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German Pages 225 [228] Year 2013
Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst
Band 6
herausgegeben von Uwe Baumann, Michael Bernsen und Paul Geyer
Michael Bernsen / Matthias Becher / Elke Brüggen (Hg.)
Gründungsmythen Europas im Mittelalter Mit 11 Abbildungen
V& R unipress Bonn University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0075-1 Veröffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ebstorfer Weltkarte, Europa, ca. 1300 Kolossos Wikimedia Commons, lizenziert unter Creative Commons-Lizenz 3.0-unported, http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/de Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
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Alexander Demandt Form und Funktion von Gründungsmythen. Das Beispiel Roms . . . . . .
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Manfred Groten Die mittelalterliche Stadt als Erbin der antiken civitas . . . . . . . . . . .
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Franz Lebsanft »Heiliger Severin«? Konstruktion und Dekonstruktion der Boethiusvita .
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Alheydis Plassmann Das Wanderungsmotiv als Gründungsmythos in den frühmittelalterlichen Origines gentium . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Richter † Gründungsmythen in Wales, 9. bis 12. Jahrhundert
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Sabine H. Walther Ingûlfr war der berühmteste aller Landnehmer – Gründungsmythen im hochmittelalterlichen Island . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Harald Wolter-von dem Knesebeck Der Kontinent der Städte und Wege. Europa und seine Stellung in Welt und Weltgeschichte auf der Ebstorfer Weltkarte . . . . . . . . . . . . . . 105 Matthias Becher Ein Reichsgründer und sein Historiograph: Gregor von Tours über Chlodwig und dessen Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
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Inhalt
Michael Bernsen Der europäische Gründungsmythos von Karl dem Großen und seine Karnevalisierung im altokzitanischen Epos Rollan a Saragossa . . . . . . 149 Dietmar Rieger Mythos in statu nascendi? Die Pucelle und Christine de Pizans Diti¦ de Jehanne d’Arc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Karina Kellermann »Kaiser Friderich ist komen!« Der Wiederkehrmythos und die frühe Vision eines 1000jährigen deutschen Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Elke Brüggen Weltkultur – Zur Aufnahme des Nibelungenliedes in das Weltdokumentenerbe der UNESCO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Verzeichnis der Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Vorwort der Herausgeber
Die Tagung »Gründungsmythen Europas im Mittelalter« fand am 11. und 12. November 2010 im Stucksaal des Poppelsdorfer Schlosses in Bonn statt. Sie orientierte sich thematisch am Trinationalen Graduiertenkolleg »Gründungsmythen Europas in Literatur, Kunst und Musik« der Universitäten Bonn, Paris und Florenz. Dieses geht bei seiner Arbeit davon aus, dass der Begriff des Gründungsmythos vom Scheitern der Alten und Neuen Mythologien im 18. und 19. Jahrhundert gezeichnet ist. Seit der Romantik hat die europäische Kultur ein ironisch-sentimentalisches Verhältnis zu ihrem eigenen kulturellen Erbe entwickelt. Eine Rückbesinnung auf die Werte des christlichen Mittelalters, der Renaissance, der Reformation und zum Teil sogar der Aufklärung ist daher einerseits nicht mehr möglich, andererseits droht Europa aber ohne die Pflege dieses kulturellen Erbes der Verlust seiner Identität. Gründungsmythen bestimmten und bestimmen die Geschichte Europas in der sogenannten Vormoderne nachhaltiger, als das rationale Denken der Neuzeit dies oft zugestehen will. Das Alter eines Volkes oder einer Gemeinschaft, ihre Beziehungen zum Übernatürlichen waren in der Regel ganz entscheidend für ihr Selbstverständnis – daher die vielen Erzählungen über Ursprünge, Abstammungen und den unmittelbaren Kontakt zu Gott. Wer älter war, von den vornehmeren Ahnen abstammte oder gar seine Ursprünge in sakralen Vorstellungen verankern konnte, der war für die ideologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit bestens gerüstet. Eine Analyse der europäischen Gründungsmythen allgemein kann allerdings nur mit Hilfe eines ausgereiften methodischen Instrumentariums gelingen. Schon das Wort ›Gründungsmythos‹ verdeutlicht seinen Charakter als fiktive Projektion, die gleichwohl den Anspruch erhebt, Sinn und Legitimation zu stiften. Vor allem unterstreicht es den Rückbezug der Gegenwart auf eine für sie in gewisser Hinsicht verbindliche Vergangenheit. Auf der Tagung ging es weniger um Mythen, die den Begriff Europas thematisieren, als vielmehr vor dem Hintergrund einer notwendigen Auflösung nationaler Traditionen um eine Frage, die auch im Zentrum des Trinationalen Doktorandenkollegs steht: Wel-
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Vorwort der Herausgeber
chen Beitrag können vormoderne Gründungsmythen zur wie auch immer gearteten Identitätsstiftung Europas leisten? Entsprechend reflektieren die Beiträge dieses gemeinsame Thema und bringen zugleich vielfältige Gründungsmythen zur Sprache. Im Plural gewinnt der Begriff zudem zusätzliche Komplexität, wodurch die Pluralität, Konkurrenz bzw. Komplementarität möglicher Begründungsgeschichten deutlich wird. So dokumentiert die Sage von Romulus und Remus in Verbindung mit der ÄneasSage den unter Augustus kanonisierten klassischen Gründungsmythos Roms (Alexander Demandt). Die Idee der antiken civitas wurde in einer (vielleicht in Köln erfolgten) Umdeutung über die Bischofsstädte hinaus zu einem universell anwendbaren Stadtmodell weiter entwickelt (Manfred Groten). Als Folge der mittellateinischen Glossierung und Kommentierung wurde die Consolatio Philosophiae zunächst christianisiert und dank der vom 13. bis zum 19. Jahrhundert zahlreich erfolgten Übersetzungen ins Französische, Italienische und Spanische in volkssprachliche Text- und Diskurswelten überführt (Franz Lebsanft). Die Herkunftsmotive der diversen frühmittelalterlichen Gründungsmythen sollten die jeweiligen Völker vor allem in die Welt- und Heilsgeschichte einordnen (Alheydis Plassmann / Michael Richter / Sabine H. Walther). Die Ebstorfer Weltkarte kann schließlich als wichtiges Zeugnis eines frühen europäischen Selbstverständnisses gelten (Harald Wolter-von dem Knesebeck). Auch historische Persönlichkeiten wie die Frankenherrscher Chlodwig und Karl der Große boten Ansatzpunkte für eine Mythisierung. Während Chlodwig auf der Basis der zeitnahen Darstellung Gregors von Tours im Hochmittelalter zur Gründergestalt des französischen Königtums stilisiert wurde (Matthias Becher), wurde Karl der Große, der schon manchen seiner Zeitgenossen als pater Europae galt, u. a. im altokzitanischen Epos Rollan a Saragossa entsprechend mythisch aufgeladen (Michael Bernsen). Christine de Pizans Diti¦ de Jehanne d’Arc von 1429 bietet die Möglichkeit, die ersten Etappen der Mythisierung eines historischen Ereignisses und der dieses tragenden Gestalt zu beobachten (Dietmar Rieger). Im Spätmittelalter, zu Zeiten des Schismas, der Konzile und des heraufziehenden Jahres 1500, hatten chiliastische Vorstellungen über einen kommenden Friedensherrscher namens Friedrich Konjunktur, wurden um das Jahr 1500 sozialreformerisch, z. T. sozialrevolutionär, gewendet und mündeten in die radikalen Strömungen der Reformation und die Bauernkriege (Karina Kellermann). Die Begründung für die Aufnahme des Nibelungenlieds in das Weltdokumentenerbe (Elke Brüggen) bietet schließlich Gelegenheit, über zeitgenössische Parameter einer auf scheinbar wissenschaftlicher Basis beruhenden Mythenbildung zu reflektieren. Die Herausgeber danken der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn besonders für die finanzielle Unterstützung der Tagung. Dank gilt auch den Beiträgerinnen und Beiträgern für die
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konstruktive Zusammenarbeit, sowie der Familie des verstorbenen Kollegen Richter, die es ermöglicht, dessen Beitrag in den Band aufzunehmen. Der Band wäre in dieser Form nicht zustande gekommen ohne die vorbildliche lehrstuhlübergreifende und interdisziplinäre Kooperation zahlreicher Bonner Mitarbeiter. Im Einzelnen bedanken wir uns für die tatkräftige Unterstützung bei der Einrichtung der Beiträge bei Dr. Florian Hartmann (Lehrstuhl Becher), bei Bettina Pracht, Ann-Kathrin Deininger, Dr. Susanne Flecken-Büttner (Lehrstuhl Brüggen), bei D¦sir¦e Cremer (Lehrstuhl Lebsanft) und allen voran bei Herrad Schmidt (Lehrstuhl Bernsen), die mit großer Einsatzbereitschaft die Drucklegungsarbeiten koordiniert hat.
Alexander Demandt
Form und Funktion von Gründungsmythen. Das Beispiel Roms
»Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen«, besagt ein griechisches Sprichwort, das Aristoteles in seiner Politik zitiert.1 Bei ihm geht es um Fehler, die sich bei Beginn einer Unternehmung besonders stark auswirken, doch gilt das Wort ebenso hinsichtlich des Aussagewertes, den man dem Ursprung einer Sache für deren Erkenntnis überhaupt zuschreibt. Im Falle von Gründungsmythen besitzen wir Zeugnisse für das Selbstverständnis von Institutionen, in aller Regel zum eigenen Ruhm ersonnen und verkündet. Das gilt auch für die Ursprungslegende von Rom, doch zeigt sie zugleich die Sicht von außen. Nachdem am 24. August 410 der Gotenkönig Alarich die Stadt erobert hatte, ging ein Aufschrei des Entsetzens durch die antike Welt. Wie konnte die Urbs aeterna, die Mutter der Völker, der Mittelpunkt des Erdkreises zur Beute wilder Barbaren werden? Die Antwort der Altgläubigen lag auf der Hand. Die Kaiser hatten sich seit Constantin und Theodosius dem Christentum zugewandt und die römischen Götter verraten, die Rom groß gemacht, beschützt und der Stadt ewige Dauer verheißen hatten. Dagegen wandte sich Augustin, Bischof von Hippo in Nordafrika, mit seinem monumentalen Werk De Civitate Dei. Er erklärte die alten Götter für Fiktionen und das Imperium Romanum für einen Schurkenstaat, dem keine Träne nachzuweinen sei. Diese provokante Behauptung stützte er ironischerweise mit der Sage von der Gründung Roms, die er den heidnischen Autoren selbst entnahm. In der Existenzkrise Roms gewann der römische Gründungsmythos argumentatives Gewicht. Augustin benutzte ihn, um das Ende Roms im Anfang Roms vorgebildet zu sehen und der Katastrophe damit ihren Schrecken zu nehmen. Wer den Ursprung der Stadt bedenke, dürfe sich über ihr Schicksal nicht verwundern. Die Gründungslegende Roms machte eine solche romfeindliche Verwendung möglich. Anders als die zumeist lupenrein heroisch gehaltenen Ursprungsmythen von Städten und Staaten ist der römische Mythos zweideutig. Er enthält Züge, die 1 Vgl. Aristoteles, Politik, 1303 B 30.
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Alexander Demandt
sich sowohl panegyrisch als auch polemisch deuten lassen. Es erübrigt sich, daran zu erinnern, dass Mythen immer nur dann politisch wirksam werden, wenn sie für Geschichte gehalten werden. So gingen Augustin und seine ungenannten Gegner selbstverständlich von der Annahme aus, dass Romulus und Remus historisch seien. Gesichert aber ist einzig, dass es eine etruskische Familie Rumlinna gab, aus welcher der Name Romulus herausgesponnen und dann der Stadtname Roma gebildet ist. Die vermutlich im 4. Jahrhundert v. Chr. entstandene, im Verlauf von 700 Jahren von zahlreichen griechischen und lateinischen Autoren erzählte Geschichte der Zwillinge zeigt diverse Einflüsse und ist in verschiedenen Varianten überliefert.2 Die gängige Fassung besagt, dass der Urvater Roms nicht wie der von Athen erdgeboren ist, sondern heimatvertriebener Immigrant war. Vergil erzählt in seinem von Augustus in Auftrag gegebenen Nationalepos, wie Äneas, ein Sohn Aphrodites und Vorfahr des Kaisers, aus dem brennenden Troja flüchtet und nach langer Irrfahrt in Karthago landet. Nach dem Liebesabenteuer mit der Königin Dido fährt er auf Geheiß des Götterkönigs Juppiter nach Italien. Hier lebten die Aborigines, wie man heute die Australneger bezeichnet – im Unterschied zu den europäischen Nachkommen der britischen Strafkolonie. Äneas gründet in Latium die Stadt Lavinium. Die Berufung auf trojanische Helden als Stadtgründer Italiens war seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. verbreitet und bezeugt den Wunsch, sich der griechischen Kulturwelt anzuschließen. Sekundär erfolgte die Verknüpfung der Äneaslegende mit der Sage von Romulus und Remus. Die von Äneas oder seinem Nachkommen Numitor abstammende Rhea Silvia wird als Vestalin vom Kriegsgott Mars geschwängert und gebiert die Zwillinge Romulus und Remus. Sie werden auf einer Wanne im Tiber ausgesetzt, ähnlich wie der neugeborene Moses auf dem Nil. Und so wie dieser werden die Zwillinge auf wunderbare Weise gerettet. Am Fuße des palatinischen Hügels an Land gespült, werden sie zunächst von einer Wölfin genährt, ähnlich wie nach griechischer Tradition acht weitere Sagenhelden, qui lacte ferino nutriti sunt3 ; unter ihnen ist der junge Telephos, der von einer Hündin gesäugt wurde, um später Pergamon zu gründen. Die Szene ist auf dem Berliner Pergamon-Altar zu sehen. Er dokumentiert den Ursprungsmythos der Stadt. Auch das Motiv mit der Lupa wurde öffentlichkeitswirksam in Erinnerung gehalten, und zwar durch zwei Denkmäler von bronzenen Wölfinnen, die wir aus der antiken Literatur kennen. Die eine von ihnen stand vor dem Lupercal, der Wolfshöhle nahe dem Tiberufer, wo die Zwillinge gelandet sein sollen. Die Figur stammt vermutlich aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., denn im Jahre 295 v. Chr. fügten die Ädilen die Zwillinge hinzu, die aus den Strafgeldern überführter 2 Vgl. Strasburger 1968. 3 Hygin, Fabulae, 252.
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Wucherer bezahlt wurden, wie Livius4 berichtet. Die Verwendung von Strafgeldern für die Herstellung von Kunstwerken kennen wir aus Griechenland, insbesondere aus Olympia, wo Sportsünder so geahndet wurden. Vom Lupercal nahmen die Lupercalia ihren Ausgang, eines der höchsten Staatsfeste Roms, das, angeblich von Romulus und Remus gestiftet, am 15. Februar stattfand und noch in christlicher Zeit zum Jahre 494 n. Chr. erwähnt wird, ehe es durch den Papst in das Fest Maria Lichtmess christianisiert und auf den 2. Februar verlegt wurde. Die zweite Bronzewölfin, ebenfalls mit Zwillingen, stand auf dem Kapitol. Hier wurde sie, wie Cicero5 überliefert, im Jahre 65 v. Chr. vom Blitz getroffen. Es handelt sich höchst wahrscheinlich um die Lupa Capitolina, die sich heute im Konservatorenpalast befindet. Denn das Tier hat an den Hinterläufen Risse von Hitzeeinwirkung, die auf jenen Blitzschlag zurückgeführt werden. Diese Lupa galt als Mater Romanorum und stand im Mittelalter als Gerichtssymbol vor dem Lateranpalast, ehe Michelangelo sie 1544 aufs Kapitol brachte. Es gibt allerdings auch die Auffassung, dass die kapitolinische Wölfin ein nachantikes Werk sei, inspiriert durch die römische Tradition. Wir besitzen zahlreiche römische Abbildungen der Wölfin mit den Knaben, so in Rom an der Ara Pacis, dem Friedensaltar des Augustus aus dem Jahre 9 v. Chr., also an hochoffizieller Stelle.6 Weitere Bilder stammen aus den Provinzen: Reliefs, Mosaiken und Münzbilder, so auf Denaren schon im frühen 3. Jahrhundert v. Chr. und noch auf Medaillons im späten 4. Jahrhundert n. Chr. – Darstellungen, die bis in die Spätantike für die Popularität der Sage sorgten. Die Zwillinge unter der kapitolinischen Wölfin haben sich nicht erhalten, sie wurden in der Renaissance, wahrscheinlich von Pollaiuolo um 1490 hinzugefügt. Der überwiegend positiven Bezugnahme auf die Wölfin als Totemtier Roms steht eine negative Gründungstradition gegenüber, die von den Feinden Roms ersonnen und genutzt wurde, erst von den Griechen7, dann von den Italikern und schließlich von den Kirchenvätern. Man sah in der Wahlverwandtschaft mit dem Tier den wölfischen, blutgierigen Raubtiercharakter der Römer gespiegelt oder schloss aus der Doppelbedeutung des Wortes lupa, dass die Gründerväter Romulus und Remus von einer Hure abstammten.8 Die von der Wölfin gesäugten Zwillinge wurden nach der Überlieferung so wie Telephos von einem Hirten großgezogen. Der Palatin war gemäß der Sage schon vor der Gründung Roms bewohnt. Das besagt die Euanderlegende, sie datiert die Verbindung der Stadt mit der griechischen Welt noch weit vor den Fall Trojas zurück. Herkules sollte als zehnte Arbeit die Rinder des Geryones aus dem 4 5 6 7 8
Vgl. Livius, Ab urbe condita, X 23. Vgl. Cicero, De divinatione, I 20. Vgl. Helbig 1966, S. 687 f.; Alföldi 2011. Vgl. Iustinus, Epitoma Historiarum Philippicarum, XXXVIII 6,7. Vgl. Lactanz, Divinae Institutiones, I 20.
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Alexander Demandt
fernen Westen zurückbringen. Dabei machte er einen Abstecher nach Italien und kam zu dem Ort am Tiber, wo der aus Arkadien vertriebene König Euander seine Niederlassung gegründet und sie Pallatium nach seinem Ahnherrn Pallas benannt hatte. Hier wurden dem Herakles die Rinder von dem Riesen Cacus gestohlen. Herakles erschlug ihn, gewann die Tiere zurück und baute gemeinsam mit Euander die Ara Maxima, einen Altar für Juppiter. Er stand bei dem Tempel für Hercules Invictus auf dem Forum Boarium, nahe der späteren Kirche Santa Maria in Cosmedin, und erhielt jährlich ein Opfer durch die Prätoren nach griechischem Ritus. Die Sage wurde unter Augustus popularisiert, so bei Livius9, Vergil10, Properz11 und Ovid12. Sie steht im Rahmen der vom Kaiser geförderten und geforderten Traditionspflege, seinem nationalpolitischen Programm des Römertums. Nun zurück zu den Zwillingen. Sie gründeten auf dem palatinischen Hügel eine Stadt, die Romulus aufgrund eines Vogelzeichens von zwölf Geiern nach sich benannte. Da auch Remus ein Augurium erhalten hatte, zwar nur sechs Geier, aber als erster, wurde er um die Herrschaft betrogen.13 Roma hätte danach eigentlich Rema heißen müssen, doch wurde der Betrug sakralrechtlich mit der höheren Zahl der Geier des Romulus gerechtfertigt. Als Geburtstag Roms, natalis urbis, galt der 21. April, an dem die Parilia mit 24 Runden Wagenrennen gefeiert wurden. Das Fest ist bis 444 n. Chr. bezeugt und wird in dem 1829 gegründeten Deutschen Archäologischen Institut zu Rom alljährlich gefeiert. Stolzes Symbol für den Aufstieg Roms aus kleinsten Anfängen zur Herrin der Welt war eine Hütte, eine strohgedeckte Casa Romuli, seltsamerweise auf dem Kapitol. Sie kannte Vitruv14 noch unter Augustus. Als dieser noch Octavian hieß, spielte er eine zeitlang mit dem Gedanken, den Namen »Romulus« anzunehmen, bevor er sich 27 v. Chr. für »Augustus« entschied.15 Zu seinem 2000. Geburtstag ließ Benito Mussolini die Hütte auf dem Palatin rekonstruieren. Die 1937/38 von ihm zelebrierte »Augustus-Ausstellung zur Verherrlichung des Römischen Weltreiches«, die Mostra Augustea della Romanit, widmete einen ganzen Saal dem Ursprungsmythos Roms, allerdings ohne die – auch in der Antike niemals abgebildete – Bluttat, den Brudermord des Romulus an Remus. In der Sage baut nämlich Romulus eine Mauer, über die Remus spottet, woraufhin ihn Romulus erschlägt. Auch hierin sahen Spätere einen Fluch, der die römischen Bürgerkriege erklärte – so Horaz in seiner 7. Epode. 9 10 11 12 13 14 15
Vgl. Livius, Ab urbe condita, I 7. Vgl. Vergil, Aeneis, VIII 51; 184 ff. Vgl. Properz, Elegiae, IV 1. Vgl. Ovid, Fasti, I 543 ff. Vgl. Aurelius Victor, Origio gentis Romanae, 23,4: regno fraudatus. Vgl. Vitruv, De architectura, 35,21. Vgl. Sueton, De vita Caesarum, Aug. 7.
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Konstitutiv für die römische Politik wurde sodann die Erzählung vom Fortgang der Stadtwerdung, die Tradition vom Asylum Romuli. Um Bürger für seine Gründung zu gewinnen, eröffnete Romulus eine Freistatt für Zuwanderer aller Art. Hier versammelte sich nun mancherlei Volk. Livius spricht von einer turba sine discrimine, sowohl Freie als auch entlaufene Sklaven hätten sich hier eingefunden, abenteuerlustige Männer, avidi novarum rerum.16 Die Kirchenväter sahen darin nichts als Gesindel. Tertullian17, Cyprian18, Minucius Felix19, Lactanz20 und Augustin21 haben in ihrer Polemik gegen das heidnische Rom aufgrund dieser Sage die Anhänger des Romulus als eine Räuberbande und die Römer überhaupt als ein Volk von Verbrechern gebrandmarkt. Die Formulierung bei Livius schließt ja in der Tat Kriminelle unter den Männern des Romulus nicht aus. Sein Werk ist notabene die kanonische Geschichte Roms, unter Augustus entstanden. Die ersten Römer auf dem Palatin hatten ein Problem. Sie hatten keine Frauen. Darum inszenierte Romulus den Raub der Sabinerinnen. Er wurde nach kurzem Kampf mit deren Vätern und Brüdern durch die Frauen selbst beendet und mit einem Vertrag besiegelt. Damit war der Frauenraub legitimiert. An diesen erfolgreich beendeten Gewaltakt erinnerte das angeblich von Romulus gestiftete Fest der Consualia, das noch in der Kaiserzeit jährlich zweimal, am 21. August und am 15. Dezember mit Pferde- und Wagenrennen gefeiert wurde und erst in christlicher Zeit verschwand. Romulus herrscht nach der Sage nun als der erste König Roms, feiert den ersten Triumph über feindliche Nachbarn, weiht Juppiter die ersten spolia opima, die Beute aus einem im Zweikampf besiegten feindlichen Fürsten; Romulus führt siegreiche Kriege und verschwindet schließlich geheimnisvoll in einem Unwetter. Daran erinnert das jeweils am 7. Juli begangene Fest der Nonae Caprotinae. Eine wenig patriotische Umdeutung des Verschwindens besagt, die Senatoren hätten Romulus hinter verschlossenen Türen der Curia getötet, zerstückelt und die Teile heimlich unter ihrer Toga verborgen hinausgetragen, um behaupten zu können, Romulus sei in den Himmel aufgestiegen. Diese bösartige Variante stammt aus dem ideologischen Kampf der Popularen gegen die Optimaten im 1. Jahrhundert v. Chr. Eine ähnliche Umdeutung hat ja gemäß Matthäus22 auch die Auferstehung Jesu durch die Juden erfahren. Wie Jesus ist auch der postmortale Romulus seinen Leuten wieder erschienen. Nach dem Bericht 16 17 18 19 20 21 22
Livius, Ab urbe condita, I 8,5. Vgl. Tertullian, Ad nationes, II 9. Vgl. Cyprian, Quod idola dii non sint, 5. Vgl. Minucius Felix, Octavius, 25,2. Vgl. Lactanz, Divinae institutiones I 15,29 f. Vgl. Augustinus, De civitate Dei, I 34; IV 5. Vgl. Matthäus, 28,11 ff.
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eines Augenzeugen, dem er begegnete, wurde er in einen Gott verwandelt. Als solchen hat ihn der Senat bestätigt und unter dem Namen Quirinus verehrt. Sein Fest waren die Quirinalia, sie fanden am 17. Februar statt. Daneben wurde auch der Geburtstag des Quirinus am 3. April begangen, ebenfalls mit 24 Runden Wagenrennen im Circus Maximus. Der Tempel für Romulus-Quirinus, 293 v. Chr. errichtet und von Augustus prachtvoll erneuert, stand auf dem Quirinal. Zwölf hochrangige Priester betreuten ihn. Sie führten die Prozession beim Fest der Robigalia am 21. August. Die Zahl der Feste für den Stadtgründer erhöht sich damit auf sieben. Das war im Festkalender singulär. Wenn auf dem Forum Romanum der mysteriöse Lapis Niger als das Grab des Romulus gedeutet wurde, so ist das eine jener Ungereimtheiten, die in der Religionsgeschichte ja so selten nicht sind. Der Romulusmythos war jedenfalls allgegenwärtig. Der menschengemachte Gott Romulus konnte für den Kirchenvater Augustinus natürlich nur ein Gegenstand des Spottes sein. Den Brudermord stellt er mit dem Mord Kains an Abel welthistorisch an den Anfang der Civitas terrena, die er auch als Civitas diaboli bezeichnet. Diese Bluttat und der Raub der Sabinerinnen scheinen ihm bezeichnend für den brutalen Charakter der Römer23, und in diese Linie fügt sich die Tradition vom asylum Romuli glatt ein. Dionysios von Halikarnassos, der unter Augustus die trojanische, d. h. die griechische Herkunft der Römer betonte, lässt durchblicken, dass die romfeindliche Erzählung von der Verbrecherbande des Romulus aus dem geistigen Widerstand der Griechen gegen die Römer stammt, als diese im frühen 3. Jahrhundert v. Chr. mit den Griechen in Konflikt gerieten. In den Varianten der Sage spiegeln sich die Wechselfälle der Politik. Das beweist ihren Sitz im Leben. Wenn die lateinischen Autoren die für Rom abträgliche Legende vom Staat übernommen haben, mag das anfangs aus Naivität geschehen sein, wurde dann aber durch Umdeutung ein Grundbestandteil für das politische Selbstverständnis. In der Sage vom Asyl des Romulus kam ein Stolz auf die Großzügigkeit allen und allem Fremden gegenüber zum Ausdruck, wie sich in der unbefangenen Weitergabe der Erzählung bei Sallust24, Livius25, Ovid26, dem älteren Seneca27 und Juvenal28 erkennen lässt. Denn die Römer sahen sich nicht als Abstammungsgemeinschaft, der man durch Herkunft angehörte, so wie die Juden und die Araber sich als Enkel Abrahams bezeichneten, wie die Griechen sich
23 24 25 26 27 28
Vgl. Augustinus, De civitate Dei, III 6 u. 13. Vgl. Sallust, Bellum Catilinae, 6. Vgl. Livius, Ab urbe condita, I 8. Vgl. Ovid, Fasti, III 433. Vgl. Seneca Maior, Controversiae, I 6,4. Vgl. Iuvenal, Saturae, VIII 272 f.
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über ihren Stammvater Hellen auf Prometheus zurückführten, und die Germanen, die sich für Nachkommen des Urmenschen Mannus hielten. Stammbäume dieser Art gab es auch in Rom, wo sich etwa Caesar von Äneas herleitete, nicht aber für den populus Romanus. Das Volk insgesamt verstand sich als Rechtsgemeinschaft, in die jeder aufgenommen werden konnte, der virtus besaß und die mores maiorum anerkannte; modern gesprochen: die römischen Werte akzeptierte. Unter diesen Bedingungen waren Fremde willkommen. Und das seit Urzeiten. Von den sechs sagenhaften Nachfolgern des Romulus als Könige wählten die Römer fünf aus Nachbarstämmen, mit denen sie verfeindet waren: Numa Pompilius und Ancus Marcius waren Sabiner, Tarquinius Priscus und Tarquinius Superbus waren Etrusker, Servius Tullius stammte aus dem feindlichen Corniculum bei Tivoli, und einzig Tullus Hostilius galt als Römer. Das berühmteste, nun fraglos historische Beispiel für diese weltoffene, fremdenfreundliche Haltung ist die Aufnahme der gens Claudia in den Bürgerverband. Diese durch ihre Klienten zahlreiche Adelsfamilie stammte aus der Sabinerstadt Regillum, kam im Jahre 504 nach Rom und zählte fortan zu den fünf größten Patrizierfamilien. Während der Republik stellten die Claudier 28 Konsuln, fünf Diktatoren, sieben Censoren, sechs Triumphatoren und von Tiberius bis Nero in männlicher Ahnenreihe sogar die Kaiser. Deren Nachfolger kamen aus Italien, Spanien, Nordafrika, Syrien, Arabien und den Donauländern. Kaiser Septimius Severus war dunkelhäutig, Philippus Arabs war Sohn eines Scheichs, Diocletian gebürtiger Sklave. Wer etwas leistete, konnte etwas werden. Die klassische Formel für die römische Einbürgerungspolitik bietet Livius29 zum Jahre 445 v. Chr. Damals ging es um das umstrittene Eherecht, das conubium zwischen Patriziern und Plebejern. Durchgesetzt wurde es durch den Volkstribun Canuleius. Das von seinen patrizischen Gegnern beschworene Herkommen interpretierte er progressiv, indem er erklärte, schon immer sei es Brauch gewesen, neue Aufgaben mit neuen Mitteln zu lösen, und verwies dafür auf die fremde Herkunft einiger Könige und die der gens Claudia. Die Maxime lautete: dum nullum fastiditur genus, in quo eniteret virtus, crevit imperium Romanum; »indem keine Gruppe abgewiesen wurde, die sich durch virtus auszeichnete, ist das römische Reich gewachsen«. Stolz vermeldet der Autor Jahr für Jahr die genaue Zahl der über 500 Jahre stets gewachsenen Bürgerschaft. Die von Romulus begonnene Einbürgerungspolitik hat sich als Erfolg erwiesen. Hinweise auf die historische oder mythische Vergangenheit spielen in der antiken, zumal in der römischen Rhetorik eine wichtige Rolle. Die exempla maiorum, die Vorbilder der Ahnen galten als verpflichtender Maßstab persönlichen Handelns. Dies gilt insbesondere für Ursprungssagen und Gründungs29 Vgl. Livius, Ab urbe condita, IV 3,13.
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Alexander Demandt
legenden. So steht der Mythos vom Asylum Romuli hinter den römischen Bürgerrechtsverleihungen, die in mehreren Schüben die Angehörigen des Imperium Romanum zu cives Romani gemacht haben. Im Jahre 91 v. Chr. erhoben sich die italischen Bundesgenossen gegen Rom. Sie hatten seit Jahrzehnten Kriegsfolge geleistet und forderten nun politische Gleichberechtigung. Nach wechselhaften Kämpfen versprachen die Römer den weitgehend geschlagenen Italikern, wer binnen einer Frist die Waffen niederlege, erhalte das Bürgerrecht. So geschah es. Kontinuierlich erhielten Söldner der Hilfstruppen durch Militärdiplom des Feldherrn die civitas Romana, ebenso alle Sklaven bei ihrer Freilassung durch den Herrn. Im Jahre 212 machte Kaiser Caracalla durch seine Constitutio Antoniniana sämtliche Bewohner des Reiches zu römischen Bürgern. So wie schon der Cherusker Arminius übernahmen mehr und mehr eingebürgerte oder angeworbene Germanen römischen Militärdienst, so dass unter und nach Constantin das römische Heer wesentlich aus Germanen bestand. Als im Jahre 376 die an der unteren Donau stehenden Westgoten Aufnahme ins Reich begehrten, muss es am Kaiserhof eine kontroverse Diskussion gegeben haben. Die Befürworter des Gesuchs verfügten mit der Romuluslegende über ein gewichtiges Argument. Der Kaiser gab nach. Dann aber kam es 378 zur Katastrophe von Adrianopel. Die Goten vernichteten das römische Heer, der Kaiser fiel. Hundert Jahre später wurde der letzte weströmische Kaiser durch seinen germanischen Odovacar abgesetzt. Der Kaiser hieß Romulus. Der Gründungsmythos Roms blieb bis in die Spätantike lebendig, ja er überdauerte die Auflösung des römischen Reiches, nicht allein in der literarischen Tradition. Im 4. Jahrhundert begegnet er uns in den Geschichtswerken des Eutropius und des Aurelius Victor, weiterhin im Liber Memorialis des Ampelius und in einem Werk, was sich ausführlich dem Thema widmet, die Origo gentis Romanae30. Noch im 6. Jahrhundert besichtigte, beschrieb und bewunderte der byzantinische Historiker Prokop31 das Schiff, auf dem Äneas vor fast 2000 Jahren nach Italien gekommen sein soll. Es war wunderbar erhalten und wurde am Tiberufer in einem Schiffshaus den Fremden gezeigt. Gemäß der Aeneis Vergils32 hatte Äneas selbst es gebaut und Juppiter ihm Unversehrtheit garantiert. Prokop äußert nicht die geringsten Zweifel an der Echtheit des Schiffes, das zuvor in keiner Quelle erwähnt wird. Das Beispiel Roms zeigt, welche Bedeutung Gründungsgeschichten haben können und gehabt haben. Vielfach sind sie im Nachhinein erfunden oder ausgestaltet worden, so dass Geschichte und Mythos kaum zu trennen sind. Das 30 Vgl. Ps.-Aurelius Victor, Origo gentis Romanae. 31 Vgl. Prokop, Bellum Goticum, IV 22,7 ff. 32 Vgl. Vergil, Aeneis, IX 80 ff.
Form und Funktion von Gründungsmythen
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gilt für die verschiedensten Institutionen, in erster Linie für die monotheistischen Religionen. Das Judentum berief sich auf die Verheißung des Gelobten Landes und den Auszug aus Ägyptenland, der vermutlich nie stattgefunden hat, da es in den Hieroglyphentexten keine Zeugnisse für Juden im Niltal gibt. Das Christentum sodann beruft sich auf die Bethlehemsage und den Opfertod Jesu am Kreuz, der gewiss nicht freiwillig war, sondern von Paulus so gedeutet wurde. Das Papsttum gründet sich auf das Martyrium von Petrus und Paulus in Rom, wofür es keine seriöse Quelle gibt – im Gegenteil. Das Luthertum glaubt, der Reformator habe seine 95 Thesen über den Ablass an das Tor der Schlosskirche von Wittenberg genagelt, wo sie noch heute, in Bronze gegossen, zu lesen sind. Die Hammerschläge, mit denen Luther die Neuzeit einläutete, sind nie erklungen. Die Thesen wurden durch Boten verteilt. Die Muslime sind überzeugt, Mohammed habe seine Botschaften vom Engel Gabriel erhalten. Die Buddhisten glauben, der Erleuchtete habe sich in der Gestalt eines weißen Elefanten aus der Götterwelt herabgesenkt und sei als fünffarbiger Lichtstrahl in den Leib seiner Mutter eingedrungen, die ihn dann in unbefleckter Empfängnis aus ihrer Achselhöhle zur Welt brachte. Gründungsmythen, oder, wie die Philologen sagen, aitiologische Legenden, gibt es für Aberdutzende von Dynastien, die sich auf Götter zurückführten, für Hunderte von Städten, die sich einen berühmten Gründer gesucht haben, in der Antike gern einen homerischen Helden. Äneas gehört dazu. Der Kampf um Troja war der Gründungsmythos der Griechen, obschon Homer noch gar keinen festen Sammelnamen für die Hellenen besaß. Im Mittelalter wucherte die historische Phantasie wie nie zuvor. Die Franken galten als Nachkommen der Trojaner, die Sachsen als Abkömmlinge der Makedonen Alexanders des Großen, die Briten führten sich auf Brutus zurück. Eine weithin sichtbare Renaissance-Inschrift in Trier verkündet noch heute, die Stadt sei von Trebeta, dem Sohn des Assyrerkönigs Ninus, erbaut worden, 1250 Jahre vor der Gründung Roms durch Romulus. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass die Hochburgen der Gelehrsamkeit, die Universitäten, in prominenten Fällen ihre Entstehung kontrafaktisch verklärt haben, so Bologna, wo man sich auf das spätantike Ravenna bezog, so Paris, wo man Karl den Großen in Anspruch nahm, so Prag, wo man nach 250 Jahren die Neugründung durch die Habsburger im 17. Jahrhundert ignorierte und ebenso Neapel, wo die kurze Phase unter dem Staufer Friedrich II. als Ursprung gefeiert wird. Gerade die ältesten Hochschulen wollten noch älter sein, als sie wirklich waren. Ursprungslegenden dienen in aller Regel anders als die Romulusgeschichte der Selbstheroisierung, dem Gewinn von Ansehen und Einfluss, denken wir an die Spanier mit der glorreichen Reconquista durch den Glaubenskämpfer Cid, der allerdings abwechselnd auf christlicher und muslimischer Seite gekämpft
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hat; an die Franzosen mit ihrer von Gott gesandten, 1920 heilig gesprochenen Jeanne d’Arc; an die Schweizer mit der Humanistenfabel von Wilhelm Tell, dem fiktiven Apfelschuss und dem 1889 sanktionierten Rütlischwur, an die Amerikaner mit ihrer Mayflower und dem Mayflower Compact der 41 Pilgerväter, in dem diese versicherten, loyal gegenüber dem König ein bürgerlich geordnetes Gemeinwesen zu gründen. Denken wir ebenso an die Litauer mit ihrem Stolz, auf den mit polnischer Hilfe errungenen Sieg 1410 bei Tannenberg über den Deutschen Orden; oder last, not least an unseren, im vergangenen Jahr wiederentdeckten Freiheitshelden, den liberator Germaniae Arminius, den wir Tacitus und überhaupt den Römern verdanken. Wenn es Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist, nicht nur das Geschehene zu erforschen und darzustellen, sondern auch zu untersuchen, wie die Erinnerung an das Geschehen wiederum Geschichte macht, dann ist die Frage nach Form und Funktion von Gründungsmythen ein dankbares Thema.
Bibliographie Alföldi, Maria R. / Formigli, Edilberto / Fried, Johannes, Die römische Wölfin: ein Monument stürzt vom Sockel (Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. 49,1), Stuttgart, Steiner, 2011. Helbig, Wolfgang, Führer durch die öffentlichen Sammlungen klassischer Altertümer in Rom, Bd. 2. Tübingen, Wasmuth, 41966. Strasburger, Hermann, Zur Sage von der Gründung Roms (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Jg. 1968, Abh. 5), Heidelberg, Winter, 1968.
Manfred Groten
Die mittelalterliche Stadt als Erbin der antiken civitas
Die Keimzelle des römischen Weltreichs der Antike war eine Stadt. Auch viele Völker, die Rom seiner Herrschaft unterworfen hat, hatten eine städtische Verfassung. Die lateinische Bezeichnung für solche Gemeinschaften war civitas. In diesem Sammelbegriff steckt das Grundwort civis, das wir mit Bürger übersetzen. Die Bedeutung von civitas könnte man demnach auch mit dem Begriff Bürgerschaft erschließen. Bürgerschaft meint zugleich »Gemeinschaft von Bürgern« und »Wesen des Bürgers«. Letzteres konkretisiert sich im Bürgerrecht, und so bezeichnet auch civitas einerseits einen Rechtsstand und andererseits eine politische Gemeinschaft. Civitas schließlich heißt auch das Siedlungsgebiet eines städtisch verfassten Volkes. Somit kann man die Bausteine, aus denen sich das römische Imperium zusammensetzte, im Hinblick auf ihre typische Organisation als civitates bezeichnen,1 auch wenn sie konkret anders benannt wurden, im griechischen Osten etwa polis.2 Die Idee der civitas gehört demnach zum Grundbestand der europäischen Kultur. Die Gebildeten des Mittelalters fanden das Wissen über die antike Stadt im 1. Kapitel des 15. Buchs der Etymologien Isidors von Sevilla zusammengestellt.3 Jede civitas hatte ein individuelles Erscheinungsbild, aber es lassen sich durchaus auch Merkmale herausstellen, die viele civitates gemeinsam hatten. Die typische civitas wies in ihrem Zentrum eine verdichtete, differenzierte Besiedlung auf, die wir als Stadt beschreiben würden. Diese Stadt, urbs oder oppidum genannt, die in der Spätantike häufig durch eine Mauer vom Umland abgeschieden wurde, war umgeben von einem mehr oder weniger ausgedehnten ländlichen Raum, in den wiederum kleinere stadtähnliche Siedlungen (vici) eingestreut sein konnten. Die civitas stellte das bestimmende und prägende Lebensumfeld der Menschen dar. Der Wohnort innerhalb einer civitas – Stadt 1 Vgl. Kolb 1984, S. 141 – 260; Cracco Ruggini 1982, S. 61 – 81. Zur Spätantike vgl. Rich 1992, dort vor allem den Beitrag von W. Liebeschuetz, S. 1 – 49. 2 Vgl. Haldon 1999, S. 3. 3 Vgl. Isidor von Sevilla, PL, Bd. 82, Sp. 527 – 536.
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oder ländliche Siedlung – hatte keine Bedeutung für den Rechtsstand des Einzelnen, da dieser an die Person gebunden war. Seit 212 n. Chr. besaßen alle freien Bewohner des römischen Reiches ohnehin das römische Bürgerrecht. Die civitates hatten weit reichende Selbstverwaltungsrechte, deren Ausübung in der Spätantike vom Staat geradezu erzwungen wurde.4 Die staatliche Verwaltung war auf der höheren Ebene der Provinzen und darüber angesiedelt. Die Ausbreitung des Christentums im römischen Imperium bereicherte die civitates um eine weitere Funktion, sie lieferten nämlich die Organisationsstruktur der entstehenden Großkirche, die die von Bischöfen geleiteten Ortsgemeinden zusammenfasste. Dass sich christliche Gemeinden auf der Ebene der civitates bildeten, kann angesichts der gemeinschaftsstiftenden Kraft der selbstverwalteten Stadtgebiete nicht verwundern. In dicht besiedelten Gebieten konnten sogar Landorte (vici) den Rahmen für eine Gemeindebildung abgeben. Ein solcher Wildwuchs widerstrebte jedoch den Verantwortlichen für die kirchliche Ordnung. Die 342 (oder 343) in Serdica versammelten Konzilsväter legten in Kanon 6 fest, dass zur Wahrung der Würde des bischöflichen Amtes Bischöfe nicht in einem Landort (vicus) oder in einer kleinen Stadt (modica civitas), für deren Versorgung ein Priester ausreicht, eingesetzt werden sollte, sondern nur in Städten, die schon früher Bischöfe hatten, und in bevölkerungsstarken Städten oder Orten, in denen die Einsetzung eines Bischofs angebracht war (si qua tam populosa est civitas vel locus, qui mereatur habere episcopum).5 Mit diesem Konzilsbeschluss wurde im Prinzip die Gleichsetzung von civitas und Bistum kirchenrechtlich begründet.6 Die städtischen Strukturen haben im lateinischen Westen in unterschiedlichem Maße das Erlöschen der römischen Staatlichkeit überlebt. In den Kerngebieten des Imperiums blieben die civitates erhalten. Hier verlief die mittelalterliche Stadtentwicklung anders als in den Randgebieten des Reiches. Sie kann in ihrer ganzen Vielfalt nicht im Rahmen eines kurzen Überblicks behandelt werden.7 Deshalb beschränke ich mich im Wesentlichen auf den Raum der heutigen Bundesrepublik, dessen Urbanisierung in der Tradition der römischen Städte längs des Rheins und der Donau wurzelt. In den römischen Provinzen auf deutschem Boden gingen die civitates als Verwaltungseinheiten unter, sie fungierten aber weiterhin als kirchliche Sprengel oder gewannen diese Funktion nach einem Kontinuitätsbruch zurück.8 Die Kirche bewahrte auf jeden
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Vgl. Daz 2000, S. 6 – 9. Vgl. Mansi 1759, Sp. 24. Vgl. Haldon 1999, S. 12 f. Der Vortragstext kann hier nur mit den nötigsten Belegen und Hinweisen in den Fußnoten untermauert werden. 8 Vgl. ältere Überblicksdarstellung Rietschel 1894. Aus der Masse der Literatur zur Kontinui-
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Fall die Erinnerung an ihre auf den civitates basierende Struktur und konnte dieses Wissen jederzeit aktivieren. Die Idee der civitas blieb also abrufbar in der kirchlichen Rechtstradition eingebettet. Der Zusammenhang von urbanem Kern und Umland der civitates zerfiel an Rhein und Mosel allerdings, was zur Folge hatte, dass sich der Begriff civitas auf diesen Kern reduzierte. Damit war der mittelalterliche Stadtbegriff einer ummauerten verdichteten Siedlung entstanden. Die volkssprachliche Entsprechung des lateinischen civitas, nämlich burg, lässt diesen Schrumpfungsprozess klar erkennen.9 Schon Ulfila verwendete in seiner Bibelübersetzung für das griechische Wort polis das gotische Wort bafflrgs.10 Burg bezeichnet einen Schutzraum, den die ummauerte römische Siedlung ebenso darstellte wie eine von Erdwällen und Palisaden umgebene Fliehburg, wie sie schon die Kelten der vorrömischen Zeit errichtet hatten und wie sie auch die frühmittelalterlichen Alemannen kannten. Das Wort Burg hatte also ein anderes Bedeutungsfeld als das Wort civitas. Infolge der eben beschriebenen Veränderung des Stadtbegriffs wurden, um zwei prominente Beispiele zu nennen, die Kerne der civitates der Ubier und Treverer, Köln11 und Trier12, seit dem 5. Jahrhundert als Städte im neuen Sinne bezeichnet. Ihr Umland blieb nur noch auf kirchlicher Ebene als Bistum oder Diözese auf die Zentralorte bezogen. Diese Zentralorte hatten allerdings schon seit dem 4. Jahrhundert viel von ihrem urbanen Flair verloren. Die Bevölkerungszahlen waren erheblich zurückgegangen, Handel und Gewerbe waren geschrumpft, das öffentliche Leben war verödet, die städtische Infrastruktur verfiel.13 Dieser einschneidende Verlust von Urbanität führte aber nicht zur Preisgabe des städtischen Anspruchs, denn dieser war ja gar nicht an bestimmte städtische Merkmale geknüpft. Der Stadtstatus, der in der lateinischen Bezeichnung civitas zum Ausdruck kam, war einzig und allein von der Residenz des Bischofs abhängig. Die Beseitigung des Bischofssitzes hätte auch für eine blühende Stadt den Verlust der civitas-Würde nach sich gezogen. Dagegen galten neu gegründete Bischofssitze in den im Frühmittelalter für das Christentum gewonnenen Gebieten jenseits der Grenzen des römischen Imperiums ohne weiteres als Städte, auch wenn sie zunächst nur aus der Bischofskirche und den Behausungen des Bischofs und seiner Kleriker sowie den benötigten Versorgungseinrichtungen mit ihrem Personal bestanden.
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tätsdebatte sei nur auf den Artikel in Reallexikon, Bd. 17, S. 205 – 237 und den Sammelband Kölzer / Schieffer 2009 verwiesen. Vgl. Schlesinger 1954. Vgl. Köbler 1989, S. 73 f. mit Stellennachweisen. Vgl. Eck 2004. Vgl. Heinen 1985. Vgl. Eck 2004, S. 652 – 692; Heinen 1985, S. 299 – 321.
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Die frühmittelalterliche Gleichung Bischofssitz = civitas stellte die Umkehrung des Konzilsbeschlusses von Serdica dar. In dieser Umkehrung wurde der 6. Kanon von Serdica zur Gründungsurkunde der deutschen Stadt des Mittelalters in ihrer ideellen und rechtlichen Ausprägung: Zunächst wurde nur ein Bischofssitz als civitas, als Stadt anerkannt. Wohl gemerkt, wäre das Wissen über die eben beschriebenen spätantiken Voraussetzungen des mittelalterlichen Städtewesens verloren gegangen, wären unter ansonsten gleichen Bedingungen in Deutschland selbstverständlich Siedlungen entstanden, die den Anforderungen des von Max Weber entworfenen Idealtyps der Stadt entsprochen hätten,14 diese Städte wären aber anders definiert und von ihren Bewohnern anders gesehen worden als die Städte, um die es hier geht. Die Gleichsetzung der Bischofsstadt mit der civitas bildete die Brücke, über die die Gebildeten des Hochmittelalters das gesamte verfügbare Wissen über die antike Stadt in ihre eigenen Städte getragen haben. Die Gründung von Bistümern in Alemannien, Bayern, Thüringen und Sachsen in der Merowinger- und Karolingerzeit, legte Grundsteine für die Stadtentwicklung in den Gebieten zwischen Rhein und Elbe.15 Zu nennen sind Konstanz und Augsburg, Salzburg, Freising, Passau, Regensburg und Eichstätt, Würzburg sowie Münster, Paderborn, Osnabrück, Minden, Hildesheim, Halberstadt, Verden, Bremen und Hamburg. In der Ottonenzeit entstanden weitere Bischofsstädte an den Zuflüssen der Elbe sowie östlich und nördlich dieses Stroms in Zeitz, Merseburg, Meißen, Magdeburg, Brandenburg, Havelberg, Oldenburg und Schleswig. Zeitz musste 1028 seinen civitas-Status an Naumburg abtreten,16 Oldenburg 1160 an Lübeck.17 Die Anlage der frühmittelalterlichen Bischofsstädte orientierte sich nicht am Vorbild der antiken Stadt. Wenn man Rom nacheiferte, dann dem zeitgenössischen christlichen Rom mit seinen Patriarchalbasiliken und Märtyrerkirchen. Das höchste Leitbild der Stadtplaner war jedoch das himmlische Jerusalem, dem sie in der Bischofsstadt ein diesseitiges Abbild zu geben trachteten.18 Der Ausbau der Bischofsstädte durch die Gründung von Klöstern und Stiften folgte der Idee des Heilsortes. Die Verbindungslinien zwischen den Kirchen bildeten häufig Kreuzlinien, die einen liturgisch vernetzten Sakralraum symbolisch markierten, der auf Prozessionswegen durchschritten werden konnte.
14 Vgl. Weber 1922, S. 514 – 528. 15 Vgl. zum Folgenden die Karten bei Gatz 2009, S. 40 (Bistumsgründungen bis 700), S. 41 (von 700 bis 850), S. 42 (von 850 bis 1000), S. 43 (von 1000 bis 1500). 16 Vgl. Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, Sp. 1055 (Naumburg). 17 Vgl. Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, Sp. 1391 (Oldenburg). 18 Vgl. Maurer 1973 für Konstanz; Binding 1986 für Köln.
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Am eindrucksvollsten ist das Konzept der heiligen Stadt in Köln umgesetzt worden.19 Seit dem frühen 10. Jahrhundert erscheint auf Münzen die Devise Sancta Colonia.20 Erzbischof Bruno I. (953 – 965), der Bruder Kaiser Ottos I., hat durch den Erwerb und die Inszenierung von Reliquien und den Bau von Kirchen einen Prozess der Verdichtung der Kölner Sakraltopographie eingeleitet, den seine Nachfolger bis zu Anno II. über ein Jahrhundert fortgeführt haben. Die kirchliche Prachtentfaltung erforderte selbstverständlich ein wirtschaftliches Fundament. Im Schatten der Stifte und Klöster wurde Köln zu einem bevölkerungsreichen Handelszentrum,21 in dem der Bamberger Schulmeister Meinhard (gest. 1088) schon die Verlockungen der Großstadt witterte, multiformis Colonia seu mavis Babilonia (das vielgestaltige Köln oder vielmehr Babylon).22 Auch in anderen Bischofsstädten entstanden florierende Märkte.23 Deutet sich in dieser Entwicklung seit dem 10., verstärkt seit dem 11. Jahrhundert eine Rückgewinnung urbaner Qualität in den Bischofsstädten an,24 so muss man doch betonen, dass im Frühmittelalter städtische Merkmale nicht allein in den bischöflichen civitates anzutreffen waren. Benediktinerklöster wie Fulda25 oder Corvey26 und Damenstifte wie Quedlinburg27 oder Gandersheim28 brauchten als kirchliche Zentralorte den Vergleich mit Bischofsstädten nicht zu scheuen. Königliche Pfalzen, ich nenne hier nur Aachen29 und Goslar30, fungierten ebenso als politische und administrative Mittelpunkte wie Bischofsstädte. Vor allem Wirtschaftszentren entstanden im Frühmittelalter außerhalb der Städte. Das gilt für große Handwerksbetriebe wie die Keramikwerkstätten von Badorf und Pingsdorf bei Brühl,31 vor allem aber für Warenumschlagsplätze. Brennpunkte des Fernhandels waren verkehrsgünstig gelegene Handelsplätze wie Dorestad32 und später Tiel33 im Mündungsgebiet des Rheins, Bardowick34 an 19 Vgl. Binding 1986; Hirschmann 1998, S. 15 – 65. 20 Vgl. Hävernick 1935, S. 20 ( Nr. 20) aus der Regierungszeit König Ludwigs des Kindes (900 – 911). 21 Vgl. Kellenbenz 1975, S. 87 – 215. 22 Vgl. Erdmann / Fickermann 1950, S. 192. 23 Vgl. Schlesinger 1973. 24 Vgl. Jamut / Johanek 1998. 25 Vgl. Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, Sp. 1022. 26 Vgl. Lexikon des Mittelalters, Bd. 3, Sp. 295 f. mit Höxter Bd. 5, Sp. 143. 27 Vgl. Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, Sp. 359; Ehbrecht / Johanek / Lafrenz 2006. 28 Vgl. Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, Sp. 1102 – 1104. 29 Vgl. Escher / Hirschmann 2005, S. 9 – 14. 30 Vgl. Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, Sp. 1568. 31 Vgl. Reallexikon, Bd. 1, S. 593 – 597; Reallexikon, Bd. 23, S. 174 – 177. 32 Vgl. Reallexikon, Bd. 6, S. 59 – 82; Es / Verwers 2002. 33 Vgl. Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, Sp. 762 f. 34 Vgl. Reallexikon, Bd. 2, S. 53 f.
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der Elbe oder Haithabu35 an der Schleswiger Förde. In ihren Blütezeiten übertrafen diese Emporien die Städte an Bevölkerungszahl bei weitem. Gemessen an einer Skala städtischer Merkmale war Haithabu im frühen 10. Jahrhundert zweifellos städtischer als viele Bischofsstädte, die Siedlung wurde aber im Verständnis der Zeit erst eine civitas, als in ihr 948 ein später nach Schleswig verlegter Bischofssitz gegründet wurde.36 In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts wird in den Bischofsstädten, vornehmlich entlang des Rheins, eine neue gesellschaftliche Kraft erkennbar. Es handelt sich um kaufmännische Eliten, die eine neue Identität und ein spezifisches Ehrgefühl entwickelt hatten. Diese Männer nannten sich nach ihrer städtischen Lebenswelt burgaere, Stadtbewohner. Um sich von den übrigen Stadtbewohnern, die verschiedenen Rechtskreisen angehören konnten, abzugrenzen, schmückten sie sich auch mit Bezeichnungen wie primores, die Ersten, oder meliores, die Besten.37 Die Bürger von Worms beherbergten 1073 König Heinrich IV. gegen den Willen des Bischofs in ihrer Stadt,38 nach Ostern 1074 rebellierten in Köln die primores gegen die Beschlagnahmung eines Schiffes durch Erzbischof Anno.39 Es wäre aber falsch, von einem fundamentalen Gegensatz zwischen den bischöflichen Stadtherren und den erstarkenden bürgerlichen Eliten auszugehen. Letztere fühlten sich durchaus den kirchlichen Traditionen ihrer Städte verpflichtet, bezogen aus ihnen ihren Stolz und suchten ihren angemessenen Platz in der vom Bischof angeführten örtlichen Gesellschaft.40 Am besten lässt sich die Entwicklung in Köln beobachten.41 Dort sahen sich die aufstrebenden Bürger mit dem Problem konfrontiert, ihre Machtposition in zwei Richtungen behaupten zu müssen. Einerseits galt es, sich die Huld des Stadtherrn nicht zu verscherzen. Das war vor allem deswegen kein leichtes Unterfangen, weil die selbsternannten Besten von der Stadt andererseits die nicht ihren exklusiven Kreisen angehörenden Stadtbewohner ihrem Willen zu unterwerfen trachteten und damit die Schutzgewalt des Erzbischofs aushöhlten. Während sie sich selbst in Bruderschaften organisierten,42 stellte ihnen die traditionelle Rechtsordnung kein Instrument zur Verfügung, das eine dauerhafte Unterordnung der Stadtbewohner unter ihr Regiment gewährleisten konnte. Erst die Entwicklung korporativer Vorstellungen im Rahmen der Wie35 36 37 38 39 40 41 42
Vgl. Reallexikon, Bd. 13, S. 361 – 363; Jankuhn 1986; Brandt / Müller-Wille / Radtke 2002. Vgl. Reallexikon, Bd. 13, S. 367. Vgl. Stehkämper 1991, S. 111 – 114; Groten 2004, S. 132 f. Vgl. Bönnen 2005, S. 144. Vgl. Stehkämper 1991, S. 93 – 98. Vgl. Bönnen 2010, S. 30 – 34 für Worms und Speyer. Vgl. Groten 2009, S. 439 – 443 mit weiteren Nachweisen. Vgl. Groten 1999, S. 51; Groten 2009, S. 79 f.
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derbelebung der Studien des römischen Rechts in Verbindung mit dem Kirchenrecht brachte für dieses Problem eine Lösung.43 1166 gründete Erzbischof Rainald von Dassel mit der Berufung des Pariser Kanonisten G¦rard Pucelle nach Köln in seiner Metropole eine bis nach 1200 blühende Rechtsschule, die den Bürgern das Konzept der universitas, der Gemeinde, vermittelt haben dürfte, das seit 1180 in den Quellen greifbar wird.44 Die Gemeinde wurde als Korporation verstanden, der alle Bürger angehörten. Die Besten von der Stadt bildeten das Haupt dieses Körpers und wirkten als seine Organe. Bevor sich das mittelalterliche Gemeindekonzept, das über die antiken Anregungen durchaus hinausging, entfalten konnte, waren die meliores auf andere Legitimationsstrategien angewiesen. Dazu griffen sie auf das Wissen über die Verfassung der antiken civitas Rom zurück. In dem Kölner Quellen taucht seit etwa 1138/39 die Bezeichnung senatores für die städtischen Schöffen auf.45 Diese Schöffen waren die Urteiler im Hochgericht, das dem Erzbischof im Rahmen der Regalienleihe von König verliehen wurde.46 Neben dem Erzbischof fungierten ein an diesen lehnrechtlich gebundener adliger Burggraf und ein der Ministerialität angehörender Stadtvogt als Richter. Die vom Burggrafen in ihr Amt eingeführten Schöffen stammten aus den führenden städtischen Familien. Sie bildeten im 12. Jahrhundert zugleich die Spitzengruppe der meliores, denen man das Rangprädikat der römischen Senatoren viri illustres beilegte.47 Indem sich die Schöffen zu Senatoren ernannten, betonten sie ihren gesellschaftlichen Rang und ihren Führungsanspruch. Sie setzen das Köln des 12. Jahrhunderts mit dem Rom der Antike in eins. In Trier, wo die Spuren der römischen Stadt noch allenthalben sichtbar waren, wurden schon um 1100 Kontinuitätslinien zur antiken Urbanität gezogen.48 Indem die bürgerlichen Eliten ihre Städte in die Tradition der antiken Stadt stellten, reicherten sie das im Laufe des Frühmittelalters auf die kirchlichen Strukturen abgemagerte Konzept der civitas mit politischen und kulturellen Aspekten an. So füllten sich die Städte der steinernen Kirchen wieder mit wirtschaftenden, lebenslustigen Menschen, die nach Isidor von Sevilla wesensmäßig zu einer civitas gehören.49 Die Bischofsstadt, der das Verdienst zukommt, die Idee der Stadt überhaupt über den Untergang der antiken Kultur hinweg gerettet zu haben, wurde zur Bürgerstadt, die in mancher Hinsicht als die Wiege unserer heutigen politischen und gesellschaftlichen Verfassung betrachtet werden kann. 43 44 45 46 47 48 49
Vgl. Groten 2009, S. 81. Vgl. Landau 2008. Vgl. Stehkämper 1986, S. 216 – 218. Vgl. Strauch 1994. Vgl. Knipping 1901, Nr. 28. Vgl. Thomas 1968. Wie Anm. 3, Sp. 527.
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Lässt sich der Rückgriff auf die antike Urbanität in den Bischofsstädten problemlos erklären, steht man bei einem anderen Phänomen bisher noch vor einem Rätsel. Im 12. Jahrhundert wurde nämlich die den bischöflichen civitates vorbehaltene städtische Terminologie in großem Stil auf andere Siedlungsformen übertragen. Genauer wird man sagen müssen, dass die Bewohner solcher Siedlungen den Anspruch, in einer Stadt zu leben, erhoben oder von Seiten der Obrigkeit zugesprochen erhielten. Dieser Anspruch konnte sich nicht auf das entscheidende Merkmal der civitas, die Existenz eines Bischofssitzes beziehen. Es mussten andere Qualitäten sein, die das Streben nach dem Stadtstatus begründeten. Letzten Endes müssen den führenden Männern der neuen Städte die bürgerlichen Eliten der großen Bischofsstädte mit ihren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Privilegien als Vorbilder vor Augen gestanden haben. Aber wie funktionierte der Transfer? Den Schlüssel für das Verständnis dieses Prozesses dürfte das Auftreten eines neuen deutschen Worts für civitas liefern, nämlich stat oder niederdeutsch stede. Es handelt sich auf den ersten Blick um eine merkwürdig farblose Ortsbezeichnung. Dass dieses Wort im Laufe des 12. Jahrhunderts das Wort Burg zur Bezeichnung der Stadt völlig verdrängt hat, kann nicht allein damit zusammenhängen, dass ein neuer Typ von Schutzraum, die Höhenburg des Adels,50 den Burgbegriff gebieterisch besetzte und von der Stadt abzog. Das nachrückende Wort muss in besonderer Weise geeignet gewesen sein, die zur Bürgerstadt mutierte Bischofsstadt zu benennen. Hier ist nun nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass das Femininum stedi (unser Stätte), das im niederdeutschen Sprachraum auch die Bedeutung Stadt angenommen hat, eine bis ins Frühmittelalter zurückreichende Geschichte als Benennung von nichtstädtischen Handelsorten hatte.51 Der Markt war aber die Lebenswelt des städtischen Kaufmanns. So wäre es denkbar, dass die Kölner mercatores opulentissimi,52 die 1074 aufbegehrten, als Erzbischof Anno in ihren Güterumschlag am Rheinufer eingriff, ihre Stadt in erster Linie als Emporium sahen und sie deshalb in ihrer Sprache als stedi bezeichneten. In diese Richtung könnten die frühesten Belege für die neue Stadtbenennung im Annolied sprechen, das in der vorliegenden Form vielleicht schon um 1080, spätestens aber im frühen 12. Jahrhundert im Kloster Siegburg verfasst worden ist.53 Dort tritt allerdings die Parallelform stat auf, die im gesamten deutschen
50 Vgl. Biller 1993. 51 Vgl. Schützeichel 1974, S. 183 (stedi Hafen); Wells 1990, S. 588 (stedi statio, portus; Hafen, Landungsplatz). Neben dem Femininum gibt es eine Neutrumform (unser Gestade): Schützeichel 1974, S. 183 (stedi Ufer, Gestade); Wells 1990, S. 588 (stedi litus, ripa; Ufer, Gestade, Stelle). 52 Vgl. Holder-Egger 1894, S. 192. 53 Vgl. Nellmann 1975; Groten 2002, S. 268 f.
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Sprachraum die vorherrschende werden sollte.54 In Strophe 7 des Annoliedes heißt es über Anno: Ce Kolne was her gewhet bischof. Des sal diu stat iemir loben got, daz in der scúnistir burge, d in diutschemi lande ie wurde, rihtÞre was der vrumigisti man, der ie ci Rni biquam, ci diu daz diu stat desti hÞror diuhte, wandi si ein sú wse hÞrdm irlhte, vnte diu sn dugint desti pertir wÞri, daz her einir sú hÞrin stedi plÞgi. Koln ist der hÞristin burge ein. sent Anno brht ir Þre wole heim.55
In der Übersetzung von Eberhard Nellmann: »In Köln wurde er zum Bischof geweiht./ Deshalb soll die Stadt immer Gott loben,/ dass in der schönsten Stadt, die je in deutschem Land entstand,/ der beste Mann Herrscher war,/ der je an den Rhein kam,/ auf dass die Stadt um so herrlicher erscheine,/ weil eine so weise Herrschaft sie erleuchtete,/ und seine Vorzüge um so heller strahlten,/ weil er eine so herrliche Stadt regierte./ Köln ist eine der vorzüglichsten Städte./ Der heilige Anno hat ihr Ansehen gesichert«.56 Der Dichter verbindet in geschickter Weise den Lobgesang auf die herrliche Stadt und den tugendhaften, ja heiligen Bischof. Angesichts des schon erwähnten schweren Konflikts von 1074, der das Ende der Amtszeit Annos überschattet und sein Bild getrübt hat, ist der apologetische Zug des Textes unverkennbar. Wie sie uns heute vorliegt, bedient die Dichtung in auffälliger Weise die Interessen eines städtischen Publikums mit einem Exkurs zur Geschichte der Stadt von ihren ersten Anfängen an, der burge aneginne (8, 2).57 Hier wie auch in Strophe 7 verwendet der Autor das ältere Wort Burg für Stadt. Im Städtelob kommt jedoch an drei Stellen auch das jüngere Wort vor. Der erste Beleg ist eindeutig metonymisch aufzufassen: Die Stadt, die Gott für die Berufung Annos danken soll, sind die Stadtbewohner. An den beiden folgenden Stellen ist dieser Bezug nicht so eindeutig, aber auch nicht ausgeschlossen. Die Verwendung des Wortes stat an einer Stelle, an der sich die Kölner unmittelbar angesprochen fühlen sollten, wäre besonders einleuchtend, wenn diese Bezeichnung den 54 Vgl. Schützeichel 1974, S. 182 f. (stat Stätte, Stelle, Ort, Platz; Raum; Wohnstätte, Stadt; Gegend; Topos); Wells 1990, S. 587 (stat, stedi locus; Platz, Ort, Stelle). Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm Bd. 10 II. Abteilung I. Teil, Sp. 955 f. und 1006. 55 Nellmann 1975, S. 12, Hervorhebungen von mir. 56 Nellmann 1975, S. 13. 57 Vgl. Nellmann 1975, S. 12.
