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German Pages 520 Year 2004
Rollinger/Ulf (Hg.)
Griechische Archaik
Griechische Archaik Interne Entwicklungen Externe Impulse
Herausgegeben von Robert Rollinger und Christoph Ulf
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
ISBN 3-05-003681-8
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2004 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Druck: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Vorwort
7
Robert Rollinger/Christoph Ulf Einleitung
9
THEORETISCHE A S P E K T E
33
Jonathan M. Hall Culture, Cultures and Acculturation
35
Christoph Ulf Die Instrumentalisierung der griechischen Frühzeit. Interdependenzen zwischen Epochencharakteristik und politischer Überzeugung bei Ernst Curtius und Jakob Burckhardt
51
Birgitta Eder Antike und moderne Mythenbildung: Der Troianische Krieg und die historische Überlieferung
105
Lukas Thommen Der spartanische kosmos und sein .Feldlager' der homoioi. Begriffs- und forschungsgeschichtliche Überlegungen zum Sparta-Mythos
127
ENTWICKLUNGEN IN G R I E C H E N L A N D
143
Erich Kistler ,Kampf der Mentalitäten': Ian Morris' „Elitist-" versus „Middling-Ideology"
145
Walter Scheidel Gräberstatistik und Bevölkerungsgeschichte: Attika im achten Jahrhundert
177
6
Inhalt
Eckhard Wirbelauer Eine Frage von Telekommunikation? Die Griechen und ihre Schrift im 9.-7. Jahrhundert v. Chr
187
Reinhold Bichler Das chronologische Bild der „Archaik"
207
Astrid Möller Elis, Olympia und das Jahr 580 v. Chr. Zur Frage der Eroberung der Pisatis
249
Kurt A. Raaflaub Zwischen Ost und West: Phönizische Einflüsse auf die griechische Polisbildung?
271
Alberto Bernabi Hittites and Greeks. Mythical Influences and Methodological Considerations
291
Winfried Schmitz Griechische und nahöstliche Spruchweisheit. Die Erga kai hemerai Hesiods und nahöstliche Weisheitsliteratur
311
Günther Lorenz Asklepios, der Heiler mit dem Hund, und der Orient
335
EXTERNE IMPULSE
367
Robert Rollinger Die Verschriftlichung von Normen: Einflüsse und Elemente orientalischer Kulturtechnik in den homerischen Epen, dargestellt am Beispiel des Vertragswesens
369
Barbara Patzek Griechischer Logos und das intellektuelle Handwerk des Vorderen Orients
427
Peter W. Haider Kontakte zwischen Griechen und Ägyptern und ihre Auswirkungen auf die archaischgriechische Welt
447
Autorenverzeichnis Personenregister Sachregister Ortsregister Antike Autoren - Schriftquellen - Stellenregister
493 496 503 510 514
Vorwort
Vom 8. bis 10. November 2001 wurde von den Herausgebern in Innsbruck der Workshop ,Griechische Archaik und der Orient. Interne und externe Impulse' organisiert, dessen Ergebnisse im vorliegenden Band unter leicht verändertem Titel vorgelegt werden. Das Kolloquium stellt einen ersten Schritt im Kontext eines längerfristig angelegten Forschungsvorhabens der Herausgeber dar. Dieses Vorhaben, das sich grundlegenden Problemen der griechischen Archaik unter Beachtung einer möglichst breiten Perspektive zu nähern versucht, ist in der Einleitung näher beschrieben. Ohne vielfältige Unterstützung, sowohl in ideeller als auch in finanzieller Hinsicht, wäre weder die Tagung noch dieser Band möglich gewesen. Im besonderen danken wir Peter W. Haider, der nicht nur in der ersten Planungsphase vielfaltige und wertvolle Anregungen beigesteuert hat. Birgit Gufler war eine besondere Hilfe bei der Durchführung der einzelnen Planungsschritte sowie bei der Gestaltung der Tagung selbst. Kordula Schnegg hat nicht nur wesentlich zum reibungslosen Verlauf des Kolloquiums beigetragen, sondern darüber hinaus wertvolle Arbeit bei der redaktionellen Gestaltung des Bandes geleistet. Brigitte Truschnegg hat in bereits bewährter Manier die Gestaltung des Registers übernommen. Manfred Karras und der Akademie-Verlag waren stets angenehme und kompetente Ansprechpartner. Ihnen allen sei hiermit unser herzlicher Dank ausgesprochen. Natürlich ist die Konzeption und Umsetzung einer solchen Tagung auch auf breite finanzielle Zuwendungen angewiesen. In diesem Zusammenhang ist es uns eine angenehme Pflicht, allen Sponsoren aufrichtig zu danken. Dazu zählen die Universität Innsbruck, das Land Tirol, die Stadt Innsbruck und das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Die Universität hat zusätzlich die Drucklegung des Bandes durch einen namhaften Zuschuß unterstützt.
Innsbruck, im November 2002
Robert Rollinger
Christoph Ulf
Robert Rollinger/Christoph Ulf
Einleitung
In den letzten Jahren hat sich die A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t deutlich intensiver als z u v o r der Erf o r s c h u n g der griechischen A r c h a i k z u g e w a n d t . D a s f ü h r t e einerseits zu einer Fülle k a u m m e h r ü b e r b l i c k b a r e r E i n z e l u n t e r s u c h u n g e n , andererseits aber auch zu m e h r e r e n Publikationen, in d e n e n sich eine w a c h s e n d e T e n d e n z zur synthetischen Z u s a m m e n s c h a u
nieder-
schlägt. 1 U n g e a c h t e t dieser U n t e r s c h e i d u n g sind diese Studien unterschiedlichen Z u g r i f f s weisen verpflichtet. Es läßt sich das B e m ü h e n feststellen, die Normativen P h a s e n ' in der G e n e s e der als griechisch v e r s t a n d e n e n Kultur zu erfassen und analytisch zu beschreiben. Zu d i e s e m Z w e c k w u r d e der Blick über die eigentliche Archaik hinaus a u f die , U r s p r ü n g e ' erweitert. D a d u r c h gerieten neben d e r B e t r a c h t u n g der . h o m e r i s c h e n Z e i t ' auch die Dark A g e s z u s e h e n d s ins Blickfeld. Die auf diese Weise erfolgte E r w e i t e r u n g des Horizontes verstärkte
beinahe
z w a n g s l ä u f i g die bisher nur z u m Teil schon g e g e b e n e Interdisziplinarität der unterschiedlichen F o r s c h u n g s r i c h t u n g e n innerhalb der A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t . Es wurden nicht nur arc h ä o l o g i s c h e und literarische Quellen n e b e n e i n a n d e r analysiert, sondern die U n t e r s u c h u n g der a r c h ä o l o g i s c h e n Quellen w u r d e z u n e h m e n d auch unter h i s t o r i s c h e n ' G e s i c h t s p u n k t e n v o r g e n o m m e n . Die Frage nach der E n t w i c k l u n g von ,Stilen' trat g e g e n ü b e r der a r c h ä o l o g i schen A n a l y s e der Siedlungen, dem N a c h v o l l z u g der E n t w i c k l u n g der Bestattungssitten und der G e n e s e d e s Kultes und d e r religiösen G e b r ä u c h e in den Hintergrund. Das a u f diesen W e g e n h i n z u g e w o n n e n e Wissen über die Zeit vor der griechischen Klassik bot nun die Möglichkeit, die unterschiedlichen E n t w i c k l u n g e n in Griechenland nach Region und Zeit weit d i f f e r e n z i e r t e r als bisher zu betrachten und so die Heterogenität der g r i e c h i s c h e n ' Kult u r e n t w i c k l u n g ( e n ) ins B e w u ß t s e i n zu heben.
1
Vgl. ζ. Β. I. J. F. de Jong (Hg.), Homer: Critical Assessments, 4 Bde., London 1999. N. Fislier/H. van Wees (Hg.) Archaic Greece. N e w Approaches and N e w Evidence, London 1998. I. Morris/B. Powell (Hg.), A N e w Companion to Homer, Leiden/New York/Köln 1997. L. Mitchell/P.J. Rhodes (Hg.). The Development of the Polis in Archaic Greece, London 1997. R. Osborne, Greece in the M a k i n g 1 2 0 0 - 4 7 9 BC, London 1996. J. P. Crielaard (Hg.), Homeric Questions, Amsterdam 1995.
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Robert Rollinger/Christoph Ulf
Die allein damit schon einhergehende Schärfung der einzelnen Fragestellungen und die daraus folgende, differenziertere Erfassung des Untersuchungsgegenstandes ,Griechische Archaik' erhielt durch die Anwendung neuer - anthropologisch orientierter - theoretischer Modelle noch zusätzliche Dynamik. Auf diesem Weg wurde vorerst der Volksbegriff problematisiert, nicht zuletzt deshalb, weil sich der aus der Zeit der Romantik stammende Terminus wissenschaftlich nicht ausreichend klar definieren läßt. Er wird zunehmend durch das Konzept der Ethnogenese verdrängt, mit dem die Vorstellung von (ein)wandernden Stämmen ersetzt werden kann. Denn diese ist auch durch die Migrationsforschung in Bedrängnis geraten. Geht man von einer Ethnogenese aus, dann kann man zudem der Vielfalt der zu beobachtenden Phänomene wesentlich besser gerecht werden als mit dem Begriff ,Volk', der ,νοη Anfang an' gegebene, weitgehend abgegrenzte Einheiten voraussetzt. Beinahe gleichzeitig mit der Aufgabe des Volksbegriffs wurde auch über den Begriff der ,Kultur' und die damit verknüpften Konnotationen neu zu diskutieren begonnen, weil er unter dem Verdacht steht, zu ähnlichen Schwierigkeiten wie der Volksbegriff zu führen. Insgesamt heißt das, daß die aktuelle Forschungsdiskussion durch einen stärkeren Theoriebezug und damit durch ein deutlich höheres reflektives Bewußtsein bei der Festlegung, Beschreibung und Erklärung des Untersuchungsgegenstandes bestimmt ist, als das früher der Fall war. Auf diese Weise gewann die griechische Welt, von der das ,Volk' als historischer Wirkfaktor immer mehr ausgeblendet wurde, ein immer komplexer werdendes Aussehen. Es ist jedoch auffällig, daß sie in ihren Determinanten dennoch weitgehend ,griechisch' blieb. Obwohl die Rahmenbedingungen theoretisch erfaßt, die verschiedenen Entwicklungsprozesse und Entwicklungsgeschwindigkeiten analysiert und die gewonnenen Erkenntnisse in ein immer detaillierter werdendes Raster eingepaßt wurden, blieb all das dennoch auf eine meist als .griechisch' verstandenen Welt als Größe sui generis bezogen. Freilich war spätestens seit den eine markante Zäsur bedeutenden Arbeiten von Walter Burkert die Levante als Wirkkraft auch für den ägäischen ins Bewußtsein getreten. Doch blieb diese Konzeption, bei aller positiven Rezeption, chronologisch und thematisch marginalisiert. Nur die literarische Beeinflussung, wie immer man sie im Detail auch definieren mochte, stand weitgehend außer Streit, auch wurden Impulse für Religion und Mythos konzediert, doch damit schienen die wesentlichen Kontaktzonen auch schon hinreichend abgesteckt. Denn der Bereich des Politischen stand - von der Frage der Genese der Polis abgesehen - deutlich im Hintergrund. 2 Auch soziale und institutionelle Phänomene fanden in diesem Zusammenhang kaum Beachtung. Wurde die Levante nicht gänzlich ausgeblendet, blieb sie Beiwerk im Hintergrund, das bestenfalls in einzelnen Exkursen abgehandelt wurde. Diese Grundhaltung drückt sich auch in der Eingrenzung der Kontakte mit der Levante auf ein spezifisches Zeitfenster aus. Die mögliche Auswirkung der Kontaktnahme zwischen Griechen und dem Orient auf literarische Phänomene, in Fragen der Motivik und des Stils, der Topologie und des dichterischen Handwerkszeugs wurde auf die ,orientalisierende Phase' des homerischen Zeitalters konzentriert. Die größeren Zusammenhänge und Entwicklungen der archaischen Geschichte Griechenlands wurden jedoch weiterhin als Phänomene eines vorwiegend griechisch induzierten Prozesses verstanden. Eine diachrone und themati-
2
Eine A u s n a h m e stellt K. Raaflaub (Hg.), A n f ä n g e des politischen Denkens in der Antike. Die nahöstlichen Kulturen und die Griechen (Schriften des Historischen Kollegs 24), München 1993 dar.
Einleitung
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sehe Erweiterung auf der Suche nach möglichen Kontakten und Einflüssen blieb die Ausnahme. Diese Grundtendenz ist auch in neueren Überblicksdarstellungen deutlich spürbar. Diese Begrenzungen aufzubrechen, stellt nach wie vor ein Desiderat der Forschung dar. Das überzeugend tun zu können, bedarf aber noch umfassender Vorarbeiten. Seit vor mehr als zehn Jahren, im Jahr 1990, die nach M. Finleys Die Welt des Odysseus umfassendste und die modernen theoretischen Ansätze aufgreifende Untersuchung zur Homerischen Gesellschaft erschien 3 , stellt die Erhellung der griechischen Archaik einen besonderen Schwerpunkt der Innsbrucker althistorischen Forschung dar. Mit dem 1996 erschienenen Sammelband Wege zur Genese griechischer Identität erhielten diese Anstrengungen einen breiteren Rahmen 4 . Schon damals war es ein essentielles Anliegen, den Blickwinkel nicht auf die Ägäis einzuengen, sondern eine breitere Optik zu wählen. Nur auf diese Weise schien es möglich, die unterschiedlichen Impulse für die interne griechische Entwicklung und deren Erscheinungsbild näher zu beleuchteten. Ins Blickfeld gerieten dabei Fragen der griechischen Religion (Heroenvorstellungen), des Auftretens von Griechen im Vorderen Orient und in Ägypten, der Ausformung der Raum- und Zeitperspektive im griechischen Weltbild, der Übernahme altorientalischer Motivik in die frühgriechische Literatur, der Parallelität und Distanz von Soziogenese und sozialer Mobilität zwischen den Völkern des Alten Orients und den frühgriechischen Sozietäten und der Formung eines griechischen Selbstverständnisses aus der Vielfalt selbständiger sozialer Einheiten. Im Jahre 1999 wurden diese Anstrengungen auf die Basis eines umfassender geführten Projektes gestellt, das von den Herausgebern des vorliegenden Bandes betreut wird. Dabei war von vornherein klar, daß die Einbettung der griechischen Welt und der in ihr greifbaren Entwicklungsprozesse in einen größeren Kontext eine derartige Fülle von Fragen aufwerfen, daß sie nur schrittweise und im Rahmen einer internationalen Kooperation angegangen werden können. Die folgenden grundlegenden Probleme und Fragestellungen bestimmten die Projektplanung. Ausgangspunkt war die Einsicht, daß der durch die Problematisierung des Kultur- und Volksbegriffs gewonnene neue Blickwinkel auch eine Verbreiterung des geographischen Horizontes zur Folge haben und auch die Levante mit einschließen mußte. Daher war es notwendig, die bereits bei der Erforschung der innergriechischen Verhältnisse gepflegte Interdisziplinarität weiter auszubauen und zu einem so angelegten Dialog über die wesentlichen Entwicklungsschritte zu gelangen. Nur durch eine reflektive Vernetzung verschiedener Wissenschaftsdisziplinen sind Erkenntnisfortschritte zu erwarten. In diesem Zusammenhang sollten die von Susan und Andrew Sherratt bereits formulierten Ansätze weiter ausgebaut 5 und auf dieser Grundlage ein Kontext erschlossen werden, der es möglich machen sollte um es mit Sarah Morris zu formulieren - , „(to) invite current thinkers to answer the challenge of envisioning Greece in terms of a Mediterranean Jong-term' history" 6 , bzw. „to re-
3
Ch. U l f , D i e h o m e r i s c h e Gesellschaft. Materialien zur analytischen B e s c h r e i b u n g und historischen Loka-
4
Ch. U l f ( H g . ) , W e g e zur G e n e s e griechischer Identität. D i e B e d e u t u n g der früharchaischen Zeit, Berlin
5
S. Sherratt/A. Sherratt, T h e Growth o f the Mediterranean E c o n o m y in the Early First M i l l e n n i u m B C , in:
lisierung ( V e s t i g i a 4 3 ) M ü n c h e n 1990. 1996. World A r c h a e o l o g y 2 4 ( 1 9 9 3 ) 3 6 1 - 3 7 8 . 6
S. P. Morris, Greek A n d Near Eastern Art in the A g e o f Homer, in: S. Langdon ( H g ), N e w Light on a Dark A g e . Exploring the Culture o f G e o m e t r i c Greece, C o l u m b i a / L o n d o n 1997, 5 6 - 7 1 , hier 6 7 .
Robert Rollinger/Christoph Ulf
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cover the lost unity o f ancient M e d i t e r r a n e a n literature and life" 7 . Eine solche K o n z e p t i o n kann freilich nicht nur die Welt d e r Literatur, sondern m u ß alle Bereiche des sozialen, politischen und ö k o n o m i s c h e n L e b e n s miteinbeziehen. A u c h in c h r o n o l o g i s c h e r Hinsicht schien eine V e r b r e i t e r u n g d e r h e r k ö m m l i c h e n
Be-
t r a c h t u n g s w e i s e ratsam. Es ist o f f e n k u n d i g , d a ß sich K o n t a k t e zur orientalischen Welt nicht nur a u f die orientalisierende Phase des 8. und 7. J a h r h u n d e r t s einengen lassen, sondern in w e c h s e l n d e r Intensität von den f r ü h e n Dark A g e s bis in Klassische Zeit hineinreichen 8 . A u c h hier gilt es, diese B e z i e h u n g s g e f l e c h t e zu e r f a s s e n und näher zu b e s t i m m e n , Einzelp h ä n o m e n e j e w e i l s a b z u g r e n z e n und die A u s w i r k u n g e n des interkulturellen K o n t a k t e s n ä h e r zu d e f i n i e r e n . N u r auf diese Weise scheint es m ö g l i c h , interne E n t w i c k l u n g e n , externe Impulse, K u l t u r t r a n s f e r und Akkulturation g e n a u e r v o n e i n a n d e r zu scheiden und t e r m i n o l o gisch festzulegen. N u r w e n n der Blick auf die Welt innerhalb der griechischen S i e d l u n g s g e biete in einer a u s g e w o g e n e n F o r m mit d e m Blick auf die Welt a u ß e r h a l b des g r i e c h i s c h e n S i e d l u n g s g e b i e t s k o m b i n i e r t wird und sich beide H e r a n g e h e n s w e i s e n g e g e n s e i t i g e r g ä n z e n , k ö n n e n die A u s w i r k u n g e n der kulturellen Interaktion noch schärfer g e f a ß t w e r d e n .
So
scheint es d e n k b a r , die innergriechischen E n t w i c k l u n g e n differenzierter als bisher beschreiben und erklären zu k ö n n e n . D a r ü b e r hinaus m ü ß t e sich vor d i e s e m H i n t e r g r u n d die M ö g lichkeit ergeben, klarer zu b e s t i m m e n , w a s als eigenständige E n t w i c k l u n g e n zu gelten hat und w a s nicht. A u f dieser G r u n d l a g e e r g a b e n sich eine Fülle von konkreten Fragestellungen und k o n zeptionellen Ü b e r l e g u n g e n . Es sollten die konkreten K o n t a k t z o n e n näher erfaßt und M o d e l l e des j e w e i l i g e n Kulturkontakts erstellt w e r d e n . Erst unter dieser V o r a u s s e t z u n g ist man in der Lage, ein hinreichend präzises B e g r i f f s m a t e r i a l zur B e s c h r e i b u n g interkultureller Kontaktsituationen, d e r e n s p e z i f i s c h e A u s p r ä g u n g e n und der d a m i t v e r b u n d e n e n Folgen zur V e r f ü g u n g zu stellen. Im konkreten ist die Vielschichtigkeit der Ebenen zu beachten, auf denen die postulierten vielfältigen K u l t u r k o n t a k t e abliefen, z u m einen in ihren lokalen, regionalen, sozialen und politischen F o r m e n (ζ. B. G r i e c h e n im Orient, Orientalen im ägäischen R a u m ; H ä n d l e r , Söldner, H a n d w e r k e r , K a u f l e u t e , Piraten, W a n d e r p r i e s t e r ; Polis, . d i p l o m a t i s c h e K o n t a k t e ' und ähnliches), z u m anderen in ihren spezifische A u s p r ä g u n g e n und W i r k u n g s w e i s e n (direkte K o n takte, indirekte Kontakte, akustische, optische, kognitive, p r o f a n e und religiöse V e r m i t t lungswege). N u r so erscheint es d e n k b a r , ein differenziertes Bild der j e w e i l i g e n Milieus und der dort transportierten Vorstellungen und a u s g e t a u s c h t e n Kulturgüter zu g e w i n n e n . Freilich ist es bei einem solchen V e r f a h r e n n o t w e n d i g , in b e s o n d e r e m M a ß e a u f der Hut vor vorschnellen G e n e r a l i s i e r u n g e n zu sein und unhaltbare E x t r e m p o s i t i o n e n wie P a n b a b y lonismus a u f der einen und G r a e k o z e n t r i s m u s a u f der anderen Seite tunlichst zu v e r m e i d e n . D o c h d a r f die Frage nach m ö g l i c h e n I m p u l s e n und Einflüssen auch keine T a b u s k e n n e n . U m eine B e s t i m m u n g von ,eigen' und , f r e m d ' v o r n e h m e n zu k ö n n e n , ist es wichtig, M o d e l le e t h n o l o g i s c h e r und a n t h r o p o l o g i s c h e r P r o v e n i e n z e b e n s o zu berücksichtigen wie die innergriechischen P h ä n o m e n e gezielt mit Z u s t ä n d e n und E n t w i c k l u n g e n im Bereich der vor-
7 8
S. P. Morris, Homer and the Near East, in: I. Morris/B. Powell (Hg.), A N e w C o m p a n i o n to H o m e r ( M n e m o s y n e Supplementum 163) Leiden/New York/Köln 1997, 5 9 9 - 6 2 3 , hier 623. Man vgl. zu letzterem etwa M. C. Miller, Athens and Persia in the Fifth Century BC. Α Study in Cultural Receptivity, Cambridge 1999.
Einleitung
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derasiatischen und ägyptischen Kulturen zu kontrastieren. Nur so können von außen induzierte Veränderungen, bewußte Abgrenzungsprozesse, die Dimensionen und die unterschiedlichen Gründe für eigenständige Entwicklungslinien sowie die Wirksamkeit anthropologischer ,Konstanten' faßbarer gemacht werden. Um diesen Zielen näher kommen zu können, erscheint eine klare Zeichnung der ins Auge gefaßten Phänomene sowohl in Griechenland als auch in den vorderorientalischen Kulturen vonnöten. Erst wenn diese Phänomene klar abgehoben werden, kann nach den jeweils überzeugenden Analogien fur den griechischen Befund gesucht werden. Auf dieser Grundlage sollte erkennbar werden, inwieweit die Ausbildung der griechischen Gesellschaften und Kulturen und besonders auch deren Veränderungen auf orientalischen Einfluß zurückgehen. Deren Anteil - das war eine der Grundannahmen des Projekts - wurde und wird nach wie vor unterschätzt. Eine Möglichkeit, das ,Griechische' vom .Orientalischen' abheben zu können, liegt offensichtlich im Rekurs auf das ethnologisch-anthropologische Begriffsinstrumentarium. Alles was mit diesem Instrumentarium innerhalb der griechischen Welt beschreibbar ist, scheint tendenziell auch als ,griechisch' ansprechbar, weil es als autochthone Produktion wahrscheinlich gemacht werden kann. Was sich nicht mit diesem, auch einen inneren Wandel erfassenden Begriffsinstrumentarium fassen läßt, darf tendenziell als vom Orient beeinflußt aufgefaßt werden. Das darf natürlich kein rein theoretisches Spiel bleiben, sondern muß in enger Verbindung mit der analytischen Beschreibung des archäologischen Befunds in Griechenland und dessen Wandel in archaischer Zeit stehen. Neben diesen konkreten Fragestellungen sollte gleichzeitig die methodisch-theoretische Betrachtung vertieft werden, die auch eine wissenschaftsgeschichtliche Durchdringung gängiger Begriffe und Modelle miteinschloß. Noch stärker als es bisherige Untersuchungen nahegelegt haben 9 , sollten die Genese des Begriffs ,Archaik', dessen Abgrenzung gegenüber anderen Epochen sowie die möglichen Werthaltungen, die sich mit der Entstehung dieses spezifischen Epochenverständnisses verbinden, aufgezeigt und analysiert werden. Dadurch lassen sich sowohl die Bilder einzelner Wissenschaftsdisziplinen (Alte Geschichte, Klassische Archäologie, Klassische Philologie, Ur- und Frühgeschichte, Kunstgeschichte) stärker voneinander abheben als auch national geprägte Geschichtsbilder leichter charakterisieren. Auf dieser Grundlage können deren Genese sowie zeitbedingte Veränderungen beispielsweise als Ideologie, national geprägte Vorstellungen, wissenschaftlicher .Fortschritt' oder auch als Modererscheinungen erkannt werden. Es versteht sich von selbst, daß eine derartige Fülle von Fragestellungen nur im Kontext einer Langzeitperspektive und nicht im Rahmen eines einzigen Kolloquiums angegangen werden konnte. Trotzdem war es wichtig, bei der im November 2001 in Innsbruck durchgeführten Tagung ein möglichst breites Feld an Einzelproblemen anzugehen, um eine Standortbestimmungen vorzunehmen und weitere Perspektiven zu entwickeln. Als Leitthema wurde die Betrachtung innergriechischer Phänomene im Lichte eines breiteren Blickwinkels, der auch die Levante miteinbezog, gewählt. Interne Entwicklungen sollten von externen Impulsen schärfer abgegrenzt werden und dadurch ein präziseres Bild einzelner Phänomene gewonnen werden. Gleichzeitig schien es ratsam, von vornherein auch theoretische und wissenschaftsgeschichtliche Aspekte mit aufzunehmen. Auf dieser Grundlage er9
Vgl. z.B. G . W . Most, Zur Archäologie der Archaik, in: Antike und Abendland 35 (1989) 1 - 2 3 .
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gaben sich die den vorliegenden Band gliedernden drei Blöcke ,Theoretische Aspekte', E n t w i c k l u n g e n in Griechenland' und ,Externe Impulse', die im folgenden etwas näher beschrieben werden sollen. Den ersten Block ,Theoretische Aspekte' eröffnet JONATHAN HALLS Studie ,Culture, Cultures and Acculturation'. Hall exemplifiziert das Problem der Begriffsverwendung dadurch, daß er die unterschiedlichen Abgrenzungen des Begriffs ,Kultur' analysiert. Indirekt - das wird allein schon die folgende kurze Skizze zeigen, das wird aber auch durch die Ausführungen von Robert Rollinger deutlich - wird dabei auch der Begriff .Griechische Archaik' relativiert. Hall bezieht sich auf den bekannten Sachverhalt, daß seit dem 19. Jahrhundert eine Vielzahl an Versuchen gemacht wurde, ,Kultur' als Begriff inhaltlich festzulegen, ohne daß bis in die Gegenwart Einigkeit darüber zustande gekommen wäre. Vor diesem Hintergrund werden drei, von M. L. West, W. Burkert und J. Boardman stammende, konkrete Festlegungen von ,Kultur' skizziert. Die Unterschiedlichkeit dieser Definitionsversuche sieht Hall in ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Herkunft bedingt. Der in der Definition von West enthaltene Gedanke eines evolutiven Prozesses, innerhalb dessen Kunst, Handwerke und täglicher Komfort nach dem Westen gelangen, läßt sich auf Ε. B. Tylor und über ihn weiter zur Aufklärung des 18. Jh. und schließlich bis zu Cicero zurückführen. Hall weist auch auf den wertenden Charakter des Begriffs hin, daß nämlich in diesem Gedanken die westliche Welt mit ihrem Kanon an wertvollen Produkten der Kultur, insbesondere der heroic poetry als Maßstab fungiert, und daß Kultur als die Möglichkeit betrachtet wird, Technologie und Materialismus abzuwehren. Die Definition von W. Burkert ordnet Hall in eine ähnliche intellektuelle Tradition ein, allerdings trägt der Begriff pluralistische Züge, insofern Kultur allen menschlichen Gruppen zukommt. Hall zieht eine Linie zum Begriffsverständnis der deutschen Romantik. J. Boardman steht in dieser Hinsicht Burkert nahe, wobei bei ihm Kultur auch mit archäologischer Kultur gleichgesetzt wird. Ungeachtet ihres divergierenden Kulturbegriffs lassen M. L. West, W. Burkert und J. Boardman ein ähnliches Verständnis von Akkulturation bzw. Kulturkontakt erkennen. Es besteht in der Vorstellung, daß ein direkter Kontakt von Kulturen zu Änderungen in der - postulierten - originalen Kultur führt. Obwohl keine klare Grenze zwischen Kulturkontakt und Assimilierung gezogen wird, werden klaren Angaben über die Richtung gemacht, in welche die kulturelle Beeinflussung gehen soll: in jedem Fall von einer höherstehenden zu einer niedriger stehenden Kultur - eine offensichtliche Wertung, wie sie sich auch bei dem Ethnologen B. Malinowski in der Einschätzung von Kulturen als aktive und passive findet. Mit diesem letzten Hinweis ist ein Argumentationsstrang angedeutet, der für die Studie grundlegend ist. Hall kann zeigen, daß die in den Altertumswissenschaften verwendeten Kulturbegriffe auf der in den frühen 20er Jahren des 20. Jahrhunderts dominanten anthropologischen Theorie beruhen, ohne daß spätere derartige Überlegungen von den Altertumswissenschaften noch berücksichtigt worden wären. 1 0 Den Begriff Kultur ohne diese Argumenta-
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Dieser von J. Hall festgehaltene Sachverhalt der Fundierung des Begriffs in der Theorie der Zwischenkriegszeit hat auch für viele andere in der Altertumswissenschaft wie selbstverständlich gebrauchte Begriffe Gültigkeit; vgl. dazu auch Ch. Ulf, Die Vorstellung des Staates bei Helmut Berve und seinen Habilitanden in Leipzig: Hans Schaefer, Alfred Heuß, Wilhelm Hoffmann, Franz Hampl, Hans Rudolph,
Einleitung
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tionen zu definieren, erscheint aber nicht zielführend. In Konsequenz dieses Gedankens skizziert Hall daher Grundzüge der Diskussion um den Kulturbegriff in der Anthropologie von den 40er Jahren bis in die Gegenwart. Er hebt einerseits wichtige Punkte aus dieser Diskussion heraus, verweist aber andererseits auch auf nicht ganz offen liegende Zusammenhänge. Damit ist ζ. B. die Verbindung der Kulturökologie von L. White und J. Steward mit der new bzw. der processual archaeology L. Binfords in den 60er Jahren gemeint. Damit ist aber auch die idealistisch orientierte - sich auf M. Weber stützende - Reaktion auf diese Richtung durch T. Parsons gemeint, von der sich eine Linie zu C. Geertz und von dort bis in die 80er Jahre zu I. Hodder, also der postprozessualistischen symbolic anthropology ziehen läßt. Hall verweist darauf, daß für die neue Generation von Kulturanthropologen in den 80er Jahren, die unter dem Einfluß der Theorie von Pierre Bourdieu steht, der Kulturbegriff seine Kohärenz verloren hat. Das hat zur Folge, daß die Vorstellung von „culture areas" nicht mehr anwendbar erscheint und daß sich die Frage stellt, ob die Bestimmung von Phänomenen, die fur eine Kultur typisch sein sollen, mehr als nur eine subjektive Festlegung sein kann? Das Problem wird dadurch fundamental, weil sich parallel dazu der ehemals angenommene Zusammenhang von Kultur und Volk ebenfalls aufgelöst hat und gleichzeitig die aus kolonialen Zeiten stammende Blickrichtung nicht mehr Geltung beanspruchen darf, daß eine abgeschlossene Kultur eine andere gleich geartete beeinflußt. Hall zieht aus dieser Situation eine klare Konsequenz. „Classicists" müssen zwar nicht mit der anthropologischen Diskussion Schritt halten, aber sie sollten auch nicht ohne Gründe die in der Anthropologie formulierten theoretischen Ansätze zurückweisen. Statt dessen sei es besser, ihre Brauchbarkeit am antiken Material zu testen. Den Test beginnt Hall mit der Überlegung, ob Griechen - insbesondere der archaischen Zeit - den modernen Begriff,Griechische Kultur' akzeptiert hätten. Denn er beruht auf der Zuordnung von bestimmten Artefakten aus der Ägäis zu dem, was wir als griechische Sprache, Glaubensvorstellungen, Ideen, Praktiken und Institutionen ansehen. Dieser Art von ,präexistentem' Kulturbegriff gegenüber geht Hall davon aus, daß es in archaischer Zeit keine „Greek society" gegeben und daß sich eine griechische Identität endgültig erst in klassischer Zeit ausgebildet hat. Er demonstriert das an zwei Beispielen. Die mit Sappho verbundene Habrosyne ist nicht, wie man beinahe allgemein meint, ein früher Beleg für die Orientalisierung der Griechen. Das aus zwei Gründen nicht. Erstens ist es irreführend, Sappho als frühe „spokeswoman" der griechischen Kultur anzusehen. Zweitens ist Sappho nichts anderes als ein Teil einer engen Verbindung zwischen Lesbos, anderen ionischen Städten und Lydien, die sich in einem „network of symbols" ausdrückt. Diese Art von Kultur ist nicht mit unserer „unitary conception of Greek culture" zu identifizieren. Hall ergänzt dieses Beispiel mit dem häufiger zitierten des Imports griechischer Artefakte in Etrurien. Es wäre falsch zu behaupten, daß die Etrusker das ,wahre' „original meaning" nicht verstanden hätten. Die Etrusker haben die Gegenstände, die seit jeher mehrere Bedeutungen besaßen, mit einer neuen versehen. Der von Michael Dietler bezogene Vergleich mit der Coca Cola Flasche, die an verschiedenen Stellen der Welt ganz unterschiedliche Bedeutungen hat, illustriert den Vorgang eindringlich.
in: P. W. Haider/R. Rollinger (Hg.), Althistorische Studien im Spannungsfeld zwischen Universal- und Wissenschaftsgeschichte. FS Franz Hampl zum 90. Geburtstag, Stuttgart 2001, 378-454.
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Robert Rollinger/Christoph
Ulf
Hall wagt schließlich eigene neue, Widersprüche vermeidende Definition von Kultur. Er geht davon aus, daß Kultur erst dann, wenn die uns umgebenden Symbole für strategische Ziele benützt werden, in der sozialen bzw. durch die soziale Praxis existent wird. Kultur wird somit zur „reification of ideas, beliefs, values ... for the purposes of creating exclusionary distinctivness". Der in den Altertumswissenschaften verwendete Begriff g r i e c h i sche Kultur' erweist sich unter solchem Blickwinkel als moderne Reifikation zum Zweck der Abgrenzung von Untersuchungsbereichen und Fächern - zumindest bei dieser letzten Feststellung müßte das Interesse eines jeden geweckt sein. Das, was Hall im systematisierenden Längsschnitt für den Begriff Kultur durchgeführt hat, wird im zweiten Beitrag in wissenschaftlichgeschichtlicher Focussierung auf den Begriff Politik vorgeführt. CHRISTOPH ULF ,Die Instrumentalisierung der griechischen Frühzeit. Interdependenzen zwischen Epochencharakteristik und politischer Überzeugung bei Ernst Curtius und Jakob Burckhardt' beschäftigt sich mit zwei Klassikern der Altertumswissenschaften, deren historische Konzeptionen nach wie vor - wenn auch in unterschiedlichen Brechungen - Resonanz finden. Ulf geht es darum, die Begriffswelt des Autors, seine Vorstellungen von Geschichte und die von ihm verwendeten Prämissen offenzulegen und damit sein Verständnis des p o l i t i s c h e n ' erkennbar zu machen. Dabei verwendet er für beide Autoren ein analoges Analyseraster. Zunächst wird die chronologische Gliederung des historischen Raumes vorgeführt. Während Curtius zwischen Vorgeschichte und Geschichte differenziert und letztere mit dem h e roischen Staat' eine ideale Monarchie und ihren Höhepunkt erreicht, präsentiert Burckhardt ein dreistufiges Lebensalterkonzept, das zwischen Kindheit, Jugend und Alter differenziert. Anschließend isoliert Ulf das Begriffsinstrumentarium der Autoren. Dabei fällt ein jeweils schwammiges Begriffsverständnis auf. Curtius operiert mit den Kategorien, Nation, Volk und Stamm. Er zeigt einen ausgesprochenen geographischen Determinismus verbunden mit einem statischen Kulturbegriff, wobei sowohl der Religion als das Wesen einer Kultur widerspiegelndem Faktor als auch dem Wettkampf als unverwechselbarer Note griechischen Wesens eine besondere Rolle zukommen. Auch für Burckhardt gewinnen Volk und Rasse als wesensmäßige Komponenten entscheidendes Gewicht. Dazu gesellt sich eine organologische Vorstellung des Volkskörpers, der als Individuum, ausgestattet mit vererbbaren Eigenschaften, gedacht wird. Die Griechen werden als bevorzugte Volksgruppe dargestellt, ausgezeichnet durch die Fähigkeit, die eigene Seele zu entfalten, Freiheit und Maßhalten miteinander zu verknüpfen - eine Fähigkeit, die sich nicht zuletzt im Agonalen offenbare. Das Ideal des Staates sieht er in den aristokratischen Republiken des agonalen Zeitalters verwirklicht. In einem weiteren Abschnitt beleuchtet Ulf die Begriffe als Teil der jeweiligen historischen Methode. Auch hier ist eine auffallende Unscharfe beider Autoren unverkennbar. Curtius operiert mit einem statischen Modell, das von der Spezifik der Griechen, einer wesensmäßigen Begabung, die in Mythos und Sage ihren Ausdruck findet, ausgeht und das den idealen Staat am Beginn der Geschichte piaziert. Historische Veränderungen werden als ,Gärungen' negativ klassifiziert. Burckhardt geht von einem Gegensatz Materie - Geist aus und hält letzteren für eine unvergängliche Kategorie. Die kulturgeschichtliche Methode stellt es sich zur Aufgabe, diesen in der Geschichte wirksamen Geist zu schauen, wobei rational-analytische Kriterien keine Rolle spielen. Der Kulturhistoriker hat Anteil am Weltgeist und erfaßt diesen als eigenständige Kraft. Das griechische Volk gewinnt seine beson-
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d e r e B e d e u t u n g durch dessen geistige Orientierung, die es m e h r als j e d e s a n d e r e Volk A n teil an diesem Weltgeist haben läßt. Schließlich analysiert U l f den auf dieser Basis entwickelten Politik-Begriff. C u r t i u s ' politische W e l t ist ständisch-konservativ. Eine b e s o n d e r e N ä h e z w i s c h e n G r i e c h e n und Deutschen wird u n v e r k e n n b a r . D a s Ideal d e r M o n a r c h i e und die Einheit des V o l k e s sind ein Reflex
zeitgenössischer
politischer
Konzeptionen.
Individualisierung,
Kolonisation
und
S t ä d t e w e s e n w e r d e n vor diesem H i n t e r g r u n d e b e n s o negativ bewertet wie d e m o k r a t i s c h liberales Parteiengezänk. D e m g e g e n ü b e r entfaltet B u r c k h a r d t ein anderes, aber e b e n s o in seiner Zeit v e r w u r z e l t e s Politik-Verständnis. Die Politik h a b e d a r a u f zu achten, Geist und G e s c h e h e n im E i n k l a n g zu halten, w a s B u r c k h a r d t allerdings nur einmal verwirklicht sah, nämlich im agonalen Zeitalter. Dabei spielen Geblüt und Individualität eine b e s o n d e r e Rolle. Die negativen E n t w i c k l u n g e n der n a c h - a g o n a l e n E p o c h e decken sich mit j e n e n der eigenen Zeit. Ä h n l i c h wie Curtius wird dabei ein antiliberales und a n t i d e m o k r a t i s c h e s PolitikV e r s t ä n d n i s ausgebreitet. In einem a b s c h l i e ß e n d e n R e s u m e stellt Ulf die beiden A u t o r e n n o c h m a l s e i n a n d e r geg e n ü b e r und verankert ihre Positionen in j e n e r G e d a n k e n w e l t , mit der das B ü r g e r t u m in der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts auf die V e r ä n d e r u n g e n seiner Zeit reagierte. BIRGITTA E D E R
nische
Krieg
lenkt in ihrer A b h a n d l u n g ,Antike und moderne Mythenbildung:
und die historische
Überlieferung'
Der Troia-
die G e d a n k e n auf die Ü b e r l e g u n g , wie hi-
storische Realität, die W i e d e r g a b e dieser Realität und die B e n ü t z u n g dieser w i e d e r g e g e b e nen Realität in d e r A n t i k e und in der M o d e r n e m i t e i n a n d e r in V e r b i n d u n g stehen. O h n e das explizit zu m a c h e n , geht Eder von einem - von der Archaik aus g e s e h e n - in der V e r g a n genheit liegenden, wie auch i m m e r gearteten troianischen Krieg als historischem B e z u g s p u n k t aus. D a s Anliegen der Studie ist die historische G e w i c h t u n g der v e r s c h i e d e n e n Z u g ä n g e zu d i e s e m Krieg und die Frage, w e l c h e Rolle dabei der antike wie der m o d e r n e , M y t h o s ' spielten. In V e r b i n d u n g mit d e m antiken M y t h o s betont Eder dessen Funktion der B e w a h r u n g v e r g a n g e n e r Taten f ü r k ü n f t i g e G e n e r a t i o n e n e b e n s o wie dessen in der A n t i k e g e l t e n d e E i n s c h ä t z u n g als T r ä g e r historischer Information. Die I lias - als M y t h o s g e s e h e n kann a u f diese W e i s e als der Beginn der griechischen G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g betrachtet w e r den. Innerhalb des u m f a s s e n d e r e n G e f l e c h t s der griechischen M y t h e n wird der troianische Krieg - z w a r variabel, aber doch - chronologisch festgelegt. In der A r c h ä o l o g i e liegt eine K o n t r o l l m ö g l i c h k e i t f ü r die Qualität des . G e d ä c h t n i s M y t h o s ' . A u s d i e s e m
Gedächtnis
scheinen die durch die A r c h ä o l o g i e zu historischem Leben e r w a c h t e n Dark A g e s getilgt w o r d e n zu sein; Eder ü b e r n i m m t den A u s d r u c k „ v e r g e s s e n e J a h r h u n d e r t e " . A n g e s i c h t s des in der griechischen „ E r i n n e r u n g " v o r h a n d e n e n grundsätzlichen K o n t i n u u m s wird eine G e gensätzlichkeit z w i s c h e n M y k e n e und H o m e r als m o d e r n e Projektion abgelehnt. Der kontinuierliche Strom der m ü n d l i c h e n Tradition, von dessen Existenz Eder ausgeht, hätte eine solche O p p o s i t i o n in der griechischen Perspektive nicht erlaubt. Den konkreten N a c h w e i s , in w e l c h e r W e i s e sich diese Kontinuität realisiert habe, hält E d e r als eine A u f g a b e f u r die F o r s c h u n g der Z u k u n f t fest. Insgesamt rechnet E d e r mit einer Vielzahl v o n Traditionslinien, vermittelt durch Sänger, w e l c h e sich im 10. und 9. Jahrhundert, einer Zeit intensiver K o n takte, zu einem Kern verdichtet hätten. Denn hier hätte es Sinn gehabt, die I lias zu einem „ G e s c h i c h t s b u c h " zu m a c h e n , um so Identität zu g e w i n n e n . Die Identitätsfrage wird also in a n d e r e r W e i s e als von Jonathan Hall beantwortet.
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Robert Rollinger/Christoph
Ulf
Die Studie von Lukas THOMMEN ,Der spartanische ,kosmos' und sein , Feldlager' der ,homoioi'. Begriffs- und forschungsgeschichtliche Überlegungen zum Sparta-Mythos' läßt sich geradezu als eine praktische Umsetzung der den theoretischen Aspekt in den Vordergrund stellenden Studie von Jonathan Hall lesen. Thommen schaut nicht hinter einen allgemeinen Begriff wie Hall oder auch Ulf, sondern hinter einige vergleichsweise konkrete Bilder, welche die modernen Vorstellungen von Sparta prägen. An dem Beispiel der agoge, dann an den homoioi, dem kosmos, dem Feldlager, den Syskenien und schließlich der Blutsuppe zeigt er auf, wo diese Bilder verankert sind und welchem Interesse sie ihre Entstehung verdanken. Der erste Hinweis auf die späte Entstehung aller dieser Bilder findet sich darin, daß die Vorstellung der Agoge als einem umfassenden, militärisch orientierten Erziehungssystem erst von Polybios mit Sparta verbunden wurde. Thommen verweist auf die jüngere Erkenntnis, daß eine derartige Agoge erst von Kleomenes III., in der 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts kreiert wurde, der mit der Hilfe des stoischen Philosophen Sphairos von Borysthenes neue „Ordnungsmaßstäbe" fur Sparta schaffen wollte. Um Autorität für das Vorhaben zu erhalten, wird diese auf Lykurg zurückgeführt. Diesem Element der spartanischen Traditionsbildung, so Thommen weiter, ist die moderne Wissenschaft aufgesessen. Diese Erzeugung von Bildern - im Gedankengang von J. Hall: von Symbolen, die erst in der sozialen Praxis real werden - wird dann an den anderen schon genannten in Begriffen gefaßten Bildern vorgeführt. In den homoioi sieht Thommen, ausgehend von den Anspielungen auf die Spartaner als homoioi bei Herodot und Thukydides, ein mögliches revival eines alten gemeingriechischen Gleichheitsprinzips, als infolge des großen Erdbebens in den 460er Jahren „eine verstärkte militärische Einbindung - aber auch ideologische Abgrenzung - der Periöken" in den „Militär- und Bürgerverband" notwendig wurde. Der erstmals von Κ. O. Müller auf Sparta prozjizierte Begriff kosmos, erst ab H. Berve breit akzeptiert, hatte im antiken Verständnis ein weites Bedeutungsfeld. Thommen lokalisiert die Bedeutung von kosmos als göttliche Schöpfung im 4. Jahrhundert (Piaton, Timaios) und hält das für „die entscheidende Etappe in der Verehrung des spartanischen Staates", worauf das Lob Plutarchs für die lykurgische Ordnung zurückzuführen sei. Findet Thommen für homoioi und kosmos konkrete antike Anknüpfungspunkte, so entspringt das Bild von Sparta „als permanentem .Feldlager'" beinahe ausschließlich dem wissenschaftlichen Rückblick ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Der von Piaton und Isokrates gezogene Vergleich der spartanischen Verfassung mit einem Heerlager bietet dafür keine Basis, und bei Plutarch ist nur vom Übernachten auch der Spartiaten zwischen dem zwölften und dreißigsten Lebensjahr bei ihren Kameraden die Rede, woraus Thommen den Schluß zieht, daß der Großteil der Spartiaten ein geregeltes Familienleben geführt haben muß. Auch für die Existenz der Syskenien kann man sich zwar auf Plutarch berufen, doch ist auch diese Passage auf Sphairos zurückzuführen. Das bedeutet, daß sich diese Vorstellung wie die der Agoge der retrospektiven Konstruktion einer vorbildhaften lykurgischen Ordnung verdankt. Die Blutsuppe, die seit der frühen Neuzeit als spezifisch spartanisches Gericht gilt, ordnet Thommen einerseits in die allgemein in Griechenland vorhandene Gewohnheit ein, Fleisch in Blut zu kochen, und andererseits in die schon im 5. Jahrhundert v. Chr. in Athen auftretende Tendenz, Sparta, den Sieger im peloponnesischen Krieg, als nachahmenswertes Vorbild zu betrachten, das sich den angeblichen Verfallserscheinungen im eigenen Staats-
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gebilde gegenüberstellen läßt. Und damit ist auch das grundlegende Interesse benannt, das fur das Entstehen all dieser Bilder zu verschiedenen Zeiten verantwortlich zu machen ist. Unter dem Titel ,Kampf der Mentalitäten? Ian Morris' „ elitist-" versus „middling-ideology"' eröffnet Erich KISTLER den zweiten Block Entwicklungen in Griechenland'. Dabei beleuchtet er den inzwischen bekannt gewordenen Versuch des Klassischen Archäologen Ian Morris, den Altertumswissenschaften aus ihrer Modernisierungskrise herauszuhelfen. Denn - so Morris - das ,klassische' Menschenbild sei durch den „Konstruktivismus der Postmoderne" und durch „die interkulturelle(n) Diskurse in einer zunehmend globalen Ö f f e n t l i c h keit'" erschüttert worden. Morris schlägt als Gegenstrategie Vorgehensweisen vor, welche in dem wissenschaftsgeschichtlichen Überblick von J. Hall unter dem Stichwort symbolic anthropology aufscheinen. Es soll, so wie das Ethnologen tun, an die Griechen der Blick von außen angelegt werden, und man soll sich von einem historisch-anthropologischen Erkenntnisinteresse leiten lassen, das von gegenwärtig aktuellen Fragen ausgeht. Als Grundauffassung von Morris darf die These gelten, daß aus der Konkurrenz zweier I d e o l o g i e n ' , der „elitist-ideology" und der „middling-ideology", bzw. aus dem Unterliegen der ersteren in Griechenland die Demokratie hervorgehen konnte. An dieser These, noch mehr: an ihrer versuchten Absicherung in den literarischen und archäologischen Quellen, ist mit guten Gründen schon einige Kritik geübt worden. Kistler ergänzt und erweitert diese Argumentationen vorerst durch die konkrete Nachprüfung von zentralen archäologischen Befunden. Das sogenannte Fürstengrab im Heroon von Lefkandi reiht Kistler in ein von mittelhelladischer bis in spätklassisch-makedonische Zeit nachzuweisendes Verhalten „der Bankettdarstellung am Grab" ein. Er nimmt damit dem in Lefkandi bestatteten ,Heroen' nicht nur in der diachronen, sondern auch in der synchronen Perspektive seine Besonderheit. Die Beigabenkombination „Krater, Hieb- (bzw. Stich) waffe, Speerspitze und Schleifstein" findet sich auch in zeitlich nur wenig jüngeren Brandbestattungen der Toumbanekropole. Diese Sitte ordnet Kistler in den Kontext einer „Gründung der Bestattungskultur einer Deszendenzgruppe" ein. Darüber hinaus verweist Kistler auf die Nähe der Bestattungen in der Toumbanekropole zu attischen Bestattungsformen, die schon in SH III C (Mitte) in Perati erkennbar sind. Das Heroon von Lefkandi repräsentiert nach Kistler eine weiter verbreitete elitäre Bestattungskultur, ist also nicht exzeptionell. Kistler problematisiert auch die von Morris dem Heroon gegenübergestellte, angeblich bescheidenere Inhumation als Reflex der „middlingideology". Inhumation erscheint - anders als Morris behauptet - schon vor 800. Und Inhumation erscheint auch in Gräbern, die auf jeden Fall als Gräber von Reichen anzusehen sind, wie unter anderen im sogenannten Isis-Grab in Eleusis oder in Gräbern in Athen in der Kerameikosnekropole oder auf der Agora. Kistler hält zurecht fest, daß derartige von der f o r malen' Archäologie feststellbare ,Unstimmigkeiten' in der eigenen Argumentation auch dann nicht marginalisiert werden dürfen, wenn sie vom Standpunkt eines weite Zeiten erfassenden anthropologischen Blicks aus betrachtet an Bedeutung scheinbar verlieren. Gleichsam zur Unterbauung dieses kritischen Ansatzes geht Kistler ausführlich auch noch auf das von Morris benützte „strong principle of equality" von Robert Dahl ein. Kistler betont, daß die Kenntnis des für dieses Prinzip charakteristischen arithmetischen Gleichheitsdenkens bei Aristoteles (pol. 1318 a 3 - 9 ) oder Isokrates (or. 4, 105) den Gedanken der geometrischen Gleichheit nicht außer Kraft setze. Denn immer gilt der Wert des Menschen
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Ulf
als Maßstab für die proportionale Verteilung, auf der die Gerechtigkeit beruht. Daraus folgt aber, daß das „strong principle of equality" nicht aus dem Denken der „middling-ideology" hervorgegangen sein kann. Zum Nachweis der Verbindung von „metrios-Ideologie" und der Vorstellung der geometrischen Gleichheit werden nicht nur Piaton, Aristoteles oder Isokrates zitiert, sondern wird ausfuhrlich auch auf die homerischen Epen, Hesiod und die Lyriker der archaischen Zeit zurückgegriffen. Trotz dieser Kritik an Morris' These erlaubt dessen antagonistisches Erklärungsmodell so Kistler - Einblicke in Phänomene des archaischen Lebens, die andernfalls unbeachtet bleiben würden. Dies versucht Kistler abschließend an dem Gegensatz der Darstellung von liegenden Symposiastenfiguren als Ausdruck der „metrios-Ideologie" zu den Figuren thronender Potentaten, wie sie in Heiligtümern gestiftet wurden, deutlich zu machen. Eine wichtige Stellungnahme zur Diskussion, wie der Bevölkerungsanstieg in den Dark Ages und der archaischen Zeit einzuschätzen ist, bietet W A L T E R SCHEIDEL , Gräberstatistik und Bevölkerungsgeschichte: Attika im achten Jahrhundert1,. Die Studie ist als ein Teilprodukt der am Workshop vorgetragenen umfassenderen demographischen Beurteilung des genannten Zeitraums anzusehen. Gegenüber den Überlegungen von Anthony Snodgrass, Ian Morris, Robert Sallares, David Tandy und Robin Osborne hält Scheidel mit überzeugenden Argumenten fest, daß es unwahrscheinlich ist, „daß Gräberstatistiken demographische Prozesse widerspiegeln". Er hält sie deshalb für ungeeignet, auf ihnen quantitative Schätzungen „realer Bevölkerungsschwankungen" aufzubauen. Das wird von Scheidel durch die Analyse jener modernen Analogien belegt, die für jede demographische Aussage über die Antike herangezogen werden müssen. Denn sie sind entweder Spezialfälle der „demographic transition" in Entwicklungsländern der jüngeren Vergangenheit oder beziehen sich auf neubesiedelte Regionen im kolonialen und postkolonialen Nordamerika. Die Bedingungen für die Zuwachsraten in traditionalen Gesellschaften von ca. 3 Prozent stellen keine Analogie dar, weil der hierfür nötige „Zustrom externer medizinischer und wissenschaftlicher Errungenschaften" nicht gegeben war. Die für Attika in den Dark Ages anzunehmende dünne Besiedlung ist nicht mit einer längeren Kontraktion historischer Bevölkerungen gleichzusetzen. Und selbst wenn man das tun wollte, dann könnte man nach den Vergleichsbeispielen nur mit Zuwachsraten zwischen 0,25 und 0,3 Prozent rechnen. Dies liegt nicht nur unter den von Snodgrass angenommenen Zuwachsraten, sondern auch deutlich unter denen, wie sie Sallares und Tandy vertreten. Scheidel erinnert zudem daran, daß aus dem antiken Griechenland keine neuzeitlichen Statistiken vergleichbare Daten vorliegen. Abschließend führt er noch am Beispiel der Gräberbefunde aus, daß diese ebensowenig wie die Siedlungsbefunde konkrete Rückschlüsse über demographische Veränderungen zulassen. Der Grund liegt in der bekannten Tatsache, daß die archäologischen Befunde weitgehend Zufallsfunde sind und kein zeitliches Kontinuum widerspiegeln. Als ein Beispiel für eine derartige in die Irre führende Schlußfolgerung hebt Scheidel die für die Diskussion wichtige plötzliche Zunahme der Kindergräber in der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts hervor, die als Beleg für einen Bevölkerungsanstieg angeführt wurde. Denn bei dem postulierten plötzlichen Bevölkerungszuwachs müßte auf eine steigende Zahl an Kindergräbern eine ebenso anwachsende Zahl an Erwachsenengräbem folgen. Doch der archäologische Befund belegt genau das Gegenteil. Die Deutung des Befundes mit der Veränderung von Bestattungsgewohnheiten hält Scheidel daher für die wahrscheinlichste.
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Wie Scheidel am Workshop ausführte und von ihm an anderer Stelle weiter ausgeführt werden wird, „legen probabilistische Schätzungen" für den Bevölkerungszuwachs zwischen den Dark Ages und der klassischen Zeit J ä h r l i c h e Durchschnittsraten von etwa 0,3 oder 0,4 Prozent nahe." Von diesen Zahlen, nicht von einer Bevölkerungsexplosion wird man in allen Überlegungen zur griechischen Archaik künftig auszugehen haben. ECKHARD WIRBELAUER wendet sich mit seinem Aufsatz ,Eine Frage von Telekommunikation? Die Griechen und ihre Schrift im 9.-7. Jahrhundert v. Chr.' einem zentralen Aspekt der internen Entwicklungen der griechischen Kultur in der Zeit zwischen den ausgehenden Dark Ages und der frühen Archaik zu. Seine Untersuchung erfährt eine pointierte Nuancierung durch den Umstand, daß weniger nach Zeit, Ort und Art der Schriftübernahme gefragt, sondern der Zweck, das . W a r u m ' und , W o f ü r ' des frühen Schriftgebrauchs ins Zentrum der Betrachtung gerückt wird. Zunächst gibt Wirbelauer einen Überblick über die von der bisherigen Forschung zusammengetragenen Ergebnisse. Dabei geht er vorsichtig von einer Schrifterfindung in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts v. Chr. aus, die er einem griechisch-sprachigen Erfinder zuweist, der in Kontakt mit den im nördlichen Syrien verwendeten Alphabetschriften stand. Von dieser Ausgangsbasis wendet sich Wirbelauer seiner eigentlichen Fragestellung zu, die von der bisherigen Forschung kaum Beachtung fand. Er setzt α priori einen ursprünglich vorliegenden pragmatischen Zweck voraus, zu dessen Bestimmung er sich der abstrakten Ebene der modernen Textwissenschaften bedient. Verschriftlichung bedeutet in diesem Kontext eine Dissoziierung der Sprechhandlung, die über zwei Dimensionen erfolgen kann. Einer räumlich-kommunikativen Ebene, die eine Zerdehnung der Sprechhandlung impliziert, steht eine ortsgebunden-fundierende Ebene gegenüber, die eine Verdauerung zur Folge hat. Wirbelauer versucht nun, dieses Modell auf die frühen Schriftzeugnisse anzuwenden, deren relevante Zeugnisse diskutiert und analysiert werden. Als Gemeinsamkeiten der frühen Inschriftenzeugnisse, von denen vor 650 jene auf Keramik dominieren, hält er deren auf die Mitteilung eines Sachverhalts konzentrierte Kürze und Unmittelbarkeit sowie spezifische Eigentümlichkeiten fest. Dazu zählt Wirbelauer besonders die jeweils lokalen Alphabetvarianten, die die Verbindungen zwischen Metropolis und Apoikie erkennen lassen. Letzteres ist für ihn ein zentraler Aspekt im Verständnis der frühen Schriftzeugnisse, ließe sich dadurch doch ohne weiteres die Herkunft des Schreibers markieren. Aus diesen Beobachtungen sowie aus der Tatsache, daß ein beträchtlicher Teil des Inschriftenmaterials aus Unteritalien stammt, und der Erkenntnis, daß im Rahmen der frühen Schriftzeugnisse kaum Steininschriften vertreten sind, schließt Wirbelauer auf die Bedeutung der Nachrichtenübermittlung über große Distanzen und somit auf den Zweck des Schriftgebrauchs. Als zentrales Ergebnis seiner Untersuchung hält er fest, daß dabei die räumliche Dimension der Dissoziierung im Vordergrund stand, während die fundierende Verdauerung erst später mit der Verschriftlichung von Gesetzestexten hinzutrat. Aus dieser Beobachtung faßt Wirbelauer auch den frühen Benutzerkreis des Schriftsystems ins Auge, der sich keineswegs auf Händler und deren Handelsinteressen beschränkt, sondern als lokales auf das Alphabetsystem abzielendes Erkennungsmerkmal vielmehr dem Kontakt zwischen Heimat und Fremde gedient habe. Wirbelauer begnügt sich jedoch nicht mit dieser Erkenntnis, sondern bezieht abschließend auch die homerischen Epen mit in seine Überlegungen ein. Die Verschriftlichung derselben erklärt er sich aus der panhellenischen Perspektive des Autors, der die Verbreitung seines Werkes beabsichtigt habe. Der Aspekt der Ver-
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Ulf
dauerung sei dem Dichter fremd. Diese sei erst ein Produkt der nach-epischen Entwicklung des 7. Jahrhunderts. Die moderne chronologische Gliederung der Archaik findet R E I N H O L D B l C H L E R ,Das chronologische Bild der ,Archaik' in der Historiographie der griechischen Klassik' schon bei Herodot und Thukydides grundgelegt. Um das deutlich machen zu können, unterscheidet er zwischen einer jüngeren Vergangenheit, die mit der Gegenwart des Autors in direktem Kontakt steht, und einer weiter zurückliegenden Vergangenheit, von der im Mythos berichtet wird. Damit ist jedoch nicht der „kategoriale Unterschied von Mythos und Geschichte" gemeint. Bichler betont einleitend auch die ungeheure Schwierigkeit, ohne eine gemeinsame Zeitrechnung die Perserkriege als chronologischen Fixpunkt zu benützen und noch mehr eine übergreifende chronologische Ordnung zu erstellen. Die jüngere Vergangenheit bei Herodot wird durch zwei chronologische Stränge repräsentiert: Die konkrete griechische Geschichte mit einem Zeitraum von nicht mehr als achtzig Jahren, beginnend mit Kroisos und Kyros und endend mit der Festsetzung der Griechen am Hellespont nach den Erfolgen von Plataiai und Mykale, und die Geschichte der Königshäuser in Ägypten und im Orient. Die Analyse beider Linien ergibt, daß trotz der Bezüge zu den ägyptisch-orientalischen Dynastien kein Ereignis der griechischen Geschichte vor dem ionischen Aufstand und kein Ereignis außerhalb Griechenlands vor dem Regierungsantritt des Kyros mit Herodot absolut zu datieren ist. Für die davor liegende Zeit ist - innerhalb von zwei bis drei Generationen - nur eine relative Chronologie möglich. Nur auf diese Weise sind die vor dem Einsetzen der kontinuierlichen Erzählung erscheinenden Einzelfiguren chronologisch fixierbar. Bichler betont, daß die jüngere Vergangenheit auch fur Athen und Sparta erst spät einsetzt. Die Grenze für die jüngere Vergangenheit in der „Archäologie" des Thukydides sieht Bichler durch die Angabe gesetzt, daß die „moderne" Seefahrt mit dem Bau der ersten Trieren rund 300 Jahre vor dem Ende des peloponnesischen Kriegs begonnen habe. Parallel dazu läßt Thukydides die erste Phase der griechischen Besiedlung im Westen ihren Anfang nehmen. Die im daran anschließenden Zeitraum genannten Figuren - die älteste ist Polykrates - werden so wie bei Herodot in das orientalische Herrschergefüge eingebunden. In der sizilischen Archäologie fungiert die Einwanderung der Sikeler als Bezugspunkt für die Gründung der griechischen Kolonien, ohne daß eine absolute Datierung möglich wäre. Dieser chronologischen ,Offenheit' entspricht, daß Thukydides von der Gründung dieser Städte weg keine durchgehende Geschichte bietet. Die weiter zurückliegende Vergangenheit ist bei Herodot durch das aus der mündlichen Tradition bekannte „floating gap" von der jüngeren Vergangenheit getrennt und hat den troianischen Krieg, eingerahmt durch die bekannten mythisch-sagenhaften Erzählungen, in ihrem Zentrum. In der Zeit der an den troianischen Krieg anschließenden Wanderungen lokalisiert Herodot nicht ohne Ironie und relativierende Äußerungen den Gegensatz von ,dorisch-ionisch' als Präfigurierung des Gegensatzes , Sparta- A then'. Zur Überbrückung der chronologischen Lücke des „floating gap" wird von ihm ansatzweise die spartanische Herrscherliste - sie ist nicht mehr als eine bis zu Herakles geführte genealogische Liste - benützt. Der chronologische Maßstab wird von Herodot jedoch nicht aus der griechischen Vergangenheit gewonnen, sondern aus Ägypten bzw. dem Orient. Die Griechen wie ihre Götter gelten gegenüber den Ägyptern als ,jung". Dabei kommt es jedoch zu etlichen Ungereimtheiten. Wichtig ist der Wider-
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spruch, der sich aus der Möglichkeit ergibt, mit Hilfe der ägyptischen Angaben die Zeit zwischen dem troianischen Krieg und Dareios zu berechnen. Denn die Rechnung nach Generationen zurück bis Proteus macht nur 560 bis 660 Jahre aus, während Herodot an anderer Stelle feststellt, daß der troianische Krieg 800 Jahre vor seiner Zeit stattgefunden habe. Bichler meint, daß die „novellistischen Königsgeschichten über Ägypten" nicht ausgereicht haben, das „floating gap" zu füllen. Ähnliches trifft für die spartanische Königsgenealogie zu, die in der Umrechnung auch nur 660 Jahre ausfüllt. Nur die Aneinanderreihung der Regierungszeiten der orientalischen Herrscher umfasst einen etwas längeren Zeitraum. Thukydides verfolgt in seiner Archäologie ein anderes Ziel als Herodot. Der Rückblick auf die ferne Vergangenheit dient nur der präzisierenden Abgrenzung seines Stoffes, unter anderem auch der Schärfung des Kontrastes von See- und Landmacht, also von Athen und Sparta. Auch fiir ihn steht der troianische Krieg im Zentrum, auf den er die beiden einzigen expliziten Daten bezieht: die Vertreibung der Böoter aus Arne 60 Jahre und das Vordringen der Herakliden auf die Peloponnes 80 Jahre nach der Eroberung von Troia. Zudem wird der Zeitraum zwischen dem troianischen Krieg und der Gegenwart durch die Datierung des Beginns der „alten" Verfassung in Sparta - vor 400 Jahren - halbiert. In der sizilischen Archäologie stellt Thukydides - wohl hauptsächlich von Antiochos von Syrakus bezogen - einen Abriß von Daten zusammen. Doch auch hier bleibt zwischen der Einwanderung der aus Italien vertriebenen Sikuler und der Gründung der griechischen Siedlungen so wie bei Antiochos eine ungefüllte zeitliche Lücke von 300 Jahren. Aus all dem zieht Bichler die Summe. Die untere Grenze der bei Herodot und Thukydides beobachtbaren Lücke zwischen der fernen und der jüngeren Vergangenheit deckt sich mit der modernen Festsetzung des Beginns der Archaik, weshalb Bichler bei den antiken Autoren die Konzeption eines bis zum Ende der Perserkriege reichenden „Prototyps" der Archaik formuliert sieht. Diese ist durch das Erscheinen eines neuen „Typus konzentrierter Macht" charakterisiert: durch eine neue Flottenpolitik und durch die Tyrannis. Zudem wird die Geschichte ,der Griechen' auf den Dualismus von Athen und Sparta reduziert - „eine Sehweise ... von der sich die Forschung nur zögernd löste". Der Beitrag von A S T R I D M Ö L L E R , Elis, Olympia und das Jahr 580 v. Chr. Zur Frage der Eroberung der Pisatis' schließt an Bichlers Überlegungen an, indem er die vielfältigen chronographischen Probleme an einem konkreten Fallbeispiel aufzeigt. Gleichzeitig wendet er sich den ethne zu und eröffnet damit einen größeren Themenbereich, der von Kurt Raaflaubs nachfolgenden Ausführungen zur Polis fortgesetzt wird. Ausgangspunkt von Möllers Überlegungen ist das Datum 580 v. Chr., das in der Forschung nach wie vor als wichtiges Epochendatum gilt, mit dem grundlegende Veränderung der Olympischen Spiele verknüpft werden (Einführung von 2 Hellanodiken, Verzeichnis der Olympioniken, penteterischer Charakter der Spiele, Verfassungswandel in Elis). Die Ursache für diese Reformen wird in einem angeblich endgültigen Sieg von Elis über Pisa und der damit verknüpften Übernahme der Spielaufsicht durch ersteres erblickt. Möller arbeitet im folgenden die äußerst schwache Quellenbasis für die Annahme dieser Veränderungen heraus. Dabei besteht der Kernbereich der Kritik in zwei grundlegenden Beobachtungen. Einerseits wissen erst die Quellen des 4. Jahrhunderts v. Chr. von einer Auseinandersetzung zwischen Elis und Pisa um die Agonothesie, wohingegen die Zeugnisse des 5. Jahrhunderts, wie Pindar und Herodot, darüber keine Informationen bieten. Andererseits weisen diese späteren Quellen eine Reihe
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von Widersprüchen auf, die sich k a u m in Einklang bringen lassen. Möller stellt in diesem Z u s a m m e n h a n g - wie dies partiell auch schon von der älteren Forschung vorgebracht worden ist - die Frage in den R a u m , ob die in die Archaik piazierten Auseinandersetzungen zwischen Pisa und Elis gar als Fiktion anzusehen sind und lediglich eine Projektion des f ü r das Jahr 364 v. Chr. bezeugten Konflikts in die Vergangenheit darstellen. Von dieser Problemstellung aus nähert sie sich der grundsätzlichen Problematik, seit w a n n die Pisaten als ethnisch-politische G r u p p e mit Anspruch auf ein Territorium angesehen werden dürfen. M ö l l e r zeigt im f o l g e n d e n , d a ß die V o r s t e l l u n g einer T r e n n u n g z w i s c h e n Elis und Pisatis tatsächlich erst im 4. Jahrhundert e r w u c h s . D a v o r gehörte die G e g e n d um O l y m p i a stets z u m elischen Staatsgebiet, das sich durch eine B ü n d n i s s t r u k t u r einzelner G e m e i n d e n mit s p e z i f i s c h e n Rechten auszeichnete. Für die Existenz einer pisatischen Identität vor d e m 4. J a h r h u n d e r t gibt es keine a u s r e i c h e n d e Quellenbasis. Diese a u f g r u n d der Ü b e r l i e f e r u n g s l a g e g e w o n n e n e Einsicht vertieft Möller, indem sie das Problem der pisatischen Identität abschließend unter j e n e n spezifischen G e s i c h t s p u n k t e n betrachtet, die nach m o d e r n e n Erkenntnissen als identifikationsstiftend a n z u s e h e n sind. O b A b s t a m m u n g s g e m e i n s c h a f t , Ethn o n y m , Sprache, materielle Kultur o d e r T r a d i t i o n s g e m e i n s c h a f t - die A n a l y s e weist stets in die gleiche Richtung: Die Pisatis w a r bis in das erste Drittel des 4. J a h r h u n d e r t s ein integraler Bestandteil von Elis. Eine vor diese Zeit r e i c h e n d e ethnische Identität ist wie d a s D a t u m 580 v. Chr. und die d a m i t v e r b u n d e n e n Ereignisse spätere c h r o n o g r a p h i s c h e K o n s t r u k t i o n . K U R T A. R A A F L A U B stellt in seinem Beitrag ,Zwischen Ost und West: Phönizische Einflüsse auf die griechische Polisbildung?' eine nicht nur in den letzten Jahren viel diskutierte Frage erneut in den Raum. Dabei greift er die unmittelbare Forschungsdiskussion auf, die inzwischen starke Sympathien f ü r die A n n a h m e eines phönizischen Einflusses aufweist. Raaflaub w e n d e t sich dabei spezifischen Problembereichen zu, die mit einer derartigen A u f f a s s u n g v e r k n ü p f t sind, wobei es sein erklärtes Bestreben ist, methodologische Schwierigkeiten aufzuzeigen und eine Basis für die zukünftige Beschäftigung mit der Thematik zu legen. A u s g a n g s p u n k t ist eine definitorische A b g r e n z u n g des Terminus ,Polis', den Raaflaub vornehmlich als Bürgergemeinde, ,citizen state' versteht und als in den Dark A g e s neu entstandene Errungenschaft a u f faßt. Raaflaub betont die tiefen Beziehungen mit der Welt der Levante in dieser Zeit, gibt j e d o c h zu bedenken, daß es bei staatlichen und gemeinschaftlichen Strukturen als k o m p l e x e n P h ä n o m e n e n besonderer Voraussetzungen f ü r eine mögliche Ü b e r n a h m e bedarf und eine solche kaum unverändert und ohne Adaptionen vor sich gegangen sein kann. Die j e w e i l s anderen sozialen und politischen Basisstrukturen müßten besonders berücksichtigt werden.
N a c h diesen grundsätzlichen B e m e r k u n g e n w e n d e t sich R a a f l a u b seiner eigentlichen F r a g e s t e l l u n g zu. Z u n ä c h s t wird die Struktur der p h ö n i k i s c h e n Polis nach politischen und ö k o n o m i s c h e n G e s i c h t s p u n k t e n vorgestellt. Dabei hebt R a a f l a u b unterschiedliche Sektoren hervor. Er betont die vergleichsweise geringe B e d e u t u n g der agrarischen W i r t s c h a f t , streicht die d o m i n i e r e n d e Rolle von Handel und Industrie heraus, hebt die Funktion des K ö n i g t u m s sowie die des von den f ü h r e n d e n H a n d e l s f a m i l i e n d o m i n i e r t e n Rates hervor und m a c h t auf den s c h a t t e n h a f t e n C h a r a k t e r der V o l k s v e r s a m m l u n g a u f m e r k s a m . Bei der zentralen F r a g e der G e w i c h t u n g dieser Sektoren schließt sich R a a f l a u b j e n e r A u f f a s s u n g an, die K ö n i g t u m und T e m p e l als m a ß g e b e n d e Faktoren erachten. D e m n a c h sei die p h ö n i k i s c h e Polis keine B ü r g e r g e m e i n d e , wie sie charakteristisch in G r i e c h e n l a n d auftrete. Dort d o m i n i e r t e n die in der V e r s a m m l u n g z u s a m m e n t r e t e n d e n freien Bauern die Polis, die ein g a n z a n d e r e s V e r -
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hältnis z w i s c h e n Zentralort und U m l a n d zeigte als wir das aus der Levante k e n n e n . N a c h d e m R a a f l a u b auf die spezifischen U n t e r s c h i e d e a u f m e r k s a m g e m a c h t hat, stellt sich f ü r ihn die e n t s c h e i d e n d e Frage, o b bei derartigen D i v e r g e n z e n ü b e r h a u p t mit einer p h ö n i k i s c h e n V o r b i l d f u n k t i o n g e r e c h n e t w e r d e n kann. In diesem Z u s a m m e n h a n g schneidet er ein weiteres P r o b l e m f e l d an, das den m ö g l i c h e n W e g einer V e r m i t t l u n g u m f a ß t . Er betont den U m stand, das p h ö n i k i s c h e Kolonien, in denen er v o r n e h m l i c h H a n d e l s s t ü t z p u n k t e erblickt, in der Ä g ä i s nicht Fuß fassen konnten und b e g r ü n d e t dies mit der dort bereits fortgeschrittenen S i e d l u n g s e n t w i c k l u n g , die ein A u s g r e i f e n p h ö n i k i s c h e r Siedlungsaktivität in d i e s e m R a u m verhindert habe. Dies lege eine u n a b h ä n g i g e G e n e s e der Polis nahe. Eine V e r m i t t l u n g durch K l e i n g r u p p e n o d e r gar Individuen schließt R a a f l a u b ebenfalls aus, da deren B e d e u t u n g zu gering g e w e s e n sei. D i e s e V o r a u s s e t z u n g e n änderten sich erst an der W e n d e v o m 8. z u m 7. J a h r h u n d e r t , als sich die Kontakte intensivierten und sich eine kulturelle ,koine'' herausbildete, die auch d i p l o m a t i s c h e B e z i e h u n g e n beinhaltete. D o c h zu d i e s e m Z e i t p u n k t sei die PoIis bereits a u s g e f o r m t g e w e s e n , die sich somit organisch von selbst herausgebildet und keiner ä u ß e r e n
Einflüsse b e d u r f t habe.
Einen solchen
Impuls m ö c h t e
R a a f l a u b f ü r die
F o r m a t i o n s p h a s e der Polis definitiv ausschließen. Allerdings hält er es f ü r w a h r s c h e i n l i c h , d a ß in der n a c h f o l g e n d e n Phase der W e i t e r e n t w i c k l u n g sehr wohl A n r e g u n g e n aus der Levante a u f g e n o m m e n w o r d e n seien. Diese E i n z e l e l e m e n t e müßten aber j e w e i l s den eigenen B e d ü r f n i s s e n und A n f o r d e r u n g e n a n g e p a ß t w o r d e n sein. Für die z u k ü n f t i g e F o r s c h u n g gelte es, ein b e s o n d e r e s A u g e n m e r k auf solche A d a p t i o n e n zu w e r f e n . Die f o l g e n d e n drei Beiträge richten ihr Interesse w e n i g e r auf die E n t s t e h u n g von Institutionen und die Frage politisch-organisatorischer O r d n u n g s v e r h ä l t n i s s e , sondern fassen literarische und religiöse P h ä n o m e n e ins Auge. ALBERTO
Greeks.
