik. Wenig um die Religion bekümmert fing man mit dem Satze an, daß alles bisherige unhaltbar sei, und beschäftigte sich mit dem Aufsuchen neuer Grundlagen. - Wie das Gebäude der Staaten und der Kirchen während dem Laufe des 18ten Jahrhunderts mehr und mehr untergraben wurde, hat man weniger damals bemerkt, sondern vielmehr erst dann, als im französischen Staat zuerst der Ruin ausbrach, des Königs geheiligtes Blut unter Mörderhänden flöß und dann nach Strömen von Blut, nach abwechselndem Unheil
590
Höfler an Hurter, 17.1.1845 (Samen, NL Hurter). Höfler an dens., 25.4.1847 (Samen, NL Hurter). 592 Hurter, GuW I, S. 28 und Π, S. 52. Höfler vertieft diese Ansicht in einem Artikel der HPB11, worin er als Ergebnis der Revolutionen seit 1789 das Schauerbild eines moralisch und sittlich vollkommen degenerierten Frankreich zeichnet. Constantin Höfler: Frankreich und die Revolution, in: HPB11 7 (1841), S. 431-448. 593 Höfler, Frankreich und die Revolution, S. 440. 591
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jeder Art ein kräftiger, aber gottloser Mensch die Revolution in sich versammelte und hinwieder über die Fläche von ganz Europa verbreitete. Da starben die gealterten Staaten und aus ihren Leichnamen wurden wenigere neue erbaut." 594 Selbst Gfrörer läuft nach vielen Stürmen in jenen antiaufklärerischen Hafen ein, wenn er in der Grundrechtsdebatte der Paulskirche am 29. August 1848 gegen den „Geist Voltaire's und seiner Genossen" vom Leder zieht, ja weiß gar „allgemeine Heiterkeit" auszulösen mit der Bemerkung, im vorigen Jahrhundert habe „ein großer König französische Starkgeisterei eingeführt, weil er dadurch die Gunst der Studirten zu gewinnen hoffte, was ihm auch gelang. Seitdem werden wir von Berlin aus in die sogenannte Vernunftreligion hineinexercirt." 595 Unter wiederholtem Bezug auf König Friedrich II. von Preußen als dem prominentesten Exempel kehrt sich die Spitze der Argumentation gegen die Hybris des Individuums, sich selbst per Vernunft zum Absolutum zu setzen. Mit dem Geist des Rationalismus verteufelt sie gleichzeitig dessen Regulativ, den Skeptizismus. Wie im Bereich des Nachdenkens über Wissenschaft 596 trifft beide Prinzipien auch in ihrer Anwendung auf Politik jener Vorwurf, das Sinnzentrum zu zerstören, um einer Freiheit Vorschub zu leisten, die nur Scheinfreiheit sei. Freiheit ohne die Akzeptanz überindividueller Bindungen, Ordnungen, bleibt undenkbar. Neben der üblichen Rückbindung solcher Begrifflichkeit von „Freiheit" an Gott liegt in Böhmers Hochschätzung der „germanischen Freiheit" diese Einschätzung anders akzentuiert, doch nicht weniger sinnfällig beschlossen: Freiheit gleich garantiertes Recht, Freiheit gleich Ordnung. Unbeschränkte Freiheit als Conclusio aus den Verheißungen der Vernunftreligion kann demnach keinen Anklang finden, ebenso wenig wie jene gleichfalls von dorther abgeleiteten Grundsätze, auf denen der aufgeklärte Radikalismus qua Revolution schließlich menschliches Zusammenleben organisiere, seinen Staat baue. So qualifiziert Hurter Forderungen nach allgemeinen Menschenrechten kurzweg als „Gefasel" 597 ab, deren Versicherungen, wie auch sonstige Beteuerungen von „Freiheit, Gesetzmäßigkeit, freyer Meinungsäusserung" gerade soviel Realität und so viel Wert hätten, „als der sogenannte Hurenarrest." 598 Die Gleichheit der Revolutionäre sei nichts als Gleichmacherei, Nivellement,
594
Böhmer, Verfall der Religion und Kirche seit 1750 (s. Anm. 381). August Friedrich Gfrörer: [Rede vom 29. August 1848], in: Franz Wigard (Hg.): Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Bd. Π (1848, N D 1988), S. 1783-1786, hier S. 1785. 596 S. o. S. 243-247. 597 Hurter, GuWI, S. 82. 598 Hurter an Greififenegg-Wolfiurt, 28.1.1844 (UB Freiburg/Brsg., Autogr. 1197). 595
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„Niedertreten in den gleichen Schlamm", 599 die Forderung nach Toleranz nur eine Worthülse, hinter der nackter Hochmut hervorgrinse. 600 Deren Inkarnation - die Pressefreiheit - wirke wie eine „Pestilenz"; nur die Einführung chinesischer Schriftzeichen könnte vielleicht ein wirksames Gegengift bieten: „Welche Zeit würde nicht zum Schreiben, Setzen, Lesen erfordert; welcher Umfang für die großen französischen Blätter, und vollends für die englischen Zeitungsmonstra!" 601 - Freilich erklimmt Hurter mit solchen Kommentaren einmal wieder den Gipfel reaktionärer Polemik, demgegenüber gerade hier an die relativ hohe Spektralbreite katholizistisch-konservativer Gedankenwelt insgesamt Erinnerung geboten scheint. Gfrörer auf der anderen Seite nämlich, seiner Paulskirchentirade gegen die Vernunftreligion des achtzehnten Jahrhunderts zum Trotz, denkt gar nicht daran, die Forderung nach allgemeinen Menschenrechten fallenzulassen, ja gesteht solche Rechte im ersten Band der „Carolinger" sogar dem Klerus des neunten Jahrhunderts bereitwillig zu! 6 0 2 Cum grano salis aber gibt die Hurtersche Polemik die prinzipielle Stoßrichtung des allgemein-politischen Denkens, wie es sich in der ersten Generation großdeutscher Historiker im Laufe der vierziger Jahre ausprägte, durchaus korrekt wieder. Mögen auch die Urteile über Grund- und Menschenrechte differieren, so herrscht weitgehende Einigkeit doch in der Ablehnung radikalistisch-revolutionärer Folgerungen hinsichtlich der Organisation staatlicher Gebilde. Selbst Gfrörer war ja auf diesem Gebiete von seinen früheren liberalkonstitutionalistischen Maßstäben der „Geschichte unserer Tage" bald abgerückt, hatte in der „Tiare", in der ersten Auflage des „Gustav Adolph" bereits, sein Modell des starken Staates präsentiert. „Einheit und Kraft der Staatsgewalt oder der Krone [...] ist das notwendigste und nützlichste Ding." 6 0 3 Interessant, wie sich korrespondierend dazu im Überblick die Entwicklung seiner ursprünglichen Forderung nach Begrenzung staatlicher Gewalt zeigt. Dienten in der „Geschichte unserer Tage" noch parlamentarische Kammern diesem Zweck, genügte in der „Tiare" die preußische Staatsräson - sprich Rücksichtnahme auf die Landwehr sowie Einrichtung öffentlicher Geschworenengerichte - als Kontrollinstanz, so trat in den „Carolingern" ein nebulös-widersprüchlicher Begriff von „ständischer Mitbestimmung" auf, der sich bei genauerem Hinsehen in erster Linie als das Modell einer Regulierung weltlicher Macht durch „geistliche Stände" oder - aktualisierter - durch die Kirche entpuppte. Selbstverständlich bleibt in Gfrörers Wertschätzung die Forderung nach Einheit des starken Staates dominant, bleibt die Kontrollfunktion der Kirche dem Staate
599 600 601 602 603
Hurter, GuW II, S. 621. Ebd. II, S. 436/437. Ebd. Π, S. 608. Gfrörer, Carolinger I, S. 84. Gfrörer, Gustav Adolph, 1. Aufl., Vorrede, S. XX.
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gegenüber relativ schwach akzentuiert. Diese Gewichtung stellt ihn ja gerade auf die linke Seite des Spektrums. Von Konstitutionalismus im liberalen Verständnis spricht jedoch auch er in den vierziger Jahren nicht mehr. Zugegebenermaßen deutlicher als der unstete Gfrörer motivieren Böhmer, Hurter und Döllinger ihre Ablehnung radikalistisch-revolutionären Staatsverständnisses aus prinzipiellen Erwägungen. Wo Gfrörer seinen Konstitutionalismus zugunsten der Vorstellung eines starken Staates reduziert, sehen sie hinter diesem Konstitutionalismus jene so verteufelten Werte der Vernunftreligion wirken, bestrebt, neue Staatlichkeit zu konstruieren, ohne das Hergebrachte zu achten. Wo Gfrörer seinen starken Staat historiographisch zurückbindet an die Idee eines reformierbaren Alten Reiches, setzen sie als Triebkraft solcher Rückbildung den Gedanken des lebendigen Organismus. Hier wie dort heißt das Zauberwort erneut: „Geschichtlichkeit". Für das „neue constitutionelle Wesen", so Böhmer, sei er wenig eingenommen. „Auch die Constitutionseide gefallen mir nicht, in deren Folge man nicht mehr recht weiß, wer der Herr ist: der König oder irgend ein unbestimmter Herr Niemand." 604 Aber der eigentliche Kern seiner Abneigung lag doch - das hatte er 1832 ein für allemal dargelegt - in der Unvereinbarkeit seines Ideals der germanischen Freiheit mit dem „seit dem rheinischen Bund durch die Franzosen eingeführten Souveränetäts- und nicht minder dem später eben demselben nachgeahmten constitutionellen Recht." 605 Widerstrebte Böhmer an ersterem, „daß die neuen Souveraine durch die bisherigen Reichsgesetze nicht mehr gebunden seyn, sondern vielmehr ihre Länder und Unterthanen en toute souverainité et propriété besitzen sollen", bemängelte er am „s. g. constitutionellen Staatsrecht", dieses unterscheide sich von der napoleonischen Souveränität der Rheinbundfürsten nur dadurch, „daß es die hauptsächlichsten dieser Souveränetätsrechte nicht dem Regenten, sondern der Majorität der durch Stimmenmehrheit der einzelnen Wahlberechtigten (oder vielmehr derjenigen unter diesen, welche wirklich stimmen) erwählten, so betitelten Volksrepräsentanten, welche Niemanden verantwortlich sind", beimesse. Verglichen mit den Grundsätzen der germanischen Freiheit erkenne man alsbald, wie in deren Rahmen Ordnungen zwar wohl vorgeschrieben, Landesbräuche festgestellt, politische Rechte verglichen werden konnten, aber „ein willkürlich über wohlerworbene Rechte der Einzelnen und das alte Herkommen verfügendes Gesetzgebungsrecht gar Niemanden zugestanden war." 6 0 6
604
Böhmer an G. Struckmann, 1. 3. 1838 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefen, S. 260/61). 605 Böhmer, Das Zollwesen in Deutschland, S. 43. 606 Alles ebd., S. 44/45.
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Nicht den liberal-parlamentarischen Konstitutionalismus allein weist Böhmer also zurück. Dieser erscheint vielmehr nur als Variante eines fürstlichen Absolutismus, den ebenfalls die Französische Revolution in ihrer Verlängerung durch Napoleon in das Gebiet des Alten Reiches hineingetragen habe. Rheinbundfürstentum und konstitutionell eingehegtem Fürstentum haftet demzufolge dieselbe negative Potenz an: beide verfügten über willkürliche Souveränitätsrechte, die durch keinerlei Tradition und Herkommen legitimiert seien. Hier setze der Fürst Recht qua Macht, dort qua Herrschaftsvertrag „die Majorität der durch Stimmenmehrheit [...] erwählten [...] Volksrepräsentanten" - beides nur Kehrseiten einer Medaille. Dem ablehnend konnotierten konstitutionellen Staat rückt so, nicht minder ablehnend konnotiert, der absolutistische zur Seite. Böhmer entwickelt beide als Folgen der Französischen Revolution, wobei er im Falle des letzteren entschieden zu kurz greift, wohl absichtlich. Seine historiographischen Kommentare zum Prozeß der Ausbildung moderner Territorialfürstentümer in Deutschland sowie zu dessen Konsequenzen für die Ordnung des Alten Reiches beweisen ja zur Genüge, daß ihm das Phänomen eines partikularfürstlichen Absolutismus aus Zeitläuften vor der großen Revolution hinlänglich bekannt und nicht weniger zuwider war. Beides jedoch auf die Revolution zurückzubeziehen, erhöhte selbstverständlich in der aktuellen politischen Debatte deren Negativwert noch mehr, und das war ja nur zu wünschen. Daß freilich die Spitzkehre gegen den fürstlichen Absolutismus konservativem Denken mitunter auch Schwierigkeiten bereiten konnte, klang in Friedrich Emanuel Hurters Auseinandersetzung mit der Vorstellung einer Revolution von oben bereits an. Erst im Zuge der Konfessionalisierung seines Denkens hatte sich Hurter diese Begrifflichkeit eigentlich erschlossen. Auf dem Weg dorthin weisen seine Reflexionen „Über Absolutismus" im „Ausflug nach Wien und Preßburg" schon in Richtung dieser letzten Konsequenz katholizistisch-konservativen Staatsverständnisses, lassen gleichwohl aber Hurters Probleme damit noch deutlich durchscheinen. „Was aber ist ein Absolutist?" lautet seine Frage. Antwort: „doch wohl kein anderer, als ein Solcher, der da lehrt: daß alles besondere Leben in seiner socialen Beziehung Ausfluß irgend einer obersten menschlichen Gewalt seye, und wieder in solche aufgehen müsse." 607 In der Spezifikation dieses Obersatzes folgen die bekannten Akzidentien des Radikalen, des Revolutionärs. Alle diejenigen seien Absolutisten, „welche den göttlichen Ursprung und somit die unantastbare Heiligkeit des Eigenthums" nicht anerkennen, welche „sich anmaßen, zwischen Alles, was von Natur ausserhalb ihres Bereiches läge, hineinzufahren [...], welche jedes historische Recht zur bloßen fictio juris machen, die mithin schwinden müsse, sobald das vermeinte Licht der heilern Einsicht sich verbreite, wonach zuletzt folgerichtig auch Thron und Legitimität [...] zur fictio juris gemacht werden kann." Unausgesprochen zwar,
607
Hurter, Ausflug nach Wien und Preßburg I, S. 328/329 [Hervorhebung, Th. B.].
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doch kaum übersehbar ergibt sich bereits aus dieser Definition: auch der Absolutist ist nichts anderes, als ein Radikaler, ein Revolutionär! Ganz im Sinne Böhmers schließt Hurter den nächsten Schritt an. Der Absolutismus sei vollkommen der gleiche, „ob er ein car tel est nostre bon plaisir, oder irgend ein staatsrechtliches Philosophem, oder das Undefinirbare, nirgends in concreter Gestalt erscheinende, unter dem Einfluß der Meinungen und Neigungen stets wechselnde Volkswohl als Baal aufstelle, dem er Freiheiten, Rechte, Befugnisse, Eigenthum und was auf seinem Daherstürmen ihm in den Weg tritt, niederwirft und als Opfer abschlachtet."608 Fast bedauernd aber fügt er hinzu, man könne freilich nicht leugnen, „daß der Absolutismus von den Thronen ausgegangen seye, in Frankreich schon unter Richelieu seinen Ursprung genommen und hierauf anderwärts Nachahmung gefunden habe." Vor allem - und da deutet sich die Richtung an, in der Hurter weiterdenken wird - gegen die Kirche, diejenige Institution, in welcher sich am meisten selbständiges Leben regte, habe dieser fürstliche Absolutismus seine Waffen gekehrt. 609 Noch war aber die Konfessionalisierung der Gedankenwelt Hurters so weit nicht gediehen, als daß er hier bereits in jenes Lamento gegen die Revolution von oben hätte verfallen können, welches er nachher in „Geburt und Wiedergeburt" anstimmte. 610 Im „Ausflug nach Wien und Preßburg" dominiert noch seine ältere „politische Orthodoxie" und deren Neigung, Radikalismus dort zu verdammen, wo er von unten, dort schönzureden, wo er von oben kommt. So liege „das Joch des Absolutismus" am schlimmsten auf demjenigen Fürsten, der unter eine Repräsentativ-Verfassung gebeugt worden seye." Denn, „während jeder andere Besitzer [...] sein Eigenthum noch vel quasi von Gott und Rechtswegen besitzt [...], muß nun derjenige, der sonst der Mächtigste und Begütertste und Angesehenste im Lande war, sich jährlich oder wenigstens periodisch, seine Besoldung von solchen anweisen lassen, die eigentlich [...] gar nichts dazu beitragen." 611 Unterscheide man auf diese Weise zwischen einem individuellen Absolutismus und einem kollektiven, und stellte man ihn, Hurter, vor die Wahl zwischen beiden, entschiede er sich unbedingt für die erstere Variante, könnte er doch bei einem einzelnen Despoten im Gegensatz zu einem despotischen Kollektiv wenigstens mit Momenten der Menschlichkeit rechnen. 612 In abschließender Klassifikation schreibt er beiden Spielarten des Absolutismus erneut die gleiche Wirkung - die Zerstörung des „natürlich gegliederten Staates" - zu, beharrt gleichwohl jedoch auf der Bewertung des
608 609 610 611 612
Ebd. I, S. 330. Ebd. I, S. 332. S. o. S. 313/314. Hurter, Ausflug nach Wien und Preßburg I, S. 333/334. Ebd. I, S. 337/338.
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kollektiven Absolutismus als der schlimmeren, der eigentlich „radikalen" Form. 613 Stimmt Hurter also in der Analyse von 1839 zwar ganz mit Böhmer überein, so weicht er in der Wertung doch noch von diesem ab. Wo Böhmer allein von seinem „Rechtsstandpunkt" aus die prinzipiell revolutionäre Gleichartigkeit des individuell-fürstlichen und des konstitutionell-kollektivistischen Absolutismus folgert, bedarf es im Falle Hurters erst des Katholisierungsprozesses, um 1844 bei ähnlicher Beurteilung anzukommen.614 Ein weiteres Mal weisen solche Zusammenhänge zurück auf die unterschiedlichen Fixpunkte dieses konservativen Denkens der vierziger Jahre. Bildeten und bildet Recht und Staat den Mittelpunkt der Reflexionen Böhmers, rückt für Hurter mehr und mehr die katholische Kirche in den Rang des alleinigen Urteilsmaßstabes. Unterschiedliche Ausgangspunkte, einander sich annähernde, bald identische Wertungen - Nuancenreichtum. Allgemein gilt: Absolutismus in individualistischer wie kollektivistischer Form bleibt abzulehnen. Beide Varianten entspringen radikalistisch-revolutionären Wurzeln, setzen Mechanismus anstelle von Organismus, Statik anstelle von Entwicklung, punktuelles Jetzt anstelle von Geschichte. - Geschichte als Legitimationskriterium! „Ich sage, da Staaten keine Maschinen sind, so darf nicht Willkür sie zusammensetzen, sondern als Organismen bestehen sie aus historisch gewachsenen Gliedern." 615 Die „französische Staatsumwälzung" habe dagegen, so Döllinger, als wolle er dieser Ansicht das Paradebeispiel hinzufügen, „die Chimäre eines abstrakten, über jede historische Entwickelung und jedes Privatrecht hinwegschreitenden Staates zutage gefordert." Dieser Wahn habe sich schnell des größten Teiles der französischen Nation bemächtigt und habe der begonnenen politischen Bewegung 613
Ebd. I, S. 339: „Der Absolutismus - dessen formelle Gegensätze Despotismus und Jacobinismus sind, dieser mit allen seinen Abarten und Fractionen, - zerstört den natürlich gegliederten Staat, die auf einer tiefem Basis ruhenden Verhältnisse, unter der einen Modalität des persönlichen Vortheils wegen, unter der andern einer Idee zu lieb. In der letztem und der nur etwas verschiedenen Form, dem Radicalismus, aber ist er, was der Hagelschlag für die Flur: so kalt, so eisig, so alles niederschmetternd, so nicht bloß die Frucht, sondern selbst den Keim der Fruchtbarkeit zerstörend, daß wohl unter den Calamitäten, die über ein Land ergehen können, keine von so nachtheiliger Wirkung ist." 614 Vgl. zusätzlich zu den Ausführungen o. S. 313/314 etwa noch Hurter, GuW II, S. 348. Hier kehrt sich Hurters Zorn gegen den „Machtrausch, der kein Gesetz über sich anerkennt", mit deutlichem Bezug auf die absolutistischen Fürsten des achtzehnten Jahrhunderts. Auslöser dieses Zorns ist, wie fast immer, das Vorgehen gegen die Kirche. 615 Böhmer an Passavant, 8.8.1822 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 107). Jenes war Böhmers staatstheoretisches Credo, am Anfang wie am Ende seiner Laufbahn; vgl. Böhmer an Ficker, 29.6.1860: der Staat sei „kein Organismus mehr, sondern nur noch ein bureaukratischer Mechanismus." (Ebd. ΠΙ, S. 339).
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erst ihren zerstörenden Charakter verliehen. „Mit Schrecken mußte man damals wahrnehmen, wie auch im übrigen Europa die Gesinnung bereits getrübt und demoralisirt war, und wie Tausende den Thaten der Revolution selbst dann noch Beifall zujauchzten, als sich bereits ihre wilde, schonunglose und blutdürstige Natur zu enthüllen begann." 616 c) Die konservative Antwort: Rückkehr zu den richtigen Prinzipien auf Basis der Gerechtigkeit Welche Utopie, welches Ideal wäre diesem Schreckbild entgegenzusetzen? Auf welchem Wege wäre davon etwas zu erreichen? Bedürfte es eines Schlagwortes, das die programmatische Gegnerschaft gegen Radicalismus und Revolution signalisierte, allein „Konservativismus" käme in Betracht. Freilich, hätte Hurter ergänzt, Schindluder werde mit diesem Begriff getrieben. „Wie man vor 60 Jahren das Gmünder-Silber auch Silber nannte, so versaut man jetzt die Namen Conservati ver, Aristokrat, und verschwendet sie an jeden Roßbuben der nur für einen Augenblick von seinen Kameraden weg auf die Seite sich begiebt." 617 Gleichwohl, „conservative Grundsätze" können und müssen dem zerstörerischen Radicalismus entgegentreten. „Denen, welche Bestehendes erhalten, vertheidigen, tritt etwas Bestimmtes, Gegebenes, Abgeschlossenes vor Augen; dieses legt ihnen Maaß, Ziel und Vorschrift auf; es wird ihnen zur Autorität, von welcher Gesetz und Ordnung ausgeht, welche die zerstreuten Kräfte nicht blos sammelt, sondern einigt und bindet und leitet, zugleich aber auf diejenigen Mittel sie beschränkt, welche dem Zweck angemessen sind und sich durch diesen selbst rechtfertigen." 618 In der Natur der Sache liege dabei leider, daß sich die größere Rührigkeit immer auf Seiten der Umstürzler finde. Diese bittere Erfahrung schien Höfler mit Hurter zu teilen; zumindest sah er 1847 in Bayern dem auftrumpfenden Radicalismus nur einen „hinkenden Conservativismus" gegenüberstehen. 619 Wie auch immer: analog zur Revolution als dem politischen Instrument des Radikalen, versuche der Konservative im Gegenzug auf der Flöte der Restauration zu blasen. Restauration wiederum sei nichts anderes als Rückkehr zu den richtigen Prinzipien auf Basis der Gerechtigkeit. 620 Welches sind nun aber die ,»richtigen Principien", im Gegensatz zu den verderblichen der Vernunftreligion
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Döllinger, Irrthum, Zweifel und Wahrheit, S. 10. Hurter an Greiffenegg-Wolffurt, 21.12.1842 (UB Freiburg/Brsg. Autogr. 1194). 618 Hurter, GuW I, S. 228 und 598/599. 619 Höfler an Hurter, 28.6.1847 (Samen, NL Hurter). 620 Hurter, GuW I, S. 93: „Mein Zweck war aber, darzuthun, wie von Restaurationen nur da könne gesprochen werden, wo eine Rückkehr zu den richtigen Principien sich zeige, wo die Gerechtigkeit deren Grundlage bilde." 617
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des achtzehnten Jahrhunderts? Hurter, nach seiner Konversion ganz auf dem Boden orthodox-katholischer Lehre, rekurriert in diesem Zusammenhang erneut auf „Toleranz" und „Gleichheit". Völlig konträr zum Wortgebrauch der aufgeklärten Revolutionäre entwickelt er beide Begriffe aus dem Verhältnis des Menschen zum Schöpfer Gott. Toleranz erscheint als „Frucht der Gnade, die Gott dem Demüthigen gibt." Sie äußere sich in der Fähigkeit, zuinnerst überzeugt ein von Gott Gegebenes anzuerkennen, mit Freude zu erfassen und in unentwegter Festigkeit sich anzueignen.621 In solcher Ausrichtung besteht dann auch „Gleichheit" in der Gleichheit der Geschöpfe vor ihrem Schöpfer. So sehr diese Position den Appell an die Niedriggeborenen enthält, sich mit derartiger Gleichheit zu begnügen, sich ansonsten aber in ihr Schicksal zu fügen und irdischere Gleichheit nicht zu begehren, impliziert sie auch die Mahnung an die Hochwohlgeborenen, sich nicht im vermeintlichen Adel der Geburt zu sonnen, sondern eben dieser Gleichheit aller vor dem Herrn der Ewigkeit beständig zu gedenken. Auch daraus spricht Hurters neuerworbene „kirchliche Orthodoxie", daß er nicht unter Vertröstung auf dereinstige himmlische Gleichheit die irdische Ordnung der Verschiedenheit nackt und zynisch einfach legitimiert. Korrespondierend zur „wahren" Gleichheit existiere eben auch die „wahre" Verschiedenheit, welche jedoch nicht durch hohe oder niedrige Geburt entstehe, sondern - wie eine Anekdote aus dem Leben Ludwigs XV. zu demonstrieren hilft durch „Tugend". 622 Freilich verblassen solche Distinktionen zu dürrer Theorie, wenn Hurter, real-politisch sehr viel relevanter, die Schäflein trotz allem ermahnt, die wahre Gleichheit als „von Gott ausgehend" anzuerkennen, sie zu leben und zu verkünden, dadurch aber die gesellschaftliche Ordnung zu erhalten und zu festigen sowie die „Gemüther mit frommer Ergebung in höhere Fügung, mit heiterer Ruhe und Zufriedenheit" zu durchdringen. 623 Rückkehr zu den richtigen Prinzipien auf Basis der Gerechtigkeit: Gerechtigkeit als ein Handeln gemäß einer ganz spezifischen Auffassung von Recht bildet den innersten Kern dieses katholizistisch-konservativen Welt- und Geschichtsverständnisses. Hier treffen sich alle Vertreter dieser Richtung, hier treffen sich jene fünf Historiker, deren Schaffen die Voraussetzungen eines großdeutschen Geschichtsverständnisses bereitet. Der Rechtsgedanke begegnete als Urteilsgrund in den historiographischen Grundurteilen, in Höflers Tyrannenstudie, in
621
Ebd. II, S. 437. Ebd. Π, S. 617/618. Ludwig XV. habe nämlich seine Söhne „in die Taufregister seiner Pfarrkirche, mitten unter alle andern Neugebomen [...] einschreiben lassen, und sie bisweilen hieran erinnert: ,Da stehen4, sagte er zu ihnen,,euere Namen, untermischt unter diejenigen alles Volkes. Hieraus mögt ihr lernen, daß der Vorrang, dessen ihr geniesset, nicht an euere Natur sich knüpfe, denn dieser gemäß sind alle Menschen gleich. Eine wahre Verschiedenheit wird nur durch Tugend begründet.' " 623 Ebd. Π, S. 617. 622
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Böhmers Untersuchungen zu den Reichsgesetzen; er begegnete im Denken über den Sinn von Geschichte, über die Aufgaben von Geschichte als Wissenschaft; er begegnete in den Stellungnahmen zu den aktuell-politischen vormärzlichen Krisen, in den Versuchen etwa, die Rechtssphären Staat und Kirche aufeinander zu beziehen und voneinander abzugrenzen - und er begegnet als Basis jener konservativen, rückwärtsgewandten Utopie eines besseren Staates, besten Staates vielleicht gar. Recht stellt sich diesem Verständnis nicht als Legalismus im Sinne der Paragraphen eines beliebig zu erlassenden und anwendbaren Code Napoléon dar. Recht ist individuell. Nichts sei „gefahrlicher und geeigneter [...], die Nationalität eines Volkes zu brechen, als wenn man dem selben fremde Gesetze aufdränge. [...] Unsere Geschichte zeigt an mehr als einem Beispiele, welche Wirkungen gewaltsame Einführung fremden Rechts [...] auf den Nationalcharakter hervorbringt." 624 Recht ist historisch gewachsen und uralt kodifiziert. Gerade der „tausendjährige Rechtszustand"625 des Alten Reiches, gerade dessen Geschichtlichkeit, solle die Grundlage bilden für neues und zukünftiges Recht, für neues Urteilen und Handeln. Rechtsgefühl und Geschichtsstudium identifizieren dieses Recht, ermöglichen „die Anerkennung des unbestrittenen Besitzstandes und [...] die Beachtung des tatsächlich Überkommenen." 626 Diese Handlungsmaxime gelte für den Einzelnen ebenso wie für die übergeordnete Institution des Staates, für den Bürger wie für den Fürsten. Umsturz des Rechts ist Revolution, von oben wie von unten. „Das Dauernde aller menschlichen Anordnungen" könne „allein auf Recht, und vereinte Vertretung des Rechtes [...] gegründet seyn." 627 Demgemäß bilden Recht und Gerechtigkeit „Grundpfeiler der menschlichen Gesellschaft." 628 Vor allem zwei gesellschaftliche Gruppierungen rücken in den Rang besonderer Vertreter des Rechts, in die Rolle von Garanten der Gerechtigkeit dem institutionalisierten Staat gegenüber: Adel und Kirche. 629 Zugehörigkeit zum Adel definiert sich dabei jedoch nicht ausschließlich durch Geburt: eine Auffassung, welche bemerkenswerterweise die sonst so konträren Standpunkte Hurters und Gfrörers verbindet. Wenn freilich erblicher Reichtum, erbliche Macht 6 3 0 Adelig-
624 Gfrörer, Carolinger I, S. 439; vgl. ebd. Π, S. 17: das römische Recht verwandle „alle Einwohner eines Landes in eine gleichförmige Heerde von Unterthanen." 625 Böhmer, Regesta Karolorum, Vorrede, S. VII. 626 Böhmer, Katholische Stiftung für deutsche Geschichte (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 413). 627 Döllinger, Staat und Kirche, S. 560. 628 Hurter, GuW I, S. 83. 629 Hurter an Greififenegg-Wolffurt, 8.6. 1840 (UB Freiburg/Brsg., Autogr. 1189): Adel und Kirche, „die Eckpfeiler der Gesellschaft." 630 Gfrörer, Gustav Adolph, 1. Aufl., Vorrede, S. X X / X X I .
22 Brechenmacher
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keit bedingen, so muß doch eine weitere Eigenschaft hinzutreten, um den Adel zu läutern, überzufuhren in die Kategorie des Aristokratischen. Leistung erst, die seiner äußeren Stellung entspricht, oder anders ausgedrückt, Engagement im Sinne der Wahrung des Rechts, wo notwendig, wandelt den Adeligen zum „Besten", zum Aristokraten. Der „wahre Begriff des Adels" fließt nach Gfrörers Worten - welche stark an die Ausführungen Hurters über die „wahre Verschiedenheit" erinnern - aus den „erblichen Tugenden" und beweist sich staatspolitisch vor allem in der Solidarität mit dem rechtmäßigen und rechtsgemäß regierenden Herrscher. 631 „Die ächte Aristokratie", hätte Hurter, unter stärkerem Bezug auf den Gedanken der Rechtssicherung, hinzufügen können, habe er sich zu aller Zeit so gedacht: „als unzertrennliche Verbindung des äussern Vorrangs und behaupteter Würde mit aufmerksamer Berücksichtigung aller Rechtsverhältnisse, mit freundlichem Entgegenkommen gegen Jedermann, mit uneigennütziger Dienstbarkeit, mit liebreichem Wesen bei allen Verkommenheiten, mit Wohlwollen nicht blos gegen Gleichgestellte, sondern auch gegen Andere; dieses Alles betrachtete ich als unentbehrliche Folie, um jene erst in das wahre Licht zu setzen." 632 Daß von diesem Ansatz her Adel beziehungsweise Aristokratie immer wieder auch mit Geschichte und Geschichtsbewußtsein in Verbindung gebracht wird, liegt nahe. In wessen Verantwortungsbereich Rechtswahrung liegt, der muß, wenn Geschichte über Recht Auskunft erteilt, diese selbst kennen, pflegen, betreiben. Augenfällig fügt sich Böhmers Konzept der Geschichte als „adeliger" Wissenschaft, als Wissenschaft also, der nachzugehen auch und gerade dem Adel zieme, hier ein. 633 Ähnlich gelagerte Vorstellungen fruchtbarer Interaktion bewegten auch Gfrörer. Als er 1852 noch, auf der Suche nach neuen Betätigungsfeldern, das Modell einer Aktiengesellschaft für deutsche Geschichte entwarf, mit dem Ziel, den „öffentlichen Geist" in Deutschland zu beeinflussen, baute er diesen Plan auf die Basis einer Zusammenarbeit von Aristokratie und Geschichtswissenschaft. Vereinte Anstrengungen, so hoffte er, könnten einen „Umschwung" jenes öffentlichen Geistes herbeiführen und zu neuer Entfaltung nationaler Größe nach der Katastrophe von 1848/49 beitragen. 634 Kaum längerer als zusammenfassender Ausführungen bedarf es noch über die Rolle des zweiten Eckpfeilers der Gesellschaft, des zweiten Garanten der Rechtswahrung dem Staate gegenüber, über die Rolle der Kirche. Grundsätzlich beharrt katholisches und katholizistisches Denken auf der Forderung nach
631
Ebd., S. XXI. Hurter, GuW I, S. 334/335. 633 Eine explizite Aufforderung an den Adel, sich geschichtswissenschaftlich zu engagieren, enthält Böhmers Vorrede zu Additamentum primum, S. VII. 634 Gfrörer an Friedrich Wilhelm von Schulte, 28.7.1852 mit beiliegendem „Prospekt s " (BSB, Schulteana 21,30). 632
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Freiheit der Kirche gegenüber weltlicher Macht. Primat des Staatlichen über das Kirchliche kann es nicht anerkennen, und schon historiographische Bemühungen, solchen Primat aus der Geschichte herzuleiten, beantwortet es mit dem Versuch, das Gegenteil zu rechtfertigen. 635 Bestenfalls kann dieses Denken beide Sphären strikt trennen, mit dem Hinweis, ein Jeder möge bei seinem Leisten bleiben, der Staat der Kirche, die Kirche dem Staat nicht hineinreden so beobachtet teils bei Gfrörer, teils bei Döllinger. In der Regel fordert es die Kirche auf, für die Unverletzlichkeit ihrer althergebrachten Rechte zu kämpfen, Rechtswahrung also streitbar zu praktizieren, oder verlangt umgekehrt - so vor allem beobachtet im Falle des Böhmerschen Denkens vom Staat her - von der weltlichen Gewalt, diesen Anspruch auf Rechtswahrung zu akzeptieren. In seiner extremsten Form schließlich, der Hurter sich zunehmend verpflichtet fühlte, proklamiert es den Primat der Kirche über den Staat, mindestens jedoch weitgreifende kirchliche Befugnisse etwa in den Bereichen Unterricht und Kultus. 636 Getarnt, doch unschwer zu entlarven, steckt diese Position in jener lammfrommen Parole, der wahre Gehorsam gegen die Kirche sei „die unzerstörliche Wurzel des Gehorsams gegen den Staat"; 637 anders gewendet: die Kirche entscheide letztlich, wann Gehorsam gegenüber der weltlichen Macht angebracht sei und wann nicht. Freilich besteht in solchem Lichte die Gefahr größten Realitätsverlustes, größter Idealisierung. Da muß letztendlich die Kirche tatsächlich als Hort einziger und größter Freiheit erscheinen, m u ß „Innocenz III." - Geschichte sich bedrohlich nahe am Rande der Apologetik bewegen. Welche Ausmaße der Realitätsverlust in den Urteilen Hurters schließlich annahm, belegt schlagend seine Einlassung über die „wahre" Gleichheit „des Weges und des Zieles" in den Armen der heiligen Mutter Ecclesia. Der Sprößling des Fürstenhauses, nötigt er sich zu glauben, habe in deren Dienst kein größeres Anrecht auf die erhabenste Stufe in der Kirche als das Kind des armen Taglöhners; in ihren obersten Rat berufe sie neben Königssöhnen diejenigen des schlichten Landmannes; auf ihre Bischofsstühle setze sie den vormaligen Schüler, dem in seiner Jugend die Caritas um Gottes Willen das tägliche Brot reichte, während sie in die ärmliche Kapuzinerzelle denjenigen aufnehme, dessen Jugend im väterlichen Palast aller Erdenglanz umstrahlte! 638 Wie stark auch immer das Gewicht von Adel und Kirche als den gesellschaftlichen Garanten des Rechts Betonung findet: - idealiter brauchten beide dieser Rolle gar nicht nachzukommen, erfüllte nur der institutionalisierte Staat
635
So etwa Döllinger in einer Besprechung der Papstgeschichte Rankes. [Ignaz Döllinger]: Bemerkungen über neuere Geschichtschreibung, in: HPB112 (1838), S. 51-56, hier bes. S. 55/56. - Zuweisung durch Albrecht / Weber, S. 15. 636 Hurter, GuWH, S. 112-138,197. 637 Ebd. II, S. 52. 638 Ebd. Π, S. 622.
22*
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selbst diese Aufgabe. Ohne weiteres folgt das Ideal des Staates aus dem Zusammenspiel der bisher erörterten Elemente. Das organische Miteinander der geschichtlich gewachsenen Teile münde in die Spitze einer gerechten Herrschaft, deren Bestreben sei, jedem das Seine zu garantieren sowie alle gemeinsam auf dem Boden des Rechts umsichtig zu lenken. Jenes Bild, das Höfler im „Friedrich II." von den Bemühungen Heinrichs (VII.) und Wilhelms von Holland entwirft, Deutschland zu regieren, 639 beinhaltet ein Gutteil dieses Ideals in Rückprojektion auf die historische Situation des dreizehnten Jahrhunderts. Willkürherrschaft, Absolutismus in „individueller" wie „kollektivistischer" Form stoßen auf strikteste Ablehnung. Eine Debatte über Staatsformen hingegen findet kaum statt. Unangefochten herrscht das Modell einer kontrollierten Monarchie. 640 Kontrollierte Monarchie bedeutet jedoch nicht Machtbegrenzung oder Gewaltenteilung im Sinne modern-parlamentarischer Verfassungen, im Sinne von Volkssouveränität und Herrschaftsvertrag, 641 bedeutet vielmehr Repräsentation der einzelnen Rechtssphären des Organismus gegenüber der Spitze, bedeutet in letzter Konsequenz: altständische Verfassung. Sogar Gfrörer kommt an diesem Punkt an. Zwar beschwört er in der zweiten Auflage des „Gustav Adolph" erneut sein altes Ideal der britischen Verfassung, jedoch unter ganz anderen Bezügen und aus ganz anderen Gründen als in der „Geschichte unserer Tage". Hielt sein gemäßigter Liberalismus 1831 diese für das Muster des modernen Konstitutionalismus, sofern sie sich nur ein Stück noch weiterentwickle, 642 so dient sie ihm 1845 in ihrer älteren Form als Beispiel des genauen Gegenteils. Die Wiederauferstehung Deutschlands zu alter Größe könne seines Erachtens nur „unter dem Einfluß eines ständischen, in englischer Art das Königthum beschränkenden, Regiments" erfolgen. Eine solche Regierungsweise, für alle Staaten ein Segen, sei „in Bezug auf ein geeintes Teutschland europäisches Bedürfhiß." 643 Durch die Verschmelzung von Monarchie, Hierarchie, Aristokratie, Demokratie garantiere sie sowohl dem Könige als auch Klerus, Adel und Volk „seine abgewogenen Freiheiten und Rechte. [...] Was während des Mittelalters überall - ausgenommen in Byzanz der Fall war", dauerte ,»zwischen dem Sieg der Reformation und dem Ausbruch 639
S. o. S. 191-194. Allein Gfrörer war in der „Geschichte unserer Tage" andeutungsweise auf diese Thematik eingegangen; selbst er hatte aber die Republik als Staatsform für die größeren europäischen Staaten zurückgewiesen (Jg. 1830 II, S. 257-260; vgl. auch o. Anm. 495). 641 Vgl. etwa Hurter, GuWII, S. 676: Die Vorstellung vom Contrat social sei eine „alles revolutionäre Streben begünstigende und jede gesellschaftliche Ordnung auflösende Fiction." 642 Gfrörer, Geschichte unserer Tage, Jg. 18301, S. 58/59. 643 Gfrörer, Gustav Adolph, 2. Aufl., S. 1022/1023 [Hervorhebung, Th. B.]. - Über Gfrörers Lob der britischen Verfassung und dessen Verhältnis zur Gedankenwelt Burkes vgl. die Bemerkungen in Traditionsstränge, Anm. 145. 640
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der französischen Staatsumwälzung nur in England" fort. 644 Noch immer beeindruckt Gfrörer die Verschmelzung verschiedener Verfassungsformen zu einem System des Gleichgewichts, nicht länger aber steht die Mitbestimmung des Volkes durch „ächte Volks-Repräsentation" 645 im Vordergrund seines Interesses, sondern die gegenseitige Begrenzung von Macht durch die verschiedenen Teilorganismen des Staates. Ausgezeichnet harmoniert dieser neue Blickwinkel mit Gfrörers Dogma vom starken Staat. Nicht auf den absoluten Staat zielt dieses ja ab, sondern vielmehr auf die Balance der Freiheiten und Rechte unter Betonung der zentralen Regierungsgewalt des Königs. Aus diesem Grund auch rekurriert Gfrörer erneut auf die englische Verfassung und nicht auf die vorrevolutionäre französische oder gar auf die alte Reichsverfassung. Krankte diese am „Übermaaß der Aristokratie", ging jene am „Übermaaß der Knechtschaft" zugrunde. 646 Im englischen Modell hingegen vermeint er zu finden, was er sucht: starke Zentralgewalt bei gleichzeitig ausgewogenen Mitbestimmungsverhältnissen. Auf diesem Standpunkt wird Gfrörer verharren, wenn er auch freilich die Rolle der Kirche, sowohl in der historiographischen Rückschau als auch in der aktuell-politischen Prognose 1848/49 noch stärker forcieren wird. 6 4 7 Beständig erfolgt die Definition von Staat und Gesellschaft im katholizistisch-konservativen Denken über die untrennbaren Leitbegriffe „Recht", „Organismus" und - „Geschichte". Böhmer kann sich „Verfassung" als Wesenskern eines Staates gar nicht anders denken, denn aus organischen Wachstumsprozessen entsprungen; „nur organisch gebildete Lande [können] Verfassungen haben [...]; andere haben nur Mechanismen." 648 Gesellt sich dieser Aussage jene andere hinzu über die „Constitution" als das Innere der Geschichte, deren Studium zur lebendigeren, weil „aus allen unseren Geschichtsquellen" sprechenden Art von Rechtskenntnis führe, 649 so rückt Geschichtswissenschaft geradezu in den Rang einer Wissenschaft vom Staate oder: einer Wissenschaft von der Nation. Sie erfüllt diese Aufgabe, indem sie einem Staate jene individuellen Charakterzüge zuweist, welche diesen in eine unverwechselbare „Persönlichkeit" verwandeln. In der Geschichte scheine ihm das Selbstbewußtsein einer Nation zu liegen, hatte Böhmer in seinem Programm einer Stiftung für deutsche 644
Ebd., S. 481/482. Gfrörer, Geschichte unserer Tage, Jg. 18301, S. 109. 646 Gfrörer, Gustav Adolph, 2. Aufl., S. 481/482. 647 Erinnert sei nur an die Erörterung der Funktion der „geistlichen Stände" in den „Carolingem", an die These vom „kirchlichen Einheitsband" und den damit zusammenhängenden "Kircheneinigungsplan" der Vorrede zum zweiten Carolingerband; vgl. dazu auch u. S. 442-449. 648 Böhmer an Ficker, 1. 5. 1854 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe m , S. 119, Anm. 2). 649 Böhmer an Guido Görres, 12.12.1833 (s. Anm. 367). 645
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Geschichte formuliert. 6 5 0 Jetzt fügt sich seine Antwort auf die Frage nach Sinn und Wesen der Geschichte i n das Gesamtgebäude konservativ-katholizistischen Weltverständnisses ein, hilft mit, Geschichte und Gegenwart i n Zusammenhang zu stellen. Deutsche Geschichte enthüllt das Selbstbewußtsein der deutschen Nation und gibt gleichzeitig eine Perspektive für deren Gegenwart und Zukunft.
d) Begriff der „ N a t i o n " Hinsichtlich des Begriffes
der „ N a t i o n " scheiden sich nicht gerade die
Geister unter den großdeutschen Historikern der ersten Generation, doch aber die Interessen. N i c h t v o n ungefähr stammen die wichtigsten Äußerungen zu diesem Thema aus der Feder Böhmers, desjenigen, der seine Berufung zum Historiker m i t größtem Ernst als „vaterländische" Berufung erachtete. Dann folgt, sehr viel weniger reflektiert bereits, Gfrörer. Wo schließlich - vor 1848 die kirchliche Orientierung i m Vordergrund steht, entfallt ein tieferes Nachdenken über den B e g r i f f der „ N a t i o n " fast ganz. Dies w i r d sich i n der Gedankenwelt Döllingers und Höflers nach der Revolution gründlich ändern; 6 5 1 derjenigen Hurters jedoch w i r d die Kategorie des Nationalen zeitlebens
650
fremd
S. Anm. 364. Döllinger empfangt entscheidende Impulse zum Nachdenken über nationale Staatsbildung während seiner Zeit als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung. Insbesondere befaßt er sich mit dem Komplex „Kirche und Nationalstaat", so etwa in seinem Gutachten für die Würzburger Bischofskonferenz im Oktober / November 1848 über das Verhältnis von Kirche und Staat, über Nationalkirche und Nationalsynoden sowie über Deutsche Nationalkirche (wiederabgedruckt in: Ignaz Döllinger: Kleinere Schriften, hg. von F. H. Reusch, Stuttgart 1890, S. 53-71). Aber auch in „Kirche und Kirchen", eines seiner wichtigsten Werke der sechziger Jahre, fließen diesbezügliche Überlegungen ein. - Höfler lernt die Sprengkraft nationaler Ideen und nationalistischer Ideologien vor allem in Prag kennen, wo er mittenhinein gerät in die erbitterten Auseinandersetzungen von Tschechen und Deutschen. Seine Erfahrungen mit der Unversöhnlichkeit des geballten Haßpotentials, mit dem ausweglosen Irrsinn solcher Kämpfe, tragen viel bei zur resignierten Stimmung seiner späteren Jahre. Vgl., stellvertretend für viele seiner Kommentare, Höfler an Döllinger, 26.2.1883: „Es ist entsetzlich, welch geistiges Capital in diesen nationalen Kämpfen fruchtlos vergeudet wird und welche Lieblosigkeit dadurch entsteht." (BSB, NL Döllinger, Döllingeriana II) - Höfler an Arneth, 17.7.1887: „Hier wird wacker an innerer Zwietracht gearbeitet, und da man in Wien glaubt, daß eine moralische Auflösung der Dinge, die bis zur äußersten Höhe gediehene Zunahme des Hasses, der Nationalitätenstreit, welcher an die Stelle des früheren confessionellen Haders getreten ist, für den Staat so wohlthätig wirke als etwa ein Gewitterregen auf ausgetrocknetes Erdreich, so bleibt untergeordneten Persönlichkeiten [...] nichts anderes übrig, als zum Fenster hinauszusehen und die gedeihliche Entwicklung des allgemeinen Vernichtungsprozesses zu beobachten." (HHStA, NL Arneth, Karton 22). 651
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bleiben. Kommt in jener früheren Phase bei diesen der Begriff „Nation" doch einmal vor, so geschieht dies erstaunlich undifferenziert, ja naiv, mit breitem semantischem Spektrum. Nationen sind da Teilgrößen des vielfältig ausgestalteten menschlichen Zusammenlebens, die sich jeweils durch charakteristische Merkmale von anderen Teilgrößen abheben und unterscheiden. Je nach dem Standpunkt der Betrachtung, je nach dem Ansatz der Unterscheidungskriterien kann „Nation", wie Höfler demonstriert, sehr Verschiedenes bezeichnen. Sowohl den einzelnen Stämmen billigt er „Nationalität" zu, die jeweils einer Vereinigung zum gemeinsamen Verband widerstrebte, 652 als auch, im „Friedrich II.", dem gesamten „Deutschland" gegenüber dem universalen Kaiserreich. 653 Derartige Vorstellungen widersprechen sich nicht, da die Forderung nach eigenständiger, autonomer Staatlichkeit mit dieser Begrifflichkeit von „Nation" noch in keinem zwingenden Verhältnis steht. Nationen können da nebeneinander, durcheinander, miteinander unter einem Dache leben, ohne sich gegenseitig abschotten, voneinander lossagen oder sich bekriegen zu müssen. Im Rahmen dieser Semantik besteht dann freilich auch die Möglichkeit, den Begriff „Nation" selbst ohne weiteres auf das frühe und hohe Mittelalter zu übertragen. Anachronistischer nimmt sich solche Übertragung dort aus, wo „nationale" Bestrebungen eigener Gegenwart auf vermeintliche Parallelen in längst vergangener Zeit stoßen. Gfrörer vor allem beweist da Talent mit seiner Gleichsetzung der „Stürme" des neunten und des neunzehnten Jahrhunderts. 654 In dieser Sicht spielt der moderne Gedanke des Nationalstaates sehr viel mehr mit als in derjenigen Höflers. Unvermeidlich entwickelt sich daraus aber auch der Anachronismus und entfaltet sich in einem der bekannten Gfrörerschen Widersprüche: hätte denn das Einfordern von „Nationalität" wirklich das Feldgeschrei in den Stürmen des neunten Jahrhunderts prägen, gleichzeitig aber „das Streben der deutschen Stämme [...], ein Einzel-Leben zu führen" über tausend Jahre hinweg einen der Hauptzüge deutscher Geschichte bilden können? 655 Zumindest in bezug auf die deutsche „Nation" gehen beide Behauptungen nur schwer zusammen. Zweifelsohne war Gfrörer unter den fünfen am meisten fasziniert vom Gedanken deutscher Einigung im Rahmen eines Nationalstaates, auch vor 1848 schon. Indem er aber aus diesem Antrieb heraus jenen mit modernen
652 Höfler, Art. „Reich, teutsches", S. 131: „Die fünf Nationen, Franken, Sachsen, Bayern, Schwaben und Lothringen verband seit dem Tode Ludwig des Kindes weder ein gemeinsames Interesse noch ein gemeinsames Band." 653 Höfler, Friedrich Π., S. 108/109: „die Hälfte der Nation" habe sich der „perfiden Willkür" Heinrichs IV. entgegengestellt (s. auch o. Anm. 146). 654 Gfrörer, Carolinger I, S. 65; vgl. auch o. S. 157. 655 Ebd. Π, S. 448/449.
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Inhalten gefüllten Begriff der „Nation" auf die Vergangenheit anwandte, verstrickte er sich zwangsläufig in Anachronismen. Abgesehen von dieser individuell stärkeren Ausprägung des Nationalstaatsgedankens trägt Gfrörer doch auch einige inhaltliche Spezifikationen zum Begriff der „Nation" bei, die Höflers vager Gebrauch vermissen läßt, die aber zur Beantwortung der Frage nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner der katholizistisch-konservativen, großdeutschen Begriflfsbelegung wertvolle Hilfe leisten. Vor einer möglichen Einigung der „Nation" in einem Staate steht ja doch die Frage, was denn dieser Gruppe von Menschen den Charakter von Nationalität erst verleiht, was „Verwandtschaft" prägt. Gfrörer postuliert denn auch als Voraussetzung von Nationalität die Existenz „verwandten", nach Vereinigung strebenden ,3hites". 6 5 6 Insbesondere offenbare sich solche Verwandtschaft in gemeinsamer Sprache als dem „natürlichsten und ersten Abdruck aller Volkseigenthümlichkeit" sowie in einer aus dieser Sprache erwachsenden „Nationalliteratur". 657 Wenn er schließlich in den althochdeutschen Uberlieferungen des neunten Jahrhunderts problemlos das Bemühen erkennt, per Sprache und Schrift auf „Verwandtschaft" hinzuweisen, fällt es ihm endgültig nicht mehr schwer, jenen frühen Tagen Regungen von Nationalität zu attestieren. Dabei stört ihn der vorwiegend geistliche Charakter jener Literatur nicht im mindesten. Vorzüglich weiß er diesen in das merkwürdige Kompositum einer „kirchlichen Nationalliteratur" 658 umzumünzen, womit er gleichzeitig sein Nationalitätsverständnis, zusätzlich zu Sprache und Literatur, um ein zweites Spezifikativum ergänzt. Auch eine bestimmte Art von „Kirchlichkeit" wirke mit bei der Stiftung von Verwandtschaft und nationaler Identität. Erinnert sei nur daran, wie Gfrörer in den „Carolingern" die eigentliche Begründung Deutschlands auf die missionarische Tätigkeit des Hl. Bonifatius zurückführt, 659 wie er immer wieder vom „kirchlichen Einheitsband" spricht, welches die Nation mindestens ebenso umschlingen müsse wie das politisch-staatliche. Schon jener Akzent allein stellte Gfrörer in deutliche Distanz zu Vertretern einer säkularistisch-nationalistischen Position, die eine Erfüllung des Nationalen allein in der Vollendung des staatlichen Rahmens sehen konnten. Vollends auf die Seite des katholizistisch-konservativen und großdeutschen Standpunktes begibt sich Gfrörer jedoch mit seinem alsbaldigen Abrücken von der Einschätzung der Reformation als einer nationalen Bewegung und ergo des Protestantismus als einer „deutschen" Religion. 660 An deren Stelle tritt in dem Vortrag über Wallensteins Schuld bereits die Forderung nach Vereinigung der Konfessionen auf katholischer Basis.
656 657 658 659 660
Ebd. I, S. 65. Ebd. I, S. 65/66. Ebd. S. o. S. 166. So noch in der ersten Auflage des „Gustav Adolph": s. o. S. 221.
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Nationale Einheit ohne kirchliche Einheit, das habe Wallenstein schon erkannt und diese Botschaft wird Gfrörer selbst im Umfeld der Revolution von 1848 dann auch konkret politisch umzusetzen suchen - , sei unmöglich: Wallenstein „setzte - wie wir glauben mit Recht - voraus, daß nach errungenem Siege, nach erfolgter Wiederherstellung kaiserlicher Macht, das ganze Heer, Protestanten wie Katholiken, ihrem glorreichen Kaiser in seine Kirche folgen und daß sodann die Masse der ländlichen Bevölkerung dem Beispiele des Heeres nachgehen werde." Im Zusammenhang mit einem „nationalen politischen Aufschwung" müsse sich „die Überzeugung, die bei ruhiger Überlegung und ohne den Nebel künstlich anerzogener Vorurtheile jedem Menschen von fünf gesunden Sinnen sich aufdrängt, allgemeine Bahn brechen, daß ein Volk mit zwei feindseligen Kirchen nicht bestehen kann, weil eine solche Trennung notwendig innerer Zwietracht gefahrliche Vorwände verleiht und den Ränken des Auslandes Thür und Angel öffnet." 661 Sprache, Literatur, kirchliche Einheit und Identität sowie die Individualität des Rechts konstituieren „Nation". Was Gfrörer als eines mehrerer Kriterien seinem Katalog hinzufügt, 662 steht bei Böhmer im Zentrum des Nationsverständnisses. Auch er veranschlagte die Bedeutung von Sprache und Literatur zur Genese einer Nation hoch, ja hatte sich selbst einst an der Dichtung eines Nationalliedes versucht. 663 Auch er sah mit Besorgnis auf die Kirchenspaltung und unterstützte Bemühungen, eine Vereinigung herbeizuführen. 664 Aber die Essenz einer Nation lag für Böhmer in deren Recht. „Wahrhaft national" sei alles, was „auf urkundlichem rechte" ruhe. 665 Aus diesem Rechte wachse die Nation hervor wie ein Mensch, bilde Persönlichkeit und Charakter, werde und vergehe. Geschichte dokumentiere den Lebenslauf dieser Nation. Bezogen auf Deutschland habe aus beidem - aus spezifischem Recht und spezifischer Geschichte - die Zukunft zu fließen, habe sich eine neue Verfassung zu formen, aus der dann hinwiederum ein optimales Staatsgebilde erstehe, um die Nation zu beherbergen. „So nennen wir uns Deutsche, fühlen uns dadurch verschieden von anderen Nationen, unter uns selbst aber geeinigt in ureigener Persönlichkeit, die wir zuerkennen und aus der wir mit Rücksicht auf die Anforderungen 661
Gfrörer, Wallensteins Schuld, S. 37 [Hervorhebung Th. B.]. Gfrörer, Carolinger I, S. 438/439. 663 Vgl. Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 117 Anm. 1, nach einer fragmentarischen Aufzeichnung Böhmers: Sprache sei „der Spiegel der Volksindividualität". Zum Nationallied Böhmers ebd. I, S. 47/48 sowie, mit Abdruck des Textes, Heinrich Gerstenberg: „Deutschland über Alles". Vom Sinn und Werden der deutschen Volkshymne, München 1933 (= Schriften der deutschen Akademie, Bd. 26), hier S. 134-140 Anhang: Das deutsche Nationallied. Ein Entwurf Johann Friedrich Böhmers. 664 Diesbezügliche Äußerungen Böhmers bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 127/128 und Kleinstück, S. 262/263. 665 Böhmer, Additamentum primum,Vorrede, S. VII. 662
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Denkwege
der Gegenwart unsere Lebensform, d. h. unsere Verfassung zu gestalten habenEine gewonnene Verfassung auf diesem Wege ist die freieste, die gedacht werden kann, weil sie nicht aus dem Willen eines oder mehrerer Einzelnen hervorging, sondern auf der Anerkennung dessen beruht, was Allen gemeinsam ist. Sie ist natürlich, weil sie ihre Schranken nach den Thatsachen zieht, die nun einmal unabänderlich feststehen. So ist sie denn auch befriedigend für alle, welche einen vernünftigen Willen haben und gewährt die Bürgschaft der Dauer." 666 Daß die Vorstellung des straff organisierten, zentralistischen Machtstaates, der versucht, die individuelle Vielfalt der sprachlichen, rechtlichen, kulturellen, geschichtlichen Nation zur Deckung zu bringen mit einem klar umgrenzten Staatsgebiet, solcher Konzeption kaum gerecht werden kann, liegt auf der Hand. Daß zusätzlich zu dieser Vorstellung das Postulat einer Führungsrolle Preußens schlechthin inakzeptabel erscheinen muß, ebenso. Nicht einmal Gfrörer, in dessen Nationsbegriflf die Idee des modernen Nationalstaates am weitesten ausgeprägt erschienen war, hätte da zugestimmt, schon aufgrund seines Gedankens vom „kirchlichen Einheitsband" nicht. Existierte überhaupt eine konkrete Macht, an welche sich Hoffnungen auf Verwirklichung der beschriebenen Utopien über Staat, Gesellschaft, Kirche, Nation hätten knüpfen können? Wenn, dann doch nur Österreich. e) Österreich als Hoflhungsträger? Die Orientierung an Österreich - selbst eher wieder eine ideale, denn reale - , hinterläßt den Eindruck, die Großdeutschen wollten mit ihr den Kreis der Utopien wenigstens ansatzweise an Irdisches zurückbinden. Daß Österreich der Vorkämpfer ihres Konservativismus sein könnte und sollte, fand vor allem im Konjunktiv, oftmals im Hortativ Formulierung. Die tatsächlichen politischen Verhältnisse Österreichs unterlagen dagegen weitgehend einer Kritik, die sich umso schärfer gestaltete, je weiter die Kluft zwischen herangetragenem Ideal und faktischer Realität wuchs. Dabei herrschten in den dreißiger und vierziger Jahren die Hoffnungen eher noch vor, während die Erfahrungen seit 1848/49, besonders dann mit der österreichischen Politik der fünfziger Jahre, diese Hoffnungen in bittere Enttäuschungen wandelten. Hurter und Höfler erlebten als österreichische Beamte solches Wechselbad der Gefühle am intensivsten. Böhmer, der von Frankfurt aus die Entwicklungen beobachtete, trauerte leise am Rande der Resignation. Trotz seines steigenden Pessimismus aber, trotz seiner Kritik an der Korruption in Österreich, am schlechten Bildungswesen, an der
666
Böhmer, Fragment„Das Reich und die Stämme" (s. Anm. 4).
Π. Die eigene Zeit: Politik
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elenden Regierung, am Zustand von Armee und Finanzwirtschaft, 667 blieb er seinem Grundsatz gleichwohl immer treu: wenn überhaupt, so könne sein reichsbürgerlicher Standpunkt nur in Österreich fortleben. 668 Freilich spitzte sich in den nachrevolutionären Jahren nur weiter zu, was im Kern der Grundurteile aus vormärzlicher Zeit bereits angelegt war. Hurter insbesondere legte die Meßlatte hoch für Österreich, wollte in ihm immer jene Macht erkennen, deren Haltung er als Knabe schon in den Revolutionskriegen bewundert hatte. Den „einzigen beharrlichen Gegner auf dem Festlande" habe die Französische Revolution in Österreich gefunden; da habe das „hohe Erzhaus" sich bewährt als der Beschützer von „Recht und Gerechtigkeit", habe bewiesen, worauf eine Macht ihren Bestand wahrhaft gründen müsse - im Gegensatz zum usurpatorischen Staate Preußen unter dessen so hochgelobtem König Friedrich II. vor allem. 669 Umso sensibler mußte Hurter angesichts solcher Einschätzungen auf Regungen des ,Radicalismus" reagieren, die er insbesondere in der österreichischen Beamtenschaft zu erkennen glaubte. „Zwey Höllenhunde sperren in unserer Zeit ihre Rachen gegen die armen Völker auf: der Jakobinismus und die Bureaukratie; entrinnen sie dem einen, so fahren sie in den andren, und beide haben gleiche Fangzähne, um Freiheit und wohlbegründete Rechte der Individuen zu erwischen und gleiche Stockzähne, um sie zu zermalmen, und gleich gefräßig sind beide. Ob nicht in Österreich beide auf der Lauer liegen, wage ich nicht, zu entscheiden. Faul ist dort gewiß manches; und vielleicht selbst unter denjenigen, die am Ende zuerst zum Fraß dienen werden." 670 Nach dem Ende der Ära Metternich sah er diesen Radikalismus sich noch stärker ausbreiten. Österreich verfolge keine eigene Linie, sollte Hurter 1860 schließlich
667
Böhmer an F.B. Hurter, 21.2.1843 (Janssen, Böhmens Leben und Briefen, S. 341), 2.2.1845 (ebd. Π, S. 340), 29.12.1845 (ebd. Π, S. 425) sowie an Oberst Krieg von Hochfelden, 7.11.1858 (ebd. m, S. 269/270). Zusätzlich interessant Böhmer an F.B. Hurter, 6.3.1852 (ZB Zürich, Ms. Ζ Π 310) mit der Befürchtung, in Österreich komme zuletzt alles „auf eine Militärherrschaft heraus". 668 Böhmer an F.B. Hurter, 17.11.1856 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefem, S. 201). 669 Hurter, GuWI, S. 83. Vgl. auch Hurter an Haller, 14.10.1839 über eine Audienz bei Erzherzog Karl: ,Jch sagte ihm, wie ich als junger Knabe mich stets gefreut hätte, ihn als den Befreyer der Schweiz zu sehen. Und es ist auch wahr, ich war damals für ihn und die österreichische Armee ganz begeistert." (Reinhard, Haller und Hurter - s. Traditionsstränge, Anm. 158 - , S. 142). 670 Hurter an Greiffenegg-Wolflurt, 21.12.1842 (ÜB Freiburg/Brsg., Autogr. 1194). Der Beginn der Passage lautet: ,Aber doch möchte ich emstlich fragen: giebt es (im rechten Sinne des Wortes) ein monarchisches Österreich? Oder dürfte man nicht zu der Besorgniß geleitet werden: latet anguis in herba. Ich fürchte, die revolutionären Ideen dürften dort, zumal unter den Beamteten, mehr terrain gewonnen haben, als man vielleicht ahnet."
348
Denkwege
die Hoffnungen einer nachwachsenden Generation dämpfen. Er solle sich, schrieb er im April dieses Jahres an Onno Klopp, ja nicht einbilden, Österreich werde in irgendeiner Weise der „Geschichtsbehandlung a la Ranke und Sübel" ein Gegengewicht setzen. Ganz undenkbar! Im Gegenteil, man lege ja alles geradezu darauf an - und nun folgt der schlimmste Vorwurf - , Österreich selbst zu „preußifiren"! Überall in den hohen Beamtenrängen säßen bereits Preußen, ja die Burgwache trage schon preußische Pickelhauben! „Sie sehen demnach, daß man keine Ursache hat, demjenigen, was durch Norddeutschland angestrebt wird mißgünstig in den Weg zu treten. Daß man hier zur Ahnung, geschweige denn zum Bewußtseyn eines specifisch österreichischen Princips, welches durch alle Actionen sich durchschlänge, sich erhöbe, scheint mir nicht denkbar. Ohne dieses aber kann man [...] niemals [...] sich erkräfiigen. Rudolph von Habsburg hat bei der großen Belehnungsfeierlichkeit in der Domkirche zu Mainz den mangelnden Szepter durch das Crucifix vom nächsten Altare mit den Worten ersetzt: auch dieser wirds thun. Das war das Eingebinde, welches er seinen Nachkommen in die Wiege ihrer beginnenden Größe legte. Was ist daraus geworden?" 671 Recht und Gerechtigkeit, Staat und Kirche, Rückbesinnung auf eine große Vergangenheit unter den Vorzeichen dieser Werte: das spezifisch österreichische Prinzip - selbst eine Utopie. Das Verhältnis der großdeutschen Historiker erster Generation zu Österreich krankt an deren Erwartungen in jenen Staat. Von ihrem Geschichtsidealismus zu Österreich hingezogen, stößt sie dessen reales Erscheinungsbild gleichzeitig ab. Österreich hätte das Bollwerk des Konservativismus sein können, kommentiert Höfler während der bayerischen Krise von 1847, doch was sei geschehen? „Der Radicalismus hat gesiegt und er ist nicht so blöde wie die conservativen Cabinete seinen Einfluß nur halb geltend zu machen. Er will Alles, er wird Alles an sich reißen: er kann es thun, denn wer ist noch im Stande, ihm Widerstand zu leisten? Jetzt ärndtet Ostreich die Folgen seines halben Benehmens, welches es seinen Feinden nicht furchtbar, seinen Freunden nicht achtbar macht." Jetzt habe man wirklich in Deutschland keinen Fleck mehr, wo man sein Haupt hinlegen könnte! 672 Beide, Hurter wie Höfler, betteten ihre Häupter dennoch in Österreich, kämpften um ihr Ideal. Der eine, Hurter, übersteigerte es im „Ferdinand II." gänzlich zur hemmungslosen Apotheose, der andere, Höfler, rieb sich im Prager Nationalitätenkampf auf, hin- und hergerissen zwischen jener Zuneigung, die in unermüdlichem Forschen Österreich immer wieder auf seine historische Rolle gemäß der Utopie des „spezifisch österreichischen Prinzips" hinwies, und jener angeekelten Abneigung, welche der Erkenntnis entsprang, daß Österreich diese
671 672
Hurter an Klopp, 8.4.1860 (HHStA, NL Klopp, Karton 8). Höfler an Hurter, 28.6.1847 und 12.3.1847 (Samen, NL Hurter).
Π. Die eigene Zeit: Politik
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Rolle nie und nimmer spielen werde. 673 Das alles aber sind schon andere, spätere Geschichten großdeutscher Historiographie. Die Denkwege, die sich ausgiebig entfalteten in ihrer Dialektik von Geschichte und Gegenwart, führen zurück in den Raum der Utopie. Mit der Erinnerung Österreichs an seine große Vergangenheit erreichen sie wieder den Ausgangspunkt, erreichen sie wieder das Identifikationsmodell des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Ein vielfaltig ausdifferenziertes, variantenreiches, aber doch in sich geschlossenes Deutungsgebäude tritt den Wettbewerb um die Perspektiven der Zukunft an. Während aber Döllinger noch vor jenem „Wahnsinn" warnt, „welcher nur der neuesten Zeit möglich geworden", nämlich „die Geschichte hinter sich [zu] werfen und darauf eine neue Geschichte [zu] bauen", 674 steht er mit seinen Mitstreitern auf dem Gebiete katholizistisch-konservativer, großdeutscher Geschichtsschreibung selbst schon mittendrin in dieser „neuen Geschichte", bestrebt, sich ihrer zu bemächtigen, ihr gerade durch den Rückgriff auf die „alte Geschichte", Vorzeichen zu setzen, sie also mitzubestimmen. Doch andere Kraftfelder erweisen sich als stärker, diktieren Zielrichtungen, denen jenes Weltverständnis nur noch re-agiernd folgen, die es aber nicht mehr agierend selbst bestimmen kann.
673 Eine ausführliche Biographie Höflers hätte diesen Kampf im Einzelnen darzustellen. Außer Höflers Werken aus der Prager Zeit liegen in den umfangreichen Reihen seiner Briefe Quellen in ausreichendem Maße vor. Heranzuziehen wären vor allem Höflers Briefe an Alfred von Arneth 1862-1892 (HHStA, NL Arneth, Karton 22), Döllinger 1849-1889 (BSB, NL Döllinger), Alfred von Reumont 1865-1886 (UB Bonn S 1062) und Ludwig Pastor 1877-1896 (Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Lascito Ludwig von Pastor, Fase. 105), letztere veröffentlicht von Harald Bachmann (Hg.): Briefe Constantin von Höflers an Ludwig Pastor aus den Jahren 1877-1896, in: Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien 4 (1976), S. 205-242. 674 Döllinger, Staat und Kirche, S. 555.
Traditionsstränge Keiner der großdeutschen Historiker erster Generation zählt zu den wegweisenden Denkern, deren Antworten auf die drängenden Fragen ihrer Zeit so zwingend erscheinen, daß sie entscheidend dazu beitragen, Epochen ein geistiges Gesicht, eine „Signatur" zu verleihen. Vielmehr scheint es, als gehörten sie zu den nicht minder wichtigen Verarbeitern, Weiter-Denkern, die sich bewußt in bestimmte Traditionen stellen, um diese in ihren jeweiligen Wirkungsbereich hineinzuverlängern. Dies kann geschehen durch selektives Schöpfen aus dem Fundus von Ideen, der jeweils besonders geeignet scheint, einem Zeitalter Orientierung zu liefern und als solcher „in der Luft liegt", durch konkrete Konstruktion von Wahlverwandtschaft zu wegweisenden Geistern, durch Gedankenaustausch und Kontinuitätspflege in Zirkeln gleicher Gesinnung sowie auch - ex negativo - durch bewußtes Absetzen von Traditionen und deren Vertretern, die den eigenen Wertsetzungen widersprechen.
I. Kraftfelder 1. Aufklärung,
Reichstradition,
Reichshistorie
Aufklärung und Romantik bildeten jene beiden großen geistigen Kraftfelder, aus denen heraus sich die Geschichtswissenschaft in Deutschland insgesamt zu ihrer historistischen Wende aufschwang. 1 Auch die nachmaligen Großdeutschen standen innerhalb des Einflusses dieser Kraftfelder; bewegen ließen sie sich freilich vor allem von letzterem. Sie rezipierten im Sinne von bewußter Annahme, Aufnahme und Weiterbildung die Romantik, während das Kraftfeld ,Aufklärung" doch eher unterschwellig in ihnen nachwirkte. Wo sie über Aufklärung reflektierten, geschah dies in der Regel - davon war schon die Rede
1
Die Bedeutung der „vorhistoristischen", insbesondere von der Aufklärung beeinflußten Formen von Geschichtswissenschaft für die Entstehung des modernen historischen Denkens findet gegenwärtig starke Beachtung. Dabei wird deutlich, daß Wurzeln dieses Denkens nicht lediglich in der Umbruchszeit des späten 18. Jahrhunderts zu suchen sind, sondern bis weit in die Frühneuzeit hinein zurückverfolgt werden können. Vgl. hierzu die Beiträge in Küttler / Rüsen / Schulin, Geschichtsdiskurs II, bes. die Abschnitte „Frühneuzeitliche Innovationen" und „Paradigmen der Aufklärung".
I. Kraftfelder
351
und wird in Verbindung mit den „Gränzsteinen" auch weiterhin die Rede sein aus einer ablehnenden Haltung heraus, so daß die durchaus auch vorhandenen Spuren einer mehr positiven Prägung ihres Denkens durch Strömungen dieses geistigen Kraftfeldes fast nur indirekt und gegen die dezidierte Aufklärungskritik erschlossen werden können. Auf die Rolle der eng mit der Aufklärung in Verbindung stehenden Tradition deutscher idealistischer Philosophie ebenso wie der neuhumanistischen Bewegung für den geistigen Werdegang Gfrörers und Höflers haben die Lebensbilder hingewiesen.2 Besonders deutlich zeigt sich in diesen Fällen, wie die spätere Hinwendung zum Katholizismus den Einfluß dieser Traditionen verdrängen, ja die Traditionen selbst in ganz negatives Licht rücken konnte. Neben solchen Feststellungen über geistig-weltanschauliche Orientierungen im allgemeinen gilt es daneben in bezug auf die Genese der Geschichtsbilder im speziellen zu fragen, inwiefern aus dem Bereich der von der Aufklärung beeinflußten Geschichtswissenschaft nicht doch auch Impulse in Richtung der katholizistischkonservativen, großdeutschen Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts ausgegangen sein könnten und tatsächlich ausgegangen sind. Gerade die in der Betrachtung der „Grundurteile" immer wieder hervorgetretene zentrale Bedeutung des Alten Reiches, besonders ausgeprägt in den rechts- und verfassungsgeschichtlich akzentuierten Darlegungen Johann Friedrich Böhmers über die „ältere" und „neuere" Reichsverfassung, legt die Annahme nahe, hier könnten Vorstellungen und Modelle der „Reichspublicistik" des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts und der dieser dienenden ,Reichshistorie" eingeflossen sein. Zusätzliche Wahrscheinlichkeit erhält diese Annahme dadurch, daß immerhin drei der fünf ausgewählten Vertreter der ersten Generation großdeutscher Geschichtsschreiber in Göttingen an jener Universität studierten, an der „diese juristische Methode in die für das 18. Jahrhundert klassische Form" gelangte.3 Freilich, der Modus des Konjunktivs sollte bei solchen Erwägungen gewahrt bleiben, denn auch für den Einfluß der Reichshistorie auf die erste Generation großdeutscher Historiker gilt, was Arnold Berney 1929 über die Fortwirkung der Reichstradition insgesamt über das Jahr 1815 hinaus formulierte: diese
2
Vgl. o. S. 102-105,107/108 (Gfrörer) und S. 134-139 (Höfler). Notker Hammerstein: Der Anteil des 18. Jahrhunderts an der Ausbildung der historischen Schulen des 19. Jahrhunderts, in: Karl Hammer / Jürgen Voss (Hg.), Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation - Zielsetzung - Ergebnisse, Bonn 1976 (= Pariser Historische Studien, Bd. 13), S. 432-450, hier S. 445; vgl. weiterhin die grundlegenden Arbeiten dess. zur Reichshistorie: Jus und Historie, Göttingen 1972; ReichsHistorie, in: Hans Erich Bödeker / Georg G. Iggers / Jonathan B. Knudsen / Peter H. Reill (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 81), S. 82-104. 3
352
Traditionsstränge
werde sich nur mit dem feinsten Spachtel aus der Ideenfülle der Restaurationszeit herausheben lassen. Zu stark und vielfaltig seien die Ströme, „welche von der romantischen Geschichts- und Staatsauffassung ausgingen, um ein selbständiges Fortwirken der Reichserinnerungen erkennen zu lassen."4 Sicherlich hat, wie der Reichstraditionalismus des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts als ganzer auf die „Vorform des großdeutschen Gedankens", auch die Reichshistorie als der sozusagen geschichtswissenschaftliche Teil dieses Reichstraditionalismus auf die großdeutsche Historiographie gewissen Einfluß ausgeübt. Wenn aber Berney von einer „Untersuchung, welche die Entwicklung des großdeutschen Denkens im Vor- und Nachmärz beleuchtet", weitere Aufschlüsse erhoffte, 5 so kann die Geschichte der entstehenden großdeutschen Historiographie vor 1848 über die Beziehungen der einzelnen Historiker zur Reichshistorie doch nur sehr wenig Sicheres ergänzen. Sowohl Hurter als auch Böhmer und später dann Höfler lernten in Göttingen ja allenfalls noch Ausläufer und Umbildungen der Reichshistorie kennen. 1807 starb mit Johann Stephan Pütter jener große alte Mann der Göttinger juristischen Fakultät,6 der auch die Reichshistorie in ihrer ursprünglichen Form als Instrument des Jus publicum „auf ihre letzte und höchste Stufe" geführt hatte.7 Der Theologiestudent Friedrich Emanuel Hurter, seit Herbst 1804 in Göttingen, hat aber diesen wohl kaum mehr in nennenswerter Weise gehört; rascher Vergreisung unterworfen, war Pütter seit 1805 emeritiert. - Neben der ReichsHistorie und von dieser abgespaltet hatte sich in Göttingen lange schon eine „Historie von Teutschland" als eigenständige geschichtswissenschaftliche Disziplin entwickelt, zunächst vertreten von Johann David Köhler und schließlich, unter Ausweitung zur universalhistorisch orientierten „Staaten-Geschichte" von Johann Christoph Gatterer (gest. 1799) und Arnold Hermann Ludwig Heeren (gest. 1842). An der Seite Heerens lehrten zur Zeit Hurters noch August Ludwig Schlözer (gest. 1809) und Georg Sartorius von Waltershausen (gest. 1828) auf dem Gebiet der „Statistik, Politik und Staatengeschichte".8
4 Arnold Berney: Reichstradition und Nationalstaatsgedanke (1789-1815), in: HZ 140 (1929), S. 57-86, hier S. 83/84. 5 Ebd., S. 84. 6 Vgl. Christoph Link: Johann Stephan Pütter, in: Michael Stolleis (Hg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht, Frankfurt/M. 2 1987, S. 310-331. 7 Hammerstein, Reichs-Historie, S. 103. 8 Einzelheiten bei Michael Behnen: Statistik, Politik und Staatengeschichte von Spittler bis Heeren, in: Hartmut Boockmann / Hermann Wellenreuther (Hg.), Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987 (= Göttinger Universitätsschriften, Serie A, Bd. 2), S. 76-101; zusätzlich Hammerstein, Jus und Historie, S. 309-374.