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Adressaten geläufig gewesen wäre. Man könnte also die Hypothese aufstellen, in den führenden Kreisen Kölns sei um 1080 oder im frühen 12. Jahrhundert das Wort Stadt für ihren Heimatort das gebräuchliche gewesen. Das könnte natürlich auch in anderen Bischofsstädten der Fall gewesen sein, dafür liegen uns aber keine Hinweise in den Quellen vor. Durch seine Einführung in die civitas hatte das Wort stat eine neue Bedeutung gewonnen, in der der Wandel von der Bischofsstadt zur Bürgerstadt zum Ausdruck kommt. Während civitas ohne Rücksicht auf den Grad der Urbanisierung einen Rang markierte, waren für die Idee der Stadt wirtschaftliche und gesellschaftliche Privilegien bestimmend. Die Bewohner von Siedlungen, die sich den Stadtbegriff zu eigen machten, wollten ihr Prestige steigern und ihrem Heimatort eine neue Qualität verleihen. Bei der Übersetzung dieser Redeweise ins Lateinische vermieden gerade die Schreiber von Bischofsurkunden, denen die Sonderstellung der Bischofsstädte klar bewusst war, zunächst den Begriff civitas. Sie bevorzugten den rechtlich unbestimmten Terminus oppidum. In Urkunden Erzbischof Arnolds I. von Köln wird 1143 Xanten, 1144 Medebach oppidum genannt.58 Man darf also zuversichtlicher, als das meistens der Fall ist, davon ausgehen, dass in der Verwendung von oppidum der von herrschaftlicher Seite anerkannte Anspruch der Bewohner zum Ausdruck kommt, in einer Stadt neuen Typs zu leben.59 Erst später, in den Amtszeiten Philipps von Heinsberg (1169 – 1191) in Köln und Arnolds I. (1169 – 1183) in Trier, fanden die Schreiber nichts mehr dabei, auch Orte, die keine Kathedralstädte waren, als civitates zu bezeichnen, so 1171 Andernach, 1182 Koblenz.60 In einer Urkunde Erzbischof Heinrichs von Mainz wird Bingen bereits 1152 als civitas genannt.61 Für Reichsorte war man schneller mit dem Begriff civitas bei der Hand. Ein Siegburger Mönch verwendete schon zum Jahre 1110 das Wort für Remagen.62 Unter der Flagge des neuen Stadtbegriffs hat seit dem 12. Jahrhundert eine breite Urbanisierungswelle das mittelalterliche Reich überrollt. Als Erbin der frühmittelalterlichen civitas blieb die Stadt bis in die frühe Neuzeit hinein Heilsort, als Erbin der antiken civitas wurde sie Ort politischer Partizipation und bürgerlicher Emanzipation. Der Stadtbürger des ancien r¦gime stand Pate für den revolutionären citoyen und den Staatsbürger unserer heutigen demokratischen Gemeinwesen.
58 59 60 61 62
Vgl. Knipping 1901, Nr. 414, 420. Vgl. Groten 2009, S. 438. Vgl. Beyer / Eltester / Goerz 1865, Nr. 53. Vgl. Acht 1968, Nr. 175. Vgl. Wisplinghoff 1964, Nr. 30.
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Franz Lebsanft
»Heiliger Severin«? Konstruktion und Dekonstruktion der Boethiusvita
1.
Konkurrierende Erzählungen
Im Jahre 1861 erschien in Paris aus der Feder eines gewissen Louis Judicis de Mirandol eine dem lateinischen Text der Edition Obbarius1 beigegebene Neuübersetzung der Consolatio Philosophiae, die ihrem Verfasser den Preis der Acad¦mie franÅaise für die beste Übersetzung eines antiken Autors eintrug.2 Diese Ausgabe wurde bei Hachette verlegt,3 dem aufstrebenden und bald führenden Schulbuchverlag des 19. Jahrhunderts, dessen Gründer Louis Hachette sich trotzig der Devise Sic quoque docebo verschrieben hatte, nachdem die Êcole Normale 1822 ihre Pforten vorübergehend hatte schließen müssen und ihren Schülern, zu denen eben auch Hachette gehörte, die pädagogische Laufbahn verwehrt worden war.4 Damit war die Consolatio im humanistischen Klassenzimmer des Second Empire angelangt. Das Vorwort der Übersetzung feiert den auf Geheiß Theoderichs des Großen wegen Hochverrats, Landesverrats und Gottesfrevels verurteilten und wahrscheinlich 524/526 hingerichteten Boethius5 mit Worten des Philosophiehistorikers und späteren Erziehungsministers Victor Cousin (1792 – 1867) als eine Gestalt, die auf den Trümmern der Antike dem finstersten Frühmittelalter das Licht der Philosophie gebracht habe.6 Judicis de Mirandol zollt dem Mittelalter Respekt, weil es die Werke Boethius’ intensiv las, doch beklagt er, die damalige Vermengung von Geschichte und Legende habe 1 Obbarius (Hrsg.) 1843. Zu dieser Ausgabe vgl. kritisch Moreschini (Hrsg.) 2005, S. XVII. Nach dieser letzteren Ausgabe wird im Folgenden zitiert. 2 Vapereau 1893, s.v. »Judicis de Mirandol (Louis-Marie-Julien)« (World Biographical Index). 3 Judicis de Mirandol (Hrsg.) 1861. 4 Vgl. Mollier 1999, S. 451. 5 Vgl. zuletzt Moorhead 2009, S. 20. Die Datierung des Todesjahrs – in Frage kommt der Zeitraum 524 – 526 – ist nach wie vor umstritten. 6 Cousin (Hrsg.) 1836, S. LXXX: »BoÀce seul restait debout sur les ruines de l’antiquit¦, et dans la nuit profonde o¾ dormait alors l’esprit humain, son opinion, quelle qu’elle ft, devait Þtre la lumiÀre du temps et l’autorit¦ souveraine en matiÀre de philosophie.« Vgl. das Zitat in Judicis de Mirandol (Hrsg.) 1861, S. II.
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kein deutliches Bild von der Person ihres Autors entstehen lassen. »Naivität« und »Geschmack an der Erfindung« seien Signaturen der Epoche gewesen und so dürfe man nicht überrascht sein, dass eine Zeit, die aus Vergil einen Heiligen der Kirche gemacht habe, Boethius als einen dem Arianer Theoderich zum Opfer gefallenen christlichen Märtyrer verehre. Dagegen meint der Übersetzer sich verwahren zu müssen, der Boethius als »einen der letzten und erlauchtesten Vertreter der heidnischen Philosophie« charakterisiert.7 Was hier verhandelt wird, ist das Verhältnis des 19. Jahrhunderts zu einem spätantiken Autor, der seit der Wiederentdeckung durch Alkuin mit seinem letzten Werk das philosophische Leitmodell zur Lösung existentieller Fragen im Angesicht des eigenen, als himmelschreiendes Unrecht empfundenen, gewaltsamen Todes bot, mit einem Werk, das allerdings erst durch seine breite mittellateinische Kommentierung und durch zahlreiche mittelalterliche und frühneuzeitliche Übersetzungen in alle wichtigen Volkssprachen seine tiefgreifende europäische Wirkung erzielte. Das Vorwort der Schulausgabe – die im Übrigen noch im 20. Jahrhundert nachgedruckt wurde8 – macht dem Mittelalter den Prozess im Namen der damals neuen, aus Deutschland kommenden, die Überlieferung prüfenden und kontrollierenden »historischen Methode«, welche das Andere dieser Epoche als unkontrollierte Einbildungskraft konzipiert, die Vorurteile produziert, die es endlich zu überwinden gelte.9 Schließlich wird die katholische Kirche mit gönnerhaftem Unterton getröstet, sie habe genügend Helden, um sich durch die Revision ihres Martyrologiums nicht beunruhigen zu lassen.10 Wie angedeutet, sind es deutsche Gelehrte, die dem französischen Übersetzer die These vom Boethius paganus vermittelten. Demnach war Boethius zwar äußerlich ein getaufter Christ, doch nach seinen inneren Überzeugungen ein antiker, neuplatonisch denkender Philosoph. Ihren bündigsten und daher wirkungsvollsten Ausdruck findet diese These, der das Vorwort der damals einflussreichen Ausgabe Obbarius vorbehaltlos zustimmt,11 bereits 1823 in Ersch / Grubers Boethius-Artikel aus der Feder des Jenenser Philologen Ferdinand Gotthelf Hand (1786 – 1851). Boethius, heißt es dort, »sey niemals Christ gewesen, sondern als heidnischer Philosoph gestorben«, die Grundlage der 7 Judicis de Mirandol (Hrsg.) 1861, S. III: »BoÀce a ¦t¦ dans Rome un des derniers et des plus illustres repr¦sentants de la philosophie paenne«. Soweit nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen vom Verfasser. 8 Judicis de Mirandol (Hrsg.) 1981. 9 Die im Laufe des 19. Jahrhunderts wachsende Distanz zum Mittelalter lässt sich beispielhaft an Michelets Histoire de France ablesen. Jacques Le Goff hat dargestellt, wie sich Michelets ursprünglich positives Mittelalterverständnis in den 1850er Jahren unter dem Einfluss Luthers ins Negative verkehrt: Le Goff 1977, S. 32 – 35: »Le Moyen ffge sombre de 1855«. 10 Judicis de Mirandol (Hrsg.) 1861, S. IV: »Nous pensons, quant nous, que l’Êglise chr¦tienne est assez riche en h¦ros pour n’avoir pas s’inqui¦ter de la r¦vision de son martyrologe.« 11 Vgl. Obbarius (Hrsg.) 1843, S. XXIX.
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Consolatio beruhe auf der »platonischen Schule« und daher werde man das Christliche »nicht weiter in dem Werke vermissen, […] wol [sic] aber sich über den Mangel an Kritik bei den kirchengeschichtlichen Schriftstellern wundern«.12 Es ist unübersehbar, worin der antiklerikale Impuls der Philologie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besteht. Wie Hand in seinem Artikel einleitend ausführt, will sie »künstliche Kombinationen« und »eine Reihe unbegründeter Vermuthungen«, die durch »lang erhaltene Tradition« Gültigkeit usurpiert hätten,13 in der Erzählung von Boethius’ Leben beseitigen, um zu dem vorzudringen, was sie als die substantiell gedachte, geschichtliche Wahrheit betrachtet. Auf diese Weise befragt sie das Fundament, auf dem die Kirche die wenigstens bis ins 19. Jahrhundert anhaltende Wirkmächtigkeit der Consolatio ruhen lassen wollte. Denn es ist zweifellos die Möglichkeit, dass der philosophische Gehalt des Werks durch das vermeintlich christliche Märtyrertum des Autors beglaubigt wird, die Boethius als ein kirchliches Leitbild menschlicher Existenz besonders tauglich scheinen ließ und eine sinnstiftende Trostwirkung von höchster Dignität ermöglichen konnte. Es wird deutlich, was auf dem Spiel steht, wenn Hand das Werk des Boethius nur noch etwas abschätzig »für das Beste seiner Zeit« hält und es keinesfalls »den Meisterstücken alter griechischer Philosophen zur Seite stellen« will.14 Denn der Philologe verweigert nicht nur einem mehr als ein Jahrtausend lang intensiv gelesenen Werk die Aufnahme in den Kanon der Schriftsteller ersten Ranges, sondern er dekonstruiert vor allem eine europäisch-christliche Erzählung von herausragender Identitäts- und Legitimationskraft, die er in ihrer mittelalterlichen Setzung zwar erkennt, jedoch keineswegs als eine geschichtliche Tatsache »zweiter Ordnung« anerkennen kann und will. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schien es, als ob der von Hand mit der geballten Kraft der historischen Kritik attackierte Boethius christianus endgültig Schiffbruch erlitten hätte. Doch der 1877 mit dem Anecdoton Holderi überraschend geführte und nach anfänglicher Skepsis lange Zeit nicht mehr in Frage gestellte Nachweis, dass immerhin vier der fünf christlich-theologischen opuscula sacra Boethius verlässlich zuzuschreiben waren15 – Hand hatte das noch kategorisch in Abrede gestellt und als gewichtiges Argument gegen den Boethius christianus in Stellung gebracht – führte zu einer Wiederbelebung der christlichen Deutung des Philosophen. Diese hat in der Folge zwei Versionen angenommen, zunächst die stärkere und aus dem Mittelalter ererbte, wonach 12 13 14 15
Hand 1823, S. 284, S. 286. Hand 1823, S. 283. Hand 1823, S. 286. Usener 1877. Vgl. dazu die kritische Analyse und Übersetzung von Galonnier 1997, mit dem Fazit, S. 73: »le d¦bat trÀs riche et nuanc¦ touchant les Opuscula sacra tenus pour bo¦ciens qui existait au siÀcle dernier a ¦t¦ clos pr¦matur¦ment.«
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der bekennende Christ Boethius mit der Consolatio ein christlich interpretierbares Werk geschrieben hatte, und eine schwächere, nach der dieser bekennende Christ sowohl christliche als auch antik-philosophische Werke hinterlassen hat, einerseits eben die theologischen opuscula sacra und andererseits die philosophische Consolatio. Gegenstand meines Beitrags ist nicht die christliche oder pagane Interpretation des philosophischen Gehalts der Consolatio, sondern die Konstruktion und Dekonstruktion der Erzählungen vom Leben und Sterben des Philosophen im Hinblick auf ihre Beglaubigungsfunktion für dieses Werk. Es geht also um die Frage, welche Geschichten vom Autor der Consolatio erzählt werden und welche Form von Exemplarität ihnen zugebilligt wird. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei grausam-realistischen und fiktiv-wunderbaren Elementen, mit denen die Boethiusvita im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit angereichert wurde, um ihrem Helden den Status besonderer katholischer Kultwürdigkeit zu verleihen. In den Mittelpunkt stelle ich gerade den Aspekt, den Pierre Courcelle in seiner großen Monographie über die Consolatio aus der Betrachtung systematisch ausschloss16 und der zwar im Zusammenhang mit der These vom Boethius paganus bereits prinzipiell in den Blick kam, jedoch erst in den letzten Jahren von der Boethiusforschung systematisch aufgegriffen wird, nämlich die Geschichte der glorifizierenden Deutung Boethius’ als bekennender Zeuge des christlichen Glaubens.17 Dabei nehme ich auch den Zusammenhang zwischen lateinischer und volkssprachlicher Überlieferung in den Blick, wobei ich mich, was diesen letzten Aspekt betrifft, vorwiegend, aber nicht ausschließlich, auf französische Quellen beschränken werde.
2.
Die Apologie des Boethius
Zunächst lässt sich die Frage stellen, ob Boethius seinen »Fall« (in der doppelten Bedeutung dieses Wortes) selbst erzählt und wie er ihn, wenn das so ist, perspektiviert und motiviert. Tatsächlich bildet die vierte Prosa des ersten Buchs der Consolatio die Apologie des Boethius, die jedoch keineswegs als Erzählung, sondern vielmehr nach den Normen des genus iudiciale gestaltet ist.18 Im exordium stellt sich der Redner in der post festum, nach der Verurteilung verfassten Verteidigungsrede als Anwalt des römischen Gemeinwohls vor, der sich – 16 Courcelle 1967, S. 10. 17 Bereits Hand 1823 skizziert die Fragestellung der Geschichte von Boethius als »Vertheidiger des katholischen Glaubens«, die er jedoch zugleich aus seiner Darstellung ausklammert, S. 284: »Wir können hier nicht den Ursprung dieser Meinung oder Tradition weiter verfolgen […].« Vgl. z. B. Robinson 2004. Immer noch lesenswert ist Patch 1935. 18 Gruber 2006, S. 119.
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so die narratio – den Neid und den Hass der königlichen gotischen Beamten zugezogen habe. Deswegen sei er durch Falschaussagen über die angebliche Unterschlagung von belastenden Beweismitteln und – wie die probatio ausführt – durch gefälschte Beweise des Hoch- bzw. Landesverrats sowie des Gottesfrevels angeklagt und für schuldig befunden worden. Der Gegensatz zwischen römischem Senat und Goten – es ist die Rede von der »nie gestraften Habgier der Barbaren« (I 4p, 10: »impunita barbarorum semper avaritia«) – tritt deutlich hervor, doch sind der Ankläger Cyprianus und die gegen Boethius aussagenden Zeugen (Basilius, Opilio, Gaudentius) wenigstens teilweise Römer. Als Hintergrund des plausibilisierbaren Vorwurfs des Götzendienstes hat man die Praxis der neuplatonischen Theurgie ausgemacht, die Boethius in der refutatio mit dem Hinweis auf das von ihm befolgte pythagoreische 5pou he` (I 4p, 38: »Folge dem Gott«) kontert. Er habe es nicht nötig, so Boethius, Dämonen zu Hilfe zu rufen, um zur Gotteserkenntnis zu gelangen.19 Im Übergang zur peroratio verweist Boethius schließlich als »Gipfel seiner Leiden« (I 4p, 43: »nostris malis cumulus«) auf die Verurteilung durch die Öffentlichkeit, welche sich eben nicht nach den in der Apologie so kunstvoll hervorgehobenen Verdiensten des Angeklagten richte, sondern nach dem Ausgang des bereits besiegelten »Geschicks« (I 4p, 43: »fortunae spectat eventum«). So wird die Funktion der Apologie deutlich: Boethius will nicht gleichsam »in Berufung gehen«, sondern er zielt darauf ab, die Deutungsmacht über seine Geschichte zu erobern, deren bitteres Ende er vor Augen hat. Doch stellt er seinen Fall nicht als einen religiös, sondern als politisch motivierten Justizskandal dar.
3.
Historiographie und frühe Boethiusviten
Jenseits des Textes der Consolatio gab es in der Zeit vom 6. bis zum 9. Jahrhundert entweder eine mündliche Überlieferung zum Leben des Boethius, die in historiographischen Texten ihren Niederschlag gefunden hat, oder aber die Darstellungen dieser kirchlich geprägten Texte befeuerten in der Folge den Volksglauben an Boethius’ Märtyrertum.20 Den Kristallisationspunkt bildet möglicherweise der vermutete Ort der Hinrichtung und der Grablege von Boethius, also Pavia, das alte Ticinum. Die berühmten Excerpta Valesiana (so benannt nach der Erstausgabe von Henri de Valois [1603 – 1676], Paris 1636) stellen in ihrem zweiten Teil die Geschehnisse in Italien chronologisch zwischen 19 Gruber 2006, S. 134. 20 Galonnier 1997, S. 32, spricht von einer »l¦gende trÀs ancienne de martyr et de sanctification, qui, elle, s’est perp¦tu¦e sous diverses formes«.
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474 und 526, dem Todesjahr Theoderichs dar.21 Der Prozess gegen Boethius wird als Justizskandal politisch begründet, doch der Gegensatz zwischen gotischen Arianern und römischen Katholiken tritt deutlich hervor. Dabei sind Antipathie und Sympathie klar verteilt: Am Leichnam des von Theoderich nach seiner Rückkehr aus Konstantinopel festgesetzten und alsbald verstorbenen Papstes Johannes I. sei ein vom Teufel Besessener gesundet, so dass man dem Toten die Kleider vom Leib gerissen und als Reliquien davongetragen habe. Noch im selben Jahr stirbt Theoderich, und zwar an derselben Krankheit wie Arius, der »Urheber seiner Religion« (»auctoris religionis eius«), wie der Chronist ausdrücklich vermerkt.22 Die Excerpta schildern die Hinrichtung von Boethius in ihrer Grausamkeit besonders eindringlich. Boethius sei ein Seil so eng um das Gesicht geschnürt worden, dass seine Augen hervortraten und zerplatzten, und man habe ihn schließlich unter Folter mit dem Knüppel getötet.23 Es ist die Geschichtsschreibung des Papsttums, die dann wohl erstmals die Hinrichtung von Boethius mit der Häresie Theoderichs explizit verknüpft. So schreibt der Liber pontificalis: »Der häretische König Theoderich hatte zwei außergewöhnliche Senatoren und ehemalige Konsule, Symmachus und Boethius, und er tötete sie durch das Schwert.«24 Doch erst rund zweihundert Jahre nach der Hinrichtung erwähnt im fernen Northumbrien Beda Venerabilis (673/74 – 735) in seinem historischen Martyrologium (ca. 725 – 731) den gewaltsamen Tod Boethius’ (und Symmachus’) im Zusammenhang mit dem »heiligen« Papst Johannes.25 Um etwa dieselbe Zeit veranlasst der in Pavia residierende langobardische König Liutprand (gest. 744) – die ursprünglich arianischen Langobarden waren zu 21 Moreau / Velkov (Hrsg.) 1968. In der historischen Tradition des 17.–20. Jahrhunderts werden die Excerpta als Anonymus Valesianus bezeichnet. Erstausgabe: Valois 1636; editio posterior (von Adrien de Valois) Paris, 1681. Zu einer umfassenden Deutung Theoderichs im Frühmittelalter vgl. Goltz 2008; zu den Excerpta S. 476 – 526. 22 Gregor der Große lässt ca. 593/94 Theoderich einen anderen, gewaltsamen Tod sterben. Der König sei in einen Vulkankrater gestürzt worden, und zwar als Strafe für seine Schuld am Tod von Papst Johannes I. und von Symmachus, vgl. Vogü¦ (Hrsg.) 1980, IV, 31, 3 – 4. Boethius’ Ende erwähnt Gregor bekanntlich nicht. 23 Moreau / Velkov (Hrsg.) 1968, S. 25: »qui accepta chorda in fronte diutissime tortus, ita ut oculi eius creparent, sic sub tormenta ad ultimum cum fuste occiditur.« Goltz 2008, S. 509, übersetzt »theoderichfreundlicher«: »Man legte ihm ein Seil um die Stirn und marterte ihn damit sehr lange, so daß ihm die Augen hervortraten. Schließlich wurde er auf der Folter mit einem Knüppel totgeschlagen«. 24 Mommsen (Hrsg.) 1982, S. 136, rechte Spalte: »Theodoricus rex hereticus tenuit duos senatores preclaros et exconsules Symmachum et Boetium et occidit interficiens gladio.« In der ersten Version (ebd., linke und mittlere Spalte) fehlt das Wort »hereticus«. Bei Duchesne (Hrsg.) 1884, S. 104 – 106 (premiÀre ¦dition) mit der Ergänzung S. 107 »hereticus« (seconde ¦dition). Vgl. noch Goltz 2008, S. 330 – 334, S. 400 – 402. 25 Beda Venerabilis, PL 94, 929a – 929b: »A. V KAL. JUNII.—Natale sancti Joannis papae, quo tempore Theodoricus rex duos senatores praeclaros et consules Symmachum et Boetium occidit«.
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diesem Zeitpunkt bereits katholisch geworden – die Ausgestaltung der Grablege in der Basilika San Pietro in Ciel d’Oro.26 Paulus Diaconus (ca. 720/730 – 799), nach dem Untergang des Langobardenreichs (774) in Diensten des neuen Herrschers Karl der Große, lässt die – explizit so genannten – »katholischen Männer« Boethius und Symmachus zu Opfern des ungerechten Königszorns Theoderichs werden.27 Im westfränkischen Reich deutet die 870 abgeschlossene heilsgeschichtliche Chronik Ados von Vienne (ca. 800 – 875) die Hinrichtung der beiden Männer durch Theoderich als Zeugnis des katholischen Glaubens.28 Ein gutes weiteres Jahrhundert später besucht Otto III. 996 bei seinem ersten Italienzug Boethius’ Grab, für das Gerbert von Aurillac, der als enger Berater des Kaisers 999 zum Papst Sylvester II. erhoben werden sollte, 998 den Text für ein Epitaph beisteuert.29 Die heute greifbare handschriftliche Überlieferung der Consolatio setzt im frühen 9. Jahrhundert ein und enthält bereits glossierende, den Text rahmende Elemente. In Prologen dieser ältesten Handschriften aus dem 9. und 10. Jahrhundert finden sich nun Textstücke, die Rudolf Peiper 1871 als Vitae Boeti herausgab, leider ohne dass es möglich wäre, aus seiner Edition deren genaue Verwendung innerhalb des jeweiligen accessus zu rekonstruieren.30 Immerhin wird deutlich, dass es sich, »texttraditionell« gesprochen, tatsächlich um »Boethiusleben« handelt, also Texte, die das Schicksal ihres Helden in eine einfache narrative Form gießen. Auffällig ist, dass diese Erzählungen zwar nicht in allen Punkten der Apologie folgen, jedoch Verhaftung, Prozess und Hinrichtung des Boethius keineswegs als christliches Zeugnis darstellen und motivieren. Dies ist erst in einer (von Peiper nicht edierten) Pariser Handschrift des 11. Jahrhunderts der Fall, die den einflussreichen Kommentar des Remigius von Auxerre (841 – 908) in der Bearbeitung eines Schülers enthält.31 Dort heißt es:
26 Vgl. hierzu und zu der folgenden, freilich andere Akzente setzenden Darstellung Galonnier (Hrsg.) 2007, S. 96 – 100 (»Martyre et culte«). 27 Paulus Diaconus, PL 95, 978b-c: »Theodoricus, rabie suae iniquitatis stimulatus, Symmachum exconsulem, ac patricium, et Boetium senatorem et exconsulem Catholicos viros, gladio trucidavit«; vgl. Droysen (Hrsg.) 1978, S. 129 f. 28 Ado Viennensis, PL, 123, 107c: »Quo tempore [d.h. in der Zeit der Rückkehr von Papst Johannes aus Konstantinopel] Symmachum atque BoÚtium consulares viros pro Catholica pietate idem Theodoricus occidit: quique anno sequente subita morte periit, succedente in regno Atalarico nepote eius«. 29 Zu den Epitaphien Peiper (Hrsg.) 1871, »Elogia Boeti«, S. XXXVff.; vgl. z. B. auch Allegranza 1773, S. 49 f. (Epitaphia ticinensia). 30 Peiper (Hrsg.) 1871, S. XVIII – XXXV. 31 Vgl. die Edition der »Vita ›Quaeri II‹« nach Paris BN lat. 16093 von Schwarze (Hrsg.) 1963, S. 170 f. In der Zuschreibung und der Datierung der Hs. folge ich Courcelle 1967, S. 296, S. 406.
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Als der König der Goten Theoderich als Förderer der Arianer die dem rechtmäßigen Glauben anhängenden Katholiken verfolgte, begann er über die Stadt Rom als Tyrann zu herrschen und er trachtete danach, die Edlen und Weisen aus dem Senat zu entfernen und sogar töten zu lassen.32
Mit dieser Notlage wird begründet, dass Boethius sich an den Kaiser Justinus bzw. an Justianus gewandt habe, um Stadt und Senat von der Tyrannenherrschaft zu befreien. Daher sei Boethius des Hochverrats, des Landesverrats und der Zauberei beschuldigt und nach Pavia verbracht worden, wo er die Consolatio verfasst habe. Erst eine in einer Handschrift des 13. Jahrhunderts überlieferte Vita bezeichnet Boethius als Heiligen: »Boethius wurde ehrenvoll in Pavia in der Krypta der Kirche begraben und von den Einheimischen ›Heiliger Severin‹ genannt, denn das war sein Vorname.«33
4.
Lateinische Kommentierung, volkssprachige Übersetzungen und Bearbeitungen der Consolatio
Es ist nun bemerkenswert, dass – soweit sie mir zugänglich ist – die mittellateinische Kommentierung der Consolatio, etwa die Glosae Wilhelms von Conches (gest. 1154),34 und die darauf beruhenden, wesentlich später entstandenen französischen Übersetzungen der vierten Prosa des ersten Buchs von der von Boethius selbst vorgebrachten politischen Deutung des Geschehens nicht abweichen. Als möglicher Anknüpfungspunkt für eine martyrologische Deutung des Prozesses hätte sich, wie die historiographischen Quellen zeigen, vor allem der Gegensatz zwischen dem Arianismus der Goten und dem Katholizismus der Römer angeboten, doch unterbleibt eine entsprechende Kontrastierung. Ohnehin wird der dogmatische Gegensatz zwischen Klägern und Beklagtem dadurch ausgeblendet, dass sich Boethius theologisch in der Defensive befindet, weil er sich des Vorwurfs erwehren muss, als Philosoph Anhänger des alten, polytheistischen Glaubens zu sein. Boethius’ Berufung auf das pythagoreische 5pou he` wurde in den Kommentaren als Bekenntnis zum Monotheismus gelesen, das sich neuplatonisch und christlich deuten ließ, keineswegs jedoch auf die innerchristlichen dogmatischen Differenzen in der Trinitätslehre anspielte. Der lateinische Text der Consolatio wurde bereits früh mit der Scholie »de« bzw. 32 Schwarze (Hrsg.) 1963, S. 170 (»Quaeri II«): »Cum uero Theodericus Gothorum rex arrianorum fautor ortodoxam in catholicos uiros persequeretur fidem, coepissetque in urbe exercere tirannidem, studuit nobiles quosque et prudentia preditos a senatu remouere et insuper neci dare.« 33 Peiper (Hrsg.) 1871, S. XXXV: »Boetius autem honorifice tumulatus est papie in cripta ecclesie, et uocatur sanctus seuerinus a prouincialibus, quod ei nomen fuit.« 34 Nauta (Hrsg.) 1999, S. 79 – 85.
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»deo non diis« versehen35 und dieser Zusatz wurde in die französischen Übersetzungen integriert. So heißt es, um nur ein Beispiel zu erwähnen, in der ältesten Übertragung (ca. 1230): »Denn täglich riefst du meinen Ohren und meinen Gedanken diesen Ausspruch des Pythagoras in Erinnerung: ›Lasst uns einem Gott dienen, nicht mehreren.‹«36 In ihrem Prolog greift die älteste französische Übersetzung die lateinischen Boethiusleben auf, aus denen einzelne Formulierungen übernommen sind, doch knüpft sie auch hier nicht an die jüngere martyrologische, sondern an die ältere politische Deutung an. So lässt sie Boethius als Konsul gegen den Fremdherrscher Theoderich für die Freiheit Roms eintreten, wobei die Anklage wegen Hoch- und Landesverrats in diesem Text auf untergeschobenen Beweisen beruht.37 Der aus dem Kommentar Wilhelms von Aragonien (vor 1305) übersetzte Prolog Jeans de Meun argumentiert in derselben Weise, doch streicht er wesentlich stärker den moralischen Gegensatz zwischen Boethius und dem tyrannischen, grausamen und heimtückischen König heraus. So wird der Prozess gegen Boethius etwa mit diesen Worten motiviert: Als der Tyrann Theoderich viele Greuel gegen das Wohl des Volkes verübte und Boethius stets in Gegnerschaft zu seinen heimtückischen Anordnungen fand, da überlegte er, getrieben von großer Heimtücke, wie er einen Grund finden könne, um Boethius zu vernichten.38
Jean de Meuns Prolog wurde in einer jüngeren Übersetzung (nach 1362) wiederverwendet und hier mit den Glossen Wilhelms von Conches versehen, die zwar Boethius’ Christentum mit Hinweis auf das opusculum gegen Eutyches und Nestorius ganz deutlich herausstreichen, doch ohne ihn zugleich in direkten Gegensatz zum unerwähnt bleibenden Arianismus Theoderichs zu stellen.39 35 Nauta (Hrsg.) 1999, S. 135; vgl. Moreschini (Hrsg.) 2005 zu 1, 4, 134. 36 ConsBoÀceBourgB (ich verwende für alt- und mittelfrz. Ausgaben die Siglen des Dictionnaire ¦tymologique de l’ancien franÅais), S. 16: »Quar tu recordees chascun jor a mes oreilles et a meies cogitations lo dit de Phitagoras: ›A un deu seruons, non a plusors.‹« 37 ConsBoÀceBourgB, S. 1 f.: »Saveir covient la cause de l’eissil de Boece; Teodoricus, li reis des Goz, de ces genz, enva la romaine comune chose e la prist e forment la destruist. Les consules e les nobles homes de Rome destruist, les uns ocist, les autres manda en essil. Boece ere lors consul e si dui fil consules, e voleit contrester a la malice del rei e ramener la comune chose de Rome a la premiere franchise. Por ice, li rois, iriez, le tramist en essil, si que feintes fauses causes, disant que Boeces aveit tramis secr¦s au rei de Grece encontre lui e voleit delivrer la cit¦ e le Senat de Rome de la poest¦ de lui e sozmetre a la defensiun des Gres. Por ce li fist le chief couper en la presence de ses amis. Mais anceis fist cest livre, el comencement del quel devons saveir quels est la matere, quel entencion, quel profit, quel title.« 38 JMeunConsD, S. 170: »Dom comme cil Theodoric en guise de tyrant fist plusieurs crualtez contre le profit du pueple et touz jours trouvast Boece contraire a ces felons establissemens, il, par grant felonnie esmeus, estudia a trouver cause par quoy il peust Boece destruire.« 39 Nauta (Hrsg.) 1999, S. 3: »Boetius iste nobilissimus ciuis Romanus et fide catholicus extitit. Qui contra Nestorium et Euticen, duos maximos haereticos, cum non esset qui eis respon-
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Die Legende vom »heiligen Severinus Boethius«
Die lateinische Überlieferung vom »heiligen Severinus Boethius« entsteht in der kirchlichen Historiographie und verfestigt sich in Boethiusviten, die den Text der Consolatio einleiten. Gleichwohl hat sich aus diesem Stoff nicht einmal am Ort der vermeintlichen Grabstätte eine Heiligenlegende gebildet, die als eine populäre, narrativ ausgestaltete »Legende vom heiligen Severinus Boethius« schriftlich tradiert worden wäre.40 Immerhin hat es möglicherweise den Versuch einer solchen Text- und Texttraditionsbildung gegeben, wenn man den entweder im 11. oder frühen 12. Jahrhundert, also vor den ältesten französischen Consolatio-Übersetzungen entstandenen altprovenzalischen Boeci41 entsprechend interpretiert. Der Boeci setzt nach der laudatio temporis acti des Proömiums Boethius als Lehnsmann in Szene, der von seinem treulosen Herrn Theoderich ins Gefängnis geworfen wird. Hier betet er hilfesuchend zum dreieinigen Gott, worauf ihm eine schöne Frau erscheint, die nichts anderes als die zur christlichen Sapientia mutierte Philosophie ist. Ihr Kleid ist aus christlicher Liebe und Glauben gewirkt und sie weist den Weg vom irdischen zum ewigen Leben. Da die einzige Handschrift leider nur den Anfang des Textes überliefert, lässt sich über seine definitive Gattungszuordnung trefflich streiten. Plausibel scheint mir die Möglichkeit, den Text als Einschreibung einer glossierten Consolatio-Handschrift in die Gattung des hagiographischen Kurzepos zu verstehen.42 Eine vollkommen zweifelsfreie und höchst verknappte Engführung von Märtyrertum und Consolatio bietet hingegen Dantes außergewöhnlich prominente Erwähnung von Boethius im Paradiso.43 Hier, im Sonnenhimmel, lässt Dante Thomas von Aquin bekanntlich sagen: Per vedere ogni ben dentro vi gode l’anima santa che ’l mondo fallace fa manifesto a chi di lei ben ode:
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deret, de fide catholica disputauit et in communi concilio haereticos comprobauit.« – ConsBoÀceCompC2, S. 86: »Note cy selon la glose du livre en latin que cestui Boece fu un tres noble Rommain, bon crestien et vray catholique en la foy contre Nestoire et Eutyce, deux tres grans hereses, disputa de la foy crestienne, la ou nul n’osoit a eulx respondre, et en commun concile les vainqui et hereses les approuva et fu de si grant autorit¦ que ceulx qu’il entreprenoit a defendre, nul ne lor pouoit nuire«. Zur raschen Orientierung über die Gattung »Legende« vgl. Kunze 2000. Vgl. Schwarze (Hrsg.) 1963. Das ist die erste der beiden Möglichkeiten, die Maria Selig (1993) diskutiert. Sie selbst favorisiert die zweite Deutung als volkssprachlicher Schultext, der schwierige Lehrinhalte mit den volkstümlichen Mitteln des Epos schmackhaft macht. Die Forschung zum Thema »Dante und Boethius« ist uferlos; vgl. den älteren Überblick von Tateo 1970. Zur Erwähnung Boethius’ in Paradiso X, vgl. – sehr textnah – Giachery 1992, S. 215 f. Vgl. zuletzt noch Sciuto 2010, S. 115 – 147.
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lo corpo ond’ella fu cacciata giace giuso in Cieldauro: ed essa da martiro e da essilio venne a questa pace.44 [Im Anschaun alles Heils freut sich in ihm die heil’ge Seele, die den Trug der Welt dem offenbart, der recht vernahm die Kunde. Es ruht der Leib, aus welchem sie verjagt ward, dort in Cieldauro; aber sie erhob sich von Martern und Exil zu solchem Frieden.]45
Eine Pointe von Dantes Darstellung scheint mir in der Tatsache zu liegen, dass die numinose Namenlosigkeit der anima santa ein Äquivalent zu deren unsterblicher Immaterialität schafft. Die Rationalität dieser »heiligen Seele« ist selbstverständlich nicht in dem mit einem menschlichen Namen versehenen, sterblichen Leib greifbar, aus dem sie entwichen ist, sondern in der boethianischen Lehre, die bekanntlich im Schreiben an Cangrande della Scala mit einem Vers aus dem Schöpfungshymnus der Consolatio den Schlüssel zu Dantes Selbstauslegung liefert.46 Auf dem Hintergrund, dass die Ikonographie zur Consolatio normalerweise Boethius und Philosophie im Dialog darstellt, scheint mir Giovanni di Paolos Paradiso-Darstellung von Boethius als allegorisch verkörperlichte Philosophie47 geradezu kongenial (vgl. Abb. 1). Die Erwähnung Boethius’ in Paradiso X könnte Indiz einer dauerhaften Heiligenverehrung in Pavia sein. Nur wenige Jahrzehnte nach Dante berichtet Opicinus de Canistris (1296 bis ca. 1352/54) im Liber de laudibus civitatis Ticinensis, dass Severinus Boethius der einzige gewesen sei, der in Pavia den Märtyrertod gestorben sei.48 Im Zusammenhang mit der Darstellung des Grabs und der dort angebrachten Epitaphien schildert Opicinus auch das einzige Mirakel, das man je mit Boethius in Zusammenhang gebracht hat und natürlich mit der Art seines vermeintlichen Martyriums zusammenhängt. Mit dem Kopf in den Armen sei der Enthauptete von der Hinrichtungsstätte zu der Kirche seiner künftigen Grabstätte gelaufen.49 Dieses Wunder entspricht z. B. dem des enthaupteten Dionysius von Paris, der freilich von Engeln geleitet zu seiner
44 Sapegno (Hrsg.) 1967, S. 134, Paradiso X, V. 124 ff. 45 Bahner (Hrsg.) 1965, S. 314, Paradies, 10. Gesang, V. 124 ff. 46 Ricklin (Hrsg.) 1993, § 89, S. 32: »et per Boetium in tertio De consolatione ibi: ›Te cernere finis.‹« 47 David 2004 bemerkt, dass Giovanni Einzelseelen bekleidet verkörperlicht, während Gruppen von Seelen nackt dargestellt werden. Vgl. noch Poe-Hennessy 1993. 48 Vgl. Maiocchi / Quintavalle (Hrsg.) 1903, S. 2. 49 Vgl. Maiocchi / Quintavalle (Hrsg.) 1903, S. 13: »De quo fertur quod decollatus, a loco decollationis usque ad prefatam ecclesiam caput suum inter ulnas portavit.«
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Grabstätte Saint-Denis marschiert.50 Die Ikonographie des Bischofs von Paris als kopfloser Heiliger ist äußerst reichhaltig,51 während sie für Boethius offenbar fast völlig fehlt.52 Doch findet sich wenigstens in einem Druck aus der Mitte des 16. Jahrhunderts von Pietro Natalis ca. 1369/72 verfasstem Catalogus sanctorum ein Holzschnitt, der zwar nicht die Enthauptung darstellt, doch zwei Schergen zeigt, die mit Knüppeln auf den knienden Seuerinus martyr einschlagen (vgl. Abb. 2).53 Bereits Opicinus zieht ein älteres Verzeichnis der Grabstätten von Heiligen in Pavia heran, in dem Boethius erwähnt wird.54 In dieser Texttradition steht das Sanctuarium des Juristen Jacopo Gualla, das zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Pavia gedruckt wird. Zum Ruhme seiner Heimatstadt beschreibt der Rechtsgelehrte die Grabstätten und Reliquien ihrer Heiligen, darunter auch das Grab des »sanctus Seuerinus« genannten Boethius, das sich in Cieldauro befinde. Im Vergleich zur Tradition variiert Gualla die Hinrichtungsart des Märtyrers: Vor seinem Tod habe Gott mit einem Wunder die Heiligkeit des Mannes offenbaren wollen. Die ältesten Chroniken der Stadt bezeugten, dass der Hingerichtete durch göttliche Kraft die beiden Teile des mit blutigem Schwert gespaltenen Hauptes in den eigenen Händen gehalten und zusammengefügt vom Ort des Martyriums nach Cieldauro gebracht habe. Dort, vor dem Altar kniend, habe er in allerchristlichstem Zustand seinen Geist ausgehaucht, nach den Regeln der christlichen Religion versehen mit den Sakramenten der heiligen Mutter Kirche.55
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Vgl. Lecouteux 1996, Sp. 271. Zum Kephalophorenmotiv bei Saint Denis, vgl. Kimpel 1974. o.N. 1976, S. 339: »keine Darstellung als H[ei]l[iger].« Es ist auffällig, dass die Darstellung der in den Excerpta Valesiana überlieferten Hinrichtungsart entspricht; doch deren Erstdruck stammt, wie oben erwähnt, aus dem Jahr 1636. Erstdruck Petrus de Natalibus vgl. Verlus (Hrsg.) 1493. Zu dem Venezianer Petrus de Natalibus (Pietro Ungarello di Marco de’ Natali), der seit 1370 Bischof von Equilium-Jesolo war, vgl. Lexikon des Mittelalters 2009, Bd. 6, Sp. 1978 – 1979. 54 Maiocchi / Quintavalle (Hrsg.) 1903, Anhang I, »Cronica de Corporibus Sanctis Papie«, S. 55 – 57, hier S. 56: »In basilica sanctorum Petri et Pauli, que hodie dicitur sancti Petri in celo aureo, quod monasterium hedificavit Constantinus rex dotavitque Linprandus rex Longobardorum, iacet corpus venerabilis doctoris ecclesie Dei Augustini et theologorum philosophi. […] Iacet et corpus Boecii Aristotolis fidelis interpretis.« 55 Gualla 1505, f. 55v : »at priusquam efflaret spiritum: deus viri sanctitatem hoc expresso miraculo voluit declarare: peruetustis etiam Ticini cronicis attestantibus: quod a loco martyrij: capite duas in partes sciso mucrone cruento: diuina virtute eas ipse proprijs substentans manibus: iunctas detulit ad ipsum aureum templum: ibidemque ad altare genibus flexis: quia christianissimus susceptis pro more christiane religionis sancte matris ecclesie sacramentis in celum perbeatum emisit spiritum.« Mein Dank geht an Reinhold Glei für die korrekte Interpretation der Textstelle.
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Die Kirchenschriftsteller der Frühen Neuzeit
Die Frühe Neuzeit nimmt zunächst Zweifel am christlichen Charakter der Consolatio auf, die seit dem Mittelalter bekannt und seitdem trotz aller interpretatorischen Bemühungen nicht vollkommen aus der Welt zu schaffen waren.56 Als Heinrich Loriti Glarean 1546 in Basel die opera omnia des Boethius in einem prächtigen Band druckt,57 äußert der berühmte Humanist in seinem an Anton Fugger gerichteten Vorwort erhebliche Skepsis hinsichtlich der Urheberschaft des Werks, das nicht aus der Feder eines Christen – denn dafür hält er Boethius – stammen könne. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass der Christ Boethius den Gekreuzigten im Angesicht des sicheren Todes nicht angerufen habe, doch die Consolatio enthalte nicht einmal den Namen Christi. Das Werk, so hält Glarean fest, sei »philosophisch« und eben nicht christlich geprägt.58 Giulio Marziano Rota, dessen Boethiusleben Glareans Ausgabe der opera omnia beigegeben und durch spätere, sowohl zusammen mit der Consolatio als auch separat publizierte Ausgaben ein Referenzpunkt geblieben ist,59 äußert sich vorsichtig bezüglich möglicher religiöser Gründe, die Boethius den Zorn Theoderichs eingetragen haben könnten. Es seien falsche Anschuldigungen des Hoch- und Landesverrats, die den Philosophen zu Fall gebracht hätten. Gleichwohl erwähnt Rota, der an der überlieferten Autorschaft der Consolatio keinen Zweifel hegt, die lokale Überlieferung vom wundersamen Ende Boethius’, die seinen Tod in eine dezidiert christliche Perspektive rückt. Es seien – so Rota – die Bewohner von Pavia, die das althergebrachte Mirakel des enthaup56 An erster Stelle ist hier bekanntlich Bovo II. von Corvey (gest. 916) zu nennen, der den zentralen Schöpfungshymnus III 9 m für unvereinbar mit der christlichen Lehre hält, vgl. zuletzt Fischer 2010. Man vgl. auch die Bemerkung Johannes’ von Salisbury (gest. 1180), die Consolatio verkünde zwar nicht das fleischgewordene Wort, gleichwohl verfüge das Buch bei denen, die sich ihres Verstandes bedienten, über einige Autorität, weil es für die Qualen der Seele die geeignete Medizin bereit halte: »Et licet liber ille Verbum non exprimat incarnatum, tamen apud eos qui ratione nituntur non mediocris auctoritate est, cum ad reprimendum quamlibet exulceratae mentis dolorem congrua cuique medicamenta conficiat« (Webb [Hrsg.] 1965, VII, XV, S. 155). 57 Glarean (Hrsg.) 1546. Zu Glarean (1488 – 1563) vgl. Bächtold 2006; Grimm 1964. Ein Aufenthalt in Pavia ist 1515 nachgewiesen. 58 Glarean (Hrsg.) 1546, f. a2 v. (vgl. PL 63, Sp. 539): »Ego igitur, ut ingenue fatear id quod res est (etsi scio qum magnam mihi moueam hac opinione inuidiam, & plus qum Camarinam, dicendum tamen est, quod animo sedet meo), mihi quidem magis Philosophicum opus uidetur qum Christianum, nec tamen indignum quod Christiano homine legatur, sed indignum ut ab eo scriptum credatur, qui ipsi Christo dato in sacro baptismate nomine, ipsum antescriptis professus.« 59 Glarean (Hrsg.) 1546, f. a3 v. – a[5] v., eingekleidet in einen Brief an Georg Cornelius. Vgl. z. B. Bernartius (Hrsg.) 1607. Bernartius ist der Schwager von Justus Lipsius, der der Ausgabe ein Widmungsgedicht beigesteuert hat. Rotas Boethiusvita ist separat noch am Ende des 18. Jahrhunderts gedruckt worden (Rota 1798).
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teten Severins erzählten, der den Tod nach dessen vermeintlich eigenem Bekunden im Kampf für die Katholiken und gegen den arianischen Unglauben erlitten habe.60 Rotas Darstellung von Boethius’ wundersamen Sterben und Tod macht sich hingegen der Kardinal Cesare Baronio (1538 – 1607) in seinen einflussreichen Annales ecclesiastici vollkommen zu eigen, was diesem freilich bereits im 17. Jahrhundert einigen Spott einträgt und in der von Antonio Pagi (1624 – 1699) kommentierten Ausgabe der Annales mit Hinweis auf die Baronio noch unbekannten Excerpta Valesiana zurückgewiesen wird.61 In Frankreich macht im frühen 17. Jahrhundert der Jesuit Nicolas Caussin (1583 – 1651) aus Boethius ganz dezidiert einen christlichen Märtyrer. Caussin behandelt Boethius in seinem gegenreformatorischen Hauptwerk La Cour sainte in der den Hommes d’Estat gewidmeten Abteilung.62 Bereits die Auswahl der behandelten Gestalten – es sind aus dem Alten Testament Joseph, Moses, Samuel und Daniel; dann, besonders ausführlich, Boethius und schließlich der letzte römisch-katholische Erzbischof von Canterbury Reginald Pole (1500 – 1558) – mutet wenig schlüssig an, auch wenn natürlich das Bemühen deutlich wird, biblische mit jüngeren historischen Gestalten zu parallelisieren. Caussins Darstellung, welche die noblesse d’¦p¦e zu einem katholischen Humanismus bekehren möchte, inszeniert Boethius als einen allein seinem Gewissen verpflichteten Staatsmann, der Theoderich unerschrocken die Wahrheit sagt. Getreu der ästhetischen Maxime der Wahrscheinlichkeit extrapoliert Caussin aus der knappen Bemerkung der Consolatio, Boethius habe »rege cognoscente« (I 4p, 12) die Interessen der Provinz Kampanien gegen den von Triggvilla verfügten Zwangsaufkauf von Getreide vertreten, eine flammende, sich über fünf Spalten hinziehende Rede, deren eindringlicher Appell an das Gewissen des Herrschers ihm dessen Sympathien verscherzt habe. Weil Theoderich irrtümlich von der 60 Glarean (Hrsg.) 1546, f. a [5] v.: »Ticini incolæ semper maioribus traditum constanter asseuerant, Seuerinum cum regius spiculator letale uulnus intulisset, utraque manu diuulsum caput sustinuisse, interrogatumque quonam se percussum existimaret, ab impijs respondisse, atque ita cum in uicinum templum uenisset, & flexis genibus ante altare sacra percœpisset, post paulum expirasse. Extinctus diuinos honores nostris consecutus est, quýd pro catholicis contra perfidiam Arij mortem sustinuerit.« 61 Vgl. Pagi (Hrsg.) 1741, S. 354 f. Die Erstausgabe wurde in 12 Bänden, Rom, Congregatio Oratorii, 1593 – 1607, publiziert. Spöttisch äußert sich über Baronio der anglikanische Patristiker William Cave (1637 – 1713); vgl. Cave 1688, S. 387. 62 Ich verwende die postume Ausgabe Caussin 1653. Die zweibändige Erstausgabe von 1624 ist mir nicht zugänglich, doch ist Caussin 1653 in den mich interessierenden Passagen textidentisch mit der von mir ebenfalls eingesehenen früheren, von Heinrich Lamormain angefertigten lateinischen Übersetzung Politicus christianus, seu Boetius, qui est liber tertius tomi II. Aulae Sanctae (Caussin 1638), die nach eigenem Bekunden auf der vierten französischen Auflage von 1629 beruht. Der Cour Sainte geht Caussin 1620 voraus. Es ist nicht das einzige Drama, das den ostgotischen König zum Gegenstand hat, man vgl. noch als erste, oberflächliche Sichtung – Crucius o. J.; Vernulaeus (de Vernulz) 1623.
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Echtheit der Boethius untergeschobenen Briefe an den oströmischen Kaiser überzeugt gewesen sei, erscheint die Rede Boethius’ dem Kaiser als die »Fanfare der gegen meinen Staat gebildeten Verschwörung«, wie Caussin den Herrscher formulieren lässt.63 Im Abschnitt zur Gefangenschaft in Pavia schildert Caussin Boethius’ Auseinandersetzung mit seinem Schicksal zunächst entlang den Argumentationslinien der Consolatio; doch schließt er geschickt die ausschließlich imaginierte Hinwendung »des heiligen Manns, der so gelehrte Bücher über die Mysterien unseres Glaubens verfasst hatte,« zu Christus als dem »fleischgewordenen Wort« an.64 Der Hinrichtung lässt Caussin Boethius als einen Mann entgegenschreiten, der es geradezu darauf absieht, öffentlich Zeugnis für den christlichen Glauben abzulegen. Was das eigentliche Martyrium – die Hinrichtungsart – betrifft, so diskutiert Caussin die Alternativen, die im 17. Jahrhundert mit der neuen Kenntnis der Excerpta valesiana auf dem Tisch liegen: Wurde Boethius, wie man bis dahin annahm, enthauptet oder wurde er, wie die neue Quelle behauptet, nach grausamer Folter mit einem Knüppel erschlagen? Was die zweite Möglichkeit betrifft, so schildert Caussin sie nicht nach der editio princeps, die Henri de Valois 1636 als Anhang seiner Edition der Res gestae des Ammianus Marcellinus beigegeben hatte (und die Caussin überhaupt nicht erwähnt),65 sondern gibt an, die (vatikanische) Handschrift selbst gelesen zu haben: I’ay leu vn manuscrit fort ancien, dont i’ay tir¦ quelques particularitez couch¦es en cet ¦crit, qui dit qu’on do¯na vne cruelle gehenne au saint homme, luy tordant lo¯gtemps vne corde autour du front, en sorte que les yeux luy sortoient de la teste, & qu’en fin on l’assomma auec un leuier ;66 [Ich habe ein sehr altes Manuskript gelesen, dem ich einige in dieser Schrift festgehaltene Details entnommen habe und das behauptet, dass man den heiligen Mann einer höllischen Qual aussetzte: Man knebelte ihn lange mit einem um die Stirn gelegten Seil, so dass ihm die Augen aus den Höhlen hervortraten, und schließlich erschlug man ihn mit einem Knüppel.]
Der lateinische Text der Cour Sainte zitiert nicht die Handschrift, sondern ist offensichtlich eine Rückübersetzung aus dem Französischen: Legi vetus quoddam scriptum, manu exaratum, in quo specialia quædam inveni litteris consignata, quibus significatur tormento fidicularum caput & frontem tamdiu ei torta 63 Caussin 1653, S. 492: »la trompette de la coniuration form¦e contre mon Estat«. 64 Caussin 1653, S. 497. Eine eindringliche und lebendige Interpretation von Caussins Abschnitt zur Gefangenschaft Boethius’ bietet, nach der deutschen, den französischen bzw. lateinischen Text zuspitzenden Übersetzung und im Kontext der deutschen ConsolatioÜbersetzungen, Kaminski 2010, S. 285 – 292. 65 Valois (Hrsg.) 1636. 66 Caussin 1653, S. 499; ebd. findet sich S. 477 als Randglosse zu einem anderen Exzerpt: »Ainsi le remarque vn ancien manuscrit tir¦ d’vne Bibliotheque de Rome«.
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fuisse, quousque oculi, relict naturali sede, foras extruderentur ; ac dein ipsum fustibus peremptum fuisse.67
Caussin weist diese »neue« Darstellung zurück, weil sie der mehrheitlichen Überlieferung – er beruft sich dabei auf Rota – widerspreche. Augenscheinlich ist der Jesuit an einer wirkungsästhetischen Ausschlachtung der von den Excerpta valesiana geschilderten Grausamkeiten nicht interessiert, viel wichtiger ist ihm, Boethius mit Hinweis auf das bekannte Mirakel typologisch als einen zweiten Saint Denis erscheinen zu lassen. Die Aufnahme Boethius’ in Baronius’ Martyrologium, so sagt er abschließend, sei gerechtfertigt, denn der Enthauptete sei »teilweise« wegen der Verteidigung der katholischen Kirche gegen die Arianer gestorben.68 Geradezu als Kontrapunkt zu Caussins martyrologischer Deutung lässt sich die Boethiusvita lesen, die Ren¦ Vallin seiner einflussreichen, philologisch anspruchsvollen Ausgabe der Consolatio von 1656 voranstellt.69 Demnach lässt Theoderich den Philosophen aus den bekannten politischen Gründen zum Exil und zum Tode verurteilen. Er setzt, so Vallin, die Vollstreckung aus Rücksicht gegenüber dem oströmischen Kaiser Justinus zunächst aus, doch aus Zorn darüber, dass dieser in Abstimmung mit dem Papst seine antiarianische Politik nicht zurücknimmt, lässt er Boethius schließlich hinrichten. Abschließend berichtet Vallin mit den Worten Rotas, dass Boethius und Symmachus in Pavia als Heilige verehrt würden, weil sie nach der lokalen Überlieferung den Tod »für die Katholiken gegen den Unglauben Arius’« erlitten hätten.70 Das Fazit der Diskussionen des 17. Jahrhunderts zieht wiederum ein Jesuit. In den Acta Sanctorum schließt Daniel Papebroch (1628 – 1714) die Darstellung der Todesumstände von Boethius und Symmachus in seinen historischen Kommentar zum Martyrium von Papst Johannes I. mit ein. Was die Hinrichtungsart betrifft, so verteidigt er gegen Caussin die nunmehr für ursprünglich gehaltene Version der Excerpta Valesiana. Das Mirakel, das er mit Hinweis auf Jacopo Gualla und Giulio Marziano Rota berichtet, kommentiert Papebroch jedoch mit großer Zurückhaltung.71 Am Beginn des 18. Jahrhunderts stellen die umfangreichen Vies des saints des Descartes-Biographen Adrien Baillets (1649 – 1706) eine vielgelesene Vulgarisierung der lateinischen Gelehrsamkeit der Acta sanctorum dar.72 Das Werk hält 67 Caussin 1638, S. 249. 68 Caussin 1653, S. 499. 69 Vallin (Hrsg.) 1656; vgl. zu dieser Edition und ihrem weitgehend unbekannten, katholischen Autor, Kaminski 2010, S. 269 f., S. 273 – 277. 70 Vallin (Hrsg.) 1656, fol. *[7] v.: »quod pro Catholicis contra perfidiam Arii mortem sustinuerint« [sc. Boethius und Symmachus], vgl. oben, Anm. 60; vgl. auch Kaminski 2010, S. 276. 71 Papebroch 1688, S. 707: »sed miraculum præmemoratum, si factum vere est […].« 72 Adrien Baillet, Les vies des saints, 4 Bde., Paris, Roulland, 1701 – 1703; zugänglich sind mir
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an der Überzeugung fest, dass Boethius die Consolatio im Angesicht des Todes mit »dem Gleichmut eines Philosophen und der Demut eines Christen« verfasst habe.73 Weil er dem Mirakel keine Bedeutung beimisst, ja es nicht einmal erwähnt, kann Baillet auf den Spuren Papebrochs die Inhumanität des Barbarenkönigs mit dem Verweis auf die Excerpta Valesiana und die dort geschilderte Hinrichtungsart umso mehr hervorkehren.74 Als FranÅois-Armand Gervaise wenige Jahre später, im Todesjahr Ludwigs XIV., seine dank des Abdrucks in der Patrologia latina bis heute bekannte Histoire de BoÚce veröffentlicht, kann er keine neuen Gesichtspunkte mehr bieten.75 Er verfolgt dasselbe Anliegen wie Caussin, wenn er im Widmungsbrief an den »Roy tres-ChrÞtien« Boethius’ Erdulden der königlichen Ungnade als christliche Standhaftigkeit deutet, welche ihm die Märtyrerkrone und den Ruhm der Heiligenverehrung in Italien eingetragen habe.76 Im Vorwort räumt Gervaise zwar ein, dass die Schilderung einiger Lebensumstände durch die vorhandenen Quellen nicht beglaubigt werde; doch beruhe sie, wie er in Anlehnung an Caussin argumentiert, auf der Kategorie der »Wahrscheinlichkeit«.77 Allerdings nimmt er die Frage von Boethius’ Christentum ausdrücklich davon aus und verwahrt sich gegen den Verdacht, er wolle dem französischen Publikum, das Boethius als Heiligen nicht verehre, dessen Geschichte auf diese Weise interessant machen.78 Er reklamiert für seinen Helden den Märtyrertod,79 selbst wenn auch er keine Gewähr mehr für das traditionell überlieferte Mirakel, das er immerhin erwähnt, übernehmen möchte.80 Auch
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die postume Ausgabe Baillet 1710 und die von Jean-FranÅois H¦rissant und Louis-Êtienne Ganeau veranstaltete Neuausgabe (H¦rissant / Ganeau [Hrsg.] 1739). Baillet 1710, Bd. 4, S. 181 – 182: »Ce fut en attendant la mort avec la tranquillit¦ d’un philosophe, & la soumission d’un chrÞtien qu’il composa ses admirables livres de la Consolation de la Philosophie«; vgl. H¦rissant / Ganeau (Hrsg.) 1739, Bd. 4, S. 368. Baillet 1710, Bd. 4, S. 182: »L’on ne vit rien de plus barbare. BoÚce fut mis une longue torture; on lui serra la tÞte d’une corde avec tant de violence, que les deux yeux en creverent, & et l’on finit son supplice coups de baton le 23, d’octúbre.« Die Ausgabe H¦rissant / Ganeau (Hrsg.) 1739, Bd. 4, S. 368 amplifiziert die Passage mit dem Hinweis auf den »g¦nie des barbares«, in den Theoderich bei dieser Gelegenheit zurückgefallen sei. Gervaise 1715; vgl. den Wiederabdruck in PL, 64, 1411 – 1628d, wo das Werk dem Bruder von FranÅois-Armand, nämlich Nicolas Gervaise zugeschrieben wird (Hinweis von D¦sir¦e Cremer). Im zweiten Band seines Werks gibt Gervaise u. a. eine Zusammenfassung der Consolatio (S. 45 – 116), ohne sie jedoch sprachlich und inhaltlich über Gebühr zu christianisieren. Glarean hält er entgegen, der Christ Boethius habe in seinem letzten Werk gewissermaßen als Fachmann der Philosophie gesprochen (S. 117 – 121, hier: S. 121). Gervaise 1715, Bd. 1, S. b i: »Il les [disgraces] soutint avec une fermet¦ vrayement chrÞtienne, & ¦tant arriv¦ par-l la Couronne du Martyre, il a aujourd’huy la gloire d’Þtre honor¦ comme Saint dans l’Eglise d’Italie.« Gervaise 1715, Bd. 1, S. d ii: »elles ont paru plutút fond¦es sur la vrai-semblance«. Gervaise 1715, Bd. 1, S. e ii v. Gervaise 1715, Bd. 1, S. 1: »Dans la Vie de cet homme incomparable, tout concoure [sic] former un h¦ros Chr¦tien.« Gervaise 1715, Bd.1, S. 325.
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wenn dieses Mirakel, gerade auf dem Hintergrund der von Gervaise in Anspruch genommenen vraisemblance, den Tod durch Enthauptung voraussetzt, lässt sich der Autor die Chance nicht entgehen, den grausameren Tod durch Folter noch detaillierter darzustellen, als das bis dahin geschehen war.81
7.
Fazit und Ausblick
In seiner zweisprachigen Edition der Consolatio verweist Louis Judicis de Mirandol in einem Korrekturnachtrag auf einen von ihm nicht mehr berücksichtigten Vortrag, den Charles Jourdain in der Acad¦mie des Belles-Lettres über den »Ursprung der Überlieferung von Boethius’ Christentum« 1860 gehalten hatte.82 Als avancierter Philologe seiner Zeit vertritt Jourdain natürlich die These des Boethius paganus, doch versucht er, die Entstehung der von der historischen Kritik dekonstruierten Gegenthese des Boethius christianus geschichtlich zu erklären. Jourdain sieht in dem Langobardenkönig Liutprand den Schöpfer der Verchristlichung des Philosophen, die er sich nur als einen konkreten Irrtum, eine gewissermaßen sachliche Verwechslung mit einem anderen, katholischen Boethius denken kann. Liutprand habe in die Grabstätte in Cieldauro die sterblichen Überreste eines gleichnamigen, aus Afrika von den arianischen Vandalen nach Sardinien vertriebenen Bischofs des 6. Jahrhunderts, der auch der Autor der opuscula sacra gewesen sein müsse, überführt. Jourdains Erklärungsmuster war bereits 1860 nicht mehr neu. Schon Obbarius hatte in seiner Edition vorgeschlagen, den »heiligen Severin« als Produkt einer Verwechslung zu deuten. Er vermutete als Autor der opuscula sacra einen heiligen, für den christlichen Glauben gestorbenen Severinus, den anschließend Kirchenschriftsteller mit Boethius identifiziert hätten.83 Zwar ließ 1877 die Veröffent81 Gervaise 1715, Bd. 1, S. 298: »Une grande rouÚ fut mont¦e qui se tournoit avec une manivelle, on y attacha une corde dont on ceignit la tÞte du martyre, & mesure que la rouÚ tournoit la corde le serroit advantage. Ce tourment reter¦ ne put tirer aucune plainte de la bouche de cette innocente victime. Occup¦ de la grandeur des biens ¦ternels dont il alloit en possession, il parut insensible aux cruautez qu’on exerÅoit sur son corps. Elles furent telles que les yeux sortirent de la tÞte.« S. 299: »Il fut ¦tendu sur une poutre, & aprÀs l’y avoir attach¦, deux bourreaux le frapperent long-tems avec des batons sur toutes les parties du corps, depuis le col jusqu’ la plante des pieds. Quelques Historiens ont cr qu’il expira dans ce torument, mais d’autres en plus grand nombre pr¦tendent & avec bien plus de fondement qu’il y survÞquit, & qu’il finit sa vie par la hache ou par l’¦p¦e.« 82 Judicis de Mirandol (Hrsg.) 1861, S. LXVIII; Jourdain 1860. 83 Obbarius (Hrsg.) 1843, S. XXXVIIf.: »Quid si tractatus Severinum quendam composuisse, eumque postea ob sanguine pro fide catholic aprofusum in s[anc]torum numerum a papa receptum credam[u]s? Cuius rei locupletem habemus testem sancti illius festum, qui inde a sec. VIII. quotannis X. ante Kal. Novembres Brixii, Ticini, et in aliis Italiae regions celebratur : monachi autem et historiography mira nominum confusion istum Severinum pro Boethio
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lichung des Anecdoton Holderi diese historischen Konstruktionen wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen, doch führte kein Weg mehr zurück zu einer durch ein göttliches Wunder abgesicherten martyrologischen Beglaubigung der Urheberschaft der Consolatio. Als Papst Leo XIII. die volkstümliche Verehrung des »Dieners Gottes und Märtyrerphilosophen« Boethius, des Verfassers philosophischer, mathematischer und theologischer Werke, für das Bistum Pavia 1883 bestätigte, beschränkte er sich darauf, Boethius, Symmachus und Papst Johannes I. als Opfer der religiösen Auseinandersetzungen zwischen Theoderich und Ostrom darzustellen. Die päpstliche Erzählung vom Sterben des Philosophen verzichtet sowohl auf die grausam-realistischen als auch auf die wunderbar-fiktiven Elemente, die dem Mittelalter und, mehr noch, der Frühen Neuzeit so wichtig waren.84 Die Alternative der Philologie, das (re)säkularisierte Schicksal Boethius’ als exemplarische Authentizität antik-philosophischen Denkens und Lebens zu deuten, hat sich als kanonisiertes Modell seitdem jedoch ebenfalls nicht etablieren können. Um es in aller Schlichtheit zu sagen: Boethius’ leuchtendes Beispiel wird durch weit hellere Sterne am antiken Himmel verdunkelt. So bleibt Boethius heute nur noch ein Platz in der Geschichte der Philosophie, oder, wie Kurt Flasch sich ausdrückt, Boethius’ Consolatio ist »die beste Einführung in die Philosophie des Mittelalters«.85
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Abbildungen
Abb. 1: (C) British Library Board, Yates Thompson 36, f. 147.