BERNABE
Mythical
e r ö f f n e t diesen T h e m e n b e r e i c h , indem er sich mit ,Hittites
Influences
and Methodological
Considerations'
and
beschäftigt. Für B e r n a b e
stellen die Hethiter einen b e d e u t e n d e n Kulturvermittler z w i s c h e n Ost und W e s t dar, w o b e i er die Frage des konkreten T r a n s f e r s f ü r seine Ü b e r l e g u n g e n a u s k l a m m e r n m ö c h t e . Beginnend mit einer f o r s c h u n g s g e s c h i c h t l i c h e n E i n o r d n u n g seiner Fragestellung m a c h t B e r n a b e auf den g r u n d l e g e n d e n U m s t a n d a u f m e r k s a m , daß bei der Ü b e r n a h m e literarischer m y t h o logischer M o t i v e stets auch von V e r ä n d e r u n g e n und A n p a s s u n g e n a u s g e g a n g e n
werden
müsse, die A u s k u n f t über das Selbstverständnis sowohl der g e b e n d e n als auch der e m p f a n genen Kultur erteilen. E r z ä h l s t o f f e w e r d e n in einen neuen Kulturkreis , e i n g e p a ß t ' und gleichen sich den g e l ä u f i g e n D e n k s c h e m a t a an. Als in diesem Z u s a m m e n h a n g w i r k s a m e Faktoren e r k e n n t B e r n a b e den religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen H i n t e r g r u n d , die g ä n g i g e n m y t h o l o g i s c h e n Vorstellungen s o w i e die literarische Form und Struktur. Diese grundsätzlichen Ü b e r l e g u n g e n w e r d e n anschließend an zwei Beispielen literarischen K u l t u r t r a n s f e r s e x e m p l a r i s c h abgehandelt. In einem ersten Abschnitt stellt B e r n a b e eine Reihe orientalischer M y t h e n vor, die das V e r s c h w i n d e n einer Gottheit thematisieren (Telipinu, Istar, Baal) und stellt sie d e m D e m e t e r h y m n u s g e g e n ü b e r , der die E n t f ü h r u n g d e r P e r s e p h o n e behandelt. A n s c h l i e ß e n d w e r d e n die E i n z e l m o t i v e isoliert und analysiert. Dabei legt B e r n a b e sein b e s o n d e r e s A u g e n m e r k nicht auf die j e w e i l i g e n G e m e i n s a m k e i t e n , sondern auf die Unterschiede, die einen a n d e r e n kulturellen Kontext e r k e n n e n lassen. Z e i g e n die altorientalischen T e x t e einen magisch-rituellen Hintergrund der konkreten P r o b l e m - und K o n f l i k t b e w ä l t i g u n g , so w e r d e n im D e m e t e r h y m n u s andere Ebenen sichtbar, die einen stär-
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ker literarischen Charakter mit einem Aition fur die Entstehung der eleusinischen Mysterein verknüpfen. Bernabe vertieft diese Überlegungen, indem er sich in einem zweiten Abschnitt mit Hesiods Theogonie und den Mythen um Kumarbi, zwei in den Fragen des Kulturtransfers inzwischen ,klassischen' Texten, zuwendet, dabei jedoch erneut nicht auf die Analogien, sondern auf die Dissonanzen der jeweiligen Überlieferung achtet. Auf diese Weise gelingt es Bernabe, grundlegende Unterschiede herauszuarbeiten und sie mit kulturellen Orientierungsmustern in Beziehung zu setzten. Dominiert im Kumarbi-Mythos die Frage nach dem regierenden König, so steht bei Hesiod jene nach der Geburt im Zentrum der Erzählung, die auch weibliche Protagonisten miteinschließt. Wird im ersten Fall die Konfrontation zweier um die Herrschaft ringender Linien vorgeführt, wobei die verwandtschaftlichen Beziehungen eine eher untergeordnete Rolle spielen, ist die Theogonie vom VaterSohn Konflikt dominiert. Präsentiert der altorientalische Text ein zyklisches Bild der Herrschaft, das mit konkreten Zeitangaben verknüpft wird, stellt Hesiod die Abfolge von Generationen in einem zeitlosen Spatium vor. Sind im ersten Beispiel kaum moralische Konnotationen greifbar, so werden im zweiten Übertretung und Strafe thematisiert. Zeigt der Kumarbi-Mythos die Vorstellung einer instabilen Herrschaft, die mit ewigem Konflikt rechnet, so setzt sich mit Zeus ein absoluter Herrscher durch, der eine stabile und gerechte Weltordnung begründet. Bernabe vermag diese grundlegenden Erkenntnisse noch um eine Reihe von Details zu erweitern, die das jeweils unterschiedliche Weltbild klar hervortreten lassen. Damit kann er deutlich machen, daß sich die Untersuchung literarischen Kulturtransfers nicht nur auf Entlehnungen, sondern auch auf die jeweiligen Neuprägungen zu konzentrieren hat, womit ein wichtiger Beitrag zur Ausformung neuer kultureller Orientierungsmuster geleistet werden kann. Wie Bernabe setzt sich W I N F R I E D S C H M I T Z mit dem Werk Hesiods auseinander und wie dieser sucht er nicht einfach nach Entlehnungen, sondern ist bemüht, das Verhältnis zwischen schöpferischer Eigenleistung und kulturellen Vorgaben näher zu bestimmen (,Griechische und nahöstliche Spruchweisheit. Die Erga kai hermerai Hesiods und nahöstliche Weisheitsliteratur'). Ausgehend von einem Überblick über die Forschungsgeschichte kommt Schmitz zunächst auf methodische Fragen zu sprechen. Dabei macht er auf das Problem aufmerksam, daß die Thematik bisher vor allem unter literarischen Gesichtspunkten betrachtet wurde, wohingegen ein den jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund einbeziehender struktureller Vergleich, der auch die kommunikativen Bedingungen beachtet, kaum angestellt wurde. Schmitz versucht nun, zunächst den ,Sitz im Leben' dieser Sprüche zu verorten. Er hebt die grundsätzliche Bedeutung der Spruchliteratur in bäuerlichtraditionalen, wenig differenzierten Gesellschaften hervor, macht auf ihre Funktion der Integration der heranwachsenden Generation in die Wertordnungen der Gemeinschaft aufmerksam und streicht deren spezifische Entstehungsbedingungen heraus, wobei einem gemeinsamen Erfahrungshorizont sowie weitgehender Oralität besondere Bedeutung zukommen. Anschließend legt er die kommunikativen Formen dieser Literaturgattung dar und weist auf deren unterschiedliche Funktionen hin. Aus dem strukturellen Vergleich leitet Schmitz die Erkenntnis ab, daß inhaltliche Ähnlichkeiten einzelner Sprüche keineswegs a priori eine literarische Beeinflussung bedeuten müssen. Nach diesen theoretischen Überlegungen wird Hesiods Spruchdichtung altorientalischen Parallelbeispielen gegenübergestellt, wobei Schmitz sein besonderes Augenmerk nicht so
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sehr auf Einzelspruch und Einzelmotiv, sondern vielmehr auf den Kontext der jeweiligen Sammlungen legt. Während er nun hinter Hesiods Dichtung eine wenig stratifizierte bäuerliche in Dorfgemeinschaften lebende Gesellschaft erblickt, zeigen die nahöstlichen Weisheitstexte demgegenüber einen ganz anderen Hintergrund, der ein wesentlich komplexeres und deutlich hierarchisierteres Gesellschaftsbild offenbart. In den orientalischen Spruchsammlungen will er in erster Linie in der Schule verwendete Lehrschriften ausmachen, fur die ein asymmetrische Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler kennzeichnend sei, wohingegen Hesiod sich an seinen Bruder wende und die Ermahnung des Devianten im Auge habe. Aus all diesen Beobachtungen postuliert Schmitz zwei unterschiedliche Gattungen von Spruchsammlungen und stellt mündliche Volksweisheit und Schulweisheit einander gegenüber. Abschließend vergleicht Schmitz exemplarisch einzelne Sprüche, wobei er die Ähnlichkeiten auf strukturell idente Grundbedingungen zurückfuhrt, aber auch auf Unterschiede hinweist, die in Hesiod jeweils den Subsistenzbauern erkennen ließen. Als Ergebnis seiner Untersuchung plädiert Schmitz für eine weitgehend selbständig-autochthone Entstehung der Hesiod'schen Einzelsprüche. Die Idee der Verschriftlichung sowie die literarische Präsentation des Spruchmaterials im Kontext einer Rahmenhandlung mag sich jedoch sehr wohl altorientalischen Vorbildern verdanken. Unter den einleitenden Hinweisen, die GÜNTHER LORENZ ,Asklepios, der Heiler mit dem Hund, und der Orient' auf offene Fragen in Verbindung mit Asklepios gibt, sind zwei Sachverhalte besonders hervorzuheben: die Verbindung des Heilgottes mit Hunden, die in den Kultbezirken des Asklepios umherliefen, und die Existenz eines beinahe namensgleichen Heros mit Namen Askalaphos. Die Verbindung von Asklepios und Hunden ist sowohl durch archäologische Bildzeugnisse als auch durch schriftliche Überlieferung belegt. Lorenz legt die Evidenz ausfuhrlich dar, um zu zeigen, daß es sich nicht nur um ein „vages Kennzeichen der Heroenwelt", sondern um eine in der kultischen Realität sich niederschlagende feste Verbindung gehandelt hat. Im Anschluß daran wird der griechische Befund orientalischen Gottheiten und Riten mit Hunden gegenübergestellt. Eine besondere Rolle spielt dabei die mesopotamische Gottheit Gula als eine ambivalente Heilgottheit, die Krankheiten gibt und nimmt. Denn mit ihr stehen in Isin oder in Askalon, Ashdod, Tel Qasile Hundefriedhöfe in direkter Verbindung. Diese Hunde wurden vermutlich erwürgt, um sie der Gottheit als Stellvertreter für die durch Krankheit bedrohten Menschen anzubieten. Darüber hinaus verweist Lorenz auf hethitische Ritualtexte, in denen derartige Vorstellungen artikuliert werden. Die Heiligtümer für die Gottheit Gula werden so plausibel als Kultstätten von Seuchen- und Heilgöttern, an denen Hunde gehalten und begraben wurden, interpretiert. Von diesen orientalischen Quellen schwenkt Lorenz zu Hundetötungsritualen in Griechenland. Er fuhrt hier die lustratio an, bei der ein Heer zwischen Teilen eines auseinandergehauenen Hundes durchzieht, nennt die spartanischen Epheben, die Enyalios einen Hund opfern, verweist auf die Tötung von Hunden für Hekate bzw. Enodia in Kolophon. Insgesamt will Lorenz für diese Hundetötungen eine Verbindung mit dem bronzezeitlichen Kleinasien sehen. Die konkrete Verbindung orientalischer Vorstellungen mit Asklepios ergibt sich aus Überlegungen, die an mehreren, unterschiedlichen Stellen der Studie formuliert und die als ein sogenannter kumulativer Beweis betrachtet werden. Eine wichtige Rolle spielt hierbei
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Reäep. Der orientalische Gott wurde in Idalion auf Zypern verehrt und hier mit Apoll gleichgesetzt. Der Hund erscheint dabei - wie Lorenz es plausibel macht - als eine Umdeutung des mit Reäep zu verbindenden Hundes; Apoll als Initiationsgott wird von einem Jagdhund begleitet. Die Verbindung zu Asklepios ergibt sich daraus, daß dieser der Kultnachfolger Apolls ist. Dies lässt sich für Epidauros oder Sikyon belegen. Weitere Indizien für die Herkunft des Asklepios aus dem Orient sieht Lorenz in genealogischen Gleichsetzungen. Die mythische Mutter des Asklepios ist Koronis. Und diese läßt sich in der Kombination Apollon-Koronis mit dem aus Ugarit bekannten Paar ResepAnat/Astart in Parallele setzen. Ein zusätzliches Argument läßt sich noch daraus gewinnen, daß Koronis mit Ischys (= Stärke) verheiratet ist und Ischys bedeutungsgleich mit Baal, dem Starken, ist, dessen Geliebte wiederum Astarte ist. Ein weiteres, auf eine andere Ebene weisendes Indiz sieht Lorenz zudem noch darin, daß der Name Asklepios nicht indogermanisch etymologisierbar ist. Er macht den Vorschlag, an eine griechische Neubildung in Anlehung an akkadisch asü(m) = Arzt und kalbu(m) = Hund zu denken. Von hier aus ergäbe sich die Bedeutung für Asklepios „Heiler mit dem Hund". Asklepios als Arzt läßt sich so als ein verselbständigter Aspekt des Gottes Apoll sehen, wobei der Heros im 5. Jahrhundert zum Gott wird. Für die Wahrscheinlichkeit des Weges aus dem Orient nach Griechenland verweist Lorenz schließlich noch darauf, daß die erste Lokalisierung des Asklepios in der Ilias in Thessalien vorgenommen wird. Es ist sicherlich auffallig, daß Thessalien im Schiffskatalog unklare Konturen hat und es daher mit mythischen Gestalten besiedelt ist, die sich leicht dorthin verpflanzen ließen. Der abschließende dritte Block ,Externe Impulse' setzt mit dem Beitrag von ROBERT ROLLINGER ein. ROLLINGER will mit seiner Studie ,Die Verschriftlichung von Normen. Einflüsse und Elemente orientalischer Kulturtechnik in den homerischen Epen, dargestellt am Beispiel des Vertragswesens' nicht nur ein konkretes, für die griechisch-archaische Welt wichtiges Phänomen in seiner Genese durchsichtig machen, sondern auch Markierungen für den methodischen Weg liefern, auf dem derartige Untersuchungen Überzeugungskraft gewinnen können. Zu diesem Zweck umschließt die Einzelanalyse einen Rahmen, bestehend aus einer einleitenden Skizze der für die Archaik wichtigen Diskussionsfelder in den letzten fünfzehn Jahren und der abschließenden Einbettung der Ergebnisse der Analyse in den historischen Kontext im Jahrhundert zwischen 750 und 650 v. Chr. Die sich dabei ergebenden Überschneidungen zu anderen Beiträgen und die gleichzeitig durch Rollinger in manchen Fällen auch gegebenen Präzisierungen bestätigen die von Jonathan Hall vertretene Argumentation, den Kulturbegriff auch in der Anwendung a u f , d i e Griechen' zu problematisieren. Auf diese Weise wird der Blick frei für die Möglichkeit, daß die Ausbildung des Vertragsabschlusses, also ein wesentliches Element innerhalb des Prozesses „der Verschriftlichung der die Gemeinschaft regelnden Normen", unter dem Einfluß orientalischer Praktiken gestanden ist. Rollinger geht von der kaum mehr bestrittenen Prämisse aus, daß die homerischen Epen in den historischen Kontext des 8. und 7. Jahrhunderts gehören, und zieht als mit ihnen zu konfrontierende Texte primär solche aus demselben Zeitraum heran. Neben der zeitlichen Parallelität wird - soll eine Beeinflussung nahe gelegt werden - zudem verlangt, daß nicht nur einzelne Teile des Vertragsabschlusses, sondern möglichst viele („Verdichtung von Einzelmotiven", „Motivketten") gleichzusetzen sind, und daß der mögliche Weg aufgezeigt wird, auf dem der Informationsaustausch vor sich gegangen sein kann. In den homerischen
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E p e n isoliert R o l l i n g e r a u s d e n in llias u n d O d y s s e e e r k e n n b a r e n 2 3 V e r t r a g s s i t u a t i o n e n ein e s t a n d a r d i s i e r t e V o r s t e l l u n g d a r ü b e r , w i e ein V e r t r a g a u s z u s e h e n hat; es w i r d j e d o c h d a mit nicht ein e i n z i g e r V e r t r a g s t y p p o s t u l i e r t . D i e s e V o r s t e l l u n g setzt sich e i n e r s e i t s a u s b e stimmten
Elementen
der konkreten
Vertragshandlung
zusammen
und
andererseits
aus
rituellen Verhaltensweisen, welche den Vertragsabschluß begleiten. A u f der G r u n d l a g e der a u c h hier e r f o l g t e n t a b e l l a r i s c h e n E r f a s s u n g k a n n R o l l i n g e r d u r c h e i n e u n g e m e i n d e t a i l r e i c h e A n a l y s e a u f b e i d e n F e l d e r n v e r b l ü f f e n d e , bis z u r Identität r e i c h e n d e Ä h n l i c h k e i t e n in d e r S t r u k t u r , nicht b l o ß in e i n z e l n e n T e i l e n d e r n e u a s s y r i s c h e n S t a a t s v e r t r ä g e , a b e r a u c h in d e n I n f o r m a t i o n e n n a c h w e i s e n , die ü b e r d i e a l t o r i e n t a l i s c h e , ü b e r d i e s e S t a a t s v e r t r ä g e h i n a u s r e i c h e n d e V e r t r a g s p r a x i s v o r h a n d e n s i n d . Ein E f f e k t d i e s e s V e r g l e i c h s ist, d a ß m a n c h e s f ü r sich b i s h e r n i c h t f ü r s i g n i f i k a n t g e h a l t e n e s Detail - w i e e t w a d a s R e i c h e n d e r r e c h t e n H a n d als G e s t u s d e r Ü b e r l e g e n h e i t - p l ö t z l i c h B e d e u t u n g g e w i n n t . D a d u r c h k a n n d e r m e t h o d i s c h e n F o r d e r u n g n a c h g e k o m m e n w e r d e n , nicht b l o ß H a n d l u n g s a b l ä u f e zu b e s c h r e i b e n , s o n d e r n sie a u f d e r e n S y m b o l g e h a l t hin zu u n t e r s u c h e n . Bei d e m N a c h w e i s d e r s t r u k t u r e l l e n , i n h a l t l i c h e n u n d rituellen Parallelität d e s V e r t r a g s a b s c h l u s s e s b l e i b t R o l l i n g e r j e d o c h n i c h t s t e h e n . Im B e w u ß t s e i n , d a ß a u c h s o l c h e P a r a l l e l i täten n o c h z u f a l l i g sein k ö n n t e n , s u c h t er n a c h d e m h i s t o r i s c h e n Ort, an d e m d e r a r t i g e P r a k tiken ihren Sinn h a b e n . Er f i n d e t ihn in d e n im g e n a n n t e n Z e i t r a u m an d e r W e n d e v o m 8. z u m 7. J a h r h u n d e r t a n z u n e h m e n d e n , w o h l d u r c h d i e d e m o g r a p h i s c h e E n t w i c k l u n g in G a n g gebrachten sozialen und politischen U m b r ü c h e n , die unter anderem auch zur A u s b i l d u n g der S c h r i f t l i c h k e i t f ü h r t e n . U n d er f i n d e t ihn in d e n im s e l b e n Z e i t r a u m i m m e r b e s s e r u n d d i c h ter n a c h w e i s b a r e n K o n t a k t e n z w i s c h e n d e m M i t t e l m e e r r a u m u n d d e m V o r d e r e n
Orient.
D u r c h d i e s e E i n b e t t u n g in d e n h i s t o r i s c h e n K o n t e x t s c h l i e ß t sich d e r u m d i e U n t e r s u c h u n g gelegte Rahmen. B A R B A R A Ρ Α Ϊ Ζ Ε Κ betritt mit ihrem B e i t r a g , G r i e c h i s c h e r Logos Handwerk
des Vorderen
Orients'
und
das
intellektuelle
w e i t g e h e n d N e u l a n d . Z w a r g i b t es in letzter Z e i t v e r s t ä r k t
B e m ü h u n g e n , d i e W i s s e n s t r a d i t i o n e n d e s A l t e n O r i e n t s s y s t e m a t i s c h zu e r f a s s e n " , d o c h s i n d die B e z i e h u n g e n d i e s e s . S y s t e m s ' z u r g r i e c h i s c h e n W e l t s o w i e d e s s e n R e l e v a n z f ü r eine A u s f o r m u n g des abstrakten wissenschaftlichen D e n k e n s kaum Gegenstand größerer Untersuchungen gewesen. B e v o r sich P a t z e k d e r A u f g a b e z u w e n d e t , d e n E i n f l u ß d e r a l t o r i e n t a l i s c h e n W i s s e n s t r a d i t i o n a u f d a s g r i e c h i s c h e D e n k e n a u s z u l o t e n , m a c h t sie a u f drei P r o b l e m z o n e n a u f m e r k s a m , die e i n e m d e r a r t i g e n F o r s c h u n g s a n s a t z b i s h e r im W e g s t a n d e n : d a s F e h l e n e i n e r d e n Transfer von Wissenschaftsmodellen reflektierenden antiken Überlieferung, der Rekurs der m o d e r n e n Begrifflichkeit auf klassisch-antike Modelle und deren wertende A b g r e n z u n g s m e c h a n i s m e n s o w i e m e t h o d i s c h e u n d h e r m e n e u t i s c h e P r o b l e m e . P a t z e k stellt in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g d i e F r a g e , o b d i e U n t e r s c h i e d e in S p r a c h e u n d B e g r i f f l i c h k e i t a u c h t a t s ä c h l i c h wesensmäßige
Unterschiede
implizierten.
Sie w e i s t a u f die S c h w i e r i g k e i t e n
einer
rein
i d e e n g e s c h i c h t l i c h e n , z u r a u t i s t i s c h e n S e l b s t b e s p i e g e l u n g n e i g e n d e n B e t r a c h t u n g hin u n d streicht d i e B e d e u t u n g e i n e s h i s t o r i s c h - h e r m e n e u t i s c h e n Z u g a n g s h e r a u s , d e r k o n k r e t n a c h d e n h i s t o r i s c h e n S i t u a t i o n e n d e s K u l t u r a u s t a u s c h s A u s s c h a u hält.
11
Vgl. etwa B. Pongratz-Leisten, Herrschaftswissen in Mesopotamien. Formen der Kommunikation zwischen Gott und König im 2. und 1. Jahrtausend v. Chr. ( S A A S X) Helsinki 1999.
30
Robert Rollinger/Christoph
Ulf
Von dieser theoretischen Basis aus skizziert Patzek zunächst die Wissenstraditionen des Alten Orients, wobei sie die Attraktivität des breiten Fundus an Sachwissen, O r d n u n g s m u stern und Kategorienbildungen betont. Besondere Bedeutung mißt sie dabei der assyrischen Expansion bei, die neben Kulturaustausch an den Randgebieten auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit herrschaftlichem Orientierungswissen geführt habe. Dieses b r i t i sche Potential' sieht sie in den verstärkten Legitimationsbemühungen der Sargoniden begründet, die zum Ausbau der Divination und der sich auf Beobachtung gründenden Tatsachenwissenschaft führte. Fehlgeschlagene Legitimation weise dabei den W e g zu Götter- und Herrscherkritik. V o r diesem Hintergrund beleuchtet Patzek schließlich die Wissenstradition der homerischen Epen, die sie im Kontext der mannigfaltigen Einflüsse zwischen etwa 750 und 650 v. Chr. bewertet. Die in den Epen greifbaren orientalischen Impulse unterteilt sie in motivische und systematische Referenzen. Die Idee zur Verschriftlichung des Epos sei ohne orientalische Anregungen kaum denkbar. Dies gelte im besonderen für die zahlreichen technischen und kompositorischen Anleihen, die auf die Kenntnis spezifischer Stilmittel hinweise. Abschließend arbeitet Patzek die besondere Systematik homerischer Wissenstradition heraus, die sich in drei spezifischen Bereichen gedanklichen Systemen des Alten Orients verdanke. Zu diesen gelehrten Modellen, die sie als auf intellektueller Auseinandersetzung basierende Ordnungskriterien bestimmt, rechnet sie die gelehrte Vorstellung einer die Welt bestimmenden Götterordnung einschließlich der narrativen Technik einer miteinander v e r w o b e n e n deutenden Götter- und intentionalen Menschenhandlung, die eigenverantwortliches Handeln den Schranken des Schicksals gegenüberstellt. Das zweite gedankliche Ordnungsprinzip erblickt sie in der Konstruktion einer längst vergangenen heroischen Zeit, eingebettet in eine geschichtliche Weltaltervorstellung. Schließlich weist sie auf das Element der Kritik hin, das sie in Gestalt der Herrscherkritik auch im Epos verwirklicht sieht. Anhand zweier Beobachtungen streicht Patzek diesen wichtigen Aspekt heraus. Einerseits zieht sie eine V e r b i n d u n g zwischen der T ä u s c h u n g A g a m e m n o s durch den falschen Traum und j e n e r durch altorientalische Omina, die Kritik am Herrscher implizierten. Andererseits weist sie auf die Bedeutung einer fast aussichtslosen Stadtbelagerung auch als Sujet der neuassyrischen Historiographie hin. Die E i n n a h m e der eigentlich uneinnehmbaren Stadt liefere dabei den Interpretationszusammenhang über die Legitimation von Herrschermacht. Scheitern führte zum Hinterfragen dieser Position. Hatte Barbara Patzek den syrisch-mesopotamischen Raum im Auge, so richtet PETER W. HAIDER mit seiner Untersuchung ,Kontakte zwischen Griechen und Ägyptern und ihre Auswirkungen auf die archaisch-griechische Welt' das A u g e n m e r k auf die benachbarte H o c h kultur Ägyptens. Haiders Beitrag zerfällt in zwei Teile. Im ersten Abschnitt wird ein Überblick über die Präsenz von Griechen in der ägyptischen Gesellschaft geboten, ein Themenbereich, dem sich in den letzten Jahren die Forschung und der Autor selbst verstärkt zugewandt haben. Seit der Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. sind Griechen als Söldner, Händler und H a n d w e r k e r in Ägypten greifbar, ihre Teilnahme an militärischen Unternehmungen der Pharaonen Psammetich I, N e c h o I und Psammetich II konkret faßbar. Dabei läßt sich beim N u b i e n f e l d z u g Psammetichs II (592/1) sogar das Vordringen in höhere Kommandostrukturen nachweisen. Die intensiven Kontakte hatten einen nachhaltigen Akkulturisationsprozeß zur Folge, der sich etwa in Eheverbindungen mit
Einleitung
31
einheimischen Frauen, in der Namengebung der Nachkommen sowie in der Übernahme ägyptischer Bestattungssitten äußert. Im zweiten Abschnitt geht Haider der Frage der Folgewirkungen dieses engen Kulturkontakts für die frühgriechische Welt nach. Dabei wird in vielen Bereichen historisches Neuland betreten und erstmals ein umfassender Überblick über die Präsenz ägyptischen Kulturguts und dessen Implikationen in Griechenland' geboten. Haider wendet sich zunächst der Frage der Verbindungslinien zwischen Hellas und Ägypten zu und zeigt die dichte ökonomische Vernetzung der Auswanderer mit ihren Herkunftsgebieten. Doch werden die Kontakte auch auf anderen Ebenen aufrecht erhalten. Weihungen in griechischen Heiligtümern dokumentieren den sozialen Status und die wirtschaftliche Potenz dieser Personengruppe. Dabei stehen die zahlreichen Votivgaben nicht nur für ägyptischen Kunstimport, sondern auch für den Transfer spezifischer religiöser Vorstellungen, wobei vor allem die Themenbereiche Geburt und Tod im Vordergrund stehen. Diese Entwicklung erfährt schließlich eine deutliche Intensivierung durch die Entstehung griechischer Manufakturen, die ägyptische Fayencen imitierend herstellen und damit die gesteigerte Nachfrage nach diesen Produkten bezeugen. Doch war der in der materiellen Hinterlassenschaft faßbare ägyptische Kultureinfluß keineswegs auf die Kleinkunst beschränkt. Haider zeigt die Bedeutung des ägyptischen Kulturimpulses am Beispiel der Entwicklung der steinernen Großplastik sowie der Konzeption des Ringhallentempels auf, die oft bis in die Details auf ihre Vorbilder verweisen. Abschließend wendet sich Haider nochmals der geistig-religiösen Welt zu. Seelenvogel, Elemente der Totenklage, Erlösungshoffnungen und Weltschöpfungskonzeptionen sind Zeugnisse der engen Verbindung mit Ägypten. Haider geht allerdings noch einen Schritt weiter, indem er - wie zuvor Barbara Patzek - die stets als genuin griechisch betrachtete Welt des ,Logos' mit ägyptischen Vorstellungen verbindet. Ausgehend von der durch griechische Keramik bezeugten Präsenz griechischer Militärkolonisten in Mendes und der Bedeutung des Kultzentrums des Amun-Re für die ägyptische Theologie stellt Haider die dort seit der Ramessidenzeit entwickelte kosmologische Naturlehre vor, die von vier göttlichen Urstoffen - Erde, Wasser, Luft und Feuer - ausgeht. Ähnliches läßt sich in der Theologie von Hermopolis nachweisen, die dafür vier abstrakte Begriffe setzt - Urgewässer, Endlosigkeit, Finsternis und Leere - und von einer Weltwerdung, nicht von einer Weltschöpfung ausgeht. Haider setzt diese Konzeptionen nun in Beziehung zu den nach der Arche fragenden griechischen Naturphilosophen und stellt deren Beeinflussung durch die ägyptische Gedankenwelt in den Raum.
THEORETISCHE ASPEKTE
Jonathan Μ. Hall
Culture, Cultures and Acculturation
From time to time, it pays to re-examine categories that we regularly employ and normally take for granted. In the context of a conference devoted to analyzing the internal and external stimuli that gave shape to the Archaic Greek world, the categories that demand our immediate attention are those of culture and acculturation. Accordingly, it may be useful to consider three instances, drawn from representative examples of the secondary literature for the Archaic period, in which the term 'culture' features. The first is written by a classical philologist, the second by a historian of ancient religion and the third by a classical archaeologist: (i) Culture, like all forms of gas, tends to spread out from where it is densest into adjacent areas where it is less dense. For some six thousand years, from the seventh millennium BC to the first, a steady succession of arts, crafts and comforts found their way from south-western Asia, the cradle of the Neolithic revolution, to southeastern Europe and to that gnarled outpost of Europe that we call Greece (Martin West, The East Face of Helicon, p. I). 1 (ii) Emanating from the Near East, in connection with military expansion and growing economic activities, a cultural continuum including literacy was created by the eighth century extending over the entire Mediterranean; it involved groups of Greeks who entered into intensive exchange with the high cultures of the Semitic east. Cultural predominance remained for a while with the Orient; but Greeks immediately began to develop their own distinctive forms of culture through an astonishing ability both to adopt and to transform what they received. Soon Greece was to take over the leading role in Mediterranean civilization (Walter Burkert, The Orientalizing Revolution,, p. 128). 2
1 West 1997, 1. 2 Burkert 1992. 128.
Jonathan Μ. Hall
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(iii) W h e n the G r e e k s arrived, the Sicel culture had perhaps only j u s t admitted painted pottery beside the plain incised wares ... T h e impact of G r e e k ideas and culture w a s immediate. O n m a n y Sicel sites near the early colonies w e find G r e e k vases, and o f t e n t o o vases w h i c h are native in shape but quite G r e e k in decoration ... In the mid fifth century there w a s a nationalist Sicel m o v e m e n t , but by then the natives had been a l m o s t c o m p l e t e l y hellenized (John B o a r d m a n , The Greeks Overseas, pp. 1 8 9 90). 3 T h e reason w h y these three quotations in particular have been singled out is that they are e m i n e n t l y unsingular in t e r m s of their u n d e r s t a n d i n g of the culture concept - at least to students of the ancient world. Yet f o r social scientists the term and the c o n c e p t it denotes h a v e for d e c a d e s been the object of contestation and d i s a g r e e m e n t , and this is especially true f o r cultural a n t h r o p o l o g i s t s and cultural historians - i. e., the two g r o u p s w h o might have been e x p e c t e d to k n o w w h a t it is that they study. Indeed, in the 1950s the A m e r i c a n a n t h r o p o l o gists Alfred K r o e b e r and C l y d e K l u c k h o h n identified no f e w e r than 164 definitions of t h e term ' c u l t u r e ' and its virtual s y n o n y m ' c i v i l i z a t i o n ' , and that n u m b e r has u n d o u b t e d l y risen in t h e past half century. 4 It is little w o n d e r that the British literary critic R a y m o n d W i l l i a m s described culture as ' o n e o f the t w o or three most complicated w o r d s in the English lang u a g e ' , 5 and c o n f e s s e d Ί d o n ' t k n o w h o w m a n y t i m e s I've wished that I'd never heard the d a m n e d w o r d ' . 6 M o s t anthropologists today signal their unease with the term by e n c a s i n g it in quotation marks, 7 yet as J a m e s C l i f f o r d reluctantly admits, ' c u l t u r e is a d e e p l y c o m p r o mised c o n c e p t that I cannot yet d o w i t h o u t ' . 8 On closer investigation, h o w e v e r , it b e c o m e s clear that the conception of culture e m ployed in each o f these three citations is far f r o m univocal. W e s t ' s ' g a s s y ' culture, bringing with it 'arts, crafts and c o m f o r t s ' f r o m southwest Asia to the then relatively u n d e r d e v e l o p e d A e g e a n world, o w e s m u c h to the f a m o u s definition of culture f o r m u l a t e d in 1871 by the f o u n d i n g - f a t h e r o f anthropology, E d w a r d Burnett Tylor. A c c o r d i n g to Tylor, culture or civilization denotes 'that c o m p l e x w h o l e which includes k n o w l e d g e , belief, art, morals, law, c u s t o m , and any other capabilities and habits acquired by man as a m e m b e r of s o c i e t y ' . 9 F u r t h e r m o r e , in positing a differential density of culture in distinct, if a d j a c e n t , regions, West is in e f f e c t rehearsing the contrast that Tylor d r e w b e t w e e n the civilization of ' l o w e r tribes' and that of ' h i g h e r n a t i o n s ' . 1 0 This notion w a s itself influenced by French Enlighte n m e n t thought of the later eighteenth century, which entertained a s o m e w h a t materialist
3 4
Boardman 1999, 189f. Kroeber and Kluckhohn 1952. Ct'. Parsons 1951, 15 ('In anthropological theory, there is not what could be called close agreement on the definition of the concept of culture') and Geertz 1973, 89 ('[t]he term ' c u l t u r e ' has by n o w acquired a certain aura of ill-repute in social anthropological circles because of the multiplicity of its referents and the studied vagueness with which it has all too often been invoked').
5 6 7
Williams 1983, 87. Williams 1979, 174. This unease arises in part from postcolonial guilt about essentializing the behaviour of others and in part from poststructuralist doubt over the existence of objective classificatory categories: see M o o r e 1974, 546; Said 1978, 325; Kahn 1989, 16f.; Brightman 1995, 510; Sewell 1999a, 37f.
8 9 10
Clifford 1988, 10. Tylor 1 8 7 1 , 1 . Stocking 1968, 73if.
Culture, Cultures and
Acculturation
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conception of civilisation as a transnational process of evolution, facilitated by economic and technological advances, towards rationality and perfection. All human societies participated in the march of progress, though some were thought to reach their final goal sooner than others." Tylor was also influenced, however, by a more aesthetic and idealist definition of culture, initiated by Cicero's metaphorical employment of an agricultural term in the phrase cultura animi ('the cultivation of the mind'), 1 2 and imported by Thomas Hobbes 1 3 into the Anglophone world where it was memorably characterized by Matthew Arnold in the preface to Culture and Anarchy as the 'pursuit of our total perfection by means of getting to know ... the best which has been thought and said in the world'. 1 4 Arnoldian culture - what we would now call 'high culture' - was envisaged as a predominantly western canon of literary, artistic, musical and philosophical works which might offer an enduring defence against the corrupting influence of technology and materialism ushered in by the Industrial Age. 1 5 That this line of thought is similarly present in West's conception of culture is indicated by his enumeration of features such as pottery, metalworking, seals, writing, architecture and music among 'the more important items that spring to mind', 1 6 but above all by his concentration on one particular type of cultural artefact - namely, epic poetry. Burkert, with his description of both the 'cultural predominance' of the east and the 'leading role in Mediterranean civilization' that the Greeks were eventually to assume, is clearly following in a similar intellectual tradition, and the features on which he concent r a t e s - rituals, mythemes, skills and specialized crafts - are precisely those that are also central to West's Tylorian conception of culture. On the other hand, his reference to 'the high cultures of the Semitic east' is aligned more with Boardman's discussion of 'Sicel culture' in contact with 'Greek ideas and culture'. This more pluralistic understanding of culture as something unique to individual human groups, rather than something to be attained through material progress or something shared by a transnational educated elite, is a product of German Romantic thought, developed by Johann Gottfried Herder and Alexander von Humboldt, for whom Kultur signified the inward-oriented spiritual essence of specific communities, expressed through art, religion and literature. 17 Its translation into anthropological theory is probably attributable to Franz Boas, the pioneer of American anthropology whose early training was conducted in Berlin under Rudolf Virchow and Adolf Bastian. Certainly, Burkert's emphasis on the Greeks' adoption and transformation of Near Eastern elements and Boardman's description of the incorporation of Greek decorative motifs in
11 12 13 14
Williams 1983, 89; Kuper 1999, 25ff. Cicero, Tusculan Disputations 2.5.13. Hobbes. Leviathan 31. Arnold 1869. See Williams 1983, 88; Berger 1995, 14.
15
While the specifically elitist flavour of this definition is generally decried today, its legacy nevertheless endures in the fields of sociology and cultural studies where the study of ' m a s s - c u l t u r e ' , "subcultures" or "countercultures' continues to limit itself to institutionally defined spheres such as art. fashion, music or the media. See Sewell 1999a, 41 f.; Kuper 1999, 229ff.
16 17
West 1997. 1. Stocking 1987, 3 0 2 f f ; Berger 1995, 14f.; Kuper 1999, 60; Shanks 2001, 285. As Sewell (1999a, 39) points out, this distinction between the singular and the pluralistic connotations of culture is seldom made, yet its elision can lead to serious confusion (e.g. Schneider 1973, 119f.).
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Jonathan
Μ. Hall
Sikel material assemblages is reminiscent of the Boasian understanding of a culture as 'an accidental accretion of individual elements'. 1 8 Indeed, Boas' pupil, Robert Lowie, defined cultures as hybrid and irregular collections of customs, techniques and beliefs, often borrowed through chance contacts with others. 19 Boas' focus on plural and bounded - albeit permeable - cultures found its reflex in archaeological theory, and especially in the Siedlungsarchäologie method developed in the first decade of the twentieth century by Gustav Kossinna, Professor of Archaeology at the University of Berlin. 20 Kossinna's objective was to use material culture to locate the Ursprungsland of the Indo-Europeans in the region of Schleswig-Holstein - a project that later endeared his research to the ideologues of the National Socialist P a r t y - 2 1 but his formulation of the concept of the 'archaeological culture' as a means of pursuing this objective was to influence subsequent generations of theorists, including the Australian Marxist archaeologist Gordon Childe and the British Processual archaeologist David Clarke. 22 The basic idea behind the archaeological culture is that because human groups conduct their lives in different ways from place to place, the material residue that they deposit in the archaeological record will consequently display spatial variations. Distinct, bounded patterns of spatial variation (archaeological cultures) can then be identified archaeologically 'by a plurality of well-defined diagnostic types that are repeatedly and exclusively associated with one another'. 23 It will be readily apparent that it is this theory that underpins Boardman's identification of a Sikel culture, despite its progressive adoption of Aegean elements, just as the modern archaeological understanding of Greek culture is ultimately predicated on the simultaneous attestation of certain recurring features such as figured pottery, naturalistic sculpture and canonical forms of architecture. If each of the cited authors entertains a rather different view of the culture concept, all three display a more congruent understanding of acculturation, or what anthropologists now
18 19
20
21 22
23
Stocking 1968, 214. Lowie 1920, 440f. Boas' conception of culture was influenced by the attempts of his Berlin teachers to dissociate culture from race, but also, after his arrival in the United States, represented a direct challenge to the universalizing and evolutionist beliefs of Lewis Henry Morgan that dominated American anthropology in the late nineteenth century. See Sahlins 1976, 68; Layton 1997, 28; Erickson 1998. 75f.; Kuper 1999, 1 Iff. und 63-64. Kossinna 1911. See Veit 1989, 37; Erickson 1998, 120. The underlying assumptions behind Siedlungsarchäologie were not in themselves novel. Already in the late nineteenth century, the La Tene culture of central Europe had been associated with the Celts, while in 1890 Sir Arthur Evans attributed a late Celtic urnfield in southern England to Belgae invaders. See Trigger 1989, 155. See generally Renfrew 1987, 36f.; Trigger 1989, 163ff.; Veit 1989, 35ff.; Jones 1997, 16. Childe did, however, later renounce what he termed the 'culture-historical' approach and, under the influence of the functional approaches being practised by the British social anthropologist Alfred Radcliffe-Brown (and later Marxism), turned instead to socioeconomic evolutionary processes (e.g. Childe 1928; 1930; 1934). See Renfrew 1987, 16; Shennan 1989, 8; Trigger 1989, 173f. and 250ff. Childe 1956, 123; cf. 1929: v-vi. See Trigger 1980, 44; Trigger 1989, 167ff.; Renfrew 1987, 15 und 215; Shennan 1989, 5f.; Jones 1997, 2f.; Hall 1997, 129; Hall 2002a, 19f.; Morris 2000, I8f.. While Childe adopted what was in effect a "monothetic' definition of the archaeological culture (i. e. a set defined by a small number of mutually associated exclusive features), David Clarke proposed a polylhetic formulation, where no single feature is either necessary or sufficient in defining the set. See Shennan 1989, 13.
Culture, Cultures and
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Acculturation
prefer to call culture contact. 2 4 T h e b e s t - k n o w n definition o f the acculturation p r o c e s s is that of the C h i c a g o anthropologist Robert R e d f i e l d and his colleagues, w h o defined it as e m b r a c ing ' t h o s e p h e n o m e n a which result w h e n g r o u p s o f individuals h a v i n g d i f f e r e n t cultures c o m e into c o n t i n u o u s first hand contact with s u b s e q u e n t c h a n g e s in the original cultural patterns of either or both g r o u p s ' . 2 5 A l t h o u g h Redfield conceived of acculturation as a t w o - w a y street, m u c h o f the theoretical research that w a s c o n d u c t e d in the United States at the t i m e w a s actually s p o n s o r e d by g o v e r n m e n t agencies w h o s e primary c o n c e r n w a s the e f f e c t that contact with d o m i n a n t western states had on small-scale societies. 2 6 Put another w a y , a clear line w a s not a l w a y s d r a w n between acculturation and assimilation, and there w a s a t e n d e n c y to a s s u m e that cultural features w o u l d naturally f l o w f r o m more a d v a n c e d ' w e s t e r n ' ) societies to less developed ( ' n o n - w e s t e r n ' ) groups. 2 7 Bronislaw
(understand Malinowski's
conceptualization of acculturation as 'the impact o f a higher, active culture upon a simpler, m o r e p a s s i v e o n e ' is not so different f r o m W e s t ' s gas-like culture e m a n a t i n g f r o m the N e a r East to the ' g n a r l e d outpost o f E u r o p e ' or B u r k e r t ' s t r a n s f e r e n c e of cultural p r e d o m i n a n c e f r o m the d o n o r 'high cultures of the Semitic east' to a receptive A e g e a n . 2 8 T h e t h e m e is only implicit in the passage cited f r o m B o a r d m a n , but r e s u r f a c e s e l s e w h e r e w h e n he describes culture contact between the G r e e k s and Etruscans: T h e Etruscans accepted all they w e r e o f f e r e d , without discrimination. T h e y copied or paid G r e e k s and perhaps immigrant easterners to copy - with little u n d e r s t a n d i n g o f the f o r m s and s u b j e c t s which served as m o d e l s . T h e y had their gold w o r k e d into e x t r a v a g a n t pastiches o f eastern j e w e l l e r y , and gave the G r e e k s the metal they w a n t e d in return for what w a s often hardly m o r e than the bright beads with which m e r c h a n t s are usually s u p p o s e d to dazzle natives. 2 9 W h a t the p r e c e d i n g discussion shows, I think, is that the conventional u n d e r s t a n d i n g of culture a m o n g classical scholars is informed by anthropological theories that were d o m i n a n t in the early d e c a d e s o f the twentieth century. N e e d l e s s to say, the anthropological discussion has m o v e d on since then. By the 1940s, the Boasian definition of cultures as h a p h a z a r d ass e m b l a g e s o f ideas, beliefs, c u s t o m s and habits w a s u n d e r attack for its u n s y s t e m a t i c e m phasis on a ' s h o p p i n g - l i s t ' o f ' c u l t u r e traits'. In response, a more materialist a p p r o a c h , focusing on behaviour, w a s d e v e l o p e d by cultural ecologists such as Leslie W h i t e and Julian S t e w a r d , w h o v i e w e d culture as a system of socially-transmitted behavioural patterns (articulated in terms of t e c h n o l o g y , settlement patterns or political, social or e c o n o m i c organization) by m e a n s of which h u m a n g r o u p s adapt to particular e n v i r o n m e n t a l conditions. ' 0 Beliefs and values, conversely, were viewed as s e c o n d a r y e p i p h e n o m e n a that served to j u s t i f y
24
For a survey of the critiques against acculturation theories and an attempt to salvage s o m e of them, see Cusick 1998.
25 26 27 28 29 30
Redfield, Linton and Herskovits 1936, 148. Cusick 1998, 128ff.; Dietler 1999, 478. Gordon 1964 attempted to distinguish between acculturation and assimilation. See Cusick 1998. 129. Malinowski 1945, 15 (cited in Cusick 1998. 132). See Gosden 2001, 242. Boardman 1999, 200. Steward differed from White in proclaiming a multilineal rather than universal (unilineal) form of evolutionism: see Erickson 1998, 118f.; Kuper 1999, 160. Sahlins and Service (1960) seek to reconcile these two approaches.
40
Jonathan
Μ.
Hall
and i n f o r m t h e e n v i r o n m e n t a l l y - d e t e r m i n e d m a t e r i a l c o n d i t i o n s o f s o c i o c u l t u r a l life. 3 1 In t h e s t u d y o f m a t e r i a l c u l t u r e , t h e c u l t u r e c o n c e p t e m b r a c e d by cultural e c o l o g i s t s w a s a d o p t e d by t h e s o - c a l l e d ' N e w ' or ' P r o c e s s u a l ' A r c h a e o l o g y o f t h e 1960s, p i o n e e r e d in t h e U n i t e d S t a t e s b y W h i t e ' s s t u d e n t , L e w i s B i n f o r d . 3 2 F o r t h e first g e n e r a t i o n o f N e w A r c h a e o l o g i s t s , c u l t u r e w a s v i e w e d as a s o c i e t y ' s e x t r a s o m a t i c m e a n s o f a d a p t a t i o n to t h e e n v i r o n m e n t , c o n stituted b y t h e i n t e r s e c t i o n o f t h r e e s u b s y s t e m s - t e c h n o l o g y , social o r g a n i z a t i o n a n d ideolo g y - e a c h o f w h i c h w a s a s s u m e d t o find its r e f l e x in m a t e r i a l c u l t u r e . 3 3 M e a n w h i l e , in t h e 1 9 5 0 s a n d 1960s, a m o r e idealist r e a c t i o n a g a i n s t t h e c u l t u r a l e c o l o gists w a s l a u n c h e d b y a n t h r o p o l o g i s t s i n f l u e n c e d b y t h e W e b e r i a n t r a d i t i o n . 3 4 Its f o u n d i n g f a t h e r w a s T a l c o t t P a r s o n s , w h o e s t a b l i s h e d t h e D e p a r t m e n t of Social R e l a t i o n s at H a r v a r d U n i v e r s i t y , a n d w h o d e f i n e d c u l t u r e as ' i d e a s or b e l i e f s , e x p r e s s i v e s y m b o l s or v a l u e patt e r n s ' w h i c h p r e s c r i b e certain t y p e s o f b e h a v i o u r in p a r t i c u l a r t y p e s o f r e c u r r e n t s i t u a t i o n s / 5 T h e a p p r o a c h is, h o w e v e r , a s s o c i a t e d m o s t f a m o u s l y w i t h t h e n a m e o f C l i f f o r d G e e r t z , w h o v i e w e d c u l t u r e as ' a n historically t r a n s m i t t e d p a t t e r n o f m e a n i n g s e m b o d i e d in s y m b o l i c f o r m s b y m e a n s o f w h i c h m e n c o m m u n i c a t e , p e r p e t u a t e and d e v e l o p their k n o w l e d g e a b o u t a n d a t t i t u d e s t o w a r d s l i f e ' . 3 6 B y d e s c r i b i n g his m e t h o d as ' i n t e r p r e t i v e ... in s e a r c h o f m e a n i n g ' r a t h e r than as ' a n e x p e r i m e n t a l s c i e n c e in s e a r c h o f a l a w ' , 3 7 G e e r t z w r e s t e d t h e s t u d y o f c u l t u r e a w a y f r o m t h e social s c i e n c e s and a l i g n e d it m o r e c l o s e l y w i t h t h e h u m a n i t i e s . In t h e f i e l d o f a r c h a e o l o g i c a l t h e o r y , t h e s y m b o l i c a p p r o a c h to c u l t u r e w a s e n t h u s i a s t i c a l l y a d o p t e d by t h e ' p o s t p r o c e s s u a l ' o r ' i n t e r p r e t i v e ' a r c h a e o l o g y o f t h e late 1 9 8 0 s . Ian H o d d e r , t h e a u t h o r o f w h a t w o u l d e m e r g e as t h e p o s t p r o c e s s u a l i s t s ' m a n i f e s t o , e v e n w e n t s o f a r as to a r g u e that w h i l e s y m b o l i c a n t h r o p o l o g y w o u l d p r o b a b l y r e m a i n j u s t o n e o f s e v e r a l t h e o r e t i cal s c h o o l s w i t h i n t h e d i s c i p l i n e , t h e s y m b o l i c a p p r o a c h i m p l i c a t e s t h e w h o l e a r c h a e o l o g i c a l e n t e r p r i s e to t h e e x t e n t that ' m a t e r i a l c u l t u r e , all o f it, h a s a s y m b o l i c d i m e n s i o n ' / 8 F o r b o t h cultural e c o l o g i s t s a n d s y m b o l i s t s , c u l t u r e f o r m s a b o u n d e d s y s t e m - m a t e r i a l l y d e t e r m i n e d f o r t h e f o r m e r , s y m b o l i c a l l y c o n s t i t u t e d f o r t h e latter - but in t h e 1 9 8 0 s this c o n ception w a s challenged by a new generation of cultural anthropologists, influenced by poststructuralist philosophies of h e g e m o n y and Pierre Bourdieu's 'theory of p r a c t i c e ' / 9 Practice t h e o r i s t s t e n d to v i e w c u l t u r e as i n h e r e n t l y i n c o h e r e n t , i n c o n s i s t e n t , c o n t r a d i c t o r y and r i v e n by c o n f l i c t u a l f a u l t - l i n e s g e n e r a t e d by ' d i f f e r e n c e s in a g e , sex, status, p r o f e s s i o n , r e l i g i o n ,
31
32 33 34
35 36 37 38 39
Harris 1968, 4; Langness 1974, 84; Keesing 1974,75ff.; Ortner 1984, 132f.. A more integrated conception of culture had already been indicated in the attempts of Boas' student, Ruth Benedict, to endow cultures with collective personalities (gestalten). See Benedict 1934. Trigger 1989, 293; Erickson 1998, 120. Trigger 1989, 294ff.; Hodder 1991, 19ff. For a blistering critique ot'New Archaeology, see Courbin 1988. See, however, Sewell (1999b, 42ff.) who demonstrates that a materialist tenor is traceable in some of Geertz's writings. Victor Turner's own brand of symbolic anthropology was derived more from Dürkheim than from Weber; see Ortner 1984, 128ff.; Erickson 1998, 13Iff. Parsons 1951, 4; cf. Kroeber and Kluckhohn 1952, 181. See Brightman 1995, 512; Berger 1995, 17; Kuper 1999, 16, 52f. Geertz 1973,89. Geertz 1973, 5. Hodder 1991,3. Bourdieu 1977, 72ff.; 1990, 52ff.
Culture, Cultures and
41
Acculturation
residence, education and so f o r t h ' . 4 0 Rather than v i e w i n g culture as a b o u n d e d t e m p l a t e det e r m i n i n g behaviour, they p r e f e r to treat it as a 'toolkit' of strategies - a m e d i u m or r e s o u r c e that m a y s h a p e the capacity f o r h u m a n action while at the same time being m a i n t a i n e d , refined and m o d i f i e d through individual practice. This viewpoint has also been incorporated within the d o x o l o g y o f postprocessual archaeological theory. Thus, Ian H o d d e r argues that individuals m a y actively use material culture ' t o negotiate social position and create social c h a n g e ' , 4 1 and c o n c e d e s that while 'the s a m e material culture may have d i f f e r e n t m e a n i n g s and d i f f e r e n t ideological e f f e c t s for d i f f e r e n t social g r o u p s ' , 4 2 a certain ' f i x i n g ' o f m e a n i n g m a y occur at centres of public control, w h e r e 'the various d o m a i n s o f culture, the o p p o s i n g strands, m a y ... be brought together, and the d o m i n a n t structures r e - e s t a b l i s h e d ' . 4 3 Similarly, M i c h a e l S h a n k s notes that ' c u l t u r e is a l w a y s political and c o n t e s t e d ' and t h e r e f o r e constitutes ' a field of d i s c o u r s e ' . 4 4 T h e f o r t u n e s o f the archaeological culture w e r e already on the w a n e in the 1960s, w h e n the e m p h a s i s that N e w A r c h a e o l o g i s t s placed on e n d o g e n o u s adaptive m e c h a n i s m s h u m a n population g r o u p s shifted attention a w a y f r o m material variations between
within
groups. In
s u b s e q u e n t d e c a d e s the notion of discrete, b o u n d e d archaeological culture-areas has receded even further f r o m the a c a d e m i c agenda. In the first place, doubts have been e x p r e s s e d conc e r n i n g the validity o f identifying culture areas on the basis of 'typical diagnostic traits' w h o s e recognition is all too often based on arbitrary and subjective intuition. 4 5 In t h e second place, the idea that c o m p l e x e s of regularly associated traits should be the ' m a t e r i a l expression of w h a t t o d a y would be called a p e o p l e ' 4 6 w o u l d a p p e a r to be refuted both at the theoretical level, w h e r e the b o u n d e d n e s s o f ethnic categories is no longer as self-evident as it o n c e was, and at the empirical level, w h e r e a series of case-studies has d e m o n s t r a t e d a lack o f c o i n c i d e n c e b e t w e e n ethnic, linguistic and material cultural boundaries. 4 7 S h a n k s s e e k s to situate the c o n c e p t of the archaeological culture in a particular m o m e n t o f intellectual history by s u g g e s t i n g that 'the equation b e t w e e n people, their culture, and the land they inhabit ... is an equation crucial to the c o h e r e n c e of the new nation states of E u r o p e ... e n c a p sulated in the cultural attachment to land so characteristic of romantic n a t i o n a l i s m ' . 4 8 T h e c o n t i n u i n g debate about culture in a n t h r o p o l o g y and a r c h a e o l o g y has o b v i o u s l y had repercussions on the study of culture contact. Early theories of acculturation were often
40
C h a r t i e r 1988, 104. See S w i d l e r 1986, 2 7 7 ; T y l e r 1986, 131; T h o r n t o n 1988, 2 9 9 ; K a h n I 9 8 9 , 1 8 f . ; R o s a l d o 1989, 2 0 7 ; A p p a d u r a i
1990, 2 0 ; A b u - L u g h o d
1991, 154; C l i f f o r d 1992, 9 8 ; B r i g h t m a n
1995,
5 1 5 ff.. 41
H o d d e r 1991, 8.
42
H o d d e r 1991, 67.
43
H o d d e r 1991, 160. C f . S e w e l l ( 1 9 9 9 a , 5 5 f f . ) w h o m a i n t a i n s t h a t p o w e r f u l institutional ' n o d e s ' s u c h as r e l i g i o u s a u t h o r i t i e s , the a p p a r a t u s o f the state or t h e m e d i a e x e r t a c o n s t r a i n i n g and o r d e r i n g i n f l u e n c e on s y m b o l i c f r e e - p l a y a n d o b s e r v e s that ' [ t ] h e act o f c o n t e s t i n g d o m i n a n t m e a n i n g s itself i m p l i e s a r e c ognition of their centrality'.
44
Shanks 2001, 292.
45
B i n f o r d 1965, 2 0 5 ; C l a r k e 1978, 3 7 ; S h a n k s a n d T i l l e y 1987, 83f.; J o n e s 1 9 9 7 , 1 0 8 f ;
Diaz-Andreu
1998, 2 0 3 f . . 46
C h i l d e 1 9 2 9 , vf.
47
A r n o l d 1 9 7 8 , 5 8 ; O ' S h e a 1984; C o l l e t t 1987, 106; D e C o r s e 1989. 137; Hall 1 9 9 7 . 1 2 8 « ' . ; D i a z - A n d r e u
48
Shanks 2001. 286.
1998.
42
Jonathan
Μ. Hall
formulated within the context of colonialism where it was assumed that the encounter of two quite different, discrete cultures would result in the imposition of the colonizers' culture on the colonized. 4 9 Postcolonial theorists have, however, challenged the conceptualization of cultures as static, monolithic and autonomous while championing the role that individual agency may play in cultural encounters, be it in terms of conformity or resistance. Indeed, Homi B h a b a has argued that culture contact in colonial situations actually creates hybrid and Creole cultures, distinct f r o m the original cultures of both the colonists and the subjugated indigenes, in which all parties to the encounter ' h a v e vital inputs into the structures of power, domination, and resistance that result'. 5 0 Students of classical antiquity are not, of course, obliged to keep pace with the anthropological ' w a r s ' over culture. On the other hand, refusal to abandon concepts and definitions that are now outmoded in the fields that fostered them needs to be justified on stronger grounds than mere c o m m o n sense, and there is every reason to suppose that a reconceptualization of culture in the ancient world, informed by the recent anthropological debate, might yield interesting results. This is especially true of what is conventionally called Greek culture in the Archaic world. At the risk of crude oversimplification, I take it that Greek culture is normally understood as comprehending the lived life of the Greeks, their language, beliefs, ideas, practices and institutions - a way of living signalled in the archaeological record by artefacts w h o s e form, style and manner of manufacture have attested origins in the Aegean basin. Yet this characterization would probably not have been recognized by the Greeks thems e l v e s - at least in the Archaic period. Their political fragmentation into relatively small polities with varying degrees of autonomy is c o m m e n t e d upon incessantly, but it is normally supposed that it was through their shared culture that they sensed their affiliation to a broader Hellenic identity. If that is the case, it is somewhat surprising that it seems to have taken them so long to give a name to this c o m m o n identity. Analysis of early Greek literature appears to vindicate T h o u k y d i d e s ' view (1.3) that the names ' H e l l a s ' and ' H e l l e n e s ' were initially confined to a small region centred on the Sperkheios Valley south of Thessaly. 51 It is not until the early decades of the sixth century that the terms c o m e to be applied in a way with which we are more familiar from the Classical period, but even then s o m e Greeks - for example, the Aitolians, the Akarnanians and even the Arkadians - were not (or, at least, not always) considered Hellenes prior to the time of the Persian Wars. 3 2 Hellenic identity was constructed aggregatively in the later Archaic period as Dorians, Aiolians, Ionians and Akhaians sought to interlock their ethnic genealogies to form a supraethnic Hellenic collectivity. 5 3 It might be suggested that this process was facilitated by an increasing
49 50
Gosden 2001, 242. Gosden 2001, 243. See Bhabha
1994. F o r s i m i l a r c r i t i q u e s , s e e C u s i c k
1998, 130f. D i e t l e r ( 1 9 9 9 ,
4 7 9 f f . ) d i s c u s s e s h o w , in r e a c t i o n t o the a c c u l t u r a t i o n m o d e l , a n t h r o p o l o g i s t s t u r n e d to W o r l d S y s t e m s T h e o r y w h i c h situates cultural encounters within the global perspective of 'an exploitative...division of labor maintained by c o u n t e r f l o w s of raw materials and finished g o o d s ' , but notes that the applicability o f this m o d e l to t h e A n c i e n t M e d i t e r r a n e a n w o r l d is far f r o m a p p a r e n t (cf. A r a f a t a n d M o r g a n
1994)
a n d that its r e d u c t i o n i s t a n d m e c h a n i s t i c s u p p o s i t i o n s a r e i n s e n s i t i v e t o r e g i o n a l s p e c i f i c i t y . 51
B l o c h 1 9 0 3 ; C a s s o l a 1953; W a t h e l e t 1975; M e i e 1 9 7 9 ; V a n n i c e l l i 1989; V a s i l e s c u 1989; L e v y 1991.
52
Hall 2 0 0 2 a . 125ff. and 170f.
53
Hall 1997, 4 7 f .
Culture, Cultures and
Acculturation
43
awareness of participation in a broader Hellenic culture, but that, I would suggest, would be to put the cart in front of the horse. Firstly, cultural self-reflexivity is typically triggered by the awareness of difference, not similarity, and all the evidence suggests that Hellenic identity was forged in the heartland of Greece - at the great interregional panegyreis, and above all at Olympia - rather than those areas such as Magna Graecia or Asia Minor where Greekspeakers came into regular contact with allophones. 5 4 Secondly, there is no indication that the Greeks even objectified their culture in discourse until the fifth century when the terms paideia and paideusis came to be seen as a specific, transmittable property of the Hellenes, even if it was often defined Athenocentrically. 5 5 Even before we return to the anthropological literature, then, empirical findings appear to suggest that recognition of the form of the Hellenic community anticipated speculation on its content. In most theoretical treatments, culture has normally been conceived in relationship with - if distinct from - society. 56 British social anthropologists such as Alfred RadcliffeBrown, schooled in a more Durkheimian tradition, regarded culture as a symbolic medium through which social structure is communicated - an idea that later proved influential within Structural-Marxist formulations of culture as i d e o l o g y - 5 7 though recent anthropological thought has tended to problematize the association between culture and society. Thus, Roger Chartier, in an attempt to avoid 'superimposing either the image of the mirror, which makes the one the reflection of the other, or the image of the machine, in which every moving part reacts to an impulse given to the first link in the chain', 5 8 argues that 'collective representations' serve as 'the matrix for a variety of distinct sorts of discourse and practices ... which permit the construction of the social world', while nonetheless remaining 'true social institutions incorporating ... the divisions set up in social organization itself. 5 9 Yet it should be readily apparent that there is no such thing as a singular 'Greek society' in the Archaic period, if by 'society' we mean an interlocking network of social relationships where the behaviour of the actors involved 'takes account of that of the others and is thereby oriented in its course'. 6 0 In antiquity, many of these social relationships would undoubtedly have played out within the sociopolitical 'container' of the polis, while others - particularly at the level of the elites but perhaps also skilled p r o f e s s i o n a l s - would have spilled over parochial boundaries to assume a more transregional form (both within and beyond the territory that we today recognize as Greece). Sappho is a case in point. Her barely-concealed adulation of the luxurious life-style (habrosyne) practised by the Lydians is sometimes taken to betray a particularly early at-
54
Mall 2002a, 90ΙΪ. and Ι34ΙΪ.
55 56
Hall 2002a, 189ff. See, for example, Geertz (1973,144) who argues that it is necessary 'to distinguish analytically between the cultural and social aspects of human life, and to treat them as independently variable yet mutually interdependent factors'.
57 58
Keesing 1974, 83; Ortner 1984, 139ff.; Gellner 1987, lOff. Chartier 1988, 48. Cf. Geertz 1973, 143: "one of the m a j o r reasons for the inability of functional theory to cope with changes lies in its failure to treat sociological and cultural processes on equal terms; almost inevitably one of the two either is ignored or is sacrificed to become but a simple reflex, a "mirror image." of the other'.
59 60
Chartier 1988, 5f. Weber 1 9 6 8 , 4 .
Jonathan
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Μ. Hal!
testation of 'orientalism' - that is, the voyeuristic objectification of the east as exotic if slightly degenerate. 6 1 But that view relies more on our a priori assumption that as an early exponent of Greek poetry, Sappho must also be an early spokeswoman for Greek culture, rather than on anything that might be suggested by the surviving fragments of her poetry. Indeed, when Sappho refers to Lydia alongside Lesbos and other Ionian cities, it is difficult to discern any significant differentiation between the Greek and non-Greek worlds. 62 This is hardly surprising. Sappho, like Alkaios, belonged to a milieu in which intermarriage, guestfriendship and gift exchange delineated class distinctions rather than ethnic boundaries. Indeed, if our view of culture is that of a network of symbols, it is probably fair to say that Sappho was literate in a symbolic vocabulary that transected ethnic and linguistic boundaries - one in which Greek and Lydian-speaking elites shared to a degree that would have been impossible for an impoverished labourer from Mytilene, let alone Arkadian Orkhomenos. The world of Lydian habrosyne is Sappho's world. Does that make her Lydian, or somehow less Greek? Or does it suggest that our unitary conception of Greek culture is unsatisfactory? Let me pursue this line of thought by raising some more questions. Boardman assumes that the Etruscans were happy to accept items from Greek traders and colonists without understanding their 'true', original meaning. It is, of course, impossible to believe that the Chigi Vase (a Late Protocorinthian olpe found at Veii) meant nothing to those who interred it with its last (ancient) owner. The question is the extent to which the symbolic significations which the Etruscans invested in the object were congruent with the symbolic universe in which the pot was initially conceived and manufactured. As Michael Dietler points out, a bottle of Coca Cola means something very different in Chicago, where it represents a quotidian drink associated primarily with younger consumers, than it does among the Luo in Western Kenya, where it constitutes a prized luxury drink offered to distinguished guests. 6 ' (I might add that I have it on good authority that Coca Cola is often employed as a libation during Catholic rites in the Chiapas peninsula of Mexico). Personally, I am not entirely convinced that the Etruscans would have experienced so much difficulty in 'reading' the symbolism of the Chigi Vase, in which case one is entitled to question the validity of drawing a cultural boundary across a shared symbolic universe. But let us assume, for the sake of argument, that the olpe was endowed with entirely new meanings within an Etruscan web of symbols. To what extent does that represent a hellenization of Etruscan culture? Is it not rather an instance of the Etruscanization of Greek culture in the same way that Dietler's bottle of Coca Cola represents not the Americanization of Africa but the Africanization of Coca Cola? 64 The question is complicated further when we consider that signification is rarely univocal even in the original contexts in which an artefact is produced. A krater may serve as a vessel for mixing wine and water - whether in or outside the context of the symposium - but it may also serve as a dedication in a sanctuary, or as a grave-marker and even sometimes as a vessel of mortuary interment. No doubt it carries certain connotations of its sympotic function throughout, but does it really mean the
61 62 63 64
Sappho Sappho Dietler Dietler
frs. 39, 58, 92. 98 Lobel-Page. frs. 98, 132 Lobel-Page. 1999. 485f. 1999, 486.
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same in each context? In its grave-marking function, it might suggest parallels with funerary kouroi rather than other ceramic containers but this raises a further set of problems. Stylistic considerations and metronomic analysis suggest that the form, if not the meaning, of the kouros was adapted from Egyptian prototypes. 65 Jean-Pierre Vernant and others have attempted to situate the kouros within a constellation of symbols that includes also the topos of the kalos thanatos or 'noble death' in epic poetry and myth, 66 thus safely insulating it from its possible Egyptian roots. But is this symbolic discourse on heroism, athletic prowess and masculine beauty one in which Greek agricultural labourers also shared? Was it one in which Greek women were as conversant as their menfolk? And if the adoption of the kouros form can be considered an achievement of Greek inventiveness and adaptability, why is the same not true of the Sikels? I have, perhaps, asked too many questions. In closing, I want to propose a possible new direction, based on a reformulation of the culture concept. I am acutely aware of the potential redundancy in proposing yet another definition of culture, yet the explication I have in mind does, I think, have the virtue of reconciling some of the opposing viewpoints that have been expressed over the last few decades. The ascendancy of cultural anthropology within the broader field has inevitably caused anthropologists to see culture everywhere. In a world suffused by symbols and meaning, culture is commonly described as omnipresent, 'like the air we breathe' - 6 7 less noxious perhaps than West's 'gas', but endowed with similar ubiquitous properties, shaping all human capacity for action. The paradox is that while symbolist conceptions of culture originated in an idealist reaction to materialism, they have now become as materialist as theories that attribute causation to economic or environmental determinants while possessing few of the heuristic capabilities that these more quantifiable aspects of existence present. The result is an almost mysticist exegesis of social reality that ultimately explains very little. Pierre Bourdieu complains that objectivists are condemned to reify abstractions such as 'culture', treating them as 'realities endowed with a social efficacy, capable of acting as agents responsible for historical actions or as a power capable of constraining practices'. 6 8 I should, however, like to suggest that culture in any meaningful, analysable sense has no existence independent of its reification. 69 We may indeed be surrounded by symbols and signifying elements, but it is only when these are marshalled, mobilized and employed for strategic ends that we detect the operation of culture in its original, singular sense. 70 And those who comprehend and communicate in this semiotic code constitute a culture in the pluralistic sense. Chris Gosden comments on the paradox that while postcolonialist writers espouse theories of cultural hybridity, increasing demands for the repatriation of human remains and cultural artefacts appear to indicate that 'indigenous peoples around the world have to prove that they are not creolized or hybrid cultures, but have maintained some es-
65
G u r a l n i c k 1 9 7 0 ; G u r a l n i k 1997, 138.
66
V e r n a n t 1989, 41 ff. ( t r a n s l a t e d in V e r n a n t 1991, 5 0 f f ).
67
C h a r t i e r 1988, 9 6 ( r e v i e w i n g D a r n t o n 1984).
68
B o u r d i e u 1977, 2 7 .
69
Hall 2 0 0 2 b .
70
C f . S e w e l l ( 1 9 9 9 a , 4 7 ) , w h o a r g u e s that ' [ t ] o e n g a g e in cultural p r a c t i c e m e a n s t o utilize e x i s t i n g c u l tural s y m b o l s to a c c o m p l i s h s o m e end".
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sential identity through time and into the present'. 7 1 This takes a deliberate and conscious effort to avoid the semblance of hybridity created by the interpenetration of semiotic codes. It requires the reification of a specific set of ideas, beliefs and practices that is considered (rightly or wrongly) to represent an authentic heritage. In Eric W o l f s words, 'a "culture" is thus better seen as a series of processes that construct, reconstruct, and dismantle cultural materials, in response to identifiable determinants'. 7 2 I would prefer, then to define culture as 'the conscious reification of ideas, beliefs, values, attitudes and practices, selectively extracted from the totality of social existence and endowed with a particular symbolic signification for the purposes of creating exclusionary distinctiveness'.^ Adoption of this definition would reorient the way we study the ancient world. The Lydian provenance of Sappho's headbands and perfumed unguents, or the North Syrian provenance of costly prestige items deposited in mainland Greek burials and sanctuaries would be less significant than the employment of these items to create social distinctiveness. Nor would the consumption of Aegean-derived decorative designs within the material culture of non-Greek societies on Sicily be regarded as the passive reflex of hellenization - especially since, as Boardman notes, culture contact seems to have done nothing to dampen Sikel nationalism in the fifth century. But we might even be able to salvage partially the idea of the archaeological culture. The definition of culture I have proposed is formulated to be as valid epistemologically (the study of the object) as it is ontologically (the object of the study). That is to say, the normative conception of Greek culture held by many classicists has a certain validity in that it is an orderly reification of an essentially disordered and less discontinuous distribution of forms, styles and techniques that serves to replicate disciplinary boundaries in the present (i. e. exclusionary distinctiveness). It has a utility in the sense that it provides a definable frame of reference for adepts to familiarize themselves with the basic symbolic vocabulary and syntax of the ancient Greeks - in other words, a context against which we can identify more dynamic, short-term cultural communication, cleavages and transgressions. We should never forget, however, that this is our reification - a reflection of our society, not theirs.
71 72 73
Gosden 2001, 242. W o l f 1982, 387. Cf. Dietler 1999, 485: 'Culture must be understood not only as something inherited from the past, but as a continual creative project'. Hall 2002a, 17.
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Christoph Ulf
Die Instrumentalisierung der griechischen Frühzeit. Interdependenzen zwischen Epochencharakteristik und politischer Überzeugung bei Ernst Curtius und Jacob Burckhardt.1
Der Begriff ,agonal' bzw. Agon, als Opposition zu .politisch' verstanden, spielt bis in die gegenwärtige Diskussion hinein eine Rolle - und das nicht nur in der Sportgeschichte. 2 Die jüngste mir bekannte Publikation, die ihn offen verwendet, stammt aus dem Jahr 2001 und trägt den Titel Agon, Logos, Polis. Ihr Untertitel The Greek Achievement and its Aftermath3 deutet an, daß nicht nur die Polis, sondern auch der Agon als eine (spezifische) griechische Leistung angesehen werden. Die hier durch ,Logos' voneinander getrennten Begriffe bilden ein Gegensatzpaar, das vor allem in der Tradition der deutschen Altertumswissenschaft als der Gegensatz von .agonal' und p o l i t i s c h ' erscheint. Dieses Begriffspaar steht häufig aber auch hinter dem Bemühen, das mit der griechischen Klassik verbundene p o l i t i s c h e ' im engeren Sinn von einem ,vorpolitischen' Denken und Handeln, das für die Archaik charakteristisch sei, abzugrenzen. 4 Und das findet sich keineswegs nur innerhalb der deutschsprachigen Altertumswissenschaft. Denn der Gegensatz agonal - politisch bildet auch dort den Hintergrund, wenn die Welt der frühen Archaik bzw. der Dark Ages mit einer Phase des Heroischen gleichgesetzt wird. Denn die Rede vom „Heroic Age" beinhaltet meist auch die Vorstellung, daß diese Pe-
1
Am W o r k s h o p wurden im Vortrag neben E. Curtius und J. Burckhardt auch noch H. Berve, H. Schaefcr und Chr. Meier behandelt. Die ausführliche Analyse des Verhältnisses zwischen diesen Autoren und E. Curtius bzw. J. Burckhardt m u ß einer eigenen Studie vorbehalten bleiben. Für die konstruktiv-kritische Lektüre danke ich Godehard Kipp und wie schon so oft Robert Rollinger.
2
Vgl. bes. Meier 1980; Meier 1993; Stein-Hölkeskamp 1989; auch Hölkeskamp 2000, 17-43; zum Kontext der Sportgeschichte vgl. Weiler, 1975; Weiler 1981. 82ff. Zum Z u s a m m e n h a n g der Vorstellung des Agonalen mit der Idee einer idealisierten griechischen Frühzeit vgl. die ausfuhrlichen wissenschaftsgeschichtlichen Abschnitte bei Bourriot 1995, 13-96.
3 4
A r n a s o n / M u r p h y 2001. Der Zeitpunkt des , U m s c h l a g s ' vom Vorpolitischen zum Politischen und die Art des Übergangs stellen dabei Diskussionspunkte dar; vgl. dazu den Überblick bei Cartledge 1998. In dieser Diskussion herrscht j e d o c h weitgehende Übereinstimmung, daß ,das Politische' der Archaik nicht das Gleiche ist wie ,das Politische' der Klassik. Mit der Einschätzung des gesellschaftlichen Umfeldes der homerischen Epen als .vorstaatlich' verbindet sich die Tendenz, dieser Welt auch ,das Politische' nicht im vollen A u s m a ß zuzugestehen: so ζ. B. Seaford 1994. 1 - 2 9 , bes. 10, 22, 28, oder Spahn 1993. bes. 347, 352ff.
Christoph Ulf
52
riode nach a g o n a l e n Prinzipien strukturiert g e w e s e n sei. In dieser Variante findet sich d i e P o l a r i t ä t , a g o n a l - politisch' w e i t über die d e u t s c h e A l t e r t u m s w i s s e n s c h a f t hinaus. 5 Für e i n e s o l c h e Charakterisierung der . E p o c h e n ' Archaik und Klassik ist natürlich ein b e s t i m m t e s V e r s t ä n d n i s d e s B e g r i f f s , p o l i t i s c h ' V o r a u s s e t z u n g . 6 Es ist j e d o c h nicht das Ziel dieser Studie, die v e r w e n d e t e n v e r s c h i e d e n e n P o l i t i k - B e g r i f f e g e g e n e i n a n d e r a b z u w ä g e n , es geht a u c h nicht darum z u fragen, o b d i e archaischen G r i e c h e n tatsächlich u n p o l i t i s c h ' o d e r , v o r p o l i t i s c h ' waren. Es soll v i e l m e h r der B l i c k darauf gerichtet w e r d e n , w a s die R e d e v o n der , u n p o l i t i s c h - a g o n a l e n Archaik' h e r v o r g e r u f e n hat. D i e V o r s t e l l u n g v o m , A g o n a l e n ' ist bekanntlich a u f Ernst Curtius und J a c o b Burckhardt z u r ü c k z u f u h r e n . E b e n s o ist bekannt, daß die Urteile über die Qualität d i e s e r V o r s t e l l u n g sehr unterschiedlich a u s f i e l e n . D i e s hängt damit z u s a m m e n , daß keine w i s s e n s c h a f t l i c h e D a r s t e l l u n g o h n e V o r a u s s e t z u n g e n unterschiedlicher Art a u s k o m m e n kann. Unter den notw e n d i g e n Prämissen f i n d e n s i c h im konkreten Fall g r u n d s ä t z l i c h e A n n a h m e n über den A b lauf der G e s c h i c h t e der M e n s c h h e i t i n s g e s a m t , aus d e n e n unter anderem die g r o ß e c h r o n o logische
Gliederung
abzuleiten
ist. Zu
diesen
Prämissen
sind
aber auch
die
für
die
Darstellung konstitutiven B e g r i f f e zu rechnen. D e n n in ihnen s t e c k e n A n n a h m e n über die G r u n d e l e m e n t e , aus d e n e n die m e n s c h l i c h e n G e m e i n s c h a f t e n z u s a m m e n g e s e t z t sind, und A n n a h m e n darüber, w o h e r die R e g e l n s t a m m e n , nach d e n e n m e n s c h l i c h e G e m e i n s c h a f t e n
5
Haubold 2000, 3ff., macht auf die Selbstverständlichkeit aufmerksam, mit der für die im Text nicht so bezeichneten Figuren der homerischen Epen der Terminus ,Heros' verwendet wird, ohne daß es hierfür einen anderen Grund als ein fest verankertes Vorverständnis von dem Text und ,seiner Zeit' gäbe. Dieses Vorverständnis drückt sich in der geläufigen Verwendung von heroic poetry als Signum einer (tatsächlichen bzw. sich selbst oder auch nur ,ihre Vergangenheit" so stilisierenden) heroischen Gesellschaft' aus. Hier kann nur willkürlich auf einige Beispiele verwiesen werden. Nagy 1979/1999, 7f., 115ff., sieht in den Epen die Heroenwelt der Polis in eine Heroenwelt mit panhellenischem Status transformiert (vgl. demgegenüber das überzeugende Plädoyer von Patzek 1992, 166-177, für eine Trennung von aristokratischer Welt und dem Heroenkult); bei West 1997, ζ. B. 18f., 1320". 334f., erscheint die heroic poetry als Signum einer heroischen Zeit und er deckt sich hierin mit Morris 2000, 171 ff., nach dessen Auffassung der Poet, ausgehend von den aktuellen Erwartungen und Werten, eine heroische Welt darstellt, wie sie sein soll. Ähnliche Grundvorstellungen liegen aber auch der Rede von einem heroic code zugrunde, während die Bestimmung der ,homerischen Gesellschaft' als „warrior culture" einen Spielraum über die Einschätzung als .heroisch' eröffnet; vgl. hierzu van Wees 1992, zudem ζ. B. auch Schofield 1999. II ff. Sieht man diesen Hintergrund für das Bild einer .heroischen Phase', dann stellt sich nicht nur die Frage nach der (griechischen) Spezifik eines solchen Bildes (problematisiert von Weiler 1974; Weiler 1975; Decker 1979), sondern es ist auch zu fragen, ob nicht auch die die Existenz einer solchen Phase generalisierende Vorstellung einer ,Heldenepik' insgesamt als ein wissenschaftliches Konstrukt auf wackligen Beinen ruht; zu letzterem Ulf 2002 und Ulf 2003.
6
Obwohl Cartledge 1998, 386, und Cartledge 2000, zu einer ,vorpolitischen' Welt tendiert, relativiert er diese Position durch die Berücksichtigung von Raaflaub 2000, bzw. dessen schon früher ähnlich gegebenen (Raaflaub 1989, Raaflaub 1993) Hinweis darauf, daß diese Unterscheidung innerhalb ,des Politischen' natürlich mit bestimmten Vorstellungen darüber zusammenhängt, was als .politisch' zu gelten hat. und daß die Griechen darüber anders gedacht haben konnten, als das in der Gegenwart getan wird. Vgl. auch Raaflaub 2001, bes. 73ff. Raaflaub greift hier den Gedanken von Hammer 2002, auf, daß .das Politische' keine entwickelte politische Sphäre mit eben solchen Institutionen braucht, sondern ..can also express itself through relationships and forms of interaction that are essential to a community's well being". Er nähert sich so einem in der Anthropologie geläufigen Verständnis von Politik an. Ähnlich schon Ulf 1989 und Ulf 1988. Zum Politikbegriff allgemein vgl. Sellin 1978; Vollrath 1989; zum Beharren der Anthropologie/Ethnologie auf der Anwendbarkeit des Politikbegriffs in ihrem Feld ζ. B. Bargatzky, 1993; Cohen 1996; Vincent 1997.
Die Instrumentalisierung der griechischen Frühzeit
53
ihr Z u s a m m e n l e b e n g e s t a l t e n . D e r a r t i g e A n n a h m e n zu isolieren, ist nicht nur d e s h a l b von B e d e u t u n g , weil d a m i t das , W e l t b i l d ' e i n e s A u t o r s in e s s e n t i e l l e n T e i l e n e r f a ß t u n d b e s c h r i e b e n w e r d e n k a n n . D a s ist a u c h d e s h a l b von B e d e u t u n g , weil d i e Art d e r a l l g e m e i n e n A n n a h m e n w i e d i e d e r w e n i g e r w e i t r e i c h e n d e n B e g r i f f e mit d e r j e w e i l s v e r w e n d e t e n M e t h o d e e n g v e r b u n d e n ist, n a c h d e r G e s c h i c h t e a n a l y s i e r t u n d d a r g e s t e l l t w i r d . 7 W e i l w e d e r d i e W a h l d e r a l l g e m e i n e n A n n a h m e n n o c h d i e d e r B e g r i f f e u n d s o m i t a u c h d e r M e t h o d e ein v ö l l i g f r e i e s Spiel ist, s o n d e r n mit d e r ( w i s s e n s c h a f t l i c h e n ) S o z i a l i s a t i o n e i n e s A u t o r s in e n g e r V e r b i n d u n g steht, g e l a n g e n in d e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n T e x t a u c h b e s t i m m t e V o r s t e l l u n g e n d a r ü b e r , w a s . P o l i t i k ' ist - a b e r nicht nur, w a s , P o l i t i k ' ist, s o n d e r n a u c h , w a s , P o l i t i k ' sein soll. D a r a u s folgt, d a ß in d i e h i s t o r i s c h e D a r s t e l l u n g a u c h V o r s t e l l u n g e n d a r ü b e r g e l a n g e n , w a s in d e r e i g e n e n W e l t d e s A u t o r s politisch w ü n s c h e n s w e r t ist. Die g e n a n n t e n Z u s a m m e n h ä n g e s o w e i t w i e m ö g l i c h t r a n s p a r e n t zu m a c h e n , ist d a s A n l i e g e n d e r f o l g e n d e n Überlegungen.