I. Kraftfelder
353
Hurter, das ist sicher, besuchte die Lehrveranstaltungen von Heeren, den er Sartorius vorzog. 9 Heerens Vorlesungen zur Staatengeschichte des Altertums sowie zur Geschichte des europäischen Staatensystems und seiner Kolonien vom sechzehnten Jahrhundert an werden ihm wohl auch besser gefallen haben als die Statistik- und Politikvorlesungen Schlözers mit ihren stark aufklärerischen und emanzipatorischen Botschaften. 10 Das bleibt aber Spekulation, denn diesbezügliche Äußerungen Hurters liegen nicht vor. 11 Wenn also kaum konkrete Hinweise bestehen auf eine eingehende Auseinandersetzung Hurters weder mit der älteren, in der juristischen Fakultät angesiedelten Form der Reichshistorie noch mit der aus dieser hervorgegangenen eigenständigen geschichtswissenschaftlichen Disziplin - wofür er in den drei Semestern, die er de facto in Göttingen studierte, auch kaum Zeit hatte 12 - , bleibt andererseits aber doch anzunehmen, daß er von den generellen Impulsen, die von der Reichshistorie auf die philosophischen, philologischen und theologischen Fächer in Göttingen ausgingen, gleichwohl in allgemeinerer Form profitierte. Die Fragestellungen der Reichshistorie hatten ja nicht nur die Herausbildung unterschiedlichster Hilfswissenschaften begünstigt, sondern auch das Eindringen ihres spezifischen Problembewußtseins sowie, damit verbunden, methodischer Innovationen in die benachbarten Disziplinen. 13 In den Lehrveranstaltungen des Kirchengeschichtlers Planck - auf dem Gebiet der Methodologie von Gatterer
9
Hurter an Johann Georg Müller, 7.6.1805, zit. bei Lischer, S. 33/34; ähnlich Hurter an seinen Vater, 4.4.1805; ebd. 10 Zu Heeren vgl. Hellmut Seier: Arnold Hermann Ludwig Heeren, in: Wehler, Deutsche Historiker 9 (1982), S. 61-80; zu Schlözer Ursula A. J. Becher: August Ludwig Schlözer, in: ebd. 7 (1980), S. 7-23; weiterhin Blanke, passim. 11 Viel eher muß sogar davon ausgegangen werden, daß Hurter seinen Besuch universitärer Lehrveranstaltungen auf das Notwendigste reduzierte, um auf eigene Faust zu arbeiten. Selbstkritisch bemerkt er darüber in GuW: „Jetzt, da über Manches meine Ansichten sich berichtigt haben, kann ich es nur beklagen, daß Lust zu dergleichen Arbeiten die Neigung, Collégien zu hören immer mehr in den Hintergrund drängte, und ich dadurch die Vorlesung über manches Fach versäumte, was in allgemein wissenschaftlicher Bildung besser mich hätte begründen können. In dem thörichten Wahn, was in den Collégien zu lernen seye, lasse ebenso gut aus Büchern sich lernen [...], beschränkte ich mich immer mehr auf einige unerläßliche Fachcollegien, dieß vornehmlich deßwegen, um in vollständigen Heften einst Zeugnisse meiner Studien zurückbringen zu können." Hurter, GuW I, S. 134. 12 Hurter traf im Herbst 1804 in Göttingen ein und verließ es im Sommer 1806, wobei er „das vierte halbe Jahr des Aufenthalts auf der Universität [...] fast ausschließlich auf die ,Geschichte des Königs Theodorich4 verwendete], und in Hoffnung, nicht bis zu Ablauf des Semesters in Göttingen verweilen zu müssen [...], gar keine Collégien mehr" hörte. Hurter, GuW I, S. 143. 13 Hierzu Hammerstein, Reichshistorie, S. 100.
23 Brechenmacher
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Traditionsstränge
beeinflußt 14 - und des von ihm sehr geschätzten Philologen Heyne 15 dürfte Hurter mit diesen indirekten Auswirkungen auf den Prozeß der „Verwissenschaftlichung" jener Fächer bekannt geworden sein; und wo sich später im „Innocenz III." Ansätze zur Quellenkritik zeigen, gehen diese sicherlich auch auf in Göttingen empfangene Anregungen zurück. 16 Sehr viel stärkere, auch inhaltliche Bezüge zur Reichshistorie lassen sich für das historische Denken Johann Friedrich Böhmers vermuten. Daß Böhmer durch seine Frankfurter Herkunft und den hieraus entspringenden reichsbürgerlichen Patriotismus am stärksten von den fünfen der Tradition des Alten Reiches verpflichtet war, bedarf nach Kenntnisnahme seiner „Lebens- und Denkwege" keiner besonderen Erläuterung mehr. Sein juristisches Studium in Göttingen vermittelte darüberhinaus wohl auch ihm die Bekanntschaft mit den Ausläufern der älteren Reichshistorie, wenngleich darüber, wie bei Hurter, kaum zuverlässige Aussagen existieren. Die Juristerei, das gilt es jedoch noch einmal zu betonen, war lediglich Böhmers ungeliebtes Brotstudium: 17 die wichtigen Anregungen seiner akademischen Ausbildungsjahre kamen von anderer Seite, in Göttingen besonders von der Seite Sartorius', dessen politik- und finanzwissenschaftliche Kollegien er dauerhaft besuchte, - und von Seiten des Kunsthistorikers Fiorillo. Heeren hingegen lehnte Böhmer als „zu glatt" ab; die „allgemeinen Bemerkungen" seiner Vorlesung zur neueren Geschichte hielt er für „kraftlos und ohne lebendigen Bezug auf die Gegenwart." 18 Gerade letzteres habe er bei Sartorius gefunden: eine starke Ausrichtung auf die politischen Fragen der Gegenwart, die sich nicht an allgemeinen Theorien, sondern am organisch gewachsenen (Rechts-)Zustand orientiert habe.19 Obwohl sich dieses Urteil in erster Linie auf die institutionenkundlich betriebene Politik Sartorius' als „einer Erfahrungswissenschaft, funktionalisierbar für staatlich vorgegebene Zwecke", 20 bezieht, weist es doch auch mit zurück auf die von der Reichshistorie angepeilten generellen Zielsetzungen, auf deren „handlungsorientiertes", „verfassungs-
14
Hammerstein, Jus und Historie, S. 358. Hurter, GuW I, S. 124/125 (über Planck); ebd., S. 124,134 und 351 (über Heyne). 16 Vgl. o. S. 262/263. 17 Vgl. o. S. 75 und Böhmer an seinen Vater, 5.4.1817: „Ich sehe [...] mein Rechtsstudium durchaus nur als Mittel zum Zweck an, denn an sich ist mir ein Fach, wo meiner eigenen Thätigkeit so wenig überlassen ist [...], worin so viele Absurditäten gehäuft sind, durchaus zuwider, und zehnmal lieber möchte ich ein denkender Handwerker sein, als ein maschinenmäßig arbeitender Richter." (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 13). 18 Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 38. 19 Ebd., S. 37; vgl. zusätzlich Böhmers Briefe aus Göttingen an seinen Vater, ebd. Π, S. 1-14, insbes. S. 13/14. 20 Behnen, S. 91. 15
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rechtliches" und „rechtshistorisches Erkenntnisinteresse." 21 Und wenn Böhmers spätere geschichtliche Grundanschauungen auf die „ältere Gesammtverfassung" des Reiches als Ideal rekurrieren, dann scheinen hier tatsächlich Anknüpfungspunkte zu bestehen, lag doch die Hauptaufgabe der Reichshistorie in der Bestimmung des Rechtscharakters, in der Beschreibung der „Freiheit" des Alten Reiches.22 Auf der anderen Seite stellt sich gerade bei Böhmer jene von Berney beobachtete Problematik der dichten geistes- und ideengeschichtlichen Überlagerungen während der Jahre des Vormärz einer präzisen Freilegung dieser Bezüge in den Weg. Denn schon unmittelbar nach Abschluß seines Studiums tauchte ja Böhmer ganz in die von der bildenden Kunst, Architektur und Literatur bewegte Gedankenwelt der romantischen Bewegung ein, deren Frage nach dem Wesenskern von „Volk" und „Nation" keinesfalls mehr mit rein reichsrechtlichen Erwägungen zu beantworten war. Böhmer begann, beide Stränge auf die ihm eigene Weise zu synthetisieren, nachdem er sich dem Unternehmen des Freiherrn vom Stein angeschlossen hatte und auf diese Weise erneut mit Ausläufern des Reichstraditionalismus, ja mit einem späten Betätigungsfeld für Reichspublizisten in Berührung gekommen war. 23 Sein Erkenntnisinteresse leitete dabei eben jene Frage nach der „Persönlichkeit", nach der Individualität des deutschen Volkes und der deutschen Nation, die er in einer spezifischen Form von Recht und Verfassung dokumentiert sah. Mögen also durchaus Traditionslinien aus Böhmers Gedankenwelt zurückführen auf Reichstradition, Reichspublizistik und Reichshistorie des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, 24 so liegt doch das entscheidend Neue in deren Anverwandlung unter den Vorzeichen der
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Hammerstein, Reichshistorie, S. 85 Ebd. 23 Zur „reichspolitischen Gedankenwelt des Freiherrn vom Stein" Bemey, S. 74-83; Hammerstein, Der Anteil des 18. Jahrhunderts, S. 447/448, verweist auf den Bestandteil „älterer Errungenschaften", den die neue, von der Herderschen Volksgeistlehre, von der deutschromantischen und von der Nationalbewegung geprägte Geschichtsforschung zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufweise. Symptomatisch dafür sei ein „härterer, fast aufgeklärt zu nennender Kem: politische Bildung, nationales Selbstbewußtsein zu entwickeln, sind ihr aufgetragen." Dieses Bewußtsein sei beim Freiherrn vom Stein, bei Johann Friedrich Böhmer, bei allen Mitbegründern der MGH, bei den Ranke-Schülern zu beobachten. - Zu den geistigen Wurzeln des Freiherrn vom Stein in der Gedankenwelt der Reichspublizistik vgl. Hammerstein, Reichs-Historie, S. 104, hier bes. Anm. 60. Steins Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde habe sich zum Zweck der Vermittlung einer allgemeineren, umfassenderen Ansicht der deutschen Geschichte teils bewußt der Wissenschaft von der Reichshistorie und ihrer Vertreter bedient (ebd.; zusätzlich ders., Jus und Historie, S. 379). 24 Auch über Böhmers Begeisterung für Johannes von Müller könnte eine solche Spur führen; zu Müller und Göttingen vgl. die Bemerkungen u. S. 402/403. 22
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seit Französischer Revolution und Befreiungskriegen aktuellen Fragestellungen sowie im weitesten Sinne unter dem Einfluß des Kraftfeldes „Romantik". 25 Mehr oder minder stark im Bannkreis dieses Kraftfeldes befand sich auch Constantin Höfler bereits, als er 1832 die Universität Göttingen bezog. In Jacob und Wilhelm Grimm etwa konnte er dort inzwischen gleichfalls auf dessen Wirkungen stoßen. Sein hauptsächlicher Mentor indes wurde der konservative Politiker Rehberg, und erst in zweiter Linie Heeren, der einzige der älteren Historikergeneration, den er in Göttingen noch antraf. 26 Immerhin, über diese Verbindung läßt sich auch am Beispiel Höflers noch eine direkte Linie ziehen von den großdeutschen Historikern der ersten Generation zur Reichshistorie des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Sehr viel schwieriger wird dies im Falle Gfrörers und Döllingers 27 fallen. Gewiß, von deren Grundurteilen über die deutsche Geschichte sind Rückschlüsse ebenso möglich. Wie alle Vertreter dieser Generation waren auch sie, vor 1848 zumal, „überzeugte Vertreter eines kräftigen Reichs- und Kaisergedankens", „stärkten und erneuerten" auch sie , Ansehen und Gewicht des Reiches, des Kaisergedankens" 28 - mit dem Unterschied zur Reichshistorie jedoch, daß deren Reich mittlerweile Vergangenheit war, und daß Geschichtsschreibung nicht mehr der Beschreibung und Bewah-
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Bemey, S. 66/67 weist auf, jene Kreuzung von Reichstraditionalismus und romantisch-historischer Wunschgesinnung" hin, die bei Johann Friedrich Böhmer, „einem anderen bedeutenden Vertreter der romantischen Wissenschaft", „besonders eindeutig" aufgetreten sei. Die alte Reichstradition sieht er vom romantischen „Denkbild von ,Kaiser4 und ,Reich4, welches Schlegel, Görres und ihre zahlreichen Mitgänger [...] umzusetzen trachteten", zu neuem Leben, „neuer politischer Fruchtbarkeit" erweckt, was wohl zu stark gewichtet sein dürfte. Daß aber das romantische Staats- und Geschichtsdenken, die „Frucht jener Zeitwende und jenes katastrophenhaften Bruches der Entwicklung, welche durch Revolution und Imperialismus hervorgerufen werden", durchaus auf einen von der alten Reichstradition bereiteten Boden fallen, triât sicherlich zu (ebd., S. 65/66). 26
Vgl. o. S. 137-139. Döllinger verfügte in seiner Bibliothek über eine reichhaltige Auswahl von Werken reichspublizistischer, reichshistorischer sowie solcher Autoren, die dieser Tradition nahestanden oder aus ihr hervorgingen. Vgl. Bibliotheca Döllingeriana. Katalog der Bibliothek des verstorbenen kgl. Universitäts-Professors J. J. J. von Döllinger, München 1893, hier u.a. Nr. 12 324-26 (Gatterer), 12 353/54 (Heeren), 12 447 und 14 872 (Schlözer), 12 464 und 13 501/02 (Spittler), 13 024 (Gebauer), 13 274 (Ludewig), 13 385-88 und 17 642-45 (Pütter), 17 361 (Gundling), 17 504/05 (Lapide), 17 728 (Schmauss), 17 75157 (Senckenberg), 17 795/96 (Struve). Möglicherweise könnte eine Einzeluntersuchung der in der Münchner Universitätsbibliothek noch vorhandenen Exemplare aus der Döllinger-Bibliothek anhand eventueller Glossierungen Döllingers genaueren Aufschluß über dessen Rezeption dieser Autoren geben. 28 Hammerstein, Reichs-Historie, S. 86/87, über die historisch-politischen Grundhaltungen von Reichspublizisten und -historikem. 27
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rung eines juristischen status quo dienen, sondern zur Erkenntnis des Vergangenen als Grundlegung eines adäquaten Neubaues unter veränderten Rahmenbedingungen beitragen sollte. Bei allen vorhandenen direkten und indirekten Bezügen: großdeutsche Geschichtsschreibung im neunzehnten Jahrhundert ist keine verlängerte Reichshistorie. 29 Sie stellt - wie auch ihr kleindeutsch-borussianischer Widerpart - ein spezifisch neues Phänomen dar, entstanden in dem seit der Französischen Revolution nicht nur politisch sondern auch geistig veränderten Deutschland. Sie schöpft selbstverständlich, nicht nur inhaltlich, sondern auch in Hinsicht auf die Methodik ihres Faches, aus dem, was vor ihr war. Wirklich entscheidende Bedeutung fur ihre Eigenart, fur ihr Selbstverständnis erlangen jedoch andere Traditionen.
2. Romantik Was zunächst das zweite große geistige Kraftfeld, die »Romantik" betrifft, so fiel hier für die katholizistisch-konservativen, großdeutschen Historiker jenem Segment der „politischen Romantik" ein besonderer Stellenwert zu, das sich in Richtung des politischen Katholizismus weiterentwickelte. Die Hinordnung des vielfaltig Individuellen auf das zentrale ,Eine' stand als Kerngedanke im Mittelpunkt dieses Denkens. Wenn bis in die zweite und dritte Generation der großdeutschen Historiker hinein fast wörtliche Anklänge an den berühmten Beginn des Novalis-Aufsatzes „Die Christenheit oder Europa" immer wieder auffallen, so verweist dies weniger auf direkte Abhängigkeiten, denn auf die weite allgemeine Verbreitung sowie die Attraktivität des darin so vollendet formulierten Gedankengutes für die Geschichts- und Weltsicht jener Historikergruppe. „Es waren schöne glänzende Zeiten", eröffnete Novalis 1799 seine Abhandlung, „wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte ein Oberhaupt die großen politischen Kräfte. - Eine zahlreiche Zunft, zu der jedermann den Zutritt hatte, stand unmittelbar unter demselben und vollführte seine Winke und strebte
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Eine besondere Art der Wiederanknüpfung an die reichspublizistische und reichshistorische Tradition unternimmt innerhalb der zweiten Generation großdeutscher Historiker Onno Klopp: daß seine Stilisierung Leibniz' zum „ersten Großdeutschen" (vgl. o. S. 26/27 und u. S. 444) eine künstliche Traditionsstiftung darstellt, die nahezu an eine Vereinnahmung zum tagespolitischen Zweck grenzt und kaum mehr etwas mit lebendig wirkenden geistigen Strömungen zu tun hat, wird innerhalb einer Abhandlung zur „zweiten Generation" darzulegen sein. Zu Klopp und Leibniz vgl. Matzinger, S. 174; zu Leibniz im Überblick Hans-Peter Schneider: Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Stolleis, S. 197-226.
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mit Eifer seine wohltätige Macht zu befestigen. [...] Wie heiter konnte jedermann sein irdisches Tagewerk vollbringen, da ihm durch diese heilige Menschen eine sichere Zukunft bereitet und jeder Fehltritt durch sie vergeben, jede mißfarbige Stelle des Lebens durch sie ausgelöscht und geklärt wurde." 30 Jenem heiter leichten Einheitsideal des Friedrich von Hardenberg fugte Hurter im „Innocenz" das Prinzip der geordneten Rechtssphären hinzu; der gedankliche Kern blieb derselbe: „In dem Christenthum lag für alle seine Bekenner eine vereinigende und bindende Macht. Die Rechte Aller waren unter dessen Obhut gestellt, Aller Pflichten durch dasselbe bestimmt, geweiht; derjenige, der an der Spitze der großen christlichen Verbindung stand, sollte jene schützen, an diese erinnern. Es wurde hiedurch ein Weltregiment begründet, welches rechtmäßige Befugniß in jedem angewiesenen Kreise ehrte." 31 Noch der junge Carl Adolf Cornelius bewegte sich auf dieser Traditionslinie fort. 1847 charakterisierte er in einer Vorlesung über die Französische Revolution die alte Zeit mit ganz ähnlichen Worten: „Über der Grundlage der uralt germanischen Freiheit erhebt sich die Mannigfaltigkeit der staatlichen Bildungen, zu oberst die Könige von Gottes Gnaden, an ihrer Spitze der Kaiser; alles getragen und durchdrungen und veredelt durch die überall eingreifende Wirksamkeit der Institute der Kirche, die, selbst aufs Genaueste geordnet und als lebendiger Organismus ihrem Haupte unterthan, in allen Sphären des öffentlichen und Privatlebens, in den höchsten eben durch den Mund ihres Hauptes, Maß und Regel vorschreibt und die fernere Entwicklung leitet. Jedem soll sein erworbenes gutes Recht heilig und unversehrt erhalten werden, jeder schalte frei und ungehindert in seinem Kreise, der Handwerker und der Ritter, der Fürst und der Kaiser. Über alles und in allem aber soll das göttliche Wort als unmittelbares Gesetz walten, sein höchster Ausleger und Vollstrecker der Papst." 32 Jene Erfüllung, die Hurter empfunden habe, als er noch in Göttingen erste Bekanntschaft mit den Schriften Tiecks und Novalis' Schloß, leitete sich gewiß auch aus dem Gefühl der Geborgenheit her, das dieses und ähnliche Idealbilder einer auf das Eine hin geordneten Vielfalt zu erzeugen vermochten. „Ich sehnte mich nach etwas, was eine unnennbare Lücke in meinem Geiste ausfüllen sollte. 30 Novalis [= Friedrich von Hardenberg]: Schriften, Bd. Π. Im Verein mit Richard Samuel hg. von Paul Kluckhohn, Leipzig o. D. [1929], S. 67. Zwar 1799 bereits entstanden, wurde der Aufsatz erst 1826 zum erstenmal vollständig publiziert; vgl. ebd. die Einleitung des Herausgebers, S. 65/66. 31 Hurter, Innocenz ΠΙ, Π, S. 645. 32 Carl Adolf Cornelius: Vortrag zur Einleitung in Vorlesungen über die neueste französische Geschichte, gehalten am Lyceum Hosianum in Braunsberg im Wintersemester 1847/48 (BSB NL Cornelius, ANA 3 5 1 1 D 31), 12 v / 13 R . - Der o. S. 139 zitierte Ausschnitt aus einer Buchrezension Höflers enthält ebenso unüberhörbar Anklänge an den Aufsatz von Novalis, wie der Passus aus Georg von Hertlings Rede vor der Generalversammlung der Görresgesellschaft im September 1893 (o. S. 241).
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Aber unter meinen, handwerksmäßig Brodwissenschaft treibenden Bekannten war es mir unmöglich, dasselbe zu finden." Schließlich habe jedoch, wie er aus einer Aufzeichnung von 1808 ergänzt, Tiecks „Genoveva" seine „tiefsten Gefühle in frohe Bewegung" gesetzt, habe „hundert verborgene Bilder enthüllt" und „eine Fülle von Gedanken" entfesselt. „Novalis Schriften weckten theils neue Ansichten, berichtigten die vorhandenen, erfüllten mit stiller Wonne und berührten verschieden die Saiten meines Gemüths."33 Ähnliches wird wohl auch den jugendlichen Böhmer bewegt haben, von dem Janssen das Selbstbekenntnis überliefert, „mitten in der Atmosphäre der Romantiker" zu stehen und „diesen innerlichst" anzugehören. 34 Im Falle Böhmers äußerte sich die Hinneigung zu romantisch inspiriertem Gedankengut zuerst im Studium der bildenden Kunst des Mittelalters, schließlich der Architektur der Gotik und deren steingewordener Programmatik. Neben dem Moment der Erfüllung ungestillter Sehnsüchte, der Hingabe und der kontemplativen Versenkung, 35 kommt bei ihm jene - durchaus auch bei Hurter vorhandene - zweite Faszinationsquelle noch deutlicher zum Ausdruck: die Fähigkeit der Romantiker, anzuregen und zu begeistern. So reflektierte Böhmer gegen Ende seines Lebens, nach nahezu vierzig Jahren historischer Studien, rückblickend noch einmal über die Einflüsse der Romantik auf seinen geistigen Werdegang, präzisierte deren Wert hinsichtlich der Entwicklung seines geschichtswissenschaftlichen Metiers und hob abschließend als ihre eigentliche Bedeutung hervor: „Im Kreise der Romantiker war im Übrigen doch viel Dilettantismus, namentlich auch in Bezug auf das vaterländische Studium. Aber angeregt und begeistert haben sie alle." 36 Anregung und Begeisterung: Welche der „germanistischen" Wissenschaften, die in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ihren Aufschwung nahmen, sei es historische Rechtsschule, sei es Sprach- und Literaturwissenschaft oder sei es eben die Geschichtswissenschaft, formte nicht Impulse der Romantik zu Fragestellungen und Methoden um? 37 Da nahmen die später großdeutschen 33
Hurter, GuW I, S. 140/141. - Diese Stelle darf als klarer Beleg dafür gelten, wie sehr sich bereits in der Göttinger Zeit Hurters das neue romantische Gedankengut vor die älteren von Aufklärung und Reichstraditionalismus geprägten Traditionen schob. 34 Böhmer im Juni 1823, zit. bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 100. 35 Vgl. Hurter, GuW I, S. 140: „So oft ich sie [Tiecks Genoveva, 1h. B.] lese, wiege ich mich in süßer Melancholie. Genoveva stellte mir das Bild einer durch innige Vereinigung mit Gott gestärkten Seele vor Augen, die Alles mit Gleichmuth erträgt, deren innere Kraft auf den höchsten Gipfel gesteigert ist; der edle Drago, der liebliche Schmerzenreich sind Gebilde, die mich zu Thränen rühren, so oft ich sie betrachte [...]; stundenlang möchte ich vor ihnen stehen, sie anblicken." 36 Böhmer an Janssen, 19.7.1861 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΠΙ, S. 367). 37 Einen kurzgefaßten Überblick bietet hierzu Franz Schnabel: Der Ursprung der vaterländischen Studien (Vortrag auf der Tagung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine am 1. Juni 1949), o. O. [München] 1955; ausführlicher
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Traditionsstränge
Historiker nur Teil an einem allgemeineren Prozeß. Aber: auch sie nahmen Teil, auch sie trugen bei zur Genese moderner Wissenschaftlichkeit aus dem Geiste der Romantik. Eine genauere Beschreibung dieses Anteils bedarf, über den allgemein-unverbindlichen Begriff der „ R o m a n t i k " hinausgehend, weiterer Spezifikationen. Zusätzlich erscheinen dann mindestens zwei Traditionsstränge, die partiell zwar in das Kraftfeld „Romantik" einmünden, sich keinesfalls jedoch mit diesem decken: eine wenigstens bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückreichende Tradition spezifisch katholischer Geschichtsanschauungen sowie ein in der Reaktion auf die französische Revolution ausgeprägtes antirevolutionärkonservatives politisches Denken.
Π . „Gränzsteine"
In seinem polemischen Essay über katholische und protestantische Geschichtsschreibung nennt Constantin Höfler nicht alle, doch aber zwei dieser Traditionen beim Namen und schreibt ihnen die besonders wichtige Funktion von „Gränzsteinen" katholischer Geschichtsanschauung zu. Auf der einen Seite, in Abgrenzung und als Gegenmodell zu Voltaire, dem „Patriarch[en] des Unglaubens", erscheint Bossuet, „dessen unvergänglicher discours sur l'histoire universelle in allen Gemütern, die nicht die fadeste Ideenlosigkeit erfüllt, für alle Zeiten einen erschütternden Eindruck zu machen vermag, und die Großartigkeit göttlicher Anstalten zur Rettung des Menschengeschlechts dem Klügsten wie dem Blödesten gleich erhaben enthüllt." Auf der anderen Seite, mehr als hundert Jahre später und nun in Abgrenzung und als Gegenmodell zu Herder, steht Friedrich Schlegel, als Begründer einer „neuen Doctrin", einer Philosophie der Geschichte, „die ihre Gesetze aus den Tiefen des geistigen Lebens der Völker schöpfte/ 638 Kontrastierend zu beiden verweist Höfler auf „die mühevolle Arbeit", den „Danaidenversuch der deutschen Philosophie, aus sich selbst und mit Verläugnung aller christlichen Grundlagen zu fester Erkenntniß zu kommen." Während nämlich diese genötigt sei, die unendliche Weite der antiken Entwicklung noch einmal zu durchschreiten, habe sich das katholische Bewußtsein diesen Irrweg erspart und stehe reiner da als je, bereit, „den Kampf gegen Irrthum und Lüge auf s Neue zu bestehen."39 Mit harten Worten unterstützt Höfler die Wende der katholizistisch-konservativen Geschichtsanschauung gegen Aufklärung, Kantsche Philosophie und Neu-
ders., Deutsche Geschichte I, S. 185-280 und m , S. 38-162; schließlich Emst Schulin: Der Einfluß der Romantik auf die deutsche Geschichtsforschung, in: GWU 13 (1962),
S. 404—423. 38
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Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 317.
Ebd., S. 317/318.
Π. „Gränzsteine"
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humanismus, ohne diese Wende recht eigentlich zu begründen. Freilich, die Namen Bossuets und Friedrich Schlegels scheinen ihm Argumente genug zu beinhalten, um auf eine solche Begründung verzichten zu können. 1. Bossuet Jacques-Bénigne Bossuet (1627-1704), Bischof, Prediger und Prinzenerzieher, „ein Stilist von europäischem Ruf', 4 0 begründete eine spezifisch katholische Geschichtsschreibung für die Neuzeit durch zwei Werke vor allem, deren Kombination ihn gerade zum Vorbild und Traditionsstifter prädestinierte. Höfler erwähnt nur jenen „Discours sur l'histoire universelle", den Bossuet in seiner Eigenschaft als Erzieher des französischen Thronfolgers während der siebziger Jahre des siebzehnten Jahrhunderts verfaßte. Gegenstück und notwendige Ergänzung dazu bildet jedoch die „Histoire des variations des églises protestantes" des gegenreformatorisch bewegten Kirchenpolitikers Bossuet, eine Geschichte der protestantisch-reformatorischen Bewegungen und ihrer Lehren, deren Urteile wie eine unmittelbare Vorwegnahme der Reformationsbilder katholizistisch-konservativer Historiker des neunzehnten Jahrhunderts erscheinen. 41 Zur weiten geschichtsphilosophischen Überschau, zur universalgeschichtlichen Sinnsetzung des , JMscours" gesellt sich in der „Histoire" die vertiefende Analyse jenes entscheidenden Ereignisses der neueren Geschichte, welches den Kernpunkt dieser Sinnsetzung prinzipiell in Frage stellte: der Reformation. Ein heilsgeschichtliches Konzept, dessen Realisation an die Zwei-CivitatesLehre Augustins erinnert, setzt den Rahmen des „Discours". 42 Von der Weltschöpfung und der Erschaffung des ersten Menschen an folgt Bossuet dem Lauf der Zeiten zunächst bis auf Karl den Großen. 43 Einem chronologischen Überblick, der zwölf Epochen und sieben Weltalter unterscheidet, schließt er in zwei getrennten Teilen Erörterungen jener beiden Ereignisabläufe an, die ihm -
40 Friedrich Gundolf: Anfange deutscher Geschichtschreibung, hg. von Elisabeth Gundolf und Edgar Wind, Amsterdam 1938, S. 153; hier über Bossuet, S. 153-157. Zu Bossuet allg. vgl. Aimé Richardt: Bossuet, Ozoir-la-Ferrière 1992; Jean Meyer: Bossuet, Paris 1993. 41 Jacques-Bénigne Bossuet: Discours sur l'Histoire universelle, à Monseigneur le Dauphin. Première partie. Nouvelle Édition, Paris 1754 [zuerst ebd., 1681]; ders.: Histoire des Variations des Églises protestantes, 4 Bde. Paris21689 [zuerst ebd., 1688]. 42 Vgl. dazu Borodajkewycz, S. 63. Einen kurzen Überblick über Inhalt und Aufbau des „Discours" bei Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953, S. 129-135. 43 Ein später erschienener zweiter Teil fuhrt die Abhandlung bis zum Jahr 1700 fort: Continuation de l'histoire universelle de messire Jacques-Bénigne Bossuet depuis l'an 800 jusqu'à l'an 1700, Amsterdam 1704; dass., Luxemburg 1706.
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Traditionsstränge
zusammengenommen - Weltgeschichte erst konstituieren: die Entwicklungsgeschichte der jüdisch-christlichen Religion (La suite de la réligion ou la suite du peuple du Dieu) sowie die Entwicklungsgeschichte der großen weltlichen Reiche (Les changements des empires). Beide Abläufe durchdringen sich; Bossuet trennt sie vor allem, um seinem Schüler, dem Dauphin, deren fundamental verschiedene Gesetzmäßigkeit zu entwickeln. 44 Während sich die jüdischchristliche Religion in unwandelbarer Dauer und Einheitlichkeit entfaltet, lösen sich die weltlichen Reiche in fortwährenden Umwälzungen immer und immer wieder ab, 45 - ein Unterschied, der gleichzeitig auf die letzte Triebkraft der Geschichte verweist: Gott beziehungsweise die göttliche Vorsehung. Gott lenkt sein Volk - zuerst die Juden, später die Christen - , seine Kirche auf der von ihm unabänderlich vorbestimmten Bahn. 46 Der weltlichen Reiche bedient sich dieser Wille lediglich als Werkzeuge, deren er sich entledigen kann, sobald ihre Dienste den Erfordernissen des Heilsplans nicht mehr entsprechen. So kennzeichnen Ewigkeit und Stetigkeit in göttlichen, Wandel in weltlichen Dingen, beide gelenkt von der göttlichen „Providence", den Ablauf der Weltgeschichte. Der Dauphin als künftiger Herrscher möge alles daran setzen, seine Regentschaft im Einklang mit dieser Einsicht in die Ordnung der Welt so zu gestalten, daß er auf die Kirche als dem Sprachrohr des Heiligen Geistes höre und dadurch sein Reich so lange wie möglich im Dienste des göttlichen Heilsplanes halte. 47 Bossuets „Discours" präsentiert keine umwerfend neue Geschichtstheologie. Er zieht vielmehr für das siebzehnte Jahrhundert eine Art Summe katholischer Geschichtsauslegungstradition, deren Spur über das Mittelalter zurückführt bis auf Augustin. Aber sein Werk stellt einen wichtigen Meilenstein dar auf dem weiteren Wege dieser Tradition ins neunzehnte Jahrhundert hinein. Zwei zen-
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Bossuet, Discours I, Kap. 12. Ebd., Avant-Propos: „Mais comme mon intention principale est de vous faire observer dans cette suite des tems, celle de la Religion & celle des grands Empires: après avoir fait aller ensemble, selon le cours des années, les faits qui regardent ces deux choses, je reprendrai en particulier avec les refléxions nécessaires, premièrement ceux qui nous font entendre la durée perpétuelle de la Religion , & enfin ceux qui nous découvrent les causes des grands changemens arrivés dans les Empires " [Hervorhebungen Th. B.]. 46 Ebd. Π, Kap. 28:, Ainsi, tous les tems sont unis ensemble, & un dessein étemel de la divine Providence nous est révélé. La tradition du Peuple Juif & celle du Peuple Chretien ne font ensemble qu'une même suite de Religion, & les Ecritures des deux Testamens ne font aussi qu'un même corps & un même Livre." Vgl. auch ebd. ΠΙ, Kap. 1: „Les révolutions des Empires sont reglées par la Providence, & servent à humilier les Princes" und ΠΙ, Kap. 8: „Conclusion de tout le discours précedens, où l'on montre qu'il faut tout raporter à une Providence." 47 Ebd. Π, Kap. 30. 45
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traie Prinzipien des „Discours" finden dann vor allem Eingang in die neue katholische Historiographie, erscheinen wieder im Rahmen jener Prämissen, die Döllinger und Höfler für Wissenschaft im allgemeinen und für Geschichte als Wissenschaft im besonderen setzen: die Vorstellung des Einen als Sinnzentrum sowie die Ansicht von der Offenbarung Gottes in der Geschichte, die sich nach wie vor auch bereit findet, die Vorsehung als geschichtliche Triebkraft zu akzeptieren. Trotz alledem hätte Bossuet mit der „historischen Theodicee" seines „Discours" allein den Ruf eines Begründers spezifisch katholischer Geschichtsschreibung der neueren Zeit wohl nicht erlangt. Dazu bedurfte es erst seiner „Histoire des variations des églises protestantes", 48 die zwar nur logisch auf den Kerngedanken des ,,Discours" aufbaut, ob ihres Sujets jedoch ungleich größere Resonanz erntete. Unter der Voraussetzung, daß ein unwandelbarer göttlicher Wille den Lauf der Geschichte lenke und daß in Form der Kirche eine von Gott eingesetzte Institution die eine geoffenbarte Wahrheit auf Erden vertrete, kann eine Bewegung, die just diese Autorität leugnet, nur als Häresie erscheinen. Die kirchenreformatorische Bewegung des sechzehnten Jahrhunderts, so Bossuets These, unterliege, einmal abgelöst vom Brunnen der ewigen Wahrheit, einem permanenten Prozeß der Zersplitterung und Zersetzung in widerstreitende Sekten, Meinungen und Lehren, denen kein Anspruch mehr auf Einklang mit dem tatsächlichen göttlichen Willen zukomme und die zwangsläufig keinem anderen Ende entgegensehen dürften, denn der vollkommenen Selbstauflösung. Kurz: der geoffenbarten Objektivität, repräsentiert durch die Autorität der katholischen Kirche, stehe die ketzerische Subjektivität der reformatorischen Gruppen entgegen; der einen Mitte widerstreite das zusammenhanglos Viele. 49 Aus diesem dogmengeschichtlichen Kern leiten sich ohne weiteres jene Gesichtspunkte ab, die auch in den Werken der katholizistisch-konservativen Historiographie des neunzehnten Jahrhunderts das Bild der Reformation bestimmen: das politische Hauptinstrument der Protestanten sei Gewalt und Aufruhr, permanente Revolution 50 - Reformation als Revolution; der Verfall der
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Allgemein zur „Histoire des Variations" Dickens / Tonkin, S. 110-112. Bossuet, Histoire des Variations, Préf., Abs. 29 und X V , Abs. 176: „Ces maximes de division ont esté le fondement de la Réforme, puis qu'elle s'est établie par une rupture universelle, et l'unité de l'Eglise n'y a jamais esté connu: c'est pourquoy ses Variations, dont nous avons enfin achevé l'Histoire, nous ont fait voir ce qu'elle estoit, c'est-à-dire, un Royaume désuni, divisé contre luy-mesme, et qui doit tomber tost au tard: pendant que l'Eglise catholique immuablement attachée aux decrets une fois prononcez, sans qu'on y puisse montrer la moindre variation depuis l'origine du Christianisme, se fait voir une Eglise bastie sur la pierre [...], ferme dans ses principes, et guidée par un esprit qui ne se dément jamais." 50 Ebd. I, Abs. 34. 49
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Traditionsstränge
kirchlichen Autorität auf geistiger gehe einher mit Anarchie auf materieller Ebene51 - die materiellen Kirchengüter als trefflicher Quell persönlicher Bereicherung; die Abspaltung von kirchlicher, sprich päpstlicher Autorität führe vom Regen in die Traufe: die reformatorischen Gemeinschaften seien in der Regel gezwungen, sich einer anderen, der weltlichen Autorität, unterzuordnen. Damit ende die alte Unabhängigkeit der kirchlichen von der weltlichen Gewalt 52 Cäsaropapismus der Landesherrn. Freilich bewegte Bossuet kein inquisitorischer Fanatismus. Allen harten Urteilen gegen die Reformatoren zum Trotz hegte er doch die Hoffnung auf dereinstige Wiedervereinigung der Konfessionen und betonte die Gemeinsamkeiten beider Seiten in der irenischen Absicht, dadurch einer Vermittlung vielleicht schon Vorschub zu leisten. Diese Hoflhung mußte ihn beseelen, konnte ihn doch jener grundsätzliche geschichtstheologische Rahmen des „Discours" die Reformation nur als einen Irrweg begreifen lassen, den die göttliche Vorsehung beschlossen und aus dem eben diese früher oder später auch wieder herauszuführen hatte. In der Vorstellung von der letztendlichen Selbstauflösung der protestantischen Gruppierungen durch fortwährende Zersplitterung, welche die eine Wahrheit in umso hellerem Lichte dann erstrahlen lasse, scheint dieser Gedanke mit angelegt. Bemerkenswert, daß ausgerechnet der Protestant Böhmer einem Verständnis dieser grundsätzlichen Haltung der „Histoire des variations" viel näher stand als der katholische Theologe Döllinger. Von Clemens Brentano auf Bossuets Werk hingewiesen, bemerkte Böhmer, ihm gefalle die ruhige und stets auf Beweise gestützte Art des Vortrages, aber erstaunt sei er über das Licht, das auf die Sache selbst falle. „Es bedurfte Zeit, bis einer auftrat, so ruhig zu sprechen; noch mehr, daß er auch andere finde, ihn zu hören. Nur der Indifferentismus konnte dahin fuhren, und es ist mir nun mit einem Mal der Gedanke aufgegangen, zu welchem Zwecke Gott ihn zugelassen haben mag. In der That kommt es mir vor, daß je weiter sich die Menschen im Allgemeinen von der Religion entfernt haben, sie im Einzelnen um so näher an der Erkenntniß der Wahrheit stehen, wenn sie dieselbe nur überhaupt recht um Gottes willen suchen wollen. Zu solchem Wollen aber möge Der da oben die Herzen erwecken und die Kraft verleihen." 53 Döllinger hingegen, der sich in einem Artikel für Wetzer und Weltes Lexikon 1848 ausführlicher mit Bossuet auseinandersetzte, kritisierte dessen irenische Haltung, weil diese es vermeide, die letzte Consequenz zu ziehen und also den vollen Gegensatz nicht aufdecke, „den das protestantische Dogma gegen das katholische bildet." Dadurch habe Bossuet
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Ebd. V , Abs. 7. Ebd. V, Abs. 8. 53 Böhmer an Clemens Brentano, 10.12.1825 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 157/158; Hervorhebungen Th. B.). 52
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„den Rechten der Geschichte und dem wissenschaftlichen Werthe seines sonst meisterhaften Werkes wesentlich Abbruch gethan."54 Liegt in dieser Kritik nicht ein Antrieb Döllingers verborgen, sein eigenes Werk über die Reformation anders anzulegen? Tatsächlich scheint sich zwischen Bossuets „Histoire des variations" und Döllingers „Reformation" eine solche Verbindung herstellen zu lassen. Beschränkt zwar auf den Bereich des lutherischen Bekenntnisses zieht Döllinger genau die von ihm geforderten Konsequenzen und zeichnet in aller Schärfe jene Gegensätze zwischen protestantischem und katholischem Dogma, die ihm aus Bossuets Werk nicht in der gewünschten Prägnanz hervorgehen. Offensichtlich hielt Döllinger in den späten vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts klarere Grenzziehungen und unverschleierte Positionsbestimmungen katholischerseits für notwendiger als den Hinweis auf eventuelle Gemeinsamkeiten. Das seit 1837 gespannte Klima zwischen den Konfessionen wirkt hier deutlich mit ein. Dies alles hinderte Döllinger jedoch nicht, nur wenige Jahre später in seiner Luther-Skizze auch andere Töne anzuschlagen.55 Böhmers und Döllingers unterschiedliche Urteile verweisen auf verschiedene Möglichkeiten der Rezeption Bossuets. Wo der orthodox katholische Theologe Einwände gegen eine vermeintlich zu weit fuhrende Vermittlungsbereitschaft vorbringt, bildet diese im Zusammenhang mit der Annahme, auch in jenen „Irrwegen" könne doch die Nähe Gottes zum Ausdruck kommen, dem suchenden Protestanten Böhmer durchaus Anreiz und Grund zur Dankbarkeit. 56 In doppelter Hinsicht konnte also Bossuet mit seinen beiden sich ergänzenden Werken als „Gränzstein" katholizistisch-konservativer Geschichtsauffassung dienen: indem sie die Empfindung geistiger Verwandtschaft weckten, übten seine Deutungsmuster Anziehungskraft aus auf Suchende; dem ohnehin Übereinstimmenden aber stellten sie Ausgangspunkt dar für Kritik und Weiterentwicklung. Grundsätzlich ergab sich der Reiz Bossuets aus jener Kombination von universaler Geschichtstheologie und Reformationsdeutung, die in ähnlicher Weise eine Korrespondenz von Wissenschaftsbegriff und konkretem historiographischem Urteil verwirklichte, wie sie - in weitergebildeter Weise freilich - katholische und dem Katholizismus nahestehende Historiker des neunzehnten Jahrhunderts, von Döllinger bis Hertling, ebenfalls anstrebten.
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Ignaz Döllinger: Art. ,3ossuet", in: Wetzer und Welte Π (1848), S. 123-130, hier S. 125. - Die Schriften Bossuets bildeten für Döllinger auch in späteren Jahren einen wichtigen Ausgangspunkt seines Nachdenkens über die Frage der kirchlichen Orthodoxie. Reflexe dieses Nachdenkens finden sich immer wieder im Briefwechsel mit Lord Acton (s. Einleitung, Anm. 126). 55 Vgl. o. S. 209-213. 56 Böhmer an Brentano, 10.12.1825 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 157): „Dagegen bin ich Ihnen für Bossuet's Empfehlung sehr viel Dank schuldig geworden."
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366 2. Friedrich
Schlegels Geschichtsphilosophie
Johann Friedrich Böhmer konnte Friedrich Schlegel, dem zweiten von Höfler so bezeichneten „Gränzstein" katholischer Geschichtsanschauung, keine Sympathie entgegenbringen. Selbst prinzipienfest und von kompromißloser Stetigkeit der Werte, sah er Schlegel vor allem von ausschweifender Sinnlichkeit beherrscht, nach außen repräsentiert durch dessen hervorragendstes Merkmal, den Bauch. In einer Literaturzeitung habe einmal einer behauptet, Schlegel habe ein Stück vom Herzen in seine Schriften gelegt. „Warum nicht richtiger gesagt, ,ein Stück vom Bauch'? Wenn das Bild nur nicht so indecent und der Bauch mit dem Manne nicht gar zu verwachsen gewesen wäre." 57 In Böhmers persönlicher Abneigung kommt wohl eine ehrlichere Haltung dem sprunghaften Genie gegenüber zum Ausdruck, denn in der kritiklos panegyrischen Haltung mancher Katholiken, die nach Schlegels Konversion und restaurativer Wende so manche Züge seines Vorlebens zu beschönigen neigten, die sie im Falle anderer, weniger dem Katholizismus zustrebender Geister nicht oft genug anprangern konnten. Freilich, da war ein Großer übergetreten, stellte seine Gaben nun in den Dienst der katholischen Sache. Warum also alte Sünden aufwärmen? 58 Weit weniger noch als im Falle Bossuets ging es bei der Rezeption Schlegels durch das katholizistisch-konservative Denken der ersten Hälfte des neunzehn-
57 Böhmer an Janssen, 19.7.1861 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΙΠ, S. 367). Böhmer hatte Friedrich Schlegel 1819 in Rom anläßlich einer Ausstellung der dortigen deutschen Künstler kennengelernt. Kleinstück, S. 110, überliefert aus dieser Zeit eine ganz ähnliche Äußerung Böhmers über Schlegel. 58
In der Skizze etwa, die Joseph Matthias Hägele 1856 für den Nachtragsband des Kirchenlexikons von Wetzer und Welte verfaßte (ΧΠ, S. 1087-1092), erfährt vor allem Schlegels Werk der zweiten Lebenshälfte Würdigung. Schlegel firmiert da als „der bedeutendste wissenschaftliche Vertreter der neueren romantischen Schule, welche auf die Wiedererhebung des Katholicismus nach der Dürre und Verflachung des 17. und 18. Jahrhunderts einen eben so großartigen und tiefgreifenden Einfluß ausübte, den allseitig und richtig zu würdigen erst die Zukunft im Stande sein wird" (S. 1087). War die „Lucinde" das verwirrte Fragment eines unreifen Geistes, so gehöre, „was er als Historiker, Philosoph und Staatsmann von dieser Zeit [1808 - dem Jahr der Konversion] an geleistet [...], zum Besten, was in der teutschen und in der katholischen Literatur insbesondere geleistet wurde" (S. 1090). Die Vorlesungen über neuere Geschichte und Literaturgeschichte zählten demzufolge „zu seinen anerkannten Meisterwerken" (ebd.). Das von Hägele angerufene Urteil der Zukunft in Form der heutigen Schlegel-Forschung zeigt sich im übrigen - fernab von jeglichen moralisierenden Gesichtspunkten durchaus bereit, Friedrich Schlegel die Eigenschaften eines „Wendehalses" zu attestieren. Vgl. Jochen Hörisch: Art. „Friedrich Schlegel", in: Killy 10(1991), S. 260-264, hier S. 263; als Überblick weiterhin Thomas Brechenmacher: Art. „Friedrich Schlegel", in: Bautz I X (1995), S. 241-250.
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ten Jahrhunderts um eine ehrliche Auseinandersetzung mit dessen Person, geschweige denn um deren Gesamtwürdigung. Nur derjenige Ausschnitt seines umfangreichen und vielschichtigen Werkes stieß auf Interesse, der geeignet war, die Tradition fortzuschreiben, deren Inhalte zu vertiefen, aber auch einer infolge der Französischen Revolution vollkommen veränderten historischen Situation anzupassen. Tatsächlich steuerte Schlegel hierfür Umfassendes bei. Die Kölner Vorlesungen über Universalgeschichte von 1805/06 ergänzte 1828 sein letzter vollständiger Vorlesungszyklus „Philosophie der Geschichte".59 Dazwischen lag sein Bemühen, der neueren europäischen Geschichte vom Alten Reich und von der Rolle Österreichs her eine Perspektive zu verleihen (Vorlesungen von 1810/11) sowie im Concordia-Aufsatz von 1820/23 seiner eigenen Gegenwart zur „Signatur des Zeitalters" zu verhelfen. 60 Böhmers Antipathie hin, überzogene katholische Konvertitenpanegyrik her: an Friedrich Schlegel, an dem in diesen Werken repräsentierten „ersten großangelegten Versuch katholischen Geschichtsdenkens in Deutschland"61 kam und kommt nicht vorbei, wer über die Begründung spezifisch katholizistisch-konservativer Geschichtswissenschaft nachdachte oder nachdenken will. Höfler begründete Schlegels „Gränzsteinfunktion" vor allem mit dessen Leistungen für eine katholische Philosophie der Geschichte, „die ihre Gesetze aus den Tiefen des geistigen Lebens der Völker schöpfte." 62 Damit nahm er direkten Bezug auf Schlegels geschichtsphilosophischen Vorlesungszyklus von 1828, den dieser selbst als eine „ernste Völkerrevue" charakterisiert hatte. Alle untergegangenen Völker und Reiche „oder auch die welche noch dem Untergang entgegenreifen", wollte er „von Anfang bis zu Ende" vorüberziehen lassen. Als Prinzip des Cursus bezeichnete Schlegel aber, den ,inneren göttlichen Lebensund Lichtkern in jeder Nation" hervorzuheben, „wie sie ihn in ihrem Antheil an dem ewigen Worte von Gott erhalten hat", und nachzuweisen, „wie er erstorben
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Friedrich Schlegel: Vorlesungen über Universalgeschichte (1805-1806), hg. von Jean-Jacques Anstett, München/Paderborn/Wien 1960 (= Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, hg. von Emst Behler u.a., Bd. 14); ders.: Philosophie der Geschichte. In achtzehn Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1828, hg. von Jean-Jacques Anstett, ebd. 1971 (= Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 9). 60 Friedrich Schlegel: Studien zur Geschichte und Politik, hg. von Emst Behler, München/Paderborn/Wien 1966 (= Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Emst Behler u.a., Bd. 7), hier S. 125-407: Über die neuere Geschichte; ebd., S. 483-598: Die Signatur des Zeitalters. 61 Clemens Bauer: Ludwig von Pastor. Ein Profil, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Freiburg/Brsg. 1965, S. 466-475, hier S. 470. 62 Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 317.
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und die Blüthe abgefallen ist, oder wie er noch zur Frucht der Unsterblichkeit gedeihen kann." 63 Nicht anders als bei Bossuet wirkt auch im System Schlegels die Kraft Gottes in der Geschichte. Freilich kommt aber in der Schlegelschen Geschichtsphilosophie der Menschheit - den Völkern - eine aktivere Rolle als handelndes Subjekt zu. Bewegt sich bei Bossuet die geoffenbarte Wahrheit in ewiger Permanenz neben den sich stets wandelnden Geschicken der irdischen Reiche her und vereinigt sich nach dem Plan der göttlichen Vorsehung einmal mit diesem, ein andermal mit jenem „Empire", so trägt nach Schlegels Auffassung die Menschheit einen Kampf aus um die Wiederherstellung der einst besessenen aber durch den Sündenfall verlorenen göttlichen Ebenbildlichkeit, 64 deren Wiedererwerb der,,Fürst der Welt" beziehungsweise der negierende „Zeitgeist" hintertreibt. 65 Gott aber läßt den Menschen in jenem Kampfe nicht allein; er setzt Zeichen, um zu verkündigen, daß der Kampf nicht vergebens sei. Nach der Art dieser Zeichen unterscheidet Schlegel drei Weltalter: die Periode des Wortes, der Kraft und des Lichtes. Im ersten Weltalter habe das geoffenbarte Wort einen festen Anhaltspunkt geliefert für den Glauben des Menschen an die dereinstige Wiederherstellung des Bewußtseins göttlicher Ebenbildlichkeit; im zweiten habe die Kraft der Erlösungstat Jesu Christi die Menschheit errettet; im dritten und gegenwärtigen schließlich leuchte das Licht der höheren Wahrheit und verweise auf das kommende Reich Gottes, dem Ziel aller menschlichen Hoffnung, der Vollendung der Weltgeschichte.66 „Dieser Stufengang der allgemeinen Wiederherstellung in der Weltgeschichte, nach dem Worte, der Kraft und
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Schlegel an Christine von Stransky, 25.12.1827 (Max Rottmanner [Hg.]: Friedrich Schlegels Briefe an Frau Christine von Stransky geborene Freiin von Schleich, 2 Bde., Wien 1907/11 [= Schriften des literarischen Vereins in Wien, Bd. V I I und XVI], hier Π, S. 233). 64 Schlegel, Philosophie der Geschichte, Vorrede, S. 5: „Die Wiederherstellung des ganzen Menschengeschlechts zu dem verlomen göttlichen Ebenbilde [...] historisch zu entwickeln, bildet den Gegenstand für diese Philosophie der Geschichte." Schlegel parallelisiert diesen Ansatz zu seiner vorangegangenen "Philosophie des Lebens", deren Aufgabe es war, „die erste Erweckung oder Erregung des höheren Bewußtseins zur wahren Erkenntnis und Erkenntnis der Wahrheit", d. h. zum Bewußtsein der göttlichen Ebenbildlichkeit innerhalb des einzelnen Menschen, darzustellen (ebd.). - Sündenfall: „Wem aber unter allen Geschöpfen der Erde allein das Wort verliehen war, der ist eben auch damit zum Herrn und Beherrscher derselben eingesetzt worden. Sowie er aber diesen göttlichen Mittelpunkt in seinem Innern, dieses ihm gegebene, und mitgeteilte, oder anvertraute Wort des Lebens verläßt und verliert; so sinkt er zur Natur herab, und wird nun, statt daß er ihr Herr sein sollte, ihr untertänig; und dieses ist der Anfang der Menschengeschichte." (Ebd., Erste Vorlesung, S. 30). 65 Ebd., Achtzehnte Vorlesung, S. 426/427. 66 Ebd., Vorrede, S. 3.
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dem Lichte Gottes, nebst dem Kampfe mit allem, was diesem göttlichen Prinzip im Menschengeschlecht feindlich entgegen stand, und entgegen wirkte", könne, so fuhrt Schlegel über die Methode seiner Vorlesungen aus, „nur in einer lebendigen Charakteristik der verschiedenen Nationen, und einzelnen Zeitperioden entwickelt und dargestellt werden." 67 Gewiß, noch stehe die endgültige Wiedererlangung des Bewußtseins in weiter Ferne. Reformation, Aufklärung, „revolutionärer Schwindel": dies seien die Emanationen des negativen Zeitgeistes, die auch in der dritten Weltperiode, der Periode des Lichtes, jenem Bewußtseinsprozeß entgegengearbeitet hätten.68 Gleichwohl mehrten sich seit der Niederschlagung des Revolutionsgeistes Anzeichen für ein „Zeitalter der Wiederherstellung", 69 welche auf einen tatsächlich bevorstehenden Sieg christlicher Philosophie und katholischer Staatsgrundsätze hindeuteten. Schlegel beschließt seine Geschichtsphilosophie mit einem prophetischen Ausblick auf die Möglichkeit einer „vollendeten religiösen Wiederherstellung des Staates und auch der Wissenschaft", worin „die Sache Gottes und das Christentum vollständig auf Erden siegen und triumphieren werde." 70 Obwohl er damit konkret auf die restaurativen Tendenzen der Heiligen Allianz anspielt,71 geht er dennoch nicht so weit, in dieser Entwicklung die Menschheitsgeschichte tatsächlich am Ziel zu sehen. Bewußt verharren seine Ausführungen in der Schwebe einer Mystik, welche Hoffnung weckt und Erfüllung verheißt, ohne aber eine Erlangung des Heils definitiv zu verkünden. „Den Schluß des Ganzen kann aber nebst jenem uralten Glauben an die göttliche Offenbarung, und in der vollen Aneignung der christlichen Liebe, nur jene mehrmals schon ausgesprochene, und auch für unsre Zeit, als die letzte Schwelle der herannahenden Zukunft, besonders wiederholte religiöse Hoffnung [...] bilden." 72 Damit stehen am Ende die Konstanten, mit denen der Mensch „in diesem die Weltgeschichte ausfüllenden Kampf gegen die eigne Schwäche" als „göttlichem Stützpunkt, und Anhalt der Hülfe" rechnen kann: die göttliche
67
Ebd. Ebd., Achtzehnte Vorlesung, S. 427. 69 Der Titel der achtzehnten und letzten Vorlesung lautet: „Von dem herrschenden Zeitgeiste, und von der allgemeinen Wiederherstellung. Ich komme bald, und mache alles neu" 70 Ebd, Achtzehnte Vorlesung, S. 428; vgl. ebd. S. 419. 71 Ebd., S. 419/420: „Das feste Band des innern religiösen Zusammenhanges zwischen allen europäischen Staaten wird um so stärker werden, um so entwickelter hervortreten, je mehr jeder einzelne Staat in der eignen religiösen Wiederherstellung in seinem Innern fortschreitet, und je sorgfaltiger jeder Rückfall in die falschen Idole einer täuschenden Freiheit oder trügerischen Ruhmsucht als die Überbleibsel des ehemaligen Revolutionsgeistes vermieden, und auch jede andre Art oder neue Form von politischer Abgötterei weggeräumt wird." 72 Ebd., Achtzehnte Vorlesung, S. 428. 68
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Brechenmacher
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Offenbarung, die göttliche Liebe und die Hoffnung. 73 Die Geschichte ist offen, aber ihr Pfad ist bestimmt und fur den Menschen aufgrund jener Konstanten mit Zuversicht zu beschreiten. 3. Herder, Schelling, Hegel: abzulehnende Entwürfe Noch vor einer Betrachtung der Ausführungen Schlegels über die neuere Geschichte eröffnet sich die Möglichkeit, ausgehend von seiner Geschichtsphilosophie jene erbitterte Ablehnung besser verstehen zu lernen, mit der katholische und dem Katholizismus nahestehende Historiker die anderen großen geschichtsphilosophischen Entwürfe der Zeit bekämpften. Denn auch die Systeme Herders, Schellings, Hegels bilden ja „Gränzsteine", wenn auch freilich nicht solche, die noch auf eigenem, sondern die bereits auf fremdem Gebiet stehen. Höfler selbst setzt in seiner Abhandlung Schlegels Geschichtsphilosophie in bewußten Kontrast zu Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit." Herder mangele es an „Solidität"; er leide unter der bekannten Beliebigkeit der protestantischen Bibelexegese, die er auf die Geschichte übertragen habe. „Von ihm her stammt die Krankheit der Deutschen, in der thatsächlichsten aller Wissenschaften, in der Geschichte, nicht Thatsachen, nicht positive Belehrung, sondern nur Ansichten zu suchen." Diese Ansichten sieht Höfler zusätzlich noch geleitet von zwei Wissenschaften, die seiner Meinung nach im Bereich der Geschichte nichts zu suchen haben, vor allem dann, wenn sie im Geiste eines Indifferentismus à la Voltaire betrieben würden: der aufklärerischen Philosophie sowie der Naturwissenschaft. 74 Schwer zu erkennen zwar, aber immerhin, verbirgt sich hinter Höflers Attitude des orthodox-katholischen Polemikers auch inhaltliche Kritik an den Herderschen „Ideen". Wenn er insbesondere einen von Herder heraufbeschworenen ,Alteweibersommer eines Christenthums", einen „künstlich geschaffenen Gegensatz der Humanität zum Christenthum" beklagt, der „eine Fluth schlechter Ideen in die Geschichte brachte", 75 kann er damit nur den von Herder implizierten Rückzug Gottes aus der Weltgeschichte meinen. Gott habe zwar - Herder zufolge - dem Menschen seine spezifische „Natur" geschaffen, deren Zweck in der Beförderung der „Humanität" liege. 76 Danach jedoch habe sich der Schöp73 E b d 74
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Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 313/314. 75 Ebd. 76 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Leipzig o. D. [1881] (= Herder's Ausgewählte Werke, hg. von Adolf Stem, Bd. 3). Herder formuliert die Grundlinien seiner Konzeption zusammenfassend im wichtigen XV. Buch. Hier Kap. 1 : ,»Humanität ist der Zweck der Menschen-Natur und Gott hat unserem Geschlechte mit diesem Zwecke sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben."
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fer aus der Geschichte verabschiedet, habe den Menschen mit dieser Zweckbestimmung sich selbst und seinem irrenden Streben überlassen. 77 Gleichwohl aber bedeute dies keine letzte Gottverlassenheit des Menschen: die Bestimmung zur „Humanität" sei gleichzeitig eine „Naturgesetzlichkeit", derzufolge die Menschheit sich - trotz ihrer Irrtümer und Fehlentwicklungen, aus denen sie gerade lernen sollte - fortschreitend nach oben entwickle. „Vernunft und Billigkeit" leiten sie zur zunehmenden Erkenntnis dieser Gesetzlichkeit sowie zum Handeln in deren Sinn. 78 Das Ziel der Geschichte wäre erreicht, sobald die Humanität sich dauerhaft und vollkommen unter den Menschen entfaltete. 79 Herder spaltet nicht gerade, wie Höfler suggeriert, Humanität und Christentum. Aber er geht doch jenen entscheidenden Schritt in Richtung einer Säkularisation der Weltgeschichte, den der orthodoxe Katholik nicht mehr nachvollziehen kann. Geschichte wird zur Menschensache. In ihrem Lauf vollzieht sich naturgesetzlich und „vernünftig" die Entwicklung des Menschen zu seiner höchsten Bestimmung. Des göttlichen Eingreifens bedarf es nicht mehr. Der Vergleich mit Schlegel verdeutlicht den Unterschied zu ,katholischer' Geschichtsphilosophie. Auch in dessen System kämpft ja der Mensch um seine höchste Bestimmung - die Wiedererlangung göttlicher Ebenbildlichkeit. Aber er kann dieses Ziel nicht allein aus sich erlangen; er benötigt die Hilfestellung Gottes, benötigt dessen Zeichen, dessen Liebe und Gnade. Über das irdische Dasein hinausweisend bleibt schließlich die eschatologische Perspektive. Auf Erden kann die Menschheit jenes Ziel nicht vollständig und dauerhaft erreichen, höchstens partiell und immer nur im Rahmen der begrenzten irdischen Verhältnisse. Insofern endet die Weltgeschichte für Schlegel nicht im tatsächlich „wiederhergestellten Zeitalter", sondern in der bewußten Schwebe der Anzeichen eines Zeitalters der Wiederherstellung, die aber vor allem Hoffnung wecken auf alsbaldige jenseitige Erfüllung. Das Zeitalter der Wiederherstellung ist ein
- Zu Herders „Ideen" sowie zu dessen Geschichtsdenken überhaupt vgl. Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, hg. von Carl Hinrichs, München 4 1965 (= Friedrich Meinecke Werke, Bd. ΙΠ), S. 355^44. 77 Ebd., X V , 1: „Die Gottheit hatte ihnen in nichts die Hände gebunden, als durch das, was sie waren, durch Zeit, Ort und die ihnen einwohnenden Kräfte. Sie kam ihnen bei ihren Fehlem auch nirgend durch Wunder zu Hilfe, sondern ließ diese Fehler wirken, damit Menschen solche selbst bessern lernten." (S. 427/428). 78 Ebd., X V , 3: „Das Menschengeschlecht ist bestimmt, mancherlei Stufen der Cultur in mancherlei Veränderungen zu durchgehen; auf Vernunft und Billigkeit aber ist der dauernde Zustand seiner Wohlfahrt wesentlich und allein gegründet." Ebd., X V , 4: „Nach Gesetzen ihrer inneren Natur muß mit der Zeitenfolge auch die Vernunft und Billigkeit unter den Menschen mehr Platz gewinnen und eine dauerndere Humanität befördern." 79 Die größte bisherige Nähe zu diesem Ziel erkennt Herder der griechischen Antike zu: Ebd., ΧΠΙ, v.a. Kap. 7. 2
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Zeitalter der verstärkten Hoflhung. Herder hingegen fuhrt den Menschen im Lauf der Geschichte durch sich selbst und unaufhaltsam zum Ziel. Zwar erkennt auch er dieses Ziel konkret noch nicht als erreicht, sieht - selbst zwischen Zuversicht und Resignation schwankend - jenen Fortschritt vielleicht überhaupt als progressus ad infinitum, der sich in Stufen immer wieder von neuem, einmal mehr, einmal weniger entfaltet. Wie auch immer aber: Herder konzentriert sich auf die irdische Geschichte, drängt die eschatologische Perspektive in den Hintergrund seiner Geschichtsphilosophie, wofern er nicht sogar ganz darauf verzichtet. 80 „Indessen geht die Vernunft und die verstärkte gemeinschaftliche Thätigkeit der Menschen ihren unaufhaltsamen Gang fort, und sieht es als ein gutes Zeichen an, wenn auch das Beste nicht zu früh reift." 81 Geht aus solchem Vergleich von Kernaussagen klar der Verlauf jener Trennlinie hervor, die den „Gränzstein" Herder vom „Gränzstein" Schlegel scheidet, so gestaltet sich die Bestimmung des Einflusses eines anderen geschichtsphilosophischen Vordenkers auf katholische und katholizistische Geschichtsanschauungen ungleich schwieriger. In Kenntnis der Biographie Höflers muß es nämlich zumindest als ungerecht erscheinen, daß dieser in seiner Revue der Traditionen zwar Schlegel anerkennend erwähnt, über Schelling jedoch stillschweigend hinweggeht. Hatte der nicht einen sehr viel stärkeren, persönlicheren Einfluß auf den Studenten und späteren katholisch-großdeutschen Historiker Höfler ausgeübt als Schlegel jemals? 82 Hatte Schelling nicht eigentlich Höfler vom reinen Rationalismus weggeführt, ihn auf die Suche nach dem Wirken Gottes in der Geschichte geschickt, angeregt durch eine Geschichtsphilosophie, die Borodajkewycz überschwenglich - ohne der Schlegelschen Beiträge zum Thema zu gedenken - als „die erste große bewußt christliche und vor allem geistig bedeutende seit langem - man wird wohl sagen können, seit Augustinus"
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Natürlich wären hier Differenzierungen angebracht. Für den Zweck der vorliegenden Arbeit müssen jedoch die knappen Hinweise auf die Grundtendenzen dieses so vielschichtigen und komplexen Werks genügen. Vgl. im übrigen Meinecke, Entstehung des Historismus, S. 416/417: „Die Abkühlung seiner [Herders, Th. B.] christlichen Religiosität hat nun nicht etwa sein geschichtliches Denken bis zu dem Punkte säkularisiert, daß er auf den Heilsplan Gottes für die Geschichte ganz verzichtet hätte. [...] Aber im Verlaufe der Arbeit nahm die Neigung sichtlich zu, die ganze Menschengeschichte als reine Naturgeschichte menschlicher Kräfte, Triebe und Handlungen zu verstehen. Mit Nachdruck lehnte er ab, nach einem ,eingeschränkten geheimen Plan der Vorsehung' zu suchen, lehnte auch eine »Philosophie der Endzwecke4 ab und wollte jedes geschichtliche Phänomen nur als Naturerzeugnis behandeln." Wenn Herder über den Umweg seines Humanitätsbegrififes das menschliche Dasein dann doch wieder transzendiert (dazu Meinecke, ebd., S. 420/421), hat dies mit dem spezifisch katholischen Verständnis von Heilsverheißung und Heilsgeschehen nur noch wenig gemein. 81 Mit diesem Satz endet das Werk, freilich als Fragment: Ebd., X X , 6 (S. 608). 82 Vgl. o. S. 135-137.
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charakterisieren zu können glaubte?83 Die Betonung freilich liegt auf christlich, nicht auf katholisch, und der Verdacht liegt nahe, Schelling habe vor allem die Rolle eines Propheten des Übergangs gespielt: sobald seine Adepten die andere Seite erreicht hatten, fand der ehemalige Meister ob seiner eigenen Halbheiten selbst Verurteilung. Außerdem konvertierte Schelling nicht, wie Schlegel; das bedeutete viel für das Urteil orthodoxer Katholiken. Endgültig erledigt aber war Schelling für diese Kreise, besonders in München, nachdem Döllinger 1843 in seinem großen Anti-Schelling-Aufsatz die „unübersteigliche Kluft" zwischen dessen Philosophie der Offenbarung und der Mythologie sowie den „Grundlehren des Christenthums" in katholischer Sicht herausgearbeitet hatte. Döllinger störte sich vor allem an Schellings Postulat eines „blinden", vor Gott existierenden Seins, welches dem gesamten christlichen Gottesbegriff zuwiderlaufe. 84 Aus demselben Postulat ergäben sich im übrigen auch zwei grundsätzlich voneinander abweichende Schöpfungsmythen sowie, damit in engster Verbindung, ganz konträre Perspektiven der Weltgeschichte. „Nach der Schelling'schen Philosophie ist die Schöpfung die Ausbildung eines schon vorhandenen, zufallig-nothwendigen Seyns: seine Welt hat also die Bedingung ihres Daseyns unabhängig von Gott. Wenn daher alle Formen und Bildungen vergingen, so bliebe dennoch das Seyn, das dem Grunde nach unabhängig von Gott existirt. Seine Philosophie vernichtet demnach die christliche Idee der Schöpfung und reproduzirt die heidnischen Meinungen griechischer Philosophen, welche die Präexistenz der Materie postulirten, und den allmächtigen Gott einem menschlichen Künstler gleichsetzten, der in einer schon vorhandenen Materie seine Ideen realisirt." 85 Wie Höfler im Falle Herders, prangert hier auch Döllinger ein Ausscheiden Gottes aus der Geschichte an. Weder Anfang noch Ende der Geschichte stelle Gott nach Schellings Auffassung noch dar. Der Lauf der Weltgeschichte verlöre in diesem Lichte seine typisch christlich-katholische Perspektive. Im Gefolge solch fundamentaler Kritik konnte freilich Höfler nur zwei Jahre nach der Abhandlung Döllingers und am gleichen Ort - den Historisch-politischen Blättern - die Schellingsche Philosophie nicht mehr als Traditionslinie benennen.86
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Borodajkewycz, S. 62/63. Döllinger, Die Schelling*sehe Philosophie und die christliche Theologie, S. 759. 85 Ebd., S. 757. Zum Geschichtsbegriff Döllingers vgl. auch o. S. 251/252. 86 Auf eine versteckte Reminiszenz an Schelling wollte Höfler dennoch nicht verzichten. Wenn er im Zusammenhang mit einem Blick auf positive wissenschaftliche Strömungen seiner Zeit die Mythologie erwähnt, so ist die darin verborgene Anspielung auf Schellings „Philosophie der Mythologie" kaum zu übersehen. ,3ereits hat man begonnen, bei der Unzulänglichkeit bisheriger Forschung die Mythologie neu zu begründen, und ihr als ein organisches Ganze den Rang anzuweisen, Schlüssel zu den mannigfachen 84
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Trotzdem: auch die derartige Verstoßung Schellings aus der Gemeinde der Vordenker katholischer Geschichtsanschauungen ändert nichts an dessen partieller Bedeutung für die Genese solcher Anschauungen im Denken einiger der späteren Hauptvertreter dieser Richtung. Sogar Hurter verleugnete nach seiner Konversion diesen Einfluß nicht. Als Göttinger Student sei er nach 1804 über zwei Schellingschüler mit dessen Gedanken in Berührung gekommen. Zwar behauptet er, nicht näher und schon gar nicht systematisch in Schellings Philosophie eingedrungen zu sein; aber sie habe ihm doch Sympathie erweckt durch ihre Wendung gegen den nackten Rationalismus der damals herrschenden Kantschen Schule. Eine solche Wendung habe „dem Zeitalter Noth" getan, und wenn er - Hurter - auch alsbald eingesehen habe, daß die Postulate der Schellingschen Philosophie „mit dem geoffenbarten Christenthum eben nicht besser in Einklang stünden, als diejenigen der kantischen Philosophie", so habe er die Schellingianer gleichwohl hochgeschätzt ob deren kritischen Blickes auf die geistigen Mängel der Zeit. 87 Ja, mehr unbewußt denn bewußt seien einige Züge Schellingscher Anschauungen sogar in das Vorwort seines Frühwerkes „Theoderich" eingeflossen. 88 So hat, scheint es, Hurters indirekte Begegnung mit Schelling einen ähnlichen Sinn wie Höflers direkte. In beiden Fällen markiert sie ein Durchgangsstadium auf dem Wege von einer aufklärerisch-rationalistisch geprägten Geschichtsanschauung zu neuen organologischen Auffassungen. An die Stelle von moralisierendem Deduzieren aus vorgegebenen Obersätzen tritt unter dem Einfluß Schellings eine zunächst noch mythisch verbrämte Schau von Entwicklung, Werden und Vergehen. 89 Hurter selbst ironisierte jene Übergangshaltung
Räthseln der alten Welt zu seyn." Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 319. 87 Hurter, GuW I, S. 138/139. 88 Ebd., I, S. 168. 89 Hurter, Theoderich I, Vorrede S. V - V I I I : „Wie die Geschichte (was in der Zeit vorhanden war und ist) die göttliche Idee als Urbild erkenne; wie sie hervorgehe aus der Natur (was im Räume existirt) und wie in beiden, verbunden mit Philosophie - eine göttliche Drei - das All in seiner ganzen Gestaltung liege; wie der unendlichen Fülle das Leben entströme und in seinem Ganzen ergriffen von der Materie, bedrängt und umschlossen von ihr, immanent sich darstelle in der Natur, transitiv aber in der Geschichte; wie in drei Perioden vorherrschend sich zeige entweder das Grosse und Erhabene, oder das Herzliche und Kindliche, oder das Schlechte und Gemeine; wie in der Geschichte schwindsüchtig seye das Nil admirari, gichtbrüchig der Wahn eines beständigen Kreislaufs und sinnlos die Meinung des unaufhörlichen Fortrükens des Menschengeschlechts [...]; wie die Geschichte weder ein Cento aus verschiedenen Lappen [...] noch eine Moral in Beispielen, weder ein Spiegel der Sitten, noch eine Schule der Tugend seye; dieses Alles wäre ein wichtiger Gegenstand für Prolegomenon einer allgemeinen Weltgeschichte, gleichsam eine Philosophie der Geschichte." - Geschichte zeige „eine Ebbe
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Johannes von Müller gegenüber: „Die Vorrede enthält Ansichten über die Weltgeschichte dunkel ausgedrückt, als Begriffe, die sich selbst noch nicht geläutert haben, und in sich wogend, keiner klaren Darstellung fähig sind." 90 Was Hurter auf die Vorrede seines „Theoderich" bezieht, träfe ebensogut auf Höflers Dissertation „Zur Geschichte der Anfange der Griechen" zu, die ja unter dem direktem Eindruck der Schellingschen Vorlesungen entstanden war. 91 Obwohl beide Erstlingswerke 24 Jahre auseinanderliegen, wirkt Schellings Denken auf beide Verfasser in nahezu identischer Weise ein. Diesen Einfluß Schellings auf zumindest zwei wichtige Vertreter der ersten Generation katholizistisch-konservativer, großdeutscher Geschichtsschreibung zu vernachlässigen, hieße, einen wichtigen Traditionsstrang außer Acht zu lassen. Überhaupt scheinen die Bezüge zwischen der Schellingschen Geschichtsphilosophie und der historistischen Wende der deutschen Geschichtswissenschaft insgesamt noch nicht in ihrem ganzen Gewicht erfaßt zu sein. Denn von einer Beschreibung des „wahrhaft Geschichtlichen", wie Schelling sie etwa 1842 in seiner „ P h i l o s o p h i e der Mythologie" gibt, führt ja nicht nur ein Weg zu den spezifisch katholischen Historiographen, sondern in viel allgemeinerem Sinne auch einer zu Ranke: „Das wahrhaft Geschichtliche besteht darin, daß man den in dem Gegenstand selbst liegenden, also den innern, objektiven Entwicklungsgrund auffindet; sowie aber dieses Princip der Entwicklung im Gegenstand selbst gefunden ist, müssen dann alle vorgreifenden, eignen Gedanken gleichsam verleugnet werden; von nun an muß man bloß dem Gegenstand in seiner Selbstentwicklung folgen." 92 Freilich, kombiniert mit den Inhalten der Philosophie der Offenbarung und der Weltalter, deren Zentrum die Erlösungstat Jesu Christi bildet, baut diese Ansicht leichter Brücken für solche, die sich
und Fluth, ein Sinken und Steigen, verschiedene Modificationen des immer gleich in und über der Welt verbreiteten Geistes." - „So ist bei Wischnu's Verkörperungen, in Lama's Wanderungen bei jeder verschiedenen Erscheinung doch dasselbe Subjekt, das gleiche Prinzip vorhanden. [...] Ihre Mythen sind der Geschichte Symbole." - „Nur wie dieser Geist erscheint in der Welt, seine Verwandlungen und mannigfaltigen Gestaltungen; die besondem Verhältnisse, Ursachen und Bedingungen, warum er so erscheint und nicht anders, sind die Geschichten." - Ebd., S. 10: "Staaten erscheinen und verschwinden, steigen und sinken, erblühen und welken dahin, und aus des alten Phönix Asche steigt frisch und desto glänzender der neu Belebte empor. Jung und rasch und in der vollen Kraft Gefühl schwingt er hinan sich zur Sonne, bis auch er endlich, ermattet und von des Alters Schwächen und Bürden gedrükt, wieder hinab sinkt, und im Tod neuen Lebens Keim sich entwikelt." - Betrachtungen ähnlicher Art auch in der Vorrede zu Bd. Π, s. m - v . 90 Hurter zitiert diesen Brief an Johannes von Müller in GuW I, S. 138/139. 91 S. o. S. 136/137. 92 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Mythologie, München 1943 (= Schellings Werke, hg. von Manfred Schröter, Fünfter Ergänzungsband), S. 4.