Abb. 2: Petrus de Natalibus 1543, Liber nonus, f. 186v.
Alheydis Plassmann
Das Wanderungsmotiv als Gründungsmythos in den frühmittelalterlichen Origines gentium
Sie preisen in alten Liedern, der einzigen bei ihnen vorkommenden Art der Überlieferung und von Geschichtsquellen, den erdentsprossenen Gott Tuisto und seinen Sohn Mannus als Stammväter und Gründer ihres Volkes. Dem Mannus schreiben sie drei Söhne zu, nach denen die zunächst am Weltmeer wohnenden Ingväonen, die in der Mitte Hermionen, die übrigen Istwäonen heißen sollen.1
Wenn wir Tacitus glauben wollen, hatten die germanischen gentes um 100 die Vorstellung, dass sie von einem gemeinsamen Ahnherren abstammten, also eine Abstammungsgemeinschaft waren und dass sie folglich alle miteinander verwandt waren. Ein Wandermythos kommt indes bei Tacitus noch nicht vor. Nun ist Tacitus und seine Germanenvorstellung resp. die Übernahme dieser Ideen durch die sogenannte Germanische Altertumskunde zu Recht schon seit langem in die Kritik geraten.2 Tacitus bietet uns hier nicht das, was die Germanen von sich selber dachten, sondern was die Römer für germanische Vorstellungen hielten. Eine Verwandtschaft der germanischen Stämme untereinander sowie die Subsumierung der gentes, die germanische Sprachen sprachen, unter den allgemeinen Begriff der Germanen sind, wie man schon lange nachgewiesen hat, römische und dann abgeleitet von Tacitus moderne Vorstellungen.3 Was die einzelnen Stämme über ihre Herkunft zu Tacitus’ Zeit gedacht haben, wissen wir nicht. Schriftliche Zeugnisse über die Herkunftserzählungen dann einzelner germanischer gentes haben wir erst sehr viel später, nämlich als die gentes zum Christentum konvertiert waren und Geschichtsschreiber sich mit der Origo ihrer
1 Tacitus, 1975 S. 38 (2,2). Übersetzung in: Goetz / Welwei 1995, S. 127. Die folgenden Überlegungen habe ich in Grundzügen auch schon bei einer Tagung in Freiburg über Antike im Mittelalter dargelegt, vgl. Plassmann (im Erscheinen), hier liegt der Schwerpunkt auf dem Thema der Wanderung. 2 Vgl. dazu allgemein Pohl 2000, S. 1 – 7 und 45 – 65; ausführlich Dick 2008, S. 59 – 65. 3 Zur Problematik des Germanenbegriffes Pohl 2000; Jarnut 2004; Beck u. a. 2004; Pohl 2004; Dick 2008, S. 11 – 25.
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je eigenen gens auseinandersetzten. Dies geschah oft im Rahmen einer Erzählung der gesamten Geschichte der eigenen gens.4 Diese Origo gentis-Erzählungen spiegeln schon keine genuin gotischen, burgundischen, fränkischen Vorstellungen mehr wider – von germanischen ganz zu schweigen –, sondern sind christlich-römisch überprägt. Ein Bezug zur mündlichen Überlieferung der gens vor dem Kontakt mit den Römern ist lediglich im Rahmen der Möglichkeiten. Während die germanische Altertumskunde die Origo gentis und hier vor allem die Herkunftserzählung als solche als genuine Tradition angesehen hat, durch die uns wichtige Informationen über die Geschichte der gentes und ihre Wanderstationen vermittelt worden ist,5 hat man seit Reinhard Wenskus die causa scribendi der Origines-Erzählungen mehr in den Mittelpunkt gestellt.6 Wenskus entlarvte die Vorstellung der gemeinsamen Abstammung als ein Mittel zum Zweck. In der Ethnogenese einer gens war die Vorstellung von einer gemeinsamen Abstammung ein wichtiges Instrument der Identitätsfindung und vermittelte Zusammengehörigkeitsgefühl. Die neuere Forschung – ich nenne hier nur Walter Goffart7 und Magali Coumert8 – ist noch einen Schritt weitergegangen und hat die Herkunftserzählungen von ihrer sozialen Funktion entkoppelt und sie als literarisches Zeugnis in den Blick genommen. Goffart hat vier zentralen Geschichtsschreibern, Jordanes, Beda, Paulus Diaconus und Gregor von Tours, jeweils einen literarischen Zweck zugeschrieben. Magali Coumert hat mit der Vorstellung von genuinen gentilen Traditionen gründlich aufgeräumt und die literarischen Motivvorbilder für die Origo-Erzählungen in der antiken Literatur ausfindig gemacht und etwa die Skandinavien-Herkunft als ein antikes Motiv herausgearbeitet.9 Nun bedeutet der Nachweis literarischer Vorbilder und die Verwendung von Topoi nicht zwangsläufig, dass die Origines-Erzählungen für die Frage nach den Herkunftsvorstellungen der germanischen gentes gar nicht genutzt werden können.10 Die Verwendung von Topoi bedeutet noch nicht, dass sich der Nutzen der Erzählung für uns erschöpft hat. Denn es ist meistens so, dass der Autor, auch wenn er Topoi verwendet, die Wahl zwischen mehreren Topoi hat und die Auswahl, die er trifft, durchaus eine gewisse Aussagekraft hat. Hier bietet es sich an, nicht nur die Herkunftserzählung allein in den Blick zu 4 Vgl. hierzu ausführlich den Artikel von Wolfram 2003; Plassmann 2006, S. 13 – 27; Coumert 2007, S. 9 – 29. 5 Vgl. zur Forschungsgeschichte Anm. 4. 6 Wenskus 1961. 7 Goffart 1988; sowie in seiner Schule Gillet 2002. 8 Coumert 2007. 9 Coumert 2007, vor allem zur Herkunft der Goten S. 33 – 142. 10 Diesem Missverständnis sitzen etwa Bowlus 2002 und Gillet 2002 auf, vgl. dagegen Pohl 2002; allgemein zu diesem Thema Wolfram 1994.
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nehmen, sondern das gesamte Werk des jeweiligen Geschichtsschreibers, um den Zweck der Origo-Erzählung im Gesamtkontext zu bewerten.11 Dennoch sollte man nicht dabei stehen bleiben, die vielfältigen Anknüpfungen an literarische Vorbilder oder römische Vorstellungen zu konstatieren.12 Man sollte durchaus versuchen, das spezielle Herkunftsbewusstsein der gentes zu erarbeiten. Selbstverständlich ist dieses beeinflusst von den Barbarenvorstellungen der Römer, die sich in der schriftlichen Tradition niederschlagen, aber das bedeutet nicht, dass es in seiner speziellen Ausprägung der jeweiligen gens nicht ein je gens-eigenes, sozusagen individuelles Herkunftsbewusstsein gibt, das im Kern nicht nur römisch geprägt ist. Entscheidend ist daher nicht unbedingt der Nachweis, welche Topoi ein bestimmter Autor verwendet hat, sondern wie er sie verwendet hat. Die frühmittelalterlichen Autoren schilderten den Weg ihrer gens von der Origo bis zum eigenen regnum und diese Ereigniskette musste für sie und vielleicht auch ihr Publikum Sinn ergeben, also ihrer Vorstellung der Entstehung einer gens entsprechen.13 Die Versatzstücke dieser zusammengestellten Abfolge von Geschehnissen konnten durchaus aus unterschiedlichen Traditionen – vielleicht auch mündlicher Überlieferung – stammen. Bedeutsam für die Funktion der Erzählung ist dabei nicht die Verwendung einzelner Topoi, sondern die Wirkung der Origo und weiteren Geschichte der gens in ihrer Gesamtheit. Im Folgenden soll der Wandermythos der gentes unter verschiedenen Aspekten kategorisiert werden, also von wo räumlich eine Wanderung ihren Ausgang nimmt, wie die Wanderung aussieht und wie die Ankunft geschildert wird. Die gentes haben ihre Herkunft von drei verschiedenen Räumen hergeleitet und diese nur sehr selten miteinander vermischt. Am deutlichsten von der Christianisierung beeinflusst sind die Herkunftserzählungen, die eine biblische Anknüpfung suchen und die gens oder den heros eponymos mit biblischen Erzählungen verknüpfen.14 Meistens sind dies Personen, denen schon im Alten Testament eine Rolle als Stammvater zugeschrieben wird, Adam, Noah und seine Söhne, hier vor allem Japhet. Eine neue Verwurzelung in christlichen Mythen lag nahe, wenn man der Christianisierung einen wichtigen Platz im Entstehungsprozess der gens einräumte und sie als entscheidenden Wendepunkt für das Werden der gens betrachtete. Diese mussten nicht notwendigerweise aus der Bibel genommen werden, sondern konnten auch Heiligenlegenden als Vorbild 11 Hierzu vgl. Plassmann 2006, S. 32 – 35. 12 Dies hat ausführlich Coumert 2007 für Goten, Langobarden, Franken und Angelsachsen geleistet. 13 Zur schwierig einzuschätzenden Wechselwirkung zwischen Autor und Publikum und den jeweiligen Erwartungen McKitterick 2000; Schieffer 2003; Plassmann 2006, S. 371 – 373. 14 Zur biblischen Anknüpfung ausführlich Angenendt 1994.
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haben.15 Die Abstammung ist bei einer biblischen Anknüpfung nur vage räumlich angelehnt, da das Heilige Land als Ursprungsland nicht explizit genannt wurde. Die Herkunft speist sich hier eher aus dem Stammbaum. Bei der biblischen Anknüpfung geht es also meistens um ein Erzählen der Abstammung und nicht um ein Erzählen der Wanderung. Dementsprechend wird die biblische Abstammung oft auch nur auf die Königsfamilie beschränkt. Dies ist etwa bei der Königsfamilie von Wessex der Fall, die auf einen heidnischen Wodan und Gaut, darüber hinaus von Asser aber dann auch auf Adam zurückgeführt wurde.16 Heilsgeschichtlich wird dann gelegentlich auch nicht nur die eigene Abstammung, sondern die der gesamten Menschheit erklärt, etwa in der fränkischen Völkertafel, die die Völker Europas von Japhet abstammen ließ.17 Eine weitere Möglichkeit bietet die Ausweitung biblischer Erzählungen, etwa in der Historia Brittonum. Hier wird an die Geschichte von der Gefangenschaft Israels in Ägypten eine Pharaonentochter eingefügt, die über die Behandlung des auserwählten Volkes empört, sich freiwillig ins Exil begibt und als Scota den Schotten ihren Namen gibt.18 Auch in diesem Fall ist die räumliche Vorstellung eher vage und für die Herkunftsvorstellung nicht unbedingt von Bedeutung. Wichtig scheint nur zu sein, dass der Herkunftsort anderswo verortet wird, als in dem Land, das man am Ende bewohnt, so dass eine Wanderung zum Bestandteil der Geschichte der gens oder zumindest der ihrer Könige wird. Sehr viel häufiger als die explizite Anknüpfung an die Bibel ist die implizite Parallelisierung des Schicksals der eigenen gens mit dem Schicksal des auserwählten Volkes. Diese Anspielungen dürfte jeder verstanden haben, und die Parallelen zum Volk Israel adelten die gens, die dadurch eine besondere Beziehung zu Gott einnahm, quasi unmittelbar zu ihm stand.19 Diese Parallelisierung zeigt noch deutlicher als die explizite Verknüpfung, dass es für die Herkunftsvorstellung nicht wichtig war, tatsächlich in unserem heutigen Sinne eine konkrete Verortung der eigenen 15 Vgl. etwa die Rolle des heiligen Germanus (Garman, nicht Germanus von Auxerre) für das walisische Königreich Powys in der Historia Brittonum 1898, S. 174 ff. (cap. 32 – 35). Dazu Plassmann 2006, S. 102 ff. 16 Asser 21959, S. 2 ff. Zu Asser vgl. Abels 2006, der Fälschungsverdacht von Smyth 1995 vor allem S. 149 – 367, ist in der Forschung nicht angenommen worden, vgl. Nelson 1998. 17 Edition bei Goffart 1983. 18 Historia Brittonum 1898, S. 156 ff. (cap. 15). In der hochmittelalterlichen Überlieferung zur Pharaonentochter Scota umgedeutet, vgl. Matthews 1970. Zur Historia Brittonum vgl. Dumville 1986; Dumville 1994; Plassmann 2006, S. 85 – 107; Coumert 2007, S. 451 – 470. 19 Die königslose Zeit der Goten nach Thorismund wird von Jordanes so etwa auf 40 Jahre terminiert: Jordanes 1882, S. 122. Zu Jordanes vgl. Goffart 1988, S. 20 – 111; Christensen 2002; Coumert 2007, S. 45 – 101. Paulus Diaconus lässt Alboin wie Moses von einem Berg aus das gelobte Land erblicken: Paulus Diaconus 1878, S. 90 (II, 8). Zu Paulus Diaconus vgl. Goffart 1988, S. 329 – 347; Pohl 1994; Cingolani 1995, S. 32 – 35; McKitterick 1999; Plassmann 2006, S. 191 – 201; Coumert 2007, S. 215 – 240; auch Hartmann 2009. Dies sind nur zwei Beispiele von vielen.
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Vergangenheit in der Welt vorzunehmen, einen Wanderweg zu berichten. Vielmehr kam es auf eine Verortung in der Weltordnung an, also auf die Stellung der gens in der christlichen Heilsordnung. Die biblische Verortung schafft so ein gewisses überhöhtes Identitätsbewusstsein, das sich aus dem Wissen und dem Beweis der Auserwähltheit speiste und damit die Entität der gens von Gottes Gnaden bekräftigte. Einen weiteren räumlichen Anknüpfungspunkt bietet der Troja-Mythos. Auch hier ist die tatsächliche räumliche Verortung in Kleinasien natürlich wesentlich weniger wichtig als die Verbindung zu den Römern, die man mit der Trojavorstellung schuf.20 Bezeichnenderweise ist auch hier das Element der Wanderung und des Ankommens außerordentlich wichtig. Die Verbindung zu Troja und den Römern kann explizit geknüpft werden, wie im fränkischen Trojamythos,21 oder nur implizit, indem eben die trojanische Verwandtschaft angesprochen wird.22 Ähnlich wie bei der biblischen Anknüpfung gibt es mehrere Möglichkeiten die Anbindung zu suchen, zum einen über bekannte Namen wie etwa Anchises, so etwa bei den Normannen (Dudo)23 oder zum anderen mit der Hinzuerfindung von vorher unbekannten Trojanern wie etwa Frigas, dem Vater des Francio aus der fränkischen Trojasage, der angeblich ein weiterer Sohn des Priamus war.24 Die Funktion ist hier ganz ähnlich wie bei den biblischen Anknüpfungen eine Verortung in der Weltordnung, aber hier nicht im religiösen, sondern an den legitimen Machthabern an sich, die die Spätantike zu bieten hatte. Hier kommt zum Element der Identitätsstiftung das der Legitimierung der Herrschaft hinzu. Besonders deutlich tritt dies bei den Erzählungen zu Tage, die nicht nur an den Trojamythos anknüpfen, sondern auch andere römische Anbindungen suchen, so etwa im Liber historiae Francorum, in dem der römische Kaiser Valentinian den Franken, die für ihn tapfer gekämpft haben, ihren Namen gibt und sie so aus römischer Machtvollkommenheit ins Sein ruft und gleichzeitig zur Herrschaft berechtigt.25 Als dritter möglicher Herkunftsort wäre Skandinavien zu nennen. Diese Skandinavien-Erzählungen haben von vorneherein die ungeteilte Aufmerksamkeit der Forschung bekommen, weil man in ihnen den Kern einer echten
20 Zur Trojavorstellung und Trojanersagen Anton 2006; Görich 2006 und Wolf 2009, S. 11 – 39 in ihrer Einleitung. 21 Fredegar 1888, S. 45 ff. (II, 4 – 8). Zu Fredegar vgl. Collins 1996; Plassmann 2006, S. 147 – 174; Coumert 2007 S. 295 – 324. 22 Liber Historiae Francorum 1888, S. 241 (cap. 1); Zum Liber vgl. Gerberding 1987; Plassmann 2006, S. 174 ff. und Coumert 2007, S. 325 ff.; Dudo, I, 3, S. 130. Zu Dudo vgl. Shopkow 1997, S. 181 ff.; Christiansen 1998, Einleitung; Plassmann 2006, S. 242 ff. 23 Dudo 1865, S. 130 (I, 3). 24 Fredegar 1888, S. 45 f. (II, 4 und 5). 25 Liber Historiae Francorum 1888, S. 243 (cap. 2).
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Herkunft zu erkennen glaubte.26 Während die biblische und trojanische Anknüpfung für die moderne Forschung leicht als Topoi zu entlarven waren,27 ist der Umgang mit der skandinavischen Herkunft in der Forschung vom Versuch des ›Beweisens‹ geprägt. Die Beweise, die man fand, stützten die Theorie, dass die Herkunft aus dem Norden in den germanischen gentes durch mündliche Überlieferung im Gedächtnis geblieben und späterhin aufgezeichnet worden sei.28 Aber nachdem der Verdacht geäußert wurde, dass es sich auch bei der Herkunft aus Skandinavien nur um einen Topos handeln könnte,29 hat man viel Energie darauf verwandt, die Quellen für diese Vorstellung zu entlarven. Magali Coumert hat in ihrer Untersuchung über die Origines eine literarische Tradition für eine Herkunft aus dem Norden sehr wahrscheinlich gemacht.30 Dies muss allerdings nicht notwendigerweise heißen, dass es eine Herkunft aus dem Norden überhaupt nicht gegeben haben kann. Inwieweit unterscheiden sich die Bibel- und Troja-Vorstellung von der skandinavischen Einordnung und sprechen insofern für unterschiedliche Herkunftsvorstellungen? Es fällt nämlich auf, dass auch in den Erzählungen, in denen eine skandinavische Herkunft behauptet wird, die räumlichen Vorstellungen nicht immer präzise sind. Bei Jordanes ist zuerst von der Insel Scandana die Rede, die zwar vage nördlich verortet wird,31 bei Dudo von Saint-Quentin allerdings, der Jordanes benutzte, liegt Scandana gar neben Dacia und Scythia.32 Troja- und Skandinavienmythos werden so vermengt. Diese Beschreibungen sind indes natürlich stärker verortet, als die Bibel- und Trojaerzählungen, sie entsprechen aber, wie Coumert nachgewiesen hat, den Vorstellungen antiker Autoren über die Lage der germanischen Völker, ihrer Motive für die Auswanderung (Überbevölkerung) usw.33 Es wäre jetzt nur nach den Motiven für die Übernahme des sagen wir einmal ›nordischen‹ Motivs zu fragen. Sowohl bei der Bibel, als auch beim Troja-Mythos liegt die identitäts- und legitimitätsstiftende Funktion für uns heutige auf der Hand. Ein Rückgriff auf den Norden konnte dann sinnvoll sein, wenn man eine Verortung außerhalb des römischen Kontextes wünschte. Die nordische Herkunft bot ebenfalls die Möglichkeit, an bi26 Diese Skandinavien-Herkunft ist inzwischen von mehreren Seiten glaubhaft widerlegt, vgl. hierzu und zur Forschungsgeschichte Pohl 1998; Kulikowski 2007, S. 43 – 70, »The Search for Gothic Origins«; Coumert 2007, S. 125 – 139. 27 Vgl. Anton 2006. 28 So etwa noch Fröhlich 1976, der für die Herkunft der Langobarden auf Paulus Diaconus zurückgreift, die Skandinavienherkunft allerdings skeptisch beurteilt und Wagner 1977. Zur grundsätzlichen Kritik jetzt auch Fried 2004, S. 267 – 291. 29 Schon Bollnow 1968; Reynolds 1983; Goffart 2005. 30 Coumert 2007, S. 125 ff. 31 Jordanes 1882, S. 57 f. 32 Dudo 1865, S. 129 (I, 1). 33 Wolfram 2003, S. 176.
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blische Vorstellungen anzuknüpfen, da die Völker Gog und Magog, die Isidor mit den Goten gleichsetzte, im Norden angesiedelt wurden.34 Daraus ergab sich aber auch ein Nachteil, weil die Verbindung zu den biblisch prophezeiten Völkern aus dem Norden nicht gerade schmeichelhaft war. Der Versuch, die jeweilige gens ganz und gar anders als die Römer zu postulieren, fand bezeichnenderweise vor allem in Italien statt. Ostgoten und Langobarden behaupten die skandinavische Herkunft.35 Möglicherweise war hier das Bedürfnis nach Abgrenzung zu den Römern größer als an der Peripherie, in Gallien und Britannien. Die Autoren, die eine Herkunft aus dem Norden behaupteten, weisen also durchaus eine etwas differenziertere Herkunftsvorstellung auf, als wir dies bei den anderen Autoren beobachten können. Grundsätzlich ist es aufschlussreich, wenn ein Autor sich für diese Variante entschloss. Die Funktion der Verortung der gens im Gesamtkontext der Identitätsstiftung der Herkunftserzählung ist also beim Skandinavien-Motiv durchaus anders anzusetzen. Man könnte es als eine Art Gegenpositionierung begreifen, im Gegensatz zur Einordnung, die durch biblische und Troja-Herkunft geleistet wird. Der heilsgeschichtliche Aspekt rückt dabei in den Hintergrund. Auch die Gründe dafür mögen vielfältig sein. Die Verbindung mit den alttestamentarischen Plagen brachte die Vorstellung von der Bekehrung als zusätzliches Element ein. Aus den wilden Völkern Gog und Magog wurden zivilisierte Christen, ein ganzes Volk von Sündern bekehrte sich.36 Hier mag die implizite Parallelisierung zum Volk Israel, immer wieder verworfen, bestraft und neu aufgenommen, eine Rolle spielen und von daher auch für den Skandinavientopos eine biblische Parallelisierung ermöglichen. Ausnahme in der räumlichen Vorstellungswelt der Herkunftserzählungen bildet vielleicht die überlieferte sächsische Herkunftssage, der man von jeher den höchsten Wahrscheinlichkeitsgrad zugesprochen hat.37 Die Angelsachsen kamen tatsächlich aus Sachsen nach Britannien, aber es ist bezeichnend, dass nicht in allen Niederschriften der sächsischen Sage, die Herkunft und Wanderung in der ›richtigen‹ Reihenfolge erzählt wird. Rudolf von Fulda etwa berichtet, dass die Sachsen von Britannien auf den Kontinent gewandert seien.38 Dieser reale Bezug ist auch deshalb interessant, weil im Fall der Angelsachsen, die 34 Isidor 1894, S. 268 nach Ezechiel, 38 und 39. Zu dieser Gleichsetzung vgl. Borst 1958, S. 446 und Coumert 2007, S. 103 – 110. 35 Jordanes 1882, S. 59 f.; Paulus Diaconus 1878, S. 52 f. (I, 2); Origo gentis Langobardorum 1998, S. 105 (cap. 1). Zur Origo gentis Langobardorum vgl. Cingolani 1995, S. 32 ff.; Coumert 2007, S. 153 – 176. 36 Es geht meines Erachtens nicht nur darum, dass den Goten überhaupt eine biblisch angeknüpfte Herkunft gegeben wird, wie Coumert 2007, S. 109 f. glaubt. 37 Gildas 1978, S. 97 (cap. 23); Beda 1969, S. 50 (I, 15); Historia Brittonum 1898, S. 170 ff. (cap. 31). Zu Gildas vgl. Lapidge 1984; Kerlouegan 1987; Plassmann 2006, S. 36 ff. 38 Translatio S. Alexandri 1933, S. 423.
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Identitätsstiftung und Legitimierung, die sich bei der Bibel- und Troja-Anknüpfung leichter ergibt, anderweitig kompensiert werden musste. Die Romanbindung und heilsgeschichtliche Verortung musste dann noch im Nachhinein erfolgen. Beda etwa erreicht dies, indem er die Christianisierung der Angelsachsen von Rom aus an zentraler Stelle seiner Erzählung platziert.39 In allen Fällen ist also die Ausformulierung der Herkunftserzählung mitsamt der Wanderung ohne den römisch-antiken-christlichen Hintergrund nicht denkbar, die Unterschiedlichkeit der Ausformung ist indes erklärungsbedürftig. Die identitätsstiftende Funktion der Herkunftserzählung konnte auf unterschiedliche Art erreicht werden. Die Frage ist, inwieweit die Funktion durch die Auswahl der Topoi beeinflusst wurde oder ob die Auswahl der Topoi auf unterschiedliche Herkunftsvorstellungen zurückgeht. Ist also die Auswahl vom Darstellungszweck her bestimmt – nicht notwendigerweise bewusst –, oder ist sie unterschiedlichen Herkunftsvorstellungen geschuldet? Den Goten und Langobarden würde man also eher eine Positionierung gegen die Römer zuschreiben, Franken, Burgundern, Briten, Angelsachsen eine Ordnung hin auf die Römer. Inwieweit dies spezifisch gotischen oder langobardischen Vorstellungen geschuldet ist und inwieweit den Vorstellungen der Autoren der Origo-Erzählung, ist nicht leicht zu beantworten. Zumindest bei den Langobarden ist die Skandinavienherkunft mehrfach überliefert, so dass eine Auswahl zwischen verschiedenen Topoi etwa für Paulus Diaconus vielleicht gar nicht mehr möglich war.40 Eine Verknüpfung zwischen Skandinavien und Trojamythos wäre vielleicht noch möglich gewesen, wie Dudo sie für die Normannen lieferte.41 Ebenfalls aufschlussreich ist die Art und Weise der Wanderung: Unsere frühmittelalterlichen Autoren behaupten nur sehr selten eine autochthone Herkunft, jedenfalls nicht für den Ort, an dem die gens sich etabliert hat.42 Bezeichnenderweise sind auch die Stationen der gentes vor der Reichsgründung oftmals nicht ihre Urheimat. Mindestens eine Station liegt zwischen der Urheimat und dem später angeeigneten regnum. Die lange und oftmals entbehrungsreiche Wanderung ist der Standardtopos,43 wobei antike Sagenelemente ihren Weg in die Herkunftsgeschichte fanden. Jordanes lässt die Goten mehr39 Beda 1969, S. 132 (II, 1), vgl. dazu Plassmann 2006, S. 64 – 72. Aus der Fülle der Literatur zu Beda sei hier zur Einfachheit verwiesen auf Plassmann 2006, S. 51 – 56; Coumert 2007, S. 403 – 439. 40 Vgl. hierzu oben bei Anm. 35. Dafür spricht etwa die Verwendung von Motiven aus der Origo gentis Langobardorum, die indes von Paulus anders instrumentalisiert werden, Plassmann 2006, S. 204 ff.; Coumert 2007, S. 237 – 240 über den freien Umgang von Paulus mit den vorgefunden Motiven, die allerdings dennoch verwendet werden. 41 Vgl. Dudo 1895, S. 129 (I, 1), dazu Plassmann 2006, S. 248 ff. 42 Ausnahme ist nur Gildas. 43 Vgl. Wolfram 2003, S. 176; Plassmann 2006, S. 360 f.
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mals auf der Wanderung Teile ihres Volkes verlieren: Zurückgelassene gotische Frauen werden zu Amazonen,44 vertriebene gotische Hexen zu den Stammmüttern der Hunnen.45 Paulus Diaconus berichtet, dass die Langobarden auf ihrer Wanderung den Assipitern nur entkommen seien, indem sie sich selbst als Kynokephaler, als Hundsköpfige, verkleidet hätten.46 Angesichts solcher Reminiszenzen kann eine manchmal überdeutliche Parallelisierung zur Wanderung des Volkes Israels dann kaum überraschen.47 Eine autochthone Herkunft wird nur bei den Briten behauptet, die zumindest bei Gildas als die Ureinwohner der Insel gelten.48 Schon Beda hat dieses Thema abgeändert49 und die trojanische Herkunft der Briten, mit einer Zwischenstation in Italien hat sich späterhin als Origo durchgesetzt.50 Das Thema der Wanderung zieht sich also durch und ist sicher auch der Grund dafür, dass die sogenannte Germanische Altertumskunde die Herkunftserzählungen als Zeugnisse und Belege für die tatsächlich erfolgten Wanderungen werten wollte. Dass die jeweiligen gentes eben nicht autochthon waren, sondern als kriegerische Elite von außerhalb kamen, wird keiner bestreiten. Wie sich auf der Wanderung allerdings Identität und Zusammenhalt entwickelten, ob es vor dem Kontakt mit den Römern eine Identität einzelner gentes überhaupt gegeben hat, ist zweifelhaft.51 Allerdings ist die langandauernde Identität, die Bewährung in Zeiten der Prüfung und die oftmals statische Verfasstheit unter einem König offenbar integraler Bestandteil der Vorstellung von der sagen wir einmal ›Feuertaufe‹ einer gens auf der Wanderung.52 Aufschlussreich ist, dass ausgerechnet die Goten und Langobarden, die gentes mit der skandinavischen Herkunft die intensivsten Anleihen an die antike Sagenwelt beinhalten, also die gentes, die sich durch die Herkunft gegen die Römer positionierten. Dahingegen weist die trojanische Herkunft der Briten und Franken mit Stationen in Italien, am Rhein oder in Gallien konkretere Wanderstationen auf, die Angelsachsen kommen ganz ohne Zwischenstationen aus. Die nicht-autochthone Herkunft beinhaltet naturgemäß eine Landnahme und 44 45 46 47 48
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Jordanes 1882, S. 67. Ebd., S. 89. Paulus Diaconus 1878, S. 59 f. (I, 11 und 12). Vgl. dazu Anm. 19. Gildas 1978, S. 90 (cap. 4): …ex quo inhabitata est… ist der einzige Hinweis auf die Geschichte der Einwohner vor den Römern. Eine Herkunft außerhalb Britanniens wird nicht genannt und Gildas beginnt seinen historischen Teil mit der Beschreibung der Insel (S. 89 f. [cap. 3]). Beda 1969, S. 16 (I, 1). Historia Brittonum 1898, S. 147 ff. (cap. 7 – 10). Zum Thema der Identität der gentes, die durch Rom hervorgerufen wurde vgl. etwa den Sammelband Goetz / Jarnut / Pohl 2003. Vgl. dazu Wolfram 2003, S. 22 f.; Plassmann 2006, S. 360 ff.
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Verdrängung der Ureinwohner im Moment der Ankunft, oftmals als Eroberer, nur selten als Verbündete.53 Die Eroberung wird dabei häufig kaum verbrämt, der gewalttätige Aspekt wird nicht beschönigt. Nur selten wird nach einer entschuldigenden Erklärung für die erobernde gens gesucht. In den meisten Fällen geht es nicht ums Überleben im feindlichen Umfeld, wird nicht den Ureinwohnern eine Provokation zugesprochen, sondern es wird klipp und klar ausgedrückt, dass die Eroberung des Reiches für die gens eine Möglichkeit zur Bereicherung, zur Besserstellung bedeutet: Die Langobarden kommen nach Italien, weil Narses ihnen die Früchte dieses Landes versprochen hat.54 Die Angelsachsen verdrängen die Briten, weil diese sich nicht ausreichend zur Wehr setzen können.55 Die Franken als tapferstes Volk wehren sich gegen die Römer.56 Steht also die Wanderung auf der einen Seite für die Prüfung der gens, und exemplifiziert ihre Fähigkeit zum Leiden und Durchhalten, so steht die Eroberung auf der anderen Seite für den Anspruch der gens auf eine Hegemonialstellung und auf einen besonderen Platz in der Weltordnung, einen Platz an der Sonne, um es einmal anachronistisch auszudrücken. Wenn wir die Herkunftserzählungen betrachten, bietet die gewaltsame Eroberung und das aus ihr abgeleitete Recht auf das eroberte Land offenbar eine bessere Legitimation als die autochthone Herkunft. Dies passt durchaus in die verwendeten Topoi vom Volk Israel einerseits57 und den Römern andererseits.58 Aber auch die SkandinavienHerkunft bietet eine Anknüpfung, weil die Eroberervölker Gog und Magog erst wüten und erobern müssen59 und dann den Zivilisierungsprozess durchlaufen können. Zu dieser bevorzugten Stellung der eigenen gens passt es, wenn die Überlegungen zur Herkunft sich nur auf die eigene gens beschränken. Nur in den seltensten Fällen – etwa in der sogenannten fränkischen Völkertafel60 – wird nicht nur die Frage nach der eigenen Herkunft beantwortet, sondern es werden alle Völker in eine Stammtafel der Völker eingeordnet, so dass jedes seinen heilsgeschichtlichen Platz hat und die gesamte Weltordnung erklärt wird. Dies 53 So sind Thüringer und Sachsen bei Widukind zumindest zeitweise verbündet, vgl. Widukind von Corvey 1935, S. 5 f. (I, 4 und 5), dazu Plassmann 2006, S. 270 f. Auch bei Gildas, Beda und in der Historia Brittonum sind die Sachsen zunächst mit den einheimischen Briten verbündet, vgl. Gildas 1978, S. 97 (cap. 23); Beda 1969, S. 50 (I, 15) und Historia Brittonum 1898, S. 176 ff. (cap. 36 und 37). 54 Paulus Diaconus 1878, S. 88 (II, 5). 55 Beda 1969, S. 52 (I, 15). 56 Fredegar 1888, S. 93 (III, 3): Abwehr der Römer bei deren Übersetzen über den Rhein; im Liber Historiae Francorum 1888, S. 243 f. (cap. 3 und 4): Die Franken weigern sich, Tribut an die Römer zu zahlen, werden von diesen aber geschlagen. 57 Vgl. die Eroberung Israels im Buch Josua. 58 Vergils Aeneis Buch 7 – 12, die Eroberung Latiums durch Aeneas. 59 Siehe oben Anm. 34 und 36. 60 Goffart 1983.
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gilt indes nur für die wenigsten Origo-Erzählungen. Üblicherweise wird nur die Herkunft der eigenen gens mit anschließender Wanderung ausführlich und erschöpfend berichtet. Gelegentlich äußert man sich zur Herkunft der verfeindeten und benachbarten Völker, die sich allerdings meistens nur im Hinblick auf die Eroberer-gens verstehen lässt.61 Typisches Beispiel wäre die Rückbezüglichkeit von Briten und Angelsachsen bei Beda und der Historia Brittonum62 oder die Rolle der Vandalen bei der Namengebung der Langobarden.63 Gelegentlich werden Aussagen zu verwandten Völkern gemacht: Die Franken sind laut Fredegar über ihren Stammvater mit den Phrygern und den Türken verwandt,64 die Goten über ihre ausgestoßenen Hexen, den haliurunnae, mit den Hunnen.65 Dass andere gentes in der Erklärung der eigenen gens überhaupt einen Platz haben, liegt daran, dass die Anderen speziell zur Abgrenzung von den Nostri herhalten müssen und als Gegenbild eben auch erklärungsbedürftig sind, auch wenn die Erklärung niemals so umfassend geliefert wird, wir für die eigene gens.66 Es geht eben nicht darum, die Ordnung der Völker als solche zu erklären, sondern nur die eigene. Einen Ursprung der Menschheit, einen Ursprung aller Völker finden wir im Frühmittelalter selten. Nach dem Ursprung der Menschheit, den Tacitus noch bei den Germanen erklärt haben wollte, wird gar nicht erst gesucht, wenn, dann wird nur Adam erwähnt.67 Wäre dann eine skandinavische Vorstellung ›germanischer‹ als eine biblische oder Troja-Anknüpfung? Eher nicht. Vielmehr ist die Vorstellung der Herkunft und Wanderung durch den Einfluss der schriftlichen Quellen, des Christentums und der römischen Umgebung schon so weit geprägt, dass eine solche Differenzierung nicht zu treffen ist. Wir haben gesehen, dass auch die SkandinavienHerkunft sich nicht nur aus antiken schriftlichen Quellen speist, sondern eben auch Funktionen erfüllt, die nur im Kontext eines Reiches auf ehemals römischem Boden wirklich Sinn ergeben. Diese deutliche Verankerung der Legitimitätsstiftung für die Funktion in der Gegenwart wirft schließlich die Frage auf, inwieweit die Identitätsstiftung der Legitimierung der Gegenwart zuarbeitet. Liegt es etwa für eine gens auf römischen Boden, die sich in der römischen Tradition sieht, auf der Hand, dass man sich an die Römer ansippt und eine Wanderung aus Kleinasien behauptet? Grenzen sich gentes durch eine eigene Herkunft aus dem Norden ab, die die 61 62 63 64 65 66
Plassmann 2006, S. 365 f. Vgl. dazu zusammenfassend Plassmann 2006, S. 112 ff. Paulus Diaconus 1878, S. 58 f. (I, 7 – 9). Dazu Plassmann 2006, S. 208 f. Fredegar 1888, S. 45 f. (II, 4 – 6) und S. 93 (III, 2). Jordanes 1882, S. 89. Bei Fredegar bekommen immerhin noch die Langobarden eine Origo, vgl. Fredegar 1888, S. 110 (III, 65). 67 Vgl. Angenendt 1994.
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römische Tradition ablehnen? Ganz so stringent sind die Zusammenhänge leider nicht. Zwar bieten Goten und Langobarden auf italischem Boden eine nichtrömische Herkunft gemeinsam mit einer Anknüpfung an eine sagenhafte Frühzeit in Skandinavien. Bei den Ostgoten war indes die faktische Anlehnung an die römische Tradition ungleich größer als bei den Langobarden,68 in der Herkunftserzählung spiegelt sich dies nicht wider. Ähnlich bei den Franken, die eine starke römische Anbindung in der Herkunftserzählung bieten, sich bei den legitimierenden Aspekten ihrer Herrschaft aber sehr stark von den Römern abheben und die Eigenständigkeit hervorheben – und dies bei gleichzeitiger Inanspruchnahme römischer Verwaltungsreste.69 Es lässt sich also keine klare Linie ziehen, die die einen von den anderen Herkunftserzählungen unterscheiden würde. Ein Rückbezug der realen Herrschaft auf römische Traditionen geht nicht zwangsläufig zusammen mit einer römisch-trojanischen Abstammung in der Herkunftssage. Und eine Abgrenzung von den Römern in der Herkunftserzählung bedeutet noch nicht eine Ablehnung alles Römischen in der realen Herrschaftsausübung. Der Umkehrschluss lässt sich eben leider nicht ziehen. Die Franken sind zwar eine gens, die auf römischem Boden herrschte und römische Traditionen weiterführte, sie gaben sich eine römisch-trojanische Herkunft, aber ihre Legitimierung speist sich gerade nicht aus dieser römischen Verbindung, sondern aus ihrer Eigenständigkeit. Die Ostgoten herrschten auf römischem Boden, suchten eine deutliche Anbindung an ihre römischen Vorgänger und berichten dennoch über eine skandinavische Herkunft und legitimieren sich nicht von den Trojanern her. Die jeweilige Situation der gens hat ganz klar ihre Herkunftsvorstellungen beeinflusst und gerade in Bezug auf die Legitimierung lassen sich die Strategien aus der Gegenwart des Autors erklären, aber eine bestimmte Situation hat nicht notwendigerweise eine bestimmte Vorstellung hervorgerufen und eine bestimmte Vorstellung, wie etwa die der Eigenständigkeit der gens, muss sich nicht notwendigerweise im gleichen Topos äußern. Dies scheint mir ein wichtiges Ergebnis: Selbstverständlich sind die Herkunftsvorstellungen einer gens geprägt vom christlich-antiken Umfeld, aber dies bedeutet nicht, dass es sich nur auf eine bestimmte Art und Weise ausdrücken konnte. Es bedeutet auch nicht, dass die Herkunftsvorstellung einiger gentes germanischer waren als die anderer. Vielmehr ist die Palette, die ein frühmittelalterlicher Autor zur Verfügung hatte, relativ breit, und an welche Quellen und Vorbilder er sich hielt, bewegte sich in einem sehr viel weiteren Rahmen von 68 Zur Anknüpfung an römische Traditionen bei den Goten vgl. Wolfram 1990, S. 284 ff.; Moorhead 1992; Heather 1993; Amory 1997. 69 Zur Kontinuität im Frankenreich vgl. Goetz 2003.
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möglichen Bezugspunkten, als wir uns das heute oft klar machen. Eine Trojaabkunft bedeutet rein oberflächlich gesehen eine enge Anbindung an die Römer, aber die Art und Weise, wie sie dargestellt wurde, konnte eben auch die Überlegenheit über die Römer darstellen. Also konnte mit einer skandinavischen Herkunft derselbe Effekt erzielt werden wie mit einer römisch-trojanischen. Einheitliche Herkunftsvorstellung hatten die germanischen gentes nicht, was wir festhalten können, ist allein die Tatsache, dass der Bezugsrahmen ähnlich war. Es galt ein Verhältnis zu den Römern zu definieren, was man mit der Abstammung tat. Es galt die Ehrwürdigkeit und Auserwähltheit der eigenen gens im Verhältnis zu Gott zu betonen, was man anhand der Bewährung auf der Wanderung tun konnte und es galt die Eroberung und die Herrschaft im eigenen regnum unter einem König zu legitimieren und zu rechtfertigen, was man im Moment der Ankunft und Eroberung erreichen konnte. Die Notwendigkeit für diese causa scribendi ergab sich aus der spezifischen Situation in der Transformation der römischen Welt. Wir kommen nicht umhin, zu konstatieren, dass die Vorstellungen germanischer gentes von ihrer Herkunft, Wanderung und Reichsgründung geprägt waren von ihrer Konfrontation und ihrer Nachahmung des römischen Vorbildes.
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Michael Richter †
Gründungsmythen in Wales, 9. bis 12. Jahrhundert Meinem Lehrer der walisischen Sprache, Thomas Jones (1913 – 1971), in Dankbarkeit gewidmet
Die Geschichte der Waliser setzt als Teilmenge der Geschichte der Briten mit dem Abzug der römischen Legionen aus Britannien im frühen 5. Jahrhundert ein. Die Gründungsmythen der Waliser wandelten sich im Lauf der Zeit mit der geschichtlichen Entwicklung. Die Eroberung von Wales durch die Engländer im späten 13. Jahrhundert stellt dabei eine wichtige geschichtliche Zäsur dar, die aber den letzten Gründungsmythos nicht wesentlich beeinflusste.1 Wenn ich bei der Beschäftigung mit unserem Thema mit Giraldus Cambrensis (1146 – 1223) beginne,2 mag der Eindruck entstehen, ich zäume das Pferd vom Schwanz auf. Tatsächlich ist Giraldus der späteste Autor des Mittelalters, der sich mit dem Thema befasst. Er tut das prägnant und man möchte sagen in klassischer Weise in seiner Descriptio Kambriae aus dem letzten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts. Diesen Text gilt es in mehrfacher Hinsicht zu kontextualisieren, was umso leichter fällt, als wir uns in einer Zeit befinden, in der die Quellen reich fließen. Ich möchte mich dabei zuerst der politischen Situation in Wales zuwenden, die, wie wir sehen werden, für Giraldus von ambivalenter Bedeutung war. Die entscheidenden und einschneidenden Entwicklungen waren die langfristigen Folgen der normannischen Eroberung von England. Vor 1100 war Wales weithin sich selbst überlassen; um 1200 war mindestens die Hälfte von Wales unter die Herrschaft der sog. Marcher Lords gefallen, Familien aus dem Umkreis der normannischen Eroberer, die nach und nach kleinere walisische Herrschaften übernahmen (deren Leiter oft noch Könige hießen, bald aber Fürsten). Die Herrschaften der Marcher Lords waren relativ unabhängig von der englischen Krone.3 Oft heirateten die Marcher Lords in einheimische walisische Familien ein. In diese Konstellation wurde Giraldus de Barry, so sein Familienname, um 1 Vgl. Davies 1982; Davies 1987. 2 Vgl. Jones 1950; Lapidge / Sharpe 1985, Nr. 52 – 75. 3 Vgl. Edwards 1956; vgl. Rees 1972, plate 29.
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Michael Richter †
1146 geboren. Er erblickte das Licht der Welt in Manorbier Castle nahe Pembroke im Südwesten von Wales (allein aus diesem Grund ist Manorbier auf unserer Karte verzeichnet); er hatte einen Vater normannischer Herkunft und eine Waliserin als Mutter. Seine Familie war somit repräsentativ für die Marcher Lords. Seine Abstammung bereitete ihm zeit seines Lebens in seinem beruflichen öffentlichen Werdegang Schwierigkeiten, und es ist in der Tat nicht einfach, seine wandelnden Loyalitäten in seinem Lebenslauf klar nachzuzeichnen.4 Für uns ist von Bedeutung, dass er einer der führenden mittelalterlichen walisischen Autoren lateinischer Sprache wurde, und eines seiner Werke, die bedeutende Descriptio Kambriae, enthält die zu behandelnde Fassung des walisischen Gründungsmythos seiner Zeit. Das Werk entstand in dem letzten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts als Produkt einer Reise durch Wales im Jahr 1188, als Giraldus in Begleitung des Erzbischofs von Canterbury, Baldwin von Ford, den Kreuzzug predigte. Er tat dies mit Billigung des englischen Königs Heinrichs II., und sicher spielte dabei eine Rolle, dass er verwandtschaftliche Verbindungen zu walisischen Fürstenfamilien hatte. Wie er selbst berichtet, predigte er in lateinischer Sprache; der Gruppe war ein walisischer Dolmetscher zugeordnet.5 In wie weit Giraldus selbst der walisischen Sprache mächtig war, bleibt unklar. Der eigentliche Bericht der Reise ist im Itinerarium Kambriae festgehalten; die Descriptio mit dem Gründungsmythos war sozusagen eine Zugabe. Literaturgeschichtlich wurde das zweite Werk wirkungsmächtiger. Es sei darauf hingewiesen, dass in I, vii der Descriptio die komplizierte politische Situation in Wales am Ende des 12. Jahrhunderts nicht thematisiert wird: Wales gehörte den Walisern, so einfach war das. Auch gibt es keinen Hinweis darauf, ob sich Giraldus in irgendeiner Weise mit den Walisern identifizierte. In der vorliegenden verbindlichen Edition von 1868 von J. F. Dimock gibt es keinen Hinweis auf irgendwelche Quellen für die Fassung des Gründungsmythos von Giraldus. Es gibt nun eine neuere englische Übersetzung der walisischen Werke des Giraldus in der renommierten Reihe der Penguin Classics. Sie stammt von Lewis Thorpe: Gerald of Wales. The Journey through Wales; The Description of Wales, Harmondsworth 1978. Die Übersetzung selbst ist von ausnehmend schlechter Qualität, was nicht bedeutet, dass sie nicht vielfältig zitiert wird. Für uns muss sie erwähnt werden, weil man dort eine Aussage über den Ursprung des giraldianischen Gründungsmythos der Waliser findet: ›All this paragraph except the last two sentences is taken bodily from Geoffrey of Monmouth, The history of the kings of Britain, II, 1.‹ (p. 231) Ich habe die beiden Texte unten in der Appendix parallel aufgeführt. 4 Vgl. Richter 1976. 5 Vgl. Richter 2008.
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Giraldus selbst nun macht in seinem Text deutlich, welch eine Distanz er zu Geoffrey of Monmouth hatte, die eine Entlehnung an sich schon unwahrscheinlich gemacht hätte. Der Abschnitt verdient aus mehreren Gründen eine Wiedergabe: Wallia vero non ab Walone duce, vel Wendolena regina, sicut fabulosa Galfridi Arthuri mentitur historia; quia revera neutrum eorum apud Kambros invenies; sed a barbara potius nuncupatione nomen illud inolevit. Saxones enim, occupato regno Britannico, quoniam lingua sua extraneum omne Wallicum vocant, et gentes has sibi extraneas Walenses vocabant. Et inde, usque in hodiernum, barbara nuncupatione et homines Walenses, et terra Wallia vocitatur. (Descr. Kambriae I, vii)
Giraldus hielt also Geoffreys Historia Regum Britanniae für eine Lügengeschichte. Dazu gleich mehr. Zugleich bietet er in diesem Absatz eine akzeptable Etymologie der sächsischen Bezeichnung Wallia an. Was Giraldus nicht thematisiert ist das Phänomen, dass Waliser selbst dazu übergegangen waren, ihr Land (oder zumindest Teile desselben) mit diesem sächsischen Begriff zu bezeichnen. Es ist bisher leider noch nicht untersucht worden, seit welcher Zeit diese Fremdbezeichnung durch Waliser benutzt wurde. Diese Arbeit kann hier nicht geleistet werden und ist vielleicht wegen der kargen Quellenlage vor dem 12. Jahrhundert gar nicht zuverlässig zu machen. Auf jeden Fall aber verweist uns Giraldus auf Geoffrey of Monmouth, der seinerseits einen Gründungsmythos der Waliser verfasst hatte. Bevor wir diese beiden Fassungen vergleichen, sind ein paar Bemerkungen über Geoffrey of Monmouth am Platz. Geoffrey selbst ist ein gigantisches Thema, da er für die Verbreitung des Arthurstoffs ab dem 12. Jahrhundert zentral verantwortlich ist, der zur europäischen und schließlich zur Weltliteratur wurde.6 Dies ist gottlob nicht unser Thema. Aber einige Bemerkungen zu Geoffrey und seiner Historia Regum Britanniae sind doch angebracht. Geoffrey starb im Jahr 1154 als Bischof von St Asaph in Nordwales. Giraldus war damals acht Jahre alt. Monmouth ist eine Siedlung an der Südwestgrenze zwischen England und Wales (s. Karte). Ob Geoffrey daher stammte, ist indes ungewiss. Manche halten ihn für einen gebürtigen Bretonen. Er ist in den 1140er Jahren in Oxford nachgewiesen. Es ist nicht sicher, ob er sein Bistum je besucht hat.7 Seine Historia Regum Britanniae (letztens auch als De gestis Britonum bezeichnet) wird generell in die erste Hälfte der 1130er Jahre datiert. Es ist ein Monumentalwerk, das die Geschichte der Briten von den Anfängen bis ins ausgehende 7. Jahrhundert zum Thema hat. Es schließt mit der Zeit, als die 6 Grundlegend Jones 1964; auch Roberts 1976; Lapidge / Sharpe 1985, Nr. 39 – 40; Bromwich 1991. 7 Vgl. Richter 1973, S. 47; Geoffrey wurde am 24. Februar 1151 in Lambeth zum Bischof geweiht.
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Briten auf der Insel vor den Sachsen auf dem Rückzug waren. Seine Geschichte endet mit einer starken eschatologischen Dimension, denn die Briten würden irgendwann in der Zukunft wieder die Oberhand über die ganze Insel gewinnen. Aber das Werk enthält auch zahlreiche Anklänge an die walisische Geschichte bis in seine Lebzeiten im 12. Jahrhundert. Es ist völlig unklar, wie er diesen Stoff erworben hat, aber seine Verarbeitung ist äußerst beeindruckend, auch wenn die Historia nicht ›Geschichte‹ ist, wie sie Giraldus verstand (beachtenswert das Verb mentiri, um das Werk durch Giraldus zu charakterisieren). Die Überlieferung des Werks ist äußerst komplex und bis heute nicht endgültig geklärt.8 Auf jeden Fall aber war der Stoff Giraldus am Ende des 12. Jahrhunderts bekannt und vertraut. Das ist für uns entscheidend. In diesem Zusammenhang ist wichtig herauszustreichen, dass Geoffrey angeblich seine Historia nicht selbständig verfasst hatte, sondern dass sie die lateinische Übersetzung einer Vorlage in der Volkssprache darstellt. Man findet diesen Hinweis nicht in allen Fassungen dieses Werkes: Reges autem eorum, qui ab illo tempore in Gwalliis successerunt, Karadoco Llangarvanensi, contemporaneo meo in materia scribendi permitto. Reges vero Saxonum Willelmo Malmesberiensi et Henrico Huntedunensi, quos de regibus Britonum tacere iubeo, cum non habeant librum illum Britannici sermonis, quem Walterus Oxinefordensis archidiaconus, ex Britannia advexit, quem, de historia eorum veraciter editum, in honore praedictorum principum hoc modo in Latinum sermonem transferre curavi. (HRB XI, 17).
In diesem Text ist das Wort Britannicus sowie Britannia schwierig, denn es kann sich sowohl auf das insulare Britannien, nämlich Wales, als auch auf das festländische Britannien, nämlich die Bretagne, beziehen. ›Volkssprachlich‹ bedeutete demnach ›walisisch‹ oder ›bretonisch‹. In der literarischen Tradition beider Gebiete wäre ein Text eines solchen Umfangs ohne Parallele, aber auch literaturgeschichtlich ist der angebliche Verweis auf eine schriftliche Vorlage ein häufiger Topos. Es ist wohl plausibler, dass Geoffrey seinen Text ohne schriftliche Vorlage verfasst hat, was die Sache als solche nicht einfacher macht. Aber davon brauchen wir gottlob nicht zu handeln. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass der kurze Abschnitt über den Gründungsmythos der Waliser in der HRB aus der Feder des Geoffrey stammt, somit etwa ein halbes Jahrhundert älter ist als der vergleichbare Abschnitt des Giraldus. Es ist nun Zeit, diese beiden Textstellen näher anzusehen und zu vergleichen. Die Grundelemente sind dabei dieselben. In unbestimmter Vorzeit gab es den Gründungsheros der Briten, einen Mann namens Brutus, nach Giraldus ein Mitglied der Trojakämpfer. Er kam nach der fernen Insel, die nach ihm fortan 8 S. Appendix, Geoffrey of Monmouth.
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Britannien hieß. Von einer Vorbevölkerung ist nirgendwo die Rede. Brutus hatte drei Söhne, Locrinus, Albanactus und Kamber. Nach dessen Tod wurden diese drei Söhne die namengebenden Herrscher der drei Teilgebiete Britanniens, Loegria, Albania und Kambria. Die Grenzen der drei Gebiete werden gleicherweise durch die Flüsse Severn und Humber bestimmt. In unwesentlichen Einzelheiten gibt es allerdings Unterschiede zwischen Geoffrey und Giraldus, die es ausschließen, dass Giraldus den Abschnitt von Geoffrey übernommen hat. Andererseits ist bezeichnend, dass sich beide Autoren auf ihre Gegenwart bezogen: Geoffrey auf die einheimische Bezeichnung der Briten als Kembre, Giraldus korrekter als Kambri. Hinzu kommt Geoffreys Verweis auf die gegenwärtige Bezeichnung für Albania: Scocia. Der Herausgeber der Descriptio Kambriae, einer Edition, die beinahe 150 Jahre alt ist, gibt für diesen Textteil keine Quellen an. Für mich ist die plausibelste Erklärung, dass Giraldus sich hier auf die allgemein bekannte und weit verbreitete mündliche Tradition seiner Heimat bezog. Ich möchte dabei in seinem Text den Begriffen patria und patriotae keine besondere Bedeutung zuweisen. Wir verlassen damit das 12. Jahrhundert, in dem der Gründungsmythos der Waliser voll ausgearbeitet in Erscheinung tritt, und wenden uns dem einzigen greifbaren früheren Stadium zu. Die Historia Brittonum9 bietet die früheste mythologische Erklärung der Herkunft der Briten als – unausgesprochen – früheste Bewohner der Insel. Historia Brittonum: Si quis scire voluerit, quo tempore post diluvium habitata est haec insula, hoc experimentum bifarie inveni. In annalibus autem Romanorum sic scriptum est. Aeneas post Troianum bellum cum Ascanio filio suo venit ad Italiam et superato Turno, accepit Laviniam filiam Latini …. in coniugium et post mortem Latini regnum obtinuit Romanorum vel Latinorum. Aenaeus autem Albam condidit et postea uxorem duxit et peperit filium nomine Silvium. Silvius autem duxit uxorem et gravida fuit. … In nativitate illius mulier mortua est et nutritus est filius et vocatum est nomen eius Bruto. Post multum intervallum … ad istam pervenit insulam, quae a nomine suo accepit nomen, id est Brittanniam et implevit eam cum suo genere et habitavit ibi. Ab illo autem die habitata est Brittannia usque in hodiernum diem.
Im Gegensatz zu den zuvor besprochenen Texten wird hier die Eroberung von Alba (= Britannien, die ältere Bezeichnung) bereits dem Aeneas zugeschrieben. Dieser war am Trojanischen Krieg beteiligt gewesen und hatte vor Alba in Italien Station gemacht. Der letzte Satz macht deutlich, dass der Text in erheblichem zeitlichem Abstand zu den beschriebenen Ereignissen verfasst wurde. Für die 9 Lapidge / Sharpe 1985, Nr. 127 – 134.
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ursprüngliche Abfassung des Textes wird die Zeit um 829/830 angenommen. Autor und Entstehungsort sind nicht bekannt (in manchen Fassungen wird das Werk einem gewissen Nennius zugeschrieben). Zu der Zeit waren in einem Großteil Britanniens längst die Sachsen tonangebend, die Briten in Randzonen abgedrängt. Es wird nicht verwundern, dass die handschriftliche Überlieferung der Historia Brittonum äußerst komplex ist. Dieses Problem zu lösen hat sich seit seiner Dissertation David N. Dumville zur Aufgabe gemacht. Es sieht derzeit nicht danach aus, als würde er diese Aufgabe abschließen. Indes ist bemerkenswert, dass es bei den Briten möglich war, etwa 200 Jahre nach Gildas einen ausführlichen Prosatext in lateinischer Sprache abzufassen. Dieser ging auch in die unabhängig davon entstandene lateinisch-walisische Chronistik ein, deren frühester Vertreter, die Annales Cambriae A, erst jüngst von David Dumville neu ediert worden ist.10
Appendix 1b, Geoffrey, Historia Regum Britanniae Variant Version II, 2 Cognoverat autem Brutus Innogen, uxorem Bruti filio. Brutus etenim ab Enea, suam et ex ea genuit tres filios, quorum mediantibus avo Ascanio et patre Silvio, nomina erant Locrinus, Albanactus, descendens, et Trojanorum reliquias, qui in Kamber. Mortuo autem Bruto, vicesimo Grecia detenti fuerant, in occiduam hanc quarto anno adventus sui in Britaniam, insulam ducens, cum annis non paucis sepelierunt eum filii sui infra urbem quam feliciter regnasset, et tam terrae quam genti condiderat et diviserunt regnum Britanniae de suo nominee nomina dedisset, in extremo inter se et habuit quisque partem suam. tandem positus articulo, tribus filiis suis Locrinus, qui et primogenitus, sortitus est regnum Britanniae totale divisit. Primo et eam partem quae postea, de nomine suo, primaevo, scilicet Locrino, medium illud et appellata est Loegria. Kamber autem meditullium inter Humbrum et Sabrinam; partem illam quae est ultra Sabrinum quod et ab eius nomine Loegria vocatur. flumen, quae nunc dicitur Wallia, sed de Juniori vero, Albanacto, totam trans nomine suo prius Kambria nomen retinuit. Humbrum insulae partem; quae ab eius Unde adhuc gens illa lingua Britannica nomine Albania dicitur. Medio vero, sese Kembre appellat. Albanactus iunior scilicet Kambro, totam trans Sabrinam possedit partem quae de nomine suo regionem; quae similiter et eius nomine Albania dicta est, sed nunc Scocia Kambria nomen accepit. Hinc igitur appellatur. proprie et vere patria Kambria, hinc patriotae Kambri dicuntur, vel Kambrenses. 1a, Giraldus, Descriptio Kambriae I, vii Unde dicta sit Kambria, et unde Wallia Dicta est autem Kambria a duce Kambro,
10 Vgl. Dumville 2002.
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Michael Richter †
Roberts, Brynley, F., »Geoffrey of Monmouth and Welsh Historical Tradition«, Nottingham Medieval Studies (20) 1976, S. 29 – 40. (Thomas Jones hat, trotz mehrerer Vorarbeiten, nie eine Monographie über Giraldus verfasst. Sein großer Beitrag zur mittelalterlichen walisischen Geschichte ist die mehrbändige Edition der walisischen Fürstenchronik Brut y Tywysogyon).
Sabine H. Walther
Ingólfr war der berühmteste aller Landnehmer – Gründungsmythen im hochmittelalterlichen Island
Wer sich mit mittelalterlicher isländischer Literatur beschäftigt, leidet an Gründungsmythen keinen Mangel: die Schaffung eines eigenen Gesetzes, die Gründung des AlÁings 930, die Annahme des Christentums im Jahre 1000 – all diese Ereignisse definieren in der Erinnerung die isländische Nation. Doch soll es hier weniger um diese prägenden Taten gehen als vielmehr um den eigentlichen Anfang des isländischen Gemeinwesens, die sogenannte Landnahme (isländisch: landnma), und den identitätsstiftenden Mythos des Siedlers. Der erste Siedler mit dem Namen Ingûlfr soll sich 874 aus Norwegen aufgemacht und auf der Insel im Atlantik niedergelassen haben. Diese Landnahme wird fortgesetzt durch die Ansiedlung weiterer bäuerlicher Familien, die schließlich ein einzigartiges Gemeinwesen ohne König – ja gänzlich ohne Exekutive – ausbilden, zusammengehalten durch ein gemeinsames Gesetz, die Institution des AlÁing und das Godentum.1 Freilich hatte dieses anachronistische Gebilde nicht allzu lange Bestand: Im Jahre 1262 geriet Island unter die Gewalt der norwegischen Krone. Es gibt zahlreiche Texte, die sich mit der Erinnerung an die Zeit der Besiedlung auseinandersetzen, viele davon entstanden erst nach der Integration ins norwegische Königreich.
1 Vgl. Beck 1994, S. 207: »In der sozialen Organisation des frühen isländischen Gemeinwesens spielte ein gemeinsames Recht eine wichtige Rolle. Dieses Recht war kein ›erfundenes‹ Recht, sondern im Rückgriff auf norwegische Grundlagen (in welcher Form auch immer) geschaffen. Deutlich ist aber auch, daß diese Rechtsordnung in eine andere Richtung führte als in Norwegen, das in seiner hierarchischen Struktur die Landschaftsrechte schließlich außer Kraft setzte. Die isländischen Landnahmemänner legten den Grund für eine Ordnung, die sich als eigenständiges Experiment erweisen sollte. Ihre Eigenart zeigte sich insbesondere in der Einrichtung eines alÁingi und der Etablierung einer Godenordnung.« Zur Godenordnung, die ein persönliches Rechtverhältnis zwischen Gode und Áingmenn darstellt, s. ebd., S. 208: »Das GoÅorÅ ruhte […] auf mannaforrÅ, einer persönlichen Anhängerschaft, und nicht auf einer territorialen Ordnung. Das Godentum war wie ein Sachobjekt vererb- und veräußerlichbar. In gewissem Sinn erinnert das an die norwegischen Kleinherrschaften […]. Die isländischen Siedler führten aber insofern eine Neuerung ein, daß sie keine Hierarchie damit verbanden […].«
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Wenn hier nun die gründungsmythischen Vorstellungen betrachtet werden sollen, stellt sich sofort die Frage: Wie ging man mit dem Verlust der Unabhängigkeit um? Erzählt man den alten Gründungsmythos trotzig weiter? Oder findet man gar einen neuen Gründungsmythos? Für den Begriff des Mythos gibt es keine allgemein anerkannte Definition. Hier soll eine Definition von Walter Burkert zugrundegelegt und mit weitergehenden Überlegungen zum kulturellen Gedächtnis von Jan Assmann verbunden werden. Nach Burkert ist der Mythos eine traditionelle, überindividuelle Erzählung, die im Gegensatz etwa zum Märchen einen Wirklichkeitsanspruch besitzt.2 Jan Assmann schreibt: Das kulturelle Gedächtnis richtet sich auf Fixpunkte in der Vergangenheit. Auch in ihm [wie im kommunikativen Gedächtnis] vermag sich Vergangenheit nicht als solche zu erhalten. Vergangenheit gerinnt hier vielmehr zu symbolischen Figuren, an die sich die Erinnerung heftet. Die Vätergeschichten, Exodus, Wüstenwanderung, Landnahme, Exil sind etwa solche Erinnerungsfiguren, wie sie in Festen liturgisch begangen werden und wie sie jeweilige Gegenwartssituationen beleuchten. Auch Mythen sind Erinnerungsfiguren: Der Unterschied zwischen Mythos und Geschichte wird hier hinfällig. Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte. Man könnte auch sagen, daß im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird. Mythos ist eine fundierende Geschichte, eine Geschichte, die erzählt wird, um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erhellen.3
Der Mythos ist also nach Assmann eine Erzählung, die sich auf die Vergangenheit bezieht, jedoch in der Gegenwart von Bedeutung ist und in die Zukunft wirken soll. Für den Bezug zur Vergangenheit macht er zwei »Funktionen« aus: eine fundierende und eine kontrapräsentische. Die fundierende Funktion »stellt Gegenwärtiges in das Licht einer Geschichte, die es sinnvoll, gottgewollt, notwendig und unabänderlich erscheinen läßt«.4 Die kontrapräsentische Funktion […] geht von Defizienz-Erfahrungen der Gegenwart aus und beschwört in der Erinnerung eine Vergangenheit, die meist Züge eines heroischen Zeitalters annimmt. Von diesen Erzählungen her fällt ein ganz anderes Licht auf die Gegenwart: Es hebt das Fehlende, Verschwundene, Verlorene, an den Rand Gedrängte hervor und macht den Bruch bewußt zwischen ›einst‹ und ›jetzt‹. Hier wird die Gegenwart weniger fundiert als vielmehr im Gegenteil aus den Angeln gehoben oder zumindest gegenüber einer größeren und schöneren Vergangenheit relativiert.5
2 3 4 5
Vgl. Burkert 1987, S. 9. Assmann 2005, S. 52. Assmann 2005, S. 78 f. Assmann 2005, S. 79.