I. Der Gedanke des Wettkampfs bei Ernst Curtius D i e Griechische
Geschichte
v o n E r n s t C u r t i u s 8 hatte r a s c h g r o ß e n A n k l a n g g e f u n d e n . D e r
e r s t e B a n d e r s c h i e n im J a h r 1857 z u m ersten M a l , d i e s e c h s t e A u f l a g e im J a h r 1887. D a n n w u r d e es b e i n a h e s c h l a g a r t i g r u h i g u m C u r t i u s , o b w o h l er d u r c h T e x t v e r ä n d e r u n g e n a u f d i e g e ä u ß e r t e Kritik reagiert hatte. D i e s steht in e i n e m o f t s c h o n f e s t g e s t e l l t e n K o n t r a s t z u r unter d e n s e l b e n
Vorgaben
des
Verlags
abgefaßten
Römischen
Geschichte
von
Theodor
M o m m s e n . D o c h s c h e i n t C u r t i u s ' G r i e c h i s c h e G e s c h i c h t e nach d e m E r s t e n W e l t k r i e g im K l i m a e i n e r neu g e f o r d e r t e n Irrationalität w i e d e r intensiv g e l e s e n w o r d e n zu s e i n . 9 D i e s e r A b l a u f ist kein Z u f a l l . D i e G r i e c h i s c h e G e s c h i c h t e v o n C u r t i u s w a r v o n
retrospektiven
G r u n d s ä t z e n g e l e i t e t u n d k o n n t e s o - o b w o h l sie a n d e r s g e m e i n t w a r - d e m L e s e r im a u s g e h e n d e n 19. J a h r h u n d e r t , in d e r Z e i t d e s u n ü b e r s e h b a r e n W a n d e l s , h e r v o r g e r u f e n d u r c h I n d u strialisierung und Imperialismus, kaum mehr befriedigende Assoziationsmöglichkeiten
zu
den eigenen aktuellen Fragen und Problemen bieten.10 Eben dieser Blick nach rückwärts g e w a n n im K l i m a n a c h d e m ersten W e l t k r i e g w i e d e r an B e d e u t u n g . " U m d i e R i c h t i g k e i t d i e s e r T h e s e zu e r w e i s e n , ist ein A u s g r e i f e n w e i t ü b e r die B e g r i f f e , a g o n a l ' u n d , p o l i t i s c h ' h i n a u s nötig.
7
8 9
10 11
Den Zusammenhang der zur Deskription eines Sachverhalts benötigten Begriffe mit denjenigen, die zur Erklärung desselben Sachverhalts herangezogen werden, beleuchtet präzise und umfassend Acham 1982 und bezeichnet ihn prägnant als „deskriptiv-explikativen Zirkel". Zu Emst Curtius vgl. Christ 1989, 68-83 (mit Lit.); Christ 1999, 32-42; auch die Zusammenschau von Bachhiesl 2001. Sie scheint nicht nur indirekt über J. Burckhardt Einfluß ausgeübt zu haben. Vieles bei Helmut Berve klingt ganz offen nach Ernst Curtius; vgl. unten Anm. 35. Die Römische Geschichte von Theodor Mommsen war in dieser Hinsicht völlig anders konzipiert, was ihren anhaltenden Erfolg zu erklären vermag. Vgl. hierzu Christ 1982. Vgl. Glaser 1993, 134f. Vgl. Flashar 1995; Näf 2001.
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1.
Christoph
Ulf
Die chronologische Gliederung der Geschichte in Anwendung auf die Griechen
Die von Curtius verwendeten chronologischen Markierungselemente stammen aus dem Fundus der im 19. Jahrhundert geläufigen Weise, die (antike) Vergangenheit zu gliedern, nämlich eine Vorgeschichte' von der ,Geschichte' zu trennen. Die Art der Veränderungen macht er an drei großen Bereichen deutlich: am Volk, an der Kultur und am Staat. Die Vorgeschichte. Curtius geht von einer Vorzeit aus, die „jenseits aller geschichtlichen Erinnerung" liegt. 12 Diese Zeit charakterisiert er als eine Phase der Kindheit. Die Menschen sollen „in den ursprünglichen Formen des Familienlebens", nur von Patriarchen geleitet, in „Unschuld und Ruhe" gelebt haben.'" Doch ordnet er dieser Phase schon erste zivilisatorische Leistungen zu. Die Pelasger, ein Teil der „in unvordenklichen Zeiten in Hochasien" ansässigen Arier und gegenüber den späteren Hellenen deren „ältere Strömung", hätten sich von dem „arischen Urvolk" getrennt und seien in einer ersten großen griechischen' Wanderung nach Kleinasien, der Propontis und schließlich von Thrakien bis zum Kap Tainaron gekommen. Und diese seien nicht mehr nur der Jagd nachgegangen, sondern hätten „die Wälder gelichtet, die Sümpfe getrocknet, die Felsen geebnet". 14 In der Abhebung von der Stufe der Geschichte, zeichnet er diese Welt jedoch gleichzeitig auch negativ. Er sieht die Welt der Pelasger so wie die der Völker an Euphrat und Nil als „ein grosses Einerlei". Die Pelasger sind ihm „für alle Zeit der Stamm der Eingeborenen, die Masse des Volks, der dunkle Hintergrund der Geschichte". 15 Die Phase der Geschichte. Veränderungen in dieser frühen Vergangenheit sind nach Curtius durch weitere Wanderungen hervorgerufen. Auf den Spuren der pelasgischen „große(n) Völkerwanderung" seien später „einzelne Stämme ... aus den Ursitzen der griechischen Nation" nach dem Westen gefolgt. Das ist die Wanderung der „Graeco-Italiker". Der griechische Teil habe sich in Ioner und die Dorier mit einer Reihe weiterer ,Stämme' gespalten. Die letzteren seien über Thrakien „in das nordgriechische Alpenland" gewandert, während die Ioner sich vorerst an der Küste Kleinasiens festgesetzt hätten. Dort hätten die Ioner den Phönikern „mit klugem Sinn ihre Künste abgelernt", 16 sich zuerst im östlichen Mittelmeer ausgebreitet und dann auch an den Küsten der Balkanhalbinsel niedergelassen. Mit dem durch die Phöniker beeinflußten Auftreten der Ioner habe sich die Vorgeschichte zur Ge-
12 13 14 15
G G Bd. 1, 24, vgl. 15: „Die Geschichte kennt keines Volkes A n f a n g e . " G G Bd. 1 , 7 5 , 112. G G Bd. 1, 1 6 , 2 6 , 3 0 . G G Bd. 1, 13: „In Asien haben grosse Ländermassen zusammen eine Geschichte." Das was sie durchleben, sind „Schickungen, denen unterschiedlos die weitesten Erdstriche mit Millionen ihrer Einwohner erliegen."' Die Veränderungen erfolgen nur ganz langsam über große Zeiträume hinweg. Und diese Veränderungen sind nur „ U m w ä l z u n g e n , aber keine Entwickelungen". Die Zeit „hat keinen Inhalt"; die Völker an „Nil und Euphrat" haben zwar eine „Chronologie, aber keine Geschichte im vollen Sinn des Worts." Insgesamt: das ist ein Zustand ..der Erstarrung". Vgl. 27, 30, 49: ..gleichförmiges Pelasgerleben", 75, 112: die Pelasger lebten „völlig einförmig ähnlich wie [noch später] die nicht-indogermanischen Asiaten" dahin.
16
G G Bd. 1 , 3 6 .
Die Instrumentalisierung
der griechischen
Frühzeit
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schichte verändert. Und Curtius benennt deren Merkmale: Höhere Kultur, die Existenz von Staaten und eine andere Art der Religion. Auch die so einsetzende griechische Geschichte denn erst die Ioner sind Hellenen, nicht schon die Pelasger - wird noch einmal von der Geschichte der orientalischen Völker abgehoben. Anders als die Asiaten waren die Griechen, genauer die Ioner, dazu bestimmt, „innerhalb der ihnen verwandten Völkermasse [seil, den Pelasgern] ... das geschichtliche Leben zu erwecken". 1 7 Einmal aus der Masse des Volkes hervorgetreten, breiten sie sich in derselben kriegerisch aus. Ihre Welt ist kleinräumig und vital, ihr Geist arbeitet „rastlos". Wenn so einmal „Verkehr und geistiges Leben" erwacht sind, dann gibt es keinen Stillstand mehr, sondern nur konstante Entwicklung. 1 8 In der Folge davon bildet sich, konzentriert auf die „pelasgisch-ionischen" Küstengebiete und rund um „den Gebirgskern des europäischen Hellas" 19 , in jeder „Gaugenossenschaft das Gefühl einer von Gott gewollten und geordneten Zusammengehörigkeit, es erwächst von selbst aus den Weilern des Thals der gemeinsame Staat und in jedem solcher Staaten das Bewusstsein einer vor Gott und den Menschen vollberechtigten Selbständigkeit." Zu einem solchen Staat gehört auch ein besonderer kultureller Zustand, „die Mannigfaltigkeit der Bildung, Sitte und Sprache, welche das alte Griechenland auszeichnet". 2 0 Der Höhepunkt am Anfang der Geschichte. In Curtius' Bild der geschichtlichen Entwicklung, in dem der Staat der Kultur und der Religion übergeordnet ist, wird der Höhepunkt mit dem frühen Staat der Griechen sofort erreicht. Dieser stellt für Curtius eine „Welt der höheren Harmonie, ein Reich der Gnade" 2 1 dar. Das ist der heroische Staat, in dem er die ideale Monarchie verwirklicht sieht. In ihm steht die staatliche Macht in Einklang mit Kultur, Wirtschaft und Religion. Der Monarch regiert das Volk zu aller Vorteil. 22 Dieser Staat wird völlig modern gedacht. Er kann einerseits als ein Machtstaat großer Dimension wie zum Beispiel die „erste Reichsmacht des hellenischen Alterthums", das von Kreta bis zum Hellespont sich erstreckende Reich des Minos, in Erscheinung treten, andererseits aber auch als ein „priesterliche(r) Staat", wie das nicht nur Delphi gewesen sei. 23
17
G G Bd. 1.30.
18
Vgl. G G Bd. 1, 11, 13, 27, 35: ..Die geistige Bewegung beginnt und damit der erste A t h e m z u g der griechischen Geschichte.", 62. G G Bd. 1 , 5 4 . G G Bd. 1 , 1 2 . GG Bd. 1 , 4 8 . Das ergibt sich aus der Schilderung des Negativbildes zu diesem Zustand, der Herrschaft der Aristokratie.
19 20 21 22 23
GG Bd. I. 59. vgl. 69, 7 I f f . , 76ff., 91 f. Curtius scheint hier aus zwei Quellen zu schöpfen. Heeren. Ideen Bd. 3, 113-116, ließ die Heiligtümer wie Delos, Dodona oder Delphi durch fremden Einfluß entstehen und er sah in ihnen „die Mittelpunkte von Staaten Völkervereinen (sie!)" Und weiter: „Aehnliche Priesterinstitute entstanden sehr früh auf verschiedenen Inseln, welche Griechenland umgaben, und wurden von da nach Hellas selber verpflanzt; vor allen auf Creta und Samothrake." Auf Kreta allein bezogen heißt es: „Schon die Lage dieser großen Insel macht es freylich sehr begreiflich, wie sie d e m festen Lande von Hellas in der Cultur vorangehen konnte. Lag sie nicht fast in der Mitte zwischen Aegypten, Phoenicien und Griechenland?" Und diese Gedanken finden sich variiert in Verbindung mit den von ihm postulierten „Periode(n) der Colonisirung des Apollodienstes" wieder bei Müller, Dorier, XI, 248: „die zweite Periode ist die der sogenannten Minoischen Thalassokratie, welche die Küsten Asiens und Griechenlands mit Hainen und Sühnaltären des Gottes bevölkerte".
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Der Rückschlag: der Verlust des idealen Staats. A u f diesen H ö h e p u n k t läßt Curtius rasch den A b s t i e g folgen. Er wird durch neuerliche, die dritten W a n d e r u n g e n ausgelöst. Sie g e h e n in z w e i R i c h t u n g e n . Z u m einen w a n d e r n die Ionier von G r i e c h e n l a n d R i c h t u n g O s t e n nach Kleinasien zurück. Der troianische Krieg wird in diesen Z u s a m m e n h a n g gestellt. 2 4 Z u m anderen w a n d e r n die D o r i e r v o n ihren nach ihrer A b w a n d e r u n g in A s i e n im N o r d e n G r i e c h e n lands e i n g e n o m m e n e n Sitzen nach d e m Süden. Die Folge dieser (dorischen) W a n d e r u n g ist kultureller Rückschritt, die R ü c k k e h r zu einer „alterthümliche(n) E i n f a c h h e i t " , die der der V o r g e s c h i c h t e sehr ähnlich ist. Die dorischen , S t ä m m e ' sollen „in o f f e n e n G a u e n " und nicht in Städten gelebt h a b e n und staatlich in A m p h i k t y o n i e n mit gleichen Rechten v e r b u n d e n g e w e s e n sein. 2 5 Z u den V e r ä n d e r u n g e n gehört auch das A u f t r e t e n von „ G ä h r u n g e n " , ein Wort, mit d e m Curtius als revolutionär e i n z u s t u f e n d e V e r ä n d e r u n g e n in der politischsozialen L a n d s c h a f t meint.
Adelsstaat
und Tyrannis.
Der Bogen geschichtlichen Fortschritts ist j e d o c h weit kürzer gera-
ten, als die G e s c h i c h t e der Griechen, die Curtius bis ins Jahr 338 dauern läßt. Die auf den Verlust der heroischen M o n a r c h i e f o l g e n d e Zeit m u ß v o m G r u n d g e d a n k e n her d e s z e n d e n t verlaufen, sie enthält aber g e w i s s e r m a ß e n retardierende Elemente, damit der A b s t i e g nicht zu schnell erfolgt. Die A d e l s h e r r s c h a f t , w e l c h e die M o n a r c h i e abgelöst hat, führt w e g e n d e s Verlusts der einigenden Kraft des Herrschers zur „ U n g l e i c h h e i t " . Das bedeutet einerseits die U n t e r d r ü c k u n g des Volks durch den Adel und auf der a n d e r e n Seite die Usurpation von H e r r s c h a f t durch einzelne A d l i g e in der Gestalt von T y r a n n e n . Hinter all d e m steht eine unter der M o n a r c h i e nicht gekannte S p a l t u n g der „ G e m e i n d e n " in Parteien. 2 6 In all d e m sieht Curtius den Z u s t a n d einer „ d a u e r n d e n U n o r d n u n g " 2 7 . Sie wird b e s t i m m t durch P a r t e i f e h d e n und V e r f a s s u n g s w i r r e n im Inneren und „auswärtigen V e r w i c k l u n g e n " . 2 8 Die ideale
Zeit der Perserkriege
- das ideale
Athen.
A m A n f a n g des 5. J a h r h u n d e r t s soll
dessen ungeachtet in Griechenland eine b e s o n d e r e Situation eingetreten sein: „das Land ist g e w i ß zu k e i n e r Zeit volkreicher, das V o l k selbst nie kräftiger, tüchtiger und g e s ü n d e r ge-
24
G G Bd. 1, 127. Vgl. den ähnlichen G e d a n k e n g a n g in der Parallelisierung normannischer Raubzüge mit dem troianischen Krieg bei Duncker, Geschichte des Alterthums, Bd. 3, 217: „Wenn diese N o r m a n n e n schiffe die Haupstadt der Westfranken, wenn sie Paris, Köln, Bordeaux, Toulouse und Valence, viel weiter von der Küste entfernte, wohlummauerte und bevölkerte Städte auf dem Rheine, der Seine, der Garonne und der Rhone aul'wärlsschiffend erreichten und niederbrannten, - warum will man eine ähnliche, viel unbedeutendere That den griechischen Raubschiffen abstreiten?"
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GG Bd. 1. 94Γ. Obwohl Curtius nie direkt von Phasen der Kulturentstehung spricht, verweist er indirekt m e h r f a c h auf dieses Gliederungsmuster, auch etwa dort, wo er von einem „ursprünglich barbarische(n) V o l k s g r u n d " spricht (GG Bd. I, 68). Obwohl er Pelasger und Hellenen grundsätzlich trennt (dazu unten 58ff.) werden auch die Völkerschaften im Norden Griechenlands, welche die dorische W a n d e r u n g verursachen, ähnlich charakterisiert; Curtius verweist dabei u.a. auf die antike Kategorisierung der Epiroten als Barbaren ( G G Bd. 1, 31, 85ff.).
26
Curtius nennt im Laufe seiner Schilderung verschiedene Formen von „Parteien": demokratische Partei, Reformpartei, aristokratische Partei, nationale Partei, Friedenspartei, Kriegspartei; vgl. auch: Parteiinteressen. G G Bd. 1 , 5 0 5 . V g l . z . B . G G Bd. 1 , 5 2 2 .
27 28
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wesen". 2 9 Jetzt lobt Curtius auch die Qualität der griechischen Städte, um so die Basis zu finden, von der aus der Sieg über die Perser erklärt werden kann: „keine Großstädte ... keine so schroffen Gegensätze von arm und reich ... die Armuth war keine Bettelarmuth, die Menge kein Pöbel ... Durch gemeinsames Gesetz wurden die Bürgerschaften zusammengehalten, das Gesetz galt aber für den Ausdruck einer lebendigen Willensgemeinschaft ... der Einzelne fühlte sich als ein Glied des Ganzen ..." Diese politische Qualität wird durch die kulturelle ergänzt, insbesondere durch die „heiligen Wettkämpfe" bei den „Nationalfesten". Die Griechen erscheinen als „große Volkseinheit", wenn auch ohne nationale Verbindung; denn die früher so eindrucksvolle Macht Delphis ist ohne Ersatz zu Ende gegangen. 3 0 Curtius deutet auch negative Eigenschaften an wie die von den selbständigen Städten verfochtene Politik des Anspruches auf Macht gegenüber anderen griechischen Städten. 31 Dies wirkt sich jedoch vorerst nicht aus. Den Sieg über die Perser bezeichnet Curtius als den Sieg des Verfassungsstaates über den Despotismus, als eine Niederlage für die Oligarchie und schließlich als nichts weniger als die Rettung des „griechischen W e s e n s " / 2 Die Zeit nach den Perserkriegen ist durch den entstehenden Dualismus von Sparta und Athen charakterisiert. Sparta wird weitgehend negativ gezeichnet/ 3 während in Athen ab jetzt bis zum Tod des Perikles der Kampf der Parteien gewissermaßen ausgesetzt w i r d / 4 Der „neue Bund" unter der Leitung Athens erhält in der Gestalt einer Amphiktyonie die „ v o l k s t ü m l i c h s t e und schonendste Verfassung", die möglich w a r / 5 Die Herrschaft des Perikles wird in verklärenden Worten geschildert, von denen die spätere hymnische Darstellung Helmut Berves weitgehend abhängen d ü r f t e / 6 Aber Curtius' Perikles ist kein Titan, sondern ein „dirigirender Präsident der Republik". Der Wettkampf wird als die „Seele des perikleischen Staats" g e p r i e s e n / 7 Der lange Abstieg des griechischen Volks. Als Perikles gestorben war, wird aus dem positiven Bild sein direktes Gegenteil. Plötzlich toben sich auch in Athen die Parteien zum Schaden des Staates aus („Parteiwut"); die durch die Pest herbeigeführte „Entsittlichung" ist nicht mehr aufzuhalten, aus der Bürgerschaft von Athen wird in kurzer Zeit „eine haltlose Menge", die von „unklaren Stimmungen" geleitet wird: „Die altbürgerliche Gesinnung, welche der sophistischen Aufklärung einen kräftigen Widerstand geleistet hatte, war machtlos geworden". So traten nach innen die „üblen Seiten des attischen Verfassungslebens ... augenfällig" hervor und nach außen wurde die Politik von „feigen Demagogen und einer launenhaften Volksmenge" b e s t i m m t / 8 In Verbindung mit den folgenden Ereignissen des
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G G Bd. 2, 42. G G Bd. 2, 44ff. Vgl. G G Bd. 2, 47ff. G G Bd. 2, 87ff. Nur zwei Beispiele: Sparta nimmt aus „Falschheit" ( G G Bd. 2, 24) nicht an der Schlacht von Marathon teil, Pausanias erliegt den Verlockungen ..der Herrlichkeit eines orientalischen Fürstenlebens" (GG Bd. 2, 102).
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Vgl. G G Bd. 2, 98f. G G B d . 2, 106. G G Bd. 2. 174ff. Zu Berve vgl. Ulf 2001a; Ulf 2001b; Rebenich 2001; Günther 2002. GG Bd. 2, 188, 275. Vgl. auch Curtius, Bedingungen, bes. 309ff., und unten 13f. G G Bd. 2, 3 4 4 - 3 4 7 .
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peloponnesischen Kriegs beschreibt Curtius dramatisch den sich ankündigenden Untergang des griechischen Volks: „Alles Böse der menschlichen Natur, das bis dahin durch Religion, Gewissen und Vernunft gebunden gehalten wurde, brach unverhalten und ohne Scheu hervor ... die große Spaltung des Hellenenvolks wiederholte sich in j e d e r G e m e i n d e ... Der Gemeinsinn der Bürger ging zu Grunde, und da in dem Gemeindeleben die Tugenden der Hellenen wurzelten, so wurde der Charakter des Volks wesentlich verändert ... dem Ehrgeize gestattete man die Benutzung j e d e s Mittels und die Parteigenossenschaft galt für ein stärkeres Band, als langjährige Freundschaft, Dankbarkeit und Blutsgemeinschaft." 3 9 Die Folgen hiervon zeigen sich im vierten Jahrhundert. Es leitet aufgrund der Parteik ä m p f e - nur unterbrochen durch die Glanzzeit der thebanischen H e g e m o n i e und durch das Wirken einzelner .idealer' Griechen wie schließlich Demosthenes 4 0 - zum Ende der griechischen Geschichte in der Schlacht von Chaironeia. Die griechische „Volksgeschichte hatte sich im Umkreis des engeren Vaterlandes und in der Form republikanischer V e r f a s s u n g e n ausgelebt; sollte sie eine Z u k u n f t haben, so musste die frische Kraft der s t a m m v e r w a n d t e n Völker des N o r d e n s hinzutreten und die Führung der nationalen Politik in die Hände eines Fürsten übergehen, welche eine selbständige und allen Kleinstaaten z u s a m m e n überlegene H a u s m a c h t besaß." 4 1
2.
Grundbegriffe
Die Art der chronologischen Gliederung der griechischen Geschichte wie auch die hierfür verwendeten Begriffe lassen für Curtius grundlegende Vorstellungen schon erkennen. Für die Beurteilung ihrer Herkunft und ihrer Wirksamkeit ist es notwendig, einige der Schlüsselbegriffe näher zu betrachten.
NATION - V O L K - STAMM. Curtius verwendet die Begriffe Nation und Volk an verschiedenen Stellen seiner Darstellung. Die A b g r e n z u n g zwischen den beiden Begriffen bleibt j e d o c h vielfach unklar. A m Beginn, so scheint es, stehen „Völkermassen". In Asien, woher die Arier k o m m e n , existierte eine Völkermasse, auch die Pelasger, die durch die Ioner zur Geschichte „erw e c k t " wurden, werden als Völkermasse bezeichnet. 4 2 Aus dieser (Ur-)Masse lösen sich durch W a n d e r u n g einzelne Völker, die wiederum in Teile zerfallen können, als „ Z w e i g e eines Völkergeschlechts" 4 3 . Diese einzelnen Völker verfügen über ein eigenes . V o l k s t u m ' , das sie von allen anderen unterscheidet, und - so zumindest für die Hellenen formuliert - sie werden sich ihrer selbst bewußt. 4 4
39 40 41 42 43 44
G G Bd. 2, 3 7 8 - 3 8 0 . G G Bd. 3, 55ff., 3 7 7 f f „ 5 4 8 f f „ 727ff. G G Bd. 3, 429f.; vgl. auch 634: „geschichtliche N o t w e n d i g k e i t · ' , 739: „ E r s c h l a f f u n g des Volkes". 744: „die Kraft des Sonderlebens in den griechischen Gemeinden [war] erschöpft". G G Bd. 1, 30; vgl. oben 3f. Z u m „extensive(n) G e b r a u c h " von ,arisch' von Curtius im Unterschied z u m gängigen zeitgenössischen Wortverständnis vgl. Wiesehöfer 1990, I54f. G G Bd. 1 , 1 1 0 . G G Bd. 1 . 3 8 3 , 4 4 5 .
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A b e r s o w o h l die , V ö l k e r m a s s e ' als auch die sich aus ihr lösenden V ö l k e r k ö n n e n gleichzeitig auch N a t i o n e n o d e r Nationalitäten sein. D a s gilt f ü r die Pelasger 4 5 und e b e n s o f ü r die Arier insgesamt, die G r ä k o - R ö m e r , die Phryger, die Griechen. 4 6 Das G a n z e wird dadurch noch unübersichtlicher, d a ß eine Nation einerseits e t w a s V o r g e g e b e n e s sein, andererseits aber auch erst im L a u f e der Zeit entstehen kann. So bildeten sich nach C u r t i u s ' Sicht „aus einer Reihe von S t ä m m e n " ein vorerst noch u n b e n a n n t e s Volk, das zur U n t e r s c h e i d u n g von „allen a n d e r e n V ö l k e r s c h a f t e n " einen N a m e n benötigt. Der „durch U e b e r e i n s t i m m u n g festgestellte B u n d e s n a m e w a r der der Hellenen". Mit d e m Entstehen der A m p h i k t y o n i e n h a b e er den älteren N a m e n der G r ä k e r ersetzt. Hellenen, so Curtius weiter, sei z u m „ n e u e n N a t i o n a l n a m e n " g e w o r d e n , die (griechische) „Nationalität" sei so mit der W a n d e r u n g der Ioner nach d e m Westen und der Dorier und a n d e r e r v e r w a n d t e r V ö l k e r s c h a f t e n nach und um Thessalien z u m „ A b s c h l ü s s e " g e k o m m e n . 4 7 Ähnlich unklar wie der Unterschied z w i s c h e n N a t i o n und Volk bleibt die Unterscheid u n g z w i s c h e n Volk und S t a m m . Tendentiell wird mit , S t a m m ' eine kleinere Einheit als mit , V o l k ' bezeichnet. Da aber der j e w e i l i g e B e z u g s p u n k t für die D i m e n s i o n e n e n t s c h e i d e n d ist, kann es sein, d a ß S t ä m m e dann, w e n n sie in B e z u g zu e i n e m großen V o l k gesetzt w e r d e n , g r ö ß e r e Einheiten darstellen können als (kleine) Völker. So soll die B e v ö l k e r u n g Kretas d e m „ S t a m m v o l k " , d. h. den Pelasgern,
verwandt,
gleichzeitig aber auch eine M e n g e an V ö l k e r n (und Sprachen) in Kreta z u s a m m e n g e d r ä n g t g e w e s e n sein. 4 8 In den a n s o n s t e n als Teile der hellenischen N a t i o n und somit auch als Völker betrachteten Pelasgern, Ionern, Doriern und Äolern w e r d e n auch einzelne S t ä m m e mit e i n e m j e w e i l i g e n „ S o n d e r l e b e n " gesehen. 4 9 Das griechische Volk kann sich aus einer großen M a s s e v e r w a n d t e r S t ä m m e a u s g e s o n d e r t haben. 3 0 A b e r auch Teile eines z u m V o l k m u tierenden S t a m m e s können wieder als S t ä m m e figurieren, wenn die Dorier die alte B e v ö l k e r u n g als S t a m m , d. h. als Phyle, anerkennen. 5 1 D i e s e U n k l a r h e i t e n b e r u h e n offensichtlich auf einem auch f u r die c h r o n o l o g i s c h e Glied e r u n g benützten z w e i f a c h e n , eine j e w e i l s unterschiedliche a r g u m e n t a t i v e G r u n d l a g e verra-
45 46
GG Bd. 1 , 2 6 . GG Bd. I, 30, 65: „ S o wurzelt, nach beiden Seiten hin verwandt, mitten im vollen Völkerleben Kleinasiens, auf dem Boden einer Halbinsel, wo Phryger und Pelasger, Assyrier, Phönizier und hellenische Seefahrer z u s a m m e n g e t r o f f e n sind, das Reich der Dardaniden."
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G G Bd. I, 95f. Die G e d a n k e n f ü h r u n g ist nicht ganz klar. So sollen die Hellenen - in Athen mit den Pelasgern verbunden! - auch wieder keine neue Nationalität sein, sind aber andererseits nicht dasselbe wie die Pelasger, „denn es gehen ja ersichtlich ganz neue Lebensströme von den Hellenen aus." (GG Bd. 1. 27, vgl. 25). Die Hellenen „scheinen" zuerst „als ein Z w e i g der phrygischen Nation, dann aber als ein besonderes V o l k " im nördlichen Kleinasien „gewohnt zu haben" (GG Bd. I. 29f.). Ähnlich vers c h w o m m e n ist das Verhältnis zwischen Stamm und Nation bzw. Volk: „Sie (seil, die griechischen S t ä m m e ) verläugnen in ihrer Besonderheit niemals den allgemein hellenischen Charakter, aber gehen doch erst allmählich in den Gesammtbesitz des ganzen Volks über; das Sonderleben der einzelnen S t ä m m e m u ß t e sich erst erschöpfen, ehe sich ein allgemein hellenischer Typus in Sprache, Literatur und Kunst geltend machen konnte." (GG Bd. I, 25).
48 49
G G Bd. 1,59. GG Bd. 1, 25. In der Beschreibung der Zustände im 4. Jh. werden auch Einheiten, die nicht einmal S t ä m m e sind, zu Völkern, so beinahe j e d e griechische . L a n d s c h a f t ' wie ζ. B. die Thebaner, die Plioker. die Lokrer usw. Vgl. Bd. 3, 430ff.
50 51
G G Bd. 1, 384. G G B d . l , 139.
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tenden Zugriff auf die Vergangenheit. Auf der einen Seite steht die prozessual-evolutiv orientierte Sicht, wie sie sich in den Lehren der Kulturentstehung finden läßt. Mit ihr gerät auf der anderen Seite die - , m o d e r n e r e ' - statische Gliederung nach Völkern in Konflikt. Was eine Nation ausmacht, wird Uber kulturelle Merkmale bestimmt, während sich ein Volk, wie das allein schon die Vorstellung von Völkergeschlechtern ausdrückt, aus gemeinsamem Blut herleitet. Doch selbst diese einfache Bestimmung des Volkes wird wieder unscharf. Aus verschiedenartigen Völkern, die sich mischen, läßt Curtius durch die Einwirkung der Hellenen ein neues, positiv bewertetes Volk hervorgehen. 5 2 So gerät in den auf Abstammung gegründeten Volksbegriff das Element der Kultur. Nur vom Begriff der Kultur her wird verständlich, daß ein Volk doch kein einheitliches Volk sein muß und in sich sehr unterschiedlich geartet sein kann. 53 Das gilt auch für die große, Pelasger (die j a auch ein Volk sein können) und Hellenen umfassende Nation. Die Hellenen sind keine „ganz neue Nationalität", und die Pelasger und die Hellenen „auch nicht Eins und Dasselbe, nicht bloss verschiedene Namen fur eine Sache. Das ist unmöglich, denn es gehen j a ersichtlich ganz neue Lebensströme von den Hellenen aus." 54
Ä U S S E R E N A T U R - K U L T U R - INNERE N A T U R .
Die äußere Natur. „Die Völker sind Kinder ihres Landes". 5 5 Curtius drückt mit diesem Satz und vielen ähnlich lautenden eine kausale Beziehung zwischen der jeweiligen Geographie und der in einem bestimmten Land lebenden Menschen aus. Für die Griechen bedeutet das etwa, daß sich durch die Wanderungen in die südliche Landschaft des Mittelmeerraumes der Charakter der Nation völlig geändert habe. Auf eine klare Beschreibung der Art der Kausalbeziehung zwischen „Landschaft und Geschichte" läßt sich Curtius jedoch nicht ein. Er sieht hier nur ein „tieferes Geheimnis" walten. Doch gibt er insofern einen Teil dieses Geheimnisses preis, als er behauptet, daß das griechische Land eine besondere, eine natürliche Begabung aufgewiesen habe. Die Folgerung daraus lautet dann so: „Sein Bewohner genießt den vollen Segen des Südens, ihn erfreut und belebt der helle Glanz des Himmels, die heitere Luft des Tages, die warme erquickende Nacht. Den nöthigen Unterhalt gewinnt er leicht von Land und Meer; Natur und Klima erzieht ihn zur Mässigkeit." Die Besonderheit der
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G G Bd. 1, 63, 70. A m Ende der freien griechischen Geschichte erfolgt so .eine Z u f ü h r u n g frischen Bluts' durch die M a k e d o n e n ; vgl. oben 6f. G G Bd. 1. 25: ..Die Entstehung dieser grossen und durchgreifenden Unterschiede im griechischen Volk setzte grosse U m w ä l z u n g e n ursprünglicher Zustände, grosse W a n d e r u n g e n und U m s i e d e l u n g e n vora u s . " Das ..griechische Volksthum", so Curtius an anderer Stelle ( G G Bd. 1, 383), beruhte „wesentlich auf einer gewissen Cultur, daß alle S t a m m e s g e n o s s e n , welche an dem Fortschritte derselben sich nicht betheiligten, mochten sie noch so nahe wohnen, von dem V o l k s t h u m e ausgeschlossen erscheinen, w ä h rend die entlegensten G e g e n d e n , in welchen durch eine glückliche A n s i e d e l u n g die griechische Cultur Wurzel gefaßt hatte, im vollen Sinne z u m Lande der Griechen gehörte." A u c h dieses Bild kehrt am . E n d e ' der griechischen Geschichte in der Konstruktion des „idealen H e l l e n t h u m s " als kulturelles Phän o m e n w i e d e r , die über dem Volk steht; vgl. Bd. 3, 529, 540f. G G Bd. 1 . 2 7 . Curtius. Mittleramt, 14.
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Griechen, das ist die Botschaft solcher Passagen, ist mit der Besonderheit ihres Landes untrennbar verbunden. 5 6 Der Begriff der Kultur. So wie der Volksbegriff so wird auch dieser geographische Determinismus in seiner Wirkkraft durch den Kulturbegriff eingeschränkt. „Auch die Hauptplätze neuer Cultur werden immer einen Theil ihrer Bedeutung der natürlichen Lage verdanken, aber jeder Fortschritt der Cultur ist eine Befreiung von diesen Bestimmungen, ein Zurückdrängen der natürlichen Einflüsse, eine Entfesselung des Geistes." 37 Weil in Curtius' Geschichtsbild - abgesehen von der partiellen Berücksichtigung evolutiver Vorstellungen die Statik überwiegt, kann sich Kultur - so wie auch das Volk - im wesentlichen nicht aus sich heraus verändern, sondern bedarf dafür eines äußeren Anstoßes. Diesen sieht er ganz traditionell im Einwirken des Orients auf die Pelasger bzw. Griechen. Die Phönizier sind hierfür die hauptsächlichen Vermittler. 58 Anders als die Pelasger seien die Griechen in der Lage gewesen, die Anstöße nicht nur aufzunehmen, sondern rasch in bisher nicht gekannter Weise zu nützen, indem sie sie ins Griechische umprägten. Es seien die ersten „Ordnungen", d. h. große Staaten, entstanden. Diese Veränderung wird zum Beispiel in Verbindung mit dem für historisch gehaltenen und in diese Phase datierten ,Staat des Minos' mit einer neuen „durchgreifenden Culturepoche" gleichgesetzt. 59 Der Begriff ,Kultur' scheint hier von dem des ,Staates' abhängig zu sein. Dennoch kann ,Kultur' selbsttätig wirken. Denn ab diesem Zeitpunkt fungieren die Griechen als die weit über die Semiten hinausreichenden kulturellen Motoren der weiteren Entwicklung, die zu einer „gleichartige(n) Culturwelt" 6 0 von Kreta bis zur Troas führt. Das Ergebnis dieser Veränderung ist aber kein wirklicher Wandel, sondern nur die Realisierung der im griechischen Volk angelegten Möglichkeiten. Die Gleichsetzung von innerer Natur und Kultur. Da sein Kulturbegriff weitgehend statisch ist, kann Curtius den Begriff dazu benützen, um trotz staatlicher Zersplitterung mit einer dennoch vorhandenen Einheit der Hellenen zu operieren. In der von den Barbaren abgegrenzten griechischen Kultur lassen sich so alle internen griechischen Gegensätze aufheben.
56
G G Bd. 1, I4f. Diese Affinität zu einem geographischen Determinismus tritt mehrfach zutage, vgl. auch G G Bd. 1, 3f., 12, und oben A n m . 22; sie dürfte sowohl durch K. 0 . Müller als besonders auch durch den Geographen Karl Ritter veranlaßt worden sein; so schon Michaelis 1896, 57f.; vgl. zudem Borbein 1988, 283; Gehrke 1993.
57
Curtius, Mittleramt, 14.
58
G G Bd. 1, 35: „die schlummernden Kräfte wurden geweckt, der Bann gelöst, der die Menschen in einförmigen Zuständen gefesselt gehalten hatte. Die geistige B e w e g u n g beginnt und damit der erste A t h e m z u g griechischer Geschichte." Vgl. ζ. B. auch 57. G G Bd. 1, 60f. Die Sagen von Danaos, K a d m o s oder Iason, die in den älteren wissenschaftlichen Darstellungen als Belege für eine direkte phönikische bzw. ägyptische Beeinflussung der Pelasger gehalten wurden, deutet er ,griechisch-national' um. Die genannten Figuren sollen die kulturell überlegenen ionischen Einwanderer auf der Balkanhalbinsel repräsentieren, die als Kolonisten die dort lebenden, einheimischen Pelasger zu einem neuen Niveau führten, „denn Alles, was die Griechen ihrem Minos zuschreiben, der Kern aller Sagen ... hat keinen anderen Inhalt, als daß O r d n u n g und Recht, Staatengründung und mannigfaltige Gottesdienste von seiner Insel ausgegangen sind. Sie ist der mütterliche Schoß jener Gesittung, durch welche sich auf das Bestimmteste die Hellenen von allen Nicht-Hellenen unterscheiden ... Hier hat der griechische Geist zuerst offenbart, wie er stark genug sei, sich die mannigfaltigen Anregungen der schlauen, erfinderischen Semiten anzueignen, aber alles E m p f a n g e n e selbsttätig umzugestalten und solche Formen des religiösen und staatlichen Lebens zu schaffen, die der klare Abdruck seiner eignen Natur sind." Vgl. G G Bd. 1, 39ft", 53ff.
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Der W e g der Argumentation führt mit dem Blick auf die frühen Griechen über die Sprache; bezogen auf spätere Phasen wird mit Kunst, Literatur und Philosophie argumentiert. Resümierend heißt es: Die Hellenen „waren ein von Natur unverkennbar gezeichnetes, durch gleiche Anlagen des Geistes und Körpers zur Einheit verbundenes Menschengeschlecht." 6 1 Auf diese Weise gelangt Curtius zu einem zweiten, anderen als dem geographischen Naturbegriff. Die Natur des Volkes wird hier mit seiner Kultur identisch. 62 So stehen g e h e i m n i s voll' äußere Natur, Kultur und innere Natur in einem unauflösbaren Zusammenhang.
RELIGION.
Religion wird wie der Begriff der Natur von den zwei schon mehrfach genannten, zu Widersprüchen führenden Positionen aus umschrieben, aus dem Blickwinkel, wie Kultur entsteht, und mit dem Blick auf das Konstante eines Volkes. Religion als Teil der Kulturentwicklung und gleichzeitig als Ausdruck des Wesens eines Volks. Curtius kann Religion als ein Element sehen, das über den kulturellen Zustand eines Volkes Auskunft gibt. „Die Geschichte der Götter", heißt es zum Beispiel, „ist die Vorgeschichte des Volks und des Landes." 6 3 Wie die Kultur am Beginn einfach ist, so ist das auch die Religion. Der einfache Anfang kann sowohl positive als auch negative Züge aufweisen. So schreibt er den Pelasgern einen „lauteren" Gottesdienst zu, der Züge einer monotheistischen Anfangsphase trägt. 64 In anderem Zusammenhang wird aber eben diese Welt zu einer, in der die Menschen „finsteren Naturdiensten" 6 5 frönten. Der konkrete historische Wandel führte von der pelasgischen Zeusreligion, mit deren Hilfe „die Genossen der einzelnen Stämme in patriarchalischer Weise" 6 6 vereinigt worden sein sollen, über die rohe Periode der Karier zur schon wohltätigen karisch-lelegische Periode mit der Einführung des Poseidonkultes 6 7 und schließlich zur Religion des Apoll. Diese letzte Veränderung wurde erstmals von den Ionern herbeigeführt. Doch war diese Apoll-Religion noch mit der Poseidon-
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G G Bd. I, 24; vgl. ζ. B. auch 20, oder die Überschriften wie ..Das nationale Epos" (445) oder ..Einheit des Kimstiebens" (451). Vgl. z. B. GG Bd. I. 451. bezogen auf die Kunst: ..F.s wurde mit großer Weisheit zu gemeinsamer Wirksamkeit zusammengeführt, was aus angeborener Genialität des Volks hie und da erwachsen war. Daher bildete sich kein eigentlicher Gegensatz zwischen Kunst- und Volksdichtung zwischen priesterlicher und natürlicher Poesie ... Die Kunstenwicklung blieb eine echt volksthümliche und wurde eine einheitliche, eine in sich z u s a m m e n h ä n g e n d e und von innerer Harmonie getragene, von einzelnen Begebenheiten und Personen unabhängige." So auch in anderen Schriften wie Curtius, Kunst, 86: „ D e r Hellenen ganze Nationalität war aber auf die Kunst angelegt ... die Kunst war ein so w e s e n t l i c h e r Theil ihres Lebens und Strebens, dessen Verständniß ohne sie unmöglich ist ... Denn im geselligen und öffentlichen Leben da zeigen sich die Griechen ... so unzuverlässig, eitel, leichtfertig und neuerungssüchtig; in ihrem Kunstleben dagegen ... treu sich selbst und d e m überlieferten Gesetze! ... Daher der erziehende Einfluß der Kunst, daher ihre Kraft, den Menschen in seinen Neigungen zu läutern und aus den niederen Sphären der Sinnlichkeit emporzuheben." Vgl. auch Curtius, Bedingungen. 312, wo die Könige als „Lehrer des Volkes" erscheinen. GG GG GG GG GG
Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.
1,49. 1, 42f. 1,70. 1, 90f. 1,53.
Die Instrumentalisierung
der griechischen
Frühzeit
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Religon verwandt. 6 8 Erst in einem zweiten Anlauf haben dann die Dorier - die Abhängigkeit von Karl Otfried Müller ist unübersehbar - die vollendete Apollreligion verbreitet. Religion ist also nicht nur wandelbar, sondern sie entspricht auch „den verschiedenen Entwicklungsstufen des nationalen Bewußtseins" 6 9 und damit einer fortschreitenden Kultivierung und einer Steigerung des sittlichen Niveaus der griechischen Nation. Sieht Curtius auf der einen Seite die Religion sich wandeln und mit ihr auch die Völker, so steht dem wiederum die Vorstellung von Statik gegenüber. Jedes Volk verfügt über eine ihm eigene Religion. 7 0 Wenn sich Völker spalten, so wie die Pelasger, dann werden „aus den verschiedenen Seiten des göttlichen Wesens ... neue Wesen". Mit der Spaltung der „Nationalität", so Curtius, wurden Gottesbewußtsein und Gottesdienst „örtlich verschieden". Dies schätzt Curtius zum Teil auch als gefährlich ein, weil Teile der sich spaltenden „Nationalität ... „dem lockenden Reize des Bilderdienstes nicht widerstehen" konnten. 71 Erscheint das auf den ersten Blick als ein Widerspruch zur Annahme der Identität von ,Volkswesen' und Religion, so zeigt sich an der Darstellung der Griechen, daß gerade in dieser Situation die Spezifik eines Volkes in seiner Religion besonders klar zum Ausdruck kommt. Denn durch besondere „religiös-politische Ordnungen" habe sich „das griechische Volk aus einer großen Masse verwandter Stämme ausgesondert". Das wird Apollon verdankt, der „als der Gott der thessalischen Amphiktyonie" der Gründer „des gemeinsamen Volksthums der Hellenen, der Urheber der hellenischen Geschichte" gewesen sei. Mit der Besonderheit der apollinischen Religion korreliert nach Curtius die Spezifik der Griechen. 7 2 Die Religion - die Konstanz im Wandel. Vor diesem Hintergrund kann behauptet werden, daß die Religion „überall das Bleibende und Feste im raschen Wechsel der Menschengeschlechter" gewesen sei. 73 Curtius sieht drei Situationen in der Geschichte der Griechen,
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G G Bd. 1 , 4 8 , 6 4 . G G Bd. 1 , 4 7 . G G Bd. I, 42f.: „Die Pelasger verehrten wie die ihnen ebenbürtigen Zweige des arischen Völkergeschlechts, die Perser und die Germanen, ohne Bild und Tempel den höchsten Gott" auf ..hochragenden Berggipfel(n)".
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GG Bd. 1, 42ff. G G Bd. 1, 384f. Diese Religion kannte keine Priesterkaste, bot einen direkten Zugang zu den Göttern, war dennoch nicht individuell, weil „die Priesterthümer" mit besonderen Geschlechtern verbunden waren, die als Teil des Staates anzusehen sind. Vgl. auch 48: Curtius spricht hier von der „Erscheinung des Apoll" und meint: „sie ist wie ein neuer Schöpfungstag in der Geschichte ihrer (seil, der Griechen) geistigen Entwicklung", „die Verwirklichung einer höheren Lebensordnung", 70: Die durch Apoll verursachte Entwicklung „zeigt sich in der Verwirklichung einer höheren Lebensordnung ...", und ganz missionarisch: „Der reiche Segen, welchen diese Religion mittheilte, enthielt die Verpflichtung und erweckte den Trieb, sie unermüdlich weiter auszubreiten, sie hinüberzutragen in die westlichen Länder, die noch im Dunkel älterer Gottesdienste befangen waren", 91: „In vorzüglichem Grade w a r aber die apollinische Religion vermöge der Hoheit ihrer sittlichen Ideen und der geistigen Überlegenheit ihrer Bekenner dazu berufen, die verschiedenen Gaue des Landes um sich zu sammeln und unter sich zu einigen." 452: „Und so steht der delphische Apollon wirklich inmitten aller höheren Richtungen der Forschung und der Kunstbestrebungen, wie der höhere Genius des geistigen Lebens, welches er ... zu ein e m großartigen und klaren Gesamtausdrucke hingeführt und dadurch eine ideale Einheit des griechischen Volkes begründet hat."
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G G Bd. 1, 417. Auch Apoll trägt Konstanz in sich. So wußten die Priester von Delos, „ d a ß aus Lykien die ersten Satzungen ihres Apolldienstes s t a m m t e n " (70). Die Dorier fanden den „Dienst des A p o l l o n " in Argos ζ. B. schon vor und „begründeten" ihn nur neu (138).
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in denen klar zum Ausdruck kommt, daß die Religion dem Volk festen Halt gibt und ihm so Konstanz verleiht. Als durch das Vordringen der Ionier die Gefahr bestand, daß sich die „geweckten Volkskräfte" in „verzehrenden Kämpfen wieder aufreiben" könnten, waren in diesem „Chaos entfesselter Willkühr" feste Mittelpunkte notwendig. Das waren einerseits staatliche Fixpunkte - so das Reich des Minos in Kreta - andererseits „die Heiligthümer der von den Stämmen des ionischen Volks herübergebrachten Götter". 74 Das zweite Mal beweist die Religion ihre Kraft, als das Vordringen der Dorier neuerlich zu einem ,Chaos' führt. Die Religion ermöglichte eine „Verbrüderung der apollinischen Stämme" über den gemeinsamen Gottesdienst an „einem allseitig anerkannten", d. h. amphiktyonischen Heiligtum. 75 Mit seiner Hilfe „erwuchs ein Volk" mit dem neuen gemeinsamen Namen H e l l e nen'. Das leitete nach Curtius zu dem „Abschlüsse der Nationalität". 76 Auf der Religion fußt in der griechischen Geschichte auch weiterhin und somit ein drittes Mal der Zusammenhalt des Volks. Denn in der weiteren politischen Entwicklung verloren die Amphiktyonien ihre Bedeutung, die staatliche Landschaft splitterte sich auf. Über die Religion bleiben jedoch alle Teile der griechischen Kultur und mit ihnen auch die verschiedenen griechischen Staaten miteinander untrennbar verbunden. 77 Die apollinische Religion gewährleistet - insbesondere durch die aktive Rolle Delphis 78 - die Einheit der Griechen. Beeindruckt von Apoll und der Intelligenz der delphischen Priesterschaft hatten sich daher die Griechen „dem Apolldienste" angeschlossen. 79 Die ideale Verwirklichung der apollinischen Religion lokalisiert Curtius im dorischen Kreta und - im Gegensatz zur sonstigen negativen Charakterisierung auch in Sparta, wo der einzelne im Kosmos aufgeht, „einer Ordnung, welche die Mannigfaltigkeit der theilnehmenden Personen so sehr zu einer Einheit verbindet, daß Alle nur einen Willen, nur ein Gesetz, nur einen gemeinschaftlichen Besitz kennen. Hier ist Religion, Philosophie und Staatsverfassung in Eins verschmolzen." 80
DER WETTKAMPF.
Die „wetteifernde Thatenlust" bzw. der Wettkampf ist für die Darstellung der griechischen Geschichte in der Sicht von Curtius ein ganz wichtiger Begriff. Auch er dient, so wie Kultur
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GGBd. l,55f.,57f. G G Bd. 1, 90ff. Hierin sieht Curtius „die ersten Formen g e m e i n s a m e r V o l k s g e s c h i c h t e " . Von den Heiligtümern der A m p h i k t y o n i e n sei d a h e r auch später nach der A b l ö s e des K ö n i g t u m s „die Idee einer nationalen Einheit" von d e m einzig verbliebenen konservativen Element, von den von der a l l g e m e i n e n N e u e r u n g s s u c h t freien Priestern, ausgebildet w o r d e n ( G G Bd. 1, 384ff., 397).
76 77
G G Bd. 1 , 9 4 , 9 6 . G G B d . 1 , 9 1 , 4 3 4 f „ 439, 452f.
78
G G Bd. 1, 397: „ D e r O m p h a l o s o d e r Nabelstein bezeichnete das p y t h i s c h e H e i l i g t h u m als den geistigen Mittelpunkt der H e l l e n e n . " Delphi wird z u m missionarischen Z e n t r u m , zu einer „ N a t i o n a l a n g e l e g e n heit", zum Mittelpunkt des Handelsverkehrs; es ist „der einzige Mittelpunkt überhaupt, den die griechis c h e Nationalität sowohl dem A u s l a n d e w i e den Einzelstaaten g e g e n ü b e r hatte." ( G G Bd. 1, 4 1 2 f f . , 452.).
79
Unter B e z u g auf Athen so G G Bd. I, 250.
80
G G Bd. 1, 427. Vgl. auch hier den E i n t l u ß von K. 0 . Müller, Dorier, 340: „Insonderheit w a r e n alle Dorier in e i n e m g e w i s s e n U n t e r t h a n e n v e r h ä l t n i ß z u m Pythischen T e m p e l ; und so lange d i e s e r S t a m m d a s Principat von Hellas hatte," galt Delphi „in der T h a t f u r d a s Prytaneion und den religiösen M i t t e l p u n k t des g a n z e n H e l l e n e n v o l k e s . "
Die Instrumentalisierung
der griechischen
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Frühzeit
und Religion, dazu, die Spezifik der G r i e c h e n herauszuarbeiten. Doch auch f ü r den Wettk a m p f gilt, in gleicher W e i s e wie f ü r Religion und Kultur, d a ß er grundsätzlich keine Besonderheit der G r i e c h e n sein soll. D e n n o c h ist er aber in der W e i s e e t w a s B e s o n d e r e s , wie er bei den G r i e c h e n zutage tritt. U m diesen G e d a n k e n zu verdeutlichen, stellt Curtius einen Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n d e m W e t t k a m p f und d e m b l u t s m ä ß i g definierten V o l k her. „Je deutlicher sich die Hellenen in ihrem V o l k s b e w u ß t s e i n von den Barbaren unterscheiden lernten, um so lauterer und eig e n t ü m l i c h e r haben sie die Idee des W e t t k a m p f s entwickelt". 8 1 A b dem Zeitpunkt, als die Ioner das griechische Festland erreicht hatten, w u r d e der von den Hellenen g e p f l e g t e Wettk a m p f e n d g ü l t i g u n v e r w e c h s e l b a r . D a s g a n z e Leben der Griechen, „ w i e es uns in der G e schichte des V o l k s vorliegt," sei ein „ g r o ß e r W e t t k a m p f ' g e w e s e n . Und sein Ziel soll nicht in materiellem G e w i n n , sondern im G e w i n n des nur s y m b o l i s c h e n W e r t s „des K r a n z e s " bestanden haben: „Ja der K r a n z ist das W a p p e n z e i c h e n der Hellenen, das S y m b o l ihrer eig e n t h ü m l i c h e n M a c h t und Größe.". 8 2 Für dieses zweite wertvolle C h a r a k t e r i s t i k u m wird die spezifisch g r i e c h i s c h e Religion verantwortlich g e m a c h t . Der von den Barbaren „ e m p f a n g e n e K e i m (ist) in g a n z b e s o n d e r m G r a d e selbständig und volksthümlich ausgebildet w o r d e n , und z w a r unter dem läuternden Einflüsse der apollinischen Religion und ihrer Vertreter." 8 ^ Was an Ehre und G e w i n n beim W e t t k a m p f e r w o r b e n w u r d e , h a b e der Gottheit gebührt. Die d a d u r c h erzielte „ h ö h e r e Freud e " zählt Curtius zu den „ E i g e n t ü m l i c h k e i t e n des hellenischen W e s e n s " . Die k o n s e q u e n te - zirkuläre - F o l g e r u n g daraus: „ W i r kennen keine Griechen ohne W e t t k ä m p f e . " 8 4 Doch die m e n s c h l i c h e N a t u r braucht Zucht. Dies erweist sich daran, daß im „ G e d e i h e n " der „ ü p p i g e n " ionischen Kolonialstädte in Kleinasien „der Keim der E n t a r t u n g " lag: „der Wetteifer e r s c h l a f f t e , die S p a n n k r a f t e r l a h m t e in t r ä g e m W o h l b e h a g e n des
Genusses."
W e n n nicht A t h e n g e w e s e n wäre, hätte „sich des ganzen S t a m m e s G e s c h i c h t e ... rasch zu E n d e geneigt". W e g e n der hier existierenden A r m u t blieb auf der einen Seite die „ V o l k s kraft ... g e s u n d " , und auf der anderen blieb die „ V e r b i n d u n g von Freiheit und Z u c h t , von T a p f e r k e i t und K u n s t p f l e g e " aufrecht. Deshalb, so Curtius, k o n n t e Athen das a n f a n g s überlegene Sparta überflügeln und habe daher im „großartigsten W e t t k a m p f e der Persernoth ... mit unglaublicher A n s t r e n g u n g und O p f e r f r e u d i g k e i t den E h r e n k r a n z g e w o n n e n . " Athen -
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Der Wettkampf, 141. Diese A b h e b u n g von den Barbaren ist als eine blutsmäßige A b h e b u n g der Griechen von den Semiten zu verstehen; vgl. Der Wettkampf, 132f.: Je weiter die Arier als Teil der Iapetiden - Iapetos wird neben Sem als einer der Söhne des Noah Japhet aufgefaßt - nach dem Westen vordringen, desto klarer kommt dieser „Erbteil", d. h. die „wetteifernde Thatenlust" zum Vorschein. Die Definition des Volkes auf der Basis der blutsmäßigen A b s t a m m u n g tritt in der Beschreibung des ,Endes' der griechischen Geschichte unverhüllt in den Vordergrund, wenn Curtius behauptet, daß die „zun e h m e n d e Erschlaffung der hellenischen Bürgergemeinden ... damit zusammenhängt, daß die meisten Ehen unter den Söhnen und Töchtern verwandter Familien geschlossen wurden". Deshalb sei die bei Demosthenes zu beobachtende „ S p a n n k r a f t " dadurch zu erklären, daß „etwas von dem Blute der nordischen Völker in seinen Adern flöß" (so G G Bd. 3, 549); vgl. auch oben 57f.
82 83
Curtius, Wettkampf, 134. G G Bd. 1, 403ff.: „nächst dem O p f e r gab es ... keine wesentlicheren Bestandtheile hellenischer Festlichkeiten als den W e t t k a m p f . " Vgl. Curtius, Wettkampf, 140f. G G Bd. 1, 405, 408: Über die durch die „Nationalfeste von Stadt zu Stadt" verbreiteten W e t t k ä m p f e sollen sich sowohl die einzelnen Stämme als auch die vielen Städte in ihrer Eigenheit klar ausgeprägt haben.
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das ist ein für Curtius wichtiger Gedanke - „hat die sittliche Idee der griechischen G e s c h i c h te am tiefsten erfaßt" und " a m vollständigsten verwirklicht". Offensichtlich ist auch diese Idealisierung der dem W e t t k a m p f wie alle Griechen ergebenen Athener a u f dem Gedanken des Volkstums aufgebaut. U m die ex definitione im . V o l k stum' angelegte Dauerhaftigkeit außer Kraft setzen zu können, rekurriert Curtius dann aber a u f die S c h w ä c h e der menschlichen Natur. S o kann er seiner Sicht der weiteren griechischen G e schichte gerecht werden. Die Ereignisse des fünften und vierten Jahrhunderts erklärt er so. daß der „Wetteifer der Staaten" zum blutigen K a m p f wurde, weil der Ehrgeiz „zur rücksichtslosen Herrschersucht ausgeartet" ist. Die Kraft der Religion, die früher den Trieb, „der Wetteifer anregt", nicht „seiner natürlichen Beschaffenheit überlassen hatte", hatte nachgelassen. Der bisher im Zaum gehaltene „schnöde Eigennutz" konnte sich jetzt entfalten. An die Stelle des Kranzes traten Gewinnsucht und Egoismus. 8 5 S o „ist die vom Wetteifer entfachte F l a m m e der Begeisterung ein Feuer geworden, das im Brande des Bürgerkriegs die Blüthe der Staaten frühzeitig vernichtet hat." 8 6 Die Niederlage gegen die Makedonen erscheint wie eine folgerichtige Konsequenz aus diesem Verlust der Zähmung des „wilden Triebs des Ehrgeizes". 8 7 Weil , G e s c h i c h t e ' für Curtius politische Geschichte ist, bedeutet der Untergang Athens im Wettk a m p f mit den Makedonen das Ende der griechischen Geschichte, ,nur' die Kultur der Hellenen überlebte, nicht aber die Hellenen als V o l k . 8 8
D I E A L T E R N A T I V E : D E R S T A A T ALS RELIGIÖS-STAATLICHE ORDNUNG ODER DAS C H A O S .
Die G e s c h i c h t e beginnt mit dem Staat. Die erste richtige „staatliche O r d n u n g " 8 9 war die des M i n o s a u f Kreta, die „erste große That hellenischer G e s c h i c h t e " . Gleichzeitig mit der Einrichtung des Staats wurden die bis dahin herrschende Piraterie, der Krieg aller gegen alle, beseitigt. Der Staat wird von Curtius ganz modern gedacht, obwohl er an den B e g i n n der G e s c h i c h t e gestellt wird: Er ist mächtig, verfügt über ein Territorium und Städte und kennt Handel und Industrie. 9 0 Die Gründung des Staates war erst durch die Volkskraft der Hellenen möglich geworden, in der die fremden Impulse zum „Abdruck ihres geistigen W e s e n s " wurden. Das ist deshalb wichtig, weil das hellenische W e s e n mit Ordnung gleichzusetzen ist. 9 1 Zu dieser Ordnung gehört auch die Kultur, mit deren Hilfe die S t ä m m e miteinander vereinigt werden konnten. 9 2
85
V g l . Der Wettkampf, 144: Die positiv verstandenen Einschränkungen fiir die m e n s c h l i c h e Natur seien verloren gegangen: „der G e h o r s a m , der gefordert wird, die Verläugnung aller selbstsüchtigen Willkür, die Anerkennung einer festen Ordnung, . . . das Sich-vorwärts-strecken des ganzen M e n s c h e n nach E i nem Z i e l e " .
86
Curtius, Wettkampf, 136ff. Vgl. G G Bd. 1, 4 0 4 , 41 Of., Bd. 3 , 4 2 9 f .
87
G G Bd. 1 , 1 4 2 .
88
V g l . G G Bd. 3. 7 4 8 : ..So setzte der im Staatsleben und mit demselben erstarkte Geist des V o l k s außerhalb desselben und frei von allen örtlichen Schranken seine Wirksamkeit fort und bezeugt seine ungebrochene K r a f t . " Das ist fur Curtius ein neues, ein ,. ideales Hellenenthum". Es liegt „nicht im Blute . . . . sondern in der Gesinnung, „und diese Gesinnung kann von allen unverdorbenen Naturen erworben w e r d e n . " (Bd. 3 , 5 4 1 ) .
89
G G Bd. 1 , 5 9 .
90
V g l . ζ. B . G G Bd. 1, 112, 114, 4 7 0 , 4 7 6 , 4 9 4 f .
91
G G Bd. 1 , 2 4 , 5 4 .
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G G Bd. 1 . 7 4 f f . , 1 2 0 f f .
Die Instrumentalisierung
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Durch seine staatlichen O r d n u n g e n h a b e sich „das griechische V o l k " nicht nur von den auf E r o b e r u n g g e g r ü n d e t e n Despotenreichen des Orients a b g e h o b e n , s o n d e r n auch „aus einer großen M a s s e v e r w a n d t e r S t ä m m e a u s g e s o n d e r t " . 9 4 Mit einem Teil der ihnen z u g e schriebenen Charakteristika will Curtius die b e s o n d e r e Klarheit der O r d n u n g e n h e r v o r h e ben. Die „ h ö h e r e L e b e n s o r d n u n g " der griechischen Staaten 9 5 , präfiguriert im Staat des Minos, ist a u f bäuerliches Leben gegründet, hat Sinn f ü r v e r n ü n f t i g e O r d n u n g , ist allem Willkürlichen und Chaotischen abgeneigt. Die Struktur der griechischen S p r a c h e soll das zusätzlich belegen. 9 6 Das e n t s c h e i d e n d e M e r k m a l der griechischen Staaten habe aber darin bestanden, d a ß sie „religiös-politische O r d n u n g e n " waren. N a c h d e m V o r d r i n g e n der Ionier auf das Festland bildeten die A m p h i k t y o n i e n „in diesem C h a o s entfesselter Willkühr M i t t e l p u n k t e " , „ v o n denen eine neue O r d n u n g der Dinge a u s g e h e n konnte." 9 7 Mit dem von den Ionern g e s c h a f fenen städtischen Leben konnte dieser Zustand in einen beinahe idealen v e r w a n d e l t w e r d e n : es war der B o d e n bereitet f ü r „die E r s c h e i n u n g des A p o l l o n " . Curtius spricht j e t z t von einer „ W e l t d e r h ö h e r e n H a r m o n i e " , von der B e g r ü n d u n g eines Reichs „der G n a d e " . 9 8 W e n n er auch an diesen Stellen die staatliche O r d n u n g nicht ins Spiel bringt, so wird doch die staatliche O r d n u n g , die er als die richtige ansieht, nämlich die M o n a r c h i e der Heroenzeit, mit ähnlichem V o k a b u l a r bedacht. Die „Stände der m e n s c h l i c h e n G e m e i n s c h a f t " w e r d e n nach Curtius durch „ein g e m e i n s a m e s Haupt", den „ H e r z o g (Basileus) o d e r K ö n i g " z u s a m m e n g e s c h l o s s e n . „Dieser Eine ist der Mittelpunkt nicht nur des Staatslebens, s o n d e r n zugleich aller höheren B e s t r e b u n g e n der M e n s c h e n " . 9 9 Ein M o n a r c h solcher Qualitäten braucht nicht auf Rechte zu schauen, die ihm v o m Volk z u g e s t a n d e n werden, „sondern Z e u s hat ihm mit d e m erblichen Scepter den K ö n i g s b e r u f ertheilt". S o m i t steht er weit über d e m Volk, aber auch über dem Adel. Diesen Königen von G o t t e s g n a d e n gesteht Curtius den Besitz eines „ K r o n g u t s " und das Recht auf A b g a b e n zu, w a s sie in die Lage versetzt habe, in mächtigen B u r g e n , u m g e b e n von einer G e f o l g s c h a f t aus S ö h n e n edler G e s c h l e c h t e r in Prunk zu residieren.'00
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GG Bd. 1, 6 2 - 7 0 . Weil diese Despotenreiche arm an innerer Entwicklung gewesen seien, mußten sie sich fortschreitend nach außen erweitern. Die staatlichen Ordnungen der Griechen würden sich auch von den durch das Vordringen der Assyrier im 13. Jh. entstandenen Staaten mit gemischten Bevölkerungen unterscheiden: den zwischen d e m Orient und den Griechen anzusiedelnden Phrygern, dem ältesten Volk Kleinasiens, den Lydern. Diese hätten die (assyrische) Anregung zu Staatsbildung nur an die Küsten weitergegeben. So sei das Reich der Dardaniden und auch das Reich des Tantalos entstanden; deswegen hätten die Lykier frühzeitig der Piraterie entsagt und seien zum Vorbild für die Hellenen geworden.
94 95 96
G G Bd. 1 , 3 8 4 . Vgl. G G Bd. 1, 90: Dorier lernen höhere Lebensordnung an den thessalischen Küsten kennen. GG Bd. 1, 17. Das Griechische soll „männliches Streben zu klarer Gliederung, zu zweckvoller Gesetzmäßigkeit im Leben und Denken" aufweisen.
97 98
GG Bd. 57f. G G Bd. 1, 48. Im Zentrum dieses Reichs sieht Curtius Delphi, vgl. G G Bd. 1, 91 f., und oben A n m . 78.
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G G B d . 1,114. Zur Diskussion dieses Bildes des homerischen .Königs' im Laufe des 19. Jh. vgl. auf der einen Seite Wachsmuth, Altertumskunde, 8 6 - 9 2 , und auf der anderen, der demokratisch orientierten, Tittmann. Darstellung, 5 6 - 6 9 , bzw. Platner, Notiones.
68
Christoph Ulf Diese O r d n u n g , zu der Curtius keine gleichwertige Alternative kennt, wird durch „ G ä h -
r u n g e n " bedroht. Mit d e m Wort , G ä r u n g ' bezeichnet Curtius alles, w a s O r d n u n g zerstört. Die Folge davon ist C h a o s . Solches entstand in seinem Bild, als die Ioner nach d e m W e s t e n g e k o m m e n sind. D u r c h G ä r u n g kam auch die heroische M o n a r c h i e zu Fall. D e n n mit der W a n d e r u n g der Dorier 1 0 1 begann „ein R ü c k s c h l a g von innen gegen außen, v o m B e r g l a n d e gegen die Küste, vom Westen nach O s t e n . " A u s der folgenden langen „Zeit wilder G ä h r u n g " trat „ G r i e c h e n l a n d endlich mit neuen S t ä m m e n , Staaten und S t ä d t e n " hervor. Doch die K o n s e q u e n z e n f ü r die m o n a r c h i s c h e O r d n u n g sind katastrophal: 1 0 2 zuerst A u f l e h n u n g gegen das K ö n i g t u m und dann dessen A b s c h a f f u n g . 1 0 3 Die aus der A b s c h a f f u n g des K ö n i g t u m s sich e r g e b e n d e n K o n s e q u e n z e n schätzt Curtius nicht w e n i g e r s c h l i m m ein: A u s d e m W i r t s c h a f t s g e f ü g e von Handel, Seefahrt und A c k e r b a u , w u r d e der A c k e r b a u verdrängt. 1 0 4 Die Freiheit der m e n s c h l i c h e n E n t w i c k l u n g unterlag keiner B e g r e n z u n g mehr. „Je m e h r das A u f b l ü h e n der neuen Staaten auf der E n t f e s s e l u n g und K o n k u r r e n z aller K r ä f t e beruhte, um so m e h r drängte sich in politischen Dingen das G e f ü h l freier und gleicher B e r e c h t i g u n g hervor." 1 0 3 D a s ist nicht positiv gesehen: „statt der bürgerlichen Gleichheit, welcher das Fürsten a m t z u m O p f e r gefallen war, trat j e t z t v i e l m e h r eine unerträgliche U n g l e i c h h e i t zu T a g e . " Der v o m K ö n i g bisher vermittelte Ausgleich fehlte w e g e n des Eigeninteresses des Adels: „ s c h r o f f standen sich die beiden Parteien g e g e n ü b e r . Der K a m p f der Stände war d a " . Der „ S t a d t m a r k t " w u r d e statt der K ö n i g s b u r g „der Mittelpunkt des g a n z e n S t a a t s w e s e n s " . A u f diesem Platz sieht Curtius „die alte M o n a r c h i e f ü r i m m e r beseitigt" - mit der Folge, d a ß „aus d e m K a m p f e der Aristokratie und der D e m o k r a t i e die T y r a n n i s " hervorging. 1 0 6
3.
Die Begriffe als Teil der Methode
Die aus d e m Bisherigen e r k e n n b a r e Unklarheit b z w . Flexibilität der von Curtius v e r w e n d e ten B e g r i f f e hat ihren H a u p t g r u n d in d e m V e r s u c h , auf diese W e i s e zwei V o r s t e l l u n g e n gleichzeitig gerecht zu w e r d e n . A u f der einen Seite soll mit ihnen die g l e i c h b l e i b e n d e Spezifik d e r G r i e c h e n z u m A u s d r u c k gebracht w e r d e n , a u f der anderen Seite sollen sie aber auch dazu dienen, den historischen V e r ä n d e r u n g e n gerecht zu w e r d e n . U m die letzteren zu beschreiben, greift Curtius auf die Vorstellung der Lebensalter zurück, bringt aber auch einen wie linear-evolutiv e r s c h e i n e n d e n W a n d e l ins Spiel. Diese beiden Arten der B e g r ü n d u n g f ü r historische V e r ä n d e r u n g würden sich widersprechen, w e n n Curtius nicht ein a n d e r e s Ziel verfolgte. Für das, w a s er im A u g e hat, ist die B e w e r t u n g von V e r ä n d e r u n g ein erstes Indiz. Die g r o ß e n historischen V e r ä n d e r u n g e n w e r d e n durch „ G ä h r u n g e n " b e w i r k t und haben solche zur Folge. Das W o r t , G ä r u n g ' ist bei Curtius j e d o c h mit R e v o l u t i o n ' gleichzusetzen, w a s bedeutet, daß derartige V e r ä n d e r u n g e n nicht positiv g e s e h e n w e r d e n . Dies f ü g t sich zur L o k a l i s i e r u n g des idealen m o n a r c h i s c h e n Staats am Beginn der Geschichte. Z u r Beschrei-
101 102 103 104 105 106
Der troianische Krieg kann hierbei keine Rolle mehr spielen und m u ß daher zur A u s w a n d e r u n g der Ionier aus Griechenland umdeutet werden. G G Bd. 1, 127. GG Bd. I, 84. 143, 199. G G Bd. 1, 124f„ 126 (in Verbindung mit den homerischen Epen). G G Bd. 1 , 2 0 4 . GG Bd. 1, 201 f. G G Bd. 1, 129ft , 204.
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der griechischen
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bung dieses Zustande werden insbesondere drei Begriffe verwendet: Land, Begabung und Volk. In Verbindung mit dem zyklischen Bild der Lebensalter entsteht daraus statt einer evolutiven Entwicklung eine Entfaltung der Begabung des Volks unter den (idealen) Bedingungen des Landes. Was als Entwicklung erscheint und von Curtius auch öfters so genannt wird, ist nichts anderes als die Realisierung der durch die Begabung angelegten Möglichkeiten im Laufe der Zeit. Daraus erklärt es sich, daß sowohl die heroische Zeit als auch die Zeit der Perserkriege und die des Perikles Höhepunkte in der griechischen Geschichte sein können, obwohl die Gesamtgeschichte seit dem monarchischen Staat - in der Zeit der Jugend der Griechen - in einem deszendenten Verlauf dargeboten wird. So wird auch verständlich, daß die griechische Kultur bis in das 4. Jahrhundert (und darüber hinaus) für wertvoll erachtet werden kann, obwohl der griechische Staat schon lange nicht mehr in der Idealform bzw. überhaupt nicht mehr existiert. Es gibt also keine historische Entwicklung im Sinn einer Neues schaffenden Geschichte. Es gibt nur vorgegebene ,Bilder', zu denen die jeweiligen historischen Erscheinungen in größerer und geringerer Distanz stehen. Auf diese Weise sind die Inhalte der Begriffe konstruiert, so werden die durch den nicht bestreitbaren historischen Wandel gegebenen Unterschiede ohne die Annahme einer die Substanz berührenden Entwicklung miteinander verbunden. Zu eben diesem Zweck dienen auch die methodischen Mittel, derer sich Curtius bedient. Die Organologische Sprache und Sichtweise. Curtius' organologisches Denken und Reden ist häufig schon festgestellt worden. Es lohnt sich dennoch, ein paar konkrete Hinweise darauf zu geben, weil seine Methode mit diesem Denkmuster in unauflösbarem Konnex steht. Der grundsätzlich organologische Zugang zur Vergangenheit ergibt sich allein schon aus der Applikation des dem Fundus der Kulturentstehungstheorien entnommenen Grundmusters der Lebensalter auf die Geschichte. Doch Curtius geht darüber noch hinaus, indem er dem als historischer Basiseinheit angesehenen ,Volk' wie einem Lebewesen auch ,Leben' und ,Kraft' zuordnet. Darauf wurde oben schon kurz hingewiesen. Das „arische Urvolk" bestand fur ihn aus „Zweigen" und „Gliedern". 107 Das Urvolk - jetzt als Nation bezeichnet - spaltete sich durch Wanderung, mit der Folge, daß jeder Teil nun sein eigenes Leben hat. Darin sieht Curtius die Basis für den Dualismus, der durch die ganze Volksgeschichte (der Hellenen) hindurchgegangen sei.' 08 Die Wanderungen, die zur Ursache für grundlegende historische Veränderungen gemacht werden, sind „Strömungen", die so wie die ganze Geschichte von ihnen übergeordneten Kräften gelenkt werden können. So „leitete" etwa „die rhodische Inselkette" einen „Völkerstrom" an die Südküste Kleinasiens.109 Wie konkret so ein Satz gemeint sein kann, ergibt sich aus der Formulierung, daß „die Verbindung der Pelasger und Ionier" es war, „mit welcher, wie durch eine elektrische Berührung, die Strömung des geschichtlichen Lebens begonnen hat." 110
107 108 109 110
GGBd. GGBd. GGBd. GGBd.
1, 17. 1,31. 1,67. 1,54.
Christoph
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Ulf
Die so konkretisierte Energie läßt Curtius in „den Stämmen" als „die ganze Energie des Volkslebens" w o h n e n . 1 " Als ein Synonym zu ,Energie' verwendet er auch ,Kraft'. Als die Ioner aufs Festland kamen, wurden „Volkskräfte" so stark „aufgeweckt", daß daraus vorerst ein „Chaos entfesselter Willkühr" entstand, das erst durch die Bildung von Amphiktyonien beruhigt werden konnte." 2 Oder: Die Dorier bringen „neue Volkskraft", eine „Fülle frischer Volkskraft", eine „Fülle neuer Volkskraft"." 3 Das Volk wird so wie die G e s e l l s c h a f t ' oder die ,Verfassung' zum Organismus, der auch „Volksbestandteile" ausscheiden k a n n . " 4 Der Wesensbegriff. Im Begriff der ,Begabung', so scheint es, öffnet sich das G e h e i m nis' der Griechen. Sie haben nach Curtius über eine „außerordentliche Begabung" und auch über das Bewußsein „ihrer eigenthümlichen körperlichen und geistigen Begabung" verfügt. Aufgrund ihrer „angeborenen Geistesgaben" haben sie dann alles, „was sie von Andern übernommen, ... so umgestaltet und wiedergeboren, daß es ihr geistiges Eigenthum geworden ist, der Abdruck ihres geistigen W e s e n s " . " 5 Begabung und Wesen sind offensichtlich nichts, was sich erwerben läßt, sondern sind ,Natur'. Wesen und Begabung erscheinen somit auswechselbar. Der vorausgesetzte, nicht weiter unterbaute Wesensbegriff erlaubt Natur und Kultur zur Deckung zu bringen. Daraus erklärt sich die sonst nicht begründbare Auffassung, daß „die Geschichte des Volks" den „begabteren Stämmen" gefolgt sei." 6 Mythos und Sage - Der Zugang zur Vergangenheit. So stellt sich natürlich die Frage, wie ein Zugang zum , Wesen' möglich ist. Darauf gibt Curtius nur in der Weise eine Antwort, daß er den Mythos bzw. die Sage als eine Art von Quelle beschreibt, die als ein Ausdruck dieses Wesens anzusehen sei. Die „Heroensage", so meint Curtius, „spricht sich über die Epochen der ältesten Landesgeschichte" a u s . " 7 Weil sie eine „ v o l k s t ü m l i c h e Überlieferung" ohne systematisierende Reflexion und somit „Erinnerung" des Volks sei, sei sie auch eine „echte Überlieferung"." 8 Deshalb habe die „Heroengeschichte ihren urkundlichen Inhalt" und biete „die Übereinstimmung im Wesen der Heroen"." 9 So kann man über die Kenntnis der Heroensage zu historischen Kenntnissen über die ideale Zeit der Griechen gelangen und auf diese Weise Einblick in das Wesen der Hellenen erhalten. 120 Deshalb kann Curtius behaupten, daß der homerische Achill „der erste, echte Hellene (war), welchen wir kennen". 1 2 1
111 112 I 13 114 115 116 117 118 119 120
121
G G Bd. 1 , 2 5 , vgl. z . B . auch 31. G G Bd. 1, 57f. G G Bd. 1. 97, 144. 445. Das ist das Bild, das bei der Beschreibung des Auftretens der Makedonen wiederkehrt; vgl. oben 58. G G Bd. 1, 147, 197, 199. G G B d . 1,20, 2 4 f . , 6 1 . G G Bd. 1, 383; vgl. auch Bd. 3, 398. G G B d . 1.49. G G Bd. 1, 51 f., 75 u.ö. G G Bd. 1, 49f. Zur Geschichte dieser Vorstellung von Mythos und Sage vgl. Graf 1993, Patzek 1992. 13ff., 2 2 f „ 27f. G G Bd. 1. 111: ..Die griechische Muse ist eine Tochter des Gedächtnisses, und eben so wie die in England entstandenen Beovulflieder uns darüber Kunde geben, wie die Sachsen auf der verlassenen deutschen Halbinsel in Krieg und Frieden gelebt haben, so ist auch das homerische Epos ein Spiegelbild der Lebensverhältnisse, in welchen wir uns die wandernden Völker vor ihrem A u s z u g e zu denken haben." G G B d . 1.26.
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der griechischen
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Der Zugang zu dieser Zeit ist für Curtius wichtig, liefert er doch den von ihm normativ aufgefaßten Bezugspunkt für die Einschätzung der Griechen in Gestalt des homerischen Königtums, wie das oben schon dargestellt wurde. Das homerische Königtum wiederum findet sich nur in der Ilias ,rein'. Denn in der durch die Verhältnisse in Ithaka repräsentierten Staatsform ohne klare zentrale Führung ist in seinen Augen - im Gegensatz zur anderen, der von ihm als mächtig eingeschätzten Monarchie der Atriden - „der staatliche Organismus noch unfertig geblieben". 1 2 2 Eine Argumentation, die auf einer derartigen organologischen Sprache beruht, in der mit dem Begriff eines ontologisch aufgefaßten Wesens operiert und in der der Zugang zur Geschichte dem Medium des Mythos anvertraut wird, kann alle Begriffe so unklar lassen, daß sie in ihrer Bedeutung dem j e w e i l s notwendigen Gedankenschritt leicht angepaßt werden können. Das wurde schon in zeitgenössischen Rezensionen festgehalten,' 2 ' und steht ganz in der Nähe dessen, was Ernst Topitsch treffend „Leerformeln" genannt hat. 124 In einer solchen Argumentation läßt sich aber auch der Versuch erkennen, das Verfahren einer petitio
principii
zu verschleiern, für die die ,homerischen Monarchie von Gottes Gna-
den' ebenso den normativen Bezugspunkt darstellt - wie die durch den Wettkampf geadelte griechische K u l t u r - , welcher durch seine Verbindung mit der apollinischen Religion unvergleichbar sein soll. 1 2 5 A m klarsten wird das dort, w o Curtius eingesteht, daß die homerischen Epen für die von ihm postulierte .geheiligte' Monarchie keine hinreichenden Indizien bieten. 1 2 6 Im Gegensatz zu älteren Inanspruchnahmen der Epen als . B e w e i s ' für ein mächtiges Königtum 1 2 7 argumentiert Curtius mit einer .historischen' Ausdeutung der archäologischen Hinterlassenschaft. Er verwendet als erster, so weit ich sehe, in solcher Schärfe 1 2 8 ein
122
Entsprechend gilt das auch vom Staat der Minyer, aber auch von denjenigen an der ionischen Küste, beginnend bei Troia.