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unterwegs zum Katholizismus befinden. Aber, Schellings Geschichtsphilosophie ist eben nicht in dem Maße identisch mit der katholischen Lehre, wie etwa diejenige Schlegels mit ihrer „vollkommen römisch-katholisch orthodoxen" Ekklesiologie. 93 Dieser für den Katholiken letztendlich entscheidende Mangel Schellings trug sicherlich mit bei zur Verleugnung der tatsächlichen Bedeutung des Philosophen für die Entwicklung einer spezifisch katholischen Geschichtsanschauung im neunzehnten Jahrhundert. Die penible inhaltliche Kritik Döllingers, fast ein Inquisitionsverfahren, gab ihm in dieser Hinsicht den Rest. Döllinger diskreditierte Schelling sogar skrupellos und polemisch auf die für die katholische Geisteswelt schlimmste Weise: er rückte ihn in die Nähe Hegels.94 Mit Hegel fiel jener Name, der in katholischen sowie in solchen Kreisen, die diesen nahestanden, jede weitere Diskussion zum Verstummen brachte. Hegels Geschichtsphilosophie war die Sünde schlechthin. Höfler führt zwar Hegel in seiner Abhandlung „Über katholische und protestantische Geschichtschreibung" nicht eigens auf; allerdings enthält sein Urteil über den „Danaidenversuch der deutschen Philosophie, aus sich selbst und mit Verläugnung aller christlichen Grundlagen zu fester Erkenntniß zu kommen", 95 einen deutlichen Hinweis auf das Werk Hegels und dessen Einschätzung durch Höfler. Worin aber bestand denn genau jenes „vergebliche Abmühen" und worin also der Kernpunkt der katholischen Kritik? - Schon Herder gegenüber äußert Höfler den Vorwurf „typisch" protestantischer Beliebigkeit, die in der Geschichte nur die Bestätigung von Ansichten suche und in der Regel auch finde. 96 Nur wenig später leitet er aus diesem Vorwurf eine Pauschalverurteilung der protestantischen Geschichtswissenschaft insgesamt ab: diese lasse den „innern großartigen Zusammenhang" außer Acht, „der nur dem Auge erkennbar ist, welches hinter dem menschlichen Treiben eine höhere Führung gewahrt." 97 Waren aber nicht ebensowohl Herder als auch Hegel gerade bemüht um die Erkenntnis einer solchen höheren Führung? Besteht nicht gerade in der naturgesetzlichen Entfaltung der Humanität - Herder - sowie im Bewußtseinsprozeß der Freiheit - Hegel - der Faden, an dem beide die Ereignisse der Weltgeschichte aufreihten? In diesem Lichte betrachtet stellt Höflers Vorwurf, die protestantische Geschichtswissenschaft könne seit Herder „ein für allemal zu keinem Abschlüsse kommen", weil ihr ,jene Basis" fehle, „welche die Wissenschaft nur dann zu geben vermag,
93
Jean-Jacques Anstett in der Einleitung zu Schlegel, Philosophie der Geschichte, S. ΧΧΧΠΙ. Anstett fährt fort: „Die römisch-katholische Kirche ist für F. Schlegel die einzige, seit Ewigkeit her von Gott gestiftete Institution, die den echten christlichen Glauben bewahrt, bewacht und entfaltet." Weitere Erörterungen dieser Thematik ebd. 94 Döllinger, Die Schelling'sehe Philosophie und die christliche Theologie, S. 756. 95 Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 317. 96 S. o. Anm. 74. 97 Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 315.
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wenn sie nicht mit der Skepsis sich verbindet", 98 reine Polemik dar. Denn Herder wie Hegel arbeiteten ja eben daran, durch Verstand und Skepsis der Geschichtsbetrachtung eine solche feste Basis zu ermitteln. Höflers Vorgehen verschleiert den eigentlichen Kern der katholischen Kritik. Erhebt doch diese der protestantischen Geschichtswissenschaft nicht das Fehlen einer Basis überhaupt zum Vorwurf, sondern weist vielmehr die von Herder wie von Hegel vorgeschlagenen Basen als solche zurück. Beide Philosophen versuchten nämlich - ein „Danaidenversuch" ! - diese Basen aus sich selbst, das heißt aus menschlichem Bemühen allein zu setzen. Erst von hier aus führt der Weg mittenhinein ins Zentrum katholischer Kritik des Hegeischen Geschichtsverständnisses. Friedrich Emanuel Hurter bringt diesen wesentlichen Punkt sehr viel deutlicher zum Ausdruck als Höfler. Hegel und die „neuen Titanen" seiner Schule seien angetreten, „die Autorität des Christenthums [zu] untergraben und an die Stelle des Offenbarungsglauben eine bloße Vernunftreligion [zu] setzen."99 Hinter solcher Bewertung steht die Überzeugung, anstelle der Autorität geoffenbarter göttlicher Wahrheit - die Hurter ohne weiteres gleichsetzt mit der katholischen Rezeption dieser Wahrheit - sei schlichtweg keine andere letzte Autorität denkbar. Einen Schritt weitergedacht schließt sich der Kreis zum Beliebigkeitsvorwurf Höflers: alle Ableitungen und Folgerungen aus der falschen Autorität können also ebensowenig objektiven Gültigkeitsanspruch erheben wie diese, seien mithin - beliebig. In beiden Systemen stellt sich freilich gleichermaßen die Frage nach der Letztbegründung der jeweiligen Autorität. Der Philosoph Hegel muß auf diese Frage ebenso eine Antwort geben wie die katholischen Historiker Höfler, Döllinger oder Hurter. Während aber in der Antwort Hegels Geschichte keine Rolle spielt, nimmt sie in der katholischen Antwort eine zentrale Stellung ein. Aus diesen fundamental verschiedenen Verhältnissen von Geschichte und Letztbegründungsproblem folgen zwei differierende und prinzipiell unvereinbare Zugriffe auf Geschichte überhaupt. Weltgeschichte, so Hegel, „sei der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen, des Geistes, dessen Natur zwar immer eine und dieselbe ist, der aber in dem Weltdasein diese seine eine Natur expliziert." Daß dies so sei, müsse nicht das Studium der Geschichte erst ergeben, sondern stehe von vornherein fest; eine andere Möglichkeit existiere nicht: „dies muß, wie gesagt, das Ergebnis der Geschichte sein." 100 Warum? Weil eine Voraussetzung gelte, über deren Richtigkeit nicht die Geschichtswissenschaft befinde, sondern die dieser
98
Ebd. Hurter, GuW Π, S. 30/31. 100 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt/M. 1986 (= G. W. F. Hegel Werke, Bd. 12), S. 22 [Hervorhebung Th. B.]. 99
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vorangehende Philosophie. „Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei. Diese Überzeugung und Einsicht ist eine Voraussetzung in Anschauung der Geschichte als solcher überhaupt. [...] Daß nun solche Idee das Wahre, das Ewige, das schlechthin Mächtige ist, daß sie sich in der Welt offenbart und nichts in ihr sich offenbart als sie, ihre Ehre und Herrlichkeit, das ist es, was, wie gesagt, in der Philosophie bewiesen und hier so als bewiesen vorausgesetzt wird." 1 0 1 Geschichte, mit anderen Worten, erscheint da nicht als eigenständiger Gegenstand von Wissenschaft, dessen Studium neue Erkenntnisse liefert, sondern als Demonstrationsobjekt jenes Prozesses, in dem der Geist sich selbst bewußt wird, jenes vernünftigen und notwendigen Prozesses des Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit, 102 dessen Da-Sein an und für sich, lange vor einer Betrachtung von Geschichte, schon feststeht. Das Studium der Geschichte kann also zur Begründung der letzten Autorität „Vernunft" nichts beitragen. Dies leistet allein die Philosophie beziehungsweise der nachdenkende Mensch durch Gebrauch seines Verstandes aus sich selbst. Geschichte ist lediglich Funktion dieser Autorität und ihrer Gesetzmäßigkeiten. Auch Gelehrte, die in dieser Tradition studiert hatten, konnten am Hegelschen Zugriff auf Geschichte verzweifeln. Im Falle August Friedrich Gfrörers trat solche Verzweiflung in dem Moment auf, als er jene Gesetzlichkeit der Vernunft beim Studium der christlichen Urgeschichte partout nicht aufzufinden vermochte, obwohl doch auch er angetreten war, die Geheimnisse der Offenbarung vernünftig zu begründen. 103 Hingegen stieß er lediglich auf historische Indizien, die für den Glauben an die Offenbarung sprachen. Statt des erwarteten Hegeischen Weltgeistes traf er auf die Spur Gottes in der Geschichte. Das veränderte Gfrörers Habitus nach außen schlagartig: erbittert polemisierte er hinfort gegen Hegel und dessen Schüler, insbesondere gegen David Friedrich Strauß. Nie habe man „eine so Ekel erregende Erscheinung in der deutschen Literaturgeschichte erlebt" wie die „Hegel'sche Seuche." 104 Innerlich freilich bedurfte auch Gfrörer noch größerer Distanz, um den Paradigmenwechsel für sich selbst und sein historisches Denken ganz zu vollziehen. Nur in sich wider-
101
Ebd., S. 20/21. Ebd., S. 30/31: „Wie die Substanz der Materie die Schwere ist, so müssen wir sagen, ist die Substanz, das Wesen des Geistes die Freiheit." - „Dieses Beisichselbstsein des Geistes ist Selbstbewußtsein, das Bewußtsein von sich selbst." - „Nach dieser abstrakten Bestimmung kann von der Weltgeschichte gesagt werden, daß sie die Darstellung des Geistes sei, wie er sich das Wissen dessen, was er an sich ist, erarbeitet." 103 Zu den einzelnen Stationen des Entwicklungsganges Gfrörers vgl. o. die biographische Skizze, bes. S. 104/105,107/108,114/115. 104 Gfrörer, Urchristenthum ΙΠ (Die heilige Sage), Vorrede, S. V I I / V m . 102
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sprüchlich konnte er 1835 seine Ergebnisse fassen als einen „durch klare Beweise gestüzten historischen Glauben an eine außerordentliche [...], übernatürliche Erscheinung." 105 Noch immer wollte er den Glauben „beweisen", ihn der Vernunft unterwerfen. Aber Geschichte und Geschichtsforschung hatten auf Gfrörers Weg zu seiner eigenen letzten Autorität unterdessen einen anderen Stellenwert bezogen. Sie hatten Zweifel an der von Hegel so vollmundig propagierten, apriori feststehenden Vernunftautorität geweckt, ja sie hatten diese Autorität innerhalb des Wertesystems Gfrörers gestürzt und ihn auf eine andere hingewiesen. Wenn Gfrörer schließlich, nur wenige Jahre vor seiner Konversion, bemerkte, das Studium der Urgeschichte des Christentums sei in der von ihm unternommenen Intensität überflüssig, weil es ohnehin nur das bestätige, was der Christ schon glaube, 106 so überspannte er den Bogen nach der anderen Richtung und beging unversehens denselben Fehler, den er Hegel angekreidet hatte. Wie Hegel die Vernunft, setzte Gfrörer nun den Glauben als Absolutum, nach dessen Inhalten die Geschichte zu funktionieren habe. Geschichte erschien in diesem Licht erneut als Funktion der Autorität, nicht aber als deren Garant. Darin aber besteht gerade der entscheidende Unterschied zwischen der Hegelschen und der katholischen Geschichtsauffassung hinsichtlich der Letztbegründung der Autorität: nimmt im Hegeischen System Geschichte lediglich den Rang einer Funktion der Autorität „Vernunft" ein, so dient sie im Rahmen katholischer Weltsicht eben als Garant der Autorität „Gott" - nicht als einziger Garant, doch aber als wichtiger. Auch im Entwicklungsgang Gfrörers spielte sie ja diese Rolle, selbst wenn er in seinem Eifer dies später übersah. Erst ein geschichtliches Studium - in seinem Fall der Urgeschichte des Christentums hatte ihn zur neuen Autorität hingeführt, hatte ihm geholfen, den Glauben an diese mitzubegründen. Sicher war seit seiner Übersetzung der Bonstettenschen „Philosophie der Erfahrung" seine Überzeugung von der Vernunftautorität zumindest geschwächt. Allein aus sich selbst, durch weiteres Philosophieren aber hätte seine Wandlung einen anderen Weg genommen. Um in Richtung Katholizismus weiterzugehen, brauchte er Indizien, „historische Beweise". Das Studium der Geschichte lieferte ihm diese. Geschichte rückte für Gfrörer in eben jene Position, die sie für den Katholiken gewöhnlich einnimmt, wenn es darum geht, den Glauben an seine Autorität, an Gott, zu untermauern. Gott offenbart sich dem Menschen in den Heiligen Schriften, - aber eben auch in der Geschichte. Aus dem Studium beider kann der Mensch Gott als letzte Autorität zwar nicht beweisen, wie Hegel die Vernunft allein durch Philosophie, aber er kann Gewißheit erwerben, um darauf seinen Glauben zu gründen. Wie die Theologie zum rechten Verständnis der Heiligen Schriften verhilft, so auf der anderen Seite die „Geschichtsphilo105 106
Gfrörer, Urchristenthum Π (Das Jahrhundert des Heils), Vorrede, S. VII. Gfrörer, Autobiographie, S. 26/27. Das Zitat vgl. o. S. 115.
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Traditionsstränge
sophie", nach dem Muster Bossuets oder Friedrich Schlegels, zum rechten Verständnis der Geschichte. Durch eine adäquate Gesamtschau auf Geschichte im großen, welthistorischen Zusammenhang gilt es, das Wirken Gottes, die göttliche Offenbarung in ihr zu erkennen. 107 Dabei helfe nur ein Ansatz, der nicht von übergeordneten letzten Prinzipien ausgehe, sondern von einer empirischen Betrachtung der ,Tatsachen', die sich dann mit einer diesen Tatsachen angemessenen Philosophie verbinde und zu höherer Einheit verschmelze. „Unter Philosophie der Geschichte darf nicht etwa eine Reihe von Bemerkungen und Ideen über die Geschichte verstanden werden, nach irgend einem selbst ersonnenen Gedankensystem, oder einer willkürlichen Hypothese, welche in die Tatsachen hineingelegt wäre. Die Geschichte kann gar nicht getrennt werden von den Tatsachen, und beruht durchaus nur auf der Wirklichkeit; und so muß auch die Philosophie der Geschichte, als der Geist oder die Idee derselben, ebenfalls aus den wirklichen historischen Begebenheiten, und der lebendigen Schilderung, und geschichtlichen Charakteristik der Tatsachen selbst hervorgehen, als das reine Resultat derselben." 108 Nicht der Weg von einer a priori gesetzten Autorität zur historischen Empirie, sondern der umgekehrte von der Empirie zur „Philosophie" beziehungsweise zur Setzung der Autorität, sei also der angemessene. Schlegel formulierte damit - wie nahezu identisch auch Schelling 1 0 9 - einen geschichtsphilosophischen Zugriff, der dem Hegeischen genau entgegenstand. Überlegungen dieser Art zur Geschichtsphilosophie Hegels bleiben nicht im Bereich des Abstrakten stehen oder auf dem Felde weit zurückliegender Kirchengeschichte. Sie enthüllen Konsequenzen dieser Geschichtsphilosophie auch
107
In diesem Sinne äußert sich auch Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 315. 108 Schlegel, Philosophie der Geschichte, Erste Vorlesung, S. 7. 109 Der Akzent gegen Hegel scheint in Schellings „Philosophie der Mythologie" sogar noch stärker ausgeprägt zu sein: „Infrüheren Bestrebungen die Mythologie zu erklären war es nicht schwer, den Einfluß gewisser, vor aller Untersuchung und ganz unabhängig von den Thatsachen (a priori, wie man sagt) angenommener und für philosophisch gehaltener Grundsätze zu erkennen; daher auch hier dasselbe unlautere Gemisch von Empirie und vermeinter Philosophie, das wir in anderen Wissenschaften antreffen [...], wo nämlich Philosophie und Empirie nebeneinander stehen, ohne sich gegenseitig durchdrungen zu haben. Wer aber seine Philosophie nicht dahin erweitem kann, daß sie dem Gegenstande gleich - auf derselben Höhe mit ihm - steht, so daß er im Stande ist eine Theorie aufzustellen, die zugleich ganz wissenschaftlich und ganz geschichtlich, ganz empirisch und ganz philosophisch ist, sollte sich überhaupt bescheiden eine solche aufzustellen. [...] Von einer solchen zugleich philosophischen und empirischen, wissenschaftlichen und geschichtlichen - an und mit dem Gegenstand sich selbst entwickelnden - Theorie ist also in der Folge allein die Rede." (Schelling, Philosophie der Mythologie, S. 3/4).
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in Hinblick auf die Bewertung neuerer Geschichte, ja konkret neuerer deutscher Geschichte. Sie erklären unter anderem, warum mit Hegel einerseits sowie mit Friedrich Schlegel andererseits nicht nur der „protestantische" und der „katholische" Geschichtsphilosoph schlechthin, sondern - über die Brücke eben dieser jeweiligen inhaltlichen Implikationen ihrer Systeme - der „kleindeutsche" und der „großdeutsche" Geschichtsphilosoph erscheint. Bereits Hegels Fortschrittsmodell, demzufolge sich der Bewußtseinsprozeß des Geistes nach drei Vorstufen in der christlich-germanischen Welt vollende, 110 stieß in katholizistisch-konservativen, großdeutschen Kreisen auf heftigen Widerspruch. Döllinger klassifizierte diese Einschätzung schlicht als „Wahn, der uns an einem fremden Volke lächerlich dünkelhaft vorkommen würde, und der an sich schon von einer völlig schiefen Betrachtungsweise der Menschheit und ihrer Geschichte ausgeht." Er mußte darin den Ausdruck „einer eitlen Überschätzung" erkennen, „die aus den Deutschen gerne das einzige ausgewählte Volk der Gegenwart und Zukunft machen, und die Verirrungen der Nation oder eines Theiles derselben kanonisiren möchte." 111 Tatsächlich spitzt sich ja in der Hegeischen Perspektive die Weltgeschichte des neueren „germanischen" Teils neben der Französischen Revolution vor allem in zwei „deutschen" Ereignissen zu, der Reformation auf religiösem sowie der Gründung, vor allem aber der Festigung des preußischen Staates durch König Friedrich II. auf politischem Gebiet. In der Reformation habe sich das Individuum das Wissen erworben, mit dem göttlichen Geiste erfüllt zu sein, direkt und ohne des freiheitshemmenden Mittelgliedes der römisch-katholischen Hierarchie zu bedürfen. 112 Der Geist wiederum sei sich durch diese direkte Vermittlung zwischen dem Menschen und Gott jetzt bewußt geworden „in der Gewißheit des objektiven Prozesses als des göttlichen Wesens selbst." Er habe also diesen objektiven Prozeß nun ergreifen und durchmachen können „in der Weiterbildung des Weltlichen." 113 Die Reformation versöhnte auf diese Weise Kirche und Staat, beziehungsweise das Religiöse löste sich im Weltlichen auf. „Es ist durch die errungene Versöhnung das Bewußtsein gegeben, daß das Weltliche fähig ist, das Wahre in ihm zu haben, wogegen das Weltliche vorher nur für böse galt, unfähig des Guten, welches ein Jenseits blieb. Es wird nun
110
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 140: Nach der orientalischen, der griechischen sowie der römischen Welt trete „das Germanische Reich, das vierte Moment der Weltgeschichte ein: dieses entspräche nun in der Vergleichung mit den Menschenaltem dem Greisenalter. Das natürliche Greisenalter ist Schwäche, das Greisenalter des Geistes aber ist seine vollkommene Reife, in welcher er zurückgeht zur Einheit, aber als Geist." 111 Döllinger, Irrthum, Zweifel und Wahrheit, S. 18. 112 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 495/496. 113 Ebd., S. 502.
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gewußt, daß das Sittliche und Rechte im Staate auch das Göttliche und das Gebot Gottes sind und daß es dem Inhalte nach kein Höheres, Heiligeres gibt." 1 1 4 Der Geist war nun fähig geworden, „aus dem Prinzip der Weltlichkeit allein das Vernünftige zu realisieren." 115 Als dieses Vernünftige tritt im Hegelschen System fortan auf: der Staat. „Der Staat ist als lebendiger Geist schlechthin nur als ein organisiertes, in die besonderen Wirksamkeiten unterschiedenes Ganzes, die von dem einen Begriffe [...] des vernünftigen Willens ausgehend, denselben als ihr Resultat fortdauernd produzieren." 116 In der Vollendung dieses Prozesses sei letztendlich das Ziel der Weltgeschichte zu erblicken. 117 Freilich sieht Hegel nach der Reformation und auch nach dem Dreißigjährigen Krieg den Staat noch nicht konkret realisiert. Erst mit dem Auftreten Preußens sowie besonders mit dessen Arrondierung durch Friedrich II. ändert sich dies. „Diese Macht mußte mit dem Protestantismus neu entstehen: es ist Preußen, das, am Ende des siebzehnten Jahrhunderts auftretend, in Friedrich dem Großen sein, wenn nicht begründendes, doch fest- und sicherstellendes Individuum und im Siebenjährigen Kriege den Kampf dieser Fest- und Sicherstellung gefunden hat." 118 Wie in Luther erkennt Hegel auch im großen Preußenkönig eines dieser „welthistorischen Individuen [...], in deren Zwecken ein [...] Allgemeines liegt, [...] ein Moment der nach sich selbst strebenden und treibenden Wahrheit." 119 König Friedrich II. verfügte über das ,3ewußtsein von der Allgemeinheit, die die letzte Tiefe des Geistes und die ihrer selbst bewußte Kraft des Denkens ist." 1 2 0 Er verwirklichte dieses Bewußtsein in seinem Staate: Preußen. Eugen Rosenstock-Huessy hat in einem bestechenden Vergleich herausgearbeitet, wie die beiden „Totaldenker" Hegel und Friedrich Schlegel von zwei verschiedenen Begriffen der Totalität her zum „preußischen" beziehungsweise „österreichischen" Staatsphilosophen avancieren konnten. 121 Hegel habe „in dem fritzischen Staat das vernünftige Prinzip entdeckt", habe Preußen begriffen als die „Vorausnahme eines Totalzustandes der Welt", ja habe es vergöttert als die selbstgesetzt „notwendige, vernünftige Zeitstation". 122 Schlegel hingegen 114
Ebd., S. 502/503. Ebd., S. 140. 116 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, hg. von Johannes Hoffineister, Leipzig 4 1949 (= Hegel, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, hg. von Georg Lasson, fortgeführt von Johannes Hoffmeister, Bd. 5), § 539. 117 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 141. 118 Ebd., S. 519. 119 Ebd., S. 45. 120 Ebd., S. 519/520. 121 Eugen Rosenstock-Huessy: Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen. Erneuerte Ausgabe, Stuttgart 1951, S. 429-435, hier S. 430. 122 Ebd., S. 430/431. 115
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fand die Totalität im ,Äußeren, Leibhaftigen, Umfassenden" des österreichischen Vielvölkerstaates. „War Preußen zwar ein kleines Bruchstück, aber reine Thesis der Staatsvernunft, unabgeleitet von außen, so war Österreich relativ eine Totalität." Freilich, Österreich war dafür kein rationales, sondern ein irrationales Dasein, das Schlegel seinerseits rechtfertigte. „Hier in der Wiener Burg war der Reichtum der wirklichen Weltgeschichte eines Jahrtausends konserviert." 123 Rosenstock-Huessy bestätigt von ganz anderen Fragestellungen her, aus ganz anderem Blickwinkel, das Ergebnis der bisherigen Überlegungen zum „Gränzstein" Hegel. Wer Hegels Geschichtsphilosophie von ihren Voraussetzungen her ablehnte, mußte auch Preußen ablehnen, das Ergebnis des in dieser Geschichtsphilosophie beschriebenen Prozesses. Wer hinwiederum Preußen und dessen Rolle innerhalb der deutschen Geschichte zurückwies, mußte auch Hegels Geschichtsphilosophie zurückweisen. So durchdringen sich auch im Bereich der Traditionsstränge auf frappierendste Weise aufklärerisch-rationalistische, protestantische auf der einen, katholizistisch-konservative Weltsicht auf der anderen Seite sowie kleindeutsches und großdeutsches Geschichtsbild. Selbst von großen universalhistorischen Konzepten führt auf diese Weise nicht allein ein Weg zu Protestantismus oder Katholizismus, sondern ebenso zu Preußen oder Österreich. Ein weiteres Mal erhärtet sich also die Vermutung, bei der Parteinahme für ein „kleines" oder ein „großes" Deutschland handle es sich im neunzehnten Jahrhundert nicht lediglich um momentane politische Stimmungen, Meinungen, Ansichten, sondern um tiefgegründete und in langen geistigen Traditionen wurzelnde Entscheidungen.
4. Friedrich
Schlegels Vorlesungen über neuere Geschichte
Einige Bemerkungen über Friedrich Schlegels Vorlesungen zur neueren Geschichte führen zurück zu jenen „Gränzsteinen", die sich innerhalb des von Höfler abgesteckten weltanschaulichen Areals befinden. Sie verdeutlichen abschließend und von der anderen Seite her die Analogie des Verhältnisses der Schlegelschen Geschichtsphilosophie und Österreichs zu demjenigen der Hegelschen und Preußens. 1810/11 hatte Schlegel in Wien Vorlesungen „Über die neuere Geschichte" gehalten, über die der Verleger Friedrich Perthes später äußerte, sie seien ihm „dadurch sehr merkwürdig geworden, daß sie alle die Ereignisse und alle die Charaktere im Lichte erscheinen lassen, welche in den übrigen, fast ausschließlich von Protestanten geschriebenen Geschichtswerken im Schatten stehen; was dort hell ist, ist hier dunkel, und umgekehrt. Schlegel schreibt auch Geschichte, aber die Kehrseite der bisher geschriebenen; er ist ohne Zweifel weit davon
123
Ebd., S. 432.
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Traditionsstränge
entfernt, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, aber vielleicht doch nicht weiter als alle die Schriftsteller, welche das Gegentheil von dem gesagt haben, was er behauptet." 124 In der Tat erscheinen die Inhalte der Schlegelschen Vorlesungen vielfach wie eine Vorwegnahme jener geschichtlichen Grundpositionen, die dann die großdeutschen Historiker der ersten Generation beziehen sollten. Gewiß knüpfte Schlegel mit seinen Vorlesungen zur neueren Geschichte an die geschichtsphilosophischen Überlegungen an, welche er seit 1805/06 spätestens betrieb, welche er aber erst 1829 in der „Philosophie der Geschichte" abschließend niederlegte. Daneben aber bewegte ihn 1810/11 auch ein konkret politischer Anlaß, die europäische Geschichte der neueren Zeit vor einem österreichischen Publikum vorüberziehen zu lassen: er gedachte seine Ansicht zu propagieren, daß Österreich im Ganzen der „vorzüglichere" Teil Deutschlands sei, 125 dem vor allem die führende Rolle bei Deutschlands Erhebung gegen den Usurpator Napoleon zufalle. Insofern verbergen sich hinter Schlegels Vorlesungen tatsächlich sehr viel eher „Reden an die österreichische Nation über ihre deutsche Bestimmung", 126 denn ernsthafte geschichtswissenschaftliche Forschung. Von jenem prinzipiell empirischen Ansatz, der unter anderem seinen geschichtsphilosophischen Zugriff von demjenigen Hegels unterscheidet, versucht Schlegel aber auch hier auszugehen. Das entspricht ganz seiner Vorstellung von geschichtlicher „Totalität" - um den Terminus Rosenstock-Huessys noch einmal aufzugreifen - : Reichtum, Vielfalt und tiefer Sinn seien in der Geschichte zu beobachten, und auf diese Beobachtung dürfe auch die „höhere Philosophie" nicht verzichten, verwickle diese sich doch andernfalls „unfehlbar in Unverständlichkeiten." Kein Denker sei im übrigen so durchdringend, „daß er den Gang der Geschichte im Voraus genau erraten könnte!" 127 Schlegel leitet die Struktur seiner Vorlesungen direkt aus seinem Verständnis der Gegenwart ab. Man lebe in einem Zeitalter des Umbruchs und der allgemeinen Erschütterung. Um es zu verstehen, bedürfe es der Deutung. Als sicherster Weg zu einer sinnvollen Deutung erscheint ihm der „geschichtliche". Denn dieser zeige, daß „schon ehedem im Laufe der neueren Geschichte, ähnliche Epochen allgemeiner großer Erschütterung vorgekommen sind." Wer nun diese, „das Zeitalter der Völkerwanderung, das Zeitalter der Kreuzzüge, und das der Reformation [...], ihren Gang und ihre Folgen, ihr unterscheidendes Wesen 124 Clemens Theodor Perthes: Friedrich Perthes' Leben nach dessen schriftlichen und mündlichen Mittheilungen, Bd. ΙΠ, Gotha 6 1872, S. 62/63. 125 Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel, 1.12.1807, in: Josef Körner (Hg.), Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, Bd. I, Bern / München 2 1969, S. 480. 126 Jean-Jacques Anstett, Einleitung zu Schlegel, Vorlesungen über Universalgeschichte, S. LXXI. 127 Schlegel, Studien zur Geschichte und Politik, S. 127/128 (Erste Vorlesung).
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durchdacht hätte", der sei am besten vorbereitet, „sich durch die Erscheinungen unserer Zeit nicht irremachen zu lassen, und ein festgegründetes klares Urteil über sie zu gewinnen." 128 Als Gegenpol zu diesen Welterschütterungen glaubt Schlegel, „ein so starkes Gemälde von der ehemaligen deutschen Nation hinzufügen zu müssen, als ich es nur immer vermöchte; sowohl von ihrem ältesten Zustande, da sie noch in ursprünglicher Freiheit und Stammesart lebte, als von ihrer Entwicklung und Bildung im Mittelalter." 129 Gerade auf letztere komme es besonders an. Sei diese doch geprägt von der Übernahme der „moralisch und politisch" großen mittelalterlichen Kaiseridee durch die Deutschen: der Idee der Versöhnung und Einheit von Imperium und Sacerdotium. 130 Jener Idee unterschiebt Schlegel zwei weitere inhaltliche Komponenten. Seit der Begründung des Kaisertums durch Karl den Großen seien diese untrennbar mit ihm verknüpft: die „ständische Verfassung und Staatseinrichtung" sowie die Vorstellung „eines christlichen Vereins aller abendländischen Nationen." 131 Allen Verfallstendenzen der Kaiseridee während des späteren Mittelalters zum Trotz habe sie in gewisser Modifikation unter den Habsburgerkaisern Maximilian I. und vor allem dann Karl V. neue Höhen erklommen. Die Inhalte des alten abendländischen Kaisergedankens hätten sich in „österreichische Grundsätze" einer spezifisch neuzeitlichen europäischen Politik verwandelt: Leitung der kriegerischen Kraft des geeinten Europa gegen die türkisch-mohammedanische Bedrohung, Einigung der regierenden Häuser Europas zu einer großen Familie, Schutz von Würde und Ansehen der Kirche und des Papstes, Aufrechterhaltung der alten Rechte und Ansprüche des Kaisertums sowie Verzicht auf eine Politik weltlicher Allgewalt. 132 Schlegels Ausführungen kulminieren in einer verklärenden Darstellung der Regentschaft Kaiser Karls V., dessen einziges Bestreben in einer Zeit der Erschütterung darin bestanden habe, jenen Grundsätzen zum Durchbruch zu verhelfen. 133 Auch ohne die Erörterung von Einzelheiten geht aus diesen Grundzügen der Vorlesungen klar hervor, welchen Bezug Schlegel zu den Erschütterungen seiner Gegenwart herstellen will. Aus jenen Bestrebungen der Habsburger Maximilian und Karl V. ließen sich doch Antworten ableiten auf die Fragen der eigenen Zeit, „um so mehr, da die Hauptfrage auch unsers Zeitalters, die große
128
Ebd., S. 270/271 (Zwölfte Vorlesung). Ebd., S. 272. 130 Ebd., S. 205 (Sechste und Siebente Vorlesung). 131 Ebd., S. 201. 132 Ebd., S. 261 (Elfte Vorlesung): „Die österreichischen Regenten wurden [...] von dem viel hohem Begriff einer christlichen Republik, eines freien und friedlichen europäischen Staaten- und Völkervereins geleitet." 133 Die dreizehnte und vierzehnte Vorlesung befaßt sich ausschließlich mit Karl V. 129
25 Brechenmacher
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Traditionsstränge
Frage von der gesellschaftlichen Verfassung ist, von der Möglichkeit, das wesentlich Gute und Wohltätige der alten Verfassung, in den neu entstandenen Weltverhältnissen zu erhalten, von der besten, zweckmäßigsten, gefahrlosesten Vereinigung der alten Rechte mit dem, was der Andrang des neuen Lebens unvermeidlich erheischt." 134 Nur die umfassende, konkret geschichtliche Totalität Österreichs, als Erbin des alten mittelalterlichen Kaiserideals, könne eine sinnvolle Neuordnung Europas wirklich gewährleisten. Aus dem Zusammenspiel der geschichtsphilosophischen Vorgaben Schlegels mit den aktuell-politisch motivierten Fragen nach einem Weg aus der „Erschütterung" erhebt sich das „österreichische Prinzip": christlich-katholisch, organisch, universal, übernational, europäisch erscheint es als direkter Gegensatz zu Hegels reinem „preußischen" Vernunftprinzip. Runde zehn Jahre nach den Vorlesungen über neuere Geschichte reflektierte Schlegel noch einmal intensiv über die Möglichkeiten staatlicher Neuordnung aus den „österreichischen Grundsätzen". Den Blick zurück in die Geschichte ergänzte er nun um Überlegungen mehr staats- und verfassungstheoretischer Natur, die jenen Gedanken des Ständestaates, wie er ihn Karl den Großen bereits hatte begründen sehen, wieder aufgriffen und vertieften. Sicher, wenn er in der „Signatur des Zeitalters" den Staat nun als Mittelglied beschrieb, zwischen der einfachsten Korporation - der Familie - und der höchsten - der Kirche stehend, driftete er damit endgültig ab in den Raum einer katholischen Staatsutopie, die letztendlich nur dazu beitrug, der Metternichschen Restauration einen Anstrich von philosophischer Tiefe zu verleihen, die aber keine Kraft hatte, den dagegen anstürmenden neuen Ideen des Nationalstaates Bedeutendes entgegenzusetzen. Wenn aber in den folgenden Jahren katholizistisch-konservative Denker, unter ihnen auch die Historiker der ersten Generation großdeutscher Geschichtsschreibung versuchten, wirksamere Gegenkonzepte zu entwickeln, konnten sie auch auf diese Vorarbeiten des „Gränzsteins" Friedrich Schlegel zurückgreifen. „Zwischen diesen beiden Korporationen, jener einfachsten und ersten, der Familie [...], und dieser andern größten weltumfassenden, der Kirche [...], steht nun der Staat, alle andern Stände, gesellschaftlichen Institute, alte und neue [...] Korporationen umfassend [...], leitend und lenkend, in der Mitte. Sein ganzes Sein und Wirken ist an diese Korporationen, wie an seine natürlichen Organe gebunden, er lebt und webt in ihnen, indem er selbst seinem innern Wesen nach, auch nur eine bewaffnete Korporation, und großes Friedensinstitut ist; und so wie er diese Sphäre, als seine eigentliche Lebensluft verläßt, und sich als absolute Allgewalt, als Militärkraft, Despotismus oder Anarchie aus diesen legitimen Schranken, an die sein Wesen und seine glückliche Fortdauer gebunden sind, herausreißt, so untergräbt er seine eigne
134
Ebd., S. 272 (Zwölfte Vorlesung).
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Lebenswurzel, und bereitet unvermeidlich sich selbst, früher oder später den Untergang." 135
5. Burke Unvollständig bliebe eine Übersicht über die „Gränzsteine" katholizistischkonservativer, großdeutscher Geschichtsanschauung ohne den Hinweis auf einen politischen Denker, dessen frühe Abrechnung mit der Französischen Revolution als Geburtsstunde des europäischen Konservativismus schlechthin gilt. Wenn Höfler Edmund Burke 1 3 6 in seinem Essay über katholische und protestantische Geschichtsschreibung als solchen „Gränzstein" nicht explizit aufführt, so nur deshalb, weil sich Burkes Beitrag unter dem rein konfessionellen Blickwinkel schwer fassen läßt. Gleichwohl aber leistete dieser Beitrag für den katholischen ebenso Bedeutendes wie für jede andere Art von politischem Konservativismus. In der Tat weist die breite, alle Konfessionen umfassende Rezeption Burkes in ähnlich denkenden Kreisen Deutschlands noch einmal zurück auf jenes „ungetrübte" gesamtchristlich-konservative Denken der Jahre vor 1837/38. Sie weist gleichzeitig zurück auf das mit England verbundene Hannover und dessen Universität Göttingen sowie auf den hannoveranischen Politiker und Publizisten August Wilhelm Rehberg, der Burkesche Ideen dort seit 1791 einführte. 137 Friedrich Emanuel Hurter und Johann Friedrich Böhmer dürften während ihrer Göttinger Studienzeit durchaus also mit Burkes „Reflections on the Revolution in France", mit deren interpretierender Übersetzung durch Friedrich Gentz oder wenigstens mit deren Rezeption durch Rehberg in Berührung ge135
Schlegel, Studien zur Geschichte und Politik, S. 525/526 (Die Signatur des Zeitalters, Erster Teil). 136 Zu Burke im Überblick Dietrich Hilger: Edmund Burke und seine Kritik der Französischen Revolution, Stuttgart 1960 (= Sozialwissenschaftliche Studien, Bd. 1); Herbert Maier: Edmund Burke, in: Heinz Rausch (Hg.), Politische Denker, Bd. Π, München 6 1981, S. 105-118 (mit weiterführender Literatur); femer die Einführung von Ulrich Frank-Planitz zu Edmund Burke: Betrachtungen über die Französische Revolution. Aus dem Englischen übertragen von Friedrich Gentz - Gedanken über die französischen Angelegenheiten. Aus dem Englischen übertragen von Rosa Schnabel, Zürich 1987. Zu Burkes Wirkung in Deutschland Klaus Epstein: Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770-1806, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1973, hier S. 21-30 sowie bes. S. 633-687: „Rehberg und die hannoversche Schule." 137 August Wilhelm Rehberg: Untersuchungen über die Französische Revolution, nebst kritischen Nachrichten von den merkwürdigsten Schriften, welche darüber in Frankreich erschienen sind, 2 Bde., Hannover/Osnabrück 1793; ders.: Sämmtliche Schriften, 3 Bde., Hannover 1828-1831; Epstein; s. auch o. S. 138. 25*
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Traditionsstränge
kommen sein, wenn vielleicht auch nicht so intensiv wie Höfler, dessen Studienschwerpunkt in Göttingen ja auf britischer Geschichte und Politik lag. 138 Starken Einfluß scheint Burke auch auf die staatstheoretischen Ansichten des zeitlebens anglophilen Döllinger ausgeübt zu haben. Er empfinde, schreibt Döllinger im Alter, „längst eine besondere Vorliebe für diesen Mann"; in jüngeren Jahren habe er ihn „mit Entzücken gelesen." 139 Entzücken dieser Art hatte ihn 35 Jahre zuvor wohl auch bewogen, in seiner Ansprache vor den Studenten über „Irrthum, Zweifel und Wahrheit" Burke zum Apostel der Wahrheit zu stilisieren, in direktem Gegensatz zur falschen Autorität Hegel: Die Ideen der Französischen Revolution hatten fast im ganzen Europa bereits die Gesinnung „getrübt und demoralisirt"-, „da trat der Engländer Burke auf und seinem beredten gedankenreichen Werke gelang es, die öffentliche Meinung, zunächst in England, zu wenden, die noch schwankenden zu befestigen; und damit war gegen die Alles überfluthenden Doctrinen der Revolution ein Damm errichtet, den sie nicht mehr zu durchbrechen vermochten." 140 Wie explizit oder implizit auch immer die jeweils persönliche Bezugnahme auf Burke ausfallt: bei keinem der großdeutschen Historiker erster Generation bleiben die inhaltlichen Anklänge an Burkes „Reflections" lange verborgen. Diese beschränken sich freilich nicht allein auf die Ablehnung der Französischen Revolution als „unaufgehaltener und unaufhaltsamer und nur darum übermütiger und tollkühner Gewalt", die im Namen abstrakter Prinzipien jegliche althergebrachte Ordnung verwerfe und ihre Protagonisten zu Verhaltensweisen anstifte, „als ob sie noch nie in bürgerlicher Verbindung gelebt hätten, als finge alles bei ihnen von neuem an." 1 4 1 Kennzeichnend scheint doch vielmehr jene prinzipielle Gleichgestimmtheit hinsichtlich der Vorstellungen über menschliches Zusammenleben im allgemeinen, jene Nähe des gesittet-zivilisierten Burkeschen Ideals einer „bürgerlichen Gesellschaft" 142 und der Utopien der fünf Historiker über „Staat, Nation, Gesellschaft, Kirche", welche aus sehr ähnlichen Prinzipien heraus das Verdikt über die Revolution sprechen. Teilen doch auch sie die Grundansicht von der Vielfalt der Schöpfung, die sich in der menschlichen Gesellschaft spiegle und nicht durch Reduktion auf ein vermeintlich einfaches, konstruiertes Schema von Staatlichkeit ohne weiteres zu vergewaltigen sei. „Einfache Regierungsformen sind allemal mangelhaft und müssen mangelhaft sein, eben darum, weil sie einfach sind." 143 Hinter diesem Burkeschen Aphorismus verbirgt sich dieselbe Einsicht wie hinter den langwierigen
138 139 140 141 142 143
Vgl. o. S. 137-139 und S. 356. Döllinger an NN, 7.1.1880 (SB Berlin 1). Döllinger, Irrthum, Zweifel und Wahrheit, S. 10. Burke, S. 95 und 89. So etwa ebd., S. 184. Ebd., S. 136.
Π. „Gränzsteine"
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Ausführungen Hurters, Böhmers oder Höflers über Geschichte und Politik: einmal geschichtlich gewachsene, „eingependelte" Ordnungen und Gleichgewichtssysteme komplexer menschlicher Gesellschaften sollten nicht leichtfertiger Simplizität zum Opfer fallen. „So sollte wohl niemand ohne unendliche Behutsamkeit ein Staatsgebäude niederzureißen wagen, das jahrhundertelang den Zwecken der gesellschaftlichen Verbindung auch nur leidlich entsprochen hat, oder es neu zu bauen, ohne Grundrisse und Muster von entschiedener Vollkommenheit vor Augen zu haben." 144 - Geschichte als Legitimationskriterium! Die staatliche Verfassung bilde auf solcher Grundlage ein System des Maßes und der Mitte, gegenseitiger Kontrolle und Begrenzung. Macht, komme sie nun von einem, von mehreren oder von vielen, sei zu binden. Als Modell einer solchen Verfassung gilt Burke selbstverständlich die britische, in der sich verschiedene Konstitutionsformen gegenseitig ergänzten. 145 Bei solchen Mischverfassungen sei die Gefahr des Absolutismus und der Despotie sehr viel geringer als in reinen Monarchien oder Demokratien. Burke erachtet die Tyrannei des Volkes für die weitaus gefahrlichste. Dabei beschreitet er eine Argumentationslinie, auf der ihm fünzig Jahre später Friedrich Emanuel Hurter in seinen Ausführungen „Über Absolutismus" weitgehend folgen wird. 1 4 6 Die vollkommene Demokratie sei „das schamloseste aller politischen Ungeheuer." Während Fürsten kaum wirklich unumschränkt herrschen könnten, weil sie immer Werkzeuge benötigten und damit auf Hindernisse stießen, sei diese Gefahr bei einer Volksherrschaft sehr wohl gegeben. „Der
144
Ebd., S. 135. Ebd., S. 184-187, insbes. S. 186. - Eine ähnliche Bewunderung der britischen Verfassung trat ja auch beim jungen Höfler sowie, in unterschiedlichen Entwicklungsstufen, bei Gfrörer auf. Während sich in dem Höflerschen Urteil der Göttinger Zeit (s. Lebenswege, Anm. 272) die Aura Burkescher Ideen offenkundiger bemerkbar macht, scheint der Nachweis eines solchen Einflusses im Fall Gfrörers schwieriger. Vor allem mit den aufklärerisch-liberalistischen Ideen der „Geschichte unserer Tage" (s. Lebenswege, Anm. 175 und o. S. 296/297), die ja der Revolution noch keineswegs feindlich gegenüberstehen, verträgt sich die Vorstellung einer Rezeption Burkes durch Gfrörer schlecht. Immerhin aber hebt er, wie Burke, das Kriterium der Mischverfassung als besonders nachahmenswert hervor, verbunden freilich mit der Forderung, die englische Verfassung müsse sich zur wirklich konstitutionellen erst „modernisieren". Offensichtlich zog Gfrörer da in seiner bekannten eklektizistischen Manier ein weiteres Mal aus dem Fundus der Ideen, die ihn umstürmten, eine hervor, um sie in sein Konstrukt ad libitum einzufügen. Gfrörers gewandeltes späteres Lob der englischen Verfassung (Gustav Adolph, 2. Aufl., s. o. S. 340/341) paßt hingegen sehr viel besser zur Gedankenwelt Burkes: bei gleichbleibender Wertschätzung des Mischcharakters dieser Verfassung betont er nun deren historisch gewachsene Struktur sowie den „ständischen" Gedanken der sich gegenseitig regelnden Rechtskreise. 145
146
Vgl. o. S. 332-334.
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Traditionsstränge
einzelne furchtet in einer solchen Verfassung nie, daß die Strafe ihn in seiner Person treffen wird. Das Volk im ganzen kann sich noch weniger furchten: denn da der letzte Zweck aller Strafen [in der vollkommenen Demokratie] die Erhaltung des Volkes ist, so läßt sich kaum gedenken, wie Strafen über ein ganzes Volk verhängt werden könnten. - Eben deshalb aber ist es von unendlicher Wichtigkeit, daß ein Volk sich ebensowenig als ein König einbilde, sein Wille sei der Maßstab für Recht und Unrecht." 147 Jenes Bewußtsein, daß Macht nur temporär sei, daß dereinst Rechenschaft über sie abzulegen sei, müsse also „da, wo viele an der Souveränität Anteil haben, noch weit fester wurzeln als in den Gemütern einzelner Fürsten." 148 Trotz seines „konkreten Ideals" der britischen Verfassung, an dem sich die Franzosen hätten orientieren sollen, anstatt zu revoltieren, 149 leitet Burke demzufolge irdische Macht nicht lediglich und allein aus irdischen Notwendigkeiten her. Gott, der Schöpfer jener irdischen Lebensvielfalt und Spender irdischer Macht, steht als zentrale Einheit, auf die sich alle Vielfalt immer zu beziehen hat, im Hintergrund. „Jedem, der Macht in irgend einem Grade besitzt, kann der Gedanke nie lebendig und heilig genug vor dem Sinne schweben, daß er nur ein anvertrautes Gut verwaltet und daß er von seiner Verwaltung dem großen Machthaber, dem einzigen Herrn und Stifter und Gründer aller Gesellschaft einst Rechenschaft abzulegen hat." 1 5 0 Aus diesem Grund auch nimmt die Institution „Kirche" in Burkes politischem Denken eine zentrale Position ein. Die wahre staatliche Verfassung bedürfe der „Einweihung" durch die Kirche, um die Träger der weltlichen Macht auf die göttliche Quelle der ewigen Macht hinzuweisen, an der allein sie ihre Regentschaft orientieren sollten. 151 Interessant erscheint dabei vor allem, daß der Anglikaner Burke, der sich ausdrücklich als Protestant bezeichnet,152 die Forderung nach Unabhängigkeit der Kirche vom Staat leidenschaftlich verficht. Zwar seien Kirche und Staat zwei Begriffe, „die nie voneinander abgesondert werden: kaum spricht man den einen aus, ohne sogleich den anderen hinzuzutun"; dies bedeute aber nicht, daß die Kirche als Unterinstitut des Staates zu begreifen sei. Gerade der Engländer erschauere vor dem Gedanken, seine „unabhängige Geistlichkeit in besoldete Staatsdiener" verwandelt zu sehen.153 Wiewohl selbst kein Katholik, eröffnet Burke durch diese Forderung in Verbindung mit der eigenwillig idealisierenden Interpre-
147
Burke, S. 189/190. Ebd., S. 188. 149 Ebd., S. 88. 150 Ebd., S. 188. 151 Ebd., S. 186/187. 152 Ebd., S. 185: „Wir sind Protestanten nicht aus Gleichgültigkeit gegen die Religion, sondern aus Liebe zu ihr." 153 Ebd., S. 200 und 202. 148
ΠΙ. Wahlverwandtschaften
391
tation des anglikanischen Kirchensystems katholischen Rezipienten eine Möglichkeit, sein Staats- und Verfassungsdenken im Prinzip zu akzeptieren. Wenn auch der orthodoxe Katholik der Idealisierung nicht zustimmen wird, 1 5 4 so bleibt ihm doch unbenommen, die Unabhängigkeitsforderung zu bejahen. Auch unter verstärkt konfessionalisierten Vorzeichen in den Jahren nach 1837/38 kann Edmund Burke als „Gränzstein" eines katholischen Konservativismus weiterhin dienen. Sicher, im Vordergrund dieser „Gränzsteinfunktion" steht immer seine klassische Zurückweisung der Französischen Revolution. Aber sie kann sich auf tiefere Gemeinsamkeiten berufen, die letzten Endes in sehr ähnlichen Vorstellungen von der Legitimation irdischer Macht und deren staatlicher Umsetzung gründen.
Vielfältig wie die katholizistisch-konservative, großdeutsche Geschichtsanschauung selbst, markieren die „Gränzsteine" ein weitgefächertes Spektrum geistiger Strömungen, welches die Historiker der ersten Generation aufnehmen und, zustimmend oder ablehnend, verarbeiten. Einzelne Urteile über deutsche und europäische Geschichte finden sich in diesen „Gränzsteinen" ebenso angelegt wie größere geschichtsphilosophische und universalhistorische Konzepte. Alle diese Einflüsse und Strömungen durchdringen einander, bauen aufeinander auf, entwickeln sich in verschiedene Richtungen weiter. Willkürlich, zufallig gar, verhalten sie sich freilich nicht, sondern gestalten sich im Werk eines jeden einzelnen der fünf Historiker auf individuelle Weise wieder zu neuem Sinn.
ΙΠ. Wahlverwandtschaften In jeder Gelehrtenbiographie existieren Leitbilder besonderer Art: entweder nur für einzelne Schaffensperioden, mitunter aber auch für die Länge eines wissenschaftlichen Lebens stellen sie mehr dar als jene Kraftfelder und „Gränzsteine", die ja lediglich ein allgemeines Areal abstecken. Die geistige, gegebenenfalls auch persönliche Auseinandersetzung mit solchen Leitbildern nimmt oftmals eine Intensität an, die am treffendsten noch der Begriff der „Wahlverwandtschaft" zu charakterisieren scheint. In Wahlverwandtschaftsbeziehungen dieser Art traten die Historiker Johann Friedrich Böhmer und Friedrich Emanuel Hurter zu zwei Leitfiguren ihrer Zeit,
154
Döllinger etwa kritisiert den Anglikanismus ohne Umschweife als kastenartige Staatskirche (Döllinger, Kirche und Kirchen, S. 190-195). Daß Burkes Sicht auf die anglikanische Kirche mitgeprägt war von katholischen Weitsetzungen, mag vielleicht auf den erzieherischen Einfluß seiner katholischen Mutter zurückzuführen sein. Vgl. dazu Maier, Burke, S. 105.
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deren Wirken freilich auf die weitere Entwicklung von Geschichtsschreibung und politischer Wissenschaft insgesamt einen erheblichen Eindruck hinterließ, und die ebenso wie Schlegel oder Burke in die Reihe der „Gränzsteine" einzugliedern wären: Johannes von Müller und Carl Ludwig von Haller. Hier gilt, was für die Großdeutschen erster Generation in Hinblick auf deren Rezeption der Romantik bereits galt: auch sie partizipierten an der breiten Rezeption Müllers und Hallers; 155 und wie dort lautet auch hier die Frage: auf welche Weise nahmen sie Bezug auf Müller und Haller? Woraus insbesondere entwickelten sich die „Wahlverwandtschaftsgefühle" Böhmers und Hurters?
1. Hurter und Carl Ludwig von Haller Aus persönlicher Bekanntschaft erwuchs dieses Gefühl in beiden Fällen nur bei Hurter. Das hing in erster Linie damit zusammen, daß der ambitionierte Jungautor den Kontakt zu den berühmten Landsmännern regelrecht suchte und aufgrund seiner Herkunft auch gute Gelegenheiten erhielt, diesen zu knüpfen. Mit Johann Georg Müller, dem in Schafihausen verbliebenen Bruder Johannes', verkehrte die Familie Hurter häufig; da lag es für Friedrich Emanuel nahe, nicht nur dem einen, sondern auch dem anderen ein Exemplar des in der Familienoffizin erschienenen Frühwerkes „Theoderich" zu überreichen. Johannes von Müller lobte das Buch schon aus Höflichkeit, freilich nicht ohne „gerechte Ausstellungen an der Form, dem Ausdruck, besonders an der etwas bizarren Vorrede", wie Hurter selbst bemerkt. 156 Im Mai 1809 starb Johannes von Müller; eine Gelegenheit zur Vertiefung der Beziehungen hatte Hurter nicht mehr gefunden. Anders gestaltete sich das Verhältnis zu Carl Ludwig von Haller. Bereits als Knabe hatte Friedrich Emanuel 1799 den Emigranten Haller als Gast seines Vaters kennengelernt. Hallers Berichte wie dessen persönliches Schicksal hätten
155
Zur Romantik vgl. o. S. 359/360. - Zu Johannes von Müller allg. Barbara Schnetzler, in: Killy 8 (1990), S. 276/277 sowie Michael Gottlob: Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Historismus. Johannes von Müller und Friedrich Christoph Schlosser, Frankfurt/M. 1988 und Matthias Pape: Johannes von Müller. Seine geistige und politische Umwelt in Wien und Berlin 1793-1806, Bern/Stuttgart 1989. - Zu Haller allg. Edgar Bonjour, in: NDB 7 (1966), S. 549/550; Ulfert Ricklefs, in: Killy 4 (1989), S. 483-485; daneben Ewald Reinhard: Karl Ludwig von Haller. Ein Lebensbild aus der Zeit der Restauration. Auf Grund der Quellen dargestellt, Köln 1915 (= Görres-Gesellschaft, Zweite Vereinsschrift 1915); ders.: Karl Ludwig von Haller, der „Restaurator der Staatswissenschaft", Münster 1933 (= Münsterer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 16). 156 Hurter, GuW I, S. 167/168.
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i h m schon damals größtes Interesse für diesen M a n n erweckt. 1 5 7 Vorübergehend intensiver habe sich der Kontakt jedoch erst 1808 gestaltet, wiederum i m Zusammenhang m i t Hurters „Theoderich" - „vorübergehend; denn die Verbindung hörte bald wieder auf, und wurde enger und bleibend erst gefestigt m i t Hallers Rückkehr nach Solothurn i n den Anfangen der siegreichen Juliusrevolution." Von da an entspann sich ein umfangreicher brieflicher Austausch zwischen beiden, der erst m i t Hallers Tod i m M a i 1854 abbrach. 1 5 8 „Sie sehen, vereintester Freund, daß i n unseren Ansichten wie i n unseren Schicksalen ungemein viel ähnliches liegt und was das ungünstige der letzteren betrifft: so ist es doch aliquod solamen socios habere m a l o r u m . " 1 5 9 Was Haller i m Dezember 1844 als zusammenfassenden Eindruck seiner Lektüre des ersten Bandes v o n Hurters apologetischer Biographie „Geburt und Wiedergeburt" formulierte, läßt sich ohne weiteres zum Thema des Verhältnisses der beiden insgesamt erheben. Der „Restaurator" und Konvertit Haller hatte früh schon i n dem fast zwanzig Jahre jüngeren Hurter einen geistesverwandten Nachfolger erkannt, dessen Lebenslauf er wie eine Parallele seines eigenen betrachtete. Selbst v o n außerordentlichem Sendungsbewußtsein durchdrungen, 1 6 0
trat er
157
Ebd. I, S. 87: „Ich horchte Hallers reichhaltigen Berichten mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu, und diese, wie sein Schicksal, machten mir den Mann höchst interessant. Später [...] kam er während des Winters 1799/1800 [...] mehrmals in unser Haus, und sein Erscheinen war für mich Jederzeit ein festlicher Tag." 158 Ebd. I, S. 87/88. - Emmanuel Scherer (Hg.): Briefe Karl Ludwig von Haller's an David Hurter und Friedrich von Hurter, Samen 1914/15 (= Beilage zum Jahresbericht der Kantonalen Lehranstalt Samen 1913/14 und 1914/15), S. 102. Gegenbriefe Hurters an Haller befinden sich im Staatsarchiv Fribourg, NL Carl Ludwig von HallerK 141. Außer Heinrich Hurter benutzten diese Briefe bisher Schib, Hurter sowie v. a. Ewald Reinhard: Haller und Hurter, in: Schweizerische Rundschau 24 (1924), S. 129-149, 204-222. Da sich aus der Abhandlung Reinhards - die in erster Linie Inhalte referiert - , besonders aber aus dem Vergleich der veröffentlichten Briefe Hallers mit den bisher entwickelten historischen und politischen Grundanschauungen Hurters die Beziehungen der beiden methodisch korrekt, auf ausreichender Quellenbasis und für die vorliegende Fragestellung hinreichend darlegen lassen, habe ich darauf verzichtet, die Briefe Hurters an Haller emeut heranzuziehen: der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung der Positionen Hallers, wie sie aus dessen Briefen an Hurter hervorgehen (unter ergänzender Beiziehung des Briefwechsels Hallers mit den Gebrüdem Müller). Im Spiegel dieser Positionen scheint dann die Persönlichkeit Hurters sowie Hurters Verhältnis zu Haller wie von selbst auf. - Eine Publikation der Hurter-Briefe als Pendant zu den bereits edierten Briefen Hallers bleibt nach wie vor ein wünschenswertes Unternehmen. Erst dann läge eine zentrale Quelle zum Konservativismus in der Schweiz während der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vollständig vor. 159
Haller an Hurter, 28.12.1844 (Scherer, Haller / Hurter, S. 118). 1808, nach Erscheinen seines „Handbuchs der allgemeinen Staatenkunde", präsentierte sich Haller Johannes von Müller gegenüber als der „wahre Reformator der 160
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dem aufstrebenden konservativen Pfarrer mit hohen Ansprüchen entgegen. Seit dessen Erstlingswerk „Theoderich" ermunterte er Hurter immer wieder, auf dem von ihm selbst beschrittenen Pfade nachzufolgen. „Darum faßen Sie Muth, denn der Herr hat auch Sie zu einem Kämpfer für seine Sache auserkohren." 161 Hinsichtlich der innigst gewünschten Konversion Hurters 162 mußte sich Haller freilich etwas gedulden; als sie schließlich - 1844 - erfolgte, nahm er dies zum willkommenen Anlaß, über „die auffallende Ähnlichkeit mit den Ereignissen meines eigenen Lebens" zu reflektieren. 163 Tatsächlich klingt die nähere Beschreibung dieses Weges wie eine Variante der Hurterschen Entwicklung von der „politischen" zur „kirchlichen" Orthodoxie. „Was dieser [Innozenz III.] bey Ihnen, das hat bey mir das Studium des Illuminaten Ordens bewirkt. Ich sah da die beabsichtigte Errichtung eines geistigen Weltreiches gestützt auf falsche Grundsätze und verderbliche Zwecke. Dieses ließ mich die Nothwendigkeit eines entgegengesetzten Reiches der Wahrheit fühlen und später fand ich es in der katholischen] Kirche realisirt." 164 Bevor sich beider „Schicksale" in der Konversion so augenfällig parallelisierten, lagen lange schon parallele geistige Entwicklungslinien vor. Auch Haller war ja, wie Hurter, auf politischem Felde aufgetreten, um im Kampf gegen Aufklärung, Freimaurerei, vor allem aber gegen die Revolution, 165 dem „Reich der Wahrheit" und der „richtigen Prinzipien" zum Durchbruch zu verhelfen. Wie dieses Reich der Wahrheit auf Erden zu gestalten sei, glaubte Haller spätestens seit der Abfassung seines „Handbuchs der allgemeinen Staatenkunde" genau zu wissen; vor allem glaubte er, sein Wissen denkbar einfach begründet zu haben durch „die Zurückführung deßelben auf ein oberstes einfaches Prin-
philosophischen Staatswissenschaft". Dessen Bruder Johann Georg Müller versicherte er im November 1816, er spüre die Kraft in sich, „ein Märtyrer der Wahrheit zu seyn." Karl Schib (Hg.): Carl Ludwigs von Haller Briefwechsel mit Johannes von Müller und Johann Georg Müller, Thayngen 1937 (= Separatabdruck aus: Schaffhauser Beiträge zur vaterländischen Geschichte 14,1937), S. 40 und 63. 161 Haller an Hurter, 6./9.9.1831 (Scherer, Haller / Hurter, S. 23); eine ähnliche Aufforderung in dem Brief vom 20.5.1809 (Ebd., S. 18). 162 Haller, der selbst 1820 konvertiert war, riet Hurter bereits im April 1840 im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um Hurters Schaffhauser Kirchenämter zum Übertritt (Scherer, Haller / Hurter, S. 58-60). Hurter ging darauf aber nicht näher ein; vgl. Reinhard, Haller - Hurter, S. 144/145. 163 Haller an Hurter, 14.11.1844 (Scherer, Haller / Hurter, S. 113); über die Parallelen des Lebenslaufes vgl. auch den Brief vom 4.9.1840 (Ebd., S. 67-71). 164 Haller an Hurter, 23.12.1844 (Scherer, Haller / Hurter, S. 117). 165 Haller an Johannes von Müller, 25.8.1800: „Delenda est revolutio - delenda impietas et rebellio." (Schib, Briefwechsel Haller / Müller, S. 14); ders. an dens., 3.9.1800: „Man gebe mir nur einen Buchdrucker, so soll der Coloß [Napoleon] moralisch gestürzt und der erste Consul in allen Sprachen gebrandmarket werden." (Ebd., S. 25).
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zip", auf das „gefundene, wahre Prinzip v o n dem ich nie a b w i c h . " 1 6 6 Wahrheit eigne diesem Prinzip besonders deshalb, w e i l es sowohl „philosophisch u[nd] r e c h t l i c h ] deducirt" sei, gleichzeitig aber „ m i t der Erfahrung aller Zeiten und Länder übereinstimmt." 1 6 7 Inhaltlich bestehe es i n dem Gedanken, „daß nemlich ein Fürst nur seine eigenen Privat Rechte habe, de jure nur seine eigene Sach regiere." 1 6 8 Anders formuliert: „ I c h gründe die Rechte der Fürsten und Republiken [ . . . ] auf unerschütterliche Fundamente, nemlich auf ihre eigenen Rechte, nicht auf delegirte, deren sie keines h a b e n . " 1 6 9 Haller reduziert m i t h i n den Staat auf ein privates Rechtsverhältnis, dessen Unterschied zu anderen „Dienst oder Societäts Verhältnissen" lediglich „ i n der Unabhängigkeit, d. h. zulezt i n einem unmerklich höheren Grad von Macht und Freyheit" bestehe. 1 7 0 Das Dienstverhältnis „Staat" gründe hinwiederum selbst i n einer sehr einfachen Naturgesetzlichkeit, derzufolge sich „in der ganzen Natur die Schwächeren [ . . . ] an den Mächtigen anschließen. [ . . . ] Denn der Schwache sucht den Starken, der arme [sie!] den Reichen, der Dienende den H e r r e n . " 1 7 1 Aus Grundlegungen dieser A r t folgt zunächst die bestimmte Ablehnung jeglicher Lehren v o n Sozialund Herrschaftsverträgen. 172 Die königliche, fürstliche, republikanische Gewalt
166
Haller an Hurter, 6./9.9.1831 (Scherer, Haller / Hurter, S. 22/23). Haller an Hurter, 31.1.1808 (Scherer, Haller / Hurter, S. 8). 168 Haller an Johannes von Müller, 4.9.1808 (Schib, Briefwechsel Haller / Müller, S. 42). 169 Haller an Johannes von Müller [1808] (Schib, Briefwechsel Haller / Müller, S. 40). Haller bezieht seine Staatstheorie nicht nur auf Monarchien, sondern auch auf alle anderen, insbesondere republikanischen Verfassungsformen, worunter er in erster Linie die Schweizer Stadtrepubliken bzw. Kantonalregimenter versteht. 170 Haller an Johann Georg Müller, 21.6.1812 (Schib, Briefwechsel Haller / Müller, S. 55); vgl. auch ders. an dens., 30.6.1808: Jeder Mensch besitze „in seinem Kreis die nemlichen Rechte [...] wie der Fürst. Es ist keiner, der nicht gleich dem ersteren über seine Sach und die Seinigen Gesetze gebe, Krieg führe, Frieden und Bündnisse schließe, Gerichtsbarkeit ausübe, Strafe, Privilegien und Gnaden erteile etc. [...], nur daß der Fürst sie über mehrere und größere Gegenstände ausübt und mehr besizt, der Schwache aber diese Rechte wegen Mangel an Vermögen nicht immer ausüben kann. [...] So ist es selbst nach meinem System und in der Wirklichkeit wahr, daß Fürst und Bettler in dem Ihrigen gleiche Rechte und gleiche Pflichten haben, daß aller Unterschied nur in Verschiedenheit der Glücksgüter besteht und daß ein Herr, der zum Souverän wird, durch diese vollkommene Freyheit zwar wohl etwas für sich gewinnt, aber gegen seine früheren Untergebenen nicht das mindeste neue Recht erhält." (Ebd., S. 38/39). 167
171
Haller an Hurter, 25.7.1808 (Scherer, Haller / Hurter, S. 9). Haller an Johann Georg Müller, 11.2.1818 (Schib, Briefwechsel Haller / Müller, S. 64): ,3s gibt allerdings Verträge zwischen dem Fürsten und dem Volk (distributive betrachtet) d. h. mit einzelnen Communen und mächtigen Individuen; aber keinen Social Contract inter singulos cives und auch keinen Contrakt zwischen dem Fürsten und dem Volk, als eine einzige collektive Masse betrachtet." 172
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sei unabhängig von menschlichen Gesetzen, denn sie komme von Gott und sei „eben deßwegen auf eigene Rechte begründet." 173 Von selbst ergibt sich daraus weiterhin die Zurückweisung der Revolution von unten: wer hätte das Recht, jene eigenen Privatrechte der Könige, Fürsten oder republikanischen Stadt- beziehungsweise Kantonalregimenter zu bestreiten oder gar außer Kraft zu setzen? Gleichzeitig beinhaltet diese Haltung aber auch die Forderung nach der Beschränkung staatlicher Macht oder aber: die Zurückweisung der bekannten „Revolution von oben". Sie setzt dort an, wo die Rechte des„Dienst oder Societäts Verhältnisses" Staat mit den eigenen Rechten anderer „Dienst oder Societäts Verhältnisse" kollidieren oder aber solche Verträge mißachten, die zur Regelung des gegenseitigen Verhältnisses existieren. „Gegen die Absurdität und die satanische Tendenz, daß die Könige nichts Böses thun können", schrieb Haller am 17. April 1832 an Hurter, „habe ich mich oft und nachdrücklich erklärt." 174 Das Prinzip liege ganz einfach wiederum darin, „daß Fürsten nur unabhängige Herren, Republiken nur unabhängige Communitäten, auf eigene Rechte begründet, in der Regel durch eigene Rechte beschränkt sind, folglich nicht alles zu regieren haben." 175 Insofern irre auch der König von Preußen, wenn er in der Auseinandersetzung mit dem Erzbischof von Köln glaube, „daß die Staatsgewalt oder das sogenannte Gesetz allem Recht, sogar allen Friedens- und anderen Verträgen vorgehen solle, als ob diese letzteren nicht auch Gesetze wären und mithin der König mit der einen Hand wieder nehmen könnte, was er mit der andern versprochen hat." Er habe sich also weder an den Rechten der katholischen Kirche zu vergreifen noch bestehende Verträge zwischen beiden Institutionen zu verletzen. 176 So regiere ein Jeder seinen Rechtskreis und greife nicht gewalttätig in andere Rechtskreise hinein. Der Staat funktioniere am besten als hierarchische Anordnung einzelner Korporationen, dessen optimale Verfassung nicht in einem „modernen Repräsentativsystem", sondern in „Reichs- und Landständen" bestehe.177 Diese Grundsätze hatten Haller bereits während der Revolutionszeit dazu veranlaßt, Johannes von Müller auseinanderzusetzen, daß die Schweiz unter Wiederherstellung des „vervollkommneten Alten" am besten als eine „Bundesgenossenschaft verschiedener Stände" neu zu organisieren sei. 178 Vierzig Jahre später ging er sogar soweit, den Schweizerbund überhaupt in Frage zu stellen und ein Modell zu erörtern, das sich stark an der idealisierten
173
Haller an Hurter, 17.4.1832 (Scherer, Haller / Hurter, S. 31). Ebd. 175 Haller an Hurter, 11.3.1840 (Scherer, Haller / Hurter, S. 57); ähnlich Haller an Johannes von Müller [1808] (Schib, Briefwechsel Haller / Müller, S. 40). 176 Haller an Hurter, 16.2.1838 (Scherer, Haller / Hurter, S. 46/47). 177 Haller an Hurter, 31.10.1837 (Scherer, Haller / Hurter, S. 45). 178 Haller an Johannes von Müller, 10.3.1800 (Schib, Briefwechsel Haller / Müller, S. 8/9). 174
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Verfassungsstruktur des Alten Reiches orientierte. „Oft konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß ohne den Schweizerbund oder vielmehr ohne dessen übertriebene Erweiterung das ganze schöne Land viel reicher, blühender und freyer geworden wäre. Die vielen Grafen, Dynasten, Vasallen und geistlichen Fürsten, waren doch in der Regel keine Raubthiere, denn man hört nicht, daß ihre Unterthanen sich je über sie beklagt hätten. Durch zunehmende Macht wären sie, wie in Deutschland, nach und nach zu freundlichen Landes Vätern [...] geworden und neben diesen geistlichen und weltlichen Herren hätten die Städte eher in bescheidenem Glück [...] so gut als in Deutschland bestehen können. Nie hätte der herzlose Schweizerische Egoismus so tiefe Wurzeln gefaßt, und aller Kriege, Revolutionen [...] ungeachtet wären wir wenigstens [nie] in die gegenwärtige [...] Zerrüttung verfallen." 179 Wie Hurter wäre Haller als verstockter politischer Legitimist mißverstanden. Auch seinem Denken eignet jene Tendenz gegen kollektivistischen und fürstlichen Absolutismus; und auch ihn führte diese Tendenz zur Forderung nach der absoluten Freiheit der Kirche vom Staate sowie schließlich zur „kirchlichen" Orthodoxie, zur Konversion. „Absolute Staatsgewalt konnte mit den Rechten der katholischen Kirche nicht bestehen und folglich mußte diese Kirche unterdrückt oder wo möglich vernichtet werden." 180 Ja, auch Haller überspannte den Bogen seines Konvertiteneifers in die nämliche Richtung wie sein jüngerer Freund Hurter. Beim unabhängigen Nebeneinander von Staat und Kirche blieb er nicht stehen; die Vorstellung kirchlicher Suprematie verbarg sich bereits dahinter. 181 Die europäische Staatenwelt, so glaubte Haller, wäre leicht zu ordnen und zu pazifizieren, sähe nur jeder das Einfache und Bestechende seiner „Restauration der Staatswissenschaft" ein: „Ist ja das ganze nichts anders als wahre Religion, Anwendung der Lehren des Christenthums auf die geselligen Verhältnisse, Entwiklung der drey einfachen göttlichen Wahrheiten: Alle Macht kömmt von Gott, alles Gesez kömmt auch von Gott, und außer diesem Gesez ist für die Menschen kein Heil zu finden." 182 Friedrich Emanuel Hurter immerhin nahm die Worte Hallers als Wahrheit dankbar an. Wenn auch Reinhard die sich wandelnde Rolle Hurters im Laufe 179
Haller an Hurter, 20.5.1842 (Scherer, Haller / Hurter, S. 89/90). Haller an Hurter, 15.12.1841 (Scherer, Haller / Hurter, S. 77). 181 Haller an Hurter, 22.11.1831 (Scherer, Haller / Hurter, S. 26): „Ich meines Orts billige die großen und kühnen Ideen der möglichsten Unabhängigkeit der Kirche von dem Staat, der wenigstens indirekten Suprematie der Kirche über den Staat, und der Pflicht Religion und Kirche, gegen wen es auch sey, mit allen Mitteln, im Nothfall sogar mit Gewalt der Waffen zu vertheidigen." 182 Haller an Johann Georg Müller, 30.10.1816 (Schib, Briefwechsel Haller / Müller, S. 61). 180
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des beiderseitigen Briefwechsels herausarbeitet und betont, seit 1840 spätestens habe sich der Jüngere dem Älteren gegenüber zum gleichberechtigten Partner entwickelt, der sich nun auch erlaubte, „dem Meister gegenüber ein Wort der Kritik und der eigenen Meinung zu äußern", 183 so bezieht sich dies auf marginale Einzelheiten, nicht aber auf Grundsätzliches, geschweige denn gar auf weltanschauliche Differenzen. Hurter rezipierte Haller von Grund auf, ohne dessen System in nennenswerter Weise zu verändern oder weiterzubilden. Freilich verlieh er den Hallerschen Theoremen durch seine historiographische Arbeit hie und da eine andere Perspektive, vielleicht gar eine bessere Fundierung, was dieser im übrigen dankbar anerkannte und aufnahm. 184 Aber jenes Grundverständnis von staatlicher Macht, vor allem von deren Begrenzungen, jenes Verständnis von den Rechten und Pflichten des Fürsten, teilte Hurter mit Haller doch vollkommen. 1808, nach der ersten Lektüre des „Handbuches der allgemeinen Staatenkunde" hatte er Haller sogar dafür gedankt, diesem Verständnis aus dem krausen Wust seiner Jünglingsempfindungen zum Licht verholfen zu haben. „Es wäre undankbar von mir, wenn ich nicht gestünde, wie ich Belehrungen, Aufschlüsse und Berichtigungen meiner Idee über viele Punkte daraus erhielt. Sie können leicht denken, welche Freude es einem Jüngling verursachen mußte, zu sehen, wie Gedanken und Ansichten, die wohl auch schon in ihm rege wurden, aber nicht zur Klarheit kamen, sondern mehr in einer dunklen Ahndung blieben, nun ausgesprochen und aus Grundsätzen hergeleitet seyen." 185 In den Augen Hallers erwies sich Hurter als Musterschüler. Für dessen Ausführungen „Über Absolutismus" im ,Ausflug nach Wien und Preßburg", die gleichzeitig auch eine Apologie Hallers enthalten, hätte ihn der Altmeister der Restauration am liebsten „umarmen" mögen. 186 Aber nicht nur in Reflexionen
183 Reinhard, Haller und Hurter, S. 142; vgl. Haller an Hurter, 15.11.1839 (Scherer, Haller / Hurter, S. 52), worin Haller für „additamenta" zu seiner Schrift über die Freimaurerei in der Schweiz dankt und mitteilt, Hurters , ,Desiderien" entsprochen zu haben. 184 So ergänzte Haller etwa sein „mit Papyr durchschoßenes Handexemplar der Restauration der St. W." fortwährend mit „vielen merkwürdigen Belegen" aus Hurters „Innocenz"; vgl. Haller an Hurter, 16.2.1838 (Scherer, Haller / Hurter, S. 46). - Hinsichtlich der Parallele zwischen „kirchlicher" und „politischer" Revolution in GuW (s. o. S. 216-218) bemerkte Haller, er habe ähnliches bereits in seiner Geschichte der Reformation in Bern erörtert. An Hurters Durchführung des Vergleiches lobte er im Gegensatz zu seinem eigenen Versuch besonders die historische Dimension und Schloß den Wunsch an, Hurter möge doch auf der Basis dieser Kenntnisse eine Geschichte der Reformation in der Ostschweiz verfassen (Haller an Hurter, 14.11.1844, ebd. S. 114 und 27.3.1845, ebd. S. 124). 185
Hurter an Haller, 28.6.1808 (zit. nach Schib, Hurter, S. 215). Haller an Hurter, 11.3.1840 (Scherer, Haller / Hurter, S. 57); zu Hurters Passage „Über Absolutismus" vgl. o. S. 332-334; zu Beginn dieser Ausführungen nimmt Hurter 186
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allgemeiner Art, sondern gerade auch in der täglichen Arbeit als Pfarrer sowie in den Auseinandersetzungen mit seinen politischen Gegnern in Schafihausen operierte Hurter von der Basis Hallerscher Anschauungen aus: daß die „Restauration der Staatswissenschaft" sogar Stoff zu Predigten liefere, fand deren Verfasser „ungemein schmeichelhaft"; 187 daß schließlich Hurter seine Streitschrift über die Freiheiten der Stadt Schaffhausen ganz aus dem Geiste der „Restauration" verfaßte, ließ ihn jubilieren. „Viele haben die Restauration der St. W. gelesen, aber keiner, so viel mir bekannt, hat den Geist derselben so richtig erfaßt, so fruchtbar angewendet und gleichsam in succum et sanguinem verwandelt wie Sie." 188 Auch hinsichtlich des „österreichischen Prinzips" 189 stimmten beide ganz überein. Haller hatte während seiner Zeit als österreichischer Hofsekretär im Kriegsministerium bereits über die künftige Rolle Österreichs in einem neugeordneten Europa nachgedacht sowie eine Denkschrift verfaßt, auf deren „ser entwikelten Grundsäzen" Österreich durchaus zum „Ek- oder Grundstein einer neuen Periode von Ruhe, Ordnung und Festigkeit für Europa" hätte werden können, wie ihm Johannes von Müller damals versicherte. 190 In der Diskussion dieser Frage mit Hurter äußerte sich 1842 Enttäuschung über Österreich, welches „die ihm sonst von der Natur angewiesene Rolle" einer Schutzmacht der katholischen Kirche zu vernachlässigen schien. 191 Idealisierung und Enttäuschung über das reale Österreich wechselten sich bei Haller nicht weniger ab als im Österreichbild Hurters. Aber im Gegensatz zu Hurter, dessen Enttäuschung in österreichischen Diensten, freilich auch bedingt durch seine persönlichen Erlebnisse während der Revolutionsjahre von 1848/49, 192 bis zur Verbitterung wuchs, war es Haller vergönnt, bei seinem Ideal doch im wesentlichen zu ver-
Haller gegen die Vorwürfe seiner Gegner, den Absolutismus zu rechtfertigen, vehement in Schutz: Hurter, Ausflug nach Wien und Preßburg I, S. 327/328. 187 Haller an Hurter, 22.11.1831 (Scherer, Haller / Hurter, S. 25). 188 Haller an Hurter, 17. 4.1832 (Scherer, Haller / Hurter, S. 28); Friedrich Emanuel Hurter: Wie die Stadt Schaffhausen zu ihren Freiheiten, Besitzungen, Gütern, Rechten und Häusern kam, Schaffhausen 1832. 189 Vgl. o. S. 346-349. 190 Johannes von Müller an Haller, 1803 (Schib, Briefwechsel Haller / Müller, S. 30). Der Titel der Denkschrift lautete: „Über die Verhältnisse und Interessen des Hauses Österreich mit den auswärtigen Mächten" (November 1802); vgl. Reinhard, Haller, S. 29-33. 191 Haller an Hurter, 20.5.1842 (Scherer, Haller / Hurter, S. 89). Die beiden erörterten in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob nicht Bayern in der Lage wäre, diese Rolle zu übernehmen. 192 Nach dem Sturz Metternichs erhielt Hurter seine Entlassung als Reichshistoriograph; erst 1852 wurde er rehabilitiert; darüber in aller Empörung und Ausführlichkeit H. Hurter, F. Hurter Π, S. 213-290. Dieses persönliche Schicksal steigerte seine ohnehin schon große Abneigung gegen den „Liberalismus" noch zusätzlich.