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1.
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Der Anfang der Besiedlung Islands in Íslendingabók und Landnámabók
Grundlegend in vielerlei Hinsicht sind zwei Werke, die ziemlich am Anfang der isländischen Literatur stehen: die slendingabûk und die Landnmabûk. Die Entstehung beider Werke ist mit dem Namen des Gelehrten Ari Æorgilsson verknüpft. Die slendingabûk (in den Handschriften: Libellus Islandorum) soll von Ari um 1125 geschrieben worden sein. Nach einem kurzen Prolog und der Genealogie Harald Schönhaars, in dessen Regierungszeit die Besiedlung Norwegens fiel, und der Aufzählung der 10 capitula des Werks beginnt der Haupttext folgendermaßen: Incipit libellus Islandorum. I. KAPTULI sland byggÅisk fyrst y´r Norvegi do˛gum Haralds ens hrfagra, Halfdanarsonar ens svarta, Áann tÅ – at ætlun ok to˛lu Áeira Teits fûstra mns, Áess manns es ek kunna spakastan, sonar sleifs byskups, ok Æorkels fo˛ÅurbrûÅur mns Gellissonar, es langt munÅi fram, ok ÆûrÅar Snorradûttur gûÅa, es bæÅi vas margspo˛k ok ûljfflgfrûÅ, – es varr Ragnarssonr loÅbrûkar l¦t drepa Eadmund inn helga Englakonung; en Áat vas sjau tegum ens nunda hundraÅs eptir burÅ Krists, at Áv es ritit es so˛gu hans. Ingolfr h¦t maÅr nûrrœnn, es sannliga es sagt at fœri fyrst ÁaÅan til slands, Á es Haraldr enn hrfagri vas sextn vetra gamall, en annat sinn fm vetrum sÅarr ; hann byggÅi suÅr Reykjarvk. Æar es Ingolfsho˛fÅi kallaÅr fyr austan MinÁakseyri, sem hann kom fyrst land, en Áar Ingolfsfell fyr vestan O ˛ lfoss, es hann lagÅi sna eigu sÅan. Áann tÅ vas sland viÅi vaxit miÅli fjalls ok fjo˛ru. Æ vru h¦r menn kristnir, Áeir es NorÅmenn kalla papa, en Áeir fûru sÅan braut, af Áv at Áeir vildu eigi vesa h¦r viÅ heiÅna menn, ok l¦tu eptir bœkr rskar ok bjo˛llur ok bagla; af Áv mtti skilja, at Áeir vru menn rskir. En Á varÅ fo˛r manna mikil mjo˛k fflt hingat y´r Norvegi, til Áess unz konungrinn Haraldr bannaÅi, af Áv at hûnum Áûtti landauÅn nema. […] Sv sagÅi Æorkell oss Gellissonr.6 (Island wurde zuerst von Norwegen aus besiedelt in den Tagen Harald Schönhaars, des Sohns Halfdans des Schwarzen, in jener Zeit – nach der Meinung und dem Bericht der Familie meines Ziehbruders Teit, des Mannes, den ich als klügsten kenne, des Sohns Bischof Isleifs, sowie Æorkell Gellisons, meines Onkels, der sich weit zurückerinnerte, und ÆûrÅs, der Tochter des Goden Snorri, die beides war, sehr klug und zuverlässig – als varr, der Sohn von Ragnarr LoÅbrûk, König Edmund den Heiligen, den König der Engländer, erschlagen ließ, und es war im 70. Winter des 9. Jahrhunderts [= 870] nach der Geburt Christi, wie es geschrieben steht in seiner Saga7. Ingûlfr hieß ein Norweger, von dem glaubwürdig erzählt wird, dass er zuerst von dort nach Island gefahren sei, als Harald Schönhaar sechzehn Jahre alt war, aber das zweite 6 slendingabûk. Landnmabûk 1968, slendingabûk, Kap. I, S. 4 – 6. 7 Gemeint ist wohl die Passio Sancti Edmundi des Abbo Floriacensis (geschrieben um 980).
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Mal wenige Jahre später ; er siedelte im Süden, in Reykjavk. Dort heißt es Ingûlfsho˛fÅi, östlich von MinÁakseyri, wo er zuerst an Land kam, aber dort [heißt es] Ingûlfsfell westlich von O ˛ lfoss, wo er danach seinen Besitz nahm. In jener Zeit war Island mit Wald bewachsen zwischen Gebirge und Strand. Da waren hier Christen, die die Nordmänner »Papar« nennen; aber sie fuhren dann fort, weil sie hier nicht mit Heiden sein wollten, und sie ließen irische Bücher zurück und Glocken und Krummstäbe; daraus konnte man sehen, dass sie Iren waren. Aber es entstand ein sehr großer Zug von Menschen hierher aus Norwegen, bis König Harald es verbot, weil ihm schien, es käme zu einer Entvölkerung des Landes. […] So sagte uns Æorkell Gellisson.)8
Soweit das erste Kapitel Fr slands byggÅ – »Von Islands Besiedlung«. Davor steht die bereits erwähnte Übersicht über die Kapitel, die einen guten Eindruck des knappen Werkes zu geben vermag: Fr slands byggÅ i. Fr landnmsmo˛nnum ii ok lagasetning. Fr alÁingissetning iii. Fr misseristali iv. Fr fjûrÅungadeild v. Fr Grœnlands byggÅ vi. Fr Áv, es kristni kom sland vii. Fr byskupum ffltlendum viii. Fr sleifi byskupi ix. Fr Gizuri byskupi ‹x›.9 (1. Von Islands Besiedlung, 2. Von den Landnahmemännern und der Gesetzgebung, 3. Von der Errichtung des AlÁings, 4. Von der Jahresberechnung, 5. Von der Einteilung in Viertel, 6. Von der Besiedlung Grönlands, 7. Davon, wie das Christentum nach Island kam, 8. Von den fremden Bischöfen, 9. Von Bischof sleifr, 10. Von Bischof Gizurr.)
In der slendingabûk wird die Besiedlung Islands in die Regierungszeit Harald Schönhaars datiert; als Zeitpunkt werden die 870er Jahre angegeben. Man erfährt den Namen des ersten Siedlers: Ingûlfr. Ferner seien die ersten Norweger auf einer Insel gelandet, die nicht unbewohnt war. Sie seien dort auf Iren gestoßen, christliche Iren, die aber nach dem Bericht der slendingabûk bald von sich aus das Weite gesucht hätten. Die Geschehnisse der Besiedlungszeit, aber auch die anderen wichtigen Ereignisse wie der Beginn der Gesetzgebung, die Errichtung des AlÁings, die Einführung des Christentums, die ersten Bischöfe, die hier nur durch die Überschriften skizziert wurden, liegen für Ari, der die slendingabûk um 1125 geschrieben haben soll, in beträchtlicher zeitlicher Entfernung. In der Tat liegt schon die Einführung des Christentums mehr als 80 Jahre zurück, die drei bis 8 Übersetzung der Verfasserin, ebenso alle weiteren Übersetzungen. 9 slendingabûk. Landnmabûk 1968, slendingabûk, S. 4.
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vier Generationen also, die die Oral History im Allgemeinen zurückreicht.10 Drei Gewährsleute führt er für die Glaubwürdigkeit seiner Erzählung an. Isländische Schriftquellen aus der Besiedlungszeit gibt es nicht – die Siedler waren illiterat. Erst nach der Annahme des Christentums im Jahre 1000 entsteht Schriftlichkeit auf Island. Die ersten erhaltenen Handschriften datiert man um 1150. Die slendingabûk ist leider erst in Handschriften des 17. Jahrhunderts erhalten. Die Haupthandschriften AM 113 a fol. und AM 113 b fol. sollen jedoch Abschriften eines um 1200 entstandenen, heute verlorenen Kodex sein.11 Der zeitliche Abstand der Niederschrift zu den Ereignissen macht den Quellenwert sehr zweifelhaft. Man könnte das gesamte Werk als einen buchgewordenen Gründungsmythos betrachten,12 in dem alle wichtigen Institutionen des Gemeinwesens von ihrem Ursprung her erklärt werden. Man kann davon ausgehen, dass diese Erzählungen im kollektiven Gedächtnis von der Gegenwart her rekonstruiert wurden.13 Das zweite schon erwähnte Werk, die Landnmabûk, fällt ebenfalls in die Kategorie des buchgewordenen Gründungsmythos. Das Werk beginnt mit einem knappen Prolog, in dem neben der Erwähnung von Name und Lage der Insel bei Beda kurz die Tatsache der irischen Vorbevölkerung angesprochen wird, übrigens mit ganz ähnlichen Worten wie in der slendingabûk. Die Landnmabûk geht im Ursprung möglicherweise ebenfalls auf Ari Æorgilsson zurück, ist also ebenfalls zu Beginn des 12. Jahrhunderts entstanden.14 Um 1220 wurde sie durch Styrmir Krason erweitert. Die ursprüngliche Version sowie die eben erwähnte Erweiterung, genannt Styrmisbûk, sind nicht erhalten. Unter den erhaltenen Handschriften, zwei davon stammen aus dem Mittelalter, können fünf Redaktionen15 unterschieden werden, deren älteste, die Sturlubûk, ca. 1275 – 80 von Sturla ÆûrÅarson kompiliert wurde; sie ist in einer Handschrift des 17. Jahrhunderts erhalten. Diese Redaktion (S) soll hier näher betrachtet werden. Nach der schon skizzierten Einleitung berichtet sie von den ersten Skandinaviern, die auf Island gelandet sind. Der erste soll ein Wikinger namens Naddoddr gewesen sein. Durch Zufall war er auf Island gelandet, als er auf dem Weg von Norwegen zu den Färöern abgetrieben wurde. Als nächster wird Ga10 11 12 13 14 15
Vgl. Assmann 2005, S. 48 – 51. Vgl. Jakob Benediktsson 1993, S. 332. Vgl. Hermann 2007, S. 19. Vgl. Assmann 2005, S. 41 f. Vgl. Glauser 1991, Sp. 1670 f. Sturlubûk: ca. 1275 – 80 von Sturla ÆûrÅarson verfasst (Hs.: 17. Jh.); Hauksbûk: ca. 1306 – 08 von Haukr Erlendsson († 1334) geschrieben; Melabûk: Anfang 14. Jh. in Melar (Westisland) entstanden; SkarÅsrbûk: spätestens 1636 aus Sturlubûk und Hauksbûk kompiliert; ÆûrÅarbûk: vor 1670 enstanden als Kompilation von Melabûk und SkarÅsrbûk, vgl. Glauser 1991, Sp. 1670 f.
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rÅarr Svvarsson genannt, ein Schwede. Er fuhr nun absichtlich nach Island, baute auch ein Haus, kehrte aber im nächsten Frühjahr nach Norwegen zurück. Einer seiner Leute namens Nttfari wurde samt Knecht und Magd mit einem Boot abgetrieben und siedelte sich auf Island an; er gilt aber nicht als Siedler, vermutlich wegen seines sozialen Status. Wohl mit Siedlungsabsicht – denn er hatte Vieh dabei – machte sich Flûki VilgerÅarson auf die Reise, mit ihm kamen zwei Männer namens Æûrolfr und Herjûlfr. Leider überlebte das Vieh wegen mangelnder Vorsorge den ersten Winter nicht. Daher musste er nach Norwegen zurückkehren, was erst im zweiten Jahr gelang. Nach diesen drei Fahrten, die erzählerisch eine Klimax bilden, tritt nun der erste Siedler auf den Plan, den auch schon die slendingabûk nannte: Ingûlfr Arnason. Man erfährt seine Abstammung und wie er zusammen mit seinem Ziehbruder Leifr, mit dem ihn auch ein gemeinsamer Urgroßvater verbindet, eine erste Expedition nach Island unternimmt. Sie erkunden das Land und kehren nach einem Winter nach Norwegen zurück. Leifr unternimmt als nächstes einen Raubzug nach Irland. Nachdem er reich aus Irland zurückgekehrt war und nachdem Ingûlfr nach Durchführung eines Opfers eine positive Antwort eines Orakels bekommen hatte, rüsten die Ziehbrüder zwei Schiffe nach Island. Über Leifr, der nach der Irlandfahrt Hjo˛rleifr heißt, erfahren wir, dass er niemals opfert. Als Island in Sicht kommt, werden die Schiffe getrennt. Ingûlfr wirft seine Hochsitzpfeiler16 über Bord, um so einen Siedlungsplatz zu ermitteln, und nimmt Land, wo es später nach ihm Ingûlfsho˛fÅi heißt. Hjo˛rleifr wird mit seinem Schiff nach Westen abgetrieben und nimmt ebenfalls Land. Ingûlfr schickt zwei Knechte, um nach Hjo˛rleifr zu suchen, sie finden ihn tot – er war von seinen irischen Sklaven erschlagen worden. Ingûlfr lässt ihn bestatten. Er glaubt, dass Hjo˛rleifs Tod damit zusammenhängt, dass dieser niemals opferte.17 Ingûlfr sucht, findet und erschlägt die Mörder seines Ziehbruders. Er überwintert an Hjo˛rleifs Siedlungsplatz. Im Sommer zieht er westwärts. Nach einem dritten Winter auf der Insel werden 16 Hochsitzpfeiler sind Bestandteile des Ehrensitzes im Haus. Sie werden in der isländischen Literatur öfter erwähnt und im Zusammenhang mit der Landnahme als divinatorische Gegenstände über Bord geworfen. Es ist unklar, ob wirklich, und wenn ja, in welcher Zahl Hochsitzpfeiler über Bord geworfen wurden. Böldl 2005, S. 166: »Die isländischen Landnahmetraditionen lassen in ihrer Gesamtheit nur den Schluß zu, daß im 13. Jahrhundert allgemein die Überzeugung herrschte, die heidnischen Vorfahren hätten in den Hochsitzpfeilern Gegenstände von immenser religiöser Bedeutung erblickt. Worin diese Bedeutung bestand, wird allerdings nirgendwo ausgesprochen. Da andere heidnische Glaubenselemente in den Sagas durchaus kommentiert werden, wenn auch in der Regel aus christlicher Perspektive, liegt es nahe anzunehmen, daß die genaue Bedeutung der Hochsitzpfeiler im Landnahmeakt den hochmittelalterlichen Autoren nicht mehr bewußt war. Sie tradierten mit ihnen ein zwar verblaßtes, aufgrund seiner zentralen Bedeutung aber doch unverzichtbares Motiv – und konservierten auf diese Weise Elemente eines im 13. Jahrhundert längst ungültig gewordenen Weltbildes.« 17 Zum Motiv des frommen Heiden vgl. Beck 1994, S. 206.
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endlich die ins Meer geworfenen Hochsitzpfeiler gefunden: Der Siedlungsplatz ist erreicht.18 Am Schluss des Abschnitts über Ingûlfr heißt es: »Ingûlfr var frægastr allra landnmsmanna, Áv at hann kom h¦r at ûbyggÅu landi ok byggÅi fyrstr landit. GerÅu Áat aÅrir landnmsmenn eftir hans dæmum.«19 (Ingûlfr war der berühmteste aller Landnehmer, weil er hierher in unbesiedeltes Land gekommen war und als erster das Land besiedelte. Andere Landnehmer taten es nach seinem Beispiel.) Der Abschnitt schließt mit der Aufzählung seiner Nachkommen. Danach werden die Landnahmen von über 400 Siedlern nun nach dem Uhrzeigersinn geographisch geordnet beschrieben, alle nach demselben Muster : Man erfährt etwas über die Vorfahren, die in der Regel in Norwegen gelebt haben, über die Auswanderergeneration, den Ort der Ansiedlung, angereichert durch in der Regel aitiologische Anekdoten. Man kann davon ausgehen, dass die Genealogien die Landbesitzverhältnisse der Aufschreibezeit legitimieren sollten.20 Interessanterweise und vermutlich nicht zufällig wissen wir wenig über Ingûlfs Nachfahren. Keine der später mächtigen Familien leitete sich von ihm her. Er kann so zur idealen Integrationsfigur werden, die von keiner Seite vereinnahmt werden kann – oder andersherum: man erfand ihn als den Siedler schlechthin. Man kann eine Übereinstimmung von slendingabûk und allen Versionen der Landnmabûk in den wesentlichen Zügen feststellen. Damit sind folgende Elemente gemeint: 1. die Besiedlung Islands während der Regierung Harald Schönhaars, 2. die Vorbesiedlung Islands durch Iren, die aber Island schnell wieder verlassen haben, 3. die Tatsache, dass Ingûlfr der erste Siedler ist. Diese Übereinstimmungen könnte man dadurch erklären, dass Ari bei der Entstehung beider Werke beteiligt war oder, wenn man vorsichtiger sein möchte, dadurch, dass die Elite, die in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Island derartige Texte verfasste, vermutlich zahlenmäßig sehr klein war. Zumindest aber können wir sagen, dass offenbar eine Kanonisierung stattgefunden hat, die Ari bzw. den Redaktoren der anderen Fassungen durchaus bewusst war, wie etliche Formulierungen erkennen lassen.21 Auch andere wichtige Ereignisse der isländischen
18 Vgl. slendingabûk. Landnmabûk 1968, Landnmabûk S, Kap. 3 – 4, S. 34; Kap. 4 – 5, S. 36; Kap. 5 – 9, S. 38 – 46. 19 slendingabûk. Landnmabûk 1968, Landnmabûk S, Kap. 9, S. 46. 20 Vgl. Beck 1994, S. 205. 21 Wie z. B. Landnmabûk S, Kap. 3 (slendingabûk. Landnmabûk 1968, S. 34): »Sv er sagt, at menn skyldu fara ûr Nûregi til Færeyja; nefna sumir til Naddodd vking.« (So sagt man, dass Männer aus Norwegen zu den Färöern fahren wollten. Manche benennen den Wikinger Naddoddr.) Siehe auch die bereits zitierte Stelle, an der Ingûlfr der berühmteste Landnehmer genannt wird, oder auch die Tatsache, dass immer wieder Gewährsleute für ein Geschehen genannt werden. Es scheint Ari oder dem Redaktor bewusst zu sein, dass die Ereignisse lange zurückliegen und man es nicht wirklich genau weiß, dass es aber eine herrschende Ansicht
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Geschichte, die die slendingabûk berichtet, wie die Einrichtung des AlÁings und die Annahme des Christentums scheinen in gleicher Weise kanonisiert worden zu sein. Durch die beiden Werke slendingabûk und Landnmabûk wird die kanonisierte Erzählung nun schriftlich fixiert und bildet den nicht mehr hinterfragten und bald nicht mehr hinterfragbaren Ausgangspunkt der isländischen Identitätskonstruktion. Das bedeutet nun nicht, dass die gesamte Geschichte völlig frei erfunden ist. Der Zeitpunkt der Besiedlung scheint beispielsweise akkurat zu sein, obwohl zwei archäologische Veröffentlichungen aus den 80er Jahren auf eine frühere Besiedlung Islands hindeuteten und somit die Angaben der slendingabûk über den Zeitpunkt der Besiedlung als falsch zu entlarven schienen. Die Veröffentlichungen beruhten auf einer Auswertung von Holzfunden einer Ausgrabung, die in den 1970er Jahren in Reykjavk durchgeführt worden war. Der terminus ante quem, den die 14C-Analyse lieferte, war 780 n. Chr.22 Eine neuere Studie spricht jedoch für eine Besiedlung im überlieferten Zeitraum. Sie verwirft wohl zu Recht die Auswertung der Holzproben, da Holzproben generell ein zu hohes Alter annehmen lassen, weil zum Bauen zumeist bereits totes Holz verwendet wurde. Die durchweg jüngeren Getreideproben sind nach Arny E. Sveinbjörnsdûttir et al. viel glaubwürdiger, da Getreide zumeist von der letzten Ernte stammen dürfte. Diese Proben deuten auf einen terminus ante quem von 890 n. Chr.23 Dieser passt ganz gut zum überlieferten (bzw. in der Überlieferung rekonstruierten) Jahr 874 für die Ansiedlung Ingûlfs. Anders scheint es sich mit der Bevölkerungszusammensetzung zu verhalten. Die irischen Mönche, papar, die nach Auskunft sowohl der slendingabûk als auch der Landnmabûk vor der Ankunft der Skandinavier auf Island waren, sollen die Insel nach der Ankunft derselben verlassen haben. In der Landnmabûk werden nur etwa 25 Personen mit keltischen Namen erwähnt, die auf Island blieben.24 Es ist zwar allgemein bekannt und wird auch immer wieder erwähnt, dass die Siedler irische Sklaven hatten und dass skandinavische Männer irische Frauen nahmen, doch es gab auch einzelne Personen mit höherem gesellschaftlichen Status. Wie groß aber der tatsächliche Anteil von Kelten gibt. Und nach dieser ist eben Ingûlfr der erste Landnehmer und nicht etwa Nttfari, der schon vorher mit GarÅarr Svvarsson nach Island gekommen und dort geblieben war. 22 Vgl. Arny E. Sveinbjörnsdûttir / Heinemeier / Gardar Gudmundsson 2004, S. 389. 23 Vgl. Arny E. Sveinbjörnsdûttir / Heinemeier / Gardar Gudmundsson 2004, S. 392 f. Im Moment wird allerdings wieder spekuliert, ob nicht doch ein früherer Zeitpunkt infrage kommt, vgl. Pll Theodûrsson 2010. Da diese These jedoch auf der Beobachtung einer Zunahme von Verbrennungsprozessen beruht, die auch durch natürliche Ursachen erklärt werden können, scheint sie mir problematischer, als sich auf die Analyse von Getreideproben zu berufen, die eindeutig auf menschliche Aktivitäten zurückgehen. Vgl. dazu ChepstowLusty 2004, S. 63 f. 24 Vgl. Kuhn 1971, S. 219.
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war, zeigten erst die genetischen Untersuchungen der jüngsten Zeit und er ist weit größer, als die mittelalterliche Literatur uns glauben machen will.25 Es ist natürlich nicht wirklich überraschend, dass die Rolle der norwegischen selbständigen Bauern aus guter Familie ausführlich beschrieben wird und die der Iren, meist Sklaven und Frauen, nicht gleichermaßen, schließlich bilden die aus Norwegen Stammenden die führende Schicht. Für die Ausbildung einer eigenen Identität ist aber nicht nur die Betonung der eigenen Abstammung, sondern auch die Abgrenzung von den »Anderen« von Bedeutung. Diese »Anderen« sind in Island die Iren. Ihr Auftreten ist in Sagas oft ein Element der Unordnung. Nicht zufällig ermorden irische Sklaven den Ziehbruder des ersten Siedlers. Für die Anwesenheit von Iren vor den Skandinaviern, für die in den schriftlichen Quellen erwähnten papar, geschweige denn für eine größere Population gibt es keine archäologischen Belege,26 jedoch berichten nicht nur die beiden isländischen Werke davon, sondern auch der irische Gelehrte Dicuil, der mit Klerikern gesprochen haben will, die sich in einem nicht genau bestimmbaren Jahr am Ende des 8. Jahrhunderts von Anfang Februar bis Anfang August auf Island aufgehalten haben sollen und das Phänomen der um die Sommersonnenwende beinahe nicht untergehenden Sonne beschreiben.27 Dicuil berichtet übrigens auch, dass irische Eremiten auf anderen Inseln nördlich von Britannien von »normannischen Räubern« vertrieben worden seien, mit dem Ergebnis, dass diese Inseln daraufhin genauso leer gewesen seien wie am Anfang der Welt.28 Man könnte daraus schließen, dass es den Eremiten auf Island genauso ergangen sein könnte, und dazu passt natürlich auch die Nachricht unserer beiden isländischen Werke vom Zurücklassen von liturgischen Gegenständen, das nicht so recht zu einem freiwilligen Verlassen, wie es die isländischen Texte behaupten, passen mag. Pernille Hermann, die die gesamte slendingabûk als Gründungsmythos liest, sieht die Stelle als Schlüsselstelle für ihre Deutung des Gesamtwerks. Das Verlassen der Insel durch die Iren ermöglicht es den Isländern, ihre Besiedlung als eine creatio ex nihilo zu konstruieren und das Paradigma der Auswanderung aus Norwegen als das einzige zu etablieren. Man könnte noch hinzufügen, dass der gewaltfreie Abzug der Iren ja auch bedeutet, dass die Isländer bei ihrer Be25 Vgl. Agnar Helgason / Hickey / Goodacre u. a. 2001, S. 723 – 737. 26 Müller-Wille 1994, S. 170 f. 27 Dicuil 1870, S. 42 f. (7,11): »Trigesimus nunc annus est a quo nuntiaverunt mihi clerici, qui a kalendis Februarii usque ad kalendas Augusti in illa insula manserunt, quod non solum in aestivo solstitio, sed in diebus circa illud in vespertina hora occidens sol abscondit se quasi trans parvulum tumulum […].« Dicuil soll seine Werke zwischen 814 und 825 verfasst haben. Wenn die Iren, wie Dicuil angibt, 30 Jahre vor der Niederschrift seines Werkes auf Island gewesen wären, käme man auf den Zeitraum von 784 bis 795. 28 Dicuil 1870, S. 44 (7,15).
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siedlung nicht etwa Christen gemeuchelt hätten. Hermann meint weiter, dass durch die explizit christliche Vorbevölkerung das Land als terra christiana gedeutet werden könne, die innerhalb des Werkes typologisch auf die Christianisierung vorausdeutet.29 Dieses christliche Element am Anfang des Werkes stützt in der Tat die Gesamtkomposition, deren zentrales Stück die Christianisierungsszene und deren Finale die Installierung der eigenen Bischöfe ist. Der Autor muss es jedoch nicht erfinden, sondern es handelt sich offenbar tatsächlich um ein historisches Faktum, das auch anderweitig überliefert ist.
2.
Ursachen der Auswanderung nach den Isländersagas
Auch die im 13. und 14. Jahrhundert entstehenden Isländersagas beginnen häufig mit der Auswanderung der Vorfahren ihrer Protagonisten aus Norwegen, folgen also dem Muster der Landnmabûk. Sie bestätigen, was vorhin behauptet wurde, dass nämlich vor allem die Landnmabûk zur nicht mehr hinterfragten Grundlage der isländischen Identitätskonstruktion wird. Jedoch scheint in einer ganzen Reihe von Sagas ein Motiv, das in der Landnmabûk nur gelegentlich erwähnt wird, verstärkt aufzutreten. Als Beispiel sei hier der Anfang der HarÅar saga zitiert: fi
fi
fi
A DAUGUM harallz hn harfagra bygdzt me t i lannd Áuiat menn Áoldu eigi anaud fi fi fi han ok of riki, einkanliga Áeir em uoru torar ættar ok mikllar lunndar. Enn ttu fi fi goda ko te. Ok uilldu Áeir helldur flya eigner nar. en Áola agang. Ok oiafnad. eigi helldur konungi en o˛drum manni. uar enn af Áeim bjo˛rn gullbere. Hann for or orka dal fi fi fi fi til i lanndz. ok nam reykia dal hinn ydra. fra grim til flokadl aar. Ok bio aa fi fi fi fi fi gullbera todum. Han yner uoru Áeir uartho˛fde germunndur. Áio tolfur. Ok koma fifi fi Áeir ecke uid Áe a o˛gu.30 (In den Tagen Harald Schönhaars wurde der größte Teil Islands besiedelt, weil die Leute seine Unterdrückung und seine Gewaltherrschaft nicht erduldeten, besonders die, die aus bedeutendem Geschlecht und von stolzer Gesinnung waren und in guten Verhältnissen lebten. Und sie wollten lieber ihren Landbesitz verlassen, als Angriff und Ungerechtigkeit zu erdulden weder durch den König noch durch andere. Einer von ihnen war Bjo˛rn Gullberi. Er ging aus Orkidal nach Island und nahm das südliche Reykjadal von Grms bis Flûkadalsr in Besitz und wohnte auf GullberistaÅr. Seine 29 Hermann 2007, S. 17 – 32. 30 HarÅar saga 1960, S. 119, nach der Handschrift AM 556 a, 4to, spätes 15. Jh. Das Zitat wurde typographisch leicht gegenüber der Edition verändert. Die Kennzeichnung des langen a, das in der Edition durch zwei zusammengerückte a dargestellt wird, wurde hier aufgelöst in jeweils zwei getrennte a. Wenn dieses verdoppelte a mit einem Akzent versehen war, wurde dieser bei Getrenntschreibung auf beide a übertragen. Das in der Edition verwendete o caudata mit cauda oben wurde durch o caudata mit cauda unten ersetzt.
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Söhne waren Svartho˛fÅi, Geirmund und Æjûstûlfr und kommen in dieser Saga nicht vor.)
In dieser Art beginnen viele Sagas – nicht alle in dieser Ausführlichkeit und Explizitheit. Nicht immer wird gesagt, dass man sich in Norwegen unterdrückt gefühlt hat, aber schon die Erwähnung Harald Schönhaars konnte den Gedanken in diesem Kontext sicherlich evozieren. Der historische Hintergrund ist das Bestreben Harald Schönhaars, die Herrschaft über ganz Norwegen zu erlangen und dort eine feudale Königsherrschaft zu errichten. Dass er, wie Snorri in der Heimskringla später schreibt, Herrscher über ganz Norwegen gewesen sei, ist eine Übertreibung zum Preis der norwegischen Könige. Wie viele Untertanen tatsächlich ihren Grundbesitz verloren haben, ist umstritten. Dass die Auswanderung von Norwegern nach Island allein durch eine etwaige Tyrannei Haralds verursacht war, ist jedoch historisch nicht wahr. Die slendingabûk weiß nichts davon, die Landnmabûk verhält sich dazu uneinheitlich. Heutige Historiker sehen die Besiedlung als Teil der wikingerzeitlichen Expansionen, die auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden, über deren Gewichtung man sich allerdings nicht einig ist. Die Herrschaft Haralds mag dabei eine Rolle gespielt haben, jedoch gab es schon früher Auswanderungswellen aus Norwegen und außerdem kamen auch nicht alle Siedler aus Norwegen, sondern auch aus anderen Gebieten Skandinaviens oder Gebieten unter skandinavischer Herrschaft. Die Besiedlung Islands ist also Teil eines größeren Prozesses und sicherlich auch nicht einer einzigen Ursache zuzuschreiben.31 Es ist sicherlich leicht nachzuvollziehen, dass der Landnahmemythos, wie ihn die slendingabûk und die Landnmabûk erzählen, mit ihrem Rückgriff auf Landnahmezeit (874 – 930) und Sagazeit (900 – 1050) als heroic age in der sog. »Freistaatszeit« fundierend und identitätsstiftend wirkte. Das in manchen Sagas offenbar betonte Motiv der Unterdrückung durch Harald Schönhaar als Ursache der Auswanderungswelle nach Island könnte den sich im 13. Jahrhundert verändernden Bedingungen geschuldet sein. Den Verlust der Unabhängigkeit vor Augen wird der ursprünglich fundierende Mythos nach Assmanns Terminologie nun kontrapräsentisch: Er konstruiert eine Vergangenheit, die ein Gegenbild der als defizient empfundenen Gegenwart darstellen soll. Man sollte aber auch prinzipiell an die Notwendigkeit einer Abgrenzung gegen Norwegen denken, denn die Herkunft aus einem anderen Land, das nebenan erfolgreich existiert, scheint doch eine schwere Hypothek für die Ausbildung einer eigenen Identität zu sein. Aber gibt es auch andere Modelle, die andere Möglichkeiten bieten, mit den veränderten Bedingungen umzugehen? Nicht alle Isländer in der unruhigen 31 Vgl. z. B. Beck 1994, S. 200 f.
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Spätphase des »Freistaats« finden das Königtum unattraktiv, nicht alle Texte zeichnen ein negatives Haraldbild. In der Landnmabûk, die ja von verschiedenen Redaktoren bearbeitet und immer wieder abgeschrieben wurde, finden sich beide Seiten: Manche Familien sind wegen Konflikten mit Harald aus Norwegen ausgewandert, andere haben andere Motive. Jedoch findet sich auch die gegenteilige Ansicht in der Literatur. Speziell Snorri Sturlusons Heimskringla und die ihm oft zugeschriebene Egils saga diskutieren differenziert und durchaus mit positiver Tendenz die moderne Staatsform der Monarchie.32
3.
Abstammung von den Trojanern
Wir haben auf Island eine ganze Reihe von Texten, die in irgendeiner Weise den Trojamythos erzählen, von denen hier nur einige Beispiele herausgegriffen werden sollen.33 Trojanische Herkunft beanspruchten schon die Römer und nach ihnen viele Völker, Städte und Familien. Im Prolog der Snorra Edda heißt Europa auch Enea nach dem Trojaner Aeneas, ebenso in der Heimskringla, einer Geschichte der norwegischen Könige. Die heidnischen Götter Skandinaviens, die Asen, sind aus Asien eingewandert und werden euhemeristisch als Kulturbringer erklärt. Sie werden in die Genealogie der frühesten Königsdynastie Skandinaviens, der Ynglingar, eingefügt. In dieser Funktion kommen Trojaner auch in Snorri Sturlusons Ynglinga saga vor, die am Anfang der Heimskringla steht. Man kann sehen, dass Snorri Sturluson, der mit all diesen Werken verbunden ist, ebenso wie vermutlich mit der Egils saga, eine monarchiefreundliche Haltung mit der Idee einer trojanischen Abkunft der skandinavischen Götter und Könige verbindet. Man könnte sagen, er versuchte einen Ansatz der Identitätskonstruktion, der Island eher als Teil Skandinaviens, gar Europas sieht, der Island also nicht abgrenzen, sondern vielmehr integrieren will. Geschickt wird der Fokus dabei nicht auf einen Anschluss an Norwegen gelegt, sondern auf die Herkunft der alten Götter aller Skandinavier aus Asien. In einem späteren Text, Heimsly´sing ok helgifrœÅi, überliefert in der Hauksbûk (ca. 1306 – 08),34 findet sich die Idee der Besiedlung Skandinaviens vom Land der Tyrkir aus, wobei die Tyrkir mit den Trojanern gleichgesetzt gedacht werden. Es gibt auch eine Saga von den Trojanern (Trûjumanna saga) in drei stark voneinander abweichenden Redaktionen, die letztlich auf eine Übersetzung der spätantiken Darstellung De excidio Troiae 32 Vgl. Kreutzer 1994, S. 443 – 461. 33 Siehe dazu Heusler 1969, S. 88 – 94; Klingenberg 1992. 1993. 1994; Simek 2002. 34 Hauksbûk 1892 – 1896, S. 150 – 187; die Textstelle, auf die Bezug genommen wird, findet sich auf S. 155. Der Titel Heimsly´sing ok helgifrœÅi stammt von den Herausgebern, vgl. S. X.
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historia von Dares Phrygius zurückgeht. Hier ist jedoch nicht die Rede von einer trojanischen Abkunft und man kann höchstens aus dem Überlieferungszusammenhang einiger Handschriften der Saga mit den Breta so˛gur schließen, dass hier das Interesse an der Welt- und damit Heilsgeschichte im Vordergrund stand. Dort möchte man sich natürlich auch selbst einordnen und so kann man indirekt auch diese Texte in die Argumentation mit einbeziehen. Die Konstruktion einer trojanischen Abkunft ist jedoch nicht auf die Ynglingar beschränkt, auch die Stammtafel der Sturlungen35 – Snorris Familie also – und die Stammtafel des Haukr Erlendsson36 weisen trojanische Vorfahren auf. Selbst die slendingabûk gibt im Anhang (Bûkarauki) als Kap. 12 eine Ahnentafel der Ynglingar und BreiÅfirÅingar, beginnend mit mit einem Tyrkjakonungr Yngvi, also einem nordischen Gott, der als König der Türken euhemeristisch erklärt wird. Die Genealogie geht dann über einen Schwedenkönig Njo˛rÅr und Freyr Schritt für Schritt hinab über Helden der sagenhaften Vorzeit bis zu Ari, dem Autor der slendingabûk, selbst.37 Die Konstruktion von Genealogien – und das wird an diesen Beispielen besonders deutlich – ist eine Technik, die jüngere Vergangenheit und die Gegenwart an die Vorzeit anzuschließen. Genealogien bilden eine erzählerische Brücke zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis.38 Durch die ›Wahl der Vorfahren‹ macht man immer eine Aussage über das eigene Selbstverständnis. Und so besteht ein Unterschied darin, ob man wie in den Sagas die eigene Vorzeit, die Landnahmezeit, zum heroic age erklärt oder, wie an den letzten Beispielen gesehen, sich in einen größeren Horizont einordnet. Diese verschiedenen Konstrukte lösen einander nicht etwa ab, sondern existieren durchaus nebeneinander und spiegeln die Schwierigkeit der Identitätsfindung wider, bei der die einzelnen Familien sicherlich unterschiedliche Positionen einnehmen konnten. Doch wo ein genealogischer Anschluss gesucht wird, geht es nicht nur um die Konstruktion einer Identität, sondern auch um die Legitimation eines Herrschaftsanspruchs. Das leistet z. B. die Ynglinga saga für die norwegische Herrscherdynastie. Aber auch mächtige isländische Familien wie die Sturlungen oder die Familie des Haukr Erlendsson wollen da mithalten und verlängern ihren Stammbaum – unter anderem mit Hilfe der Trojaner – gar zurück bis Adam. Dazu gibt es parallele Fälle auf dem Kontinent, wo ebenfalls nicht nur königliche, sondern auch adelige Familien sich als Abkömmlinge der Trojaner sehen, um ihren Status und Herrschaftsanspruch zu verdeutlichen.39
35 36 37 38 39
Diplomatarium Islandicum Bd. 1, 1876, Nr. 127. Hauksbûk 1892 – 1896, S. 504 f. (Ættar talan). slendingabûk. Landnmabûk 1968, S. 27 f. Vgl. Assmann 2005, S. 50. Vgl. Graus 1989, S. 37 f.
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4.
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Was bleibt?
In ihrer angenommenen Entstehungszeit, also den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts, könnte man sowohl slendinga- als auch Landnmabûk als fundierende Mythen lesen. Die in der Folgezeit entstehenden Isländersagas tragen diesen Mythos weiter, jedoch ändern sich die politischen Umstände. Die isländische Unabhängigkeit ist auch durch den Zerfall der inneren Ordnung zunächst gefährdet und geht 1262/64 verloren. In dieser Zeit wird derselbe Mythos »kontrapräsentisch«.40 Während des 13. Jahrhunderts entsteht daneben ein Trend, sich in die Weltgeschichte einzuordnen, das heißt, nach den Regeln einer hochmittelalterlichen europäischen Kultur in dieser einen Platz zu beanspruchen und eine Identität innerhalb des Systems zu konstruieren. Doch das bleibt Episode. Was letztlich bleibt, ist die Tradition der Landnmabûk, von der bis in die Neuzeit neue Versionen entstehen und die bis in die Neuzeit immer wieder abschrieben wird – wie auch die Isländersagas. Im 19. Jahrhundert erwachte in Island ein Streben nach Beteiligung an der Macht mit dem Ziel der Unabhängigkeit. In Kopenhagen lebende Isländer begründeten eine Zeitschrift namens Fjölnir (1835 – 1843) und forderten die Wiedereinführung des AlÁings, das 1800 abgeschafft worden war. Es entstand eine nationale Bewegung unter Jûn SigurÅson (1811 – 1879); auch er begründete eine Zeitschrift. 1843 gelang die Wiedereinrichtung einer nationalen Versammlung, die 1845 zum ersten Mal tagte. Doch der eingeschlagene Weg war nicht einfach. 1851 versuchte Dänemark seine Verfassung auf Island auszudehnen. Die Isländer lehnten dies in einer Volksversammlung ab und der isländische Widerstand führte zu einem längeren Verfassungsstreit, der schließlich im Jahre 1874 mit einem Erfolg für die isländische Sache endete: Zur 1000Jahr-Feier der Landnahme Ingûlfr Arnasons brachte Christian IX. die Verfassungsurkunde nach Island, wonach dem AlÁing allein die Finanzverwaltung und gemeinsam mit dem König die Legislative zukam und die Judikative dem obersten isländischen Gerichtshof. Die Exekutive jedoch blieb in der Hand des Königs. Seine Unabhängigkeit erlangte Island erst wieder während des Zweiten Weltkrieges, als der Einfluss Dänemarks auf Island durch die deutsche Besetzung Dänemarks einerseits und die britische Besetzung Islands andererseits unterbunden war. Im Mai 1944 kam es zu einer Volksabstimmung, die sich mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit und für eine demokratische Republik entschied. Am 17. Juni 1944, dem Geburtstag Jûn SigurÅssons, wurde im Æingvellir, der alten Æingstätte, die unabhängige Republik ausgerufen. Nicht nur die 1000-Jahr-Feier der Landnahme ist ein Zeichen dafür, dass die 40 Assmann 2005, S. 78 – 83.
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Erinnerung an die Landnehmer durch die Zeiten lebendig gehalten wurde. Auch in der bildenden Kunst der Romantik und danach fand Ingûlfr, der Siedler schlechthin, seine Beachtung. Beispielsweise schuf der dänische Maler Johan Peter Raadsig im Jahre 1850 ein Gemälde mit dem Titel Ingolf tager Island i Besiddelse (»Ingolf nimmt Island in Besitz«), das Ingûlfr und seine Familie im entscheidenden Moment der Landnahme zeigt, als er nämlich den aufgefundenen Hochsitzpfeiler aufrichten lässt. Der isländische Bildhauer Einar Jûnsson (1874 – 1954) schuf am Anfang des 20. Jahrhunderts eine Statue Ingûlfr Arnasons, die seit 1924 in Reykjavk von einem Hügel aus, dem Arnarhûll, »sein Land« überblickt. Zwei weitere im öffentlichen Raum aufgestellte Werke Einars sind in diesen Zusammenhang zu sehen: eine Statue des Nationalhelden des Unabhängigkeitskampfes Jûn SigurÅsson, die gegenüber dem Parlamentsgebäude aufgestellt ist, und die Gruppe ¢tlagar (»Geächtete«) am alten Friedhof an der SuÅurgata, ein Mann mit Kind und Hund, der wohl stellvertretend für die Helden der Sagazeit stehen dürfte. Alle diese Platzierungen scheinen nicht zufällig. Der Mythos von der Landnahme, der am Anfang fundierend war und vom Beginn der norwegischen Herrschaft an kontrapräsentisch wurde, bleibt als kontrapräsentischer Mythos erhalten bis zur Erlangung der Unabhängigkeit von Dänemark 1944. Zum 1100. Jubiläum der Landnahme, 1974, wurde eine Feier im Æingvellir veranstaltet, an der etwa 60 000 Menschen teilnahmen.41 Den Isländern gelang es – sicherlich auch mit Hilfe tragfähiger, identitätsstiftender Mythen, von denen einer hier skizziert wurde –, über Jahrhunderte der Fremdherrschaft ihre Identität, ihre Sprache und Literatur zu bewahren, um im 20. Jahrhundert als unabhängige Republik schließlich daran anzuknüpfen.
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Harald Wolter-von dem Knesebeck
Der Kontinent der Städte und Wege. Europa und seine Stellung in Welt und Weltgeschichte auf der Ebstorfer Weltkarte
1830 wurde in dem bei Lüneburg gelegenen ehemaligen Benediktinerinnenkloster Ebstorf eine mittelalterliche Weltkarte ungewöhnlicher Größe entdeckt, die leider 1943 in Hannover verbrannte.1 Nur originalgroße Kopien (Abb. 1) vermitteln heute noch eine Vorstellung von ihr. Seit den ersten umfassenden Publikationen zu ihr aus der Zeit um 1900 steht die Ebstorfer Weltkarte gleichsam stellvertretend für die Gesamtheit der Weltkarten des Mittelalters.2 Dies verdankt sich Größe und Bilderreichtum dieser Weltkarte. Bei einer Seitenlänge von etwa 3,6 Metern misst das ehemals aus 30 Pergamentbögen zusammengenähte Werk fast 13 Quadratmeter.3 Es ist daher mit Abstand die größte Weltkarte des Mittelalters. Großkarten dieser Art kamen anscheinend erst im Hochmittelalter auf. Sie traten neben die zuvor schon vor allem in den Handschriften anzutreffenden Weltkarten kleineren Formats. Die Ebstorfer Weltkarte dürfte um 1300 entstanden sein, wie die stilistischen und paläographischen Analysen nahe legen.4 Solche Großkarten generierten eine neue Sichtweise der Welt, waren sie doch viel detaillierter und umfangreicher als diejenigen in Handschriften. Keine andere Weltkarte versammelt ähnlich viele Elemente wie die Ebstorfer. Nach neuer Zählung stehen rund 1500 lateinischen Texten 800 Bildelemente gegenüber. Darunter sind 500 Stadt- und Gebäudewiedergaben, 160 Gewässer, 60 Tiere sowie 45 Menschen- und Fabelwesen. Hinzu treten mehrspaltige Textblöcke in 1 Zur Ebstorfer Weltkarte allgemein vgl. Kugler 2007 (rez. von Jürgen Wilke), sowie: Kruppa / Wilke 2006; Wilke 2001; Elster / Hoffmann 1997; Kugler 1991; Jaitner / Schwab 1988; Arentzen 1984. Die Karte ist im Internet vorzüglich erschlossen (vgl. Bibliographie »die Ebstorfer Weltkarte). Mein Beitrag geht auf frühere zurück, in denen ich vor allem nach der Eigenart der medialen Gestalt der Ebstorfer Weltkarte fragte: vgl. Wolter-von dem Knesebeck 2006, Woltervon dem Knesebeck 2007, Wolter-von dem Knesebeck 2008, zuletzt kurz in: Wolter-von dem Knesebeck 2011. 2 Vgl. Sommerbrodt 1891; Miller 1896; vgl. auch Kugler 2007, Bd. 2, S. 3 – 12. 3 Vgl. Kugler 2007, Bd. 2, S. 13 f. 4 Vgl. Appuhn 1963; Kroos 1991, zur Paläographie insbes. Wilke 2001, S. 192 ff.; Kugler 2007, Bd. 2, S. 32 – 35.
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den Zwickeln rund um das Erdenrund. Sie bieten Erläuterungen zu kartographisch relevanten Begriffen wie Kosmos oder Weltkarte, vor allem aber zu den Tieren. Die Ebstorfer Weltkarte kann nach ihrer eigenen Beischrift als »Mappa mundi«, d. h. als »Weltkarte« bezeichnet werden, da sie den Kern der Welt zeigt, auf den alle ihre Elemente hin ausgerichtet sind.5 Die Karte zeigt die Erdscheibe von oben. Das mittelalterliche Weltbild ging von einem begrenzten Kosmos in der Form einer Kugel aus.6 Diese sollte im Innern rund um die Erde aus konzentrischen Sphären mit den Himmelskörpern aufgebaut sein. Das Erdenrund umfasst auch auf der Ebstorfer Karte im rings umlaufenden Randozean die drei damals bekannten Kontinente Asien, Europa (Abb. 2) und Afrika. Wie bei anderen Vertretern ihres Kartentyps ist der Osten am oberen Bildrand zu finden. Europa liegt daher unten links, Afrika steht Europa unten rechts gegenüber, zieht sich aber am rechten Rand im Süden am Nil entlang noch etwas hoch, während Asien die verbliebene Fläche der oberen Hälfte der Karte einnimmt. Das Weltenmeer rund um die Kontinente ist zugunsten der Landmassen auf dünne Wasserstreifen reduziert, ebenso wie das T-förmig zwischen die Kontinente gepresste Mittelmeer. Dabei folgt die Karte nur bedingt dem verbreiteten T-OSchema, bei dem in dem für das Weltenrund stehenden O das T-förmige Mittelmeer derart eingeschrieben erscheint, dass Asien genau die obere Hälfte der Welt einnimmt, Europa und Afrika je eines der verbliebenen Viertel. Dieses Schema kehrt auf der Ebstorfer Karte selbst oben rechts neben der Weltscheibe als Kürzel zu den hier ebenfalls zu findenden kartographischen Texten wieder.7 Auf der Ebstorfer Weltkarte schiebt sich aber nicht nur Afrika in die obere Hälfte der Erdscheibe. Darüber hinaus reicht Asien über die Mittellinie herab, wodurch Jerusalem symbolträchtig in die Mitte der Welt rückt. Europa hingegen ist auf Kosten von Afrika nach Süden erweitert. Neben dieser Gewichtung der Kontinente fällt die ungewöhnlich detaillierte Wiedergabe des deutschsprachigen Raums und ganz allgemein Nordeuropas auf, was sich mit der Entstehung der Karte in dieser Region erklären lässt.8 Auch die Benennungen der Kontinente »Asia«, »Europa« und »Africa«, die in der Ausstattungshierarchie der Beischriften als rote Großbuchstaben ganz oben rangieren, folgen dieser gegenüber dem T-O-Schema variierten Grund5 Mappa dicitur forma. Inde Mappa mundi id est forma mundi. Hierbei umschreibt der schillernde Begriff forma nach Arentzen 1984 die Intention, dass die Mappa mundi »zugleich Abbild der äußeren Erscheinung und Charakteristik des inneren Wesens der Welt« sei. Vgl. auch Kugler 2007, Bd. 1, S. 42, A2, Bd. 2, S. 86, 7/1. 6 Vgl. etwa Simek 1992, insbes. S. 16 ff. 7 Vgl. Kugler 2007, Bd. 1, S. 40 f., Bd. 2, S. 15 f. 8 Zu Europa im Weltbild des Mittelalters und auf der Ebstorfer Weltkarte vgl. allgemein Baumgärtner / Kugler 2008.
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form der Erdscheibe. Entsprechend der quergelagerten Anordnung des Kontinents sind die Buchstaben von »Asia« oben tendenziell horizontal ausgerichtet. Hierbei waren sie ehemals vermutlich leicht kreisförmig gespannt, wenn der letzte Buchstabe auf dem ausgeschnittenen Teil der Karte ebenso hoch angesetzt war wie der erste. Hiermit mag die Benennung auf die gegenüber dem T-OSchema nach Westen erweiterte Fläche Asiens reagiert haben. Die Beischriften »Europa« und »Africa« sind hingegen in vertikaler Reihung leicht diagonal zur Kartenmitte hin ausgerichtet und dabei einander angeglichen. Allerdings setzt das erste Avon »Africa« etwas höher an als das E von »Europa« und entspricht hiermit der entgegen dem T-O-Schema gen Osten erweiterten Ausdehnung des Kontinents. Dass die Verteilung der Buchstaben der Benennungen der Kontinente sehr bewusst angelegt wurde zeigt auch Europas Name. Sein Anfangsbuchstabe liegt auf eine Insel im ägäischen Meer. Dies passt zum Raub der Europa durch den Stier, ein Vorgang, der auf gleicher Höhe in einem Beitext erwähnt wird, der genau an der Grenze Europas hin zu Asien erscheint, und zwar unterhalb der Opferaltäre des Alexander, die zugleich das Heidentum dieser Regionen markieren.9 Europa (Abb. 2) erscheint in der geometrischen Grunddisposition der Karte und auf der Ebene ihrer Beschriftung viel konkreter als es das als Begriff im Mittelalter zumeist war, wo vielfältige Auffassungen von Europa miteinander konkurrierten und es daher mit Schneidmüller eine Art »Abrufbegriff« war, der jeweils noch mit Inhalten gefüllt werden musste.10 So bietet die Ebstorfer Weltkarte in ihrem durch das Schema der drei Kontinente vorgegebenen »Systemzwang« die Möglichkeit, eine dieser möglichen Füllungen im Folgenden im Hinblick auf ihre Spezifika bzw. ihre Stoßrichtung zu betrachten. Dass Europa in diesem Sinne mit sehr spezifischen Inhalten gefüllt erscheint, zeigt sich besonders, wenn man es mit den anderen Kontinenten vergleicht. Afrika ist nur am Mittelmeer sowie am Roten Meer und teilweise am Nil von Städten gesäumt. Ansonsten herrschen hier die im Mittelalter so beliebten Mischwesen des Erdrandes vor, die von einander oft durch die setzkastenartig angeordneten Gebirgszüge getrennt sind. Dominieren in Afrika die Tiere und Mischwesen, so ist Europa ganz der Kontinent der Wasserstraßen als der Hauptverkehrswege des Mittelalters, und der an diesen Wegen gelegenen Städte. Ob darüber hinaus Itinerare verwendet wurden, um die Städte auszuwählen, wie Wilke vorschlug, ist zumindest nicht durchgängig belegt.11 Die Städte des christlichen Bereichs Europas haben vielfach geöffnete Stadttore, die nicht-
9 Vgl. Kugler 2007, Bd. 1, S. 100, A1, 3, Bd. 2, S. 190, 36/3. 10 Vgl. Baumgärtner 2008, insbes. S. 10, bzw. Schneidmüller 1997, insbes. S. 12. 11 Vgl. Wilke 2001, Bd. 1, S. 156 – 173; Kugler 2007, Bd. 2, S. 58.
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christlichen geschlossene, wohl um ihre Zugänglichkeit oder Verschlossenheit aus christlicher Sicht zu zeigen. Dass Europa der Kontinent der Städte und der Wege ist, zeigt sich auch daran, was ihm fehlt. Es gibt nur ganz vereinzelt figürliche Beigaben. Zwei Löwen sind direkt mit Städten verbunden, sie erscheinen zudem relativ klein und sind heraldisiert. Derjenige auf dem Zinnenkranz der Stadt Rom verdankt sich der Annahme, dass der Grundriss Roms löwenförmig sei.12 Der andere gibt das berühmte Löwendenkmal Heinrichs des Löwen in Braunschweig bzw. das nach ihm gestaltete Stadtwappentier wieder (Abb. 3).13 Nebenbei bemerkt ergeben sich durch diese ungewöhnliche Hervorhebung Braunschweigs wie auch durch die Auszeichung Lüneburgs mit einer Herzogsfahne Hinweise für eine Entstehung der Weltkarte in dem 1235 gegründeten Welfen-Herzogtum BraunschweigLüneburg. In diesem Herzogtum lag auch das an sich eher unbedeutende Kloster Ebstorf, der Auffindungsort der Karte, dessen Märtyrergräber ebenfalls auf der Weltkarte hervorgehoben sind, wodurch Ebstorf selbst als möglicher Entstehungsort der Weltkarte in den Fokus rückt. Große Tierdarstellungen wie auf den anderen Kontinenten findet man ansonsten bezeichnenderweise nur noch in der Grenzregion Europas zu Asien, wo im Nordosten Europas Elch und Auerochs erscheinen. In Asien selbst wird die zunehmende Entfernung zum Betrachter dadurch ausgeglichen, dass seine große Landmasse eine Vielzahl von z. T. ungewöhnlich großen Stadt-, Tier- und Menschdarstellungen aufnimmt. So sieht man hier etwa das in seiner Größe Jerusalem angeglichene Babylon mit dem babylonischen Turm daneben, und neben Jerusalem ein Kamel, das der Stadt nur wenig in Größe nachsteht. An den Rändern Asiens mehren sich wiederum die wundersamen Völkerschaften, darunter die Amazonen und die apokalyptischen Menschenfresservölker Gog und Magog. Hier liegt zudem in einem mit Bergzügen umgrenzten Bezirk das verlorene irdische Paradies mit der Quelle der vier Paradiesströme, dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis, an dem sich der Sündenfall vollzieht. Insgesamt erscheint Europa daher auf den ersten Blick unspektakulär. Es sind vielmehr die großen Städte in Asien wie Jerusalem und Babylon oder die großen Tier-, Monster- und Fabelwesen-Darstellungen sowie die fremden Völker hier und in Afrika, welche den Betrachter anziehen. Doch war dies auch die intendierte Bildaussage und Leseweise der Karte zu ihrer Entstehungszeit? Hier stellt sich die Frage, wie diese Weltkarte medial ausgelegt ist, d. h. wie in der ge12 »Secundum formam leonis inchoata est Roma«, vgl. Kugler 2007, Bd. 1, S. 46, B2, Bd. 2, S. 47, 259, 46/38, mit Verweis auf Honorius Augustodunensis als Quelle, der in diesem Zusammenhang auf den Löwen als König aller Tiere verweist. 13 Vgl. Kugler 2007, Bd. 1, S. 128 f., Bd. 2, S. 61 ff., zur Lokalisierungsfrage, zum Braunschweiger Löwen vgl. etwa Seiler 1995.
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schilderten Fülle der Einzelelemente Ordnungsstrukturen erzeugt werden und wie sie somit als ein aus Bild- und Textelementen zusammengefügtes Ganzes funktioniert. Die Karte soll hier daher aus Sicht einer Bildwissenschaft charakterisiert werden, die nach Sehkonventionen und ihren kulturellen Zusammenhängen ebenso fragt wie nach den mit diesen Sehkonventionen verknüpften Entwicklungen des Bildmediums.14 Die komplexe Darstellung der Welt auf der Ebstorfer Karte mit ihrer eigentümlichen Text-Bild-Kombination bot verschiedenen Betrachtungsweisen Raum. Die Karte erscheint trotz des hohen Textanteils und der verwirrenden Vielzahl der Bildelemente als ein Bild, in das in spezifisch mittelalterlicher Weise visuelle Ordnungs- und zugleich Sinnstrukturen eingeschrieben wurden. Ein wesentliches Element dieser Bildhaftigkeit ist dabei die übergreifende und geometrisch perfekte Kreisform des Erdenrunds. Über diese perfekte Form hinaus erhält das Kreisrund seinen Sinn, indem seine – im geometrischen Sinne – herausragenden Orte Darstellungen Christi aufweisen. Vor allem die Gliedmaßen Christi an den vier Himmelsrichtungen fallen sofort ins Auge.15 Oben im Osten ist der Kopf Christi zu erkennen, der kein beliebig gewähltes Bild Christi ist. Vielmehr erscheint er in der hieratisierten Form der Ikone der Veronika, der Vera ikon in Rom.16 Diese galt als »wahres Bild«, d. h. als authentisches Abbild Christi, sollte es doch als Abdruck seines Gesichtes bei der Kreuztragung entstanden sein. Im Norden und Süden besetzen die beiden mit geöffneten Handflächen gezeigten Hände Christi die Mittelachse der Karte, unten im Westen sind nebeneinander seine beiden Füße zu sehen. Wohl alle Gliedmaßen besaßen ursprünglich die Wundmale Christi.17 Anders als bei vergleichbaren mittelalterlichen Kombinationen des Weltenrunds mit Christus liegen dessen Glieder hier jeweils auf der Grenze zwischen den Kontinenten und dem Weltenmeer.18 Daher erscheint Christus auch nicht über der Erde, gleichsam wie am Rande eines Tisches, oder hält das Weltenrund vor sich. Vielmehr vermittelt Christus mit seinem Gestus des Offenbarens, dass in ihm Gott, Welt und Mensch zusammenfallen. Gott ist in Christus Mensch geworden. Der Mensch ist aber als Welt im Kleinen, als Mikrokosmos, mit dem Makrokosmos, der Welt, verbunden. Deshalb vollzieht sich in Christus ebenso 14 Vgl. Wolter-von dem Knesebeck 2008, insbes. S. 72 ff. 15 Vgl. etwa Kugler 2007, Bd. 2, S. 17 ff. 16 Zur Veronika allgemein vgl. Belting 1990, insbes. S. 233 ff., S. 246 ff. und S. 602 ff., mit Literatur ; Kuryluk 1991. Vgl. im Zusammenhang mit der Ebstorfer Weltkarte Appuhn 1991, insbes. S. 250; Kugler 2007, Bd. 2, S. 20 f. 17 Zu der Beischrift der Veronika Alpha et Omega primus et novissimus nach Apokalypse 22,13 und ihrer Überlieferung auf der Ebstorfer Weltkarte sowie zu den Beischriften zu den anderen Gliedern Christi vgl. Arentzen 1984, S. 271 – 274; Kugler 2007, Bd. 2, S. 22. 18 Vgl. etwa Kugler 2007, Bd. 2, S. 20.
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die Verbindung zwischen Makro- und Mikrokosmos wie diejenige von Gott zu seiner Schöpfung. Daher war die Welt als Schöpfung und Simile Gottes nach mittelalterlicher Auffassung geeignet, in all ihren Erscheinungen von Gott zu künden. Diesen Gedanken brachte im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts der aus Sachsen stammende Hugo von St. Viktor, einer der führenden Theologen und Didaktiker seiner Generation zum Ausdruck: »Die ganze sinnlich wahrnehmbare Welt ist wie ein Buch, geschrieben vom Finger Gottes«19. Es ist dabei kein Zufall, dass Hugo von St. Viktor sich mehrfach mit großen Weltkarten beschäftigte. In seiner Schrift zur Arche Noah entwarf er eine solche. Ihre Rekonstruktion zeigt eine große, von Engeln flankierte Gottesgestalt, die den Kosmos hält.20 Zudem besaß Hugos Schule im Pariser Stift Saint-Victor große Wandbilder zu Lehrzwecken, unter denen wohl auch Weltkarten waren.21 Im Rahmen einer solchen christlichen Lesart von Gott, der Welt und dem Menschen wie bei Hugo scheint mit dem Gestus Christi der Ebstorfer Weltkarte und der Zusammensetzung seines Bildes aus demjenigen der Vera Ikon und den mit den Wundmalen gekennzeichneten Gliedmaßen zugleich die Kreuzigung Christi angesprochen, mit der Menschheit und Welt aus ihrer Todesbestimmung erlöst werden.22 Neben den Kreuzestod tritt hierbei die Auferstehung als letztlich todesüberwindende Heilstat Christi, das für Weltkarten wiederum singuläre zweite Ebstorfer Christusbild des in Jerusalem aus seinem Grab auferstehenden Christus. Er befindet sich gleichsam am Nabel der Welt genau in der Mitte der Karte. In Passion und Auferstehung überwand der Gottessohn den Tod. Jerusalem ist daher hier nicht allein die historische Stadt der Passion und die Stätte des Grabes Christi. Vielmehr ist sie mit zwölf Toren und goldglänzenden Mauern das himmlische Jerusalem der Apokalypse, das den Christen als ewige Wohnstätte verheißen ist.23 Rund um diese »christologischen Grundkoordinaten« der Weltkarte ist die Welt mit ihren zahlreichen maßstäblich nicht allzu sehr differierenden Einzelbildern in einer Art »All-over«-Komposition angefüllt. Zwar sind diese in regionalen Ordnungsstrukturen wie etwa den astartig ausgebreiteten Flüssen bzw. den Gebirgszügen organisiert. In Analogie zu den gegenüber dem T-O-Schema 19 Hugo von Sankt Viktor, Didascalicon de studio legendi, (PL, Bd. 176, Sp. 814B) , vgl. auch Hugo von Sankt Viktor 1997. 20 Hugo von Sankt Viktor 2001, insbes. Bd. 2, Figura XI zu »De Archa Noe«, XI, 4 – 118. 21 Vgl. Dalch¦ 1988, S. 95 – 100, insbes. S. 100 mit Verweis auf Hugos »De Vanitate mundi« (Patrologia latina Bd. 176, Sp. 709), und S. 101 mit Verweis auf Hugos »De sacramentis legis naturali et scriptae dialogus« (Patrologia latina, Bd. 176, Sp. 24), sowie S. 133, Beginn der Descriptio, vgl. auch Wilke 2001, S. 266 ff. 22 Vgl. Ungruh 2006. 23 Vgl. zu Jerusalem auf der Ebstorfer Weltkarte allgemein Hengevoss-Dürkopp 1991.
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verschobenen Landmassen der Kontinente werden dabei aber keine geometrischen Fixpunkte der Erdscheibe bezogen. So sind etwa die großen Städte Rom oder Babylon aus den Mittelachsen der Scheibe gerückt. Statt geometrischer Starre scheint alles in einer schwingend-fließenden Bewegung zu sein. Die christologischen Elemente werden hierdurch sinngebend den kleinteiligen Abbreviaturen für die Welt übergeordnet, die eben nur abgeleiteten Sinn haben. Die »Unordnung« der Welt ist kalkuliert. Sie zeigt in Christus als dem menschgewordenen Schöpfergott, dem Erlöser und Richter, den Sinn der Welt. Offensichtlich gibt es daher, je nach Gegenstandsbereich, verschiedene Formen der Betrachtung der Karte. Die christologischen Elemente Kopf und Glieder Christi sowie der Auferstandene erschließen ihren Sinn im sukzessiven Blick: Wie die Kreisscheibe der Erde fordern sie einen Blick, der von einem geometrischen Fixpunkt der Welt zum anderen geht und sich dabei die Welt selbst strukturiert. Jenseits dieser Fixpunkte gerät eine nicht von den Texten geleitete Betrachtung der Weltkarte hingegen leicht ins Schweifen. Dies ist eine andere Erfahrung der Welt, die eher Verunsicherung auslösen konnte. Sie mag aber auch zur Befriedigung der curiositas gedient haben, der Neugier, die im Mittelalter allerdings gerade in den monastischen Kreisen, in denen Entstehung und Verwendung vermutet werden darf, negativ besetzt war.24 Die Mitte zwischen diesen beiden Betrachtungsweisen bildet das textgeleitete Studium der Karte. Hierbei pendelte der Blick regelmäßig zwischen Texten bzw. zwischen diesen und Bildern hin und her, etwa von den Tierdarstellungen der Weltscheibe zu den auf sie beziehbaren langen Textglossen der Kartenzwickel. Aber auch bei den Bildelementen selbst finden sich nicht nur die in Größe und Farbe systematisch differenzierten Benennungen, sondern etliche umfänglichere Beischriften. Sie beschreiben etwa einzelne Regionen und herausragende Städte. Dabei charakterisiert je nach Zugang einmal erst die Beischrift das Dargestellte, einmal ist dieses indexikalisch für den begleitenden Text. Bei einer solchen, sicherlich als didaktisch wertvoll erachteten Betrachtungsweise, verwies der Reichtum der Welt in all ihren Erscheinungen nicht nur auf Gott als ihren allmächtigen Schöpfer. Zugleich ergaben sich auch immer neue Kombinationen des Gesehenen und Gelesenen, etwa nach historischen oder geographischen Zusammenhängen. So ist schon in den Erläuterungen zu den drei Kontinenten und ihren Namen eine auch historische Reihenfolge angelegt, die von Asien bzw. Afrika nach Europa führt.25 Dies deckt sich mit den mittelal-
24 Vgl. Krüger 2002, S. 7 – 18. 25 Vgl. Kugler 2007, Bd. 1, S. 40, A1, 5/5; zu Asien Bd. 1, S. 36 f., B1, 8; Bd. 2, S. 80, 4/8; zu Afrika Bd. 1, S. 96 – 99, Bd. 2, S. 184, 34/21; zu Europa Bd. 1, S. 100, A1, 3; Bd. 2, S. 190, 36/3.