123
Schon Roß 1858/1861, 81, wunderte sich in einer auf die vielen Widersprüche hinweisenden Rezension u.a. darüber, wie wandlungsfähig die Arier in Curtius' Darstellung sind: „Wie schmiegsam und biegsam und zugleich erstaunlich ausgiebig ist doch dieser arische Völkerteig!" Die Unbestimmtheit der Sprache wurde sogar schon von wohlmeinenden Zeitgenossen moniert; vgl. die vorsichtigen, keineswegs uneingeschränkt positiv zu sehenden Urteile von Frau Brandis, der Gattin des Philosophen Christian August Brandis, und Alexander von Humboldt bei Curtius 1903, 513. 517. D e m g e g e n ü b e r hält Christ 1996, 130, die Formulierungen für „stark durchgefeilt und akzentuiert, hochgestimmt gerade dort, w o er ins Allgemeine führt ...", während Borbein 1988, 285, auf die Folgen dieser Sprache hinweist: „die wortreich beschworene Vertrautheit rückt die Griechen unversehens in Distanz; denn sie gefallt sich in schönen Bildern, die leicht zu erhebendem Dekor erstarren.""
124 125
Topitsch 1960. Dies wird in der erwähnten von beißender Ironie gekennzeichneten Rezension von dem nur acht Jahre älteren Ludwig Roß 1858/1861, 113, sofort festgehalten: „Von Göttingen sind einst H e e r e n ' s ,Ideen" über die Geschichte des Alterthums ausgegangen. Wenn Hr. Curtius einmal Müsse finden sollte, sich dieses W e r k anzusehen, ob er selbst wol dann sein Buch für einen Fortschritt oder einen Rückschritt in der Methode der Geschichtsforschung wie in der Kunst der lichtvollen Darstellung halten w i r d ? "
126 127
V g l . z . B . G G B d . 1, 123. Der sich früher schon ähnlich äußernde Wachsmuth 1826 argumentierte auf der Basis der Behauptung, daß das monarchische Prinzip eben von A n f a n g an unter den Griechen gegolten habe. Zu Welckers Einfluß auf Curtius vgl. ζ. B. Curtius 1903, 15f.
128
Schömann/Lipsius 1897, 22, argumentiert unter Bezug auf Curtius anders, als es dann bis in die Gegenwart h ä u f i g geäußerte Meinung wird. Curtius habe zurecht bemerkt, daß das „Bild beschränkter Fürstenmacht, wie es uns bei Homer selbst in A g a m e m n o n entgegentritt, nicht recht zu den großarli-
Christoph Ulf
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später häufig gebrauchtes Argument, das dem Leser deswegen einleuchten muß, weil es nichts anderes als die Erweiterung der zeitgenössischen, stark national gefarbeten Projektionen auf das europäische Mittelalter ist. 129 Die Zyklopischen' Mauern, errichtet von „Werkleuten" aus Lykien 1 3 0 , seien die sichtbaren B e w e i s e für die Existenz einer mächtigen Monarchie. 131 „Wer kann solchen Denkmälern des Burg- und Grabbaus gegenüber in Abrede stellen", so versucht Curtius jeden Widerspruch zu ersticken, „daß das, was uns ... als ältester Anknüpfungspunkt griechischer Überlieferung, als erster Anfang einer urkundlichen Geschichte dient, in Wahrheit Vollendung und Abschluß einer Cultur ist".1"'2 Und die mykenischen Mauern, durch deren eindrucksvolle Schilderung er erst das Bild eines mächtigen Monarchen hervorruft, dienen gleichzeitig auch als Bestätigung für das den Epen nicht entnehmbare, aber dennoch behauptete mächtige Königtum. Von der postulierten Annahme, daß eine ,vollendete Kultur' mit einem Königtum von Gottes Gnaden gleichzusetzen sei, überzeugt, geht Curtius zu einer ,Korrektur' an den Epen über. Er leitet von den sichtbaren mykenischen Mauern ab, daß man sich durch „den Dichter" nicht täuschen lassen dürfe, die Dauer der Monarchie nur „als eine kurze Glanzperiode" zu betrachten, was bedeuten würde, daß die Monarchie auf keinem festen Fundament gestanden wäre. „Die unverkennbare Verschiedenheit der cyclopischen Mauerstile, des roheren in Tiryns, des vollendeten in Mykenai, läßt keinen Zweifel, daß zwischen den beiden Bauten ganze Perioden in der Mitte liegen, daß lange Zeiträume angenommen werden müssen, welche nur in der Fernsicht dicht zusammengeschoben erscheinen." l 3 j A u f diese Weise werden auch die offensichtlich nicht
129
gen Denkmälern stimmt". Aber zur Zeit der homerischen Gedichte sei dieser Zustand o f f e n b a r „schon ganz aus der Erinnerung e n t s c h w u n d e n " gewesen. Vgl. dazu die resümierenden Feststellungen von Althoff 1992, 3, mit Bezug auf das 19. Jahrhundert: „ D e m mittelalterlichen Kaiserrreich w u r d e dabei vornehmlich das attestiert, was man selbst erstrebte: Glanz, Größe, Macht. Die Deutschen als Vor- und Ordnungsmacht im Abendland hieß .die köstliche B o t s c h a f t ' , die das Mittelalter dem 19. und 20. Jahrhundert verkündete. Folgerichtig schrieb man die mittelalterliche Geschichte als Verfallsgeschichte mit dem Tenor: Von den .Höhen der Kaisermacht' in die d u m p f e Enge (und Machtlosigkeit) der deutschen Kleinstaaterei ... Als Schuldige (seil, für den Verfall) ins Visier kamen vornehmlich die Fürsten mit ihren partikularistischen Interessen . . . "
130
G G Bd. 1, 69, 118. Auch die Z y k l o p i s c h e n ' Mauern prägt Curtius somit national um, indem er sie zu Errungenschaften der ionischen Kulturwelt macht. Die wurden seit j e h e r (so Α. H. L. Heeren, K. 0 . Müller, W. Wachsmuth) als Erzeugnisse semitischer Bauleute betrachtet, oder sollen zumindest unter ihrer Anleitung erbaut worden sein, weil man den ,einheimischen' Pelasgern allein diese Leistung nicht zutraute.
131
G G Bd. 1, II 8f.: „ W e r vor dem Burgthore von Mykenai steht, der m u ß sich, auch ohne von Homer zu wissen, h i e r e i n e n König denken, wie den homerischen A g a m e m n o n , einen Kriegsherrn mit Heer und Flotte, einen Fürsten, der, mit hervorragender Hausmacht und ungewöhnlichen Mitteln ausgerüstet, im Stande war, nicht nur dem eigenen Lande eine feste Einheit zu geben, sondern auch kleine Fürsten seiner Oberhoheit unterzuordnen."
132
G G Bd. Ι, 118. Vgl. auch den Brief an seinen Bruder Georg vom 8. I. 1855 bei Curtius 1903, 479: „Je älter ich geworden bin, desto lächerlicher kommt es mir vor, von ,Kindlichkeit" u.s.w. bei H o m e r zu sprechen, und ebenso ist es mit der Welt, in der die homerischen Helden leben, von der man noch immer liest und hört, es sei eine Urzeit, eine Zeit der Anfange, des Werdens, während doch die ganze Kulturwelt eine so in sich fertige, satte und reife ist, daß man gerade Nichts eher vermißt, als das Ursprüngliche, Einfache in den menschlichen Verhältnissen sowohl den Göttern gegenüber als auch im geselligen Leben." Den sich daraus ergebenden Widerspruch zur Benützung des Mythos als direkte Quelle für die Anfangszeit eines Volkes bemerkt Curtius nicht.
133
G G Bd. 1 , 1 1 9 .
Die Instrumentalisierung
der griechischen
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73
ins Bild passenden Äußerungen der Epen ,entsorgt', um so in pseudoanalytischer Manier die eigenen Argumente zu bestätigen. 134
4.
Der Politik-Begriff
In jüngerer Vergangenheit hat Karl Christ darauf aufmerksam gemacht, daß die Griechische Geschichte „ihre entscheidenden politischen Akzente durch Curtius' Identifikation mit der preußischen Monarchie und Harmoniestreben, das heißt das Drängen nach Versöhnung und Ausgleich auf jeder Ebene" 1 " 5 erhalten hat. Diese politische Grundhaltung hat auch auf die Konzeption der Griechischen Geschichte eingewirkt. Christ verweist auf die Zeichnung des homerischen Königtums und die des Perikles. Auf der Basis der oben vorgenommenen Analyse läßt sich zeigen, daß sich der genannte Zusammenhang in mehr als nur in diesem allgemeinen Sinn ausgewirkt hat. Curtius' Begriff der Politik geht von der alten Vorstellung einer societas civilis sive politico aus. Dies zeigt sich u.a. darin, daß er politischen Status und persönlichen Status nicht voneinander trennt. Die politische Welt ist für ihn die einer altständisch-korporativen Ordnung. l j 6 Er appliziert diese Sichtweise sowohl auf die Geschichte als auch auf die eigene Gegenwart. Seine Focussierung auf die von ihm als Ideal angesehene Verbindung von Monarchen und Volk in Vergangenheit und Gegenwart läßt sich geradezu als Verweigerung der Wahrnehmung der diesem Bild nicht entsprechenden eigenen politischen Gegenwart ansehen. Im Volk werden keine weiteren sozialen Differenzierungen vorgenommen. Die Auflösung der alten sozialen Bindungen wird ebenso ausgeblendet wie deren Verwandlung in bisher unbekannte Klassengegensätze. 1 3 7 Die konkreten Auswirkungen der mit all dem verbundenen, unübersehbar in den Vordergrund tretende Industrialisierung finden keine Beachtung. Für die Applikation aktueller politischer Überzeugungen auf die Darstellung der griechischen Geschichte ist seine - nicht für ihn spezifische - Grundüberzeugung entscheidend, daß eine besondere Nähe zwischen den Griechen und den Deutschen vorhanden sei' j S und
134
Dem dient auch die analytische Betrachtung der Epen, indem einzelne Abschnitte j e nach ihrer Korrelation mit d e m postulierten Stand der griechischen Entwicklung chronologisch fixiert werden; die Epen sind die Quelle dir den Untergang des Dardanidenreichs. die Gründung der Äolis und zugleich für das gesamte Leben der Hellenen bis zur Zeit der großen Wanderungen, tragen aber auch Z ü g e der Abfassungszeit der Epen, als „die Centraimacht" erschüttert worden sein soll; G G Bd. 1, 111, 123, 125.
135 136 137
Christ 1996, 130. Zu dieser Facette des Politikbegriffs vgl. Sellin 1978, 85 Iff.; Zöller 1989, 491 f. Vor diesem Hintergrund wird seine beinahe skurill wirkende Darstellung des Lebens der Sklaven zur Zeit der Perserkriege verständlich; vgl. unten A n m . 141.
138
In den öffentlichen Vorträgen in den Jahren vor dem Erscheinen der griechischen Geschichte äußert sich Curtius ganz offen in diesem Sinne. Curtius, Weltgang, 61: Die griechische Kultur, einerseits aufs engste mit dem griechischen Volk verbunden, hat sich andererseits „so von ihrem Volke abgelöst und steht in einem so weltgeschichtlichen Z u s a m m e n h a n g e , daß sie nicht einer Nation, sondern der Menschheit anzugehören scheint." Curtius, Kunst, 89: „in das hellenische Kunstleben kann sich Niemand mit wahrer Hingebung versenken, ohne eine umbildende Kraft an sich zu erfahren." Curtius,
Christoph Ulf
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daß a u f g r u n d dieses besonderen Verhältnisses die Griechen für die Deutschen ein b e s o n d e res Vorbild a b g e b e n w ü r d e n . D a h e r sind seine Ä u ß e r u n g e n über den idealen griechischen Zustand auch als politische Aussagen ernst zu n e h m e n . Der ideale griechische Zustand wird in eine an eine Idylle erinnernde N a t u r h i n e i n g e setzt. Sie gibt schon die f ü r eine H a r m o n i e n o t w e n d i g e M ä ß i g u n g mit. D a d u r c h und durch den g e h e i m n i s v o l l e n Z u s a m m e n h a n g , in dem ä u ß e r e Natur, Kultur und innere N a t u r stehen, ist d a f ü r gesorgt, d a ß die grundsätzlich auch bei G r i e c h e n v o r h a n d e n e n N e g a t i v a in der heroischen Zeit noch nicht z u m Vorschein k o m m e n . Die N a t u r des Landes und der M e n s c h e n g e h e n so ineinander über. D a s ist keine wilde N a t u r , s o n d e r n u n ü b e r s e h b a r eine Art von Garten, d e r sich „ f ü r paradiesische Projizierungen und F i x i e r u n g e n " bestens eignet. Das hat beinahe nichts m e h r mit N a t u r b e s c h r e i b u n g und gar nichts mit N a t u r a l i s m u s zu tun. 1 4 0 Der N a t u r i d y l l e steht eine Staatsidylle g e g e n ü b e r , in der sich m e h r a u s d r ü c k t als nur eine e n g e V e r b i n d u n g z u m preußischen K ö n i g s h a u s . Die M o n a r c h i e ist die g e r a d e z u idyllische staatliche O r d n u n g . In ihr herrscht d e s w e g e n H a r m o n i e , weil die Kultur, die Curtius als „ E n t f e s s e l u n g des G e i s t e s " definiert, durch die N a t u r g e m ä ß i g t wird und so E i n k l a n g zwischen N a t u r und Kultur hergestellt w e r d e n kann. D a s hierfür n o t w e n d i g e Bild einer künstlich friedfertigen N a t u r m u ß in einer fernen V e r g a n g e n h e i t liegen, läßt sich doch
die
m e n s c h l i c h e N a t u r zu ihrem Nachteil nicht auf D a u e r in diesem Idealzustand halten. Das so erzeugte Ideal wirkt w i e einer der in der zweiten Hälfte des 19. J a h r h u n d e r t s i m m e r beliebter w e r d e n d e n F e s t u m z ü g e , in denen auf das Mittelalter projizierte W u n s c h b i l d e r als pseudohistorische Realität v o r g e f ü h r t w u r d e n : „Anstelle eines k l a s s e n k ä m p f e r i s c h e n
Antago-
n i s m u s m a r s c h i e r e n im Festzug einträchtig Herren und K n e c h t e daher, von v o r n e nach hinten d u r c h g e g l i e d e r t " . D a s ist dann der „ K o s m o s einer organisch g e w a c h s e n e n und einsichtig gegliederten Sozietät, in der j e d e r und j e d e s seinen richtigen Platz hat, und die d a m i t Sicherheit verheißt." 1 4 1 Die griechische G e s c h i c h t e , d. h. der f r ü h e Staat der G r i e c h e n e i g n e t
Weltgang, 77: „ein unfreies und äußerliches Nachmachen hat niemals lebendige Frucht getragen, während aus der inneren Vermählung des deutschen und griechischen Geistes neue S c h ö p f u n g s k r a f t entsprungen und das Vollendetste unserer Litteratur und Kunst hervorgegangen ist." Curtius, Kunst, 90: „den seltnen Vorzug einer zwiefachen Zeit klassischer Schöpfungen verdankt unser Vaterland der geistigen Berührung mit dem Alterthume, und die innigste Verschmelzung des hellenischen und deutschen Geistes bezeichnet nach unser Aller Einverständniß den Höhepunkt unserer Litteratur.·' Curtius, Wettkampf, 144: „Man hat den Deutschen wohl die Ehre erwiesen, ihnen ein besonderes Verständniß des hellenischen Wesens zuzutrauen. G e w i ß ist, daß unser Volk in seiner ganzen Entwickelung durch eine Reihe wichtiger Analogien auf die Geschichte der Hellenen hingewiesen ist." Die Analogie führt eindeutig auf politisches Territorium: „Die Geschichte beider Völker ist nicht nur aus der ihrer Stämm e erwachsen, sondern hat den Charakter einer solchen länger festgehalten, als bei anderen Völkern der Fall ist. In Hellas wie in Deutschland hat sich das lebendige Sonderbewußtsein der S t ä m m e gegen den Abschluß einer ausgleichenden Staatsordnung gesträubt und alle Versuche vereitelt, die gemeins a m e Volksthümlichkeit in allgemein gültigen und dauerhaften Staatsformen auszuprägen." 139
An der Vorbildhaftigkeit der Griechen läßt Curtius keinen Zweifel; vgl. ζ. B. einen Brief an den Kronprinzen Friedrich Wilhelm vom 20. 5. 1861 in Curtius 1903, 551. Z u m Gedanken des besonderen Bezugs zwischen Deutschen und Griechen bei Curtius vgl. Bachhiesl 2001, 8 0 - 9 1 ; Borbein 1988, 277, 282f. Allgemein dazu Landfester 1988, passim; Landfester 1996. bes. 2 0 7 f f ; Marchand 1996, zu Curtius 77ff.; Funke 1998.
140 141
Vgl. Glaser 1 9 9 3 , 5 6 , 7 9 , 100. Glaser 1993, 114, 117. Vgl. dazu Curtius' Schilderung des Sklavenlebens zur Zeit der Perserkriege: „ M a n sollte denken, daß eine solche Menge unterdrückter Menschen einem Landesfeinde große
Die Instrumentalisierung der griechischen Frühzeit
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sich a u f g r u n d d e r b e h a u p t e t e n N ä h e der D e u t s c h e n zu den G r i e c h e n bestens, um ein solches Bild a u f z u n e h m e n . Die h o m e r i s c h e M o n a r c h i e - von Curtius z u m ersten Mal in dieser Rigorosität als ständ i s c h - k o n s e r v a t i v e M o n a r c h i e konstruiert, in der nur durch den M o n a r c h e n die S t ä n d e zu einer Einheit z u s a m m e n g e f a ß t werden 1 4 2 - ist somit als g r u n d l e g e n d e s politisches B e k e n n t nis a n z u s e h e n . Die V e r b i n d u n g des M o n a r c h e n mit Z e u s ist e b e n s o wie die B i n d u n g des M o n a r c h e n an eine heilige O r d n u n g , w o d u r c h die Despotie verhindert wird, 1 4 3 als eine aktuell-politische Ä u ß e r u n g zu lesen. D a s ergibt sich auch aus d e m Urteil, das Curtius ü b e r den weiteren V e r l a u f der griechischen G e s c h i c h t e fallt. Die an den Griechen konstatierten N e g a tiva w e r d e n als A b w e i c h u n g e n von diesem rechten Zustand beschrieben. Schon im h o m e r i s c h e n E p o s konstatiert er die V e r ä n d e r u n g z u m Schlechten. A m Beispiel des Thersites sieht er einerseits die e n t s t e h e n d e M a c h t des V o l k e s , aber gleichzeitig auch schon die Überheblichkeit des A d e l s d o k u m e n t i e r t , mit der Thersites „mit H o h n in seine S c h r a n k e n z u r ü c k g e w i e s e n " wird. Hier stehen sich, so Curtius, „die Parteien ... mit Bew u s s t s e i n g e g e n ü b e r " und „der aristokratische W i t z (hatte) sich schon geübt". 1 4 4 In d e m Erscheinen von , P a r t e i e n ' , das - wie die spätere G e s c h i c h t e v o r f ü h r t - „ P a r t e i e n g e z ä n k " zur Folge hat, zeige sich der N i e d e r g a n g politischer Verhältnisse. Überall dort, w o das K ö n i g t u m v e r s c h w i n d e t , verliert das Volk. 1 4 5 Selbstverständlich kann Curtius so auch die Kolonien, deren Blüte a u f die Stärke und die Arbeit von Bürgern g e g r ü n d e t ist, nicht positiv einschätzen. An den Kolonisten betont er den A s p e k t der H e r r s c h a f t ; er sieht in ihnen keine , K u l t u r b r i n g e r ' , wie das in liberalen Darstellungen der Fall ist. A u f d e m M a r k t e der Stadt, das ist f ü r ihn das Kriterium zur B e w e r t u n g , sei „die alte M o n a r c h i e f ü r i m m e r beseitigt w o r d e n " . 1 4 6 Die positive B e w e r t u n g der Kolonien beschränkt sich ausschließlich auf ihre kulturellen Leistungen, so weit diese das W e s e n des Volks zum A u s d r u c k bringen. 1 4 7 Den G e d a n k e n , d a ß fortschreitende E r z i e h u n g zu höherer B i l d u n g einen progressiven e m a n z i p a -
Vortheile in die Hand gegeben hätte ... Indessen finden sich in den Perserkriegen keine Beispiele von Verratli und Ueberlaufen. Die Sklaven waren mit der Bürgerschaft zu eng verknüpft; es bestand zwischen ihnen und den Familien ein gemüthliches Verhältniß, das durch Sitte und Religion gepflegt wurde. Die Sklaven gehörten solchen S t ä m m e n an, welche an geistigen Anlagen den Griechen weit nachstanden ... Darum erschien ihre Unterordnung nicht als Unterdrückung; das ganze Verhältniss w u r d e als ein nach beiden Seiten ersprießliches und naturgemäßes angesehen." 142
Vgl. bes. G G Bd. 1, 113f.
143
Der Vorstellung, daß ein solcher in den mykenischen Burgen gelebt haben könnte, begegnet Curtius, G G Bd. 1, 121, mit einem Verweis auf das griechische „Volk", das „von A n f a n g an einen entschiedenen Widerwillen gegen alles Maßlose und Unbedingte" gezeigt habe und das sich selbst den Götterfursten nicht anders als einer höheren, heiligen O r d n u n g unterthan denken konnte".
144 145 146
G G Bd. 1 , 1 2 4 . Vgl. G G B d . I, 201 f., 211, 223, 254. G G Bd. 1, 204: „Sie kamen u m zu herrschen. Es waren ritterliche Geschlechter, die mit ihrem Gefolge Stadtgemeinden gründen wollten, um f ü r sich Ehre, Macht und Güter zu erwerben. Die verlangten also Hoheitsrechte, die forderten die besten Stadtplätze für sich und trieben die alten Bewohner aus ihren Sitzen und Lebensgewohnheiten heraus" (GG Bd. 1, 106). Bei Curtius klingt die negative Bewertung der gegenwärtigen immer stärkere Zeichen der Industrialisierung zeigenden Städte an, die später ein wichtiges Element des völkischen Gedankenguts sein wird; vgl. hierzu Giesen/Junge/ Kritschgau 1996, 389ff. Zum Kontrast vgl. die bei Heeren, Ideen, 146-158, bes. 152f„ 155t"„ wirkenden aufklärerischen Vorstellungen.
147
G G Bd. 1, 108, 199.
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t o r i s c h e n E f f e k t für d a s I n d i v i d u u m b e w i r k e n k ö n n e , l e h n t er a b . 1 4 8 D a s führt k o n s e q u e n t e r w e i s e z u e i n e r m a s s i v e n A b w e r t u n g d e r S o p h i s t e n , v o n d e n e n er S o k r a t e s g r u n d s ä t z l i c h trennt.149
D i e v o n Curtius zur Charakterisierung w i e zur Kritik d e s E n d e s d e s a n g e b l i c h e n
griechi-
s c h e n K ö n i g t u m s vorgeführten G e d a n k e n s t a m m e n direkt aus d e m R e s e r v o i r v o n A r g u m e n t e n , d a s er z u r O r i e n t i e r u n g in d e r G e g e n w a r t b e r e i t hält. W e r in s e i n e n B r i e f e n d e r J a h r e 1 8 4 7 u n d 1 8 4 8 liest, s t ö ß t w i e d e r h o l t a u f Ä u ß e r u n g e n d e s I n h a l t s , d a ß d a s p r e u ß i s c h e
Kö-
n i g t u m in d e n F ä h r n i s s e n d e r m o d e r n e n Z e i t nur d u r c h Z u g e s t ä n d n i s s e a n d i e S t ä n d e ü b e r dauern könne, aber auch, daß ohne einen K ö n i g v o n „einer weit über den Parteien stehenden W e i s h e i t " d e m Staat die Mitte verloren g e h e . D a n e b e n s t e h e n A t t a c k e n a u f die F o r d e r u n g e n n a c h b ü r g e r l i c h e r F r e i h e i t , a u f d i e V o r s t e l l u n g , d a ß in k o n s t i t u t i o n e l l e n S t a a t e n d i e
Men-
s c h e n r e c h t e in h ö h e r e m M a ß a l s in d e r a b s o l u t e n M o n a r c h i e g e w ä h r l e i s t e t s e i e n . 1 5 0 S o b e s t e h t s e i n B e g r i f f v o n P o l i t i k i m w e s e n t l i c h e n darin, d a ß er d i e H a r m o n i e d e r h e i l i g e n O r d n u n g , d e r a u c h d e r F ü r s t Untertan ist, a l s d a s p o l i t i s c h e I d e a l d e m
demokratisch-
liberalen Parteiengezänk entgegenstellt, d e m durch das e g o i s t i s c h e Verhalten d e s A d e l s der B o d e n b e r e i t e t w o r d e n s e i . W e i l in d i e s e w o h l t ä t i g e O r d n u n g a u c h d a s V o l k a u f g e n o m m e n ist, g i b t e s für ihn, d e r s i c h in e i n e m B r i e f an d e n B r u d e r G e o r g im N o v e m b e r 1 8 4 8 s e l b s t als K ä m p f e r g e g e n die R e v o l u t i o n und als R o y a l i s t b e z e i c h n e t , 1 5 1 k e i n e p o l i t i s c h e Alternati-
148
Curtius, Mittleramt, 1, furchtet bei zunehmender Freiheit des Individuums die „ G e f a h r der selbstischen Triebe"; vgl. ζ. B. auch Curtius, Wettkampf, 137: n j e mehr die edelsten Staaten des Alterthums in der freien Entfaltung aller menschlichen Anlagen ihren Beruf erkannten, ... um so rascher verzehrten sich die Kräfte, um so kürzer war die Lebensdauer jener Staaten."
149 150
Vgl. oben 6 f „ und Bd. 3, bes. 1 Iff, 5 5 f f „ zu Sokrates: 8 9 f f „ 118. Curtius 1903. 370 (Brief an seinen Bruder Georg v. 13. 2. 1848). Schon 1834, während seines A u f enthaltes in Bonn, belehrt Curtius seinen Bruder T h e o d o r dahingehend, daß die eigene Zeit „nur als Übergangsperiode betrachtet werden d a r f , daran erkennbar, daß überall „eine wüste, unbestimmte Unzufriedenheit" herrsche, „die in eine grundlose Zerstörungssucht ausartet." Und er meint, daß wegen des Nationalcharakters der Deutschen nur ein heiliger Monarch aus diesem Zustand herausfuhren könne. Hiermit korreliert seine Ablehnung der Burschenschaften (Curtius 1903, 30, 33, 36f.). Im September 1848 beschwört er mit E m p h a s e seinen Schwager Kurd von Schloezer, treu zur preußischen Monarchie zu stehen. „Wir müssen doch, der Völker wegen, mit aller Kraft unserer Seele wünschen, daß das Fürstenrecht den K a m p f bestehe, daß unter dem Schutze weise beschränkter Scepter das Gute und Schöne im Vaterlande blühe, daß der edelsten Kraft des deutschen Herzens, der True, ein lebendiger, persönlicher Gegenstand bleibe, der die weitzerstreuten Menschen zu Bürgern eines Vaterlandes zusammenhält, der auch die beschränkten Seelen über den platten Egoismus erhebt und mit einem A n f l u g e von Poesie und Begeisterung auch die Steppen der Uckermark belebt. Das wird doch zu wenig anerkannt, welch ein Schatz und Palladium einem Volke die lebendige Idee des Königthums ist, welch eine Sünde es ist, es darum zu betrügen, wie arm ein Volk ist ohne angeborene Fürsten." (Curtius 1903,396). Vgl. weiters Curtius 1903, VI, 3 6 6 f „ 370f. Zu all dem vgl. Christ 1989, 73; Bachhiesl 2002.
151
Curtius 1903, 405. Dies wiegt mehr als seine vereinzelt dastehende, im Überschwang seines ersten großen Erfolgs, des Vortrags über die Akropolis, getane und nicht ganz eindeutige Behauptung vom Februar 1844 (Curtius 1903, 317): „ M a n sah den steifen Nacken eines Republikaners", weil am Ende des Vortrags „meine Schlußreverenz, die ich der königlichen Loge machte, nicht tief genug ausgefallen sei". Wenige Monate später war Curtius Erzieher des Prinzen und belehrte seinen Bruder, daß das Schicksal Deutschlands einmal von seinem Verhältnis zu Preußen abhängen werde (Curtius 1903, 343).
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der griechischen
Frühzeit
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ve zur (neo)absoluten Monarchie. 152 Politik heißt Aufrechterhaltung des (von Anfang an) gegebenen Zustands - eine Positionierung, in der politische Statik mit einem biedermeierlichen Lebensgefiihl zusammenfallen. 153 Als dieses in der unmartialischen Ausprägung, wie sie Curtius vertritt,154 durch das imperialistische Gehabe in der wilhelminischen Ära zunehmend ,außer Mode' gekommen war, verschwanden auch die Bände von Curtius' Griechischer Geschichte aus den Verkaufsregalen. Eben das geschah mit Theodor Mommsens Römischer Geschichte nicht, weil Mommsen eine Darstellung bot, die nicht nur auf einem ganz anderen, ,modernen' Umgang mit den Quellen beruhte, sondern insgesamt gegen den (konservativen) Strich geschrieben war. Das wurde nicht nur von ihm selbst, sondern auch von den Zeitgenossen so gesehen. Seine Art der Geschichtsschreibung blieb daher bis weit über den Ersten Weltkrieg hinaus als eine intellektuelle Herausforderung aktuell. 155
152
Die große Distanz, in der Curtius zu solchen d e m o k r a t i s c h e n ' Zuständen steht, ist daran erkennbar, daß er in seinen Briefen von „anarchisch-demokratischer Partei" oder nur von der „anarchischen Partei" spricht (Curtius 1903, 381, 398, 405). Vgl. auch Curtius' Schilderung der Vorgänge in den Straßen Berlins im August 1848, die sich nicht nur in der Grundtendenz, sondern sogar in einzelnen Formulierungen mit der für die griechischen Kolonien gegebenen Zeichnung deckt (Curtius 1903, 389f.).
153
Curtius publiziert i. J. 1840 gemeinsam mit seinem Freund Emanuel Geibel Nachdichtungen griechischer Lyriker nach dem Vorbild von Platen; vgl. Curtius 1903, 160, und Kern 1903, 587. Hierzu stimmt auch seine A u f f a s s u n g , daß „das Katheder nicht zu einer politischen T r i b ü n e " gemacht werden dürfe, aber auch seine Einschätzung des preußischen Staates, „in welchem Fürst und Volk z u s a m m e n stehen und in welchem alle Bedingungen einer stetig wachsenden Größe vorhanden s i n d . . . " (Curtius 1903, 545). Zu unpolitisch sieht Wegner 1951, 192, Curtius und urteilt daher zu scharf, er n e h m e „sich mit seinem Freunde Emanuel Geibel in Griechenland recht spießbürgerlich aus" und habe „mit vielen schönen Reden das klassizistische Ideal gepriesen", sich jedoch „kaum über Rhetorik und des Gedankens Blässe zu erheben vermocht." Treffender wohl Borbein 1988, 285, mit der Feststellung, daß das Erlebnis der Antike für Curtius z w a r interessant und erhebend war, aber ohne „ K o n s e q u e n z e n oder U m d e n k e n " zu fordern. Z u m Z u s a m m e n f a l l von politischer Statik und Biedermeierwelt vgl. unten 95. Zur Deckung der in die Geschichte transferierten politischen Maximen mit denen, die sich in den Schulbüchern seiner Zeit finden vgl. Glaser 1993, 140f.
154
Im Mai 1848 äußert sich Curtius skeptisch gegenüber einem großen Nationalstaat. Obwohl er schon 1850 meinte, daß Preußen dann, wenn es fur seine Großmachtstellung nötig sein sollte, auch einen Krieg riskieren müsse (Curtius 1903, 380, 433f.), ist das keine grundsätzlich positive Einschätzung des Kriegs, wie sie sich im gleichen Zeitraum ζ. B. bei M. Duncker findet. Zur grundsätzlichen Distanz gegenüber dem Krieg gehört auch Curtius' „Abscheu vor den rohen Studentenvereinigungen"; Kern 1 9 0 3 , 5 8 2 .
155
Insofern d ü r f t e Christ 1996, 2 2 3 f f „ recht haben, wenn er den Grund für das plötzliche Abbrechen der immensen Resonanz auf Curtius' Griechische Geschichte darin findet, daß die Darstellung von Curtius den geänderten politischen Vorstellungen und Wertungen nicht mehr gerecht wurde. Borbein 1988, 287, verweist auf Äußerungen von Zeitgenossen (A. Furtwängler, L. Curtius), „auf die der alte Curtius ... wie ein Relikt aus einer vergangenen Epoche (wirkte)." Zu Th. M o m m s e n vgl. oben A n m . 9.
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II. Die Verwandlung des Wettkampfs zum Agonalen bei Jacob Burckhardt Karl Christ hat deutlich sichtbar gemacht, daß Jacob Burckhardt von Ernst Curtius stark beeinflußt wurde. 156 Dieser Einfluß wirkte sich auch darin aus, daß Burckhardt den von Curtius vertretenen Wettkampf-Gedanken in seine seit den 1860er Jahren geplante, ab 1880 für den Druck vorbereitete, aber erst 1897 in den ersten beiden Bänden als Manuskript vorliegende Griechische Kulturgeschichte aufnahm. Bekanntlich ging Burckhardt über Curtius insofern noch ein gutes Stück hinaus, als er das Adjektiv .agonal' als Ableitung von ,Agon' neu bildete, um damit einen seiner Ansicht nach die Griechen besonders auszeichnenden Charakterzug begrifflich möglichst klar hervorheben zu können. Die Analyse der Griechischen Kulturgeschichte soll - in ähnlicher Weise wie bei Ernst Curtius - so durchgeführt werden, daß zuerst die die Darstellung tragenden Begriffe isoliert werden. Denn hinter diesen Begriffen werden die für das Konzept der Griechischen Kulturgeschichte im Hinblick auf die gegebene Fragestellung grundlegenden Vorstellungen erkennbar. 157 Sind einmal die für unsere Fragestellung wichtigsten Begriffe durchschaubar gemacht, dann können in einem zweiten Schritt Hinweise auf den Zusammenhang der Verwendung dieser Begriffe mit der von Burckhardt vertretenen Sicht der griechischen Geschichte gegeben werden, um auf dieser Grundlage schließlich den Politik-Begriff Burckhardts umschreiben zu können.
1. Die chronologische Gliederung der Geschichte Die Theorie der Kulturentstehung und -entwicklung. Ungeachtet der von ihm postulierten, unten noch kurz zu beschreibenden Methode der Kulturgeschichte geht Burckhardt von einem chronologischen Aufbau aus, der ihm - so wie den Handbüchern, auf die er sich hierin stützt 158 - so klar erscheint, daß er ihn nicht eigens begründet. Burckhardt benützt ein dreistufiges Konzept der Entstehung von Kultur, das den Entwicklungsstufen mit den menschlichen Lebensaltern - Kindheit, Jugend, Alter - gleichgesetzt wird. 159
156
Vgl. Christ 1996, 138, und Stepper 1997, 112-118; zur partiellen Distanzierung von Curtius' Harmonisierungen griechischer Widersprüche Momigliano 1955/2000, 189. Zu Burckhardt allgemein Christ 1989, 119-158; Christ 1999, 6 9 - 8 0 ; zum methodologischen Denken Burckhardts bes. Hardtwig 1974; Flaig 1987; Jaeger 1994; Sammer 1994; Große 1997; überall weitere Lit.
157
Es ist also nicht beabsichtigt, hier eine umfassende Analyse zu geben. Das ergibt sich allein schon aus der Beschränkung auf die Griechische Kulturgeschichte. Für das weitere Umfeld vgl. die in Anm. 156 genannte Literatur. Jaeger 1994, 103, sieht in der Griechischen Kulturgeschichte ,,den Versuch einer empirischen Bestätigung seiner historischen Anthropologie".
158
Burckhardt zitiert aus der in seiner Zeit geläufigen Literatur u.a. die Werke von A. Böckh, W. Wachsmuth und K. F. Hermann. Zur Genese der Griechischen Kulturgeschichte vgl. Christ 2000. Stepper 1997, 7 8 - 1 2 8 , bietet einen systematisierenden Zugriff auf die „Wegbereiter" der Burckhardtschen Perspektive. Zur Vielfalt der Burckhardt schon zur Verfügung gestandenen Literatur vgl. nur den Überblick bei Ulf 1995.
159
Von der ersten dieser drei Stufen spricht er am wenigsten klar, aber doch deutlich genug, um sie zu erkennen. Sie heißt einmal „das erste Stadium", dann „die Kindheit", oder wird umschrieben: „Die
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der griechischen
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Den ersten Zustand rechnet Burckhardt insgesamt zur Vorgeschichte, in der noch keine Individuen zu erkennen seien, sondern nur ein Gesamtwille, der in seiner Charakteristik dem entspreche, der auch in Tierstaaten festzustellen sei. 160 In diese Anfänge „völlig naiver Zeit" reichen nach Burckhardt aber zwei wichtige kulturelle Elemente zurück: die Religion und der Mythos. 16 ' Auf das Zeitalter der Kindheit folgt „eine jugendlich wilde" Phase, die Zeit der Heroen. Sie ist auf der einen Seite noch von ungebremster, wilder Emotionalität, von Piraterie, Raub und Mord gekennzeichnet, 162 sie ist aber andererseits auch der Zeitraum, in der Kultur und der Staat entstehen. Doch diese Staaten sagt Burckhardt, Aristoteles paraphrasierend, der „denkenden und gebildeten, aber mutlosen und deshalb geknechteten Asiaten" bleiben „im Kern ihres Wesens" immer „barbarisch", 163 und ihre Völker sind nicht mehr als „Halbkulturvölker". 164 Die dritte Entwicklungsstufe umfaßt dann die gesamte restliche griechische Geschichte. Sie bedeutet gegenüber der barbarischen Jugend den Verlust der Naivität, weil die Reflexion einsetzt und mit ihr die Lust zur Umgestaltung und Individualität. 165 Die Weltgeschichte. Das chronologische Denken Burckhardts weist noch einen zweiten, auf ,die Welt' ausgerichteten Orientierungspunkt auf, wenn er von der „Kontinuität der Weltentwicklung" und von „alten Weltgesetzen" spricht. 166 Obwohl Burckhardt hiermit vorgibt, in globalen Dimensionen zu denken, bleibt seine Weltgeschichte doch klar auf Europa zentriert, dem gegenüber alle anderen Regionen in Anwendung der von ihm benützten Abfolge von Kultur-Lebensaltern abgewertet werden. Die orientalischen Reiche seien zwar „Weltmonarchien" gewesen, aber im Kern immer barbarisch geblieben.' 67 Anders die Griechen. Ihnen ordnet Burckhardt eine besondere Rolle in der Weltgeschichte zu. Sie haben den „Übergang" von diesen Weltmonarchien zur nachantiken europäischen Weltgeschichte gebildet und erfüllten daher eine weltgeschichtliche Aufgabe. 168 Aus diesem Zusammenhang leitet er ab, daß ihre wesentliche Staatsform, die Polis, einen Bezug zum Weltganzen gehabt habe. Unter dieser Voraussetzung kann er in Verbindung mit der schon von Curtius her bekannten Vorstellung, daß „die griechische Kulturgeschichte" seit dem peloponnesischen Krieg „wesentlich zur griechischen Geschichte schlechthin" geworden sei, im Hellenismus „das auf die ganze Welt angewandte und von der ganzen Welt in Anspruch genommene Griechentum, das große Mittel der Kontinuität des Geistes zwischen der ältern und der rö-
160 161 162 163
164 165 166 167 168
Frage, w o und wie ein Volk beginnt, bleibt dunkel, wie alle A n f ä n g e . " G K G Bd. 1, 31, Bd. 2, 84, bzw. Bd. 1 55. G K G Bd. 1 , 2 8 6 . G K G Bd. 1 , 3 1 , 3 3 , 5 5 , 3 0 2 . G K G Bd. 1, 274f. G K G Bd. 3, 109f, 285 (Aristot. pol. 7, 6). Burckhardt bezieht sich hier auf die „Weltmonarchien", die irgendein „früh und kräftig entwickeltes V o l k " durch Gewalt errichtet. Diese Monarchie bleibt „auf dem Kulturzustand, w o sie im Moment ihres Entstehens stand". G K G Bd. 1, 186. Burckhardt nennt in d e m Kapitel ,Griechen und Barbaren' als Beispiel hierfür die Skythen. GKG GKG GKG GKG
Bd. Bd. Bd. Bd.
1, 211 ff., 286ff. Bd. 2, 42ff. 1,52,271. 3, 109f. 1, 14, bzw. 5, 52.
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mischen und mittelalterlichen Welt" ansehen, weil der Hellenismus die griechische Kultur zuerst an die Römer und über diese bis zur Gegenwart vermittelt habe. 1 6 9
2. Die Grundbegriffe D A S V O L K - DIE R A S S E .
Burckhardt geht von Völkern aus, die trotz aller historischer Veränderungen statische Gebilde darstellen. Ihre Statik ergibt sich daraus, daß j e d e m Volk ein , Wesen' zugeordnet wird. In dem v o m Wesen des Volks vorgegebenen Rahmen ist zwar einiger Spielraum für das Verhalten der einzelnen „Volksgenossen" 1 7 0 vorgesehen, kein Individuum kann j e d o c h diesen Rahmen überschreiten. Das Volk bleibt somit eine in ihren Grundzügen nicht veränderbare Einheit. D i e s e Einheit ,Volk' wird organologisch begründet. Das Volk ist als ganzes ein Körper. Als ein solcher hat das Volk ein mehr oder weniger ausgeprägtes Bewußtsein und auch Gefühle. 1 7 1 Wie ein Individuum ist auch j e d e s Volk mehr oder weniger begabt. Mit dem Begabungsbegriff hängt die Ansicht zusammen, daß die Volkseigenschaften vererblich sind. In diesem Zusammenhang verwendet Burckhardt häufig den Begriff der Rasse. Burckhardt geht davon aus, daß es zwei große Gruppen von Rassen gebe, barbarische, in denen die Individuen einer „rassenhafiten Gebundenheit" unterliegen 1 7 2 , und bevorzugte, in denen sich aufgrund der besonderen „Seele des Volkes" die „höchste und reichste Schönheit" 1 7 3 entfalten könne. Die Griechen zählen nicht nur zu den letzteren, sondern sind unter diesen w i e derum hervorgehoben. So „brauchten die Griechen nur ihre Natur walten zu lassen," um mit
169
170 171
172
173
G K G Bd. 3, 171. Zur Vorstellung der B e g a b u n g eines Volkes vgl. oben 6 0 - 6 2 und das folgende. Z u r G e s c h i c h t e und z u m Umfeld dieses Verständnisses von Hellenismus vgl. Bichler 1983; Bichler 1991, bes. 376ff. G K G Bd. 2, 29. Die Griechen sieht Burckhardt im A n s c h l u ß an Aristoteles im G e g e n s a t z zu zwei G r u p p e n von Barbaren: zu „den mutigen und freien, aber des Denkens, der Künste, des Staatenbildens und Herrschens unfähigen Völkern des Nordens, der europäischen Seite" und zu „den d e n k e n d e n und gebildeten, aber mutlosen und d e s w e g e n geknechteten Asiaten." Von den Skythen heißt es dann weiter: „ S o frei sich auch der einzelne im Sattel fühlen mag, so haben sie alle doch nur einen G e s a m t w i l l e n , ähnlich wie die Tierstaaten . . . " ( G K G Bd. 1, 285f.) „ M a n hat es vor allem zu tun mit einem Volke, w e l c h e s in höchstem Grade seine Leiden e m p f i n d e n und derselben b e w u ß t werden mußte. Im v o l l k o m m e n e n G e g e n s a t z zu der aprioristischen Resignation großer asiatischer V ö l k e r g r u p p e n und zu allem b e s c h a u lichem Q u i e t i s m u s bieter der Grieche dem Schicksal lauter v e r w u n d b a r e Seiten dar, und d a s s e l b e kann ihn täglich und stündlich nicht leiblich, sondern auch seelisch verletzen." Vgl. auch G K G Bd. 2, 46. A n anderer Stelle (Bd. 2, 25) werden aber diese Völkerklischees zum Teil w e n i g s t e n s wieder relativiert: „ " D e n Römern, wenn sie auf Kosten der Griechen Moral trieben, hätten die letztern etwas erwidern können, sie brauchten keine G l a d i a t o r e n k ä m p f e , damit ihnen das Essen s c h m e c k e ... und eine M e n g e G e g e n r e c h n u n g e n dieser G a t t u n g w ü r d e man überall zwischen Volk und Volk aufstellen können . . . " Das scheint aber nicht die Asiaten zu betreffen; G K G Bd. 3 , 2 1 : Ägypter und Babylonier sind schon Jahrtausende her sehr fleißige Leute g e w e s e n und haben technische, m e c h a n i s c h e , c h e m i s c h e Leistungen der höchsten Art a u f z u w e i s e n bevor sie ihr Tagediebeleben b e g a n n e n . " Bd. 3, 286, 10; Bd. 2, 43: „Völker leben in ihren A n f ä n g e n und oft noch bis in ziemlich h o h e Kulturen hinein rassemäßig". So hält er auch das europäische Mittelalter für eine Zeit, w o sich das Individuum nur als „ R a s s e " erkennt; s. S a m m e r 1994, 51, 90. G K G Bd. 3 , 2 1 .
Die Instrumentalisierung der griechischen Frühzeit
81
Hilfe der schon „von den großen alten Kulturstaaten" erfundenen Techniken ihre unübertreffbare Kunst hervorzubringen. W i e sehr die Produkte mit den Produzenten verbunden gedacht werden, ergibt sich daraus, daß Burckhardt gleichzeitig auch von der „notorische(n) Schönheit der R a s s e " spricht und diesen Faktor a u f die gleiche E b e n e mit der „agonistis c h e ( n ) G y m n a s t i k " stellt, wozu noch die „große zentrale Eigenschaft dieser N a t i o n " tritt, „die Verbindung von Freiheit und M a ß h a l t e n " . 1 7 4 Das ganze agonale Zeitalter soll sich durch einen „feste(n) R a s s e g l a u b e n " ausgezeichnet haben. 1 7 5 O b w o h l „der Rasseglaube im 5. und 4 . Jahrhundert „eine ziemliche Erschütterung erfahren zu haben ( s c h e i n t ) " , 1 7 6 spricht Burckhardt in diesem Zusammenhang gleichzeitig auch von einer „staunenswerte(n) Kraft in der hellenischen R a s s e " , die sich in der Überzeugung der Griechen ausdrücke, „daß nur das Gesunde zu leben verdiene." 1 7 7 D o c h der R a s s e b e g r i f f bleibt ohne klare Definition; er kann mit dem B e g a b u n g s b e g r i f f v e r s c h w i m m e n . D a s wird etwa dort sichtbar, wo Burckhardt im Hinblick a u f die kulturellen Leistungen die Griechen „das hochbegabte V o l k " bzw. „das geniale V o l k a u f E r d e n " nennt. 1 7 8
DER MYTHOS
Zum B e g r i f f des V o l k s gehört der des M y t h o s beinahe wie ein Zwilling. Der M y t h o s ist nicht nur in der Kindheit eines V o l k e s entstanden, er fuhrt auch später noch zu den Anfängen eines V o l k e s bzw. einer Nation zurück. Als ein Produkt der ersten Kulturstufe ist er naiv und j u g e n d l i c h 1 7 9 und gerade deswegen das höhere Abbild des Schauens und T u n s einer Nation. A u f der einen Seite ist seine M a c h t gewaltig und das Leben beherrschend, a u f der anderen Seite ist er gleichzeitig so vielfältig wie das Leben. A u f die Griechen bezogen heißt das, daß j e d e auch noch so kleine Bevölkerung ihren eigenen Mythos besitzt. 1 8 0
DIE NATION
Aus den angeführten beiden möglichen Bezugspunkten fur den Mythos ergibt sich schon, daß Burckhardt neben dem V o l k auch mit der E x i s t e n z von Nationen rechnet. D o c h Nationen müssen keine geschlossenen Einheiten darstellen; sie können aus Teilen, d. h. aus S t ä m m e n bestehen, die keinen politischen, sondern nur einen kulturellen, besonders einen
174
G K G B d . 2, 9 1 , vgl. 8 3 , 9 5 . Zu dieser B e g a b u n g k o m m e eine „notorische Schönheit der R a s s e " hinzu.
175
G K G Bd. 3, 183, vgl. 6 5 , 7 0 .
176
G K G Bd. 3, 134. Das sei „in Athen ohne Zweifel durch die starke Mischung der aktiven Bevölkerung, die Aufnahmen von Metöken und Fremden in die Bürgerschaft, das Vordrängen des S e e v o l k s , welches bei S a l a m i s gesiegt hatte, wie der Hoplit bei Marathon, anderswo aber durch allerlei Gewaltsamkeit beim Sturz der Oligarchen und ganz besonders durch zahlreiche teils freiwillige, teils (bei Katastrophen) erzwungene Messaliancen ( g e s c h e h e n ) " ; vgl. auch Bd. 3, 182f.
177
G K G B d . 3, 6f.
178
G K G Bd. 1, 15, 19. Die B e g a b u n g der Griechen zeige sich a u f beinahe allen Gebieten, am stärksten in der bildenden Kunst. In dieser Einschätzung trifft sich Burckhardt mit vielen Autoren des 19. Jahrhunderts.
179
G K G Bd. 1 , 3 1 , 3 3 , 39.
180
G K G Bd. l , 3 1 f f „ 6 1 , 8 8 .
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religiösen Zusammenhang aufweisen. Ungeachtet dieser lockeren Verbindung ihrer Teile hat eine Nation als ganze wie ein Volk ein Bewußtsein und Gefühle. 1 8 1 DER STAAT
Das Erscheinen des Staates ist das entscheidende Zeichen dafür, daß ein Volk in das dritte Entwicklungsstadium eingetreten ist. In seinem idealen Zustand sichert er das Zusammenleben der in ihm vereinigten Menschen. Er kann dies aber nur solange gewährleisten, als sich ihm die einzelnen Individuen in Gehorsam und Bescheidenheit unterordnen. 1 8 2 Dieser Zustand ist nach Burckhardt in den aristokratischen Republiken des agonalen Zeitaltes verwirklicht. In ihnen galt das Prinzip der einfachen Pflichterfüllung. So ist er in seiner idealen Gestalt einerseits eine moralische Institution, er ist aber auch in anderen nicht-idealen Formen zumindest die politische Kraft, die für das „Emporwachsen von Kultur" notwendig
3.
Der Zusammenhang der Begriffe mit der Methode der kulturgeschichtlichen Erkenntnis
Der Gegensatz von Materie und Geist. Der Gegensatz von Materie und Geist ist für Burckhardt essentiell. Das Materielle ist nicht von dauernder Bedeutung, sondern es ist das, „was dem Tage angehört". Als solches spricht es die „Nerven" des Menschen direkt an und „geht leicht und vorzugsweise eine Verbindung ein mit dem Materiellen in uns". Für das Materielle im Menschen hält Burckhardt unsere „Interessen", die er von „dem Geistigen in uns, unserm höhern Interesse" trennt. Daher sind rein materielle - anders als geistige - Hinterlassenschaften aus der Vergangenheit unwichtig. 184 Das mit dem Geistigen verbundene höhere Interesse entspricht der Seele. 185 Nur das Geistige in der Vergangenheit habe für die Gegenwart Bedeutung. Wenn sich der Geist auch wandeln kann, so hat er dennoch keine Vergänglichkeit; der Geist ist das, was der Zeit widersteht. In der Geschichte kann er als Zeit-, National-, Volks- und Epochengeist hervortreten. 186
181 182 183
184
185
186
G K G Bd. 1, 19, 55, 88, 273, 282ff„ 468; Bd. 3, 3f„ 109. GKG Bd. 2, 91 f.; Bd. 3, 173. GKG Bd. 3, 166: Auf das 5. Jh. bezogen „ist die Sittlichkeit durch die Erschütterung des Staates, ihres wesentlichsten Anhaltes, stark mit erschüttert"; Bd. I, 271: „Es sind alte Weltgesetze, daß die Kräfte nur im Gegensatz, nur im Ringen gegeneinander sich vollständig entwickeln und bewußt werden, und daß eine stark entwickelte politische Kraft die große Grundbedingung ist für alles äußere und geistige Gedeihen, die unentbehrliche Stütze der nur an ihr emporwachsenden Kultur." GKG Bd. 1, 11: „Alles, was dem Tage angehört, geht leicht und vorzugsweise eine Verbindung ein mit dem Materiellen in uns, mit unsern Interessen; das Vergangene kann wenigstens eher sich verbinden mit dem Geistigen in uns, mit unserm höhern Interesse." GKG Bd. 3, 21: „Hie und da offenbart bei bevorzugten Rassen, auch wenn die materielle Kultur sehr mäßig ist ... alles, was von der Seele eines Volkes abhängt, schon die höchste und reichste Schönheit . . . " Burckhardt kennt also auch das rein Materielle, ungeachtet der Doppelnatur des Geistig-Materiellen, die Sammer 1994 als Element seines Denkens herausarbeitet. Zum Geist-Begriff vgl. Große. 9 1 - 9 9 . Sammer 1994, 37ff. (Weltgeist), 49ff. (Volksgeist).
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Das Ganze und der Teil. Der Begriff,Geist' kann auch als abstrakter Ausdruck für „das Ganze" stehen. Aber so wie der Geist in unterschiedlich umfangreichen Gestalten hervortreten kann, wird von Burckhardt auch unterschiedlich aufgefaßt, was ,das Ganze' darstellt. Er bezeichnet hiermit ein Volk, einen Staat oder auch die Welt insgesamt. Immer jedoch gilt das ergibt sich aus dem Geist-Begriff-, daß das Ganze früher vorhanden ist als der Teil. 187 Gestalt und Inhalt. Die historische Realität ist nicht immer das Abbild der Idee bzw. des Geistes. Daher kommt es häufig zu einem Auseinanderklaffen von der Gestalt, welche mit dem Geist in Deckung steht, und dem konkreten historischen Inhalt, den historischen Fakten, mit denen die Gestalt gefüllt ist. An die Stelle des Begriffs ,Gestalt' kann auch der Begriff ,Form' treten, an die Stelle des Begriffs .Inhalt' auch der Begriff des g e s c h i c h t l i chen'. Es hängt mit dem Geist-Begriff Burckhardts zusammen, daß er die ,Gestalt' auch die ,Innenseite' nennt, weil sich in ihr der Geist dokumentiert. Die ,Außenseite' ist gegenüber der konstanten Innenseite damit das, was sich verändert.' 88 Es existiert jedoch eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Kulturgegenstand und Geist. Denn „der Geist bedarf der Materie, um Form anzunehmen, manifest zu werden, während am Naturgegenstand kein Geist zu erkennen ist." 189 Die Methode der Kulturgeschichte. Burckhardt beansprucht für sich, die richtige Methode der historischen Erkenntnis zu besitzen, wenn sie auch nicht zu ,objektiven' Erkenntnissen führen kann. Die Kulturgeschichte ist nach Burckhardt diese wissenschaftliche Methode. 190 Sie ist nicht bloß die Auswahl von bestimmten historischen Gegenständen bzw. Sachverhalten aus der Vielzahl der möglichen. Er verlangt, daß aus dem „Schutt" der historischen Fakten die „kulturhistorischen Tatsachen" erfaßt werden. Diese werden dadurch ermittelt, daß man „Gesichtspunkte für die Ereignisse (aufstellt)", mit deren Hilfe die „im griechischen Leben" wirkenden ,„lebendigen Kräfte" erfaßt werden können. So können die Griechen „geschichtlich", nicht erzählend, d. h. „in ihren wesentlichen Eigentümlichkeiten" beschrieben werden, so kann eine „Geschichte des griechischen Geistes" geschrieben werden. Die sich daraus ergebende Auswahl beruht zwar auf „eine(r) große(n) subjektive(n) Willkür", aber sie ist nicht auf das Materielle gerichtet und nicht von (niederen) Interessen geleitet. Sie erfaßt im Gegensatz zur Staatengeschichte bzw. zur politischen Geschichte „das Allgemeine", das gleichzeitig das „Konstante", das sich Wiederholende ist. Dieses bezeichnet er als „durchschnittlich wichtiger" als die speziellen Fakten. In ihm findet sich „der wahrste ,Realinhalt' des Altertums, eher noch als in den Antiquitäten". Im „ewigen Griechen" lernt man „eine Gestalt kennen, anstatt eines einzelnen Faktors." Die Berechtigung für dieses Vorgehen findet Burckhardt in seinem Geist-Begriff. Die durch die Kulturgeschichte ermittelten allgemeinen Fakten „heben diejenigen Tatsachen hervor, welche imstande sind, eine wirkliche innere Verbindung mit unserm Geiste einzugehen". Das wird möglich, weil der im Individuum wirkende Geist, das höhere Interesse in
187 188 189 190
GK.G Bd. 1, II f., 78, 85, Bd. 3, 11. Vgl. Große, 97, und Sammer 1994, 38: Der Weltgeist „durchdringt zwar alle Erscheinungen ... aber nur als formgebundenes Prinzip nicht als Inhalt". GKG Bd. 1, 6. 10. Zur Einbettung dieses Geschichtsbegriffs in die Denktraditionen des 19. Jh. vgl. Große 1997, 80-84. Sammer 1994, 26. Die folgenden Zitate stammen aus der methodischen Einleitung zu GK.G Bd. 1, 3-15.
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uns, als ein Teil des allgemeinen Geistes mit diesem in unauflösbarem Zusammenhang steht. Somit sind die „kulturgeschichtlich" erfaßten Fakten auch Teil des in der Geschichte wirkenden Geists. Dieser Geist wird in Erweiterung des Begriffes ,allgemein' als dem sich Wiederholenden zu einem „unergründlich Allgemeinen, das sich in den Erscheinungen offenbart." 1 9 1 Burckhardt will dieses .Allgemeine' nicht weiter besprechen, weil es der Sphäre der von ihm ^ls Kulturhistoriker nicht zu behandelnden Geschichtsphilosophie angehöre. 1 9 2 Der Weg zu diesem Geist führt nicht über positivistisches Kategorisieren. Der von Burckhardt für die Kulturgeschichte in Anspruch genommene methodische Weg ist der der „reinen Schau", die über Individualismus, Zeitlichkeit und Interessen hinausführt und so die „realweltlichen Verunklarungen" 1 9 3 hinter sich läßt. Historische Erkenntnis wird somit nicht als ein rational analytischer Vorgang aufgefaßt, sondern wird „ontologisch gedacht". 1 9 4
4.
Die Konsequenzen für die Darstellung der Griechischen Geschichte
Das griechische Volk. Burckhardt geht über die zu seiner Zeit geläufige Vorstellung der .begabten Griechen' noch hinaus. Das in seinen Denkbahnen höchste Lob heißt: „das Griechenvolk (war) geistig orientiert." 195 Nach den oben skizzierten Vorstellungen Burckhardts über die Kulturgeschichte bedeutet das, daß die Griechen stärker als jedes andere Volk direkten Anteil am „Allgemeinen" aufwiesen. Beinahe gleichwertig steht daneben als eine zentrale Eigenschaft der Griechen „die Verbindung von Maßhalten und Freiheit". 196 Als Volk bildeten sie so geradezu von Natur aus nicht nur den Sauerteig der Alten Welt, sondern der Grieche wird aufgrund der genannten Merkmale für „ewig" erklärt. 197 Diese Eigenschaften führen dazu, daß sich bei den Griechen in unübertreffbarer Weise Form und Inhalt dekken, daß „der Gedanke und sein Gehäuse ... eine schöne Identität" bilden. 198 Neben diesem generellen, die Griechen beinahe in eine Idylle entrückenden Lob steht bei Burckhardt bekanntlich seine Auffassung vom „leidenden Menschen". Trotz des geschilderten beinahe idealen Volkscharakters konnten die Griechen vieles nicht erreichen, j a es lastete sogar Unheil auf ihnen. Sie waren, so Burckhardt unter Berufung auf August
191 192 193
So S a m m e r 1994, 63. Vgl. Hardtwig 1974, 67ff.; Sammer 1994, 38. Große 1997, 87. S a m m e r 1994, 37f., 55ff. betont die Eliminierung des Kausalverhältnisses von Ursache und W i r k u n g und dessen Ersetzung durch die Durchdringung des Individuums über den Volksgeist mit dem Weltgeist, woraus sich die Möglichkeit ergibt, in einer intuitiven Schau die Wirklichkeit zu „erfassen".
194
G r o ß e 1997, 68; vgl. Sammer 1994, 44: „Die Intuition eines Künstlers und die eines Kulturhistorikers ist wegen ihrer Teilhabe am Weltgeist dieselbe, deshalb sind dem Historiker die kulturellen Erscheinungen geistig-materiell zugänglich, und deshalb k o m m t Kulturgeschichtsschreibung einem s c h ö p f e rischen Akt gleich."
195 196
G K G B d . 1,52. G K G Bd. 2, 91 f. Deshalb lassen sie in der bildenden Kunst das Vordringen des Subjektiven nicht zu, w o r a u s wiederum folgt, daß sie die „reine Blüte der menschlicher Bildung" darstellen. G K G B d . 1 , 4 , 52. G K G Bd. 1 , 1 0 . Daraus erklärt sich wohl auch die Vorstellung Burckhardts, daß die Griechen gleichzeitig Volk und Nation sind ( G K G Bd. 2, 91 f.); vgl. zur ähnlichen Vorstellung bei Curtius oben 7tT.
197 198
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Böckh, „unglücklicher, als die meisten glauben". 1 9 9 Warum das so ist, hängt mit dem historischen Wandel zusammen. Das Stadium der Kindheit. Unter den Indogermanen zeichnen sich die Griechen durch die besondere Ausbildung des Mythos aus. 200 Als zweites bis in die Anfänge zurückreichendes Spezifikum wird die griechische „Urreligion" mit einem Väter- und Ahnenkult genannt. Burckhardt scheint sich jedoch nicht ganz sicher zu sein, ob dieses Merkmal spezifisch griechisch ist. Das ist offensichtlich der Grund dafür, daß in dieser Phase der Mythos noch stärker als die Religion für den Zusammenhalt der Nation verantwortlich gewesen sein soll. 201 Mit dem sich in der Religion dokumentierenden hohen sittlichen Empfinden der Griechen wird ein drittes, wie das eben genannte schon lange vor Burckhardt den Griechen zugeordnetes Merkmal verbunden: die Monogamie. 2 0 2 Mit ihr hebt Burckhardt die Griechen schon im Stadium der Kindheit von der ansonsten hier herrschenden Promiskuität klar ab. Das Stadium der Jugend. Die Zeit der Barbarei bzw. der „Kinderzeit von Nation und Kultur" dauerte lange und weist hintereinander zwei Formen menschlichen Zusammenlebens auf. 2 0 ' Ihre erste Phase deckte sich mit der heroischen Zeit im engeren Sinn. Das Urteil Burckhardts über sie stellt das völlige Gegenteil von dem von Ernst Curtius dar. Es sei ein „Phantasiebild" der Griechen, aber keine historische Realität, daß die heroische Zeit „eine Welt ohne Nutzen", d. h. ohne Nutzen zum eigenen Vorteil, gewesen sei. 204 Der schon damals wichtige „Ruhm bei der Nachwelt" habe nur auf naiver Selbstsucht beruht; das für das Griechentum als allgemeines Motto anzusehende „immer der erste zu sein ..." habe zu diesem Zeitpunkt dazu geführt, daß der Konkurrent aus der Herrschaft vertrieben worden sei. Auch die direkten und indirekten Begründungen Burckhardts stehen in offener Opposition zu jenen von Curtius. Es habe erstens in dieser Zeit keinen richtigen Staat, sondern nur „Häuptlinge" gegeben; und: das Volk habe an dieser Mentalität keinen Anteil gehabt. 2 0 5 Zudem verlagert Burckhardt die von Curtius in der Frühzeit lokalisierte Piraterie in diesen Zeitraum als Ausdruck der fehlenden Bindung der Heroen zum Staat. 206 Zur zweiten Phase der Barbarei habe die dorische Wanderung übergeleitet. Sie bedeutet für Burckhardt eine radikale Beendigung der heroisch-mykenischen Zeit ohne Übergang zur späteren griechi-
199 200 201
G K G Bd. I. 14. 52: Bd. 2, 14-26,43; Bd. 3. 360, 384. G K G Bd. 1.31. G K G Bd. 1, 55. 282f. Burckhardt läßt hier die Vermischung und Beeinflussung des griechischen Volks zu, Vermischung mit der vorgriechischen Urbevölkerung, Beeinflussung durch die Phöniker ( G K G Bd. 1, 302; Bd. 3, 10); er hält manchmal sogar Völkermischungen für fruchtbar, allerdings nur, solange sie nicht die Sprache betreffen ( G K G Bd. 3, 14).
202
G K G Bd. 1, 55, 302. Die M o n o g a m i e als distinktives Merkmal von Zivilisation ist alte Vorstellung und findet sich ζ. B. auch beim aufklärerisch orientierten Heeren, Handbuch, 143. Er verweist hier auf die E i n f ü h r u n g der M o n o g a m i e unter den Griechen, die damit nicht mehr in der die Phase der Wildheit charakterisierenden Promiskuität, sondern in dem Stadium der Barbarei leben. Z u m Umfeld vgl. Osterhammel 1998. 3 5 9 - 3 6 6 .
203 204 205 206
GKG GKG GKG GKG
Bd. Bd. Bd. Bd.
2, 84, 3, 87. 3. 26. 1.62,
vgl. 355. Zu Curtius vgl. oben 54f. 31. 68; Bd. 1,61. 274.
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sehen. 207 Hier setzt Burckhardt für kurze Zeit „Wanderkönige" an, eine nur kurzlebige Form des Königtums, das noch in dieser „Jugendzeit" verfallen und durch Aristokratien abgelöst worden sei. Das dritte Stadium der Kulturentwicklung wurde so von den Griechen früher als von allen anderen Völkern erreicht. 208 Das Stadium des Alters. Dieses dritte Stadium umfaßt die gesamte restliche griechische Geschichte. Burckhardt greift den alten Gedanken auf, daß die von den Kolonien ausgehenden Impulse für den Wandel verantwortlich gewesen seien. Auf die neu entstandene Reflexion und Individualität sei die Lust zu Umgestaltung gefolgt. 209 Trotz der jetzt entstandenen, auch Gefahren in sich bergenden neuen Individualität lokalisiert Burckhardt den besten Zustand, den man sich vorstellen kann, hier nach der dorischen Wanderung. Drei Gründe scheinen hierfür ausschlaggebend zu sein: Das jugendliche Volk, die Polis als Staatstyp, der den Geist des Volkes in sich trägt, und daraus folgend: die Identifikation von Mensch und Staatsform. 210 Wie bei Curtius wird also der optimale Zustand über den Staat definiert. Als Bezugspunkt für die Bestimmung seiner Qualität hat gegenüber Curtius das Volk den Monarchen ersetzt. Die Polis sei die „definite griechische Staatsform" gewesen; sie war die schlechthin ideale Staats- und „Lebensform der Nation", ja noch mehr: die Polis war die „eigentliche Religion der Hellenen", sie war „die höchste Idee des griechischen Lebens". 2 " Der Gedanke, daß - wiederum konträr zu Curtius - nicht die Religion das staatliche Leben bestimme, sondern die Polis selbst die Religion sei, läßt die bekannte Behauptung verständlich werden, daß der Grieche „eine Polis bleibt, auch wenn er aus den Mauern vertrieben oder ausgewandert ist". 212 Das agonale Zeitalter. Der ideale Staat beruht zwar auf dem Volk, er ist aber keine Demokratie, sondern die „aristokratische Republik". 2 l j Zu diesen in großer Zahl existierenden aristokratischen Staaten gehörte die Besonderheit, daß sie alle miteinander in einem Wettstreit gestanden seien, der sich von dem älteren unter den Heroen grundlegend unterschieden habe. Die uneingeschränkte positive Wertschätzung dieses Wettstreits in dieser Zeit ist für Burckhardt der Anlaß, die gesamte erste Phase der Zivilisation als „das agonale Zeitalter" zu bezeichnen. 214 Geht auch Burckhardt wie Curtius davon aus, daß ,der Grieche' aufgrund
207 208
G K G Bd. 2, 80. G K G Bd. 1, 9 0 - 9 4 , 166. Die griechischen Randzonen Epirus, Ätolien, Akarnanien, auch Thessalien und Makedonien sollen erst nach der dorischen W a n d e r u n g barbarisch geworden sein ( G K G Bd. 3, 47).
209 210
G K G Bd. 1, 21 Iff., 287; Bd. 2, 43; Bd. 3, 46. G K G Bd. 1, 61, 69, 88, 166; Bd. 2, 355. Zur phönikischen Beeinflussung am A n f a n g vgl. G K G Bd. 1, 59f. Vgl. G K G Bd. 1 , 3 3 , 62, 87; Bd. 3, 46, 222, 360. G K G Bd. 1, 259. Der Gedanke findet sich wieder bei Christian Meier. Vgl. G K G Bd. 1, 164; Bd. 2, 154f.; Bd. 3, 65. G K G Bd. 3, 29. Burckhardt meint, daß man das koloniale und agonale Zeitalter „gewissermaßen ein griechisches Mittelalter nennen könnte" ( G K G Bd. 3, 46), gerät aber damit in Widerspruch zur Definition des (europäischen) Mittelalters als Zeit des noch rassegebundenen Denkens; vgl. oben Anm. 172; zur Funktion des Mittelalterbezugs vgl. A n m . 129. Diesen dominanten Mittelalter-Bezug übersieht Most 1989, wenn er Burckhardt unterstellt, daß er als erster „den systematischen Versuch unter-
211 212 213 214
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seines agonalen Triebs „mit seinesgleichen in beständigem Wettstreit oder , A g o n " ' gelegen sei, 215 so verschiebt er - so wie er den positiv bewerteten Staat chronologisch verschiebt auch den Höhepunkt des Agonalen zur aristokratischen Republik. Weil Burckhardt das Bild des agonalen Zeitalters der nacharchaischen Zeit als realisiertes Ideal entgegenstellt, seien hier - trotz seines Bekanntheitsgrades - einige Grundzüge ganz kurz resümiert. Das positiv besetzte Agonale sei nicht - wie in der heroischen Zeit - auf die Fürstenhöfe und das Kriegszelt beschränkt gewesen. Erst jetzt gewannen die großen „Agonalstätten" ihre besondere, beinahe säkularisierte Bedeutung als Treffpunkte, durch deren Vermittlung der Wettstreit unbegrenzt wurde. 2 1 6 Das war die große Zeit Delphis. 217 Weil Freiheit herrschte, die Griechen keine Priesterkaste kannten, gab es schließlich nichts, was nicht dem agonalen Prinzip unterlag. Sogar die Tempel standen miteinander in Wettstreit und auch in der bildenden und literarischen Kunst, auch in der später entstandenen Philosphie herrschte Wettstreit. 218 Für diesen idealen Zustand nennt Burckhardt zwei wichtige Gründe, die miteinander in Verbindung stehen: die Rasse und das Geblüt. Ähnlich wie der Begriff der Rasse mit dem des Volkes verschwimmt, so geht er in diesem Zusammenhang in den des Geblüts über. Burckhardt behauptet, daß „neben dem festen Rasseglauben jenes eigentümliche Ideal der Kalokagathia, der Einheit von Adel, Reichtum und Trefflichkeit" gestanden sei. Und weiter: „Das Herrscherrecht beruht auf dem bessern Blut, dem größern Grundbesitz, der Geübtheit in den Waffen, der Opfer- und Rechtskunde." 2 1 9 Anders als die Banausen verachtete der Adel die körperliche Arbeit, er überließ sie den Sklaven. So hatten die Aristokraten Zeit, einerseits um sich zu bilden, andererseits um sich der edlen Arbeit zu widmen: den Waffen, dem Spiel und dem Staat. In einer solchen Welt kann der Sieg im Wettstreit als „der edle Sieg ohne Leidenschaft" aufgefaßt werden, er erscheint uns „als der altertümliche Ausdruck für den friedlichen Sieg einer Individualität", somit als die nach Burckhardts Auffassung recht verstandene Philotimia.120 Das führte zur Verwirklichung des Ideals des griechischen Lebens, dem schon erwähnten für die Griechen spezifischen Ideal der Kalokagathia: „als (dem) Distinctivum der Griechen", dem großen „Vermächtnis der aristokratischen Periode an die Nation". 2 2 1 Doch gerade in der Philotimia lag auch die Gefahr für diese Welt. Denn für das Beste gab es keinen absoluten Maßstab, weshalb die Bestimmung des Besten in der Öffentlichkeit erfolgen mußte und so vom Urteil anderer abhängig machte. Das Problem existierte schon in der heroischen Zeit mit der Folge von Eifersucht, tödlicher Feindschaft, Ehrlosigkeit und
n o m m e n (habe), zu einem Gesamtbild der archaischen Epoche zu gelangen." Sein gesamter Gedankengang steht in dieser Hinsicht auf schwachen Beinen, weil Most der Wortbedeutung entsprechend ,Archaik' als ,Anfangszeit' versteht, wovon weder bei Burckhardt noch bei seinen . V o r l ä u f e r n ' die Rede sein kann. 215
G K G Bd. 1, 289; vgl. 415: „Das leibliche und geistige Sichmessen stellt sich im Leben der Griechen ein, sobald ihrer viele bei größerm A n l a ß beisammen sind."
216 217 218 219 220 221
GKG GKG GKG GKG GKG GKG
Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.
2, 3, 2, 3. 3, 3,
49, 91, 154; Bd. 3, 69, 73ff., 9 7 f „ 107f. 107. 94, 281, 356, 371, 374, 404, 468. 6 4 - 7 0 . Zitate 65: vgl. auch 87f. und bes. Bd. I, 164ff. 70. 65; Bd. 1, 165. Zur Kalokagathia vgl. A n m . 232.
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Jammer für den Verlierer. 222 Mit dem Entstehen der Polis begann sich das Problem über das Individuum hinaus auszudehnen und wurde zum Widerspruch zwischen dem Interesse der (aristokratischen) Polis und der individuellen Philotimie.22j Daran zerbrach die Identität von Individuum und Volk bzw. Rasse, also die Identität des Besonderen mit dem Allgemeinen. Die Aristokratie „entartete" und brachte die Todeskrankheit für ihren eigenen Staat, die Tyrannis, hervor. 224 Nun wurden für den Wettstreit Ziele gesetzt, die außerhalb des Wettstreits selbst liegen. Burckhardt meint hiermit den Ersatz von Ansehen und Ehre durch Gesundheit und Reichtum. Konkret verweist er auf die Peisistratiden, wenn auch diese Phase noch von den Verhältnissen des 5. Jahrhunderts im positiven Sinn abzuheben sei als eine Zeit, „da sich die bloße Kopfzahl noch nicht alles erlaubt und zutraut". 225 Doch der bisher von der Kindheit bis in die erste Phase des Alters führende aszendente Kulturverlauf schlägt unwiderruflich - von wichtigen Redundanzen abgesehen - in einen deszendenten um. Es fällt auf, daß Burckhardt ab nun keine Zeitalter-Begriffe, sondern nur mehr simple chronologische Bezeichnungen verwendet. Das fünfte Jahrhundert. Die Reduktion und dann der Verlust der aristokratischen Polis sollte Griechenland „nach dem glänzendsten Morgen den trübsten Abend bringen". 226 Denn die Elemente, welche die Idealität des agonalen Zeitalters ausmachten, wurden zum Negativen verändert. Die Folge davon war ein Konflikt zwischen der Polis „mit ihrem Argwohn und ihren engen Gleichheitsbegriffen einerseits und ihren hohen Ansprüchen an die Tüchtigkeit (arete) des Individuums andererseits" und dem Egoismus der begabten Individuen. So stand auf der einen Seite die Polis, die „immer recht haben wollte", 227 und auf der anderen Seite die „völlige Entfesselung der Kräfte, auch der falschen". 228 Dies hatte Folgen für die Politik und die Art des agonalen Verhaltens. Aus der agonalen Macht sei eine vom Individuum angestrebte absolute geworden, weil dessen Egoismus nicht mehr durch den Staat und im Staat gebändigt worden sei oder werden konnte. 229 Dadurch wird das ganze Leben „unecht" 2j0 , weil an die Stelle der Pflichterfüllung das „Räsonnement" getreten sei. 2jl Der Begriff der Kalokagathie sei „den Philosophen in die Hände" gefallen und auf den „Mensch überhaupt" ausgeweitet worden; aus dem „Sein" sei „ein Wirken auf andere" geworden. 232 Der Wert des
222
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G K G Bd. 2, 43f.; Bd. 3, 78. So sei das Agonale der Grund für die Päderastie gewesen; zudem seien auch die Frauen vom Agon ausgeschlossen gewesen ( G K G Bd. 3, 93, anders 95, w o von Frauenagonen die Rede ist). Zur Gefahr, die vom Agonalen ausgeht, und zu ihrer von Burckhardt behaupteten Abhängigkeit von der Bedeutung der Zuschauer vgl. Flaig 1987, 4 2 - 4 8 . G K G Bd. 2,14. G K G Bd. 1, 168, 171. Zur ähnlichen Beurteilung der Renaissance-Staaten vgl. Hardtwig 1974, 174f. G K G Bd. 2, 29f.; Bd. 3, 103. Auf die zeitpolitische Konnotation der Tyrannendarstellung verweist Flaig 1987, 85 ff. G K G Bd. 3, 109. G K G Bd. 3, 115, vgl. 139f. G K G Bd. 3, 117. G K G Bd. 3, 117ff„ 128-132, 138f., 145, 166. G K G Bd. 3 , 1 3 0 . G K G Bd. 3, 167, man findet jetzt „scheußliche Übelrede" ( G K G Bd. 3, 130), die Schaulust und Luxus; die Gymnasien veröden. G K G Bd. 3, 130-133. In dieser in die Antike getragenen Bewertung spiegelt sich wiederum eine zeitgenössisch-politische Positionierung. Es wirkt wie eine Ironie, daß die Quellenlage ein gegenteiliges
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Geldes habe alles „bisherige Ehrwürdige: Mythen, Heiligtümer, agonaler Ruhm in den Städten wertlos" gemacht. Die Guten und Besitzenden wurden verfolgt. 23 '' Der Verlust des .wahren' Agonalen, nicht zuletzt durch den peloponnesischen Krieg, habe sich auch auf das Verhalten der Poleis untereinander ausgewirkt. Das Wort hatten nun „die Realpolitiker". Sogenannte Realpolitik setzt Burckhardt mit ,militärisch-aggressivem Verhalten' gleich. Man „muß sich nach außen regen, d. h. gegen andere Poleis, andere höchst empfindliche, in letzter Instanz nur durch Zernichtung unschädlich, d. h. racheunfähig, zu machende Wesen". 2 3 4 Diese Form des Kriegs hatte die „Verrottung" der Nation zur Folge. Das Hegemonialstreben der großen Poleis in Griechenland war ein wichtiger Teil davon. 235 Burckhardt gibt auch den Grund für diesen Umschlag ins Negative an. Das alles hing mit dem Vordringen der Demokratie zusammen, „mit jenem unsinnigen Emporschrauben des Bürgertums". 2 3 6 Auf diese Weise sei die griechische Nation krank geworden, ein Bild, das Burckhardt ganz konkret faßt: die Griechen hätten ab dem 5. Jahrhundert mehr Ärzte als früher nötig gehabt. 237 Die weitere Steigerung dieses Zustands im 4. Jahrhundert bringt neben dem Willen einzelner, den Staat zu beherrschen, den Rückzug des Individuums aus dem Staat und damit eine von Burckhardt nicht geschätzte Apolitie und den Kosmopolitismus. 2 3 8 Sie alle sind aber des Agon-Ideals müde geworden und gehen auch so weit, das Agon-Ideal zu leugnen. Obwohl Burckhardt die intellektuell-kulturellen Kräfte der Griechen nach wie vor als enorm einschätzt und in den Griechen den „Sauerteig" für den Vorderen Orient sieht, hält er die Individualisierung für auf die Spitze getrieben und die Griechen für sittlich zerrüttet. 2 j 9 Die Deszendenz scheint mit dem Auftreten der makedonischen Monarchie innezuhalten. Das Signal für diese Einschätzung ist die neuerliche Verwendung eines Epochennamens, des Hellenismus. Zwar hat sich das Hellenentum in den Poleis nun aufgelöst, und es existiert nur mehr ein äußerer Schein des Agonalen, 2 4 0 aber die makedonischen Herrscher und ihr macht-
Bild vermittelt. Bourriot 1995, 113ff., konnte nachweisen, daß der Begriff ,Kalokagathia' bzw. ,kalos kagathos' als Neologismus eine ,Erfindung' gerade der Philosophen ist, welche von Burckhardt so vehement abgelehnt werden. Im Umfeld von Sophisten wird der Begriff benützt, um die eigenen Fähigkeiten anzupreisen, und wurde anfangs von den Aristokraten sogar gemieden; vgl. auch die kurze Zusammenfassung von Meier 1999. 233 234
GKG Bd. 3, 125, 167, 256, 3 3 6 f f , 359ff. GKG Bd. 3, 166f. Die „allgemeine Zersetzung des griechischen Lebens während des peloponnesischen Krieges (ist) ein Faktum, das so groß ist, daß man die Augen absichtlich verschließen müßte, um es nicht zu sehen."