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bleiben. Nachdem er die Nachricht von Hurters Ernennung zum Reichshistoriographen erhalten hatte, beeilte er sich, diesem zusammenzufassen, worin denn seiner Ansicht nach die Aufgabe eines solchen bestehe. Die leitende Idee einer österreichischen Geschichte sollte „besonders von Ihrer Seite darinn bestehen zu zeigen 1. Wie rechtmäßig das Haus Oestreich alle seine Besitzungen erworben und mehr als kein anderes Fürstenhaus alle Privat und Corporations Rechte respectirt habe. 2. Wie es zu jeder Zeit, mit Ausnahme einzelner weniger Fehler, die katholische] Religion und Kirche beschützt, Deutschland vor dem gänzlichen Triumph des Protestantismus gerettet, selbst den Josephinischen Zeitpunkt, als eine Art von Prüfung überstanden und auch seit mehr als 50 Jahren dem politischen Protestantismus d. h. der Verwerfung jeder billigen Autorität den kräftigsten Damm entgegengesetzt habe." 193 Diese Kerninhalte des „österreichischen Prinzips" nahm auch Hurter mit nach Wien. Als aber nach der Revolution, 1851, Haller dem Reichshistoriographen einige naiv-einfache Rezepte zur Beseitigung der „satanischen" Revolutionsfolgen in Österreich unterbreitete, konnte ihm Hurter nur noch reichlich desillusioniert antworten. 194 Auf einem letzten persönlichen Treffen der beiden im September desselben Jahres 195 mag darauf sicher noch einmal die Rede gekommen sein. Haller starb schließlich im Mai 1854, ohne sich Hurter gegenüber ein weiteres Mal zum „österreichischen Prinzip" geäußert zu haben. Döllinger übertreibt nicht, wenn er den Einfluß Hallers auf Hurter mit zu den einschneidenden Faktoren zählt, die dem „ganzen [...] Leben und Denken" des Antistes und späteren Reichshistoriographen „beherrschende Gestalt und Färbung" gaben." 196 Haller stattete Hurter mit genau den theoretischen Lehrsätzen aus, die dieser benötigte, um seine Erfahrungen in ein Weltbild einzupassen. Die „Wahlverwandtschaft" mit Carl Ludwig von Haller erfüllte für Hurter eine entscheidende Leitfunktion auf seinem eigenen Weg von der „politischen" zur „kirchlichen" Orthodoxie. Ein Interpretationsansatz, der im Schaffen Hurters eine mustergültige Exemplifizierung der Hallerschen Vorgaben sähe, griffe insofern sicher nicht daneben. Während aber Haller vorwiegend auf dem Pfad der „Staatswissenschaft" wandelte, versuchte Hurter zusätzlich die Geschichte einzubringen, um die Hallerschen Theoreme historiographisch zu verifizieren. Bei bloßer Nachfolge blieb Hurter also nicht: eine gewisse Ergänzung des Systems Hallers nach dieser historiographischen Seite hin kann er als eigenen Beitrag zum gegenseitigen Verhältnis durchaus beanspruchen.
193
Haller an Hurter, 31.8.1845 (Scherer, Haller / Hurter, S. 138/139). Haller an Hurter, 12.3.1851 (Scherer, Haller / Hurter, S. 147-152); Hurter an Haller, 25.3.1851 (in Auszügen zit. bei Reinhard, Haller - Hurter, S. 221), nennt Hallers Österreichbild „rosig". 195 Vgl. Haller an Hurter, 28.8.1851 (Scherer, Haller / Hurter, S. 152). 196 Döllinger, Nekrolog auf Hurter (1865), in: ders., Akademische Vorträge Π, S. 141. 194
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2. Böhmer und Johannes von Müller Carl L u d w i g v o n Haller erlangte i n erster Linie als Staatstheoretiker Bedeutung, dessen Hauptwerk i m wörtlichsten Sinne einem Zeitalter zu seiner „Signatur" verhalf. 1 9 7 D i e facettenreichere Gestalt des Johannes von M ü l l e r hingegen bezog ihren Ruhm vor allem aus ihren Leistungen für die Geschichtsschreibung. Freilich ging die Müller-Bewunderung der Großdeutschen ähnlich selektiv vor wie i m Falle Schlegels. Der äußere Lebenslauf Müllers m i t seiner Kulmination i m Dienste des napoleonischen Unterkönigs Jerome konnte den prinzipientreuen katholizistisch-konservativ orientierten Historikern so übermäßig viel Ansatz zur Verehrung j a nicht bieten, ebensowenig dessen Liebäugelei mit Werten der Aufklärung sowie die Freundschaften m i t weniger charakterfest eingestuften Zeitgenossen. Das konnte man i h m alles verzeihen; man konnte es entschuldigen oder einfach darüber hinwegsehen. I m Zweifelsfalle hatten die Freunde die Zuneigung des Meisters nicht verdient, j a diese mitunter mißbraucht: K a r l V i k t o r v o n Bonstetten etwa, auf dessen Landgut M ü l l e r den ersten Teil seiner Schweizergeschichte verfaßte, Hallers Urteil zufolge ein „homme de
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Restauration der Staatswissenschaft. - Ein eigener Reiz bestünde darin, Verbindungslinien zwischen Haller und den anderen positiven wie negativen „Gränzsteinen" zu ziehen. Hier nur einige Andeutungen. Hegel erteilte Haller in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts" eine gewaltige Abfuhr. Hallers System sei geradezu gedankenlos, weil es die Vernünftigkeit des Staates abstreite und an deren Stelle ein vermeintlich gottgewolltes, in Wirklichkeit jedoch zufalliges Prinzip des Stärkeren setze. „Nicht die Macht des Gerechten und Sittlichen" verwirkliche sich in Hallers Staat, sondern die „zufällige Naturgewalt". Dabei übersehe Haller, wie alle seine Bemühungen gerade zur Unterstützung des Satzes dienten, „daß die Herrschaft des Mächtigeren ewige Ordnung Gottes sei, die Ordnung, nach welche der Geier das unschuldige Lamm zerfleischt, daß also die durch Gesetzeskenntnis Mächtigeren ganz recht daran tun, die gläubigen Schutzbedürftigen als die Schwachen zu plündern." (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Frankfurt/M. 1970 [= G.W.F. Hegel Werke, Bd. 7], § 258, S. 401 mit Anm.). - Friedrich Schlegel hingegen zeigte sich in der „Signatur des Zeitalters" mit dem „positiven Gehalt" der Staatstheorie Hallers ganz einverstanden, bemängelte jedoch dessen antijakobinische Polemik, die zu gar nichts führe. Im Gegensatz zur Korporationslehre Hallers betonte er seine eigene Auffassung von der Kirche als der höchsten Korporation: zusammen mit diesem Gedanken fehle dem Gebäude Hallers der „christliche Schlußstein." Im dritten Teil des Aufsatzes, erschienen nach der Konversion Hallers von 1820, freute sich Schlegel freilich über diesen Schritt: „so ist ihm nach seinem geraden Verstände und gesunden Urteil, von einem redlichen Willen und starken Charakter geleitet, damit auch die Erkenntnis des göttlich Positiven in dem menschlichen Gesellschaftsvereine zuteil geworden, und so durch die Tat ergänzt, was an derfrüheren Ansicht noch mangelhaft scheinen konnte." (Schlegel, Studien zur Geschichte und Politik, S. 493, 525,562 [Die Signatur des Zeitalters] ).
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lettres, ein verdorbener Graf, verflüchtiget, ein Dilettant der Literatur ohne alle Gründlichkeit noch wahre Gelehrsamkeit, der sein Vaterland nicht liebte", ja der sich 1798 sogar mit den Jakobinern einließ, nur um sein Weingut zu retten! 198 Aus solchen Niederungen ragte Müllers aufrechte Gestalt für die Großdeutschen haushoch hervor; der Geist seiner Geschichtsschreibung allein garantierte ihm diese Stellung. Besondere Anerkennung fand dabei jene nachmals als ,JFrühhistorismus" 199 gekennzeichnete Haltung, welche die Großdeutschen erster Generation als eine „conservative" Geschichtsanschauung priesen, die sich gegen die Hauptströmung einer „radikalistischen", also vorwiegend aufklärerisch-rationalistisch geprägten Historiographie wandte. Worin die romantische „Poesie", so Höfler, vorangegangen war, indem sie „die Schätze des Mittelalters erschloß", habe Johannes von Müller vornehmlich durch seine Schweizergeschichte auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung zuerst gleichgezogen. „Selbstständigkeit" und ,,Feuer der Begeisterung" ergänzten jene neue historiographische Sicht auf das Mittelalter und begründeten die Stellung Müllers „in seiner Zeit als conservativer Historiker." Bedeutend sei auch dessen Nachwirkung: in Voigts Geschichte Gregors VII. sowie in Raumers Geschichte der Hohenstaufen habe dieses Müllersche Prinzip seine logische und notwendige Fortsetzung gefunden. 200 Höfler skizziert in dieser Passage nichts anderes als jene Entwicklungslinie deutscher Geschichtsschreibung, die von Johannes von Müller über Niebuhr und Raumer bis Ranke führt. In Johannes von Müller erscheint damit ein gemeinsamer Vorfahre des Historismus als einer Geschichts-, ja überhaupt Weltsicht, zu der sich katholische wie protestantische Historiker des neunzehnten Jahrhunderts gleichermaßen bekannten, ungeachtet aller konfessionellen und politischen Differenzen, welche seit 1837/38 und dann seit 1848/49 die Geschichtswissenschaft in Deutschland so traurig spalteten. Gleichzeitig - und darüber bemerkt Höfler freilich nichts - bindet Müller diesen Historismus insgesamt aber auch wieder zurück an die in Göttingen sich noch einmal zu später Blüte entfaltende Tradition der Reichshistorie, deren Übermittlung in die Gebiete der geschichtlichen Hilfswissenschaften und der Universalgeschichte durch Gatterer Müller während seines Göttinger Studiums selbst miterlebte. 201 Und auch die von Höfler hervorgehobene Mittelalter-Begeisterung Müllers
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Haller an Johann Georg Müller, 24.2.1813 (Schib, Briefwechsel Haller / Müller, S. 58). - Zu Bonstetten vgl. Lebenswege, Anm. 144. 199 Vgl. Paul Requadt: Johannes von Müller und der Frühhistorismus, München 1929. 200 Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 312/313. 201 Hammerstein, Jus und Historie, S. 357 und 379; ders., Der Anteil des 18. Jahrhunderts, S. 449.
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könnte in ihren Ursprüngen sehr wohl auf den Einfluß Gatterers zurückzuführen • 202 sein. Zusätzlich zur generell „conservative^ 4 Haltung fand der in Richtung Katholizismus orientierte Historiker auch inhaltlich Schätzenswertes in Müllers Werken vor. So stand mit der Rehabilitation des Mittelalters nicht zuletzt die Frage der Würdigung des Papsttums auf eine neue, von ,,Parteigeist" freie Weise zur Debatte. Einen Versuch in diese Richtung unternahm insbesondere Müllers kleine Schrift „Reisen der Päpste". 203 Zu spekulativ erscheint zwar die Vermutung Schibs, Hurters Interesse für den Papst Innozenz sei „vielleicht" durch dieses Werk Müllers erwacht; daß sich aber Hurter und Müller in ihrem kurzen Briefwechsel über den „Theoderich" dort besonders gut verstanden, wo die Rede auf eine Neueinschätzung der historischen Rolle des Papsttums kam, läßt sich zweifelsfrei belegen. 204 Janssen zufolge spielte eben dieses inhaltliche Moment auch bei der Begründung der „Wahlverwandtschaft" zwischen Böhmer und Johannes von Müller seine Rolle. Sorgfaltig habe sich Böhmer alle Aussagen Müllers über die päpstliche Politik des Mittelalters exzerpiert und zustimmend kommentiert. Besonders habe ihm die Müllersche Ansicht von der Regulativfunktion des Papsttums gegen anwachsende weltlich-militärische Despotismen zugesagt.205 Freilich bezeichnet dieser Einzelaspekt lediglich eine Marginalie der lebenslangen Auseinandersetzung Böhmers mit Johannes von Müller, noch dazu eine solche, die nur wenig aussagt über den eigentlichen Grund dieser „Wahlverwandtschaft". Auch für Böhmer stand nicht Johannes von Müllers Lebenslauf im Vordergrund. Anders als im Falle seiner Antipathie gegen Schlegel, neigte er jedoch Müller gegenüber diesbezüglich ebenfalls zur Apologetik. Böhmer vertrat wie Haller die Ansicht, der unwürdige Bonstetten habe die Freundschaft des
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Hammerstein, Jus und Historie, S. 359. Zuerst anonym erschienen o. O. 1782; später in Johannes von Müller: Kleinere Historische Schriften, Tübingen 1810 (Ders.: Sämmtliche Werke, hg. von Johann Georg Müller [im folgenden SW], Bd. 8), S. 17-60. 204 Schib, Hurter, S. 217 und 214. Hurter hatte im „Theoderich" ausgeführt, „daß sehr früh schon die Person des Heil. Vaters für über alle andre erhaben gehalten wurde, und daß nicht allein - wie Schriftsteller einer gewissen Parthie der Welt nur gar zu gem vorgeben möchten - die Päbste dieses vorgaben, sondern auch die rechtgläubige Bischöfe es anerkannten." (Hurter, Theoderich Π, S. 59, Anm. 192). Müller bemerkte dazu: ,3ei solchen Stellen fühle ich, daß wir gemacht sind, Freunde zu seyn." (S. 214). 205 Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 215. - Müller charakterisierte seine „Reisen der Päpste" durch einen möglichen Untertitel: „Wider das dumme Jubelgeschrey des Publicums, bey der Vernichtung aller Hindemisse des militärischen Despotismus." Müller an Herder, 2.4.1782 (Johannes von Müller: Briefe an Freunde I, Tübingen 1814 [= SW 16], S. 150/151). 203
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„unsterblichen Rosses" Müller nicht verdient. 206 Wie dieser vergaß aber auch Böhmer, der Möglichkeit zu gedenken, daß selbst ein so minderwertig taxierter Charakter durch die Pflege der Erinnerung an den großen Freund dessen Erbe mitunter trefflich verwalten konnte: kam doch etwa der junge August Friedrich Gfrörer just durch seine Tätigkeit als Sekretär dieses Bonstetten in nähere Berührung mit der Gedankenwelt Johannes von Müllers. 207 Auch auf solchen Wegen konnte sich Tradition vermitteln. Sowenig wie für den Charakter seiner Freunde, fahrt jedenfalls Böhmer fort, sei Müller für seine Anstellung im „Königreich Westfalen" ganz verantwortlich zu erklären. Den Rat, um eine Stelle bei Napoleon nachzusuchen, habe ihm Alexander von Humboldt erteilt. Im übrigen könne die Art und Weise, wie Müller nach fortwährender Mißhandlung durch König Jerome diese Stelle niederlegte und „wenige Wochen später an gebrochenem Herzen" starb, „wohl auch seine Gegner mit ihm aussöhnen."208 Böhmer verspürte eine besondere Affinität zu dem ruhelosen Historiker-Politiker, seit ihn 1817 - auch hier wieder eine Spur nach Göttingen - Sartorius auf Johannes von Müllers Briefe hingewiesen hatte. 209 Bei dieser Sympathie schwang sicher auch das Gefühl mit, in Müller eine der seinen ähnlich gelagerte Persönlichkeitsstruktur vorzufinden: neben dessen Aufrichtigkeit hob er Müllers „Gemüth" hervor. Nur wer über vergleichbares „Gemüth" verfüge, könne Müller verstehen und auch „den richtigen Standpunkt zur Beurteilung seiner Schwächen gewinnen." Besonders berührte Böhmer auf dieser persönlichen Ebene das Verhältnis Müllers zu seiner Familie, vor allem zu seiner Mutter - die eigene innige Beziehung zu Mutter und Bruder mochte sich ihm darin spiegeln. 210 Aber im wesentlichen bestimmte doch Johannes von Müllers Umgang mit Geschichte die „Wahlverwandtschaft" durch seine Nähe zum historiographischen Ethos Böhmers. Zwar schon für Historisches vorsensibilisiert, habe sich Müller, wie Böhmer betont, erst in den politischen Wirren einer Epochenschwelle zum Geschichtsschreiber entwickelt. „Gerade damals als in Nordamerika und Frankreich das Wetterleuchten der großen Ereignisse begann, kam er nach Genf, wo er den Umgang von Staatsmännern [...] genoß und mit jungen Engländern politischen Standes vielfach Verkehr hatte. So wurde er Geschicht-
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Böhmer ab Wippert, 17. 7. 1817 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 15). S. Lebenswege, Anm. 146. 208 Mitteilung Böhmers im Gespräch, April 1866, bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 455. 209 Böhmer an Wippert, 17.7.1817 und an seinen Vater, 19.10.1817 (Janssen, Böhmens Leben und Briefe Π, S. 14 und 21/22; vgl. auch ebd. I, S. 38/39). 210 Mitteilung Böhmers im Gespräch, bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 457. Über Böhmers Verhältnis zu Mutter und Bruder vgl. o. S. 85 sowie Janssen I, S. 263/264 und 344. 207
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Schreiber." 211 Geschichte und Politik: die Erfahrung des Umbruches, die politische Notwendigkeit, Neues zu gestalten, wirft zurück auf das Studium der Geschichte. In jener, von Janssen vielleicht verkürzt wiedergegebenen Gesprächsäußerung liegt verschlüsselt Böhmers eigener Weg zur Geschichtsschreibung. Auch er hatte sich ja, nachdem er zunächst romantisch-poetisch für die Kunst des Mittelalters begeistert war, in einer politischen Umbruchszeit, 1819, unter dem Einfluß eines Staatsmannes, des Freiherrn vom Stein, der Geschichte zugewandt. Das Vorbild Müller bestätigte Böhmers Auffassung von der Geschichte als „vaterländischer Aufgabe" und gab ihm damit Halt, auch in schwierigeren Zeiten. „Wie wohl thut es Einem, einen jungen Mann so hohe Ziele stecken zu sehen." 212 Eines dieser hohen Ziele konnte Böhmer sicherlich in Johannes von Müllers Ausführungen über die „alte Freyheit" wiedererkennen, die so weit nicht entfernt lagen von seinen eigenen Bestrebungen, an die germanische Gemeinfreiheit zu erinnern. Weniger aufklärerisches Freiheitspathos, sondern eher Anklänge an die Hallerschen „Dienst oder Societäts Verhältnisse" scheinen tatsächlich in Müllers Vorrede zu den „Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft" auf. Die „Verfassungen freyer Nationen" führt er zurück auf die alte Rechtsordnung des Hauses, die schließlich auf Geschlechter, Stämme und Völkerschaften übertragen worden sei. Sie wurzelte im Prinzip des „erbfolgenden oder gewählten Vorstehers, welcher nicht ohne Berathung mit den Ältesten und nicht ohne Beystimmung der Familienhäupter die Angelegenheiten des Gemeinwesens verwaltete. Das waren die guten Zeiten der alten Freyheit, wo keinem etwas fremde blieb, was das Ganze betraf, und ohne den Willen der Mehrheit über das Allgemeine nichts verfügt wurde." 213 Obgleich Böhmer selbst jene alte
211 Mitteilung Böhmers im Gespräch, April 1866, bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 455. 212 Böhmer an Kopp, 3.12.1859 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe m, S. 306) nach der Lektüre der biographischen Denkwürdigkeiten Müllers: Johannes von Müller: Biographische Denkwürdigkeiten, 4 Bde., Tübingen 1810-1812 (=SW4-7). - Wenn Hindemisse Böhmers eigener Arbeit entgegenstanden, nahm er zum Trost geme Johannes von Müllers Werke, insbesondere dessen Briefe zur Hand, so etwa noch im Winter 1859/60 (vgl. Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΠΙ, S. 316 und 319): Johannes von Müller: Briefe an Carl Victor von Bonstetten, Tübingen 1812; ders.: Briefe an seine Freunde, 3 Bde., ebd. 1814 (= SW 13,16-18). 213 Johannes von Müller: Der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft erster Theil, Tübingen 1815 (= SW 19), Vorrede, S. m. - Zum „Haus" und Erstgeburtsrecht als Keimzelle menschlicher Ordnungen vgl. auch Haller an Hurter, 6.7.1808 (Scherer, Haller / Hurter, S. 12/13). - Von Böhmer liegen über Haller kaum Aussagen vor. Es scheint aber, als habe den Geschichtsforscher der theoretisierende Dogmatismus Hallers abgestoßen. Im Gegensatz zum obersten, „wahren" Prinzip Hallers bevorzugte Böhmer den Weg von der Feststellung des geschichtlich Gegebenen zum Urteil über das gegebe-
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Freiheitsordnung als germanische Rechtsordnung später sehr viel präziser und differenzierter beschrieb, teilte er mit Müller doch den Ansatz - und das Ziel: an diese verlorengegangene Freiheit zu erinnern, um vielleicht aus dieser Erinnerung neue Ordnungen zu entwickeln. Den vielen kleinen, vereinzelten „Willen", so Müller, bleibe zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung ihrer Freiheit gegen die „übermächtige Gewalt" der großen, „alles niederwerfenden Willen" vom Schlage eines Alexander, Attila, Karl des Großen nur das zusammenwirkende Bündnis, welches aber besonderer Motivation bedürfe: „ A u f der andern Seite ist verbündeter Wille dem des Einzigen [...] nur dann an Kraft zu vergleichen, wenn irgend eine heilige, hohe Begeisterung für Freyheit, Religion, Vaterland, ihm das gleiche Leben gibt." 2 1 4 „Hohe Begeisterung für Freiheit, Religion, Vaterland": solchermaßen idealisiert hatte doch auch Böhmer sein öffentliches Wirken begonnen, programmatisch manifest in jener Epistel an seine Freunde „Von unserer Unzufriedenheit." 2 1 5 Für den Impuls dazu blieb er Johannes von Müller ein Leben lang treu. Dies hieß andererseits aber nicht, daß der penible Böhmer sich bereit fand, Müllers historiographische Unzulänglichkeiten zu übersehen. Dessen Darstellung der „Schweizerhändel" Rudolfs von Habsburg nannte er schlichtweg unbrauchbar; 216 an Müllers Quellenbehandlung vermißte er Kritik, j a bezeichnete dessen Methodik insgesamt als ungeschickt. 217 „Unbegreiflich ist, wie Johann von Müller [...] es unternehmen mochte, in's Blaue und Wilde hinein alle Geschichtsquellen zu durchlesen und zu extrahiren, wie sie sich ihm gerade darboten." 2 1 8 Trotzdem: Müller ,piatte den Feinsinn und die Assimilirungskraft, Frucht genug herauszuschlagen" und, worauf Böhmer besonderen Wert legte, diese Frucht in einen Zusammenhang zur Gegenwart zu stellen, sie hineinzutra-
nenfalls zu Erstrebende. Dabei galt ihm Geschichtlichkeit noch mehr als Legitimationskriterium rechtlicher Ordnungen als Haller, der im Zweifelsfall sofort auf die göttliche Quelle allen Rechtes rekurrierte. Im „Studienproramm für Frankfurter Geschichte" kritisierte Böhmer sowohl Hallers als auch Müllers Darlegungen über die Verfassung der Stadt Bern. Während dieser „das weise Bern mehr gelobt als umfassend geschildert" habe, sehe der „sechste Band von Herrn von Haller's bekanntem Werke [...] die Sache mehr vom Standpunkte allgemeiner Theorie auch da an, wo man doch erst das einzelne Material gesammelt zu sehen wünschte." (S. 430). 214 Müller, Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, Vorrede, S. Vll/Vin. 215 S. o. S. 77/78. 2,6 Böhmer an Kopp, 23.11.1843 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 360). 217 Böhmer an Kopp, 6.3.1860 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe m , S. 323). 218 Böhmer an Arnold, 8.2.1860 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΠΙ, S. 316) In einzelnen Werken habe Müller immerhin positive Ansätze gezeigt, etwa durch den Versuch, die Quellen nach ihrer Ursprünglichkeit zu ordnen. Andererseits „hatte er später den barbarischen Einfall, den Muratori nach seiner zufalligen Ordnung, eigentlich Unordnung, von Vomen bis Hinten zu lesen." (Böhmer an Kopp, 3.12.1859, ebd. ΙΠ, S. 306).
ΠΙ. Wahlverwandtschaften
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gen in die Diskussionen „mit so vielen damaligen bedeutenden Männern, in den Geisterkampf jener Zeit." 2 1 9 Diese Vorbildfunktion Müllers wog alle Mängel auf. Müllers Geschichtswerke wie auch seine Briefe wiesen in die richtige Richtung. Böhmer, Müllers Nachfolger in jenem Geiste, versäumte keine Gelegenheit, auch der heranwachsenden Generation dessen Botschaft anzuempfehlen. Kulturhistorische Forschungen, so setzte er Johannes Janssen auseinander, seien sicher wünschenswert; aber zunächst seien doch andere Aufgaben vordringlicher zu erledigen. „Es gibt gewiß keine schönere und fruchtreichere Aufgabe, als eine im edlern Sinne populär gehaltene Darstellung der deutschen Geschichte, welche die vorhandenen Forschungen so viel als möglich benutzt und das Wesentliche zusammenfassend in kräftiger Sprache zu den gebildeten Kreisen des Publikums redet [...]. A n hohen edlen Zielen müssen wir uns emporziehen und aus ihnen Kraft, Muth und Selbstverläugnung schöpfen, wie diese Richtung und dieses Streben sich namentlich in Johann von Müller's Briefen ausgedrückt findet, die für alle Jünger geschichtswissenschaftlicher Studien als die erhebendste Leetüre empfohlen zu werden verdienen." 220 Geschichtsschreibung als sittlich und künstlerisch ernstzunehmende Aufgabe: hohe Ziele in „edler Popularität" zu erreichen - zu beidem habe Johannes von Müller beigetragen, nicht zuletzt auch durch seinen „körnigten Styl", der die deutsche Sprache an Gehalt bereichert habe. 221 Zwei Jahre vor seinem Tode noch legte Böhmer zwei ratsuchenden Gymnasiasten die Beschäftigung mit Müller dringend ans Herz. Im Studium der Geschichte sei zu erfahren, „wie es mit den menschlichen Dingen geht, welche Ziele unsere eigene Nation erstrebt hat und wie das menschliche Gesellschaftsleben, das uns umgibt und an dem wir selbst betheiligt sind, sich entwickelt hat. Wir lernen große Männer verstehen und richten uns selbst auf an der Betrachtung der hohen Ziele, die sie sich steckten und an der Kraft, mit der sie dieselben verfolgten. Gute Betrachtungen über diesen Werth des geschichtlichen Studiums finden Sie bei Johannes von Müller, besonders in seinen Briefen." 222 Böhmer wußte wohl, daß sich die Geschichtswissenschaft seit Johannes von Müller weiterentwickelt hatte, daß dessen Forschungen faktisch auf vielen Gebieten überholt waren. Jenes besondere Ethos freilich, jene Verschmelzung des „hohen Zieles" und der „edlen Popularität" zu einer individuellen, unnachahmlichen Darstellung, konnte in Böhmers Augen nicht veralten. In diesem Ethos
219
Böhmer an Arnold, 8.2.1860 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΠΙ, S. 316). - „So auf dem Studium fußend, reicht das [Müllers] Streben auch hinüber in das Leben." (ebd.). 220 Böhmer an Janssen, 5.5.1854 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΠΙ, S. 118). 221 Böhmer an Roth von Schreckenstein, 31.7.1860 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe m , S. 340) und an Will, 12.2.1860 (ebd. ΠΙ, S. 318). 222 Böhmer an die Gymnasiasten G. Retzinger und J. Weilnbeck, 17.8.1861 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe m , S. 369).
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Traditionsstränge
Inbegriffen lag sein eigenes historiographisches Ideal und letztendlich auch der eigentliche Grund, warum er mit dem Jahr 1780, dem Jahr des ersten Auftretens Johannes von Müllers, „überhaupt in der deutschen Geschichtsschreibung eine neue Zeit" beginnen sah. 223 Böhmers Vorliebe für den Briefwechsel Johannes von Müllers nährte sich zusätzlich aus einer etwas idealisierten Bewunderung jenes Kreises von Gelehrten und bedeutenden Geistern anderer Art, deren so ergiebiger Gedankenaustausch sich darin dokumentiere. 224 „Mir kommt es manchmal vor, als ob in der Gegenwart schwerlich ein Kreis bestehen möge, in dem so bedeutende Mittheilungen ausgetauscht würden. Wo wären die Männer, zwischen denen man einen Briefwechsel voraussetzen dürfte, wie der zwischen Müller und Gentz und mit so manchen anderen?" 225 Verdächtig klingt dieses Urteil nach einer etwas wehmütigen laudatio temporis acti, die übersehen will, daß auch die eigene Zeit ähnliches durchaus aufzuweisen hat. Partizipierten doch die großdeutschen Historiker der ersten Generation selbst an zwei solchen Kreisen, nicht nur in brieflichem, sondern sogar in höchst persönlichem Verkehr.
IV· Gesinnungszirkel Einkehr in Kreise Gleichgesinnter dient in der Regel nicht nur eigener Bestätigung und Vergewisserung, sondern auch geistiger Multiplikation, geistiger Fortpflanzung. Wo sich mehrere Generationen versammeln, eröffnet der „Gesinnungszirkel" einem Rezipienten von Traditionssträngen die Möglichkeit, selbst wiederum traditionsbildend aufzutreten. Er stellt darüberhinaus aber auch eine Schnittstelle am Übergang vom Denken zum Handeln dar, von der stillen Ausbildung der „Denkwege", der Aneignung von Traditionen, zur Umsetzung der Maximen und Werte in „Öffentliches Handeln", sei es auf dem allgemeinen Gebiet der Politik oder auf dem spezielleren der eigenen Wissenschaft.
223
Böhmer, Regesten 911-1313, Vorrede, S. V. Zusammen mit Müller nennt Böhmer an dieser Stelle noch Justus Moser, der im selben Jahr wie Müller, 1780, zuerst aufgetreten sei. Diese Behauptung bezieht sich wohl auf Mosers Schrift „Über die deutsche Sprache und Litteratur", Osnabrück 1781. Einen tieferen Einfluß auf Böhmer, geschweige denn einen so nachdrücklichen wie Müller, übte Moser jedoch nicht aus. 224 Als Pendant und Ergänzung zu den Briefen Müllers erschien in der Hurterschen Buchhandlung: Heinrich Maurer de Constant (Hg.): Briefe an Johann von Müller. Mit einem Vorwort von Friedrich Hurter, 6 Bde., Schaffhausen 1839/40. Auch diese Ausgabe begrüßte Böhmer lebhaft. Vgl. Böhmer an Buchhändler Friedrich Hurter, 15.11.1842 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 333). 225 Böhmer an Arnold, 8.2.1860 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe m , S. 316).
IV. Gesinnungszirkel
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Geistige Fortpflanzung, geistige Umsetzung: das Einbringen in einen größeren Zusammenhang auf der Basis direkter Kommunikation mit gleich oder ähnlich Denkenden bedeutete für die katholizistisch-konservativen, großdeutschen Historiker erster Generation fast schon eine Frage des Überlebens. Reste romantischen Freundschaflskultes spielten bei manchen, besonders bei Johann Friedrich Böhmer eine Rolle. 2 2 6 Bei anderen, bei Friedrich Emanuel Hurter vor allem, mochte sich dieses Gefühl zum existentiellen Bedürfiiis steigern: wer sich im eigenen engen Lebensumkreis mißkannt, ja verfolgt fühlte, mußte die Flucht ergreifen in die rettenden und bergenden Arme der Gesinnungsgenossen. Schließlich aber spielte auch das Bedürfnis nach Organisation mit, nach größerer Ballung der Kräfte, um nach außen wirkungsvoller auftreten, politisch schlagfertiger handeln zu können. Den Weg zu einer „politischen Partei" verfolgte aber weder der eine noch der andere Gesinnungszirkel, an dem großdeutsche Historiker der ersten Generation vor 1848/49 partizipierten; erst die Frankfurter Nationalversammlung gab den entscheidenden Impuls in diese Richtung. 227 Trotzdem unterschieden sich jene beiden Zirkel deutlich hinsichtlich ihrer jeweiligen politischen Ambitionen. Während in dem einen vorwiegend das Element der romantischen Freundschaft nachwirkte, der Austausch der Gleichempfindenden in amöner Idylle dominierte, freilich unter zunehmend katholischen Vorzeichen, stellte sich in dem anderen - neben dem Moment des Gedankenaustausches - doch sehr viel mehr die Frage nach der aktiv politischen Umsetzung der katholisch-konservativen Grundanschauungen. Zugespitzt: während sich im Kreis um Johann Friedrich Heinrich Schlosser kontemplativ und beschaulich die Romantik weiter katholisierte, politisierte sich im Kreis um Joseph Görres der Katholizismus. Das entsprach exakt sowohl dem Naturell jener beiden Gestalten im Mittelpunkt der jeweiligen Kreise als auch den Stätten ihres Wirkens. Hier der umtriebige, sich einmischende Joseph Görres, ein politischer Agitator ersten Ranges, im Zentrum der drittgrößten Macht des Bundes, München, dort der zurückgezogene Privatier Schlosser, Büchersammler und Hymnenforscher, inmitten der Neckarromantik seines Stiftes Neuburg bei Heidelberg.
226
Böhmer zeigte sich als junger Mann von diesem romantischen Freundschaftskult ganz eingenommen; vgl. etwa Böhmer an seine Schwester, 19.10.1817 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 23): Neben Wissenschaft, Kunst und dem Genuß der Natur, seien es vor allem seine Freunde, „welche mir das Leben eigentlich werth machen. Und ich war glücklich in der Freundschaft!" 227 Noch immer lesenswert: Franz Schnabel: Der Zusammenschluß des politischen Katholizismus in Deutschland im Jahre 1848, Heidelberg 1910 (= Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, Bd. 29).
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Traditionsstränge 1. Der Schlosser-Kreis
auf Stift Neuburg
Rat Schlosser, 228 Jahrgang 1780, Abkömmling des berühmten Frankfurter Geschlechts, Sohn jenes Hieronymus Peter Schlosser, dessen Bruder Johann Georg einst mit Goethes Schwester verehelicht war, hatte im Dienste des altreichsstädtischen Ideals die juristisch-diplomatische Laufbahn eingeschlagen, der sich Böhmer später verweigern sollte. Nach dem Intermezzo des Großherzogtums hatte er Frankfurter Interessen auf dem Wiener Kongreß vertreten und war schließlich auch am neuen Bundestag zu Frankfurt in Erscheinung getreten. Seit 1814 zum Katholizismus übergetreten und seither auch für katholische Interessen in seiner Heimatstadt engagiert, veranlaßte Schlosser freilich zunehmende Enttäuschung über die inneren politischen Verhältnisse Frankfurts zum Rückzug aus den öffentlichen Geschäften. 1825 erwarb er Stift Neuburg, wo er fortan fast jeden Sommer verbrachte, sich religöser Kontemplation, dichterischer Muse und gelehrter Forschung widmete, vor allem aber ,4m Kreise treuer Freunde und zahlreicher Bekannten aus allen Ständen der Gesellschaft, auch den angesehensten", ein gastliches Haus führte. 229 Nach Schlossers Tod, 1851, stand dessen charismatische Gattin, Sophie Du Fay, die ,,Frau Rath Schlosser", dem Kreis noch fast fünfzehn weitere Jahre vor, bis zu ihrem eigenen Ableben 1865. 230 Auf Schlossers Stift kreuzten sich in einzigartiger Weise jene geistigen Strömungen, die so vielfaltig und variantenreich die entstehende großdeutsche Historiographie beeinflußten. Wenn auch die meisten Gäste nicht oft kamen, viele nur einmal, so scheint doch jeder mit beigetragen zu haben zur besonderen Atmosphäre des Stiftes, die bald weithin bekannt war. Hurter, der auf der Rückreise von Göttingen 1837 in Frankfurt Station einlegte, erhielt den dringenden Rat, „an Heidelberg nicht vorüberzureisen, ohne auf dem lieblichen Stift Neuburg bei Hrn. Rath Schlosser anzukehren. [...] Für so Viele in Deutschland mag es genügen, die Namen Schlosser oder Stift Neuburg nennen zu hören, um zu wissen, mit welcher zuvorkommenden Freundschaft ich dort empfangen wurde, wie anregend und lehrreich die wenigen Stunden verflossen, die ich dießmal,
228
Böhmer, Schlosser (s. Lebenswege, Anm. 33); Art. , Johann Friedrich Heinrich Schlosser", in: Wetzer und Welte Χ Π (1856), S. 1093-1096 sowie insbes. Oswald Dammann: Johann Friedrich Heinrich Schlosser auf Stift Neuburg und sein Kreis, in: Neue Heidelberger Jahrbücher NF (1934), S. 1-128. 229 Böhmer, Schlosser (s. Lebenswege, Anm. 33), S. 480. 230 Dammann, S. 74-95; vgl. auch Johannes Janssen: Sophie Schlosser. Ein Lebensbild, in: HPB1157 (1866), S. 85-108; eine schöne Charakteristik der „Frau Rath" bei Alphons Maria Steinle: Johannes Janssen im Frankfurter Freundeskreise, in: HPB11 109 (1892), S. 750-768, hier S. 751-753.
IV. Gesinnungszirkel
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gleichsam nur zu baldiger Wiederkehr mich anmeldend, dort zubrachte." 231 Dreimal kehrte Friedrich Emanuel Hurter während der vierziger Jahre wieder; der Besuch vom September 1842 blieb ihm in besonderer Erinnerung aufgrund des Zusammentreffens mit Karl Ernst Jarcke. 232 Hurter schätzte die Atmosphäre auf Stift Neuburg so sehr, daß er sogar mit dem Gedanken spielte, seine Tochter Marianne für einen längeren Zeitraum, etwa als Gesellschafterin der Frau Rat Schlosser dort unterzubringen, um „gute Maniren" zu erwerben. Krankheit und Tod stellten sich der weiteren Ausführung solcher Pläne tragisch in den Weg. 233 Marianne Hurter wäre auf Stift Neuburg in den Genuß illustrer Bekanntschaften gekommen. 234 Mit Marianne Willemer 235 hätte sie eine Bezugsperson Goethes sowie Brentanos kennengelernt, hätte etwas von den Nachwehen jener romantischen Poesie verspürt, deren Protagonisten Clemens Brentano und Ludwig Tieck selbst auf dem Stift eingekehrt waren. Sogar der englische Lyriker William Wordsworth war im Sommer 1837 Gast Schlossers gewesen. Mit dem Maler Edward von Steinle, der seit 1839 in Frankfurt residierte und oft nach Neuburg hinausfuhr, 236 hätte sie einen Ausläufer der nazarenischen Malerei erlebt, die einst Johann Friedrich Böhmer so begeistert hatte. Schließlich wären 231
Hurter, GuWI, S. 356/357: Über den Besuch auch Hurter an seine Frau, 3.10. 1837 (Samen, NL Hurter). 232 Hurter an seine Frau, 27.9.1842 (Samen, NL Hurter), zit. in Ausschnitten bei Lischer, S. 109. - Die weiteren Aufenthalte Hurters auf Stift Neuburg: 4.-6.8.1841 (Lischer, S. 101), Sommer 1846 (ebd., S. 115/116). Auch Sohn Friedrich Benedikt Hurter fand sich 1841 und, für längere Zeit, 1847 in Neuburg ein (ebd., S. 66 Anm. 2). - Zu Jarcke und dessen Bedeutung s. u. S. 422/423. 233 Hurter an F.B. Hurter, 19.10.1840 (StA Schafthausen, NL Hurter Ia / 29 - in Auszügen zit. bei Lischer, S. 93). Unmittelbar nach der Rückkehr von der München-Reise des Jahres 1840, die Hurter zusammen mit seiner Tochter unternommen hatte, erkrankte diese an Typhus. Die Krankheit zog nach und nach die gesamte Familie, auch Hurter selbst, in Mitleidenschaft. Während Hurter überlebte, starben Marianne sowie eine zweite Tochter im November 1840. Vgl. Hurter, GuWI, S. 486-493 sowie Hurter an F.B. Hurter, September bis Dezember 1840 (StA Schafthausen, NL Hurter Ia / 40-46). 234 Die nachfolgende Liste nach den Angaben bei Dammann, S. 96-117. Selbst dessen ausführliche Kompilation wäre nach verschiedenen Seiten hin zu ergänzen. So führt Dammann z. B. Friedrich Emanuel Hurter, nicht aber Friedrich Benedikt Hurter als Gast auf (ebd., S. 105). 235 Über Goethes „Suleika" und Brentanos „Großmütterchen" aus der Zueignung des Märchens von „Hinkel, Gockel und Gackeleia" vgl. Julei M. Habisreutinger, in: Killy 12 (1992), S. 337/338. 236 Dammann, S. 116 führt Marianne Willemer und Edward Steinle als die häufigsten Gäste auf dem Stift. Vgl. auch Alphons Maria Steinle: Edward von Steinle's Briefwechsel mit seinen Freunden, 2 Bde., Freiburg/Brsg. 1897, hier Bd. I, S. 397-510 Steinles Briefwechsel mit Schlosser. - Von den Nazarenem waren Overbeck sowie Johannes und Philipp Veit Gast bei Schlosser.
412
Traditionsstränge
ihr die Anschauungen alter Frankfurter Reichsbürgergeschlechter ebensowenig fremd geblieben wie der politische Katholizismus der Gruppe um Görres: Bürgermeister Thomas war zwar 1838 bereits verstorben, vielleicht aber wäre ihr Johann Adam Ohlenschlager oder aber der alte Böhmer-Freund Johann David Passavant begegnet; Joseph Görres war zwar nur einmal, im September 1834, gekommen, vielleicht aber wäre ihr dessen Neffe Ernst von Lasaulx oder aber, wie dem Vater, Karl Ernst Jarcke über den Weg gelaufen. Mit Sicherheit jedoch hätte Marianne Hurter hohe Vertreter des institutionalisierten Katholizismus kennengelernt: einen der Bischöfe oder Anwärter auf Bischofsstühle, Räß, Geissei, Vicari, Ketteier und Hefele 237 sowie einen der Theologen Franz Hettinger und Franz Anton Staudenmaier. 238 Mit diesen hätte das Gespräch auf prominente Gäste der Frühzeit des Stifts kommen können, auf Johann Adam Möhler und Melchior Diepenbrock, auf Johann Michael Sailer 239 oder auf den französischen Religionspolitiker Montalembert und dessen Besuch auf dem Stift im Juli 1834. Auch Historiker wären Marianne Hurter aufgefallen, weniger bekannte wie Johann Martin Lappenberg und Franz Joseph Mone, 2 4 0 aber auch
237
Andreas Räß (1794-1887), seit 1842 Bischof von Straßburg; Johannes von Geissei (1796-1864), 1836 Bischof von Speyer, 1845 Erzbischof von Köln; Hermann von Vicari (1773-1868), 1832 Weihbischof, 1836 Bistumsverweser, 1842 Erzbischof von Freiburg; Wilhelm Emanuel Frhr. von Ketteier (1811-1877), 1841-1843 theologisches Studium in München und Verbindung mit Döllinger, seit 1850 Bischof von Mainz; Karl Joseph Hefele (1809-1893), 1837 Professor der Kirchengeschichte in Tübingen als Nachfolger Möhlers, 1869 Bischof von Rottenburg. 238
Franz Hettinger (1819-1890), seit 1856 Professor der Theologie in Würzburg, Verfasser einer weitverbreiteten, Apologie des Christenthums" (seit 1863); Franz Anton Staudenmaier (1800-1856), seit 1837 Professor der Dogmatik in Freiburg/Brsg., Hg. der „Zeitschrift für Theologie". 239 Zu Sailer, seit 1829 Bischof von Regensburg, vgl. Georg Schwaiger: Johann Michael von Sailer (1751-1832), in: Heinrich Fries / Georg Schwaiger (Hg.), Katholische Theologen Deutschlands im 19. Jahrhundert, Bd. I, München 1975, S. 55-93; zu Möhler (1796-1838), seit 1835 Prof. für Kirchengeschichte in München, vgl. Paul Werner Scheele, in: ebd. Π, S. 70-98. Melchior von Diepenbrock (1798-1853) war Sailers Sekretär in Regensburg, seit 1845 Fürstbischof von Breslau; zu den beiden Letztgenannten vgl. auch Vigener. 240 Über den Hamburger Archivar und Historiker Lappenberg, der 1858 zu den ersten Mitgliedern der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gehörte, vgl. Schnabel, Die Idee und die Erscheinung (s. Einleitung, Anm. 3), S. 53/54; Franz Joseph Mone (1796-1871), seit 1819 Professor an der Universität Heidelberg, 1827-1831 in Loewen, 1835-1858 Direktor des badischen Generallandesarchivs in Karlsruhe; Korrespondenzpartner Böhmers.
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jene, deren Namen ihr aus dem Bekanntenkreis ihres Vaters geläufig sein mußten: Constantin Höfler, Ignaz Döllinger und natürlich Johann Friedrich Böhmer. 241 Der Verkehr auf dem Stift forderte insbesondere die Knüpfung von Traditionssträngen zur nachfolgenden Generation. Am entschiedensten profitierte Johannes Janssen, Geschichtslehrer in Frankfurt am Main seit 1854, von den Beziehungen zur Familie Schlosser. Nicht zuletzt durch die Vermittlung Böhmers in jene Kreise eingeführt, besuchte er im Sommer 1855 zusammen mit dem Frankfurter Schulpolitiker Hermann Anton Wedewer Stift Neuburg ein erstes Mal, „und zwar nicht, wie ich dachte, auf zwei bis drei Tage, sondern eine ganze Woche hindurch. Ich habe dort auch den Bischof von Würzburg und Professor Döllinger aus München kennen gelernt, die dort gleichfalls zu Besuch waren. Selten habe ich mich so gut unterhalten wie in jenen Tagen. Auf Neuburg findet man alles vereinigt, was Natur und Kunst nur bieten können. Frau Schlosser hat wenigstens für 200 000 Taler Kunstsachen an Gemälden und Kupferwerken und eine ganz auserlesene Bibliothek von etwa 30 000 Bänden. Sie bringt auf Neuburg nur den Sommer zu. Im Winter ist sie hier in Frankfurt, und ich werde mit der Familie Wedewer häufiger von ihr eingeladen." 242 Neben Johannes Janssen setzte aus der zweiten Generation großdeutscher Historiker vor allem Hermann Hüffer die auf Stift Neuburg begründete Traditionslinie noch weiter fort. 243 Wie dieser hatte aber auch er die eigentlich große Zeit der Stiftszusammenkünfte, die Zeit vor dem Tode des Rates, nicht mehr miterlebt. Seit Schlossers Ableben hatte sich die Atmosphäre gewandelt: ein strengerer katholisch-konfessionalistischer Ton war unter dem Regiment der „Frau Rath" eingekehrt. 244 Darin spiegelte sich ein gestiegenes katholisches Abgrenzungsbedürfiiis gegenüber anderen geistigen und politischen Strömungen der Zeit sowie ein erstarktes kämpferisches Bewußtsein. Mit den Erfahrungen des überstandenen Kulturkampfes neigten rückblickend manche Katholiken sogar dazu, den Zusammenkünften auf Stift Neuburg während der fünfziger und sechziger Jahre eine Schlüsselfunktion zuzubilligen auf dem Wege des Katholizismus zu einer mächtigen, politisch einflußreichen gesellschaftlichen Kraft. 245
241
Dammann, S. 98, 100, 104. Über Böhmer und Schlosser ausführlich Kleinstück, S. 152-158 und 267-272. - August Friedrich Gfrörer erscheint nicht als Gast auf Stift Neuburg. 242 Johannes Janssen an seine Eltern, 26. 10. 1855 (Ludwig Frhr. von Pastor [Hg.]: Janssens Briefe, 2 Bde., Freiburg/Brsg. 1920, hier Bd. I, S. 65. 243 Hüffer selbst wiederum fand über die Vermittlung Janssens in den Kreis der Stiftsgäste; vgl. Hüffer, S. 102. 244 Zum „Kurswechsel" auf dem Stift nach 1851 sowie dessen Zusammenhang mit dem badischen Kirchenstreit vgl. Dammann, S. 74-95. 245 So beispielsweise Steinle, Janssen im Frankfurter Freundeskreise, S. 755/756: „Den Zusammenkünften auf Stift Neuburg verdankt das katholische Deutschland eine
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Traditionsstränge
Diese Entwicklung bedeutete andererseits freilich
einen Verlust an geistigem
Spektrum. Der einstige Sammlungspunkt der so vielfaltigen konservativen, katholizistischen und großdeutschen Strömungen hatte sich i n ein sehr viel einsträngigeres Forum des orthodoxen und politisch aktiven Katholizismus verwandelt, i n dem nicht mehr jeder Katholik und auch nicht mehr jeder großdeutsche Historiker auftreten konnte und wollte.
2. Görres und sein Kreis in München Die mitunter euphorischen Lobeshymnen katholizistisch-konservativer und großdeutscher Historiker auf den Münchner Geschichtsprofessor Joseph Görres sollten nicht dazu verführen, dessen Einfluß auf die Genese jener Geschichtsanschauung zu überschätzen. Görres' Vorlesungen an der Münchener Universität dürften i m Vergleich zu anderen Konstituenten der „Traditionsstränge" kaum direkte Impulse gegeben haben. A u c h was er von diesen Vorlesungen veröffentlichte, blieb rudimentär und
fragmentarisch. 246
Symptomatisch für den geringen
Einfluß Görres' i n diese Richtung erscheint, daß Höflers Essay über katholische und protestantische Geschichtsschreibung Görres nicht unter den „Gränzsteinen" verzeichnet. 2 4 7 Selbst bei Höfler, dem jüngsten innerhalb der ersten
ganze Literatur, die zum Theil leider heute in den Bibliotheken vergessen dasteht, die aber wesentlich mit dazu beigetragen hat, daß das katholische Deutschland im Stande und gereift war, den Culturkampf zu ertragen und in ihm zu siegen." 246 Zu Lebzeiten Görres' (vor dem 29. Januar 1848) erlangten von den Münchener Vorlesungen nur jene drei über „Grundlage, Gliederung und Zeitenfolge der Weltgeschichte", Breslau 1830, größere Publizität. Neuausgabe: Joseph Görres: Über Grundlage, Gliederung und Zeitenfolge der Weltgeschichte. Drei Vorträge, gehalten an der Ludwig-Maximilians-Universität in München (November 1829), hg. von M. A. Strodl. Der zweiten Aufl. zweite Ausgabe, Stuttgart 1892. Vgl. Heribert Raab: Görres und die Geschichte, in: HJb 93 (1973), S. 73-103, insbes. S. 90. Walter Goetz hatte 1928 Görres' Leistungen auf der Geschichtsprofessur vernichtend abgeurteilt. Walter Goetz: Die bayrische Geschichtsforschung im 19. Jahrhundert, in: Historiker in meiner Zeit, S. 112— 174, hier S. 116-125 (zuerst in: HZ 138, 1928). Der Versuch von Andreas Kraus, Görres anhand seines Akademievortrages „Die Japhetiden und ihre gemeinsame Heimat Armenien" (1844) sowie der Akademie-Abhandlung „Die drei Grund-Wurzeln des celtischen Stammes" (1846) als kritisch forschenden Geschichtswissenschaftler wenigstens in Ansätzen zu rehabilitieren, endet in dem Resumée: man werde wohl den „wahren Görres [...] überhaupt nicht auf dem Felde finden, auf dem wir gesucht haben. Sein Beruf war die Geschichte nicht." Andreas Kraus: Görres als Historiker, in: HJb 96 (1976), S. 93-122, hier S. 122; zur institutionengeschichtlichen Seite Harald Dickerhof: Joseph Görres an der Münchener Universität. Auftrag und Wirksamkeit, ebd., S. 148-181. 247 Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung. Freilich könnte in Höflers Bemerkung über den neuen Stellenwert der Mythologie (s. Anm. 86) eine Anspielung auf Görres - v. a. auf dessen „Mythengeschichte der asiatischen Welt"
IV. Gesinnungszirkel
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Generation, bestand kein direktes Schüler-Lehrer-Verhältnis zu Görres. Als Höfler 1838 dem Görreskreis nähertrat, waren seine Lehrjahre beendet; seit dem selben Jahr stand er als Kollege neben Görres an der Münchener Universität. Ähnliches gilt für Döllinger. Hurter hinwiederum knüpfte intensivere Beziehungen nach München erst nach dem Erscheinen seines „Innocenz", 1838/39, Gfrörer gar erst 1843. Den ältesten persönlichen Kontakt zur Familie Görres pflegte Johann Friedrich Böhmer, noch aus deren Koblenzer und Straßburger Zeit. 2 4 8 Ihm, dem reflektiertesten Methodiker unter den fünfen, sagte gerade Görres' Tätigkeit als Geschichtsprofessor wenig zu. Aus dessen „titanischer", eigentlich dichterischer Geschichtsbetrachtung konnte keine wissenschaftliche Schule hervorgehen, wie Böhmer bedauerte. In dieser wenig schulbildenden Art sah er gleichzeitig einen der Hauptgründe dafür liegen, daß aus dem Süden, insbesondere aus Bayern der dominierenden norddeutschen Richtung so wenig Überzeugendes entgegentrat. Angesichts eines München-Besuches im November 1845 mußte er sich wieder einmal eingestehen, „daß in dem ganzen katholischen Kreis für meine Studienmanier wenig Entsprechendes ist. Die Herrn haben mehr Gesinnung und Ansicht als jene Detailbegründung, auf welche ich ausgehe, und darin liegt wohl auch die Ursache, weßhalb sie wenig oder keine Schüler ziehen." 249 Die geschichtsphilosophischen Ansichten des Görres der Münchener Zeit entsprechen im wesentlichen der von Bossuet her verfolgten Tradition. Im Gegensatz zu Schlegel kennzeichnet die Görresschen Vorlesungen insgesamt wohl eine größere Vorliebe für die mystische Versenkung in jenen Teil der Weltgeschichte, den er als „Urgeschichte", als „mythische Geschichte" bezeichnet.250 Weitgehend fremd bleibt ihm die von Schlegel geforderte, auf Forschung aufbauende Empirie. In dichterischer Assoziation bedient er sich einer überladenen Bildersprache, entwirft sein Konzept vom Gang der Weltgeschichte unter Zuhilfenahme einer ausgefeilten Licht- und Schattenmetaphorik sowie, als Gerüst
(1810)- ebenso wie auf Schelling versteckt liegen. Aber warum hätte er Görres nicht direkt nennen sollen? 248 Vgl. insges. die biographischen Skizzen im Kapitel „Lebenswege". 249 Böhmer an F.B. Hurter, 29. 12. 1845 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 425). Görres besitze „das reichste Wissen, ist aber seiner inneren Natur nach eigentlich ein Dichter, doch mehr im alten Sinne des Wortes, wo es noch keine erlogene, sondern nur eine wahre und geglaubte Poesie gab." (Ebd.). Vgl. auch Böhmer an J. Fischer, 26.5.1856 (Janssen ΠΙ, S. 192) über den Zusammenhang zwischen "titanischer Geschichtsauffassung" und der unterbliebenen Ausbildung einer Schule. 250 Görres, Grundlage, Gliederung und Zeitenfolge, S. 66. Über Görres' Vorlesungszyklen vgl. ebd. Strodls Nachwort, S. 100-115 sowie Raab, S. 89/90. Danach eröffiiete Görres zwischen 1827/28 und 1841 vier universalgeschichtliche Zyklen, die er unterschiedlich weit herabführte, mit der Behandlung des biblischen Schöpfungsberichtes.
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Traditionsstränge
der Periodisierung, unter zahlenmystischen Konstrukten. 251 Görres begreift Geschichte als religiös, christlich, katholisch; 252 aus dem Wirken des göttlichen Prinzips entwickelt er den Faden des Weltenlaufs. Zwei Weltzeiten entfalten sich in paralleler Dreiteilung, gespiegelt an der Achse der Sintflut. 253 Dem Gedanken der Schöpfung schreibt er in beiden Abläufen eine zentrale Funktion zu. Folgt in der „Urgeschichte" der Genesis des Guten als erster Periode dialektisch entgegengesetzt die Genesis des Bösen, auf die wiederum eine dritte Periode des Kampfes der beiden Prinzipien auf Leben und Tod Antwort erteilt, so beginnt die zweite, die „christliche" Weltzeit, nach dem Ende der urgeschichtlichen Zeit in der Vernichtung durch die Sintflut erneut mit einer Schöpfungsperiode, der Schöpfung eines neuen Geschlechtes aus den in der Arche überlebenden Keimzellen. Die Erde steht nun als Mittelpunkt zwischen den Prinzipien Himmel und Hölle und bildet den Raum für den neuerlichen Kampf der Gegensätze. Als Antwort auf die Genesis des Bösen in der zweiten Periode der Urgeschichte bringt Gott aber in der entsprechenden Periode der christlichen Geschichte das Heil durch die Opferung seines Sohnes und stiftet die Kirche, die fortan, in der dritten Periode, den Kampf des Lebens mit dem Tode hauptsächlich führt, an dessen Ende der endgültige Sieg des Lebens, das Ziel der Geschichte, das „wiederhergestellte Eden" stehen wird. 2 5 4 Die Geschichte der Gegenwart spielt demzufolge in jener dritten Periode der zweiten Weltzeit, in der Görres die gesamte christlich-abendländische Historie lokalisiert und selbst wiederum in Teileinheiten untergliedert. Auf den Kampf der Kirche mit dem römischen Weltreich sei „in der Karolingischen Herrschaft das Weltreich der Teutschen" gefolgt, „geordnet und bevestigt" sowie in idealem Einklang mit der nun „vollendeten kirchlichen Hierarchie." Gleichwohl habe sich der „Gegensatz zwischen Staat und kirchlicher Hierarchie" hinsichtlich der plenitudo potestatis auf Dauer nicht überbrücken lassen. Im Investiturstreit, in der Politik der Staufer, Barbarossas und Friedrichs II., habe sich der Spalt immer weiter geöffnet, „in unmerklichem Fortschritte wurde stets im Streite der [...] Grundelemente alles gesellschaftlichen Verbandes das Gleichgewicht verloren, mehr und mehr von allen Seiten das Maaß verfehlt, und immer schneidender der Mißklang hervorgerufen. Immer tiefer wußte das Böse
251
Görres, Grundlage, Gliederung und Zeitenfolge, S. 9/10: der Himmel als Ausdruck des göttlichen Prinzips; Licht als dessen eigenstes Wesen; „in Licht gekleidet, in den Sternenmantel gehüllt, lenkt es als ewige Vorsehung den Lauf der Begebenheiten"; dagegen das natürliche, irdische Prinzip, „selber aus dem Chaos und der Nacht geboren", blind und sich selbst unverständlich. Ebd., S. 85/86: Zahlenmystik von Zweizahl, Dreizahl, Siebenzahl im Ablauf der Weltgeschichte. 252 Ebd., S. 89. 253 Ebd., S. 63-67. 254 Ebd., S. 67-85, Zit. S. 85.
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daher sich in den Hader einzuwühlen." 255 Gott reagierte auf den „Hochmut der Menschen", indem er der Zerstörung freien Lauf ließ. Zunächst wankte das universale Kaiserreich, danach wankte die Hierarchie selbst im Ansturm der Reformation. Unter solchen „Scheidungen und Zerreißungen" zog das Zeitalter der Materie herauf, das Zeitalter des Geldes. „Das Metall hat den ökonomischen Schwerpunkt der Gesellschaft aus seiner alten Stelle verrückt, in der Masse der entbundenen mechanischen Kräfte ist der politische von seiner Stätte ausgewichen, in der Schrift ist die Störung in den geistigen eingetreten; der abstracte Staat hat aller dreien sich zu bemeistern gesucht, und sich zum Centrum des Umlaufs der Güter, Kräfte und Gedanken aufgeworfen, und so hat die alte organisch gegliederte Ordnung sich aufgelöst, und nichts als die künstliche Einheit oben und die in sich zerfallene Vielheit unten ist zurückgeblieben." 256 Wo Reste der alten Ordnung sich hatten halten können, fielen sie in den Stürmen der Revolutionen, die das wahre Antlitz dieses Zeitalters kennzeichnen. Despotismus oder Anarchie heiße die Alternative: Revolution von oben oder von unten, Absolutismus des einen oder der vielen. „Alle Elemente der alten Gesellschaft vollends zu zersetzen, das alte Naturgepräge an ihr gänzlich zu verwischen und auszutilgen und nach einem neuen mathematischen sie umzuprägen, und die also umgestaltete nach neu erdachten Abstractionsgesetzen in mechanisch künstlichen Formen wieder zu vereinigen, darauf ist dies Bestreben hin gerichtet, und es wird nicht ablassen, bis die in ihm wirksamen Kräfte das Werk bis zum Eingang einer neuen Weltzeit hingetrieben, wo dann höhere an ihre Stelle treten, und den Fortschritt der Gestaltung in ein anderes Gebiet hinüberspielen." 257 Auch im erneuten Kampf des Lebens mit dem Tod scheint sich die Wagschale auf seiten des letzteren zu senken. Görres bleibt da nur die Prophétie, die Ankündigung weiterer Weltzeiten und Unterperioden, in deren Lauf die Geschichte „zur anderen Pforte des Durchgangs gelangt, und damit den ganzen Umlauf abschließt und vollendet, in jenem Sinne, den die Offenbarung des Johannes verkündige. 258 Wie in der Genesis der Gang der Weltgeschichte begonnen, so werde er dereinst in das prophezeite Ende der Apokalypse münden.
255
Ebd., S. 79; die vorangehenden Zit. S. 78. Ebd., S. 82/83. 257 Ebd., S. 84. 258 Ebd., S. 85. Görres' begriffliche („Weltalter", „Weltzeiten", „Zeitalter", „Perioden") wie logische Inkonsequenzen bereits innerhalb dieser einen Vorlesung erschweren das Verständnis seiner Ausführungen über den weiteren Ablauf der Weltgeschichte bis zu deren Ende erheblich (v. a. die Prophetie auf S. 84 und die zahlenmystischen Konstrukte auf S. 86/87 lassen sich nur schwer in Verbindung bringen.). Auch Raabs zusätzliche Erläuterungen aus den Görres-Mitschriften Sepps und Segessers tragen nicht wesentlich zur Klärung bei, stehen sogar in gewissem Widerspruch zu Görres' eigenen Worten in „Über Grundlage, Gliederung und Zeitenfolge"; Raab, S. 96/97. Nach wie vor bedarf es der systematischen Erfassung aller noch auffindbaren Aussagen Görres' 256
27 Brechenmacher
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Trotz des Pessimismus über den Stand des Kampfes zwischen Leben und Tod in der eigenen Gegenwart billigt Görres dem zweiten großen Weltalter insgesamt „wiederherstellenden" Charakter zu, befinde sich dieses im Vergleich zum ersten doch näher an der „Rückkehr". 259 Die Anklänge an Friedrich Schlegels „Zeitalter der Wiederherstellung" bleiben jedoch nur oberflächlich, da er eine Identifikation der wiederherstellenden Kräfte mit konkreter österreichischer und Metternichscher Politik vermeidet. Sehr wohl aber enthält dieser kleine Ausschnitt aus Görres' Münchener Vorlesungstätigkeit ausreichend Belege für die „Gesinnungen und Ansichten", die ihn zum Mittelpunkt jenes berühmten Zirkels erheben konnten. Dabei erscheinen aber weniger die historiographischen Bewertungen der Karolingerzeit, des Mittelalters, der Staufer, der Reformation von herausragender Bedeutung, sondern vielmehr diejenigen Passagen, in denen Görres die polemische Auseinandersetzung mit den „negativen" Kräften der eigenen Zeit führt. Anders ausgedrückt: selbst aus den Vorlesungen über Geschichte spricht der Görres des „Athanasius" bedeutender, kräftiger, wirkungsvoller als der „Historiker" Görres; selbst seine Vorlesungen über Geschichte verweisen auf den politischen Agitator Görres, dessen Größe auch während seiner Münchener Zeit auf diesem Felde lag und ihn eigentlich zum Haupt eines „Gesinnungszirkels" erhob. Die von ihm skizzierte Weltgeschichte sei eine „katholische", weil sie auf dem Standpunkt der alles umfassenden, nichts ausschließenden Allgemeinheit stehe, „weil sie sich in der gesicherten Mitte weiß, getragen von der ewigen Ordnung der Dinge, bekräftigt durch die ganze Macht der Wahrheit, bejaht durch die ganze Fülle der Thatsachen, die alle in ihrem Schwerpunkte sich gehalten fühlen [...]; folgend überall der Spur der Wahrheit, läßt sie Jedem sein Recht, das irgend ein Recht besitzt, nur Unrecht läßt sie sich nie als Recht aufreden, noch läßt sie sich die Lüge durch irgend eine Sophisticirung glaublich machen." 260 Mit dieser Auffassung, hatte Görres zu Beginn seiner Vorträge ausgeführt, nehme er den Kampf auf mit jener allgemein herrschenden „negativen" Zeitströmung, die dem „göttlichen Prinzip in der Geschichte" nur Hohn entgegenbringe, die sich mit „den Völkern gegen das Priesterthum" verbinde, die zur Beförderung „abstracter Alleinherrschaft" das religiöse durch das politische Element unterdrücke und der Rückkehr des alten Heidentums den selbst sowie eventueller Exzerpte seiner Hörer, um zu einem deutlicheren Bild zu gelangen. Ob am Ende solcher Forschungen freilich die gewünschten Resultate stehen, bleibt gleichwohl anzuzweifeln. Vielleicht bewegt sich Görres ja bewußt im Bereich des Vagen, Uneindeutigen, dessen souveräne Beherrschung Sehern und Propheten allezeit gut ansteht. - Über das Spätwerk Görres' aus theologischer Sicht vgl. Bernd Wacker: Revolution und Offenbarung. Das Spätwerk (1824-1848) von Joseph Görres - eine politische Theologie, Mainz 1990 (= Tübinger theologische Studien, Bd. 34). 259 Ebd., S. 85. 260 Ebd., S. 89.
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Weg bahne. Diese Richtung knüpfe alles Geistige als ein nur Zufälliges an die Materie und beherrsche mit dem Instrument der Lüge Leben wie Wissenschaft. „Und diese Lüge, aus dem Leben ist sie in die Wissenschaft, und vor allen andern in die Geschichte eingedrungen, und indem sie jene falsche Lehre in sie eingetragen, und die Thatsachen darnach modificirt und geordnet, und die Urtheile darnach bestimmt, hat sie dieselbe bis zu ihrem innersten Grunde verdorben und verfälscht [...]. Aber auch auf dieß Treiben ist derselbe Fluch gelegt, der auch auf dem Leben ruht, und der Fluch lautet: was der Eine baut, soll der Andere zerstören, nach jahrhundertelangem Treiben soll keine Spur des Werkes übrig bleiben, damit sich bewähre, daß aus der Verneinung immer eine Bejahung hervorgehen möge." 261 Anfang wie Ende des veröffentlichten Ausschnittes aus Görres' Vorlesungen verweisen auf den politischen Kampf, dem letztendlich auch die Beschäftigung mit Geschichte dient. Der konkrete „Ernstfall" trat mit der Eskalation des Kölner Streites von 1837 ein. Görres reagierte auf die Festnahme des Erzbischofs mit der Streitschrift „Athanasius", der Kreis seiner Freunde mit der Gründung der „Historisch-Politischen Blätter für das katholische Deutschland". Da hatte sich nun eine außergewöhnliche Gelegenheit ergeben, jene Anschauungen dem aktuellen Geschehen entgegenzuhalten, sie als Mahnungen und Prophetien dem herrschenden „neuapostolischen Glaubensbekenntnis" zu konfrontieren, dessen Lehrsätze, wie Görres wortreich auseinandersetzte, auch den „abstracten Staat" vergötterten: „Ich glaube an den unfehlbaren, untrüglichen, unbeschränkten, in der Gemeinschaft der Weltweisen, in selbstbewußter Vernünftigkeit und Sittlichkeit gegründeten Staat; dessen Princip da ist Gehorsam gegen die rein logischen Staatsgesetze, als die Vernunft des Wollens und alles Thuns mit Beseitigung der Opposition des Gewissens."262 Da konnte sich nun die Kirche als Organ des Lebens präsentieren im Kampf gegen den Tod in Gestalt der „absolutistischen, über alles göttliche Recht sich hinaussetzenden Staats-Gewalt, die durch Arglist oder Zwang Schismen und Verfolgungen in ihrem Schooße hervorruft" und der „anarchisch demagogischen Massen, die keine göttliche Satzung und Ordnung, und kein göttliches Recht anerkennend, durch Häresien und Abfall ihren [der Kirche] Frieden stören." 263 Wie in den Geschichtsvorlesungen treten auch im „Athanasius" Despotismus und Anarchie als die herrschenden Tendenzen des Zeitalters des Geldes, der Materie auf, deren Erfüllungsgehilfen Reformation und Revolution den „Zersetzungsprocess", vorantrieben und -treiben. Der Kölner Kirchenstreit sei Teil jenes Prozesses, sein
261
Ebd., S. 19; die anderen Zitate ebd., S. 13,15,16,17,21. Joseph Görres: Athanasius. Dritte Ausgabe, Regensburg 1838, Vorrede zur zweiten Ausgabe, S. X; zum theologiegeschichtlichen Hintergrund des »Athanasius" vgl. Wacker, S. 179-183. 263 Ebd., S. 9/10. 262
27*
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Ursprung im preußischen Staate zu suchen.264 Daneben deutete sich dem Seher Görres im Verlauf der Krise freilich noch anderes an: „Wie nämlich die gegen den Erzbischof geübte Gewalt [...] jetzt am Ablaufe der Zeit die äußerste Spitze gewesen, in die das seither herrschende Wesen ausgegangen; so hat die große geistige Bewegung, die darauf erfolgt [...], die erste Botschaft gebracht, die das Nahen einer anderen Zeit, und eines anderen Geistes [...] uns angemeldet." Sollte die Wiederherstellung tatsächlich nahen, sollte mit einer neuen Weltzeit die Zeit des endgültigen Sieges des Lebens über den Tod nun folgen? „Denn die Mitternachtstunde hat jetzt ausgeschlagen, ein anderer Tag ist angebrochen; wir sind dessen Zeugen geworden, und die Worte, die wir vernommen, sind der Ruf des Wächters gewesen auf der Warte, der uns den Aufgang der Morgenfrühe angedeutet." Als Anfang wären diese Zeichen zwar alle nur zu verstehen, doch immerhin. Gleichwohl stünden noch große Kämpfe bevor, ehe „endlich die Nachgeborene [die Ordnung des Lebens] als die Siegende sich in ihrer Herrschaft behaupten und befestigen" könne. 265 Als Vortrupp jener „nachgeborenen Ordnung" verstand sich der Gesinnungszirkel um Görres. Die Partei der „Gutgesinnten" an der Münchener Universität, derjenigen Kräfte, die bestrebt waren, der „christlich-katholischen Richtung ein entscheidendes Übergewicht" zu verleihen, hatte ja bereits mit Görres' Berufung von 1827 entscheidende Verstärkung erhalten wollen. 266 Nach dem vorübergehenden Experiment des Kreises um die Zeitschrift „Eos" 2 6 7 trat eine auch überregional durchschlagende Wirkung aber erst seit 1837/38, seit dem Erscheinen des „Athanasius" und seit der Gründung der „Historisch-politischen Blätter" ein. Für diese gaben George Phillips und Guido Görres in einem Rundschreiben vom 10. Februar 1838 die Marschrichtung vor: der Katholizismus wolle nicht länger „sich die Erscheinungen der Gegenwart und Vorzeit größ-
264
Ebd., S. 97-101. Ebd., S. 146/147. 266 Dickerhof, S. 150-152; Zit. ebd. S. 150/151. 267 Seit dem Frühjahr 1828 versuchte Görres in Zusammenarbeit mit Franz von Baader die seit 1818 bestehende Zeitschrift „Eos" zum Sprachrohr seiner historischpolitischen Anschauungen umzubilden. Dies gelang ausgezeichnet:„Ihr Mitarbeiterkreis war sehr ausgedehnt, die bedeutendsten Köpfe des restaurativen Katholizismus aus Mittel- und Westeuropa schienen darin auf. Aber dieser Höhe des Niveaus entsprach nicht die Wirkung in die Breite; in dieser Hinsicht waren die Liberalen mit ihrer Presse weit voraus." (Borodajkewycz, S. 73/74). Intrigen von liberaler Seite bei König Ludwig fiel die „Eos" denn auch zum Opfer: 1832 stellte sie auf verdeckte Anweisung von oben hin ihr Erscheinen ein. Vgl. Joseph Görres: Geistesgeschichtliche und politische Schriften der Münchner Zeit (1828-1838), Köln 1958 (= Gesammelte Schriften, Bd. 15), hier die Einleitung von Emst Deuerlein, S. 7—48f); weiterhin Galland, S. 442-462; Hans Kapfinger: Der Eos-Kreis 1828 bis 1832. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des politischen Katholizismus in Deutschland, München 1928; Gollwitzer, Ludwig I., S. 563. 265
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tentheils von den Gegnern seiner Kirche deuten lassen" müssen. Die neue Zeitschrift setze sich vor allem den Zweck, „auf dem staatsrechtlichen und politischen Gebiete die revolutionäre, wie die despotische Doctrin der falschen Staatsweisheit durch die Verkündigung der Grundsätze wahrer Freiheit und des Rechts zu bekämpfen" sowie „in der Geschichte den immer mehr überhand nehmenden Anmaßungen des Secten- und Parteigeistes entgegen zu wirken." 268 Durch die außerordentlich erfolgreiche Umsetzung dieses Programms avancierten die „Historisch-Politischen Blätter" zum wichtigsten Organ des politischen Katholizismus in Deutschland - und gleichzeitig zum herausragenden Multiplikator großdeutscher Geschichtsanschauungen.269 Jeder der großdeutschen Historiker erster Generation publizierte in den Blättern". Mit Ausnahme des zurückhaltenden Böhmer reflektiert dabei wohl die Intensität der Mitarbeit auch die Nähe der einzelnen zum Zentrum des Görreskreises in der Münchner Schönfeldstraße. 270 Am meisten trugen, als Mitglieder des Kreises, Döllinger und Höfler bei, schließlich Hurter, der sich im Hause Görres immer besonders gerne aufhielt. 271 Gfrörers Mitarbeit setzte erst nach der Revolution und nach dem Auseinanderbrechen des Kreises durch die Ereignisse von 1847 sowie durch das bald darauf erfolgte Ableben Joseph und Guido Görres' ein. 272 Unter der Redaktionsführung von Joseph Edmund Jörg und Franz Binder veröffentlichten von der zweiten Generation der Großdeutschen Johannes Janssen und Onno Klopp in den „Historisch-Politischen Blättern", von der dritten Generation Ludwig Pastor. Der „Historisch-Politischen
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Erstes Rundschreiben der HPB11, wiederabgedruckt bei Ludwig Bergsträsser: Der politische Katholizismus. Dokumente seiner Entwicklung 1815-1914, Bd. I, München 1921 (= Der deutsche Staatsgedanke Π, Bd. 3), S. 78-80. 269 Die Literatur zu den HPB11 verzeichnen ausführlich Albrecht / Weber, S. 7; die wichtigste neuere Publikation: Bernhard Weber: Die ,»Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland" als Forum für Kirchen- und Konfessionsfragen, München 1983. 270 Trotz Böhmers großer Verehrung für Görres sowie seiner häufigen Besuche in München veröffentlichte er vor 1848 nichts, nach 1848 lediglich zwei Beiträge in den HPB11: [Johann Friedrich Böhmer]: Das Verfassungswerk, in: HPBU 26 (1850), S. 239256 und ders.: Besprechung von J. F. H. Schlosser, Die Kirche in ihren Liedern, in: HPB11 28 (1851), S. 661-692. - Zu den Artikelzuweisungen grundsätzlich Albrecht/ Weber. 271 Zu Hurters Besuchen in München vgl. o. S. 97/98 sowie Lischer. 272 Gfrörer verfaßte seinen ersten Artikel für die HPB11 1854: August Friedrich Gfrörer: Erste Gesammt-Ausgabe des Skoten Johannes (genannt Erigena), durch Henr. Jos. Floß, in: HPB11 33 (1854), S. 1014-1022. Fünf weitere folgten, darunter: Bauriß des Planes, den Papst Gregor VII während seines Pontifikats befolgte, in: HPB11 36 (1855), S. 514-537, 621-643 als Skizze seines großen Spätwerkes über Gregor VII. (Nachweis nicht bei Albrecht / Weber).