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terlichen Vorstellungen einer Übertragung von Macht wie Wissen aus dem Osten nach Westen, der Translatio Imperii bzw. Translatio studii.26 Bei dieser Betrachtungsweise konnte daher mit der geschichtlichen Dimension eine weitere auf Gott hin zielende sinngebende Ordnung in der auf den ersten Blick chaotischen Welt erfahren werden. Diese historische »Lesart« umfasst bei der Ebstorfer Weltkarte die ganze Weltgeschichte als christliche Heilsgeschichte. Sie schreitet, grob gesagt, von Ost nach West, vom Paradies über Personen und Geschehnisse des Alten Testaments und der antiken Weltreiche bis hin zur neutestamentlichen Heilsgeschichte, zur Ausbreitung der Apostelkirche – die Apostelgräber füllen den ganzen Erdkreis – und zur Jetztzeit, für die insbesondere Europa steht. Die Geschichtshaltigkeit der Weltkarte ist somit umfassend. Sie füllt die Erde von Osten bis an ihren Rand im Westen und kennzeichnet dabei zugleich die eigene Zeit als Endzeit. Die Ebstorfer Weltkarte entfaltete somit für ihren Betrachter bei entsprechendem Bildungsstand eine sinngebende synoptische, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bündelnde Qualität, eine Qualität, welche die räumliche Gesamtsicht der Welt flankierte. Diese synoptische Qualität bilanziert noch einmal die durch Beschreibungen der Karte gesicherte Beischrift des Kopfes Christi. Dieser erscheint hier mit der bekannten Formel von Christus als erstem und letztem nach Apokalypse 22,13: Alpha et Omega primus et novissimus.27 Da die wandfüllenden Weltkarten erst eine Entwicklung des Hochmittelalters zu sein scheinen, ist ihr historisches Umfeld von Interesse.28 Bei der Ebstorfer Weltkarte sind hier vor allem zwei sächsische Bischofsstädte, Halberstadt und insbesondere Hildesheim, von Interesse. Beide besaßen überregional bedeutende Domschulen. Diese pflegten den Austausch mit den hohen Schulen des Westens, insbesondere mit Paris und dort wohl besonders mit der Schule in Saint-Victor. Entlang dieser Verbindungen vollzog sich damals die Rezeption der Frühscholastik in Sachsen, d. h. des ordnend abwägenden Umgangs mit dem im Hochmittelalter erheblich erweiterten Wissen oft antiken Ursprungs. Neben dem weiterhin zentralen Bibelstudium wurde es nun auch zum Verständnis einer Welt angewandt, in der man mit Hugo von St. Viktor in jedem Detail Gott wiederzufinden glaubte.
26 Vgl. Goez 1958, insbes. S. 117 – 119, 122 – 124 zur Translatio studii, vgl. zu dieser auch Curtius 1961, S. 38, S. 388 f.; Heer 1949; Grundmann 1952; Worstbrock 1961. 27 Vgl. Anm. 17. 28 Vgl. zum Folgenden Wolter-von dem Knesebeck 2006, insbes. S. 234 ff. mit Literatur. Zu den Hildesheimer und Halberstädter Schulen und den Verbindungen zu den Augustinerchorherren und zu Paris vgl. nun auch verschiedene Beiträge in Ausst.Kat. Schätze im Himmel und auf Erden 2010, insbes. Gallistl 2010; Stammelberger 2010; Tischler 2010; Carmassi 2010.
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Für diese Transferleistung aus dem Westen war in Hildesheim vor allem die Generation möglicher Schüler Hugos verantwortlich, die um 1150 in leitende Positionen einrückte, wie etwa Rainald von Dassel und Bischof Bruno von Hildesheim.29 Sie brachten nicht nur die Werke des Hugo von St. Viktor nach Sachsen, darunter auch dessen Hauptwerke zu erkenntnistheoretischen Fragen, die Kommentare zu der für den mittelalterlichen Neuplatonismus zentralen Hierarchia caelestis des Pseudo-Dionysius Areopagita als auch seine eigene Schrift zur Arche Noah, deren Weltkartenentwurf bereits angesprochen wurde.30 Darüber hinaus gingen auch die kommentierten Bücher der Bibel diesen Weg. Diese waren gerade erst vollständig an den Schulen Nordfrankreichs glossiert, d. h. auch mit dem reichlich vermehrten neuen Wissen angereichert worden.31 Die glossierte Bibel bot nun die neuartige Textorganisation glossierter Handschriften, wie etwa der Mitte des 12. Jahrhunderts in Frankreich entstandene Codex des Buches Josua mit Glossen (Abb. 4) aus der Stiftung des Hildesheimer Domkanonikers Harderadus an die Halberstädter Liebfrauenkirche zeigen kann.32 Der Bibeltext ist größer mitten auf der Seite geschrieben. Die Kommentare und kürzeren Begriffserläuterungen zu ihm erscheinen als Interlinearglossen über dem Bibeltext oder als umfangreichere Textblöcke marginal rund um diesen herum. Diese typische Organisation von erläuternden, Verständnis steuernden Subtexten um einen für sie als Referenzgröße dienenden Haupttext kennzeichnet, ins bildliche Medium übertragen, auch die Ebstorfer Weltkarte (Abb. 1). Bei dieser verteilen sich kürzere Texte und Benennungen wie Interlinearglossen auf die Bildelemente der Weltkarte selbst. Längere Texte erscheinen vereinzelt auf dem Erdenrund, vor allem aber, wie Marginalglossen, um die Weltscheibe herum. Führt man diese Analogie weiter, so ist hier das Bild von Gott und der Welt gleichsam der »Haupttext« der Karte. Um diesen als Bild angelegten Haupttext legen sich glossenartig die eigentlichen Textteile. Sehgewohnheiten, wie sie die Kleriker an den modernen glossierten Bibelhandschriften täglich schulten, führten bereits im 12. Jahrhundert dazu, dass auch Bilder mit Darstellungen Gottes und der Heilsgeschichte ganz analog zu diesen Handschriften organisiert wurden. In Hildesheim etwa wurde im Gegensatz zu älteren dort entstandenen Codices wie dem Evangeliar aus dem Hl.29 Vgl. Gallistl 2010, S. 64; sowie der Fall des Hildesheimer Bischofs Bruno, vgl. Heitzmann 2010. 30 Die Hierarchia caelestis erhalten (Hildesheim, Dombibliothek. HS. 627), De archa Noe in der Bibliotheksstiftung des Hildesheimer Bischofs Bruno nachgewiesen, vgl. Heitzmann 2010, S. 155, Anm. 7, S. 159. Zu Bischof Bruno und seiner Bibliothek vgl. auch Goetting 1984, S. 383 – 400, insbes. S. 384 und S. 397 f. 31 Vgl. Heitzmann 2010, S. 157 f. 32 Hildesheim, Dom-Museum, L 1998 – 14 (Leihgabe der Ernst von Siemens Kunststiftung München), vgl. zuletzt Ausst.Kat. Schätze im Himmel und auf Erden 2010, Kat. Nr. 57 (Patrizia Carmassi) mit Literatur, dazu Wolter-von dem Knesebeck 2008, S. 235 – 239, Abb. 2.
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Kreuz-Stift (Abb. 5) nach 1150 in Handschriften wie dem Stammheimer Missale (Abb. 6) ein szenisch komprimierter, neutestamentlicher bildlicher Kern von einem Kranz vor allem alttestamentlicher, typologisch auf diesen Kern bezogener Bilder umgeben. Dies geschah in Analogie zu der Art, in welcher die biblischen Haupttexte der glossierten Bibelhandschriften von ihren Glossen (Abb. 4) umgeben wurden:33 Die chiffrenartig verkürzten Randbilder unterstützten dabei das Verständnis des zentralen Bildes, der Auferstehung, wie die Glossen dasjenige des zentralen Bibeltextes. Sie verdeutlichten typologisch den neutestamentlichen Vorgang als Erfüllung der in ihnen und dem Alten Testament allgemein noch verborgenen Heilstatsachen. Die Randbilder ermöglichen so zugleich ein vertieftes Verständnis des im Hauptbild visualisierten Vorganges. Geometrische Muster unterstützen dabei vielfach die Bildaussage. So bietet die Ebstorfer Weltkarte das Kreuz, das sich aus den Gliedern Christi und Jerusalem in der Mitte herleiten lässt, wie die Miniatur des Stammheimer Missales ein Rahmenkreuz.34 Zugleich kann das Hauptbild indexikalisch auf die Nebenbilder verweisen. Neben ihrer engen Verbindung zur Textkultur lässt diese komplexe Leseweise seltener typologischer Darstellungen hier die Bilderwelt einer hochgebildeten Klerikerelite erkennen.35 Solche Bilder waren kein Schriftersatz für die leseunkundigen Laien, wie es Bilder nach dem berühmten Dictum Papst Gregors des Großen im Mittelalter sein sollten. Vielmehr waren die vielfach hochartifiziellen Bilder hochgeschätzte Vehikel der Erkenntnis für die Bildungselite. Und zwar auch, weil sie von dieser Elite selbst und in Reaktion auf die eigenen theoretischen Vorstellungen zu Formen der Wahrnehmung geschaffen wurden. Gerade die von den Viktorinern vertretene Vorstellung, dass die Welt in all ihren Erscheinungen ein lehrhaftes Beispiel für den Weisheit und Gott suchenden Menschen ist, war hier zentral. Sie trug dazu bei, dass alles Visuelle als Weg zur Erkenntnis im Hochmittelalter aufgewertet werden konnte. Auf dem Weg zur Weisheit als dem höchsten Gut, das der Mensch nach Hugo von St. Viktor erstreben kann, ist ein Zentralbegriff der Viktoriner in diesem Zusammenhang von Interesse. Es ist contuitus, d. h. eigentlich das Anschauen, der Anblick. Im Rahmen der verschiedenen Stufen der Betrachtung beschreibt er bei den Vik33 Zum Evangeliar aus Hl. Kreuz in Hildesheim, heute Hildesheim, Dombibliothek, Hs 688e und dem aus ihm stammenden Einzelblatt mit Kreuzigung in Limerick, The Hunt Museum, L 6, vgl. Stähli u. a. 1991, S. 149 – 160; Brandt 1996; Ausst.Kat. Abglanz des Himmels 2001, Kat. Nr. 3,8. Zum Stammheimer Missale, Los Angeles, The J. Paul Getty Museum, Ms. 64, vgl. Teviotdale 2001, insbes. S. 85 – 88; Ausst.Kat. Schätze im Himmel und auf Erden 2010, Kat. Nr. 24. 34 Vgl. Teviotdale 2001, S. 83 f., Fig. 54. 35 Vgl. zum Folgenden Harald Wolter-von dem Knesebeck 2001b, insbes. S. 108, zu den Ansätzen zu einer Bildtheorie, insbes. bei den Viktorinern, vgl. Meier 1990.
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torinern eine von Täuschungen und Fiktionen freie, vogelfluggleiche, umfassend-kosmische Schau alles Erkennbaren und der Wahrheit. Diese Schau kommt der Betrachtung der Welt durch Gott am nächsten. Gott sieht alles auf einmal. Gott erkennt jedes Einzelelement als solches und sieht es doch zugleich eingeordnet in seine größeren Zusammenhänge, den ordo, an seinem rechten Platz. Für Gott ist auch alles Ungleichzeitige zugleich vorhanden und sichtbar. Diese theoretischen Vorgaben lassen schon wesentliche Elemente einer Malerei erkennen, die auf das innere Auge zielt, das sich nicht nur die Viktoriner als vollkommener als das schwache äußere, körperliche Auge vorstellten. Mit schematisch-geometrischen Grundmustern wird dem schwachen äußeren Auge die Erkenntnis des ordo erleichtert, der den Erscheinungen innewohnt. Zugleich wird mit einer oft abstrahierenden Wiedergabe der Einzelelemente deren Besonderheit zurückgenommen. Darüber hinaus wird mit einer synoptischen Darstellung ungleichzeitiger Dinge der innere Zusammenhang der Geschichte als Heilsgeschichte verstärkt. Diese Vorstellungen lassen sich nicht nur auf die im 12. Jahrhundert moderne typologische Bildstruktur anwenden, sondern ebenso auf die über ein Jahrhundert jüngere Ebstorfer Weltkarte: Beide sind durch ein schematisch-geometrisches und zugleich sinngebendes Grundmuster gekennzeichnet, eine gewisse chiffrenartige Verkürzung der Einzelelemente und eine typologisch-heilsgeschichtliche Synopse. Den Rückbezug auf die Möglichkeiten der Ikone in einer solchen Bildform, und zwar durch die Integration ikonisch-christologischer Elemente – den nahansichtig wiedergegebenen Körperteilen Christi – bietet allerdings nur die Weltkarte. Diese für die mediale Gestalt der Ebstorfer Weltkarte entscheidende Entwicklung lässt sich gut bei sogenannten Beatusseiten des 13. Jahrhunderts ihres norddeutschen Entstehungsgebiets verfolgen.36 Beatusseiten sind Teil der reich mit Miniaturenschmuck versehenen Prachtpsalterien, die im Hochmittelalter zumeist Laien, vielfach vornehmen Frauen als Gebetbücher dienten. Sie nehmen am Beginn der Psalmen zumeist ganzseitig die große B-Initiale zum Beginn des ersten Psalms, Beatus vir, »Glückseliger Mann«, auf, der sie ihren Namen verdanken. Auf ihnen ist nun im 13. Jahrhundert eine Entwicklung zu beobachten, an deren Anfang eine chaotische All-over-Komposition in Form eines belebten Rankengeflechtes steht, wie etwa der Elisabethpsalter vom Beginn des 13. Jahrhunderts (Abb. 7) zeigen kann. Mit Kampf, Jagd und Verfolgung als Themenkreisen steht dieses Geflecht für die Welt und ihre Gefahren. Hiervon wendet sich David als der glückselige Mann des Psalmbeginns ab, um sich dem
36 Vgl. zum Folgenden Wolter-von dem Knesebeck 2006, S. 250 ff., sowie Wolter-von dem Knesebeck 2001c; Wolter-von dem Knesebeck 2005.
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Psalmtext zuzuwenden.37 In der Folge wird in der Beatusinitiale die Rankenformation beibehalten, sie wird aber etwa mit der Wurzel Jesse in eine Form gebracht,38 in der sie geometrisiert erscheint und zugleich eine positive Sinnhaftigkeit als Genealogie Christi enthält, die oben in einem Bild Christi gipfelt. Gegen 1250 werden die Initialen-Ranken immer großflächiger gestaltet und geometrisch verknappt, wobei sie schließlich vergrößerte Darstellungen Christi als ikonenartige Bilder umschließen. Unter diesen Bildern ist das Imago pietatis (Abb. 8) und die Veronika (Abb. 9).39 Als wahre Bilder Christi bezeichnen diese nun Christus selbst als wahren Inhalt der Psalmen. Die Entwicklung der Bildaufgabe Beatusseite geht somit im 13. Jahrhundert in Sachsen von kleinteilig ungeordneten Bildern für die chaotische Welt (Abb. 7) über die sinnhaft durch die Heilsgeschichte erfüllte und geordnete Welt in der Wurzel Jesse hin zu den nach Ikonenformularen gestalteten wahren Bildern Christi wie im Münchner (Abb. 8) und Pilsener Psalter (Abb. 9). Diese sind zugleich religiös privilegierte Bilder, sozusagen »visuelle Reliquien«, die zur langen, sich versenkenden Nahansicht einluden, ja den konzentrierten Blick geradezu inaugurierten. Strukturell erscheint die Ebstorfer Weltkarte (Abb. 1) nicht allzu weit entfernt zu sein von den spätesten der hier vorgestellten Beispielen für Beatusseiten in Psalterien dieser Region. Wie dort gipfelt sie in einem Bild Christi, in dem der Sinn der Welt bzw. der synoptisch gesehenen Weltgeschichte als Heilsgeschichte liegt. Wie in diesen Psalterien legt auch hier das wahre Bild Christi titelbildartig den Sinn einer ansonsten schwer zu strukturierenden Bilderwelt bloß. Diese Bilderwelt ist einmal die selbst bilderreiche Dichtung der Psalmen, von der es damals hieß, dass sie die ganze Bibel umfassen würde. Einmal ist sie eine vielteilige Weltkarte, deren ihr eigene Wahrheit durch das titelartig angefügte wahre Bild Christi qualifiziert wurde. Die synoptische Zusammenführung dieses Bil-
37 Zum Elisabethpsalter in Cividale del Friuli, Museo Archeologico Nazionale, Ms. CXXVII, vgl. Wolter-von dem Knesebeck 2001a, insbes. S. 206 – 217; Barberi 2002; allgemein zu der Deutung der Beatusinitialen vgl. Wolter-von dem Knesebeck 2001c; Wolter-von dem Knesebeck 2005. 38 So im jüngeren Wöltingeroder Psalter in Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 515 Helmst., vgl. Sommer 2000, Abb. 32; Ausst.Kat. Wolfenbütteler Cimelien 1989, S. 161 – 166. 39 München, Bayerische Staatsbibliothek, clm. 23094, vgl. Klemm 1988, S. 264, Kat. Nr. 235, mit Bibliographie. Speziell zur Beatusseite vgl. Vetter 1972, S. 179, Anm. 63, S. 181; Belting 1981, S. 256; Ausst.Kat. Stadt im Wandel 1985, insbes. Bd. 2, Kat.-Nr. 1036, Farbabb. auf S. 1190. Zu dem Psalter in Pilsen, Stadtarchiv, Sign. 32 d 71, ehem. Ossegg, Stiftsbibliothek, Hs. 69, vgl. Wolter-von dem Knesebeck 2002. Dass hier die Veronika zu sehen ist, belegt zudem der ganz ungewöhnlicherweise auf Passionsszenen konzentrierte Zyklus zum Leben Christi in den Psalmen. Zu Matthew Paris und der Veronika vgl. Lewis 1987, S. 126 – 131, Pl. IV – V.
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derreichtums im wahren Bild Christi legt auch dessen Beischrift auf der Weltkarte nahe: Alpha et Omega primus et novissimus.40 Seine Nahansichtigkeit wie auch die der stigmatisierten Gliedmaßen Christi, die alle in etwa lebensgroß erscheinen, verlangte dabei bewusst eine andere, mystisch sich versenkende Betrachtungsweise als die »Welt«. In dieser Welt drohte sich ein nur schweifender Blick wie in den »Weltranken« der frühen Beatusseiten zu verlieren. Dem konnte der Blick entgehen, in dem er gezielt zwischen Bildern und Texten hin und her ging, sozusagen an ihnen im Sinne der didaktisch-unterweisenden Funktion der Weltkarten arbeitete, wie dies etwa glossierte Bibeln (Abb. 4) und die ihnen folgende typologische Bildstruktur vorgaben. Ruhe fand der Blick aber nur in den Fixpunkten, »in Christo«, zu denen auch der Auferstandene gehört. Es ist dabei bezeichnend, dass gerade das Schweißtuch Christi und die deutlich mit den Stigmata gekennzeichneten Glieder Christi zu einer solchen Betrachtung einluden. So wurde im Zuge der sich seit dem 12. Jahrhundert verbreitenden Passionsmystik auch in Sachsen nachweislich vor dem Kruzifix zu den fünf einzelnen Wunden Christi gebetet.41 Schon der Gegensatz zwischen dem haltlos in der Welt schweifenden und dem in Christus Halt findenden Blick konnte religiös unterweisende Bedeutung haben. Die Kontemplation der Wunden und der Ablass für das Gebet vor der Veronika lassen eine Betrachtung der Karte vermuten, welche solche religiöse Belohnung versprach, und das heißt wohl im Kirchenraum.42 Auch die andernorts behandelte Rezeption und Weiterentwicklung der Schemabilder im liturgischen Raum in Sachsen weist in diese Richtung,43 auf eine Indienstnahme der Ebstorfer Weltkarte für religiöse Zwecke, für Frömmigkeitsübungen, jenseits der naheliegenden, aber kaum alleinigen Verwendung für didaktische Zwecke. Für die Darstellung Europas auf der Ebstorfer Weltkarte bedeutet dies: Europa als der »ordentlichste« Kontinent ist in dieser Ordnung, die dem frühscholastischen Zugriff auf die Welt zuarbeitet, positiv konnotiert. Dies gilt auch für Europas Stellung am Ende der topographisch-räumlich umgesetzten Geschichtssynopse, welche in der Karte ausgebreitet ist und grob gesagt von Ost nach West, von oben nach unten führt. Europa steht dabei am Ende der Translatio imperii wie der Translatio studii und genauso am Ende der Heilsgeschichte. Zugleich befindet es sich aus heilsgeschichtlich-eschatologischer Sicht auf der rechten Seite der großen in das Bild der Welt inskribierten Christusfigur, wenn 40 Vgl. Anm. 17. 41 Zu diesem Gebet im Donaueschinger Psalter vgl. Ausst.Kat. Die Zeit der Staufer 1977, insbes. Bd. 1, S. 601; Wolter-von dem Knesebeck 2002, S. 110 f. 42 Zum Ablass für ein Gebet vor der Veronika vgl. Lewis 1987, S. 126, Anm. 195; Belting 1990, S. 247 f., 604, zu dem Psalter in BesanÅon, BibliothÀque Municipale, Ms. 54, vgl. Swarzenski, 1936, S. 126 f., Abb. 555. 43 Vgl. Wolter-von dem Knesebeck 2006, S. 244 – 250.
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man in ihr auch den Richter des Jüngsten Gerichts erkennt, nämlich auf der Seite der Seligen, die sich zur Rechten Christi versammeln, um in das Paradies zurückzukehren, das sie oben auf der Weltkarte in Asien verloren hatten. Vor dem Hintergrund des eingangs dargelegten, inhaltlich begründeten Gegensatzes zwischen den als Fixpunkten gedachten christologischen Elementen der Weltkarte und der in schwingender Unordnung gehaltenen Welt ist es sicherlich eine bewusste Gestaltung, dass Jerusalem nicht als die historische Stadt, sondern als die goldglänzende, zwölftorige Stadt der Apokalypse erscheint und auf diese Weise als Zielpunkt der Heilsgeschichte von den anderen Städten abgerückt wird. Genauso bewusst war wohl die Entscheidung, den Auferstandenen in Jerusalem vom Betrachter weg um 90 Grad nach Norden gedreht zu zeigen. Vielleicht kann dies aus der Einbindung des Auferstandenen in die weltumspannende Darstellung Christi erklärt werden. Diese ist wie dargelegt deutlich auf die Passion ausgerichtet und daher auch als eine Art Darstellung des Gekreuzigten zu verstehen. So gesehen könnte der nach Norden gewandte Auferstehende auf die Geburt der Kirche aus der Seitenwunde des Gekreuzigten auf dessen rechter Seite bezogen sein, wie dies einige Kreuzigungen des 13. Jahrhundert in der Bible Moralis¦e zeigen.44 Kreuzestod und Auferstehung als zentrale Heilstatsachen auf dem Weg hin zu der dann auf der ganzen Weltkarte mit den Apostelgräbern gefeierten Ausbreitung der Kirche würden sich hierbei dann mit einer besonderen Würdigung Europas verbinden. Europa erschiene nicht nur als der am stärksten geordnete Kontinent der Städte und Wege, bei dem sich Monstren nur an seinen Grenzen im Osten tummeln. Europa wäre zugleich aus Sicht des Gekreuzigten auf der richtigen, rechten Seite, wie die Ecclesia bei der Kreuzigung, auf der Seite, an der sich ja auch vor dem Richter beim Jüngsten Gericht die Seligen einfinden werden. Mit der von den topographischen Realitäten entrückten Darstellung Jerusalems als himmlisches Jerusalem und der Drehung des Auferstanden mag daher dasselbe Ziel verfolgt worden sein: das in heilsgeschichtlicher Sicht eher marginale, im Vergleich zu Asien, dem Ort des Paradieses, zudem recht kleine Europa aufzuwerten und sich zugleich der Bedeutung Jerusalems, das als realer Ort nur schwer zu erreichen und noch schwerer zu beherrschen war, auf einer höheren Ebene zu bemächtigen. Mit dem gerade an der Charakterisierung Europas innerhalb der Struktur der Karte erkennbar werdenden Potential der Identifikation stiftenden Weltdeutung durch Bilder tritt die monumentale Weltkarte, trotz ihrer eher handwerklichen Machart, als Bild in eine interessante Verbindung zu den großen Errungenschaften der Malerei um und bald nach 1300 im europäischen Bereich, in denen Giotto und seine Schüler mit großangelegten
44 Vgl. Schiller 1976, S. 90 f., Abb. 217 – 220.
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Allegorien die Interpretationsfähigkeit der Bilder und ihre Fähigkeit, komplexere Sachverhalte darzustellen und zu formen, erheblich erweiterten.
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Abbildungen
Abb. 1: Ebstorfer Weltkarte, Kopie, Kloster Ebstorf
Abb. 2: Ebstorfer Weltkarte, Europa, Kopie, Kloster Ebstorf
Abb. 3: Ebstorfer Weltkarte (Löwendenkmal Heinrichs des Löwen), Herzogtum BraunschweigLüneburg, Kopie, Kloster Ebstorf
Abb. 4: Glossierte Handschrift des Josua aus der Stiftung des Harderadus, Hildesheim, Dom-Museum, Leihgabe der Ernst von Siemens Kunststiftung, fol. 2v, Textbeginn
Abb. 5: Evangeliar aus Hl. Kreuz, Hildesheim, Dombibliothek, Hs. 688e, fol. 56v – 56r, Auferstehung Christi und der Toten, die Frauen am Grabe, Noli me tangere
Abb. 6: Stammheimer Missale, Los Angeles, J. Paul. Getty Museum, Ms. 64, fol. 111r, Auferstehung und Frauen am Grabe mit typologischen Bildern
Abb. 7: Elisabethpsalter, Cividale del Friuli, Museo Archeologico Nazionale, Ms. CXXXVII, fol. 14v, Beatusseite
Abb. 8: Psalter, München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 23094, fol. 7v, Beatusseite
Abb. 9: Psalter, Pilsen, Stadtarchiv, Sign. 32d71, fol. 5v, Beatusseite
Matthias Becher
Ein Reichsgründer und sein Historiograph: Gregor von Tours über Chlodwig und dessen Taufe
Im September des Jahres 869 zog der westfränkische König Karl der Kahle nach Metz, um sich dort zum König von Lothringen weihen zu lassen.1 Wenige Wochen zuvor war sein Neffe Lothar II. (855 – 869) gestorben, ohne einen legitimen Sohn und Erben zu hinterlassen. Die Leitung der Zeremonie lag in den Händen des Erzbischofs Hinkmar von Reims.2 Während der Feierlichkeiten verwies der Erzbischof darauf, wie wichtig Reims für das fränkische Königtum sei. Dessen Begründer sei Chlodwig (481 – 511) gewesen, der den gleichen Namen gehabt habe wie Karls Vater Ludwig der Fromme (814 – 840). Chlodwig, von Hinkmar sogar als Vorfahr Karls bezeichnet, sei einst vom heiligen Remigius von Reims nicht nur getauft, sondern auch zum König gesalbt worden. Hinkmar habe dazu ein vom Himmel gekommenes Salböl benutzt, dessen Reste sich wunderbarerweise noch immer in Reims befänden.3 Woher Hinkmar diese Information hatte, lässt sich nicht mehr feststellen, auch nicht, ob er Karl den Kahlen tatsächlich damit gesalbt hat.4 Aber so alt, wie von Hinkmar behauptet, kann diese Tradition 870 jedenfalls nicht gewesen sein, denn erst 751 war mit Pippin dem Jüngeren der erste Frankenkönig überhaupt gesalbt worden, ohne dass die Salbung damit zum festen Bestandteil des fränkischen Erhebungsbrauches geworden wäre. Erst im Verlauf des 9. Jahrhunderts wurde sie allmählich zum festen Bestandteil der Königserhebung.5 An anderer Stelle stellte Hinkmar das Geschehen etwas anders dar : In seiner Lebensbeschreibung des Remigius ist nicht mehr von der Königssalbung die Rede, sondern allein von der Taufsalbung. Allerdings vermehrt Hinkmar diese 1 Vgl. Schlesinger 1970, S. 454 – 475 = Schlesinger 1987, S. 173 – 198; Nelson 1992, S. 219 f. 2 Zu ihm vgl. Stratmann 1991; Schneider 2010. 3 Vgl. Capitularia regum Francorum II 1897, S. 340 (Nr. 276); Annales Bertiniani 1964, S. 162 f. (a. 869); zur Sache vgl. Nelson 1990, S. 22 – 26; zur Traditionsbildung Kramp 1996, S. 91. 4 Vgl. Immerhin lassen sich Hinweise darauf in der älteren liturgischen Tradition der Reimser Kirche finden, vgl. Semmler 2003, S. 122, Anm. 479, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. 5 Vgl. Semmler 2003, S. 111 – 127.
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um ein weiteres wunderbares Element: Während der Zeremonie hätten sich derart viele Personen im Baptisterium aufgehalten, dass der zuständige Kleriker das Chrisam nicht zu Remigius habe bringen können. Plötzlich sei eine Taube vom Himmel geflogen und habe dem Bischof eine Ampulle mit Salböl überbracht.6 Auch wenn hier nicht von einer Königsweihe die Rede ist, so wurde diese Verbindung doch bald hergestellt. Hinkmar hatte dank seiner Autorität als einflussreichster westfränkischer Bischof seiner Zeit für die Verbreitung einer Tradition gesorgt, die für die Geschichte des französischen Königtums entscheidend werden sollte: die Königsweihe in Reims einschließlich der Salbung mit dem dafür einst vom Himmel gesandten Öl. Sie verschaffte Reims spätestens seit der Regierung Ludwigs VI. (1108 – 37) die Auszeichnung, Krönungsort der französischen Könige zu sein.7 Die Salbung mit diesem heiligen Öl machte dank ihrer reinigenden Wirkung aus dem König eine besondere Person, der man seit dem 11. Jahrhundert sogar übernatürliche Kräfte zusprach: die Fähigkeit, Skrofeln, ein Halsgeschwür, durch bloßes Handauflegen heilen zu können. Ein weiteres zentrales Charakteristikum der französischen Monarchie wurde ebenfalls mit Chlodwig in Verbindung gebracht: das Lilienwappen. Seit dem 13. Jahrhundert wurde seine Verwendung in sagenhaften Berichten auf Chlodwig zurückgeführt. Eine dieser Legenden wurde um 1350 in einem an sich recht unbedeutenden Prämonstratenserkloster in der Diözese Chartres aufgezeichnet.8 Demnach lebten einst in Frankreich zwei heidnische Könige, Chlodwig und Conflat, die unablässig Krieg gegeneinander führten. Als es wieder einmal so weit war, wollte Chlodwig sich zum Kampf rüsten, musste aber feststellen, dass seine Waffen plötzlich drei goldene Lilien auf blauem Grund zeigten und nicht die üblichen Halbmonde. Diese wurden im Spätmittelalter als typisch heidnisches Symbol interpretiert, weil es das religiöse Zeichen der Sarazenen war. Chlodwig gab die Waffen zurück und verlangte neue. Dies wiederholte er insgesamt vier Mal, aber immer zeigten sie das neue Sinnbild. So rüstete Chlodwig sich schließlich unter dem Zeichen der Lilien zum Kampf. Hinter dem geheimnisvollen Geschehen stand der Legende zufolge die Königin Chrodechilde (Chlothilde). Sie war bereits Christin und besuchte oft einen Einsiedler im Tal (von Joyenval), um gemeinsam mit ihm zu beten, so auch kurz vor dem anstehenden Kampf Chlodwigs mit Conflat. Da erschien dem Eremiten ein Engel, der einen blauen, mit goldenen Lilien verzierten Schild hielt, und verkündete, unter diesem Wappen würde Chlodwig siegen. Daher veranlasste die Königin jene Veränderung des königlichen Waffenschmucks, und tatsächlich besiegte 6 Vgl. Hinkmar von Reims 1896, S. 296 f. (15). 7 Vgl. Le Goff 1997. 8 Hierzu und zum Folgenden vgl. Beaune 1985, S. 59, 252 – 255; Lombard-Jourdan 1991, S. 17 – 47; Ludwig 1997, S. 246 f.
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Chlodwig seinen Feind. Danach berichtete Chrodechilde ihm über die Himmelserscheinung, und er trat zum Christentum über. Unter Karl V. wurden in der 2. Hälfte des 14. Jh. diese Legende von Chlodwig und dem Lilienwappen und die Tradition vom himmlischen Krönungsöl zu einem französischen Königsmythos kombiniert, der die Gottunmittelbarkeit des französischen Königtums, ja sogar dessen heiligmäßigen Charakter betonte.9 Dieser Anspruch diente der inneren Stabilisierung Frankreichs angesichts vielfältiger Herausforderungen. So galt es, die neue Dynastie der Valois gegenüber den Ansprüchen der englischen Könige zu stärken, die zum Hundertjährigen Krieg geführt hatten. Zudem pochte der französische König auf die Gleichrangigkeit sowohl mit dem Papst als auch mit dem Kaiser. Dafür eignete sich der Bezug auf Chlodwig, den nach – damaliger Ansicht – ersten französischen König, besonders gut. Seine Siege und sein Übertritt zum christlichen Glauben wurden unmittelbar auf das Eingreifen Gottes zurückgeführt, was auf seine Nachfolger abstrahlte. Die französische Monarchie war daher gewissermaßen von Gott selbst eingesetzt worden und brauchte daher hinter keiner anderen Macht zurückzustehen. Auf der Entscheidung Chlodwigs, zum Christentum überzutreten, gründete die französische Monarchie also Jahrhunderte später ihre Legitimität und ihre Souveränität. Wie steht es aber um den historischen Chlodwig, wie um die tatsächlichen Umstände seiner Entscheidung für das Christentum? Für all diese Fragen sind wir weitgehend auf eine einzige Quelle angewiesen, auf die Libri Historiarum decem des Gregor von Tours. Um die Glaubwürdigkeit seiner Berichte über Chlodwig ist es aber nach Auffassung der neueren Forschung nicht viel besser bestellt als um die über Remigius oder anderer Legenden.10 Tatsächlich war Gregor auch kein Zeitzeuge, vielmehr wurde er erst rund 30 Jahre nach Chlodwigs Tod 511 geboren und starb 594.11 Die ersten vier Bücher seines insgesamt zehn Bücher umfassenden Werkes verfasste er um 575, kurz nachdem er 573 zum Bischof von Tours aufgestiegen war. Die zeitliche Distanz zu den Ereignissen ist also bereits erheblich, was die Gelegenheit für die Ausformung einer Erinnerung an Chlodwig geboten haben könnte, die mit den Geschehnissen tatsächlich nicht mehr viel gemeinsam hatte. Im Zentrum von Gregors Berichten über Chlodwig steht dessen Bekehrung, so dass der französische Chlodwig-Mythos auf einer Darstellung beruhte, die lange Zeit höchstes Ansehen genoss. Unabhängig von dieser Traditionsbildung ist nach der Glaubwür9 Vgl. die grundlegenden Darstellungen von Bloch 1924 (deutsche Ausgabe 1998), und Schramm 1960, S. 145 – 150. 10 Den Anstoß zu einer kritischeren Sicht auf Gregors Darstellung Chlodwigs gab v. a. Wood 1985; vgl. auch Halsall 2001; James 2009. 11 Grundlegend Heinzelmann 1994; aus der schier unüberschaubaren Literaturfülle seien noch genannt: Goffart 1988; Mitchell / Wood 2002; Plassmann 2006, S. 116 – 147.
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digkeit dieses Berichts zu fragen, wobei nicht die seit langem kontrovers diskutierte Frage der Datierung – die Forschung schwankt zwischen 496 und 509 – im Mittelpunkt stehen soll,12 sondern die Darstellung Gregors über die eigentliche Entscheidung des Merowingers, den christlichen Glauben anzunehmen.13 Diese schließt unmittelbar an den Bericht über die Eheschließung Chlodwigs mit Chrodechilde an, einer christlich-katholischen Burgunderprinzessin: Der König bekam nun von der Königin Chrodechilde den ersten Sohn. Sie wollte ihn taufen lassen und drang deshalb unaufhörlich in ihren Gemahl und sprach: ›Nichts sind die Götter, die ihr verehrt, denn sie können sich und andern nicht helfen. Sie sind nämlich ein Gebilde aus Stein, Holz oder Erz. Und die Namen, die ihr ihnen beigelegt habt, gehörten einst Menschen an, nicht Göttern: wie Saturnus ein Mensch war, der seinem Sohne durch die Flucht entronnen sein soll, damit er nicht sein Königreich verliere, und wie Jupiter selbst, der allerschmutzigste Eheschänder, der Männer schändete, Frauen, die ihm blutsverwandt waren, beschimpfte und mit seiner eigenen Schwester in Blutschande lebte, wie sie selbst sagt, sie sei ›des Gottes Schwester und Gattin zugleich‹. (…) Wie viel mehr muß nicht der verehrt werden, der Himmel und Erde, Meer und alles, was darinnen ist, durch sein Wort aus dem Nichts geschaffen hat (…)!‹ Aber wie oft auch die Königin so sprach, sie konnte doch des Königs Gemüt nicht zum Glauben bekehren. ›Auf unserer Götter Geheiß, sagte er, wird alles geschaffen und erzeugt, euer Gott vermag augenscheinlich nichts und ist, was noch mehr ist, nicht einmal vom Stamme der Götter.‹14
Zunächst fällt auf, dass Gregor eine Vorliebe für die Wiedergabe von Unterhaltungen hatte. Eine solche Darstellungsform weckt stets das Misstrauen der Historiker, ist es doch kaum wahrscheinlich, dass ein Dialog über viele Jahrzehnte hinweg tradiert worden ist. Tatsächlich nutzte Gregor das Stilmittel der direkten Rede in seinem Geschichtswerk konsequent, um die Gesinnung der Handelnden herauszuarbeiten. Im Einzelnen geht es hier zunächst um eine religionsphilosophische Unterhaltung Chrodechildes und Chlodwigs. Sie ist in der vorliegenden Form erkennbar eine Erfindung Gregors. Die Ansprache Chrodechildes ist nach dem Vorbild zeitgenössischer Predigten verfasst, die für ein römisches Publikum gedacht waren. Daher rührt vermutlich auch der verbale Angriff auf die führenden Vertreter der römischen Götterwelt.15 Chlodwig erscheint bei Gregor als überzeugter Heide, der kompromisslos an seiner Religion festhält. Der historische Kern des Berichts ist letztlich nicht überraschend: König und Königin haben sich auch über Glaubensfragen unterhalten, wobei 12 Vgl. etwa Wood 1985, S. 265 – 271; Weiss 1971; Spencer 1994; Shanzer 1998; zusammenfassend Kaiser 2004, S. 89 f.; der Vf. selbst neigt zu 496, vgl. Becher 2011, S. 199 f., 205 f. 13 Die folgenden Überlegungen beruhen auf meinen Ausführungen in meiner Chlodwig-Biographie, sind aber prononcierter gefasst und mit ausführlicheren Belegen versehen, die nicht dem Charakter dieses Buches entsprochen hätten; vgl. Becher 2011, S. 177 – 186. 14 Gregor von Tours 1951, S. 74 (II, 29); Übersetzung nach Buchner 1977, S. 115. 15 Vgl. Thürlemann 1974, S. 74 – 81.
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Chrodechilde sich in ihrer gemischten Ehe durchaus so verhielt, wie es die Kirche von ihr erwartete: als engagierte Vertreterin ihres Glaubens.16 Als Quelle dieser Passage gilt im übrigen Chrodechilde selbst, die ihre lange Witwenzeit nach Chlodwigs Tod 511 größtenteils in Tours verbrachte, wo sie 544 verstarb. Die Vermutung liegt nahe, dass sie während dieser langen Zeit intensiven Kontakt mit den Bischöfen und anderen führenden Geistlichen der Stadt gepflegt hat, im Zuge dessen auch ihre Rolle beim Glaubenswechsel Chlodwigs zur Sprache gekommen ist. Deswegen war die Erinnerung daran in der Stadt des heiligen Martin besonders ausgeprägt. Gregor, der 573 zum Bischof von Tours erhoben worden war, lernte diese Erzählungen möglicherweise aus zweiter Hand kennen und hat sie zur Grundlage der entsprechenden Abschnitte seines Werkes gemacht. Ebenfalls auf Informationen der Königin selbst dürfte der Fortgang der Geschichte zurückgehen. Die Lage spitzte sich demnach dramatisch zu: Indessen aber brachte die gläubige Königin ihren Sohn zur Taufe und ließ die Kirche mit Teppichen und Decken schmücken, auf daß er, der durch die Predigt nicht bekehrt werden konnte, durch diese festliche Handlung zum Glauben erweckt werde. Ihr Sohn aber, den man Ingomer nannte, starb, als er getauft, noch in den weißen Kleidern, in denen er das Bad der Wiedergeburt empfangen hatte. Da schwoll dem Könige die Galle, und er schalt heftig die Königin und sprach: ›Wäre der Knabe geweiht im Namen meiner Götter, gewiß er lebte noch; nun aber, da er im Namen eures Gottes getauft ist, konnte er nicht leben.‹ Danach gebar sie einen anderen Sohn, den sie in der Taufe Chlodomer nannte, und als er anfing zu erkranken, sprach der König: ›Es kann mit ihm nicht anders ergehen, als mit seinem Bruder, daß er getauft im Namen eures Christus alsbald sterbe.‹ Aber durch das Gebet der Mutter wurde auf des Herrn Geheiß das Kind wieder gesund.17
Chlodomer ist als ältester (überlebender) Sohn des Königspaares bekannt. Allerdings erscheint die Haltung des Königs nicht ganz konsequent: Als die Königin den erstgeborenen Sohn trotz seiner eindeutigen Stellungnahme für die heidnische Religion taufen lässt und dieser dann verstirbt, ist er zwar zornig, nimmt das Handeln der Königin aber hin. Dabei kam ihm als Familienvater die volle Verfügungsgewalt über seine Kinder zu: Von der Namengebung – der Neugeborene erhielt tatsächlich einen Namen in merowingischer Familientradition – bis hin zur Frage der Taufe. Soll man sich vorstellen, dass dieser Akt ohne Zustimmung des Königs hätte vollzogen werden können? Wohl kaum – vielmehr zeigt die christliche Taufe des Erstgeborenen, dass Chlodwig selbst bereits auf dem Weg zur christlichen Religion war. Er folgte dabei einer Taktik, die etwa auch von den angelsächsischen Königen bekannt ist: Der König selbst 16 Vgl. Nolte 1995, S. 69 – 134. 17 Gregor von Tours 1951, S. 75 (II, 29); Übersetzung nach Buchner 1977, S. 115 – 117.
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blieb Heide, während einer der Söhne, vielleicht sogar der älteste getauft wurde.18 So konnten sich die Gefolgsleute langsam an den Gedanken an die bevorstehende grundsätzliche Veränderung gewöhnen. Nur so ist es zu erklären, dass auch der zweite Sohn getauft werden durfte. Wäre Chlodwig der unnachgiebige Heide gewesen, als den Gregor ihn hier aus Gründen der Dramaturgie schildert, so hätte er spätestens die Taufe seines Zweitgeborenen zu verhindern gewusst. Die Entscheidung zugunsten des Christentums fällt nach Gregor schließlich nicht in der Auseinandersetzung zwischen den Ehegatten, sondern in einem Kontext, der dem kriegerischen König viel angemessener war – auf dem Schlachtfeld: Die Königin aber ließ nicht ab in ihn zu dringen, daß er den wahren Gott erkenne und ablasse von den Götzen. Aber auf keine Weise konnte er zum Glauben bekehrt werden, bis er endlich einst mit den Alemannen in einen Krieg geriet: da zwang ihn die Not zu bekennen, was sein Herz vordem verleugnet hatte. Als die beiden Heere zusammenstießen, kam es zu einem gewaltigen Blutbad, und Chlodwigs Heer war nahe daran, völlig vernichtet zu werden. Als er das sah, erhob er seine Augen zum Himmel, sein Herz wurde gerührt, seine Augen füllten sich mit Tränen und er sprach: ›Jesus Christ, Chrodechilde verkündet, du seiest der Sohn des lebendigen Gottes; Hilfe, sagt man, gebest du den Bedrängten, Sieg denen, die auf dich hoffen – ich flehe dich demütig an um deinen mächtigen Beistand: gewährst du mir jetzt den Sieg über diese meine Feinde […], so will ich an dich glauben und mich taufen lassen auf deinen Namen. […] Dich nun rufe ich an, und ich verlange, an dich zu glauben; nur entreiße mich aus der Hand meiner Widersacher.‹ Und da er solches gesprochen hatte, wandten die Alemannen sich und fingen an zu fliehen. Als sie aber ihren König getötet sahen, unterwarfen sie sich Chlodwig […] Da tat er dem Kampfe Einhalt, ermahnte das Volk und kehrte in Frieden heim; der Königin aber erzählte er, wie er Christi Namen angerufen und so den Sieg gewonnen habe. [Das geschah im fünfzehnten Jahr seiner Regierung.]19
Die Forschung hat stets ihr Augenmerk auf diese sogenannten Bekehrungsschlacht gelegt und dabei vor allem die Fragen nach ihrer Lokalisierung – wohl nicht Zülpich – und nach ihrer Datierung zu beantworten gesucht.20 Aber schon Wolfram von den Steinen hat auf die interessante Erzählstruktur aufmerksam gemacht: Die Schlacht selbst wird nur ganz kurz erwähnt, zentral ist das Stoßgebet des Königs, der sich an den »Gott Chrodechildes« wendet. Seinen von der glücklichen Wendung der Schlacht begünstigten Sinneswandel offenbart er diesem Bericht zufolge auch erst seiner Gemahlin. Diese Betonung von Chrodechildes Rolle gerade in der Passage über die Alemannenschlacht, an der sie selbst gar nicht teilgenommen hatte, legt die Vermutung nahe, dass die Erzählung nur auf die Königin selbst zurückgehen kann. Von den Steinen meinte 18 Vgl. Nolte 1995, S. 78. 19 Gregor von Tours 1951, S. 75 f. (II, 30); Übersetzung nach Buchner 1977, S. 117. 20 Zur Lokalisierung vgl. Geuenich 1998; zur Datierung die oben, Anm. 12, genannte Literatur.
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sogar, den möglichen Wortlaut der Erzählung Chrodechildes aus Gregors Bericht rekonstruieren zu können.21 Das geht sicherlich zu weit und unterschätzt Gregors Gestaltungswillen, aber wenigstens die Auffassung der Königin über ihre eigene Rolle zeigt diese Passage zur Genüge. Selbst wenn sie diese übertrieben haben sollte, seiner christlichen Königin wird Chlodwig seine Entscheidung recht bald mitgeteilt haben. Festzuhalten ist aber auch, dass der Ort der Alemannenschlacht nicht genannt wird und auch eine genaue zeitliche Einordnung ursprünglich gefehlt hat. Im Text heißt es schlicht aliquando (»einst, irgendwann«). Die Einordnung in das 15. Jahr der Herrschaft Chlodwigs ist ein Nachtrag, der zwar in den wichtigsten, aber eben nicht in allen Handschriften enthalten ist. Daraus muss man nicht unbedingt folgern, die Angabe sei falsch.22 Sicher aber ist, dass weder für Gregor noch für Chrodechilde selbst die genaue Verortung oder Datierung der Geschichte über die Alemannenschlacht von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Wichtig waren ihnen allein das Eingreifen Gottes auf Seite der Franken in die Schlacht und die Entscheidung Chlodwigs für den »Gott Chrodechildes«. Insgesamt scheint uns Heutigen gerade dieser Aspekt kaum glaubhaft, aber dem Zeitgenossen war er ungemein wichtig, so dass Gottes Wirken in der Welt in den verschiedenen Quellen über Chlodwigs Hinwendung zum Christentum immer wieder thematisiert wird. Aber natürlich fällt ein militärischer Erfolg nicht vom Himmel: Aus Gregors Bemerkung über den Tod des Alemannenkönigs kann man folgern, dass diese – aus ihrer Sicht – äußerst unglückliche Wendung des Kampfes die Alemannen zur Flucht veranlasst hat. Mit diesem Sieg war Gregor von Tours zufolge die Bekehrung des Königs Chlodwig aber noch nicht abgeschlossen. Er berichtet weiter, Chrodechilde habe nun Bischof Remigius von Reims eingeschaltet: Darauf ließ die Königin heimlich den Bischof von Reims, den heiligen Remigius, rufen und bat ihn, er möchte dem König das Wort des Heils zu Herzen führen. Der Bischof aber beschied ihn im Geheimen zu sich und fing an, ihm nahe zu legen, er solle an den wahren Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde glauben und den Götzen den Rücken wenden, die weder ihm noch anderen helfen können. Jener aber sprach: ›Gern würde ich, heiligster Vater, auf dich hören, aber eins macht mir noch Bedenken. Das Volk, das mir anhängt, duldet nicht, dass ich seine Götter verlasse; doch ich gehe und spreche mit ihnen nach deinem Wort.‹ Als er darauf mit den Seinigen zusammentrat, rief alles Volk zur selben Zeit, noch ehe er den Mund auftat, denn die göttliche Macht kam ihm zuvor: ›Wir schwören den sterblichen Götter ab, gnädiger König, und sind bereit, dem unsterblichen Gott zu folgen, den Remigius verkündet.‹23 21 Vgl. von den Steinen 1932, S. 426 f. 22 Zur Diskussion der verschiedenen chronologischen Angaben Gregors über die Lebens- und Herrschaftszeit Chlodwigs vgl. Levison 1898; Becher 2011, S. 18 – 21. 23 Gregor von Tours 1951, S. 76 f. (II, 31); Übersetzung nach Buchner 1977, S. 117 f.
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Der Schritt der Königin, sich an Bischof Remigius zu wenden, erscheint folgerichtig: Soissons hatte zwar einen Bischof, Principius, den Bruder des Remigius, aber der Bischof von Reims nahm als Metropolit der Provinz Belgica II einen höheren Rang ein als Principius, und sein Ansehen in ganz Nordgallien war außerordentlich groß.24 Außerdem standen Remigius und Chlodwig spätestens seit dessen Sieg über Syagrius 486 im engen Kontakt.25 Dagegen könnte es unglaubwürdig scheinen, dass Remigius den König zu sich kommen ließ und nicht dieser andersherum den Bischof zu sich bestellte. Doch entsprach dieses Vorgehen den Gepflogenheiten bei einer Konversion: Der Bekehrungswillige sollte sich zunächst mit einem Gemeindemitglied besprechen, bevor beide sich zum zuständigen Geistlichen begaben.26 Dies dürfte auch für einen König gegolten haben, dessen hoher weltlicher Stand dadurch gewürdigt wurde, dass mit Remigius der ranghöchste Geistliche seines Reiches als Ansprechpartner Chlodwigs fungierte. Danach kommt Gregor auf den wichtigsten weltlichen Aspekt von Chlodwigs Taufvorhaben zu sprechen, die Haltung seiner Gefolgsleute, die sich scheinbar spontan seinem Entschluss anschlossen. Auch diese Reaktion mutet zunächst wundersam an, entspricht aber vermutlich der realen Machtverteilung zwischen einem König und seinen Großen. Ohne ihre Zustimmung, ihren Konsens, konnte Chlodwig seinen Entschluss nur schwer in die Tat umsetzen. Im früheren Mittelalter wurden wichtige Entscheidungen üblicherweise in geheimen Verhandlungen vorbereitet, worauf Gerd Althoff mit Nachdruck hingewiesen hat.27 In diesen Beratungen konnte ein starker Herrscher seine Vorstellungen meistens durchsetzen. Wer dem nicht folgen wollte, entfernte sich spätestens, nachdem die Entscheidung gegen ihn gefallen war. Am Ende stand eine öffentliche Versammlung unter Vorsitz des Königs, auf der die Teilnehmer – zum Schein vielleicht sogar spontan – dem Wunsch des Königs zustimmten. Gregor von Tours konzentrierte sich bei seinem Bericht auf diesen Aspekt und rückte den Glaubenswechsel der Franken damit in die Nähe eines Wunders. Als die Entscheidung gefallen war, ging die Initiative für die Tauffeierlichkeiten an Bischof Remigius über. Darin wird man Gregor von Tours durchaus folgen dürfen: Solches wurde dem Bischof gemeldet, und er befahl hocherfreut, das Taufbad vorzubereiten. Mit bunten Decken wurden nun die Straßen behängt, mit weißen Vorhängen die Kirchen geschmückt, die Taufkirche in Ordnung gebracht, Wohlgerüche verbrei24 Zu ihm vgl. Schäferdiek 1983. 25 Vgl. Epistolae austrasicae 1883, S. 113 (Nr. 2); zur chronologischen Einordnung zuletzt Becher 2011, S. 153 f. 26 Vgl. von den Steinen 1932, S. 455 f. 27 Vgl. Althoff 1990.
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teten sich, es schimmerten hell die duftenden Kerzen, und das ganze Heiligtum der Taufkirche wurde von himmlischem Wohlgeruch erfüllt. Solche Gnade ließ Gott denen zuteil werden, die damals gegenwärtig waren, dass sie meinten, sie seien in die Wohlgerüche des Paradieses versetzt. Zuerst verlangte der König vom Bischof getauft zu werden. Er ging, ein neuer Konstantin, zum Taufbade hin, sich rein zu waschen von dem alten Aussatz und sich von den schmutzigen Flecken, die er von alters her gehabt, im frischen Wasser zu reinigen. Als er aber zur Taufe hintrat, redete ihn der Heilige Gottes mit beredtem Munde also an: ›Beuge still deinen Nacken, Sicamber, verehre, was du verfolgtest, verfolge, was du verehrtest.‹ Es war nämlich der heilige Bischof Remigius, ein Mann von hoher Wissenschaft und besonders in der Kunst der Beredsamkeit erfahren, aber auch durch Heiligkeit zeichnete er sich so aus, dass er an Wundertaten dem heiligen Silvester gleich kam. […]28
Die recht genaue Beschreibung der Taufvorbereitungen hat von den Steinen als Wiedergabe einer Reimser Tradition gedeutet, die Remigius zur Hauptperson des Taufaktes stilisiert habe.29 In diese Richtung weist auch der Entschluss der Franken, sich zu dem Gott zu bekehren, »den Remigius verkündet«. Zu dieser Reimser Tradition gehört wohl auch die Gleichsetzung des Bischofs mit Papst Silvester und Chlodwigs mit Konstantin dem Großen.30 Die Forschung hat Chlodwigs Glaubensentscheidung in der Schlacht gegen die Alemannen daher mit der Schlacht an der Milvischen Brücke verglichen.31 Aber gerade im Zusammenhang mit der Alemannenschlacht unterbleibt der Hinweis auf Konstantin, und auch sonst gibt es kaum Gemeinsamkeiten bei den Bekehrungen der beiden Herrscher : Konstantin hatte der Tradition zufolge vor der Schlacht eine christliche Vision, die ihn dazu bewog, sich zusammen mit seinen Soldaten unter Gottes Schutz zu begeben und unter einem christlichen Symbol in den Kampf zu ziehen.32 Chlodwig dagegen wendet sich während der Schlacht an Christus, ändert aber nach außen hin nichts an seinem Verhalten oder an seinen Feldzeichen, so dass die fränkischen Krieger oder gar die Feinde seine geänderte Haltung nicht zur Kenntnis nehmen konnten. Außer der sehr generellen Gemeinsamkeit, der wahre Gott könne Schlachten entscheiden, hat Gregors Bericht über die Alemannenschlacht wenig mit der Tradition von Konstantins Bekehrung gemeinsam. Gregor spielt also eher nicht auf den an der Milvischen Brücke 28 Gregor von Tours 1951, S. 77 (II, 31); Übersetzung nach Buchner 1977, S. 119. 29 Vgl. von den Steinen 1932, S. 429 – 443. 30 Im Hinblick auf Remigius vgl. von den Steinen 1932, S. 438 ff.; Schäferdiek 1983, S. 264; im Hinblick auf Konstantin vgl. Ewig 1956 = ders. 1976, S. 72 – 113, S. 28, 96 f.; Kaegi 1958, S. 305; Linder 1975, S. 64. 31 So etwa noch Uffelmann 2008, S. 85 f., dem zwar ebenfalls die Unterschiede zwischen dem Sieg Konstantins an der Milvischen Brücke und Chlodwigs Alemannensieg bewusst sind, aber die strukturelle Ähnlichkeit betont; zu diesem Aspekt vgl. aber Neumann 1996, S. 81 – 86, S. 83. 32 Vgl. Brandt 2006, S. 53 – 59.
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siegreichen Konstantin an, sondern auf den der Silvesterlegende:33 Der Kaiser ist dieser Tradition zufolge ein überzeugter Heide und Christenverfolger und wird zur Strafe vom Aussatz befallen. Nach einem Traumgesicht wendet er sich an Papst Silvester, der ihn tauft und ihm damit auch Heilung bringt. Von daher rührt Gregors Hinweis auf das durch die Taufe bewirkte Säubern »von dem alten Aussatz« und Reinwaschen »von den schmutzigen Flecken«. Gregors Einstellung zu Konstantin war aber ansonsten keineswegs positiv, wie bei dem Vergleich mit Chlodwig denkbar wäre: Er erwähnt ihn nur kurz und auch nicht ausdrücklich als ersten christlichen Kaiser. Gregor stützt sich nämlich an dieser Stelle auf die Chronik des Hieronymus, dem zufolge Konstantin arianisch getauft worden sei, also in den Augen des streng katholischen Gregors von Tours eigentlich ein Häretiker war.34 Daher verbindet der Geschichtsschreiber das Ende der Christenverfolgung nur locker mit diesem Kaiser, während die Auffindung des Heiligen Kreuzes allein das Verdienst von dessen Mutter Helena ist; Konstantin selbst ist ausführlich nur Thema, als es um die Tötung seines Sohnes und seiner Gemahlin geht.35 Im Taufkapitel erscheint Konstantin dagegen als leuchtendes Vorbild Chlodwigs. Hier folgt Gregor also einer Tradition, die großen Wert auf die Parallelisierung von Remigius mit Silvester und demzufolge auch von Chlodwig mit Konstantin legte. Laut von den Steinen stammt sie aus Reims, wo Gregor vermutlich mit ihr in Kontakt gekommen ist, weil er mit einem Nachfolger des Remigius, Bischof Aegidius, gut bekannt war. Dieser weihte ihn 573 nicht nur zum Bischof, sondern hatte zuvor König Sigibert I. den neuen Bischof von Tours auch empfohlen.36 Wohl auch um die eigene Bedeutung zu unterstreichen, dürfte Aegidius interessiert gewesen sein, die Rolle seines Vorgängers bei der Bekehrung und der Taufe Chlodwigs hervorzuheben, und Gregor übernahm diese Reimser Tradition. Ein Problem an Gregors Bericht ist, dass er den Taufort nicht nennt. Da seinem Bericht zufolge Remigius der Hauptzelebrant der Tauffeier war, darf man annehmen, dass sie in seiner Bischofskirche in Reims stattgefunden hat. Der Autor der sogenannten Fredegarchronik und auch Jonas von Bobbio, beide aus der Mitte des 7. Jahrhunderts, nennen jedenfalls diese Stadt.37 Wahrscheinlich assistierten Remigius sämtliche Bischöfe seiner mit der Belgica II identischen Kirchenprovinz, vielleicht sogar sämtliche Bischöfe aus Chlodwigs Reich, womit der hohen Stellung des Täuflings Rechnung getragen wurde. Unterstützung konnte Remigius aber auch gut gebrauchen, denn Chlodwig wurde nicht allein getauft, wie sich schon auf der Versammlung der Franken angedeutet hatte: »Von 33 34 35 36 37
Zu ihr vgl. Levison 1924 = ders. 1948, S. 390 – 465; Loenertz 1977; Pohlkamp 1992. Vgl. Wood 1985, S. 251. Vgl. Gregor von Tours 1951, S. 26 f. (I, 36). Vgl. von den Steinen 1932, S. 443. Vgl. Fredegar 1888, S. 101 (III, 21); Jonas 1905, S. 408 (3).
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seinem Heer aber wurden mehr als dreitausend getauft.«38 Vermutlich wurden tatsächlich zusammen mit Chlodwig auch viele seiner Großen und auch einfache Franken getauft. Die Zahl 3.000 ist vielleicht keine maßlose Übertreibung, ist aber sicher auch nicht die genaue Zahl der Getauften und der Apostelgeschichte (Apg 2, 41), möglicherweise auch der Silvesterlegende entnommen.39 Bei all diesen Stilisierungen und Entlehnungen aus Legenden bzw. Traditionen, für die außer Gregor keine schriftlichen Hinweise existieren, stellt sich die Frage, wie zuverlässig seine Informationen über die Taufe Chlodwigs tatsächlich waren. Zumindest direkt im Anschluss an den zuletzt zitierten Satz gibt er einen Hinweis auf eine streng zeitgenössische Quelle: Es wurde auch seine Schwester Albofledis getauft, die nicht lange danach zum Herrn einging. Und da sich der König um sie tief bekümmerte, schrieb ihm der heilige Remigius einen Trostbrief, der hub solchermaßen an: ›Es betrübt mich die Veranlassung eures Kummers, es betrübt mich über die Maßen, daß eure Schwester seligen Andenkens, Albofledis, heimgegangen ist. Aber wir vermögen euch deshalb zu trösten, denn sie schied so von dieser Welt, daß man eher zu ihr aufblicken als um sie trauern sollte.‹ Es bekehrte sich ferner auch eine andere Schwester des Königs mit Namen Lantechilde, die in die Irrlehre der Arianer verfallen war ; sie bekannte nun, daß der Sohn und der heilige Geist gleichen Wesens mit dem Vater sei, und wurde darauf gesalbt.40
Interessant ist der Hinweis auf die Taufe und den baldigen Tod von Chlodwigs Schwester Albofledis, denn neben Gregors Bericht ist auch das bis auf die Datierung vollständige Kondolenzschreiben des Bischofs von Reims an den König erhalten.41 Das zeigt, dass Gregor sich nicht nur auf Legenden stützte oder eigenwillige Geschichtskonstruktionen vornahm, sondern dass ihm durchaus authentische Quellen aus der Zeit Chlodwigs zur Verfügung standen. Noch interessanter ist die Erwähnung der zweiten Schwester namens Lantechilde, die sich der arianischen Lehre angeschlossen hatte, noch bevor Chlodwig sich für den Katholizismus entschied. Dass der Arianer-Feind diesen Umstand erwähnte, kann man sogar als Argument für die Glaubwürdigkeit seines Berichts jenseits der Stilisierungen anführen. Schließlich ist zu betonen, dass wir durch ein völlig unabhängiges, streng zeitgenössisches Zeugnis über die Taufe informiert werden – einen Brief des Bischofs Avitus von Vienne.42 Avitus antwortete auf eine Einladung zur Taufe, die Chlodwig ihm und wohl auch den anderen katholischen Bischöfen Galliens zugesandt hatte. Auch darin werden arianische Neigungen in Chlodwigs Um38 39 40 41 42
Gregor von Tours 1951, S. 77 (II, 31); Übersetzung nach Buchner 1977, S. 119. Vgl. Sonntag 1989, S. 25. Gregor von Tours 1951, S. 77 f. (II, 31); Übersetzung nach Buchner 1977, S. 119 f. Vgl. Epistolae austrasicae 1883, S. 112 f. (Nr. 1). Vgl. Avitus 1883, S. 75 f. (ep. 46).