235 236 237 238
GKG Bd. 3, 1 1 2 f , 115, 120. GKG Bd. 3, 1 3 0 , 3 6 0 . GKG Bd. 3, 136. GKG Bd. 3, 172, 181 f. Mit der „Göttlichkeit der Polis" ist es schon „seit dem Ende des peloponnesischen Krieges" vorbei, „die sogenannte Demokratie (trieb) die Ausgezeichneteren durch Versagung jeder Sicherheit zum Frevel oder zur Apolitie und (war) keiner Kritik der Einsichtigen mehr zugänglich"; vgl. auch Bd. 3, 222, 249, 337. Diese Positionierung ergibt sich auch aus den positiven Äußerungen zur Stoik ab dem Zeitpunkt, als sie sich nach Burckhardt wieder in den Staat einmischt: „Was aber die Betätigung der Philosophen im öffentlichen Leben außerhalb der Diadochenstaaten betrifft, so folgt jetzt endlich auf ihre frühere Staatsflucht eine Zeit der mannigfachen Einmischung in politische Dinge ..." (GKG Bd. 3, 476f.).
239 240
GKG Bd. 3, 172f„ 180-186, 222f„ 240. GKG Bd. 3, 371 f., 458.
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v o l l e s A g i e r e n s i e h t B u r c k h a r d t d u r c h a u s p o s i t i v , o b w o h l es a u f L ü g e u n d G e w a l t g e b a u t ist. D a s A r g u m e n t B u r c k h a r d t s h i e r f ü r ist d a s E n t s t e h e n e i n e s n u n w i e d e r s o l i d e n S t a a t e s . 2 4 1
5.
Der Begriff der Politik
In allen s e i n e n Ü b e r l e g u n g e n v e r s t e h t B u r c k h a r d t d e n B e g r i f f . P o l i t i k ' o f f e n s i c h t l i c h p r a k tisch, n i c h t t h e o r e t i s c h ; u n d er ist n i c h t „ u n p o l i t i s c h " . 2 4 2 D i e s e r g i b t sich z u m e i n e n d a r a u s , d a ß er in d e r rein t h e o r e t i s c h e n B e s c h ä f t i g u n g m i t d e m Staat g e r a d e z u e i n e P f l i c h t v e r l e t z u n g sieht, u n d z u m a n d e r e n d a r a u s , d a ß er d e n , G u t e n ' d e s 4. J a h r h u n d e r t s v o r w i r f t , sich a u s d e m Staat z u r ü c k z u z i e h e n . U n d er kritisiert a u c h j e n e , d i e d i e B e s t e n a u s d e m S t a a t v e r d r ä n g e n . A u s d i e s e m p r a k t i s c h e n V e r s t ä n d n i s v o n Politik erklärt sich d i e p o s i t i v e B e w e r t u n g d e r R e a l p o l i t i k ' d a n n , w e n n sie e i n e n , s o l i d e n ' Staat w i e d e n m a k e d o n i s c h e n z u r F o l g e hat. 2 4 3 P o l i t i k h a t bei B u r c k h a r d t a u c h e i n e m o r a l i s c h e K o m p o n e n t e . S e i n e M o r a l o r i e n t i e r t sich aber nicht am Wohl der Bürger, sondern - entsprechend seiner Definition der Kulturges c h i c h t e - an d e r G e s t a l t b z w . d e r F o r m d e s S t a a t e s . D i e h i s t o r i s c h e K o n k r e t i s i e r u n g d e s S t a a t e s d e c k t sich im I d e a l f a l l m i t d e m , G e i s t d e s A l l g e m e i n e n ' , an d e m w i e d e r u m d e r G e i s t d e s V o l k e s A n t e i l hat. D i e sich d a r a u s e r g e b e n d e A u f g a b e d e s P o l i t i k e r s ist es, a u f d e n E i n k l a n g d e s h i s t o r i s c h e n I n h a l t s mit d e r G e s t a l t z u a c h t e n . B u r c k h a r d t r e f l e k t i e r t d a m i t d a s zeitgenössische Unbehagen, daß die von Klassik und Romantik formulierten Ideale nicht R e a l i t ä t g e w o r d e n s i n d . 2 4 4 D a s ist m i t d e n Ä u ß e r u n g e n g e m e i n t , d a ß in d e r G e g e n w a r t n u r leere F o r m e n Ü b r i g g e b l i e b e n seien b z w . F o r m e n o h n e a d ä q u a t e n Inhalt. D o c h es fällt a u f , d a ß B u r c k h a r d t sich w e i g e r t , d a s M a ß f ü r d i e F o r m , d i e a u f „ d a s A l l g e m e i n e " b e z o g e n ist, zu b e s t i m m e n o d e r a u c h nur zu b e s c h r e i b e n . D a s g e s c h i e h t nicht n u r aus d e m v o n B u r c k hardt genannten Grund, d a ß das nur die Geschichtsphilosophie versuche, sondern wohl auch d e s h a l b , w e i l a u c h d e r K u l t u r h i s t o r i k e r B u r c k h a r d t d e n Staat d e r A n t i k e als d i e . P o t e n z ' a n sieht, o h n e d i e eine K u l t u r nicht m ö g l i c h w ä r e . 2 4 5
241
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244 245
GKG Bd. 3, 230-237. Burckhardt hält Demosthenes vor, daß er nicht zwischen Tyrannen und einem König unterscheiden konnte. „Und dazu kommt der Generalirrtum, daß eine auf tiefen Egoismus, Lüge und Gewalttat gebaute Herrschaft nicht solid sein könne, als ob in der Regel die Mächte der Erde auf etwas anderes gebaut würden." (236, vgl. auch 261, 314f., 446). Zur langen Tradition dieser beiden Möglichkeiten des Begriffsverständnisses vgl. Sellin 1978; Vollrath 1989. Burckhardt ist ebensowenig wie Curtius unpolitisch', woran Christ 1996, 139, jedoch für Burckhardt festhalten will; so auch Siebert 1988, 252. Burckhardts bewußter Verzicht auf aktive politische Betätigung kann jedoch nicht mit unpolitischem Denken gleichgesetzt werden, sondern enthält in sich eine politische Stellungnahme; vgl. dazu Löwith 1937/1984. GKG Bd. 3, 230: „Nach den Tugendidealisten, den Ruchlosen und den Narren kommt nun endlich in Gestalt Philipps von Makedonien der große Realpolitiker." Die Verwendung des Begriffs .Realpolitik' legt die konkrete zeitpolitische Anspielung nahe, nämlich die Akzeptanz der Annäherung großer Teile der Liberalen an die (Macht-) Politik Bismarcks; vgl. Vollrath 1989, 1062f. Momigliano 1955/2000, 192, hat auf die romantische Wurzel schon hingewiesen; vgl. dazu noch unten im Resume. In den „Weltgeschichtliche(n) Betrachtungen", 112, unterscheidet Burckhardt allgemein den griechischen und römischen Staat von allen anderen in der Hinsicht, daß Griechen und Römer einen vollendeten Staat besessen hätten, weshalb hier die Religion wesentlich von Staat und Kultur bedingt gewesen sei.
Die Instrumentalisierung
der griechischen
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Für Burckhardts Gedankenführung ist seine Sicht des .Beginns' der Geschichte der Griechen von Bedeutung, welche den bekannten Kontrapunkt zur Idealisierung der Griechen bildet. Er scheint von einer Art bellum omnium in omnes auszugehen. 246 Im Mythos findet er die Bestätigung für das hohe Alter dieses Zustands unter den Griechen. Der sei voll „von freiwilligen und unfreiwilligen Mordtaten", von Raub und Streit gewesen. Doch Burckhardt sieht diesen Zustand nicht allein auf den Anfang der griechischen „Nation" beschränkt, sondern hält ihn grundsätzlich in der gesamten griechischen Geschichte für gegeben. Die Griechen waren stets „eine Vielheit" und sind „es später so lange als möglich geblieben". „Unter den einzelnen Staaten aber, mögen sie groß oder klein sein, waltet im Altertum Feindschaft". Und noch stärker: „Die Ausschließlichkeit, der Widerwille gegen alle anderen Poleis, besonders die benachbarten, ist hier nicht nur ein vorherrschendes Gefühl, sondern beinahe ein Teil der Bürgertugend." Dieses Verhalten habe sich aber auch gegen den Kontrahenten im Inneren der Polis gerichtet, und zeige sich in der „Härte gegen unterdrückte Parteien". Insgesamt sollen die Griechen daher „das besondere Schauspiel einer alten und dauernden Feindschaft zwischen vielen kleinen Einzelteilen einer und derselben Nation" geboten haben. Diese Auffassung ist ein wesentlicher Grund dafür, weshalb Burckhardt August Böckh darin folgte, daß die Geschichte der Griechen keineswegs so glücklich verlaufen sei, wie das allgemein angenommen werde. Politische Moral kann angesichts dieses Bildes nur heißen, einen solcher Zustand nicht zuzulassen. In diesem Sinn wird gehandelt, wenn die negativen Eigenschaften des Menschen gebändigt werden und so der Kontakt mit dem in der Nation wirkenden Geist zustande kommt. Dies wurde nur einmal in der griechischen Geschichte, nämlich im aristokratisch-agonalen Zeitalter geleistet. Mit dem Adjektiv .agonal' beschreibt Burckhardt somit nicht irgendeinen idealen, nicht mit der politischen Welt in Verbindung stehenden Glückszustand, sondern im Gegenteil einen ganz konkreten Zustand, der durch bestimmtes politisches Verhalten hergestellt wird. Das Aussehen dieser politischen Gestalt ist mit Burckhardts eigenen politischen Anschauungen bzw. Wünschen direkt verbunden. Politik ist nur etwas fiir ,die Guten'. Die Achtung des Geblüts ist hierfür die wesentliche Voraussetzung: Anders als in „unserm Jahrhundert" sah man „mehr auf die Qualität als auf die Quantität der Rasse". 247 Die Ordnung, in der das möglich war, kannte somit eine soziale Hierarchie nach Ständen. Die Sophrosyne bedeutete in dieser Zeit - anders als später - „Gehorsam bei starker individueller Entwicklung". 248 Die Aristokraten konnten im Staat tätig sein, weil sie vermögend waren und konnten das auch ohne Sorge vor Angriffen tun. Das Burckhardt hier vorschwebende Bild tritt durch seinen Vergleich der Polis in der agonalen Zeit mit dem Patriziat der mittelalterlichen Städte in Italien noch klarer hervor. 249 Angesichts der postulierten Idealität der aristokratisch-agonalen Polis ist es nachvollziehbar, daß Burckhardt die Tyrannis der Peisistratiden, obwohl er sie sonst für eine Krankheit hält, noch besser erscheint als die Demokratie. Sie beendete zwar
246 247
Die folgenden Zitate GKG Bd. 1, 2 7 3 - 2 8 0 . GKG Bd. 3, 67.
248 249
GKG Bd. 2, 92. GKG Bd. 3, 66; vgl. auch 366, mit einem positiven Urteil über die gemäßigte Demokratie.
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das agonale Zeitalter, aber sie hatte noch Sinn für mächtige Individualität und war keine Zeit, in der sich die bloße Kopfzahl alles erlaubte und zutraute. 250 Burckhardt leidet offensichtlich an der bis in das 19. Jahrhundert nachwirkenden „Umdeutung des Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft als societas civilis sive politica, d. h. als eine gegliederte Herrschaftsordnung, zu einer „bloßen bürgerlichen Gesellschaft, der der Staat als von ihr getrennte Machtorganisation zur Rechts- und Friedenwahrung" gegenübersteht.251 Sein agonales Zeitalter ist das Gegenbild dazu, die optimale Realisierung der societas civilis sive politica, das optimale Bild einer gegliederten Herrschaftsordnung. Die politische Aufladung des Agonalen wird durch die oben skizzierte Art verstärkt, in der Burckhardt die auf das agonale Zeitalter folgenden Jahrhunderte charakterisiert. Die mit dem Ende des agonalen Zeitalters ans Tageslicht tretenden Negativa decken sich mit den Phänomenen, die Burckhardt an der Gegenwart kritisiert. Die neue, von Burckhardt massiv attackierte Art des politischen Denkens und Verhaltens hat Anklänge an das, was man ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend unter .politisieren' versteht. 252 Moral und Politik treten auseinander, der Staat wird zur bloßen demokratisch-bürgerlichen Gesellschaft, welche als menschliches Gebilde der vorgegebenen ,Ordnung' gegenübertritt. Auf diese Weise wird Politik zum autonomen Bereich, in der Wertung Burckhardt wird sie „entfesselt". Das Bild der Unruhe spiegelt das wider: In der Polis herrscht fieberhaftes Leben, der Staat ist innerlich ruhelos geworden, alles ist in Gärung. Der Grund liegt in der Demokratie und ihrer Lust an der Umgestaltung. Mit ihr kommt ein Machtstreben zum Vorschein, das vorher so nur in Sparta existiert hat. Jetzt drängt der Einzelne ungehemmt in den Vordergrund, es werden neue Mittel zur Erringung politischer Macht eingesetzt: Späherei und tödliche Anklage. 253 Das Ziel der Politik hat sich somit völlig verändert. Es geht nicht mehr darum, Form und Inhalt in Übereinstimmung zu halten. Politik ist zum Mittel für individuelle Ziele geworden. Man kann jetzt mit Politik sozialen Rang, aber auch Vermögen und Reichtum erreichen. 254 Diejenigen, die sich an dieser Politik beteiligen, nennt Burckhardt „Streber", von denen die meisten, weil „innerlich frivol", nur am Staat zehren wollten. Da der Agon so wie bei Curtius zum idealen Zustand gehört, muß auch er von diesem Verfall erfaßt sein. An der geänderten Bedeutung des Agons wird das Auseinanderklaffen von Form bzw. Gestalt und Inhalt besonders sichtbar. Der Agon ist zum Wettbewerb bei den Massen geworden, die Siege in Olympia garantieren keinen politischen Einfluß mehr. 255 Die Folge von der so herbeigeführten Umgestaltung des Staates ist die, daß Reiche immer seltener werden, Unruhen entstehen und schließlich die letzten Besitzenden geplündert
250 251 252
GKG Bd. 3, 103, 360. Sellin 1978, 853. Sellin 1978, 861 ff. Ausgehend von der völlig anderen Bewertung der Demokratie wird erst von Meier 1980 in Verbindung mit der griechischen Geschichte der Begriff politisieren' in das positive Gegenteil umgekehrt.
253
GKG Bd. 1, 275ff.; Bd. 3, 165ff., 213; Bd. 2, 44, 56. Zur Distanz Burckhardts zur modernen Demokratie vgl. Jaeger 1994, 137ff., 143ff. GKG Bd. 3, 125. Jaeger 1994, 136, beschreibt diesen Gedanken Burckhardts als „in der Logik der modernen Kultur angelegte Eskalation einer materiellen Triebstruktur". GKG Bd. 3, 86, 130.
254 255
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werden. 256 Auf diese Weise ist auf der einen Seite der Staat despotisch geworden und auf der anderen Seite lebt das Individuum seinen Egoismus aus oder zieht sich aus der Politik zurück. Statt sich am Staat zu engagieren, ist er zum Gegenstand wissenschaftlicher und theoretischer Betrachtung geworden. 257 Das erinnert ganz an Burckhardts Klagen über die eigene Gegenwart, wenn auch hier der Ton noch schärfer ausfällt. 258 Diese neue Politik macht vor der Außenpolitik nicht halt. Im Gegenteil, seit dem peloponnesischen Krieg soll sich eine Verwilderung der Sitten in der Begegnung der einzelnen Staaten bemerkbar gemacht haben, das ehemals vorhandene ,wahre' Agonale ging auch hier verloren. Von den Agonalstätten sei das Publikum verschwunden, obwohl das Agonale nun auch den Massen zugänglich gewesen sei. An die Stelle des Agonalen sei Ehrgeiz und Eitelkeit getreten, die sich gegen andere Poleis mit dem Ziel richteten, hegemoniale Macht zu erlangen. Das „große Wort (führen) die Realpolitiker". Wir sehen nun bei Burckhardt die Griechen in ständigen, nur durch kurze Friedensphasen unterbrochenen Fehden sich befinden; und selbst diese Friedensphasen hätten nur als Schein existiert. Die Nation befand sich im Krieg. Burckhardt findet keine Steigerung des Negativen mehr: der Krieg ist voll von Brutalität, es entwickelte sich unter den Griechen das „eigentlich Satanische". 259 Das als .praktisch' charakterisierbare Politikverständnis des Schweizers Burckhardt bleibt auch in seinem moralischen Anspruch ganz konservativ. Es ist - wenn auch nicht monarchisch wie das des Preußen Curtius - so doch eindeutig anti-demokratisch und auch antiliberal. Es richtet sich auf die Herstellung einer Harmonie, die außerhalb bzw. schon vor der historischen Realisierung existiert. Das Ziel der Politik besteht in der Annäherung an diesen vorgegebenen Maßstab, ohne daß der Staat zur Disposition stünde. 260 Er steht nicht einmal für eine analytisch-rationale Überprüfung bereit. Das verhindert die von Burckhardt propagierte Methode der Kulturwissenschaft.
256
GKG Bd. 2, 142: Die Ehrenrettung der Griechen besteht darin, daß das allerletzte, der Angriff auf die Kultur doch nicht möglich war: „Das heutige Bündnis zwischen Liberalismus und Kirchenfeindlichkeit war damals unmöglich."
257
GKG Bd. 2, 410; Bd. 3, 242. Ähnlich auch Curtius oben 68, 74f. Zur insbesondere zwischen 1840 und 1848 geäußerten Klage über solche Zustände, hinter der der Konflikt zwischen citoyen und bourgeois steht, vgl. Sellin 1978, 858ff. In der Gegenwart sei nur mehr ein Wettbewerb gestattet, nämlich der „im sogenannten Geschäfte", der „auf das negative Ehrgefühl zurückweist. Dieses sucht vor allem nichts Ungünstiges auf sich kommen zu lassen und Achtung zu erwerben, das Aufsehen aber zu vermeiden; auch will derjenige, welcher darüber hinausgeht, der heutige Streber, nicht Ruhm, sondern Stellen und Geld, und auch seine Reklame dient vor allem dieser Absicht." GKG Bd. 2, 13f.; vgl. Bd. 3, 167. Zur Einschätzung von Burckhardts politischer Anschauung vgl. bes. Hardtwig 1974, 2 7 3 - 2 9 8 : Kapitel J a c o b Burckhardts Stellung in der Krise der Zeit'; zum Umfeld der hier sichtbar werdenden konservativ-paternalistischen Denkweise vgl. von Hodenberg 2000.
258
259 260
GKG Bd. 1, 2 7 5 - 2 8 1 ; Bd. 2, 7; Bd. 3, 166ff., 172, 242, Zitate 167f. Zum Zusammenhang dieses Politik- und Staatsverständnisses mit der Romantik vgl. Sellin 1978. 85 Iff.
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Vif
III. Resume Die o b i g e Analyse, mit einem S c h w e r p u n k t auf d e m A s p e k t der B e d e u t u n g des W e t t k a m p f s b z w . des A g o n a l e n im R a h m e n des Politikverständnisses, hat v i e l f a c h e Ü b e r e i n s t i m m u n g e n z w i s c h e n Curtius und B u r c k h a r d t sichtbar w e r d e n lassen, die im F o l g e n d e n t h e s e n h a f t resümiert w e r d e n . In diese Thesen hat eine Reihe von strukturierenden G e d a n k e n E i n g a n g gef u n d e n , die in der Literatur zur Charakteristik und z u m W a n d e l des B ü r g e r t u m s i n s b e s o n d e re in der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts formuliert w u r d e n .
1.
Eine nach rückwärts gewandte Utopie
Die Z e i c h n u n g der heroischen Zeit bei Curtius und j e n e der an sie a n s c h l i e ß e n d e n Phase bei B u r c k h a r d t lassen sich als zwei v e r s c h i e d e n e F o r m e n einer nach r ü c k w ä r t s g e w a n d t e n Utopie ansehen. W e n n auch ihre unterschiedliche historische Lokalisierung eine Folge verschiedener E i n s c h ä t z u n g e n der eigenen G e g e n w a r t ist, so treffen sie sich doch darin, daß beide grundsätzlich konservativ g e s t i m m t sind. Diese G r u n d h a l t u n g ist eine w i c h t i g e Basis d a f ü r , d a ß die Z u s t ä n d e , Ereignisse und P e r s o n e n in der archaisch-griechischen V e r g a n g e n heit wie m u s e a l e G e g e n s t ä n d e behandelt w e r d e n , daß die V e r g a n g e n h e i t wie ein M u s e u m mit den G e g e n s t ä n d e n ausgestattet wird, die f ü r die eigene G e g e n w a r t als V o r z e i g e s t ü c k e dienen k ö n n e n . Die Griechische F r ü h g e s c h i c h t e eignet sich f u r ein solches V o r g e h e n in bes o n d e r e r Weise, weil a u f g r u n d der zur Zeit von Curtius und B u r c k h a r d t noch w e i t g e h e n d f e h l e n d e n a r c h ä o l o g i s c h e n Erkenntnisse historische , F a k t e n ' beinahe ausschließlich
aus
dem , M y t h o s ' , zu d e m auch die h o m e r i s c h e n Epen gerechnet w e r d e n , abgeleitet w e r d e n m ü s s e n . Der Z w e c k f ü r diese A u s g e s t a l t u n g der griechischen Frühzeit ist nicht zu übersehen. Es entsteht d a d u r c h eine g e g e n ü b e r der g e g e n w ä r t i g e n w ü r d i g e r e Welt, die zur „trostr e i c h e ^ ) E r h e b u n g " benützt werden kann. 2 6 ' Curtius fällt dies leichter als B u r c k h a r d t , weil er mit einem w e i t g e h e n d statischen K u l t u r b e g r i f f operiert.
2.
Das Bild der Lebensalter als chronologische Strukturierung
Als Basis der Strukturierung der V e r g a n g e n h e i t dient Curtius wie B u r c k h a r d t ein sehr e i n f a ches M o d e l l der Kulturentstehung, das von einer im m o d e r n e n Sinn historisch f u n d i e r t e n A n n ä h e r u n g an die Realität weit entfernt ist. In dieses Modell wird von beiden die A n a l o g i e des e u r o p ä i s c h e n Mittelalters eingebaut, in der das Mittelalter nicht viel m e h r als eine rom a n t i s c h e V e r z e r r u n g darstellt. D a s ist erkennbar, auch o h n e daß d a f ü r die inzwischen von der m o d e r n e n Mediävistik geäußerte Kritik an derartigen K o n s t r u k t i o n e n n o t w e n d i g w ä r e . Die Erstellung eines „griechischen Mittelalters" erfolgt im R a h m e n der V o r s t e l l u n g des zyklischen Lebensalter-Bildes, in d e m das Mittelalter als das j u g e n d l i c h e Alter den H ö h e p u n k t darstellt, auf den nur m e h r das Alter und der T o d folgen können.
261
Glaser 1993, 125.
Die Instrumentalisierung der griechischen Frühzeit
3.
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Die retrograde Utopie als Ausdruck eines resignativen Bildungsbürgertums
Diese Art der Strukturierung und der A u s g e s t a l t u n g der f r ü h g r i e c h i s c h e n G e s c h i c h t e wird aus der W e l t eines B i l d u n g s b ü r g e r t u m s verständlich, das sich mit d e m B e w u ß t s e i n
der
durch das B ü r g e r t u m seit der A u f k l ä r u n g schon erreichten Kultur b z w . B i l d u n g z u f r i e d e n gibt. B i l d u n g wird dabei als etwas betrachtet, das schon von den G r i e c h e n in g e r a d e z u kanonischer F o r m als Fix- und O r i e n t i e r u n g s p u n k t v o r g e g e b e n w o r d e n ist. 2 6 2 U m den angestrebten E i n d r u c k des in der V e r g a n g e n h e i t schon erreichten Ideals herstellen zu k ö n n e n , m ü s s e n die zentralen B e g r i f f e in der B e s c h r e i b u n g dieses Z u s t a n d s so unklar g e f a ß t w e r d e n , daß sie ineinander ü b e r g e h e n . Dies gilt vor allem f ü r Curtius, in dessen B e g r i f f s g e b r a u c h Nation, V o l k und S t a m m e b e n s o ineinander verfließen wie N a t u r und Kultur. A u f diese W e i s e kann bei allem beschriebenen W a n d e l gleichzeitig gerade der A n f a n g und damit die Statik g e g e n ü b e r d e m W a n d e l als das Positive h e r v o r g e h o b e n w e r d e n . Im f r ü h g r i e c h i s c h e n Staat kann a u f g r u n d dieses V o r g a n g s das als Vorbild betrachtete Ideal lokalisiert w e r d e n , o b w o h l viele der b e w u n d e r t e n kulturellen P r o d u k t e aus späterer Zeit s t a m m e n . Die Parallele z w i s c h e n der B e t r a c h t u n g der griechischen A r c h a i k als Idealzustand und der E i n s c h ä t z u n g des N a t i o n a l s t a a t e s als a n z u s t r e b e n d e m E n d z u s t a n d o h n e j e d e konkrete politische o d e r soziale V e r ä n d e r u n g drängt sich auf. Diese V o r g e h e n s w e i s e läßt sich als A u s d r u c k d e r Enttäus c h u n g d a r ü b e r verstehen, daß das (deutsche) B ü r g e r t u m an den aktuellen politischen Ents c h e i d u n g s p r o z e s s e n in wesentlich g e r i n g e r e m M a ß als das B ü r g e r t u m in Frankreich o d e r England beteiligt war. D e s h a l b erscheint all das beim A n g e h ö r i g e n des freien Basler Bürgert u m s J a c o b B u r c k h a r d t auch w e n i g e r deutlich, existiert aber z u m i n d e s t in der Gestalt, d a ß die N a t i o n als „das G a n z e " in B e w u ß t s e i n und G e f ü h l e n der G r i e c h e n seit j e h e r existent g e w e s e n sein soll. Z u r A b s i c h e r u n g des so erstellten Bildes soll eine w i e d e r u m stärker von Curtius als von B u r c k h a r d t v e r w e n d e t e r o m a n t i s i e r e n d e S p r a c h e v e r h e l f e n . Diese S p r a c h e baut sich in Verb i n d u n g mit den nicht f e s t z u m a c h e n d e n B e g r i f f e n als eine Fassade auf, hinter der das Politische in der als historische B e s c h r e i b u n g gebotenen Projektion v e r b o r g e n w e r d e n kann. 26 "'
4.
Eine Geschichte ohne Zukunft
Weil das B i l d u n g und Politik v e r e i n i g e n d e Ideal in der V e r g a n g e n h e i t , nicht nur in der griechischen, s o n d e r n auch, wie das die Mittelalter-Projektionen zeigen, in der eigenen deutschen V e r g a n g e n h e i t liegt, kann die Z u k u n f t nur als bedrohlich erfahren w e r d e n . Die G e schichte wird somit zu einer G e s c h i c h t e o h n e Z u k u n f t . Im Denken von Curtius steht als G e f a h r der Verlust der Monarchie, w o r a u s Ungleichheit durch die H e r r s c h a f t des A d e l s droht, aber auch die G e f a h r von „ G ä h r u n g e n " , h e r v o r g e r u f e n durch den Pöbel. B u r c k h a r d t greift vorerst h ö h e r als Curtius und beruft sich auf die Existenz des „ A l l g e m e i n e n " . A b e r er
262
263
Vgl. hierzu Glaser 1993, 3 7 - 5 8 : Kapitel: „Enthebung. Welt erhellen und träumen". Nipperdey 1991, 519, spricht von der „Bildungsreligion". Zur Bedeutung der neu entdeckten ,Bildung' im 19. Jh. vgl. Koselleck 1990. Vgl. hierzu Glaser 1993, 50ff., 156ff.
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weigert sich zu b e s t i m m e n , w a s es ist b z w . w o h e r es k o m m t . Denn w ü r d e er sich d a r a u f einlassen, w ü r d e das Problem sichtbar werden, daß eine derartige B e s t i m m u n g gar nicht m ö g lich ist. D a s bildungsbürgerliche Ideal m ü ß t e dann in sich z u s a m m e n b r e c h e n , ein N i h i l i s m u s nach der Art N i e t z s c h e s w ä r e k a u m zu verhindern. 2 6 4 S o wird im A l l g e m e i n e n die E x i s t e n z des G a n z e n einfach b e h a u p t e t , um f ü r die G e g e n w a r t einen in d e r V e r g a n g e n h e i t liegenden B e z u g s p u n k t n a c h w e i s e n zu können, mit dessen Hilfe die B e d r o h u n g der sich säkularisierenden Welt des aristokratischen B ü r g e r t u m s von zwei Seiten, von t y r a n n i s c h e n M o n a r c h e n und von der p ö b e l h a f t e n D e m o k r a t i e , a u f g e h o b e n w e r d e n kann.
5.
Die Entmündigung des Individuums - ein Zeichen für die Ausweglosigkeit
Diese G e s c h i c h t e o h n e Z u k u n f t ist auch eine Geschichte, die keine E r z i e h u n g des Individ u u m s über das hinaus offenläßt, w a s als - aus der (griechischen) V e r g a n g e n h e i t b e z o g e n e r - B i l d u n g s k a n o n schon fixiert wurde. Weil dieser K a n o n auf die v o r b i l d h a f t e politische Situation b e z o g e n ist, kann diese Art der Bildung kein e m a n z i p a t o r i s c h e s Potential a u f w e i s e n . Die Petrifizierung dessen, w a s als Bildung und Kultur betrachtet wird, hat im Gegenteil die T e n d e n z zur Folge, daß der Lobpreis f ü r die B i l d u n g ins S p i e ß b ü r g e r l i c h e abgleitet. 2 6 5 Die romantisierend-ästhetisierende, den Gegenstand des Realitätsbezuges e n t r ü c k e n d e S p r a c h e ist e b e n s o ein klarer Schritt in diese R i c h t u n g wie die Idyllisierung der Natur, in der kein V e r s t o ß gegen die O r d n u n g möglich ist. Durch beides wird d e m G e g e n s t a n d quasi-religiöse W e i h e verliehen. 2 6 6 Die A b l e h n u n g eines theoretischen Politikbegriffs z u g u n s t e n eines rein praktischen verstärkt diesen Zug, weil so R e f l e x i o n e n über .Politik' und indirekt auch ü b e r den B i l d u n g s k a n o n verhindert werden. Somit vermittelt die hinter diesen D e n k f o r m e n steh e n d e A b w e h r des westlichen Liberalismus Sicherheit, aber sie versperrt gleichzeitig die Möglichkeit der E n t w i c k l u n g des Individuums, frei v o m Z w a n g sich stets als ein „Teil des G a n z e n " zu denken und so auch zu handeln. Z u r E n t m ü n d i g u n g des I n d i v i d u u m s trägt die o b e n herausgearbeitete, in den von Curtius v e r w e n d e t e n B e g r i f f e n angelegte Statik bei, aber noch m e h r die B e h a u p t u n g , d a ß die Religion der A u s d r u c k des W e s e n s eines V o l k e s sei. Weil d e m so ist, kann die h ö c h s t e F o r m d e r Religion auch mit d e m höchsten E n t w i c k l u n g s s t a n d des nationalen B e w u ß t s e i n s g l e i c h g e setzt und die M o n a r c h i e z u m „Reich der G n a d e " w e r d e n . Im säkularisierten D e n k e n des aristokratischen Bürgers Burckhardt lautet die dem zu parallelisierende F o r m u l i e r u n g , daß die Polis die eigentliche Religion der Griechen g e w e s e n sei. Doch weil die Religion aus d e m A l l g e m e i n e n h e r a u s g e n o m m e n und d e m Bürger anvertraut wird, m u ß der Verlust eines d e r beiden Teile der Religion und der Polis gleichzeitig auch den Verlust des a n d e r e n bedeuten. D e s w e g e n ist der von W e l c k e r formulierte G e d a n k e f ü r B u r c k h a r d t viel wichtiger als f ü r Curtius, daß die G r i e c h e n unglücklicher waren, als die meisten glauben. D e n n der Verlust d e r Polis-Religion kann nur einen geradezu a p o k a l y p t i s c h e n A b s t u r z zur Folge haben. 2 6 7
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So Glaser 1993, 127f. Hierzu Nipperdey 1988, bes. 41 ff.; Glaser 1993, 82ff„ 149ff. Glaser 1993, 56ff., 59ff.; Nipperdey 1991, 519ff. Der Gedanke bei Glaser 1993, 73ff.
Die Instrumentalisierung
der griechischen
Frühzeit
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Deswegen ist die Idylle bei Burckhardt weit mehr gefährdet und schlägt schließlich auch ins „Satanische" um.
6.
Der Wettkampf/das Agonale - Indikatoren für die Qualität des politischen Zustands
Für Curtius und Burckhardt ist die Existenz eines richtig verstandenen Wettkampfs ein klares Indiz für eine von beiden politisch verstandene, einmal in der heroischen Zeit das andere Mal in der Zeit der aristokratischen Republiken angesiedelte politische Idealwelt, die auch in der Zuschreibung als Welt der Kalokagathia manifest wird. 268 Der längst bemerkte Hintergrund für diese Gleichsetzungen ist die Verbreiterung des Wettkampf-Gedankens nach der Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese vollzieht sich als Folge des Wirtschaftsliberalismus, der sich beschleunigenden Industrialisierung und des damit verbundenen Rufs nach freiem Wettbewerb. Die ideologische Aufladung des Wettkampf-Gedankens bzw. des Agonalen wird daran erkennbar, daß gerade dieser Zusammenhang geleugnet wird. Curtius verbindet den Wettbewerb mit dem Höhepunkt der griechischen Religion, bringt ihn aber auch mit der Kraft des Volkes bzw. deren Erschöpfung in Verbindung. Burckhardt geht hier noch einen Schritt weiter, indem er den Volksbegriff und den des Adels mit dem der Rasse verschwimmen läßt. 269 Doch ganz läßt sich die de facto aus der eigenen Gegenwart erfolgte Herleitung des Agonalen nicht verdrängen. So ist für beide der Wettkampf auch Bedrohung. Die Angst vor dem modernen „Wettkampf', dessen Regeln man nicht hinreichend kennt oder denen man sich nicht beugen will, hinterläßt markante Spuren. Überall werden im historischen Ablauf nach dem Idealzustand „Gärungen" festgestellt bzw. Zeichen der „Nervosität" der neuen Zeit. 270 Kolonialismus (bei Curtius) und Imperialismus werden nicht nur in der griechischen Vergangenheit abgelehnt. All dem wird der ideale Wettbewerb entgegengestellt als ein allgemeines menschliches, nicht als ein bloß gegenwärtiges Verhalten. In ihm lassen sich die in der Moderne beunruhigenden Gegensätze aufheben. Von hier aus wird verständlich, daß das Agonale so wie bei Curtius durch die Religion im monarchischen Staat bzw. bei Burckhardt durch die Religion der Polis in der aristokratischen Republik gebändigt werden muß. 271 Im Rahmen dieser Zusammenhänge wird die jeweils feststellbare Art des Wett-
268
Zur Herkunft und politischen Instrumentalisierung des Begriffs Kalokagathia vgl. oben A n m . 232. Glaser 1993. 152f.. verweist auf den im Schulunterricht, bei der Turnerbewegung, in den Korporationen und in Festvorträgen hergestellten Z u s a m m e n h a n g , daß ein schönen Körper der Beweis für ,moralische Sauberkeit' sei.
269
Zur V e r b i n d u n g dieser Vorstellungen mit der Abwertung des Orients vgl. Weiler 2001, 19f., und Marchand, 1996. Zur nicht zufällig im gleichen Zeitraum an Dynamik gewinnenden Wiederbelebung der antiken Spiele, die dann zum O l y m p i s m u s fuhrt vgl. Alkemeyer 1996; Weiler 2001, 13ff., 25f. Zum dahinterstehenden Lebensgefühl vgl. Nipperdey 1991, 186-191. Die Position Burckhardts als Basler Bürger läßt sich in ihrem Verhältnis zur deutschen Nation bzw. Volk ähnlich einschätzen wie die der deutschen Intellektuellen am Ende des 19. Jh., die durch Verdrängung aus der Position des ..Konstrukteurs des Allgemeinen" durch den Aufstieg der Berufspolitiker und der damit einhergehenden „Ausdifferenzierung eigenlogischer Diskurse" ihre Ausrichtung auf den Staat verloren. Die Konstruktion eines neuen, allem übergeordneten Bezugspunktes w u r d e so zur
270 271
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k a m p f s n o t w e n d i g z u m P a r a m e t e r f ü r das politisch richtige Verhalten. Insofern ist im Begriff des A g o n a l e n die Kategorie des Politischen von A n f a n g an konstitutiver Bestandteil.
7.
Wesensmethodologie als Basis der konservativen Geschichtsbetrachtung
Diese Art der ideologisch-politischen A u f l a d u n g des B e g r i f f s W e t t k a m p f b z w . des A g o n a len bei C u r t i u s und B u r c k h a r d t wird möglich, weil beide mit einer sehr ähnlich strukturierten M e t h o d e arbeiten. Beide operieren mit so unklar g e f a ß t e n B e g r i f f e n , d a ß sie vielfach zu reinen L e e r f o r m e l n w e r d e n , die j e d e B e w e i s f ü h r u n g zulassen. Dies wird durch eine r o m a n t i s i e r e n d - o r g a n o l o g i s c h e S p r a c h e ergänzt, die auf d e m G e d a n k e n eines ontologisch verstandenen W e s e n s von Volk, Staat, Kultur usw. beruht. Intuition und W e s e n s s c h a u w e r d e n zu den e n t s c h e i d e n d e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n E r k e n n t n i s w e g e n , die keine kritischen
Einwände
m e h r zulassen. A u s der sich daraus e r g e b e n d e n Beliebigkeit folgt, daß die K o n s t i t u t i e r u n g und die Lokalisierung des (idealen) A g o n a l e n e n t w e d e r in der heroischen M o n a r c h i e von Gottes G n a d e n o d e r in den archaischen aristokratischen R e p u b l i k e n nicht auf w i s s e n s c h a f t lichen A r g u m e n t a t i o n e n , sondern auf politischen Vorurteilen der W i s s e n s c h a f t l e r b e r u h e n . Und diese sind nicht, z u m i n d e s t nicht direkt, antiken G e d a n k e n g ä n g e n e n t n o m m e n , s o n d e r n sind in deren eigener Lebenszeit und -weit beheimatet.
Notwendigkeit: „Die Metaphysik des Deutschtums und seiner Kunst endet in der Metaphysik der Rasse"; vgl. Giese/Junge/Kritschgau 1996, 372f. mit A n m . 71.
Die Instrumentalisierung der griechischen Frühzeit
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Literaturverzeichnis I.
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Die Instrumentalisierung der griechischen Frühzeit
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Die Instrumentalisierung
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Birgitta Eder
Antike und moderne Mythenbildung: Der Troianische Krieg und die historische Überlieferung1
1.
Mythos als Geschichte
D i e Ilias ist k e i n G e s c h i c h t s b u c h , w e l c h e s ü b e r e i n e n b r o n z e z e i t l i c h e n F e l d z u g m y k e n i s c h e r G r i e c h e n g e g e n die Stadt Troia authentisch berichtet und als literarischer Führer durch die bronzezeitliche Ruinenstätte v o n Troia oder das m y k e n i s c h e Griechenland dienen kann.2 Sie wird allerdings z u m G e s c h i c h t s b u c h , w e n n man den M y t h o s v o m T r o i a n i s c h e n K r i e g als Teil einer Vergangenheit v o n kollektiver B e d e u t u n g begreift3, w e l c h e im archaischen Griechenland aktiv gestaltet und politisch eingesetzt wurde. Der M y t h o s der g r i e c h i s c h e n Heroe n z e i t g a l t in d e r A n t i k e s e l b s t v e r s t ä n d l i c h a l s G e s c h i c h t e , u n d d i e S a g e n b l i e b e n d i e „ A l t e G e s c h i c h t e " d e r G r i e c h e n , u m e s in d e n W o r t e n H e r m a n n S t r a s b u r g e r s a u s z u d r ü c k e n . 4 G e s c h i c h t e a l s q u e l l e n k r i t i s c h e W i s s e n s c h a f t ist e i n e v e r g l e i c h s w e i s e j u n g e D i s z i p l i n : D i e U n -
1
Christoph Ulf und Robert Rollinger sei herzlich fur die Einladung zur Teilnahme an dem von ihnen geplanten Archaik-Projekt und die Organisation des entsprechenden Workshops in Innsbruck im N o v e m b e r 2001 gedankt. Für Diskussionen z u m vorliegenden T h e m a weiß ich Sigrid Deger-Jalkotzy aufrichtigen Dank. Georg Danek war mir ein geduldiger Ratgeber bei homerischen Fragen, W o l f g a n g Hameter half mit Literaturhinweisen. G. Danek, W. Hameter und Ch. Ulf lasen eine erste Version des Manuskripts, und ich danke ihnen ftir ihre weiterführende Kritik, der ich manche Verbesserung zuschreibe. Es versteht sich von selbst, daß die Verantwortung fur die hier vertretenen Ansichten bei mir allein liegt. Angesichts der nahezu unermeßlichen Bibliographie beschränke ich mich im folgenden in erster Linie auf A n g a b e n zur jüngeren Literatur, allerdings auch hier ohne den Anspruch auf Vollständigkeit.
2
Dazu Hampl 1975, dem diese griffige Formulierung zu verdanken ist; vgl. u. a. Finley 1979; Heubeck 1979; Heubeck 1984; Kullmann 1993; Kullmann 1995; Kullmann 1999; Bennett 1997; Raaflaub 1998b. Im vorliegenden Z u s a m m e n h a n g ist keine Diskussion über die Historizität des Troianischen Kriegs beabsichtigt. Zur derzeit (wieder) aktuellen Debatte siehe zuletzt Troia Ausstellung 2001; Hertel 2001; Siebler 2001; Latacz 2001; Latacz 2002; Kullmann 2001; Ulf 2003. Vgl. Foxhall/Davies 1984; Mellink 1986; Galter 1997; C W 91.5, 1998.
3
Definition von Mythos als traditioneller Erzählung bei Burkert 1988, 11-12; Burkert 1993; Graf 1991b, 3 5 4 - 3 5 6 . Vgl. Assmann 1997, 6 6 - 8 6 ; zum Begriff der intentionalen Geschichte siehe G e h r k e 1994, 247.
4
Strasburger 1972, 16. Siehe auch Finley 1975, 13-14; 25; Graf 1991a, 1 1 7 - 1 3 8 ; Gehrke 1994, 2 4 6 - 2 4 8 ; vgl. Schuster 1988, 6 0 - 6 1 ; 6 7 - 6 9 .
106
Birgitta Eder
terscheidung von historisch überprüfbarer Wirklichkeit und Mythos ist im Vergleich zur langen Tradition der Geschichtsschreibung ein moderner Standpunkt. Vor diesem methodischen Schritt im 19. Jahrhundert bestand die Hauptaufgabe der Geschichtsschreibung in der Formulierung der jeweils aktuellen Tradition oder Vulgata.5 Stoff und Form stellen die Verbindung zwischen den Anfängen der griechischen Geschichtsschreibung und den Epen Homers her. Die Aufgabe, die Taten der Menschen für das Gedächtnis zukünftiger Generationen aufzubewahren, verbindet die Werke Homers mit jenen der ersten griechischen Historiker Herodot und Thukydides, die sich bewußt im Anschluß an den großen Dichter Themen des Krieges widmen. „So wurde es denn schon in den ältesten Zeiten als das Wesen der Aufgabe eines Dichters angesehen, die κ λ έ α άνδρών zu singen, das heißt die ruhmvolle Kunde von großen Mannestaten lebendig zu erhalten, worunter in erster Linie Kriegstaten verstanden wurden. Diese Aufgabe der epischen Dichter geht später gleichsam selbstverständlich auf die Historiker über. Die Muse der Geschichtsschreibung, Klio, verrät schon durch ihren Namen ( Κ λ ε ι ώ von κ λ έ ο ς ) diese Gedankenverbindung, und daß die Geschichte als einzige von allen Wissenschaften mit einer Muse ausgestattet wurde und dies sogar wohl erst in hellenistischer Zeit, zeigt, daß Geschichtsschreibung eben im Altertum nie eigentlich als Wissenschaft empfunden wurde, sondern als poetische Inspiration, wesensgleich mit der, die Homer und Hesiod von den Töchtern des Zeus empfingen." 6 Insofern steht Homer am Beginn der Geschichtsschreibung, und seine Werke gehörten zur ältesten historischen Tradition über die Vergangenheit, welche den Generationen danach zur Verfugung standen. 7
2. Die historische Überlieferung der griechischen Frühgeschichte Die homerischen Epen sind aus einem Teil des großen Sagenstoffes um und im Anschluß an den Troianischen Krieg in der Tradition mündlicher Dichtung geschaffen und wahrscheinlich erst gegen Ende des 8. oder im frühen 7. Jh. v. Chr. schriftlich fixiert worden. Um die Themen, die in Ilias und Odyssee in herausragender Weise dichterisch gestaltet wurden, gruppierten sich chronologisch und thematisch die anderen Sagenstoffe im Umfeld des Troianischen Krieges, um Theben, um die Argonauten, um den Helden Herakles, um nur einige zu nennen. Die homerischen Epen verraten durch Anspielungen und Verweise die Kenntnis dieser Sagen, stehen aber am Beginn der griechischen Literatur, wenn man ihre Umsetzung in das Medium der Schrift betonen will. Der griechische Sagenschatz bildete Ausgangspunkt für vielfältige Darstellungen der frühgriechischen Geschichte. In der früharchaischen Zeit vermehrten sich Gründungssagen und heroische Genealogien, als die verschiedenen Gemeinden und Staaten sich als Teil der griechischen Gemeinsamkeit beschreiben und in dieser verankern wollten. 8 Vor allem in 5 6 7 8
Vgl. Veyne 1987, 15-27; 35-37; Morley 1999, 19-52. Strasburger 1972, 12-13. Strasburger 1972; Meister 1990,13-15; Hornblower 1994, 7-12; Luce 1998, 7-15. Grundsätzlich Prinz 1979; siehe auch Möller 1996. Griechische Adelsgeschlechter leiteten ihre Genealogien in der Regel von einem homerischen Helden ab: dazu Thomas 1989, 155-195.
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spätarchaischer Zeit erfolgte dann nach dem Vorbild der Theogonie und der Ehoien Hesiods die Ordnung der Mythenstoffe, ihre chronologische Systematisierung und genealogische Abstimmung. 9 Die Brückenfunktion zwischen der Handlungsebene des Epos und der eigentlich historischen Epoche übernimmt die Sage von der Rückkehr der Herakliden: F. Prinz hat in seinem grundlegenden Buch „Gründungsmythen und Sagenchronologie" herausgearbeitet, daß der Sinn und Zweck der Heraklidensage darauf ausgerichtet ist, die Ablösung der in den homerischen Epen verankerten und beschriebenen mythischen Königshäuser durch die aktuellen Machthaber in der Peloponnes, die Dorier, zu erklären und zu rechtfertigen. 10 In den Epen waren in der Argolis Agamemnon und als sein Nachfolger sein Sohn Orestes beheimatet, in Lakonien herrschte Menelaos mit seiner Frau Helena, die eine gemeinsame Tochter Hermione hatten. Die Herrschaft über Messenien besaß schließlich Nestor in Pylos, der wieder mit einer großen Zahl von Söhnen gesegnet war. Über die chronologische Ebene der Generation der Troiakämpfer und ihrer Söhne reicht die Information der uns erhaltenen Troia-Epen aber nicht hinaus: Bereits die im Sagengeschehen anschließende Generation wird von den in die Peloponnes zurückkehrenden Herakliden unter Aristodemos, Temenos und Kresphontes abgelöst. Die Heraklidensage ihrerseits erzählt, wie die Nachkommen des Herakles und seines Sohnes Hyllos ihr Erbe in den Herrschaftsbereichen der Peloponnes antreten. Die erst durch Diodor und Apollodor in größeren Zusammenhängen überlieferte Heraklidensage nimmt auf den Inhalt, die handelnden Personen und die vorgegebene Chronologie der Heldengenerationen des homerischen Epos, aber auch der hesiodeischen Kataloge Rücksicht und setzt die entsprechenden Sagentraditionen voraus." Sie erklärt plausibel das Verschwinden der alten, in den homerischen Epen vertretenen Herrscherfamilien von der Peloponnes durch die Rückkehr der Nachfahren des Herakles und deren Anspruch auf die Herrschaft über die Halbinsel mit den neuen politischen Zentren Sparta, Messenien, Argos, Korinth. Nach der Logik der Sagenentwicklung wurde eine Rückkehr der Herakliden auf die Peloponnes erst nach Ablauf des Troianischen Krieges und dessen Folgeereignissen möglich. Die Heraklidensage erklärt aber nicht nur den Wandel, sie schließt die rückkehrende Generation chronologisch direkt an die epischen Herrscherfamilien an. Die Reihenfolge der Darstellung der Ereignisse bildete die Grundlage für die historischchronologische Darstellung, welche auf die Generation der Troiakämpfer nur mehr deren Söhne folgen läßt, und deren Enkel bereits von den Herakliden vertrieben werden. Es ist 9 10 11
Lendle 1992, 3-35; Luce 1998, 19-24. Prinz 1979, 206-313. Prinz 1979, 227; 232 folgert daraus ein Entstehungsdatuni für die Heraklidensage im letzten Drittel des 7. Jhs. v. Chr. Kullmann 1993, 135-138; Kullmann 1995, 102-103 hat hingegen darauf hingewiesen, daß in der Ilias die Kenntnis (einer älteren Version) der Heraklidensage - neben anderen Gründungsund Kolonisationssagen - etwa durch Bezüge auf die Herakliden Tlepolemos, Pheidippos und Antiphos von den Inseln der Dodekanes faßbar wird. Siehe ferner auch Hölscher 1994, 20. Vgl. dagegen Prinz 1979. 78-97. Die schriftliche Fixierung der Sagenstoffe bietet nur einen terminus ante quem für ihre Entstehung, die mündliche Tradition muß ζ. T. um einiges älter sein. Die aktuelle Form der Synchronisierung der mythischen Generationen konnte innerhalb der mündlichen Tradition noch flexibel bleiben. Insofern ist es zu erklären, daß Herakliden als Zeitgenossen der Troiakämpfer aufscheinen können, wenn sie in Randgebieten wie der Dodekanes und nicht im Kerngebiet des griechischen Festlands auftreten.
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diese Abfolge von Ereignissen, die sich von Hellanikos 12 und Thukydides bis Eratosthenes | j und Apollodor 14 bei den griechischen Historikern findet. Auf die Heraklidensage, die wahrscheinlich nicht älter als das ausgehende 7. Jh. v. Chr. ist15, geht das Bild zurück, das den Troianischen Krieg zwei Generationen (bzw. nach einer anderen Variante drei Generationen) vor der Rückkehr der Herakliden ansetzte. 16 Die Darstellung der frühgriechischen Geschichte in der sog. Archäologie des Thukydides (Thuk. 1,12) setzt mit dem Troianischen Krieg ein: Nach dem Troianischen Krieg war Griechenland von Unruhen und Wanderungen betroffen. 60 Jahre nach dem Fall Troias kamen die Boioter nach Boiotien und 80 Jahre nach dem Fall Troias eroberten die Dorier mit den Herakliden die Peloponnes. 17 Im Anschluß daran läßt Thukydides die Bevölkerungsbewegungen im Rahmen der griechischen Kolonisation im östlichen und westlichen Mittelmeer folgen. Dieselbe Abfolge der Geschichte bietet etwa auch Pausanias (Paus. 2, 18, 5-9), wenn er schreibt, daß nach Agamemnon sein Sohn Orestes König von Argos und Sparta wurde. Nach dem Tod des Orestes kam die Herrschaft an Tisamenos, Sohn des Orestes von Hermione, der Tochter des Menelaos. Unter diesem Tisamenos kehrten die Herakliden in die Peloponnes zurück. Die Troia-Geschichte ist der chronologische Wendepunkt in der mythischen ,Geschichtsdarstellung'. Mit der Generation nach Agamemnon und Menelaos, Nestor und Achilleus hört der Mythos in den homerischen Epen auf. Orestes und Neoptolemos als die Söhne von Agamemnon und Achilleus werden noch erfaßt, doch was nach dieser Generation geschehen ist, erzählen die homerischen Epen nicht, die keinen entsprechenden Hinweis oder Andeutung enthalten. Auch Hesiod's Ehoien hören mit der Generation der Troiakämpfer auf. Schon A. Heubeck in seinem Beitrag ,Geschichte bei Homer' formulierte: „Das mythische Zeitalter geht sang- und klanglos und ganz und gar unspektakulär zu Ende." 18 In direktem Bezug auf die vorliegenden Genealogien haben die griechischen Historiker ihre Geschichtsdarstellung an den großen Krieg angeschlossen, auch im Glauben an die historische Wirklichkeit eines Troianischen Kriegs. Fixpunkte stellen einerseits der Troianische Krieg und andererseits die zwei Generationen später erfolgte Einwanderung der Dorier, die ihre mythische Ausgestaltung in der Sage von der Rückkehr der Herakliden erhielt. Absolute chronologische Zahlen für die zeitliche Einordnung des Troianischen Krieges bietet erstmals Herodot.
12
FGrH 4 1- 125; vgl. Prinz 1979, 350. In der Geschichte der Neleiden und ihrer A u s w a n d e r u n g nach Kleinasien ist die Datierung der Rückkehr der Herakliden zwei Generationen nach dem Troianischen Krieg zugrunde gelegt.
13 14
FGrH 241 F I. FGrH 244 F 61 (Diod. 1.5,1).
15
Über ältere und möglicherweise andere Ausgestaltungen der Heraklidensage in einer mündlichen Tradition ist damit keine Aussage gemacht. Siehe Prinz 1979, 2 8 7 - 2 9 2 . Hier auch zu den Problemen der chronologischen A b s t i m m u n g des Heraklidenstemmas mit j e n e m der epischen Heldengenerationen und den daraus resultierenden Unterschieden für die Datierung der Rückkehr der Herakliden. Vgl. die 40 Jahre für eine Generation in der spartanischen Königsliste: Burkert 1995, 143. Heubeck 1979, 250; ähnlich Strasburger 1972, 16-17.
16
17 18
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W. Burkert hat gezeigt, wie Herodot über die Synchronisierung der Mythengestalt des Herakles mit einerseits der ägyptischen und andererseits lydischen Königsliste zu verschiedenen chronologischen Ansätzen für die Generation des Troianischen Kriegs (ca. 1300 bzw. 910 v. Chr.) gelangte. 19 Damit bietet er gleichzeitig den Nachweis, daß dieser chronologischen Einordnung des Troianischen Krieges keine authentisch überlieferten, chronologischen Angaben über dieses Ereignis der griechischen Frühzeit zugrunde liegen können. Die verschiedenen Daten fur den Troianischen Krieg in der Überlieferung sind zahlreich und nehmen Werte in einer Spanne zwischen 1334 und 910 v. Chr. an20, wobei sich das Datum von 1184 seit Eratosthenes zu einem gewissen Standard bei antiken und modernen Historikern entwickelte. In der modernen Forschung wurde dieses Datum aufgrund der Korrelation mit einem der Zerstörungshorizonte der bronzezeitlichen Siedlung von Troia (Vila, ca. 1200 v. Chr.) gerne als historisch aufgegriffen. 21
3. Die Archäologie und die Rekonstruktion der griechischen Frühgeschichte Die mythische Darstellung der frühgriechischen Geschichte bei den griechischen Historikern läßt sich aufgrund ständig zunehmender archäologischer Erkenntnisse heute besser als je zuvor mit den Ergebnissen der archäologischen Forschung kontrastieren: Die Entdeckungen Heinrich Schliemanns Ende des 19. Jhs. in Troia und anschließend in Mykene, Tiryns und Orchomenos erschlossen bedeutende Stätten der späten Bronzezeit, und mit Recht kann Schliemann als der Begründer der mykenischen Archäologie gelten. Homer war sein Leitfaden, und seit den Grabungen Schliemanns hat man die homerischen Epen als Reflex der bronzezeitlichen Vergangenheit Griechenlands gesehen. 22 Diese Meinung hat sich in der Forschung in der einen oder anderen Schattierung bis heute gehalten, auch wenn sich zunehmend die Meinung durchsetzt, daß der historische Hintergrund der homerischen Epen in erster Linie der Zeit des Verfassers, d. h. dem ausgehenden 8. oder vielleicht sogar dem frühen 7. Jh. v. Chr. angehört. 23 In der Frage nach dem historischen Kern der Überlieferung hat man immer wieder versucht, den Kampf der Griechen um Troia als ein historisches Ereignis der mykenischen Zeit nachzuweisen. Die tatsächliche Bedeutung Mykenes als auch Troias in der späten Bronzezeit ist kein unwichtiges, aber nicht entscheidendes Argument in dieser Streitsache, die seit den Ausgrabungen Schliemanns immer aufs neue geführt wird,
19
Burkert 1995; Giovannini 1995, 143-145; siehe auch Lendle 1992, 47^19; Bichler/Rollinger 2001, 3 3 36; vgl. außerdem den Beitrag von R. Bichler im vorliegenden Band.
20
Anschaulich die Zusammenstellung bei Burkert 1995; Giovannini 1995, 140-148; oder auch Cancik 2001. Zum Datum der Zerstörung von Troia Vila zuletzt Mountjoy 1999. Vgl. Hampl 1975, 5 2 - 6 1 ; Finley 1979, 1 6 9 - 1 8 7 ; Raaflaub 1998b, 3 8 6 - 3 8 9 ; ferner Hertel 2001, 6 7 - 7 0 .
21 22
Siehe Forschungsüberblick bei Bennet 1997, 5 1 1 - 5 1 4 ; Morris 2000, 7 7 - 1 0 6 ; Morris 1997; vgl. die Literatur in Anm. 1.
23
Zur Datierung der Epen siehe zuletzt zusammenfassend Raaflaub 1998, bes. 1 8 7 - 1 8 8 mit Hinweis auf die Arbeiten von u. a. Morris 1986; Crielaard 1995; West 1995.
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die im vorliegenden Zusammenhang aber nicht das Thema der folgenden Überlegungen bilden. 24 Unbestreitbar und ein archäologisch erwiesenes Faktum ist, daß die mykenische Palastkultur um ca. 1200 v. Chr. im Zuge von bis heute diskutierten Ereignissen ein gewaltsames Ende gefunden hat. Daran schließt sich nach derzeitigem Wissen die mykenische Ära der Nachpalastzeit des 12. und frühen 11. Jhs. v. Chr. an, die in der archäologischen Terminologie der Periode des SH IIIC entspricht. Trotz des Verlustes der Schriftlichkeit und einer Reihe von Fähigkeiten im Bereich des spezialisierten Kunsthandwerks bleibt der im wesentlichen mykenische Charakter der Periode SH IIIC, die etwa 150 Jahre dauerte und gerade in ihrer mittleren Phase Zeichen bedeutender Blüte von regionalen Zentren aufweist, zu betonen. Vorstellungen von einem totalen Bruch zwischen der mykenischen Spätbronzezeit und der frühen Eisenzeit sind angesichts dieser Erkenntnisse nicht mehr zeitgemäß. Auf die letzte Blütezeit der mykenischen Kultur folgten die submykenische, die protogeometrische und die geometrische Periode, die man alle unter dem Begriff der frühen Eisenzeit zusammenfassen kann und die den Zeitraum von der Mitte des 11. bis zum Ende des 8. Jh. v. Chr. einnehmen. In diese Periode gehören Entdeckungen wie das sog. Heroon von Lefkandi mit der homerisch anmutenden Bestattung eines Fürsten des 10. Jhs v. Chr., die reichen Funde aus dem mittelgriechischen Friedhof von Elateia oder des Nordfriedhofs von Knossos. 2 5 Die archäologischen Zeugnisse legen nahe, daß die Periode zwischen 1200 und 700 v. Chr. regionale und überregionale Kontakte im Zuge von Austausch von Prestigegütern und technologischem Wissen, im Zuge von kriegerischen Auseinandersetzungen und Bevölkerungsbewegungen sah. Mangels schriftlicher Zeugnisse bleiben diese Ereignisse für uns allerdings ohne historische Tiefenschärfe. Und dies gilt für einen Zeitraum von etwa einem halben Jahrtausend, der zwischen dem Ende der mykenischen Palaststaaten und dem Zeitalter Homers und dem Beginn der griechischen Stadtstaaten liegt. Von all dem weiß die historische Überlieferung nichts, weder bei Homer noch bei den jüngeren Historikern finden sich entsprechende Spuren. 2 6 Ohne die unabhängigen Zeugnisse der Archäologie würden wir von der griechischen Frühzeit nichts über die Zerstörung der
24
Die tatsächliche Existenz und auch die nachweisliche Bedeutung der Paläste von Mykene, Tiryns, Theben und Pylos sowie der befestigten Stadt von Troia können nicht den Nachweis erbringen, daß der Feldzug von mykenischen Griechen gegen Troia als historische Tatsache zu betrachten ist. Vgl. Raaflaub 1998b; Cobet 1992 spricht in diesem Z u s a m m e n h a n g v o m ' S c h l i e m a n n - E f f e k t ' . Hier darf auch ein Hinweis auf die satirische Abhandlung von Traxler 1978 nicht fehlen.
25
Eine Synopse des aktuellen Forschungsstandes ist ein Desiderat: Die Bände von Snodgrass 1971 und Desborough 1972 über die sog. Dunklen Jahrhunderte können nicht mehr den aktuellen Forschungsstand repräsentieren. Thomas/Conant 1999 bieten nur einen allgemein gehaltenen Überblick und eine Beschreibung ausgewählter Stätten (ζ. B. fehlt Knossos). Morris 1997 bleibt ebenfalls nur an der Oberfläche. Siehe gute Überblicke über die Periode SH IIIC bei Deger-Jalkotzy 1991a; Deger-Jalkotzy 1991b; Deger-Jalkotzy 1998; Rutter 1992. Zur protogeometrischen Zeit vgl. Blome 1991; Lemos 1998a; Lemos 1998b; Lemos 2001, 218, die unter d e m Hinweis auf das Netz von Kontakten, die in der Ägäis spätestens seit der Mitte des 10. Jhs. v. Chr. wirksam waren, Überzeugungsarbeit in der Hinsicht leistet, „that the so-called dark ages in Greece were neither that dark nor as long as s o m e still think". Vgl. auch die Literatur unten A n m . 49. Siehe jetzt Lemos 2002. A u c h Ο. Τ. P. K. Dickinson hat einen Band über die Zeit nach dem Fall der mykenischen Paläste und der darauffolgenden Jahrhunderte in Arbeit.
26
Hampl 1975, 77; Heubeck 1979, 250; Kullmann 1993, 139; Kulimann 1999, 103.
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mykenischen Paläste und ihre Hintergründe erfahren. Ohne schriftliche Überlieferung bleibt der Fürst von Lefkandi namenlos wie seine zahlreichen Zeitgenossen in den Nekropolen von Euböa, Elateia, Athen oder Knossos. F. Schachermeyr hat im Zusammenhang mit der Periode SH 11IC von den vergessenen Jahrhunderten in der griechischen Geschichtsschreibung gesprochen, die aus der Überlieferung gestrichen worden sind. 27 Die Diskrepanz zwischen archäologischem Befund und historischer Überlieferung liegt m. E. darin begründet, daß in der archaischen Zeit nur eine Art historischer Überlieferung von der griechischen Frühgeschichte vorlag. Die Vergangenheit der Griechen war in ihre Mythen gefaßt, in die verschiedenen Sagenkreise um Troia, Theben usw. Homer führte die mythischen Generationen bis in die Zeit unmittelbar nach dem Troianischen Krieg. Insofern erklärt sich die Bedeutung des Troianischen Kriegs als chronologischer Fix- und Ausgangspunkt der historischen Darstellung seit Herodot und Thukydides. „Als mythische Gründerzeit galt den Griechen die Zeit um den Troianischen Krieg. Sie hat durch ihre geniale dichterische Gestaltung im homerischen Epos normative Geltung erlangt. 28 " Der Krieg um Troia spielte eindeutig in einer Vergangenheit, die im Epos aber in keinem meßbaren Abstand zur Zeit des Dichters gebracht 2 9 , sondern erst später innerhalb eines chronologischen Rahmens fixiert wurde. Eher zufällig ist das Ergebnis, welches nach Eratosthenes den Troianischen Krieg in das ausgehende 12. Jh. v. Chr. datiert und damit nach modernen archäologischer Zeiteinteilung in die Zeit der mykenischen Kultur und der Zerstörung ihrer Paläste, und noch zufälliger die ungefähre Übereinstimmung mit einem der historischen Zerstörungen der bronzezeitlichen Siedlungsstätte Troia. 30 Hingegen datierte die Tradition der griechischen Familiengenealogien, an deren Anfang vorzugsweise ein griechischer Held Homers stand, die Generation der Troiakämpfer umgerechnet etwa in die Mitte des 10. Jhs. v. Chr. 31
4. Mykene und Homer: Die moderne Periodisierung der Vergangenheit Die Auffassung, daß diese Vergangenheit sich auf die mykenische Kultur Griechenlands bezieht, auf die bronzezeitlichen Paläste von Mykene, Tiryns, Pylos und Theben und auf die ummauerte Burg Troias in der Bronzezeit, stellt m. E. eine moderne Projektion dar. Es muß in diesem Zusammenhang nicht der Nachweis erbracht werden, der von anderer Seite schon oft genug erbracht worden ist, daß die homerischen Epen nicht die Welt der mykenischen Palastzeit spiegeln. Abgesehen von einer völligen Unkenntnis der schriftlich geführten Buchhaltung in Linear B, lassen sie zu wenig von der wirtschaftlichen und sozialen Kom-
27
S c h a c h e r m e y r 1983, 3 1 - 5 3 .
28
B i c h l e r / R o l l i n g e r 2 0 0 1 , 35.
29
Strasburger 1 9 7 2 , 27; K u l i m a n n 1995, 5 9 - 6 0 ; Kullmann 1999, 9 9 - 1 0 0 ; 1 0 4 - 1 0 5 ; Finley 1 9 7 9 , 4 4 ; 183.
30
S i e h e Literatur o b e n A n m . 19; 21.
31
Burkert 1995, 143; T h o m a s 1989, 1 5 7 - 1 6 0 .
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plexität der mykenischen Palastkultur ahnen, um sie als natürlichen Reflex dieser Welt zu begreifen. 3 2 Die Epen spiegeln nicht die Welt der mykenischen Palastzeit, sie spielen aber auch nicht in dieser Zeit, d. h. sie sind auch nicht konkret in diese Epoche zurückentworfen. In der Welt des 11 - 8 . Jhs. v. Chr. war die Vergangenheit der mykenischen Paläste an Ruinen zwar greifbar, aber es war nicht möglich, sie antiquarisch als Periode und Kultur zu erschließen. Die Ruinen von einer Anzahl mykenischer Burgen, an die sich wahrscheinlich auch eine Reihe von Geschichten knüpften, waren sicher die längste Zeit bekannt und bildeten sozusagen die Kulissen für eine dramatische Handlung, die in einer für uns nicht meßbaren Vergangenheit angesiedelt und in der uns faßbaren Form in erster Linie nach den Vorstellungen des späten 8. bzw. frühen 7. Jhs. v. Chr. ausgestaltet wurde. 33 I. Morris hat in einem guten und aktuellen Überblick die Geschichte der Periodisierung der bronze- und früheisenzeitlichen Geschichte Griechenlands im Zuge der Forschungsentwicklung beschrieben und charakterisiert 34 : Mit dem Grad der Erforschung dieser Epochen hat sich die Interpretation der griechischen Spätbronze- und Früheisenzeit in ihrer Beziehung zu den Epen Homers grundlegend gewandelt. Schliemanns Entdeckungen in Troia und Mykene begünstigten eine Identifizierung der Welt der homerischen Helden mit der Welt der mykenischen Palastzeit, während sich vor allem in Folge der Entzifferung von Linear Β die Diskrepanz zwischen der Welt der homerischen Epen und jener der mykenischen Welt immer deutlicher abzuzeichnen begann. Seither hat eine kontinuierlich verbesserte Sicht auf die immer noch sog. .Dunklen Jahrhunderte' die Zeit zwischen dem Ende der mykenischen Paläste und dem früharchaischen Griechenland zunehmend als geeignete Projektionsfläche für die Epen Homers erscheinen lassen. Nach heutigem Forschungsstand repräsentiert die Welt der homerischen Epen nicht die Zeit der mykenischen Paläste oder setzt diese voraus. Diese Vorstellung geht in erster Linie auf die Entdeckungen der Stätten und Funde aus der Bronzezeit seit den Schliemannschen Erfolgen zurück und ist insofern eine Folge der modernen Periodisierung der Vergangenheit. Diesem ,Mythos' ist trotz der einschlägigen althistorischen, archäologischen und philologischen Forschung ein dauerhaftes Dasein bestimmt. 3 5 Löst man sich von der gedanklichen Verbindung zwischen Mykene und Homer, ist man jedenfalls frei von den chronologischen Vorgaben, die sich durch die Projektion der Welt der homerischen Epen in die bronzezeitliche Welt der mykenischen Paläste ergeben. Insofern spiegelt die Tatsache, daß die Epik mit der Generation der Söhne der Troiakämpfer ihre Schilderung abbricht, nicht die Zerstörung der mykenischen Palaststaaten um 1200 v. Chr. wider 36 , ebensowenig wie die Zerstörung dieser Welt durch die Dorier in der Sage von der Rückkehr der Herakliden angedeutet ist, die in der Mythenchronologie die Herrscherhäuser des Epos unmittelbar ablöst. Sofern man den Sagen um den Troianischen Krieg oder von der Rückkehr der He-
32 33 34 35 36
Siehe zuletzt Bennet 1997, 5 1 1 - 5 2 3 ; Morris 1997, 1 15-177; Morris 2000, 9 0 - 9 2 ; vgl. Heubeck 1979; Heubeck 1984; Kulimann 1993. Strasburger 1972, 2 7 - 2 8 ; Kullmann 1995, 6 8 - 7 1 ; Kullmann 1999, 9 9 - 1 0 1 ; Patzek 1992, 159-161; Morris 1986, 8 9 - 9 0 . Morris 1997; Morris 2000, 7 7 - 1 0 6 . Siehe Latacz 1988, 160-170; Latacz 2001; Latacz 2002. So ζ. B. Kullmann 1988, 185; Heubeck 1979, 250; Hölscher 1994, 8.
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rakliden einen historischen Kern zubilligen m ö c h t e , m u ß m a n die e n t s p r e c h e n d e n historischen Ereignisse auf a n d e r e m W e g chronologisch e i n o r d n e n lernen. 3 7
5. Kontinuität versus Diskontinuität? Der Unterschied z w i s c h e n der Welt der E p e n und den Verhältnissen der m y k e n i s c h e n Palastzeit bildet allerdings nur eine Seite der G e s c h i c h t e der historischen Ü b e r l i e f e r u n g aus der Frühzeit. Es hieße das Kind mit dem B a d e ausschütten, wollte man daraus ableiten, in den h o m e r i s c h e n Epen seien keine I n f o r m a t i o n e n aus z u r ü c k l i e g e n d e n Zeiten e n t h a l t e n / 8 Es kann v i e l m e h r keinen Z w e i f e l geben, d a ß vielerlei und vielfach v e r s c h l u n g e n e Fäden die g e o m e t r i s c h - a r c h a i s c h e Welt G r i e c h e n l a n d s mit der W e l t der griechischen B r o n z e z e i t verb a n d e n , nicht zuletzt in F o r m einer langen Traditionskette m ü n d l i c h e r Dichtung. 3 9 N u r in seiner p a u s c h a l e n A n w e n d u n g ist dieses Urteil nicht zulässig, sondern der N a c h w e i s ist imm e r w i e d e r im Einzelfall zu erbringen. Es ist ein M a n k o der Forschung, und nur begrenzt ein solches der a r c h ä o l o g i s c h e n Evidenz, d a ß die Zeit z w i s c h e n 1200 und 7 0 0 v. Chr. e n t w e d e r aus einer , m y k e n i s c h e n ' o d e r einer , p o s t m y k e n i s c h - a r c h a i s c h e n ' Perspektive betrachtet wird, und selten beide E n d e n des S p e k t r u m s berücksichtigt w e r d e n . Es wird oft betont, d a ß die Kluft z w i s c h e n der Welt der m y k e n i s c h e n Paläste und der Welt der h o m e r i s c h e n E p e n t i e f g e h e n d war. 4 0 Bei einem Zeitintervall von 5 0 0 Jahren kann ein Vergleich z w i s c h e n diesen beiden E n d e n dieses g e r a d e z u selbstverständliche Ergebnis haben. Die B r ü c k e bildet die lange Zeit in der Mitte. T a t s ä c h lich v e r b i n d e t vieles die postpalatiale Periode des m y k e n i s c h e n G r i e c h e n l a n d (SH 11IC: ca. 1 2 0 0 - 1 0 7 0 v. Chr.) mit den proto-, f r ü h - und mittelgeometrischen Perioden (ca. 1 0 5 0 - 7 5 0 v. Chr.) j e n s e i t s einer s u b m y k e n i s c h e n Z w i s c h e n z e i t in einem M a ß e wie vieles sie mit der m y k e n i s c h e n Palastzeit verbindet und von dieser trennt. 4 1 Die kurze s u b m y k e n i s c h e Phase markiert vor allem in S ü d g r i e c h e n l a n d ( i n s b e s o n d e r e in der P e l o p o n n e s ) vielerorts einen N e u b e g i n n , das gilt nicht in g l e i c h e m M a ß e f ü r Mittelgriechenland, Kreta o d e r Z y p e r n . Dies bedeutete trotz w a h r s c h e i n l i c h e n B e v ö l k e r u n g s r ü c k g a n g s aber keine ,tabula r a s a ' , s o n d e r n vor allem V e r ä n d e r u n g e n im S i e d l u n g s m u s t e r , in B e s t a t t u n g s f o r m e n und -plätzen s o w i e die
37
Eder 1998 gründet auf den archäologischen Indizien fur Diskontinuität und N e u a n f a n g in der Mitte des 11. Jhs. v. Chr. in der Argolis und in Lakonien die Ansicht, daß sich in diesem Einschnitt die dorische Landnahme in der Peloponnes abzeichnet.
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Die Gegenwart und unmittelbare Vergangenheit des Dichters lassen sich in diversen versteckten Anspielungen und Anachronismen auf uns bekannte Ereignisse und Phänomene, des ausgehenden 8. und frühen 7. Jhs. v. Chr. erkennen. Dazu gehören die messenischen Kriege, die olympischen Spiele, die Eroberung des ägyptischen Theben, die Kolonisation, der Gebrauch der Schrift, etc.: Siehe u. a. Kullmann 1993; Crielaard 1995; West 1995.
39 40
Siehe unten A n m . 59. Heubeck 1979; Heubeck 1984; Ulf 1990, 2 3 6 - 2 3 8 ; Giovannini 1995, 176; vgl. Bennet 1997, 5 1 3 - 5 2 3 ; 5 3 1 - 5 3 3 ; Raaflaub 1997, 6 2 5 - 6 2 6 ; Raaflaub 1998a, 180; Raaflaub 1998b, 397. Die gelungene Beschreibung der Periode SH IIIC als janusgesichtig ist Deger-Jalkotzy 1991b, 66; Deger-Jalkotzy 1995. 375 zu verdanken.
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Birgitta
Eder
Wahl neuer Kultstätten und muß wenigstens teilweise mit Bevölkerungsverschiebungen einhergegangen sein. 42 Der Bruch zur mykenischen Palastzeit war in vielen Punkten vollständig und irreversibel, vor allem in administrativer und wirtschaftlicher Hinsicht. Auch die komplexe soziale Hierarchie überlebte nicht. All dies dokumentieren die Titel, Ämter und Berufsbezeichnungen in den Linear B-Texten, die wie die Schriftlichkeit selbst kein Fortleben ins alphabetische Griechisch aufweisen. Trotz der grundlegenden Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen setzen aber Termini mit Kontinuität, darunter neben alltäglichen Berufsbezeichnungen wie für den Schmied und den Töpfer, auch die Begriffe der sozialen Hierarchie wie wa-na-ka, qa-si-re-u, da-mo beträchtliche Kontinuität auf einer sozio-politischen Ebene voraus. 4 j Es ist eine Herausforderung für Archäologen wie Althistoriker zu zeigen, auf welchen, teilweise verschlungenen Wegen der Transport mykenischer Traditionen erfolgen konnte. 44 In gleichem Maße ist es eine Aufgabe, in diesem Sinne das Netz der Kommunikation zwischen den einzelnen Forschungsdisziplinen und -ansätzen der Homerforschung, Sprachwissenschaft, Alten Geschichte, Archäologie und Ethnologie enger zu ziehen. Die folgende Überlegungen können in diesem Rahmen nur skizzenhaften Charakter haben, sollen aber die Möglichkeiten für den Transport historischer Informationen andeuten: Bemerkenswerte Anzeichen für Kontinuität bietet die Selbstdarstellung der herrschenden Eliten der späten Bronze- und frühen Eisenzeit. Natürlich sind es nicht die wanak.es der mykenischen Paläste, obwohl der Titel eine bemerkenswerte Kontinuität in das homerische Vokabular aufweist. S. Deger-Jalkotzy 4 5 hat d a r a u f h i n g e w i e s e n , daß während SH II IC an einigen Plätzen ein Rückgriff auf palastzeitliche Herrschaftssymbole erfolgte. In diesem Zusammenhang wäre auch eine Übernahme des Titels der mykenischen Palastkönige wanax durch ihre Nachfolger in SH IIIC plausibel und die Kontinuität zum homerischen ά ν α ξ verständlich. 46 Ein anschauliches Beispiel bietet die nachpalatiale Nutzung des zentralen Palastmegarons von Tiryns. 4 7 Allerdings veranschaulicht die Verkleinerung dieses Megarons in SH IIIC in fast symbolhafter Form, daß der Anspruch der postpalatialen Elite auf die Nachfolge der Palastkönige mit der Realität nicht ganz in Übereinstimmung gebracht werden konnte. Die herrschenden Eliten der nachpalatialen Periode SH IIIC sind außerdem in den sog. Kriegergräbern dieser Zeit zu erkennen, die in den spätmykenischen Nekropolen Achaias, Arkadiens, Kefallenias oder auch der Kykladeninseln bestattet wurden. Die Zurschaustel-
42
Eder 1998.
43
Siehe dazu die gegensätzlichen, aber komplementär zu verstehenden Arbeiten von Gschnitzer 1979 und Morpurgo-Davies 1979. Vgl. auch Hajnal 1998. Kontinuität hängt nicht an Orten, wie gelegentlich gerne a n g e n o m m e n wird, sondern in erster Linie an Menschen und ihrer sozialen Umgebung. Vgl. als ein Beispiel für die Kontinuität eines mykenischen Rituals in die frühe Eisenzeit den Gebrauch von Kylikes im früheisenzeitlichen Heiligtum von O l y m p i a Eder 2001. Siehe auch Patzek 1992, 7 3 - 7 5 .
44
45 46
47
Deger-Jalkotzy 1995, 376; Deger-Jalkotzy 1996, 2 5 - 2 6 . Vgl. Hajnal 1998, 6 0 - 6 4 . Es geht hier vor allem darum, das Überleben des Titels zu betonen. Das homerische O b e r k ö n i g t u m s des A g a m e m n o n , der mit d e m Titel ά ν α ξ bezeichnet wird, ist hingegen dichterische Konstruktion und spiegelt keine Erinnerung an mykenische Herrschaftsverhältnisse: Ulf 1990, 118-125. Maran 2000.