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Bruch, der sich seit den sechziger Jahren durch den deutschen Katholizismus zog, verschonte auch die Blätter nicht. Während diese in den Jahren um das Konzil auf der orthodoxen Linie verblieben, entfremdeten sich alte Autoren wie Döllinger, 273 blieben kritischer eingestellte Katholiken fern, von der zweiten und dritten Generation der großdeutschen Historiker etwa Carl Adolf Cornelius und Moriz Ritter. Das Themen- und Autorenspektrum der „Historisch-Politischen Blätter" in ihrer vielleicht größten Zeit, den ersten zehn Jahren, spiegelt Kern und Umfeld des Görreskreises sowie dessen geistiges Klima recht getreu wieder. Neben der Familie Görres - in deren Mittelpunkt Joseph Görres mit Sohn Guido und Tochter Marie - gehörten dem Kern der „Tafelrunde" 274 an der Schönfeldstraße vor allem der Kanonist George Phillips und der Jurist Karl Ernst Jarcke an. 275 Beide hatten ihre Karrieren in Berlin begonnen und waren in den zwanziger Jahren bereits zum Katholizismus konvertiert. Während Phillips einen Ruf an die Universität München erhielt, wechselte Jarcke 1832 als Metternichberater nach Wien, wo er später als wichtiger Ansprechpartner auch dazu beitrug, die Kontakte Hurters in die Kaiserstadt aufzubauen. 276 Phillips und Jarcke ergänzten den Görreskreis auf kongeniale Weise. Der Anstoß zu den „Historisch-Politischen Blättern" ging eigentlich auf den publizistisch erfahrenen Jarcke zurück, 277 der 1831, vor der großen „Konfessionalisierung", jenes wichtige, auch von Haller so gelobte Organ des älteren Konservativismus, das Berliner „Poli273
Nach Albrecht / Weber, S. 22 befindet sich der letzte Beitrag Döllingers in Bd. 51 (1863): eine kurze Anzeige der „Pontificum Romanorum [...] vitae ab aequalibus conscriptae" von J. M. Watterich (S. 249-252). Die Entfremdung Döllingers von den HPB11, insbesondere auch von seinem alten Amanuensis und Freund, dem späteren Herausgeber der HPB11, Joseph Edmund Jörg, dokumentiert Jörg, Briefwechsel. 274 Galland, Kap. X X V m : „Görres und seine Tafelrunde" (S. 407-436). 275 Zu Phillips vgl. Joseph Edmund Jörg: George Phillips, in: HPB11 72 (1873), S. 608-620; Götz Freiherr von Pölnitz: George P. Phillips, ein großdeutscher Konservativer in der Paulskirche, in: HZ 155 (1937), S. 51-97; H. Lentze: George Phillips, der große Kanonist des 19. Jahrhunderts, in: Viktor Flieder (Hg.), Festschrift für Franz Loidl zum 65. Geburtstag, Bd. I, Wien 1970, S. 160-166; Johannes Neumann: George Phillips (1804-1872), in: Fries / Schwaiger Π, S. 293-317; Franz Kalde, in: Bautz7 (1994), S. 515-518. Zu Jarcke vgl. Otto Weinherger: Karl Emst Jarcke. Ein Beitrag zu seiner Würdigung nebst unveröffentlichten Briefen und Aktenstücken, in: HJb 46 (1926), S. 563-593; Eduard Winter, in: NDB 10 (1974), S. 353/354. 276
Hurter lernte Jarcke persönlich während seines ersten Wien-Aufenthalts von 1839 kennen; vgl. Hurter an seine Frau, 16.8.1839 (Samen, NL Hurter); Hurter an F.B. Hurter, 28.9.1839 (StA Schaffhausen, NL Hurter Ia / 23); Hurter, Ausflug nach Wien und Preßburg; Lischer, S. 83-87. Mit Hurters späterer Berufung zum Reichshistoriographen stand Jarcke offensichtlich jedoch nicht in direkter Verbindung; vgl. Hurter an seine Frau, 31.5.1845 (Samen, NL Hurter; auch bei H. Hurter, F. Hurter Π, S. 128). 277 Vgl. Albrecht / Weber, S. 9.
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tische Wochenblatt" mitbegründet hatte. 278 Phillips versuchte, auch in rechtsgeschichtlichen Untersuchungen, den politischen Standpunkt der katholischen Kirche in Deutschland juristisch zu untermauern. Seine kurzgefaßte „Reichsund Rechtsgeschichte" entwickelte sich zu einem beliebten akademischen Leitfaden, der seit seiner zweiten Auflage auf den Ergebnissen und Urteilen der überarbeiteten Kaiserregesten Böhmers aufbaute und die historische Perspektive des Frankfurters nachdrücklich und explizit multiplizierte. 279 Böhmer freute sich über diese Art von Rezeption besonders. 280 Neben Phillips und Jarcke versammelte sich im Hause Görres die katholische Gelehrtenelite Münchens: Johann Nepomuk Ringseis, Leibarzt König Ludwigs, Johann Adam Möhler, 281 der freilich bereits im August 1838 starb, Ernst von Lasaulx, Görres-NefFe, seit 1844 Philosophieprofessor in München, die Juristen Ernst von Moy und Karl Ludwig Arndts sowie eben auch Ignaz Döllinger und Constantin Höfler. Clemens Brentano kehrte gleichfalls mit Vorliebe bei Görres ein, so oft er auf seiner letzten Wanderschaft München streifte. „Alle legitim und katholisch gesinnte Männer besuchen sein Haus und sind im wahren Worte Hausfreunde, und lebte er nicht hier, so würde München für viele Menschen ein gewöhnlicher Ort." 2 8 2 Auch für Johann Friedrich Böhmer verlor München mit dem Tode Görres' einen magischen Anziehungspunkt. Seine Urteile legen den Schluß nahe, daß vor allem das Charisma des Sehers, die Kraft der Görresschen Prophetien den Kreis zusammenhielt, viel mehr als die Leistungen auf dem Gebiet der Geschichtsforschung und Historiographie. Görres gab, wie Böhmer anhand dessen
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Haller an Hurter, 25.10.1832 (Scherer, Haller / Hurter, S. 33): „Solch ein Blatt ist zuverläßig noch nie und nirgends erschienen. Schaffen Sie ja dasselbe an [...]. Ihr Wunsch ein Journal zu stiften, welches direkt gegen die Revolution, ihre Prinzipien und Consequenzen gerichtet sey und dagegen die wahren staatsrechtlichen Grundsätze in mannigfaltiger Anwendung darstelle, ist dadurch erfüllt." 27 9 George Phillips: Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte zum Gebrauche bei akademischen Vorlesungen, München 2 1850 (erste Aufl., ebd. 1845). Hier Vorwort zur zweiten Aufl., S. VI: „ E i n e n andern großen Fortschritt zur Begründung der historischen Wahrheit hat die Wissenschaft der Deutschen Geschichte durch die neue Bearbeitung von Böhmer's Kaiserregesten gemacht. Der Verfasser hat geglaubt, das Urtheil dieses gründlichen, mit den Quellen, wie kein anderer, vertrauten Geschichtsforschers über die hervorragenden Persönlichkeiten der Hohenstaufischen Periode um so mehr in seine Schrift aufnehmen zu müssen, als dasselbe mit vielen gangbaren Vorurtheilen in völligem Widerspruche steht." 280 Böhmer an Maria Görres, 23.3.1856 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΙΠ, S. 175). 281 Zu Möhler vgl. Anm. 239. 282 Clemens Brentano an NN, 20.11.1833 (= Ders., Gesammelte Schriften hg. von Christian Brentano, Bd. 9, Frankfurt/M. 1855, S. 291).
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Vorrede zu Diepenbrocks Heinrich-Seuse-Ausgabe 283 darlegt, intuitiv die Richtung vor, so daß sich die anderen, die gründlichen Arbeiter, die Juristen, Theologen und Historiker um ihn scharen und begründen konnten, was er bereits gesehen hatte. „Nachdem ich Jahre lang mich mit der Geschichte Ludwigs des Baiern beschäftigt und alle Quellen für dieselbe wohl genauer durchforscht hatte, wie damals irgend Jemand in Deutschland, fand ich in der Vorrede von Görres zu Diepenbrocks Ausgabe des Heinrich Suso genau dasselbe Urtheil über die Regierung dieses Kaisers ausgesprochen, wie es sich in mir nach so langen Forschungen gebildet hatte. Als ich darüber mit Görres sprach, bekannte er mir, wie wenig Material er für seine Vorrede durchstudirt, wie rasch er sie geschrieben, aber er entwickelte zugleich, mit welcher Notwendigkeit sich ihm aus dem Verlauf der vorausgegangenen und der Regierung Ludwigs folgenden Ereignisse auch nur bei allgemeinerer Kenntniß der betreffenden Zeitgeschichte das Urtheil ergeben habe, welches er über den Kaiser geäußert." Nicht nur die rückwärts-, sondern auch die vorwärtsgewandte Sehergabe hob Böhmer an Görres hervor. „Fast so oft ich in München war, sagte mir Görres politische Ereignisse mit einer Bestimmtheit voraus, daß ich ihm einmal scherzend bemerkte: Man möchte meinen, Sie hätten im Geheimrathe Gottes gesessen, worauf ich zur Antwort erhielt: Glauben Sie denn, Gott mache die politischen Ereignisse in Deutschland; ach, nein, die Menschen machen sie und Gott läßt sie nur zu, damit sie sich, wenn's immer krauser wird, zu ihm und seiner Kirche bekehren." 2 8 4 Mit dieser Gabe habe Görres „wie kein anderer, in zwei verschiedenen Perioden Deutschland durch sein mächtiges Wort erregt." Dabei sei er persönlich „so verstehend, so billig, so heiter, so freundlich, so einfaltiglich im edelsten Sinne des Wortes. [...] Vor diesem Manne habe ich die größte Verehrung." 285 Joseph Görres starb im Januar 1848. Sein Tod, nur wenige Wochen vor den Revolutionen des März, verstärkte noch die Zäsur dieses Jahres. Mit Görres verschied die für die katholizistisch-konservative und großdeutsche Welt- und Geschichtsanschauung bedeutendste Leitfigur der ersten Jahrhunderthälfte. Der Zeitgenosse Görres entrückte in die mythische Dimension eines geistigen Übervaters, dessen Botschaften die erste Generation an die zweite übermittelte. Auf diese Weise entstand ein neuer, vielfaltig rezipierbarer Traditionsstrang. Um „monumenta aere perennis" handle es sich bei den „Schriften des großen Todten", versicherte Johannes Janssen 1865 der Görres-Tochter Marie, in denen „mehr Geist und ursprüngliche Kraft" stecke, „als das schreibende katholische Publikum' in Deutschland so ziemlich gegenwärtig in seiner Gesammtheit auf-
283 Melchior von Diepenbrock: Heinrich Suso's, genannt Amandus, Leben und Schriften. Mit einer Einleitung von Joseph Görres, Regensburg 1830,2. Aufl., ebd. 1837. 284 Beide Zit. bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 284. 285 Böhmer an F.B. Hurter, 29.12.1845 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 424).
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weisen" könne. 2 8 6 Auch Carl Adolf Cornelius stellte sich höchst programmatisch in die Görres-Tradition. Bezeichnenderweise lobte er in der Eröflhung seiner ersten Vorlesung als Ordinarius der Geschichte an der Universität München jedoch nicht die Qualitäten seines berühmten Vorgängers als „Historiker", sondern - wie bereits Böhmer - dessen Phantasie, Seherkraft und Wortgewalt. „Ich benutzte die Gelegenheit ein Wort zu Ehren Görres zu sagen. Etwa so:, - ziemt es sich, mit Ehrfurcht des gewaltigen Mannes zu gedenken, der bis vor zehn Jahren diese Stelle geziert hat. Die Phantasie, die riesenhafte, die wie mit eisernen Armen die Dinge dieser Welt, j a Himmel und Erde zusammengezwungen hat zu ihrem Dienst - sie ist todt. Die begeisterte Rede, in Wort und Schrift, die einst die Völker erregt und gelenkt hat und eine Macht war, wie die Heere der Könige - sie ist verstummt. So möge denn in unseren Herzen fortleben die warme Liebe zu dem großen Vaterland, die einst in jenem Herzen geglüht hat." 2 8 7 Daß jene „Ehrfurcht" freilich den „gewaltigen Mann" bald schon als umkämpften Spielball innerkatholischer Auseinandersetzung mißbrauchen sollte, war 1857 noch nicht abzusehen.288 Die Linie der Traditionsstränge, an deren Vorgaben die erste Generation großdeutscher Historiker anknüpft, endet mit dem Tod Görres' 1848. 289 Nach der Revolution, in den Jahren der Neubesinnung, treten diese Historiker selbst traditionsbildend auf. Strömungen der großen Kraftfelder „Aufklärung" und „Romantik", katholische Geschichtsanschauung in ihrer Adaption durch Bossuet und vor allem Friedrich Schlegel, der dieser Geschichtsanschauung das „österreichische Prinzip" hinzuaddierte, die Staatstheorie Hallers, Geschichtsethos und Geschichtsästhetik Johannes von Müllers, die Gedankenzirkulation in den Kreisen um Schlosser und Görres und schließlich das prophetische Vordenkerpotential des alten Görres: zusammen mit den konkreten geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen und Forschungsleistungen Böhmers, Hurters, Gfrörers,
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Janssen an Marie Görres, 23.12.1865 (BSB Autogr. ΠΙ B, Johannes Janssen). Cornelius an Brüggemann, 10.5.1857 (BSB, NL Cornelius ANA 351 Π Β 1). 288 Jörg berichtet über die persönliche Auseinandersetzung, die am 30. Juni 1866 seinen Bruch mit Döllinger einleitete, dieser habe ihm damals vorgeworfen, den „großen Görres verläugnet" zu haben; Jörg, Döllinger, S. 260. Die Andeutung zeigt, wie beide Seiten - der sich vom orthodoxen Katholizismus entfremdende Döllinger sowohl als der auf „ultramontaner" Position verharrende Jörg - das Erbe Görres' für sich beanspruchten. Auf breiterer Basis wäre im einzelnen einmal zu verfolgen, mit welchen Argumenten die Parteien der innerkatholischen Auseinandersetzung jeweils auf Görres rekurrierten. Wichtige Bemerkungen hierzu bei Wacker, S. 13-42: „Unser Görres - Zur Geschichte der Görres-Rezeption im deutschen Katholizismus." 289 Haller starb zwar erst 1854; freilich war 1848 auch sein Lebenswerk abgeschlossen. Im übrigen hatte seine Person zu keiner Zeit eine so charismatische Wirkung ausgeübt wie diejenige Görres', so daß es - auch angesichts der sonstigen Bedeutung des Jahres 1848 - durchaus gerechtfertigt erscheint, die Zäsur in jenes Jahr zu legen. 287
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Döllingers und Höflers fügen sich diese Traditionsstränge zum Gesamtbild einer katholizistisch-konservativen, großdeutschen Geschichtsdeutung. Zwei Vertreter jener Gruppe, Döllinger und Gfrörer, betraten mit diesem Geschichtsbild als Abgeordnete die Paulskirche, erhielten die besondere Chance, in der verfassunggebenden Reichs-Versammlung öffentlich, politisch zu handeln. Aber nicht nur in nationalpolitischer Hinsicht konnten sie 1848/49 in Frankfurt Einfluß nehmen. Dort fand zum ersten Mal in größerem Stil auch der Austausch mit den Jüngeren statt, die dann großdeutsche Geschichtsschreibung in der veränderten Situation nach 1850 weiter- und vorantreiben sollten. Drei katholische Westdeutsche - ein Rheinländer, zwei Westfalen - nahmen den Faden vor allem auf: Carl Adolf Cornelius, selbst - jüngster - Abgeordneter der Nationalversammlung, Julius Ficker, der als Gast in Frankfurt die Verhandlungen verfolgte, und, etwas später zwar, aber ebenfalls in Frankfurt, Johannes Janssen unter der Anleitung seines Mentors Johann Friedrich Böhmer. 290
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Zu Cornelius vgl. Friedrich, Gedächtnisrede, S. 21-25. Daß Cornelius während seiner Zeit als Abgeordneter beispielsweise mit Gfrörer Kontakt hatte und mit diesem auch über geschichtswissenschaftliche Probleme sprach, geht aus dem bereits zitierten Brief an Brüggemann vom 24.9.1849 hervor (s. o. S. 286/287). Als interessante Quelle zu den Paulskirchenverhandlungen harren zwei Notizbüchlein Cornelius', die dieser von Ende Mai 1848 bis zum 17. Mai 1849 führte, noch der Auswertung (Bundesarchiv, Außenstelle Frankfurt/M.). - Zu Ficker vgl. Jung, Ficker, S. 62-80. - Das intensive Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Böhmer und Janssen bahnte sich seit dem ersten Besuch Janssens in Frankfurt im Frühjahr 1853 an; vgl. Janssen an Ficker, 5.4.1853 (Pastor, Janssens Briefe I, S. 32).
Öffentliches Handeln Nicht erst in der Paulskirche fanden freilich großdeutsche Historiker der ersten Generation zu öffentlichem Handeln. Bei keinem von ihnen hatte sich die Wirksamkeit bereits vor der Revolution nur auf gelehrte Forschung, Geschichtsschreibung und Kommentierung des politischen Geschehens beschränkt. Der Drang, an der Gestaltung von Politik aktiv mitzuwirken, kennzeichnet das Ethos jener Historiker nicht minder als das der kleindeutschen. Am stärksten ins „Vaterländische" erhöht, äußert sich dieser Drang innerhalb der ersten Generation bei Johann Friedrich Böhmer, mehr vom Einsatz für den Katholizismus geprägt bei Döllinger und Höfler. In welche Richtung auch immer: geschichtliches Denken in öffentliches Handeln umzusetzen, galt als selbstverständlich. Allerdings läßt sich kaum verbergen, daß diese Umsetzung auf politischem Gebiet trotz aller Bemühungen eher im Rahmen von Beratung, von M/gestaltung erfolgte, während sie auf dem engeren Feld der Geschichtswissenschaft doch besser gelang und mitunter tatsächlich Züge der Gestaltung annahm.
I. Mitgestalter der Politik 1. Hurter als Informant Metternichs Naturgemäß den meisten Einfluß auf Politik, und sei es auch nur innerhalb eines eng umgrenzten Bereiches, nahm in den Jahren nach 1830 Friedrich Emanuel Hurter aufgrund seiner Karriere und schließlichen Stellung als Vorsteher einer kantonalen Staatskirche. Im Mittelpunkt seiner politischen Aktivitäten stand jenes schon mehrfach erwähnte Auftreten gegen jede Art von Revolution oder was er gemäß seinen konservativen Prinzipien dafür hielt. Seit 1813 verfügte er mit dem ,Allgemeinen Schweizerischen Correspondenten" auch über ein publizistisches Familienunternehmen zur Verbreitung solcher Ansichten.1 Nach kirchenpolitischer Seite hin ergänzte Hurter dieses Bestreben durch seinen Einsatz für eine Stärkung kirchlicher Rechte gegenüber den Herrschaftsansprüchen weltlicher Obrigkeit, ein Einsatz, der auch Engagement für die katholische Kirche, vor allem für bedrängte Klöster nicht ausschloß.2 Als sich
1 2
S. o. S. 90. Vgl. o. S. 95 und Lebenswege, Anm. 102,111,114.
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Hurter nach 1837 mehr nach außen, über die Grenzen seines Kantons hinaus zu orientieren begann und Kontakte auch in höheren diplomatischen Kreisen, insbesondere im Umfeld Metternichs knüpfte, gewannen seine politischen Aktivitäten eine neue Dimension. Über seine Berichte an den Wiener Hof erhielt er die Möglichkeit, zumindest indirekt Einfluß auf die dortige Bewertung der Vorgänge in der Schweiz zu nehmen. Seit 1841 beförderte er seine Lagebeurteilungen unter anderem über die Deckadresse des Bregenzer Landeshauptmanns Johann Nepomuk von Ebner nach Wien. 3 Mit besonderem Interesse vernahm man dort, was Hurter über die Streitigkeiten der Schweizer Kantone, über die Frage von Föderalismus oder Zentralismus sowie damit verknüpft über Bedeutung und Einfluß der katholischen Kirche zu vermelden hatte. Hurter sah in denjenigen protestantischen Kantonen, die für eine Stärkung der bundesstaatlichen Strukturen zuungunsten der kantonalen Souveränitäten eintraten, den nie ruhenden „Radicalismus" am Werk und gab sich bereits im Oktober 1841 pessimistisch hinsichtlich der Möglichkeiten, gegen diesen mit Erfolg einzuschreiten. „Einstweilen muß die Hoffnung eines befriedigenden Ausganges der obschwebenden Angelegenheiten in der Schweiz aufgegeben werden, und alle besser gesinnten sehen sich einstweilen auf den Wunsch, es möchte ein Deus ex machina die gestörte Ordnung herstellen, reducirt. Aber woher bei der gegenwärtigen Lage Europas diesen erwarten?" 4 Wer anders konnte mit dem „Deus ex machina" gemeint sein als die katholische Vormacht der Restauration, Österreich? Hurters Bericht vom 5. April 1845, rund ein halbes Jahr vor der Gründung des sogenannten „Sonderbundes" der katholischen Kantone abgefaßt, konzentriert sich, „weil ich ohne alle gesellschaftlichen Bindungen und Berührungen, beinahe wie ein Einsiedler lebe", auf die Vorgänge im Kanton Schaffhausen, die er jedoch als Musterbeispiel für die „Zustände in anderen radicalen Cantonen" wertet. Er beobachtet die - vor allem von „deutschen Radicalen" angestiftete Etablierung einer „Pöbelherrschaft" in Schaffhausen, deren Exzesse an die schlimmsten Zeiten der Französischen Revolution gemahnten. „Wer darüber, was von einem in Irreligiosität, Immoralität und ökonomischen Verfall geratenen, anbei von dem tagtäglich genährten Wahn der Volkssouveränität berauschtem Haufen zu gewärtigen seye, keine Illusionen sich machen kann und will, der wird nicht im Zweifel stehen, daß die Vorgänge in der Stadt, welche an die glorreichsten Tage von 1790 und 1791 zu Paris erinnern, über kurz oder lang auch in anderen Theilen der Schweiz Nachahmung finden dürften." 5 Drei Tage
3 Briefe Hurters an Johann Nepomuk von Ebner, 1841-1845 (ÖNB, Autogr. 52/48). Hurters Memoranden selbst befinden sich im HHStA, Staatskanzlei, „Varia Suisse". Hurters begleitende Briefe an Ebner enthalten in Kürze den wesentlichen Inhalt der ausführlichen Memoranden. 4 Hurter an Ebner, 25.10.1841. 5 Ders. an dens., 5.4.1845.
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später ergänzt er, welche Maßnahmen seiner Ansicht nach zur Beruhigung fuhren könnten. Die Protestanten dürften sich nicht mehr in Angelegenheiten der katholischen Kirche mischen; kräftige Maßregeln seien gegen die „Preßlizenz" zu treffen; all das „deutsche Gesindel sei zu entfernen, welches durch Wort und Schrift (und nicht selten That) Zwietracht, Mißtrauen, kurz, die ganze Drachensaat ausstreut, deren üppiges Aufgehen jeden Wohlgesinnten längst schon mit tiefer Bekümmerniß erfüllt hat." Sogar zur Zeit des verhaßten Bonaparte hätten bei „zuträglicher Freiheit in Bezug auf das Innere" doch „Friede, Ruhe und Ordnung in der Schweiz" geherrscht. „Könnten die Mächte nicht als CollectivBonaparte agiren. [!] Es wäre eine wahre Wohlthat." 6 Jene von Hurter wiederholt geforderte Intervention der Wahrer der Restauration kam nicht zustande. Die geringfügige Unterstützung der kleinen Sonderbundstruppe durch Österreich und Frankreich genügte nicht, um der schweizerischen Exekutionsarmee unter Dufour erfolgreich entgegentreten zu können. Im November 1847 endete der Sonderbundskrieg mit einem schnellen Sieg des Exekutionsheeres und führte indirekt zur neuen Schweizer Verfassung des Jahres 1848. Hurter weilte zu dieser Zeit bereits in Wien und hatte mit den Folgen einer anderen Revolution zu kämpfen. Obwohl ihm die neue Verfassung seines Heimatlandes als Sieg des Radikalismus erscheinen mußte, konnte er sie nicht vollkommen ablehnen.7 Zwar ging die Zentralgewalt gestärkt aus dieser Umgestaltung hervor, jedoch ohne die Souveränität der Kantone ganz zu beschneiden. Gerade die Kirchen- und Kulturhoheit der Kantone blieb erhalten.8 Die Berichterstattung für Metternich bildete Höhepunkt und Abschluß der „politischen Laufbahn" Hurters. Wenn sich auch mit ihr weniger Möglichkeiten der direkten aktiven Gestaltung verbanden, wie Hurter sie bis zur Niederlegung seiner kirchlichen Ämter 1841 reichhaltig wahrgenommen hatte, so entschädigte ihn andererseits dafür doch die höhere Ebene. Metternichs Nachfolger nahmen die politischen Dienste des ehemaligen Antistes nicht mehr in Anspruch. Auch Hurter selbst beschränkte sich - lediglich als Präses des „Maria-EmpfangnisVereins zur Unterstützung der Katholiken im türkischen Reiche und im Orient" trat er noch in Erscheinung. 9
6
Ders. an dens., 8.4.1845. Vgl. H. Hurter, F. Hurter Π, S. 170-195. Hurter versuchte, wenn auch weitgehend erfolglos, sich in Wien des Schicksals der vertriebenen Führer des Sonderbundes anzunehmen. 8 Zum Sonderbundskrieg vgl. Erwin Bucher: Die Geschichte des Sonderbundskrieges, Zürich 1966; zur Verfassung von 1848 ebd., S. 520-528 sowie ders.: Die Bundesverfassung von 1848, in: Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. Π, Zürich 1977, S. 987-1018. 9 H. Hurter, F. Hurter Π, S. 458-476. 7
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Ignaz Döllinger (1799-1890)
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2. Gegen den gekrönten Radikalismus: Döllinger und Höfler in der bayerischen Politik der vierziger Jahre In München erreichte der Einfluß des Görreskreises, der an sich schon im Laufe der dreißiger Jahre kontinuierlich zugenommen hatte, infolge der Kölner Krise vom Herbst 1837 seinen Höhepunkt. Noch im November dieses Jahres trat der klerikal-konservative Karl von Abel die Leitung des Innenministeriums an. Befreundet mit Phillips und Jarcke, entlehnte er viele seiner politischen Handlungsmaximen dem weltanschaulichen Dunstkreis Görres' und dessen Anhänger. 10 Gleichzeitig stiegen mit der Berufung Abels auf den wichtigsten ministerialen Stuhl des Königreiches auch die Chancen diverser Mitglieder und Sympathisanten dieses Kreises, zukünftig eine bedeutendere Rolle bei der Gestaltung bayerischer Politik zu spielen. Dem arbeitslosen ehemaligen Staatsstipendiaten Höfler eröffnete der politische Kurswechsel die universitäre Laufbahn, die er zunächst freilich mit seiner von oben auferlegten Tätigkeit als Redakteur der „Münchener Politischen Zeitung" noch teilen mußte.11 Bereits 1839 zog er sich aber aus dem Redaktionsgeschäft zurück, so daß die Bezeichnung Höflers als „publizistischer Verteidiger Abels" - ähnlich der Stellung, die Jarcke gegenüber Metternich einnahm - nur begrenzt zutrifft. 12 Trotzdem blieb Höfler publizistisch weiterhin tätig, besonders für die „Historisch-Politischen Blätter". Auch der später an ihn ergangene Auftrag, ein Lehrbuch der Allgemeinen Geschichte zu verfassen, erscheint als ein (bildungs-)politischer Akt des Ministeriums Abel, welches sich - wiederum in Übereinstimmung mit Vorstellungen des Görreskreises - bemühte, der neuhumanistischen Richtung an den bayerischen Gymnasien katholischeres Gedankengut entgegenzusetzen.13 Schließlich trat Höfler während des Landtages von 1845/46 mit einer längeren anonymen - Broschüre noch einmal fur Abel in die Schranken: in „Erläuterungen und Zusätzen" kommentierte er im orthodox-katholischen Sinne eine Rede des Fürsten von Oettingen-Wallerstein in der ersten Kammer, die sich vorderhand gegen die Zulassung von Jesuiten und Redemptoristen in Bayern richtete, die indirekt aber die Fortsetzung eines Versuches der Opposition darstellte, Abel während des Landtages zu diskreditieren oder gar dessen Ministerium zu Fall zu bringen. 14 Zu jener Zeit stand Höfler jedoch beim König bereits in
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Zur Person Abels vgl. Gollwitzer, Abel. Vgl. die biographische Skizze o. S. 141-143. 12 So Friedrich, Döllinger Π, S. 6. 13 Ebd. II, S. 74/75; Gollwitzer, Ludwig I., S. 547-549; vgl. Lebenswege, Anm. 298. 14 [Constantin Höfler]: Erläuterungen und Zusätze zu der Rede, welche S. D. der Herr Fürst Ludwig v. Oettingen-Wallerstein über die Klöster in Bayern gelegentlich der Berathungen über die Anträge des Herrn von Wrede gehalten hat, Augsburg 1846. (Zuweisung durch Höfler selbst in seiner Bibliographie für den Almanach der Wiener 11
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Ungnade. Während Ludwig an Abel noch festhielt, staute sich sein Zorn über dessen Gesinnungsverwandten Höfler zunehmend an, verursacht durch eine geschichtspolitische Aktion, die der Professor auf eigene Faust unternommen hatte: das Buch über Kaiser Friedrich II. Höflers Freund und Kollege Ignaz Döllinger erlebte den Landtag von 1845/46 als Mitglied der zweiten Kammer. Die Suche Abels nach einem gewandten Verteidiger seiner Politik hatte zu Döllingers Wahl in den Landtag gefuhrt, die dieser, wie er später mitteilte, nur widerwillig angenommen habe.15 Mit Skepsis zumindest konnten auch liberaler gesinnte, insbesondere protestantische Abgeordnete den Eintritt des neuen Mitgliedes betrachten: zu gut haftete bei diesen noch die etwas unglückliche Figur in der Erinnerung, die Döllinger nur zwei Jahre zuvor im Streit um die Kniebeugung protestantischer Soldaten in katholischen Gottesdiensten abgegeben hatte. Die Folgen dieser Episode waren auch vor der Landtagseröflhung von 1845 noch nicht überwunden. Zwar hob der König am Tag der Eröffnung seine umstrittene Ordre vom August 1838 auf, aber Verunsicherung und Erbitterung protestantischer Bevölkerungsteile über das Verhalten des Königs und seines Ministers Abel in dieser Angelegenheit hielten noch lange an. Von Ludwig 1838 einzig und allein zur Befriedigung seines Privatvergnügens an feierlichen Zeremonien eingeführt, hatte die Kniebeugeverordnung nach massiven Beschwerden protestantischer Bürger auf dem Landtag von 1842/43 eine erhitzte Debatte ausgelöst, welche der protestantische Theologe Harleß auf das Gebiet der Theologie hinübersteuerte. 16 Während Ludwig und Abel die geforderte Kniebeugung auch protestantischer Soldaten sowie Landwehrangehöriger vor dem Allerheiligsten als rein militärische Salutationsformel betrachten wollten, deren Beurteilung allein unter dem Gesichtspunkt von Befehl und Gehorsam zu erfolgen habe, erkannte Harleß in ihr einen Angriff auf das Gewissen der Protestanten. Diese, so führte er in der Kammer aus, knieten ausschließlich beim Empfang des Abendmahles, sonst jedoch nie. 17
AkdW 1854, S. 295) - Vgl. Gollwitzer, Ludwig I., S. 627/628; ders, Abel, S. 498-532, insbes. S. 515-518. 15 Döllinger äußerte rückblickend über seine damalige Berufung, er habe sich geradezu gesträubt, „in die Kammer der Abgeordneten zu treten. Der Minister Abel ließ jedoch keinen meiner Gegengründe gelten, ich mußte Kammermitglied werden, und war wohl der Einzige, derfroh war, als König Ludwig I. meiner Kammerthätigkeit ein Ende setzte." (Gesprächsäußerung Döllingers aus seinen späteren Lebensjahren, mitgeteilt von Luise von Kobell: Ignaz von Döllinger. Erinnerungen, München 1891, S. 100). 16 Zur Kniebeugefrage im Detail Friedrich, Döllinger Π, S. 190-207; Gollwitzer, Ludwig I., S. 595-598; ders., Abel, S. 452-456. 17 Harleß, zit. nach Friedrich, Döllinger Π, S. 194.
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Die Wendung ins Theologische motivierte den halboffiziellen Auftrag an Döllinger, eine Erwiderung abzufassen. Weit weniger elegant als in der späteren „Reformation", stellte er hier seine Gelehrsamkeit in den Dienst, diesmal Abels. Indem er die Frage der Kniebeugung der Protestanten detailliert kirchenhistorisch untersuchte und natürlich zu anderen Ergebnissen kam als Harleß, verabsäumte er nicht, diesem den Ruf eines Lügners anzuhängen. Obendrein rechtfertigte er auftragsgemäß die königliche Ansicht, in der Kniebeugefrage liege nur eine militärische und keine Gewissensangelegenheit vor. Trotzdem Schloß Döllinger seine Abhandlung mit der Ansicht, die Ordre möge im Sinne der Protestanten in irgendeiner Weise zumindest gemildert werden. 18 Diese in sich unschlüssige Intervention Döllingers entfachte eine höchst unerfreuliche Polemik mit dem verleumdeten Harleß, in deren Verlauf sich Döllinger zu persönlichen Angriffen hinreißen ließ, die nur schwer seinem sonstigen intellektuellen Niveau entsprachen. 19 Obwohl Döllinger, wie er später versichert haben soll, in einer persönlichen Audienz beim König fur die Aufhebung der Ordre eingetreten sei, 20 und obwohl mit Friedrich Thiersch ein weltanschaulicher Gegner für die Ehrenhaftigkeit seiner Absichten in der Auseinandersetzung mit Harleß eintrat, 21 hinterließ Döllingers scharfes Auftreten und seine spitzfindige Rechthaberei in der Öffentlichkeit doch den Eindruck, hier spreche der ultramontane Chefideologe des Ministers Abel. Mit diesem Ruf trat Döllinger skeptisch beargwöhnt 1845/46 in die zweite Kammer. Dort freilich erwies er sich nicht als der ultramontane Fanatiker, den viele erwartet hatten, sondern eher als sachbezogener, geistreicher und rhetorisch talentierter Redner, dessen parlamentarische Fähigkeiten Freunde wie
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[Ignaz Döllinger]: Die Frage von der Kniebeugung der Protestanten, von der religiösen und staatsrechtlichen Seite erwogen. Sendschreiben an einen Landtags-Abgeordneten I. II., München 1843; Auszüge bei Friedrich, Döllinger Π, S. 195-197. 19 Adolf von Harleß: Offene Antwort an den anonymen Verfasser der zwei Sendschreiben, die Frage von der,Kniebeugung der Protestanten4 betreffend, München 1843. - Ignaz Döllinger: Der Protestantismus in Bayern und die Kniebeugung. Sendschreiben an Herrn Professor Harleß, Regensburg 1843. Döllinger vergleicht Harleß u.a. mit Jakobs Sohn Dan, „der ,eine Schlange ist auf dem Wege, und das Pferd in die Fersen beißt, daß sein Reuter zurückfallt'; und wirklich ist Ihre ,Oflhe Antwort' im ächten Geiste des Bruders Dan geschrieben." (S. 2) - „Jeder Leser Ihres neuesten Geisteserzeugnisses, nämlich der ,Offenen Antwort4 wird Ihnen unbedenklich das Zeugniß ausstellen, daß Ihre Anstrengung, jegliche Vornehmheit des Gedankens und des Ausdruckes ferne zu halten, hier mit vollkommenem Erfolge gekrönt worden sei, und daß Sie fast eben so gut, als Luther selbst, die Sprache der ganz gemeinen, auch der niedrigsten Fassungskraft angemessenen Polemik zu handhaben verstehen." (S. 3). 20 So Döllinger 1879 im Gespräch mit Friedrich (Friedrich, Döllinger Π, S. 204). 21 Ebd. Π, S. 206/207. 28 Brechenmacher
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Gegner bald anerkannten. 22 Natürlich verteidigte er in seinen Debattenbeiträgen Selbständigkeit und Freiheit der katholischen Kirche, vor allem von staatlicher Bevormundung, zeigte sich aber auch bereit, wie schon 1838 in der Mischehenfrage, jene Freiheit als Recht in gleichem Maße auch den Protestanten zuzugestehen. In der Diskussion um die Wrede-Wallersteinschen Anträge - zu der ja auch Höfler außerparlamentarisch Stellung bezog - erwies sich Döllinger keineswegs als kritikloser Lobredner des Jesuitenordens. Sicher, eine Gefahr für den konfessionellen Frieden in Bayern mochte er in dessen Einfuhrung nicht erkennen, hielt diese andererseits aber auch nicht für unbedingt wünschenswert. Entschieden pochte er hingegen in der Kontroverse um den Übertritt eines minderjährigen Protestanten zum Katholizismus auf die Gewissenspflicht des Pfarrers, der dazu die Sakramente gespendet hatte. Keinesfalls könnten sich die Protestanten hier auf ein staatliches „Majestätsrecht" berufen, diese Konversion zu unterbinden. In der Frage einer vollständigen Emanzipation der Juden schließlich vertrat Döllinger den Standpunkt einer modifizierten Gleichstellung.23 So hatte sich Döllinger als Mitglied der zweiten Kammer wohl etabliert und konnte damit rechnen, dieser als Vertreter der Universität auch weiterhin anzugehören. Jedoch, 1847 hatte sich die politische Situation in München komplett verändert. Unmittelbar vor der Eröffnung der außerordentlichen Versammlung vom September 1847 erhielt auch Döllinger den Bescheid über seine Quieszierung. 24 Als Professor in den einstweiligen Ruhestand versetzt, erlosch gleichzeitig sein Mandat als Abgeordneter. Ein halbes Jahr nach der Entlassung Abels sowie des gesamten Ministeriums fiel mit Döllinger der letzte prominente Vertreter des Görreskreises dem Zorn des Königs zum Opfer. Nur Görres selbst sowie seinen alten Leibarzt Johann Nepomuk Ringseis hatte Ludwig verschont. Döllinger wie auch Höfler hatten sich der im wesentlichen orthodox-katholischen Opposition angeschlossen, die nicht länger bereit war, des Königs Kapriolen um die Tänzerin Lola Montez zu billigen. 25 Nur vordergründig formierte sich dieser Widerstand aus sittlich-moralischen Erwägungen. Im Hintergrund der Auseinandersetzung stand die Frage nach Recht und Stellung des Monarchen im Staate, nach recht- oder unrechtmäßiger Herrschaft, stand die Frage nach der Revolution. Lola erschien in diesem Zusammenhang nicht lediglich als sittenwidrige Geliebte des Königs, sondern als Werkzeug, mittels dessen
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Ebd. Π, S. 305; Gollwitzer, Ludwig I., S. 629/630. Döllinger veröffentlichte seine diesbezüglichen Reden nach dem Schluß des Landtages. Ignaz Döllinger: Drei Reden gehalten auf dem bayerischen Landtage 1846, Regensburg 1846 (1. Die kirchlichen Anträge des Reichsrathes - 2. Die protestantischen Beschwerden - 3. Die Judenfrage); ausfuhrlich über den Gang der Verhandlungen Friedrich, Döllinger II, S. 252-311. 24 Vgl. Friedrich, Döllinger Π, S. 328. 25 Zu den Fakten der Lola-Montez-Affare s. die Literatur in Lebenswege, Anm. 242. 23
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der Monarch in kurzsichtiger Zusammenarbeit mit den Kräften des „Radicalismus" den Staat von oben zu revolutionieren drohte. Jene kleine Revolutionschronik, die Höfler 1847 in Briefen an Friedrich Emanuel Hurter aus München lieferte, zeichnet ein Bild dieses „radikalisierten" Monarchen. Als dessen Archetyp erscheint der Tyrann des „Friedrich II.": Geschichte und Politik, geschichtliches Urteilen und politisches Handeln durchdringen sich auch hier wieder in auffälligster Weise. Weniger fur Döllinger, sehr wohl aber für Höfler sollte die Durchdringung in diesem Fall ernste Konsequenzen zeitigen. Schon gegen Ende des Jahres 1846 klagte Höfler über das Ausmaß Jenes öffentlichen Jammers [...], welcher wie ein schwerlastendes Verhängniß die Herzen aller Bürger erfüllt." Keine wie auch immer geartete Maßnahme habe bisher „den Angriff gegen die öffentliche Moral" hindern können, der mit jedem Tag an Umfang gewinne. Wenigstens tröste die entschlossene „Haltung des Volkes" zum passiven Widerstand. „Wie leid es aber jedem Einzelnen thun muß, einen lange behaupteten Nimbus in Dunst aufgehen zu sehen; wie sehr es schmerzt, einen so tiefen Abgrund, den nichts mehr auszufüllen vermag, wie einen Graben rings um das ganze Volk gezogen zu sehen, wie traurig diese Isolirung ist, brauche ich nicht hinzuzufügen. [...] Die Indignation hat jetzt eine Höhe erreicht, daß das geringste untoward event gleich dem Funken wirken kann, der unbehütet zur verzehrenden Flamme wird." 2 6 Als Höfler dem Reichshistoriographen am 12. März 1847 wieder schrieb, hatte ein solches „untoward event" den Flächenbrand bereits ausgelöst. Das Ministerium Abel hatte sich im Februar geweigert, als Voraussetzung der Nobilitierung Lola Montez' dieser das Indigenat zu erteilen, und hatte in einem Memorandum vom 11. Februar versucht, dem König ins Gewissen zu reden. Dieser Versuch hatte jedoch lediglich zur Entlassung des gesamten Ministeriums geführt. Die unglücklichen Vorgänge summierten sich zur Katastrophe. „Die Bekanntmachung des Memorandums der Minister [...] hat allen unseren Angelegenheiten eine Wendung gegeben, an die Niemand dachte." 27 Aber nicht allein das Durchsickern des Memorandums an die Öffentlichkeit, sondern auch die Reaktion der Universität trug dazu bei, Ludwigs Zorn ins Unermeßliche zu steigern. Am 18. Februar, dem Tage nach der Entlassung Abels, hatte der Senat einen Antrag Ernst von Lasaulx' beraten, dem ehemaligen Minister offiziell die Hochachtung der Universität auszusprechen. Dieser Antrag war jedoch ebensowenig angenommen worden wie eine etwas entschärftere Version Döllingers. 28 Trotz der negativen Abstimmungsergebnisse gelangte die Kunde der Senatssitzung dem König zu Ohren, der daraufhin Lasaulx sofort von seinem Lehramt entband. Eine spontane Solidaritätsdemonstration von Studenten zugunsten des beliebten Professors endete mit
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Höfler an Hurter, o. D. [wahrscheinlich Ende 1846] (Samen, NL Hurter). Ders. an dens., 12.3.1847 (ebd.). Vgl. dazu Wernitz.
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einem Tumult vor der Wohnung Lolas. König Ludwig, ohnehin inzwischen geneigt, den Gegnern der Katholiken und des Görreskreises Gehör zu schenken, glaubte nur zu bereitwillig dem Gerücht, Mitglieder jenes Kreises hätten die Demonstration angezettelt, und schlug nun erst recht zurück. Höfler sah, besonders im neuen, sogenannten „Ministerium der Morgenröte", 29 den „Radicalismus" siegen, obgleich er noch immer von einer letzten Hemmschwelle des Königs ausging. „Danach glaube ich, obwohl die Angelegenheiten für uns sehr schlecht stehen, und namentlich Phillips, ich und wohl noch einige Andere mit literarischem, politischem und financiellen Ruin bedroht sind, vielleicht unser Schicksal schon ebenso entschieden ist, wie das des armen Moy, der als Appellations Rath nach Neuburg an der Donau kommt, daß man nach dem ersten Sturm so viele Verlegenheiten fühlen wird, daß man von selbst zu dem Entschlüsse kommen wird, möglichst piano zu verfahren, um nicht [...] mit dem Radicalismus identificirt zu werden." Allerdings gewann der Pessimismus bereits in der Nachschrift desselben Briefes Oberhand, und jener Terminus fiel, unter dessen Überschrift Höfler die Angelegenheit fortan weiter betrachtete: „Der gekrönte Radicalismus triumphirt auf allen Punkten." 30 Sein Pessimismus sollte Höfler nicht täuschen. Am 25. April berichtete er Hinter von seiner eigenen Quieszierung, die bereits einen Monat zuvor erfolgt war. 31 Doch noch immer spricht die erste Erregung aus seinem Brief. „Das Unglaubliche ist geschehen. Ein Fürst wüthet gegen diejenigen, welchen er selbst weder einen politischen noch einen moralischen Makel aufzudrücken vermag [...], und giebt seine treuesten Anhänger der Verfolgung ihrer und seiner Gegner Preis, von denen er sich jetzt glauben macht, er könne sie dadurch in seine Freunde umwandeln und die sich seiner bedienen, um eine Proscription in solchem Umfange zu betreiben, daß er nicht wieder rückwärts kann, sondern ihnen zur Beute verfallen muß. Wäre nicht manche Maßregel an dem besseren Willen des Unglücklichen selbst gescheitert, so würde die Anzahl der von Haus und Hof getriebenen noch viel größer sein. Ich sage von Haus und Hof getriebenen; denn ist es etwas Geringeres, wenn man einen Professor ohne Grund, ohne Recht, ohne Untersuchung, ohne Verhör von seinem Wirkungskreise entfernt, ihn politisch todschlägt [...], der Censur befiehlt Vertheidigungs Artikel zu streichen, selbst aber in officiellen Artikeln die infamsten Verläumdungen
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Unter der Leitung des liberalen Juristen Georg Ludwig Maurer als Verweser des Außen- und Justizministeriums und des Freiherrn Friedrich ZuRhein als Ministerverweser der Finanzen und des Kultus sollte der „Systemwechsel" sowie die Beseitigung aller Relikte der Abelschen Richtung erfolgen. 30 Höfler an Hurter, 12.3.1847 (Samen, NL Hurter - Hervorhebung, Th. B.). 31 König Ludwig an den Senat der Universität, 26.3.1847: Versetzung Höflers in den zeitlichen Ruhestand ab dem 1.4.1847, ohne weitere Begründung (UAM, Ε Π 134, Personalakte Höfler).
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ausstreut. Ja wir haben innerhalb 6 Wochen eine Probe des Radicalismus gesehen, vor welchem Aargau und Bern sich nicht zu schämen brauchten." In seiner Sucht, allein und despotisch zu regieren, so der Tenor dieses Briefes, habe sich der König in die Hände der Radikalen begeben und glaube leichtsinnigerweise, sein Ziel mit Hilfe dieser „Camarilla" erreichen zu können. „Die Camarilla sprengt absichtlich Lügen aller Art aus, um darauf Maßregeln begründen zu können [...]. Alle welche dem Regime nicht gefallen, werden bereits als todt angesehen."32 Am meisten ärgerte ihn an dieser „Aufrichtung einer radicalen ara belli in Bayern", daß die „Conservativen" weder von Rom noch von Wien aus Unterstützung erhielten, um wirksameren Widerstand leisten zu können.33 Im Gegenteil, „die hiesige Camarilla [hat] gute Agenten in Wien selbst." 34 Alle eigenen Bemühungen um Verbleib auf seiner Professur nützten Höfler wenig. 35 Um seines Einkommens willen mußte er der Versetzung in den Archivdienst nach Bamberg zustimmen. Als besondere Rohheit empfand er dabei die Anweisung seines neuen Vorgesetzten, des intriganten Reichsarchivdirektors Hormayr, 36 seine neue Stellung unverzüglich, sozusagen von heute auf morgen anzutreten, obgleich er wegen des schlechten Gesundheitszustandes seiner Mutter Urlaub beantragt hatte. 37 Während Höfler nach Bamberg umzog, erhielt auch Döllinger anfangs September seine Quieszierung, als letzter der „Rebellen", freilich eher wohl, um ihn als Anhänger des ehemaligen Ministers Abel auf dem bevorstehenden Landtag auszuschalten, denn um ihn noch nachträglich für seine Haltung in der LolaMontez-Affare zu „bestrafen". 38 - Nach den bayerischen aber auch den gesamtdeutschen Wirren der Jahre 1848/49 hatten sich viele Verhältnisse neu gestaltet und viel alter Zorn beruhigt. Von den ehemals Relegierten hatte sich 32
Höfler an Hurter, 25.4.1847 (ebd.). Ders. an dens., 28.6.1847 sowie 23.6.1847 (ebd.). 34 Ders. an dens., 25.4.1847 (ebd.). 35 So z. B. Ministerium für Kirchen- und Schulangelegenheiten an den Senat der Universität, 20.5.1847: Höflers Gesuch auf Wiedereinsetzung abgelehnt (UAM, Ε Π 134, Personalakte Höfler). 36 Gollwitzer, Ludwig I., S. 111/112 nennt Hormayr einen „skrupellosen Schmeichler und Intriganten", der den König „eingenebelt" habe (S. 111). Über Hormayr als Geschichtsschreiber vgl. auch Lhotsky, Österreichische Historiographie, S. 146/147. 37 Höfler an Hurter, 28.6.1847; vgl. ders. an dens., Ende Dezember 1847, nach dem Ableben seiner Mutter: „So groß war die Rohheit des radicalen Ministeriums und seiner Helfershelfer, daß man mir den Urlaub verweigerte, als ich H. v. Hormayr erklärte, ich wünsche ihn besonders deshalb, weil meine Mutter von den Ärzten aufgegeben sey. Ich mußte unfehlbar bis zum 5. Sept. in Bamberg seyn, erhielt diesen Auftrag am 4. [...] An der Wassersucht stirbt man sobald nicht, war die hämische Antwort des Herrn von Hormayr." 38 Friedrich, Döllinger Π, S. 328/329. 33
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Moy nach Tirol in den Ruhestand zurückgezogen; Phillips folgte einem Ruf nach Innsbruck und später nach Wien; Sepp, Lasaulx und Döllinger wurden vom neuen König Maximilian II. reaktiviert. 39 Allein Höfler blieb in Bamberg, arbeitete unermüdlich an seiner Restitution und fand kein Gehör. Höfler betonte in späteren Jahren regelmäßig, daß ihm schneidendes Unrecht geschehen sei, welches einer der beiden Monarchen, Ludwig oder Maximilian, wiedergutmachen hätte müssen. Über die „Rechtsverweigerung zweier Regierungen" zeigte er sich nachhaltig und tief betrübt. 40 Seiner Verbitterung gab er in heftigsten Worten Ausdruck: als Wortbrecher und Heuchler hätte sich Maximilian erwiesen; 41 Ludwig sei „zeitweilig ein vollendeter Narr und immer ein Tyrann" gewesen;42 er - Höfler - bedaure Döllinger, daß dieser die Leichenrede auf den verstorbenen Ludwig zu halten habe;43 jeden Tag habe er Ursache, Gott zu bitten, nicht „an den alten und an den jungen - Schuft" denken zu müssen.44 Zumindest wundern durfte sich Höfler allemal, warum ihm während der langen Bamberger Jahre, in denen er doch immer wieder versucht hatte, seine Reaktivierung in München voranzutreiben, nicht wenigstens ein Akt der Gnade zuteil geworden war. Über Abel, dem der neue König nach dessen Rückkehr vom Strafposten Turin eine solche Gnade versprochen haben soll wobei dieser sich auserbeten habe, „daß diejenigen ihre Stelle wiedererlangten, die bei seiner Entlassung sie verloren" 45 - , hatte Höfler Ende 1848 und 1851 versucht, wenn schon nicht seine Professur zurückzuerhalten, so doch wenigstens eine Versetzung innerhalb des Archivdienstes nach München zu erreichen. „Mein Dichten und Trachten ist wie natürlich immer auf Rückkehr nach München gerichtet." 46 Voller Hoffnung gab er sich im Mai 1850 gegenüber Hurter. „Ich [...] hoffe, Ihnen sehr bald von meiner völligen Zurückkunfi nach München schreiben zu können - wenigstens wird sehr stark daran gearbeitet." 47 Daß
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Auch Phillips wäre zumindest an einer bayerischen Universität, Würzburg, reaktiviert worden, hätte er nicht den Gang nach Österreich vorgezogen; vgl. Friedrich, Döllinger Π, S. 513-515, hier auch über Lasaulx; zur Reaktivierung Döllingers ebd. ΙΠ, S. 65-70. Weitere Einzelheiten bei Wolfgang König: Universitätsreform in Bayern in den Revolutionsjahren 1848/49, München 1977 (= ZBLG, Beihefte, Reihe B, Bd. 8), S. 147-150. 40 Höfler an Döllinger, 19.11.1855 (BSB, NL Döllinger, Döllingeriana Π) und 25.3. 1863 (ebd.): „Morgen sind es 18 Jahre, daß der Gerechte mich liquidierte." 41 Ders. an dens., 14.8.1864 (ebd.). 42 Ders. an dens., 30.1.1886 (ebd.). 43 Ders. an dens., 1.3.1868 (ebd). 44 Ders. an dens., 19.11.1855 (ebd.); den „Schuft" strich Höfler durch, ersetzte ihn aber auch nicht durch einen anderen Ausdruck. 45 Ders. an dens., 14.8.1864 (ebd.). 46 Höfler an Abel, 31.12.1848 (BSB, Abeliana 2). 47 Höfler an Hurter, 3.5.1850 (Samen, NL Hurter).
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nichts geschah, blieb ihm unverständlich. Auf welche Weise hatte er sich stärker vergangen als jene anderen, als Döllinger und besonders Lasaulx, der reaktiviert worden war, obwohl er im Februar 1847 im Senat den gegen König Ludwig gerichteten Antrag eingebracht hatte? Lagen vielleicht andere Gründe gegen ihn vor, die Ludwig bewogen hatten, ihn beim gegebenen äußeren Anlaß von 1847 ein für allemal auszuschalten, und die dessen Sohn und Nachfolger Maximilian noch in den fünfziger Jahren verpflichteten, auf dem väterlichen Standpunkt zu beharren? „Ich habe 1851 dem König Maximilian geschrieben, ich ginge nach Österreich, weil eine fünfjährige traurige Erfahrung mich belehrte, daß ich trotz der treuesten Dienste von SM keine Gerechtigkeit erlangen könne. Wie sich ein König das gefallen lassen konnte, ist mir unbegreiflich. Erst hintendrein erfuhr ich, daß er bis zur Ächtung geschritten war." 48 Höfler suchte den Grund jener ,Ächtung" - von der er noch 1888 als Greis zu berichten wußte, und die sich in der Anweisung Maximilians an den Ministerpräsidenten von der Pfordten ausgedrückt habe, „alle auf mich bezüglichen Ministerialacten, Anträge etc. zu vernichten und keine mehr zu stellen" 4 9 selbst zu sehr im direkten Umkreis der Vorgänge von 1847. Seine Spekulation jedenfalls, Ludwig hielte ihn, Höfler, für den Verfasser des Memorandums vom 11. Februar 1847, griff daneben: der König wußte bereits seit Ende jenes Monats aus dem Munde Abels, wer der Verfasser tatsächlich war - nämlich Abel selbst.50 Allerdings traf wohl jene Äußerung zu, die man ihm von König Maximilian persönlich hinterbrachte: er, Maximilian, habe nichts gegen Höfler, könne aber aus Pietät gegen seinen Vater nichts für ihn tun. 51 Worin aber gründete die tiefe Verbitterung des alten Königs gegenüber dem ehemaligen Geschichtsprofessor? Sie gründete in jenem indirekten Angriff, den Höfler schon einige Jahre vor 1847 mit einem seiner geschichtswissenschaftlichen Werke gegen Herrschafisauffassung wie Regierungsweise Ludwigs gefuhrt hatte. Höfler hatte 1844 mit seiner Studie über den „Tyrannen" Friedrich II. nicht nur die Gloriole einer historischen Figur vernichtet, die der König verehrte, ja vielleicht als eines der Vorbilder seiner eigenen Regentschaft betrachtete, die Gloriole eines Selbstherrschers, der straff alle Zügel in der Hand hielt, sein Staatswesen genial organisierte und obendrein als feinsinniger Freund und Mäzen der Künste und Wissenschaften, als Dichter und Forscher, als Ästhet auftrat. Höfler hatte auch mit seiner strikten Forderung nach einer Rechtsbindung des Monarchen das Selbstbewußtsein des Königs Ludwig schwer 48
Höfler an Sepp, [Nov./Dez.] 1888 (BSB, Seppiana 65). Höfler an Döllinger, 14.8.1864 (BSB, NL Döllinger, Döllingeriana Π). 50 Die Spekulation Höflers ebd.; Gollwitzer, Ludwig I., S. 636: „Die Entstehungsgeschichte des Memorandums hat Abel, sicher wahrheitsgemäß, Ende Februar 1847 dem König beschrieben." 51 Höfler an Döllinger, 14.8.1864 (BSB, NL Döllinger, Döllingeriana Π). 49
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Öffentliches Handeln
gekränkt. 52 Wer war das Recht - außer er, der König, selbst? Wenn auch der gesamte Görreskreis, wenn auch Lasaulx, Phillips, Jarcke, Döllinger allesamt dieselben Ansichten über die Rolle des Monarchen, über das historische Bild Friedrichs II. vertraten, hatte doch keiner von diesen gewagt, dem König solche Meinungen dermaßen unverblümt und offen in Buchform zu überreichen. 53 Höfler kannte die Gefahr, in die er sich damit bei Ludwig begeben mußte; und es klingt wie Furcht vor der eigenen Courage, wenn er nach dem Erscheinen des „Friedrich" den Ärger bereits heraufziehen sieht und sich präventiv bemüht zeigt, über Hurter in Wien positive Rezensionen zu veranlassen. „Mir liegt außerordentlich viel daran, daß mein Friedrich II. von freundlicher Seite besprochen werde. Die Gegner mehren sich mit jedem Tage, so daß ich selbst nächstens das Stillschweigen zu brechen und den Angriffen entgegenzutreten gedenke. [...] Ich bin entschlossen mich bis auf das Äußerste zu wehren und habe die Anstalten hierzu getroffen. Allein mir muß nun natürlich auch sehr daran liegen, nicht allein dazustehen. [...] Einheimische Verhältnisse drängen mich dazu. Der Kronprinz ist ganz auf Seiten Schlossers von Heidelberg; der König selbst hat Friedrich II. in die Walhalla gesetzt und wer ihn in Schutz nimmt, findet deshalb Anklang bei ihm. Ich kämpfe deshalb nicht blos um ein wissenschaftliches Problem, sondern um mich derer zu erwehren, die darauf ausgehen mich bei dieser Gelegenheit mundtodt zu machen." 54 Tatsächlich ließ die Reaktion Ludwigs nicht lange auf sich warten. Sie fiel so scharf aus, daß sich Höfler im November 1846 nicht mehr getraute, sein Schriftchen über „Concordat und Constitutionseid der Katholiken in Bayern" 55 persönlich zu überreichen. Er habe als einziger Ordinarius im Königreich aufgrund einer „unbescheidenen Bitte" keine Gehaltserhöhung erhalten. Trotzdem übergäbe er seine Schrift selbst, ,glätte nicht Seine Majestät bei einer Audienz der zur Dank-
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Zur Herrschaftsauffassung Ludwigs vgl. grundsätzlich Gollwitzer, Ludwig I., S. 391— 403: „Regierungsstil eines Autokraten". 53 Fast noch deutlicher als in seinem Buch selbst, sprach sich Höfler in seiner ersten Entgegnung auf die Kritik Ludwig Häussers über die Parallele Friedrich - Ludwig aus. Höfler, Kaiser Friedrich Π., S. 400b: „In ähnlicher Weise wie dereinst die Geschichte bei Beurtheilung eines constitutionellen Fürsten unserer Tage den Grad der Aufrichtigkeit, womit derselbe die dem Volke gegenüber eingegangenen Verpflichtungen hielt oder nicht hielt, als Maßstab zu seiner Beurtheilung gebrauchen wird, war es mit Friedrich Π der Kirche gegenüber der Fall." - „Gerade der Umstand macht Friedrich Π zum Helden unserer [...] Zeit, [...] daß er war wie so viele bewunderten Größen unserer Tage, geistreich aber ungläubig, voll Talent aber unsittlich, machtvoll aber unrechtlich." (ebd., S. 404b). 54 Höfler an Hurter, 16.12.1845 (Samen, NL Hurter). - Zur Walhalla und ihrer Funktion innerhalb der Geschichtspolitik König Ludwigs vgl. Kömer, S. 258-265. 55 Constantin Höfler: Concordat und Constitutionseid der Katholiken in Bayern. Eine historische Denkschrift, Augsburg 1847.
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sagung zugelassenen 9 Universitätsprofessoren gerade an mich dreymal die Aufforderung, mich vor Übertreibungen zu hüten, in so ernster Art gerichtet", daß die Öffentlichkeit, „welche schnell hiermit bekannt wurde", darin eine Abmahnung der gesamten katholischen Richtung „und jener Dienste erblickt, welche ich, wenn auch in schuldigster Treue, doch in der That nicht ohne große Aufopferung [...] zu leisten bemüht war. [...] Es gebricht mir dadurch [...] an Muth mich persönlich wegen Überreichung einer Schrift zu melden, welche die Absicht hat, mannigfache Verlegenheiten der Regierung zu beseitigen." Er bitte also Abel, die Überreichung für ihn zu besorgen. 56 Dieser erfüllte den Auftrag sinnigerweise unter Beilegung des Höflerschen Briefes. Ludwig notierte an dessen Rand: „Daß aber Höfler übertrieben (der kein gutes Haar an dem Kaiser Friedrich Π. läßt, dessen Andenken in Sicilien noch währt) ist nicht zu leugnen." Ohne Zweifel befand sich Höfler bereits seit 1845 bei Hofe in Ungnade. Sein Buch über Friedrich II. konnte einem Herrscher vom Schlage Ludwigs nur in höchstem Maße mißfallen. Hinzu kam, wie der Brief an Abel vom November 1846 zeigt, daß Höfler nicht einmal versuchte, beim König gut Wetter zu machen, sondern immer nur auf seine Verdienste verwies und seine Rechte einforderte. Höfler entschuldigte sich nicht: das mochte den sensiblen Ludwig noch mehr kränken. Als 1847 die oppositionelle Stellung des Görres-Anhängers Höfler einen äußeren Anlaß zu dessen Entfernung aus der Residenzstadt bot, konnte der König damit gleichzeitig die alte Rechnung begleichen. Und mehr noch: einer Rückberufung Höflers, ähnlich der Reaktivierung der anderen Relegierten, stand jenes Buch über Friedrich II. dauerhaft im Wege - wenigstens solange der alte König lebte. Die Opposition im Falle Lola konnte Ludwig offensichtlich verzeihen, nicht aber eine derart manifeste Opposition im Grundsätzlichen. Immerhin mußte Höfler nicht völlig aus dem bayerischen Dienst scheiden: die Bamberger Stelle blieb ihm sicher. Freilich, er mochte dort nicht leben, konnte dort nur begrenzt arbeiten. Nach vierjährigem vergeblichem Bemühen um eine Rückberufung nach München ergriff Höfler die für ihn aussichtsreichste Alternative und ging nach Prag. Mit Constantin Höfler verließ im September 1847 einer der fähigsten Repräsentanten katholizistisch-konservativer, großdeutscher Historiographie München. Sein definitiver Abgang aus der bayerischen Hauptstadt sowie die Orientierung seines späteren Schaffens nach Südosten bedeutete einen wesentlichen Verlust für jene historiographische Richtung in der Zeit nach 1848/49. Sicher, durch die Erfahrungen der Bamberger und Prager Jahre reifte Höfler und gewann an Format, vor allem als kritischer Historiker. Fraglich bleibt dagegen, wie er sich in München weiterentwickelt hätte. Dem zunehmenden Gewicht der „Nordlichter" hätte er jedenfalls viel entgegensetzen, hätte auch Teile der Tradition des 56
Höfler an Abel, 14.11.1846 (BSB Abeliana I, Fasz. 10, Nr. 42. - Hervorhebungen durch Höfler selbst).
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Öffentliches Handeln
Görreskreises in die neue Zeit herüberretten können. Einzig der Fachhistoriker Höfler- nicht der Theologe und Kirchengeschichtler Döllinger- hätte als erfolgreicher Hochschullehrer die Kontinuität katholizistisch-konservativer, großdeutscher Historiographie in München wahren und möglicherweise doch noch im Sinne Böhmers eine „Schule" gründen können. Vielleicht wäre dann auch der nächste bedeutende Vertreter großdeutscher Historiographie, der 1856 zusammen mit Heinrich von Sybel nach München berufene Carl Adolf Cornelius, auf eine andere, günstigere Situation gestoßen. Fern solcher Spekulationen bleibt als Tatsache, daß im Falle Constantin Höflers Geschichtsschreibung als „Öffentliches Handeln" dazu beigetragen hatte, das Leben ihres Urhebers entscheidend zu verändern. „Friedrich II." wirkte lange nach; - und er wirkte nicht nur auf Höfler, sondern indirekt auch auf die weitere Entwicklung großdeutscher wie deutscher Geschichtswissenschaft insgesamt. Ignaz Döllinger ging im Mai 1848 als Abgeordneter nach Frankfurt, setzte sein Wirken in der Politik dort fort und empfing erste Anstöße zur Veränderung seines politischen wie kirchengeschichtlichen Denkens in den folgenden Jahren. Aber auch Höfler zog sich nicht auf reine Gelehrsamkeit zurück; bald nach seiner Ankunft in Prag sollte ihn eine neue historisch-politische Kalamität in Beschlag nehmen: der Nationalitätenkonflikt zwischen Tschechen und Deutschen.
3. Kirchliches
und staatliches Einheitsband: Gfrörers
Einigungsplan
In so relative Nähe zu den Trägern tatsächlicher politischer Macht wie Hurter, wie Döllinger und Höfler gelangte August Friedrich Gfrörer nie. Politik zu machen, versuchte er freilich öfter. Aber erst in den badischen Wirren vom Frühjahr 1848 sowie in seiner daran anschließenden Zeit als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung gelang ihm dies mit Erfolg, zumindest in Ansätzen.57 Erfolg hatte einer seiner früheren Versuche, politischen Einfluß zu gewinnen, am wenigsten gezeitigt. Ganz im Stile seiner „Chronik unserer Tage" wollte Gfrörer nach der Julirevolution von 1830 den Kurs eines gemäßigten Liberalismus zur Förderung einer politischen „Mittelparthei mit der Richtung nach deutscher Einheit und Concentration der Bundesmacht" publizistisch unterstüt57
Die direkte Auseinandersetzung der großdeutschen Historiker erster, aber auch bereits zweiter Generation mit den Ereignissen der Revolution von 1848/49 sowie den Vorgängen in der Nationalversammlung bildet den Auftakt zu einer möglichen Fortsetzung der Geschichte großdeutscher Historiographie. Der vorliegende Teil bezieht nur solche politischen Aktivitäten mit ein, die als Folge und - so diese bereits ins unmittelbare Vorfeld der Revolution fallen - Abschluß der in den dreißiger und vierziger Jahren ausgebildeten historisch-politischen Gedankensysteme der Großdeutschen erster Generation erscheinen. Einige Hinweise und Ausblicke brauchen deshalb aber nicht zu unterbleiben.
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zen. Zu diesem Zwecke erwarb er im Herbst 1831 ein kränkelndes Blatt namens „Neckar-Zeitung" und begann einen Pressefeldzug vor allem gegen republikanische und demokratische Ideen, „gegen die Rothen von damals". Da er aber bereits im Sommer 1832 das Verlustunternehmen nicht mehr weiterfuhren konnte, verkaufte er die Zeitung an die königlich württembergische Regierung in Gestalt eines vorübergehenden Innenministers Weishaar, der freilich nach seinem nur allzuschnellen Abtritt aus dieser Stellung weder öffentliche Mittel noch Lust hatte, Gfrörer zu bezahlen.58 Gfrörer laborierte noch lange Jahre an den Folgen dieser Pleite, prozessierte bis 1840 gegen jenen Weishaar, um am Ende lediglich einen Vergleich zu erstreiten. 59 Möglicherweise dämpften diese Erfahrungen Gfrörers Antriebe zu politischpublizistischen Tätigkeiten solcher Art. Jedenfalls konzentrierte er sich fortan von dem Intermezzo der „Tiare und Krone" von 1838 abgesehen - auf seinen bibliothekarischen Brotberuf sowie auf seine wissenschaftlich-historiographische Berufung. Als aber seit den revolutionären Wirren des Frühjahres 1848 auch die deutsche Einheitsfrage zu neuer und dringlicher Behandlung auf die Tagesordnung drängte, konnte sich Gfrörer nicht entschlagen, seine Vorstellungen vom Zusammenhang zwischen staatlichem und kirchlichem Einheitsband, auf die er gelegentlich schon in seinen historiographischen Werken hingewiesen hatte, in die aktuelle politische Diskussion miteinzubringen. Jetzt sah er die Voraussetzung für deutsche Einigung in beiderlei Hinsicht gegeben, sah den Boden bereitet für die Erfüllung jener Prophezeiung der Abhandlung über „Wallensteins Schuld": „Einen nationalen politischen Aufschwung vorausgesetzt, muß sich die Überzeugung, die bei ruhiger Überlegung und ohne den Nebel künstlich anerzogener Vorurtheile jedem Menschen von fünf gesunden Sinnen sich aufdrängt, allgemeine Bahn brechen, daß ein Volk mit zwei feindseligen Kirchen nicht bestehen kann, weil eine solche Trennung nothwendig innerer Zwietracht gefahrliche Vorwände verleiht und den Ränken des Auslandes Thür und Angel öflhet." Eben dieser vorausgesetzte nationale Aufschwung habe zur Zeit Wallensteins freilich gefehlt. 60 Unter den „sehr veränderten Zeitumständen" des Jahres 1848 gestaltete sich die Sachlage in Gfrörers Augen jedoch anders. A m 13. April 1848 überreichte er Döllinger den eben erschienenen zweiten Band seiner „Geschichte der ostund westfränkischen Carolinger" mit dem Hinweis auf „einige kühne Worte" in der Vorrede. Die darin formulierten Vorschläge seien, so glaube er fest, „für den 58 Ausführlich, in rückblickender Perspektive Gfrörers, bei Gfrörer, Autobiographie (s. Lebenswege, Anm. 129), S. 22-24. 59 Den Verlauf des juristischen Nachspiels des Experiments mit der „Neckar-Zeitung" dokumentieren Gfrörers Briefe an Friedrich Wilhelm Carové, 1833-1840 (UB Freiburg/ Brsg., Autogr. 371-377). 60 Gfrörer, Wallensteins Schuld, S. 37/38.
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Öffentliches Handeln
Augenblick noch der nächsten Zukunft vorgreifend", insgesamt jedoch „zeitgemäß".61 So werde, fuhrt Gfrörer in dieser Vorrede aus,62 die „bevorstehende Wiederherstellung des Reiches", die an sich bereits seinen „heißen politischen Wünschen" entspreche, noch eine zweite große Folge haben, „nämlich die glorreiche Wiederaufbauung der alten deutschen Kirche." Gewissens- und Kultusfreiheit an so vielen Orten Deutschlands sowie die weitgehend gewährte „Unabhängigkeit der Kirche vom Staate" hätten dieses Ziel, „das nie durch Zwang erreicht werden könnte", in den Bereich des Realisierbaren gerückt. Jetzt, unter den Vorzeichen der herannahenden politischen Einheit, müsse es Verwirklichung finden, denn - dasselbe Argument wie in „Wallensteins Schuld" - : „die Fortdauer zweier herrschenden Kirchen, die seit 300 Jahren feindselig einander entgegenstanden, würde das Gemeinwesen, so gut und vollkommen auch die politische Verkittung der Nation gelingen mag, unfehlbar zerrütten." Um die Einheit also erst wirklich zu vervollständigen, gebiete demzufolge das „öffentliche Wohl", mit aller Kraft „auf Verschmelzung beider großen Religionsgemeinschaften, der deutschen Protestanten und der deutschen Katholiken, hinzuarbeiten." Von ihm, August Friedrich Gfrörer, ergingen zu diesem Behufe an „Se. Heiligkeit den jezt regierenden Pabst Pius DC." folgende Vorschläge: das Abendmahl in beiderlei Gestalt sei zu gestatten; der Gebrauch der deutschen Bibel auf der Basis einer ökumenischen Revision der Lutherübersetzung sei einzuführen; lateinische Riten und gottesdienstliche Zeremonien seien zu reduzieren „auf ein Maaß, das dem deutschen Charakter und unserer Erziehung angemessen ist"; die Bischöfe seien zu ermächtigen, Elemente der Volksfrömmigkeit und Heiligenverehrung, „welche den Prostestanten widerwärtig erscheinen, abzuthun"; bereits geschlossene Ehen solcher protestantischer Pfarrer, die sich bereit finden, mit ihren Gemeinden überzutreten, seien lebenslänglich zu gewährleisten; die Beichte sei in protestantischer wie katholischer Form zu gestatten, die Wahl der jeweiligen Form dem Gläubigen zu überlassen. „Gewährt uns der Pabst die bezeichneten Punkte, so können wir Protestanten mit Ehren übergehen, und ich sehe im Geiste voraus, daß eine große Masse dieß thun wird." Gfrörers Plan entwickelte keine ganz neuen Ideen. Die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung der beiden großen Bekenntnisse hatte ja bereits Bossuet in seiner Reformationsgeschichte bewegt.63 Von protestantischer Seite her entwickelte Leibniz ähnliche Ideen, worauf Onno Klopp später mit Vorliebe Bezug nehmen sollte. 64 Freilich konnten weder Bossuet noch Leibniz jenen Zusam61
Gfrörer an Döllinger, 13.4.1848 (BSB, NL Döllinger, Döllingeriana Π). Alles Folgende nach Gfrörer, Carolinger Π, Vorrede S. IV-VI. 63 Vgl. o. S. 364. 64 Klopp / Schnabel, S. 176. - Matzingers Ausführungen fallen auch über das „Vorbild Leibniz" (S. 174) nur sehr knapp aus. 62
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menhang zwischen nationaler Einigung und Kircheneinigung herstellen, den die katholisch orientierten Großdeutschen im neunzehnten Jahrhundert propagierten. Johann Friedrich Böhmer erörterte Gedanken dieser Art während seines ersten Besuches bei Joseph Görres im Juni 1824 in Straßburg. Görres hielt zu dieser Zeit eine nationale Einigung nur noch unter der Voraussetzung kirchlicher Einigung fur möglich. 65 Janssens Wiedergabe des Eindrucks der damaligen Worte Görres' auf Böhmer reflektiert treffend die Komplexität des Problemfeldes insgesamt: „logisch, scharf, tiefeinschneidend" seien Böhmer diese zwar erschienen, doch sei ihm „über das Wie der Einigung alles unklar" geblieben.66 Die großdeutschen Historiker erkannten bis über die Reichsgründung von 1871 hinaus eine unlösbare Verknüpfung zwischen dem Streben nach nationaler und demjenigen nach kirchlicher Vereinigung. Verschiedene Auffassungen bestanden aber darüber, welcher Teil Ursache und welcher Folge sei, welches Problem zuerst gelöst die Lösung des anderen nach sich ziehen würde. Stand nun die kirchliche Spaltung infolge der Reformation der nationalen Einigung entscheidend im Wege und forderte zuerst Beseitigung oder hatte die Reformation und in ihrem Gefolge die kirchliche Spaltung nur aufgrund der spezifischen „nationalen" Zersplitterung des Alten Reiches überhaupt Fuß fassen können, bedurfte es also vor allem der nationalen Einigung, damit auch die kirchliche stattfinden könne? Böhmer tendierte zur ersteren Position, 67 Gfrörer zur letzteren. Diese Wertungsunterschiede allein sagen bereits viel aus über die zugrundeliegenden persönlichen Prioritäten. Während Böhmer dem politischen Impetus nicht zutraute, die deutsche Uneinigkeit in der kirchlichen Frage auf Dauer erfolgreich über65
Vom Gedanken einer allgemein-christlichen Einigkeit entwickelte sich Görres im Laufe der zwanziger Jahre immer mehr in Richtung der Vorstellung einer Einigung auf katholischer Basis. Bereits in der Schrift „ E u r o p a und die Revolution" hatte er 1821 die „Wiederverjüngung der alten Lehre" als Voraussetzung eines erfolgreichen Erwachens Deutschlands zu nationaler Größe gefordert. Joseph Görres: Europa und die Revolution, in: ders., Politische Schriften 1817-1822, Köln 1929 (= Gesammelte Schriften, Bd. 13), S. 145-285, hier S. 268; vgl. hierzu auch die Einleitung von Heribert Raab zu Joseph Görres: Schriften aus der Straßburger Exilszeit 1824-1827. Aufsätze und Beiträge im „Katholik", Paderborn/München 1987 (= Gesammelte Schriften, Bd. 14), S. Xm-LXm, hier S. XXI. 66 Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 128. 67 ,Alles was bei uns im Innern gährt und sich in revolutionären Ausbrüchen bald entladen wird, unsere politische Machtlosigkeit und Versunkenheit, ja fast alle unsere Streitigkeiten in den letztvergangenen Jahrhunderten, wie heute, haben ihren eigentlichen Grund in der Kirchentrennung, die uns auseinander riß, und die man nicht überbrücken kann. Nur ein neuer Bonifacius, der uns die kirchliche Einheit wiederbrächte, könnte helfen; der kirchlichen Einheit würde bald die politische folgen." (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 278).