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gebung erwähnt. Angesichts der Tatsache, dass die wichtigsten Nachbarkönige des Franken dieser christlichen Lehre anhingen, ist diese Tendenz in der Umgebung des Frankenkönigs auch durchaus wahrscheinlich. Was Avitus aber nicht bestätigt, das sind die Einzelheiten, die wir Gregors Darstellung entnehmen können. So ist bei Avitus nur von Priestern und Gefährten die Rede, die den König beraten hätten. Johannes Fried bezweifelte daher die überragende Rolle Chrodechildes bei der Bekehrung ihres Gatten.43 Zwingend ist Frieds These aber nicht, denn man wird seine Frau durchaus zu Chlodwigs Gefährten zählen dürfen – Avitus könnte sie also ebenfalls mit einbezogen haben. Da er aber ein Untertan des arianischen Burgunderkönigs war, wollte er vielleicht die Rolle von dessen katholischer Nichte bei der Glaubensentscheidung ihres Gatten nicht zu sehr hervorheben. Dafür bestätigt Avitus aber einen anderen Aspekt, nämlich dass Chlodwig vor seiner Taufe tatsächlich Heide gewesen ist, und nicht etwa Arianer, wie Teile der jüngeren Forschung annehmen.44 Unser Fazit zu der Analyse Gregors und seines Berichts über Chlodwigs Übertritt zum Christentum lautet daher : Abgesehen von seiner Neigung zur Dramatisierung und zur Wiedergabe von wohl erfundenen Dialogen scheint seine Darstellung auf Quellen zu beruhen, die dem Ereignis näher stehen als er selbst. Zum einen konnte er sich wenigstens mittelbar auf Erzählungen der Königin Chrodechilde stützen, die ihren Lebensabend in Tours verbracht hat und dort vermutlich auch über ihre Rolle bei der Bekehrung ihres Mannes berichtet hat. Es mag also sein, dass das eine oder andere Detail dieser Darstellung nicht stimmt, Chrodechilde ihre Position möglicherweise übersteigert, aber deswegen kann man nicht die Basisinformationen – Einwirken der Königin auf ihren Gemahl, Taufe der Söhne, Bericht über einen Sieg über die Alemannen als angeblicher Grund für die Glaubensentscheidung – grundlegend verwerfen. Nicht anders steht es um die Rolle des Remigius: Gregor war vermutlich eine lokale Tradition aus Reims zugänglich. Daher wird man auch hier Zweifel an dem einen oder anderen Detail hegen dürfen; die Grundaussagen jedoch – Taufgespräch und Überzeugung der Gefolgsleute – scheinen bei aller Stilisierung durch diese Tradition und durch Gregor selbst durchaus zutreffender zu sein. Dennoch haben wir es hier zugleich mit den Anfängen des französischen Königsmythos zu tun. Gregor hat mit seinen Stilmitteln der Dialoge und der Zuspitzung auf eine Entscheidungsschlacht die Voraussetzung dafür geschaffen, dass spätere Generationen diesen Weg weiter beschreiten konnten, wobei sie die Grenze zur legendenhaften Verklärung des Geschehens deutlich hinter sich lassen sollten. Bei Gregors Berichten über Chlodwig – die Taufe diente nur als herausragendes Beispiel – handelt es sich dagegen wohl nicht um einen Grün43 Vgl. Fried 2004, S. 338; vgl. auch Fried 2002. 44 So schon Wood 1985, S. 266 f.
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dungsmythos im engeren Sinne. Dazu nimmt der Frankenkönig zu wenig Raum in Gregors Werk ein: insgesamt nur 16 Kapitel von insgesamt 43 des 2. Buches. Gleichwohl wollte der Bischof von Tours die Entstehung des aus seiner Perspektive wichtigsten politisch-herrschaftlichen Bezugspunkts erklären, die Gründung des fränkischen Großreichs katholischer Prägung durch Chlodwig.
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Der europäische Gründungsmythos von Karl dem Großen und seine Karnevalisierung im altokzitanischen Epos Rollan a Saragossa
In seinem Buch L’Europe est-elle n¦e au Moyen-Age1 vertritt der französische Historiker Jacques Le Goff die These, dass das Karolingerreich die zentrale Etappe auf dem Weg zum heutigen Europa darstellt. Westeuropa von der Nordsee bis zum Mittelmeer, vom Atlantik bis zur Elbe – so Le Goff – ist unter Karl dem Großen nicht nur zum ersten Mal politisch geeint. Es habe im karolingischen Reich auch die Umrisse einer kulturellen Einheit erhalten. Die Erinnerung an die Gemeinsamkeiten Europas über die Jahrhunderte hinweg, mithin das Paradigma einer europäischen Geschichtsschreibung, ist dem Geist der Zeit nach 1945 verpflichtet. Le Goff sucht nach einer großen Erzählung jenseits der nationalen Geschichtsschreibungen, die das 19. Jahrhundert geprägt haben. Er fragt nach den gemeinsamen politischen und sozialen Traditionen, philosophischen und künstlerischen Orientierungen, die die einzelnen Länder Europas über die Jahrhunderte miteinander verbunden haben. Dieses Projekt der Erzählung von der Einheit Europas hat mit der Verleihung des Karlspreises seit 1950 einen institutionellen Rahmen gefunden. Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi, der Gründer der Paneuropa-Bewegung der zwanziger Jahre und erste Träger des Preises erklärt in seiner Dankesrede anlässlich der Preisverleihung im Jahre 1950: Es war eine kühne Initiative […] durch Stiftung dieses Preises eine Brücke über elf Jahrhunderte zu schlagen, von der großartigen Tradition des Frankenreiches zur größten Hoffnung unserer Tage: den Vereinigten Staaten von Europa. […] Der elfhundertjährige deutsch-französische Krieg, der die Schöpfung Karls des Großen vernichten sollte, hat als Bruderkrieg zwischen seinen Enkeln mit der Schlacht bei Fontenay begonnen […] Unserer Generation bleibt es vorbehalten, […] den unglückseligen Teilungsvertrag von Verdun des Jahres 843, der das europäische Kaiserreich zerrissen hat in eine deutsche, eine französische und eine italienische Nation, von Grund auf zu revidieren […]2 1 Le Goff 2003. 2 Coudenhove-Kalergi 1950.
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Allein um ihre Langfristigkeit unter Beweis zu stellen, bedürfen Projekte wie das von der Einigung Europas in Frieden solch gründungsmythischer Erzählungen wie der von Karl dem Großen als Vater Europas. Ohne solche Erinnerungen und entsprechende Erzählungen ist in Europa keine supranationale Legitimation zu erreichen. Einer der jüngsten Träger des Karlspreises, Papst Johannes Paul II., geht in seiner Dankesrede noch einen Schritt weiter, wenn er Karl dem Großen einen »symbolischen Wert« des geeinten Europa zuerkennt.3 Die Mythisierung des Karolingerreichs sowie die symbolische Verdichtung dieses Mythos sind nun ganz wesentlich das Werk der fiktionalen Literatur in der Erinnerungsgeschichte der Taten des Kaisers. So spricht bereits das Paderborner Epos Karolus magnus et Leo papa, welches zeitnah die Zusammenkunft von Karl und Leo III. im Jahre 799 bedichtet, vom Kaiser als »Europae venerandus apex«, als »Europae […] pharus« und als »Rex, pater Europae«.4 Im altfranzösischen Rolandslied wird alsdann eine Verdichtung des Mythos vom europäischen Kaiser Karl als einem im Auftrag Gottes agierenden Herrscher geleistet, wie man sie allein an Symbolen wie dem mit Reliquien besetzten Schwert Durendal seines Kämpfers Roland ablesen kann. Bei all diesen im Einzelnen recht unterschiedlichen Mythifizierungen des Kaisers wird die Einigung Europas explizit oder implizit stets mit reflektiert. Es stellt sich daher die spannende Frage, was es zu bedeuten hat, wenn der Mythos von Karl als pater Europae und mit ihm die entsprechenden Symbole parodiert werden. Dazu dient ein Blick auf einen bislang von der Literaturgeschichtsschreibung nur stiefmütterlich behandelten Text, das südfranzösische, mithin in okzitanischer Sprache abgefasste Epos Rollan a Saragossa. Es bietet sich an, zuvor einige Überlegungen zur Einheit Europas anzustellen und in diese das altfranzösische Rolandslied einzubeziehen, um zu zeigen, wie und zu welchen Zwecken der Gründungsmythos von Karl als Vater Europas gut zweihundert Jahre nach dem Tod des Kaisers erzählt wird. Erst vor dieser Folie kann man das altokzitanische Epos Rollan a Saragossa bewerten. E pluribus unum heißt es auf den Geldmünzen der Vereinigten Staaten von 3 Dies stellt besonders nachdrücklich Johannes Paul II. in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des außerordentlichen Karlspreises im Jahre 2004 fest: »Der Preis, mit dem die Stadt Aachen Verdienste um Europa zu würdigen pflegt, ist mit gutem Grund nach Kaiser Karl dem Großen benannt. In der Tat hat der Frankenherrscher, der Aachen zu seiner Hauptstadt machte, zu den politischen und kulturellen Grundlagen Europas nicht unwesentlich beigetragen und sich daher schon von seinen Zeitgenossen den Namen eines Pater Europae verdient. Die glückliche Verbindung von klassischer Kultur und christlichem Glauben mit den Traditionen der verschiedenen Völker gewann in Karls Reich Gestalt und hat sich als geistigkulturelles Erbe Europas durch die Jahrhunderte hindurch unter verschiedenen Formen entfaltet. Wenn auch das moderne Europa in vielerlei Hinsicht eine andere Wirklichkeit darstellt, so kann deshalb der historischen Figur Karls des Großen doch ein hoher symbolischer Wert zuerkannt werden.« (Johannes Paul II. 2004). 4 Karolus magnus et Leo papa 1881, S. 368 (V. 92), S. 366 (V. 12) und S. 379 (V. 504).
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Amerika sowie im Siegel der USA, das die Ein-Dollar Note ziert. Aus vielen eine Einheit schaffen ist das Ziel dieses nunmehr seit mehr als zweihundert Jahren überaus erfolgreichen Mottos, das deutlich die teleologischen Vorstellungen der Aufklärung und ihre Idee von der Perfektibilität des Menschen spiegelt. Die Einlösung dieses Gründungsmythos der Zusammenschmiedung der Vielen zu einer Einheit hat jedoch ihren Preis: die Verkürzung der Sicht auf den homo oeconomicus. In Vielfalt geeint lautet dagegen das Motto der Europäischen Union, mit dem Ziel, in der Einheit möglichst viel an kultureller und politischer Vielheit zu bewahren. Und was dieses Ziel angeht, ist das Karolingerreich durchaus ein Vorbild mit gründungsmythischem Charakter. Mit Karl dem Großen verlagert sich der Schwerpunkt Europas vom Mittelmeer nach Norden. An das gallische Zentrum zwischen Loire und Rhein gliedern sich die der karolingischen Herrschaft unterworfenen Gebiete im Osten bis zur Elbe, sowie im Süden Italien und die spanische Mark an, so dass geographisch eine Art Kernland des heutigen Europa entsteht. Mit dem 10. Jahrhundert, wo sich diese herrschaftspolitische Einheit in die Vielheit konkurrierender Herrschaftsräume auflöst und sich das karolingische Erbe zunächst auf das westrheinische Europa reduziert, versucht man umso mehr vom Ansehen Karls als einem gesamteuropäischen Herrscher zu profitieren, um die schwierigen Thronfolgen zu legitimeren. Karl der Große wird alsdann in Konkurrenz zu den westfränkischen Legitimationsbemühungen auch im ostfränkischen Reich als Instrument großräumiger politischer Herrschaftsansprüche bemüht: Der Aachener Thron wird im 11. Jahrhundert als »des ganzen Reiches Erzstuhl« (»totius regni archisolium«)5 angesehen. Zur Untermauerung seiner Vorstellung vom staufischen sacrum imperium wird Friedrich Barbarossa 1152 durch die Bischöfe auf diesen »Sitz des Frankenreichs« (»in sede regni Francorum«)6 erhoben, bevor er Karl dann im Jahre 1162 heilig sprechen lässt.7 In Vielfalt geeint hat Karl die untereinander sowie mit dem König konkurrierenden Adelsgeschlechter,8 die in der Vasallität des Lehnswesens eingebunden werden, ohne dass die elementaren Machtansprüche und partikulären Interessen der Territorialfürsten übergangen werden. Darüber hinaus werden auch die benachteiligten Gruppierungen des Herrschaftsraumes, insbesondere die Armen, durch die neu ausgerichtete Funktion der missi dominici, die den Armen ihr Recht verschaffen sollen, in die Einheit eingebunden. Diese christlich sozialreformerische Politik findet ihre programmatische Fundierung im Capitulare missorum generale aus dem Jahre 802. Ihr geht ein Ausbau des Rechts voraus auf der Basis der wesentlich von 5 6 7 8
Wipo 1915, C. 6, S. 28. Otto von Freising 1912, S. 104. Vgl. dazu Ehlers 2001, insbes. S. 42 f. Zum Folgenden vgl. insbes. Schmitt 2001a und Schmitt 2001b.
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Alkuin verfassten Admonitio generalis (789). Voraussetzungen dieser Einigungsbestrebungen sind die Einführung der lateinischen Sprache als lingua franca, eine einheitliche vereinfachte Schrift, sowie eine Leitkultur, die sich an den Werten des Christentums orientiert. Man kann also – wie dies Karl Ferdinand Werner tut – zu Recht von »Karls Identität als [einem] unverlierbaren Teil europäischer Vielfalt«9 sprechen. Geht man mit dem Historiker Michael Borgolte davon aus, dass es in Europa weder im Mittelalter noch in der Gegenwart eine essentialistische, zentrierendintegrierende Einheit – außer in gewissen kirchlichen Vorstellungen insbesondere im 13. Jahrhundert – gibt, sondern ein Gefüge von Einheiten mit zahllosen Differenzen,10 dann wird dieses Zusammenspiel gerade durch einen Meilenstein der Erinnerung an Karl den Großen untermauert: das altfranzösische Rolandslied. Die Chanson de Roland reflektiert, wie wenige andere Texte, das Prinzip der Einheit in Vielheit. Die älteste Oxforder Handschrift dieses Epos datiert aus dem 12. Jahrhundert. Das Epos selbst dürfte auf das 11. Jahrhundert zurückgehen, im Kern jedoch vermutlich noch wesentlich älter sein. Sein Hauptthema ist die Vernichtung der Nachhut Karls des Großen bei Roncevaux in den Pyrenäen nach dem Spanien-Feldzug des Kaisers gegen die Mauren im Jahre 778. Das Rolandslied hat ein doppeltes Gesicht: Zum einen baut es in bis dahin ungeahnten Stilisierungen den Mythos von der Sakralität des Kaisers auf. Zum andern zeigt es durchweg ungeschönt die hart aufeinander prallenden Machtinteressen von Herrscher und Territorialfürsten. Diese Dichotomie aus partikulären und die zentrale Einheit wahrenden Ambitionen zeigt sich insbesondere in den Ratsszenen sowie im Prozess gegen den Verräter Ganelon, der das Epos beschließt. In der die Handlung auslösenden Ratsszene, in der es darum geht, wie die Franken auf das Unterwerfungsangebot des Sarazenen-Königs Marsilius reagieren sollen, prallen die vielen unterschiedlichen Interessen aufeinander. Karl nimmt vom Himmelfahrtskommando der Gesandtschaft geschickt die engsten Verbündeten, die sogenannten »francs«, aus, bis die Wahl auf den Territorialfürsten Ganelon fällt, der aus einem randständigen Herrschaftsgebiet stammt: »[…] m’eslisez un baron de ma marche«, sagt der Kaiser (V. 275).11 Dieser ermöglicht daraufhin erzürnt den Sarazenen die Vernichtung der Nachhut des fränkischen Heeres samt ihres Führers Roland, der ihn zuvor als Gesandten vorgeschlagen hatte und den er in der zweiten Ratsszene seinerseits als Führer der Nachhut so geschickt ins Spiel bringt, dass der darüber empörte Kaiser dies nicht ablehnen kann. Im abschließenden Prozess gegen Ganelon 9 Werner 1995, S. 50. 10 Vgl. Borgolte 2005, insbes. S. 128. 11 Zitierte Ausgabe: La Chanson de Roland 1983. Die Versangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
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erklärt dieser, sich an Roland gerächt, nicht jedoch Verrat am Kaiser begangen zu haben. Dieser Rechtsauffassung, die der des Kaisers widerspricht, folgen die richtenden Barone. Erst ein Gottesurteil führt zur Bestrafung Ganelons und verschafft dem Kaiser wieder die Oberhand. Angesichts solcher Machtverhältnisse, die den Stimmen der Fürsten ein größeres Gewicht bescheinigt als der nur auf bestimmte Prärogative begrenzten Macht des Kaisers, kann man nur Erich Köhlers schöner Formulierung zustimmen: »Wer [Karl] seufzen, weinen und am Barte ziehen hört und sieht, […] der kann nur Mitgefühl für den obersten Funktionär der Heilsgeschichte empfinden.«12 Man hat in diesen Aspekten des Epos nicht zu Unrecht ein Spiegelbild der Zeitgeschichte, der Machtlosigkeit der kapetingischen Könige aus der Zeit der Niederschrift des Rolandsliedes gesehen.13 Folgerichtig hat man dann jenen anderen Aspekt des Epos, die Mythisierung Karls als sakralem Herrscher Europas, mit den Bemühungen der Kapetinger um eine Legitimierung ihrer Dynastie in Verbindung gebracht, wie sie insbesondere die Geschichtsschreibung am Ende des 12. Jahrhunderts unter dem Stichwort des ›Reditus regni Francorum ad stirpem Karoli‹ betreibt.14 Die Mythisierung Karls als Heiliger sowie die symbolische Verdichtung dieses Mythos ist im Rolandslied auf quasi allen Ebenen sichtbar. Obwohl die Herrschaft der Kapetinger sich nur auf das westfränkische Reich erstreckt, wird dieses Reich im Epos im europäischen Maßstab gedacht. Im Rolandslied werden sogar Regionen wie Bulgarien, Apulien, Konstantinopel, Schottland, Irland und England (V. 2328 – 2332) zum Herrschaftsbereich des Kaisers gezählt,15 auf die sich seine Macht zu keiner Zeit erstreckt hat. Durchaus zu Unrecht ist das Epos somit in der Erinnerungsgeschichte Karls aufgrund der wiederkehrenden Nennungen »dulce France«, »Francs« und »Franceis« nationalistisch vereinnahmet worden, zumal gar nicht klar ist, was unter diesen Bezeichnungen überhaupt genau zu verstehen ist.16 Der Vielheit der partikulären Interessen innerhalb des Herrschaftsgebietes des Kaisers wird hier die Phantasie eines umfassenden, zu einem Herrschaftsraum geeinten Großreiches entgegengestellt. Solchen Einheitsphantasien untersteht auch die gewaltige Umstilisierung der Historie: Endet das Rolandslied mit einem gottgewollten Sieg Karls über die Sarazenen und vereinnahmt dieser Mythos die verheerende Niederlage des besten Kämpfers Karls, Roland, als Märtyrertod, so ist es dem Kaiser in Wirklichkeit nie gelungen, Zaragoza einzunehmen. Und die Nachhut seiner Armee wurde von Gaskognern, also Leuten aus seinem eigenen Herrschaftsge12 13 14 15 16
Köhler 1978, S. 395 f. Vgl. dazu stellvertretend Köhler 1978, S. 396. Vgl. Fried 2004, insbes. S. 31 – 34. Vgl. auch Kerner 2000, S. 160 – 180. Vgl. dazu Bender 1967, S. 28. Vgl. bereits Köhler 1978, S. 404 f.
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biet, aus materiellen Interessen, und nicht von den Sarazenen aus Glaubensgründen, überfallen. Der Einheitsgedanke im Rolandslied liegt im Wesentlichen in dieser Mythisierung des Herrschers als sakrale Gestalt: Karl tritt von Beginn an als Lichtgestalt in Erscheinung.17 Das Numinose des Herrschers geht auf seinen besten Kämpfer Roland über, auf dessen lichtes Antlitz immer wieder verwiesen wird (V. 1159: »le vis cler et riant«). Symbolisch zugespitzt wird dieser Mythos durch die Blickführung auf das reliquienbesetzte, strahlend lichterfüllte Schwert Rolands, Durendal (V. 2316: »E! Durendal! cum es (bele) et clere et blanche!«). Mit diesem hat Roland angeblich die Einheit Europas von Schottland bis hinunter nach Apulien und bis hin zu Konstantinopel hergestellt (V. 2322 – 2332). Die Eroberung Durendals wäre für die Sarazenen gleichbedeutend mit dem Sieg über das Frankrenreich (V. 988 f.: »Si cunquerrai Durendal od la meie / Franceis murrunt et France en ert destreite«). In der Sterbeszene Rolands wird es zur heiligen Waffe »bele e seintisme« (V. 2344). Das Schwert wird im abschließenden Kampf Karls gegen den Emir Baligant als Symbol des christlich geeinten Europa vorausgetragen (V. 3017). Im Verlauf dieses Heilsgeschehens, das die einzelnen Handlungsepisoden zunehmend sichtbar unter einem gleichsam providentiellen Ratschluss vereint, wird noch ein anderer Konflikt partikulärer Interessen sichtbar, der zwischen Roland und Olivier. Als die Nachhut der Franken von den Sarazenen bedrängt wird, will Roland sich im Vertrauen auf sein Schwert bedenkenlos in die Schlacht stürzen, während Olivier rät, das Horn zu blasen und abzuwarten, bis Karl zu Hilfe kommt. »Rollant est proz et Oliver est sage« (V. 1093: »Roland ist tapfer und Oliver ist weise«), lautet der am meisten zitierte Vers des Epos, mit dem der Erzähler das Verhalten der beiden Protagonisten kommentiert. Für Ernst Robert Curtius hat das Rolandslied allein durch dieses topische Gegensatzpaar aus fortitudo und temperantia eine europäische Dimension, weil sich in den seit der Antike überlieferten Formeln ein typischer Verhaltensgegensatz des gebildeten Europäers offenbart.18 Das Verhältnis aus fortitudo und temperantia bzw. sapientia ist auch Thema der Kapitularien Karls des Großen, wenn Alkuin in der Epistula de litteris colendis (Brief über die Pflege der Wissenschaften), einem Sendschreiben des Kaisers zur Vorantreibung der karolingischen Bildungsreform, erklärt: »Gutes Tun ist besser als Gutes wissen, doch geht das Wissen dem Tun voraus.«19 Mit Roland und Oliver wird das Problem reflektiert, auf welchen Prinzipien die Einheit des Karolingerreichs basiert. Die beiden Helden verkörpern darüber hinaus, wie Robert Lafont im Anschluss an eine Arbeit von Rita 17 Zur Symbolik des Rolandsliedes im Detail vgl. Rütten 1970, S. 22 f. 18 Curtius 1944, insbes. S. 283 – 285. 19 Alcuinus 1883, S. 79: »[…] melius sit bene facere quam nosse, prius tamen est nosse quam facere.«
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Lejeune zu den Namen der Protagonisten gezeigt hat, zwei Ethnotypen.20 Der Name Oliver ist deutlich südfranzösischen, also okzitanischen Ursprungs, während Roland in zahlreichen Quellen normannischer Provenienz bezeugt ist.21 Als Modell steht für Lafont insbesondere das Paar Walther von Aquitanien und der Franke Hagen aus dem lateinischen Epos Waltharius (10. Jh.) Pate.22 Mit dem Heldenpaar Roland und Olivier werden somit nicht nur Verhaltensweisen des Frankenreichs benannt, sondern auch regionale Machtzentren ins Spiel gebracht. Der eroberungslustige Franke Roland trifft auf den weisen und eher friedfertigen Aquitanier Oliver, dessen Name sich von oliva, also dem Ölbaum, ein Zeichen des Friedens, herleitet. Die Einführung des Monotheismus ist nach Borgolte die Geburtsstunde der Geschichte Europas. Der Glaube an den einen Schöpfergott und an das Prinzip der schlechthinnigen Einheit bringt als Gegenpart die Vielfalt als geordnete Mannigfaltigkeit hervor. Das Göttliche wird als radikal transparent begriffen. Dies führt zu einem Entwicklungsschub des symbolischen Weltverhältnisses und bringt zugleich die Fähigkeit hervor, die im Symbol erfasste Realität auch als radikal verschieden von diesem denken zu können. Die unduldsame Suche nach Transparenz führt zu Formen der Toleranz, zu zahlreichen praktischen Spielarten der Duldung.23 Diese in Europa maßgebliche Mentalität des Umgangs mit der Vielheit zeigt sich mustergültig im altfranzösischen Rolandslied, in dem die Mythifizierung des Kaisers als ausführendes Organ der göttlichen Transparenz radikal die Kehrseiten dieser Einheit hervortreibt. Inwieweit die Symbole der europäischen Einheit auch ganz anders gelesen werden können, zeigt alsdann das altokzitanische Epos Rollan a Saragossa. Das Manuskript dieses 1410 Verse umfassenden fragmentarischen Epos mit höchst komischen Zügen,24 dessen Eingang fehlt, wurde erst 1912 in einem Notariat im südfranzösischen Apt entdeckt. Es ist auf das Jahr 1398 datiert. Ob ihm eine schriftliche oder mündliche Fassung zugrunde liegt, ist ungeklärt. Breit ist die Spannweite der Datierungen dieser möglichen Quellen, die vom 12. Jahrhundert,25 wo der Rolandsstoff nachweislich in der Okzitania verbreitet ist, bis hin zur zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts reicht. Hans-Erich Keller, der für diese späte Datierung eintritt,26 sieht in dem Epos einen Text, der aus dem 20 21 22 23 24
Vgl. Lejeune 1950 und Lafont 1990, insbes. S. 64 – 68. Vgl. Lafont 1990, S. 67 f. Vgl. Lafont 1990, S. 62 f.; vgl. auch Gouiran / Lafont 1991, »Introduction«, insbes. S. 24 f. Vgl. Borgolte 2005, S. 140; vgl. auch Jung 2010, S. 30 f. Zur Einordnung des Textes als ›komisches Epos‹ vgl. Roques 1956, S. VI. Eine neuere Beschreibung dieses Textes liefern Ivens / Klein 2004. 25 Riquer 1955, sowie Riquer 1958 – 59. 26 Vgl. Keller 1989; vgl. auch Roques 1956, der in der »Introduction« seiner Ausgabe von einer nordfranzösischen Vorlage des Textes ausgeht (S. XI). Einen Überblick über die unterschiedlichen Datierungen geben Ivens / Klein 2004, S. 42, sowie Belletti 1998, insbes. S. 5 f.
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nordöstlichen Grenzbereich zwischen Frankreich und der Okzitania stammt und der die politischen Widerstände des Dauphin¦ gegen französische Hegemonialbestrebungen zum Ausdruck bringt, ähnlich wie das zeitgleiche Epos Girart de Vienne. So plausibel diese politisch-historischen Befunde im Einzelnen sein mögen, die ja erneut partikuläre Herrschaftsbestrebungen eines geographischen Raums gegen die Zentralherrschaft Karls zum Ausdruck bringen, so ist doch das komische Epos Rollan a Saragossa gerade im Hinblick auf die europäische Dimension der Herrschaft Karls des Großen in einem viel allgemeineren Sinn interessant. Die Handlung beginnt mit dem Entschluss Rollans, allein mit Olivier zu der von den Sarazenen besetzten Stadt Zaragoza zu ziehen. Kaiser Karl sucht vergeblich seinen Neffen von diesem tollkühnen Vorhaben mit dem Versprechen abzubringen, ihm die Krone des Reichs zu überlassen (V. 3).27 Rollan vertraut jedoch vollends auf sein Schwert Durendal. Der Sinn dieser Bemerkung erschließt sich, als klar wird, dass er allein deshalb nach Zaragoza ziehen will, um »Braslimonda«, die Gattin des Sarazenenherrschers Marsilius, zu treffen. Die Dame von perfekter Gestalt, wörtlich: »mit dem wohlgeformten Körper« (V. 53: »am lo cors covinant«), wie es immer wieder heißt, hat Rollan ihren Handschuh als Zeichen der Liebe geschickt. Bei Zaragoza angekommen lässt Rollan Olivier zurück, der in seiner Ehre gekränkt auf die Krieger wartet, die Karl ihnen zur Sicherheit hinterher geschickt hat. Rollan dringt in die der Stadt vorgelagerten Gärten ein und dann in die Stadt selbst bis zum Palast des Königs Marsilius, nachdem er mehr als 100 Bewacher besiegt hat. Während die Sarazenen zu den Waffen eilen, reitet ihm Braslimonda entgegen. Marsilius, rasend vor Eifersucht, rückt mit den sarazenischen Kriegern an. Rollan tötet jedoch 1200 Krieger, bevor er mit Durendal das Stadttor aufbrechen und entkommen kann. Verfolgt von einem übermächtigen Sarazenenheer bittet Roland Olivier mehrfach um Hilfe. Dieser lehnt jedoch immer noch gekränkt ab. Erst im allerletzten Moment greift Olivier ein und die anrückende Verstärkung der Franken unter Turpin vertreibt die heidnischen Krieger. Olivier reitet zu Karl, um sich über Rollan zu beschweren. Als Karl vorschlägt, zwischen Olivier und Rollan wieder Frieden herzustellen, lehnt Olivier dies ab und verlässt den Kaiser (V. 1185). Bei seinen Truppen angekommen, macht ihm ein Sarazene Aussichten auf eine reiche Beute: Der Schatz des Königs von Mont Negre soll nach Zaragoza gebracht werden. Die Truppen Oliviers erstreiten sich diesen Schatz und teilen ihn unter sich auf. Karl, um Olivier besorgt, fordert Rollan unter Strafandrohung auf, diesen zurückzubringen. Bei Gorreya trifft Rollan auf den als Sarazenen verkleideten Olivier, worauf ein Zweikampf zwischen den beiden beginnt. Nachdem 27 Zitierte Ausgabe: Rolando a Saragozza 1998. Die Versangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
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Olivier beinahe getötet wird, wird die Täuschung erkannt. Karl erreicht den Ort und versöhnt die Streitenden. Diese sicherlich nicht höchsten literarischen Anforderungen genügende Epenparodie ist gleichwohl in mehrfacher Hinsicht interessant. Sie bringt in das Epos zwei artfremde Themenkomplexe ein, die seit dem 12. Jahrhundert in anderen Gattungen Konjunktur haben: Die Minne, die in der in okzitanischen Dichtung und im Artusroman ihren Platz hat, sowie den Raub des Schatzes, der ebenfalls in den Roman gehört. Mit diesen Themen verlagert sich auch der Hauptkonflikt des Epos. Nicht länger der Streit zwischen Christen und Heiden steht im Mittelpunkt, sondern die Auseinandersetzung zwischen Rollan und Olivier. Letzterer verliert den Kampf gegen die Heiden vollends aus den Augen, als er sich durch die Ergreifung des Schatzes von Mont Negre bereichert auf seine Güter zurückziehen will. Von Rollan verabschiedet er sich im Streit mit den Worten: »Yeu non vos am niant« (V. 1387: »Ich liebe Euch nicht mehr«). Auf der anderen Seite zieht Rollan allein deshalb nach Zaragoza, um die Gattin des Marsilius zu erobern, was zu besonders komischen Effekten führt, da stereotype Formeln und Situationen des Epos doppeldeutig werden. Um nur einige Beispiele zu nennen: Wenn Rollan auf sein ungeduldig mit den Hufen scharrendes Schlachtross steigt – ein spätestens seit den Stoikern überliefertes Symbol für die ungebändigten Triebe –, und mit seinem Schwert an die Pforte von Zaragoza klopfen will, um, wie es heißt, auf diese Weise König Marsilius zu düpieren (»Marcili en sia meravilhant«28), dann zeigt dies, dass der Vorkämpfer Christenheit seinen Sieg vor allem auf erotischem Feld davonzutragen sucht. Der immer wiederkehrende Hinweis, Rollan vertraue vor allem auf sein Schwert Durendal, zieht das aus dem altfranzösischen Rolandslied bekannte Symbol der Einheit der europäischen Christenheit auf die Ebene des Erotischen hinab.29 Auch dass Rollan in die Gärten von Zaragoza eindringt, also in jenen im Mittelalter insbesondere als hortus conclusus konnotierten Ort, zeigt, dass ihm der Eroberungskrieg um Braslimonda mehr wert ist als die Besiegung der Heiden. Braslimonda, deren Kleidung angefangen vom Untergewand im Detail beschrieben wird, legt als Zeichen guter Erziehung (V. 608: »un bel ensenhamant«) ihren Mantel ab und überreicht ihn Rollan als Geschenk für Kaiser Karl. Diese Geste der Höflichkeit gerät im Lichte der erotischen Eroberungsphantasien des Textes gesehen zu einer Entkleidungsszene. Rollans Aufenthalt endet nicht mit der Vereinigung der beiden Lieben, sondern als Ersatzhandlung in einem
28 V. 56 f.: »Saus en la porta hi feray am mon brant / que.l rey Marcili en sia meravilhant […]« (»Oben am Tor werde ich mit meinem Schwert anklopfen / So dass der König Marsilius verblüfft sein wird«). 29 Vgl. z. B. V. 190 – 193.
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gleichsam orgiastischen Blutrausch, in dem der Protagonist mehr als 1300 Heiden tötet. Das Epos Rollan a Saragossa ist somit ein frühes Beispiel für die Konterkarierung des christlichen Kampfauftrags durch eine Liebeshandlung, wie man sie in größerer Dichte erst im 15. Jahrhundert, besonders in Italien, findet.30 Diese erotische Färbung in der okzitanischen Bearbeitung des Rolandsstoffes orientiert sich an unterschiedlichen Genera des Minnesystems, die ihrerseits eher am Rande angelagert sind. Dass Olivier gleichsam als Wächter im Hintergrund vor Zaragoza zurückgelassen wird, erinnert an die alba, die den für die Minne untypischen Vollzug der Liebe zum Thema hat. Rollans Überheblichkeit gegenüber seinem engsten Waffengefährten Olivier gemahnt an den gab, das prahlerische Lied, das insbesondere der erste überlieferte Trobador Wilhelm IX. von Aquitanien in den vers an seine Waffengefährten gepflegt hat. In einem dieser vers (»Ab la dolchor del temps novel«) heißt es: »Gott lass mich noch so lange leben / bis ich meine Hände unter ihrem Mantel habe!«31 Besonders weitreichend ist jedoch die Anspielung auf das berühmte Lied des Trobadors Jaufre Rudel, Lanquan li jorn son lonc en mai, das gemeinhin als das Beispiel der für die okzitanische Minnedichtung typischen Fernliebe, des amor de lonh, angesehen wird. Jaufre beschreibt dort auf einzigartige Weise die imaginäre Reise des Sprechers zur fernen, vermutlich in Jerusalem weilenden Liebe. Was bei ihm jedoch nur suggestiv angedeutet wird, spielt das okzitanische Rolandsepos aus: Die Liebe zur schönen Orientalin, mit der das bis in den Orientalismus des 19. Jahrhunderts fortdauernde Klischee vom sinnlichen Orient kreiert und hier zugleich das Anliegen des christlichen Kämpfers pervertiert wird. Der Text parodiert demnach nicht nur die Bemühungen des Kaisers Karl um ein Europa unter christlichen Vorzeichen, sondern zugleich jenes andere System der europäischen Zivilisation: die höfische Minne und mit ihr die courtoisie. In der Minne bei Hof werden an prominenter Stelle gerade diejenigen Instanzen in eine Balance gebracht, die die Kämpfer des altfranzösischen Rolandslieds auszeichneten: fortitudo und temperantia bzw. sapientia. Wenn Rollan und Olivier im Streit auseinander gehen und völlig glanzlos in letzter Minute vom Herrscher wieder vereint werden, dann ist es um Europa schlecht bestellt. Der Karl des Rollan a Saragossa erweist sich denn auch als überaus schwacher Herrscher. Schon zu Beginn hatte er Roland, um ihn von seiner erotisch motivierten folia abzubringen, die Herrschaft des Reiches als Kompensation angeboten. Was für 30 Vgl. dazu Hartung 2004, insbes. S. 76 f. Hartung behandelt auch die Entr¦e d’Espagne aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in deren ›Orientepisode‹ ebenfalls das Thema der Liebe Rolands zur schönen Orientalin vorkommt (vgl. S. 67 f.). 31 Guilelmus IX. dux Aquitaniae 1973, S. 251: »Enquer me lais Dieus viure tan / qu’aia mas mans soz son mantel!«
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eine Vorstellung: das Zepter des europäischen Herrschaftsraums in den Händen eines Erotomanen. Am Ende tritt Karl gleichsam ermattet von der Bühne des Geschehens ab: »Las en fon Karle l’emperaye bon franc […]« (V. 1407). Das altokzitanische komische Epos Rollan a Saragossa zeigt, was geschieht, wenn die partikulären Interessen mit ihren zentrifugalen Kräften die Oberhand gewinnen. »Dein Hof löst sich vollends auf« (V. 1304: »[…] la tieu cort si vay de tot partant […]«), sagt ein Bote zu Kaiser Karl am Ende des Geschehens und bezeichnet damit exakt das Thema des komischen Epos. Als Parodie des Herrschers sowie seiner beiden Paladine angelegt, ist das Epos eine admonitio ganz im Sinne der admonitio generalis Alkuins.32 Dieser hatte in der Epistula nuncupatoria der Schrift De fide sanctae Trinitatis (802) an Karl der Großen die kaiserliche Würde als von Gott geordnet beschrieben. Die herausragenden Eigenschaften eines Kaisers sind demnach »potestas« und »sapientia«: »Macht, um die Übermütigen zu unterdrücken« und »Weisheit, um die Untertan in frommer Fürsorge zu leiten«.33
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Dietmar Rieger
Mythos in statu nascendi? Die Pucelle und Christine de Pizans Ditié de Jehanne d’Arc
Der sich zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Frankreich herausbildende Mythos der Jeanne d’Arc ist ein Geschichtsmythos, der von Anfang an insbesondere als ein politischer Mythos in Erscheinung tritt, dessen weitere Geschichte hier außerachtgelassen werden soll. Wie aber entsteht aus einem historischen Geschehen ein vitaler Mythos? Für eine Antwort auf diese Frage genügt im Fall der Pucelle nicht der bloße Verweis auf den Prozess der Mythisierung von Geschichte, die Bereicherung durch häufig zunächst isoliert-regional entstehende Legenden und auf den von Zeitgenossen und/oder künftigen Erinnerungsgemeinschaften als außergewöhnlich registrierten Charakter eines meist weitreichende Problemlösungen bringenden oder auch nur verheißenden Geschehens und seiner Protagonisten, meist mit einer hohen Dichte an offenen Fragen. Vor allem lehrt uns dieser Fall, dass eine solche Mythisierung vorzugsweise dann erfolgt, wenn die mythisierende Renarration von Geschichte durch mythisches »Wissen/Vorwissen«, eine Art Erwartungshorizont künftiger »Verbraucher« (Roland Barthes) des Mythos, gelenkt wird. Den »mythe du sauveur« gibt es in verschiedenen – mehr oder weniger christlichen – Ausprägungen bereits vor der Pucelle. Gerade in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts hatten in nichtgelehrten Schichten vor allem mariologisch-messianische, also zukunftsgerichtete Erlösungsmythen Hochkonjunktur – auch und gerade auf der Ebene nationaler Applikation: so etwa die zeitnahe Prophezeiung der Nonne Marie d’Avignon, Frankreich werde von einer schändlichen Frau verwüstet und durch eine Jungfrau errettet werden1 – eine Weissagung, die im nachhinein durch die Akteure Isabeau de BaviÀre (Sünderin) und Jeanne d’Arc (Erlöserin) spezifiziert zu werden vermochte und postfiguratorisch auf den heilsgeschichtlichen EvaAve-Gegensatz verweist. Ähnlich geartet ist etwa die berühmte vorzeitliche, aber durchaus wieder neugefasste Weissagung des keltischen »Propheten« Merlin aus De prophetiis Merlini von Geoffroy of Monmouth, Frankreich werde durch eine Jungfrau erlöst werden: »Without the precedent of the Merlin prophecies it 1 Zum weiblichen Prophetismus der Zeit vgl. u. a. Vauchez 1982.
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would have been almost unthinkable to portray Joan of Arc as a kind of feminine Mars even before she had left the Dauphin to raise the siege of Orl¦ans.«2 Die Pucelle und das ihr zugeordnete Geschehen wurden – auch von Jeanne d’Arc selbst – im Umkreis der Armagnacs automatisch als Erfüllung dieser Zukunftsmythen gelesen.3 Das Spezifikum des Jeanne d’Arc-Mythos besteht gerade darin, dass sogar ein gewichtiger Teil des historischen Geschehens selbst, ja bereits seine initiatorischen Momente, Handlungsanweisungen der Prämythen entsprechen.4 Dass diese Weissagungen nach Jeannes Ankunft in Chinon – aktualisiert und spezifiziert – regelrecht ins Kraut schossen, verwundert nicht. Was der Mythos der Pucelle ebenfalls lehrt, ist die Tatsache, dass dieser von Anfang an eigentlich einen Komplex aus einzelnen (wenngleich durch ein gemeinsames virtuelles Dach zusammengehaltenen) Submythen darstellt, die – jede aus einer besonderen Perspektive – über das »Geschehen« um die historische Gestalt der Jeanne d’Arc eine spezifische »Geschichte« erzählen.5 Allein auf der Ebene dieser Submythen6 erfolgt die mythisierende Semantisierung und Metaphorisierung – mehr oder weniger stark, je nach Medium oder Gattung, nach narrativen Mustern, vor allem nach spezifisch mythischen Narrativen.7 Der Nationalmythos der Pucelle kann deshalb – durchaus auch noch auf der »sekundären« Ebene seiner verschiedenen Vertextungen, Ästhetisierungen und medialen Inszenierungen im Verlauf der Geschichte – bis heute als eine Art komplexes, dynamisches Mythensystem angesehen werden, als ein System von »Geschichten«, dessen einzelne, ideologisch zum Teil diametral gegeneinander stehenden Teile (katholisch, royalistisch, republikanisch, sozialistisch usw.) miteinander um die »beste« Simplifizierung des virtuellen, eigentlich neutralen »Dachmythos« zur Legitimierung dieser ideologisch bedingten Vereinfachung konkurrieren. Weiter ist zu beachten, dass die mythischen Muster, von denen die Rede war, bereits das »Geschehen« selbst – auch und gerade das »Projekt« Jeanne d’Arc – 2 Fraioli 1981, insbes., S. 820. Bemerkenswert ist, dass Jean Gerson, dessen relativ positives Urteil über Jeanne d’Arc dazu beitrug, der Pucelle freie Hand zu lassen, als Berater des Königs Charles VII diesen bei anderer Gelegenheit nicht nur vor astrologisch fundierten politischen Entscheidungen, sondern auch vor die Zukunft weissagenden Frauen gewarnt hatte. 3 Vgl. dazu u. a. Fraioli 1981 und Fraioli 2000. 4 Auch gleichsam spätmittelalterlich auslaufende »mythes du sauveur« wie der Mythos von Artus und seiner Wiederkunft waren vermutlich insofern daran beteiligt, als Jeanne d’Arc sich leicht in die bestehende Mythenkette als eine Art Postfiguration vorausgegangener Erlöserfiguren einordnen ließ und geeignet schien, die drohende Lücke in der in christlicher Ära mit Jesus und Maria eingeleiteten Mythenkette zu schließen. 5 Die Terminologie in Anlehnung an Stierle 1975. 6 Vgl. dazu Rieger 2005, französische Kurzfassung Rieger 2003. Vgl. u. a. auch Rieger 2004. 7 Dies gilt auch im Fall jener »Geschichte«, die sich in der Partei der Bourguignons oder der Engländer herausbildete, wenn auch dort jeweils ein ganz anderes mythisches Substrat aktiviert wurde.
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gelenkt haben und deshalb um so wirkmächtiger dessen interpretierende Neustrukturierung leiten mussten und damit in den kollektiven und subjektiven, in jedem Fall aber kollektiv gesteuerten »Texten der Geschichte« erkennbar sind. Diese stellen selbst keine Mythen dar, sondern transportieren diese als ihre – nur als spontan-orale noch variable – Renarrationen, in der Regel in ästhetisierender Form und nicht ohne die Möglichkeit eines eigenen mythischen und interpretatorischen surplus, im Fall der Pucelle meist auf politisch-voluntaristischer Basis.8 Es ist klar, dass dabei literarische Texte – im Interesse besonderer ästhetischer und/oder ideologischer Funktionalisierungen, ja Instrumentalisierungen – über ein ungleich größeres Maß an produktiven Deutungsspielräumen, fiktionalen »Spielfreiheiten« und Inszenierungspotentialen, ja auch zusätzlichen Mythisierungslizenzen verfügen als etwa rein historiographisch intendierte, wenngleich auch diese nie ganz davon frei sein mögen. Im Fall von Jeanne d’Arc haben in statu nascendi des Mythos spätmittelalterlich besonders zentrale Narrative Pate gestanden, von denen das Erlösungsnarrativ, das Wundernarrativ und das Märtyrernarrativ die wichtigsten sein dürften – Narrative, deren Verbindung die Konsistenz des Mythos und seine Vitalität in der Zukunft bestimmen sollten. Wenn der Historiker Henri Martin in seiner Histoire de France wiederholt Merlin zur Sprache bringt und anlässlich des Sacre des Dauphin in Reims in einer Verlängerung der Mythenkette bis zurück zum Alten Testament schreibt: »La France redevient une nation de voyants, comme la Gaule des druides ou l’IsraÚl des prophÀtes«,9 dann macht er nur einen der Aspekte der besonderen Narrativierung der Pucelle-Geschichte explizit. Die Entstehung des Jeanne d’Arc-Mythos geschieht also auf der Grundlage eines komplexen mythischen Wissens bzw. Vorwissens, an dem auch biblische und – vor allem seit der Renaissance – antike Mythen beteiligt sind. Sehr deutlich zeigt sich dies am ersten der Jungfrau von Orl¦ans gänzlich gewidmeten poetischen Text, der außerdem der einzige ist, der zu Lebzeiten der Pucelle – aber schon nach der Befreiung von Orl¦ans und nach der Königskrönung in Reims – entstanden ist, also der noch lebenden, aber bereits im Mythisierungsprozess begriffenen Gestalt gilt10 und deshalb diesen Prozess in statu nascendi evident zu 8 Zu diesen Renarrationen gehören z. B. auch Parodien, Deformationen und Dekonstruktionen oder gar das reine Spiel mit dem mythischen Material, aber auch (im Sinn Roland Barthes’) alle »mythologischen« Aufbereitungen. 9 Martin 1855 (VI, S. 189). 10 Nichtliterarische Texte aus der Zeit vor Jeannes Hinrichtung sind u. a. der Traktat De quadam puella, den nach vorherrschender Meinung der auf Mariologie spezialisierte, in der Querelle des femmes um 1400 auf Seiten Christine de Pizans stehende Theologe Jean Gerson wenige Wochen vor seinem Tod (14. Juli 1429), aber möglicherweise noch vor der Entsetzung Orl¦ans’ zur Verteidigung der heilsgeschichtlichen Rolle des »schwachen Geschlechts« verfasste. Die gleiche Auffassung, Gott könne sich des Werkzeugs einer schwachen Frau für die Ausübung seiner Macht bedienen, vertrat der Erzbischof Jacques Gelu in einem Traktat vom
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machen vermag: Christine de Pizans politisch-feministische Propagandadichtung und Glorifikation der Jungfrau von Orl¦ans, der Diti¦ de Jehanne d’Arc von 142911, im Übrigen das letzte erhaltene und genau datierbare Werk der Dichterin und moralischen und politischen Schriftstellerin überhaupt.12 Es handelt sich dabei um ein aus 61 Strophen (488 8-Silber-Versen) bestehendes Gedicht, in dem man gerade die mythisierende Abgleichung mit bereits bestehenden mythischen Narrativen – aber begreiflicherweise noch ohne das Opfernarrativ – und ihren partikulären Konkretisationen beobachten kann – eine Abgleichung, die Selektion, Akzentuierung und narrative Strukturierung einzelner Geschehensmomente mitbestimmt und deren sakralisierende Effekte deutlich sind. Inwieweit diese Sakralisierung, die von zentralen Unbestimmtheitsfaktoren wie den »Stimmen«, dem göttlichen Auftrag, Jeannes Schwert, ihrer militärischen »Genialität«, angeblichen Wundertaten oder ihrer geschlechtlichen Unbestimmtheit13 ausgeht, bereits in Christines dichterischem Text Resultat und Reflex genau abgewogener Inszenierungen auf der Ebene des Geschehens ist, lässt sich natürlich im einzelnen nur vermuten – schon im Verurteilungsprozess von 1431 wurde von der Anklage der Vorwurf des Betrugs im Interesse des Dauphin erhoben. Werfen wir also einen Blick auf das thematisch relativ klar strukturierte Gedicht14 von Christine de Pizan, das diese aller Wahrscheinlichkeit nach15 im
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Mai 1429 und auch der Verfasser eines dritten Traktats (De mirabili victoria) aus demselben Monat. Alle drei Traktate vergleichen die Pucelle bereits mit Heldinnen des Alten Testaments (Esther, Judith, Debora), während Alain Chartier in einem wahrscheinlich an den Herzog von Mailand gerichteten Brief vom September 1429 seiner Bewunderung für Jeanne durch ihren Vergleich mit Hector, Alexander dem Großen, Hannibal und Cäsar Ausdruck verleiht. Vgl. u. a. Cornford 2000 und die dort zitierte Literatur. Vgl. die mustergültige Ausgabe: Christine de Pisan 1977. (Im Folgenden werden Strophe und Vers im laufenden Text in Klammern angegeben und beziehen sich auf diese Ausgabe.) Adressaten des Diti¦ sind neben Gott alle weltlichen Instanzen – auch die Gegner der Armagnacs –, die alle Jeanne d’Arc zur ihrer Identifikationsfigur machen sollen. Gefestigter ist die mythische Zuordnung bereits im möglicherweise schon wenige Jahre nach dem Verurteilungsprozess und der Hinrichtung Jeannes in Orl¦ans aufgeführten MystÀre du SiÀge d’Orl¦ans, wo die Übermittlung der göttlichen Mission an Jeanne durch den Erzengel Michael zum ersten Mal explizit mariologisch, als Postfiguration der Verkündigung Mariae, gedeutet wird. Die Desexualisierung der Pucelle zum androgynen Wesen, die rückgängig zu machen in der weiteren Geschichte der Jeanne-Texte – und nicht nur von Shakespeare und Voltaire, sondern auch von Schiller – ohne anhaltenden Erfolg blieb oder von heutigen Medizinern immer wieder wissenschaftlich zu erklären versucht wird, gehört in diesen Zusammenhang: Das Heilige hat kein Geschlecht, in menschlicher Hülle ist dies aber nicht anders als durch geschlechtliche Unbestimmtheit repräsentierbar. Die Aufeinanderfolge des im doppelten Sinn angesprochenen politisch-religiösen Personals ist antihierarchisch – von Gott über den Dauphin und Jeanne bis zu den französischen Kollaborateuren der Engländer. Die Gegenwart des Göttlichen ist indessen in fast der Hälfte aller Huitains markiert. Vgl. u. a. Ballet Lynn 1978. In diesem Kloster wurde Christines Tochter 1396 Nonne.
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Dominikanerkloster von Poissy, in das sie sich 11 Jahre zuvor zurückgezogen habe, und zwar, nach ihren eigenen Angaben im Text (LXI), am 31. Juli 1429, also gerade einmal zwei Wochen nach dem »sacre« von Reims, abgeschlossen hat.16 Die Gedichtform (statt der reinen Traktatform eines Gerson) ist nicht nur Christines »d¦formation professionnelle« zu verdanken, sondern weist auch darauf, dass die Nachrichten von den »Ereignissen«, die offenbar mit erstaunlich großer Geschwindigkeit ins Kloster von Poissy gelangen,17 schon auf eine solche Weise zu mythisierten »Geschichten« (vor allem: Orl¦ans, Reims) konsolidiert sind, dass deren Vertextung ihnen am ehesten in poetischer Form gerecht zu werden vermag. Darüber hinaus verstärkt die auch mit Pathos und Enthusiasmus operierende poetische Vertextung der »Geschichten« um Jeanne d’Arc ihrerseits deren mythische Substanz in erheblichem Maß. Gespeist wird diese Intensivierung durch Christines Textstrategie einerseits und die Rückbindung der »Geschichten« und ihrer Protagonisten an so gut wie alle – nicht nur für Christine de Pizan, sondern die Dichtung um 1400 generell maßgeblichen – literarischen Diskurse, ja deren Synthese. In Christines Diti¦ gehen der autobiographische, der religiöse, der politisch-patriotische, der moralisch-soziale und der protofeministische Diskurs eine Art Handlungs- und Wirkungsgemeinschaft18 ein, die – gleichgültig, wie die direkte und unmittelbare Wirkung des Gedichts auf die weitere Rezeptionsgeschichte des Pucelle-Mythos einzuschätzen ist19 – anzeigen kann, wie die auch und gerade außerhalb des Klosters von Poissy sich vollziehenden ersten (volkstümlichen) Mythisierungsfortschritte erfolgt sein dürften, die umso erstaunlicher sind, als Jeanne d’Arc selbst erst seit Ende 1428 öffentlich in Erscheinung getreten war.
16 Diese Datierung kann als umso vertrauenswürdiger eingeschätzt werden, als Christine auch die Krönung des Dauphin haargenau datiert (17. Juli 1429) und auch in ihren übrigen Werken exakte Datierungen vornimmt. Allerdings kann auch gefragt werden, ob der Diti¦ nicht auf bis in den September 1429 reichende Ereignisse und Umstände reagiert – vor allem auf die Frage einer Einnahme von Paris durch die Truppen von Charles VII –, auf die sie möglicherweise geschickt antizipatorisch anspielt, um mit einer solchen Inszenierung ihre eigenen prophetischen Fähigkeiten zu demonstrieren: »We suggest that by dating the poem earlier than she wrote it, Christine de Pizan is able to employ the construct of prophetic history all the more effectively because her poem shows a knowledge of acts and situations that did not exist on the last day of July 1429.« (Lutkus / Walker 1996, S. 146). In jedem Fall wird durch die geringe Distanz zu den Ereignissen die Spontaneität des emphatischen und mythisierenden Sprechens intensiviert. Für die Beibehaltung der Christineschen Datierung plädiert mit sehr guten Gründen Kennedy 2000. 17 Die große informationelle Geschwindigkeit hängt sicher auch damit zusammen, dass im Kloster von Poissy auch Marie de France, die Schwester des Dauphin, Nonne war. 18 Eine Synthese, die in dieser Perfektion kein anderes Werk Christines aufweist. 19 Die zeitgenössisch bezeugte Wirkung ist später natürlich dadurch gemindert, dass Christine de Pizan im Diti¦ nur die aufsteigende Linie im Wirken der Pucelle thematisieren konnte.
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Mit dem autobiographischen Diskurs setzt das Gedicht ein (I – IV). Die Tatsache, dass die Dichterin – wie sie gleich zu Beginn betont – im selben Jahr (1418) in das Kloster eintrat, wie der Dauphin aus Paris vertrieben wurde, scheint sie dazu besonders zu legitimieren. Das Ich der Sprecherin – das Incipit verdeutlicht das nach langem schriftstellerischen Kampf erreichte Selbstbewusstsein als dichtende Frau: »Je, Christine (…)« (I,1) und assoziiert so etwas wie testamentarisches Vermächtnis – beginnt deshalb zunächst damit, ihre persönliche Befindlichkeit in Anbetracht der Ereignisse zu formulieren: Ihr jahrelanges Weinen hinter den Mauern des Klosters, einem Käfig (II,4), ihre Traurigkeit sei nun einem freudigen Lachen gewichen, ihre Tränen werden durch fröhliche Lieder ersetzt. Indem sie aber ihre individuelle Veränderung – in Abwandlung des lyrischen Natureingangs20 und quer zur Abfassungszeit des Gedichts – in die kollektive zyklische Zeit der Ablösung des »grant dueil« (IV,2) bescherenden Winters durch den »joie nouvelle« (IV,2) bedeutenden Frühling einbettet und wortreich den »bon temps« (II,7), den »bon temps neuf« (III,3), den »printemps«, »O¾ toute rien se renouvelle« (IV,5,7), begrüßt, erlangt diese vom tatsächlichen Verlauf der Jahreszeiten unabhängige Metamorphose vom Tod zum Leben, von der »trockenen« zur »grünen« Jahreszeit, durch die Fruchtbarkeitsmetaphorik21 gleichzeitig den Charakter eines natürlichen Verlaufs und – auf ein singuläres Geschehen bezogen – denjenigen des Exzeptionellen, ja Numinosen: Die Sonne beginnt nach einer langen Nacht wieder die Erde zu erhellen – und mit dem Hinweis auf dieses die Zukunft erhellende Licht endet denn auch der Diti¦.22 Auch wenn die Dichterin außer dem kurzen Hinweis auf die Flucht des Dauphin aus Paris bis zum Ende von Strophe IV das ihre und aller anderen Freude bedingende Geschehen noch nicht erwähnt hat, gelingt es damit, den Neubeginn der Historia, dem die folgenden Strophen gelten, von vornherein in das Licht des Mythischen zu tauchen. Die Gründung der neuen Ära der Geschichte basiert nicht einfach auf der Ablösung eines Königs durch einen anderen, sondern Christines Appell zum kollektiven »NoÚl!«-Schrei (VI,8) gründet auf der neuen Allianz von Gott, Motor des Geschehens, König, sein Statthalter auf Erden, und Frankreich, sein 100 Jahre lang bedrängtes Volk, dessen Geschichte – so Christines vorausschauende Forderung – wie jede mythische Geschichte immer wieder erzählt werden möge – als Wiederholung in der Erinnerung: »Car ce est digne de memoire, / Et escript, qui que desplace, / En mainte cronique et hystoire!« (VII,6 – 8).23
20 Zu beachten ist die rima capcaudada auf » rire«, die Strophe I mit Strophe II verbindet und die durch den Parallelismus »plour¦« (I,1) und »endur¦« (II,8) chiastisch ergänzt wird. 21 Man vergleiche auch die große Frequenz des semantischen Felds des »Neuen«. 22 »lumiÀre« (LXI,8) ist denn auch das letzte Wort des Gedichts. 23 »Chose est bien digne de memoire / Que Dieu…« (XI,5 f.). Die These, Christines wahre
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Um das Exzeptionelle der im weiteren Verlauf allerdings nur in wenigen Grundzügen und eher durch Anspielungen und keineswegs linear erzählten, da mit einem grundlegenden Vorwissen des Rezipienten rechnenden Geschichte herauszustellen und ihr dennoch den Charakter des – jenseits der »niederen« Natur – Natürlichen zu belassen, genügt der Dichterin deren rekurrente Charakterisierung als »chose sur toute merveillable« (VIII,2), »divine mission« (X,7), »miracle« (XI,1), »grant merveille« (XXVI,2) usw.24 – insgesamt als »divine preuve« (XII,2), als göttliche Erlösungsgeschichte, als Erlösung »vom Übel« – Frankreich sei »du mal en si grant bien mu¦e« (X,8).25 Und wenn Christine in Strophe XI bei ihrer ersten Erwähnung Jeanne d’Arc nicht – wie ansonsten meist – als »Pucelle« oder »Pucellette«, sondern als »vierge« (XI,6) bezeichnet,26 dann wird just an dieser Stelle nicht so sehr dem verleumderischen Verdacht begegnet, sie könne eine Hexe sein,27 als vielmehr für den Kenner der »Querelle des femmes«28 gegen die misogyne Tradition eines Jean de Meun opponiert, die der Frau die Rolle der Gebärerin zuweist, und vor allem das Marienmirakel als Folie aufgerufen, das die Erlösungstat Jeannes, der irdischen Marie, zusätzlich mythisch-überhöhend nobilitiert: Das spätere – das Bild Deboras als Mutter Israels29 aufgreifende – mariologische Oxymoron von »jeune pucelle« und »celle / Qui donne France la mamelle / De paix et doulce norriture« (XXIV,2,5 f.) wird hier vorbereitet. Dabei ist die politische Dichterin, die mit ihrem Gedicht auf politische Vorgänge außerhalb des Klosters einzuwirken beabsichtigt, sehr darauf bedacht, das von ihr berichtete und glorifizierte Geschehen immer wieder als tatsächlich vorgefallenes zu kennzeichnen: mit Markierungen wie »voirement«, »evident«, »chose est voire!« (X,1,3,8), »visible / Ment« (XXIV,4 f.) oder Einschüben wie »Son fait n’est pas illusion« (XXIX,5).30 Das Exzeptionelle, die Verwirklichung der »chose impossible« (XIV,2), der »chose oultre nature« (XXIV,8) und »chose fors nature« (XXXV,2), läuft einerseits Gefahr, von den Konsumenten des Gedichts nicht als Jeannes wirkliche Geschichte erfasst zu
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Intention sei gewesen, »to record for posterity the historical importance of events in the year 1429«, ist nicht von der Hand zu weisen: Williams 1990, S. 234. Sie spricht von einer »chose« »hors de toute opinion« (X,1 f.): »Il n’est homs qui le peüst croire« (XI,4). Das Gebet »libera nos a malo« des Paternoster wurde erhört. Erst in Strophe XX,1 spricht Christine ihre Heldin mit »Jehanne« an. Die Untersuchung von Jeannes Jungfräulichkeit im Vorfeld der Entsetzung von Orl¦ans sollte ja gerade diesen Verdacht ausräumen. Diese steht im Zentrum der Untersuchungen zum Diti¦; vgl. z. B. Barr 1988. »Still war’s bei den Bauern, ja, still in Israel, bis du, Debora, aufstandest, bis du aufstandest, eine Mutter in Israel.« (Richter 5,7). Christine fügt hinzu: »la chose est prouv¦e« (XXIX,8) und spielt dabei auf die Befragungen und Untersuchungen Jeannes in Chinon bezüglich ihrer Gottesgesandtheit an (vgl. XXX). Liliane Dulac weist zu Recht auf die große Frequenz des »vocabulaire de la vision« im Diti¦ hin: Dulac 1980, insbes. S. 121 f.
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werden – die Wirkung von Christines Zukunftsoptimismus würde damit verpuffen.31 Andererseits setzt die Mythisierung des Exzeptionellen gerade da an, wo »Il n’est homs qui le peüst croire« (XI,4). Trotz der an den von der Dichterin als legitim eingeschätzten Charles VII gerichteten panegyrischen Strophen, die in der (auch bei ihr selbst) keineswegs neuen royalistisch-patriotischen Forderung gipfeln, diesem die Kaiserwürde zu übertragen, ihn also zu einem zweiten Charlemagne zu erheben,32 ist von Anfang an klar, wem die Rolle des mythischen Helden bestimmt ist. Es ist nicht der König, auch wenn Christine auf zeitgenössische Prophezeiungen anspielt, denen zufolge der Dauphin der »grant maistre« aller Könige Europas werden wird (XVI). Es ist vielmehr die von Gott auserkorene, auch durch das Epitheton als Maria-Analogie gekennzeichnete »pucelle beneur¦e« (XXI,1), die jenes schon fast zu deutlichen »speculum regis« nicht bedarf, den dem frisch gesalbten König mit deutlichen Zukunftsforderungen vorzuhalten Christine, die in diesem Genre geübt ist,33 für notwendig hält (XVIIff.), und die den Dauphin an der Hand zur Königskrönung geführt hat. Auf die Herausstellung der mythischen Substanz kommt es der protofeministischen Dichterin weit mehr an als auf die chronologisch korrekte Nacherzählung einer Geschichte, die offenbar ohnehin alle schon kennen. Sie ist die Erlöserin, die Frankreich aus der das Land erdrückenden Schlinge, einer aussichtslos scheinenden Situation befreit, aus Krieg Frieden gemacht hat. Das Exzeptionelle ihrer Geschichte basiert auf ihrer Exzeptionalität, die indessen als von Gott gesteuertes Wunder, als »Pucelle de Dieu ordonn¦e« (XX,3), eine (im höheren Sinn) natürliche ist. Und dennoch: Immer wieder spürt man, dass die Dichterin Mühe hat, Jeanne als in Analogie zu Maria zwischen Gott und seinem auserwählten Volk positioniertes Medium Gottes, ja als dessen Instrument, das von der göttlichen Providenz und Gnade Kraft und Energie bezieht,34 nicht durch Jeanne als autonom handelnde Pucelle zu ersetzen.35 31 Dieser den gesamten Diti¦ prägende Optimismus steht im Kontrast zum Pessimismus vor allem der auf die Schlacht von Azincourt folgenden Schriften der Dichterin, aber auch schon zum Tenor von L’Avision Christine de 1405, in der sie den Zustand Frankreichs und der ganzen Welt in geradezu apokalyptischen Farben schildert: Die Laster herrschen, die Tugenden befinden sich im Kerker. 32 Vgl. die bekannte Prophezeiung eines »second Charlemagne« seit der Mitte des 14. Jahrhunderts, die etwa in Eustache Deschamps’ Ballade Sur ce qui doit avenir formuliert ist und die Christine de Pizan auf den von Jeanne d’Arc gestützten und unterstützten Charles VII überträgt (vgl. Reeves 1969). 33 Vgl. z. B. die einschlägigen Passagen im Livre du Corps de Policie und im Livre de la Paix. 34 »Dieu a tout ce fait de sa grace« (VII,2) – »En qui le Saint Esperit r¦a / Sa grant grace« (XXII,4 f.) – »Mais tout ce fait Dieu, qui la menne« (XXXVI,8). 35 Rosalind Brown-Grant betont der feministischen Überhöhung Jeannes in der Moderne gegenüber zu Recht, dass Christines Pucelle Gott gegenüber passiv und nur im Verhältnis zu Charles aktiv ist: Brown-Grant 1999, insbes. S. 21.