Antike und moderne
Mythenbildung
115
lung (beim Begräbnis) und die Niederlegung (als Grabbeigabe) von Schwertern und anderen militärischen Ausrüstungsgegenständen verraten nicht nur kriegerische Mentalitäten, sondern als Symbole kriegerischer Tapferkeit können sie auch zur Legitimierung und Ausbildung von Status beigetragen haben. 48 Kriegergräber aus den submykenischen, protogeometrischen und geometrischen Perioden in Lefkandi, Athen, Tiryns, Argos, Elis, Knossos und Zypern bezeugen die Fortsetzung dieser Traditionen während der sog. , Dunklen Jahrhunderte' des späten 11.-8. Jhs. v. Chr.49 Die longue durde einer Krieger-Elite spiegelt sich übrigens auch in der Kontinuität des Streitwagens, nicht nur in sprachlichen Mykenismen bei Homer 50 , sondern auch in den Darstellungen der entsprechenden Gefahrte in der Vasenmalerei des 12. und des 8. Jhs. v. Chr. wider. 51 Wenn man die Themen der Vasenmalerei, insbesondere auf großformatigen Krateren, als Spiegel der Wertvorstellungen der sozialen Eliten des 12. bzw. des 8. Jhs. versteht, sind diese Zeiten durch das ganz ähnliche Selbstverständnis dieser sozialen Schichten verbunden. Sie legen nahe, daß kriegerische Qualitäten hoch im Kurs standen und Teil der Identität herrschender Eliten bildeten. Deswegen sind es Darstellungen von Kriegern zu Fuß, bei der Streitwagenfahrt oder bei Seegefechten, die zu den beliebtesten Themen der piktorialen Kunst des postpalatialen und geometrischen Griechenland gehörten. 52 Aber auch die Abbildung von Leichenzug und Begräbnis sind offensichtlich für die Selbstdarstellung der Eliten über die Zeiten von Bedeutung geblieben. 53 Das Auftreten von Kithara- und Phorminxspielern 54 in dieser Bildkunst vermittelt den Eindruck, daß Bilder auf Vasen und Worte, gefaßt in den Bildern der Dichtung, komplementäre Ausdrucksmittel einer elitären Vorstellungswelt bildeten. In diesen Zusammenhang verweist auch das Fortleben des mykenischen Titels qa-si-re-u, der in der Form βασιλεύς im alphabetischen Griechisch trotz gewandelten Bedeutungsfeldes weiterbesteht. 55 Aber erst nach dem Ende der mykenischen Paläste konnte der einfache Anfuhrer in den Linear B-Texten die Karriereleiter zum ,König' in den homerischen Epen emporsteigen. Die hier, zugegebenermaßen nur in äußerst knappen Worten, dargelegte Kontinuität sozialer und politischer
48
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53 54 55
Anstelle umfangreicher Literatur zu diesem Thema, v. a. wenn man die Beschäftigung mit den Kriegergräbern der frühmykenischen Zeit der Schachtgräber berücksichtigt, müssen hier einige wenige Hinweise auf weiterführende Arbeiten genügen: Deger-Jalkotzy 1999; Voutsaki 1999; Eder (im Druck); Papazoglou-Manioudaki 1994; Papadopoulos/Kontorli-Papadopoulou 2001. Kilian-Dirlmeier 1998. Vgl. E. Kistler im vorliegenden Band. Siehe Whitley 1991, 357-359; Bräuning 1995; Deger-Jalkotzy 1996, 27; Crielaard 1998, 187-190; Eder 1999; ferner Van Wees 1998 für die entsprechenden bibliographischen Verweise auf sog. Kriegergräber der 'Dark Ages'. Vgl. Panagl 1992 mit Verweisen; jetzt auch Hajnal 1998, 17-18. Crouwel 1993; Crouwel 1995; Dickinson 1986, 29; Heubeck 1979, 243-245. Vgl. Hölscher 1994, 1213; Rysted 1999; ferner Patzek 1992, 194-196. Zu den Bildthemen der Vasenmalerei des SH IIIC vgl. die Literatur in Eder (im Druck) Anm. 10; Deger-Jalkotzy 1991b, 63; zu geometrischen Vasenbildern vgl. die Literaturhinweise bei Raaflaub 1991, 206 Anm. 5. Siehe auch die instruktive Gegenüberstellung von entsprechenden Motiven bei Hiller 1991, 126-129. Lemos 2000 läßt die epische Dichtung die bilderlose Phase des 10.-9. Jhs. v. Chr. in der Vasenmalerei überbrücken. Cavanagh/Mee 1995; Vikatou 2001. Deger-Jalkotzy 1994, 18-19; Deger-Jalkotzy 1991a, 148. Siehe zuletzt: Hajnal 1998, 25-28; Bennet 1997, 520-523; Deger-Jalkotzy 1996; Deger-Jalkotzy 1991b, 61-63; Deger-Jalkotzy 1994, 24-26; Raaflaub 1991, 234-237; Raaflaub 1997, 633-636; Ulf 1990, 85-98; 118-125; 223-231.
Birgitta
Eder
H i e r a r c h i e n z w i s c h e n ca. 1 2 0 0 und 7 0 0 v. C h r . 5 6 b i l d e t a b e r v i e l l e i c h t a u c h d i e z u l e t z t v o n K. R a a f l a u b g e f o r d e r t e n , a b e r v o n i h m b e z w e i f e l t e n R a h m e n b e d i n g u n g e n für d i e W e i t e r g a b e h i s t o r i s c h e r I n f o r m a t i o n e n . 3 7 A n d e r e r s e i t s g e w ä h r l e i s t e t e s i e a u c h im S i n n e d e r „ G l e i c h zeitigkeit d e s U n g l e i c h z e i t i g e n " nach der Formulierung Raaflaubs, daß die s o z i a l e n
Ver-
h ä l t n i s s e d i e s e r v o r h o m e r i s c h e n G e s e l l s c h a f t e n für d a s P u b l i k u m im 8. Jh. v. Chr. „ n o c h aktuell w a r e n o d e r in l e b e n d i g e r E r i n n e r u n g s t a n d e n " . 5 8
6. Historische Erinnerung an einen Troianischen Krieg? D i e s e A u s f ü h r u n g e n k ö n n e n nicht d i e A n t w o r t a u f d i e k o n k r e t e F r a g e liefern, o b d e m T r o i a n i s c h e n K r i e g e i n h i s t o r i s c h e s E r e i g n i s der m y k e n i s c h e n P a l a s t z e i t z u g r u n d e l a g o d e r nicht. A l l e r d i n g s s o l l e n s i e d i e M ö g l i c h k e i t e n a n d e u t e n , unter w e l c h e n B e d i n g u n g e n s o z i a l e R e a l i täten u n d a n d e r e R e a l i e n , v i e l l e i c h t a u c h e p i s c h e S t o f f e u n d m y t h i s c h e T h e m e n , ü b e r d a s E n d e d e r m y k e n i s c h e n P a l a s t z e i t h i n a u s s i n n v o l l in d i e n a c h p a l a t i a l e W e l t integriert u n d von einer nachpalatialen Sängertradition weitertransportiert w e r d e n konnten. Insofern erklären s i c h m i r s p r a c h l i c h e M y k e n i s m e n u n d A r c h a i s m e n , a u f d i e v o n S p r a c h w i s s e n s c h a f t l e r n und P h i l o l o g e n i m m e r w i e d e r h i n g e w i e s e n w i r d , a b e r a u c h d i e e i n e o d e r a n d e r e I n f o r m a t i o n über d i e W e l t der m y k e n i s c h e n P a l a s t z e i t , d i e e i n e m e p i s c h e n S ä n g e r d e s 11 - 8 . Jhs. v. Chr. nicht bekannt g e w e s e n sein konnte.59 Außer d e m obligatorischen H i n w e i s auf die
Benut-
z u n g v o n W a f f e n a u s B r o n z e und a u f d e n m y k e n i s c h e n E b e r z a h n h e l m , d e r o h n e w e i t e r e s e i n t a t s ä c h l i c h a l t e s Erb- o d e r F u n d s t ü c k in v i e l s p ä t e r e r Z e i t d a r s t e l l e n k a n n 6 0 , m a g hier e i n B e i s p i e l g e n ü g e n : D e r Palast v o n P y l o s , im E p o s d e r S i t z N e s t o r s , w i r d j e d e n f a l l s in der Ilias und in d e r O d y s s e e t o p o g r a p h i s c h n i c h t dort lokalisiert, w o e i n m y k e n i s c h e r P a l a s t 1 9 3 9
56
Insofern kann vieles aus der Zeit vor dem 8. Jh. v. Chr. in den Epen enthalten sein: vgl. auch die Positionen von Finley 1979, bes. 162 und Dickinson 1986, die den Hintergrund der homerischen Epen in erster Linie vor der Welt des 10. und 9. Jhs. v. Chr. verstehen. Zur kontinuierlichen Existenz von Eliten in der Übergangsperiode der späten Bronze- und frühen Eisenzeit siehe auch Foxhall 1995; vgl. Rysted 1999. Ulf 2001, 168-176 bezweifelt die soziale Stratifizierung der Gesellschaften der 'Dunklen Jahrhunderte'. Mit Recht weist er übrigens auf den Bedarf, bei der Interpretation von archäologischen Befunden den Begriff der 'Eliten' und deren Rahmenbedingungen klarer zu definieren, eine Aufforderung, der im vorliegenden Rahmen auch nicht nachgekommen werden kann.
57
Raaflaub 1998a, 173;180; 184; Raaflaub 1998b, 399-400.; vgl. Assmann 1997, 70-71 zur Allianz zwischen Herrschaft und Gedächtnis. Raaflaub 1998, 181-188; Raaflaub 1997, 6 4 5 - 6 4 7 ; Raaflaub 1991, 214, dessen Auffassung m. E. mit dem sozialen Amalgam von Deger-Jalkotzy 1994, 29 mit Anm. 84 nicht unvereinbar sind. Vgl. auch Morris 1986. 127. Zu mykenischer Dichtung vgl. die Zusammenfassung bei Bennet 1997, 523-533; Driessen 1992, 3 2 34; West 1997. Siehe ferner Sherrat 1990. Sprachliche Mykenismen: Hajnal 1998; Panagl 1992; Risch 1991, 239; Ruijgh 1995; Driessen 1992, 34-37. Waffen aus Bronze waren bis ins 11. Jh. v. Chr. in Verwendung, und auch mykenische Eberzahnhelme wurden in entsprechenden Kontexten gefunden. Es deuten sich hier tatsächliche Kenntnisse von den andersartigen Verhältnissen der Vergangenheit an, allerdings sind sie nicht unbedingt und bedingungslos auf die mykenische Palastzeit zu beziehen. Auch die Möglichkeit, daß die Beschreibung eines Eberzahnhelms im Rahmen mündlicher Dichtung weitergegeben wurde, ist in Betracht zu ziehen (Hinweis G. Danek). Vgl. Sherrat 1990.
58
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Mythenbildung
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von C. W. Biegen und K. Kourouniotis a u f g e f u n d e n wurde, und der nach A u s w e i s der dort g e f u n d e n e n Linear B - T a f e l n mit d e m O r t s n a m e n pu-ro
bezeichnet w u r d e . Die K e n n t n i s ei-
nes Herrschersitzes n a m e n s Pylos in den Epen kann m a n f ü r eine R e m i n i s z e n z an die tatsächliche B e d e u t u n g des H e r r s c h a f t s z e n t r u m s des m y k e n i s c h e n M e s s e n i e n halten, echte historische E r i n n e r u n g an die m y k e n i s c h e Palastzeit spiegelt sich hier nicht, denn die Lage des m y k e n i s c h e n Palastes w a r in der Tat vergessen. 6 1 E t h n o l o g i s c h e Forschungen zu oral tradition
und oral poetry
legen nahe, d a ß m ü n d l i c h e
Ü b e r l i e f e r u n g fortlaufend an die sich w a n d e l n d e G e s e l l s c h a f t a n g e p a ß t wird, d a ß hier aber auch i m m e r Relikte älterer Zeit v o r h a n d e n sind, die durch die H i n z u f ü g u n g von g e g e n w a r t s b e z o g e n e n Elementen verändert und erweitert w e r d e n . M ü n d l i c h e D i c h t u n g orientiert sich kontinuierlich an den B e d ü r f n i s s e n und am V e r s t ä n d n i s h o r i z o n t eines j e w e i l s zeitgenössischen P u b l i k u m s . In der Tradition der m ü n d l i c h e n D i c h t u n g sind Ilias und O d y s s e e und die D a r s t e l l u n g des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen H i n t e r g r u n d s in den Epen d e m z u f o l g e a u f g r u n d der E r f a h r u n g des 8./7. Jhs. v. Chr. e n t s c h e i d e n d geprägt. 6 2 U n t e r s u c h u n g e n zu den Quellen der Ilias haben die k o m p l e x e V o r g e s c h i c h t e der Ilias erahnen lassen, in w e l c h e v e r s c h i e d e n e S t o f f e und Traditionen zu unterschiedlichen Zeiten e i n g e f l o s s e n sind. Insofern b e g r ü n d e t sich die A u f f a s s u n g , daß die Ilias am E n d e einer Tradition steht, in welcher epische Sänger die G e s c h i c h t e von der B e l a g e r u n g T r o i a s und die G e s c h i c h t e von den T e i l n e h m e r n an d i e s e m F e l d z u g mündlich vorgetragen und in verschiedenen Varianten kontinuierlich aufs N e u e gestaltet haben. 6 '' E r z ä h l m o t i v e aus einer palastzeitlichen h ö f i s c h e n D i c h t u n g können e b e n s o verarbeitet w o r d e n sein wie E l e m e n t e aus d e m L e b e n und der E r f a h r u n g s w e l t der J a h r h u n d e r t e z w i s c h e n 1200 und 7 0 0 v. Chr. 6 4 Für die Frage nach d e m Alter der behandelten S t o f f e , insbesondere des Troianischen Krieges, wäre es von Interesse zu wissen, wie d y n a m i s c h die V e r ä n d e r u n g der G r u n d k o n s t e l l a t i o n e n der epischen E r z ä h l u n g im R a h m e n der H e x a m e t e r v e r s e verlief bzw. v e r l a u f e n konnte. Hier sind die Positionen in der F o r s c h u n g bislang sehr verschieden. 6 5 Wie lange die Sängertradition des T r o i a m y t h o s zurückreicht, dessen letzte Gestalt wir in der Ilias vor uns liegen haben, ist daher nicht o h n e weiteres festzulegen. Der m y k e n i s c h e U r s p r u n g des T r o i a - S a g e n s t o f f e s selbst kann alles andere als sicher gelten. F o l g e n d e Ü b e r l e g u n g e n sind z u g e g e b e n e r m a ß e n spekulativ, k ö n n e n aber vielleicht dazu dienen, ü b e r Alternativen zu einem m y k e n i s c h e n Szenario des Troianischen Krieges nachz u d e n k e n . E l e m e n t e der Troia-Geschichte, wie sie in der Ilias präsent sind, deuten m. E. auf eine relativ rezente Entstehungszeit wesentlicher Teile der K o m p o s i t i o n . Der R a u b der Helena und ihre B e f r e i u n g durch die zwei Brüder, die Atriden A g a m e m n o n und M e n e l a o s , sind T h e m e n einer Geschichte, die in der E r z ä h l u n g v o m R a u b der H e l e n a durch T h e s e u s und ihrer R e t t u n g durch ihre beiden Brüder, die D i o s k u r e n Kastor und P o l y d e u k e s , eine o f f e n sichtliche Parallele besitzt, allerdings eine andere A u s g e s t a l t u n g desselben T h e m a s erfährt
61
M e y e r 1978, 2 2 7 - 2 2 8 . ; vgl. K u l l m a n n 1993, 134. Z u P y l o s s i e h e z u s a m m e n f a s s e n d D a v i s 1998.
62
F i n l e y 1975, 2 6 - 2 9 ; M o r r i s 1986; K u l l m a n n 1 9 8 8 ; K u l l m a n n 1995; K u l l m a n n 1 9 9 9 ; R a a t l a u b
1998.
1 7 7 - 1 8 2 ; 1 8 6 - 1 8 8 ; Ulf 1990, 2 3 3 - 2 3 6 ; T h o m a s 1989, 1 - 1 4 . H i e r a u c h H i n w e i s e a u f d i e e i n s c h l ä g i g e Literatur. 63
E r z ä h l v a r i a n t e n in d e r Ilias: K u l l m a n n 1960; in d e r O d y s s e e : D a n e k 1 9 9 8 ; vgl. W i l l c o c k 1997.
64
So a u c h R a a t l a u b 1998. 175: vgl. B e n n e t 1997, 5 2 3 - 5 2 9 ; f e r n e r S h e r r a t 1990.
65
L a t a c z 1988. 1 6 0 - 1 7 6 ; L a t a c z 2 0 0 1 , 3 0 0 - 3 1 8 ; L a t a c z 2 0 0 2 , T h e q u e s t i o n o f , d a t a t r a n s m i s s i o n ' ; d a g e gen K u l l m a n n 1988; K u l l m a n n 1995; K u l l m a n n 2 0 0 1 , 6 6 2 ; vgl. F o l e y 1997.
118
Birgitta Eder
und sich damit als variabler S a g e n s t o f f erweist. 6 6 W. K u l i m a n n hat eine Reihe von Indizien z u s a m m e n g e s t e l l t , die nahelegen, d a ß A g a m e m n o n als H e r r s c h e r von M y k e n e nicht fest in der Tradition verankert war und daß Ilias und O d y s s e e Kenntnis einer Variante zeigen, in der A g a m e m n o n g e m e i n s a m mit M e n e l a o s H e r r s c h e r von L a k o n i e n und Teilen M e s s e n i e n s war. N u r unter d i e s e m U m s t a n d ist e t w a zu begreifen, w a r u m A g a m e m n o n in d e r Ilias Achilleus z u r V e r s ö h n u n g sieben m e s s e n i s c h e Städte anbieten kann. Diese Tradition hat ihre Spuren auch in den O d e n Pindars hinterlassen, die A g a m e m n o n in A m y k l a i lokalisieren. 6 7 D i e Idee eines D o p p e l k ö n i g t u m s der Atriden in Lakonien kann aber eigentlich nur als R e f l e x des historischen D o p p e l k ö n i g t u m s der A g i a d e n und Eurypontiden in Sparta verstanden w e r d e n und setzt insofern die E n t s t e h u n g des spartanischen Staates voraus. W e n n m a n diese H e r r s c h a f t s f o r m nicht in die m y k e n i s c h e Palastzeit z u r ü c k p r o j i z i e r e n will, liegt f ü r die E n t s t e h u n g der Troia-Geschichte, in der Form wie wir sie heute kennen, ein e n t s p r e c h e n d j ü n g e r e s D a t u m nahe. W a s hindert uns a n z u n e h m e n , d a ß ein historischer Kern eines T r o i a n i s c h e n
Krieges,
w e n n es tatsächlich einen solchen g e g e b e n haben sollte, nicht in den Verhältnissen d e r Spätbronzezeit zu suchen, sondern in j e n e n des 10. bzw. 9. Jhs. v. Chr. zu sehen ist? Die Existenz eines N e t z w e r k s an Handelskontakten in der nördlichen Ä g ä i s w ä h r e n d des 10.-9. Jhs. v. Chr., w e l c h e s von E u b ö a über Lokris, Phthiotis, Thessalien und M a k e d o n i e n bis Troia reichte, haben die j ü n g s t e n F o r s c h u n g e n von I. L e m o s und R. Catling betont. 6 8 In diesem g e o g r a p h i s c h e n R a u m hat zuletzt hat D. Hertel den S a g e n h i n t e r g r u n d um die Figur des Achilleus und seines K a m p f e s gegen T r o i a angesiedelt und in Z u s a m m e n h a n g mit der äolischen Kolonisation im nördlichen Kleinasien verstehen wollen. 6 9 W i e d e m auch sei, H o m e r und seine V o r g ä n g e r s c h u f e n durch die V e r a r b e i t u n g vers c h i e d e n e r Stränge m ü n d l i c h e r D i c h t u n g ein Stück heroischer V e r g a n g e n h e i t und vermittelten den G r i e c h e n des 7. Jhs. v. Chr. ein identitätsstiftendes G e s c h i c h t s b e w u ß t s e i n . 7 0 Als G e m e i n s c h a f t s u n t e r n e h m e n der Griechen spiegelt und verstärkt die G e s c h i c h t e vom T r o i a n i schen K r i e g ein e n t s p r e c h e n d e s Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t s g e f ü h l . Insofern ist die Ilias ein G e s c h i c h t s b u c h , um auf den A u s g a n g s p u n k t z u r ü c k z u k o m m e n , ein G e s c h i c h t s b u c h auch f ü r die g r i e c h i s c h e n Historiker, die sie als Quelle v e r w e n d e n . W e n n f ü r T h u k y d i d e s d e r Troianische Krieg das größte historische Ereignis der V e r g a n g e n h e i t ist, so e n t n i m m t er seine Vorstellung, wie er selbst schreibt, der D i c h t u n g H o m e r s . Deshalb steht d e r T r o i a n i s c h e Krieg am Beginn der G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g und es ist insofern verständlich, daß dieser f ü r die griechischen Historiker zum c h r o n o l o g i s c h e n Fixpunkt w u r d e . A u f den antiken Versuch, durch die Z u s a m m e n f ü g u n g und A b s t i m m u n g von Überlieferungstraditionen ein historisches Bild der griechischen Frühzeit zu s c h a f f e n , bezieht sich der
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Antike und moderne
Mythenbildung
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A u s d r u c k antike M y t h e n b i l d u n g in m e i n e m Titel. Der B e g r i f f der m o d e r n e n M y t h e n b i l d u n g aber zielt auf den i m m e r w i e d e r erneuten V e r s u c h m o d e r n e r Historiker ( A r c h ä o l o g e n , Philologen nicht a u s g e n o m m e n ) , in dieser Ü b e r l i e f e r u n g eine echte historische R ü c k e r i n n e r u n g an historische Ereignisse der Bronzezeit e r k e n n e n zu wollen.
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Birgitta Eder
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b e r g / R e i n a u 1988, 5 7 - 7 1 . Sherrat 1990 = E. S. Sherrat, . R e a d i n g the T e x t s ' : A r c h a e o l o g y and the H o m e r i c Q u e s t i o n , A n t i q u i t y 6 4 , 1990, 8 0 7 - 8 2 4 ( = D e J o n g 1999, 7 7 - 1 0 1 ) . S i e b l e r 2 0 0 1 = Μ . Siebler, T r o i a : M y t h o s u n d W i r k l i c h k e i t , Stuttgart 2 0 0 1 . S n o d g r a s s 1971 = Α. M. S n o d g r a s s , T h e D a r k A g e of G r e e c e , E d i n b u r g h 1971. S t r a s b u r g e r 1972 = Η. S t r a s b u r g e r , H o m e r u n d die G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g , S H A W 1972, 3 - 4 4 ( = W. S c h m i t t h e n n e r / R . Z o e p f f e l ( H g . ) , S t u d i e n zu A l t e n G e s c h i c h t e , H i l d e s h e i m 1982, II, 1 0 5 7 - 1 0 9 7 ) . T h o m a s 1989 = Oral T r a d i t i o n and W r i t t e n R e c o r d in Classical A t h e n s , C a m b r i d g e 1989. T h o m a s / C o n a n t 1999 = C. G. T h o m a s / C . C o n a n t , Citadel to C i t y - S t a t e , T h e T r a n s f o r m a t i o n of G r e e c e 1 2 0 0 - 7 0 0 Β. C. Ε., B l o o m i n g t o n 1999. T r a x l e r 1978 = Η. Traxler, Die W a h r h e i t ü b e r H ä n s e l u n d Gretel. Die D o k u m e n t a t i o n d e s M ä r c h e n s der B r ü d e r G r i m m , F r a n k f u r t / M a i n 1978. Troia A u s s t e l l u n g 2001 = Troia. T r a u m und Wirklichkeit, Begleitband zur A u s s t e l l u n g 17. 3 . - 1 7 . 6. 2001 in Stuttgart, 14. 7 . - 1 4 . 10. 2001 in B r a u n s c h w e i g , 16. 11. 2 0 0 1 - 1 . 4. 2 0 0 2 in B o n n , Stuttgart 2 0 0 1 . U l f 1990 = C h . Ulf, D i e h o m e r i s c h e G e s e l l s c h a f t : M a t e r i a l i e n zur a n a l y t i s c h e n B e s c h r e i b u n g u n d his t o r i s c h e n A k t u a l i s i e r u n g ( V e s t i g i a B a n d 4 3 ) M ü n c h e n 1990. Ulf 2 0 0 1 = C h . Ulf, G e m e i n s c h a f t s b e z u g , s o z i a l e S t r a t i f i z i e r u n g , Polis - drei B e d i n g u n g e n für d a s E n t s t e h e n a r i s t o k r a t i s c h e r und d e m o k r a t i s c h e r M e n t a l i t ä t im a r c h a i s c h e n G r i e c h e n l a n d , in: D. Pap e n f u ß / V . M. S t r o c k a ( H g . ) , G a b es d a s g r i e c h i s c h e W u n d e r ? G r i e c h e n l a n d z w i s c h e n d e m E n d e d e s 6. u n d d e r M i t t e d e s 5. J a h r h u n d e r t s v. Chr., T a g u n g s b e i t r ä g e d e s 16. F a c h s y m p o s i u m s der A l e x a n d e r v o n H u m b o l d t - S t i f t u n g v e r a n s t a l t e t v o m 5. bis 9. April 1999 in F r e i b u r g im B r e i s g a u , Mainz 2001, 163-186. Ulf 2 0 0 3 = C h . U l f (Hg.), D e r n e u e Streit u m T r o i a - e i n e Bilanz, M ü n c h e n , in V o r b e r e i t u n g f ü r 2 0 0 3 . U n g e r n - S t e r n b e r g / R e i n a u 1988 = .1. v. U n g e r n - S t e r n b e r g / H . R e i n a u (Hg.), V e r g a n g e n h e i t in m ü n d l i c h e r Ü b e r l i e f e r u n g ( C o l l o q u i u m R a u r i c u m , B a n d 1) Stuttgart 1988. V a n W e e s 1998 = Η. van W e e s , G r e e k s B e a r i n g A r m s : t h e State, the L e i s u r e C l a s s , and the D i s p l a y of W e a p o n s in A r c h a i c G r e e c e , in: F i s c h e r / V a n W e e s 1998, 3 3 3 - 3 7 8 . V e y n e 1 9 8 7 = P. V e y n e , G l a u b t e n die G r i e c h e n an ihre M y t h e n ? Ein V e r s u c h ü b e r d i e k o n s t i t u t i v e E i n b i l d u n g s k r a f t , aus d e m F r a n z ö s i s c h e n von M a r k u s M a y , F r a n k f u r t / M a i n 1987. V i k a t o u 2 0 0 1 = O. V i k a t o u , Σ κ η ν ή
πρόθεσης
από
το
μυκηναϊκό
νεκροταφείο
της
Αγιας
Τ ρ ι ά δ α ς in: V. M i t s o p o u l o s - L e o n (Hg.), F o r s c h u n g e n in der P e l o p o n n e s . A k t e n d e s S y m p o s i o n s a n l ä ß l i c h der Feier ..100 J a h r e Ö s t e r r e i c h i s c h e s A r c h ä o l o g i s c h e s Institut A t h e n " . A t h e n
5.3-
7. 3. 1998 ( S o n d e r s c h r i f t e n d e s Ö s t e r r e i c h i s c h e n A r c h ä o l o g i s c h e n Instituts, 3 8 ) A t h e n 2 0 0 1 , 273— 284. V o u t s a k i 1999 = S. V o u t s a k i , M o r t u a r y D i s p l a y , P r e s t i g e and Identity in t h e S h a f t G r a v e Era, in: Eliten in der B r o n z e z e i t . E r g e b n i s s e z w e i e r K o l l o q u i e n
in M a i n z und A t h e n , Teil
1 (Römisch-
g e r m a n i s c h e s Z e n t r a l m u s e u m , M o n o g r a p h i e n B a n d 13,1) M a i n z 1999, 1 0 3 - 1 1 7 . W e s t 1988 = M . L. W e s t , T h e R i s e of t h e G r e e k Epic, J H S 108 ( 1 9 8 8 ) 1 5 1 - 1 7 2 . W e s t 1995 = M . L. West, T h e D a t e of t h e Iliad, M H 52 ( 1 9 9 5 ) 2 0 3 - 2 1 9 . W e s t 1997 = M. L. West, H o m e r ' s Meter, in: M o r r i s / P o w e l l 1997, 2 1 8 - 2 3 7 . W h i t l e y 1991 = J. W h i t l e y , Social D i v e r s i t y in D a r k A g e G r e e c e , A B S A 8 6 ( 1 9 9 1 ) 3 4 1 - 3 6 5 . W i l l c o c k 1997 = M. W i l l c o c k , N e o a n a l y s i s , in: M o r r i s / P o w e l l 1997, 1 7 4 - 1 8 9 .
Lukas
Thommen
Der Spartanische Kosmos und sein ,Feldlager' der Homoioi. Begriffs- und forschungsgeschichtliche Überlegungen zum Sparta-Mythos
Die spartanischen Bürger wurden als Gleichgestellte, als homoioi, bezeichnet, und diese ,Gleichheit' hat sowohl in der Antike als auch in der Moderne immer wieder fasziniert. Mit ihr wurde auch das gemeinschaftliche Leben der Männer Spartas in Form eines permanenten ,Feldlagers' verbunden. Nach gängiger Auffassung schlürften die Spartiaten nach dem täglichen Training in ,Zeltgemeinschaften' (Syskenien) ihre karge Blutsuppe, die als Hauptnahrungsmittel gedient habe, um dann auf Schilfrohr Schlaf zu finden. Die Vorstellung von der strikten Regulierung sämtlicher Lebensbereiche und ihrer Ausrichtung auf den Staat fand ihren Niederschlag in der Bezeichnung des spartanischen Gemeinwesens als kosmos. Dazu gehört insbesondere auch die .staatliche' Erziehung der Knaben und Jünglinge, die viel gerühmte agoge, bei der die gemeinschaftlichen Werte und Gehorsam eingeübt wurden. Gerade für die agoge hat sich in der Forschung gezeigt, daß es sich lohnt, genauer nach dem Ursprung und Inhalt vermeintlich spartanischer Eigenheiten zu fragen. Μ. I. Finley hat schon 1975 hervorgehoben, daß die agoge als grundlegendes Erziehungselement in der spartanischen Gesellschaft „eine späte Erfindung war, mögen auch einige der Initiationsriten und andere äußere Aspekte der agoge noch so alt gewesen sein."' Er betonte, „daß es in den Altersklassen von Natur aus nichts gibt, was zu der spartanischen agoge oder auch nur zu deren Ethos des Gehorsams und der Selbstverleugnung gegenüber den Staatsinteressen führen müßte." 2 In der Tat wird der Begriff agoge erst von Polybios (1, 32, 1) auf Sparta bezogen. Ν. M. Kennell hat nachgewiesen, daß die agoge im eigentlichen Sinne erst in der zweiten Hälfte des 3. Jh. kreiert wurde, als der,Reformkönig' Kleomenes III. mit Hilfe des stoischen Philosophen Sphairos von Borysthenes für das zerrüttete Sparta neue Ordnungsmaßstäbe setzen wollte und sich dabei auf den archaischen Gesetzgeber Lykurg berief. 3 Wir fassen hier also ein wesentliches Moment spartanischer Traditionsbildung, das zur Vorsicht im Umgang mit dem frühen Sparta mahnt.
1
Finley 1 9 8 6 . 3 4 9 : vgl. a u c h s c h o n C h r i m e s 1 9 4 9 , 9 4 .
2
Finley 1986, 348.
3
Kennell 1995, bes. 98ff.
128
Lukas
Thommen
Die Forschung ist aber nicht nur im Falle der agoge den überzeichneten Darstellungen antiker Autoren aufgesessen und hat diese weitertradiert. Im Folgenden soll einerseits aus forschungsgeschichtlicher Sicht untersucht werden, wie die Begriffe der homoioi, des kosmos der Spartaner, des vermeintlichen .Feldlagers' aus .Zelten' (Syskenien) und der berüchtigten ,Blutsuppe' in der modernen Literatur eingeführt wurden. Andererseits ist dem Ursprung und der Bedeutung dieser Begriffe bei den antiken Autoren nachzugehen. Die Studie versteht sich insgesamt als Beitrag dazu, das verklärte Bild vom früh regulierten spartanischen Gemeinwesen zu hinterfragen und somit falschen Vorstellungen vom Leben im archaischen Sparta entgegenzuwirken.
1.
homoioi
Neben der Spartaverehrung setzten in der Neuzeit schon früh auch kritische Stimmen zum spartanischen Gemeinwesen ein, die sich gerade auch auf das Prinzip der Gleichheit bezogen. Nach Friedrich Schillers umfassender Kritik am ,lykurgischen Staat' 4 konstatierte der Breslauer Gymnasialprofessor J. C. F. Manso, der in den Jahren 1800-1806 als erster unter wissenschaftlichen Kriterien eine Geschichte Spartas verfaßte, daß aufgrund der militärischen Lebensweise die „Freyheit und Gleichheit" der Spartaner, welche die ,lykurgische Verfassung' gewährte, für das menschliche Dasein nicht ausreichten, ja sogar „allmählig verlustig" gingen. 5 Ein Viertel Jahrhundert später betonte auch der Göttinger Ordinarius Κ. O. Müller in seinem bahnbrechenden Werk über die Dorier (1824), daß „nirgends unabhängige Gleichheit" bestand. 6 „Zwar sind in gewisser Hinsicht alle Dorier an Recht und Würde gleich, aber es gab doch mannigfache Abstufungen", die sich insbesondere im Unterschied zwischen den Gleichen {homoioi) und den Geringeren (hypomeiones) manifestierten. 7 Auch im Hinblick auf den Besitz habe es „bald von Anfang mannigfache Ungleichheit" gegeben. 8 J. Burckhardt sprach später von einer Gleichheit der Reichgewordenen, der Bürger, die ihren Reichtum aufgrund der strengen Regulierungen freilich nicht genießen konnten 9 - ein Zustand der für ihn bis ins 6. Jh. andauerte. 10 G. Busolt vertrat dann in seiner .Griechischen Staatskunde' im Grunde dieselbe Auffassung von der Gleichheit der Spartaner wie Κ. O. Müller: „Die staatsrechtliche und staatsgesellschaftliche Gleichheit hat auch in Sparta trotz der streng durchgeführten gleichen Erziehung, Zucht und Lebensordnung die natürliche Ungleichheit nicht zu überwinden vermocht; sie ist dieser schließlich völlig unterlegen."" V. Ehrenberg, der zwischen den beiden Weltkriegen als Ordinarius in Prag wirkte, versuchte erstmals, die spartanische Gleichheit aus begriffsgeschichtlicher Sicht zu klären. Für 4 5 6 7 8 9 10 11
Schiller 1790. Manso 1800, Bd. 1,1, 187ff. Müller 1824, 404. Müller 1824. 83f. Müller 1824, 190. Burckhardt 1898, 109f.; 114; 116. Burckhardt 1898, 123f. Busolt/Swoboda 1926, 663; vgl. 700: „Diese Gleichheit der Lebensführung war unabhängig von der Lebenslage und der Verschiedenheit des V e r m ö g e n s . "
Der Spartanische Kosmos und sein , Feldlager'
129
die Bezeichnung homoioi stellte er fest, daß „dieser uns so geläufige Name ... nicht vor Xenophon und keineswegs sehr oft bezeugt" ist.12 Gleichzeitig lehnte er die im RE-Artikel Homoioi von 0 . Schulthess13 vermutete Auffassung ab, daß der Begriff erst im Zuge der sozialen Probleme des 4. Jh. und als Gegensatz zu dem - ebenfalls erst bei Xenophon bezeugten Begriff hypomeiones entstanden sei. Ehrenberg setzte den Ursprung des homoioi-Begriffs vielmehr in den Kontext einer von ihm fur das mittlere 6. Jh. angenommenen Reform. 14 Erst jetzt sei der Moment gekommen, der die spartanischen Bürger in ein streng reguliertes Staatsleben einpaßte. - Dennoch rechnete bereits H. Berve wieder damit, daß das „auf der persönlichen Gleichheit aller Spartiaten" aufgebaute „Gemeinschaftsleben" der homoioi zur Zeit des zweiten Messenischen Krieges eingeschärft wurde und bewunderte zugleich die Rigorosität, mit der dies geschah. 15 In der neueren Forschung sind die sozialen Unterschiede in der spartanischen Gesellschaft wiederholt herausgearbeitet worden. 16 Andererseits erachtet die moderne Literatur seit Ehrenberg aber auch die /jo/wo/'o/-Ideologie - spätestens fur das 6. Jh. - als typisch spartanisch. S. Link möchte in dem Aomow/'-Begriff seit der Zeit um 600 neuerdings geradezu einen ,terminus technicus' für die spartanischen Bürger erkennen. Damit sei deren Selbstbewußtsein gegenüber den Aristokraten zum Ausdruck gebracht worden, die sich hier angeblich zu einem begrifflichen Zugeständnis genötigt sahen.17 Die homoioi-Ideologie läßt sich anhand der Quellen für die archaische Zeit freilich nicht näher fassen und kann schwerlich mit einer Art Ständekampf in Verbindung gebracht werden. In Bezug auf Sparta finden wir bei Herodot und Thukydides erstmals Anspielungen auf die Bezeichnung der Spartaner als homoioi}* Der ehemalige König Demaratos vertritt bei Herodot (7, 234) die Meinung, daß die Spartaner grundsätzlich mit den Kriegern, die an den Thermopylen gegen die Perser bis aufs Blut gekämpft hatten, homoioi seien. An anderer Stelle berichtet Herodot (3, 55), daß sich die Lakedaimonier in der Auseinandersetzung auf Samos (um 525/4) im Vergleich mit den zwei im Kampf gefallenen Gefährten nicht homoioi an Tapferkeit erwiesen haben. Ähnliches vermutet Thukydides (4, 40) für die auf Sphakteria eingeschlossenen Spartaner, die sich den Athenern ergaben. Der spartanische König Archidamos hebt in seiner Rede bei Thukydides (1, 86, 2) hervor, daß die Athener seit den Perserkriegen an Tüchtigkeit eingebüßt haben, während die Spartaner immer noch die Gleichen wie früher seien. Mit homoioi wird im Verlaufe des 5. Jh. also sowohl die Tapferkeit als auch die charakterliche Beständigkeit und Grundsatztreue der Spartaner umschrieben, ohne die Spartaner explizit oder idealtypisch als homoioi zu bezeichnen. Es ist daher zu vermuten, daß sich die Bezeichnung der Spartaner als homoioi erst allmählich durchzusetzen begann. Bei Homer war für die aristokratische Gesellschaft noch allgemein Gleichheit gefordert worden. 19 Im Verlaufe des 6. Jh. erhob sich in Athen - gerade im Zusammenhang mit der
12 13 14 15 16 17 18 19
Ehrenberg 1965,218. O. Schulthess, RE 8, 1913, 2254ff. s. v. Homoioi; vgl. Ziehen 1933, 228ff. Ehrenberg 1965, 218f. Berve 1931, 204f.; vgl. Berve 1937, 37. Kiechle 1963, 183ff.; Arnheim 1977, 80f.; Meier 1998, 23ff.; grundlegend Hodkinson 2000. Link 2000, 11 Iff. Hdt. 3, 55; 7, 136; 234, vgl. 6, 52; 9, 7a; Thuk. 1, 86, 2; 2, 45, 1; 89, 2; 4, 40, 2; 126, 5; 5, 15, 1 (Konjektur!). Vgl. dazu Shimron 1979, 131ff.; Thommen 1996, 135ff. Horn. II. 16, 53, vgl. 15, 186; 209.
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Tyrannis - die Forderung nach isonomia.20 Aristokratische Kreise strebten damit die Befreiung von Willkürregimenten und neue politische Gleichberechtigung an, wobei das Wort nun auch in breiteren Schichten aufgegriffen wurde. In Sparta, wo die Tyrannis ausblieb, ist eine solche Dynamik nicht zu beobachten. Auch im Hinblick auf den individuellen Besitz strebten die Spartaner nicht an, gleich (isoi) zu sein. 2 1 Das in der zweiten Hälfte des 5. Jh. zu beobachtende Schlagwort homoios brachte vielmehr die Forderung nach Gleichheit im bürgerlichen Dasein zum Ausdruck. 2 2 Die /7o/no/o/-ldeologie der Spartaner ist in klassischer Zeit demnach als .revival' eines ursprünglich gemeingriechischen Prinzips zu verstehen, das zur Bewältigung gesellschaftlicher und politischer Probleme beitragen sollte. W i e ich andernorts ausführlich erläutert habe, ergaben sich diese einerseits aus den im Anschluß an das große Erdbeben der 460er Jahre entstandenen Ungleichheiten und Lücken im Militär- und Bürgerverband, die eine verstärkte militärische Einbindung - aber auch ideologische Abgrenzung - der Periöken bedingten; andererseits war Sparta seit der Perserkriegszeit vermehrt mit dem Ausscheren einzelner politischer Führer konfontiert, die es ins G e m e i n w e s e n einzugliedern galt. 2 ' Die im 5. Jh. verschärfte Konditionierung der spartanischen Bürger innerhalb der staatlichen Gemeinschaft nahm in der Folge Vorbildcharakter an. Seit Ephoros galt die einfache und gemeinschaftliche Lebensweise allgemein als Garant von Brüderlichkeit ( ο μ ό ν ο ι α ) , 2 4 wie sie schon Ende 5. Jh. in einem angeblich Lykurg verkündeten Orakel erscheint. 2 5 Aristoteles, der im spartanischen Staat die richtige Mischung zwischen Demokratie und Oligarchie erkennt (pol. 1294b), betont im Z u s a m m e n h a n g mit dem Gleichheitsgedanken: „Gleichheit, die die Demokraten für die Menge beanspruchen, ist bei wirklich Gleichartigen ( έ π ι τ ω ν ό μ ο ι ω ν ) nicht nur gerecht, sondern auch zuträglich" (pol. 1308a 1 Iff.). In dieser Form konnte die spartanische Gleichheit auch in der Neuzeit - trotz der erwähnten kritischen Ansätze in der Fachliteratur - von unterschiedlicher Seite als Leitbild vereinnahmt werden.
2. kosmos In der modernen Literatur taucht der Begriff kosmos im Z u s a m m e n h a n g mit Sparta erst im Werk über ,Die Dorier' von K. O. Müller (1824) auf; dieser erblickte darin die „Einigung des Mannigfaltigen" bzw. das „Streben nach strenger Einheit", 2 6 ohne aber damit schon eine idealtypische Verwendung des Begriffs einzuleiten. Auch bei J. Burckhardt, der Sparta als Modell einer geregelten ,Polis' auffaßte und dadurch die moderne Verbreitung dieses Lehn20 21 22
Dazu Ehrenberg 1950. bes. 530ff. (= Ehrenberg 1965, 279fF.); Meier 1970, 36tT.: Meier 1980, 51 IT.: Raatlaub 1985, 112ff. Vgl. schon Busolt/Swoboda 1926, 700. Müller 1965, Xlll Anm. 19; vgl. auch Fouchard 1986, 168 Anm. 2; Cartledge 2001, 73. Thukydides (1, 6, 4 ) berichtet, daß in Sparta „zwischen der Menge und den größeren" Besitzern die Unterschiede der Lebensweise ziemlich aufgehoben ( ί σ ο δ ί α ι τ ο ι μ ά λ ι σ τ α ) " gewesen seien.
23 24 25 26
Dazu T h o m m e n 1996, 105ff.; 125ff. Busolt/Swoboda 1926. 699. Parke/Wormell 1956, Bd. 1, 87; Bd. 2, 90 Nr. 218. Müller 1824. 6.
Der Spartanische Kosmos und sein , Feldlager'
131
w o r t e s in d e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n L i t e r a t u r a u s l ö s t e , 2 7 f e h l t d i e B e z e i c h n u n g kosmos
als e i g e -
n e r T e r m i n u s , d. h. sie t a u c h t im Z u s a m m e n h a n g mit S p a r t a n o c h g a r n i c h t a u f . D e n n o c h lag d e r B e g r i f f i n s o f e r n in d e r L u f t , als A l e x a n d e r v o n H u m b o l d t sein L e b e n s w e r k
,Kosmos.
E n t w u r f e i n e r p h y s i s c h e n W e l t b e s c h r e i b u n g ' 2 8 titulierte u n d d e n B e g r i f f mit , W e l t o r d n u n g ' g l e i c h s e t z t e . In d e r A l t e r t u m s k u n d e e n t w i c k e l t e erst V . E h r e n b e r g 1925 in s e i n e r S c h r i f t , N e u g r ü n d e r d e s S t a a t e s ' e i n e n e u e Sicht v o n kosmos:
„ D a s Wesen dieser Gestaltung, die
wir als V e r s t a a t l i c h u n g und A u f h e b u n g d e r G e s e l l s c h a f t b e z e i c h n e n k ö n n e n , weil i n n e r h a l b d e s S t a a t s v o l k s d e r L a k e d a i m o n i e r e i n e G e s e l l s c h a f t sich nie b i l d e n k o n n t e u n d n i e g e b i l d e t hat, ist f ü r d i e S p a r t a n e r selbst in d e m W o r t e , K o s m o s ' l e b e n d i g g e w e s e n , ihnen a l s o als vollendete harmonische Ordnung erschienen."29 E i n e g e n a u e r e D e f i n i t i o n d e s B e g r i f f s u n d s e i n e r A n w e n d u n g a u f d e n s p a r t a n i s c h e n Staat n a h m E h r e n b e r g freilich nicht vor. D i e e i n z i g e a l l g e m e i n e Ü b e r l e g u n g in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g stellte er in e i n e m z w e i J a h r e f r ü h e r e r s c h i e n e n e n A u f s a t z an. In A n k n ü p f u n g an d i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit A n a x i m a n d e r in s e i n e r D i s s e r t a t i o n v o n 1 9 2 1 3 0 hielt er f e s t , „ d a ß d a s W o r t K o s m o s z u n ä c h s t d i e g e r u n d e t e O r d n u n g d e r Polis b e d e u t e t u n d erst v o n d a a u f die W e l t ü b e r t r a g e n w i r d . " 3 1 D e m g e g e n ü b e r v e r z i c h t e t e E h r e n b e r g in s e i n e m z u n ä c h s t in e i n e m R u n d k f u n k v o r t r a g v o n 1934 e n t w i c k e l t e n , d a n n im Exil 1 9 4 6 s c h r i f t l i c h f e s t g e h a l t e nen Bild v o m t o t a l i t ä r e n S t a a t ' S p a r t a 3 2 d a r a u f , d i e s e n mit d e m B e g r i f f kosmos
gleichzuset-
zen. Erst in d e m W e r k , T h e G r e e k S t a t e ' b e t o n t e er in B e z u g a u f d e n s p a r t a n i s c h e n Staat n o c h m a l s : „ t h e , k o s m o s ' w a s e x p r e s s e d in its strictest and m o s t rigid f o r m " / J E h r e n b e r g s A u f f a s s u n g v o n e i n e r R e f o r m d e s m i t t l e r e n 6. Jh. p r o v o z i e r t e n o c h im s e l b e n J a h r ( 1 9 2 5 ) e i n e h e f t i g e R e a k t i o n v o n H. B e r v e : 3 4 „ D e r e i g e n a r t i g e K o s m o s u n d d e r ihn trag e n d e s p a r t a n i s c h e G e i s t , w i e w i r ihn a u s d e r h i s t o r i s c h e n Z e i t k e n n e n , sind n i c h t g e m a c h t , s o n d e r n g e w a c h s e n a u s d e n letzten z e i t l o s e n T i e f e n e i n e r V o l k s s e e l e h e r a u s . . , " 3 5 B a l d d a r a u f e n t w i c k e l t e B e r v e ein u m f a s s e n d e s S p a r t a b i l d , in d e m d e r B e g r i f f kosmos
reich b e f r a c h -
tet w u r d e : „ S o d i e n t d e r K a m p f , d e r d e m S p a r t a n e r w i e j e d e m d o r i s c h e n M a n n als g l ü c k v o l l ste B e t ä t i g u n g gilt, mit B e w ä h r u n g d e r A r e t e d e s e i n z e l n e n z u g l e i c h d e m S c h u t z e d e r W e l t d i e s e r A r e t e , d e m K o s m o s . D e r ist ihm e i n e g ö t t l i c h e S t i f t u n g w i e d e m M ö n c h sein O r d e n , u n d g l e i c h e i n e m O r d e n s c h l i e ß t m a n in S p a r t a sich nun g e g e n d i e A u ß e n w e l t ab, d i e n i c h t s Positives geben, höchstens den K o s m o s zersetzen kann.'"6 Eine extensive V e r w e n d u n g von kosmos
ist s c h l i e ß l i c h in B e r v e s S p a r t a - B u c h von 1 9 3 7 zu b e o b a c h t e n ^ u n d bis h e u t e A l l -
g e m e i n g u t g e b l i e b e n . D e r B e g r i f f kosmos,
der die Allgegenwärtigkeit des
spartanischen
Staates mit seinen Verhaltensnormen und Unterdrückungsmechanismen zum A u s d r u c k brin-
27 28 29 50 31 32 33 34 35 36 37
Gavvantka 1985. 191. Humboldt 1845-58. Fahrenberg 1925. I I I . Ahrenberg 1921, 90f.; 94. Ehrenberg 1923. 12. V. Ehrenberg, Ein totalitärer Staat, in: Christ 1986, 217-228. Vgl. dazu Losemann 1977, 42; 45. Ehrenberg 1969. 67. Vgl. dazu Schaefer 1961, 392ff. H. Berve. Rez. V. Ehrenberg. Neugründer des Staates (München 1925), in: Gnomon 1 (1925) 311. Berve 1930, 157f. Weniger prägnant verwendet ist kosmos noch in dem Aufsatz: Sparta, Historische Vierteljahresschrift 25, Dresden 1928, 13. Berve 1937, 33ΙΪ., bes. 35.
132
Lukas
Thommen
gen soll, hat zuletzt auch in die Titel der Sparta-Bücher von M. Nafissi (1991), S. Link ( 1 9 9 4 b ) und S. S o m m e r (2001) Eingang gefunden. D e m g e g e n ü b e r hat J. Kerschensteiner schon in ihrer Habilitationsschrift von 1962 darauf hingewiesen, daß der Ausdruck kosmos in der Antike nur zweimal auf den spartanischen Staat bezogen wurde. Aufgrund von Herodot (1, 65, 4) soll „nach einigen Berichten" die Pythia den Lykurg τ ο ν ν ϋ ν κ α τ ε σ τ ε ώ τ α κ ό σ μ ο ν Σ π α ρ τ ι ή τ ι * ] σ ι gelehrt haben, so daß „das Wort hier nicht terminologisch den spartanischen Staat als solchen meint".' 8 Auch bei Klearch von Soloi (frg. 39 Wehrli) „ist nicht von , K o s m o s ' schlechthin die Rede, sondern es bedarf noch des Zusatzes τ η ς π ο λ ι τ ι κ ή ς , und diese p o l i t i s c h e O r d n u n g ' wird die älteste (unter anderen) genannt." 3 9 Der Begriff figurierte damit nie als ,terminus technicus' für die spartanische Verfassung oder Lebensordnung. Das Wort kosmos hatte in den antiken Quellen zunächst ein breites Bedeutungsfeld. Schon W. Kranz legte dar, daß kosmos ursprünglich ,gefügte O r d n u n g ' , bei H o m e r speziell militärischer Art bedeutete, zugleich aber auch (erstmals faßbar bei Herodot und Demokrit) auf die politische Sphäre angewandt wurde und im Grunde j e d e Staatsordnung bezeichnen konnte. 4 0 Kreta als dorisches Gemeinwesen kannte den Begriff darüber hinaus für die obersten Beamten, die wiederum einen militärischen Ursprung hatten. 4 1 A n a x i m a n d e r verwendete den Terminus erstmals für das Universum. 4 2 Die vielfältige Bedeutung von kosmos blieb j e d o c h erhalten und macht sich auch bei Thukydides bemerkbar. Dort wo Thukydides den Begriff dem spartanischen Heerführer Brasidas in den Mund legt (4, 126, 6: κ ό σ μ ω κ α ι τ ά ξ ε ι α ύ θ ι ς ύ π α γ α γ ό ν τ ε ς ) , ist er - wie auch sonst öfters - in erster Linie militärisch verwendet. In der Rede des A r c h i d a m o s (2, I I , 9) figuriert er einerseits zusammen mit φ υ λ α κ ή als Ordnungsbegriff ( έ π ε σ θ ε ό π η ά ν τ ι ς ή γ ή τ α ι , κ ό σ μ ο ν κ α ι φ υ λ α κ ή ν π ε ρ ί π α ν τ ό ς π ο ι ο ύ μ ε ν ο ι ) , andererseits als übergeordneter Orientierungsrahmen für die Bundesgenossen ( κ ά λ λ ι σ τ ο ν γάρ τόδε και ά σ φ α λ έ σ τ α τ ο ν π ο λ λ ο ύ ς ό ν τ α ς ε ν ι κ ό σ μ ω χ ρ ω μ έ ν ο υ ς φ α ' ι ν ε σ θ α ι ) , ohne damit aber eine spezifische Umschreibung des spartanischen Staates zum Ausdruck zu bringen. 4 j Im Z u s a m m e n h a n g mit kosmos gewinnt in Sparta auch das von Pausanias (3, 16, 6) erwähnte G r a b des Eukosmos, des Sohnes des Lykurg, an Bedeutung. Eine alte Überlieferung zu Lykurg existierte freilich nicht, und bei Plutarch (Lyk. 3 1 , 8 ) heißt Lykurgs einziger Sohn Antioros. Darüber hinaus war die Genealogie des Lykurg schon im 5. Jh. umstritten. Bei Simonides war Lykurg noch Bruder des Eunomos, während er im 4. Jh. allgemein als dessen Sohn galt (Plut. Lyk. 1, 4; 3, 1; 4). 4 4 Es ist daher zu vermuten, daß anläßlich dieser Umbildung auch der N a m e Eukosmos als Sohn des Lykurg erfunden wurde. 4 3 Der Ausdruck ,eu38 39 40 41 42 43 44
45
Kerschensteiner 1962, 14. Kerschensteiner 1962, 14 Anm. 3. Kranz 1938, bes. 431; vgl. Diller 1956, bes. 52ff.; Kerschensteiner 1962, 5ff.; Lexikon des frühgriechischen Epos, Bd. 2, 1982, 1500ff. s. v. Kosmos (M. Schmidt). J. Oehler, RE 11, 1922, 1495ff. s. v. Kosmoi; Willetts 1955, 28f.; 103ff.; Link 1994a, 9 7 f f . Dazu Kahn 1960. Vgl. Kerschensteiner 1962. 13 Anm. 1. Meyer 1892. 275t'.: U. Kahrstedt, RE 13, 1927, 2442f. s. v. Lykurgos; Norvin 1940, 88tT. Ephoros versuchte. die unterschiedlichen Versionen über den Ursprung von Lykurgs Werk (Kreta - Delphi), anzugleichen (dazu Meyer 1892, 269; 282); ferner setzte er - wie später auch Cicero (rep. 2, 58) - die kretischen Kosmen mit den spartanischen Ephoren gleich (Strab. 10, 4, 18). Vgl. dazu Gilbert 1872, 115.
Der Spartanische
133
Kosmos und sein , Feldlager'
k o s m o s ' war schon von Solon her als Folge der , E u n o m i a ' bekannt (frg. 3, 32: ε ύ ν ο μ ί α εύκοσμα
δ'
κ α ι ά ρ τ ι α π ά ν τ ' ά π ο π α ' ι ν ε ι ) 4 6 und daher f ü r eine Personalisierung prädesti-
niert. Im Z u s a m m e n h a n g mit Sparta taucht er erstmals in der Rede des A r c h i d a m o s bei T h u kydides (1, 84, 3) auf und z w a r als G r u n d l a g e f ü r die T a p f e r k e i t und weisen R a t s c h l ä g e der Spartaner. Es ist j e d o c h nicht zuläßig, daraus die idealtypische B e z e i c h n u n g des spartanischen G e m e i n w e s e n s als kosmos
abzuleiten. 4 7
Für die V e r w e n d u n g des Begriffs kosmos
im Kontext von Sparta gibt es neben der H e r o -
d o t - P a s s a g e über die lykurgische O r d n u n g noch eine weitere Schlüsselstelle. Bei Plutarch (Lyk. 29, 1) wird die lykurgische O r d n u n g mit der göttlichen S c h ö p f u n g des kosmos,
wie sie
Piaton formulierte, verglichen. Plutarchs Passage stützt sich g e m ä ß E. Kessler auf den Kallimachos-Schüler H e r m i p p o s , der seinerseits möglicherweise Aristoteles benutzte. 4 8 U n a b hängig davon läßt sich j e d e n f a l l s vermuten, daß die e n t s c h e i d e n d e E t a p p e in der V e r e h r u n g des spartanischen Staates als kosmos
erst im 4. Jh. einsetzte, als der Begriff in Piatons Ti-
maios „seine V o l l e n d u n g erfährt" 4 9 und Aristoteles (pol. 1265b—1266a) die aus allen V e r f a s sungen g e m i s c h t e Staatsform έ κ
πλειόνων
συγκειμένη
πολιτεία
propagiert, wie sie
von einigen gerade in Sparta erkannt w u r d e . Doch in dieser Zeit war Spartas Stern bereits am Sinken, und es blieb der späteren Sparta-Rezeption des 20. Jh. überlassen, das klassische Sparta als kosmos
zu bezeichnen.
3. Feldlager Das Bild der Stadt als p e r m a n e n t e s . F e l d l a g e r ' ( σ τ ρ α τ ό π ε δ ο ν ) ist schon zu Beginn des 19. Jh. idealtypisch auf Sparta übertragen w o r d e n . Mit einem , L a g e r l e b e n ' in Sparta rechneten schon J. C. F. M a n s o 5 0 und Κ. O. Müller 5 1 und auch E. Curtius, 5 2 J. Burckhardt, 5 3 G. Busolt 5 4 und U. Kahrstedt 5 5 schloßen sich dieser Sicht an. Pauschale Vorstellungen v e r b a n d e n sich d e m e n t s p r e c h e n d auch mit dem g e m e i n s a m e n Übernachten der spartanischen Bürger. N . Fustel de C o u l a n g e s war d e m g e g e n ü b e r noch der M e i n u n g , d a ß die Spartaner neben d e r „ c a s e r n e " der J u n g m a n n s c h a f t ein Privatleben besaßen, in das sich der Staat nicht einmischte. ' b H. Berve vertrat dann explizit die - schon von K. 0 . Müller 3 7 v o r g e b r a c h t e - A u f f a s 46 47 48 49
Zur V e r w e n d u n g von .kosmos' vgl. frg. 1 , 1 1 . So aber Bodin 1937, 23 Anm. 1; anders Kerschensteiner 1962, 14 Anm. 3. Kessler 1910. 106: 112. Kerschensteiner 1962. 233: vgl. H o f f m a n n 1996. I9ff. Bei Plato (nom. 736I-.) ist ferner auch der Ausdruck κ ό σ μ ο ς π ο λ ι τ ι κ ό ς f'aßbar.
50 51
Manso 1800, Bd. 1,1, I86f.; vgl. auch de Pauw 1793, 236: ..barracks"; 259: „military academy". Müller 1824. 251. Die Stelle Dion. Hal. 19, 1, 2 ist freilich zu Unrecht herangezogen, da hier ein konkretes Militärlager zur Zeit der Messenischen Kriege bezeichnet wird. Curtius 1887, 183: „Lagerleben"; 184: „wie ein großer Exercierplatz". Burckhardt 1898. 115: „sein Staat ist der eines Lagers." Busolt/Swoboda 1926, 644; 660: ..Standlager"; 699: .Heerlager'. Kahrstedt 1922, 300: .Prinzip der militärischen Gemeinschaft, des Lagerlebens'. Kustel de Coulanges 1891. 74: 78; 81f. Auch Müller 1824. 280 verwies grundsätzlich auf ein vom Staat getrenntes Familienleben. Müller 1824, 284; vgl. auch Busolt/Swoboda 1926, 656; 700.
52 53 54 55 56 57
134
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sung, daß die unter Dreißigjährigen Spartiaten „dem häuslichen Leben entzogen" waren und sprach ebenfalls - wenn auch vorsichtig - von „Kasernierung". 58 In der Folge fanden seit dem Zweiten Weltkrieg die Schlagworte von einem „barrack-life", 59 „bewaffneten Feldlager" und „Kasernenleben" 60 allgemeine Verbreitung und werden bis heute als Grundcharakteristikum des spartanischen Lebens angesehen. Der Hintergrund der antiken Nachrichten ist dabei verlorengegangen. Wie der Begriff kosmos ist auch die Auffassung vom ,Feldlager' (στρατόπεδον) in der Antike nur ansatzweise faßbar. Er geht auf die entsprechende Umschreibung der spartanischen Verfassung durch Piaton und Isokrates zurück: Sparta habe „eine Verfassung, wie sie einem Heerlager angeglichen ist" (Plat. nom. 666E: στρατοπέδου π ο λ ι τ ε ι α ν έ χ ε τ ε άλλ ούκ έν άστεσι κ α τ ω κ η κ ό τ ω ν ) ; die Polis sei „ähnlich einem Heerlager" eingerichtet (Isokr. Archid. 81: π ο λ ι τ ε ι α ν όμο'ιαν στρατοπέδφ); eine Sicht, die wiederum auch von Plutarch (Lyk. 24, 1: οίον έν σ τ ρ α τ ο π έ δ φ τ η π ό λ ε ι ) aufgegriffen wurde. Es handelte sich dabei um eine Grundauffassung über das spartanische Gemeinwesen, das mit demjenigen von Athen kontrastiert wurde. Der Unterschied wurde darin gesehen, daß in Sparta auch im normalen bürgerlichen Leben autoritäre Befehlsformen herrschten bzw. wirkliche Mitspräche und Beteiligung an der Macht fehlten, wie auch Plutarch (Lyk. 30) zum Ausdruck gibt. Konkrete Wohnformen waren mit dieser Sicht Spartas nicht verbunden, so daß diese auf andere Weise erschlossen werden müssen. Plutarch berichtet, daß die Spartiaten nach der Heirat zunächst immer noch mit ihren Kameraden übernachteten (Lyk. 15)61 und bis zum dreißigsten Altersjahr von Verwandten und ,erastai' versorgt wurden (25, 1). Neben den Frischverheirateten ist das gemeinsame Übernachten freilich nur für Jünglinge ab 12 Jahren belegt (Plut. Lyk. 16, 6f.; mor. 237B: ν έ ο ι ) 6 2 bzw. sogar erst mit 14 Jahren anzusetzen. 6j Wie ebenfalls aus Plutarch (Lyk. 12, 7)64 hervorgeht, dienten die Unterkünfte, in denen die Gemeinschaftsmahlzeiten stattfanden, grundsätzlich nicht zum Übernachten, sondern die Spartaner kehrten nach Hause zurück. Dementsprechend haben wir in Sparta durchaus mit einem geregelten Familienleben in eigenen Haushalten zu rechnen, das mit einem Feldlager nichts zu tun hat.
4. Syskenien Trotz der fehlenden Details über die Eß- und Schlafunterkünfte ist es in der modernen Literatur immer wieder unternommen worden, aus der Bezeichnung der ,Syskenien', die auf Gemeinschaftsmahle in Zelten hinweist, ein allgemeingültiges Charakteristikum des sparta-
58 59 60 61 62 63 64
Berve 1937, 42; Berve 1931, 205: ,Lagerdasein\ Den Boer 1954, 245; zuletzt Cartledge 2001, 15: ,military-style barracks'; 165: ,armed camp". Finley 1976, 61; vgl. Kiechle 1963, 248; Link 1994b, 49. Dies stellt eine Zuspitzung des nur gelegentlichen Brautbesuchs bei Xen. Lak. pol. 1, 5 dar. Vgl. Gilbert 1881, 68; Fustel de Coulanges 1891, 77. Kenneil 1995, 34f. hat die Altersgrenze 12 als Erfindung Plutarchs bezeichnet und setzt die agoge der hellenistischen Zeit mit 14 an; vgl. auch schon Busolt/Swoboda 1926, 695ff. Vgl. Xen. Lak. pol. 5, 7.
Der Spartanische Kosmos und sein , Feldlager'
135
nischen Lebens abzuleiten. Bereits Schiller folgte der A n g a b e bei Plutarch (Lyk. 12, 2), daß j e w e i l s 15 Spartiaten eine M a h l g e m e i n s c h a f t (griech. , S y s s i t i o n ' ) bildeten - w o b e i diese in Sparta , P h i d i t i o n ' genannt worden sei. 6 5 J. C. F. M a n s o nahm d e m e n t s p r e c h e n d - wie viele Spätere - eine , Z e l t g r ö ß e ' von 15 M a n n an, so d a ß man bei einer Zahl von 9 0 0 0 Bürgern für das ,lykurgische' Sparta (Plut. Lyk. 8, 3) auf 6 0 0 U n t e r k ü n f t e k o m m t . 6 6 D a D e m e t r i o s von Skepsis (Athen. 4, 173F) und P o l e m o n (Athen. 2, 3 9 C ) A n f a n g des 2. Jh. v. Chr. an der hyakinthischen Straße nach Amyklai (vgl. Paus. 7, 1 , 8 ) P h i d i t i a - G e b ä u d e e r w ä h n e n , rechneten sowohl M a n s o 6 7 als auch B i e l s c h o w s k y in seiner U n t e r s u c h u n g ü b e r die Syssitien 6 8 f ü r das klassische Sparta aber nicht mit mobilen Zelten, sondern mit festen U n t e r k ü n f t e n . Dies wird auch durch die von Plutarch (Lyk. 12,8; mor. 6 9 7 E ) im R a h m e n der Syssitien e r w ä h n ten Türen gestützt, durch die angeblich kein W o r t hinausdringen durfte. D e m g e g e n ü b e r gingen G. Gilbert 6 9 und G. Busolt 7 0 am Ende des 19. Jh. wieder davon aus, daß die spartanischen U n t e r k ü n f t e typischerweise aus Zelten bestanden und v e r b a n d e n diese V o r s t e l l u n g mit der A u f f a s s u n g v o m , K r i e g s l a g e r ' und einer entsprechend militarisierten G e s e l l s c h a f t . Über die g e n a u e Form der Syssitien-Unterkunft bleiben wir freilich weiterhin im U n g e wissen, da die literarischen Quellen dazu nicht g e n ü g e n d A u f s c h l ü s s e geben. 7 1 Die Vorstellung von G e m e i n s c h a f t s m a h l e n in Zelten stützt sich hauptsächlich auf X e n o p h o n . Dieser sagt, daß die , S y s k e n i e n ' von Lykurg ins Freie verlegt w o r d e n sind (Lak. pol. 5, 2: ε ι ς
τό
φ α ν ε ρ ό ν ε ξ ή γ α γ ε τ ά σ υ σ κ ή ν ι α ) ; 7 2 ferner sollen die Könige in Sparta g e m e i n s a m in einem eigenen Syskenion gespiesen haben (Hell. 5, 3, 20). Ein spezielles Zelt w u r d e ihnen schließlich von der Öffentlichkeit für die Feldzüge zur V e r f ü g u n g gestellt (Lak. pol. 13, 7; 15, 4: δ α μ ο σ ' ι α σ κ η ν ή ) . Für die Situation in Sparta selbst ergibt sich daraus wenig, so d a ß wir hier w i e d e r u m auf Plutarch angewiesen sind. Kapitel 2 4 der Lykurg-Biographie, in dem Plutarch die Sicht v o m Feldlager wiedergibt, d ü r f t e direkt o d e r indirekt von Sphairos a b h ä n g i g sein, 7 j der sich nach der Mitte des 3. Jh. an den R e f o r m b e m ü h u n g e n des K l e o m e n e s beteiligte. Dabei ging es u. a. um die W i e d e r e i n s e t z u n g der Syssitien, f u r die jetzt m ö g l i c h e r w e i s e auch hinsichtlich der U n t e r k ü n f t e e i n f a c h e Formen geltend g e m a c h t wurden. Inwieweit nun wieder urtümliche Formen von SyssitienG e b ä u d e n eingerichtet wurden, m u ß aber o f f e n b l e i b e n . Plutarch (Agis 8) berichtet in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g , daß schon K l e o m e n e s ' V o r g ä n g e r , K ö n i g Agis IV., die B ü r g e r s c h a f t in 15 ,Phiditia' (zu j e 4 0 0 und 2 0 0 Mitgliedern) teilen wollte, w a s also weit über der ursprünglichen G r ö ß e der S p e i s e g e m e i n s c h a f t e n liegen würde. N a c h A. B i e l s c h o w s k y s - allzu kühn e r - E m e n d a t i o n wären im Schnitt j e 3 0 0 M a n n in 15 Phiditien zugeteilt w o r d e n , so daß man auf die von Plutarch an gleicher Stelle genannte Zahl von insgesamt 4 5 0 0 Spartiaten
65 66 67 68 69 70 71
Schiller 1790. 808 (= in: Christ 1986. 76). Manso 1800. Bd. 1,1, 156; 1,2, 190; vgl. Bielschowsky 1869, 22f. Manso 1800. Bd. 1,2. I90f. Bielschowsky 1869. 22f. Vgl. auch Michell 1964, 287. Gilbert 1881. 73. vgl. 66: „ K r i e g s l a g e r . Busoll 1893. 543: ..Man speiste wahrscheinlich in Lagerzelten an der hyakinthischen Straße." Vgl. die Diskussion bei Lavrencic 1993. ]03ff."Nafissi 1991, 321 zieht auch die von Pausanias (3, 14, 2; 15. 8) beschriebenen Leschen in Betracht. Nach Link 1998, 95 „fand eine j e d e Mahlgenossenschaft in einem eigenen kleinen Haus zusammen·'.
72 73
Dazu Rebenich 1998, 108f. ad loc. Kessler 1910, 111; Tigerstedt 1974, 68ff.
Lukas
136
Thommen
käme. 7 4 E. Kessler vermutet d a r ü b e r hinaus, d a ß aus diesen 15 Phiditien die Zahl der 15 T i s c h m i t g l i e d e r unter Lykurg abgeleitet wurde. 7 5 Die Zahl 15 könnte freilich auch von der vermeintlich ,lykurgischen' Zahl der 15 M a h l m i t g l i e d e r herrühren, 7 6 wobei die S u m m e von 6 0 0 ( , 4 0 0 und 2 0 0 ' ) T e i l n e h m e r n pro S p e i s e g e m e i n s c h a f t bei Plutarch die mit L y k u r g verb u n d e n e n 9 0 0 0 Spartiaten ergäbe. 7 7 Wir haben hier also ein weiteres Kapitel ü b e r die K o n struktion des lykurgischen Sparta vor uns, das aber f ü r das f r ü h e Sparta keine A u f s c h l ü s s e gibt.
5. Blutsuppe Die V o r s t e l l u n g von der , S c h w a r z e n S u p p e ' b z w . , B l u t s u p p e ' als spartanisches Gericht hat sich seit der früheren N e u z e i t in E u r o p a erhalten 7 8 und ist in der deutschen Literatur schon bei Schiller zu finden. 7 9 J. C. F. M a n s o bezeichnete die S u p p e d e m g e g e n ü b e r a u f g r u n d von A t h e n a i o s (4, 141B) noch als „ S a u c e " , die als „ Z u k o s t " zum Gerstenbrot und S c h w e i n e fleisch verwendet wurde. 8 0 Da die , S c h w a r z e S u p p e ' in den Quellen des 7. Jh. noch fehlt, hat V. E h r e n b e r g 1933 die „Pflicht" zu dieser Speise w i e d e r u m einer R e f o r m des 6. Jh. z u g e schrieben. 8 1 V o r E h r e n b e r g hatten schon Κ. O. Müller, 8 2 G. Gilbert 8 ^ und G. Busolt 8 4 die , S c h w a r z e S u p p e ' als ,tägliches H a u p t g e r i c h t ' der Spartaner bezeichnet - einem Urteil d e m auch die j ü n g s t e U n t e r s u c h u n g von M. Lavrencic folgt. 8 5 Die m o d e r n e F o r s c h u n g erliegt freilich auch in diesem Fall einem antiken T o p o s , der die spartanische L e b e n s w e i s e überzeichnete. D a ß die Speise im archaischen Sparta - seit dem vermeintlichen G e s e t z g e b e r Lykurg - nicht aus , B l u t s u p p e ' bestand, hat M. Nafissi kürzlich ausführlich n a c h g e w i e s e n . 8 6
74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85
86
Bielschowsky 1869, 29f.; dazu Michell 1964, 295f.; Marasco 1981, 252f. ad loc. Kessler 1910, 52. A u f g r u n d von Herodot 1, 65 wäre zu vermuten, daß im Heer zwei Syssitien eine Triakade ergaben (Kalirstedt 1922, 299f.). Vgl. zu dieser Diskussion Manfredini/Piccirilli 1990. 247f. ad loc.; Hodkinson 2000, 70 ff. Rawson 1969, 187f.; 250. Schiller 1790. 808 (= in: Christ 1986, 76). Manso 1800, Bd. 1,2, 192 mit Anm. i.; vgl. auch Fustel de Coulanges 1891, 88f., der d a r a u f h i n w i e s , daß die Blutsuppe nur den A n f a n g des Mahls darstellte. Ehrenberg 1933, 202; 220. Müller 1824, 275: „bei den Pheiditien die hauptsächlichste Fleischspeise". Gilbert 1881, 72. Busolt 1893, 542 Anm. 5; Busolt/Swoboda 1926, 699 Anm. 5. Etwas vorsichtiger Burckhardt 1898, 114. Lavrencic 1993. 69; vgl. auch Link 1994b, 61; Link 1998. lOOf. bezeichnet die Blutsuppe als N a c h tisch (epaiklon) von .ärmeren' Syssitien, glaubt aber zugleich, den Nachtisch mit dem Hauptmahl der Spartaner gleichsetzen zu müssen. Nafissi 1991. 2 1 4 f f „ vgl. 183 Anm. 26.: zur klassischen Zeit Link 1998, 97ff.; Hodkinson 2000, 2 1 6 f „ 3 69 ff.
Der Spartanische Kosmos und sein , Feldlager'
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Die erste E r w ä h n u n g eines K o c h s f ü r die S u p p e ( ζ ω μ ο π ο ι ό ς ) ist in einem a n g e b l i c h e n A u s s p r u c h von K ö n i g K l e o m e n e s I. ( E n d e 6 . / A n f a n g 5. Jh.) überliefert (Plut. mor. 2 2 4 A ) , 8 7 der j e d o c h f ü r die Datierung keinen Anhaltspunkt liefert. Die von Plutarch tradierte A n e k d o te, w o n a c h Dionysios von Syrakus (mor. 2 3 6 F ; vgl. Cie. Tusc. 5, 9 8 ) bzw. ein pontischer K ö n i g (Lyk. 12, 7) einen spartanischen K o c h kauften, um in den G e n u ß der S u p p e zu k o m men - diese ihnen aber nicht g e s c h m e c k t habe, da sie zuvor nicht im Eurotas g e b a d e t hätten - , kann nicht als Beweis f ü r die Existenz eines .Nationalgerichts' in klassischer Zeit ang e f ü h r t w e r d e n . 8 8 Die Ü b e r t r a g u n g derselben G e s c h i c h t e auf zwei unterschiedliche P e r s o n e n spricht gegen ihre historische Zuverlässigkeit. In Blut g e k o c h t e s Fleisch hatte in G r i e c h e n l a n d eine lange Tradition; Speisen, die d e r , S c h w a r z e n S u p p e ' ähnlich waren, wurden an verschiedenen Orten zubereitet 8 9 (und müssen auch nicht a priori schlecht g e s c h m e c k t haben). Das spartanische Gericht der . S c h w a r z e n S u p p e ' taucht in den Quellen j e d o c h erst seit dem 2. Jh. n. Chr. auf (Poll. 6, 57: α ι μ α τ ν α ; Plut. Lyk. 12. 6; Kleom. 13, 3; mor. 236F: μ έ λ α ς ζ ω μ ό ς ; vgl. mor. 2 1 8 C : ζ ω μ ό ς ; Hesych s. ν. β α φ ά u. β α φ ή ; Athen. 4, 140A; 141B; 1 4 2 E - 1 4 3 A : δ ω μ ό ς bzw. ζ ω μ ό ς , wobei sich Athenaios aber sowohl auf die attischen K o m ö d i e n d i c h t e r Epilykos (frg. 3) und A n t i p h a n e s als auch auf den Aristoteles-Schüler Dikaiarch und den Historiker Phylarch stützt. Damit ist die spartanische Suppe zumindest f ü r das 4. Jh. belegt. In Athen ist die . S c h w a r z e S u p p e ' e b e n f a l l s erst f ü r das 4. Jh. nachweisbar, w o sie wohl in b e w u ß t e r A n l e h n u n g an Sparta n a c h g e a h m t w u r d e (Athen. 4, 136E; 9, 3 7 9 E ) . Daher läßt sich vermuten, daß sie den , L a k o nisten' des 5. Jh. noch nicht als typischer A u s d r u c k spartanischer L e b e n s w e i s e bekannt war. Die H e r v o r h e b u n g des Gerichts gehört damit wohl zunächst in den P r o z e ß der Ü b e r h ö h u n g spartanischer L e b e n s f o r m e n , wie er sich im A n s c h l u ß an den P e l o p o n n e s i s c h e n Krieg verstärkt b e m e r k b a r m a c h t e . ' 0 Phylarch bezeugt, d a ß die S u p p e und Fleischstücke unter K ö n i g K l e o m e n e s in Sparta zu den n o r m a l e n Phiditien gehörten (Athen. 4, 142E). K l e o m e n e s m u ß t e nach der Mitte des 3. Jh. die G e m e i n s c h a f t s m ä h l e r freilich zuerst wieder neu einrichten (Plut. K l e o m . 11; A t h e n . 4, 1 4 1 F - 1 4 2 A ) , wobei ihm der Philosoph Sphairos - auf den sich Plutarch im f o l g e n d e n wohl stützt 9 1 - behilflich war. Es ist daher zu vermuten, daß j e t z t der Z e i t p u n k t g e k o m m e n war, von spartanischer Seite die - vor dem 4. Jh. nicht zu b e l e g e n d e - Blutsuppe neu und als typische, hergebrachte Speise zu propagieren. Ein Hinweis darauf könnte sich w i e d e r u m in der auch bei Plutarch ( K l e o m . 13) überlieferten A n e k d o t e verbergen, in der K l e o m e n e s die alltägliche , S c h w a r z e S u p p e ' zur B e w i r t u n g von F r e m d e n für allzu karg hält. H a u p t n a h rungsmittel d ü r f t e freilich nach wie vor G e t r e i d e gewesen sein, das durch Wein und Käse ergänzt wurde, wie dies j e d e n f a l l s der Bericht Plutarchs (Lyk. 12) nahelegt. Die V o r s t e l l u n g von der B l u t s u p p e hat aber schon in der A n t i k e eine a n g e m e s s e n e Sicht auf den alltäglichen Speisezettel Spartas verstellt.
87
Auch die Erwähnung eines lakonischen Mahles im Z u s a m m e n h a n g mit dem Plataiai-Sieger Pausanias bei Herodot (9, 82; vgl. Athen. 4, I 3 8 C - D ; 12, 518E) liefert keinen Hinweis auf die , S c h w a r z e S u p p e ' , sondern bildet nur einen Gegensatz zu den üppigen Mahlzeiten der Meder.
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So etwa Jones 1967. 36. Lavrencic 1993, 67f. Vgl. dazu Rawson 1969, 33ff. Kessler 1910, 108; Tigerstedt 1974, 68ff.