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brücken zu können, und die Möglichkeiten nationaler Einheit ohne vorangehende kirchliche Einheit erheblich pessimistischer beurteilte, glaubte Gfrörer an die integrative Kraft der politischen Einheitsidee: deren Sog, so war er überzeugt, mußte die kirchliche Einheit nach sich ziehen, mußte die „alte Nationalkirche", so wie er sie in den „Carolingern" zum Einheitsfaktor stilisierte, wiederherstellen. Freilich, trotz der umgekehrten Ursache-Wirkungs-Bestimmung glaubte auch er, wie Böhmer, an den unlösbaren Konnex der beiden Einheitsprobleme; das eine sei ohne das andere auf Dauer nicht zu beseitigen.68 Die Komplexität des Verhältnisses von „staatlichem" und „kirchlichem Einheitsband" beschäftigte die Großdeutschen noch lange über die achtundvierziger Zeit hinaus und brachte mitunter recht verklausulierte Formulierungen hervor. Janssen etwa bekannte 1861, er sei „immer der Überzeugung gewesen, daß, wie im Mittelalter das kirchliche Element zur Einigung des nationalen beigetragen, in unserer Zeit die Kräftigung des nationalen uns kirchlich einander näher führen wird. Oder finden Sie nicht auch, daß bei uns die größere oder geringere confessionelle Einseitigkeit der Historiker mit ihrem schwächeren oder stärkeren Nationalgefühl in gleichem Verhältniß steht?"69 Mit welcher Priorität auch immer - kirchliche Einigung vor der nationalen oder umgekehrt - : die Antwort auf die Frage nach dem „Wie" der Umsetzung des kirchlichen Wiedervereinigungsgedankens, die Böhmer bereits an den Überlegungen Joseph Görres' vermißt hatte, blieb in jedem Fall zu geben. Böhmer persönlich fiel dazu übrigens nur unwesentlich mehr ein, als das Erscheinen eines „neuen Bonifacius" einzufordern oder zu erhoffen. 70 Gfrörers Vorschläge hingegen bedeuteten tatsächlich einen Schritt in Richtung Politik: sie versuchten wenigstens, konkrete Antworten auf das „Wie?" zu liefern, die dann immerhin zur Diskussion standen und auch diskutiert wurden. Jener katholische Verein in München etwa, in dem 1849 Joseph Edmund Jörg mitarbeitete, beschloß „angesichts der in der protestantischen Kirche jetzt vor sich gehenden Veränderung, und unter ausdrücklicher Berufung auf Gfrörer's bekannte Vorrede, eine offene Addresse an die deutschen Bischöfe [zu] erlassen, mit dem Begehren, sie möchten den Protestanten zur Rückkehr in den Schoos der Kirche ,die Hand bieten'." Jörg berichtete an Döllinger, er habe „natürlich auf's nachdrücklichste, aus sehr einfachen Gründen" gegen das Vorhaben opponiert. 71 Diese „sehr einfachen Gründe" des orthodoxen Katholiken, in Gfrörers Eini-
68
Gfrörer, Carolinger Π, Vorrede S. IV. Janssen an Stälin, 24.5.1861 (WLB, Cod. hist. fol. 866). 70 S. Anm. 67. - In seiner Jugend hatte Böhmer zwar einmal den Plan gefaßt, ein Kompendium von Reformatorenschriften - ähnlich der „Reformation" Döllingers - zusammenzustellen, um eine Basis für ein besseres Kennenlernen der getrennten Konfessionen zu liefern. Zur Ausführung war dieser Plan jedoch nie gediehen; s. o. S. 219. 71 Jörg an Döllinger, 9.3.1849 (Jörg, Briefwechsel, S. 32). 69
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gungsplan nicht einstimmen zu können, liegen auf der Hand, forderte dieser doch nichts weniger als tiefgreifende Einschnitte ins Herz katholischer Dogmatil: mit Abendmahl und Beichte stellte Gfrörer immerhin zwei sakramentale Grundpositionen des orthodoxen Katholizismus zur Disposition. Das war nicht nur unrealistisch, sondern einfach naiv. Auf einer solchen Basis mußte Gfrörers redliches Bemühen, die Frage nach dem „Wie?" zu beantworten, scheitern. Dem maßgeblichen Teil der Katholiken erschien sie von vornherein inakzeptabel. Daß die von Gfrörers Euphorie mit der für ihn typischen Logik - was unter Vernunfiaspekten zur Erreichung eines Idealzustandes wünschbar sei, müsse realiter schließlich auch eintreten - prophezeite kirchliche Wiedervereinigung tatsächlich in weiter Ferne lag, erkannte Hurter sehr viel deutlicher. Ohne Gfrörers Plan kennen zu können, antizipierte er doch exakt dessen Schwäche: „Oftmals kreuzen sich wunderliche Begriffe und Vorstellungen über Möglichkeit einer Wiedervereinigung in den Köpfen. Man hört Protestanten häufig sagen: was wir zu wenig haben, das haben die Katholiken zu viel, die Sache wäre bald gethan, wenn die Einen abliessen und die Andern annähmen. Sie stellen sich die Sache vor wie einen Markt, bei dem der Eine fordert, der Andere bietet, und man allgemach immer näher sich rückt, bis endlich der Handel zum Abschluß gedeiht. [...] Man möchte solche Äusserungen die Stimme des praktischen Lebens nennen, die [...] bei Werthung des Wesentlichen in Unklarheit und Irrthum sich verläuft." 72 Auch Döllinger, dem der Gedanke nationaler Einigung bei weitem nicht so fremd war wie Hurter, lehnte Gfrörers Plan noch 1861 mehr oder weniger direkt ab. Zwar gesteht auch er in „Kirche und Kirchen" zu: „Die Wiedervereinigung der katholischen und der protestantischen Confessionen in Deutschland würde, wenn sie jetzt oder in nächster Zukunft zu Stande käme, in religiöser, politischer und socialer Beziehung das heilbringendste Ereigniß für Deutschland, für Europa sein." Jedoch sei,glicht die geringste Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß diese Vereinigung in der nächsten Zeit zu Stande komme." In fünfzehn Punkten, die sich inhaltlich auch auf jene von Gfrörer angesprochenen beziehen, begründet Döllinger diese Behauptung aus der Sicht der orthodox-katholischen Dogmatik auf das Genaueste.73 Gfrörer selbst griff weder in seinen Reden als Abgeordneter der Nationalversammlung noch in seiner Publizistik rund um die Paulskirche den Plan noch einmal auf. 74 Die kirchenpolitische Debatte entwickelte sich in eine andere
72
Hurter, GuWn, S. 66. Döllinger, Kirche und Kirchen, Vorrede S. ΧΧΙ-ΧΧΧΠ, Zit. S. XXI. 74 Gfrörer sprach in der Paulskirche dreimal, am 29.8.1848 in der Grundrechtsdebatte über die Religionsfreiheit, am 11.12.1848 in der Verfassungsdebatte über das Staatenhaus sowie am 30.5.1849 in der Diskussion über eine Verlegung der Versammlung nach Stuttgart. Vgl. Wigard, Stenographischer Bericht m, S. 1783-1786; VI, S. 4042-4044; IX, S. 6783/6784; K. D. Häßler (Hg.): Verhandlungen der deutschen verfassunggeben73
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Richtung. In den Vordergrund drängte sich die Frage nach den Freiheitsrechten der Kirche im neuzugestaltenden Staat. Auch auf dem flankierenden Katholikentag zu Mainz 1848 scheint eine Diskussion über Gfrörers Einheitsplan keinen breiteren Raum eingenommen zu haben.75 Trotzdem: die lapidare Feststellung der Unmöglichkeit jener Wiedervereinigung schaffte die grundsätzliche Problematik von „nationalem" und „kirchlichem Einheitsband" nicht aus der Welt. Sie kehrte auch, wie die kurzen Blicke auf Klopp oder Janssen zeigen, in den geschichtspolitischen Argumentationen der Zeit nach 1849 wieder. Als genuin großdeutsch-katholizistische Problematik berührte sie freilich den Befürworter der kleindeutsch-protestantischen Reichseinigung in der Regel nur am Rande. Wer die Reformation als „deutsche" Heldentat sah, in deren Tradition sich die deutsche Geschichte auf eine kleindeutsche Reichseinigung hin weiterbewegte, der mußte sich nicht unbedingt bemühen, Gräben zu überbrücken. Wer
den Reichsversammlung zu Frankfurt am Main, 6 Bde., Frankfurt/M. 1848/49, hier Bd. I, S. 556; m, S. 256; VI, S. 38/39. Mann, Die Württemberger und die deutsche Nationalversammlung, referiert v. a. das Abstimmungsverhalten. - Ein Brief Gfrörers an Fürst Waldburg-Zeil vom 18.2.1849 mit dem Vorschlag, gegen den „verruchten Plan" der „preußischen Partei" in Frankfurt einen süddeutschen Adelstag zur Unterstützung des großdeutschen Gedankens anzuberaumen, bei Demeter, S. 40/41. - Wichtige Zeitungs- und Zeitschriftenartikel Gfrörers zur Offenburger Versammlung vom März 1848 sowie zu Themen der Nationalversammlung: August Friedrich Gfrörer: Die Volksstimmung und die Offenburger Versammlung, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 26.3.1848, S. 1371/1372; ders.: [Über die Freiburger Volksversammlung am 26.3. 1848], in: Allgemeine Zeitung vom 30.3.1848, S. 1427; ders.: Herunter mit der Maske! Aus der „Rheinischen Volkshalle" besonders abgedruckt, Köln [Okt.] 1848 [über Art. 2 und 3 des Verfassungsentwurfes]; ders.: Das Staatenhaus und die geheimen Pläne, denen es dienen soll, in: Beilage zur Neuen Münchner Zeitung vom 15.12.1848 (ohne Paginierung); dass. u. d. T. „Das Staatenhaus" in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 18.12.1848, S. 5565-5568; ders.: Noch einfrommer Wunsch in der Verfassungsfrage. (Eine Stimme aus Schwaben.), in: ebd., 28.12.1848, S. 5721/5722, S. 5738-5742; ders.: Was ist zu thun? Vorschläge eines deutschen Reichsbürgers, in: Deutsche VierteljahrsSchrift 1848, Zweites Heft, S. 341-360. - Über die Autorzuweisungen dieser Artikel an gegebener Stelle mehr; vgl. Anm. 57. 75 Das Streben nach Wiedervereinigung der Konfessionen erschien nicht als ausdrücklicher Vereinszweck im Sinne der Statuten des „Katholischen Vereins Deutschlands", der sich auf der Mainzer Versammlung im Oktober 1848 konstituierte. Vgl. Verhandlungen der ersten Versammlung des Katholischen Vereines Deutschl 3., 4., 5. und 6. Oktober zu Mainz, Mainz 1848; ausführlich, mit Auszügen aus den Statuten Art. „Piusverein - Katholischer Verein - Entstehung und Geschichte", in: Wetzer und Welte 12 (1856), S. 989-997; Ludwig Lenhart (Hg.): Idee, Gestalt und Gestalter des ersten deutschen Katholikentages in Mainz 1848. Ein Gedenkbuch zum Zentenar-Katholikentag, Mainz 1948; allgemein: Johannes Horstmann: Katholizismus und moderne Welt. Katholikentage, Wirtschaft, Wissenschaft, 1848-1914, Paderborn 1976 (= Abhandlungen zur Sozialethik, Bd. 13).
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aber andererseits die Reformation als Spaltung bewertete, deren Folgen die deutsche staatliche Zerrissenheit zementierten, indem sie diese mit einer geistigkonfessionellen Spaltung zusätzlich überzogen, der mußte auf dem Weg zur Einheit beide Spaltungen überwinden. Wer sich schließlich dem Katholizismus so wenig orthodox näherte wie Gfrörer, der konnte, um im Sinne jener doppelten Einigung zu wirken, ohne weiteres tiefgreifende Einschnitte in das katholische Dogma fordern. Natürlich mußte er sich dann dem Vorwurf aussetzen, dieses Dogma nicht richtig zu verstehen, im Falle Gfrörers sicher nicht ganz zu Unrecht. Trotz seiner Konversion von 1853 entwickelte sich Gfrörer nie zum orthodoxen Katholiken; er blieb zeitlebens ein großdeutscher Pragmatiker, der vom Katholizismus eben so viel übernahm, wie er für die Ausgestaltung seines Einheitsideals benötigte. Durch jene eindeutig wertende politische Pragmatik entging Gfrörer einem Dilemma, mit dem sich nach 1848/49 die orthodoxeren katholischen Historiker verstärkt konfrontiert sahen: während ihr Geschichtsbild die doppelte, die (groß)deutsche staatliche und die kirchliche Einheit forderte, ließ ihnen ihre Bindung an das katholische Dogma kaum Spielraum, um die Hand zur Erlangung letzterer zu reichen. Im Gegenteil, die Kirche pochte noch besonders auf die Wahrung ihrer spezifischen Eigenheiten und Selbständigkeiten. Mit dieser zunehmenden gespannten Distanz der katholischen Kirche zum modernen Staat, die auch die Aussichten auf eine Wiedervereinigung der Konfessionen nicht unbedingt verbesserte, öffnete sich jene Schere nur noch weiter. Die großdeutsch-katholischen Historiker fanden sich in verstärktem Maße hin- und hergerissen zwischen ihren Bindungen an die katholische Kirche und ihrem historisch motivierten politischen Streben nach jener doppelten Einheit. Beides zu vereinen, gestaltete sich extrem problematisch. Verschiedene Wege eröffneten sich, um diesem Dilemma zu entkommen. Welchen aber der Einzelne auch ging: die Gruppe der großdeutschen Historiker selbst zerfiel dadurch in immer größere Heterogenität. 4. Vorschläge zu einer Neugestaltung Deutschlands: Johann Friedrich der „ mitteldeutsche Handelsverein " und die Triasidee
Böhmer,
Stand Johann Friedrich Böhmer der Kircheneinigungsfrage relativ ratlos gegenüber, so fielen wenigstens seine Vorschläge hinsichtlich einer politischen Einigung konkreter aus. Auf diesem Felde fühlte er sich aber auch eher heimisch. Die Zeiten wirklich aktiven Engagements lagen um 1848 für Böhmer freilich weit zurück; seit langem schon beschränkte er sich auf das Kommentieren. Aber die Richtlinien des Kommentars waren denjenigen von 1828 gleichgeblieben, als Böhmer hinter seinem Freund, dem Bürgermeister Johann Gerhard Christian Thomas an der Errichtung des „mitteldeutschen Handelsvereines" mitgewirkt hatte. Im Gegensatz zu Gfrörer lehnte Böhmer Zentralisie-
29 Brechenmacher
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Öffentliches Handeln
rungstendenzen ab, favorisierte föderative Prinzipien auf der Basis der Strukturen des Alten Reiches, in dessen Regionalismus er Relikte des alten Stammesindividualismus wiedererkannte. Die organische Vielfalt deutschen staatlichen Lebens gemäß den überlieferten Rechten und Freiheiten mußte in den Augen Böhmers als Voraussetzung einer Neuordnung Deutschlands immer Beachtung finden. Verschiedene Motivationen ergänzten sich zu Böhmers Eintreten für den Mitteldeutschen Handelsverein. Schon 1828 verschmolz zur politischen Aktion, was er später auf dem Felde der Geschichtsschreibung immer wieder propagieren sollte. Sein rheinfränkischer Stammespatriotismus ließ ihm vor allem die preußische Rheinprovinz als ein unnatürliches Gebilde erscheinen. Gegen diese hatte er bereits 1822 mit einer „Geschichte der rheinischen Heiligen" sowie mit ,3riefen an einen rheinländischen Jüngling. Über Wissenschaft, Kunst und Vaterland" anschreiben wollen, „um die Rheinländer auf ihre Eigenthümlichkeit und Geschichte aufmerksam zu machen und dafür zu begeistern." 76 An die Aufforderung des „Additamentum primum", seine rheinfränkischen Landsleute möchten sich doch ihres „wahren namens" erinnern, knüpfte er noch 1845 ein politisches Fragment über ein zu schaffendes „Königreich Rheinfranken" als eines Alternativmodells zur preußisch beherrschten Rheinprovinz. 77 Böhmer erkannte in Forderungen dieser Art keinerlei Widerspruch zum Verlangen nach Einheit der „Nation". Ja, die Existenz souveräner Klein- und Mittelstaaten erscheint immer als ein ausdrücklicher Bestandteil seines Einheitskonzeptes. Die Kleinstaaterei, führte er noch 1852 aus, sei in Deutschland schlichtweg nicht abzuschaffen; sie wurzle in der Geschichte und werde im übrigen gegenwärtig auch noch vom Ausland gehalten. „Die Souveränitätsberechtigung der Mittelstaaten" schließlich sei „doch nicht so schlecht, wie die Borussen immer behaupten [...]. Sachsen, Schwaben, Bayern, Franken waren immer nur lose verbunden, auch zu den Zeiten der größten Einheit des Reiches." Im Gegenteil, „der Pfahl in unserm Fleisch ist eigentlich Preußen": 78 dieses Grundurteil galt Böhmer 1852 ebenso wie zur Zeit des Mitteldeutschen Handelsvereins. Noch eine dritte Vorgabe motivierte Böhmers politisches Handeln: der Triasgedanke. Die Vorstellung, „daß sich die Mittel- und Kleinstaaten als dritte im Bunde einheitlich organisiren sollten", schrieb er im August 1859 an Döllinger über die Pläne Julius Fröbels, sei von jeher die seinige gewesen. „Aber es ist doch gar keine Aussicht auf eine Realisirung, die Dynasten sind dagegen, die
76
Böhmer an Passavant, 8.8.1822 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 106). Böhmer, Additamentum primum, Vorrede, S. IV. - Teilweise Wiedergabe des Fragments über das Königreich Rheinfranken bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 271/272. 78 Böhmer an F.B. Hurter, 31.1.1852 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΙΠ, S. 59). 77
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Preußen und Gothaer sind dagegen, die aller-allermeisten sind gleichgültig." 79 In Böhmers Sympathie für den Trias-Gedanken durchdrangen sich seit den zwanziger Jahren wiederum zwei separate Momente. Die Rheinbundstaaten Bayern, Württemberg und Baden hätten auf dem Wiener Kongreß „den Standpunct ihrer bonapartistischen Souverainetät nicht verlassen" wollen und hätten durch ihre Halsstarrigkeit eine sinnvollere Restitution, als schließlich im Deutschen Bund zustande kam, verhindert. 80 Also besäßen diese Staaten nun auch die Pflicht, durch eine gemeinsame deutsche Politik den angerichteten Schaden wiedergutzumachen. 81 Gegenüber dieser Argumentation der Schrift über das Zollwesen drängte sich bereits seit einem etwa gleichzeitigen Fragment „Über die politische Notwendigkeit einer engen Verbündung der mittleren und kleineren Staaten Süddeutschlands" eine zweite langsam in den Vordergrund. Der Bund des dritten Deutschland müsse sich formieren, um willkürlichen Übergriffen der beiden großen Mächte wirksam entgegentreten zu können. „Österreich und Preußen sind ihnen [den mittleren und kleinen Staaten] allzumächtig und so wenig haben sie in der öffentlichen Meinung eine Garantie gegen dieselben, daß das Gerücht schon einige mal geglaubt werden konnte, es sollte trotz der mit ihnen eingegangenen Bünde eine Veränderung mit ihnen vorgenommen wer-
79
Böhmer an Döllinger, 16.8.1859 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΙΠ, S. 302/ 303); Janssen publizierte diesen Brief aus dem Konzept unter dem Titel „An einen Freund in München"; Böhmer hatte den Entwurf jedoch nicht abgesandt, sondern am gleichen Tag einen anderen Brief, zum Teil identischen Inhalts an Döllinger gesandt, der sich heute im NL Döllinger befindet (BSB NL Döllinger, Döllingeriana Π). Aus dem Vergleich der beiden Briefe geht eindeutig hervor, daß auch der von Janssen edierte Entwurf an Döllinger gerichtet war. - Ähnliche Aussagen Böhmers zur Trias-Idee im Brief an F.B. Hurter vom 15.8.1859 (ebd., S. 300). 80 Böhmer, Das Zollwesen in Deutschland, S. 76/77. „Diese [...] Ansicht und die Unbewiesene Nachgiebigkeit ist also die Ursache, weßhalb die Bundesacte [...] so viel an Ausdehnung, Fertigkeit und Bestimmtheit zu wünschen übrig ließ, und daß nur darum deren Unterzeichnung nicht zurückzuhalten war, weil ein unvollkommener Bund besser schien, als gar keiner, und weil es der Bundesversammlung zu Frankfurt [...] frei blieb, den Mängeln abzuhelfen." (ebd., S. 77/78). - Zur bonapartistischen Souverainetät vgl. o. S. 331/332. 81 Ebd. sowie zusätzlich Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 174: „Wollen diese Staaten [die ehemaligen Rheinbundstaaten], nachdem nun einmal durch ihre Schuld die deutschen Dinge so gründlich verfahren worden, doch noch gleichsam in letzter Stunde Etwas zugunsten der nationalen Sache thun, so müssen sie sich unter einander enge verbinden und neben Österreich und Preußen eine dritte geschlossene Macht' in Deutschland bilden, fähig der Willkür, komme sie von Norden oder Süden, entgegenzutreten." 2*
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den." 82 Böhmer bewegt da die Angst vor einem unaufhaltsam vordringenden Zentralismus, der jener von ihm so oft hochgelobten Vielfalt auf der Basis des Alten und Gewachsenen ein Ende bereiten könnte. Zwar nennt er in diesem Zusammenhang auch Österreich als möglichen Gefahrenherd, die Spitze seines Bestrebens kehrt sich jedoch eindeutig gegen Preußen. Die deutsche Trias tritt in Böhmers politischer Vorstellungswelt der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre als der Bannerträger der alten Ordnung gegen die neue absolute Staatlichkeit auf. Rheinfränkischer Patriotismus sowie die Forderung nach der verbündeten Weiterexistenz souveräner Klein- und Mittelstaaten ergänzen sich zum Engagement für den Mitteldeutschen Handelsverein. Daß eine Wirtschafts- und Zollunion wichtige Prämissen schaffe in Hinsicht auf die „nationale" Einheit Deutschlands, stand für Böhmer außer Frage. Freilich sollte auch dieses Problem im Sinne einer Rückführung auf die Zustände der idealisierten älteren Reichsverfassung seine Lösung finden. Zölle zu erheben, so lautete Böhmers Grundposition, galt seit dem fränkischen Reich als königliches, später im Heiligen Römischen Reich als kaiserliches Alleinrecht, dessen sich Territorialfürsten auf keinen Fall bemächtigen durften, es sei denn, durch ordnungsgemäße Belehnung. Die Anmaßung von Zoll- und Wegerechten durch jeden Duodezherrscher sei als Fehlentwicklung zu betrachten, die schließlich in der „bonapartistischen Souverainetät" auch noch Bestätigimg gefunden habe. Wenn also im Deutschen Bund seit 1815 ein Zollchaos herrsche, sei dies nicht in erster Linie Folge der unzulänglichen alten Reichsverfassung, sondern Folge dieser Addition aus zollrechtlicher Fehlentwicklung und „bonapartistischer Souverainetät". Weil jeder Einzelstaat auf seinen willkürlichen Souveränitätsrechten bestehe, sei in der Zollfrage weder auf dem Wiener Kongreß noch auf dem Bundestag bisher Entscheidendes geschehen. Freilich aber versuchten nun einige Staaten, voran Preußen, ihre eigene Zollpolitik zu treiben. Indem sie diese zur Einheitsfrage hochstilisierten, seien sie indes lediglich bestrebt, einen Deckmantel zu finden, um zugunsten der Ausdehnung ihrer eigenen zentralisierenden Macht eine wirtschaftliche Annexionspolitik treiben zu können.83 „Der Eindruck, welchen diese Maßregel [das preußische Gesetz 82 Johann Friedrich Böhmer: Fragment „Über die politische Notwendigkeit einer engen Verbündung der mittleren und kleineren Staaten Süddeutschlands" (UB Frankfurt/M., NL Böhmer F Ι Π 7), S. 2 V . 83 Gedrängte Wiedergabe des Gedankenganges der Schrift „Das Zollwesen in Deutschland". - In Kap. I der Schrift faßt Böhmer die „Geschichte des Zollwesens im deutschen Reiche" zusammen. Hier Abs. 12: „Wenn nun nach den bisher erörterten Eigenschaften das Zollrecht imfränkischen Reiche lediglich ein königliches Alleinrecht gewesen ist, und Niemand die Befugniß zugestanden hat, den Reisenden etwas in den Weg zu legen: so folgt hieraus von selbst, daß die Handelsstraßen zu Wasser und zu Land überhaupt kein Gegenstand des Privat- und Territorialbesitzes seyn konnten, sondern als unter besonderm königlichen Schutz und Oberherrlichkeit stehend gedacht
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über Zoll und Verbrauchssteuer vom Mai 1818] in Deutschland machte, und die Folgen, welche sie hatte, sind bekannt. Eine Anzahl deutscher Bundesstaaten schloß sich an Preußen an, theils nur in Bezug auf ihre ganz von Preußen umschlossenen [...] Landestheile, theils mit ihren an der preußischen Gränze gelegenen Länderstücken, theils endlich und freiwillig mit ihrem ganzen Staat. Zu diesen gehört Hessendarmstadt vermöge des Vertrags vom 8. März 1828. Dieser letzte Vorgang durchschnitt die Haupthandelsstraße, welche das südliche Deutschland mit Churhessen, den sächsischen Ländern, Hannover und den Hansestädten verbindet, und rief am 24. Sept. 1828 den sogenannten mitteldeutschen Handelsverein hervor. Dieser war der letzte Versuch, von dem, was einstens als gemeines deutsches Recht und Freiheit gegolten, so viel wie möglich, wenigstens vertragsweise, zu sichern." 84 Bürgermeister Thomas gehörte in seiner damaligen Eigenschaft als Frankfurter Stadtkämmerer zu den Mitunterzeichnern dieses Handelsvertrages. 85 Böhmer leistete im Hintergrund „geistige Waffenhilfe", 86 über die er wenige Jahre später in seiner Schrift „Das Zollwesen in Deutschland" Rechenschaft ablegte. Freilich mußte auch er bald erkennen, daß der Mitteldeutsche Handelsverein ein von vornherein „sterbender Sonderbund" 87 war: sein rein „negativer Zweck, die einzelnen Staaten von ähnlichen Schritten abzuhalten wie derjenige war, welchen Hessen-Darmstadt im Februar 1828 gethan hatte" - sich dem preußischen Zollgesetz anzuschließen - , konnte ihn auf Dauer nicht am Leben erhalten. Die Hoffnungen auf einen „Beitritt der süddeutschen Staaten, namentlich Baierns [...], welches berufen schien an die Spitze des Vereins zu treten", trogen. 88 Unter der langsamen Annäherung der nördlichen und südlichen, vor allem des preußischen und des bayerisch-württembergischen Zollvereins, zerbrach der mitteldeutsche recht bald.
werden müssen." (ebd. S. 5). Dieselbe Ausgangssituation gelte für das Heilige Römische Reich. 84 Ebd., S. 90/91. 85 Böhmer, Nachruf Thomas (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΙΠ, S. 471). 86 Kleinstück, S. 235; ebd., S. 234-239 weitere Einzelheiten. 87 So die Charakteristik Heinrich von Treitschkes: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. IV [1890], ND Leipzig 1927, S. 346, der auch Böhmers Engagement („einer der edelsten und gelehrtesten Vertreter deutscher Wissenschaft") für den Mitteldeutschen Handelsverein erwähnt. - Zu den Fakten der deutschen Zollvereinspolitik vgl. Wilhelm Treue: Gesellschaft, Wirtschaft und Technik Deutschlands im 19. Jahrhundert (= Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. ΙΠ, Teil 4, §§ 67-89, hier zit. nach der Taschenbuchausgabe, Bd. 17), München 1982, S. 68-80; zum Mitteldeutschen Handelsverein ebd., S. 69/70. „Der Verein war mehr destruktiv als konstruktiv." (ebd., S. 70). 88 Böhmer, Nachruf Thomas (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΙΠ, S. 472).
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Böhmer zeigte sich über den gesamt(klein)deutschen Zollverein von 1834 nicht erfreut. 89 Er befürchtete einen schleichenden Ausverkauf all jener Werte, die er an Deutschland und dessen Geschichte schätzte, zugunsten eines borussozentrischen Einheitsstaates. Den Mitteldeutschen Handelsverein unterstützte er als eine Art Präfiguration jenes Bundes der Dritten, die er zeitlebens für die Verwirklichung deutscher Einheit in seinem Sinne in die Pflicht nahm. Böhmers geschichtliches Denken und Werten führte ihn zum Versuch politischer Mitwirkung, zur Unterstützung jenes Handelsvereines. Dieser Versuch scheint weder naiv noch idealistisch, sondern für die Gedankenwelt Böhmers nur konsequent. Eine Enttäuschung blieb ihm mit dem Scheitern des Handelsvereines nicht erspart. Den Schwerpunkt seiner Wirksamkeit verlagerte er fortan auf die Geschichtswissenschaft, auf das Regestenmachen. Hier erkannte er das ihm bestimmte Feld „vaterländischer" Tätigkeit, nicht in weiterer aktiver Tagespolitik. Politischer Kommentare freilich, auch politischer Aufzeichnungen, die jedoch meist im Fragmentarischen steckenblieben, entschlug er sich gleichwohl nicht. Immer wieder erschien in diesen Kommentaren der Gedanke der deutschen Trias mit starker Betonung des Aspekts einzelstaatlicher Souveränität. 90 Auch Böhmers Kritik an der Arbeit der Frankfurter Nationalversammlung ging von dieser Grundvorstellung aus. Abgesehen von seiner grundsätzlich distanzierten Haltung, die bereits aufgrund der Zusammensetzung die Legitimation des Parlaments überhaupt in Zweifel zog 91 und dessen Arbeitsweise lediglich als Verzettelung machtloser Professoren im nebensächlichen Detail charakterisieren 89
Ebd. In einem Fragment aus den vierziger Jahren beschreibt er die Gesamtlage Deutschlands seit 1815 nach dem Modell dreier gleichstarker Teile, „deren jeder ein verschiedenes Schicksal hatte": Österreich habe „allein und verlassen, nicht ohne Ungeschick und Unglück aber mit Ehre, den Kampf gegen den Feind des Vaterlandes bestanden" und stehe nun erschöpft aber redlich da. Preußen habe sich vergrößert und versucht, „seine verschiedenen Lande in einen neuen einheitlichen Staat zu verwandeln." Dabei sei aber nur eine ,3eamtenhierarchie" entstanden, „die nicht dem Land, sondern dem Staate angehört." Das dritte Deutschland schließlich habe seine Aufgabe verfehlt. „Diesen schien vor allen Dingen enges Zusammenhalten geboten, um vereint bei vergrößerten Verhältnissen eine Rolle zu übernehmen, etwa wie sie einst die der Schweiz gewesen. Aber ein solcher Verein kam nicht zu Stande [...]. Sie blieben vereinzelt und darum ohne politische Bedeutung." Auch der alte Vorwurf aus der Schrift über das Zollwesen erscheint wieder: die ehemaligen Rheinbundstaaten hätten sich auch nach dessen Ende weiterhin zu sehr an „französischen Ansichten" orientiert, als sich „auf deutsche Grundlage gestellt, welche die Regierenden scheuten, obwohl das Volk sein altes Recht wünschte." (UB Frankfurt/M., NL Böhmer, unbetiteltes Fragment F ΠΙ 13; in Auszügen wiedergegeben bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 304, Anm. 1). 91 Über die Zusammensetzung der Nationalversammlung verfaßte Böhmer am 17. Dezember 1848 ein Fragment (UB Frankfurt/M., NL Böhmer, unbetiteltes Fragment F ΠΙ 14; wiedergegeben bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 305-307). 90
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konnte, vermißte Böhmer den einheitlichen und inhaltlich klaren Willen zur Umgestaltung. „Glauben Sie doch ja nicht", begann er, wahrscheinlich im Dezember 1848, eine als , 3 n e f an einen Freund" abgefaßte politische Betrachtung, „daß hier (im Parlament) irgend ein klarer Wille das Steuerruder lenke." Auf welche Weise ein solcher Wille seiner Ansicht nach zu einer Neugestaltung Deutschlands führen sollte, verheimlichte Böhmer nicht: „Ich für meinen Theil nehme keinen Anstand Ihnen zu sagen was ich für Deutschlands Neugestaltung möglich und daher auch für vernünftig halte. Eine gänzliche Einheit hat Deutschland nie gekannt, es wird sich daher die selbe auch jetzt nicht gefallen lassen. Die Baiern, Wirtenberger, Hessen, Hannoveraner wollen keine Preußen werden, sondern das bleiben was sie sind aber in einem einheitlicheren, populäreren und wirksameren Gesammtverband als der deutsche Bund von 1815 gewesen. Wenn eine Deputirtenversammlung geschaffen wird, deren Mitglieder wenigstens theilweise von den landständischen Versammlungen gewählt werden, so würde der Antheil der Nation an ihren Geschicken gewahrt sein. In einem Staatenhaus würden die Regierungen der einzelnen Länder vertreten sein unter dem Präsidium eines aus den nachgebornen Fürsten auf Lebzeit gewählten Reichsverwesers, dessen verantwortliche Minister die executive Behörde bildeten. Dissensfalle zwischen beiden Versammlungen würden durch Austräge entschieden. Diese Verfassung würde sich den vorhandenen Zuständen anschmiegen, wäre allgemein verständlich, würde Ostreich nicht ausschließen und ließe sich im Ganzen in wenigen Paragraphen fassen." 92 Sehr unterschiedliche Intensitäten kennzeichnen den aktiven Anteil großdeutscher Historiker erster Generation an der Tagespolitik. Während Hurter und Böhmer sich 1848 bereits weitgehend auf das Feld des Kommentars zurückgezogen hatten, gerieten Döllinger und Gfrörer in diesem Jahr als Abgeordnete mitten hinein ins Zentrum des politischen Geschehens. Wie im Einzelfall auch immer: keiner dieser Historiker verleugnete den Zusammenhang von Geschichte und Politik, jeder versuchte ihn entsprechend seinen Möglichkeiten, seinen Anlagen und Erfahrungen in öffentliches Handeln umzusetzen. Diese Haltung fand ihre Fortsetzung auch in der zweiten und dritten Generation, in den Abgeordneten Cornelius, Hüffer und Janssen, in den diplomatischen Missionen Onno Klopps und schließlich in Ludwig Pastor, der seine Karriere nach dem ersten Weltkrieg als österreichischer Geschäftsträger und Gesandter beim Vatikan beschloß.93 Sicher, jedem dieser politisierenden Gelehrten waren Gren92 Johann Friedrich Böhmer: Unbetiteltes Fragment, wahrscheinlich vom Dezember 1848; von Janssen ,3rief an einen Freund" genannt (UB Frankfurt/M., NL Böhmer, unbetiteltes Fragment F ΠΙ 13; wiedergegeben bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 301-304, Zit. S. 304). 93 Zu Cornelius s. Traditionsstränge, Anm. 290. - Zu Hüffer vgl. dessen Lebenserinnerungen, Kap. 8: „Im preußischen Abgeordnetenhause", Kap. 9: „Der Norddeutsche
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zen gesetzt. Von Döllinger vielleicht abgesehen, flössen gerade aus ihrer Gelehrsamkeit jene Hemmnisse, die den Blick für die Realitäten oftmals verstellten. Wie sonst wäre die stupende Naivität zu erklären, mit welcher Gfrörer die Konfessionsspaltung aufhob und Böhmer in wenigen Paragraphen die deutsche Einheits- und Verfassungsfrage löste? Solche Ansätze konnten nicht wirklich politisch gestalten, allenfalls w//gestalten. Aber nicht die tatsächliche Macht oder politische Effizienz, sondern das Bewußtsein, das Mitgestalten-Wollen, scheint konstitutiv für die Haltung jener Historiker, in der sie sich in keiner Weise von ihren kleindeutsch-protestantischen, „politischen" Historikerkollegen unterschieden: das Bewußtsein, nicht in passiver Gelehrsamkeit ruhen zu dürfen, sondern einer öffentlichen Aufgabe, einer Pflicht des Mitsprechens nachkommen zu müssen.
IL Gestalter der Fachwissenschaft Neben dem Feld der hohen Politik entwickelte sich zum Forum „öffentlichen Handelns" in zunehmendem Maße auch der Bereich der Fachwissenschaft. In diesem genuinen Schafifenskreis der Historiker ergab sich sehr viel mehr als in der Tagespolitik die Möglichkeit zu wirklicher Gestaltung. Gleichzeitig bestanden gute Chancen, über die Brücke dieser fachwissenschaftlichen Gestaltung hinwiederum politisch ^//gestaltenden Einfluß zu nehmen. Wem es gelang, der Geschichtswissenschaft insgesamt oder in Teilen seinen Stempel aufzudrücken, ihr inhaltlich wie methodisch eine Richtung zu geben, der konnte mit erheblicher öffentlicher, politischer Resonanz rechnen. Wenn auch der Kampf um den prägenden Einfluß auf die deutsche Geschichtswissenschaft erst im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre richtig entbrannte, fielen doch die Weichenstellungen bereits in die Zeit vor der Revolution von 1848, blieben Vorboten dieses Kampfes nicht aus: die Parteien bezogen Stellung in jenen Jahren.
Reichstag"; - Johannes Janssen ließ sich 1875 ins preußische Abgeordnetenhaus wählen, um diesem ein Jahr lang als Mitglied der Zentrumsfraktion anzugehören; vgl. Pastor, Aus dem Leben des Geschichtschreibers Johannes Janssen, S. 39-71: Auszüge aus Janssens Berliner Tagebüchern. - Über Klopps politische Aktivitäten Matzinger, S. 46-140: „Onno Klopp am Weifenhof zu Hannover", „Onno Klopp und der weifische Widerstand 1866-1871", „Onno Klopp als österreichischer Staatsbürger". - Zu Pastor vgl. Pastor / Wühr, Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, Kap. VIII/IX: „Österreichischer Gesandter am Vatikan 1920-1928."
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1. Geschichtswissenschaft in Deutschland während der vierziger Jahre: Runkels Böhmer-Pamphlet Daß in diesen aufkeimenden Stellungskämpfen auch großdeutsch orientierte Historiker dezidiert Position beziehen mußten, wollten sie furderhin Gehör in größerer Öffentlichkeit beanspruchen, verstand Höfler besser denn der noble Böhmer, der, aller Polemik abgeneigt, die hehre Meinung verfocht, reine Wissenschaft spräche im Zweifelsfalle immer für sich selbst. „Verachtendes Stillschweigen", wozu Böhmer riet, schien Höfler einem Pamphlet gegenüber jedenfalls nicht angebracht, welches Ende 1845 ein Dr. Martin Runkel aus Koblenz unter dem Pseudonym ,Adolph Freimund' gegen Böhmers überarbeitete Regesten sowie dessen „Fontes" publizierte: „Die historisch-politische Schule und Böhmer's geschichtliche Ansichten. Eine deutsche Kritik." 9 4 Wenngleich jener Martin Runkel weder dem Kreis namhafter deutscher Geschichtsforscher angehörte noch die Art seiner Streitschrift auf seine Bereitschaft schließen ließ, eine wissenschaftliche Diskussion im Rahmen gängiger Spielregeln zu führen, konnte gerade seine polemische Impertinenz der ehrlichen Böhmerschen Arbeit und den in dieser vertretenen Geschichtsanschauungen erheblichen Schaden zufügen. Zielte diese Kritik doch nicht auf eine Beeinflussung des Urteils der Fachgenossen, sondern vielmehr auf die Manipulation „öffentlicher Meinung" ab. Eine Art von Geschichtswissenschaft sollte darin als die allein richtige verkauft, eine andere als völlig verfehlt diskreditiert werden. Freimund/Runkel führte auf niederem Niveau vor, mit welchen Mitteln die Diskussion um die Dominanz innerhalb der Geschichtswissenschaft vor einer breiteren Öffentlichkeit wirksam auszutragen war. Dabei blieb es nicht lange: alsbald machten die Freimundschen Methoden auch in höheren Kreisen Schule. Vom rein fachwissenschaftlichen Standpunkt aus entbehrte Böhmers Weigerung, solche „ P o l i z e i b r o s c h ü r e n " , 9 5 die er als weit unter seinem Niveau empfand, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, zunächst sicher nicht der Berechtigung. „Dieser Versuch, redliche Überzeugungen, welche auf dem Wege ernster Forschung gewonnen worden, aus weit zerstreuten Äußerungen zusammen zu lesen, sie so boshaft als möglich auszudeuten und sie dann mittelst persönlicher
94
Adolph Freimund (= Martin Runkel): Die historisch-politische Schule und Böhmer's geschichtliche Ansichten. Eine deutsche Kritik, Berlin 1845. Zur Zuweisung vgl. Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 433. - Zwischen ,Adolph Freimund" und dem Pseudonym „Ernst Freymund", worunter Gfrörer seine „Geschichte unserer Tage" veröffentlichte, besteht kein Zusammenhang. 95 Böhmer an Pertz, 6.9.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 452/453). Böhmer hielt die Streitschrift für eine Auftragsarbeit der preußischen Zensurbehörde, mit dem Ziel, sein Geschichtsbild öffentlich zu desavouieren.
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Denunciation von dem wissenschaftlichen Boden weg in das Gebiet der Tagesliteratur zu zerren, ist schon durch sich selbst gerichtet. Ganz feig war es, einem solchen Angriff seinen Namen nicht vorzusetzen. [...] Was ohne Gehalt und ohne Ehre ist, verdient keine Beachtung."96 Wenn er im selben Brief Höfler zwar Dank aussprach für dessen Intervention in den „Gelehrten Anzeigen" der Münchener Akademie, gleichzeitig jedoch anfügte, daß ihm Stillschweigen besser gefallen hätte, 97 so verkannte er aber die Gefahr, die in zweierlei Richtung von Runkels Schrift ausging. Persönliche Diskreditierung konnte Böhmer aus der von Freimund/Runkel konstruierten Verbindung eines prinzipiell diskussionswürdigen Argumentes mit polemischer Stigmatisierung des Böhmerschen Standpunktes erwachsen. Auf einer scheinbar wissenschaftlichen Ebene setzt die Kritik am ersten Band der überarbeiteten Regesten ein: persönliche Wertungen, so Freimund/Runkel, hätten in einem Urkundenregister nichts zu suchen. Durch die Aufnahme solcher Wertungen in die Regestentexte selbst98 habe sich Böhmers grundsätzlich verdienstvolle Arbeit gegenüber den früheren Regestenbänden verschlechtert. 99 Einer Diskussion dieser Kritik, wäre Freimund/Runkel dabei geblieben, hätte sich Böhmer stellen müssen und können. Aber der Kritiker verweilte nicht lange bei solch sachlich-methodologischen Einwänden. Nicht die Frage nach dem wissenschaftlich optimalen Aufbau eines Urkundenregisters motivierte seine Kritik, sondern das Mißfallen über die von Böhmer vertretene geschichtspolitische Position. Wer solche Meinungen vertrete wie Böhmer, impliziert Freimund/Runkels Argumentation, dürfe diese eigentlich überhaupt nicht äußern. Im übrigen sei dessen wissenschaftliche Leistungsfähigkeit insgesamt in Zweifel zu ziehen. „Wer höchst einseitige, subjective Ansichten ausspricht und diese den Auszügen von Urkunden beifügt, macht unbedingt stutzig und veranlaßt die Meinung, es möge gerade die Stelle ausgezogen sein, die seiner Privatmeinung entspreche." 100 Böhmers persönlicher Standpunkt entwerte von vornherein dessen Arbeit! Freimund/Runkel illustriert seine Auffassung durch die Kommentierung einzelner Auszüge aus den Regesten. Fazit: Böhmer verkenne die deutsche Geschichte, schreibe Parteihistorie, schüre den Konfessionshaß, beleidige die Protestanten. Böhmer leugne, daß einer wie Luther kommen mußte, „der Mann des deutschen Glaubens, der deutschen Ehehäuslichkeit." Indem er die Meinung äußere, die undeutschen Kaiser Maximilian und Karl V. hätten unter Umständen die Reformation „bemeistern" können, trete er „eigentlich außerhalb der Sphäre deutscher Geschichtsforschung und Geschichtsschrei-
96
Böhmer an Höfler, 25.3.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 434). Ebd., S. 433/434. 98 Vgl. Denkwege, Anm. 462. 99 Freimund/Runkel, S. 1/2 und 38. 100 Ebd., S. 2/3. 97
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bung." 101 Wie wolle ein „ächter deutscher Geschichtsschreiber werden, wer nicht einsehe, „daß unser Glaubenskampf eine der gesegnetsten, von Gott selbst gewollten Thatsachen ist." 1 0 2 Ähnlich „lächerlich" verhalte Böhmer sich auch bei der Beurteilung der Gegenwart. Könne jemand im Ernst das Alte Reich zurückwünschen? Gut, im Deutschen Bund hätte einzelnes „besser arrondirt werden können." Gleichwohl sei dieser Bund und in ihm das gesegnete Wirken Preußens, besonders dessen Königs, Friedrich Wilhelm IV., insgesamt zu loben und bedeute im Vergleich mit jenem gestrigen Reich einen erheblichen Fortschritt. 103 Freimund/Runkel verunglimpfte aber schließlich nicht nur Böhmer persönlich, sondern die von diesem vertretene historiographische Richtung als solche, womit er seine Kritik ins Allgemeine und Grundsätzliche erhob. In bewußter Assonanz an die „Historisch-politischen Blätter" stellt er Böhmer als Vertreter einer „perversen neuesten historisch-politischen Schule" 104 dar, als deren Hauptdemagogen Görres und Hurter auftreten. So könnten etwa Böhmers Kommentare zur zweiten Kölner Domgrundsteinlegung von 1842 einer Schrift von Görres entstammen. „Wohinaus mit der Quellenbearbeitung, wenn sie uns durch solche Bemerkungen fast lächerlich gemacht wird!" 1 0 5 Indem Böhmer, der Freund Görres', solche Töne anschlage, stemple er sich unwiderruflich zum „historisch-politischen Parteimann." 106 Besitze aber nun diese „neueste historisch-politische Schule" überhaupt einen Geschichtsschreiber von Rang? Nein. Allein aus dem Erfolg eines Hurter könne er, Freimund/Runkel, ersehen, „daß in der nicht evangelischen Welt kein einziger Historiker von Bedeutung existiert. Auch darf ruhig prophezeit werden, daß der ehemalige reformirte Pastor Hurter [als katholischer Hofhistoriograph in Wien] gar nichts leisten wird." 1 0 7 Männer wie Hurter, Görres und Böhmer seien hoflhungslos von gestern, „nicht Männer unsrer Zeit." Durchaus „unfähig", seien sie, wie Böhmer, kaum in der Lage, „etwas mehr zu leisten, als ich schon gesagt habe; flüchtige Ordnung von Regesten und philologische Herausgabe von mittelalterlichen Scriptores." Wo er, Böhmer, Geschichte schreiben, gar das deutsche Volk belehren wolle, kränke er durch seine Ansichten. Freimund/Runkel schließt seine „deutsche, d.h. derbe, offene Kritik" mit dem Aufruf zum Kreuzzug. „Ich will nur wünschen, daß diese Männer keinen Einfluß gewinnen, denn da und dort ist er schon sichtbar,
101 102 103 104 105 106 107
Ebd., S. 6/7. Ebd., S. 19. Ebd., S. 8/9. Ebd., S. 19. Ebd., S. 10, mit anschließender heftiger Polemik gegen den „Ritter" Görres. Ebd., S. 38. Ebd., S. 47.
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und dem müssen wir entgegenwirken, in Deutschlands Interesse, im Interesse der evangelischen Kirche." 1 0 8 Freimund/Runkels Pamphlet demonstriert, auf welchem Niveau bereits vor 1848 die Debatte um die Besetzung geschichtspolitischer Positionen Austragung finden konnte. Kennzeichnend für dieses Niveau erscheint vor allem die Art und Weise, die abweichende Ansicht zu denunzieren, als minderwertig zu deklarieren, sie unter Berufung auf die fragwürdige Kategorie des „ächt deutschen" zum Abschuß freizugeben: Die „historisch-politische Schule" - ein geschichtspolitisches Feindbild. Wie nahmen auf der anderen Seite jene so klassifizierten „historisch-politischen" Großdeutschen erster Generation die geschichtswissenschaftliche Szene in Deutschland und deren zunehmende Bemühungen, öffentliche Meinung zu prägen, wahr? Auf welche Weise wollten sie Einfluß nehmen, selbst gestalterische Impulse setzen? Mit welchem Erfolg oder Mißerfolg agierten sie dabei? 2. Bestandsaufnahme aus großdeutscher Sicht: „ Heidelberger Dictatur " und „ Berliner Schule " Sinnvolles Agieren setzt Analyse des Gegebenen voraus. Sowohl Böhmer als auch Höfler beobachteten die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft mit lebhaftem Interesse. Freilich unterschieden sich, wie bereits die Reaktionen auf Freimund/Runkel, so auch beider Schlußfolgerungen aus der sehr ähnlichen Analyse fundamental. Ungeachtet der eigenen erheblichen polemischen Potenz legte Höfler den Finger immerhin auf den wunden Punkt, wenn er in seiner Stellungnahme gegen Freimund/Runkel die Verrohung der Sitten innerhalb der geschichtlichen Literatur beklagt. „Jeder Pöbelunfug, jeder litterarische Straßenraub, das Faustrecht der früheren Periode und das Anathematisiren des Einen wie die blinde Vergötterung des Anderen" sei „auf dem Gebiete der Litteratur [...] nicht blos erlaubt, sondern preiswürdig geworden." 109 Anstatt sich „um die Gründe einer mißfalligen Ansicht zu bekümmern", breche man „über diese von vorneher den Stab." Dies hänge nun vor allem damit zusammen, „daß politische Fragen in das Gebiet der Litteratur hinübergezogen wurden und die Wissenschaft selbst, welche sich über die Politik stellen sollte, zur Parteysache wurde." 110 Höflers Analyse führt diese Entwicklung jedoch nicht nur auf Scribenten vom Schlage Freimund/Runkels zurück, sondern weist einem der großen Wortführer deutscher Historiographie erhebliche Mitschuld 108
Ebd., S. 51; die vorangehenden Zit. ebd., S. 53 und 51. Constantin Höfler: [Rezension der Böhmerschen Regesten 1246-1313], in: Gelehrte Anzeigen, hg. von Mitgliedern der kgl. bayerischen AkdW 22 (1846), S. 217223, hier S. 221. 110 Ebd., S. 220/221. 109
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zu. Friedrich Christoph Schlosser habe „in den Heidelberger Jahrbüchern, Wien, Berlin und München geradezu in die Acht und für mundtodt" erklärt und, „als wenn dieses nicht genügte ihn selbst zu ächten", im dritten Band seiner Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts „das Maaß der Leidenschaft übervoll" gemacht.111 Auch Böhmer, der sich der „Heidelberger Dictatur" entzog, habe nun unter jener von Schlosser eingeführten Unsitte zu leiden. Seitdem er zusätzlich noch die Ansicht geäußert habe, er halte auch Berlin nicht für „die Heimath der deutschen Historiographie", sey endgültig ,Alles gegen ihn erlaubt" und werde „im Namen des Vaterlandes gegen ihn gewüthet." 112 „Heidelberger Dictatur" und „Berliner Schule": damit waren von katholizistisch-konservativer, großdeutscher Seite aus jene beiden Zentren deutscher Geschichtswissenschaft lokalisiert, mit deren Repräsentanten es galt, den Wettstreit aufzunehmen. Sogar bei Höfler, der sich in der Regel keine Gelegenheit zur Polemik entgehen ließ, wenn auch auf qualitativ erheblich höherem Niveau als ein Freimund/Runkel, fiel jedoch das Urteil über beide Gruppierungen erstaunlich differenziert aus. Grundsätzlich trifft die Beobachtung zu, daß die Vertreter der ersten Generation großdeutscher Geschichtsschreibung bei aller Differenz in weltanschaulichen und besonders in politischen Fragen und Zielen der „Berliner Schule" die historiographische Potenz nicht prinzipiell absprachen, während sie vor allem dem Haupt und Begründer der „Heidelberger Dictatur", Friedrich Christoph Schlosser, ohne Verständnis gegenüberstanden. „Der Heidelberger Schlosser", so Böhmer im März 1851 zu Buchhändler Hurter, sei ihm „immer widerwärtiger geworden, je mehr er den Meinungen des Pöbels" schmeichelte.113 Auch über die Berliner sowie über die beiden nachgeborenen, aber in die Berliner Richtung tendierenden Schlosserschüler Gervinus und Häusser häufen sich allerhand negative Urteile, zumal in der Zeit der erbittertsten Großdeutsch-Kleindeutsch-Auseinandersetzung der späten fünfziger und sechziger Jahre. Gleichwohl fühlte sich Böhmer noch 1856, wenngleich etwas von oben herab, in der Lage, deren Leistungen im Kern anzuerkennen. Zwar habe er „in die Werke von Gervinus, Häusser, Sybel bei meinen sonstigen Aufgaben nur eben hineinschauen" können. Zu lernen sei aber wohl aus allen dreien. 114 Schließlich bekannte er im März 1860, Häussers Deutsche Geschichte, die er in der zweiten Auflage besitze, „schon zu schätzen", obwohl dieser „bekanntlich ein Gothaer" sei. 115
m
Ebd. Ebd. 113 Böhmer an F.B. Hurter, 16.3.1851 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΙΠ, S. 44). 114 Ders. an dens., 17.11.1856 (Ebd. m, S. 202). 115 Ders. an dens., 24. 3.1860 (Ebd. m, S. 325). - Ludwig Häusser: Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des Deutschen Bundes, 4 Bde., Leipzig/Berlin 1854-1857; dass. 21859/60. 112
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Gerade in dieser milden Beurteilung Häussers zu einer Zeit, in der die Debatte zwischen diesem und Höfler lange schon Wunden geschlagen hatte und eine andere Debatte - zwischen Häusser und Klopp - drohend in der Luft lag, 116 spiegeln sich Relikte jener grundsätzlich differenzierten Haltung, deren Ursprünge in die vierziger Jahre, in die Zeit der ersten stärkeren Ausprägung der geschichtswissenschaftlichen Gegensätze fallen. Ein weiteres Mal liefert Höflers inhaltsreicher Essay über katholische und protestantische Geschichtsschreibung Antworten - diesmal auf die Frage, warum Schlosser prinzipieller Verdammung anheimfallen mußte, während gegenüber den Berlinern sowie denjenigen, die sich von Heidelberg nach Berlin orientierten, ein abgewogeneres Urteil angebracht schien. Deutlicher führte Höfler hier aus, was er dann in der Anti-Schlosser-Passage seiner Regestenrezension wieder aufgreifen sollte. Abgesehen von der Abneigung gegen die persönlichen Absolutheitsansprüche Schlossers 117 entzündete sich sein Zorn vor allem an dessen Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts einschließlich der Darstellung der Französischen Revolution und ihrer Folgen für Europa. 118 Hier fand Höfler die Diktatur jener abstrakten Prinzipien der Aufklärung über die Beurteilung von Geschichte in der für ihn schlimmsten Weise verwirklicht. „Nichts ist leichter, als aus voller Kehle Wahrheit, Licht, Licht zu schreien. [...] Mit welcher Begeisterung spricht ζ. B. Schlosser [...] von Tugend und Menschenwürde. Aber wo sie in der Geschichte auftritt, hat er schnell Unrath gewittert." 119 Hier kehrt der alte, aus den Betrachtungen über den Wissenschafts- und Geschichtsbegriff der katholizistisch-konservativen Großdeutschen wohlbekannte Vorwurf an den Rationalismus wieder, dieser erhöbe „das Princip individueller Willkür zur Grundlage der historischen Critik." Nur konsequent, daß die entschiedenste Übertragung dieses Rationalismus auf die Historiographie ebenso entschiedene Ablehnung
116
Zur Kontroverse zwischen Höfler und Häusser vgl. u. S. 496-502; die Kontroverse zwischen Klopp und Häusser entbrannte 1862 über die Darstellung des Preußenkönigs Friedrich Π. durch Klopp: Onno Klopp: Friedrich Π. von Preußen und die deutsche Nation, Schaffhausen 1860; Ludwig Häusser: Zur Beurtheilung Friedrichs des Großen. Sendschreiben an Dr. Onno Klopp, Heidelberg 1862; Onno Klopp: Offener Brief an den Herrn Professor Häusser in Heidelberg, betr. die Ansichten über den König Friedrich Π. von Preußen, Hannover 1862; ders.: Nachtrag zu dem offenen Brief an den Herrn Professor Häusser in Heidelberg, betr. die Ansichten über den König Friedrich Π. von Preußen, ebd. 1862. 117 S. Anm. 111. 118 Friedrich Christoph Schlosser: Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts [...] mit steter Beziehung auf die völlige Veränderung der Denk- und Regierungsweise am Ende desselben, 2 Bde., Heidelberg 1823; Neubearb., 1836-1848 u. d. T. Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts und des neunzehnten bis zum Sturz desfranzösischen Kaiserreiches, 7 Bde. 1,9 Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 301.
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findet. Natürlich vermeidet Höfler, seine Rationalismuskritik selbst wiederum mit Absolutheitsanspruch zu formulieren. „Wir verlangen von Niemanden, daß er dieselben Empfindungen hege wie wir." Alle Bestrebungen, Schlossers Geschichte zum Nationalwerk der Deutschen zu erheben, weist er jedoch mit Empörung zurück. 120 Spricht aus dieser Argumentationslinie der geläufige katholisch-antiaufklärerische Standpunkt, so äußert sich etwas versteckter eine geschichtstheoretische Kritik an Schlosser, deren Beachtung erst den wirklichen Grund der harschen Ablehnung durch die Großdeutschen enthüllt. Jene Manier Schlossers, Geschichte nach übergeordneten Prinzipien der Vernunft beurteilen und schreiben zu wollen, reihe sein Werk unter die „Pamphlete" ein, die „zu Erreichung eines augenblicklichen Endzweckes geschrieben werden." 121 Worin konnte ein solch „augenblicklicher Endzweck" jedoch anders bestehen als in dem Versuch, einen irdischen Idealzustand aus der Beobachtung und Beschreibung von Geschichte abzuleiten sowie zu rechtfertigen? Das aber sei Vergewaltigung von Geschichte, sei zutiefst unhistorisch. Den Geschichtsschreiber Schlosser trifft damit derselbe Vorwurf wie den Geschichtsphilosophen Hegel und dessen vernunftgegründetes historisches Fortschrittsmodell. 122 Eine eher marginale Bemerkung aus der Rezension der Böhmerschen Regesten ergänzt sich sinnfällig mit dieser Sicht auf Schlosser. Man solle weder denken, „die Aufgabe des Menschen bestehe im Suchen der Wahrheit allein", noch glauben, „daß dem Menschen die Erkenntnis und der Genuß des notwendigen Maßes der Wahrheit bereits hienieden beschieden sey." Wenn es auch möglicherweise menschlich sei, die Geschichte nach dem ,31eibenden", dem „Ruhepunkt" zu befragen, so zeige diese doch in erster Linie „den bunten Wechsel historischer Persönlichkeiten, Zustände und Interessen", zeige „Stürme" und „ewiges Schwanken."123 Hinter dieser Marginalie steht das Bewußtsein, als Katholik zu wissen, wo im Meer dieser Vielfalt der ruhende Pol zu suchen sei, also im Gegensatz zum rationalistisch konstruierenden Aufklärer die geschichtliche Vielfalt als gottgegebene und -gewollte betrachten zu können, ohne sie zugunsten einer „willkürlichen", vernunftgemäßen Wahrheitskonstruktion beschneiden, reduzieren, zurechtrücken zu müssen. Als Ergebnis dieses Gedankenganges offenbart sich der tiefere Grund für die kategorische Ablehnung Schlossers und die relativ größere Nähe der Großdeutschen erster Generation zu den Berlinern": beide vereint, mit unterschiedlichen Wurzeln und auch mit sehr unterschiedlichen Schlußfolgerungen, die histori-
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Ebd., S. 302/303. Ebd., S. 302. Vgl. o. S. 381-383. Höfler, Rezension der Böhmerschen Regesten 1246-1313, S. 218.
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stische Position und beide zusammen trennt diese Position von der Aufklärungshistoriographie Schlosserscher Art. Was Höfler im Essay über katholische und protestantische Geschichtsschreibung in der Theorie nur sehr implizit andeutet, zeigt sich unverhüllter im Urteil über die Berliner. Daß Höfler mit der Hochschätzung Johannes von Müllers die eigene historiographische Position in dieselbe Traditionslinie stellte, die er auch in Richtung der Väter der Berliner Schule, Raumer, Niebuhr und Ranke, verlaufen sah, fand bereits Erwähnung. 124 Der Raumerschen „Geschichte der Hohenstaufen" 125 rechnet er als „wahrhaftes Verdienst" an, in dieser Nachfolge Müllers „das Mittelalter aus langer Vergessenheit, und dem Bannfluche der Magdeburger Centurien allmählig in seine Rechte als großartige selbstständige Periode der Geschichte eingesetzt zu haben." 126 Dasselbe wußte auch Böhmer an Raumers Werk zu schätzen: es sei das billigste, wenn auch „matt-billigste Buch über deutsches Mittelalter." Manchmal begreife er zwar nicht, „wie man aus solchem Geschreibe klare Vorstellungen schöpfen kann." Aber doch sei ihm Raumer „viel lieber als alle Andern, die mit ihm in die Schranken traten." 127 Bezog sich die partielle Wertschätzung Raumers vor allem auf dessen Mittelalterverständnis, welches jene Zeit in Ansätzen wenigstens den Verdikten aufklärerisch-rationalistischer Radikalkritik entzog, so fand Barthold Georg Niebuhrs historiographisches Schaffen in inhaltlicher wie methodischer Hinsicht Anerkennung. Trotz einzelner Irrtümer seien Niebuhrs Vorlesungen über die Revolutionszeit „höchst interessant. Man glaubt eine Geschichte der Gegenwart vor sich zu haben." Das Buch könne „als Manuale conservativer Gesinnungen und conservativer Lebensanschauung gepriesen [...] werden." Er, Höfler, zähle es „mit zu jenen, aus welchen ich in hohem Grade Unterricht schöpfte." 128 Bemerkenswerter als dieses Urteil Höflers erscheint freilich jener Tagebucheintrag des jungen Ludwig Pastor vom 20. Mai 1872, den dieser nach Abschluß seiner Lektüre von Niebuhrs „Vorträgen über alte Geschichte" 129 formulierte: „Ein Hauptvorzug Niebuhrs ist besonders der, daß er durch schmückende 124
S. o. S. 402. Friedrich von Raumer: Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit, 6 Bde., Leipzig 1823-1825. 126 Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 313. 127 Böhmer an F.B. Hurter, 2.2.1845 und an Stälin, 3.2.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 400 und 430). 128 Höfler an Hurter, 10.1.1845 (Samen, NL Hurter). Barthold Georg Niebuhr: Vorlesungen zur Geschichte des Zeitalters der Revolution, 2 Bde., Hamburg 1845. 129 Barthold Georg Niebuhr: Vortrage über alte Geschichte, hg. von M. Niebuhr, 3 Bde., Berlin 1847-1851 (= Ders.: Historische und philologische Vorträge, an der Universität zu Bonn gehalten, 2. Abt.: Alte Geschichte nach Justins Folge mit Ausschluß der römischen Geschichte); zu Niebuhr vgl. Alfred Heuß in: DGD 5 (1966), S. 208-219 und Rudolf Vierhaus in: Killy 8 (1990), S. 407^09. 125
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Parallelen aus der römischen, mittelalterlichen und neueren Geschichte die Ereignisse [...] mit Anschaulichkeit darzustellen vermag. Diese Parallelen sind stets musterhaft. Sodann kann man namentlich (dies finde ich wenigstens) sehr viel aus diesen Vorträgen für die critische Kunst lernen. Diese Kunst, die wie Niebuhr sagt, nicht gelehrt werden kann, weil dazu ein eigener Sinn gehört, der jedem Historiker unerläßlich ist, hat aber Axiome. Von den Axiomen der Kritik, die Niebuhr mittheilt, glaube ich mir folgende besonders merken zu müssen." 130 Bezug von Geschichte und Gegenwart, Anschaulichkeit der Darstellung sowie Meisterschaft in kritischer Quellenbehandlung: noch für einen der unerbittlichsten Berlin- und Preußengegner aus der Gruppe der großdeutschen Historiker insgesamt konnte der protestantisch-preußische Staatsrat Niebuhr in den siebziger Jahren einen Orientierungspunkt zur Ausbildung der eigenen historiographischen Kunst bilden! Bei allen Schimpftiraden der Großdeutschen gegen ihre geschichtspolitischen preußisch-berlinerischen Widersacher sollte also jene grundsätzliche Differenzierungsbereitschaft, die über alle drei Generationen hinweg bestand, nicht in Vergessenheit geraten. Man fand sich durchaus bereit, wenn auch vielleicht zu oft nur unter vorgehaltener Hand, die Leistungen, Erkenntnisse, Errungenschaften dieser „Berliner Schule" anzuerkennen und zu würdigen. Auch anhand der Auseinandersetzung der Großdeutschen mit Person und Werk Leopold von Rankes läßt sich diese Beobachtung vertiefen. Für die erste Generation war Ranke - wie Böhmer 1795 geboren - Altersgenosse, dessen Genialität vielleicht auffiel, ihn jedoch keineswegs in die Sphäre eines unnahbaren Olympiers entrückte. Gerade auch für das Verhältnis zu jenen Großdeutschen trifft zu, was Franz Schnabel einst hinsichtlich Rankes Stellung in der Geschichtswissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts insgesamt betonte: „Er hatte zu Lebzeiten niemals das alle überragende Ansehen, das ihm die Nachwelt im zwanzigsten Jahrhundert und in der ganzen Kulturwelt bereitet hat." 131 Ranke war eine irdische Erscheinung und als solche rezipierbar, kritisierbar. Nicht immer erreichte freilich diese Kritik jene Höhen skurriler Bildlichkeit, zu denen Hurter sich aufschwang. Dieser, so wußte Höfler Böhmer zu hinterbringen, habe „unlängst Ranke's Reformationsgeschichte gelesen, und meint, da könne man auf einer ungesattelten Sau davon reiten über diese Manier Geschichte zu schreiben." 132
130
Ludwig Pastor: Tagebuch, 1870 Jan. - 1872, 31.12., Eintrag vom 20.5.1872 (Bib. Vat. Apost., NL Ludwig von Pastor, Fase. 144); im Anschluß an dieses Zitat notierte sich Pastor wörtliche Auszüge aus Niebuhrs Werk. Der Eintrag findet sich in dieser Form nicht bei Pastor / Wühr, Tagebücher, Briefe, Erinnerungen. 131 Schnabel, Die Idee und die Erscheinung (s. Einleitung, Anm. 3), S. 62. 132 Höfler an Böhmer, 17.2.1846 (Frankfurt/M., NL Böhmer 1 Κ 5 H). 30 Brechenmacher
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Rankes Papst- und Reformationsgeschichte vor allem, beide bereits während der dreißiger Jahre erschienen, erregten die Gemüter katholischer und dem Katholizismus nahestehender Historiker. 133 Wer den orthodox-katholischen Standpunkt vertrat, dem blieb nichts anderes übrig, als diese Werke dem Inhalt nach abzulehnen. Wer jedoch trotz abweichender Grundposition den Verfasser ernst nahm und dessen Bedeutung zu würdigen wußte, zeigte Format. Der auf seiner ungesattelten Sau reitende Hurter konnte dieses Format freilich kaum aufbringen. Verbittert wetterte er noch in den sechziger Jahren im Briefwechsel mit Klopp über Ranke und trug damit zur Begründung einer rein negativen RankeRezeption bei, die sich durch alle drei Generationen großdeutscher Historiographie fortsetzen sollte: fand Klopp bei Hurter die Bestätigung seiner antirankeanischen Ressentiments, so später wiederum Pastor bei seinem temporären Mentor Klopp. 1 3 4
133
Leopold Ranke: Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im sechszehnten und siebzehnten Jahrhundert, 3 Bde., Berlin 1834-1836; ders.: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 1 und 2, Berlin 1839. 134 Vgl. ζ. B. Hurter an Klopp, 15.10.1860 (HHStA, NL Klopp, Karton 8): „Ranke's ,eckelhafter' Bemäntelung der Doppelehe des casselschen Landgrafen steht das Enkomium Heinrichs VIII. würdig zur Seite. Schade, daß schon früher Einer eine Apologia Neronis geschrieben hat." - Ders. an dens., o. D., datiert von Wiard Klopp auf Anfang 1861 (Ebd.): „Daß man Ranke zum Jupiter tonans im Reiche der historischen Wissenschaften creiren will, ist traurig und lächerlich zugleich. Sollte das Zertrümmern der Geschichte nach vorgefaßten Meinungen oder zu besonderen Zwecken neu Herrschaft erlangen, so wäre zu wünschen, daß ein halbes Jahrhundert das Feld brach belassen würde." - Klopp hielt Ranke für einen künstlerisch immerhin hochstehenden „Sophisten", dessen Produkten man entgegenarbeiten müsse (Klopp an Hurter, 16.1.1858, Samen, NL Hurter; abgedruckt bei Emmanuel Scherer [Hg.]: Österreich und PreußenDeutschland. Briefe von Onno Klopp an Friedrich von Hurter aus den Jahren 18581861, in: Schweizerische Rundschau 18 [1917/18], S. 37-56 und 100-112, hier S. 58/59, sowie - mit falscher Datierung - bei Klopp / Schnabel, S. 30); vgl auch Klopps Äußerung über Ranke als den „gefahrlichsten aller dieser preußischen Lügner", u. S. 474. - Für Pastor stellte die Auseinandersetzung mit Rankes „Päpsten" einen, wenn auch nicht den einzigen Anlaß dar, seine eigene Papstgeschichte zu konzipieren. Bereits als Student sparte er nicht mit kraftmeierischer Anti-Ranke-Polemik. Als Gast Onno Klopps in Wien sprach er mit diesem viel über Ranke. Auf der Rückseite eines Briefes des auswärts weilenden Klopp an seinen jungen Hausgast notierte Pastor am 12.6.1877: „Über Ranke. Die Hiebe müssen auf den Götzen fallen, so lange er lebt. [...] Das Durchlesen von Rankes Päpsten [...] hat mir gezeigt, wenn es dessen noch bedurfte, daß in diesem arroganten Berliner Professor der ganze Kulturkampf vorgebildet erscheint. Darum nicht die kleinen bellenden Köter, sondern die Blutdogge selbst muß auf den Kopf geschlagen werden." (Bib. Vat. Apost., NL Pastor, Fase. 104, Brief Klopps an Pastor, 8.6.1877).