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Und hier – nach der Bestätigung der Wahrheit von Jeannes Taten – kommen die Vormythen ins Spiel, die nicht nur die Funktion haben, Jeannes Wirken zu legitimieren und ihre Geschichte zu mythisieren und postfiguratorisch zu verorten, sondern vor allem dazu dienen, eine Klimax zu suggerieren, deren Höhepunkt mit ihr gerade erreicht ist: Jeanne ist zunächst der neue Moses, Frankreich – ganz im Tenor der monarchisch-patriotischen Literatur der Zeit36 – das neue auserwählte Volk – »Ainsi repassez / Nous as de mal, Pucelle eslite!« (XXIII,7 f.). Sie, die »simple bergiere« (XXV,6), ist stärker und tapferer als Josua, Moses’ Nachfolger, der die Israeliten bei der Eroberung Kanaans anführte, und alle Helden Roms. Und hier beginnt der protofeministische Diskurs an der Mythisierung mitzuwirken: Erstaunlich ist nicht nur die Tatsache, dass die Pucelle eine Frau und erfolgreicher als hunderttausend Männer ist, sondern dass sie, in die Gott »cuer plus que d’omme a mis« (XXVI,8), alle männlichen Helden, etwa auch Gideon (trotz seines Siegs über die Midianiter), an Tapferkeit überragt. Doch übertrifft Jeanne nicht nur die Helden der biblischen Geschichte, sondern auch die anerkannten Heldinnen: Esther, Judith und Debora,37 »Par lesqueles Dieu restora / Son pueple, qui fort estoit pris« (XXVIII,3 f.). Es sind dies mythische Vorbilder, die zu Präfigurationen degradiert werden, denn Gott »Plus a fait par ceste Pucelle« (XXVIII,8): Die Christine möglicherweise bekannten bisherigen Vergleiche der Pucelle mit biblischen Heldinnen (Jean Gerson, Jacques Gelu) hatten lediglich deren Gleichwertigkeit betont.38 Auch die mythischen Helden der Antike, Hector und Achilles (XXXVI,7), waren schwächer als diese »fillete de XVI ans« (XXXV,1), jene dennoch amazonenhafte »principal chevetaine« (XXXVI,6)39 der Armee des Dauphin, in deren Wundertat sich die Liebe Gottes zu Frankreich und zum weiblichen Geschlecht manifestiert. Christine skizziert diese mythischen Reihen, um die Pucelle als deren unübertroffenen Höhepunkt zu kennzeichnen40 und das Superlativische der neuen Heroine zu betonen. Dass sie dabei allgemeine Mythisierungstendenzen ihrer Zeit aufgreift und weiterentwickelt, diese außerdem durch Anleihen etwa bei der 36 Diese Literatur (von Alain Chartier und anderen) ist nicht zuletzt deswegen monarchischpatriotisch, weil sie vom göttlichen Ursprung der französischen Monarchie ausgeht und aus ihm die Privilegierung Frankreichs ableitet. Der daraus resultierenden Verbindung von »sentiments patriotiques« und »sentiments religieux« im Diti¦ geht Jean-FranÅois KostaTh¦faine nach: Kosta-Th¦faine 1999. 37 Die Analogien von Debora und Jeanne vertieft: Kosta-Th¦faine 1998. 38 Wenn Christine de Pizan keineswegs die erste ist, die den Vergleich Jeannes mit den biblischen Frauengestalten formulierte, so dürfte sie dazu beigetragen haben, diesem Vergleich einen topischen Charakter zu verleihen. 39 Christine vermeidet den später sehr häufig auf Jeanne d’Arc gemünzten Begriff der Amazone. 40 Zusammenfassend in Strophe XLIV: »Donc desur tous les preux passer, / Ceste doit porter la couronne« – »plus prouesse Dieu lui donne / Qu’ tous ceulz de qui l’on raisonne« (1 f., 4 f.).
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Bibelsprache und -metaphorik41, aber auch bei den altehrwürdigen literarischen Codes der Chanson de geste42 in besonderer Weise aktiviert, steht außer Frage. Doch gerade dieses mythisierende Superlativische bedarf offenbar einer weiteren unmittelbareren Absicherung. Christine de Pizan setzt hier die erwähnten Prophezeiungen ein, die ihr zufolge nunmehr ihre konkrete Einlösung gefunden haben und die historische Zwangsläufigkeit von Jeannes Mission verdeutlichen. Merlin, Beda und die Sibylle, die bereits vor mehr als fünfhundert Jahren »en esperit« (XXXI,3) vorausgesehen haben, dass eine/die Pucelle »pourteroit baniere / Es guerres franÅoises« (XXXI,6 f.), sind ihre durch die Lichtbringerin Jeanne bestätigten Gewährsleute.43 Mehr noch: Die mit der Aura des Mythischen versehene und von alters her verbürgte Geschichte der Befreiung Frankreichs von den Engländern durch eine Waffen tragende Jungfrau, eine »bellatrix«, ist auf Weiterführung und Wiederholung angelegt. Die optimistische Dichterin gibt diesem Implikat im letzten Drittel des Diti¦ dadurch Ausdruck, dass sie selbst die Rolle der Prophetin übernimmt und damit nicht nur die Vergangenheit (Prämythen und mythische Prophezeiungen) als Vorgeschichte der Gegenwart, sondern auch die Zukunft – bis hin zum Jüngsten Gericht44 – als zweifelsfreie (XLI,8: »il est conclus«) Vollendung der Gegenwart von Ende Juli 1429 zu Wort kommen lässt. Christine übernimmt damit selbst die Rolle der (nunmehr christianisierten) Sibylle45 – auf die Vision exzeptioneller, mythisierter Wirklichkeit folgt die Vision zukünftigen Geschehens. Auch wenn das von Christine Vorausgesagte weniger als Prophezeiung denn als Appell an die Gegenwart mit Hilfe von in die Zukunft projizierter mythischer Wiederholung verstanden werden darf, Jeannes Werk mit ihr zusammen über die »französischen Verhältnisse« hinaus zu vollenden – »Et n’a pas encor tout parfait!« (XLIV,6) –, ist doch bemerkenswert, wie die Dichterin die mythische Geschichte weiterschreibt – und dies unabhängig davon, was von diesen Prophezeiungen sich realgeschichtlich erfüllt hat. Dazu gehören die vollkommene Vertreibung der Engländer aus Frankreich und der schleunigste politische Frontwechsel der Burgunder, denen nunmehr wohl die Augen geöffnet worden seien, ebenso wie die Befriedung der Kirche und der Christenheit durch die Beendigung des Schismas und die Bekämpfung der Häresie, der allgemeine Friede und vor allem die Be41 42 43 44
Vgl. z. B. die Lichtmetaphorik vor allem zu Beginn. Auf letzteres verweist Besnardeau 2008. Dass sie just in der Mitte des Diti¦ figurieren, ist sicher nicht zufällig. Teilweise wird die Funktion Marias als Medium Gottes im Dienst der Erlösung des Menschen von seinen Sünden übertragen auf die Pucelle als Erlöserin des auserwählten Volks von Schmach und Unfreiheit. 45 »The sibyl had predicted Joan’s arrival and accomplishments up to the historical and textual present; Christine ›takes over‹, in her own voice, for the narrative of Joan’s future« (Brownlee 1989, S. 146).
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freiung des Heiligen Lands von den Sarazenen durch einen neuen Kreuzzug. Der runde Schluss, den sich Christine dabei ausdenkt, ist der Tod Jeannes im befreiten Heiligen Land: »L doit-elle finer sa vie, / Et l’un et l’autre gloire acquerre, / L sera la chose assovye« (XLIII,6 ff.). Und wäre es so gekommen, hätte auch dies der mythischen Geschichte der Pucelle – so sehr sie von dem durch die tatsächliche, realgeschichtliche Fortsetzung ergänzten Jeanne-Mythos abgewichen wäre – eine ihrer würdige Kontur verliehen, entspricht doch das von der Dichterin vorgesehene Ende der mythischen Geschichte wiederum zeitgenössischen Prophezeiungen: »Partout au XVe siÀcle, on croit qu’un roi de France va surgir, qui ceindra la couronne imp¦riale, r¦formera l’Êglise, battra le Turc, et s’en ira mourir J¦rusalem.«46 Dass Christine Jeannes Heldentat mit dem dritten Kreuzzug und der Befreiung von Akkon vergleicht (XLVIII), ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Die Ausführungen über die unmittelbare Zukunft und die noch bevorstehende militärische »Kleinarbeit«, vor allem die Eroberung der Stadt Paris und der anderen dem Dauphin widerspenstigen Städte, verlassen dagegen in großem Maß die Ebene des Mythischen und teilweise auch die der Wiederholbarkeit mythischen Geschehens. Trotz aller Hoffnung und Appelle – auch und gerade an die Einwohner dieser Städte, zu loyalen Bürgern Frankreichs und Untertanen des Königs zu werden – vermag nur ein »La Pucelle lui [dem König] a promis« (LIV,2) die Gewissheit des Gelingens zu beschwören. Man darf annehmen, dass Christine de Pizan über die Geheimverhandlungen zwischen Charles VII und dem Herzog von Burgund ebenso informiert war wie über das zögerliche Verhalten Jeannes unmittelbar nach der Krönung oder die für die Pucelle ungünstige politische Gemengelage in Paris selbst. Christines Realitätssinn gewinnt hier die Oberhand – ihr mythisches Denken bleibt auf die fernere Zukunft beschränkt. Bemerkenswert ist aber auch, wie die Entstehung und weitere Entwicklung des in zunehmendem Maß im Volk verbreiteten und wirksamen Pucelle-Mythos nicht nur ohne volkstümliche Vorgaben, abergläubische Vorstellungen und andere rezeptionelle Prädispositionen nicht möglich waren, sondern wie – von diesen Vorgaben ausgehend und sie instrumentalisierend – politisch einflussreiche Intellektuelle wie Jean Gerson, Jacques Gelu und Christine de Pizan, jeder mit den ihm jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln, die weitere Gestaltung des Mythos »in statu nascendi« aktiv beeinflusst, ja gelenkt haben.47 Ganz so wie die Dichterin des Diti¦ de Jehanne d’Arc und andere Zeitgenossen die Mythisierung von Jeanne d’Arc und ihrer Taten ins Werk setzten, sollte der Pucelle-Mythos 46 Chaume 1947, S. 36. 47 »The Diti¦ is certainly evidence that it is the literature about Joan of Arc that shaped the historical reality of Joan of Arc« (Cornford 2000, S. 106).
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allerdings nicht in seine jahrhundertelange Geschichte eintreten. Gemeint ist hier nicht so sehr die spätere nationalistische Instrumentalisierung des Mythos, die im Übrigen durchaus an Christines Formulierungen anknüpfen konnte.48 Wichtiger ist, dass das, was Christine de Pizan selbst nicht mehr erlebte – nämlich das Scheitern in Paris, die Gefangennahme in CompiÀgne, der Prozess und die Hinrichtung in Rouen – dem Mythos eine neue Richtung gab, die letztlich sein Weiterleben über die Epoche der europäischen Nationalismen hinaus bis in die globalisierte Welt von heute verbürgte. Das Täternarrativ wurde nämlich im Fall des Pucelle-Mythos durch das Opfernarrativ ergänzt, das nach dem Zweiten Weltkrieg die eindeutige Dominanz bei Mythisierungen und Remythisierungen erlangte. Von Christines siegreicher, heldenhaft patriotischer, Gottes Willen auf Erden realisierender und der königlichen Legitimität verpflichteter Pucelle würden heute wahrscheinlich allenfalls Ewig-Gestrige Notiz nehmen wollen.49
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48 Dies gilt auch für andere Thematisierungen der Pucelle im 15. Jahrhundert; vgl. Deschaux 1995. 49 Vgl. Rieger 2011.
Mythos in statu nascendi? Die Pucelle und Christine de Pizans Ditié de Jehanne d’Arc
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Dietmar Rieger
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Karina Kellermann
»Kaiser Friderich ist komen!« Der Wiederkehrmythos und die frühe Vision eines 1000jährigen deutschen Reiches
Wiederkehren kann eine Sternen-Konstellation, eine gefährliche Situation, ein bestimmter gesellschaftlicher Zustand, eine Person. Die Wiederkehr einer Person ist im Deutschen nicht gleichbedeutend mit ihrer Rückkehr – Martin Guerre ist nicht wiedergekehrt,1 auch der falsche Waldemar, der 1347 an die Stelle des letzten Askaniers2 treten wollte, ist nicht wiedergekehrt. In beiden Fällen handelt es sich um die (vermeintliche) Rückkehr eines verschollenen Menschen; dies ist ein biographisch dichtes Ereignis, aber es ist großenteils irrelevant für die Gemeinschaft. Wiederkehr hingegen meint die ersehnte Wieder-Ankunft einer Person, ein Ereignis, aufgeladen mit hoher Bedeutung für alle. Die Wiederkehr eines Königs ist mitnichten gleichbedeutend mit der Rückkehr des Königs aus der Ferne, aus der Gefangenschaft, sondern sie ereignet sich mit großem zeitlichen Abstand zum Verschwinden; zwischen dem Verschwinden und der Wiederkehr liegt eine Frist, die ein Menschenleben übersteigt. Daher stellt die Wiederkehr ein wundersames Ereignis dar, die Rückkehr nicht notwendig. Unter Mythos verstehe ich mit Jan Assmann eine Erzählung, die in einer bestimmten Gesellschaft in hohem Maße sinnstiftend wirkt. Mythos ist eine Geschichte, die man sich erzählt, um sich über sich selbst und die Welt zu orientieren, eine Wahrheit höherer Ordnung, die normative Ansprüche stellt und formative Kraft besitzt.3 Mythen thematisieren elementare Probleme einer Gesellschaft auf symbolischer Ebene. Ein Mythos kann den Ursprung einer Institution oder einer Errungenschaft erklären (aitiologischer Mythos); er kann die Gründung einer politischen Ordnung oder eines Volkes berichten (fundierender Mythos). Jan Assmann unterscheidet zwei Funktionen: die »fundierende
1 Natalie Zemon Davis betitelt ihren investigativen historischen Roman ganz nüchtern ›Le Retour du Martin Guerre‹. Erst die deutsche Übersetzung lädt den Titel auf als Wiederkehrmythos: ›Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre.‹ 2 Markgraf Waldemar von Brandenburg (†1319) war auf der Pilgerfahrt ins Hl. Land verschollen. 3 Vgl. Assmann 2000, S. 75 – 77.
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Funktion« und die »kontrapräsentische Funktion«4 als zwei Modi des Vergangenheitsbezugs des Mythos. Der fundierende Mythos ist eine Erzählung verinnerlichter Vergangenheit, wobei es unerheblich ist, ob das Erzählte fiktiv oder faktisch ist. Die Erinnerung ist ein Akt der Semantisierung und folgt einer spezifischen »Mythomotorik«5. Mythen können in unterschiedlichen medialen Vehikeln aktualisiert und rememoriert werden: als Kultmythos, als Familiensaga, als Märchen, als poetisch geformte Erzählung. Und sie haben ganz unterschiedliche Grade von Verbindlichkeit. Ein Kultmythos oder ein religiöses Dogma kann von einschneidend hoher Verbindlichkeit sein, sozusagen einen verbindlichen Glauben geradezu vorschreiben. Andere Mythen haben schwächere Verbindlichkeit, teils weil nur Teile der Gesellschaft sie akzeptieren, teils weil zwar alle sie akzeptieren, ihnen aber keine intensive Geltung zuweisen. Weiterhin ist zu differenzieren zwischen dem konkreten Mythos und dem strukturell zugrundeliegenden Mythem. Als Mythem bezeichne ich die MusterMatrix, aus der verschiedene singuläre Mythen abgeleitet werden können; dementsprechend lässt das Wiederkehrmythem unterschiedliche Formen von Wiederkehrmythen zu. Die Wiederkehrhoffnungen im religiösen Kontext sind Legion, sie finden sich in fast allen Weltreligionen. Im politischen Kontext, und nur hierum soll es im Folgenden gehen, taucht das Mythem der Wiederkehr, soweit ich sehe, vornehmlich in zwei Varianten auf: 1. als Wiederkehr eines idealen Zustandes, 2. als Wiederkehr eines idealen Herrschers. Die erste Variante findet sich häufig in politischen Utopien, die zweite Variante ist seltener, taucht aber gerade im mittelalterlichen deutschen Reich verstärkt auf: nämlich die Hoffnung auf die Wiederkehr eines spezifischen Herrschers. Und diese Mythemvariante hatte mehrere Konjunkturen vom 13. Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Im Folgenden will ich mit wenigen Strichen und an ausgewählten Beispielen aufzeigen, wie dieses Mythem sich in literarischen Texten entfaltet und welche diskursiven Widersprüche und semantischen Folgen es zeitigt.
1.
Millenarismus und Wiederkehrmythen
Historische Forschungen haben wiederholt darauf verwiesen, dass in unterschiedlichen europäischen Monarchien ›Herrscherprophetien‹ zirkulierten, Prophezeiungen, die verhießen, dass ein König oder Kaiser kommen und eine verlorene gute Ordnung wiederherstellen werde.6 Dies ist keine Wiederkehr, 4 Ebd., S. 79. 5 Ebd., S. 80. 6 Vgl. Struve 1977, S. 66 ff. und die dort in Fußnote 6 versammelte Literatur.
»Kaiser Friderich ist komen!« Der Wiederkehrmythos
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denn nicht ein spezifischer, bereits verstorbener Herrscher kehrt wieder, sondern ein künftiger wird die Renovatio bringen. Ein solches Handeln zum Wohle des Ganzen lässt sich bequem zyklisch denken: Nach der Wiederherstellung der guten Ordnung kann diese wieder verloren gehen, und dann braucht man eine erneute Wiederholung – so kann es repetierend und iterierend potentiell endlos weitergehen. Man kann das Heilshandeln des Herrschers aber auch nicht-zyklisch denken, nämlich linear : Der verheißene Herrscher schafft einen Zustand, der sich unterscheidet von allen bisherigen geschichtlichen Zuständen. Zum Beispiel bringt er eine tausendjährige Periode des Friedens, wie die millenaristischen Bewegungen glaubten, die seit Joachim de Fiore (1184 – 1202) vermehrt um sich griffen. Pax und Herrschaftsauftrag verbinden sich seit Ende des 12. und bis ins 16. Jahrhundert mit chiliastischen Auffassungen, die den Friedensherrscher als Endzeitherrscher vor dem Auftreten des Antichrist imaginieren.7 In diesem Falle handelt es sich nicht um eine Wiederholung. Die mittelalterliche Reichstheologie lässt sich problemlos mit millenaristischen Vorstellungen verbinden, da sie sich widerspruchsfrei einer teleologischen Weltsicht fügen. Dazu bedarf es allein der Ankunft eines idealen Herrschers, die Wiederkehr eines guten Herrschers ist nicht vonnöten. Anders der Wiederkehrmythos: Er ist ein Sonderfall der Herrscherprophetie. Die Erwartung, dass ein Herrscher zukünftiges Heil bringt, ja sogar eine Periode des Friedens einleitet, findet sich in vielen Monarchien Europas. Auch dass diese Prophetie sich an die Wiederkehr eines verschwundenen und verborgenen Herrschers knüpft, ist in Europa bereits seit dem 9. Jahrhundert aus Byzanz bekannt und selbst im asiatischen Raum nachzuweisen.8 Doch haftet dem Wiederkehrmythem, das sich im deutschen Reich bald nach dem Tode Friedrichs II. (†13. 12. 1250) an den Staufer anlagert, eine Besonderheit an: Es verbindet sich auf charakteristische Weise mit millenaristischen Vorstellungen. Der Herrscher, der wiederkehrt, installiert erst- und einmalig einen lang andauernden – 1000 Jahre währenden – Friedenszustand. In dieser Denkfigur verliert das Reich seinen Selbstzweck, es wird zum Instrument des Friedens. Und wegen der Singularität des namentlich genannten Herrschers ist eine mehrmalige Wiederholung ausgeschlossen. Ein Beispiel für die literarische Imagination einer Wiederkehr des Herrschers, der weltweiten Frieden herstellt, zudem mit friedlichen Mitteln, ist das folgende
7 Vgl. Kampers 1969, S. 69 ff. – Zu den chiliastischen Bewegungen im Allgemeinen: Cohn 1970; zum Joachitismus und den Endkaisererwartungen des Hochmittelalters: Töpfer 1964; Schaller 1982. 8 Vgl. Struve 1977, S. 68.
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dreistrophige Lied aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts9 in Regenbogens ›Grauem Ton‹: in Form einer Prophezeiung formuliert der unbekannte Dichter eine radikal pazifistische Utopie: ›Ez naeht der zt‹:10 1 Ez næht der zt! grúz arebeit üebt sich durch alliu lant, umb daz zwei houbt der kristenheit sich wider einander setzen. sich hebet noch ein grúzer strt, daz muoter kint ez wol beweinen mac. Man unde wp die habent leit umb roup, darzuo den brant, einz an dem andern gar verzeit, wie s sich wellen letzen beid’ an dem guot und an dem lp, daz niemand mac belben ne klag’. Sú wirt daz urliuge alsú grúz, niemant kan ez gestillen. sú kumt sich keiser Vriderich der hÞr’ und ouch der milt’, er vert dorther durch gotes willen, an einen dürren boum henkt er sn schilt. 2 Sú wirt diu vart hin über mer, sú hebent s sich drt, man unde wp in vrechem muot, so si mügen allerbeste. si dringent durch einander hart; darumb in got sn rch’ dort geben wil. Wb unde man gÞnt ne wer beide vruo unde spt. sú wirt der vride alsú guot in landen und f vesten, einz grft daz ander nindert an, so gewint diu werlt dan vröuden alsú vil. Er vert dort hin zem dürren boum n’ allez widerhap, daran sú henkt er snen schilt: er gruonet unde birt.11 9 Man bezieht das schwer datierbare Lied meist auf die Zeit Ludwigs (IV.) des Bayern (†1347), das Doppelkönigtum 1314 – 22 und den Kampf zwischen Kaiser und Papst – zunächst Papst Johannes XXII., dann seit 1323 Bendedikt XII. 1324 erfolgte die Bannung Ludwigs, 1328 ließ er sich von dem Laien Sciarra Colonna die Kaiserkrone aufsetzen. 10 De Boor (Hrsg.) 1965, S. 1041 f. 11 Strophe I, V. 16 und Str. II, V. 13 f. enthalten eine Anspielung auf Ezechiel 17,24; dort heißt es: »Dann werden alle Bäume auf den Feldern erkennen, / daß ich der Herr bin. / Ich mache den hohen Baum niedrig, / den niedrigen mache ich hoch. / Ich lasse den grünenden Baum verdorren, / den verdorrten erblühen.« Beide Prophetien, die alttestamentarische und die
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sú wirt gewunnen daz heilic grap, daz nimmer swert darumb gezogen wirt. 3 Diu reht gelch bringt er herwider, der selbe keiser hÞr. er schaft der werlte manegen vrumen al zuo der selben zt, und alliu heidenischiu rch diu werdent dem selben keiser undertn. Der Juden kraft legt er darnider sú gar n’ alle wer, sú daz si nimmer f bekumen, darzuo n’ allen strt ouch aller pfaffen meisterschaft. daz sibende teil ouch kme wirt bestn. Diu klúster diu zerstœrt er gar, der vürste húchgeborn, er gibt die nunnen zuo der Þ, daz sag’ ich iu vürwr, si müezen bwen wn unt korn: wan daz geschiht, sú kument uns guotiu jr.
Ich paraphrasiere: 1. Str.: Unordnung herrscht in allen Landen. Die zwei Häupter der Christenheit, Papst und Kaiser, bekriegen sich, das hat katastrophale Auswirkungen bis hinein in die kleinste soziale Einheit: die Familie. Zwist, Fehde, Krieg herrschen, keiner kann Frieden stiften. Da kommt aufgrund göttlichen Willens Kaiser Friedrich, » an einen dürren Baum hängt er seinen Schild.« 2. Str.: Schnell sammeln sich alle um den Kaiser und auf geht’s »über mer«, d. h. auf den Kreuzzug oder die Pilgerfahrt ins Heilige Land. Sie drängen sich förmlich dazu, denn dort winkt das Reich Gottes. Hier aber sorgt ein Landfriede für ein harmonisches Miteinander; Friede herrscht auf der ganzen Welt, friedlich wird das Heilige Grab befreit. Friedrich fährt zum dürren Baum und hängt ohne jeden Widerstand seinen Schild daran: da grünt der Baum und trägt Frucht. 3. Str.: Alle Rechte werden wieder in Kraft gesetzt, alle heidnischen Reiche dem Kaiser untertan, alle Juden besiegt, die Pfaffenherrschaft beendet – dies geschieht gewaltlos. Die Klöster werden zerstört, die Nonnen verheiratet, denn von nun an müssen sie Ackerbau betreiben, also produktive Tätigkeit verrichten.
Die Klammer der Prophezeiung ist die visionäre Ankündigung im ersten Vers: »Die Zeit ist nah!« und die Antizipation der Erfüllung im letzten Vers: »Wenn das eintritt, ist das goldene Zeitalter angebrochen.« Das Lied reagiert auf eine politisch, sozial und religiös motivierte Unsicherheit mit der konkreten Annonce des poetische, verkünden also die Ankunft eines Heilszustandes und benennen dafür Zeichen der Natur. Zudem ist der dürre Baum in typologischer Deutung der Kreuzesstamm Christi.
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wiederkehrenden, gottgesandten Kaisers Friedrich II., des stupor mundi – dessen Herrschaft aber war bereits vergangen, der Staufer seit über 60 Jahren tot.
2.
Verborgenheit und Namentlichkeit des wiederkehrenden Herrschers
Wie verknüpft sich das Wiederkehrmythem mit der Herrschergestalt? Der wiederkehrende König hat eine andere Qualität als der angeblich zurückgekehrte Waldemar oder Martin Guerre. Er ist als König kein gewöhnlicher Sterblicher, seine Geburt, die Stationen seines Lebens wie auch sein Tod sind zeichenbehaftet und bedeutungsvoll. Dies beweist auch die Rezeption des Todes Friedrichs II. Kurz nach dem Tod des Kaisers lief das Vatizinium der erythräischen Sibylle um, das besagte: »Verborgenen Todes wird er die Augen schließen und fortleben; tönen wird es unter den Völkern ›Er lebt und lebt nicht‹, denn eines von den Jungen und von den Jungen der Jungen wird überleben.«12 Die Ambivalenz von »lebt« / »lebt nicht« in dieser Weissagung entsteht dadurch, dass der gestorbene Kaiser zwar tot ist, aber trotzdem fortlebt in seinen Nachkommen, denen eine heilsgeschichtliche Mission zufällt. Mit dieser genealogischen Lebensverlängerung bleibt Friedrich II. latent präsent, wenn auch nicht in Person, sondern a) gentilcharismatisch, b) programmatisch, c) namentlich. Damit ist eine ›inkarnative‹ Wiederkehr geweissagt, die nicht personal völlig offen ist, da sie gebunden bleibt an eine Dynastie. Alles ändert sich, sobald der Hinweis auf das Fortleben in den Nachkommen aus der Weissagung getilgt wird. Denn nun lebt der Verstorbene selber fort und zwar nicht in seinen Nachkommen; und damit ist sein Tod kein realer Tod mehr, sondern ein Verschwinden. Folglich ist seine Wiederkehr keine inkarnative, sondern eine ›identäre‹, also personale. Eben das geschah Jahre später ; das Vatizinium zirkulierte ohne den Hinweis auf die Nachkommen. Und so wurde das Fortleben mit der Aura des Geheimnisvollen umgeben: »Sein Tod wird verborgen und unbekannt bleiben, und tönen wird es im Volke: ›Er lebt und lebt nicht‹«.13 Diese Mystifikation gab den Nährboden ab für die ersten Keime der Sage vom Weiterleben des Kaisers, unbeschadet der Tatsache, dass dessen Gebeine im majestätischen Porphyrsarg im Dom von Palermo ruhten und sein Grab somit öffentlich sichtbar war. Die Zirkulation von Prophetien hatte begonnen. 12 Holder-Egger 1889, S. 168. Ich zitiere den Spruch in der Übersetzung von Kantorowicz 1957, S. 127. Vgl. zu den Weissagungen, die nach dem Tod Friedrichs II. entstanden oder aktualisiert wurden: Kampers 1969, S. 84 ff. u. passim; Hampe 1917, S. 7 ff. 13 Holder-Egger 1905, S. 333 f. Übersetzung nach Kantorowicz 1957, S. 127.
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Dass diese Deutung eine »Abwandlung der rationalen juristischen Argumente ins Sagenhafte«14 und somit eine Umlenkung eines kausalen, auf dynastische Kontinuität gerichteten Denkens ins Irrationale ist, hat Kantorowicz bereits gesehen. Er bringt folglich auch nicht die Kaisersage in einen argumentativen Zusammenhang mit der Theorie der zwei Körper des Königs, dem einen natürlichen und sterblichen Körper und dem anderen politischen und durch Gottes Gnade unsterblichen, eine Differenz, die er in seiner eindrücklichen ontologischen Königslehre aufgestellt und überzeugend vorgeführt hat.15 Er legt vielmehr den Finger auf ein folgenreiches Missverständnis: »So geht die Kaisersage im Grunde zurück auf das Mißverstehen der rationalen, juristischen Argumente für eine Kontinuität der Dynastie und eine Sempiternität der Dignitas.«16 Denn »Le roi ne meurt jamais« ist eine juristische Denkform, die das Amt oder die Identität von Vorgänger und Nachfolger in einer Würde betrifft, aber nicht als eine individuelle Person. Von der Zwei-Körper-Theorie geht keine Brücke zum Wiederkehrmythos. Der Wiener Jans Enikel treibt in seiner ›Weltchronik‹ (um 1300) diese Differenz geradezu heraus, wenn er über das mysteriöse Ende Friedrichs II. Folgendes berichtet:17 28945 Dar nch der keiser wart verholn, den kristen allen vor verstoln, wan nieman west diu mære wa er hin komen wære. ob er wær tút an der zt, 28950 d von ist wærlch noch ein strt in welhischen landen über al. die einen jehent mit grúzem schal, daz er s erstorben und in ein grap verborgen, 28955 sú habent sümlch disen strt, er leb noch in der werlt wt. welhez under den beiden s, des mæres bin ich worden fr. [Danach wurde der Kaiser verborgen, allen Christen genommen; denn niemand konnte sagen, wohin er gekommen sei. Ob er zu diesem Zeitpunkt tot war, darüber gibt es – ich sage euch die Wahrheit – bis heute noch Streit in ganz Italien. Die einen sagen mit großem Getöse, er sei gestorben und in einem Grab verborgen, manche aber vertreten in diesem Kampf die Position, er lebe noch in der weiten Welt. Welche Aussage der beiden der Wahrheit entspricht, kann ich nicht sagen.] [Übersetzung K. K.]
14 15 16 17
Kantorowicz 1957, S. 149. Kantorowicz 1990. Kantorowicz 1957, S. 150. Enikel 1900, V. 28945 – 58.
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Der Chronist weiß: Verborgenheit heißt, dass der Tod entweder umstritten oder geheimnisumwittert ist. Üblicherweise ist der Tod eines Herrschers alles andere als geheimnisumwittert, er ist öffentlich und Bestandteil der Herrschaftskontinuität. In Kantorowicz’ Studie zur politischen Theologie des Mittelalters ist geradezu vorausgesetzt, dass der König wie jeder Mensch realiter – als physischer Körper – stirbt, damit sein politischer Körper weiterleben kann. Die Unsterblichkeit der Königswürde und die Kontinuität des Amtes sind das diametrale Gegenteil einer Wiederkehr ; und der natürliche Tod ist das Gegenteil einer Verborgenheit.18 Indem die Umstände von Friedrichs Tod vergeheimnist werden, konstituiert man das Personenprofil, an das sich das Wiederkehrmythem anlagern kann. Und schließlich gibt es noch einen weiteren Unterschied zwischen dem König, der zu Lebzeiten ein begnadeter Körper ist, und der Wiederkehrmythe: Die Wiederkehr setzt ein Tief voraus, in das eine Gesellschaft, ein Reich geraten ist. Eine historische Talsohle, aus der die Kontinuität des königlichen Amtes eben gerade nicht heraushilft. Die Nachfolger des verborgenen Herrschers sind außerstande, Heil und Frieden herzustellen. Das einzige, was heraushilft, ist die Wiederkehr eines bestimmten, eines außerordentlichen, eines namentlich genannten Herrschers. Der Wiederkehrende hat also extraordinäre Qualitäten, die mit dem ›unsterblichen‹ politischen Körper des Herrschers genau nicht vermittelt werden – andernfalls müsste jeder Nachfolger und somit letztlich jeder König ein Heils- und Friedensfürst sein.
3.
Welcher Herrscher kehrt wieder?
Friedrich kehrt zurück, wissen die Dichter, Chronisten und Publizisten. Welcher Friedrich? Nach dem Tode des Staufers Friedrich II. wurde im ausgehenden 13. Jahrhundert ein »Fridericus orientalis« prophezeit und für das Jahr 1305 ein »dritter Friedrich aus Sizilien« annonciert.19 Als Nachkommen Friedrichs II. sind kurzzeitig auch der Aragoneser Friedrich III. von Sizilien, der Enkel von 18 Wolfgang Ernst stellt die historische Entwicklung des Wiederkehrmythos von Friedrich II. zu Friedrich I. Barbarossa falsch dar und trifft auch die kantorowiczsche Position nicht, wenn er meint: »Kantorowicz interpretierte bereits in Kaiser Friedrich der Zweite am Beispiel des Mythos von der Wiederkehr des Kaisers (eine metonymische Verschiebung von Barbarossa auf Friedrich II.) mittelalterliche Herrschaftssymbolik als a map of misreading mit kultursemiotischem Mehrwert« (Ernst 1998, S. 191). Zuzustimmen ist Klaus Schreiner, wenn er den Bericht Enikels als Zeugnis der grassierenden Unsicherheit über ein geheimnisvolles Verschwinden des Kaisers wertet, das als solches Voraussetzung ist für eine ebenso geheimnisvolle Wiederkehr, welche einwandert in die deutsche Kaisersage (vgl. Schreiner 1977, S. 250 f.). 19 Vgl. Struve 1977, S. 72 und S. 76.
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Friedrichs II. Sohn Manfred, und 1269 der Wettiner Friedrich der Freidige, nach dem Tode Konradins (†1268) letzter kognatischer Nachkomme der Staufer, in den Rang von Hoffnungsträgern eingerückt.20 Diese Hoffnung auf einen direkten Abkömmlung des Kaisers ist jedoch kein Element der Wiederkehr ; denn die Hoffnung auf die gentilcharismatischen Qualitäten der Abkömmlinge aktiviert sich nur dann, wenn man als gewiss annimmt, dass Friedrich II. verstorben und gerade nicht verborgen ist. Die besonderen Erwartungen, die sich an namensgleiche Herrscher richten, zielen nicht auf die Wiederkehr derselben Person, sondern auf die Wiederkehr derselben Qualitäten; dabei bürgt die Identität des Namens für eine Identität der Eigenschaften, nicht aber der Person. Im einen Fall handelt es sich um personale Wiederkehr, im anderen um inkarnierte Wiederkehr. Das Seltsame ist nun, dass just im Wiederkehrmythem der Schritt vollzogen wird von der Identität des Namens zur Identität der Person selbst. Es ist an den Texten zu ersehen, dass weit verbreitete Hoffnung auf einen ›neuen‹ Friedrich den Nährboden darstellt für das Auftauchen des Wiederkehrmythems. Überwiegend richten sich nämlich die Hoffnungen im hohen und späten Mittelalter auf den Staufer Friedrich II. als den Herrscher, der wiederkehren wird.21 Warum die Häufung des Namens Friedrich? Sie ist kein Zufall, ist doch die etymologische Auslegung des Namens als »Friedensreicher«, »Friedensbringer« oder »Friedensfürst« bei den Panegyrikern beliebt.22 Und selbst wenn ein König einen anderen Taufnamen hatte, konnte er bei seiner Kaiserkrönung den Namen Friedrich annehmen, wie es Sigmund 1433 angeblich tat.23 Damit ist die Frage nach dem Namen Friedrich beantwortet, nicht aber die nach der konkreten Person. Warum gerade Friedrich II.? Wäre nicht eher damit zu rechnen, dass der Gründungsheros des Reiches wiederkehrt, Karl der Große? Tatsächlich findet sich auch das; denn Alexander von Roes etwa prophezeit 1281 den Endkaiser aus dem Geschlecht Karls des Großen und zwar im französischen Königshaus der Anjou.24 Mit dieser Zuschreibung wird Karl der Große aber französisch vereinnahmt, und genau hier liegt das Problem: Der französische König führt den Titel »rex Francorum«, die Rückführung des französischen Königtums auf die karolingischen Wurzeln erfolgt ganz selbstverständlich und 20 Vgl. Grauert 1892, S. 110 ff. 21 Cohn 1982 hat die messianischen Züge, die auf Friedrich II. appliziert wurden, im Zusammenhang mit dem Joachitismus untersucht und die chiliastische Tradition bis in die spätmittelalterlichen Reformschriften verfolgt. 22 Schon Otto von Freising feiert Friedrich I. als »re et nomine Pacificus« (Struve 1977, S. 69), und Sebastian Franck weiß in seiner 1536 gedruckten ›Chronica‹ über Kaiser Friedrich III. zu sagen: »Er macht allenthalben frid / das sein nam an jm nit verlorn war / und wol recht Friderich hieß« (Franck 1536, folio ccxlj recto). 23 So berichtet es Johann Koelhoff in seiner ›Cronica von der hilliger stat van Coellen‹ (vgl. Struve 1977, S. 69). 24 Vgl. Schreiner 1977, S. 250.
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zwanglos, während das deutsche Reich Hilfskonstruktionen basteln und Umwege gehen muss, um sich auf das fränkische Kaisertum Karls des Großen zurückzuführen. »Hüben und drüben bilden sich getrennte französisch-karolingische und deutsche Kaisertraditionen.«25 Die französische kann auf eine dynastische Kontinuität bis zum Gründer aufbauen, die deutsche nicht. Die französische Karlslegende blüht bereits seit dem 10. und erreicht einen Höhepunkt im 12. Jahrhundert, während die deutsche Sage von Karl, der wiedererstanden sei, legendenhafte Züge annimmt; besonders seit der Beisetzung der Gebeine Karls durch Otto III. (1001) und später seiner Kanonisation unter Friedrich I. (1165).26 Der französische Mythos über den Kaiser der Endzeit bezieht sich auf einen »zweiten Karl«, welcher aus dem französischen Königshaus stammen soll, also ein Nachfahre Karls des Großen sein wird. Es handelt sich also um eine inkarnative Wiederkehr. Der Gedanke einer personalen Wiederkehr scheint völlig zu fehlen. Lediglich Ekkehard von Aura erwähnt in seiner ›Hierosolymita‹ (ca. 1106), dass im Jahre 1095 ein »fabulosum confictum« sich verbreitet habe, welches prophezeite, der auferstandene Karl werde die Christenheit zum Triumph führen.27 Im Gegensatz zum französischen Wiederkehrmythos wählt der deutsche nicht den Gründer, sondern den letzten Herrscher, unter dessen Herrschaft das Reich noch einigermaßen zusammenhielt. Ebenso entscheidend scheint mir aber, dass der Mythos sich auf eine extraordinäre und schillernde Gestalt richtet, den stupor mundi, der den Weltkreis in Staunen versetzte. Als wiederkehrendem Kaiser fällt ihm die Aufgabe zu, das Reich des Gründers wieder aufzurichten und obendrein eine heilsgeschichtliche Mission zu erfüllen: die Initiation einer langandauernden Periode des Friedens. Insofern verbinden sich an dieser Stelle Wiederkehr- und Gründungsmythos. Wenn ein anderer als der Gründer in die Gewänder des wiederkehrenden Herrschers schlüpfen kann, dann muss das Mythem ›Wiederkehr des Herrschers‹ offen sein für mehrere Kandidaten. Prinzipiell ist es das auch: Mythen von Entrückung und der Hoffnung auf eine Wiederkehr ranken sich um den sagenhaften König Artus, den norwegischen König Olaf I. Tryggvason (968 – 1000), die böhmischen Könige Premysl II. Otakar und Wenzel IV. oder auch den großmährischen Herrscher Svatopluk, um Konradin, den letzten Staufer,28 25 Kampers 1969, S. 48. Als eine der Hilfskonstruktionen nennt Kampers die von Otto von Freising gebrauchte Formulierung der »teutonici Franci« als Bindeglied zwischen dem römischen und deutschen Kaisertum (ebd.). 26 Vgl. Kampers 1969, S. 55 ff., d.i. das Kapitel »Die Karlslegende in Deutschland und Frankreich«. 27 Vgl. Reeves 1969, S. 301 f., S. 313 f., S. 320 ff. Ich danke Dietmar Rieger herzlich für diesen Hinweis sowie weitere Literaturangaben zum ›Carolus redivivus‹. 28 Vgl. Schreiner 1977, S. 253.
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später dann um Napoleon.29 In der deutschen historiographischen und politischen Literatur behauptet sich aber der Staufer Friedrich, nur dass er ab dem 16. Jahrhundert ersetzt wird durch seinen Großvater: Statt des puer Apuliae Friedrich II. kehrt Friedrich I. Barbarossa zurück.
4.
Wie gefährlich war der Mythos – politisch und theologisch?
Das politische Problem, welches ein Wiederkehrmythos aufwirft, ist evident: Wer auf einen wiederkehrenden König wartet, ist nur bedingt loyal gegenüber dem aktuellen Herrscher, d. h. der Wiederkehrmythos ist – latent – politisch gefährlich. Ob dieser Mythos aktuell wird und Anklang findet, hängt von der Krisenerfahrung ab. Daher hatte die Wiederkehrhoffnung immer wieder politische Konjunktur. Sobald das passierte, tauchten unweigerlich Menschen auf, die behaupteten, sie seien Kaiser Friedrich. Das Mythem des verborgenen Kaisers provozierte solche Usurpationen geradezu. Und es war dann eine Frage der Umstände, wieviele Anhänger der prätendierte Friedrich fand. Es dauerte keine elf Jahre, bis nach dem Tod Friedrichs II. in Deutschland der erste falsche Friedrich auftrat und sogar eine stattliche Anhängerschaft um sich sammelte.30 Der thüringische Chronist Johannes Rothe berichtet in seiner ›Thüringischen Weltchronik‹ (1421 abgeschlossen) von einer solchen Usurpation im Jahr 1261: fi
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In denselben gezeiten al so man zalte noch Cristus gebort tu sent 261 jar do qwam fi eyner mit eyme gro sen heere mit allerley lewten gesampnet unde sprach, her were fi kei ser Frederich den der babist vorbannen hatte umbe seyne ketzerey […] unde heerete das lant mechtiglichen unde sprach, her wolde das konigreich zu Apulien unde das konigreich zu Cecilien weder habin. Do das die fursten unde herren alumbe erfi furen, do zogen sie zu unde bestreten den ketzerischen bo sewicht mit seyner geselschaft, unde wart do erslagen, das man ir keyne gefangen nam.31
Es bedurfte also eines gemeinsamen Handelns mehrerer deutscher Fürsten, um die politische Gefahr mit militärischen Mitteln zu bannen. Der Chronist fügt diesem Bericht noch einen Kommentar an; und darin spricht er deutlich aus, dass der Glaube an die Wiederkehr eines verstorbenen Königs eine Häresie darstellt und obendrein eine sehr gefährliche: 29 Vgl. die Nennung einiger Namen bei Graus 1969, S. 80 ff. 30 Vgl. Schreiner 1977, der seinen Abschnitt »Friedrichsprophetien und ›falsche Friedriche‹ im deutschen Spätmittelalter« mit der Überlegung einleitet (S. 253 f.): »Sowohl die utopischen Sehnsüchte nach einem neuen Friedrich als auch die Epidemie der Pseudo-Friedriche sind Ausdrucksformen für das Verlangen nach einer durchgreifenden Reform von Kirche und Gesellschaft.« 31 Rothe 1859, S. 426.
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Vonn di sem kei ser Frederiche dem ketzer erhub sich eyne nuwe ketzerey die noch fi heymelichen under den cristen ist, unde die glouben des gentzlichen, das kei ser Frederich noch lebe unde lebinde bleiben sulle bis an den jungisten tagk unde das keyn fi rechtir key ser noch om worden sey adir werden sulle unde das her wander zu Kuffi fi fhu sen yn Doringen uf dem wusten slo se unde ouch uf andern wusten burgen die zu fi dem reiche gehoren, unde rede mit den lewten unde la se sich zu gezeiten sehin. Dise buferey brenget der tufel zu, dor methe her dieselben ketzer unde etzliche eynfeldige cristenlewte vorleitet. Man meynet wol, das vor dem jungisten tage eyn mechtiger fi kei ser der cristenheit werden sulle, der frede machen sulle under den fursten, unde fi denn so sulle von om eyne meerfart werden unde her sulle das heilige grab gewynnen fi unde den nenne man Frederich umb fredis willen den her machit, ap her nicht al so 32 getouffet ist.
Daraus erhellt: Der Wiederkehrmythos ist eine antichristliche Häresie. Den Grund gibt der Chronist nicht an, doch er ist unschwer zu erraten. Der Häresievorwurf hat nur zum Geringsten mit der Tatsache zu tun, dass Kaiser Friedrich II. vom Papst exkommuniziert worden war und als Ketzer galt. Entscheidend ist, dass der Mythos selber strukturell antichristlich war. Denn in diesem Mythos wurde ein bestimmter Mensch unsterblich gemacht: Er lebt über Jahrhunderte im Verborgenen, genau so wie der auferstandene Christus seit der Himmelfahrt verborgen ist. Obendrein erscheint dieser verborgene Kaiser bisweilen seinen Anhängern, genau so wie Dämonen bisweilen den Ketzern erscheinen. Und er wird wiederkommen, genau so wie Christus einst wiederkommen wird. Unter theologischen Gesichtspunkten baute die deutsche Variante des Wiederkehrmythos den wiederkehrenden König zum Rivalen von Christus auf. Der Unterschied zu den anderen Herrscherprophetien ist also gravierend. Denn dort rechnete man mit einem Idealherrscher, der irgendwann kommen sollte, um ein tausendjähriges Reich in Frieden und Heil zu errichten; doch dieser Idealherrscher ist ein normaler Mensch; er ist kein unsterblicher Wiedergänger aus der Vergangenheit. Der Chronist benennt präzise den Ort, wo die Gläubigen des Wiederkehrmythos ihren verborgenen König Friedrich hausen lassen: Es ist der Kyffhäuser in Thüringen.33 Der verborgene König scheint also im Laufe des 14. Jahrhunderts sein Vagabundieren aufgegeben zu haben, um sich an einem konkreten Ort niederzulassen, um dort zu warten, bis seine Stunde geschlagen hat. Und noch ein Spezifikum des Mythos stellt der Chronist aus, indem er eine Unstimmigkeit, einen Widerspruch ungelöst lässt. Er beginnt mit der konkreten historischen Person des Stauferkaisers, um mit dem landläufig verbreiteten Glauben an die Ankunft eines Friedensherrschers, der nicht den Taufnamen 32 Ebd. 33 Vgl. Schultheiss 1965, S. 72 ff., der ausführlich aus der ›Thüringischen Weltchronik‹ zitiert und der »Verörtlichung der Kaisersage« ein Kapitel widmet.
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Friedrich habe, aber vor dem Jüngsten Gericht kommen werde, zu enden. Damit schließt Johannes Rothe an den Synkretismus der Wiederkehr- und Endzeitprophetien an. Das Problem für die Zeitgenossen ist: Sie wissen, dass ein Heilskönig kommen wird, aber sie wissen nicht, wann und wer es sein wird. Folglich konstituiert sich das Wiederkehrmythem durch Zeichen, die gedeutet werden wollen; es blühen Prognostik, Prophezeiung, Vatizinien. Man ist ungemein anfällig für Zeichendeuterei, so dass sich folgende Interdependenz ergibt: Je schmerzhafter die Disordinatio, umso verweifelter und intensiver die Hoffnung, desto größer die Aktualisierungsgefahr. Aktualisierung bedeutet zeitliche Nähe, so dass man die Erfüllung der Verheißung sofort oder in der unmittelbaren Zukunft erwartet. In einer derartigen soziopsychischen Situation sehen die Hoffenden überall Zeichen, die sie lesen wollen. Je aktualisierter die Hoffnung, desto stärker die Zeichenflut. Der Wiederkehrmythos generiert somit politische Prophetie in unterschiedlicher Form und Dichte, je nach der historischen Konjunktur. Dazu ist es gar nicht notwendig, dass das Mythem von einer ganzen Gesellschaft geteilt wird. Es genügt, wenn viele daran glauben, d. h. es wünschen und für möglich halten. Ein solcher Glaube ist selber eine Disposition, an die man appellieren kann. Das dreistrophige Lied jenes anonymen Dichters vom beginnenden 14. Jahrhundert, welches ich oben vorgestellt habe, ist ein Beispiel dafür, wie die politische Poesie sich an solche Dispositionen wendet. Und der Erfolg oder Misserfolg eines falschen Friedrich hängt allein von der Bereitschaft der Bevölkerung ab, eine solche Wiederkehr zu imaginieren und herbeizusehnen.34
5.
Wiederkehrmythos und aktuelle Politik
Im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts nehmen Reformschriften in der Volkssprache zu, welche immer stärker auf eine gesamtgesellschaftliche Erneuerung von Kirche und Reich drängen. Deren Autoren sind nicht selten juristisch und theologisch gebildet; einige von ihnen kombinieren sozialrevolutionäre, kirchenreformatorische Forderungen mit der Weissagung eines Frie-
34 Wie schmal der Grat zwischen Erfolg und Misserfolg war, kann man am Fall des Tile Kolup (= Dietrich Holzschuh) studieren, der mit seinem Ansinnen, er sei Kaiser Friedrich, 1284 in Köln aus der Stadt gejagt, in Neuss jedoch gefeiert und mit Hofstaat und Kanzlei ausgestattet wurde. Als er im Juli 1285 vor den Mauern der Stadt Wetzlar als Ketzer verbrannt wurde, kam es zu Aufständen. Seine kurzfristige Macht verdankte der falsche Friedrich keineswegs nur dem Zulauf der Unterschichten; Städte, Adlige und Fürsten hatten sich von ihm Privilegien ausstellen lassen. Vgl. Cohn 1982, S. 277 ff.; Schreiner 1977, S. 255; Struve 1977, S. 65 f.
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densherrschers namens Friedrich. In der sog. ›Reformatio Sigismundi‹35 aus dem Jahre 1439, die sich als Reformprogramm Kaiser Sigmunds ausgibt, erhofft sich der Autor eine grundlegende Reform aus dem Geiste des Glaubens einfacher Leute und auf der Grundlage der Sakramente. In Anlehnung an biblische Prophezeiungen proklamiert er zum künftigen König einen gelehrten, möglichst zum Priester geweihten Mann. Am Ende schreibt der anonyme Verfasser dem Kaiser eine Traumvision zu, welche diesen zum Wegbereiter eines priesterlichen Friedensfürsten mit dem Namen Friedrich macht: »Er soll heyssen Friderich, er soll auch alle reich zü fride bringen zü lande und zu auen.«36 Damit ist der Wiederkehrmythos um seinen personalen Kern gebracht; denn es kehrt nicht die Person wieder, sondern nur der Name, welcher quasi Programm ist. Es ist ein Hinübergleiten in die inkarnative Wiederkehr. Eine solche Wiederkehr des Namens ist theologisch unbedenklich, denn sie setzt nicht voraus, dass ein nie gestorbener Herrscher im Verborgenen auf seine Epiphanie wartet. Anderseits kann der Autor auf die Aufmerksamkeit eines Publikums rechnen, das einem buchstäblichen Wiederkehrmythos anhängt. In der Rezeption kann sich beides vermischen. Eine weitere M¦lange bietet der sog. ›Oberrheinische Revolutionär‹. Es ist eine zwischen 1490 und 1510 verfasste und Kaiser Maximilian I. gewidmete Reformschrift, die der anonyme Autor »Das buchli der hundert capiteln mit 40 Statuten« nennt.37 Der juristisch gebildete Verfasser teilt die Weltgeschichte in drei übereinander gelagerte Geschichtsvollzüge ein: 1. die umfassende Heilsgeschichte, 2. die Reichsgeschichte (das deutsche Reich als Fortsetzung des Römischen), 3. die Disordinatio der Zeitgeschichte, verstanden als die millenaristische Phase der Geschichte vor der Wiederkunft Christi. Millenaristische Strömungen müssen sozialkritische Positionen vertreten und sogar sozialrevolutionäre Forderungen aufgreifen, weil es ihnen darauf ankommt, die Aktualität des Milleniums plausibel zu machen. Und das gelingt 35 Reformation Kaiser Siegmunds 1964. Knappe Informationen und weiterführende Literatur bietet Schmolinsky 2010b. 36 Reformation Kaiser Siegmunds 1964, S. 342, Zitat der Fassung N. 37 Der Oberrheinische Revolutionär 2009. Der mittelalterliche Autor war wohl ein gelehrter Jurist, die Forschung hat sich immer wieder um die Aufklärung der Verfasserschaft bemüht (vgl. Lauterbachs Forschungsbericht in seiner Einleitung zur Ausgabe, S. 13 – 19, mit Literatur). Identifikationen mit Maximilians Hofkanzler Conrad Stürtzel oder auch mit Mathias Wurm von Geudertheim, einem Sekretär Friedrichs III. und Maximilians I., sind spekulativ. Die Wirkungsgeschichte der Schrift fiel praktisch aus: Wir kennen nur eine Abschrift von 1509/10 noch zu Lebzeiten des Autors(Colmarer Stadtbibl., Ms. 438; der Codex enthält neben dem ›Oberrheinischen Revolutionär‹ zwei Inkunabeln und einen handschriftlichen astrologischen Traktat). Von dem im »Buch der hundert Kapitel« annoncierten Inhalt sind nur 90 Kapitel überliefert, aber im Register hat der Autor den Plan von 100 Kapiteln angegeben. Ergänzt wird das Buch durch 40 Statuten. – Erste Informationen und weiterführende Literatur zum ›Oberrheinischen Revolutionär‹ bieten Struve 1989; Schmolinsky 2010a.
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am besten, indem man die Gegenwart als einen schlimmen und tendenziell unerträglichen, also unhaltbaren Zustand schildert. Auf diese Weise wird die Notwendigkeit einsichtig, dass ein besonderer Herrscher kommen muss, um diesen Zustand zu beheben. Der ›Oberrheinische Revolutionär‹ benennt in Kapitel 1 präzise die Ursachen für den allgemeinen Missstand – sie betreffen großenteils die sozialethische Dimension des gesellschaftlichen Zusammenlebens: »den grosen vnmesigen wGcher, den ebruch, das gott lesteren, den bosen gewalt, den kirch bruch, tod schlahe«38 – d. h. Wucher, Ehebruch, Gotteslästerung, Landfriedensbruch, Habgier der Geistlichkeit, Mord. Das Reformprogramm ist umfassend und enthält die Alternative, dass bei Reformunwilligkeit der Oberschichten ein Aufstand des gemeinen Mannes unter Führung des Friedensfürsten den erwünschten Zustand herstellt. Die sozialen Inhalte dieses Reformprogramms sind mein Thema nicht. Stattdessen lege ich das Augenmerk auf die widersprüchlichen Diskurse in einem synkretistischen Text. In dem Text wirken zwei unterschiedliche Wiederkehrmuster : a) ein astrologisches und b) ein millenaristisch-theologisches. a) Der Autor teilt die Weltgeschichte in sog. cyklos von 500 bis 960 Jahren ein,39 die von den Sternen markiert und deren historisch-heilsgeschichtlicher Inhalt von den Sternen determiniert wird. Die Applikation astrologischer Schemata und Konstellationen auf die ganze Weltgeschichte bringt Probleme: Erstens lässt sich eine starre astrale Mechanik – der Lauf der Gestirne und ihre Konstellationen – mathematisch berechnen, aber nicht willentlich beeinflussen. Zweitens hat sie streng genommen überhaupt keine religiöse Qualität. Wieso braucht man einen wiederkehrenden Friedensfürsten, wenn die Sterne von allein die neue Epoche bewirken? Die Synergie zwischen blindem astralen Fatum und menschlicher Anstrengung ist zumindest unklar, wenn nicht gar widersprüchlich. Außerdem ist diese Mechanik einer zyklischen Bewegung unterworfen. Wenn die 8. Chiliade, eingeleitet durch den neuen König Friedrich, eine Heilsperiode verspricht,40 dann könnte der darauffolgende Zeitabschnitt wieder eine heilsferne Zeit bringen, abgelöst von einer neuen Heilszeit, und so fort in alle Ewigkeit. Dann ist eine Wiederkehr außerdem aufs Neue denkbar, sogar wenn der Autor dies durch die Stellung der 8. Chiliade als letzter und ihre Datierung auf 1500 auszuschließen sucht. Mit dem astrologischen ZyklenSchema lässt sich keine lineare Heilsgeschichte konstruieren. Es ist prinzipiell unvereinbar mit der linearen Konzeption einer Heilsgeschichte, die auf ihr Telos zuläuft und dann ein für allemal beendet ist.41 38 39 40 41
Der Oberrheinische Revolutionär 2009, Kap. 1, S. 92, 15 f. Ebd., Kap. 68, S. 388 ff. Ebd., Kap. 62, S. 360 ff. Vgl. Lauterbach 1985, S. 138 ff., der die Abkehr des Oberrheiners von der Weltalterlehre und seine Anwendung der Konjunktionentheorie nachzeichnet.
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b) Doch der Autor bringt noch ein offenbarungstheologisches Moment ins Spiel: Er stellt seiner Reformschrift die Offenbarung des Erzengels Michael voran, die einem rechtschaffenen Menschen verkündet, dass eine Heilsperiode bevorstehe und dazu ein Friedensfürst wiederkehre: »Michel, ein ertzengel vnd ein wirdiger bot gottes des almechtigen, der ist erschinen einem frGmen vnd im disse ding geoffenbaret«.42 Der Autor vermeidet jeden Häresieverdacht, indem er die Offenbarung ganz allgemein an den Repräsentanten der guten Menschen adressiert und das Motiv ins Literarische wendet; dies ist theologisch unbedenklich. Trotzdem appelliert das literarisierte Offenbarungsmotiv an eine besondere Bereitschaft seines Publikums: Dieses soll empfänglich gemacht werden für den Gedanken, dass der Anbruch des Milleniums, einer tausendjährigen Friedenszeit, unmittelbar bevorstehe. Doch diese Offenbarung des Engels widerspricht fundamental dem astral gesteuerten Geschichtsverlauf. Der Engel benennt eine einmalige Phase vor dem Ende der Geschichte. Die Wiederkehr des Friedensfürsten geschieht in einem linearen Geschichtsverlauf, der keine Zyklen kennt. Der Synkretismus des Oberrheiners mag seine produktions- oder rezeptionsästhetischen Ursachen haben, denen ich hier nicht nachspüren kann: Festzuhalten ist, dass sich die beiden Diskurse innerhalb desselben Textes massiv widersprechen, mehr noch: Sie schließen sich sogar gegenseitig aus. Der ›Oberrheinische Revolutionär‹ ist auch deswegen von Interesse, weil sich an diesem Text zeigt, welches Risiko das Wiederkehrmythem mit sich bringt, wenn es politisch aktualisiert wird. Und das, obwohl die Wiederkehr nicht als eine buchstäbliche gedacht wird, sondern nur als figurale, nämlich als Wiederkehr des Namens. Die Hoffnung auf aktuelle Erfüllung erzeugt einen hohen Erwartungsdruck, dieser Erwartungsdruck steigert die Enttäuschungsanfälligkeit, und die eingetretene Enttäuschung schließlich kann zu wilden prophetischen Orgien führen. Wohlgemerkt: nicht die Hoffnung auf Erfüllung überhaupt erzeugt Erwartungsdruck, sondern die Hoffnung auf aktuelle Erfüllung, auf Erfüllung in der unmittelbar bevorstehenden Zukunft. Zunächst schürt der Oberrheiner die Hoffnung, Kaiser Maximilian I. sei der sehnlichst erwartete Friedenskaiser : Dies geschieht in Kapitel 1 mit Formulierungen wie »billich mille maximus« als Ehrentitel, aber auch mit Anspielungen auf das zweischneidige Schwert der Apokalypse: »Den aller grosmechtigesten durchluchtigisten, in des hand stott aller gewalt im ein schwert, von himel gesant, zuo beiden siten schniden, das ist beid geisthlich vnd weltlich stend sollende straffen.«43 Diese Form der Wiederkehr ist eine inkarnative: der wiederkehrende Friedrich kommt nicht in eigener Person wieder, sondern er inkarniert 42 Der Oberrheinische Revolutionär 2009, S. 73. 43 Ebd., Kap. 1, S. 92. Die Beziehungen zur Apokalypse nennt Lauterbach in seinem Kommentar : Apoc. 1,16; 2,12; 2,16.
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sich in einem Herrscher, dem er seine Züge verleiht und dem er seine Aufgabe überträgt. Eine solche Aktualisierung des Mythos, seine direkte Anwendung auf einen regierenden Herrscher steigert die Erwartung an diesen. Dabei ist es unerheblich, ob der betreffende Herrscher, hier Maximilian I., überhaupt auf die Idee kommt, sich als Wiederkehrer zu stilisieren; es genügt, dass signifikante Gruppen, die eine gewisse literarische oder publizistische Deutungsmacht besitzen, ihm diese Rolle zuweisen und an ihn glauben. Nun stellt sich – wenig überraschend – heraus, dass der Herrscher diesen Anforderungen nicht genügt. Er enttäuscht also die Erwartungen – Erwartungen, die er gar nicht selbst produziert hatte. In diesem Moment wird entweder der Mythos diskreditiert oder aber der Herrscher. Es ist abzusehen, dass der Mythos obsiegt, aber er muss sich nun ein anderes Objekt suchen. Genau das leistet der Verfasser des ›buchli der hundert capiteln mit 40 Statuten‹. Er fällt in politische Prophetie, die einen genauen programmatischen Inhalt hat, jedoch die Merkmale vage und unbestimmt lässt, mit der sie die Person des Heilsbringers benennt. Legitimiert wird sie dennoch, nämlich durch die typologische Beziehung auf Josua und die Danielvision44 und weitere alttestamentarische Bücher, Jeremia und Ezechiel, gängige Topoi der prognostischen Literatur der Zeit:45 »Also wirt der kung vff dem schwartzwald tGn. Er wirt mit frumen cristen ein reformation machen.«46 Ein König aus dem Schwarzwald wird kommen, dieser »adlar, vff dem schwartzwald herzogen«47, wird zuerst Strafgericht halten, um dann das Friedensreich aufzurichten. Der Friedensherrscher trägt einen programmatischen Namen, Friedrich – »Dorumb heist der alt Friderich, ›rich im friden‹.«48 – und er kommt aus dem Schwarzwald49 – Chiffren, die immer richtig sind.50
44 Ebd., Kap. 33, S. 213. 45 Ebd., Kap. 56, S. 319. Das at. Buch Josua folgt auf das Deuteronomium, es ist dem Nachfolger Mose gewidmet und berichtet vom Einzug Israels ins verheißene Land. Lauterbach nennt im Kommentar Dan. 7,6; Ier. 4,6 – 7 und Ezech. 8 und 9. 46 Ebd., Kap. 33, S. 213. 47 Ebd., Kap. 56, S. 319. 48 Ebd., Kap. 63, S. 371. 49 Lauterbach verweist in seinem Kommentar auf die cumeaesche Sibylle, die prophezeit: »egreditur aquila, de Germaniae rupibus«; in Lichtenbergers ›Pronosticatio‹ (1488) erscheint angelehnt an Ezech. 17,3 das Bild des »schwarzen Adlers« (ebd., S. 319, Fußn. 1524). 50 Seibt 1972, S. 57 f. konstatiert die auffällige Verbindung von Endkaiserprophetie und Sozialutopie: »Zwar hält es der Oberrheinische Revolutionär noch mit dem monarchischen Prinzip, eben mit dem Endkaiser Friedrich nämlich, in seinen politischen Träumen […]. Aber der Endkaiser ist doch in seiner Handlungsfähigkeit beschränkt und nicht mehr ganz der chiliastische Deus ex machina.« Anders Lauterbach 1985, S. 249 – 257 und passim, der sich im Unterschied zur übrigen Forschung gegen jede Vorstellung eines Endkaisermythos im ›Oberrheinischen Revolutionär‹ ausgesprochen hat.
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Risiko der eingetretenen Erfüllung und die allegorische Auflösung des Mythems
Während die Humanisten des 16. Jahrhunderts mit Quellensammlungen und Biographien eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der eigenen Geschichte und somit auch der Stauferzeit initiieren, wird 1519 ein schmales, acht bis zehn Blätter umfassendes, mit Holzschnitten verziertes Bändchen, das ›Volksbuch von Friedrich Barbarossa‹, erstmals gedruckt, das fabulöser kaum sein könnte. Das Büchlein ist, den medialen und zeitgenössischen Usancen entsprechend, mit einem langen, den Inhalt referierenden Titel versehen: Ein warhafftige historij von dem kaiser Friderich der erst seines namens, mit ainem langen roten bart, den die Walhen nenten Barbarossa. Derselb gewan Jerusalem, und durch den babst Alexander den dritten verkuntschafft ward dem Soldanischen künig, der in gefencklich hielt etlich zeit. Und wie der Pundtschuoch auff ist komen in Bairen.51
Das Anliegen des anonymen Verfassers ist es, im reformatorischen Kampf gegen die Papstkirche und für das deutsche Reich Partei zu nehmen und dabei den Kaiser unter dem Banner des Bundschuhs Jerusalem erobern zu lassen. Die gegen alle historische Faktizität vorgenommene Kompilation von Sagen um Friedrich II. mit Sagen um Friedrich I. und deren massive Umdeutung wird beschlossen mit der Wiederkehrmythe, die – und das ist von nun an irreversibel – auf Friedrich I. bezogen wird: Und ist zuoletst verlorn worden, das niemandt waist, wo er hin ist komen noch begraben. Die pawrn und schwartzen künstner sagen, er sey noch lebendig in ainem holen perg, soll noch herwider komen und die gaistlichen straffen und sein schilt noch an den dürren paum hengken.52
Von 1519 an hat der Wiederkehrmythos endgültig die Kaiser gewechselt, ist vom Enkel auf den Großvater gesprungen. Das Wiederkehrmythem kam im deutschen Vormärz wieder zur Wirkung. Allerdings nun völlig säkularisiert – es bezog sich von da an auf keine Heilsgeschichte mehr, sondern auf die Wiederherstellung des deutschen Reiches in der Gestalt eines Nationalstaates. Und dieses säkularisierte Mythem war ein überwiegend poetisches. Im Jahr der Völkerschlacht von Leipzig, mitten in den 51 Volksbüchlein 1845, S. 253. Die beiden ältesten Drucke des Volksbuches stammen aus Landshut und Augsburg, beide 1519. Ich zitiere den Abdruck des Augsburger Drucks nach Franz Pfeiffer ; Zitat S. 253. Erste Informationen bei Bonath 1980, Sp. 933 – 35. Für die historisch bedingten Umprägungen des Barbarossa-Mythos im 16. Jh. aufgrund seiner breiten Kenntnis des Materials und sensibler Einschätzungen überaus nützlich: Schreiner 1979, S. 527 – 536; zum ›Volksbüchlein‹ S. 529 f. 52 Volksbüchlein 1845, S. 267.