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Ergebnis Z u s a m m e n f a s s e n d ist festzustellen, daß die für Sparta als typisch und altüberliefert erachteten Ausdrücke vom kosmos bzw. .Feldlager' der g l e i c h g e s t e l l t e n ' Spartiaten, in dessen ,Zelten' gemeinschaftlich die .Schwarze S u p p e ' eingenommen wurde, im Rahmen von propagandistischen Bemühungen verbreitet wurden und für das archaische Sparta keinen Aussagewert haben. Dennoch ist ihre Entstehungsgeschichte unterschiedlich. Die Gleichheitsideologie wurde - in Rückgriff auf ältere adlige Gleichheitsbestrebungen - anläßlich der Integrationsbemühungen für die im 5. Jh. aus dem Gleichgewicht geratene Bürgerschaft propagiert und erhielt durch die Reformansätze des Agis und Kleomenes im 3. Jh. neuen Auftrieb. Im Rahmen dieser Reformbemühungen wurde auch das nach Altersklassen eingeteilte Erziehungssystem der agoge entwickelt und gleichzeitig ein Bild von urtümlichen, restriktiven spartanischen Einrichtungen, darunter die Syssitien und die bei ihnen e i n g e n o m m e n e Blutsuppe, gezeichnet. Dieses Bild war freilich teilweise schon zuvor auch von außen - insbesondere von demokratiefeindlichen Kreisen in Athen - an Sparta herangetragen worden. Die Ü b e r h ö h u n g spartanischer Institutionen und Lebensweisen hatte bereits im 5. Jh. eingesetzt, als Sparta mit neuen Normen gegen Zerfallserscheinungen im Gemeinwesen antrat und ohne inneren U m sturz als Sieger aus dem Peloponnesischen Krieg hervorging. Im 4. Jh. spielte dann die Vorstellung vom ,Feldlager' und umfassend regulierten spartanischen kosmos eine wichtige Rolle. Während das ,Feldlager' mit der athenischen Demokratie kontrastierte, verband sich die Vorstellung vom kosmos wesentlich mit Piatons idealem Welt- und Ordnungsmodell. Die seit dieser Zeit überzeichneten Bilder von Sparta blieben auch in der Neuzeit erhalten und wurden in der modernen Forschung in unterschiedlicher Färbung weitertradiert. Dies betrifft insbesondere die agoge und das ,Lagerleben' am Eurotas, verbunden mit der gemeinsamen Speise der ,Schwarzen S u p p e ' . Etwas mehr Skepsis wurde dem Begriff homoioi entgegengebracht, den V. Ehrenberg j e d o c h als Grundkonzept für das 6. Jh. vereinnahmte. Auf ihn ist es auch zurückzuführen, daß der Begriff des kosmos nach wenig spezifischen Vorstufen 1925 idealtypisch in Umlauf gebracht wurde, wobei Ehrenberg kosmos zur Zeit des Dritten Reiches vorübergehend durch den t o t a l i t ä r e n Staat' ersetzte. Ehrenberg, der ansonsten - gerade auch aus begriffsgeschichtlicher Perspektive - viel für das Verständnis des frühen Sparta beitrug, 9 2 hatte in dieser Hinsicht eine eher kontraproduktive Wirkung. - Die Erhellung der mit der spartanischen Lebensordnung verbundenen Idealbegriffe stellt den Altertumswissenschaften jedenfalls weiterhin schwierige Aufgaben. Sie kann uns aber davor bewahren, althergebrachten Cliches über das archaische Sparta aufzusitzen.
92
Vgl. insbes. die beiden Aufsätze: Spartiaten und Lakedaimonier (Ehrenberg 1924); Der Damos im archaischen Sparta (Ehrenberg 1933).
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Kosmos und sein ,
Feldlager'
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ENTWICKLUNGEN IN GRIECHENLAND
Erich Kistler
,Kampf der Mentalitäten': Ian Morris' ,Elitist-' versus ,Middling-Ideology'?'
Einleitung In der jüngsten Vergangenheit haben der radikale Konstruktivismus der Postmoderne und die interkulturellen Diskurse in einer zunehmend globalen Ö f f e n t l i c h k e i t ' den Glauben an das ,klassische' Menschenbild stark erschüttert. Eine ,Klassische Archäologie' 2 als Wissenschaft, die hilft, die griechisch-römische Antike als Vorbild und Maßstab für die Gegenwart zu konstruieren und zu propagieren^ macht daher keinen zeitgemäßen Sinn mehr. 4 Um den Altertumswissenschaften aus dieser Modernisierungskrise herauszuhelfen, insbesondere der ,Klassischen Archäologie', schlägt Ian Morris in seiner „Archaeology as Cultural History" zwei Strategien vor: erstens, die Griechen von Außen her betrachten zu lernen, um das Griechentum so auszulegen, wie Ethnologen fremde Völker in der Gegenwart studieren 5 - zweitens, sich von einem historisch-anthropologischen Erkenntnisinteresse 6 leiten zu lassen, das von brennenden Fragen gegenwärtiger menschlicher Existenz entzündet wird.
1
Der Beitrag w u r d e aufgrund der Diskussion (im R a h m e n des W o r k s h o p s vom 8 . - 1 0 . N o v e m b e r 2001 in Innsbruck) weitgehend überarbeitet. Für Lektüre und Diskussion einer früheren Fassung gilt mein Dank S. Buzzi, C. Isler-Kerenyi, A. Stähli und Ch. Ulf. Die Literaturangaben können nur weiterführend, aber nicht umfassend sein.
2 3 4
Zur E i n f u h r u n g dieser Bezeichnung der Archäologie durch A. Conze siehe Stähli 2001. Stähli 2001; Borbein u. a. 2000, 8 und 14-16. Grundsätzlich z u m Problem der klassizistischen Sichtweise auf das Griechen- und Römertum und des damit verbundenen westlichen Geschichtsdenkens vgl. Rüsen 1999, 13-28. Morris 2000, 18-20, insbesondere auch 31. Siehe auch Borbein u. a. 2000, 16. Zu den verschiedenen Stationen der A n n ä h e r u n g der beiden Fachdisziplinen ,Socialanthropology' und ,History' im angelsächsischen Raum vgl. Schnepel 1999.
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Im folgenden Beitrag sollen erstens Morris' Leitideen zu seiner Kulturanthropologie 7 kurz beschrieben werden, die er in den letzten Jahren in verschiedenen Essays vorgestellt und jüngst zu einem Buch vereint hat unter dem programmatischen Titel: „Archaeology as Cultural History. Words and Things in Iron Age Greece". 8 Zweitens sollen anschließend Morris' Mikro- und Makroarchäologien zum ,Fürstengrab' im Heroon von Lefkandi und zur Inhumation im spätgeometrischen Athen kritisch beleuchtet werden, um das problematische Vorherrschen methodischer Zwänge in seiner Kulturanthropologie sichtbar zu machen. Das wird schließlich zur Konsequenz haben, daß die von Morris entwickelten ,long terms', die ,middling-ideology' und die ,elitist-ideology', neu und schärfer zu durchdenken sind. Drittens soll abschließend ein kurze archäologische Fallstudie zum Phänomen von Thronenden und Symposiasten in der ionisch-archaischen Monumentalplastik des 6. Jhs. v. Chr. aufzeigen, daß Morris' Interpretationsraster, ,elitist- versus middling-ideology', bei allen Einwänden, die es zu bedenken gilt, durchaus auch eine adäquatere Sichtweise auf gewisse archäologische Probleme erlaubt als bisherige Studien.
I. Morris' Leitideen und Hauptthesen zu einem eisenzeitlichen Griechenland nach kulturanthropologischem Muster In Anbetracht des kürzlich gefeierten 2500-Jahr-Jubiläums der Kleisthenischen Reformen und angesichts der jüngsten Ereignisgeschichte - nämlich der Durchsetzung der liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts auch in ehemals totalitären Staaten während der letzten 10 Jahre - lautet für Morris diese gegenwartsbezogene Grundfrage: „What ideas of equality made the institutions of democracy possible?" 9 Antworten darauf erhofft sich Morris von einem Rückblick auf die Lebensweise, Mentalitäten und Sentimentalitäten, die in verschiedenen poleis des klassischen Griechenlands zur Einrichtung der Demokratie geführt haben sollen. Von einer solchen Mentalitätsgeschichte, die Formen und Muster griechischen Gleichheitsdenkens auslotet, erhofft sich Morris eine klarere Sicht auf Wesen und Strukturen der Demokratien von heute 10 und dadurch die erneute Legitimation der Altertumswissenschaften in einer postmodernen Gegenwart.
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Unter dem Begriff ,Kulturanthropologie' wird im folgenden subsumiert, was in den U S A „Cultural Anthropology", in Frankreich „L'histoire de mentalite", in England „Socialanthropology" und im deutschsprachigen Raum in jüngster Zeit „Historische Anthropologie" genannt wird. Vgl. hierzu Schlesier 2001, 49f. Morris 2000. In diesem Buch fügt Morris auf dem methodischen Gerüst der Kulturanthropologie zu einem Ganzen zusammen, was er früher bereits artikelweise vorgestellt hatte: Morris 1999a, Morris 1997 a und b, Morris 1996, Morris 1995 und Morris 1994. Morris 2000, 31. Morris 2000, 32, 110, 310.
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Ausgehend von Robert Dahls Egalitätsbegriff 11 postuliert Morris vier Entwicklungsschritte in Richtung eines Gleichheitsdenkens, welche die Einrichtung der Demokratie im klassischen Athen vorbedingt haben sollen 12 : 1. Während des 8. Jhs. v. Chr. kam es im ägäischen Raum zu massiven sozialen Veränderungen, verursacht durch die Gründung von Gesellschaftsverbänden als einer Gemeinschaft von Männern der >Mitte< (bzw. von ,middling men'). 2. Nicht jedermann gefiel dies. Jene, die sich nicht in eine solche nach innen zentrierte Gemeinschaft der >Mitte< einfügen wollten, wandten sich nach außen einer internationalen' Aristokratie zu, die sich besonders mit den Göttern, Heroen und mit dem Osten verbunden fühlte, woraus die ,e!itist-ideology' als Gegenpol zum ,middling' resultierte. 3. Die Sozialgeschichte der archaischen Epoche läßt sich am besten als ein lang andauernder Konflikt zwischen diesen beiden oppositionellen Weltsichten begreifen. 4. Mit dem mancherorts am Ende des 6. Jhs. n. Chr. einsetzenden Zerbröckeln der ,elitist-ideology' und einem dadurch gegebenen Dominieren der ,middlingideology' sei es an solchen Orten denkbar geworden, die Demokratie als Verfassungsordnung einzurichten. In verschiedenen Essays ,testet' Morris die vier vorgeschlagenen Entwicklungsschritte zum Egalitätsdenken im antiken Griechenland an literaturtheoretisch wie archäologisch gewonnenem Quellenmaterial. So versucht Morris zunächst in seinem Artikel ,Equality for Men' 1 3 anhand von Schriftzeugnissen aus dem 5. und 4. v. Chr. aufzuzeigen, daß das Denken und Handeln im Klassischen Athen von einer,middling-ideology' beherrscht gewesen sein soll. 14 Darunter versteht Morris letztlich eine normative Weltsicht des attischen Bürgers, die ihm ein ,mittelmäßiges' Rollenverhalten auferlegt habe, das eine politische und sozio-kulturelle ,Mitte' im Gesellschaftsgeflige zum Ziel gehabt haben soll. Abweichungen von dieser ,Mitte', wie etwa die Erklärung göttlicher bzw. heroischer Abkunft 15 oder die Gastfreundschaft mit orientalischen Potentaten, Aktivitäten also, die auf eine herausragende Stellung im Gemeinwesen abzielen, all diese würden von der Lebensgemeinschaft der ,middling men' mit entsprechenden Repressalien geahndet. 16 Die ,middling-ideology' scheint demnach ein normatives Prinzip zu sein, das alles politische und soziale Handeln im klassischen Athen auf diesen Weg der ,Mitte' lenkt 17 und so eine zumindest ideologische Gleichheit unter sozial Ungleichen zum Ziel hat.
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Morris 2000, 110-113. Morris 2000, 156f. Morris 2000, 109-154. Morris 2000, 109-154. Vgl. Morris 2000, 123: So sei beispielsweise der demonstrative Verweis auf außergewöhnliche Vorfahren nur dann politisch korrekt, wenn sich diese Vorfahren um die athenische Demokratie besonders verdient gemacht hätten, so wie Kleisthenes im Fall von Alkibiades.
16 17
Morris 2000, 119-145. Morris 2000, 109-119.
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In „Antithetical Cultures" 18 begründet Morris den 3. Entwicklungsschritt auf dem von ihm aufgezeigten Weg zu einem Gleichheitsdenken in Athen. Im Spiegel der frühgriechischen Dichtung versucht er plausibel zu machen, daß das später im demokratischen Athen dominierende Leitbild des .middling man' in archaischer Zeit lediglich eine Gegenideologie zu einer ebenso wirkungsvollen ,e 1 itist-ideology' dargestellt habe, die ganz auf persönliche Exklusivität ausgerichtet gewesen sei und einer Möchtegern-Elite das Ziel vorgegeben hätte, durch Luxusliebe, Orientalisierung und Heroisierung aus dem ,Mittelmäßigen' auszuscheren. Die Folge dieses Antagonismus zwischen ,elitist' und ,middling' während der Archaik sei die Aufsplitterung der damaligen Lebenswelt in zwei antithetische Kulturräume gewesen. Für Morris ist es die homerische Ilias, die am klarsten auf die ,elitist-ideology' blicken läßt. Geradezu als bäuerisch-handwerklichen Gegenpol zum Iliasdichter stuft er dagegen Hesiod ein. Seiner Ansicht nach repräsentiert sich der böotische Dichter in seinen Werken und Tagen gar als Inkarnation des .middling man': „Work and Days is the oldest example of a peculiarly central Greek conception of the good society as a community of middling farmers." 19 In dieser Bauerndichtung komme der soziokulturelle Referenzrahmen zum Vorschein, der das mentalitätsgeschichtliche Umfeld abstecke, in welchem die ,middling-ideology' ihren .natürlichen' Nährboden gehabt habe; das heißt, Morris piaziert den ,Sitz im Leben' der ,middling-ideology' im Handwerker- und Bauerntum mittlerer Grundbesitzer. Mögliche Beeinflussungen durch nahöstliche oder ägyptische Weisheitsliteratur zur Entwicklung des ,Middling'-Konzeptes sieht Morris bei Hesiod in keiner Weise gegeben. 2 0 Damit will Morris allerdings nicht behaupten, im gesamtorientalischen Raum gäbe es keine Formen egalitären Denkens oder Handelns, sondern allein, daß unabhängig davon „by 700 a distinctive egalitarian middling ideology and sense of manhood was emerging in the Aegean." 21 Auch nachfolgende Poeten würden in ihren Botschaften zwischen der .middling' und .elitist-ideology' oszillieren. So hätten auch Archilochos, Solon, Theognis und Phokylides in ihren Versen als das höchste Lebensideal das In-der-Mitte-Sein propagiert, welches das Reich- wie das Armsein ausschließen würde und infolgedessen auch mittleren Landbesitz zur Voraussetzung habe. Reichtum werde bei diesen frühen Elegikern zum Feind eines Lebens in der ,Mitte' erklärt, da dieser unweigerlich dazu verführe, immer noch mehr haben zu wollen - auch auf Kosten anderer! Reichtum verleite nämlich zu Luxusliebe, woraus Habgier entspringe, die Unrecht und hybris in ihrem Gefolge habe. In „The Past, the East, and the Hero of Lefkandi" 2 2 wird nach den Anfängen und den Entstehungsbedingungen der beiden kompetitiven, mentalen Kategorien gefragt. Antworten darauf findet Morris in den Elitegräber-Befunden des 10. Jhs. v. Chr. Denn über 250 solcher Gräber zeichnen seiner Ansicht nach das Bild einer bescheidenen, in sich stabilen und homogenen Elite, die in sich gekehrt sei, sich von der mykenischen Vergangenheit als Vorbild und Maßstab für die eigene Zeit gelöst und sich von der übrigen Mittelmeerwelt abgewandt
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Morris 2000, 155-191. Morris 2000, 166. Anders beispielsweise: West 1997, 306-333; Seybold/von Ungern-Sternberg 1993. Morris 2000, 168. Morris 2000, 195-256.
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habe. Dieses durchgängige Bild werde allerdings von einer Ausnahme durchbrochen: das ,Heroon' von Lefkandi. Der archäologische Befund dieses Fürstengrabes zeuge nämlich von Reichtum, Luxusliebe, heroischen Würden und engeren Kontakten mit dem Orient. Im ,Heroon' von Lefkandi manifestiere sich demzufolge der Widerstand eines einzelnen herausragenden Mannes gegen die rigiden, nach innen orientierten und normativen Bestattungsriten der großen Mehrheit in protogeometrischer Zeit. Insofern seien die Wurzeln zur ,middling' und ,elitist-ideology' eindeutig im spätprotogeometrischen Spannungsfeld zwischen dem Sepulkralbrauchtum des ,Fürsten' 2 3 von Lefkandi und jenem des Rests der griechischen Welt auszumachen. Morris kommt zum Schluß: „Creating an internally egalitarian ruling class by rejecting the east and the past was not an invention of classical Athenians or even of Hesiod: it went back to the beginning of the Iron Age. But between the tenth century and the sixth something happened to turn the Dark Age elite into the classical community of middling citiziens." 24 Damit ist zugleich auch die letzte Frage angeschnitten worden, die es in Morris' Kulturanthropologie zum frühen Griechenland noch zu beantworten gilt: Wann und unter welchen gesellschaftlichen Parametern und sozio-ökonomischen Katalysatoren kam es zur Ausweitung der ,middling-ideology' von einem ehemals egalitären Führungszirkel auf die breite Masse der .middling men' in den neuen Bürgergemeinschaften? Antwort hierauf gibt Morris in „Rethinking Time and Space": 25 Die Übertragung der ,middling-ideology' von der Elite auf die Bürgergemeinschaft - und daran gekoppelt im Gegenzug die Intensivierung der oppositionellen ,elitist-ideology' - habe sich zwischen 750 und 700 v. Chr. im Rahmen einer mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Revolution ereignet, für die Morris verschiedene, angeblich makroarchäologische Anzeichen nennt. 2 6 In einer anschließenden Mikro-Archäologie, die sich auf die Untersuchung der Bedeutung der Leichenverbrennung im Frühen Athen konzentriert, will Morris außerdem noch die Restriktionsmaßnahmen auf den Bestattungsbetrieb in der athenischen .Öffentlichkeit' aufdecken, welche die Erhebung der ,middling-ideology' zum neuen Leitbild einer sich konsolidierenden Bürgergemeinschaft für die Elite zur Folge gehabt habe. Zu diesem Zweck erläutert Morris zuallererst im Spiegel des hesiodeischen PrometheusMythos den Bedeutungssinn, mit dem die Verbrennung des Leichnams um 700 v. Chr. aufgeladen worden sei: „Cremation could evoke sacrificial access to gods ... and the heroes." 2 7 Insofern sei die Kremation ein Symbol, das eine scharfe Trennlinie zwischen Privilegierten und Nicht-Privilegierten ziehe. 28 Diese Sinngebung komme in Athen allerdings erst ab dem Zeitpunkt voll zum Tragen, als die Körperbestattung nach mehr als zehn Generationen wie-
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27 28
Zur Problematik des Begriffs ,Fürst' vgl. Kistier 2001, 219 mit Anm. 4. Morris 2000, 238. Morris 2000, 257-306. So z.B. das Verringern großer Distanzen im Seewesen durch das technologische Wunderwerk der .triremes' (Morris 2000, 257-261), die Nutzbarmachung der phönizischen Schrift zur Fixierung einer mündlich tradierten, heldenhaften Vorzeit (Morris 2000, 261-267), eine Kulmination homerischheroischer Bestattungsweise (Morris 2000, 267-273), die Massierung wertvoller und teils orientalischer Weihgeschenke in überregionalen Heiligtümern (Morris 2000, 273-280) und Geschlechtertrennung in einem sich differenzierenden Wohnbau (Morris 2000, 280-287). Morris 2000, 293. Morris 2000, 293.
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der als neuer Bestattungsritus eingeführt worden sei. Dabei gelte es insbesondere zu beachten, daß die viel weniger aufwendige, nahezu beigabenlose Inhumation als Manifest der zeitweise dominanten ,middling-ideology' aufzufassen sei. Nur, wie die Variabilität im Bestattungsritus innerhalb der Kerameikosnekropole offenbare, sei diese ,korrekte' Art des Begräbnisses heftig debattiert worden. Denn in der Kremation als einer Abweichung von der Inhumation sei letztlich ein Zeichen aristokratischen Widerstandes gegenüber der normativen Einfachheit einer ,middling'-Bestattungskultur zu sehen. Insbesondere im Grabbezirk Hagia Triada scheine das Vorhandensein einer solchen elitär-reaktionären Bestattungsgruppe gegeben zu sein, weil dort Verstorbene noch immer nach homerisch-heroischem Grabritus über dem Scheiterhaufen verbrannt worden seien und man deren Leichenbrandreste in Bronzekesseln zusammen mit orientalischen Exotika in der Grabgrube beigesetzt habe. Solche scheinbar auf eine heroische Vorzeit eingestellte Bestattungsgruppen aus der athenischen Führungsschicht sind für Morris die kulturellen Träger der ,el itist-ideology 1 , und zwar vor allem in jener Zeitspanne, in der das deutliche Überwiegen der Inhumation eine klare Dominanz der ,middling-ideology' anzeige. Doch nach 50 Jahren, um 700 v. Chr., kippe dieses Kräfteverhältnis zugunsten der ,Elitisten' um. Zwar würden die Eliteangehörigen dem Druck der ,middling-ideology' auf bescheidenere Bestattungsformen tatsächlich auch insoweit nachgeben, wie sie dank der neu aufgekommenen Primärkremation den dramatischen Effekt der sichtbaren Verbrennung über dem Scheiterhaufen in die Grabgrube verlegt und dadurch unsichtbar gemacht hätten. Insofern sei hier seitens der Führungsschicht eine Angleichung der Kremation an die Inhumation vorgenommen worden. Doch handle es sich hierbei nur um ein scheinbares Nachgeben. Denn nach 700 v. Chr. habe sich die Leichenverbrennung in Attika wieder als dominierender Bestattungsritus durchgesetzt. Damit habe sich die Elite auf einer breiteren Basis erneut von der ,middling-ideology' abgewendet und sich ihrer heroisch begriffenen Vergangenheit und damit der ,elitist-ideology' wieder zugewendet. Mit dieser Entwicklung schlage die athenische Führungsschicht einen Sonderweg ein. An anderen Orten wie in Korinth und Argos habe sich dagegen der ,korrekte' und ,staatskonforme' Bestattungsritus der Inhumation und - daran gekoppelt auch die .middling-ideology' - ab 750 v. Chr. durchgesetzt und sei danach für lange Zeit befolgt worden.
II. Kritische Anmerkungen zu Morris' archäologischen Fallstudien und Hauptaussagen Vordergründig scheint Morris ein in sich stimmiges Bild einer long duree der,elitist- versus middling-ideology' gezeichnet zu haben, die zunächst im archaischen Griechenland eine Aufsplitterung der Lebenswelt in oppositionelle Kulturräume zur Folge hatte, später dann aber mit dem Einbruch der ,eIitist-ideology' zu einem Leben in der ,Mitte' führte, aus dem schließlich die demokratische Kultur (bzw. die ,middling-culture') 2 9 des klassischen Athens resultierte. Hintergründig geben sich allerdings drei Prämissen zu erkennen, auf denen Mor-
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Morris 2000, 113-119.
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ris' kulturanthropologischer Entwurf zum eisenzeitlichen Griechenland beruht, deren Gültigkeitsanspruch fragwürdig ist: 1. Der Befund des ,Fürstengrabes' von Lefkandi und jener der übrigen früheisenzeitlichen Elitegräber interpretiert als eine bedeutsame Materialisierung, die ihre Strukturierung durch den Antagonismus zwischen ,middling-' und ,elitist-ideology' erfahren hat. 2. Die Rückbindung der Inhumation an die ,middling-ideology' im Rahmen des athenischen, spätgeometrischen Bestattungsbetriebes. 3. Die ,middling-ideology' definiert als eine ideologische ,Mitte', die zum realpolitischen Ziel hat, Ungleichheit im Gesellschaftsgefüge zu nivellieren.
II.l. Das ,Fürstengrab' im Heroon von Lefkandi: Exzeptionell oder repräsentativ? In seiner archäologischen Rückschau auf die Wurzeln des Antagonismus zwischen ,elitist-' und ,middling-ideology' im früheisenzeitlichen Griechenland betreibt Morris im Grunde nichts anderes als eine ,Mentalitätsgeschichte mit der Schaufel', in der die Definition und Struktur der mentalen Kategorien ,elitist' und .middling' in der Archäologie reproduziert werden. Das heißt, spezifische Formen und Muster materieller Befunde werden zu bedeutsamen Materialisierungen erklärt, deren Bedeutungssinn durch das kategorisch aufgefaßte Oppositionspaar ,elitist' und ,middling' bereits vorgegeben ist. Diese methodisch fragwürdige Vorgehens weise wird bei einer genaueren, archäologischen Betrachtung des .Fürstengrabes' von Lefkandi besonders augenfällig. Mit der Beigabe eines amphoroiden, wohl zypriotischen Bronzekraters und der Aufstellung eines monumentalen Grabkraters lokaler Manufaktur reiht sich die ,Fürstenbestattung' von Lefkandi in eine äußerst langlebige Tradition der Bankettdarstellung am Grab ein, die auf dem griechischen Festland bereits seit spätmittelhelladischer Zeit faßbar ist 30 , in der mykenischen Schachtgräberzeit ein erstes Mal kulminiert 31 und sich mit gelegentlichen Unterbrüchen sowie geographischen Verschiebungen, über die Zeit der mykenischen Paläste hinweg, bis hinab ins spätklassisch-makedonische Zeitalter 32 verfolgen läßt. Im Zentrum dieser Anspielung auf das Bankett während der Bestattungszeremonie steht stets der Krater und wird häufig durch die Beigabe weiterer Gieß- und Trinkgefäße zu einem ganzen Bankett30 31
Kephalovryson, Schachtgrab Τ 1 und Koryphasion, Tholosgrab; vgl. Lolos 1985, 1 7 2 - 1 7 8 und 203. Hierzu nur eine unvollständige Auswahl: SH II: Pit 3 im Gräberkreis von Ano Englianos, Pylos (Matthäus 1980, 31 f.); Schachtgrab IV, Schachtgrab Ε und Kammergrab III in Mykene (Matthäus 1980, 2 2 26 und 29).
32
SH III Α - B : Kammergrab 10, Dendra (Persson 1942, 8 7 - 9 5 ) ; Kammergrab XL auf der Athener Agora (Vermeule/Travlos 1966); auf der attischen Halbinsel (Benzi 1975, 5 0 - 5 8 ) . SH III C: Kammergrab 123, Tholosgrab Σ 2 und Grab 35 in Perati (Iakovidis 1970, 7 5 - 6 0 ; 3 2 5 - 3 2 8 ; 4 2 7 - 4 3 0 ) . Submykenisch bis Protogeometrisch: Grab TN 4, Kerameikos, Athen (von Freytag gen. Löringhoff 1995). Protogeometrisch bis Ende der orientalisierenden Periode im Kerameikos in Athen (Kistler 1998, 5 5 - 6 0 ; 181 f.; 184; 186; 188f.; 191; 196f.; 198f.; 201; 202f.; 206; 208). Klassisch-makedonische Epoche: Grab Alpha, Beta und Eta in Derveni (ThemelisATouratsoglou 1997, 2 8 - 9 2 und 130-132).
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Service vervollständigt. Solches am Grab aufgestelltes und beigegebenes Bankettgeschirr ist mehrfach als Substitutsgeschirr anzusprechen, das heißt als eigens für die Bestattungszeremonie hergestellte Scheingefäße, die nicht funktionstüchtig sind. 33 Insofern besitzen sie den Charakter einer spezifisch auf den Bestatteten und seine Familie zugeschnittenen Dingsymbolik, hinter der sich mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Anspielung auf die Teilnahme oder auf das Ausrichten von Festgelagen vermuten läßt. Da die soziale Institution des Banketts häufig in elitären Kreisen zu verorten ist, überrascht es auch nicht, daß solch eine dingsymbolische Bankettdarstellung am Grab für gewöhnlich in Zusammenhang mit Krieger-, ,Fürsten'- und , Adels'-Gräbern zu beobachten ist. 34 Mit der Aufstellung eines Kraters läßt sich demzufolge auch die Bestattung des ,Heroen' von Lefkandi in die long duree einer griechisch-elitären Bestattungssitte einordnen und stellt zumindest in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Doch nicht nur auf der vertikalen Zeitachse, sondern auch auf der Horizontalen sind die meisten Riten und Würden, die der ,Fürst' von Lefkandi bei seiner Bestattung erfahren hat, keineswegs so exklusiv und außergewöhnlich, wie dies von Morris angeblich aufgedeckt wird. Insbesondere die Beigabenkombination von Krater, Hieb- (bzw. Stich)waffe, Speerspitze und Schleifstein konnte noch bei zwei weiteren, zeitlich etwas jüngeren Brandbestattungen auf dem Gräberfeld der Toumbanekropole ausgemacht werden. 35 Allem Anschein nach begründete der ,Fürst' in Lefkandi Bestattungswürden, mit denen in der Folge auch jüngere, höchste Statuspersonen aus dem .Fürstenhaus' geehrt wurden. Parallelen zur ,fürstlichen' Bestattungsart weist auch der Befund des Grabes Τ 14 in der Toumbanekropole auf. Neben einer Halshenkelamphora mit der Totenasche fand sich ein verbogenes Schwert und eine eiserne Speerspitze. 36 Streufunde an der Oberfläche machen zudem die Aufstellung eines Kraters über diesem Grab wahrscheinlich. 37 In unmittelbarer Nachfolge zum ,Fürsten' hat hier ein Elitekrieger offenkundig den ,fürstlichen' Bestattungsmodus in seinem Kern weitergeführt: Schachtgrab mit Urne, Waffenbeigabe und Grabkrater! Mit dem .fürstlichen' Begräbnis im ,Heroon' vor Augen ließen sich offenkundig ranghöchste Mitglieder aus dem .fürstlichen Clan' in nächster Nähe zum Grab ihres .Fürsten' beisetzen, allerdings ohne Exklusivitäten aus dem Nahen Osten und ohne monumentalen Tumulus als Erinnerungsdenkmal über dem Grab. Damit liegt es auf der Hand: Zumindest in seinem engsten Umfeld bezeugt die Ausstattung des Fürstengrabes im Heroon keineswegs eine Ausnahmeerscheinung, sondern die Gründung der Bestattungskultur einer Deszendenzgruppe/ 8 Blicken wir schließlich über die lefkandiotische Nekropole hinaus nach Attika, so zeigt sich, daß die elitären bzw. ,fürstlichen' Bestattungsriten in der lefkandiotischen Toumbane-
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Lolos 1985, 494 und 511; Kistler 1998, 3 6 - 3 8 und 5 8 - 6 0 . Zur Soziologie der .manieres de table' im Kontext zur Statusdemostration am Grab vgl. Kistler 2001, 220-222. Popham/Sackett/Themelis 1981, 195 Τ Pyre 8 (SPG I) und Popham/Touloupa/Sackett 1982, 2 2 7 - 2 2 9 Τ Pyre 13 (SPG I—II). Popham/Sackett/Themelis 1981, 175 Τ 14 (LPG). Popham/Sackett/Themelis 1981, 275. So auch noch Morris 1999b, 62 in Zusammenhang mit einer Arbeit über das intermediterrane Phänomen der .Fürstengräber'; vgl. außerdem Antonaccio 1995, 19.
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kropole weniger mit dem Orient und der Levante als vielmehr mit der attischen Halbinsel verbunden sind. 39 Erst kürzlich sprach Coldstream in Zusammenhang mit dem lefkandiotischen Kriegergrab Τ 14 wieder von einer,attic manner' im Hinblick auf die darin vorgefundene Urnenbestattung und auf die Sitte, beigegebene Schwerter durch Verbiegen außer Gebrauch zu setzen. 4 0 Im protogeometrischen 4 1 und geometrischen Athen 4 2 läßt sich auch mehrfach der Brauch beobachten, auf dem Grab über der Urne einen Krater aufzustellen. Allerdings muß vorerst noch offen bleiben, wie dabei die gegenseitige Einflußnahme verlief. Ein euböisches Kraterfragment, das in der Grubenftillung unter der Deckelplatte eines mittelprotogeometrischen Grabes (TN 94-2) in der Athener Kerameikos-Nekropole zum Vorschein kam 4 3 , macht einen Transfer des Grabkrater-Brauchtums von Lefkandi nach Athen zumindest denkbar, auch wenn der umgekehrte Weg wahrscheinlicher ist. Insgesamt weisen die elitäre Bestattungspraxis der Toumbanekropole und jene der Kerameikosnekropole so enge Parallelen auf, daß von einem intensiven Austausch und engen Verbindungen zwischen sozial ähnlich strukturierten Elitegruppen in Lefkandi wie in Athen auszugehen ist. Allenfalls ist sogar mit familiären Beziehungen zu rechnen, wie beispielsweise durch Heiratskontakte. 4 4 Überraschenderweise scheint diese enge Verbindung der lefkandiotischen Führungsgruppe mit der attischen Elite schon vor dem ,submykenischen Hiat' bereits in der ausgehenden Bronzezeit eingesetzt zu haben. So zumindest wird es durch das ,fürstliche' Beigabenbrauchtum nahegelegt, wie es im Befund von Grab 123 im attischen Perati zutage trat. In diesem Kammergrab aus der Stufe SH III C (Mittel) fand man an der Peripherie zusammen mit den Überresten einer beiseite geräumten Bestattung unter anderem noch folgende, bezeichnende Beigaben: einen Krater, eine einhenklige Tasse, eine eiserne Lanze, ein Rasiermesser und einen Schleifstein. Bis auf das fehlende Schwert ist diese Beigabenkombination identisch mit jener im Grab des ,Heroen' von Lefkandi. Es mag daher nicht verwundern, wenn die Pferdebestattung, die im Fall Lefkandis gerne als exzeptionell bezeichnet wird, gleichfalls auf der attischen Halbinsel bereits für die mykenische Epoche im Dromos eines Tholosgrabes bei Vrana/Marathon belegbar ist, wo zwei Pferdeskelette einander gegenüber lagen. Außerdem wurden in der Nekropole von Eleusis Reste von Pferden ausgegraben, die an die Wende der Bronze- zur Eisenzeit datieren und so das Beibehalten der Pferdebestattung bei Elitebegräbnissen auf Attika bis zur beginnenden Eisenzeit anzeigen. 4 5 Insgesamt ist somit ein spätbronzezeitlicher Ursprung des Beigabenbrauchtums im Grab des ,Fürsten'
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Vgl. Antonaccio 1995, 17. Coldstream 1996, 139. Vorläufig bleibt es hier leider noch beim einzigen Krater, dessen Scherben man auf den Deckplatten eines Körperbestattungsgrabes auf der Agora gefunden hatte. Athen, Agora Ρ 7008 (Area, Β 10 = Kolonos Agoraios). Vgl. Kurtz/Boardman 1985, 51; Smithson 1961, 152 mit Anm. 12.
42 43 44
Kistler 1998, 5 5 - 6 0 ; Bohen 1997. Vgl. von Freytag gen. Löringhoff 1995. So Coldstream 1997, 139 aufgrund der ungewöhnlichen Doppelbestattung in Grab Τ 14 der Toumbanekropole. Schäfer 1998, 52.
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von Lefkandi aus der Bestattungspraxis der peratischen bzw. attischen Führungsschicht mehr als wahrscheinlich. 4 6 Angesichts einer solch überregionalen Bestattungskultur überrascht es auch nicht, wenn beim lefkandiotischen ,Fürstengrab' selbst die angeblich so ungewöhnliche Beigabe der nahöstlichen Bronzeschale und des zypriotischen-spätbronzezeitlichen Kraters im damaligen Panorama elitärer Bestattungsriten gar keine Seltenheit darstellt. 47 Solche spätbronzezeitliche Erbstücke aus Zypern wurden nämlich durchaus auch an anderen Orten in Elitegräbern der subminoischen, submykenischen und protogeometrischen Periode gefunden. Als bisherige Zwischenbilanz bleibt festzuhalten: Das ,Heroon' von Lefkandi ist keineswegs so exzeptionell, wie es von Morris dargestellt wird. Im Gegenteil, es repräsentiert eine elitäre Bestattungskultur, wie sie zur selben Zeit auch anderenorts, insbesondere auf Attika, zutage tritt. Es kann daher unmöglich die Rede von einem Außenseiter sein, der sich mit seiner Bestattung bewußt dem Orient und den Göttern zugewendet habe und sich damit zielbewußt von der normativen Bestattungspraxis der Führungsschicht auf dem Festland abgesetzt habe. Morris' Sicht des lefkandiotischen Grabbefundes stellt zweifellos ein ahistorisches Konstrukt dar, das sich zwangsweise aus dem übergeordneten Interpretationsraster ,elitist- versus middling ideology' ergibt.
II.2. Inhumation in der Athener Kerameikosnekropole: Zeichen einer ,middling'-Bestattungskultur? Ebensowenig wie die Außenseiterrolle des ,Heroen' von Lefkandi überzeugt Morris' These, daß die bescheidenere Inhumation ein Reflex auf das Dominieren der ,middling-ideology' sei, und daß dadurch die Inhumation sozusagen in Opposition zur heroischen Bestattungspraxis der Kremation gestellt werde. Insbesondere in Attika, wo sich j a dieser Wettstreit zwischen der .middling-' und ,elitist-ideology' in der Variabilität des Bestattungsritus besonders deutlich abzeichnen soll, gerade dort zeigt sich bei einer genaueren Prüfung der geometrischen Gräber, wie sehr Morris die komplexen Grabbefiinde auf rein zweckdienliche Antithesen wie Kremation oder Inhumation reduziert, um den einzelnen archäologischen Befund verallgemeinernd in das Deutungsmuster eines ,elitist- versus middling' Antagonismus zu zwängen. 4 8 Das hat wiederum für den Leser zur Folge, daß es für ihn von vornherein unmöglich ist, in der materiell überlieferten Vergangenheit etwas anderes zu erkennen als das, was Morris' Interpretationsraster vorgibt. Wenn Morris beispielsweise schreibt, in Athen sei die Inhumation im späten 8. Jh. v. Chr. erstmals seit mykenischer Zeit wieder eingeführt worden 4 9 , dann trifft das nicht ganz zu. Denn drei Bestattungen (Agora C 8:7, Areopag I 18:1 und Odos Kavalotti Gr. B) aus
46
47 48 49
Eine zu Lefkandi und Attika in etwa entsprechende ,Fürsten'-Bestattungskultur kann in LH III C aucli andernorts beobachtet werden; beispielsweise fur die Regionen nördlich und südlich des Korinthischen Golfes siehe Eder 2001. Matthäus 1998, 80f. Ähnliche Kritik übte schon Eder 1997, 123. Morris 2000, 293.
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dem endenden 9. und dem beginnenden 8. Jh. v. Chr. weisen bereits den Ritus der Inhumation auf. 5 0 Der dadurch angezeigte Zeitpunkt um 800 v. Chr. ist für Morris allerdings zu früh, um das erneute Auftreten der Körperbestattung als funerärer Ausdruck der , middlingideology' mit den Strängen der postulierten soziokulturellen Revolution zwischen 750 und 700 v. Chr. vernetzen zu können. Das wiederum ist aber gerade das Ziel von Morris' mikroarchäologischen Untersuchung im Kerameikos. Noch problematischer scheint mir allerdings überhaupt eine monokausale Verknüpfung der ,middling-ideology' mit der Inhumation zu sein, deren bedeutender symbolischer bzw. sozialer Stellenwert von Morris zwar behauptet, aber nicht plausibel dargelegt wird. Dieser methodischen Auflage kommt Morris mit seiner Behandlung des hesiodeischen PrometheusMythos nur hinsichtlich der Kremation nach. Doch gerade im Hinblick auf die Bestattungspraxis im geometrischen und früharchaischen Attika ist eine solche Rückbindung der Inhumation an die , middling-ideology' nicht ganz unproblematisch. So gehören zwei Körperbestattungen aus Eleusis, eine davon das sogennannte Isisgrab, zum einen bereits in die Zeit um 800 v. Chr. Zum anderen handelt es sich bei ihnen um äußerst reich ausgestattete Frauengräber. 5 1 In beiden kamen überraschend viele Prestigegüter aus dem Nahen Osten und aus Ägypten zutage. Diese beiden Inhumationen auch nur in irgendeiner Weise mit der .middling-ideology' in Verbindung bringen zu wollen, wäre absurd. Das Zusammenfallen von Inhumation, Reichtum und orientalischen Prestigeobjekten kann in der Kerameikosnekropole anhand der Grabgrube 47 und der ihr zugehörigen Opferrinne sogar fur das letzte Viertel des 8. Jhs. v. Chr. nachgewiesen werden. 5 2 Eine weitere Grabgrube aus derselben Zeit mit Skelettfragmenten und den keramischen Überresten eines aufwendigen Brandopfers konnte zudem auf der späteren Athener Agora freigelegt werden. 53 Selbst nach der Wende vom 8. zum 7. Jh. v. Chr. läßt sich dieselbe Fundvergesellschaftung von Inhumation und aufwendigen Beigaben orientalisierenden Prunkes anhand einzelner Elitegräber im Kerameikos noch weiterhin beobachten. So befanden sich am Nordufer des Eridanos in einer Grabgrube am Kopfende des Skelettes eines Mannes Reste eines bronzenen Kessels mit Dreifuß, eine bronzene Kotyle, zwei orientalische Bronzeschalen mit Treibreliefs und ein orientalisierender Bronzeteller mit eingraviertem Tierfries auf der Innenseite. 5 4 Des weiteren förderten die Kerameikosausgräber zugehörig zur Opferrinne ,beta' eine Körperbestattung in einem Holzsarg ans Tageslicht. 55 Der darin bestattete Eliteangehörige wurde demnach nicht wie seine Vorgänger oder seine Nachfolger über der Grabgrube neben der zur Schau gestellten, orientalisierenden Opferrinnenkeramik verbrannt, sondern in einem Sarg auf der Sohle der Grabgrube zur letzten Ruhe gebettet, Uber der danach ein Grabhügel mit orientalisierendem Krater als Bekrönung aufgeschüttet worden war. Auch bei diesen beiden aufwendigen Körperbestattungen aus dem ersten Drittel des 7. Jhs. v. Chr. liegt eine unbestreitbare Verbindung von Inhumation, Reichtum und orientalisierendem Chic vor. 50 51 52 53 54 55
Vgl. Coldstream 1977, 81. Coldstream 1 9 7 7 , 7 8 - 8 0 . Vgl. Kistler 1998, 181-183. Vgl. Kistler 1998, 40f. und 195-198. Athen, Kerameikosnekropole, Grab 74 am Nordufer des Eridanos. Vgl. Kübler 1959, 79. Vgl. Kistler 1998, 185-188.
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Es liegt nun auf der Hand: Die Inhumation konnte keinesfalls ein für alle Athener normativer Bestattungsritus sein, der aus der ,middling-ideology' hervorgegangen ist. In der von Morris vorgenommen Rückbindung der Inhumation an die ,middling-ideology' kommt am deutlichsten zum Ausdruck, was sich bei den Einwänden zur angeblichen Außenseiterrolle des ,Fürstengrabes' von Lefkandi bereits abzuzeichnen begann: Es drängt sich der Verdacht auf, daß die von Morris entwickelte Form und Struktur der ,middling' und ,elitistideology' auf die Archäologie des Frühen Griechenlands rückprojiziert wird, ohne aber für die historische Plausibilität einer solchen Rückprojektion genügend überzeugende Argumente namhaft machen zu können. Aus kulturanthropologischer Sicht, in der ja weite Räume und lange Zeitperioden überblickt werden, sind all diese Bedenken seitens der traditionellen Archäologie möglicherweise zu .kleinlich' gedacht und daher irrelevant. Schließlich muß jedes Erklärungsmodell Vereinfachungen der komplexen Realität vornehmen und vereinzelte ,Anomalien' übergehen, damit es bei Analysen einen brauchbaren Leitfaden bietet. 56 Aus dem Blickwinkel historisch-anthropologischen Erkenntnisinteresses dürfte daher an Morris' Erklärungsmodell auch alleine maßgebend sein, daß es scheinbar eine nützlichere und gehaltvollere Perspektive auf das eisenzeitliche Griechenland erlaubt als bisherige Studien. Daß damit nicht alles erklärt werden kann, womit es konfrontiert wird, ist selbstverständlich und wird auch gar nie behauptet." Archäologische Unstimmigkeiten in Morris' zuweilen recht apoditkischem Argumentationsgang werden so α priori zu unwesentlichen, materiellen Marginalitäten abgewertet, die die .middling-' und ,elitist-ideology' als Hauptakteure mentalitätsgeschichtlichen Geschehens nur peripher oder gar nicht berühren. Soll also die Modellvorstellung der .elitist- versus middling-ideology' selbst - und nicht nur die aus ihr abgeleiteten Sachzwänge auf die Materialkultur! - kritisch hinterfragt und auf ihre Nützlichkeit hin erprobt werden, so gilt es den semantischen Kern der Sache zu prüfen: die Inhalte nämlich, die Morris jeweils den beiden oppositionellen Ideologien zugrunde legt. Da Morris dabei ganz dem strukturalistischen Prinzip getreu die ,elitist-ideology' als binäre Opposition zur ,middling-ideology' definiert 58 , hängt eigentlich alles von der Inhaltsbestimmung der ,middling-ideology' ab. Deswegen gilt es in der Folge vor allem die inhaltliche Akzentuierung der,middling ideology' genauer unter die Lupe zu nehmen, um ihren Gültigkeitsanspruch für das Denken und Handeln im antiken Griechenland auszuloten.
II.3. Die ,middling-ideology': Allen das Gleiche oder jedem das Seine? Ausgangspunkt zur Herleitung der ,middling-ideology' ist für Morris das ,Strong Principle of Equality' von Robert Dahl. Gemäß diesem ,Strengen Prinzip von Gleichheit' hängt das Aufkommen und die Fortdauer der Demokratie als Verfassungsform in einer Gesellschaftsgruppe von deren Überzeugung ab, daß alle Gruppenangehörigen in der genau gleichen Weise dazu qualifiziert sind, an den Entscheidungen, welche die Gemeinschaft betreffen,
56 57 58
Morris 2000, 112f. Morris 2000, 112. Morris 2000, 113 und 171-185.
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mitzuwirken. Voraussetzung dazu sei, daß alle Mitglieder ausreichend befähigt sind, sich an den vorgesehenen Verfahren zur Bildung eines Gemeinschaftswillen zu beteiligen. Dabei gebe es keine dazu schlechter oder wirklich besser Qualifizierte, denen man deshalb die Aufgabe der Willensbildung für die Gemeinschaft überantworten müßte. 59 Solche Vorstellungen von politischer Gleichheit, wie sie heute selbstverständlich sind in liberalen Demokratien westlichen Zuschnitts, sind entscheidend geprägt von ihrer Vorgeschichte in der Moderne und von den ideologischen Motiven der f r a n z ö s i s c h e n Revolution'. 6 0 Nichtsdestotrotz findet sich Dahl's Konzept eines ,Strong Principle of Equality' auch im politischen Denken der Griechen. Daran läßt folgende Passage aus Aristoteles' Politik keinen Zweifel: „Aus der Gerechtigkeit, die anerkanntermaßen als demokratisch gilt (nämlich daß alle der Zahl nach daßelbe haben), entspringt eben jene Verfassung, die am meisten demokratisch und volkstümlich zu sein scheint. Denn die Gleichheit besteht darin, daß Arme und Reiche in gleicher Weise regieren, daß nicht einzelne entscheiden, sondern alle gleichmäßig ihrer Zahl nach."6} Solch radikales Gleichheitsdenken ist keineswegs nur in der damaligen Diskussion um die beste Verfassungsform virulent. Die gleiche Beteiligung aller Bürger an Politik und Verwaltung wird indessen auch in Rückschauen auf das ,Goldene Zeitalter' der athenischen Demokratie von attischen Rednern thematisiert und reflektiert. In diesem Zusammenhang mag der Hinweis auf die Retrospektive Isokrates' auf die dominierende Einstellung der Athener im 5. Jh. v. Chr. genügen 62 : „Wir hielten es für unerträglich, wenn wenige über viele herrschten, wenn die ärmeren, aber ansonsten keineswegs minderwertigen Bürger von Amtern ausgeschlossen würden, wenn trotz des gemeinsamen Vaterlandes eine Gruppe herrschte, die andere nur Metöken-Status hätte und wenn Menschen, die von Natur aus Bürger einer Polis waren, durch willkürliche Satzung von der Teilhabe an der Regierung ausgeschlossen würden."63 Eine gleichmäßige Beteiligung aller Bürger an staatlichen und politischen Aufgaben, was Dahl als ,the Strong Principle of Equality' betitelt, war gemäß Isokrates' Eigenperspektive auf die jüngste Vergangenheit seiner Heimatpolis nicht nur eine denkbare, mit anderen Verfassungen konkurrierende Ordnung, sondern die damals vorherrschende politische Überzeugung, die im athenischen Alltagsleben auch realisiert wurde. Infolgedessen ist es methodisch durchaus zulässig, Dahls ,Strong Principle of Equality' einerseits generell auf das Ordnungsdenken in klassischer Zeit und im besonderen auf das Leben im demokratischen Athen zu übertragen. Mit guten Gründen also macht sich Morris diesen modernen, politologischen Egalitätsbegriff zunutze, um die von ihm angestrebten Antworten auf die Frage, wie es zur athenischen Demokratie kam, mit dem übergeordneten, historisch-anthropologischen Erkenntnisinteresse zu verquicken, was denn Demokratie überhaupt möglich mache. Allerdings wurden dabei von Morris die methodischen Gefahren, die eine Übertragung moderner Politikbegriffe auf die Antike immer mit sich bringt, nicht alle ausreichend scharf durch-
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Morris 2000, 111; bzw. Dahl 1989, 30f. und 98. Redlich 1999,7-82. Aristot. 1318 a 3 - 9 nach O. Gigon. Vgl. Orth 1997, 180. Isokr. or. 4, 105. Übersetzung nach Ch. Ley-Hutton.
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dacht. Obwohl Morris durchaus vermerkt, daß im klassischen Griechenland ein doppelter Gleichheitsbegriff zur Debatte stand 64 , schenkt er den beiden oppositionellen Bedeutungsschwerpunkten dieses doppelten Gleichheitsbegriffs nicht die notwendige Beachtung. 65 Zunächst seien aber ein paar allgemeine Vorbemerkungen zu dieser Problematik erlaubt, um ein höheres Maß an Tiefenschärfe und Differenzierung zu gewinnen. Das Prinzip der absolut gleichen politischen Rechte, was Dahl als das , Strong Principle of Equality' umschreibt, wird vom Verfassungstheoretiker Aristoteles als arithmetische Gleichheit bezeichnet. Garant für die Verwirklichung dieses Gleichheitsprinzips im politischen Alltag war (und ist) neben der Rechenschaftspflicht und der Öffentlichkeit der Beschlüsse hauptsächlich das Losverfahren bei der Besetzung der Ämter, das jegliche Einflußnahme auf die Wahl durch Herkunft, Vermögen oder persönliches Charisma verunmöglichen soll. Darin sind sich bereits Herodot, Isokrates, Piaton und Aristoteles einig. 66 Piaton unterscheidet nun von dieser arithmetischen Gleichheit eine sogenannte geometrische Gleichheit und ist der Ansicht, daß sich letztere der ersten zuweilen sogar entgegenstelle.67 Als Wesensmerkmal liegt diesem geometrischen Gleichheitsbegriff ein proportionales Verteilungsprinzip zugrunde, abhängig vom Wert des Menschen: dem Besseren mehr, dem Geringeren weniger. 68 Im Gegensatz zur arithmetischen Gleichheit, bei der allen alles in gleicher Weise zuteil werden soll, geht es also bei der geometrischen Gleichheit darum, gerade nicht allen dasselbe zuzuteilen, sondern jedem das zukommen zu lassen, was ihm zusteht. Das allein Entscheidende bei diesem proportionalen Verteilungs- und Gleichheitsprinzip ist demnach die Ermittlung des richtigen Maßes und des rechten Verhältnisses, das es im Hinblick auf den einzelnen Bürger, gemessen an seinem Wert, individuell zu bestimmen gilt. 69 Für Piaton, Isokrates, Aristoteles und alle jene, für welche die soziale Ungleichheit in dieser Welt eine naturgegebene und unhinterfragbare Selbstverständlichkeit darstellt, ist es freilich auch nicht die Arithmetische, sondern die geometrische Gleichheit, die wirkliche Gerechtigkeit verheißt. 70 Das mag zunächst überraschen, da gerade in der modernen Umgangssprache das Wort ,Ungleichheit' meist den Beigeschmack von .Ungerechtigkeit' hat. Dieses Empfinden ist jedoch zweifelsohne eine Erbe Rousseaus, der Gleichheit unter den Menschen als Urzustand definierte und damit die Ungleichheit zur Verfallserscheinung nach dem ,Sündenfall' erklärte. 71 In der Theosophie mancher Griechen klassischer Zeit verhält es sich aber geradezu umgekehrt: Ungleichheit unter den Menschen ist gottgewollt und naturgegeben. 72 Die absolute Gleichberechtigung gilt daher als widernatürlich. Angesichts eines derartigen Gleichheits- und Gerechtigkeitsbegriffes, der von sozialer Ungleichheit als dem
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Morris 2000, 116. Hierzu mit älterer Literatur: Ricken 1998; Orth 1997; Lengauer 1989. Hdt. 3., 80, 6; Isokr. or. 7, 20; Plat. leg. 757b; Aristot. pol. 1317bl8-25. Vgl. hierzu auch Bleicken 1988, 266f. und Stahl 1997, 237. Plat. leg. 757b; vgl. auch Isokr. or. 7, 20-22 und Aristot. pol. 1301b29-33. Plat. leg. 757c. Ricken 1998, 168. Plat. leg. 757d; Aristot. pol. 1301a26-28; Isokr. or. 7, 21. Rousseau 1755. In Zusammenhang mit der athenischen Demokratie vgl. auch Bleicken 1988, 246f. Hierzu in unmißverständlicher Klarheit noch Gorgias bei Piaton: Plat. Gorg. 483b-d.
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Gegebenen ausgeht, ist es nur natürlich, daß das Streben nach radikaler Gleichheit als ungerecht empfunden wird. Sodann kann diesem Gerechtigkeitsempfinden nur jene Gleichheit entsprechen, die jedem das Seine zukommen läßt. 73 Mehr-haben-Wollen als einem zusteht, gilt dabei als unangemessen und stellt eine Gefahr dar für das harmonische Zusammenleben in geometrischer Gleichheit (bzw. in sozialer Ungleichheit). 7 4 Entscheidend sind deshalb Besonnenheit und Bedacht auf das richtige Maß und das Angemessene. 7 5 Diese Haltung wird von Isokrates im Panathenaikos mit dem Superlativ metriotatos umschrieben. 7 6 Von besonderem Interesse ist hierbei schließlich auch seine anschließende Bemerkung, gewissermaßen die Quintessenz seiner Betrachtung über das Metrios-se\n: „Und viertens, was schließlich am wichtigsten ist, nenne ich gebildet, wer nicht durch Erfolge verdorben wird, sich selbst vergißt oder hochmütig wird, sondern weiterhin zu den Vernünftigen zu rechnen ist, sich über die Gaben, die ihm durch das Schicksal zuteil geworden sind, nicht mehr freut als über jene, die ihm von Anfang an durch seine Veranlagung und seine geistigen Fähigkeiten zu Gebote stehen."11 Das wichtigste Gebot, um das richtige Maß und das rechte Verhältnis zu wahren, das ist offenkundig, nicht der hybris zu verfallen, mehrhaben zu wollen, als einem aufgrund seines Wertes und Ansehens in der Gesellschaft zusteht. In diesem von Isokrates propagierten Habitus, ein metrios zu sein, tritt eine Lebenshaltung zutage, die Maßlosigkeit und rücksichtsloses Gewinnstreben in Schranken zu halten versucht. Insgesamt deckt sich so das Bündel an Idealen, denen es nachzueifern gilt, um als metrios zu gelten, ziemlich genau mit jenem, das Morris unter seiner ,middling-ideology' subsumiert. Im Hinblick darauf befindet sich Morris in völligem Einklang mit den antiken Autoren. Andererseits bricht er mit ihnen in eklatanter Weise, wenn er in der Repräsentantengruppe der ,middling-ideology', also in der Gemeinschaft der .middling men', den Entstehungskontext und das Sozialisationsmilieu arithmetischer Gleichheit (bzw. des ,Strong Principle of Equality') gegeben sieht. 78 Aus der Perspektive antiker Gewährsmänner ist das schlichtweg unmöglich, da nämlich ihrer Ansicht nach gerade dort, wo die Überzeugung absoluter Gleichheit aller herrscht, das richtige Maßverhältnis und damit die Frage nach dem Angemessenen ohne jede Relevanz ist, weil dort eben allen alles in derselben Weise zuteil werden soll. 79 Infolgedessen schließt die Frage nach dem richtigen Maß - also der politischmoralische Grundgedanke der metrios-Ideologie - notwendigerweise das Prinzip arithmetischer Gleichheit aus. Kurzum: Das ,Strong Principle of Equality' und die f i d d l i n g - i d e o l o gy' bilden den antiken Quellen zufolge einen kontradiktorischen Gegensatz. Das erste kann darum unmöglich aus letzterem hervorgegangen sein. 80
73 74 75 76 77 78 79 80
Hierzu grundlegend mit entsprechenden Quellenzitaten und Literaturhinweisen: Ricken 1998; Schütrumpf 1995, 291. Ricken 1998, 164. Isokr. or. 12, 3 0 - 3 2 . Isokr. or. 1 2 , 3 1 . Isokr. or. 12, 32. Übersetzung nach Ch. Ley-Hutton. Bedenken in dieser Hinsicht äußerte bereits Eder 1997, 123. Plat. leg. 757b; vgl. auch Isokr. Nikokles, 14f. Das geht insbesondere auch aus dem Gesamtkontext und der Intention der iskorateischen Rede Panathenaikos hervor. In dieser Rede soll nämlich die demokratische Aristokratie' als die frühere und bes-
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Man könnte nun vielleicht einwenden, daß es sich bei den oben zitierten Autoren ausschließlich um mehr oder weniger oligarchisch gesinnte Demokratiegegner handle. Die geometrische Gleichheit sei daher als ein antidemokratisch-oligarisches Konzept zu begreifen, das eine Reaktion auf die Krisen geschüttelte Demokratie Athens während der letzten beiden Dekaden des 5. Jhs. v. Chr. darstelle. 81 Insofern wäre die geometrische Gleichheit lediglich das Produkt der Negation arithmetischer Gleichheit und könnte in diesem Fall in frühklassischer und archaischer Zeit noch nicht einmal als Idee existiert haben. Die Rückbindung der metrios-Ideologie an die geometrische Gleichheit wäre somit eine zeitund situationsgebundene Ansichtssache einiger Feinde der athenischen Demokratie und daher irrelevant für die genauere inhaltliche Bestimmung der metrios-Ideologie in vordemokratischer Zeit. Daß dem jedoch nicht so ist, sondern daß die Vorstellung einer geometrischen Gleichheit, und damit unmittelbar verbunden die Frage nach dem richtigen Maß, bereits in archaischer Zeit zur Debatte stand, soll der folgende Exkurs zum theosophischen Welterklärungsschema in der frühgriechischen Dichtung zeigen 82 : Das Nachdenken der frühen Griechen über den Menschen, sein Tun und Handeln geht grundsätzlich von einer negativen Soziologie aus: Die Menschheit befindet sich in einem Zustand der Ungleichheit; das heißt, die menschliche Gesellschaft zerfällt in Starke und Schwache sowie in Reiche und Arme. Zu dieser Polarisierung der Menschheit in zwei gegensätzliche Extreme tritt noch eine menschliche Natur hinzu, der es in erster Linie auf Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung sowie auf persönliche Bestheit ankommt. 83 Die Folge ist die Unfähigkeit des Starken zur Sozialität und Solidarität mit dem Schwachen. Das fuhrt zum Ist-Zustand der Welt, der vom Gesetz der Fische diktiert wird: Der Große frißt den Kleinen. Die Herrschaft der Starken als ein Naturrecht thematisiert denn auch das hesiodeische Gleichnis vom Habicht und der Nachtigall: „So zur Nachtigall sprach, dem bunten Kehlchen, der Habicht / Wie er sie hoch in den Wolken dahintrug mit klammernden Krallen, / Sie aber, rings durchbohrt von gekrümmten Krallen, erbärmlich / Jammerte. Da nun sprach er zu ihr die herrische Rede: / „ Was denn, Verblendete, schreist du? Ein stärkerer hält dich gefangen. / Dorthin mußt du, wohin ich dich bringe, und bist du auch Sänger. / Fressen tu ich dich, ganz wie ich Lust hab, oder ich laß dich. ..."84 Dieses angebliche Recht der Stärkeren, der Besten, der Reichen und Mächtigen zur Unterdrückung der Schwächeren und Armen wird in der frühgriechischen Dichtung allerdings ganz unterschiedlich beurteilt. Während es in der elitären Individualethik als ausgemacht
sere Verfassungsform Athens zur Zeit Solons und Kleisthenes gepriesen werden (Isokr. or. 12, 131 und 152), da in ihr die geometrische Gleichheit noch durch die Wahl der Besten realisiert worden sei (Isokr. 12, 151-153). Das Leitbild des metrios und die geometrische Gleichheit sind hier offenkundig a u f s engste inhaltlich miteinander verzahnt. 81 82
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U m nur ein Beispiel zu nennen: de Ste. Croix 1981, 413f. Die im Exkurs folgenden Überlegungen basieren im wesentlichen auf den Ausführungen von: Ulf 2001, 1 7 6 - 1 7 9 ; Assmann 2000, 8 0 - 8 4 ; 9 8 - 1 0 8 ; 185-216; Fadinger 1996, 179-218; Raaflaub 1996, 1 0 5 8 1071; Auffarth 1991, 4 7 7 - 4 8 6 . Dieses Denken findet sich sogar noch bei Historikern und Philosophen des 5. und 4. Jhs. v. Chr. So z. B. bei Thuk. 3, 82 und bei Aristot. pol. 1302a-b. Hes. erg. 2 0 1 - 2 1 1 . Hesiod-Übersetzungen nach A. von Schirnding.
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gilt, daß die wenigen Besten und Starken über die vielen Unverständigen und Schwachen rücksichtslos verfugen können 85 , wird dagegen genau diese Handhabungsform persönlicher Überlegenheit von Dichtern mit Gemeinschaftssinn als ein Faustrecht angeprangert, das dem Zustand von Rechtlosigkeit, Gewalt und Chaos gleichkomme. 86 Als Repräsentanten einer solchen solidarischen Gesinnung 87 , die im noch erhaltenen Corpus frühgriechischer Dich88
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tung greifbar sind, gelten insbesondere der Odysseedichter , Hesiod und Solon , aber auch Tyrtaios 91 , Theognis 92 , Xenophanes und Phokylides. 93 Sie alle gehen davon aus, daß die Unterdrückung und Ausbeutung des Schwachen durch den Starken nicht gottgewollt' ist.94 Ihrer Ansicht nach resultiert sie lediglich aus dem asozialen Eigenwillen der Menschen, sich bei jeder Gelegenheit, die sich bietet, auf Kosten anderer zu bereichern. Die Habgier der Reichen und Starken ist also der Kern allen Übels und wird von den solidarisch gesinnten Dichtern aufs Schärfste verurteilt: 95 „Ich (sc. Odysseus alias Fremder) habe selber von mir einst erwartet, daß unter den Männern, / Reich ich werde: Da ließ ich von Kraft und Gewalt mich verführen, / Törichtes tat ich genug im Vertrauen auf Vater und Brüder. / Also werde doch niemals ein Mensch so völlig gesetzeslos! "96 „ Wer sich mit der Gewalt seiner Hände Reichtum verschafft hat / Oder ihn auch mit der Zunge erbeutet, wie solches ja vielfach / Vorkommt, wenn die Gewinnsucht den Sinn der Menschen verblendet / Ganz und gar und wenn Scham von Unverschämtheit verdrängt wird... "91 „ Denn die Schändlichen lockt die Gier nach großen Gewinnsten, / / Weder des Tempels Besitz, / noch das Vermögen des Staats / Schonen sie, stehlen und rauben, wo immer die Beute sich bietet, / Wahren der Dike hoch-heilige Satzungen nicht. "98 Der Odysseedichter, Hesiod und Solon zeichnen ein einhelliges Bild. Angetrieben von der Habgier, vom Mehrhaben-Wollen auf Kosten anderer, verfallen die Starken und Mächtigen 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98
Diese Überzeugung und der Glaube an das Recht des Stärkeren als das wirkliche Gerechtigkeitsprinzip ist sogar noch im 5. Jh. v. Chr. ein Thema: Thrasymachos Diels/Kranz fr. Β 6a. Vgl. der allgemeine Zustand der Rechtsverhältnisse auf Ithaka in der Odyssee; siehe aber auch Hes. erg. 186-195 und Sol. 3 D = 3 Gentili/Prato, 1-9. Raaflaub 2001 spricht in diesem Zusammenhang von „civic responsibility" (bzw. Bürgerverantwortlichkeit) als der Triebfeder politischen Denkens und Handelns in den griechischen poleis. Vgl. Raaflaub 2001, 83-89 mit den entsprechenden Literaturhinweisen. Anders Spahn 1993, 354-358. Spahn betont das mit den homerischen Epen strukturell übereinstimmende, asoziale Wettbewerb-Denken, das vom Schlachtfeld auf das Kornfeld transferiert worden sei. Raaflaub 1996, 1038-1042 mit älterer Literatur. Vgl. van Wees 1999. Lane Fox 2000; Stein-Hölkeskamp 1997. So bereits Ulf 2001, 177. Vgl. hierzu insbesondere Sol. 3 D = 3 Gentili/Prato, 1-4. Im Hinblick auf Solon vgl. auch Mitchell 1997, 138. Od. 18, 139-141. Übersetzung nach A. Weiher. Hes. erg. 319-323. Sol. 3 D = 3 Gentili/Prato, 7 und 12-14. Solon-Übersetzungen nach Z. Franyo.
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dem Wahn einer naturgegeben Rechtlosigkeit der Schwachen. Sie erkennen in ihrer Verblendung nicht, daß sie die Welt ins Chaos und in Unordnung stürzen." Bei einem solchen unrechtmäßigen Fortgang der Dinge, muß die Welt aus ihren Fugen geraten; das heißt, es muß irgendwann zur politischen und ethischen Katastrophe kommen, wäre da nicht der zwischen Arm und Stark sowie zwischen Unterdrückten und Unterdrücker ausgleichende Schöpfergott, wie Hesiod aus göttlicher Intuition weis: „Leicht ja stärkt er den Schwachen, leicht drückt er den Starken zu Boden, / leicht wie er Ragende stutzt, so hebt er empor die Verborgenen, / leicht macht den Krummen er grad und läßt den Geschwollenen schrumpfen, / wolkendonnerer Zeus, der Bewohner der obersten Häuser";l0° - oder der im Auftrag des Schöpfergottes ausgleichende Staatsmann, wie Solon es von sich selbst behauptet: „Einfluß gab ich dem Volke soviel wie gerade genug ist, / Wollte nicht schmälern noch auch mehren ihn über Gebühr; / Auch den Mächtigen gönnte ich nur, den rühmlichen reichen, / Was ein jeglicher sich redlich und schimpflos erwarb. / Und so stand ich; mein kräftiger Schild beschirmte sie beide, /Keinem gewährte mein Spruch wider das Recht den Sieg."m Solon und Hesiod propagieren somit eine ausgleichende Gerechtigkeit, die nicht etwa darauf abzielt, unter den Menschen Gleichheit zu schaffen. Sie will lediglich ein harmonisches Zusammenleben der Menschen in einer ungleichen Welt ermöglichen, indem sie dem Schwachen eine Chance gibt und ihm den Rücken stärkt 102 : „ Und manchem, der zu Hause hier im schnöden Joch / Der Knechtschaft zitterte vorm Übermut der Herrn, / Gab ich die Freiheit wieder. Denn durch meine Macht / Hab' ich Gewalt zugleich und Recht in eins gefügt, / Und redlich hab' ich ausgeführt, was ich versprach. / Gesetze schrieb für Edle ich und Niedere, / Bestimmte jedem so das Recht, das ihm gebührt."m Ob nun im Rahmen des politischen Diskurses wie bei Solon 104 oder in jenem politischer Theologie wie bei Hesiod 105 , bei beiden resultiert das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit aus einem sozialen Verantwortungswillen der Starken gegenüber den Schwachen, der sich dem asozialen Eigenwillen in den Weg stellt. Die Folge dieses Gemeinsinns von oben nach unten ist das Zustandekommen eines .vertikalen Solidaritätsvertrages'' 06 , in dessen Geltungsrahmen die Starken für die Schwachen Sorge tragen und die Schwachen den Starken dafür Dank und Gehorsam schulden. Diese Ausgleich schaffende Verhaltensnorm in einer Welt der Ungleichheit nennt Assmann das Prinzip der vertikalen Solidarität: „Je höher einer steht, desto größer ist seine Schutzverpflichtung nach unten, je tiefer einer steht, desto größer seine Loyalitätsverpflichtung nach oben." 107 Was dieser vertikale Sozialismus also auf keinen Fall will, ist, die herrschende Gesellschaftsschichtung aus dem Sozialgefüge zu bannen. Er will lediglich „die sozialen Schichten zur Gegenseitigkeit und Vergeltung im
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Od. 1, 3 3 - 3 4 ; Hes. erg. 282, 3 2 0 - 3 2 5 ; Sol. 3 D = 3 Gentili/Prato, 5. Im Hinblick auf Solon vgl. auch Mitchell 1997 und Stahl 1992, 3 8 8 - 3 9 0 . Hes. erg. 5 - 8 . Sol. 5 D = 7 - 8 Gentili/Prato, 1 - 6 . So auch in bezug auf Solon: Eder 1997, 115f. und Mitchell 1997, 142. Sol. 24 D = 30 Gentili/Prato, 13-20. Raaflaub 1996, 1058-1062. Hes. erg. 2 1 2 - 2 1 6 . Assmann 2000, 104f. Assmann 2000, 105.
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Middling-Ideology'?
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Sinne von ,Füreinander-Handeln' und ,Aneinander-Denken' verpflichten." 108 Für die Starken und Mächtigen bedeutet das Einhalten eines solchen vertikalen Solidaritätsgedankens ganz konkret: Nicht Mehrhaben-Wollen! Nicht als Verbot, wie noch in der Odyssee Homers 109 oder den Werken und Tagen Hesiods 110 , sondern als Gebot heißt dies bei Solon ,Maßhalten': „Ihr, bis zum Überdruß satt von der strotzenden Fülle des guten, / Stillt euer herrisches Herz, bringt es im Busen zur Ruh! /Setzt eurem Wollen ein Maß: ... "111 Für Solon ist das Gebot des Maßhalten, d. h. ein metrios zu sein, offenkundig das wirksame Gegenprinzip, das die Habgier und die hybris der Reichen in Schranken zu halten vermag. Das Leitbild des Maßhalten liefert somit die Richtschnur, entlang derer der Weg des Maßgerechten schnurgerade verläuft und Abweichungen davon auf dem krummen Pfad des Übermaßes leicht als Fehltritte zu erkennen gibt. Moralisch gesehen werden solche Fehltritte dadurch zur Untugend, politisch dagegen zum Unrecht. Damit wird das Mehrhaben-Wollen auf Kosten Schwächerer im gesetzlichen Sinne strafbar, wie erneut aus einer entsprechenden Hesiod-Passage ersichtlich wird: „Horkos, der Hüter des Eids, verfolgt jede Biegung des Rechtes, / wenn der Stromlauf des Rechts sich krümmt nach der Habgier der Männer, /die das Gesetz sich biegen zurecht undfällen das Urteil."'12 Die Ideologie des Maßhalten ist folglich als ein Steuerungsmechanismus zu denken, der das Handeln auf das Bemühen lenkt, sich selbst in seiner Gier zu beherrschen, stets auf einen versöhnlichen Ausgleich bedacht zu sein, sowie Maß zu halten in der Wahl der Mittel und in der Verfolgung der Ziele. Maßhalten ist also die Verhaltensnorm, die ein harmonisches Leben zwischen Extremen und in sozialer Ungleichheit überhaupt erst auf die Dauer möglich macht. Das Gebot des Maßhalten ist demnach das beste Mittel, um Frieden und Eintracht in einer ungleichen Welt zu sichern, d. h. um von oben herab den Ruf von unten nach Gleichheit zu unterbinden. Doch welchen Nutzen hat der Starke davon, wenn er seinen asozialen Eigen- dem Gesamtwillen unterordnet, wenn er deshalb die geraden Pfade des Rechtes begeht und sich die Krummen aus dem Sinn schlägt, wie es Hesiod von den ,gabengierigen' Basileis fordert?" 3 Hier kommt nun beim Odysseedichter wie bei Hesiod und Solon ein zweites Gerechtigkeitsprinzip mit ins Spiel, nämlich jenes der ,Konnektiven Gerechtigkeit'. 114 Grundsätzlich ist darunter ein Tat-Ergehen-Zusammenhang zu verstehen, innerhalb dessen sich das Gute lohnt und das Böse sich rächt. Sorge dafür trägt der Schöpfergott, der bis in die entlegensten Winkel menschlicher Herzen sieht und alles registriert. Verstoße gegen das Prinzip der vertikalen Solidarität, d. h. moralische und rechtliche Vergehen gegen die Gemeinschaft, werden vom Schöpfergott entsprechend geahndet. Dabei ist allerdings weniger an eine gesetzli-
108 109 110 111 112 113 114
Fadinger 1997, 87. Od. 18, 141. Hes. erg. 212. Sol. 4 D = 5 Gentili/Prato, 4 - 7 . Hes. erg. 2 1 8 - 2 2 0 . Hes. erg. 2 6 2 - 2 6 3 . Zum Begriff der ,Konnektiven Gerechtigkeit' siehe Assmann 2000, 6 3 - 6 9 . Zu dieser TheodizeeVorstellung auch Raaflaub 2001, 86. Zur Dike als Personifikation dieses Gerechtigkeitsprinzips, das unter Zeus' Obhut steht vgl. Stahl 1992, 3 9 0 - 3 9 2 .
164
Erich Kistler
che Strafe im engeren Sinne zu denken, als vielmehr an Mißerfolg und Leiden im Leben." 5 In der Odyssee und bei Hesiod wird dieser Gedanke von einem ,Gottesgericht' sogar noch durch die Vorstellung von Gehilfen des Schöpfergottes verdichtet, die sich in Gestalt von Bettlern und Fremdlingen unter die Menschen begeben, um deren Gesinnung auf hybris oder eunomia hin zu testen." 6 Dieses Wissen um göttliche Garanten einer .Konnektiven Gerechtigkeit' wird als ein Wissen von Eingeweihten ausgegeben, das im Auftrag der Götter den Menschen unterbreitet werden soll, damit diese künftig auf den Pfaden des Maßgerechten wandeln und ausgleichende sowie versöhnende Gerechtigkeit ausüben. 117 Die odysseeische, hesiodeische und solonische Dichtung ist allem Anschein nach ganz auf Erziehung angelegt. 118 Sie zielt auf das Sensibilisieren des einzelnen dafür ab, daß Habgier und Gewinnsucht auf Kosten anderer im Kosmos des Tat-Ergehen-Zusammenhanges als Leiden und Mißerfolg auf den Übeltäter zurückwirken. Damit wird über den Wunsch nach individuellem Wohlergehen ein Sinn für das Maßhalten und für den Ausgleich im Kollektiv geschaffen, wodurch der ,IstZustand' der Welt in Unordnung, Gewalt und Rechtlosigkeit (dysnomia) in den ,Wie-dieWelt-sein-sollte-Zustand' in Ordnung, Frieden und Rechtlichkeit (eunomia)" 9 überführt werden kann. Dies zu lehren, ist die vordringlichste Aufgabe der solidarisch gesinnten, frühgriechischen Dichter. 120 Stellvertretend für die anderen sollen hier abschließend Solon und Theognis zu Wort kommen: „ Mir gibt das Herz den Befehl, die Athener so zu belehren: / Gilt kein Gesetz, wird viel Übel dem Staate zuteil. / Gilt das Gesetz, - es fügt zu schöner Ordnung das Ganze; / Die aber Unrecht tun, legt es in Fesseln sogleich, / Glättet das Rauhe, bezwingt die Gierde, erniederigt den Hochmut, / Dörrt der Verblendung frech wuchernde Blüten und stellt / Das verborgene Recht wieder her; vermessenes Handeln / Dämpft es und setzt dem Zwist zwischen den Bürgern ein Ziel, / Macht ein Ende dem bitteren Zank. Befolgt man das Rechte, / wird bei dem Menschengeschlecht alles gerade und gut. "121 „Hochmut, laß dir 's gesagt sein, hat schon viele Männer zu Fall gebracht, die uneinsichtig waren. / Denn es ist schwierig, das richtige Maß so zu erkennen, auf daß das Gute gegenwärtig ist. "122
115 116 117 118 119 120 121 122
Od. 2, 146-152; Hes. erg. 2 3 7 - 2 4 7 und 2 6 6 - 2 6 8 ; Sol. 1 D = 17 Gentili/Prato, 2 5 - 3 2 und 3 D = 3 Gentili/Prato, 15-16. Od. 17, 4 8 4 - 4 8 7 ; Hes. erg. 2 4 8 - 2 5 6 . Od. 24, 4 7 8 - 4 8 6 , bes. 481; Hes. erg. 2 8 5 - 3 8 0 , bes. 285; Sol. 3 D = 3 Gentili/Prato, 3 0 - 3 9 , bes. 30. Ulf 2001, 178; Raaflaub 2001, 87f.; vgl. auch Stahl 1992, 4 0 2 - 4 0 5 , der dieses Wirken Solons m. E. zu stark unter eine ,vor- bzw. urdemokratische' Prämisse stellt. Stahl 1992, 398f. spricht in Zusammenhang mit Solons Dichtung von der eunomia als der neu geforderten Moral, die das harmonische Zusammenleben in der Polis sichern soll. Betreffend Solon vgl. auch Stahl 1992, 395f. Sol. 3 D = 3 Gentili/Prato, 2 9 - 3 9 . Thgn. 693f.
, Kampf
der
Mentalitäten':
Ian Morris',
Elitist-'
versus,
Middling-Ideology'?