II. Gestalter der Fachwissenschaft
Constantin Höfler (1811-1897)
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Neben dieser negativen Rezeptionslinie existierte aber jene andere, differenzierungsbereite Haltung, die sich ebenfalls bereits innerhalb der ersten Generation vor 1848 ausprägte. Nicht allein Böhmer beschritt diesen Pfad, sondern auch die beiden Katholiken Höfler und Döllinger. Letzterer trat früh in eine intensive und ernsthafte Auseinandersetzung mit Ranke ein. Im zweiten Band der,»Historisch-politischen Blätter" hatte er schon einige sehr sachlich-kritische Anmerkungen zu Rankes Verständnis vom Vorrang des Politischen über das Religiöse im Altertum publiziert sowie weitere Artikel über dessen ,^Päpste" angekündigt.135 Möglicherweise vereitelte das Erscheinen der beiden ersten Bände der „Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation" dieses Vorhaben; jedenfalls behandelte Döllinger diese anstatt der Papstgeschichte im vierten Band der „Historisch-politischen Blätter" in zwei ausfuhrlichen Rezensionsartikeln. Daß Döllinger die Bedeutung Rankes erkannte, geht trotz ihrer kritischen Haltung aus beiden Aufsätzen hervor: das Werk des „gelehrten und kenntnißreichen Verfassers" über die Päpste verdiene eine „reifliche Besprechung"; die deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation schließlich stelle ein „allerdings bedeutendes literarisches Product" dar. 136 Selbstverständlich stimmt Döllinger von Grund auf mit Ranke nicht überein. Die „Deutsche Geschichte" liefere eine ,Apologie der Reformation", deren Argumentationslinie er auf keinen Fall beipflichten könne. Vor allem Rankes Ausführungen über das Verhältnis von Kirche und Staat sowie von Konfession und Nation repräsentierten „höchst verderbliche Ansichten." Schließlich müsse auch dessen „ganze Auffassung und Darstellung der großen Begebenheiten des Mittelalters, von uns als eine durchaus verfehlte und einseitige bezeichnet werden." 137 Wenn trotz dieser inhaltlich negierenden Tendenz Döllingers Auseinandersetzung mit Ranke insgesamt positiv und differenzierungsbereit erscheint, so liegt dies zunächst an der Art der Argumentation: die Ansicht Rankes behält ihr Recht gegenüber der abweichenden katholischen Döllingers. Döllinger schreibt „nach unserer Überzeugung" 138 weder verabsolutierend noch polemisierend. Den Auffassungen Rankes etwa über das Mittelalter, über Luther, über das Institut des Kaisertums und der römischen Kirche stellt er differenziert argu135
Döllinger, Bemerkungen über neuere Geschichtschreibung. Ebd., S. 54. - Ignaz Döllinger: [Besprechung von Leopold Ranke: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 1 und 2, Berlin 1839], in: HPB11 4 (1839), S. 540-557 und 654-668, hier S. 540. 137 Döllinger, [Besprechung von Ranke, Deutsche Geschichte], S. 540/541; zum Komplex „Nation und Konfession" vgl. ebd. S. 661: Er, Ranke, suche , Alles durch die unvermeidliche Notwendigkeit und das Nationalbedürfhiß zu rechtfertigen; wobei dann wieder die irrthümliche Ansicht zu Grunde liegt, als sey das Wesen des katholischen Kirchenglaubens durch die Lage der äußeren Weltverhältnisse und durch die politischen intellectuellen Zustände einzelner Nationen bedingt und bestimmbar." 138 Ebd., S. 541 mehrmals. 136
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mentierend und ins Detail gehend die eigenen gegenüber. 139 Im Gegensatz zu Freimund/Runkel, dessen „ächt deutsche" Attitude von vornherein die Eröffnung eines sachlich-wissenschaftlichen Diskurses blockiert, im Gegensatz aber auch zu Hurter, Klopp und zum Teil auch Pastor, die ihre Ranke-Kritik vorwiegend in Form protzig-trotziger Starkgeisterei äußern, sucht Döllinger einen solchen Diskurs zumindest im Bereich des Möglichen zu halten. Indem er wenige Jahre später in seiner großangelegten Kompilation „Die Reformation" seinen Blickwinkel nocheinmal ausführlich, wenn auch methodisch nicht immer einwandfrei darlegt, versucht er auch, den Diskurs mit Ranke weiterzufuhren. 140 Selbst ohne an dieser Stelle die spätere Entwicklung Döllingers näher in die Betrachtung miteinzubeziehen - Döllinger revidierte nach 1848 seine Grundeinstellung Ranke gegenüber sukzessive, um gegen Ende seines Lebens, etwas übertrieben wohl, diesen gar zum Muster an Objektivität zu erheben 141 - , erscheinen jene Rezensionen der späten dreißiger Jahre bemerkenswert: bei prinzipiell abweichendem Standpunkt, hart in der Sache, aber nicht persönlich verletzend oder sogar diffamierend, exerzieren sie auf intellektuell hohem Niveau, wie die geschichtspolitische Debatte vielleicht fruchtbarer hätte verlaufen können. Auf öffentliche Resonanz wäre sie dann aber wohl nur in sehr viel geringerem Maße gestoßen. Was Döllinger fast ausschließlich durch Ton und Haltung seiner Rezensionen zum Ausdruck brachte, führte Höfler einige Jahre später am gleichen Ort, den „Historisch-Politischen Blättern", in expliziterer Weise fort. Im Essay über katholische und protestantische Geschichtsschreibung attestierte er Ranke wie zuvor schon Raumer „ein unbestritten künstlerisches Talent", welches diesen wie jenen vor groben „historischen Verirrungen" nach Schlosserscher Art bewahrt habe. 142 Auch bei Höfler dominiert freilich die Kritik an Rankes mangelnder „Auffassung" des katholischen Lebens und der Personen, „welche sich im Mittelpunkte desselben bewegten", diesmal mit Bezugnahme auf die Papstgeschichte. Rankes Personen seien „Nebelgestalten, keine Persönlichkeiten". Trotzdem habe sein Buch auch in positivem Sinne einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Ranke's Scharfsinn hat ihn zwar nicht immer die großen, aber 139
Ebd., S. 549-551: Döllingers Lutherbild; S. 552-557: Kirche und Kaisertum. Döllinger, Reformation; über die Motivationen zu diesem Werk sowie dessen Bezug auf Rankes Reformationsgeschichte Friedrich, Döllinger Π, S. 240-251; vgl. auch o. S. 120,122-124,129-131. 141 Gesprächsäußerung Döllingers aus seinen späteren Lebensjahren, mitgeteilt von Kobell, S. 6: „Wenn ich bisweilen das eine oder das andere von mir Geschriebene lese [...], so begreife ich jetzt nicht mehr, daß ich es schreiben konnte. Ja, man muß alt sein, um ganz objektiv und gerecht zu sein. Ranke ist hierin ein Muster, er läßt sich nie hinreißen, und urteilt mit der größten Objektivität. Ich habe viel von ihm gelernt und danke es ihm." 142 Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 303. 140
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doch sehr regelmäßig die kleinen und schwachen Seiten der Päpste bemerken lassen; er hat einen tieferen Blick in die Verwaltung des Kirchenstaates und der Kirche geworfen, als viele Andere." 143 Ein entscheidendes Manko bleibe jedoch immer: Ranke leugne jenes Göttlich-Unverwüstliche, welches in der Verfassung der Kirche und ihrer nimmer erlöschenden Dynastie liege, und glaube, „daß, wenn dem römischen Stuhle seine weltliche Macht entzogen wird, er selbst nothwendig in den Staub sinken müsse." 144 Näher als Döllinger bewegt sich Höfler am Rande der Polemik, wenn er von diesem Kritikpunkt aus Ranke dann doch wieder in einen Zusammenhang mit jener Art von Geschichtsschreibung stellt, „welche die Geschichte nach einem bestimmten Systeme konstruiert, und nur so viel in dieselbe aufnimmt, als diesem zusagt." Das galt ja eben als Kennzeichen der Schlosserschen Richtung, die aus solcher Verblendung heraus „das ganze deutsche Mittelalter mit seiner reichen, organischen Blüthe, seinem vielgegliederten Leben" mißkannt habe. Nun setzte Höfler auch Ranke wieder in deren Nähe, um ihn der Anstiftung innerer Zwistigkeiten der Deutschen zeihen zu können, obwohl er kurz zuvor noch gerechter geurteilt hatte. 145 In Argumentationen dieser Art stimmte Johann Friedrich Böhmer in der Regel nicht ein. Er betrachtete, trotz gleichfalls abweichender eigener Position, Ranke als großen Historiker, allein schon aufgrund dessen schulbildender methodischer Leistungen, die er nur zu gern auch als Grundlage einer süddeutschen katholizistisch-konservativen Historiographie gesehen hätte. 146 Im übrigen respektierten sich die beiden gleichaltrigen Historiker, schätzten sich vielleicht gar unter Anerkennung der jeweiligen Leistungen. Böhmer empfahl nachwachsenden Gelehrten, die Berliner Vorlesungen Rankes zu hören. 147 Dieser sei ein aufrichtiger Charakter, ein Mann, „in dem höhere Richtungen leben. [...] Mag es sein, daß er einmal in einem gegebenen Falle sich gegen mich geäußert habe, dennoch hat er mir persönlich immer großes Wohlwollen bezeugt, hat es in einem seiner Bücher fast an den Haaren herbeigezogen mich günstig zu citiren, und hat auch in seinem Collegium, wie ich zufallig erfuhr, meine Regesten lebhaft empfohlen, dabei bemerkend, daß wohl gelegentlich darin etwas gegen Preußen vorkomme, das sei aber eine Grille, die man übersehen müsse. Mehr kann ich nicht verlangen." 148 Ranke selbst brachte in seinen
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Ebd., S. 304/305. Ebd., S. 305/306. 145 Alles ebd., S. 306/307. 146 S. Denkwege, Anm. 423. 147 Vgl. Böhmer an Döllinger, 28.2.1853 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe III, S. 88/89). 148 Böhmer an Maria Görres, 23.3.1856 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe III, S. 176/177). 144
II. Gestalter der Fachwissenschaft
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Reflexionen über Janssens Böhmer-Werk das Verhältnis für beide Seiten auf den Punkt: „Indem wir dies Bestreben in all seiner Bedeutung schätzen, muß es uns doch erlaubt sein, auch die Seite desselben hervorzuheben, die es Anderen unmöglich macht, sich ihm in gleichem Sinne anzuschließen." Nachträglich dankte er Böhmer, daß dieser ihm nicht übel nahm, „wenn ich seine Grillen und seine Leistungen unterschied." 149 Solche Bekundungen gegenseitiger Wertschätzung sollten freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß Ranke nicht nur persönlich, sondern auch als Haupt einer Schule einem Lager angehörte, das dem der katholizistisch-konservativen Großdeutschen diametral entgegenstand.150 Wenn mit Carl Adolf Cornelius einer der wichtigen Vertreter der zweiten Generation großdeutscher Historiographie ins Seminar Rankes vordrang und dort seine eigentliche Ausbildung zum Historiker erhielt, resultierte dies vor allem aus privaten Konstellationen und blieb Ausnahme. 151 Böhmer hätte diese Ausnahme insofern gelobt, als
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Ranke: Rede zur Eröffnung der IX. Plenarversammlung, S. 541 und 544. Mehr als gegen den Meister selbst richtete sich Böhmers Kritik bereits in den vierziger Jahren gegen einen der älteren Ranke-Schüler, gegen Heinrich von Sybel, der Böhmer zeitlebens unsympathisch blieb. Der Grund dieses Mißfallens scheint in jener Jugendschrifl zu liegen, die Sybel 1844/45 zusammen mit seinem damaligen Bonner Kollegen Johannes Gildemeister gegen die Echtheit des Trierer Heiligen Rockes verfaßt hatte: Johannes Gildemeister / Heinrich von Sybel: Der heilige Rock zu Trier und die zwanzig andern heiligen ungenähten Röcke. Eine historische Untersuchung, Düsseldorf 1844; dies.: Der heilige Rock zu Trier. Zweiter Teil: Die Advokaten des Trierer Rocks, 3 Hefte, Düsseldorf 1845. Böhmer äußerte im Juni 1845 in einem Brief an Klüpfel seinen Widerwillen dagegen, daß „altehrwürdige Traditionen unter falscher Wissenschaftsfahne mit so unsaubern Händen verwischt werden sollen als welche hier die Federn führten. Auf die Herrn Gildemeister und Sybel paßt das alte Sprüchlein gar gut: qui proficit in Uteris et deficit in moribus plus deficit quam proficit." (Böhmer an Klüpfel, 30.6.1845 - UB Tübingen, Md 756-4). Noch 1859 nannte er Döllinger gegenüber den nach München berufenen Sybel nur den „Heilige-Rock-Zerreißer" (Böhmer an Döllinger, 16.8.1859 - Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΠΙ, S. 302; vgl. zu diesem Brief auch Anm. 79). 151 Der Schauspielersohn Cornelius studierte seine letzten Semester bis zum Lehramtsexamen in Berlin. Dort konnte er im Hause seines Oheims, des katholischen Kultuspolitikers Theodor Brüggemann leben, der nach Beilegung der Kölner Wirren ans Berliner Kultusministerium versetzt worden war (vgl. Michael Klöcker: Theodor Brüggemann [1796-1866]. Eine Studie zur preußischen Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Kultuspolitik und des politischen Katholizismus, Ratingen/Kastellaun 1975). Cornelius' Tagebuchaufzeichnungen über seine Mitarbeit im Seminar Rankes während des WS 1840/41 liegen im Nachlaß noch vor (BSB NL Cornelius ANA 351, IV C 3, in Auszügen zit. bei Friedrich, Gedächtnisrede, S. 6-8). Gleichzeitig mit ihm besuchten Jacob Burckhardt und Karl Wilhelm Nitzsch Rankes Seminar. Von Ranke geht das Bonmot, er habe Corneliusfreundlich aufgenommen, „obwohl er Katholik war" 150
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Cornelius damit in den Genuß jener historisch-kritischen Schulung kam, in welcher die Berliner dem Süden leider voraus seien. 152 Gleichzeitig aber hätte er darauf bestanden, die weltanschaulich dififerenten Positionen deutlich zu betonen, vor allem sich den „nationalen Standpunkt" nicht von den Berlinern, den Norddeutschen wegokkupieren zu lassen.153 Gerade letzteres erscheint als eine Hauptbefurchtung der Großdeutschen erster Generation bereits in den Jahren vor 1848. Grund zu dieser Befürchtung bestand, wie allein ein Blick auf das so exklusive „ächte Deutschtum" Freimund/Runkels zeigt. Nicht genug, klagt Böhmer, daß die Berliner ,ja schon lange die ganze Intelligenz aufgefressen" haben, 154 nein, „manche der Herrn Norddeutschen" begnügten sich schon nicht mehr mit diesem ,Alleinbesitz der Intelligenz", sondern sie wollten „auch die Deutschheit allein im Sack haben. [...] Diese soi-disante Deutschheit, die so ketzerrichterisch auftritt", komme ihm aber eher vor „wie ganz dummer Katholikenhaß und wie Servilität gegen die weltliche Gewalt." 155 Auch die katholi(überliefert von August Foumier: Erinnerungen, München 1925, S. 94 nach einer Mitteilung Felix Stieves, eines Historikers aus dem Mitarbeiterkreis Cornelius' bei der Historischen Kommission, sowie von Walter Goetz: Carl Adolf Cornelius, in: Historiker in meiner Zeit, S. 187-197, hier S. 187/188). Cornelius betrachtete sich selbst als RankeSchüler und legte auch in späteren Jahren sehr viel Wert auf das Urteil des Meisters über seine Werke; so ζ. B. Cornelius an Ranke, 19.1.1852 (SB Berlin 2, NL Ranke Erg.) mit Übersendung seiner Habilitationsschrift über die „Münsterischen Humanisten" (s. Denkwege, Anm. 235): „Lassen Sie mich den ersten Zeilen, welche ich an Sie zu richten wage, noch den einfachen Ausdruck meiner Dankbarkeit gegen Sie beifügen. Ich weiß nicht, wie Ihr und das allgemeine Urtheil über meine jetzigen und künftigen Leistungen ausfallen wird. Unter allen Umständen aber war ich und werde ich femer des eingedenk sein, was ich Ihnen schuldig bin, und daß der beste Theil meiner beginnenden wissenschaftlichen Thätigkeit aus der von Ihnen empfangenen Anregung erwachsen und durch Ihre zweijährige lehrende Anleitung bedingt ist"; desgl. Cornelius an Ranke, 15.7.1855 (BSB, NL Cornelius ANA351, Π Β 2 - Korrespondenzbuch 1852-1878, S. 122) mit Übersendung des ersten Bandes der Geschichte des „Münsterschen Aufruhrs": „Haben Sie die Zeit - denn den Willen darf ich bei meinem Lehrer wohl voraussetzen, mir einen Gefallen zu thun, so sagen Sie mir bei Gelegenheit, ob Sie mit Ihrem Schüler ein kleines bißchen zufrieden sind; aber verschweigen Sie mir auch das Gegentheil nicht." 152
Böhmer an Höfler, 31.1.1845 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 396). Vgl. etwa Böhmer an Ministerialsecretär Feil in Wien, 14.1.1855 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe DI, S. 134): „Ich meines Theils denke, daß wir von jenen Herrn alles Gute lernen wollen, was sie an Kenntniß, Urtheil und Methode besitzen, aber dann auch es gebrauchen, nicht für eine conventioneile Wahrheit, sondern für jenen Standpunkt, der von den Vätern auf uns gekommen ist: daß uns dieser nicht unter den Füßen weggezogen, sondern daß jede Zeit wie sie war und wahr ist, begriffen, und damit auch die rechte Unterlage für die Auffassung der Gegenwart gewonnen werde." 154 Böhmer an Klüpfel, 21.7.1844 (UB Tübingen, Md 756-4). 155 Böhmer an Gfrörer, 22.8.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 449), mit besonderem Blick auf Dönniges, Waitz und Eichhorn. 153
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zistisch-konservativen, großdeutschen Historiker beanspruchten den „nationalen" Blick auf die deutsche Geschichte; jene Behauptung ihrer Gegner, „deutsch und protestantisch sei immer eins gewesen",156 konnten sie nur als Geschichtsklitterung betrachten, gegen die Position zu beziehen war. Verbarg sich vor 1848 der politische Großdeutsch-Kleindeutsch-Gegensatz meistens noch hinter dem konfessionellen Problem - wenngleich er gleichzeitig mit diesem immer auch schon angesprochen war - , so drängte er im Laufe der fünfziger Jahre mehr und mehr in den Vordergrund. Den variierend, jedoch mit ähnlicher Semantik gebrauchten Gruppenbezeichnungen „Rankeschule", „Berliner Schule", „norddeutsche Schule" gesellte sich eine neue Kategorie zur Seite: die jetzt ausdrücklich so titulierte „kleindeutsche" oder „gothaische Partei". Zunehmend erschien in dieser der eigentliche geschichtspolitische Gegenstandpunkt zusammengefaßt; die Heidelberger Schule trat als rivalisierende Gruppe nicht mehr auf. 157 Der „Gothaismus" - abgeleitet vom Ort jener Versammlung der „erbkaiserlichen" Paulskirchenabgeordneten im Juni 1849, also derjenigen liberalen und gemäßigt demokratischen Abgeordneten, deren Zusammenwirken in der Nationalversammlung die Verabschiedung des „kleindeutschen" Verfassungsentwurfes ermöglicht hatte 158 - avancierte innerhalb der geschichtspolitischen Debatte schnell zum pejorativ konnotierten Schlagwort fur die kleindeutsche
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Höfler, Über katholische und protestantische Geschichtschreibung, S. 306. Am Rande sei nur bemerkt, daß auch eine weitere, freilich im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts an Bedeutung verlierende wichtige Schule deutscher Geschichtswissenschaft, die Göttinger Schule, als Feindbild der Großdeutschen weder vor noch nach 1848 eine besondere Rolle spielte (Die Feststellung Gfrörers in seiner Autobiographie, er sei von Göttingen wie von Berlin aus angegriffen worden, bezieht sich auf die Göttinger Theologie; Gfrörer, Autobiographie, S. 25). Nach der Konfessionalisierung von 1837/38 war es zwar nicht mehr im alten Umfange üblich, daß junge katholische und süddeutsche Historiker in Göttingen studierten; eine „Göttinger" als rivalisierende Schule entstand deshalb jedoch noch nicht. Eher neigte man dazu, von einer Ausdehnung der „Berliner Schule" nach Göttingen zu sprechen, etwa durch Georg Waitz, der seit 1848 in Göttingen lehrte. - Über mögliche Einflüsse der Göttinger historischen Schule des 18. Jahrhunderts und ihrer Ausläufer auf die erste Generation der großdeutschen Historiker vgl. o. S. 351-357. 158 Über die Gothaer Versammlung vom Juni 1849 Pastor, Max von Gagern, S. 305/ 306; vgl. auch Georg Witzmann: Die Gothaer Nachversammlung zum Frankfurter Parlament im Jahr 1849 (Das „Gothaer Parlament"). Eine Studie aus der Vorgeschichte der Reichsgründung und der Jugendzeit des deutschen Parlamentarismus, Gotha 1917; G. A. Kertesz: Die „Gothaer" 1849/50. Zu den Anfängen der politischen Parteien in Deutschland, in: Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19. und 20. Jahrhundert 15 (1995), S. 214-245. 157
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Gruppe, dessen sich mit Vorliebe Onno Klopp bediente. 159 Auch Ranke sowie selbstverständlich dessen Schüler packte er in diese Schublade. Noch im Dezember 1874 bezeichnete er den Altmeister „als den gefahrlichsten aller dieser preußischen Lügner." 160 Rankes Schule, hatte er 1859 in einer Immediateingabe an seinen damals noch regierenden König Georg V. von Hannover ausgeführt, sei zwar mit der „gothaischen Geschichtsauffassung" nicht identisch, ,jedoch nahe damit verwandt, und die Grenzen sind oft schwer zu ziehen." Diese gothaisch-rankeanische Partei „allein glaubt in Deutschland das Monopol der Geschichtschreibung zu haben und zwar immer nur für das Haus Hohenzollern." 161 Ausblicke dieser Art spiegeln bereits die verschärften Frontlinien späterer Jahre, verweisen auf die Diagnosen der zweiten Generation großdeutscher Geschichtsschreiber zur Lage der Geschichtswissenschaft in Deutschland. Freilich war aber die geschichtswissenschaftliche Spaltung im Kern doch bereits lange vor dieser Zeit und vor diesen Historikern angelegt. Selbst der irenische Böhmer, der noch in der Freimund/Runkel-Angelegenheit zu „verachtendem Stillschweigen" geraten hatte, sah sich 1851, wenn auch nicht öffentlich, zu deutlicherem Vokabular genötigt und forderte Julius Ficker - in dessen Innsbrucker Wirken er nach 1852 große Hoffnungen setzte hinsichtlich der Etablierung einer der Rankeschen entgegengesetzten Historikerschule 162 zu stärkerer Durchsetzung der eigenen Positionen auf. War er nicht zufrieden mit den Beiträgen seiner Gesinnungsgenossen zur Gestaltung der Fachwissenschaft sowie zur Mitgestaltung der geschichtspolitischen Debatte vor der großen Zäsur von 1848/49? „Überhaupt liebe ich die Leute nicht, welche vergessen haben, wo ihre Wiege stand. Und die Gothaer soll überhaupt der Teufel holen, dem sie gehören. Sie sind mir widerwärtiger als die Rothen. Uns Südwestlichen mit Hilfe von ein Paar lumpigen Stimmen [...] die preußische Herrschaft aufladen zu wollen, also darum den Bürgerkrieg nicht zu scheuen, während die Herrn Kaisermacher von keinem Menschen ein Mandat hatten als von ihrer eigenen Frechheit und Herrschlust: das scheint mir eines der schändlichsten
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Vgl. den Titel der programmatischen Stellungnahme Klopps im Rahmen der Sybel-Ficker-Kontroverse: Onno Klopp: Die gothaische Auffassung der deutschen Geschichte und der Nationalverein. Mit Beziehung auf die Schrift des Herrn von Sybel: Die deutsche Nation und das Kaiserthum, Hannover 1862. Näheres darüber bei Brechenmacher, „Österreich steht außer Deutschland S. 36-40. Klopp an Janssen, 6.12.1874 (Ludwig von Pastor [Hg.]: Briefe von Onno Klopp an Johannes Janssen, in: Hochland 16,2 (1919), S. 229-253, 385^05, 484-511, 578607, hier S. 485). 161 Die Immediateingabe wörtlich bei Klopp / Schnabel, S. 39/40. 162 Vgl. Böhmer an Ministerialsekretär Feil in Wien, 14.1.1855 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe m, S. 134/135) sowie Böhmer an Stälin, 14.1.1855 (Ebd. m, S. 136): „Ficker hält in Innsbruck geradezu Schule für Geschichtsforscher. So bleibt künftig denn doch nicht bloß den Berlinern das Wort."
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Attentate, welche die neuere Geschichte kennt. Menschen zu dergleichen fähig, sind unmöglich zugleich fähig, deutsche Geschichte - weder alte noch neue aufzufassen und darzustellen. Also dürfen wir andern uns von ihnen auch nicht irre machen lassen, ihnen nicht aus dem Wege gehen. Was aus den Gefahren, die das Vaterland bedrohen und die nun aus so schnöder Selbstsucht verläugnet werden, noch gerettet hervorgehen wird, ist mir ungewiß. Aber daran zweifle ich nicht, daß jene Ansicht größere Hoffnung des Sieges hat, welche nicht zu brechen braucht mit der Vergangenheit unseres Volkes, als diejenige, welche von diesen Menschen vertreten wird." 1 6 3 3. Versuche der Gegensteuerung a) Böhmer, Gfrörer und der Streit um die Monumenta Dabei hatte Böhmer selbst einst mit so großen Hoflnungen auf Gestaltung und Veränderung seine Laufbahn im Dienste der „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde", später Monumenta Germaniae Historica, begonnen.164 Auf diesem Gebiet - und später freilich dann auf dem Gebiet seiner Regesten hatte er mitwirken wollen, die Fachwissenschaft zu gestalten. Nicht durch lautstarke und publikumswirksame Aktionen, sondern durch stilles und beharrliches wissenschaftliches Wirken sollte der „ewige Bau deutscher Geschichtsforschung aufgeführt", das „nationalste Werk unserer Tage vollbracht werden." 165 Sehr zum Bedauern und trotz vieler vergeblicher Bemühungen Böhmers, den vom Freiherrn vom Stein vorgegebenen altreichisch-vaterländischen Kurs zu halten, entwickelte sich das „nationalste Werk" jedoch in eine ganz andere Richtung. 166 Neben der zunehmenden Ausfüllung durch die eigene Regestenarbeit trug diese 163
Böhmer an Ficker, 26.3.1851 (unvoUend. Konzept, Frankfurt/M., NL Böhmer 1 Κ 5 F). Vgl. ο. S. 81-84. 165 Böhmer an Pertz, 31.5.1826 über die Dedikation des ersten Bandes der MGH an den Freiherm vom Stein (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 160). 166 Werner Kaegi faßt den Gang dieser Entwicklung in prägnanter Kürze zusammen: Der Freiherr vom Stein habe „seine »Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde4 so aufgebaut, daß österreichische neben deutschen, katholische neben protestantischen, kleine neben großräumigen Staatsbildungen im gemeindeutschen Bereich der Monumenta Germaniae Historica ihre Mitarbeit und ihre Berücksichtigung hätten finden sollen. Gerade in der Geschichte dieses Unternehmens aber spiegelte sich die politische Entwicklung, die von der Tradition des alten römisch-deutschen Reichs zum preußischdeutschen Nationalstaat führte. Habsburgische und katholische Gesichtspunkte gerieten immer mehr in den Hintergrund, der Schwerpunkt der Leitung verschob sich vom Frankfurter Bundestag an die Preußische Staatsbibliothek, das Unternehmen einer freien Korporation wurde zu einem staatlich finanzierten Beamteninstitut." (Werner Kaegi: Vorwort zu Jacob Burckhardt , Historische Fragmente, hg. von Emil Dürr, ND Stuttgart/Berlin 1942, S. ΙΧ-ΧΧΙΠ, hier S. XVm/XDQ. 164
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Entwicklung ihren Teil bei zu Böhmers sukzessivem Rückzug von der wissenschaftlichen Mitarbeit an den Monumenta. Von der seit dem „Cappenberger Programm" intendierten Herausgabe der Kaiserurkunden für die Monumenta 167 trat er 1858 endgültig zurück, blieb jedoch als Sekretär in Frankfurt noch weiter im administrativen Bereich der Monumenta tätig, wenn auch mehr und mehr passiv, den Vorschlägen Pertz' lediglich zustimmend.168 Nach seiner ersten schweren Erkrankung vom Dezember 1860 ließ er sich aber auch hiervon weitgehend „befreien". Böhmers abschließendes Urteil über die Monumenta klingt entfremdet und resigniert: „Für ein kaltes, vornehmes Unternehmen in unzugänglicher Form, in unerschwinglichem Preise, welches, wie hoch es auch sonst zu ehren sein möge, den Bedürfnissen meines Volkes nicht entspricht, habe ich wenig Herz." 1 6 9 Jene von Böhmer hier angesprochenen Gründe seiner Entfremdung verweisen wiederum zurück in die Zeit der Weichenstellungen vor 1848. Der gestalterische Impetus, den die von Böhmer repräsentierte historiographische Richtung qua Monumenta bereits in den vierziger Jahren auf die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in Deutschland hatte ausüben wollen, war verflogen. Warum hatte sie nicht verhindern können, daß die drohende Spaltung auch auf jenes „vaterländische" Unternehmen übergriff und daß die gegnerische Richtung in diesem langsam das Übergewicht bekam? Sicherlich liegt im komplizierten Verhältnis Böhmers zum wissenschaftlichen Leiter der Monumenta, Georg Heinrich Pertz, ein Teil der Antwort auf diese Frage. Pertz' zunehmende Orientierung nach Nordosten, in Richtung der b e r liner Schule", sowie seine 1842 erfolgte Übersiedelung nach Berlin entfremdete die beiden Freunde der Monumenta-Gründungszeit gegenseitig.170 Aber nicht nur diese persönliche Entwicklung, sondern auch die zunehmenden Differenzen über die formale Konzeption und, damit zusammenhängend, die Zweckbestimmung der Monumenta trugen zu den Unstimmigkeiten bei. Obwohl Böhmers
167
Vgl. o. S. 83. Böhmer hatte bereits im März 1845 Pertz gegenüber erklärt, „gänzlich auf die mir [...] zugedachte Wirksamkeit" zu verzichten (Böhmer an Pertz, 21.3.1845 - Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 410). 1857 begann er jedoch erneut mit Pertz über eine mögliche Edition der Diplomata zu verhandeln, was jedoch 1858 hauptsächlich an der Frage des für Böhmer inakzeptablen Folioformates scheiterte. Vgl. Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 380/381, 390/391, Kleinstück, S. 333-335 sowie Bresslau, Geschichte der MGH, S. 355-365. 169 Böhmer an Pertz, 28.12.1860 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe m, S. 348). 170 Das Verhältnis Pertz-Böhmer fand sowohl in der Monumenta- (s. Lebenswege, Anm. 36/37) als auch in der Böhmer-Literatur (s. Lebenswege, Anm. 2) bisher mehrfach Darstellung, so daß Einzelheiten an dieser Stelle unterbleiben können. Zu Pertz vgl. zusätzlich die seltene aber interessante Publikation autobiographischer Schriften: Georg Heinrich Pertz: Autobiography and Letters of George Henry Pertz, edited by his wife, ο. Ο. u. D. [London 1894]. 168
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diesbezügliche Ansichten innerhalb fachwissenschaftlicher Kreise nicht isoliert standen, er also beim Versuch der Durchsetzung seiner Ideen auf Unterstützung hätte rechnen können, verhielt er sich Pertz gegenüber zeitlebens loyal. Unter Verzicht auf eine größere, womöglich in breiterer Öffentlichkeit geführte Auseinandersetzung um die Monumenta, steckte Böhmer in der Regel zurück und versuchte, seine Vorstellungen, wie in den „Fontes", 171 wie aber auch noch in den „Acta Conradi" von 1859, auf eigene Faust - und auf eigene Rechnung zu verwirklichen. 172 Diese Haltung entsprach vollkommen Böhmers Naturell: scheu und zurückgezogen auf der einen, undiplomatisch, vielleicht gar starrköpfig auf der anderen Seite. Den Wert der Freundschaft schließlich hielt er heilig. Lieber akzeptierte er die Entwicklung der Monumenta in eine ihm fremde Richtung, als mit Pertz darüber zu brechen. 173 Böhmers persönliche Disposition blieb in dieser Hinsicht jedoch nicht ohne Konsequenzen für die weiteren Schicksale katholizistisch-konservativer, großdeutscher Historiographie. Sein Rückzug aus den Monumenta läßt sich mit guten Gründen erklären und verstehen. Dessen institutionengeschichtliche Folge darf jedoch nicht verborgen bleiben: die großdeutsch orientierten Historiker verloren damit entscheidenden Einfluß auf eine der wichtigsten Einrichtungen deutscher Geschichtswissenschaft. Obendrein flankierte Böhmers Rückzug ein Streit um die Monumenta, der kaum dazu beitragen konnte, den Ruf dieser Historikergruppe als einer geschlossenen, schlagkräftig auftretenden Schule zu stärken. Jener Streit wiederum entwickelte sich aus dem Auftreten eines zweiten ausgeprägten Charakterkopfes der ersten Generation, August Friedrich Gfrörers, in Sachen Monumenta. Dieser, im Jahr 1846 beim vierten Band seiner Allgemeinen Kirchengeschichte" angelangt, zeigte sich mit dem Fortgang der Monumenta-Editionen 171
Zu den „Fontes" vgl. o. S. 276-278; Böhmer an F.B. Hurter, 25.12.1843 (ZB Zürich, Ζ Π 310): „Mit Pertz kam ich vortrefflich aus, denn er ist ein großartiger reicher edler Mensch, und aufrichtig mein Freund. Über die Fontes hatten wir weiter keine Expirationen. Ganz recht werden sie ihm schwerlich sein, aber er weiß gar gut, daß ich herausgeben kann was ich will." 172 Johann Friedrich Böhmer: Acta Conradi I. regis. Die Urkunden König Conrads I., 911-918, Frankfurt/M. 1859. Böhmer sah in diesem Privatdruck lediglich einen Versuch, der demonstrieren sollte, wie er sich in etwa die Edition der Königs- und Kaiserurkunden vorstellte (vgl. Bresslau, Geschichte der MGH, S. 366). In der Historischen Zeitschrift unterzog Waitz allerdings Böhmers Editionsprinzipien, besonders dessen mangelnden Rückgriff auf die Originale, einer scharfen Kritik. Georg Waitz: Wie soll man Urkunden edieren? In: HZ 4 (1860), S. 438-448. 173 Noch 1863, wenige Monate vor seinem Tode, wies Böhmer den Gedanken an einen Bruch mit Pertz zurück. Böhmer an einen ungenannten Freund, 20.4.1843 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΠΙ, S. 408): „Ich muß Pertz dankbar sein, daß er mich so freundlich (aber erfolglos) angehört hat, gegen ihn auftreten: darf, kann und mag ich nicht."
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höchst unzufrieden. Während er die Böhmerschen Fontes-Ausgaben lobte, hielt er Pertz für einen Langweiler, über den er sich bei Böhmer, dem nach wie vor zweiten Mann an der Monumenta-Spitze, beschwerte. „Erlauben Sie, daß ich Sie im Intereße der vaterländischen Geschichte beschwöre, doch ja mit der Sammlung Ihrer Fontes fortzufahren, denn bis Perz an diese Zeiten kommt, werden noch Jahrzehnte verfließen, weßhalb Jedermann wünschen muß, daß fleißigere Hände sich der Sache annehmen."174 Daß Gfrörer seine MonumentaKritik zur „vaterländischen" Angelegenheit stilisierte, mußte Böhmer an einem wunden Punkt treffen, hatte er doch aus ähnlichen Gründen das Fontes-Unternehmen begonnen.175 Bereits 1839 hatte er Kopp gegenüber geklagt, „durch das Folioformat, durch die Aufnahme aller Quellen, auch der minder wichtigen, durch den unvermeidlichen hohen Preis" seien die „Monumenta mehr zu einem Werke für die Gelehrten, als für die Nation in weiterer Bedeutung geworden." 176 Peinlichst versuchte Böhmer jedoch den Eindruck zu vermeiden, als wolle er mit den Fontes in Konkurrenz zu den Monumenta treten, besonders, nachdem Gfrörer aus dem privaten Bereich persönlichen Briefwechsels mit Spekulationen über solche Zusammenhänge an die Öffentlichkeit getreten war und erneut Böhmer gegen Pertz ausgespielt hatte. Im Vorwort zum vierten Band der Kirchengeschichte dankte er Böhmer für die Überlassung von MonumentaAushängebögen und bedauerte, „daß die Pertz'sche Sammlung so langsam vorwärts schreitet. Da Pertz und seine Genossen durch Geldbeiträge der gesammten deutschen Bundesstaaten reichlich unterstützt werden", glaube er, ein Recht zu haben, „diese Klage hier öffentlich auszusprechen. Während Böhmer auf eigene Kräfte beschränkt, nicht nur die ungeheure Arbeit der Regesten rüstig weiter fordert, sondern auch nunmehr eine, durch ihre Wohlfeilheit Jedem zugängliche, Reihe von Quellen herausgibt, hätten jene Herren in 20 Jahren etwas mehr thun können!" 177 Böhmer antwortete am 22. August 1846 auf die Überreichung des Bandes durch Gfrörer und äußerte sich zunächst „fast erschreckt" über dessen Vorrede. „ H i e r thun Sie meinem vieljährigen Freunde Pertz schweres Unrecht, und auf eine mir um so schmerzlichere Art, da ich dabei in einem ganz unpassenden Gegensatz gegen ihn erscheine." Das wolle er, weil zu langwierig, nicht im einzelnen ausführen; allerdings erachte er es für „übel", daß ein
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Gfrörer an Böhmer, 6.2.1846 (UB Frankfurt/M., NL Böhmer, 1 Κ 5 G). Vgl. ο. S. 276. 176 Böhmer an Kopp, 29.12.1839 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 292). Vgl. auch Böhmer an Remling, 10.9.1845 (Ebd. Π, S. 421): „Die Monumenta Germaniae mit ihrem unbeholfenen Folioformat sind nur für Gelehrte ex professo"; Böhmer an Jugler, 8.7.1856 (Ebd. ΙΠ, S. 197): „Folioformat und lateinische Sprache des Herausgebers schreckten mich auf meinem nicht gelehrten, sondern nur patriotischen Standpunkt später davon [von der Herausgabe der Kaiserurkunden im Rahmen der MGH] ab." 177 August Friedrich Gfrörer: Allgemeine Kirchengeschichte, Bd. IV: Das Jahrhundert Gregor's VII. Erster Theil, Stuttgart 1846, Vorrede S. Vm. 175
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solch „öffentlich ausgesprochenes Wort so schwer wieder gut zu machen" sei. Dabei wäre Böhmer Gfrörer gegenüber vielleicht geblieben, hätte nicht inzwischen Pertz entschieden dagegen protestiert, „daß meine [Böhmers] Fontes nun wiederholt zu einem Angriff auf die Monumenta benutzt werden", sowie Böhmer zum Gegenzug aufgefordert. Böhmer sah sich hierdurch veranlaßt, Gfrörer in einer Nachschrift zum Brief vom 22. August aufzufordern, „das in Ihrer Vorrede Gesagte" zurückzunehmen; andernfalls fühle er sich genötigt, selbst eine Erklärung abzugeben. „Ich sehe dieß als eine uns beiden als Freunden und ehrlichen Leuten gemeinschaftliche Angelegenheit an." Noch einmal verteidigte Böhmer die Monumenta sowie Pertz und dessen Arbeit. Gfrörers Vorwurf der Verschwendung öffentlicher Mittel durch die Monumenta wies er mit Entschiedenheit zurück; da sitze Gfrörer einer Fehlinformation auf: mit den verfügbaren Mitteln komme die Monumenta gerade so über die Runden, wobei keiner der Mitarbeiter ein ausreichendes Gehalt beziehe. 178 An Pertz schrieb Böhmer den 6. September, bekundete „größtes Mißfallen" gegenüber der Gfrörerschen Vorrede, verteidigte aber auch die Notwendigkeit seiner Fontes als praktischer Handausgaben neben den Ausgaben der Monumenta und nicht in Konkurrenz zu diesen. In dieser Beziehung seien Mißverständnisse aufgetreten, und er, Böhmer, sei bereit, Alles zu thun, was Du nach Deiner eigenen Billigkeit angemessen hältst, um diese [...] zu beseitigen." 179 In eine Grundsatzdebatte über Sinn und Zweck der Monumenta ließ er sich mit Pertz nicht ein. Gfrörer auf der anderen Seite dachte gar nicht daran, seine Kritik zurückzunehmen. Schon am 11. September verteidigte er sich Böhmer gegenüber unter Berufung auf sein „allgemeines Menschenrecht" [!] der freien Meinungsäußerung. Gleichzeitig stellte er jene Kritik diesmal als „Ausdruck einer hier zu Lande unter Gelehrten viel verbreiteten Meinung" dar. „Ich und andere haben gegen die Art, in welcher Pertz die monumenta veröffentlicht, hauptsächlich zweierlei auf dem Herzen: 1) daß der Druck viel zu langsam vorwärts schreitet. In 23 Jahren nur 8 Bände einer Sammlung, die ein Nationalunternehmen ist, herauszugeben heißt die Geduld des Publicums zu ermüden, und zwar umso mehr da gegenwärtig die regste Thätigkeit im Gebiete der deutschen Geschichtsschreibung herrscht und da Hunderte von Gelehrten (wie ζ. B. auch ich) mit Spannung auf den Druck eines neuen Bandes der monumenta harren. 2) noch größer und gerechter ist die Unzufriedenheit darüber, daß für die publicirten Bände eines Werkes, für welches die Bundesstaaten alljährlich eine nicht unbedeutende Summe zahlen, dem Publicum ein Preis abgefordert wird, den man in England ,warm 4 finden würde, der aber in Deutschland eine noch stärkere Bezeichnung verdient. - Diese fast allgemein hier herrschende Mei-
178
Alles Böhmer an Gfrörer, 22. 8. 1846, mit einer Nachschrift vom 5.9.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 448-450). 179 Böhmer an Pertz, 6.9.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 452^55).
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nung habe ich mir herausgenommen in jener Stelle leise und schonend auszusprechen, indem ich Ihr entgegengehendes Verfahren als Folie gebrauchte. Sollte Herr Pertz nicht Sorge tragen, jene Übelstände, besonders Nro. 2 abzustellen, so sehe ich voraus, daß demnächst von Anderen stärkere Stimmen erklingen dürften. - Ich ermächtige Sie [...], von dieser meiner Zuschrift jeden Ihnen dienlich scheinenden Gebrauch zu machen." 180 Böhmer kam dieser Aufforderung nicht nach, scheint auch die angekündigte Gegenerklärung, für den Fall, daß Gfrörer nicht widerrufe, unterlassen zu haben, reduzierte jedoch den Kontakt zu Gfrörer, ja bezeichnete sich gelegentlich als mit diesem „überworfen." 181 Einen vorerst letzten öffentlichen Vorstoß unternahm Gfrörer 1847 in der Vorrede zum ersten Band der „Carolinger". Herr Pertz und seine Mitarbeiter möchten doch „die von dem deutschen Bunde unterstützte Sammlung unserer alten Geschichtsquellen rascher fördern. [...] Wenn die Sammlung in demselben Verhältnisse, wie bisher, vorwärts schreitet, ist das neunzehnte Jahrhundert gewiß längst zu Ende, ehe das Werk zu den Zeiten Maximilians I. herabreicht, und nicht wir, sondern unsere Kindes-Kinder werden sich der Vollendung desselben erfreuen." 182 Die Revolution von 1848 vertagte auch diese Auseinandersetzung. Unter der Beteiligung Gfrörers erlebte sie allerdings mehr als zehn Jahre später eine Fortsetzung, in deren Verlauf dann auch konkretere Vorschläge zu einer Neuorganisation der gesamten Monumenta Germaniae Historica Erörterung fanden. 183 De facto änderte sich freilich wenig. Pertz saß fest im Sattel und führte das Unternehmen im Stile eines Alleinherrschers bis zu seinem „Sturz" 1873 und der Angliederung der Monumenta an die Berliner Akademie der Wissenschaften. Als 1875 Georg Waitz den Vorsitz der neuen Zentraldirektion übernahm, waren die Tage der Richtungsdiskussionen längst vorüber. Von einem nennens-
180
Gfrörer an Böhmer, 11.9.1846 (UB Frankfurt / M., NL Böhmer, 1 Κ 5 G). Böhmer an F.B. Hurter, 1. 8. 1847 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 501); auch Bresslau, Geschichte der MGH, S. 397/398, der kurz auf die Auseinandersetzung eingeht, weiß nichts von einer Entgegnung Böhmers. - Der überlieferte Briefwechsel zwischen Böhmer und Gfrörer endet mit einer Anfrage Gfrörers vom 4.5.1848 mit der Bitte um Hilfe bei der Suche nach einem preiswerten Quartier in Frankfurt für den frisch gewählten Abgeordneten. - Obwohl die Kontroverse um die MGH in den fünfziger Jahren ihre Fortsetzung fand, zeigte sich Böhmer Gfrörer gegenüber nicht nachtragend. Gfrörer, so äußerte er sich nach dessen Ableben 1861, hätte einen Nachruf verdient. Der Umfang seines letzten Werkes über Papst Gregor VII. sei freilich zu tadeln, „bei einem Werk, das Anspruch darauf macht, gelesen zu werden." (Böhmer an F.B. Hurter, 20.11. 1861-ebd. ΙΠ, S. 372). 182 Gfrörer, Carolinger I, Vorrede S. IV. 183 Gfrörer veröffentlichte seine diesbezüglichen Vorschläge in der Wiener Zeitung vom 1., 4., 5., 6. Mai 1859; vgl. Bresslau, Geschichte der MGH, S. 397, Anm. 4 und 398, Anm. 1. 181
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werten Einfluß der katholizistisch-konservativen, großdeutschen oder derjenigen Gruppe von Historikern, die aus dieser hervorgegangen war, konnte nicht mehr die Rede sein. Eigentlich hatte die Möglichkeit einer solchen Einflußnahme in größerem Stil nur einmal bestanden: in jenen dreißiger und vierziger Jahren, als Johann Friedrich Böhmer noch in der Blüte seines Schaffens stand. Indem er zugunsten seiner Freundschaft mit Pertz aber auch im Einklang mit seinem persönlichen Naturell darauf verzichtete, eine große öffentliche Auseinandersetzung über die Monumenta herbeizufuhren, verzichtete er gleichzeitig darauf, der von ihm vertretenen historiographischen Richtung einen größeren, institutionell abgesicherten und rückgebundenen Stellenwert innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft zu verschaffen. Die Intervention Gfrörers, die zwar vordergründig nur über die Erscheinungsform der Monumenta argumentierte, im Grunde jedoch auch um bestimmte weltanschaulich-inhaltliche Positionierungen kämpfte, hätte ihm dazu einen Anlaß bieten können. Böhmer freilich distanzierte sich von Gfrörer - was obendrein dem homogenen Auftreten der Großdeutschen als Gruppe empfindlichen Schaden zufügen mußte - und hielt zu Pertz. Sicher, auch in den fünfziger Jahren versuchte zwar Böhmer, wie Bresslau im Detail darstellt, immer wieder intern mit Pertz über Änderungen in seinem Sinne zu reden: 184 aber da ging es schon nicht mehr um die großen Richtlinien, um den entscheidenden Einfluß; da stand nur noch die Frage im Mittelpunkt, unter welchen Bedingungen Böhmer überhaupt zur weiteren Mitarbeit bereit sei. Johann Friedrich Böhmer gestaltete Geschichtswissenschaft lieber auf die ihm eigene, stille Weise. Die große öffentliche Wirkung mußte ihm und der von ihm vertretenen Richtung dadurch freilich versagt bleiben. Wie Höflers Auftreten in der Freimund/Runkel-Angelegenheit, so lief ihm auch Gfrörers polterndes Engagement in Sachen Monumenta gegen den Strich. Wenn auch die edlen Motive dieser Haltung Böhmer selbst nachträglich in ein helles Licht stellen, so dienten sie innerhalb der institutionalisierten Geschichtswissenschaft der Durchsetzung des großdeutschen Standpunktes so wenig wie in der geschichtspolitischen Diskussion jener Jahre. b) Historische Zeitschrift, Stiftung für deutsche Geschichte Natürlich konnte eine vornehm-aristokratische und scheue Natur vom Schlage Böhmers durch persönliches Auftreten, im Gespräch, in der Korrespondenz mit einzelnen sehr viel besser wirken als im Rahmen einer ständig wachsenden, zur Anonymität tendierenden Forschungsinstitution wie den Monumenta. Böhmers besonderer Spagat zwischen Geschichte als einer „vaterländischen" Herzenssache und als einer gleichwohl wissenschaftlich-methodologisch absicherungs184
Bresslau, Geschichte der MGH, S. 355-395.
31 Brechenmacher
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bedürftigen Angelegenheit gelang wirklich nur ihm selbst überzeugend. Die Übertreibung des einen wie des anderen Poles liebte er wenig, lehnte eine Überinstitutionalisierung zur kalten, herzlosen Großwissenschaft ebenso ab wie ein selbstzufriedenes Verharren im dumpfen Morast der Vereinstümelei. 185 Böhmer suchte bis in späte Jahre hinein nach einer Zwischenposition, suchte die Heranbildung eines historiographischen Mittelstandes zu befördern. „Es fehlt in der deutschen Geschichtsforschung an einem Mittelstand. Wir haben nur ganz Hochgelehrte und Geschichtsvereinler. Das ist sehr übel." 1 8 6 Einem solchen Mittelstand gedachte er seine Haltung, seine Antriebe, seine Historik, seine Begriffe von Inhalt und Form geschichtswissenschaftlicher Arbeit in erster Linie zu übermitteln. Trotz gelegentlicher Frustration über mangelnde Resonanz bemühte sich Böhmer, dieses Wirken vor allem in Richtung des von ihm als eines historiographischen Entwicklungsgebietes gekennzeichneten Südens und Südwestens zu lenken. 187 In diesem Zusammenhang führte die ideelle wie mitunter auch finanzielle Unterstützung seiner Freunde, des österreichischen Augustinerchorherrn Joseph Chmel und des schweizerischen Historikers Joseph Eutych Kopp zu vielbeachteten Ergebnissen. 188 Weniger erfolgreich gestaltete sich hingegen 185
Böhmer an Roth von Schreckenstein, 31.7.1860 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe III, S. 341): Ihn „verlange im übrigen gar nicht nach den kalten Höhen der Großwissenschaft." - Um freilich das „Handwerk" Geschichte vor Unehren und Mißbrauch zu schützen, forderte er, mehr Strenge walten zu lassen „gegen albernes, unwissendes, anmaßendes und gehässiges Historisieren." (Böhmer an Karajan, 13.1.1844 - ÖNB Autogr. 168/42). 186 Böhmer an einen ungenannten Freund, 17.10.1860 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΠΙ, S. 344). 187 Böhmer an einen ungenannten Korrespondenzpartner, 1.2.1846 (SB Berlin 2, Slg. Darmst. 2f 1843 [6]): „Leider ist auch kein einziger Mensch vorhanden, der mich fortsetzen könnte. In München werden keine Schüler gezogen! Am meisten Freude machen mir die sich entwickelnden Wiener Historiker, aber sie ermangeln eines Führers." 188 Joseph Chmel (Hg.): Urkunden, Briefe und Actenstücke zur Geschichte Maximilians I. und seiner Zeit, Stuttgart 1845 (= Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 10); ders. (Hg.): Urkunden zur Geschichte von Österreich, Steiermark, Kärnten, Krain, Görz, Triest, Istrien, Tirol aus den Jahren 1246-1300, Wien 1849 (= Fontes Rerum Austriacarum, Bd. 1,1); ders. (Hg.): Urkunden, Briefe und Actenstücke zur Geschichte der habsburgischen Fürsten [...] aus den Jahren 1443-1473, Wien 1850 (= Fontes Rerum Austriacarum, Bd. II, 2). - Joseph Eutych Kopp (Hg.): Urkunden zur Geschichte der eidgenössischen Bünde, 2 Bde., Luzem/Wien 1835/1851; ders.: Geschichte der Eidgenössischen Bünde oder Der Geschichten von der Wiederherstellung und dem Verfalle des Heiligen Römischen Reiches zwölf Bücher, 5 Bde., Leipzig/ Luzern/Berlin, 1845-1882 (nach dem Tode Kopps weiterbearbeitet von Alois Lütolf, Arnold Busson, Franz Rohrer). - Zu Chmel (1798-1858) vgl. Alphons Lhotsky: Joseph Chmel zum hundertsten Todestage, in: Anzeiger der österreichischen AkdW, Phil.-Hist.-Klasse 95
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Böhmers Versuch, die bayerische Geschichtswissenschaft in seinem Sinne anzuregen, um jenem Manko an „Schulbildung" abzuhelfen, das er bereits zu Lebzeiten Joseph Görres' beklagt hatte. Seine „Wittelsbachischen Regesten" mit ihrem unausgesprochenen Nebenzweck, den Bayern einmal zu zeigen, wie Geschichtswissenschaft zu arbeiten habe, verfehlten ihr Ziel in München, wo manche auf Böhmers Vorstoß verschnupft reagierten. 189 Mit zu Böhmers Un-
(1958), S. 323-347; ders.: Österreichische Historiographie, Wien 1962, S. 147/148, 185-189 und 195-197; Srbik, Geist und Geschichte I, S. 230/231; zu Kopp (17931866) vgl. Lütolf; Richard Feller: Die schweizerische Geschichtschreibung im neunzehnten Jahrhundert. Mit Beiträgen von Giuseppe Zoppi und Jean R. de Salis, Zürich/ Leipzig 1938, S. 86-91; Srbik, ebd., S. 237. - Böhmer mündlich gegenüber Janssen über sein Verhältnis zu Chmel, bei Janssen, Böhmer's Leben und I, S. 382, Anm. 2: „In der Wiener Zeitung hieß es, daß unser Verhältnis die erste dauernde Annäherung zwischen den Historikern Österreichs und des übrigen Deutschlands begründet habe, und obgleich mir Solches nie eingefallen, so möchte ich doch jetzt glauben, daß diese Behauptung wirklich wahr sei." - Böhmer über Kopp, an Aschbach, 5.4.1856 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe ΠΙ, S. 181/182): „An Zuverlässigkeit und Vollständigkeit bis in's Kleine wird dieser doch von keinem Andern übertroffen und seine Arbeit kann in dieser Beziehung nicht hoch genug geschätzt werden. Lesbar ist sie freilich nicht, weil sie Allgemeines und Besonderes in unbegreiflicher Weise durcheinander schlingt [...] und sich auf ergänzende und die Resultate ziehende Betrachtung gar nicht einläßt. Traurig ist, daß ein so seltner Mann kaum die Mittel findet seine Sachen drucken zu lassen, geschweige denn eine Entschädigung für seine Mühen." Als Böhmer im März 1856 von der Göttinger Akademie den „Wedekind'sehen Geschichtspreis" verliehen bekam, beschloß er, diesen - „gerade 1 V3 Pfund Gold" - an Kopp weiterzugeben (Böhmer an Kopp, 26.4.1856 - Janssen, Böhmer's Leben und Briefe III, S. 184-186). Zur Verleihung des Wedekind-Preises an Böhmer vgl. [Georg Waitz]: [Begründung der Zuerkennung des Wedekind-Preises an Johann Friedrich Böhmer], in: Nachrichten von der Georg-August-Universität und der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen vom Jahre 1856,4, S. 92-94. 189 Johann Friedrich Böhmer: Wittelsbachische Regesten von der Erwerbung des Herzogthums Baiern 1180 bis zu dessen erster Wiedervereinigung 1340, Stuttgart 1854. Vgl. Böhmer an Johann Georg Lehmann, 5.12.1855 (Speyer, Pfalzische LB, Autogr. 438): „Bei den sachverständigen Gelehrten hat diese meine letzte Arbeit dieselbe Aufnahme gefunden wie die früheren. Auch aus dem Königreich Baiern wurde mir von Freunden der Wissenschaft dafür gedankt; aber freilich finden sich da noch andere Leute, die es als ein Verbrechen ansehen, wenn man sie aus dem Schlummer weckt. Und doch war ich gutmüthig genug von der allerelendesten Arbeit über Bairische Geschichte, welche die Akademie [...] herausgegeben hat, zu schweigen! Durch nichts ist das Geschichtsstudium in Baiem mehr zurückgehalten worden, als dadurch daß man an Archiven Bibliotheken und Universitäten nicht selten theils hypochondrische theils unwissende und unthätige Leute, ja geradezu Spitzbuben anstellte. Welch ein Unterschied gegen Wien [...]. Gegen mich hat man eine akademische Vorlesung halten lassen, hat mich in den Münchener Gel. Anzeigen so sehr herunter gemacht als man konnte (NB. 31:
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gunsten wirkte sich freilich deren Erscheinungsjahr (August 1854) aus: zu jener Zeit dominierten bereits andere Kräfte die geschichtswissenschaftliche Szene in München. 190 Weitere vielversprechende Pläne, auch schon der vierziger Jahre, blieben im Konzept stecken. So hatte Böhmer bereits früh erkannt, wie sehr ein periodisch erscheinendes geschichtswissenschaftliches Organ die Verbreitung seiner Geschichtsanschauungen hätte fordern können. Eine solche historische Zeitschrift aus katholizistisch-konservativer, großdeutscher Richtung hätte in jenen Jahren sicherlich ihren Zweck erreicht. Freilich, sie hätte sich programmatisch profilieren müssen gegen die niveauvolle liberale „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" des Rankeschülers Adolph Schmidt, die von 1844 bis 1848 erschien. 191 Böhmer hielt nichts von „Schmidt's Zeitschrift", hielt ihre Anlage für zu allgemein, ihren Inhalt und ihre Herausgeber für zu tendenziös im borussianischprotestantischen, antikatholischen Sinne. 192 Ihr etwas entgegenzusetzen, gelang ihm jedoch nicht; seine Idee, im Verlag Hurters kleinere eigene Arbeiten „auf meine Kosten drucken zu lassen und einmal zu versuchen wie viel Absatz es findet, wenn man daraus das erste Heft einer hist. Zeitschrift macht", blieb vage und unausgeführt. 193 Kometengleich, wie sie 1843 den Brief an Friedrich Hurter durchzog, verschwand sie, um bei Böhmer und anderen Großdeutschen erst mit Darlegung großer Unwissenheit), ja sogar eine Art Predigt über meine Unbescheidenheit und Undankbarkeit las man im Serapeum. [...] So übel wird es mir genommen, daß ich etwas leistete und einfreimüthiges Wort sprach." 190 Im September und Oktober 1854 hielt Ranke seine Vorträge über Neuere Geschichte vor König Maximilian Π. Leopold von Ranke: Über die Epochen der neueren Geschichte, hg. von Theodor Schieder und Helmut Berding, München/Wien 1971 (= Leopold von Ranke, Aus Werk und Nachlaß, Bd. 2). 191 Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Unter Mitwirkung der Herren A. Boeckh, J. und W. Grimm, G. H. Pertz und L. Ranke, hg. von Adolph Schmidt, Berlin 18441848; seit Bd 5, 1846 u. d. Τ. ,Allgemeine Zeitschrift für Geschichte", ohne Nennung von Mitherausgebern. Eine kurze Würdigung dieser Zeitschrift und ihres Programmes bei Srbik, Geist und Geschichte I, S. 363. 192 Böhmer an Klüpfel, 21.7.1844 (UB Tübingen, Md 756-4): „Schmidt mag guten Willen haben. Aber lassen Sie sich nicht durch die fünf Namen auf dem Titel blenden [s. vorangehende Anm.]. Die können und werden nichts für die Zeitschrift thun. Dieselbe ist auch schon in der ersten Anlage verfehlt. Wie kann man Germanistisches und antikes und dazu noch alles übrige in einen Topf werfen wollen? Dafür ist ja Stoff, Methode, Publicum ganz verschieden. Das führt nur zu so allgemeinen Allgemeinheiten wie gleich die Vorrede war. Very well, but nothing! wie die Engländer sagen. Ich kann auch schon deshalb keinen Antheil nehmen, weil das Ding in Berlin herauskommt." Ders. an dens., 30. 6. 1845 (ebd.), mit einer Klage über die Tendenz der Besprechungen von Sybels und Gildemeisters Schriften über den Heiligen Rock (s. Anm. 150) in Schmidts Zeitschrift. 193 Böhmer an F.B. Hurter, 25.12.1843 (ZB Zürich, Ζ Π 310).
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gegen 1859 wieder hervorzutreten. Sehr bald rückte diese Idee jedoch in die Defensive, stand in der seit 1859 tatsächlich erscheinenden „Historischen Zeitschrift" Sybels einem Projekt gegenüber, dessen qualitative Vorgaben zu erreichen, äußerst schwerfallen mußte. Auch ohne die Einzelheiten der Debatte der fünfziger und sechziger Jahre über die Gründung einer großdeutschen geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift weiterzuverfolgen, 194 spricht das bekannte Nicht-Ergebnis dieser Debatte für sich: die Großdeutschen begnügten sich mit der Diskussion über einen Plan, zu dessen Realisierung aber weder vor noch in der Zeit der intensivsten geschichtspolitischen Großdeutsch-Kleindeutsch-Auseinandersetzung wirklich ernsthafte Bemühungen jemals stattfanden. Sie überließen jenes öffentlichkeitswirksame Terrain ohne große Initiative
194
Diese Debatte wäre im Detail innerhalb einer Studie über die zweite Generation darzustellen. Dem vorliegenden Zweck genügt die Kenntnis folgender Fakten: Böhmer besprach seit Beginn des Jahres 1859 mit Julius Ficker das Projekt einer Zeitschrift für Reichsgeschichte mit anti-gothaischem Programm (Böhmer an Ficker, 6.1.1859 und Böhmer an Arnold, 8.2.1860 - Janssen, Böhmer's Leben und Briefe III, S. 281 und 316: beide Briefe markieren Anfang und Ende der Diskussion um dieses Projekt; ein neuerlicher Vorstoß Fickers vom 30.3.1860 - ebd. m, S. 328/329 - fand bei Böhmer kein größeres Echo mehr; vgl. hierzu insges. Engelbert Mühlbacher: Vorwort zu Mittheilungen des Instituts für österreichische Geschichtswissenschaft, Ergänzungsband 1 [1885], S. 1-6). - Bereits 1858 hatte der junge badische Historiker Fridegar Mone Böhmer den Plan einer historischen Zeitschrift mit Tendenz gegen Schmidt und Sybel unterbreitet sowie mit diesem diskutiert: auch dieser Plan hatte keine Verwirklichung gefunden (vgl. Weech, Briefwechsel Böhmers mit Franz Joseph und Fridegar Mone, S. 674-676). Darüberhinaus begegnen folgende Projekte: Janssen (Karl Heinrich Roth von Schreckenstein) 1861/1862 (vgl. Jörg, Briefwechsel, S. 156-159); Cornelius 1862 (an Brüggemann, 7.11.1862 - BSB, NL Cornelius ANA 351 Π Β 1); Döllinger in Zusammenhang mit der katholischen Gelehrtenversammlung von 1863 (Cornelius an Brüggemann, 10.12.1863 - ebd.). - Die Vorschläge Klopps zur Gründung eines großdeutschen Broschürenvereins (undatiertes und unbetiteltes Fragment über einen Broschürenverein, möglicherweise 1864 für Eugen Theodor Thissen verfaßt sowie „Vorschlag zu einem Broschürenverein", 30.1.1868 - HHStA, NL Klopp, Karton 7, Fasz. Β 23) sowie der 1865 unter Mitwirkung Janssens wirklich gegründete „Frankfurter Broschürenverein" unterscheiden sich - ebenso wie die bereits bestehenden HPB11 - durch Publikationsform, Inhalte und Zielsetzung von den genannten Projekten einer historischen Zeitschrift. Ging es bei diesen um die Etablierung eines fachwissenschaftlichen Organs als eines Sprachrohrs der katholizistisch-konservativen, großdeutschen Historiographie, demfreilich gleichwohl gewisse Breitenwirkung beschieden sein sollte, so stand im Mittelpunkt jener das Anliegen breiterer Volksbildung in populärwissenschaftlichem Sinn, deren Themen einem weiten Spektrum von Wissensgebieten entstammten und entsprechend eingängige Aufbereitung fanden. - Erst seit 1880 sollten mit dem „Historischen Jahrbuch" der Görres-Gesellschaft Teile jener ursprünglichen Konzeptionen Böhmers, Fickers und Janssens in Deutschland verwirklicht werden.
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den Gegnern und verspielten damit eine wichtige Gelegenheit, ihre Wissenschaft zu gestalten. Nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in mäzenatischer Hinsicht nahm schließlich Johann Friedrich Böhmer mehrere Anläufe, die Fachwissenschaft zu fordern, besaß er doch - ungewöhnlich für einen Historiker - Kapital, 195 das er gern einsetzte, um seine und anderer kostspielige Werke zu realisieren. Zum Projekt einer Stiftung für deutsche Geschichte fühlte er sich 1844 geradezu verpflichtet. Wenigstens einen Teil seines Vermögens wollte er gemäß seiner „individuellen Stellung" der „Erziehung der Menschen zum Rechten durch die Kenntniß der Wahrheit" zur Verfügung stellen. 196 Da er „bei den Protestanten, wie sie jetzt sind", eine Verwaltung dieser Stiftung im Sinne seines Geschichtsverständnisses nicht finde, ja, da er überhaupt glaube, „daß das wirklich Gute, welches die Reformatoren anstrebten, jetzt weit mehr in der katholischen Kirche zu Hause ist, als bei ihren eigenen Nachfolgern", so nehme er keinen Anstand, seine Stiftung „unter die Obhut katholischer Überzeugung zu stellen", sei vielmehr der Ansicht, „ihr gar in keiner andern Weise eine dauernd heilsame Richtung" geben zu können. Die Aufgabe der Stiftung definierte er dementsprechend im Zusammenhang mit jener von Ordensgeistlichen des siebzehnten Jahrhunderts („der Oratorianer, der Mauriner und Sanblasianer") begründeten Tradition paläographischer, diplomatischer, genealogischer - im modernen Sinne „hilfswissenschaftlicher" - Grundlagenforschung, „wohlverstanden, daß diese Vorbilder dem jetzigen Stand der Dinge anzupassen sind." 197 Auch seine eigenen Arbeiten sollten natürlich als Vorbild dienen. Insgesamt habe sich die fordernde Tätigkeit der Stiftung mehr auf solche Projekte zu konzentrieren, die „auf Ordnung und Bereitlegung des Stoffes, als auf dessen darstellende Bearbeitung" abzielten. Die Förderung könne in Form von Druckkostenzuschüssen, Honoraren für bestimmte Auftragsarbeiten, Preisausschreiben sowie Prämierungen verdienstvoller Werke erfolgen. 198 Böhmer gedachte die Stiftung über die Zinsen des von ihm eingebrachten Kapitals zu finanzieren. Zum Stiftungssitz bestimmte er München oder als Alternative - für den Fall, daß „wider Erwarten deren dortige Ansiedelung und Wirksamkeit jetzt oder je Hindernisse finden" sollte - das Ferdinandeum in Innsbruck. Ein Gremium aus „fünf sachverständigen Männern römisch-katholischer Religion" sollte in der München-Option die Verwaltung weitgehend ehrenamtlich übernehmen; in diesem Kreis „soll sich jedesmal ein Mitglied des 195
Vgl. o. S. 75. Johann Friedrich Böhmer: Projekt einer Katholischen Stiftung für deutsche Geschichte, datiert vom 10.9.1844, abgedruckt bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 412-420, hier S. 413. 197 Alles ebd., S. 414. 198 Ebd., S. 416. 196
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dortigen Clerus und eins der dortigen Akademie der Wissenschaften befinden." 199 Neben weiteren detaillierten Verfügungen über Anlage und Verwendung des Kapitals schließt Böhmer die aus neun Paragraphen bestehenden Statuten mit seinen Wünschen hinsichtlich der ersten Verwalter und Einrichter seiner Stiftung. Er bitte unter anderem „gütigst" die Herrn Joseph und Guido Görres, Phillips, Döllinger und Höfler, diese Aufgabe übernehmen zu wollen. In einer Nachschrift zum Statutenteil vom 4. April 1847 gab Böhmer das Projekt auf: „Liebgehabte oder aufgegebene Gedanken, weil ich keinen tüchtigen Vollzug zu schaffen weiß." 2 0 0 Zweimal noch bekräftigte er diese Entscheidung, am 2. Oktober 1849 unter dem einleitenden Teil mit den allgemeinen Grundsätzen der Stiftung - ,Alles aufgegeben und ungültig." - sowie endlich, unter beiden Teilen des Entwurfes, am 10. März 1855:,Alles Vorstehende ist cassirt und dient nur noch zur Nachricht über aufgegebene Projekte." 201 Auch einen ebenfalls wahrscheinlich 1844 konzipierten Alternativplan einer Stiftung für das Ferdinandeum in Innsbruck verwarf er 1849. 202 In seinem Testament vom Dezember 1860, welches nach Böhmers Ableben am 22. Oktober 1863 in Anwendung kam, bestimmte Böhmer den Rechtshistoriker Wilhelm Arnold sowie Julius Ficker und Johannes Janssen zu Verwaltern seines wissenschaftlichen Nachlasses mit einer Summe von 20 000 Gulden zur Bearbeitung und Herausgabe seiner publikationswürdigen Manuskripte. Auch ein „Legat für geschichtswissenschaftliche Zwecke" war im Testament vorgesehen, einer Stiftung wie derjenigen von 1844 jedoch nicht mehr gedacht.203 Die Abwicklung des Böhmerschen Erbes sollte sich schwierig und langwierig gestalten sowie nicht ohne persönliche Unstimmigkeiten der drei Verwalter über die Bühne gehen; das ehemals so herzliche Verhältnis Janssens und Fickers litt darunter besonders. 204
199
Ebd., S. 417/418 (Statuten § 3 „Sitz" und § 4 „Verwaltung"). Ebd., S. 420. 201 Ebd., S. 417 und 420 mit etwas anderem Wortlaut. 202 Johann Friedrich Böhmer: Erläuterung über das Vermächtniß für das Ferdinandeum in Innsbruck, abgedruckt bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 420-422. 203 Vgl. Kleinstück, S. 347-350; zusätzlich: Verwaltung des Böhmerschen Nachlasses, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9 (1893), S. 172-176. 204 Ficker äußerte sich hierzu in der Vorrede zu: Johann Friedrich Böhmer: Additamentum tertium ad Regesta Imperii inde ab anno MCCCXim usque ad annum MCCCXLVII. Drittes Ergänzungsheft zu den Regesten Kaiser Ludwigs des Baiem und seiner Zeit. 1314-1347. Herausgegeben aus seinem Nachlasse, Innsbruck 1865; weiterhin ders.: Acta Imperii Selecta. Urkunden deutscher Könige und Kaiser mit einem Anhange von Reichssachen. Herausgegeben aus seinem Nachlasse [von Julius Ficker], 2 Bde., Innsbruck 1870, hier insbes. Fickers Vorrede, S. LXII. - Der einzige bisherige Versuch einer Darstellung der Differenzen um die Verwaltung des Böhmer-Nachlasses bei Baum, S. 201-207; Grundlage eines neuen Versuches wäre der Janssen-Ficker200
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Die eigentlichen Gründe für Böhmers Rücktritt vom Plan einer Stiftung für deutsche Geschichte müssen wohl verborgen bleiben. Jener von Kleinstück hergestellte Zusammenhang zwischen der Aufgabe des Stiftungsgedankens und den politischen Vorgängen von München 1847 erscheint nicht zwingend. 205 Mögen auch solche Erwägungen mitgespielt haben; Grund zur Annahme besteht gleichwohl, daß Böhmer aus Resignation über die mangelnde Begeisterungsfahigkeit seiner Zeitgenossen die Hürde vom Planen zum Handeln nicht nehmen konnte. Begründete er nicht seine Entscheidung schon in der ersten Nachschrift vom April 1847 damit, daß er „keinen tüchtigen Vollzug" zu schaffen wisse? Böhmer fühlte sich einsam und unverstanden. Er vermißte an anderen jenes Engagement, jene Begeisterung, die er selbst zu investieren bereit war. Ein Brief an Pertz vom Juni 1844, worin sich Böhmer über die geplante Stiftung für das Ferdinandeum äußert, demonstriert vielleicht besser als Spekulationen über Zusammenhänge mit politischen Entwicklungen, woran diese Projekte scheiterten: „Aber freilich, so viel darf ich ihnen [den Museumshistorikern des Ferdinandeums] nicht zutrauen, daß sie meine Arbeiten vollenden und fortsetzen würden, von denen ich doch wünsche, daß sie Süddeutschland eigen bleiben. Aber auf wen nun bauen? Ich versuchte mit einem hiesigen Freunde zu sprechen, aber meine Gedanken wurden wenig aufgefaßt. Ich dachte mit Schmerz: wie Viele doch gehen gleich denen, quos natura pronos finxit; das Leben ist ihnen nur eine Gewohnheit, weder sie treibt ein Gedanke, noch haben sie dergleichen bei andern bemerkt, wenn sie auch Jahrzehnte treu wie Hausthiere neben ihnen herliefen. [...] Sonderbar, daß man so allein sich fühlen muß, während man doch selbst von einer unverkennbaren Zeitrichtung getrieben ist." 2 0 6 Wie bei dem Streit um die Monumenta, wie bei der Frage nach einer historischen Zeitschrift, bleibt auch im Fall der Stiftung für deutsche Geschichte nur das schale „Wenn" des Irrealis, bleibt die Feststellung, wie stark die großdeutschen Historiographen der ersten Generation bereits auf die Gestaltung ihrer Fachwissenschaft hätten Einfluß nehmen können. Sicher, über ihre Werke, über ihre Schüler wirkten sie auch mit an dieser Gestaltung - besonders Böhmer durch seine Regesten, durch die Unterstützung seiner vielen Freunde und Nachahmer, aber auch Gfrörer als Professor in Freiburg sowie Döllinger und Höfler als Professoren in München. Aber sie verharrten in der zweiten Reihe, gaben nie die wirklich großen Impulse, wie sie Pertz und später Waitz den Monumenta, wie sie Ranke in Berlin und später zusammen mit Sybel in München gab. Interessant, daß deren Impulse genau in jenen Bereichen Wirkung zeigten, in denen die Großdeutschen ihre Chancen bereits vor 1848 nicht nutzten. Pertz
Briefwechsel, wie er nahezu vollständig im NL Ficker (Wien, Institut für österreichische Geschichtsforschung) und NL Janssen (UB Fribourg) vorliegt. 205 Kleinstück, S. 267. 206 Böhmer an Pertz, 4.6.1844 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe II, S. 380/381).
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behielt den richtungweisenden Einfluß auf die wichtigste geschichtswissenschaftliche Institution in Deutschland; Sybel rief mit der „Historischen Zeitschrift" die bedeutendste geschichtswissenschaftliche Zeitschrift deutscher Sprache ins Leben und Ranke schließlich gründete, wenn freilich mit königlicher Unterstützung, eine neue Institution, die „Historische Kommission" von 1858. Nimmt sich auch Böhmers Stiftungsprojekt gegen letztere verhältnismäßig bescheiden aus, so scheint es doch in Ansätzen jener Kommission vergleichbar. Böhmers noch vorhandener Plan demonstriert wenigstens, daß auch in den Kreisen der konservativ-katholizistischen, großdeutschen Historiographie ein nicht so unmodernes Bewußtsein für Fragen außeruniversitärer Wissenschaftsorganisation vorhanden war. Hätte Böhmer ernsthafter versucht, seinen Stiftungsplan umzusetzen, hätte er sich zum Versuch einer Zeitschrift durchgerungen, ja, hätte er 1846 den Konflikt mit Pertz gewagt - vielleicht wären die Großdeutschen nach 1848/49 von einem günstigeren Ausgangspunkt her ins geschichtspolitische Rennen um Deutschlands Vergangenheit gestartet. Die Chancen hätten bestanden. Abseits solcher historischen Konjunktive und zurück im Indikativ, erscheint hingegen die Feststellung unvermeidlich, daß die Großdeutschen bereits vor 1848 auf einer ungünstigeren Position standen als ihre Rivalen. Daß sie mit der Germanistenversammlung von 1846 eine der letzten großen Möglichkeiten vor der Zäsur von 1848 versäumten, sowohl diese Position zu verbessern als auch von ihrer Seite her noch einmal den Versuch zu unternehmen, bereits bestehende Gräben zu überwinden, konnte keiner von ihnen wissen. Daß aber freilich diese Versammlung immense Chancen fachwissenschaftlicher sowie öffentlichkeitswirksamer Einflußnahme geboten hätte, sah vor allem Johann Friedrich Böhmer erst zu spät ein. Er könne nicht leugnen, bedauerte er hinterher, „daß auch bei Gelegenheit des Germanistencongresses der Erbfehler meiner Erziehung, Blödigkeit und Verzagtheit und der ihr entsprechende Trutz mir wieder mitgespielt, denn Alles ging ungleich besser, als ich irgendwie erwartete." 207 c) Germanistenversammlung 1846: letzte Chance? Gute Gründe bestehen sicherlich, jene Versammlung der Germanisten - Juristen, Philologen, Historiker - zu Frankfurt am Main Ende September 1846, an deren Vorbereitung seit dem Sommer 1845 eine Gruppe von Gelehrten unter Federführung des Tübinger Juristen August Ludwig Reyscher 208 arbeitete, als
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Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 288. August Ludwig Reyscher (1802-1880), seit 1837 Professor für deutsche und württembergische Rechtsgeschichte in Tübingen; 1839 Begründer der Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft; seit 1851 Rechtsanwalt in Stuttgart; vgl. H. O. Mayer: August Ludwig Reyscher als Politiker, Tübingen 1928. 208
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„eine Vorschule zu der deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche" zu betrachten. 209 Abgesehen davon, daß sich viele dieser Germanisten als Abgeordnete der Nationalversammlung Wiedersehen sollten, scheinen doch insbesondere Ethos und Ernst der Verhandlungen, das Bewußtsein des Zusammentretens aus freiem Willen zu gemeinsam gestaltender, öffentlicher Auseinandersetzung nicht lediglich mit gelehrt-fachwissenschafilichen, sondern mit höchst „vaterländischen", für die Geschicke der Nation bedeutsamen Fragen, diese Parallele zu rechtfertigen. 210 Repräsentativcharakter dagegen konnte zumindest Johann Friedrich Böhmer der Versammlung nicht attestieren. So antwortete er reichlich abweisend auf die Zuschriften Reyschers und des assistierenden Adolph Schmidt, die ihm immerhin antrugen, die Organisation der Versammlung am anvisierten Tagungsort Frankfurt, ja deren dortige „Geschäftsführung" zu übernehmen. Er, Böhmer, könne auf dieses Ansinnen nicht eingehen, verreise er doch im Herbst regelmäßig, wolle auch über ein Jahr hinaus sich nicht binden, sei überdies kränklich; außerdem wäre zunächst der in Frankfurt existierende Geschichtsverein zu konsultieren. „Endlich (ich sags aufrichtig) möchte ich mir selbst Freiheit erhalten zuzusehen was aus der Sache wird. Wenn der Verein im Sinne von Herrn Schmidts Zeitschrift ausfallen könnte, dann nehme ich keinen Antheil. In dieser sind wiederholt kirchliche Überzeugungen und Institutionen angegriffen worden, die auch mir ehrwürdig sind oder mit denen ich doch in Frieden bin, wie denn meine Sympathien nicht auf das halbe, sondern auf das ganze Deutschland gehen." 211 Reyscher ließ jedoch nicht locker. Im Oktober übersandte er Böhmer den Entwurf des offiziellen Einladungsschreibens. Mit Bezug auf dieses wies er Böhmers Verdacht der Einseitigkeit zurück und bat ihn, die Einladung mitzuunterzeichnen sowie erneut, wenn schon nicht allein, so doch zusammen mit ihm, Reyscher, und Jacob Grimm die Organisationsarbeiten in Frankfurt durch-
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Schnabel, Ursprung der vaterländischen Studien, S. 4. Zum Begriff des „Germanisten" ebd. S. 9: „Man betonte [1846], diese Dreiheit von Juristen, Historikern und Philologen werde geeint durch den Ehrentitel »Germanisten4, und man müsse den Namen ,ganz buchstäblich4 verstehen und die bisher übliche Beschränkung auf deutsches Recht aufgeben, so daß er im gleichen Sinne auch der Sprache und Geschichtsforschung gebühre. Das Wort sei ganz unangreifbar: so, wie Romanist derjenige sei, der das Romanum betreibe, so sei Germanist, wer das Germanische oder deutsche Element in einem einzelnen Teile oder in seinem ganzen Umfange sich erkoren habe." 210 Der offizielle Bericht über den Verlauf der Versammlung gibt die Atmosphäre der Verhandlungen recht lebendig wieder: Verhandlungen der Germanisten zu Frankfurt am Main am 24., 25. und 26. September 1846, Frankfurt/M. 1847. 2,1 Böhmer an August Ludwig Reyscher, 21. 9. 1845 (WLB, Cod. hist. 4° fol 767, fasz. 12), als Antwort auf die Briefe Reyschers und Adolph Schmidts vom 13. und 15. 9. 1845.
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zuführen. 212 Zusätzlich versuchte Ludwig Uhland, Böhmer umzustimmen, indem er ihn auf die allgemeine Hochachtung hinwies, die man ihm innerhalb der germanistischen Gelehrtenwelt entgegenbringe. Bezüglich der Versammlung selbst ergänzte Uhland, die Sache müsse „sich freilich erst gestalten, aber sie kann nur dadurch die rechte Gestalt gewinnen, daß die Berufensten Hand anlegen." 213 Böhmer lehnte erneut ab. Obwohl ihm „eine zeitweilige Morgensprache derjenigen welche beim Auf- und Ausbau der germanistischen Wissenschaften betheiligt sind", als „etwas schönes" erschien, sah er doch „mit der Ausführung dieser Idee gar manche Bedenklichkeiten verknüpft [...], welche durch das in Ihrem Einladungsentwurf gesagte noch nicht gehoben sind, und welche wenigstens eine vorgängige Erwägung unter denjenigen veranlassen sollten die sich an die Spitze stellen wollen." Über die Art dieser ,3edenklichkeiten" schwieg er sich aus - dachte er wieder an seinen bereits geäußerten Vorwurf der Einseitigkeit? - , ergänzte lediglich, daß er „die jetzt mehrfach aufgeregte Stadt" Frankfurt nicht für den richtigen Tagungsort halte. Man solle sich doch eher für das an die Eisenbahn angeschlossene Nürnberg entscheiden. Den Gedanken, persönliche Verantwortung für Organisation und Gelingen der Veranstaltung zu übernehmen, wies er zurück. „Ferner scheint es mir, daß ich durch die Übernahme dieser Besorgung [des Tagungslokals] an welche sich die gesammte hiesige Vertretung des Unternehmens knüpfen würde, mehr gebunden belastet und nach verschiedenen Seiten hin verantwortlich gemacht wäre als irgend ein anderer Theilnehmer, und ich weiß nicht wie sich die daraus hervorgehende Zerstreuung und der damit verbundene Zeitverlust mit der Fortsetzung meiner wissenschaftlichen Arbeiten vereinigen ließen." 214 Hätte ihm aber nicht eine bereitwilligere Mitarbeit ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, auf die stärkere Vertretung „seiner" Richtung innerhalb der geplanten Versammlung hinzuwirken? Denn sowohl in jenem ersten Entwurf der Einladung, von dem sich Böhmer eine Abschrift fertigte, 215 als auch in der endgültig ausgegebenen Fassung bezeichneten die Organisatoren den Ausgleich von Gegensätzen als ausdrückliches Ziel der Versammlung: „Wissenschaftliches Anregen, persönliches Kennenlernen und Ausgleichen der Gegensätze, soweit diese nicht innerhalb der Forschung Bedürfniß sind, werden Zweck unserer Versammlung sein, ein Ziel, worin sich auch sonst abweichende Bestrebungen vereinigen können, vorausgesetzt nur, daß es ihnen um Wahrheit zu thun ist." 2 1 6 Gerade dieses Ziel sah aber Böhmer in seiner Vorfeldkritik der Veranstaltung in 212 213 214 215 216
In Auszügen zit. bei Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 286. Ebd. I, S. 287. Böhmer an Reyscher, 5.12.1845 (WLB, Cod. hist. 4° fol 767, fasz. 12). UB Frankfurt/M., NL Böhmer 1 F V 8, Blatt 18. Verhandlungen der Germanisten, S. 5.