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Befreiungskriegen gegen Napoleon, dichtete Friedrich Rückert sein bekanntes Gedicht ›Barbarossa‹ (1813):53 Der alte Barbarossa, Der Kaiser Friederich, Im unterirdschen Schlosse Hält er verzaubert sich. Er ist niemals gestorben, Er lebt darin noch jetzt, Er hat im Schloß verborgen Zum Schlaf sich hingesetzt. Er hat hinabgenommen Des Reiches Herrlichkeit Und wird einst wiederkommen Mit ihr zu seiner Zeit. Der Stuhl ist elfenbeinern, Darauf der Kaiser sitzt, Der Tisch ist marmelsteinern, Worauf sein Haupt er stützt. Sein Bart ist nicht vom Flachse, Er ist von Feuersglut, Ist durch den Tisch gewachsen, Worauf sein Kinn ausruht. Er nickt als wie im Traume, Sein Aug halb offen zwinkt, Und je nach langem Raume Er einem Knaben winkt. Er spricht im Schlaf zum Knaben: »Geh hin vors Schloß, o Zwerg, Und sieh, ob noch die Raben Herfliegen um den Berg. Und wenn die alten Raben Noch fliegen immerdar, So muß ich auch noch schlafen Verzaubert hundert Jahr.«
Solche politische Poesie entfaltete, obwohl nur Poesie, immerhin eine spezifische diskursive Wirkung. Die 48er-Revolution und die Reichsgründung (18. 1. 1871) verhalfen dem Mythem zu neuer Aktualität. Allbekannt sind die
53 Conrady (Hrsg.) 1977, S. 409.
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poetischen und bildkünstlerischen Zeugnisse54 dieses national aufgeladenen Wiederkehrmythos, der sich hier ganz eng mit einem Gründungsmythos verbindet, an vorderster Stelle das Nationaldenkmal auf dem Kyffhäuser mit den Gestalten Friedrich Barbarossa und Wilhelm I., das die Kontinuität des Kaisertums vom Mittelalter bis in die Gegenwart beschwören sollte. Eine besonders eindrucksvolle Manifestation seiner volkstümlichen Wirksamkeit war die Aufstellung zweier Reiterstandbilder vor der Kaiserpfalz in Goslar : Rotbart und Weißbart. Am Tage der Reichsgründung ist anstelle Kaiser Rotbarts Kaiser Wilhelm I. auferstanden und hat das neue Reich groß und mächtig gemacht55 – auch hier eine inkarnative Bedeutung des Mythos mit der Aussage, dass Rotbart nicht in Person wiederkehrt, sondern sich im Weißbart inkarniert, der wie ein Antitypus fungiert. Wenn der Gründer des neuen Reiches freiwillig in die Gestalt des wiederkehrenden Erfüllers schlüpft, dann erzeugt er natürlich einen immensen politischen Erwartungsdruck. Je unspezifischer diese Erwartungen sind, desto mehr Erwartungen können auf den Erfüller projiziert werden. Die dann eintretenden Enttäuschungen provozieren viele Reaktionen, unter anderem die, dass die politische Prophetie eine Hochkonjunktur erfährt. Das war in Deutschland von 1918 bis 1933 der Fall. Die Aktualisierung des Mythos enthüllte auch hier seine Risiken. Dennoch gab es eine Rezeption dieses Mythos, die so radikal war, dass der Mythos damit definitiv erledigt war und überhaupt keine Aktualisierung mehr zuließ. Das war der Gebrauch, den Martin Luther von dem Wiederkehrmythem machte. Die traditionelle Kaisersage prophezeite die Befreiung des Heiligen Grabes, dies ist in mittelalterlichem Verständnis ihr Herzstück. Luther kommt in seiner Schrift ›Vom Mißbrauch der Messe‹ (1521)56 auf diese Prophezeiung zu sprechen und erläutert, dass man ihren Sinn erst dann voll erfasse, wenn die Verheißung sich erfüllt habe: »Und, wie denn der prophecien art und natur ist, das sie ehr erfult, denn verstanden werden, ßo sehen sie altzeyt anderßwo hyn, denn die wort fur der welt lautten«.57 Nun aber sei die Erfüllung eingetreten, denn der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise (1482 – 1556) habe das wirkliche Heilige Grab, welches nichts anderes als die Heilige Schrift sei, aus der Gefangenschaft der Papisten befreit.58 Spitzfindig fügt er hinzu, dass der Kurfürst zwar kein Kaiser sei, dass es aber zur Erfüllung der Prophezeiung genüge, dass er durch die Wahl der Kurfürsten zum Kaiser gewählt worden sei: »Es ist fur 54 Die neueste kunsthistorische Monographie zum Barbarossa-Mythos verzeichnet neben den künstlerischen auch die literarischen Rezeptionszeugnisse: Kaul 2007. 55 Vgl. zu »Barbarossas Erwachen im 19. Jahrhundert« Schreiner 1979, S. 536 – 551. Dort auch die von mir zitierten und weitere Rezeptionsszeugnisse. 56 Luther 1889, S. 482 – 563. 57 Ebd., S. 561 f. 58 Vgl. ebd., S. 562. Zu Luthers Auslegung vgl. Grauert 1892, S. 135 f.; Schreiner 1979, S. 534 ff.
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gott gleych ßo vill, wie lang eyner Keyßer ist, wenn er nur Keyßer gewest ist.«59 Damit hat er den einzigen Schönheitsfehler in einer ansonsten makellosen Erfüllung der Prophezeiung trefflich beseitigt. Wenn Luther und vor allem die reformatorischen Geschichtsschreiber Friedrich I. gegen Papst Alexander III. als Vorkämpfer gegen die päpstliche Tyrannei und Vorläufer der Reformation aufbauen wollen, ist das zunächst eine politische Instrumentalisierung des Kaisermythos.60 Mit der Verschiebung auf die Heilige Schrift und der Rolle des Kurfürsten von Sachsen aber hat Luther dem Mythos seine geschichtsphilosophische Qualität genommen. Mit dieser Deutung hat er nicht einfach nur einen weiteren Friedrich ins Spiel gebracht, sondern das Mythem radikal allegorisiert. Der sächsische Kurfürst ist kein politischer Heilsbringer, er bringt nicht das Millenium weltweiten Friedens; damit ist der wiedergekehrte »Friderich« aller politischen Funktionen entkleidet. Die Befreiung, die er bringt, hat keinerlei weltliche Bedeutung. In Luthers Verwendung ist jeder Gedanke an ein Reich radikal getilgt; die Erfüllung ist für Luther unriskant. Denn mit ihr sind keine sozialen und politischen Erwartungen verbunden. Daher können sie auch nicht enttäuscht werden. Die Allegorisierung entkernt den Mythos vollständig und macht das Mythem für alle politische Verwendung untauglich.
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59 Luther 1889, S. 562. 60 Schreiner hat 1979 und 1977 die Luther-Schrift und weitere Belege der Reformationszeit versammelt und pointiert gedeutet: »In der dualistischen Geschichtsauffasssung Martin Luthers vertrat Barbarossa die Sache Gottes, Papst Alexander III. hingegen die Belange des Antichristen« (Schreiner 1979, S. 534).
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Karina Kellermann
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Elke Brüggen
Weltkultur – Zur Aufnahme des Nibelungenliedes in das Weltdokumentenerbe der UNESCO
Das Nibelungenlied, um 1200 entstanden, ist das bekannteste Werk des deutschen Mittelalters. Sobald in Deutschland die zyklisch wiederkehrende Diskussion um einen Kanon literarisch wertvoller und daher von den Gebildeten zu kennender Texte in deutscher Sprache auflebt, kann man sichergehen, dass das Nibelungenlied unter den mittelalterlichen Werken an erster Stelle genannt wird, mit deutlichem Abstand etwa zum Parzival Wolframs von Eschenbach oder zum Tristan Gottfrieds von Straßburg. Und so überrascht es nicht, dass es auch im 21. Jahrhundert nicht wenige Menschen gibt, die in der Lage sind, jene bekannte Strophe auswendig herzusagen, mit der das Werk in den gängigen Ausgaben beginnt: Uns ist in alten mæren wunders vil geseit von helden lobebæren von grúzer arebeit, von fröuden, húchgezten, von weinen und von klagen, von küener recken strten muget ir nu wunder hœren sagen. Uns wird in alten Erzählungen viel Wunderbares berichtet: Von berühmten Helden, großer Mühsal, von glücklichen Tagen und Festen, von Tränen und Klagen und vom Kampf tapferer Männer könnt ihr jetzt Erstaunliches erfahren.
Die zweisprachige Ausgabe von Siegfried Grosse,1 die ich zitiert habe, basiert auf der älteren, im Jahr 1988 in 22. Auflage vorgelegten Ausgabe von Karl Bartsch und Helmut de Boor,2 die bis heute eine Grundlage für interpretatorische Bemühungen um das ebenso grandiose wie widerständige3 Werk bildet. Als Leithandschrift für seine Ausgabe, mit der er eine Rekonstruktion der *B-Fassung 1 Grosse 2002. 2 Bartsch / de Boor 1988. 3 Hegel sprach von der »abstrakten Schroffheit« des Nibelungenliedes und fand damit eine Formulierung, um die ihn, wie Ulrich Wyss gemeint hat, »die germanistische Nibelungenforschung von fast zweihundert Jahren beneiden [müßte]«. Vgl. Hegel 1965, Bd. II, S. 461; Wyss 1990, S. 161.
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des Nibelungenliedes anstrebte, hatte Karl Bartsch4 seinerzeit den berühmten Codex 857 der St. Galler Stiftsbibliothek gewählt, welcher in der Nibelungenliedforschung die Sigle B trägt.5 Die Pergamenthandschrift wurde im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts im bairisch-alemannischen Raum geschrieben, und sie überliefert neben dem Nibelungenlied und der Nibelungenklage weitere bedeutende Werke der mittelhochdeutschen Literatur, so den Parzival und den Willehalm Wolframs von Eschenbach und das Epos Karl der Große des Strickers. Schaut man in die Handschrift oder zumindest in den von Michael S. Batts 1971 veröffentlichten Paralleldruck der Nibelungenlied-Handschriften,6 wird man freilich feststellen, dass der B-Text anders einsetzt, mit einer Strophe nämlich, welche der Einführung Kriemhilds als der wichtigsten Frauenfigur des Textes gewidmet ist: E[z wuohs i]n Bvrgonden ein vil edel magedin, daz in allen landen niht schoners mohte sin, Chriemhilt geheizen. si wart [e]in scoene wip; dar vmbe mvosen degene vil verliesen den lip. Im Land der Burgunden wuchs ein hochadliges junges Mädchen heran, so schön, dass es in keinem Land ein schöneres geben konnte. Sie hieß Kriemhild. Aus ihr wurde später eine schöne Frau. Wegen ihr sollten zahlreiche Helden ihr Leben verlieren.7
Obwohl Karl Bartsch ein entschiedener Verfechter des B-Textes war und dieser Text für ihn das nicht erhaltene Original des Nibelungenliedes am getreuesten repräsentierte, mochte er in seiner 1870 erstmals publizierten Ausgabe nicht auf die alte mæren-Strophe verzichten, die offenbar schon zu seiner Zeit als d i e charakteristische Abbreviatur des Textes galt, welche die im Nibelungenlied erzählte Geschichte in nuce enthält. Er kombinierte also seinen B-Text mit einer Strophe, für die er eine Anleihe bei zwei weiteren Handschriften machen musste, die außer B zu den sog. Haupthandschriften des Nibelungenliedes gezählt werden: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 34 (Handschrift A)8 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 63 (Handschrift C)9 4 Bartsch 1870, 1876, 1880. 5 Stolz / Schwemmer 2003. Bartsch 1870, 1876, 1880; Bartsch / de Boor 1988; Grosse 2002; Reichert 2005. Schulze 2010. Zur Handschrift vgl. Klein 2003, S. 216 f.; Schirok 2003, S. 253-269. 6 Batts 1971. 7 Übersetzung E. Brüggen. 8 Bayerische Staatsbibliothek, Das Nibelungenlied und die Klage (Leithandschrift A), 2011. Lachmann 1960. Zur Handschrift vgl. Klein 2003, S. 215; Schneider 2003. 9 Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Die Nibelungen-Handschrift C digital, 2011. Hennig 1977; Schulze 2005; Schulze 2008. Zur Handschrift vgl. Klein 2003, S. 217; Obhof 2003.
Zur Aufnahme des Nibelungenliedes in das Weltdokumentenerbe der UNESCO
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Ein Blick in die 2010 erschienene und von Ursula Schulze verantwortete (zweisprachige) Neuausgabe des Nibelungenliedes, die den Anspruch stellt, den Wortlaut der St. Galler Handschrift B genau wiederzugeben, zeigt, dass dieses Verfahren bis heute praktiziert wird: der ersten B-Strophe wird die Strophe C1 vorangestellt, allerdings durch Kursivdruck des mittelhochdeutschen Textes von den ansonsten recte gesetzten Strophen abgesetzt. Begründet wird diese Entscheidung wie folgt: »Sie [Die Strophe] gilt in der Literaturgeschichte als markante Einleitung, quasi als Logo des Nibelungenliedes«.10 In Gestalt der drei Haupthandschriften A, B und C11 wurde das Nibelungenlied Ende Juli 2009 vom Internationalen Komitee für das UNESCO-Programm ›Memory of the World‹ (MOW) / ›Gedächtnis der Menschheit‹12 für die Aufnahme in das Register des Weltdokumentenerbes empfohlen.13 Die Bestätigung durch die endgültige Entscheidung des Generaldirektors der UNESCO erfolgte wenig später, und so konnte am 25. Januar 2010 die Überreichung der Zertifikate an die beteiligten Institutionen, die Bayerische Staatsbibliothek München (Handschrift A), die Stiftsbibliothek St. Gallen (Handschrift B) und die Badische Landesbibliothek Karlsruhe (Handschrift C) mit einem Festakt in München begangen werden.14 Flankierend erfolgte in München und in Karlsruhe eine öffentlichkeitswirksame Inszenierung der Auszeichnung mittels mehrtägiger Ausstellungen, in denen die kostbaren Exponate aus dem Tresor geholt und im Zusammenspiel mit weiteren Schätzen aus den Handschriftenabteilungen der renommierten Bibliotheken gezeigt wurden. Das Programm ›Memory of the World‹ (MOW)15 wurde 1992 auf der UNESCO-
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Schulze 2010, S. 905. Kritisch hat sich zu diesem Begriff geäußert Göhler 2006, S. 139 f. Informationen zu diesem Programm findet man hier : UNESCO, Memory of the World, 2011. Vgl. die Pressemitteilungen der UNESCO: UNESCO, Nibelungenlied wird UNESCO-Weltdokumentenerbe, Juli 2009; UNESCO, Nibelungenlied ist Weltdokumentenerbe, August 2009; UNESCO, Das Nibelungenlied, 2011. 14 Pressemitteilungen der Bayerischen Staatsbibliothek München und der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe anlässlich der Nominierung und des Festakts zur Verleihung der Urkunde finden sich hier : Bayerische Staatsbibliothek München, Nibelungenlied-Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek in das UNESCO-Weltdokumentenerbe aufgenommen, Juli 2009; Bayerische Staatsbibliothek München, Ausstellung »Unsterblicher Heldengesang. Das Nibelungenlied im UNESCO-Weltdokumentenerbe« in der Bayerischen Staatsbibliothek, November 2009; Bayerische Staatsbibliothek München, Nibelungenlied in das UNESCOWeltdokumentenerbe aufgenommen, 2009; Badische Landesbibliothek, Nibelungenlied wird UNESCO-Weltdokumentenerbe, 2009 sowie Badische Landesbibliothek, Sonderausstellung »Nibelungenlied« – Presseberichte, 2009. Dort findet sich auch eine Zusammenstellung von Presseberichten. 15 Vgl. dazu UNESCO, UNESCO-Portal, 2011 und UNESCO, Gedächtnis der Menschheit: »Memory of the World«, 2011. Zur Ausrichtung des Programms vgl. insbes. Edmondson 2002, außerdem die von der Deutschen UNESCO-Kommission e.V. herausgegebene Publi-
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Generalkonferenz in Paris initiiert. Ein International Advisory Committee (IAC) trat zum ersten Mal 1993 zusammen; es erarbeitete einen Aktionsplan für die Kommunikation mit Regierungen, internationalen Organisationen und Stiftungen und für Kooperationen, mit deren Hilfe Projekte entwickelt und implementiert werden sollten. Die Richtlinien des Programms wurden in Absprache mit der International Federation of Library Associations (IFLA) und dem International Council of Archives (ICA) formuliert. ›Memory of the World‹ ergänzt die zu Beginn der 90er Jahre bereits gut etablierten Programme des Weltkultur- und -naturerbes16 und bildet so eine weitere Säule, mit deren Hilfe die Anstrengungen, ein weltumspannendes ›Erbe der Menschheit‹17 auszuweisen, realisiert werden sollen.18 Mit dem Weltdokumentenerbe werden herausragende kulturelle Zeugnisse in den Blick gerückt, die in Archiven, Bibliotheken, Gedenkstätten und Museen aufbewahrt werden. Erklärtes Ziel ist zum einen die Sicherung (preservation) der betreffenden schriftlichen oder audiovisuellen Dokumente, zum anderen die Ermöglichung eines weltweiten Zugangs (public access);19 für beide Anliegen bietet eine konsequente Nutzung moderner Informations-, Kommunikations- und Speichertechniken die Basis. So verpflichten sich die Herkunftsländer registrierter Dokumente, diese digital aufzubereiten, um sie vor Zerstörung und Verlust zu schützen und sie außerdem öffentlich zugänglich zu machen. Insofern haben die Techniken der elektronischen Datenverarbeitung erst die Voraussetzungen für das Programm geschaffen. Als Motor eines in der Geschichte der Menschheit bis dato beispiellosen Globalisierungsprozesses haben die EDV und die neuen Möglichkeiten des ›world wide web‹ zudem einen unübersehbaren Einfluss auf die bewusstseinsbildenden Prozesse ausgeübt, die der Initiierung des Programms vorausgingen. Die Option globaler Kontakte und weltweiter Vernetzung sowie die daraus resultierende Erfahrung, dass Vorgänge, Dinge, Entscheidungen und Entwicklungen, die sich vor der medialen Umwälzung als relativ entfernt wahrnehmen ließen, nun auf eine aufregende wie beunruhigende Weise nahe gerückt wurden, an den ›eigenen‹ Grenzen nicht halt machen, hat of-
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kation »Gedächtnis der Zukunft. Das UNESCO-Programm ›Memory of the World‹ zum Weltdokumentenerbe«, Bonn 2010. Vgl. dazu Strasser 2007 (mit weiterführender Literatur). Zur mittlerweile stark diskutierten Begrifflichkeit (und den damit verbundenen Konzeptionen) vgl. die Beiträge von B. Tschofen, A. Swenson, P. Strasser und F. Weigelt, in: Hemme / Tauschek / Bendix 2007; Bendix / Bizer / Groth 2010. Zur Relation »heritage« und Multikulturalität vgl. Ashworth / Graham / Tunbridge 2007; Berger / Schindler / Schneider 2009; Ashworth / Larkham 1994; Kirshenblatt-Gimblett 1995. Ich danke H. Groschwitz, Bonn, dafür, dass er mich auf diese Publikationen aufmerksam gemacht hat. Inzwischen existiert zudem ein Programm zum Schutz von »intangible cultural heritage« resp. von »immateriellem Kulturerbe«; Text der entsprechenden Konvention: UNESCO, Text of the Convention for the Safeguarding of Intangible Cultural Heritage, 2011. Vgl. dazu die Beiträge von V. T. Hafstein, A. Meyer-Rath und K. Kuutma in: Hemme / Tauschek / Bendix 2007; Mißling 2010. Vgl. UNESCO, Ziele des Programms, 2011.
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fenbar dazu beigetragen, der Vorstellung eines ›Welterbes der Menschheit‹ weiteres Gewicht zu verschaffen und für den Gedanken einer gemeinsamen Verantwortung für die Überlieferungen der Vergangenheit zu sensibilisieren. »Zukunft braucht Erinnerung«20 – mit diesem Wahlspruch, dem durchaus auch eine gewisse Reserve gegenüber der massenhaften Verbreitung und Beschleunigung der im ›world wide web‹ verfügbaren Informationen eingeschrieben ist, verbinden sich in den Verlautbarungen der UNESCO und ihrer Mitglieder weitgehende kulturpolitische Überlegungen. Zu ihnen zählen, um nur einige zentrale Punkte zu nennen: – das Beharren auf Unverzichtbarkeit von Gedächtnis und Erinnerung für die Sicherung einer globalen Zukunft und auf der daraus abgeleiteten gemeinsamen Verantwortung und Pflicht zur Sicherung der Authentizität und zur Bewahrung der Integrität als herausragend eingestuften Kulturguts, – damit in Zusammenhang stehend: eine spezielle Sicht auf die Kategorie des ›Eigentums‹,21 wie sie etwa das folgende Zitat aus einem Artikel belegt, in dem Verena Metze-Mangold, die ehemalige Vizepräsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission, die Stoßrichtung des Programms ›Memory of the World‹ expliziert hat: »Die herausragenden kulturellen Zeugnisse sind geistiges Eigentum aller Menschen und gehören nicht allein den Völkern und Staaten, auf deren Boden sie entstanden sind oder sich befinden«,22 – ferner das Bewusstsein, die regional und kulturspezifisch fundierte Besonderheit von kulturellen Objekten und mit ihnen verknüpften Bedeutungszuschreibungen auf der einen Seite und den Anspruch auf eine universelle Geltung auf der anderen Seite in einen Ausgleich bringen zu müssen, – dann die Einsicht, dass der Wert kultureller Vielfalt und die Homogenisierungstendenzen, welche Kanonisierungsvorgängen inhärent sind, sich nicht bruchlos vermitteln lassen, gleichwohl in ein Verhältnis (womöglich prekärer) Balance gebracht werden müssen, – und schließlich die Überzeugung, durch Austausch und auf dem Wege der Konsensbildung die Chance für ein Verständnis der Kultur der ›anderen‹ wie für eine Reflexion auf das von ›eigenen‹ kulturellen Traditionen genährte Selbstverständnis zu eröffnen. Als besonders öffentlichkeitswirksam hat sich das ›Memory of the World Register‹ erwiesen, in dem derzeit 193 Zeugnisse erfasst sind.23 Mit dem Nibe20 Metze-Mangold 2007, S. 479. 21 Zum konzeptionellen Wandel von »kulturellem Eigentum« (»cultural property«) zu »kulturellem Erbe« (»cultural heritage«) innerhalb der UNESCO vgl. Weigelt 2007; Bendix / Bizer / Groth 2010, insbes. Kap. 1. 22 Metze-Mangold 2007, S. 481. 23 Nominierungen können alle zwei Jahre erfolgen, wobei pro Land zwei Vorschläge eingereicht
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lungenlied wurde der elfte deutsche Beitrag in das immer wieder als »Schatzkammer der Geistesgeschichte« bezeichnete Weltdokumentenerbe aufgenommen.24 »Als erstes Dokument aus Deutschland überhaupt – und noch ohne die Auswahl durch ein nationales Nominierungskomitee –«25 wurde 1999 das von Carl Stumpf im Jahr 1900 gegründete Berliner Phonogramm-Archiv ausgewählt, eine singuläre Sammlung von mehr als 145.000 Tondokumenten aus den verschiedensten Kulturen, die auf unterschiedlichen Tonträgern, u. a. auf sog. Edison-Zylindern gespeichert wurden, und »die zu den ältesten erhaltenen Tonträgern weltweit gehören«.26 Die weiteren Einträge erhielten (in der Reihenfolge ihrer Aufnahme) die 42-zeilige Gutenberg-Bibel, der literarische Nachlass Johann Wolfgang Goethes, Beethovens Neunte Sinfonie, Fritz Langs Stummfilm Metropolis (alle 2001), die in den Handschriften der Reichenau entfaltete ottonische Buchmalerei (2003), die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, die Weltkarte von Martin Waldseemüller aus dem Jahre 1507, die Renaissance-Bibliothek des Mathias Corvinus (alle 2005), der Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz (2007), und dann 2009 das Nibelungenlied. Für die Mitarbeit an dem Programm ›Memory of the World‹ existiert in Deutschland seit 1999 ein Nationales Nominierungskomitee, von dem Vorschläge für die Aufnahme von Dokumenten in das Welterberegister erarbeitet werden, um sie dann dem alle zwei Jahre tagenden Internationalen Komitee zu unterbreiten, welches seine Auswahl wiederum an die UNESCO-Generalkonferenz weiterleitet.27 Eine gesonderte Begründung für die Aufnahme der einzelnen Dokumente gibt die UNESCO nicht ab,28 sondern belässt es bei einigen knappen Pressemitteilungen, mit denen die Öffentlichkeit über die Entscheidung informiert wird. Aufschluss über die zentralen Auswahlkriterien gibt daher am ehesten das von der UNESCO verlangte Formular, das bei der Formulierung einer Nominierung zugrunde gelegt werden muss.29 Im Falle des Nibelungen-
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werden dürfen; allerdings existiert zusätzlich die Möglichkeit, dass zwei oder mehr Länder gemeinsame Nominierungsvorschläge unterbreiten – in Fällen nämlich, in denen das kulturelle Erbe auf verschiedene Orte, Besitzer oder Treuhänder verteilt ist. Vorgeschlagen werden sollen ausschließlich Dokumente von Weltrang. Einen Überblick über die deutschen Einträge bietet: UNESCO, Deutsche Beiträge für das Memory of the World, 2011. Metze-Mangold 2007, S. 476. Metze-Mangold 2007, S. 477. Vgl. die Resolution zum UNESCO-Programm ›Memory of the World‹, 1999, S. 87 f. Vgl. ferner die Seite UNESCO, Deutsches Nominierungskomitee, 2011, sowie den Beitrag von Metze-Mangold 2007, S. 473. Herrn G. Hrastelj von der Deutschen UNESCO-Kommission danke ich für diese Auskunft. Das Nominierungsformular für die Aufnahme des Nibelungenliedes in das Register des Weltdokumentenerbes der UNESCO (2011) kann über die Website der UNESCO eingesehen werden.
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liedes wurde die Nominierung federführend von der Bayerischen Staatsbibliothek München betrieben; man handelte zugleich im Namen der beiden anderen involvierten Institutionen, der Stiftsbibliothek in St. Gallen und der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe. Eine Auswertung des Nominierungsformulars gibt Hinweise auf die Parameter, die für den Erfolg des Vorschlags als ausschlaggebend erachtet wurden und es auch waren. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang Teil A, der die essentiellen Informationen bündelt, und aus den detaillierten Angaben aus Teil B die Aussagen zu Punkt 4 »Justification for inclusion / assessment against criteria«/ »Begründung für die Aufnahme / Bewertung auf der Grundlage der vorgegebenen Kriterien«. Bereits die Überschrift, unter die die Bewerbung gestellt ist, verdeutlicht, dass das Nibelungenlied als Werk der Heldendichtung annonciert werden soll: »The Song of the Nibelungs, a heroic poem from mediaeval Europe«. Der Hintergrund dürfte nicht zuletzt eine strategische Überlegung gewesen sein: Bis dato war, worauf der Antrag explizit hinweist,30 noch keine Handschrift einer Heldendichtung in das Weltdokumentenerbe aufgenommen worden. Als »berühmteste Heldendichtung des Mittelhochdeutschen« bezeichnet und als einer der raren Vertreter des Texttyps in der deutschen Literatur eingeschätzt, wird das Werk zugleich in europäischen Bezügen gesehen. Seine Bedeutung für das mittelalterliche Europa unterstreicht der Antrag, indem er auf das babylonische Gilgamesh-Epos, die indischen Mahabharata, die Heike Monogatari des mittelalterlichen Japan, die Ilias und die Odyssee verweist, denen das Nibelungenlied unter dem Gesichtspunkt der Relevanz an die Seite gestellt werden könne; innerhalb der literarischen Kultur des europäischen Mittelalters könnten der altenglische Beowulf sowie die altfranzösische Chanson de Roland als vergleichbar gelten.31 Die unter dieser Perspektive vorgenommene Bedeutungszuschreibung gipfelt in dem Satz: »It [Das Nibelungenlied] marks the ending of antiquity and the birth of Europe.«32 Unter dieser Vorgabe verwundert es nicht, dass das Nibelungenlied zwar als ein Werk der Zeit um 1200 und damit als wichtiger Vertreter der sog. mittelhochdeutschen Klassik apostrophiert wird, dass der Akzent bei seiner Vorstellung jedoch auf seinen stoffgeschichtlichen Wurzeln liegt, auf seinem im Frühmittelalter, in der sog. Völkerwanderungszeit des 5. und 6. nachchristlichen Jahrhunderts postulierten historischen Kern, der mit dem Mythos um die Siegfried-Figur amalgamiert wurde.33 Die angenommene Rückführbarkeit des
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Unterzeichnet wurde das Formular vom Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek München, Dr. Rolf Griebel. Vgl. Nominierungsformular 2011, Punkt 1, S. 1. Vgl. Nominierungsformular 2011, Punkt 4.2, S. 4. Nominierungsformular 2011, Punkt 4.3 (d), S. 5. Vgl. Nominierungsformular 2011, Punkt 1, S. 1, Punkt 4.3 (a), S. 4 und Punkt 4.3 (d), S. 5.
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hochmittelalterlichen Schrifttextes auf historische Fakten, die Formierung einer mythosgestützten Sage und deren jahrhundertelange mündliche Tradierung34 werden als Ausweis seiner Dignität geltend gemacht, die zudem durch den Hinweis gestützt werden soll, dass die drei für die Nominierung aus einer breiten Überlieferung von Textzeugen aus dem 13. bis 16. Jahrhundert ausgewählten Manuskripte alle noch dem 13. Jahrhundert entstammen,35 somit in relativer zeitlicher Nähe zur Entstehung des Werkes angesiedelt sind und die ältesten (und für die Textkonstitution wichtigsten) der ›vollständigen‹ Handschriften des Nibelungenliedes darstellen. Dass die drei Handschriften divergierende Versionen bieten, für die ein unterschiedliches Maß an Nähe bzw. Ferne zur mündlichen Überlieferung in Anschlag zu bringen sei, wird mehrfach erwähnt und spielt für die Argumentation insofern eine Rolle, als damit das Kriterium der ›uniqueness‹, der ›Einzigartigkeit‹, erfüllt werden kann.36 Die Zugehörigkeit des Nibelungenliedes zur Kategorie ›Weltliteratur‹ setzt der Nominierungsvorschlag als Faktum voraus.37 Eine Gratwanderung erforderte jedoch der offenkundige Wunsch, das Werk zugleich in seiner Wahrnehmung als nationales Epos anzusprechen38 und es als eine künstlerische Hervorbringung zu würdigen, die mit der Größe ›Europa‹ verknüpft ist. Wiewohl die anhaltende, breite und vielgestaltige Rezeption des Nibelungenliedes und -stoffes, seine Popularität und sein beträchtlicher Einfluss auf Ideengeschichte, Literatur, bildende Kunst und Musik als ein weiterer Beleg für die außerordentliche Qualität des in Rede stehenden Zeugnisses in Anschlag gebracht wird,39 bleibt seine politische, insbesondere die völkisch-nationale Indienstnahme unerwähnt. Stattdessen streicht man die europäische Dimension des Unternehmens heraus, indem als Handlungsraum Zentraleuropa benannt wird, ein Gebiet, das in modernen Termini Deutschland, Österreich und Ungarn entspreche und für bestimmte Phasen der Handlung sogar um nordeuropäisches Territorium (Island) erweitert werde.40 Für die europäische Relevanz werden zudem Bild-
34 Vgl. Nominierungsformular 2011, Punkt 1, S. 1. Punkt 4.3 (c), S. 5. 35 Vgl. Nominierungsformular 2011, Punkt 1, S. 1. 36 Vgl. Nominierungsformular 2011, Punkt 4.2, S. 4: »The three manuscripts of the Nibelungenlied are unique. Each one transmits another version of the text.« Vgl. auch Punkt 4.4, S. 5. 37 Vgl. Nominierungsformular 2011, Punkt 4.2, S. 4: »The text of the Nibelungenlied, one of the rare examples of heroic poetry in German literature, forms an important part of the world literature.« 38 Vgl. Nominierungsformular 2011, Punkt 4.3, S. 5: »All in all, the story depicting a catastrophe has become a national epic […].« 39 Vgl. Nominierungsformular 2011, Punkt 1, S. 1. Punkt 4.3 (d), S. 5. 40 Vgl. Nominierungsformular 2011, Punkt 4.3 (b), S. 4: »The story takes place in Central Europe along the Rhine and the Danube, corresponding to the modern states of Germany, Austria, and Hungary. An episode even takes place in Iceland.«
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zeugnisse ins Feld geführt, die eine Verbreitung der Nibelungensaga sowohl in Skandinavien als auch auf der iberischen Halbinsel bezeugen.41 Informationen über Inhalt, Thematik und Motivik sowie über formale Merkmale und ästhetische Eigenheiten des Nibelungenliedes nehmen im Nominierungsantrag eine randständige Position ein. Der Text wird dabei in auffallender Weise mit Blick auf die Figur Siegfrieds, des Drachentöters, perspektiviert: Seine Essenz macht demnach eine biographisch angelegte Erzählung aus, welche den Weg Siegfrieds von dessen Jugendtagen über seine Hochzeit mit Kriemhild bis hin zu seiner Ermordung abschreitet, einer Ermordung, die dann wiederum den ›Rest‹ der Handlung bedingt, »Kriemhilds Rache«, die im Untergang der Burgunden resp. Nibelungen kulminiert.42 Unter dem Stichwort »form and style« findet sich ein Hinweis auf die sangbare Langzeilenstrophe mit ihrer Zäsurierung in einen Anvers und einen Abvers; er wird an anderer Stelle durch die Erwähnung der Segmentierung des Textes in 39 Aventiuren, »i. e. sections within the plot«, ergänzt.43 Die Fokussierung auf ein an die Figur Siegfried geknüpftes mythisches Substrat, ein »mythisches Heldenleben«, und die Herausstellung der sangbaren Langzeilenstrophe als basaler metrischer Einheit, die auf mündliche Tradierung hindeuten soll, fügen sich insofern stimmig zueinander, als damit erneut auf etwas Vorgängiges verwiesen ist, das dem Text, so wie er uns überliefert ist, vorausliegt. Man wird nicht fehlgehen, wenn man in der Aufnahme des Nibelungenliedes in das Weltdokumentenerbe der UNESCO eine Fortschreibung jener Aufladung mit Bedeutung sieht, die der Text seit seiner ›Wiederentdeckung‹ im 18. Jahrhundert erfahren hat – so wie bereits seine Berücksichtigung in den »Deutschen Erinnerungsorten«, dem von Êtienne FranÅois und Hagen Schulze 2001 vorgelegten Kompendium von Kondensaten eines – hier nationalen – kollektiven Gedächtnisses, als solche gelten kann.44 Als Mediävisten, die sich innerhalb der akademischen Disziplin der Germanistik gegen eine Marginalisierung zur Wehr setzen müssen, und als Germanisten, die in Permanenz die Relevanz ihrer Gegenstände und ihres Tuns zu plausibilisieren haben, können wir uns über diese Vorgänge nur freuen. Gleichwohl muss man festhalten dürfen, dass die (von Erfolg gekrönten) Begründungsstrategien, mit denen man auf die vorgegebenen Auswahlkriterien reagierte und die sich aus dem Nominierungsformular extrapolieren lassen, in einer gewissen Spannung zu aktuellen Tendenzen der 41 Vgl. Nominierungsformular 2011, Punkt 4.3 (b), S. 4: »Pictorial testimonies from Norway, Sweden, the Isle of Man, and Spain prove the saga’s dissemination both in Scandinavia and in the Iberian Peninsula.« 42 Vgl. Nominierungsformular 2011, Punkt 1, S. 1. 43 Vgl. Nominierungsformular 2011, Punkt 4.3 (e). Punkt 1, S. 1. 44 Vgl. FranÅois / Schulze 2003; das Nibelungenlied wird hier von Peter Wapnewski vorgestellt (Bd. 1, S. 159 – 169).
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Nibelungenlied-Forschung stehen und sich mit dem Bemühen um eine differenzierte Betrachtung des Textes, der es um die Herausarbeitung seiner Komplexität, seiner Literarizität und seiner Poetik geht, nur bedingt in Einklang bringen lassen. Dies soll im Folgenden wenigstens skizzenhaft erläutert werden. Schon die Fraglosigkeit einer Einordnung des Nibelungenliedes als Heldenepos birgt Irritationspotential, unterschlägt sie doch, dass die gattungstypologische Bestimmung des Textes im Laufe seiner Erforschung keineswegs einhellig gewesen ist, dass es, im Gegenteil, durchaus »Probleme der Gattungszuordnung« gegeben hat.45 Da es aus dem Mittelalter hier wie in anderen Fällen auch weder eine gattungstypologisch belastbare Terminologie gibt noch eine explizite Gattungsreflexion,46 müssen die konstitutiven Merkmale mittels weitgespannter Vergleiche aus den Texten selbst abgeleitet und zu einem idealtypischen Konstrukt zusammengeführt werden. Über die Rubrizierung des Nibelungenliedes als ›Epos‹ resp. ›Heldenepos‹ entscheidet daher, wie zu Recht betont worden ist, die zugrunde gelegte Gattungsdefinition ebenso wie die Interpretation des Textes.47 Wie es die literarische Situation der Zeit um 1200 nahe legt, ist das Nibelungenlied als Heldenepos in erster Linie in Abgrenzung zum sog. ›höfischen Roman‹ profiliert worden. Für das Heldenepos hat man in diesem Rahmen eine Reihe von Merkmalen namhaft gemacht; ich rufe im Folgenden die wichtigsten auf: – ein Stoff, der auf mündlicher Tradition (einheimischer Heldensage) basiert und in den kriegerischen Taten großer Kämpfer zentriert ist; – damit zusammenhängend: das Fehlen einer schriftlichen Vorlage, – Anonymität resp. fehlende Autornennung, – der Verzicht auf eine Ausarbeitung der Instanz des Erzählers zugunsten einer vornehmlich ›objektiven‹ Erzählhaltung, – die Abfassung in sangbaren Strophen, die eine Realisierung in der Form des öffentlichen Vortrags nahe legt; – eine blockhafte Erzählweise, die ohne die für den höfischen Roman in Anschlag gebrachte Symbolstruktur (›Doppelwegstruktur‹) auskommt, – historische Glaubwürdigkeit (resp. zugespitzt: Rückführbarkeit auf historisch verifizierbare Ereignisse); – eine Denkform, bei der die Untrennbarkeit von öffentlicher und privater Sphäre, die Normen und Regeln des Kollektivs und der Glaube an die Unveränderlichkeit des Schicksals einen zentralen Stellenwert innehaben. 45 Vgl. dazu J.-D. Müller 1998, S. 103 – 151; Ehrismann 2002, S. 148 f.; Schulze 2003, S. 104 – 112 (das Zitat bezieht sich auf die Kapitelüberschrift), ferner S. 19 – 22. Für die einschlägige Forschung kann auf die Bibliographien bei Ehrismann (S. 150 – 152) und bei Schulze (S. 315 f.) verwiesen werden. 46 Vgl. Düwel 1983. 47 Vgl. Schulze 2003, S. 104.
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Auf der Grundlage solcher Merkmale erscheint eine Einordnung des Nibelungenliedes als Heldenepos plausibel. Allerdings bleiben dabei andere Charakteristika des Textes unberücksichtigt, die ihn deutlich an den höfischen Roman heranrücken und die dazu einladen, ihn eher als ein »opus mixtum«48 wahrzunehmen und gerade in der Mischung der Merkmale die Einzigartigkeit des Nibelungenliedes begründet zu sehen (dazu gleich noch Genaueres). Die Ausblendung von Momenten, die einer glatten Zuordnung zu einer Gattung widersprechen, und das Aufrufen von Werken der internationalen heldenepischen Tradition, denen das Nibelungenlied zur Seite gestellt werden kann, setzen, so könnte man pointiert formulieren, die Ideologisierung des Nibelungenliedes fort, die es in der Frühgeschichte der Germanistik zur ›Teutschen Ilias‹ resp. zur ›Ilias des Nordens‹49 werden ließen. Ein Weiteres kommt hinzu: Selbst dann, wenn einzig oder vorrangig die heldenepisch-mythische Schicht des Textes in den Blick genommen werden soll, wäre nicht nur zu reflektieren, was das Nibelungenlied mit anderen Heldenepen teilt, sondern auch, wodurch es sich von ihnen unterscheidet.50 Zieht man beispielsweise die antiken Vertreter der Gattung und die nordischen Zeugnisse der Nibelungensage zum Vergleich heran, so erscheint die anderweltlich-mythische, auf Transzendentes verweisende Dimension im Nibelungenlied erstaunlicherweise zurückgedrängt, ja marginalisiert;51 Jan-Dirk Müller hat von einer regelrechten »Depotenzierung der mythischen Welt«52 gesprochen. Mit Blick auf die Siegfried-Figur53 artikuliert sich ihr relativer Bedeutungsverlust in der Art und Weise, in der der Text von Siegfrieds Jugendabenteuern erzählt – Hortgewinn, Erwerb des Tarnmantels, Drachenkampf und Bad im Drachenblut mit der daraus resultierenden (bedingten) Unverwundbarkeit54 des Helden. Das, was man bis heute als Kern des Siegfried-Mythos verstehen möchte, erwähnt das Nibe48 Hoffmann 1987, S. 150. 49 Zum Vergleich des Nibelungenliedes mit Homers Ilias vgl. den instruktiven Beitrag von Wyss 1990. Dass die Parallelisierung mit dem Epos Homers Auswirkungen bis in die Editionsgeschichte hinein gehabt haben könnte, erwägt Henkel 2005, S. 217 f.: Diese Parallelisierung habe den Blick auf den Untergang der Burgunden in seiner Relation zum Untergang Trojas fokussiert, wodurch die Klage mit ihrer Weiterführung und Deutung des Geschehens verdrängt worden sei. 50 Vgl. Ebenbauer / Keller 2006. 51 Vgl. z. B. Wolf 1979; Gillespie 1987, S. 43 – 60. Zur Relationierung von aktualisierenden und mythisierenden Erzählverfahren vgl. Schulze 2007; Küpper 2008, S. 246 ff., mit der Zuspitzung auf S. 264: »Konsequent scheint der Autor-Schreiber des Nibelungenliedes der Instruktion zu folgen, nur das an mythischem Material aufzunehmen, was für den weiteren Verlauf der Handlung unabdingbar ist, um den gesamten ›Rest‹ zu eskamotieren.« 52 J.-D. Müller 2005, insbes. S. 152 – 154. 53 Zur mythischen Dimension der Siegfried-Figur vgl. Ehrismann 1996; Mertens 2007; Gephart 2009. 54 Zum Motiv der Unverwundbarkeit des Helden vgl. Ebenbauer / Keller 2006.
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lungenlied eher beiläufig; es trägt nämlich die Informationen in verknappter, fragmentarischer Form erzählerisch nach, in der dritten Aventiure (Str. 86 – 101), zu einem Zeitpunkt somit, als bereits eine völlig andere Jugend erzählt worden ist, die des Xantener Königssohnes nämlich, dessen vorbildliche ritterlich-höfische Erziehung mit der Zeremonie der Schwertleite abgeschlossen wurde. Diese Präsentation unterschiedlicher Jugendgeschichten ist zudem mit einem Wechsel der Sprecherinstanzen verbunden: Während die erste vom Erzähler stammt, wird die zweite von Hagen, einer Figur des Textes, eingespielt.55 Die Diskrepanz zwischen den beiden Entwürfen wird durch das Fehlen einer zeitlichen und räumlichen Situierung der von Hagen nachgetragenen Vorgänge verschärft, und die semantische Inkohärenz dürfte auch für die zeitgenössischen Rezipienten spürbar gewesen sein.56 Vor der Folie der nordischen Zeugnisse nimmt sich die Wiedergabe der heldenhaften Jugendgeschichte Siegfrieds als lückenhaft und verkürzt aus.57 Dies hat, da viele Fragen offen bleiben, Folgen für die Logik und den ›Sinn‹ der Erzählung. Auf ein wesentliches Moment in diesem Zusammenhang hat der Romanist Joachim Küpper in einem Beitrag von 2008, »Transzendenter Horizont und epische Wirkung«, aufmerksam gemacht. Dadurch, dass der Horter55 Auf diese Weise partizipiert die Figur ebenfalls an der mythischen Dimension des Textes. Vgl. Schulze 2007, S. 162; Mertens 1996. Zur doppelten Jugendgeschichte Siegfrieds und zu Hagens Bericht vgl. auch J.-D. Müller 1998, S. 125 – 136; kritisch-präzisierend dazu Küpper 2008, insbes. S. 248 f., Anm. 120. 56 Zur möglichen Funktion der mythischen Elemente resp. eines solchermaßen hybriden Erzählens vgl. die Überlegung von Schulze: »Sie [die mythischen Elemente] authentisieren die Sage und gewährleisten die Identität der Figuren für Hörer, die mündliche Traditionen kannten; der Gegenwartsbezug schafft den Verständnishorizont. Auf das Ganze gesehen bildet das Mythische einen integralen Teil der irrationalen Handlungslogik, welche die Geschichte der Nibelungen charakterisiert, es gehört zu der Fatalität von Siegfrieds Tod und vom Burgundenuntergang.« (Schulze 2007, S. 166). 57 Zu berücksichtigen sind im vorliegenden Zusammenhang insbesondere die altisländischen Lieder der Edda, die eine im Nibelungenlied nicht aufgenommene Vorgeschichte des Schatzes erzählen: Die Götter Odin, Loki und Hönir erschlagen mutwillig den Bruder von Reginn und Fafnir. Dafür sollen sie durch die Übergabe eines Goldschatzes an Hreidmarr, den Vater, sühnen. Loki trotzt diesen Goldschatz dem Zwerg Andwari ab, der den Schatz (und speziell einen goldenen Ring aus diesem Schatz) daraufhin mit einem Fluch belegt, der jedem künftigen Besitzer Unglück bringen soll (›Reginnsml‹). Der Fluch zeigt schon bald Wirkung. Hreidmarr wird wegen des Schatzes von seinem Sohn Fafnir erschlagen (›Reginnsml‹). Reginn, Sigurds Erzieher, stiftet diesen dazu an, Fafnir zu töten, der in Gestalt einer ›Schlange‹ den Schatz auf der Gnittaheide versteckt hat und ihn dort hütet (Verbindung von Drachentötung und Horterwerb). Als Sigurd erfährt, das Reginn den Schatz für sich allein möchte, tötet er auch Reginn (›Ffnisml‹). Diese Vorgeschichte perspektiviert das gesamte nachfolgende Geschehen, indem die schrecklichen Ereignisse, von denen erzählt wird, aus einer (im mittelhochdeutschen Text ausgesparten) Verfehlung der Götter und dem dadurch provozierten Fluch Andwaris abgeleitet werden. Kuhn 1983; Genzmer 1963; Genzmer 1992; Krause 2001, insbes. S. 94 – 116. Vgl. auch die in der Snorri-Edda erzählte Version. Text: Krause 1997, insbes. S. 145 – 148.
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werb und die Drachentötung im Bericht Hagens dissoziiert werden, bleibt ein in der Sagengeschichte entscheidendes Moment außen vor : der Fluch über den Hort. Damit aber werde jene Qualität generiert, die Küpper zufolge als das »Eigentliche« des Textes anzusprechen ist, als das, was ihm im Vergleich seine einzigartige Stellung verleiht: seine Rätselhaftigkeit.58 Geschaffen ist damit nämlich, so Küpper, »die Struktur einer fatalen causa ohne Verursacher oder auslösendes Moment, die eines Fluches ohne Verfluchenden«, die eines Verhängnisses, das keinem, der ihm zum Opfer fällt, auch nur in Ansätzen transparent wird«.59 Dass das verschwiegene, in seiner Bedeutung kaum zu unterschätzende Detail von den damaligen Hörern aufgrund einer Kenntnis der Sage ggf. ergänzt werden konnte, wird dabei nicht bestritten,60 doch entscheidend bleibt für Küpper, »dass dieses Wissen um die causa der im Nibelungenlied selbst erzählten Geschichten äußerlich ist und bleibt«.61 Das Nibelungenlied führt die Handlung zweimal an einen Tiefpunkt: das erste Mal durch den Tod Siegfrieds, des strahlenden Heros, im Zentrum des burgundischen Königshofs, mit dem ihn eine durch Dienst und eheliche Bindung begründete Allianz verbindet, das zweite Mal mit einer allgemeinen Vernichtung unvorstellbaren Ausmaßes in der Fremde, am Hof von König Etzel, Ergebnis einer mit größter Unbarmherzigkeit und Kaltblütigkeit ins Werk gesetzten Rache Kriemhilds an ihrer familia, bei der ganze Völker in den Untergang gehen und es am Ende nur vereinzelte Überlebende gibt. Auch diese Radikalität seines »in Rache und Blut versinkenden Schluß[es]«,62 die Destruktivität, die durch 58 Vgl. Küpper 2008. Küpper stellt zunächst die Gemeinsamkeiten der von ihm betrachteten Epen heraus (S. 241 – 246), um die Sonderstellung des Nibelungenliedes dann mit dessen Enigmatik zu begründen (S. 246 ff.). 59 Küpper 2008, S. 265. 60 Dazu auch Dinkelacker 1990, S. 87 f. 61 Küpper 2008, S. 265. Wenn Küpper freilich meint, dass für keinen, der dem Verhängnis zum Opfer fällt, dieses Verhängnis »auch nur in Ansätzen transparent wird«, dass die »in der Nibelungenwelt Agierenden […] nicht die geringste Ahnung von dem [hätten], was sie unentrinnbar ins Verderben reißt« (S. 265), blendet er um der Pointierung seiner These willen aus, was er an anderer Stelle selbst anspricht: dass der Text immer wieder mit Mehrfachmotivierungen arbeitet und auch für den Untergang der Burgunden resp. Nibelungen eben nicht ausschließlich auf die eine Ursache, den (in der Narration ausgesparten) stoffgeschichtlich ererbten Fluch setzt, sondern eine ganze Kette von Gründen akkumuliert, bei denen jeweils ein problematisches Handeln in Anschlag zu bringen ist, das sich bewusster Entscheidung verdankt – man denke etwa an den Steigbügeldienst, den Brautnachtbetrug, die Ermordung Siegfrieds, den Entschluss, die Einladung Kriemhilds in das Land der Hunnen anzunehmen. Insofern scheint mir auch Skepsis angebracht, wenn Küpper am Ende alles auf die Macht eines Mythos vom »unentrinnbare[n] und auf immer unverstehbare[n] Verhängnis« zulaufen lässt, deren ›unheimlichster‹ Aspekt in der absoluten Kontingenz ihrer Entstehung liege: »Mit Blick auf den menschlichen Verursacher ist sie vermutlich wenig mehr als eine Lösung aus Verlegenheit, möglicherweise gar aus Ungeschicklichkeit.« (S. 265 f.). 62 Henkel 2005, S. 227.
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keine erzählerische Volte, keinen Ausblick auf ein Weiterleben im Diesseits und keine Aussage über eine jenseitige Kompensation gemildert wird, verleiht dem Text Singularität.63 Zu bedenken bleibt dabei freilich, dass diese Finalität des Erzählens Suggestion einer Editionspraxis ist, welche dem aus der Überlieferung ableitbaren mittelalterlichen Rezeptionsmodus nicht Rechnung trägt. Statt mit einem von einem (unbekannten) Autor verantworteten Einzelwerk Das Nibelungenlied haben wir es hier mit einem – vermutlich in dichter zeitlicher Folge entstandenen64 – Nibelungen-Erzählkomplex zu tun, zu dem die drei relativ eigenständig modellierten Nibelungenlied-Redaktionen *A, *B und *C ebenso gehören wie die *B und die *C-Redaktionen der Klage.65 Joachim Bumke hat dafür votiert, sie als Zeugnisse eines für die Zeit um 1200 anzusetzenden Austauschs über die adäquate Literarisierung heldenepischer Stoffe aufzufassen, der alten mæren mithin, wie sie in der berühmten ›Prologstrophe‹ heißen, mit der in den Handschriften A und C das Nibelungenlied eröffnet wird.66 Diejenigen Handschriften, welche die Klage vollständig überliefern, bieten sie im Anschluss an das Nibelungenlied, und das Nibelungenlied wird von der Klage »von Anfang an in all seinen Fassungen begleitet«.67 Joachim Heinzle, Nikolaus Henkel und Bernd Schirok sehen die Weiterführung der Nibelungen-›Geschichte‹ in der Klage durch die folgenden Momente gekennzeichnet: die Arbeit an Motivations- und Kohärenzdefiziten, den Versuch der Erklärung, Deutung und Bewertung des Geschehens durch seine Einordnung in einen christlichen Denkhorizont, die Minderung der durch die Aussichtslosigkeit des Schlusses evozierten Wucht des Erzählens durch die Thematisierung von Formen religiöser Bewältigung des Leids und den Aufweis von Zukunftsperspektiven. Dadurch, dass die Klage in Reimpaarversen verfasst wurde und zudem durch eine Rahmung der Erzählung mittels Prolog und Epilog erkennbar um 1200 geläufigen Standards buchepischer Gestaltung verpflichtet ist, sind Nibelungenlied und Klage durchaus als zwei getrennte Entitäten wahrnehmbar. Zugleich aber wurde im Rekurs auf paläographische und kodi63 Vgl. Küpper 2008, S. 260 f.; Haug 2006. 64 Bezüglich des Zeitraums der Entstehung der verschiedenen Gestaltungen von Nibelungenlied und Klage gibt es in der Forschung keinen Konsens. Für eine Entstehung in unmittelbarer zeitlicher Nähe um 1200 votieren Bumke und Henkel, wobei für beide die übereinstimmende Handschriftengruppierung von Nibelungenlied und Klage ein zentrales Argument darstellt, da sie zeigt, dass die Klage mit dem Nibelungenlied verbunden war, bevor sich die Überlieferung in die erhaltenen Fassungen mit den sie bezeugenden Gruppen von Textzeugen aufspaltete. Bumke 1996, S. 590 – 594; Henkel 2005, S. 211 f.; Henkel 2003, S. 114, S. 115, S. 125. Anders z. B. J.-D. Müller 1998, S. 69 f. 65 Bumke 1999. Zur Editions- und Forschungsgeschichte der Klage Bumke 1996, S. 104 – 135. Ferner Deck 1996. 66 Vgl. Bumke 1996, S. 590 ff. So auch Henkel 2003, S. 113. 67 Henkel 2003, S. 116.
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kologische Details plausibel gemacht, dass sie im Mittelalter als ein zusammengehöriger Erzählkomplex rezipiert und akzeptiert wurden.68 Vieles spricht dafür, dass wir die Engführung der von uns als getrennt wahrgenommenen Texte und den so generierten ›Nibelungen-Komplex‹ als historische Erscheinungsform würdigen und als Herausforderung für unsere Interpretation annehmen müssen.69 Im Nominierungsformular für das Weltdokumentenerbe geschieht dies allenfalls auf indirektem Wege, indem der sich auf das Nibelungenlied beziehende Vorschlag an seine konkrete historische Materialität gebunden wird, an die Handschriften A, B und C, in denen auf das Nibelungenlied die Klage folgt. Unter dem Gesichtspunkt der uniqueness, der Einzigartigkeit, hätte man indes forcierter den Nibelungen-Komplex mit der in der deutschen Literatur des Mittelalters beispiellosen »Vielzahl seiner auf relativ engem zeitlichen Raum sich drängenden Fassungen und Bearbeitungen« und somit die »Vielzahl unterschiedlich akzentuierter ›Aggregatzustände‹« des Epos70 als Ansatzpunkt wählen können. In der Forschung zum Nibelungenlied besteht seit geraumer Zeit der Konsens, dass der komplexe Vorgang einer Umformung jahrhundertealter, ursprünglich mündlicher und die längste Zeit mündlich tradierter Sagenstoffe zu einem Werk großepischer Schriftlichkeit der entscheidende Ansatzpunkt für jeden Verstehensversuch darstellen muss.71 Der Vorgang wird unter den Stichworten ›Literarisierung‹, ›Aktualisierung‹, ›Höfisierung‹ oder ›adaptation courtoise‹ behandelt. Bedenkt man, dass über weite Strecken der Nibelungenforschung zuvor Begriffe wie ›Vorzeitkunde‹, ›Sagengedächtnis‹ oder ›mündliche Erzähltradition‹ in Anschlag gebracht worden waren, wird hier eine andere, eine neue Perspektive deutlich, mit der Konsequenz einer Privilegierung des überlieferten Textes in seinen verschiedenen Fassungen und in seiner Tradierungsgemein68 Vgl. Bumke 1996, S. 141 – 211; Henkel 2005, S. 213 f., S. 233, Anm. 15, eine Zusammenstellung von Abbildungen zu den Übergängen von Nibelungenlied und Klage. 69 Henkel hat zu Recht festgestellt: »Eine konsequente Interpretation des ›Liedes‹ aus dem Deutungshorizont der ›Klage‹, wie ihn die mittelalterliche Werkkoppelung beider Texte nahe legt, ja fordern würde, ist bislang nicht versucht worden.« (Henkel 2005, S. 217); Hinweise darauf, wie sie aussehen könnte, Henkel 2005, S. 218 ff. Bis heute gibt es deutliche Reserven gegenüber diesem Anliegen, nicht zuletzt wegen des in sprachlicher, literarischer, ästhetischer Hinsicht fassbaren Abstands zwischen Nibelungenlied und Klage, den wahrzunehmen wir nicht umhin können. Ob dieser Abstand freilich für die Zeitgenossen dieselbe Bedeutung hatte wie für uns moderne Rezipienten, die wir einer Ästhetik der Ambivalenzen und Ambiguitäten, der Spannungen und Antagonismen, der Dissonanzen und Brüche, der Aporien und der Destruktion zuneigen, erscheint mir fraglich. Der Punkt kann im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter verfolgt werden; ich möchte es bei dem Hinweis belassen, dass eine Einbeziehung der Forschungen etwa zu den Tristan- und den Willehalm-Fortsetzungen hilfreich sein dürfte. 70 Henkel 2003, S. 129. 71 Zum Folgenden vgl. Brüggen 2003.
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schaft mit der Klage gegenüber sagengeschichtlichen Rekonstruktionsversuchen und mit der Konsequenz einer erhöhten Aufmerksamkeit für jene Elemente des Textes, die den Erzählstoff in seiner buchepischen Gestaltung an das kulturelle und literarische Umfeld der Zeit um 1200 heranrücken, einer Zeit, in der im Bereich der Epik »der ›höfische Roman‹ zur führenden Erzählform« geworden war.72 In dieser Linie der Argumentation führen denn auch die Frage nach dem Vorstellungskomplex einer höfischen Kultur im Nibelungenlied, nach seiner Präsenz und Funktionalisierung, und die Diskussionen um die Modi der Kohärenzstiftung in das Zentrum der interpretatorischen Bemühungen um den eigenwilligen und widerständigen Text. Eine auf die Präsenz und Funktionalisierung von Momenten höfischer Kultur gerichtete Textlektüre müsste eine ganze Reihe von Phänomenen in die Betrachtung einbeziehen. Anzufangen wäre bei der Parallelführung des Erzählens in der Vorstellung von Kriemhild und Siegfried, welche mit der Akzentuierung von Hofleben und höfischer Erziehung ein Thema anschlägt, das dann zur Modellierung der Protagonisten als höfische Dame und höfischer Ritter ausgebaut wird.73 Es dürfte sich bei diesem Einsatz des Erzählens um eine programmatische Neukonzeption handeln. Im Falle der Siegfried-Figur war sie nur um den Preis einer Zurückdrängung ihrer traditionellen mythisch-heldischen Qualitäten zu haben; die Jugendabenteuer, welche diese Qualitäten hervortreten lassen, werden erst später erwähnt, in stark raffendem Erzählmodus präsentiert und nicht im Zusammenhang entfaltet. Beachtung zu finden hätte dann die Darstellung eines Minneverhältnisses zwischen Kriemhild und Siegfried, welche mit Vorstellungen und Sprachmaterial aus dem Minnesang arbeitet und dabei das Konzept ›Frauendienst‹ auf eine höchst eigenwillige Weise episiert.74 Von Belang wäre weiterhin das dem alten Stoff abgerungene »Pathos der Innerlichkeit«,75 das sich zwar besonders an Kriemhild beobachten lässt, an der Emotionalisierung dieser Figur im Gefolge der ihr attribuierten Leiderfahrung, das aber auch andere Figuren erfasst.76 Die von der Forschung stark beachtete Ausgestaltung Rüdigers von Bechelaren zum höfischen Ritter par excellence und 72 Vgl. etwa Haug 1974. Schulze, die nicht nur »im Sinne der viel berufenen Höfisierung mit Bezug auf allgemeine kulturelle Requisiten, sondern durchaus auch bei der Konzeption von Handlungsteilen, ihrer Motivierung und Verortung in Raum und Zeit« eine »Historisierung« am Werk sieht, welche – »im Kontrast zur Zeitlosigkeit von Mythen« – das Erzählte an die Gegenwart des Wiedererzählenden heranrückt (Schulze 2007, S. 161). Diese »Aktualitätspotenz« bestimmt für Schulze die Textur des Nibelungenliedes (S. 168). Zur Genese dieser Sicht auf den Text vgl. Brüggen 2003, S. 161 – 163, S. 184 f. 73 Vgl. Wolf 1995, S. 277 – 289; Schulze 2003, S. 142 – 151; Heinzle 1998, S. 60 – 65. 74 Vgl. Schulze 2000. 75 Heinzle 1994, S. 84 – 87. 76 Vgl. auch die von Wolf unter dem Stichwort ›Sentimentalisierung‹ zusammengestellten Beobachtungen: Wolf 1981; Wolf 1995, S. 304 – 315.
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die Herausarbeitung seiner Zerrissenheit zwischen unterschiedlichen Verpflichtungen und Verbindlichkeiten gehört natürlich ebenfalls in diesen Zusammenhang. Jenseits von Personal und Figurengestaltung hätte Weiteres Berücksichtigung zu finden: die erzählerische Ausgestaltung höfischer Räume, die Sozialstruktur und die Organisation des Hofes, die Detaillierung der materiellen Kultur, der Stellenwert des Festes und das Ritual der Gabe sowie die zeremoniellen Empfänge, die den Erzählstil des Nibelungenliedes in weit höherem Maße prägen als eine auf die Finalität des Geschehens (den Untergang der Burgunden resp. Nibelungen) fokussierte Lektüre es zunächst bewusst werden lässt. All diese Momente stehen im Nibelungenlied im Zeichen höfischer Ordnung, sie werden aber ebenso für die Poetisierung der Störung und des Zerbrechens dieser Ordnung in Dienst genommen. So wenig die Lektüre des Nibelungenliedes im Mittelalter ohne die Klage auskam, mit der es in der Überlieferung im Allgemeinen zu einer »sinnstiftenden Einheit«77 verbunden wurde, so wenig war offenbar um 1200 die Geschichte Siegfrieds und die der Burgunden ohne Rekurs auf höfische Symbolwelten erzählbar : Deren Macht aber erweist sich nicht zuletzt daran, dass es immer wieder ihre Pervertierung ist, die dem desaströsen Geschehen Kontur verleiht. Damit setzen sie ein spürbares Gegengewicht zu den heldisch-mythischen Dimensionen des Erzählens, sind aber andererseits auf intrikate Weise mit ihnen verschränkt. »Eine strophenraubende Angelegenheit« hat Andreas Heusler einst die Höfisierung des Stoffes genannt,78 und wenn man das leicht Abschätzige der Formulierung abstreicht, wird man seinem Urteil bis heute folgen können. Verfehlt wäre es allerdings, seine Kennzeichnung entsprechender Passagen als »beschauliche Zugaben«79 oder als »tatenlos-redselige Strecken«80 zu übernehmen. Dabei ist nämlich eine Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie des erzählerischen Projekts impliziert, die gegenüber der historischen Besonderheit einer Bearbeitung traditioneller mündlicher Erzählstoffe im Zeitalter höfischer Schriftkultur blind ist. Für den Erfolg des Projekts dürfte die partielle Angleichung der Erzählung an Standards der höfischen Epik, die durch die Höfisierung des Stoffes erreicht wurde, kein unerheblicher Faktor gewesen sein. Ich würde indes weiter gehen: Entsprechende Passagen haben für die Poetik des Nibelungenliedes keine geringere Bedeutung als seine spektakulären ›Schaubilder‹, die, »nicht ganz unbegreiflich«,81 das Interesse der Forschung in weitaus stär-
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Henkel 2005, S. 215. Heusler 1991, S. 66. Heusler 1991, S. 66. Heusler 1991, S. 67. Haug 1990, S. 293.
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kerem Maße auf sich ziehen konnten.82 Ebenso wie diese und weitere Momente (die das ganze Epos bestimmende, einheitstiftende Strophenform und die auf sie abgestimmte Syntax, die epischen Vorausdeutungen, die produktive Anverwandlung des Brautwerbungsschemas, die Arbeit mit zentralen Motiven – etwa: dem Hort, Siegfrieds Schwert –, der Dominanz bestimmter thematischer Komplexe wie Treue und Verrat, die Installierung von Kriemhild und Hagen als handlungstragende Figuren etc.) leisten sie innerhalb eines blockhaften, zur Isolierung von einzelnen Episoden und Szenen neigenden Erzählens ihren Beitrag zu einer Form der Kohärenzstiftung, in die sich ein neuzeitlicher Blick mit seiner Fixierung auf die Prinzipien linearer Sukzession und logischer Verknüpfung erst einüben muss. Ihr Potential ist in Weiterführung der Diskussion um das ›paradigmatische‹, stark auf Parataxe und Parallelisierung vertrauende Erzählen des Nibelungenliedes noch genauer auszuloten.83
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Verzeichnis der Beiträger
Matthias Becher (Bonn) Michael Bernsen (Bonn) Elke Brüggen (Bonn) Alexander Demandt (Berlin) Manfred Groten (Bonn) Karina Kellermann (Bonn) Franz Lebsanft (Bonn) Alheydis Plassmann (Bonn) Michael Richter † (Berlin) Dietmar Rieger (Gießen) Sabine H. Walther (Bonn) Harald Wolter-von dem Knesebeck (Bonn)