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keiner Weise erfüllt. „Unter den 14 Unterschriften des Entwurfs zur Einladung war kein einziger Katholik." 2 1 7 Das Ganze, „wie es nun zustande gekommen", führte er Höfler gegenüber aus, „ist eine in Berlin verabredete Entreprise Reyscher's. Die Namen der Einladenden sind offenbar sehr einseitig gewählt. Unter 18 [...] nur vier Süddeutsche und nur ein (Namen)Katholik. Lauter linkes Centrum. Selbst das rechte der Protestanten (Menzel in Breslau, Barthold, Gfrörer) fehlt." 218 Einmal neigte er sogar dazu, jene programmatisch formulierte Hoffnung auf einen großangelegten Ausgleich der Gegensätze gänzlich als Illusion zu bezeichnen. „Halbwege Verständigung oder, wenn man lieber will, achtende Duldung ist doch eigentlich nur im Einzelverhältniß mit einigen Ausgezeichneten möglich." 219 Freilich, übergroße Bereitschaft, wenigstens den Versuch zu wagen, legten weder Gfrörer noch Böhmer an den Tag. „Den bevorstehenden Congreß der Historiker", ließ Gfrörer im August verlauten, „welcher von Berlin aus auf eine für uns Süddeutsche so schmeichelhafte Weise berufen wurde, werde ich umso weniger besuchen, da ich keine specielle Einladung erhielt. Ich hätte es freilich auch sonst nicht gethan." 220 Auch im katholizistisch-konservativen, großdeutschen Lager blieb man lieber unter sich. „Über den bevorstehenden Congreß der Germanisten", antwortete Böhmer in jenem Brief vom 22. August, der dann andererseits auch das Zerwürfnis" beider über die Monumenta herbeiführen sollte, „denken wir gleich. Sollte derselbe wirklich einen allgemeinen Charakter tragen, so ist es unbillig, daß unter den Berufenden [•··] = 14 /j 8 Norddeutsche, 17 / 18 Protestanten sind. Wozu diese Anbrüderung, wo man doch nicht gleiche Ehren zugesteht? Wozu die Zusammenkunft in Süddeutschland, wenn Norddeutsche sich ohne Weiteres die Hauptrolle nehmen? Indessen mag's sein, daß hier viele Schuld auf irgend einen einzelnen ungeschickten Besorger fallt. Besuchen würde ich diese Versammlung auswärts nicht, aber absichtlich gehe ich ihr auch nicht aus dem Wege, obwohl ich voraussehe, daß Unangenehmes vorkommen könnte." 221 Andererseits: wer außer Böhmer hätte für eine geschicktere Besorgung eintreten können, wer außer ihm hätte für das süddeutsch-katholische Gewicht, hätte für Einladungen an seine Freunde Höfler, Gfrörer, vielleicht auch an Döllinger und Hurter sorgen können? Wer außer Böhmer, dem in der Vorbereitungsphase dieser Versammlung eine so bedeutende Rolle zugedacht war, hätte jene Integrationsfunktion zwischen Süd und Nord, katholisch und protestantisch ausfüllen können? Der kategorische, etwas selbstgerechte Rückzug in den Schmollwinkel, den auch Gfrörer antrat, führte lediglich zur Stärkung des wirklichen Übergewichts der „anderen".
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Böhmer an Guido Görres, 4.2.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 432). Böhmer an Höfler, 25.3.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 434). Böhmer an Kopp, 10.7.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 447). Gfrörer an Böhmer, 15.8.1846 (UB Frankfurt/M., NL Böhmer 1 Κ 5 G). Böhmer an Gfrörer, 22.8.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 449).
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Vom tatsächlichen Verlauf der Versammlung zeigte sich Böhmer dann doch angenehm überrascht. Der Andrang der Gelehrten, von denen zwei, Pertz und Stälin, in Böhmers Gartenhaus wohnten, 222 brachte Belebung in seinen eintönig-einsamen Frankfurter Alltag. Dem ebenfalls sehnsüchtig erwarteten aber ausgebliebenen Kopp schrieb Böhmer unmittelbar nach der Versammlung, was er versäumt habe, könne er nie wieder gewinnen. „Es ist Alles trefflich gegangen. [...] Ich will dessen zu meiner Lehre gedenken, wenn auch mich, wie oft geschieht, Kleinmuth beschleicht." Zwar habe er sich gemäß seinem Vorsatz passiv verhalten, bereit, bei der „ersten Äußerung, die mich oder meine abwesenden Freunde verletzen könnte", den Saal zu verlassen, „aber in der That machte sich Alles so vortrefflich, daß auch nicht das Geringste diese düstern Ahnungen verwirklichte." Pertz habe die Sitzungen der historischen Abteilung ausgezeichnet und mit Umsicht geleitet, habe auch im Plenum Reyschers Ungeschicklichkeiten ausgebügelt. „Die Linie des wissenschaftlichen Standpunktes wurde nicht überschritten; die geäußerte Theilnahme sank nicht in die niedern Regionen, sondern war der Besten würdig." Kopp, hätte er sich nur entschließen können, doch zu kommen, „wäre durchaus nur unter den Ersten und Besten gewesen, im großen Kreis der Versammlung wie am stillen Herd meines Hauses." 223 Der Sog jener gehobenen Stimmung hatte Böhmer in der letzten Sitzung der historischen Abteilung schließlich aus der Reserve seiner selbst auferlegten Passivität gelockt. Vielleicht hatte ihm auch Rankes Wertschätzung geschmeichelt, auf dessen ausdrücklichen Wunsch Böhmer die Aufforderung erhielt, zusammen mit Chmel, Stenzel 224 und Stälin das Gremium zur Einleitung der damals schon geplanten Reichstagsaktenedition zu bilden. 225 Jedenfalls entwarf Böhmer sogleich jene Denkschrift an die Bundesversammlung mit der Bitte um
222
Böhmer an Maurer de Constant, 27.11.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 457). 223 Böhmer an Kopp, 4.10.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 455/456). 224 Gustav Adolf Harald Stenzel (1792-1854), seit 1827 Professor der Geschichte in Breslau; veröffentlichte eine bedeutende quellenkritische Abhandlung „Zur Kritik der Quellen der Geschichte Deutschlands unter denfränkischen Kaisem" sowie Forschungen zu schlesischen Geschichte; vgl. E. Reimann, in: ADB 36 (1893), S. 53-57; Weber, Biographisches Lexikon, S. 577/578. 225 Verhandlungen der Germanisten, S. 218: „Der Präsident ersucht in Übereinstimmung mit der Versammlung die Herren Stenzel und Stälin, die Einleitungen zu Herausgabe der Reichtagsacten zu treffen, und über ihre Bemühungen in der nächsten Jahressitzung der Versammlung Bericht zu erstatten. Beide Herren erklären sich zur Übernahme des Auftrags bereit. - Ranke unter allgemeiner Zustimmung wünscht, daß zu dem Ende auch die Herren Böhmer und Chmel angezogen werden möchten. - Böhmer erklärt sich mit Rücksicht auf die ihn viel in Anspruch nehmenden Regesten-Arbeiten bereit, wenigstens als Beirath die Sache zu fordern."
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ideelle wie finanzielle Unterstützung des Reichstagsaktenprojektes als einer Art Fortsetzung der Monumenta Germaniae Historica, die noch am 29. September überreicht wurde. 226 Böhmers Euphorie hielt nicht lange an. „Es ist zwar ein großer Vorzug, die Freunde der Wissenschaft in einer Stimmung zu finden, die nicht durch laufende Geschäfte getrübt, sondern vielmehr feiertäglich auf Mittheilung gerichtet ist; allein von der andern Seite geht aus dem plötzlichen Zusammenströmen auch ein Drang hervor, der einem Rausche gleicht, der zwar eine augenblickliche höhere Stimmung erzeugt, aber dann auch wieder öde läßt, besonders meiner einen, der in keiner reichen Umgebung lebt. So weiß ich denn wirklich nicht, ob ich jemals wieder zu einer ähnlichen Versammlung gehen werde, wie ich zu dieser blieb." 2 2 7 Die alten Vorwürfe der unparitätischen Besetzung drängten sich im „ernüchterten" Böhmer wieder in den Vordergrund; aber auch am Ablauf der Versammlung fand er nun einiges auszusetzen. Außer dem „Reichstagsactengegenstand, wenn dieser sich verwirklicht", sei doch nichts Bedeutendes beschlossen worden. Gänzlich für verfehlt erachtete er nun die Beratungen über den Hauptgegenstand der historischen Abteilung: die Gründung eines allgemeinen deutschen Geschichtsvereins. 228 Die Diskussionen um dessen Statuten hätten der Versammlung die Zeit genommen, Wichtigeres zu behandeln. Insbesondere hätte er, Böhmer, mit einem Memorandum auf Verbesserung der Stellung und Dotierung kleinerer und mittlerer Bibliotheken antragen wollen, freilich aufgrund „der Passivität, welche ich mir auferlegt hatte", durch Pertz, der das Memorandum als das Seinige vorgetragen hätte - wenn er eben dazu gekommen wäre. 229 Noch eine Spur ablehnender äußerte er sich schließlich im Vorfeld der zweiten Germanistenversammlung 1847 in Lübeck. An dieser werde er auf keinen Fall teilnehmen. „Wenn die Versammlung Resultate haben soll, so muß sie übrigens ganz anders sein, als die hiesige war, auf welcher alles leitungslos durcheinander ging. Ich für meinen Theil habe keinen Begriff davon, daß fähige Menschen aus weiten Fernen zusammen kommen sollten, blos um sich die Hände zu drücken, oder - wie hier an einem Abend geschehen ist - für 1000 fl. Champagner zu trinken. Ich selbst hatte mir Passivität zum unverbrüchlichen Gesetz gemacht, weil mich die Unbilligkeit empörte, mit welcher der 226 Ebd., S. 221-223. Dieser Lieblingsplan Rankes fand übrigens vor 1848 keine Verwirklichung mehr. Erst die Historische Kommission von 1858 sollte ihn tatsächlich in Angriff nehmen; vgl. Hermann Heimpel: Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe, in: Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 18581958, Göttingen 1958, S. 82-117, hier S. 83-85. 227 Böhmer an Maurer de Constant, 27.11.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 457/458). 228 Vgl. Verhandlungen der Germanisten, S. 200-215. 229 Böhmer an Chmel, 24.1.1847 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 468; Böhmers Memorandum ebd. I, S. 289, Anm. 3).
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ganz tactlose Reyscher und die [...] Berliner die Katholiken gleichsam ausgeschlossen hatten. [...] Doch hatte ich überlegt, was man etwa thun könne. Ich war darauf gekommen, daß man den deutschen Regierungen in schicklicher Weise ans Herz legen möge: l ) d e n Druck aller Handschriftenkataloge [...], 2) die bessere Dotirung der mittleren Bibliotheken. [...] Ich hatte meine Gedanken aufgesetzt; Pertz, welcher sie billigte, wollte sie als die seinigen vorbringen. Allein vor Schleswig-Holstein, vor dem ganz gemein geführten Geschwätz über ein allgemeines deutsches Gesetzbuch [...], vor der abgeschmackten Geschichtsforschervereinsstifterei kam man zu nichts." 230 Böhmers nachträglicher Zorn über das Untergehen seines Memorandums ändert nichts daran, daß er zu einem großen Teil die Schuld an diesem Untergehen selbst trug. Sogar der immer wohlwollende Janssen zitiert das Schreiben eines „norddeutschen Freundes" an Böhmer mit der Bemerkung, jene selbstauferlegte Passivität sei nicht besonders rühmenswert gewesen. „Hätten Sie Ihren Entwurf eingebracht und dafür das Wort ergriffen, so wäre die Sache Gemeingut der Versammlung geworden und gewiß einstimmig angenommen worden. Dabei hätte man dann auch den deutschen Vater der Regesten, der in der Wissenschaft mehr Kinder zeugt und zeugen wird, wie irgend Einer der jetzt Lebenden, einmal öffentlich nicht bloß durch die Feder, sondern auch durch den Mund sprechen hören. Es ist Schade um die gute Sache, die Sie fordern wollten, aber die Schuld, daß sie nicht gefordert worden, liegt doch an ? Geben Sie sich hierauf selbst eine unpartheiische Antwort." 231 Diese Stellungnahme wirft ein bezeichnendes Licht auf Böhmers insgesamt doch unglückliche Rolle vor, auf und nach der Germanistenversammlung. Hatte er bereits im Rahmen der Vorbereitung die Möglichkeiten nicht ergriffen, in seinem und seiner Gesinnungsgenossen Sinn gestaltend einzuwirken, blockierte ihn seine ganz unsinnige „Passivität" während der Versammlung, und führte die Enttäuschung zu teils ungerechten Urteilen danach. Daß aber Böhmer, von der richtigen Stimmung bewegt, doch nur zu sehr bereit und befähigt war, mitzuarbeiten, zeigt gleichwohl sein Engagement in der Reichstagsaktenangelegenheit. So schwankte Johann Friedrich Böhmer beständig hin und her zwischen selbstloser und ideenreicher Aktivität und gehemmter, blockierter, bisweilen stolzer Zurückhaltung. Sein Beispiel charakterisiert die Haltung der Großdeutschen erster Generation insgesamt in jenen Jahren vor der Revolution. Zuviele ihrer Ansätze, die Fachwissenschaft zu gestalten, verliefen im Sande, verfehlten ihre Wirkung, blieben in Anfangen stecken, zuviele Chancen vergingen ungenutzt. Die Großdeutschen, an ihrer Spitze Böhmer und Gfrörer, kamen im Wettlauf um die Dominanz innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft allenfalls als zweiter Sieger an. Dieses Verhältnis sollte sich in den fünfziger 230 231
Böhmer an NN, 28.8.1847 (UB Bonn, ohne Sign.). Janssen, Böhmer's Leben und Briefe I, S. 289/290.
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und sechziger Jahren keineswegs umkehren, sondern sich zugunsten der Gegenpartei noch verschärfen und so zuspitzen, daß sich die Möglichkeiten, Brücken zu bauen und Gräben zu überwinden, immer weiter verringerten. Die Spaltung selbst bildete sich bereits vor der Revolution aus. Auch der Blick auf die Germanistenversammlung von 1846 zeugt von deren Existenz. Aber auf dieser Versammlung bestand doch noch die grundsätzliche Option des verstehenden Miteinanders der Besten, wie ja auch Böhmer so überrascht bemerkte. Auf einer darunterliegenden Ebene hatte die Zerstörung dieser Option jedoch bereits begonnen. Eine Invektive der Art Freimund/Runkels bot die Hand nicht mehr zur Versöhnung. Und nicht lange sollte sich jener Entzweiungsprozeß auf dieser tieferen Ebene allein abspielen, sondern sollte vordringen, um auch die grundsätzliche Möglichkeit des Verständnisses der Besten zu vernichten. Im Jahr der Germanistenversammlung lieferte eine erste geschichtspolitische Kontroverse zweier solcher „Bester" eine Probe des Tones, in dem sich die rivalisierenden Historiker hinkünflig anzusprechen gedachten.
ΙΠ. Wissenschaft und Politik: Die Kontroverse Höfler - Hausser als Antizipation kommender Entwicklungen Ob zwischen Professor Constantin Höfler und Professor Ludwig Häusser im persönlichen Gespräch wenn schon keine wissenschaftliche, so doch eine zwischenmenschliche Einigung hinsichtlich der gegenseitigen Differenzen in der Beurteilung des Stauferkaisers Friedrich II. hätte erzielt werden können, im Falle sich der Professor Höfler im September 1846 nach Frankfurt begeben hätte, bleibt dem Bereich des Spekulativen überlassen, entzieht sich also einer sinnvollen Erörterung. Immerhin: die Gelegenheit dazu hätte bestanden. Häusser nahm an der Germanistenversammlung teil. 2 3 2 Seit Februar dieses Jahres verkehrten die beiden jedoch in erster Linie schriftlich miteinander, in öffentlicher Rede und Gegenrede, publikumswirksam plaziert in der Allgemeinen Zeitung. Häusser, Schüler Schlossers, seit 1845 Extraordinarius in Heidelberg, ausgewiesen durch eine zweibändige Geschichte der Rheinischen Pfalz, 233 hatte in den Monatsblättern Höflers „Friedrich II." in einem längeren Artikel besprochen. Damit war er auf den Karren jener liberalprotestantischen Grundsatzkritik aufgesprungen, die sich - Höflers Prophe-
232
Vgl. die Teilnehmerliste in: Verhandlungen der Germanisten, S. 136. Ludwig Häusser: Geschichte der Rheinischen Pfalz nach ihren politischen, kirchlichen und literarischen Verhältnissen, 2 Bde., Heidelberg 1845; zu Häusser vgl. Anneliese Kaltenbach: Ludwig Haeusser. Historien et patriote (1818-1867). Contribution à Γ étude de l'histoire politique et culturellefranco-allemande au XIXe siècle, Paris 1965; s. auch ο. S. 461/462 und Anm. 115/116. 233
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zeiung gemäß 2 3 4 - an dessen Werk über den Stauferkaiser alsbald entzündet hatte. Eine Vorfeldkritik des Häusser-Kollegen Kortüm mit dem Versuch, die Richtigkeit der Höflerschen Quellenabschriften anzuzweifeln, konnte dieser immerhin mit einem Brief des Scriptors der Wiener Hofbibliothek Ernst Birk parieren, der für die Korrektheit jener von der Bibliothek angefertigten Kopien bürgte. 235 Auch Häusser nahm den Einstieg zu seiner „genauen Prüfung der Thatsachen und der Verbindung, worin er [Höfler] sie darstelle", 236 über eme Kritik der Höflerschen Quellenbehandlung. Aber wie bereits Freimund/Runkel in seiner Böhmer-Invektive, zielte auch Häusser nur vordergründig auf eine sachlich-fachliche Auseinandersetzung über den Staufer ab. Eigentlich, so ließ er verlauten, nehme er dieses „widrige Geschäft" nur auf sich, um ein „Interesse des deutschen Publicums" zu befriedigen, „die historische Wahrhaftigkeit und Unbefangenheit, wie sie die Höflersche Schule versteht, bis auf die Neige des Kelches kennen zu lernen." 237 Jene von Freimund/Runkel auf tiefster pamphletistischer Ebene vorexerzierte Mischung aus berechtigter fachlicher Kritik und polemischer Diffamierung einer ganzen historiographischen Richtung drang in höchste geschichtswissenschaftliche Kreise vor. Ohne Zweifel bedurfte Höflers quellenkritisches Bewußtsein weiterer Schulung und größerer, auch unparteiischerer Sensibilität. Auch traf der Vorwurf, er hätte wenigstens die Wiener Handschriften persönlich einsehen müssen, anstatt sich diese abschreiben zu lassen. Aber Häusser bestritt auf der Basis solcher Vorwürfe die Wahrhaftigkeit und Redlichkeit nicht nur des Höflerschen Strebens allein, sondern dessen „Schule" insgesamt. Großzügig räumt Häusser ein, auch abweichendste Ansichten akzeptieren zu können, solange nur „das Individuum bona fide verfährt und auf dem Wege der ehrlichen Geradheit sein Resultat sich herausgebildet hat." Aber das gerade sei doch zu untersuchen, „ob Hr. Höfler wirklich [...] ein Werk historischer Forschung oder ein gewöhnliches Parteibuch geliefert hat". 2 3 8 Von historischer Forschung könne nun gar keine Rede sein. Höflers Beherrschen des „ABC der historischen Kritik" sei entschieden in Zweifel zu ziehen, wie ja bereits seine „Deutschen Päpste" gezeigt hätten, 239 er trage seine Träume in die Quellentexte hinein, berichte nur das Negative unter Weglassung alles Positiven, ziehe unzulässig zusammen, entstelle, schmähe, überhöhe die päpstliche
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Vgl. Höfler an Hurter, 16.12.1845; s. o. S. 440. Ernst Birk: Brief an Constantin Höfler, in: Gelehrte Anzeigen. Hg. von Mitgliedern der kgl. bayerischen AkdW 23 (1846), S. 113-115. 236 Ludwig Häusser: C. Höflers Kaiser Friedrich Π., in: Monatsblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung, 1846 (Februar), S. 91-99, hier S. 92 b . 237 Ebd., S. 98 a . 238 Ebd., S. 92 a . 239 Ebd., S. 93 a . 235
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Hierarchie und stoße den großen Friedrich in den Schmutz, liefere alles in allem ein „papistisches Parteipamphlet". 240 Häusser präsentiert solche Einschätzungen durchsetzt von einer Vielzahl an Einzelausstellungen, auf die Höfler in seiner Entgegnung hätte eingehen müssen, hätte ihm sein Kritiker nicht durch beharrliche Verweigerung eines Hinweises auf die Grundlagen und die erkenntnisleitenden Fragestellungen des Buches eine viel bequemere Möglichkeit geboten, den Gegenschlag anzusetzen. Nicht anders als Freimund/Runkel pocht nämlich auch Häusser auf die Ausschließlichkeit eines einzig möglichen, ,ächt deutschen' Standpunktes, der allein die richtige Perspektive zur Beurteilung deutscher Geschichte liefere. Höfler habe Widerspruch in der Vorrede seines Werkes schon zu Recht befurchtet - „und, setzen wir hinzu, könnte es auch anders seyn wenn dem deutschen Volke mit einemmale die vermeintliche Größe hohenstaufischen Wesens als ein Irrthum dargestellt, das Schattendaseyn der Heinrich Raspe, Wilhelm von Holland u.s.w. als nationaler Ersatz dafür geboten wird?" 2 4 1 Wie könne man überhaupt eine Quelle wie das Kopialbuch des päpstlichen Beauftragten Albert von Behaim zur Grundlage der Darstellung wählen, da dieser doch „an der Stätte des vaterländischen Gefühls nichts als kirchlichen Fanatismus [...] in sich barg"? 242 Jedes „deutsche Herz" müsse sich schämen über die Zustände nach dem Tode des Kaisers, „schämen [...] daß jetzt Priester und zwar fremde Priester die Angelegenheiten der deutschen Nation lenkten." 243 Mit Friedrichs Tod ging „die politische Größe Deutschlands ihrem Ende" zu; am „Grabe des letzten großen deutschen Kaisers" finde Höfler nur Schmähungen.244 „Kann man ein wüthenderes Manifest der guelfischen Gesinnung erlassen als das besprochene Buch ist?" 245 Höfler gab Häusser alle Vorwürfe hemmungsloser Parteiwut ungeteilt und nicht weniger polemisierend zurück, konnte aber einer Erörterung der für ihn möglicherweise unerfreulichen Einzelheiten geschickt aus dem Wege gehen, indem er einfach die Grundhaltung Häussers aufs Korn nahm. Dieser habe die leitenden Ideen seiner Schrift nicht berücksichtigt, welche sich nicht vorgenommen habe, eine Biographie Friedrichs zu liefern, sondern gemäß den Vorstellungen des dreizehnten Jahrhunderts das Verhältnis des Kaisers Friedrich zum Papste zu untersuchen, und zu fragen, inwieweit Friedrich hier gegen seine Pflichten als Kaiser verstoßen habe. 246 „Hätte der jugendliche König Siciliens,
240
Ebd., S. 99 b . Ebd., S. 92 a . 242 Ebd., S. 93 a . 243 Ebd., S. 98 b . 244 Ebd., S. 99 a . 245 Ebd., S. 99 b . 246 Constantin Höfler: Kaiser Friedrich II., in: Monatsblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung, 1846 (August), S. 397-406. 241
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als solcher Vasall des römischen Stuhls, demselben zinspflichtig und den Zins leistend, den Thron Siciliens gleich einem absoluten Fürsten bestiegen; hätte er die Regierung des deutschen Reichs als unabhängiger souveräner Fürst nach den Begriffen unserer Tage angetreten, dann freilich müßte ein ganz anderer Maßstab zu seiner Beurtheilung aufgestellt werden. Dann wäre das vorliegende Werk welches sich auf die positiven Rechtsverhältnisse nicht des 19ten sondern des 13ten Jahrhunderts stützt, ein pfaffisches Manifest [...]. Da aber dem nicht so ist, obwohl Hr. Häusser auch diesen Fundamentalpunkt, ohne dessen Berücksichtigung nur ein gehaltloses Hin- und Herreden stattfinden kann, nicht berücksichtigte, so hat somit, wenn es noch eine Logik gibt [...], Hr. Häusser sich selbst auf einen modernen Parteistandpunkt gestellt, und was er von Friedrich I I spricht, ist soviel bedeutend als die erbauliche Geschichte von dem Mann im Monde." 2 4 7 Man gehe von ganz fundamental verschiedenen Begrifflichkeiten des Kaisertums aus, so daß sich im Prinzip eine weitere Diskussion erübrige. Höfler entzog sich durch diese kaltschnäuzige Arroganz elegant der Verpflichtung, auf Häusser im Detail einzugehen und speiste ihn tatsächlich auf den verbleibenden Seiten seiner gleichwohl umfangreichen Erwiderung mit Wortergüssen höchst allgemeiner Natur ab. Diese Haltung entsprach durchaus der Linie, zu der auch Johann Friedrich Böhmer geraten hatte - wenngleich mit einer anderen Begründung: den Streit zu beenden, da die Forschung noch nicht abgeschlossen, die Diskussion also sinnlos sei. 248 Häusser, von Höflers Chuzpe offensichtlich äußerst gereizt, legte noch einmal nach und überspannte diesmal den Bogen. Seine inhaltliche Munition hatte er verschossen, konnte in dieser Hinsicht also bereits Gesagtes nur wiederholen. Auch sah er ein, daß aufgrund der Verschiedenheit der Begrifflichkeiten eine weitere sachliche Diskussion mit Höfler um die Bedeutung der Staufer fruchtlos
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Ebd., S. 400b. Böhmer an Höfler, 25.3.1846 (Janssen, Böhmer's Leben und Briefe Π, S. 434): „Die immer erbitterter werdenden Streitigkeiten über Friedrich Π. bedauere ich um so mehr, weil die schließliche Entscheidung der großen Fragen doch nicht erfolgen kann, so lange es noch immer an einer vollständigen, mit Kenntniß und Sorgfalt geordneten Darlegung des Materials fehlt. Ich wünsche gar sehr, daß Sie die folgenden Artikel [...] abkürzen und Mittel suchen und finden möchten, den dermaligen Streit möglichst abzubrechen und eine Waffenruhe anzubahnen." Trotzdem teilte Böhmer natürlich die Höflersche Einschätzung Friedrichs; vgl. Böhmer an Kopp, 29.3.1846 (ebd. Π, S. 435): „Häusser hat den Höfler zwar roh, aber nicht ehrlich behandelt. [...] Der ganze so gehässig geführte Streit ist auch fruchtlos, weil es doch vor allen Dingen eines ordentlichen Zeugenverhöres bedürfte, was aber beide Herren nicht anstellen werden. Ich glaube immer noch, daß das Urtheil gegen Friedrich Π. ausfallen muß: 1) weil er, treubrüchig und unklug, Sicilien nicht vom Kaiserreich trennte, 2) weil er Deutschland über Sicilien vernachlässigte, 3) weil er durch gegründete und ungegründete Procrastinationen den Kreuzzug vereitelte, zu dem er doch Alles selbst in Bewegung gesetzt hatte." 248
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bleiben mußte. 249 Anstatt nun aber zu schweigen, zog er um so mehr alle Register persönlicher Ausfalligkeiten. Messerscharf erkannte er Höflers Absicht, „uns aus dem ruhigen Geleise der litterarischen Discussion in den gereizten Ton persönlichen Unwillens hinüberzudrängen", und ging doch in die Falle: Höfler habe in seiner „schaalen Komödie" auf „schlaftrunkene oder blödsichtige Leser speculirt", 250 habe wie ein Lügner, „historische Unwahrheit" verbreitet, 251 habe in seiner Darstellung den Kaiser „baaren Unsinn" reden lassen. „Ein Geschichtschreiber der erwiesener Maßen hier übertreibt, dort absichtlich schweigt, hier verstärkt, dort mildert, der unläugbare Thatsachen keck ignorirt und die Fehlgeburten eigener Sophistik an die Stelle setzt, der die Quellen absichtlich verstümmelt oder falsch übersetzt, der nirgends mit gleichem Maße mißt, dessen Unredlichkeit nur in seiner gränzenlosen Arroganz ein Gleichgewicht findet ein solcher Geschichtschreiber ist in den Augen aller die Gedrucktes lesen können gerichtet, und der Unterzeichnete verfuhr noch schonend daß er eine solche Handlungsweise nicht in stärkeren Ausdrücken züchtigte, sondern nur thatsächliches trocken und ohne Redeschmuck zusammenstellte."252 Höfler hinwiederum beendete die Auseinandersetzung in einer kurzen „Schlußerklärung" mit der Feststellung, Häusser habe sich gestellt, „wie wenn er der Beleidigte und Angegriffene wäre." Das werfe nur noch bezeichnenderes Licht auf den Grad von „Eigendünkel [...], bis zu welchem er sich durch seinen vermeintlichen Beruf als öffentlicher Ankläger und litterarischer Großinquisitor hinaufgeschraubt hat." Stimmten „der Ton, die ganze Haltung, die Waffen deren sich Hr. Häusser gegen mich bediente, mit den Anforderungen überein [...] welche man im gewöhnlichen Leben an jeden Mann von Sitte, geschweige an einen öffentlichen Lehrer zu stellen berechtigt" sei? 253 Die Debatte zwischen Häusser und Höfler trug zur sachlich-fachlichen Frage nach der Beurteilung des Staufers Friedrich nichts bei. Aber sie setzte einen Trend innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft fort, den beide Seiten bewußt vorantrieben. Höflers polemisierender Artikel über katholische und protestantische Geschichtsschreibung, den die Gegenseite sehr wohl rezipiert
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Ludwig Häusser: C. Höflers Kaiser Friedrich Π. [Nachtrag], in: Monatsblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung, . 1847 (Januar), S. 29-34, hier S.31 b : Es sei sinnlos, mit Höfler über die Bedeutung der Staufer zu streiten. „Ein solcher Streit wäre darum unfruchtbar gewesen, weil sich Professor Höfler und der Unterzeichnete schon über den Begriff der Blüthe und Entartung des deutschen Kaiserthums schwerlich je vereinbaren werden." 250 Ebd., S. 30a. 251 Ebd., S. 31a. 252 Ebd., S. 31 b . 253 Constantin Höfler: Schlußerklärung, in: Monatsblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung (März), 1847, S. 152/153, hier S. 152a.
. Wissenschaft und Politik
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hatte, 254 die Haltung der Großdeutschen insgesamt zur Germanistenversammlung von 1846, die Freimund/Runkel-Invektive, der Höfler-Häusser-Streit bezeichnen nur besondere Höhepunkte einer Situation, die sich im Laufe der vierziger Jahre zunehmend verschärfte. Als bedenkliches Symptom erscheint in diesem Zusammenhang jener Eingang, den die Methode eines superioren Scribenten vom Schlage Runkels in die Kreise der ,3esten" fand. 255 Die Debatte zwischen Constantin Höfler und Ludwig Häusser antizipiert in inhaltlicher wie formaler Hinsicht Entwicklungen der fünfziger und sechziger Jahre. Noch richtete sich Häussers Zorn vorwiegend gegen die katholische, „papalistische", „ultramontane" Sicht Höflers. Aber hinter der konfessionellen erhebt sich bereits deutlich die „nationale" Frage. Auch Häusser bedient sich des vielschichtigen und dehnbaren Begriffspaares „Guelfen - Ghibellinen", um die Trennungslinie zu markieren. Der „Guelfe" sei der Lobredner der römischen Hierarchie, deren hegemonialer Anspruch sich den Kaiser zu unterwerfen trachte, er sei der eigentliche Feind der deutschen, der nationalen Größe. Dieser nationalen Größe huldige dagegen der Ghibelline, der rechte Anhänger der Idee des Kaisertums als unabhängiger, rein weltlicher Instanz, welche mit dem Papsttum gar nichts zu schaffen habe. Im Gegenteil, das Interesse des großen nationalen Gedankens legitimiere ihn, nach Belieben mit diesem umzuspringen. Welch absurdes Ansinnen, urteilt Häusser über das Konzil von Lyon, welch „politische Monstrosität, das weltliche Haupt der Christenheit von einem Convent von Bischöfen richten zu lassen"! 256 In den Ausführungen Häussers tritt jener „protestantische Ghibellinismus" zutage, der geistesgeschichtlich 1871 in die Begründung des kleindeutschpreußischen Kaisertums mündete. 257 Dieser Gedanke freilich hatte mit dem Ghibellinismus der katholizistisch-konservativen, großdeutschen Historiker der 254
So nimmt Häusser gleich zu Beginn seiner ersten Besprechung des „Friedrich Π." auf Höflers Essay Bezug, ohne allerdings dessen Verfasser zu kennen: Häusser, Höflers Kaiser Friedrich Π., S. 91. 255 Auch Georg Waitz begann bereits, die geschichtspolitischen Gegensätze mit der Frage nach „deutscher" oder „undeutscher" Gesinnung in Zusammenhang zu setzen. In einem ,3rief ' über süddeutsche Historiker nahm er gleichfalls zu Höflers „Friedrich Π." Stellung: „Und wer Kraft und Liebe zum deutschen Vaterlande hat, wird nicht umhin können, wenn er auchfriedliebend und guter Eintracht wohlgeneigt ist, solche Versuche zu bekämpfen und abzuwehren so weit er vermag." Man dürfe „nicht zugeben, dass unser schönes Mittelalter von einer Gesinnung in Beschlag genommen und entstellt werde, die alles eher als eine deutsche ist, und die sich nicht breit machen soll wo es gilt Deutschlands Vergangenheit zu feiern, seine Gegenwart zu berathen." Georg Waitz: Deutsche Historiker der Gegenwart. Briefe an den Herausgeber I, in: Allgemeine Zeitschrift für Geschichte 5 (1846), S. 520-535, hier S. 534/535. 256 Häusser, Höflers Kaiser Friedrich Π, S. 96 b . 257 Vgl. dazu auch Einleitung, Anm. 47.
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Öffentliches Handeln
ersten und auch dem Gros der zweiten und dritten Generation nichts gemein. Weder Höfler noch Hurter, weder Böhmer noch Gfrörer - allenfalls Döllinger in seinen späten Jahren und nach einer sehr eigenen geistigen Entwicklung - hätten sich jemals mit dem Ghibellinismus Häusserscher Couleur befreunden können. Bezeichnend erschien in diesem Zusammenhang der Entwicklungsgang August Friedrich Gfrörers: von einer ähnlichen Idee protestantischen Kaisertums rückte er ab und wuchs dadurch erst wirklich in den Kreis der „großdeutschen" Historiker hinein. Andererseits mußte sich aber der großdeutsche Ghibellinismus nicht bei allen so weit entwickeln wie bei Höfler, welcher die „wahrhaft deutsche", die „Reichspartei" in jener Partei erkannte, die versuchte, zwischen Regnum und Sacerdotium zu vermitteln und die Verbindung zwischen dem Reich und Italien aufrechtzuerhalten. 258 Aber jeder von ihnen erachtete den prinzipiellen Bezug jener beiden Pole als konstitutiv für seinen Ghibellinismus. Wenigstens idealiter mußte jeder Wiedererweckung des Kaisertums dieser uralte Gedanke in irgendeiner Weise zugrundeliegen. Ohne ein derartiges Wechselspiel erschien jenen Historikern eine solche Wiedererweckung, ja nur eine Wiederanknüpfung undenkbar. Häusser denunzierte diesen Ghibellinismus kurzerhand als Guelfentum, als mittelalterliche, 259 als unmoderne und undeutsche Auffassung. Damit war das Thema angeschlagen, über das Heinrich von Sybel und Julius Ficker mehr als zehn Jahre später, in der nächsten großen geschichtspolitischen Kontroverse weiterstritten. Höfler und Häusser markierten die Ausgangspositionen und bestimmten den Modus der Auseinandersetzung: Ein größeres, nicht rein fachwissenschaftliches Publikum rezipiert die Zeitungsartikel der Höfler-HäusserKontroverse oder später dann die Streitbroschüren zwischen Sybel, Häusser, Ficker und Klopp. Der Streit dreht sich um die deutsche Geschichte insgesamt, aber er bündelt sich in einer Schlüsselgestalt oder einer Schlüsselepoche: im Staufer Friedrich II., in der mittelalterlichen Kaiserpolitik, in der Reformation, im Preußenkönig Friedrich II., in den Revolutionskriegen. Zwei herausragende Vertreter der Zunft treten in der Regel gegeneinander an; beide repräsentieren jeweils ein Programm, eine Schule. Nur zu oft verdrängt schließlich das Instrumentarium öffentlicher Marktschreierei die zulässigen Mittel wissenschaftlichen Diskurses: Polemik, persönliche Diskreditierung, Abwertung des Gegners und seiner Auffassung stehen vor dem Bedürfiiis nach sachlicher Debatte. Um eine solche geht es auch nicht in erster Linie. Was die Debatte zwischen Höfler und Häusser nur antizipierte, sollte sich nach 1848/49 erst wirklich vollenden: die Verschmelzung von Geschichte und Politik, freilich nicht zum Vorteil der
258
Höfler, Kaiser Friedrich Π., S. 399a; vgl. hier auch noch einmal Höflers Diktum vom „deutschen oder sog. ultramontanen Princip", o. S. 143. 259 Häusser, C. Höflers Kaiser Friedrich Π. [Nachtrag], S. 32a.
III. Wissenschaft und Politik
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ersteren; die Instrumentalisierung von Geschichte zum tagespolitischen Zweck, zum Kronzeugen eines Zieles, zum Beweisgrund einer Ideologie. Die Kleindeutschen hatten nach 1848/49 alle Vorteile auf ihrer Seite, um als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorzugehen. Die Modernität und die Schlagkraft einer Idee sowie die reale Macht eines Staates, Preußens, kam ihrem Bestreben ebenso zugute wie eine ungewöhnliche Häufung von großen Talenten. Schließlich aber besaßen sie den Mut, zu behaupten, jene Idee des kleindeutschen Nationalstaates sei in der deutschen Vergangenheit wie selbstverständlich angelegt gewesen. Das war ein geniales - und brillant verkauftes - , vom voraussichtlichen Ergebnis der nationalen Frage her aufgezäumtes Geschichtskonstrukt. Den anderen, den Katholizistisch-Konservativen, den Großdeutschen blieb hingegen nur der undankbare Hinweis auf die komplexe Vielfalt des Vergangenen, auf Optionen und Alternativen. Dem scheinbar so klaren und einheitlichen, eindeutig ausgerichteten, dem so logischen und konsequenten Bild ihrer geschichtspolitischen Rivalen konnten sie nur das unattraktive Gegenmodell eines Sowohl-Als-Auch, eines Wenn und eines Vielleicht entgegenstellen. Möglicherweise kamen sie mit diesen Differenzierungen der Wahrheit näher. Aber sie entsprachen nicht dem drängenden Bedürfiiis nach einfacher und pointierter Richtungsweisung. Das trug zu ihrer Popularität kaum bei, mindert aber auch nicht den Wert ihrer Historiographie in ihrer Zeit und über ihre Zeit hinaus.
Anhang I. Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Ungedruckte Quellen Berlin: Staatsbibliothek zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz, Haus 1 (Ost) — Briefe Johann Joseph Ignaz Döllingers Berlin: Staatsbibliothek zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz, Haus 2 (West) — Slg. Darmst. 2d 1841 [3], Gfrörer - 2f 1843, Böhmer - 2f 1850, Hurter — NL Ranke Erg. Bonn: Universitätsbibliothek — Nachlaß Moriz Ritter - S 2036 a: M. Ritter, „Erinnerungen aus meinem Leben" — Fragment Onno Klopp, „Urteil über die Stellung Österreichs in der Geschichte" — Briefe Johann Friedrich Böhmers Frankfurt/M.: Stadt- und Universitätsbibliothek — Nachlaß Johann Friedrich Böhmer — Autogr. Gfrörer Freiburg/Brsg. : Universitätsbibliothek — Autogr. 371-377: Briefe August Friedrich Gfrörers an F. W. Carové — Autogr. 1134: Autobiographie August Friedrich Gfrörers [= Gfrörer, Autobiographie] — Autogr. 1186-1199: Briefe Friedrich Emanuel Hurters an H. von Greiffenegg-Wolfiurt — Autogr. 1376: Friedrich Emanuel Hurter an Metternich, 1.11.1850 Heidelberg: Universitätsbibliothek — Heid. Hs. 2808: August Friedrich Gfrörer an R. Ulimann, 25.10.1837 Karlsruhe: Generallandesarchiv — Bestand Univ. Freiburg 201, Fasz. 135: Personalakte August Friedrich Gfrörer Luzern: Zentralbibliothek — Briefe Friedrich Emanuel Hurters an J. E. Kopp Marbach am Neckar: Schiller-Nationalmuseum / Deutsches Literaturarchiv und CottaArchiv — 51. 710: August Friedrich Gfrörer an W. Waiblingen 5.1.1826 — Schwab-Noltenius 58.1523: August Friedrich Gfrörer an G. Schwab, 18.1.1826 — Cotta Br.: Briefe August Friedrich Gfrörers an Cotta 1826-1828,1837 München: Bayerische Staatsbibliothek — Nachlaß Johann Joseph Ignaz Döllinger: Döllingeriana Π, Döllingeriana XX. 1 — Nachlaß Carl Adolf Cornelius: ANA 351
I. Quellen- und Literaturverzeichnis
505
— Autogr. Höfler - Autogr. Hurter - Autogr. ΠΙ Β, J. Janssen — Abelianal, Abeliana2 - HollandianaM - Ringseisiana ΠΙ - Schenkiana VI Schulteana 21,30 - Seppiana 65 - Thierschiana 187 München: Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität — Ε Π 134: Personalakte Carl Adolf Constantin Höfler Rom: Biblioteca Vaticana Apostolica — Nachlaß (Lascito) Ludwig Pastor Samen: Archiv des Benediktinerklosters Muri-Gries — Nachlaß Friedrich Emanuel Hurter Schaphausen: Stadtarchiv — Teilnachlaß Friedrich Emanuel Hurter Speyer: Pfalzische Landesbibliothek — Autogr. 438: Johann Friedrich Böhmer an J. G. Lehmann, 5.12.1855 Stuttgart: Württembergische Landesbibliothek — Cod. hist. fol. 866: Briefe August Friedrich Gfrörers und J. Janssens an Ch. F. Stälin — Cod. hist. 4° 590: Johann Friedrich Böhmer an E. Kausler, 10.11.1840 — Cod. hist. 4° fol. 767, fasz. 12: Briefe Johann Friedrich Böhmers an A. L. Reyscher Tübingen: Universitätsbibliothek — Md 756-4: Briefe Johann Friedrich Böhmers an K. Klüpfel Wien: Österreichische Nationalbibliothek — Autogr. 168/42: Johann Friedrich Böhmer an Th. G. Karajan, 13.1.1844 — Autogr. 169/63,4: Carl Adolf Constantin Höfler an Th. G. Karajan, 16.2.1854 Wien: Haus-, Hof- und Staatsarchiv — Nachlaß Onno Klopp — Nachlaß Emst Birk — Nachlaß Alfred von Ameth Zürich: Zentralbibliothek — Familienarchiv Meyer von Knonau, 321.53 — Familienarchiv v. Wyss, IX 303.35 — Ms. Ζ Π 310: Johann Friedrich Böhmer an Buchhändler F. Hurter
506
Anhang 2. Gedruckte Quellen
Alberdingk Thijm, Paul: A. F. Gfroerer, in: Revue catholique 19 (1861), S. 533-544. — De geschiedschrijver Gfrörer en zijne werken, Haarlem 1870 (= Katholiek-Nederlandsche Brochuren-Vereeniging, Bd. 8). Bachmann, Adolf: Constantin von Höfler, in: Mittheilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen 36 (1898), S. 381-411. Below , Georg von: Die deutsche Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen. Geschichte und Kulturgeschichte, Leipzig 1916. — Die deutsche Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen. Geschichtschreibung und Geschichtsauffassung, 2. wesentlich erw. Aufl., München/ Berlin 1924 (= v. Below / Meinecke, Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, Abt. I). Bergsträsser, Ludwig (Hg.): Der politische Katholizismus. Dokumente seiner Entwicklung 1815-1914,2 Bde., München 1921/1923 (= Der deutsche Staatsgedanke Π, Bd. 3). Bibliotheca Döllingeriana. Katalog der Bibliothek des verstorbenen kgl. UniversitätsProfessors J. J. J. von Döllinger, München 1893. Birk, Emst: Brief an Constantin Höfler, in: Gelehrte Anzeigen. Hg. von Mitgliedern der kgl. bayerischen AkdW 23 (1846), S. 113-115. Böhmer, Johann Friedrich: Regesta chronologico-diplomatica regum atque imperatorum Romanorum inde a Conrado I. usque ad Henricum VE. Die Urkunden der römischen Könige und Kaiser von Conrad I. bis Heinrich VII. (911-1313), Frankfurt/M. 1831. — Das Zollwesen in Deutschland geschichtlich beleuchtet, Frankfurt/M. 1832 (= Geschichtliche Beleuchtungen des deutschen Staatsrechts, Bd. I). — Die Reichs-Gesetze von 900-1400, Frankfurt/M. 1832. — Regesta chronologico-diplomatica Karolorum. Die Urkunden sämtlicher Karolinger in kurzen Auszügen, Frankfurt/M. 1833. — Codex Diplomaticus Moenofrancofurtanus. Urkundenbuch der Reichsstadt Frankfurt. Erster Theil, Frankfurt/M. 1836.
4
Das Quellenverzeichnis stellt nur die in der Arbeit tatsächlich herangezogenen gedruckten Quellen zusammen, liefert also keine Werkbibliographie der behandelten Historiker. Sofern in einzelnen Fällen solche Bibliographien vorliegen, sind diese unter der Sekundärliteratur verzeichnet. Jeder, der sich mit Historiographiegeschichte des neunzehnten Jahrhunderts befaßt, wird grundsätzlich eine umfangreiche Bibliographie zur Geschichtsschreibung dieses Jahrhunderts vermissen. Eine solche zu erstellen, wäre freilich eine längerfristig anzulegende Aufgabe. Aber auch eine Bibliographie allein der großdeutschen Historiker der drei Generationen ergäbe ein eigenes Buch. - Das Verzeichnis der Sekundärliteratur verzichtet auf die Nennung von Standardnachschlagewerken ebenso wie auf die Zusammenstellung solcher Literatur, die in den Fußnoten nur zur Information über weiterführende Lektüre erscheint.
I. Quellen- und Literaturverzeichnis
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Regesta Imperii inde ab anno 1314 usque ad annum 1347. Die Urkunden Kaiser Ludwigs des Baiern, König Friedrichs des Schönen und König Johanns von Böhmen, Frankfurt/M. 1839. Regesta Imperii inde ab anno MCCXLVI usque ad annum MCCCXin. Die Regesten des Kaiserreichs unter Heinrich Raspe, Wilhelm, Richard, Rudolf, Adolf, Albrecht und Heinrich VII., 1246-1313. Neu bearbeitet, Stuttgart 1844 (dazu zwei Ergänzungshefte 1848 und 1857). Regesta Imperii inde ab anno MCXCVin usque ad annum MCCLIV. Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV., Friedrich Π., Heinrich (VII.) und Konrad IV., 1198-1254. Neu bearbeitet, Stuttgart 1849. Additamentum primum ad Regesta Imperii inde ab anno MCCCXHII usque ad annum MCCCXLVII. Erstes Ergänzungsheft zu den Regesten Kaiser Ludwigs des Baiern und seiner Zeit. 1314-1347, Frankfurt/M. 1841. Johannes Victoriensis und andere Geschichtsquellen Deutschlands im vierzehnten Iahrhundert, Stuttgart 1843 (= Fontes Rerum Germanicarum. Geschichtsquellen Deutschlands Bd. I) [= Böhmer, Fontes I]. Die neueste Sammlung geschichtlicher Quellenschriften Deutschlands, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 262 vom 19.9.1843 und 263 vom 20.9.1843, S. 2045/ 2046 und 2053/2054. Hermannus Altahensis und andere Geschichtsquellen Deutschlands im dreizehnten Iahrhundert, Stuttgart 1845 (= Fontes Rerum Germanicarum. Geschichtsquellen Deutschlands Bd. Π) [= Böhmer, Fontes Π]. Ehrenrettung König Albrechts des Ersten, in: Monatsblätter zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung, August 1845, S. 365-367. Additamentum secundum ad Regesta Imperii inde ab anno MCCCXim usque ad annum MCCCXLVII. Zweites Ergänzungsheft zu den Regesten Kaiser Ludwigs des Baiem und seiner Zeit. 1314-1347, Leipzig 1846. Ansichten über die Wiedergabe handschriftlicher Geschichtsquellen im Druck, in: Friedemann's Zeitschrift für die Archive Deutschlands 2 (1850), S. 131-137. Martyrium Amoldi Episcopi Moguntini und andere Geschichtsquellen Deutschlands im zwölften Iahrhundert, Stuttgart 1853 (= Fontes Rerum Germanicarum. Geschichtsquellen Deutschlands Bd. ΙΠ) [= Böhmer, Fontes ΙΠ]. Wittelsbachische Regesten von der Erwerbung des Herzogthums Baiem 1180 bis zu dessen erster Wiedervereinigung 1340, Stuttgart 1854. Acta Conradi I. regis. Die Urkunden König Conrads I., 911-918, Frankfurt/M. 1859. Additamentum tertium ad Regesta Imperii inde ab anno MCCCXim usque ad annum MCCCXLVII. Drittes Ergänzungsheft zu den Regesten Kaiser Ludwigs des Baiem und seiner Zeit. 1314-1347. Herausgegeben aus seinem Nachlasse, Innsbruck 1865. Acta Imperii Selecta. Urkunden deutscher Könige und Kaiser mit einem Anhange von Reichssachen. Herausgegeben aus seinem Nachlasse [von Julius Ficker], 2 Bde., Innsbruck 1870.
508
Anhang
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I. Quellen- und Literaturverzeichnis
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Anhang
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I. Quellen- und Literaturverzeichnis
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512
Anhang
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Hermann: Lebenserinnerungen, hg. von Emst Sieper, Berlin 1914.
Hurter, Friedrich Emanuel: Geschichte des ostgothischen Königs Theoderich und seiner Regierung, 2 Bde., Schaflhausen 1807/1808. — Geschichte Papst Innocenz des Dritten und seiner Zeitgenossen, 4 Bde., Hamburg 1834-1842; Nachdruck der beiden ersten Bde., Ebingen 1835. — Köln und Zürich, in: HPB11 3 (1839), S. 482-498. — Ausflug nach Wien und Preßburg im Sommer 1839,2 Bde., Schaffhausen 1840. — Geburt und Wiedergeburt. Erinnerungen aus meinem Leben und Blicke auf die Kirche, 2 Bde., Schaffhausen 21846/1847 [= Hurter, GuW]. — Geschichte Kaiser Ferdinands Π. und seiner Eltern. Personen-, Haus- und Landesgeschichte, Bd. 8/9, Schaffhausen 1857/1858. Hurter, Heinrich von: Friedrich von Hurter, k. k. Hofrath und Reichshistoriograph und seine Zeit, 2 Bde., Graz 1876/1877. Janssen, Johannes: Johann Friedrich Böhmer's Leben, Briefe und kleinere Schriften, 3 Bde., Freiburg/Brsg. 1868 [= Janssen, Böhmer's Leben und Briefe]. — Johann Friedrich Böhmer's Leben und Anschauungen. Bearbeitet nach des Verfassers größerem Werk, Freiburg/Brsg. 1869. — Sophie Schlosser. Ein Lebensbild, in: HPB11 57 (1866), S. 85-108. Jörg, Joseph Edmund: Besprechung von Gfrörer, „Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts", in: HPB1149 (1862), S. 816-821. — Döllinger. Erinnerungen seines alten Amanuensis, in: HPB11 105 (1890), S. 237-262. — Briefwechsel 1846-1901, bearbeitet von Dieter Albrecht, Mainz 1988 (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A: Quellen, Bd. 41). Jung, Julius: Julius Ficker (1826-1902). Ein Beitrag zur deutschen Gelehrtengeschichte, Innsbruck 1907. Kampschulte, Ffranz] W[ilhelm]: Zur Geschichte des Mittelalters. Drei Vorträge, Bonn 1864.
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33 Brechenmacher
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520
Anhang
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I. Quellen- und Literaturverzeichnis
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I. Quellen- und Literaturverzeichnis
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Π. Abbildungsnachweis
525
Π. Abbildungsnachweis
S. 76:
Johann Friedrich Böhmer Gemälde von Amélie de Barrelier, München 1845; aus: Erwin Kleinstück: Johann Friedrich Böhmer, Frankfurt/M. 1959; auch als Frontispiz in: Johannes Janssen: Johann Friedrich Böhmer's Leben und Anschauungen. Bearbeitet nach des Verfassers größerem Werk, Freiburg/Brsg. 1869.
S. 177:
Friedrich Emanuel Hurter Lithographie von W. C. Wrankmore, möglicherweise nach einem Porträt von Amélie de Barrelier, München 1846 (vgl. Lischer, S. 139). Frontispiz zu: Friedrich [Emanuel] Hurter: Geburt und Wiedergeburt. Erinnerungen aus meinem Leben und Blicke auf die Kirche, Bd. 1,2. Aufl., Schaphausen 1846.
S. 269:
August Friedrich Gfrörer Detail aus: Paul Bürde, E. Meyer (Lithographie): Die deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche 1848; Historisches Museum Frankfurt/M., X 25131.
S. 430:
Ignaz Döllinger Jugendbildnis, Photographie, undatiert; BSB, NL Döllinger, Döllingeriana XX. 1, d.
S. 467:
Constantin Höfler Brustbild, Silhouette, undatiert; BSB, Hollandiana M.
526
Anhang ΠΙ. Personen- und Werkregister*
Abel, Karl von 132; 142; 431-42 Acton s. Dalberg-Acton Alberdingk Thijm, Paul 100; 110; 271 Albrecht I. von Österreich, dt. Kg. 203 Albrecht von Brandenburg 237 Albrecht, Dieter 122 Alexander der Große 406 Althoff, Gerd 270 Amsler, Samuel 78 Anderson, Margaret Lavinia 44 Andreas, Willy 41 Arndts, Karl Ludwig 423 Arneth, Alfred von 30; 54 Arnold, Wilhelm 487 Arnulf von Kärnten 159; 164; 267 Aschbach, Joseph 117 Attila, Kg. der Hunnen 406 Augustinus, Aurelius 361; 362; 372 Baader, Franz von 127; 420 Baluzius, Stephanus 93 Barth, Karl 78 Barthold, Friedrich Wilhelm 492 Bauer, Clemens 43; 44 Bauer, Ludwig Amandus 103 Baum, Wilhelm 63 Behaim, Albert von 498 Below, Georg von 50; 52; 54 Bernardin de St. Pierre, Jacques Henri 246 Bemey, Arnold 351; 355; 356 Berthold von Henneberg, Eb. von Mainz 224 Binder, Franz 421 Birk, Emst 497 Bismarck, Otto von 20; 22; 247 Blanke, Horst Walter 58; 240 Böhmer, Carl Ludwig 75; 81 Böhmer, Johann Friedrich 17; 20; 28; 34; 35; 39; 42; 46; 47; 49; 52; 55;
61; 62; 67; 70; 76 (Abb.); 74-86; 87; 88; 89; 96; 100; 101; 112; 116; 118; 120; 121; 130; 132; 133; 138; 139; 147-50; 151; 154; 155; 158; 173; 174; 186; 196-207; 208; 210; 218-19; 236; 243; 244; 245; 249; 250; 251; 253; 254-57; 258-62; 264; 268; 272-85; 287; 289-95; 298; 301; 302; 311; 320-23; 32526; 328; 329; 331-32; 333; 334; 337; 338; 341; 342; 345-46; 351; 352; 354; 359; 364; 366; 387; 389; 391; 403-8; 409; 410; 411; 413; 415; 423; 425; 427; 445-47; 44956; 457-60; 461; 464; 465; 468; 470; 471; 474; 475-96; 499; 502 -Briefe passim -Fontes 272-85 -Kaiserregesten passim,bes. 196— 207; 272-85 - Zollwesen in Deutschland 320-23; 331-32 Boisserée, Sulpiz und Melchior 77; 80 Bonifatius, Hl. 166; 293; 344; 445; 446 Bonstetten, Karl Viktor von 104; 109; 379;401; 403 Borodajkewycz, Taras von 61; 138; 139; 144 Bossuet, Jacques-Bénigne 35; 47; 360-66; 368; 380; 415; 425; 444 - Discours sur l'Histoire universelle 361-62 - Histoire des variations des églises protestantes 363-65 Braubach, Max 42; 43 Braudel, Fernand 57 Brentano, Clemens 49; 75; 81; 85; 86; 101; 364; 411; 423 Bresslau, Harry 278; 481
* Kursive Einträge verweisen auf den Fußnotenbereich der jeweils angegebenen Seite.
ΠΙ. Personen- und Werkregister Breysig, Kurt 47 Brüggemann, Theodor 471 Bruno, Giordano 108 Burckhardt, Jacob 471 Burke, Edmund 38; 138; 139; 387-91; 392 - Betrachtungen über die Französische Revolution 387-91 Chézy, Wilhelm von 25; 113; 264; 270 Chmel, Joseph 29; 482; 493 Clemens August, Droste zu Vischering, Eb. von Köln 309; 311; 317; 396; 420 Conzemius, Victor 63 Cornelius, Carl Adolf 28; 30; 33; 34; 35; 37; 39; 46; 47; 48; 50; 54; 59; 64; 69; 70; 113; 119; 151; 214; 218; 224; 239; 258; 286; 358; 422; 425; 426; 442; 455; 471; 472; 485 Cotta, Johann Friedrich 105 Dahlmann, Friedrich Christoph 138 Dalberg-Acton, John 16; 45; 51 Denifle, Heinrich 54 Diepenbrock, Melchior von 412; 424 Döllinger, Ignaz (Vater) 125 Döllinger, Johann Joseph Ignaz 21; 28; 29; 30; 35; 37; 45; 46; 47; 49; 51; 54; 55; 57; 61; 62; 67; 69; 70; 101; 112; 118; 119-32; 133; 142; 144; 151; 155; 176; 179; 209-13; 214; 215; 216; 218; 219; 228-30; 244-47; 248; 249; 251; 253; 254; 256; 260; 262; 272; 294-95; 306; 320; 321; 323-26; 325; 331; 339; 342; 349; 356; 363; 364-66; 373; 376; 377; 381; 388; 391; 400; 413; 415; 421; 423; 425; 426; 427; 430 (Abb.); 431-42; 443; 446; 447; 450; 451; 455; 468-69; 470; 485; 487; 488; 492 - Art. ,3ossuet" 364-66 - Art. „Luther" 209-13 -Eucharistie 125-26; 128-29
527
- Gemischte Ehen 323-26 - Handbuch der christlichen Kirchengeschichte 209-13; 228-30 - Irrthum, Zweifel und Wahrheit 24447; 381; 388 - Ranke-Rezensionen 468-69 -Reformation 120; 122-24; 129; 130; 209-13; 364-66 - Schellingsche Philosophie 373 - Staat und Kirche 294-95; 323-26 Droysen, Johann Gustav 19; 20; 50; 241; 260 Du Fay, Sophie (Frau Rat Schlosser) 81; 410; 413-14 Duchhardt, Heinz 36; 220; 222 Dufour, Guillaume Henri 429 Durkheim, Emile 47 Ebner, Johann Nepomuk von 99; 428 Elm, Kaspar 55 Engels, Friedrich 39-40 Engels, Odilo 191; 192 Erdmann, Karl Dietrich 43 Fallmerayer, Jakob Philipp 116; 117; 118; 134; 136 Ferdinand I., röm.-dt. Ks. 227 Ferdinand II., röm.-dt. Ks. 17; 113; 232 Fichard, Johann Karl 81; 85 Fichte, Johann Gottlieb 105; 107; 108 Ficker, Julius 28; 32; 35; 48; 50; 51; 57; 64; 69; 71; 133; 151; 169; 188; 201; 240; 254; 268; 271; 278; 280; 284; 426; 474; 485; 487; 502 Fiorillo, Johann Dominik 77; 354 Frantz, Constantin 57; 54 Franz Π., röm.-dt. Ks. 149; 291 Franz Ferdinand, österr. Thronfolger 49; Freytag, Gustav 47 Fried, Johannes 270 Friedrich I., Barbarossa 172; 180; 187; 189; 190; 193;416 Friedrich Π., röm.-dt. Ks. 17; 18; 68; 140; 149; 161; 172; 181; 186-96;
528 202; 205; 206; 208; 218; 283; 302; 305; 306; 416; 435; 439; 496 Friedrich m., röm.-dt. Ks. 205 Friedrich der Schöne, dt. Kg. 204 Friedrich Π., Kg. von Preußen 47; 154; 237; 238; 329; 347; 381; 382; 502 Friedrich Wilhelm ΙΠ., Kg. von Preußen 396 Friedrich Wilhelm IV., Kg. von Preußen 459 Friedrich V., Pfalzgraf 228 Friedrich, Johannes 61; 64; 722 Fröbel, Julius 39; 450 Fueter, Eduard 47; 56 Gagem, Heinrich von 26 Gatterer, Johann Christoph 352; 353; 402 Geissei, Johannes von 412 Gentz, Friedrich 387; 408 Georg V., Kg. von Hannover 49; 63; 474 Gervinus, Georg Gottfried 19; 461 Gfrörer, August Friedrich 17; 20; 25 28; 35; 37; 39; 46; 47; 50; 55; 60 61; 67; 70; 100-119; 120; 121; 122 124; 130; 131; 132; 133; 137; 139 146; 147; 150; 151; 154; 155-67 219-27; 171; 173; 174; 175; 179 184; 195; 198; 201; 206; 208; 218 229-36; 237; 249; 251; 253-54 256; 258; 264-72; 269 (Abb.); 276 286; 287; 293; 295-301; 302; 303 304; 311; 314-20; 321; 325; 329 330; 331; 337; 338; 340-41; 342 343-45; 346; 351; 356; 378-80 389; 415; 421; 425; 442-49; 455 473; 477-81; 488; 492; 495; 502 - Allgemeine Kirchengeschichte 11516;219-27 -Carolinger 155-67; 226-27; 26667; 443-44 - Geschichte des Urchristenthums 114-15; 378-80 - Geschichte unserer Tage 295-301 - Gustav Adolph 112-14; 229-36;
Anhang - Tiare und Krone 223; 314-20 - Wallensteins Schuld 233-35; 443 Giesebrecht, Wilhelm 19; 49 Gildemeister, Johannes 471; 484 Goethe, Johann Wolfgang 148; 411 Goetz, Walter 54; 64; 65; 414 Gollwitzer, Heinz 35-37; 56 Gooch, George Peabody 48 Görres, Guido 85; 101; 142; 420; 421; 422; 487 Görres, Joseph 49; 55; 74; 85; 86; 101; 118; 121; 128; 142; 145; 292; 309; 326; 409; 412; 414-26; 431; 434; 440; 445; 446; 459; 487 -Athanasius 419-20 - Grundlage, Gliederung und Zeitenfolge der Weltgeschichte 415-19 Görres, Marie 86; 422; 424 Gottschalk (sächsischer Mönch) 162 Grauert, Wilhelm Heinrich 117 Gregor Vn. 180 Gregor IX. 190; 192 Grimm, Jacob 138; 139; 356; 490 Grimm, Wilhelm 138; 139; 356 Grisar, Hartmann 54 Gustav Adolf, Kg. von Schweden 112; 113; 233; 234 Hadrian VI. 143 Hägele, Joseph Matthias 366 Hagen, August 61; 102 Haller, Carl Ludwig von 92; 95; 392401; 402; 405; 422; 425 Hardenberg, Karl August von 292 Harleß, Adolf von 432 Hatto, Eb. von Mainz 164; 166 Häusser; Ludwig 19; 36; 65; 68; 117; 134; 148; 196; 440; 461; 496-503 Heeren, Arnold Hermann Ludwig 92; 138; 352; 354; 356 Hefele, Karl Joseph 412 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 102; 105; 107; 108; 287; 370; 376-83; 384; 386; 401; 463 - Philosophie der Geschichte 377-83 Heinrich I., dt. Kg. 167
ΠΙ. Personen- und Werkregister Heinrich Π., röm.-dt. Ks. 189 Heinrich m., röm.-dt. Ks. 189 Heinrich IV., röm.-dt. Ks. 190 Heinrich VI., röm.-dt. Ks. 172; 181; 187; 189; 201 Heinrich (VH.), dt. Kg. 189; 191-193; 195;202; 283; 340 Heinrich der Löwe 180; 189 Heinrich IV., Kg. von Frankreich 228 Heller, Robert Wilhelm 130; 131 Hemmerle, Josef 61 Herder, Benjamin 130 Herder, Johann Gottfried 360; 37072;373; 376 - Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 370-72 Hergenröther, Joseph 54 Herrmann der Lahme 266 Hertling, Georg von 241-43; 244; 247; 249; 365 Hettinger, Franz 412 Heyne, Christian Gottlieb 92; 354 Hinkmar von Reims 164; 266 Hintze, Otto 168; 170 Höfler, Carl Adolf Constantin 17; 20; 28; 29; 34; 35; 36; 38; 47; 49; 54; 60; 61; 65; 67; 69; 70; 96; 98; 101; 111; 112; 117; 118; 120; 130; 13245; 147; 151-54; 171-73; 175; 179; 184; 186-96; 197; 198; 206; 208; 214-16; 218; 227-30; 231; 237; 244; 247-49; 251; 253; 254; 255; 256; 257; 260; 262; 273; 286; 29394; 301-6; 321; 323; 325; 328; 335; 336; 340; 342; 346; 348; 351; 352; 356; 360-61; 363; 366; 367; 370; 371; 372; 373; 374; 376; 377; 387; 388; 389; 402; 413; 414; 421; 423; 426; 427; 431-42; 457-58; 460-65; 467 (Abb.); 468; 469-70; 481; 487; 488; 492; 496-503 - Art. „Investiturstreit" 172-73 - Art. „Reich, Altes" 151-54; 186-96; 215 - Art. „Wiener Congreß" 293-94 - Deutsche Päpste 139-41; 263
34 Brechenmacher
529
- Friedrich Π. 143; 186-96; 439^1; 496-503 -Polignac 301-6 - Über katholische und protestantische Geschichtschreibung 215; 247-49; 360-61; 367; 370; 376; 402; 46265; 469-70 - Zur Geschichte der Anfänge der Griechen 136-37; 375 Hölderlin, Friedrich 102 Honorais ΠΙ. 190 Hormayr, Joseph von 99; 437 Hortig, Johann Nepomuk 130; 209 Hüffer, Hermann 28; 35; 39; 40; 47; 50; 64; 69; 151; 240; 413; 455 Humboldt, Alexander von 404 Humboldt, Wilhelm von 57 Hurter, David 392 Hurter, Franz 90 Hurter, Friedrich Benedikt 87; 411; 461; 484 Hurter, Friedrich Emanuel 17; 20; 28; 34; 35; 39; 50; 55; 61; 62; 67; 70; 87-100; 101; 107; 110; 111; 112; 115; 118; 120; 121; 130; 132; 133; 138; 144; 147; 151; 155; 171; 17386; 177 (Abb.); 190; 191; 195; 197; 198; 206; 208; 214; 216-18; 235; 244; 245; 249; 250-51; 253; 254; 255; 256; 257; 258; 260; 262; 28586; 303; 305-14; 315; 318; 320; 321; 323; 325; 327; 329; 331; 33236; 337; 339; 342; 346-49; 352; 358; 374-75; 377; 387; 389; 391; 392-401; 403; 409; 410; 415; 421; 422; 425; 427-30; 435; 436; 438; 440; 442; 447; 455; 459; 465; 469; 492; 502 - Ausflug nach Wien und Preßburg 305-14; 332-35 - Geburt und Wiedergeburt 305-14 - Innocenz m. 93-95; 173-86 - K ö l n und Zürich 305-14 -Theoderich 374-75 Hurter, Heinrich 61; 100 Hurter, Marianne 411
530 Hus, Jan 215 Iggers, Georg G. 57 Innocenz ΙΠ. 17; 115; 173-86; 208; 216;283; 306; 327; 394; 403 Innocenz IV. 190; 194 Janssen, Johannes 23; 28; 29; 35; 47 49; 55; 56; 61; 62; 63; 69; 71; 80 86; 113; 123; 133; 151; 219; 240 254; 258; 359; 403; 407; 413; 421 424; 426; 445; 446; 448; 455; 471 485; 487 Jarcke, Carl Ernst 142; 411; 412; 422; 431; 440 Jerome, Kg. von Westfalen 401; 404 Johann von Luxemburg, König von Böhmen 204 Johannes Vm., Papst 266 Johannes X., Papst 163 Jörg, Joseph Edmund 29; 122; 214; 268; 421; 425; 446 Joseph II., röm.-dt. Ks. 238 Jung, Julius 64 Kaegi, Werner 475 Kaindl, Raimund Friedrich 41; 51 Kampschulte, Franz Wilhelm 30 Kant, Immanuel 105; 107; 108; 328; 374 Karl der Große 149; 152; 157; 158; 172; 173; 179; 208; 266; 361;385; 406 Karl der Kahle 158; 159 Karl EL, der Dicke, Sohn Ludwigs des Deutschen 266 Karlmann, Sohn Ludwigs des Deutschen 266 Karlmann, Sohn Ludwigs des Stammlers 267 Karl IV., röm.-dt. Ks. 204; 206; 274; 278 Karl V., röm.-dt. Ks. 216; 221; 223; 320; 385; 458 Karl X., Kg. von Frankreich 111 ; 304 Ketteier, Wilhelm Emanuel Frhr. von 20; 412 Kleinstück, Erwin 62; 488
Anhang Klopp, Onno 26; 34; 35; 41; 42; 48; 49; 55; 58; 63; 65; 69; 71; 111; 112; 113; 114; 151; 229; 240; 271; 348; 357; 421; 444; 448; 455; 462; 466; 469; 474; 485; 502 Klopp, Wiard 47; 63 Köhler, Johann David 352 Konrad I., dt. Kg. 163 Konrad IV., dt. Kg. 191; 194 Kopp, Joseph Eutych 29; 117; 478; 482; 493 Lades, Hans 139; 140 Lagarde, Paul de 31; 54 Lambert von Hersfeld 149 Lamprecht, Karl 47; 52; 56 Langewiesche, Dieter 44 Lappenberg, Johann Martin 412 Laslowski, Emst 41 Lasaulx, Emst von 144; 412; 423; 435; 438; 439; 440 Leibniz, Gottfried Wilhelm 26; 444; 357 Lenau, Nikolaus 106 Leo, Heinrich 118 Lintzel, Martin 207 Lischer, Markus 70 Lorenz, Ottokar 46 Lortz, Joseph 123 Luden, Heinrich 118 Ludwig der Deutsche 161 ; 266 Ludwig der Fromme 159 Ludwig der Jüngere 266 Ludwig der Stammler 266 Ludwig der Baier, röm.-dt. Ks. 204; 275; 424 Ludwig I, Kg. von Bayern 126; 131; 132; 139; 141; 195; 303; 305; 423; 431-42 Ludwig XI., Kg. von Frankreich 319 Ludwig XV., Kg. von Frankreich 336 Ludwig XVI., Kg. von Frankreich 91 Ludwig XVin., Kg. von Frankreich 303; 305 Luther, Martin 113; 123; 153; 197; 205; 211-12; 216; 220; 221; 230; 243; 382; 458; 468
ΠΙ. Personen- und Werkregister Manz, G. Joseph 120; 123 Manzoni, Carlo 107 Maria Theresia, Kaiserin von Österreich 238 Marx, Karl 39-40 Matthisson, Friedrich von 104 Matzinger, Lorenz 63 Maurer-de Constant, Heinrich 96 Maximilian I., röm.-dt. Ks. 205; 225; 274; 279; 385; 458; 480 Maximilian I., Hz. von Bayern 232; 233 Maximilian Π., röm.-dt. Ks. 231 Maximilian Π., Kg. von Bayern 15; 438; 439 Mayer(-Pfannholz), Anton 42 Meinecke, Friedrich 57; 254; 372 Melanchthon, Philipp 123 Menzel, Karl Adolf 118; 215; 492 Metternich, Clemens Lothar Wenzel, Fürst von 98; 251; 285; 347; 399; 422; 428; 429; 431 Metzler, Johann Wilhelm 81 Möhler, Johann Adam 55; 95; 125; 412; 423 Mommsen, Wilhelm 24; 31 Mone, Franz Joseph 412 Mone, Fridegar 86; 281; 485 Montalembert, Charles Forbes de 412 Montez, Lola 132; 144; 434 Moy de Sons, Emst von 144; 423; 436; 438 Müller, Johann Georg 392 Müller, Johannes von 77; 90; 105; 375; 392; 396; 399; 401-8; 425; 464 Näf, Werner 197 Napoleon Bonaparte 20; 90; 157; 159; 293; 319; 332; 394 Niebuhr, Barthold Georg 16; 19; 257; 402; 464-65 Nikolaus I., Papst 163 Nipperdey, Thomas 45; 146 Nitzsch, Karl Wilhelm 471 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 139; 357; 359
34*
531
Oettingen-Wallerstein, Ludwig von 431; 434 Ohlenschlager, Johann Adam 412 Otto der Große 152; 167; 171; 173 Otto Π., röm.-dt. Ks. 168 Otto m., röm.-dt. Ks. 161; 168 Otto IV., röm.-dt. Ks. 172; 181; 182; 183 Otto von Freising 149 Overbeck, Johann Friedrich 82; 411 Oxenstiema, Axel 234 Palacky, Frantisek 49; 50 Passavant, Johann David 78; 412 Pastor, Ludwig 28; 29; 35; 39; 41; 49; 51; 63; 65; 69; 71; 100; 113; 151; 240; 271; 421; 455; 464; 466; 469 Perthes, Friedrich 94; 383 Pertz, Georg Heinrich 19; 82; 83; 219; 260; 276; 277; 476-81; 488; 493; 494 Pfeilschifier, Johann Baptist 31; 289; 290;294; 295; 326 Pfordten, Ludwig Frhr. von der 439 Philipp von Schwaben, dt. Kg. 181 Philipp, Landgraf von Hessen 216 Phillips, George 29; 98; 142; 144; 203; 420; 422; 431; 436; 438; 440; 487 Pius IX. 121; 444 Planck, Gottlieb Jakob 353 Polignac, Auguste Jules Armand Marie de 304 Prudentius von Troyes 266 Pütter, Johann Stephan 352 Ranke, Leopold von 15; 16; 19; 46; 50; 57; 129; 175; 248; 260; 263; 290-95; 348; 375; 402; 464; 46575; 488; 493 Raspe, Heinrich 498 Räß, Andreas 412 Rast, Adelhelm 70 Raumer, Friedrich von 118; 402; 464; 469 Raveaux, Franz 39
532 Rehberg, August Wilhelm 38; 138; 139; 356; 387 Reyscher, August Ludwig 489-91; 492; 493; 495 Richelieu, Armand-Jean Du Plessis, de 333 Riehl, Wilhelm Heinrich 47 Ringseis, Johann Nepomuk 423; 434 Ritter, Carl 243 Ritter, Gerhard 57 Ritter, Moriz 28; 30; 34; 35; 37; 46; 47; 50; 51; 54; 64; 65; 69; 71; 151; 240; 422 Rosenstock-Huessy, Eugen 382; 384 Rotteck, Karl 116 Rudolf von Fulda 266 Rudolf von Habsburg, dt. Kg. 203; 348; 406 Runkel, Martin (Adolph Freimund) 457-60; 461; 469; 472; 474; 481; 496; 497; 498; 501 Rüsen, Jörn 240 Sailer, Johann Michael 127; 412 Sartorius von Waltershausen, Georg 77; 92; 352; 354; 404 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 61; 102; 108; 127; 134; 135; 137; 138; 139; 251; 370; 372-76; 380 Schenk, Eduard von 127 Schib, Karl 403 Schlegel, Friedrich 360; 366-70; 371; 372; 376; 380; 381; 382; 383-87; 392; 401; 415; 418; 425 - Philosophie der Geschichte 366-70 - Signatur des Zeitalters 386-87 - Über die neuere Geschichte 383-86 Schleiermacher, Friedrich 107 Schlosser, Friedrich Christoph 19; 46; 248; 440; 461-64; 469 Schlosser, Hieronymus Peter 410 Schlosser, Johann Friedrich Heinrich 49; 81; 85; 87; 312; 409-14; 425 Schlosser, Johann Georg 410 Schlözer, August Ludwig 92; 352 Schmerber (Buchhändler) 87 Schmidt, Adolph 484; 485; 490
Anhang Schnabel, Franz 63; 465 Schneider, Friedrich 32 Schnorr von Carolsfeld, Julius 78 Schulze, Hagen 146 Schweizerbart, E., Buchhändler 109; 315 Seibt, Ferdinand 122 Sepp, Johann Nepomuk 144; 438 Seuse, Heinrich (Suso) 424 Sickel, Theodor 278; 280 Sigmund, röm.-dt. Ks. 149 Spieker, Manfred 37 Srbik, Heinrich Ritter von 41; 51; 5254; 60; 62; 179; 260 Stälin, Christoph Friedrich 118; 493 Stammler, Wolfgang 56 Staudenmaier, Franz Anton 412 Stein, Karl Frhr. vom 81; 82; 83; 355; 475 Steinacker, Harold 32; 33; 41 Steinle, Edward von 411 Stenzel, Gustav Adolf Harald 493 Strauß, David Friedrich 108; 114; 309; 311; 378 Stumpf-Brentano, Karl Friedrich 278 Sybel, Heinrich von 19; 32; 34; 36; 40; 48; 49; 50; 59; 64; 65; 155; 169; 201; 348; 442; 461; 471; 484; 485; 488; 502 Tacitus 199 Theophanu, Kaiserin 168 Thiersch, Friedrich von 127; 433 Thomas, Johann Gerhard Christian 81; 85; 86; 87; 292; 412; 449; 453 Thukydides 52 Thun, Leo 49 Tieck, Ludwig 358; 411 Tokody, Gyula 41 Treitschke, Heinrich von 19; 34; 50; 453 Troxler, Walter 63; 71 Uhland, Ludwig 491 Valentin, Veit 39 Veit, Johannes und Philipp 411 Venedey, Jakob 39
ΠΙ. Personen- und Werkregister Vicari, Hermann von 412 Vigener, Fritz 124 Vogelsanger, Peter 62; 89; 173; 184; 262 Voigt, Johannes 175; 402 Voltaire (Francois Marie Arouet) 329; 360 Wachler, Ludwig 18 Waiblingen Wilhelm 103 Waitz, Georg 19; 260; 473; 477; 480; 488; 501 Wallenstein, Albrecht Wenzel Eusebius 232-36; 345; 443 Weber, Max 56 Wedewer, Hermann Anton 413 Wegele, Franz Xaver 16-20; 33; 45; 46; 50; 54; 58; 60
Wehler, Hans-Ulrich 45; 56; 60 Weidenfeld, Werner 43 Weishaar (Minister) 443 Welte, Benedikt 70; 130 Wetzer, Heinrich Joseph 70; 130 White, Hayden 284 Widukind von Corvey 149 Wilhelm von Holland, dt. Kg. 194; 195; 257; 340; 498 Will, Cornelius 268 Willemer, Marianne 81; 411 Wolf, Georg 307 Wordsworth, William 411 Wrede, Karl von 434 ZuRhein, Friedrich Frhr. von 436
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