165
Z i e h e n w i r r ü c k b l i c k e n d ein Fazit: D i e zu B e g i n n d e s E x k u r s e s gestellte Frage n a c h Rückbindung
d e r metrios-Ideologie
an die g e o m e t r i s c h e
Gleichheit als einer reinen
der An-
s i c h t s s a c h e o l i g a r c h i s c h g e s i n n t e r D e m o k r a t i e g e g n e r ist g a n z k l a r m i t N e i n z u b e a n t w o r t e n . B e r e i t s s e i t d e m A u f k o m m e n d e s Z u s a m m e n l e b e n s in B ü r g e r g e m e i n s c h a f t e n a m E n d e
des
8 . o d e r f r ü h e n 7 . J h s . v . C h r . s t e h e n d i e metrios-Ideologie
und
d i e g e o m e t r i s c h e G l e i c h h e i t α priori
(bzw. ,middling-ideology')
in e i n e m u n t r e n n b a r e n Z u s a m m e n h a n g u n d
a u f e i n a n d e r . 1 2 3 I n f o l g e d e s s e n k o n n t e d i e metrios-Ideologie
verweisen
auch u n m ö g l i c h den W e g zu ei-
n e m arithmetischen Gleichheitsprinzip anbahnen und so die politische
Gleichberechtigung
im demokratischen A t h e n vorbedingen. Im Gegenteil, es verhält sich geradezu
umgekehrt,
als es v o n Morris a n g e n o m m e n wird. D i e metrios-Ideologie
w a r als lang anhaltendes und weit verbreitetes
Verwirklichungs-
prinzip geometrischer Gleichheit und timokratischer Wohlordnung ( e u n o m i a ) eine wesentlic h e V o r b e d i n g u n g zur B i l d u n g eines e t h i s c h e n Hintergrundes zur D e m o k r a t i e k r i t i k ! ' 2 4 D e n n i n v o r d e m o k r a t i s c h e n Z e i t e n - u n d a u c h s p ä t e r in n i c h t d e m o k r a t i s c h e n poleis
- war die Un-
gleichheit unter den M e n s c h e n n o c h eine unhinterfragbare Selbstverständlichkeit. D a s derte
freilich
än-
mit der rechtskräftigen Etablierung politischer C h a n c e n g l e i c h h e i t radikal. N u n
galt nicht m e h r als die e i n z i g m ö g l i c h e V e r w i r k l i c h u n g v o n Gerechtigkeit, daß j e d e r Bürger d i e s e i n e m W e r t e n t s p r e c h e n d e n R e c h t e hatte, s o n d e r n n e u e s G e r e c h t i g k e i t s p r i n z i p w a r die prinzipiell g l e i c h m ä ß i g und g e s e t z l i c h g e o r d n e t e B e t e i l i g u n g aller B ü r g e r an d e n
123
verfas-
D i e W u r z e l n dieser I d e o l o g i e ( b z w . der , m i d d l i n g - i d e o l o g y ' ) sind a u ß e r d e m k e i n e s w e g s allein in ein e m b ä u e r l i c h - h a n d w e r k l i c h e n Milieu z u s u c h e n , w i e dieses im freien B a u e r t u m d e r h e s i o d e i s c h e n D i c h t u n g repräsentiert wird. Zeitgleich wird die m e / W o i - I d e o l o g i e im G e w a n d der H e l d e n e p i k , transp o n i e r t a u f e i n e h e r o i s c h e u n d d a m i t p a r a d i g m a t i s c h e V o r z e i t , a u c h in der F ü h r u n g s s c h i c h t als ein mit d e m Bestheitsideal k o n k u r r i e r e n d e s H a n d l u n g s i d e a l sozialisiert. I n s o f e r n k a n n M o r r i s '
Annahme
n i c h t g a n z z u t r e f f e n d sein, d a ß die , m i d d l i n g - i d e o l o g y ' im D e n k e n und H a n d e l n von M ä n n e r n mit m i t t l e r e m G r u n d b e s i t z u n d b ä u e r i s c h e m H a b i t u s w u r z l e ( M o r r i s 2 0 0 0 , 163-165). Hier r e p r o d u z i e r t M o r r i s lediglich die E i g e n p e r s p e k t i v e v o n H e s i o d und Aristoteles, o h n e d a b e i die n o t w e n d i g e , kritis c h e u n d historische D i s t a n z z u d e n b e i d e n A u t o r e n z u w a h r e n . H i e r b e i s t e h e n w o h l z w e c k d i e n l i c h e M o t i v e i m V o r d e r g r u n d . D e n n bei A r i s t o t e l e s (Aristot. pol. 1318b6—20) w i e bei H e s i o d (cf. S p a h n 1993, 3 5 4 f . ) läßt sich im porträtierten, f r e i e n B a u e r n t u m s o e t w a s w i e e i n e u r d e m o k r a t i s c h e G e s e l l s c h a f t sehen, w e n n m a n i h n e n unterstellt, d a ß sie n a c h e i n e m d e m o k r a t i s c h e n telos streben. I n s o f e r n w ä r e d a n n M o r r i s r e c h t z u geben, d a ß s o l c h e s freies B a u e r t u m d e m o k r a t i s c h e s D e n k e n u n d H a n d e l n v o r b e d i n g t h a b e . N u r , und hierin liegt d a s e i g e n t l i c h e P r o b l e m b e g r ü n d e t , stellt A r i s t o t e l e s z w a r d i e B a u e r n p o l i s a u s mittleren G r u n d b e s i t z e r n als die beste, praktizierte F o r m von D e m o k r a t i e d a r (Aristot. pol. 1318b9—11), b e g r ü n d e t dies a b e r z u g l e i c h d a m i t , d a ß dort n o c h die B e s t e n und F ä h i g s t e n in d i e f ü h r e n d e n P o s i t i o n e n g e b r a c h t w e r d e n (Aristot. pol. 1318b28—32), d a ß dort also n o c h g e o m e t r i s c h e G l e i c h h e i t als r e c h t v e r s t a n d e n e G e r e c h t i g k e i t realisiert wird. I n s o f e r n d e c k t sich A r i s t o t e l e s ' B a u e r n d e m o k r a t i e m i t d e m , w a s Isokrates d e m o k r a t i s c h e A r i s t o k r a t i e ' nennt (Isokr. or. 12, 131 und 153). B e i d e m e i n e n d a m i t letztlich w e n i g e r D e m o k r a t i e , als v i e l m e h r e i n e t i m o k r a t i s c h e M i s c h v e r f a s s u n g , u n d s e h e n darin die b e s t m ö g l i c h e A l t e r n a t i v e z u r P ö b e l h e r r s c h a f t (Ochlokratie)
oder Monarchie.
H i e r z u g r u n d l e g e n d S c h ü t r u m p f 1995, 2 7 6 - 2 7 9 . 124
K r i t i s c h e Ä u ß e r u n g e n seitens der K o m ö d i e n d i c h t e r , S o p h i s t e n und , A l t e r O l i g a r c h e n ' w u r d e n in A then v o r a l l e m w ä h r e n d der letzten beiden, Krisen g e s c h ü t t e l t e n J a h r z e h n t e d e s 5. Jhs. v. Chr. laut. Sie bildeten w o h l a u c h den m e n t a l i t ä t s g e s c h i c h t l i c h e n H i n t e r g r u n d , der e i n e , p o s i t i v e ' E i n s t e l l u n g g e g e n ü b e r d e m o l i g a r c h i s c h e n Interludium w ä h r e n d j e n e r J a h r e vorbereitete. Vgl. hierzu R a a l l a u b 2 0 0 1 , 105-117.
166
Erich Kistler
sungsrechtlichen Verfahren zur Bildung des Staatswillens. 125 Gerade aber für oligarchisch gesinnte Athener, die unbeirrt an der geometrischen bzw. proportionalen Gleichheit als naturgemäßer Gerechtigkeit festhielten, war die praktizierte, politische Gleichberechtigung freilich wider die Natur und so primärer Verursacher sozialer Ungerechtigkeit im Staat, da sie nicht mehr jedem zukommen ließ, was ihm zustand, und da sie den Neid auf all jene nährte, die mehr hatten als andere, was von unten her den zwanghaften Wunsch zu sozialer Gleichbehandlung aufkommen ließ. Sophisten wie Gorgias machten aus diesem oligarchisch-timokratischen Ansinnen und antidemokratischen Ordnungsdenken keinen Hehl: Allein, ich fürchte, jene, die die Gesetze erlassen, das sind die sozial Minderen: die , Vielen'. Auf sie zugeschnitten und im Hinblick darauf, wie es ihnen zuträglich ist, legen sie die Gesetze fest und erteilen (dementsprechend) Lob und Tadel.126 Um die Stärkeren der Menschen, die das Potential zum Mehrhaben hätten, einzuschüchtern, damit diese nicht mehr haben wollen als sie selbst, sagen sie, das Mehrhaben-Wollen sei schändlich und ungerecht; (d. h.) es ist unrechtmäßiges Tun, wenn man danach trachtet, mehr zu haben als die anderen. So schätzen sie es, wie ich meine, wenn sie selbst gleiche Anteile haben, obschon sie die Geringwertigeren sind. Laut Gesetz gilt deshalb das Streben nach dem Mehrhaben als die , Vielen' als unsittlich und ungerecht; sie nennen es gesetzwidriges Tun. Im Gegensatz dazu zeigt die Natur m. E. auf, daß die Besseren mehr haben als die Minderen, die Mächtigeren mehr als die Unbedeutenderen.127 Auf vielfache Weise offenbart die Natur, daß unter Tieren ebenso wie unter Menschen, in ganzen Polisgemeinschaften wie bei ganzen Stämmen, das Gerechtigkeitsprinzip darin erachtet wirdm, daß der Stärkere über den Schwächeren herrscht und mehr hat."129 Wenn also - um auf den letzten Einwand zu sprechen zu kommen - für die Lebenswelt im demokratischen Athen bestimmte Formen von Zwang und Intoleranz festzustellen sind, so lassen sich diese gerade nicht auf den Einfluß und das Wirken der metrios-Ideologie zurückfuhren. Im Gegenteil, die in der demokratischen Kultur Athens zweifellos beobachtbaren Restriktionen und Repressalien sind zumindest Gorgias zufolge als Schattenseiten eines intensiven Bürgerseins bei politischer Chancengleichheit zu verbuchen. Allerdings brauchte es damals schon einen verwegenen und charismatischen Redner wie Alkibiades, um dies auch vor versammelter Bürgerschaft geradeheraus zu sagen: „Und was ich wiederum in der Stadt mit Aufführungen oder sonst an Pracht entfalte, weckt bei den Städtern gewiß Neid das ist in der Natur - ..."'30
125 126 127
128 129 130
Vgl. Bleicken 1988, 245 mit entsprechenden Quellenangaben. Entsprechend äußert sich auch Aristoteles, pol. 1318bl-5, im Hinblick auf demokratische Verfassungen. Diese polemisierende Gegenüberstellung von nomos und physis, von Konvention und Tatsächlichem, um den ethischen Hintergrund zur Demokratiekritik zu bilden, ist typisch für die Argumentationsweise der Sophisten; vgl. beispielsweise Antiphon Diels/Kranz fr. Β 44. Siehe dazu auch Ostwald 1986, 250-73. Das Recht des Stärkeren als das wahre Gerechtigkeitsprinzip findet sich auch beim Sophisten Thrasymachos Diels/Kranz fr. 6a. Plat. Gorg. 483 b-d. Thuk. 6, 16. Übersetzung nach G. P. Landmann.
, Kampf der Mentalitäten':
Ian Morris', Elitist-' versus ,
Middling-Ideology'?
167
Es ist demnach hauptsächlich der Neid der Mißgünstigen, der in der athenischen Demokratie zu einem gewissen Zwang sozialer und materieller Gleichbehandlung (bzw. zu einer normativen ,middling-culture') gefuhrt hat und eben nicht das Leitbild des metrios oder die ,middling-ideology'. 131 Infolgedessen kann die auf dieser unzutreffenden Prämisse basierende Rückprojektion des ,middlings' gewissermaßen als ,urdemokratisches' GleichmacherPrinzip auf die frühgriechische Bestattungskultur auch keine historische Durchdringung der Nekropolenbefunde aus jener Frühzeit erzielen. Fassen wir zusammen: Was von Morris' vier Leitideen zu einem eisenzeitlichen Griechenland nach kulturanthropologischen Muster bleibt, ist die These, daß die Sozialgeschichte der archaischen Epoche sich am besten begreifen lasse als ein lang andauernder Konflikt zwischen den beiden oppositionellen Weltsichten der ,elitist-ideology' und der ,middlingideology'. 132 Ungeachtet dessen, daß es die ,middling-ideology' (bzw. metrios-Ideologie) zwangsläufig vom arithmetischen Gleichheitsbegriff loszulösen und gemäß den antiken Quellen in ein geometrisches sprich timokratisches Ordnungsdenken einzubinden gilt, erlaubt Morris' antagonistisches Erklärungsmodell durchaus eine gehaltvollere und nützlichere Perspektive auf gewisse Eigenarten und Phänomene der Archaik, deren Entstehungskontext und ,Sitz im Leben' bisher noch weitgehend ungeklärt blieben. Das soll die abschließende, archäologische Fallstudie noch zusätzlich unterstreichen.
III.,Middling-ideology' versus ,elitist-ideology': Liegende Symposiasten versus thronende Potentaten Die beiden mentalen Kategorien, Bestheit und Übermaß (ÄyAm-Ideologie) oder Solidarität und Maßhalten {metrios-Ideologie), sie steckten, wie Morris herausgestellt hat, zu einem großen Teil die Grenzen ab, innerhalb derer sich das Denken und Handeln der Menschen in einem Bürgerverband bewegte. Fragen wir nach archäologischen Denkmälern, die durch diesen Sachverhalt in ihrem Aussehen geformt und geprägt wurden, so lohnt sich der Blick
131
Dieser Fehlschluß basiert wohl hauptsächlich auf Aristoteles' Utopievorstellung von einem Staat der mesoi, die alle untereinander gleich und ebenbürtig sind, und dies nicht nur in politischer, sondern auch in sozialer Hinsicht, was sich insbesondere im Gebot mittleren Grundbesitzes zeigt (Aristot. pol. 1295b). Hier könnte man mit Morris zurecht von einer ,middling-culture' sprechen (Morris 2000, 118f.). Diesem Idealstaat kommt gemäss Aristoteles die althergebrachte Einrichtung der , Bauerndemokratie' am nächsten. Deshalb ist diese seines Erachtens auch die beste Form von Demokratie, die in der Alltagswirklichkeit praktiziert wird (Aristot. pol. 1318a4—10). Worin sich allerdings diese ,Bauerndemokratie' vom Idealstaat der mesoi wesentlich unterscheidet, ist die Tatsache, daß gerade in dieser demokratisch genannten Verfassungsform trotz der überwiegenden Mehrzahl der mesoi eigentlich nur die ,Besten' in die Ämter gewählt werden, daß dort demnach geometrische und nicht arithmetische Gleichheit verwirklicht wird (Aristot. pol. 1318b30-41). Also in der ,Bauerndemokratie', w o Aristoteles zufolge noch am ehesten so etwas wie eine ,middling-culture' im Sinne von Morris zu erwarten wäre, genau dort wird das ,Strong Principle o f Equality' nicht realisiert, sondern ein timokratisch strukturiertes Verfassungprinzip! Vgl. hierzu auch Eder 1997, 124 und Schütrumpf 1995, 290.
132
In diesem Sinn haben sich bereits vor Morris Spahn 1993, 345 und Raaflaub 1989, 32 geäußert.
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Erich Kistler
ins Heraheiligtum auf Samos und ins Apollonheiligtum bei Didyma. In diesen beiden Heiligtümern führten die beiden gegensätzlichen Ideologien unter den vermögendsten Stiftern zur Weihung unterschiedlichster Standbilder, die den Antagonismus zwischen den beiden mentalen Kategorien jedem Heiligtumsbesucher in aller Deutlichkeit vor Augen führten. Es ist die Rede von den Standbildnissen reicher und einflußreicher Männer, die sich entweder als Symposiasten in griechischem Rollenmuster, oder als Thronende im orientalischen Herrscherhabitus repräsentieren ließen. Wenden wir uns zunächst der sogenannten Geneleos-Gruppe im Heraion von Samos zu. 133 Die von dem Bildhauer Geneleos um 550 v. Chr. geschaffene Gruppe zeigt ein dreidimensionales Familienporträt 134 auf einer 6,08m langen, gemeinsamen Basis an der Heiligen Straße zum Altar und Tempel: den Mann als gelagerten Zecher und die Ehefrau als thronende Hausherrin; zwischen der Thronenden und dem Gelagerten stehen die Standbilder ihrer Kinder; der Sohn zur Seite der Mutter im Typus des anmutig stehenden und tadellos bekleideten Jünglings, die Töchter neben ihrem Vater im Typus der Kore mit der Geste des Chitonraffens, was ihnen charis'35, Reiz und Gefälligkeit, verleiht. Alle Familienmitglieder werden im Rahmen dieses Familienweihgeschenks in ihren idealtypischen sozialen Rollenmustern präsentiert. Die Nameninschriften auf den einzelnen Statuen geben zu erkennen, welcher Hausstand sich hier auf diese Weise in der Öffentlichkeit zur Schau stellen ließ. Zweifellos steht bei der liegenden Zecherfigur hinter dem benannten Stifter ... ilarches mehr ist leider von der Inschrift nicht erhalten - ein sehr vermögender und einflußreicher Mann. Bekanntlich war es sehr kostspielig, so eine Statuengruppe bei einem renommierten Bildhauer 136 in Auftrag zu geben. Außerdem brauchte es sehr viel machtpolitischen Einfluß auf die Priesterschaft im Heraion, um das monumentale, in Stein umgesetzte Familienporträt an einer so prominenten Stelle im Heiligtum piazieren zu können. Den Stifter dieses Familienanathems der sozialen Spitzengruppe von Samos zuzurechnen, scheint deshalb nur folgerichtig zu sein. Und dennoch ließ er sich ,bloß' im Habitus des Zechers abbilden. Dieses ,Bloß' ergibt sich insbesondere angesichts des eindrücklichen Standbildes, das ein anderer bedeutender Samier, namens Aiakes, im letzten Viertel des 6. Jhs. v. Chr. 137 auf die Akropolis von Samos-Stadt geweiht hatte. 138 Aiakes läßt sich im Gegensatz zu seinem Standesgenossen in der Geneleos-Gruppe ganz im Habitus des thronenden Herrschers nach orientalischem Muster in Stein verewigen: Die 1,48m hohe Sitzstatue, deren Kopf nicht mehr erhalten ist, trägt einen knöchellangen Chiton als Untergewand mit einem über der linken Schulter fein drapierten Mantel. Ganz nach orientalischer Pracht und herrschaftlicher Würde muten die hockenden Löwen an, die die Seitenlehnen des Thrones tragen. Dazu paßt der Wortlaut der Weihinschrift: ,/liake.s, der Sohn des Brychon, hat (mich) geweiht. Für He-
133
134 135 136 137 138
Samos, Vathy Museum Inv. 768. Vgl. Kienast 1992; Walter-Karydi 1985; Freyer-Schauenburg 1974, 1 0 6 - 1 3 0 mit Taf. 4 4 - 5 3 . 7 3 ; auch abgebildet in: Boardman 1991, Abb. 9 1 - 9 3 ; Fuchs 1983, Abb. 161 und 340f. Vgl. Walter-Karydi 1985, 9 8 - 1 0 1 ; Fehr 2 0 0 0 , 1 2 4 . Zum cAaWs-Begriff in der archaischen Lebenswelt vgl. Fehr 2000, 131-135. Zum Bildhauer Geneleos: Walter-Karydi 1985, 103f. Zur Diskussion der umstrittenen Datierung siehe Martini 1990, 197. Samos, Tigani Museum Inv. 285. Vgl. Freyer-Schauenburg 1974, 1 3 9 - 1 4 6 mit Taf. 56 und 57. Auch abgebildet in: Boardman 1991, Abb. 96; Martini 1990, Abb. 63.
, Kampf der Mentalitäten':
Ian Morris', Elitist-' versus , Middling-Ideology'?
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ra machte er Beutegewinn, als er der Polis vorstand,"139 Unbeschönigt heißt das soviel wie, daß Brychons Sohn zeitweilig über Samos herrschte und wohl Familiengüter politischer Feinde konfiszierte, also die ökonomische Basis seiner politischen Widersacher zerstörte. 140 In diesem Standbild wird somit tyrannisches Gehabe gleich auf zweifache Art sichtbar, zum einen durch die Inschrift, die auf realpolitische Tyrannenpraxis schließen läßt, zum anderen durch den Standbildtypus, der den Herrschaftsanspruch seines Stifters einstmals in aller Öffentlichkeit zu erkennen gab. Vor dem Hintergrund einer solchen herrschaftlichen Zurschaustellung eines Angehörigen der samischen Führungsschicht tritt nun die politische Opposition umso augenfälliger in den Vordergrund, die durch die Selbstdarstellung im Habitus des gelagerten Zechers 141 bekundet wird. Zuallererst ist es bei diesem Repräsentationstypus die Pose, die von einem jeden Griechen eingenommen wird, wenn er unter seinesgleichen bei Wein und heiterer Unterhaltung der Muße frönt142, die dementsprechend auch - im Gegensatz zum Standbild des Thronenden - keinerlei herrschaftliche Ambitionen oder eine Führungsposition im Sozialgefuge signalisiert. Im Gegenteil, in der idealtypischen Haltung des Zechers manifestiert sich der vorbildliche Symposiast, wie er in der zeitgenössischen, metasympotischen Dichtung immer wieder gepriesen und propagiert wird: dieser trinkt nur mäßig Wein, damit er nicht die Kontrolle über seinen Körper und seine Sinne verliert 143 ; mit Spottliedern foppt er seine Zechgenossen, aber nur insoweit, wie er selbst Spott ertragen kann 144 ; schließlich weiß er unverfängliche Gesprächsthemen zu wählen, um Streitereien in seinem Symposiastenkreis zu vermeiden. 145 Ob beim Weingenuß, bei Witzelei oder bei ernsthafter Diskussion, immer steht die Frage nach dem richtigen Maß im Zentrum. Wird dieses überschritten, so kommt es zum Suff, Erbrochenem und Blessuren. 146 Ein Symposion in Heiterkeit und in fröhlicher Geselligkeit ist insofern immer eine Herausforderung an die Selbstdisziplin und Kontenance eines jeden Teilnehmers, die im Ideal des metrios-Sein gipfelt. 147 Im kleinen Umkreis einer Zecherrunde konstituiert sich so das Testfeld für jenes ideale Verhalten 148 , das erst recht im empfindli139
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143 144 145 146 147
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Zu den Editionen der Inschrift und ihrer unterschiedlichen Lesung resümierend und mit den entsprechenden Literaturhinweisen: Freyer-Schauenburg 1974, 143 mit Anm. 206. Anders lautet die Übersetzung bei Freyer-Schauenburg 1974, 143: ,^4iakes, Brychons Sohn, hat mich geweiht. Er betrieb für Hera die Kaperei zur Zeit seines Vorsteheramtes." In bezug auf Polykrates vgl. Hdt. 3, 39, 4 und 3, 44, 2; Aristot. pol. 1313bl6-25. Hierzu grundlegend Walter-Karydi 1985, 95-97. Zum gelagerten Zecher und Frohsinn beim Symposion vgl. Matthäus 2000 mit entsprechenden Literaturhinweisen. Zum Aspekt der auf Liegebetten lagernden Zecher auf den Vasen als Ausdruck einer Gemeinschaft von Gleichen siehe Fehr 2000, 136-138. Thgn. 477-481 und 503-508; Xenophan. Diels/Kranz fr. Β 1, 17f. Vgl. das elegische fr. adesp. 12. Gentili/Prato. Neu editiert und kommentiert von Iscra/Marincic 1991. Thgn. 493^197; Xenophan. Diels/Kranz fr. Β 1, 21-23; vgl. auch Hdt. 6,129, 2. Hierzu siehe Pellizer 1991. In einmaliger Weise auf der Bühne parodiert von Aristophanes, Vesp. 1310-1522. Vgl. Hdt. 6, 128,1-129. Paradigmatisch hierfür ist die Geschichte des Atheners Hippokieides, der im Suff mit seiner unangemessenen Tanzdarbietung seine Hochzeit mit der Tochter des sikyonischen Tyrannen Kleisthenes buchstäblich vertanzt hatte. Diesen metrios-Häb'Aus empfiehlt Aristoteles, pol. 1314b29—35, sogar dem idealen Tyrannen: „Was die physischen Genüsse angeht, so soll er es umgekehrt halten, als es einige gegenwärtige Tyrannen
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chen und häufig instabilen Makrokosmos der Polis zum Tragen kommen sollte, nämlich das maßvolle, selbstbeherrschte und auf andere Rücksicht nehmende Betragen der Bürger zur Erhaltung der eunomia im Gemeindewesen. Es ist daher bezeichnend, daß gerade in der Staatselegie Solons das Bild vom geselligen Beisammensein beim Gelage bemüht wird, um das Fehlverhalten der hybristes im politischen Raum des athenischen Bürgerstaates aufzuzeigen: „Denn sie verstehen es (sc. die hybristes) nicht, das Zuviel zu zügeln, und sich den Heiterkeiten hinzugeben, die gegenwärtig sind bei einem Opferfest in Ruhe." 149 Wenn sich also der Stifter der Geneleos-Gruppe im Heraion von Samos darstellen läßt im Habitus des idealtypischen Zechers, dessen Gewand noch in tadelloser Drapierung sitzt und dessen Körperhaltung noch aufrecht ist, dann verweist er damit auf jene idealtypische Haltung des metrios, die er gleichfalls im Rahmen des Weihgeschenk-Stiftens unter Beweis gestellt hat, indem er zur Repräsentation seiner sozialen Person eben gerade nicht den Typus des Thronenden ausgesucht hat. Interessant und sicherlich auch bedeutsam ist in Zusammenhang mit der GeneleosGruppe die Beobachtung, daß liegende Zecherfiguren auch bei Weihungen in anderen Heiligtümern anzutreffen sind, und zwar im Osten wie im Westen der griechischen Oikumene. Allerdings immer nur in tönerner 150 oder allenfalls bronzener 151 Ausführung. 152 Eine monumentale Übertragung dieses Standbildtypus in Stein hat scheinbar nur dort stattgefunden, wo sich im Gegenzug dazu andere Aristokraten als Herrschende in Marmor verewigen ließen. Diese Feststellung trifft nicht nur auf Samos zu, sondern auch auf poleis an der gegenüberliegenden Küste Kleinasiens. Ein Blick in das Apollonheiligtum bei Didyma ist hier besonders aufschlußreich. Dort ist die Inszenierung von lokalen Potentaten als Herrscher im Typus des Thronenden bereits vor dem Weihen liegender Zecherfiguren nachweisbar. Aus einer ganzen ,Serie' von Sitzfiguren im Herrschertypus, die um 570 v. Chr. einsetzt und bereits wieder um 545 v. Chr. endet, sei hier nur gerade das Standbild des Chares, Sohn des Kleisis, namentlich erwähnt.153 So läßt die beigefügte Inschrift am herrschaftlichen Selbstverständnis des Stifters, das durch dieses Standbild vermittelt werden soll, keinen Zweifel: „Ich bin Chares, Sohn des Kleisis, Herrscher von Teichioussa." Obwohl es sich hierbei um einen Ort in Karien handelt, will Chares sich in seiner Würde als Herrscher 154 in einem grie-
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tun: diese treiben das nicht bloß vom frühen Morgen an und viele Tage hintereinander, sondern sie wollen sich auch den andern in diesem Zustand zeigen, damit man sie als glücklich und selig bewundere. Er soll also vor allem in diesen Dingen Maß halten oder es doch wenigstens vermeiden, sich dabei von andern beobachten zu lassen." Übersetzung nach 0 . Gigon. Solon 3 D = 3 Gentili/Prato, 9-10. Grundlegend dazu Stahl 1992, 389. Beispielsweise aus Zypern (New York MM 74.57.2539) und aus Thera (Praktika 1986, Taf. 127) Vor allem als Schmuck von Gestängen bronzener Dreifuße z.B. aus Dodona (London, Britisch Museum 1954.10-18-1), Metapont (Berlin, Inv. Fr. 768) und Trebenischte (Belgrad Inv. 17311). Fehr 2000, 121. London, Brit. Mus. Β 278. Tuchelt 1970, 78-80 und 144-147 mit Taf. 8,1; 41,2; 43,2; 44,1.2; 45,1.2; 46,1-3. Auch abgebildet in: Boardman 1991, Abb. 95. Im Fall der Branchiden läßt sich die herrschaftliche Repräsentation vielleicht noch über das Thronen hinaus auf den Typus des .Thronenden Zechers' festlegen. Zum einen fand man im Tempelgebiet des Didymaions eine Hand (Tuchelt 1970, 52 mit Abb. 10), die von ihrer Größe und ihren Bruchstellen her zu einer der Sitzfiguren passen könnte. Sie hielt einstmals etwas in ihrer Hand umschlossen. Ein Trinkgefaß? Zum anderen haben die Perser bei ihrem Sturm durch das Heiligtum offenkundig mit
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chischen Heiligtum und vor einem griechisch verständigen Publikum verewigt lassen wissen, da er die Weihinschrift auf Griechisch anbringen ließ. Wie in Samos forderte solche herrschaftliche Selbststilisierung auch in Didyma jene Aristokraten heraus, die sich dem metrios-Ideal verschrieben hatten. Dementsprechend ließen sich diese bei der Weihung ihres eigenen Standbildes im Habitus des idealtypischen Symposiasten abbilden 155 , um so monumental und ,medienwirksam' das Gegenideal zum rücksichtslosen Machstreben und nahöstlichen Herrschergehabe zu inszenieren. Beim Gang durchs didymäische Apollonheiligtum wurde so dem damaligen Besucher auf Schritt und Tritt, vom Bildnis des Thronenden zu jenem des Symposiasten, der spannungsgeladene Antagonismus zwischen der metrios-Dieologie und dem Bestheitsideal nur allzu deutlich gegenwärtig, der das Leben, Handeln und Denken in einer archaischen Polis so nachhaltig bestimmen konnte.
Absicht die rechten Hände aller Sitzfiguren der Branchiden abgeschlagen (hierzu Tuchelt 1988). Demnach müssen diese Hände eine damals politisch brisante Botschaft signalisiert haben. Das Halten eines Trinkgefäßes zur Selbstrepräsentation als ,Herrschaftlicher Zecher' und Veranstalter von Königs- bzw. Fürstenbanketten (für den nahöstlichen und etruskischen Kontext siehe Kistler 2001)? Für die Möglichkeit, daß die Sitzfiguren der Branchiden und vielleicht auch jene des Aiakes einstmals ,Thronende Zecher' darstellten, spricht auch die Tatsache, daß in der archaischen Plastik der Typus des ,Thronenden Zechers' durchaus bekannt war, wenn auch transponiert auf eine DionysosDarstellung (aus Ikaria um 530/20 v. Chr., Athen Nationalmuseum Inv. 3897, 3073, 3074, 3072). 155
Tuchelt 1976.
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Walter Scheidel
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1. Positionen der Forschung In der jüngeren Vergangenheit wurde der demographischen Entwicklung Griechenlands im achten Jahrhundert verstärkt Aufmerksamkeit zuteil. Zunächst machte Anthony Snodgrass 1977 und erneut 1980 darauf aufmerksam, daß die Zahl der archäologisch erfaßten Gräber in Attika (und in geringerem Umfang in der Argolis) zwischen etwa 780 und 720 rapide zunimmt. Unter der Annahme, daß sich dieser Befund als ein Gradmesser der tatsächlichen Sterblichkeitsraten verwenden läßt, errechnete Snodgrass für diesen Zeitraum ein durchschnittliches jährliches Bevölkerungswachstum von 3 bis 4 Prozent. 1 Ian Morris verwarf diese Rekonstruktion, indem er zu zeigen versuchte, daß zu einem guten Teil die vorübergehende Zunahme von Kinderbestattungen in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts für den konstatierten Anstieg verantwortlich ist. Morris entwarf dagegen ein Modell, das sowohl die vorübergehende Prominenz von Kindergräbem als auch die darauffolgende Zunahme der Gräber von Erwachsenen durch kurzlebige politische und kulturelle Veränderungen zu erklären sucht. Seiner Meinung nach verhindern Schwankungen in der relativen Häufigkeit von formellen Bestattungen Rückschlüsse auf die tatsächliche Sterblichkeit. 2 Wenige Jahre später kritisierte Robert Sallares die von Morris vertretene Auffassung, daß jährliche Wachstumsraten von mehreren Prozent in der Antike von vornherein demographisch unwahrscheinlich wären. Im Gegenteil hielt Sallares kurze Wachstums-Sprints für durchaus möglich und entwickelte ein idealtypisches Szenario, wonach wirtschaftliche Veränderungen und der Zusammenbruch eines traditionellen Altersklassensystems im achten Jahrhundert eine lokale Bevölkerungsexplosion bewirkt hätten. 3 David Tandy vertrat demgegenüber
1 2
Snodgrass 1977, 10-16; 1980, 2 2 - 2 4 ; 43. Morris 1987, 5 7 - 1 0 9 . Unbeschadet einiger Kritiken folgt die Mehrzahl der Forscher der Deutung von Morris: siehe Morris 2000, 208, mit Belegen, und vgl. Morris 1992, 7 8 - 8 0 , und Morris 1998, in Antwort auf Kritiker. Meiner Ansicht nach kann auch Kistler (in diesem Band) Morris' Interpretation nicht entkräften.
3
Sallares 1991, 5 0 - 1 9 2 , v.a. 8 6 - 9 0 und 1 2 2 - 1 2 9 gegenüber Morris 1987, 72.
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einen Mittelkurs, indem er den Befund der Kindergräber aus seiner demographischen Analyse ausklammerte und allein Veränderungen in der Häufigkeit der Bestattung von Erwachsenen als Index realer Veränderungen heranzog. Diese Methode lege seiner Meinung nach ein jährliches Durchschnittswachstum von 1,9 Prozent zwischen 780 und 718 nahe. 4 Gleichzeitig wandte sich Robin Osbome generell gegen die Annahme einer rapiden Bevölkerungszunahme im achten Jahrhundert. 5 Meiner Ansicht nach ist es unwahrscheinlich, daß die Gräberstatistiken demographische Prozesse widerspiegeln, und unmöglich, sie als Grundlage quantitativer Schätzungen bezüglich realer Bevölkerungsschwankungen heranzuziehen. In diesem Zusammenhang geht es um zwei verschiedene Probleme: zum einen die Frage, ob nach Ausweis von Vergleichsmaterial aus anderen, besser dokumentierten Epochen kurzfristige jährliche Wachstumsraten von 2 bis 4 Prozent im Prinzip möglich sind, und zum anderen die Frage, ob der Bestattungsbefund derartige Entwicklungen dokumentieren kann.
2. Moderne Analogien Zur Untermauerung ihrer Annahme, daß Phasen rascher Bevölkerungszunahme auch anderweitig belegt sind und daher auch im Falle Griechenlands denkbar wären, präsentieren Sallares und Tandy Quellen aus dem kolonialen und postkolonialen Nordamerika und aus Entwicklungsländern der jüngeren Vergangenheit. 6 Allerdings ist die Beobachtung, daß manche afrikanische und südasiatische Länder vorübergehend jährliche Wachstumsraten von um die 3 Prozent aufwiesen, ohne Relevanz für das Verständnis der antiken Bevölkerungsgeschichte. Im Gegenteil handelt es sich dabei um eine Folge der Demographie transition': in traditionellen Gesellschaften mit hohen Sterbe- und Geburtenraten führt der Zustrom externer medizinischer und wissenschaftlicher Errungenschaften zu einer plötzlichen Milderung der Sterblichkeit, wogegen sich die Geburtenhäufigkeit erst allmählich den neuen Gegebenheiten anpaßt. In dieser Übergangsperiode können daher Geburten Todesfalle um bis zum Doppelten übertreffen, was rapides Nettowachstum zur Folge hat, bevor sich ein neues Gleichgewicht zwischen Fruchtbarkeit und Sterblichkeit einpendeln kann. Da in der Antike kein vergleichbarer Prozeß stattgefunden haben kann, sind Vergleichsbeispiele aus der Dritten Welt hier allenfalls irreführend. 7 Es ist ebenso fraglich, ob Daten aus neubesiedelten Regionen von größerer Relevanz sein können. In Nordamerika im 18. und 19. Jahrhundert gestattete die Fülle von natürlichen Ressourcen an Land und Nahrung eine dramatische Zunahme der Bevölkerung. Jährliche natürliche Wachstumsraten von 2 bis 3 Prozent über mehrere Generationen hinweg waren
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Tandy 1997, 2 3 - 2 4 ; 4 6 - 5 8 .
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Osbome 1 9 9 6 , 7 4 - 8 1 . Sallares 1991, 86; 90; Tandy 1997, 5 5 - 5 8 . Sallares' Hinweis auf die Situation in Madagaskar im Jahre 1966, mit Sterbe- und Geburtsraten von 25 und 46 pro 1000 (1991, 90), ist ein typisches Beispiel. Tandy 1997, 5 6 - 5 7 listet eine ganze Reihe irrelevanter Parallelen auf.
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unter diesen Umständen nichts außergewöhnliches. 8 Es muß aber angemerkt werden, daß dieses Wachstum nicht mit drastischen Veränderungen in der durchschnittlichen Lebenserwartung oder der Fertilität verbunden war. Im Gegenteil reichten dafür vergleichsweise geringfügige Anpassungen in der Ehedauer von Frauen aus. Im 18. Jahrhundert wuchs die Zahl der französischen Siedler in Quebec massiv an, während die Bevölkerung des Mutterlandes stagnierte. Die beiden Regionen differierten dabei hauptsächlich bezüglich der Häufigkeit der Wiederverheiratung von Witwen: in Quebec hatten im Alter von 50 Jahren bereits 70,4 Prozent aller Frauen ein zweites Mal geheiratet, gegenüber 48,8 Prozent in Frankreich selbst. Die Frauen der Siedler heirateten im Durchschnitt auch ein wenig früher als in Europa, mit 20,9 anstatt mit 23 Jahren. Zusätzlich lag die Lebenserwartung im Alter von 20 Jahren dank der geringeren Bevölkerungsdichte in Kanada um 4,6 Jahre über jener in Frankreich. 9 Alles in allem ermöglichten also mäßige Verbesserungen in den Lebensbedingungen substantielles natürliches Bevölkerungswachstum. Sallares hingegen erklärt die angebliche Bevölkerungsexplosion der spätgeometrischen Zeit mit dem Zusammenbruch eines ansonsten nicht bezeugten Altersklassensystems, das zuvor das Heiratsalter und dadurch auch die allgemeine Fruchtbarkeit reguliert hätte. 10 Diese Annahme hat in der Forschung wenig Zustimmung g e f u n d e n , " wenngleich nicht unbedingt aus dem richtigen Grund schließlich könnten wir nicht erwarten, das selbst ein real existierendes Altersklassensystem vor dem achten Jahrhundert in unseren Quellen erkennbar sein würde. Meiner Meinung nach ist das Modell von Sallares nicht so sehr unzutreffend als vielmehr überflüssig. Die amerikanischen Belege zeigen zur Genüge, daß keine dramatischen Umwälzungen erforderlich waren, um eine starke Bevölkerungszunahme herbeizuführen. Damit stellt sich die Frage, ob die Bedingungen im Attika des achten Jahrhunderts in irgendeiner Weise jenen in Nordamerika glichen. Dies scheint allerdings keineswegs naheliegend. Die Athener breiteten sich nicht in einem unbewohnten Gebiet aus. Andererseits war Attika in den ,Dark Ages' nur dünn besiedelt, und signifikante Verbesserungen der Produktionskapazität (wie etwa durch klimatischen Wandel, neue Arten von Nutzpflanzen, bessere Techniken, und dergleichen) konnten fraglos eine starke Bevölkerungszunahme bewirken. Generell wiesen historische Bevölkerungen, die sich von einer längeren Kontraktion erholten, signifikante Wachstumsraten auf, doch dürfen diese auch nicht überschätzt werden. So nahm etwa die europäische Bevölkerung zwischen 1000 und 1340 um etwa 0,25 bis 0,3 Prozent im Jahr zu, und um 0,3 Prozent im sechzehnten Jahrhundert (nach der Pest). Kleinere Regionen konnten dabei auch schneller wachsen: England und Frankreich kamen zwischen 1100 und 1340 auf vielleicht 0,4 bis 0,5 Prozent im Jahr. 12 Diese Raten liegen um eine ganze Größenordnung unter den von Snodgrass vertretenen und von Sallares und Tandy für möglich erachteten Werten. Ist es denkbar, das ein Gebiet wie Attika, das kaum 2,500 km 2 umfaßt, deutlich stärkeres Wachstum erfahren konnte? In diesem Zusammenhang sind Zensusdaten aus der frühen Neuzeit von besonderem Interesse. Nach dem Abklingen von spätmittelalterlicher Pest und
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Siehe etwa McEvedy/Jones 1978, 286; Sallares 1991, 86; Tandy 1997, 56. Livi-Bacci 1992, 56-61. Sallares 1991, 160-192. Für Belege, siehe Scheidel 1996, 210 Anm. 17, und seitdem Osborne 1996, 77-78. Livi-Bacci 1992, 31 (Europa); Grigg 1980, 53 (England, Frankreich).
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Krieg stieg die Bevölkerungsdichte in Mittelgriechenland im späten fünfzehnten und im sechzehnten Jahrhundert rasch an, zur selben Zeit also, als ganz Europa demographische Zuwächse erlebte. Den Forschungen Machiel Kiels zufolge weisen Haushaltsregister aus Athen auf ein durchschnittliches jährliches Bevölkerungswachstum von 1,1 Prozent zwischen 1506 und 1570 hin. Die selbe Rate findet sich im Fall von sechs attischen Dörfern im selben Zeitraum, mit einer Mittelwert von 1,45 Prozent zwischen 1528 und 1570. In einer Gruppe von sechzehn Dörfern in Böotien lag die jahrweise Zunahme bei 1 Prozent, gegenüber 0,45 Prozent in vier anderen Dörfern und 0,25 Prozent in einer Stadt und drei Dörfern in der selben Landschaft. Die Rate im östlichen Lokris wiederum belief sich auf 0,4 Prozent. 13 Steuerlisten zeigen, daß die wirtschaftliche Produktivität mit wachsender Bevölkerungszahl abnahm. 1 4 Nach 1570 begann die Zahl der Haushalte zu schrumpfen, obgleich Veränderungen in den Registrierungspraktiken zum Teil dafür verantwortlich sein mögen. 1 5 Diese Befunde legen nahe, daß vorübergehende Wachstumsraten von bis zu einem Prozent im Jahr mit der Ökologie und der produktiven Kapazität des vormodernen Griechenlands vereinbar waren. Hierbei verdient das Ausmaß lokaler Unterschiede besondere Aufmerksamkeit: obwohl alle Samples Nettowachstum belegen, wäre es unmöglich, anhand dieser Quellen einen Durchschnittswert für ganz Griechenland zu errechnen.
3. Die demographische Auswertung von Bodenfunden Aus dem antiken Griechenland sind keine vergleichbaren Statistiken überliefert. Dies verleiht der Frage, ob Bestattungsbefunde an die Stelle von Zensusbefunden treten können, verstärkte Brisanz. Zwei verschiedene Arten von archäologischem Material sind bisher zu demographischen Zwecken herangezogen werden, nämlich Gräber und Siedlungen. Im achten Jahrhundert nehmen die Befunde in beiden Kategorien auffällig zu, und obgleich Morris daran erinnert, daß diese Synchronizität auch darauf zurückzuführen ist, daß Siedlungen oft nur aufgrund von Gräberfunden bekannt geworden sind, besteht doch allgemein Übereinstimmung darüber, daß es in dieser Periode zu einem gewissen Bevölkerungswachstum gekommen sein muß. 16 Gleichzeitig ist es jedoch unmöglich, das Ausmaß solcher Veränderungen direkt aus der Frequenz von Siedlungsspuren zu erschließen. 17 Es ist nun zu prüfen, ob dieser Vorbehalt ebenso für Gräberfunde gilt. Grundsätzlich sind zwei alternative Interpretationen denkbar. Entweder unterlag die archäologische Sichtbarkeit' (d. h., die Wahrscheinlichkeit moderner Entdeckung) von Gräbern zeitlichen Schwankungen, oder aber Veränderungen in der Häufigkeit von Grabfunden spiegeln demographischen Wandel getreulich wider. Im ersten Fall, wie von Morris vertreten, können solche Zeugnisse nicht zur
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Kiel 1987, 128-131 (Attika); 1997, 338; 3 4 8 - 3 4 9 (Böotien); 1999, 205 (Lokris). So z.B. Kiel 1999, 198-199; vgl. Kiel 1987, 137.
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Vgl. Kiel 1999, 195. Zur Zunahme von Siedlungen in Attika und anderswo, siehe Osborne 1996, 7 0 - 7 4 ; 81; Tandy 1997, 2 7 - 3 0 . Vgl. Morris 1987, 156. Pace Jones 1999, 3 7 - 4 1 . Siehe z.B. Alcock 1993, 3 3 - 9 2 . Sbonias 1999 bietet jetzt einen allgemeinen Überblick.
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Untermauerung bevölkerungsgeschichtlicher Rekonstruktionen herangezogen werden. Im folgenden soll gezeigt werden, daß die zweite Variante, konsequent verfolgt, Ergebnisse zeitigt, die sowohl von vornherein unwahrscheinlich als auch schlecht mit anderen Quellenbefunden vereinbar sind. In einer logisch inkohärenten Argumentskette zieht Tandy selektiv einen Teil der Grabfunde als demographisch relevant heran, indem er im Anschluß an Morris zwar die Veränderungen in der Häufigkeit von Kinderbestattungen als kulturell bedingt betrachtet, gleichzeitig aber die Wahrscheinlichkeit, daß Erwachsenen eine archäologisch .sichtbare' Beisetzung zuteil wurde, als konstant ansieht. Die Ausklammerung der Kindergräber ermöglicht es ihm, die jährliche Wachstumsrate der Bevölkerung von 3,1 Prozent auf 1,9 Prozent zu reduzieren. 1 8 Wiewohl auf den ersten Blick plausibler als der höhere Wert, ist aber auch diese Zahl von geringem Wert, denn ungeklärt bleibt dabei, weshalb nur Bestattungen von Kindem und nicht auch von Erwachsenen von kulturellen Variablen bestimmt worden sein sollen. Tandy gibt keine Begründung für diese willkürliche Differenzierung. Es gibt keinen logischen Grund dafür, die eine Hälfte der Befunde der anderen vorzuziehen und als demographisch relevant zu definieren. Diese Vorgangsweise entspringt allem Anschein nach bloß dem Bedürfnis, ein a priori vorgegebenes Resultat - d. h. eine Bevölkerungsexplosion im achten Jahrhundert - durch zeitgenössisches Quellenmaterial bestätigt zu sehen - ein klassischer Fall von Zirkelschluß. Der fragwürdige Charakter demographischer Schlußfolgerungen aufgrund von Grabstatistiken wird spätestens dann klar, wenn letztere als Spiegel realer Bevölkerungsbewegungen angesehen werden. Sallares wies darauf hin, daß die plötzliche Zunahme an Kindergräbern in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts mit der Annahme explosiven Bevölkerungswachstums vereinbar ist: wenn eine Bevölkerung um mehrere Prozent pro Jahr anwächst, steigt der Anteil von Kindern an der Gesamtbevölkerung und fuhrt zu einer verstärkten Präsenz von Minderjährigen im Grabbefund. 1 9 Aus diesem Grund würde in einem solchen Fall die Zahl von Kindergräbern relativ zu jenen fur Erwachsene zunehmen. Diese Beobachtung ist sowohl zutreffend als auch irrelevant, müßten doch im vorliegenden Fall zunächst mehr Kinder begraben worden sein, und erst in weiterer Folge auch mehr Erwachsene. Der archäologische Befund belegt aber genau das Gegenteil. 2 0 Wir wären also genötigt anzunehmen, daß im späten neunten Jahrhundert starkes Bevölkerungswachstum zu erhöhter Kindersterblichkeit führte, ohne daß sich diese in den Gräberfunden abzeichnen würde, wohingegen der anschließende Anstieg von Bestattungen Erwachsener sehr wohl archäologisch ,sichtbar' sei, und Kinder erst mit großer Verspätung die gebührende Beachtung der Totengräber fanden. Und selbst diese verkrampfte Deutung würde nicht gänzlich ohne kulturelle Variation auskommen, wie die unvermeidliche Annahme einer verspäteten Dokumentierung der Kindersterblichkeit zeigt. Geht man allerdings von einem begrenzten Einfluß von Veränderungen in den Bestattungsgewohnheiten aus, gibt es keinen zwingenden Grund auszuschließen, daß ebensogut der gesamte Grabbefiind durch wechselhafte kulturelle Faktoren determiniert sein könnte. In diesem Fall verschwindet sowohl der Bedarf nach einer ,demographischen' Erklärung des Materials als auch jegliche Rechtfertigung dafür.
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Tandy 1997, 2 3 - 2 4 ; 5 1 - 5 3 . Sallares 1991, 124-126. Dies stellen auch Morris 1992, 80 und Osbome 1996, 80 fest.
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Um den Befund ohne Verweis auf kulturelle Veränderungen zu erklären, wären wir genötigt zu spekulieren, daß Attika um 780 herum von einer Seuche wie der Pest oder Pocken erfaßt wurde, welche die Sterblichkeit unter Erwachsenen stark ansteigen ließ.21 Nach Abklingen der Epidemie hätten die Überlebenden vermehrt Nachwuchs produziert, um den Bevölkerungsverlust auszugleichen, was in einer Zunahme von Kindergräbem resultierte. In diesem Fall hätte überhaupt kein Nettowachstum erfolgen müssen. Diese Theorie stünde im Einklang mit dem Umstand, daß sich Kinderbestattungen gerade dann häuften, als die Zahl der Gräber für Erwachsene zurückzugehen begann. Ein Vorläufer dieses Modells findet sich in der Tat bei John Camp, der die Zunahme von Bestattungen im achten Jahrhundert durch eine Dürrekatastrophe zu erklären versucht hatte. Dieser Ansatz ermöglicht es allerdings nicht, die zeitliche Trennung von Erwachsenen- und Kindergräbern zu begründen, und ist mit Recht in der Regel zurückgewiesen worden. 22 Aber auch die Annahme einer Epidemie anstelle einer Dürre könnte diese Argumentationskette nicht retten. Die Zunahme von Siedlungsresten im achten Jahrhundert ist schwerlich mit einer zu postulierenden gleichzeitigen Abnahme der Bevölkerungsdichte zu vereinbaren. Zudem zwänge uns eine krude Analogie zwischen Gräberhäufigkeit und Einwohnerzahl zu der Annahme, daß die Bevölkerung Attikas nach einem Einbruch und einer darauffolgenden Erholung im achten Jahrhundert in den folgenden beiden Jahrhunderten auf dem Niveau der ,Dark Ages' stagniert hätte. Ich widme diesem unwahrscheinlichen Konstrukt nur deshalb soviel Aufmerksamkeit, um einen kritischen Punkt herauszustreichen: jedwede Interpretation des Gräberbefundes, die keine Rücksicht auf die Möglichkeit kulturell bedingter Verzerrungen nimmt, führt zu unhaltbaren Resultaten. Damit steht einzig noch eine abgeschwächte Variante der positivistischen Position zur Diskussion: die Annahme, daß ein Teil der Gräberstatistiken demographische Prozesse widerspiegelt Tandy folgt diesem Ansatz, ohne ihn explizit darzustellen. Obwohl er zutreffend darauf aufmerksam macht, daß die Zunahme von Gräbern für Erwachsene zwischen 780 und 718 um durchschnittlich 1,9 Prozent pro Jahr mit der Anzahl von Bestattungen im folgenden Jahrhundert in Beziehung gesetzt werden müsse, unternimmt er keinen Versuch, den Rückgang der Befunde im siebten Jahrhundert zu erklären - ohne aber offenkundig von einer wesentlich kleineren Bevölkerung in der Archaik auszugehen. 23 Im Prinzip zwingt natürlich nichts dazu, eine ,demographische' Deutung der spätgeometrischen Gräberstatistiken auch auf das siebte und sechste Jahrhundert auszudehnen. Allerdings könnte der Anstieg der Gräberhäufigkeit vom späten sechsten bis in die Mitte des fünften Jahrhunderts von über 2 Prozent im Jahr kaum der demographischen Realität entsprechen, selbst wenn man starke Einwanderung und Sklavenimporte mit ins Kalkül zieht. Die methodische Schwachstelle dieses Ansatzes ist in jedem Fall klar: während kulturelle Erklärungen für einige der beobachteten Trends es ermöglichen, in anderen Elementen des Gräberstatistiken einen Reflex demographischer Veränderungen zu sehen, hindert uns dieser Verweis auf kulturelle Variablen daran auszuschließen, daß nicht bloß einige, sondern vielmehr alle Eigenheiten des archäologischen Befundes kulturell bedingt sein könnten. Dies wiederum macht es unmöglich, archäologische Daten selektiv als Grundlage bevölkerungsgeschichtlicher Deutungen heranzuzie-
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Zu diesem Effekt vgl. Paine 2000. Camp 1979; Kritik bei Snodgrass 1983, 169-171; Morris 1987, 160-162; Tandy 1997, 24-26. Tandy 1997,24.
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hen. Es zeigt sich dabei, daß weder Sallares noch Tandy gänzlich ohne Morris' Erklärungsansatz auskommen können, sondern sich nur darauf beschränken, ihn je nach Bedarf einmal ein-, dann wieder auszublenden. Auf den Kern reduziert, lautet ihre These, daß es im achten Jahrhundert zu einer Bevölkerungsexplosion gekommen war, und daß diese daher in den Quellen Spuren hinterlassen haben müsse: das zu Belegende wird dadurch zu einer Voraussetzung ihrer Argumentation.
4. Ergebnis Nichts von dem schließt die Möglichkeit aus, daß manche archäologischen Befunde tatsächlich demographische Gegebenheiten zuverlässig dokumentieren. 24 Es scheint aber unmöglich, im Einzelfall zu entscheiden, wann dies der Fall ist und wann nicht. Selbst wenn man konzedieren wollte, daß eine parallele Zunahme von Gräberfunden und Siedlungsspuren auf eine Bevölkerungszunahme hindeuten mag, würde dies doch keinesfalls ermöglichen, das Ausmaß einer solchen Veränderung abzuschätzen. Allein schon aus diesem Grund sind Versuche, Wachstumsraten allein aus dem archäologischen Befund zu erschließen, aussichtslos. Wie ich an anderer Stelle zu zeigen versuche, legen schematische probabilistische Schätzungen des griechischen Bevölkerungswachstums zwischen den ,Dark Ages' und der klassischen Periode jährliche Durchschnittsraten von etwa 0,3 oder 0,4 Prozent nahe. 25 Obwohl dabei signifikante Schwankungen zwischen einzelnen Zeitabschnitten nicht auszuschließen sind, scheint ein Jahresmittelwert von mehr als 1 Prozent für das achte Jahrhundert wenig wahrscheinlich, wobei die tatsächliche Rate durchaus um einiges darunter gelegen sein mag. Die Annahme einer Bevölkerungsexplosion vor oder am Beginn der archaischen Epoche entbehrt somit jeglicher Grundlage.
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Vgl. hier etwa Carter 1990, 19-24, der parallele Trends in der Zahl von Gräbern und Bauernhöfen im Territorium von Metapont nachweist. Dazu Scheidel in Vorbereitung.
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Eckhard Wirbelauer
Eine Frage von Telekommunikation? Die Griechen und ihre Schrift im 9.-7. Jahrhundert v. Chr.1
D e r f o l g e n d e B e i t r a g s o l l der Frage n a c h g e h e n , w o z u G r i e c h e n i n s b e s o n d e r e im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. e i n e Schrift b e n ö t i g t e n . E s g e h t a l s o u m d e n Z w e c k d e s E r f i n d e n s , Erlernens u n d G e b r a u c h e n s der A l p h a b e t s c h r i f t bei M e n s c h e n , die bis dahin o h n e e i n s o l c h e s Instrument a u s g e k o m m e n waren, o b g l e i c h ihre e i g e n e n V o r f a h r e n in Gestalt e i n e r S i l b e n schrift (Linear B ) über e i n v e r g l e i c h b a r e s Instrument v e r f ü g t hatten. Z u d e m kannten sie dank ihrer K o n t a k t e mit d e n V ö l k e r n im ö s t l i c h e n M i t t e l m e e r r a u m bereits v e r s c h i e d e n e
Auf-
s c h r e i b s y s t e m e ; und e i n i g e v o n ihnen benutzten a u c h s c h o n e i n e i g e n e s Syllabar ( a u f C y pern). B e v o r ich m i c h m e i n e r F r a g e s t e l l u n g z u w e n d e , m ö c h t e ich z u n ä c h s t d i e hierfür r e l e v a n ten E r g e b n i s s e der b i s h e r i g e n F o r s c h u n g resümieren: 2
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Die folgenden Überlegungen wurden bei Vorträgen in Erfurt (Juni 2000), Zürich (Dez. 2000), Innsbruck (Nov. 2001) und Freiburg (Mai 2002) vorgestellt. Die jeweils anschließenden, zum Teil umfangreichen Diskussionen haben mich manches neu überdenken und verändern lassen - allen an diesen Diskussionen Beteiligten, insbesondere aber Walter Burkert, Birgitta Eder, Hans-Joachim Gehrke, Konrad H. Kinzl, Franz-Georg Maier, Christian Marek, Kurt A. Raaflaub, Matthias Steinhart und Aloys Winterling, sei herzlich gedankt. Für die Publikation ist der Vortragscharakter weitgehend beibehalten worden. 2 Die Erfindung und Verbreitung der griechischen Alphabetschrift ist eine Frage, bei der sich zahlreiche Disziplinen angesprochen fühlen dürfen. Andererseits wird der einzelne immer wieder an die Grenzen seiner eigenen Urteilsfähigkeit stoßen: So möchte ich einräumen, daß ich mich als Althistoriker, der es gewöhnlich mit Themen der griechischen und römischen Antike zu tun hat, nicht hinreichend kompetent fühle, die zahlreichen altorientalistischen oder (neuerdings) ägyptologischen Arbeiten zu diesem Thema wirklich zu kritisieren. Allerdings handelt es sich bei der hier aufgeworfenen Frage um eine genuin althistorische, da es um den sozialen Ort des frühen Schriftgebrauchs bei den Griechen gehen soll. Die ältere Forschung ist souverän zusammengefaßt bei Heubeck 1979. Danach haben sich vor allem Klassische Philologen wie Burkert (1984), Powell (1989, 1991a, 1991b, 1997, 1998) und aus eher sprachwissenschaftlicher Sicht Wächter (1989, 1991, 1996, 1998, 2001) sowie Altorientalisten wie ζ. B. Naveh (1991 mit Hinweisen auf seine früheren Arbeiten) und Röllig (1985, 1992, 1995) mit Fragen der Vor- und Frühgeschichte des griechischen Alphabets beschäftigt. Ein sehr nützlicher Beitrag aus althistorischer Feder stammt von Marek (1993). Ridgway (1996) nahm den Neufund aus der Nekropole Osteria dell'Oso bei Gabii zum Anlaß, um den archäologischen Forschungsstand zu resümieren, und zeigte einige Interpretationsmöglichkeiten auf. Zur jüngsten Runde in der Debatte um die Herkunft der griechischen
Eckhard Wirbelauer
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D i e g r i e c h i s c h e A l p h a b e t s c h r i f t g e h t in ihren w e s e n t l i c h e n E l e m e n t e n a u f e i n e n griec h i s c h - s p r a c h i g e n , Erfinder' zurück. 3 D i e s e r traf durch w i l l k ü r l i c h e S e t z u n g e n E n t s c h e i d u n g e n , d i e in allen D e r i v a t e n der g r i e c h i s c h e n Alphabetschrifit a n z u t r e f f e n sind. Z u d i e s e n w i l l k ü r l i c h e n S e t z u n g e n z ä h l e n d i e U m d e u t u n g der s e m i t i s c h e n Z e i c h e n A l e p h , H e , Y o d und A j i n z u d e n V o k a l z e i c h e n a, e, i u n d o. A u s d e m V a w , in der s e m i t i s c h e n V o r lage der 6. B u c h s t a b e in der A l p h a b e t r e i h e , wird einerseits das k o n s o n a n t i s c h e D i g a m m a e n t w i c k e l t , andererseits dient e s zur D a r s t e l l u n g d e s V o k a l s u u n d wird in d i e s e r B e d e u t u n g am E n d e d e s n e u e n A l p h a b e t s n a c h d e m letzten s e m i t i s c h e n B u c h s t a b e n T h a w e i n g e o r d n e t . Willkürlich erscheint a u c h die V e r w e n d u n g v o n T h a w für T a u und T e t für T h e ta, d a d i e A u s s p r a c h e ( b e h a u c h t e b z w . u n b e h a u c h t e T e n u i s ) d i e u m g e k e h r t e V e r w e n d u n g n a h e g e l e g t hätte. 4 E i n e m e h r m a l i g e Ü b e r n a h m e , die in allen den g e n a n n t e n Punkten z u e b e n d e n s e l b e n E r g e b n i s s e n gefuhrt hätte, o d e r e i n e a l l m ä h l i c h e A n e i g n u n g in e i n e m längeren P r o z e ß ist a l s o zwar theoretisch vorstellbar, praktisch aber a u s z u s c h l i e ß e n . 5
2.
W i e d i e Ü b e r n a h m e der s e m i t i s c h e n B u c h s t a b e n w a / n e «
in das G r i e c h i s c h e
deutlich
macht, stand der g r i e c h i s c h - s p r a c h i g e ,Erfinder' in direktem p e r s ö n l i c h e n Kontakt mit s e i n e n Lehrern aus d e m nordsyrischen Raum. D i e s e B u c h s t a b e n n a m e n h a b e n n ä m l i c h im S e m i t i s c h e n z u g l e i c h W o r t b e d e u t u n g e n , w ä h r e n d sie e i n e m G r i e c h e n s i n n l o s e r s c h e i n e n mußten. S i e d e n n o c h z u ü b e r n e h m e n , erklärt s i c h allein aus d e m B e d ü r f n i s , e i n e H i l f e
Alphabetschrift s. Zauzich 2001a, Zauzich 2001b (noch nicht gesehen) und Tropper 2001. Auch wenn mir Troppers Argumente gegen Zauzichs revolutionäre Thesen einsichtig scheinen (Die ausführliche Auseinandersetzung steht freilich noch aus!), möchte ich vor seinem Versuch, die antiken Autoren gegen Zauzich in Stellung zu bringen (Tropper 2001, 357), warnen und das Ergebnis in Erinnerung rufen, das Heubeck nach einer sorgfältigen Behandlung der ältesten griechischen Nachrichten über die Herkunft des Alphabets formulierte (Heubeck 1979, 108): „Die literarischen Zeugnisse des 6. und 5. Jhs. lassen deutlich erkennen, daß die Griechen um diese Zeit über Herkunft und Entstehung ihrer Buchstabenschrift kein fundiertes Wissen mehr besessen haben." 3 Marek 1993, 29 (mit Kritik an Wächter ebd. Anm. 10). - Wächter 1989, 36f., bevorzugt dagegen folgendes Szenario: „M. E. einfacher ist nämlich die Annahme einer kleinen Tafelrunde an einem angenehmen Sommerabend, an der erstens mehr als ein Grieche teilgenommen haben müßten, da einem allein die neue Schrift j a nicht viel genützt hätte, und wo zweitens mit einiger Wahrscheinlichkeit auch ein oder mehr Phönizier dabeigewesen wären." Nach Wächters Ansicht sei so die Übernahme des „phönizischen Merkspruchs" eher verständlich. Doch müßte man bei einer solchen interkulturellen Diskussionsgruppe nicht eher erwarten, daß die neue Kreation ausdiskutiert und folglich weitgehend rational gestaltet wäre? Gerade die der Erwartung zuwiderlaufende Verwendung von Thaw und Tet paßt meines Erachtens eher zur Vorstellung von einem ,Erfinder', der gleichwohl im Auftrag anderer oder mit Blick auf eine entsprechende Zielgruppe gehandelt haben mag. Zur Kritik vgl. die wichtigen Ausführungen von Marek 1993, 33f. mit Anm. 40 (auch zur Debatte um die räumliche Verortung: phönizisch oder syrisch-altaramäisch?). 4 Heubeck 1979, 89 unter Berufung auf Martin P. Nilsson. Heubeck nennt weiter die lautliche Dublette Kappa und Koppa (nur in einigen Alphabeten und nur vor ο und u) sowie die Umdeutung des stimmhaften Zajin zur Affricata Dzeta (sei sie stimmhaft [dz] oder vielleicht auch stimmlos [ts]). 5 So Heubeck 1979, 90; Röllig 1985, 90; Wächter 1989, 39. - Wahrscheinlich geht auch schon die Hinzuftigung der drei weiteren Buchstaben, die wir heute als Phi, Chi und Psi kennen, auf den .Erfinder' zurück, obgleich die genannten Buchstaben in den ersten Jahrhunderten griechischen Schreibens nicht überall anzutreffen sind und - falls vorhanden - ihr Lautwert differiert. Denn bei aller Differenz des Zeichenwerts gehen die verwendeten Zeichen selbst offenbar auf einfache Grundformen (längs durchstrichener Kreis, stehendes oder liegendes Kreuz sowie in der Mitte durchstrichenes Vau) zurück. - Die Entwicklung vom Cheth zu Heta bzw. Eta ist dargestellt bei Heubeck 1979, 91.
Eine Frage von
Telekommunikation?
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zum Erlemen der Buchstabenfolge zu haben. Walter Burkert 6 fand für diesen Sachverhalt die anschauliche Formulierung, der Erfinder habe „zumindest eine phönikisch-aramäische Schulstunde mitgemacht". 3. Der Zeitraum der Übernahme wird aus der Perspektive der griechischen Geschichte einerseits durch die ältesten griechischen Schriftzeugnisse, also 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts,7 und andererseits durch den Untergang der mykenischen Paläste mit ihrem Aufschreibsystem Linear Β markiert. Aus der altorientalistischen Perspektive ergibt sich ein erster terminus post quem durch die Etablierung einer Konsonantenschrift, wie sie die altkanaanäische darstellt, deren Zeugnisse im 13. Jahrhundert einsetzen und bis in das 11. Jahrhundert reichen. 8 Im 11. Jahrhundert entwickelten Phönizier hieraus ein 22 Zeichen umfassendes Alphabet, das wir vor allem durch Zeugnisse aus Byblos kennen. 9 Ob freilich dieses phönizische Alphabet oder eher das altaramäische die unmittelbare Vorlage fur unseren ,Erfinder' abgab, ist seit der 1982 erfolgten Publikation einer umfangreichen assyro-altaramäischen Bilingue aus Teil Fekherije, einer Siedlung am Euphrat-Nebenfluß Chabur, kontrovers diskutiert worden. 10 In dieser Inschrift werden nämlich - erstmals für uns faßbar - sog. , Lesemütter' (matres lectionis) verwendet, so daß durch diese Ansätze einer Vokalisation der Charakter einer reinen Konsonantenschrift - um die es sich bei der phönizischen noch handelt - aufgegeben scheint. Wie schon die Zweisprachigkeit zeigt, haben wir es auch hier mit einer interkulturellen Situation zu tun, die wir ja auch bei der Erfindung des griechischen Uralphabets voraussetzen müssen." Im übrigen gehört die Bilingue aus Teil Fekherije etwa in dieselbe Zeit, in der sich auch die Erfindung des griechischen Uralphabets abgespielt haben dürfte. In Kenntnis der jüngeren Neufunde wird man diese nun in die 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts, spätestens aber an der Wende vom 9. zum 8. Jahrhundert anzusetzen haben. 4. Als Ort der Übernahme kommt jeder Ort in Frage, an dem sich Griechen und Phönizier bzw. Aramäer in engerem Kontakt miteinander befanden, also nicht nur zahlreiche Siedlungen an der Levanteküste, sondern auch griechische Siedlungen in der Ägäis, in denen sich die Präsenz von Phöniziern bzw. Aramäern (und nicht nur ihrer Waren) nachweisen läßt. Genannt wird in jüngerer Zeit immer wieder Euböa, nicht zuletzt wegen der aufse-
6 7
Burkert 1 9 8 4 , 3 2 . Als älteste bekannte Schriftzeugnisse gelten derzeit ein Fund mit zwei nicht sicher bestimmbaren Buchstaben aus dem euböischen Lefkandi sowie ein weiterer aus dem Osteria dell'Osa-Friedhof bei Gabii in Latium, vgl. Ridgway 1996, bes. 94. In beiden Fällen handelt es sich um Graffiti, die nach dem Brand des Gefäßes eingeritzt wurden, doch wird durch ihr Auffinden in Gräbern, die jeweils durch den Kontext auf „ca. 775 v.Chr." datiert werden, ein neuer terminus ante quem für die griechischen Schriftzeugnisse erreicht.
8 9 10
Röllig 1985, 84; Röllig 1995, 195. Röllig 1995, 1 9 3 - 2 1 4 mit Hinweisen auf die frühere Literatur. Abou-Assaf/Bordreuil/Millard 1982, Datierung: 2. Hälfte 9. Jahrhundert oder vielleicht doch etwas später, vgl. Sader 1987, 23ff., bes. 26; pro: mit flankierenden Argumenten aus dem Bereich der Klass. Archäologie: Marek 1993, 3 7 - 3 9 , contra: Knauf 1987, 45^18; zur Diskussion aus orientalistischer Sicht Röllig 1992, 9 3 - 1 0 2 ; ferner auch: Röllig 1995, 202f.; Röllig 1998.
11
Eine deutsche Übersetzung des Textes und eine knappe religionsgeschichtliche Einordnung bietet der Wiener Alttestamentler Georg Sauer, in: Haider/Hutter/Kreuzer 1996, 1 2 2 - 1 2 7 .
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henerregenden Funde in Lefkandi. Dagegen spielt meines Erachtens die Dauer des Kontakts keine große Rolle. Um es salopp zu formulieren: Für den Erfinder dürfte es unerheblich gewesen sein, ob bereits seine Großeltern mit Aramäem (oder Phöniziern) Umgang gepflegt hatten. So sehr sich die Forschung mit Art und Weise, Zeit und Ort der Übernahme des Alphabets von den Kulturen des Vorderen Orients zu den Griechen beschäftigt hat, so wenig finden sich Überlegungen zur Frage nach dem Zweck. Die Forschung scheint sich weitgehend darauf verständigt zu haben, daß es griechische Fernkaufleute gewesen seien, die das Schreiben bei ihren phönizischen Kollegen gesehen und für praktisch gehalten hätten. Dagegen hat 1989 Barry B. Powell 12 eine bereits 1952 publizierte These von Henry T. Wade-Gery wieder aufgegriffen, derzufolge das Alphabet zur Aufzeichnung griechischer Verse erfunden worden sei. Powell mustert hierfür den epigraphischen Befund der frühen griechischen Schriftzeugnisse, der sich seit 1949 noch erheblich erweitert hat und sieht schließlich die These von Wade-Gery bestätigt. Er fand allerdings, auch als er seine Ansicht 1991 nochmals in monographischer Form ausführte, kaum Zustimmung. 13 Stellvertretend für den aktuellen Forschungsstand sei hier der 1996 erschienene Artikel ,Alphabet' im ,Neuen Pauly' angeführt. Dort schreibt Rudolf Wächter: 14 „Auch die Frage ,Übernahme durch wen und wozu?' ist umstritten. Der Sphäre des Seehandels ist die der Poesie als Konkurrenz entgegengesetzt worden [Powell 1991a, 187ff], Erstere bleibt aber plausibler: erstens angesichts der Mängel des Alphabets, besonders daß es im ursprünglichen Zustand (fortgesetzt in den PrototypAlphabeten' im Randgebiet der dorischen Inseln Kreta, Thera, Melos usw.) keine Zeichen für /k h / und /p h / hatte, zweitens angesichts des fur griechische Schreibschüler unverständlichen und somit mühsam zu lernenden Merkspruchs, der für eine rein mechanische, zweckorientierte Übernahme und erste Verbreitung spricht, wogegen wir von einem poeta doctus erwarten dürften, daß er in Muße einen griechischen Merkspruch geschaffen und in Umlauf gesetzt hätte." Am Beispiel dieses Zitats lassen sich gleich zwei Vorurteile verdeutlichen, die in der Diskussion zur griechischen Alphabetschrift immer wieder aufscheinen. Zum einen die Geringschätzung alltäglicher Kommunikation im Vergleich zu ,hoher Dichtung', so als ob ein Dichter vom Schlage Homers sich nicht mit ,Krämerseelen' und ihrer Welt abgeben wollte. Immerhin bezieht dieses Vorurteil aus den Epen selbst Nahrung, da dort bekanntlich an einigen Stellen Händler, insbesondere phönizische Händler, schlecht wegkommen. 15 Und doch
12 13 14 15
Powell 1989, 3 2 1 - 3 5 0 , Zitat ebd. 350; Powell, ebd. 322 mit Anm. 5, bezieht sich auf Wade-Gery 1952, 11-14. Powell 1991 a; vgl. auch Powell 1991 b; Powell 1998. Wächter 1996, 543. Kopeke 1990, 1 2 3 - 1 2 8 ; bereits Gray 1974, 117f. (mit den Stellen) hat daraufhingewiesen, daß uns aus den homerischen Epen ein durchaus differenziertes und unterschiedlich bewertetes Bild des Handels und der Händler vermittelt wird. Während der phaiakische Adlige Euryalos (Od. 8, 1 5 9 - 1 6 4 ) seiner Abneigung gegenüber Seehändlem freien Lauf läßt, schämt sich Athena nicht, sich als Händler auszugeben, der in Temesa Kupfer fur Eisen tauschen möchte (Od. 1, 1 8 2 - 1 8 4 ) .
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bleibt es ein Vorurteil, da hier ohne Bedenken die Welt der Dichtung mit der Welt des Dichters gleichgesetzt wird. Aber vielleicht noch gravierender ist dasjenige ,Stereotyp', auf das Walter Burkert16 bei der Diskussion der sprachwissenschaftlichen Forschung zu semitischen Lehnwörtern im Griechischen hingewiesen hat: „... gern zugegeben wird die semitische Herkunft von Termini des Handels und Handelsgütern; eher ausgeblendet bleiben - was doch die historischen Zusammenhänge nicht minder erwarten lassen - die Bereiche des Handwerks, des Kriegswesens, der Schriftkultur. So bestätigt sich ein im Grund antisemitisches Vorverständnis vom Wesen des Semitischen." Aber vielleicht löst sich unser Problem, wozu die Griechen schreiben lernen wollten, ja viel rascher, indem man in Frage stellt, ob es überhaupt einen Zweck gab. In der Tat erfüllt nicht jede Erfindung einen pragmatischen Zweck, und nicht wenige lösten ganz andere Probleme als diejenigen, die ihre Erfinder lösen wollten. Doch das Argument - so berechtigt es im allgemeinen auch sei - verfangt bei der griechischen Alphabetschrift nicht. Selbst wenn der ,Erfinder' der griechischen Alphabetschrift die phönikisch-aramäische Schulbank nicht in der Hoffnung auf ein neues Aufschreibsystem gedrückt haben sollte, so spricht die Verbreitung der Schriftzeugnisse doch eine eindeutige Sprache: Diese Griechen wollten schreiben, und sie taten es nicht absichtslos aus Zeitvertreib. Es ist natürlich nicht auszuschließen, daß sich das Umfeld des Erfinders dessen Erfindung mit einer anderen Absicht bediente, als dieser selbst sie hegte. Daher soll die Person des Erfinders nicht weiter interessieren, wenn wir jetzt der Frage nach dem Zweck des Schriftgebrauchs verfolgen.17 Schriftgebrauch - dies setze ich im folgenden voraus - Schriftgebrauch folgt α priori einem Zweck, oder: Wer schreibt, der will etwas. An diesem Punkt angelangt, möchte ich den Blick von der konkreten Ebene der Handlungen von Menschen in früheren Zeiten abwenden und auf die abstrakte Ebene der Textwissenschaft wechseln. Für den Linguisten Konrad Ehlich ist Schrift „Mittel zur Verdauerung des in sich flüchtigen Grundgeschehens, der sprachlichen Handlung".18 Sie ermöglicht die „Dissoziierung des sprachlichen Handelns" und erweitert somit die Chance auf gelungene Kommunikation zwischen Sprecher und Hörer. Das in seiner Grundstruktur einfache und altbekannte Modell von Sender und Empfänger schließt freilich die nicht unmittelbar gesprochene Kommunikation mitein, es umfaßt also auch diejenigen Formen der Kommunikation, bei denen die Nachricht ,zwischengespeichert' wird, bis ein Empfänger sie durch Lesen abruft.19 Die Dissoziierung der Sprechhandlung läßt sich in zwei Dimensionen denken, eine räumliche und eine zeitliche. Dabei, und dies ist im bereits angeführten Begriff,Verdauerung' ja auch impliziert, spielt die zeitliche Dimension die wichtigere Rolle, da wir uns der Zeitlichkeit eben nicht entziehen können. Anders formuliert: Während die zeitliche Aufbewahrung
16 17
Burkert 1 9 8 4 , 3 8 . Wächter 1998 und Walter-Karydi 1998 berühren diese Frage, ohne sie freilich in das Zentrum ihrer Beiträge zu rücken.
18 19
Ehlich 1994, 18. Außer Frage steht fur den Linguisten im übrigen die „Zweckhaftigkeit des sprachlichen Handelns", vgl. Ehlich 25.
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einer Nachricht ohne Ortswechsel möglich - und ein solcher Ortswechsel in den meisten Fällen sogar gerade ausgeschlossen wird, um den Erhalt der Nachricht zu sichern haben wir es bei der Übermittlung von Mitteilungen über räumliche Entfernungen immer auch mit einer Verdauerung in zeitlicher Hinsicht zu tun. Nun sind aber diese beiden Arten von Mitteilungen hinsichtlich ihrer sozialen Funktion deutlich zu unterscheiden. Die ortsgebundene Nachricht, die über einen langen, tendenziell unbegrenzten Zeitraum gespeichert werden soll, hat fundierenden Charakter. Sie beinhaltet Wissen und Weisheit für künftige Generationen, sie gibt Anschauungen von früheren Menschen und alten Verhältnissen an später Geborene weiter. 20 Typische Schriftträger solcher Nachrichten sind haltbare Materialien wie Stein oder gar Fels, im besonderen Fall auch Metall, sofern der Anbringungsort die Entfernung des Schriftträgers tabuisierte. 21 Ganz anders bei der Nachrichtenübermittlung über weite Entfernungen. In der Regel handelt sich um Mitteilungen, die der Urheber einer bestimmten Person oder einem bestimmten Personenkreis zukommen lassen will. In solchen Fällen scheint es daher zunächst angemessener, statt von einer ,Verdauerung' eher von einer ,Zerdehnung' der Sprechhandlung zu sprechen, insofern es sich um eine einmalige Handlung handelt, deren Erfolg zugleich ihren Abschluß beinhaltet. Aber auch diesen Sprechhandlungen wohnt eine .Verdauerung' inne, da die Sprechhandlung entweder solange gespeichert und abgerufen werden kann, bis sie ihren Adressaten erreicht hat, oder sogar noch danach weiteren Adressaten weitergereicht werden kann. Gegenüber der beabsichtigten Immobilität des ersten Typus haben wir hier Mobilität als Kennzeichen. Typische Schriftträger sind also Materialien, die sich leicht transportieren lassen und diesen Transport im allgemeinen gut überstehen, also ζ. B. Holz, Tierhaut oder Keramik. Wie lassen sich nun die Zeugnisse für den Schriftgebrauch im 8. und 7. Jahrhundert diesen beiden Typen zuordnen? Ich beginne die folgende Untersuchung nicht mit den ältesten epigraphischen Überresten, sondern mit einem Zeugnis, das noch in die Zeit vor diesen Inschriften verweist: Das griechische Wort für Tafel, insbesondere Schreibtafel, ist f| δ έ λ τ ο ς , seit Aischylos belegt und anerkanntermaßen ein Lehnwort aus dem Semitischen. Die Vorlage ,daltu' lebt aber nicht nur als Schreibtafel, sondern auch im Buchstabennamen ,Delta' fort. Beide, ή δ έ λ τ ο ς und ,Delta', kennzeichnet die vom Semitischen abweichende Vokalisierung ,e' statt ,a', so daß Walter Burkert die Entlehnung der Bezeichnung für Schreibtafel mit der Übernahme des Alphabets zusammenstellt: „m. a. W. die δ έ λ τ ο ς ist in Griechenland so alt wie das Alphabet." 22 Doch nicht nur in der Bezeichnung, auch in der literarischen Spiegelung steht die Schreibtafel an der Spitze der griechischen Schriftgeschichte. Das einzige wirklich belastbare Zeugnis dafür, daß Homer in seinen Epen eine partiell verschriftlichte Welt seinem Publi-
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Eigentümlicherweise spielt jedoch in der altertumswissenschaftlichen Diskussion vor allem die zeitliche Dimension eine Rolle, was vielleicht auch daran liegen mag, daß auf diesem Feld der Ägyptologe Jan Assmann Pionierarbeit geleistet hat. Assmann interessiert sich eigentlich für die Speicherung des .kulturellen Gedächtnisses', während das .kommunikative Gedächtnis' in seinen Arbeiten eher nur gestreift wird (vor allem als Gegenbegriff zum .kulturellen Gedächtnis'). In erster Linie handelt es sich um innerstaatliche bzw. zwischenstaatliche Regeln. Hier ist aber auch der Sonderfall des Heraklit einzuordnen, der sein Buch im Tempel der ephesischen Artemis hinterlegte (Diog. Laert. 9, 6), vgl. Schmid/Stählin I, 1, 1929, 746f. mit Anm. 1. Burkert 1984, 32f. (mit Belegen)
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kum vor Augen stellt, ist bekanntlich der sog. Proitos-Brief.23 Im 6. Buch des Ilias stellt Glaukos seinem Gegenüber Diomedes seine Ahnenreihe vor und erzählt ausfuhrlich von seinem Großvater Bellerophontes und dessen Aufenthalt bei Proitos in Tiryns. Als Proitos' Frau, eine Lykierin namens Anteia, Bellerophontes bei ihrem Mann verleumdet, daß jener ihr unsittliche Avancen gemacht habe, und von ihm verlangt, er solle ihn töten lassen, entzieht sich Proitos der Verlegenheit, den Mord selbst durchzufuhren, indem er Bellerophontes zu seinem Schwiegervater nach Lykien schickt. Er gab ihm freilich „verderbliche Zeichen" (σήματα λυγρά) mit auf den Weg, die er in eine zusammengelegte Tafel geritzt hatte (γράψας έν πί,νακι πτυκτω), und befahl ihm, diese seinem Schwiegervater zu zeigen, auf daß dieser ihn dann ins Verderben stürzen möge. Die ganze Passage ist von Alfred Heubeck einer eingehenden Behandlung unterzogen worden, mit dem Ergebnis, daß sie Verhältnisse der Welt des Dichters widerspiegele und der Dichter mit der Kunst alphabetischen Schreibens „mehr oder weniger" vertraut gewesen sei.24 Der Proitos-Brief setzt den Gebrauch der Schrift voraus, und dabei ist es für unsere Fragestellung nicht so wichtig, ob die Lykier zu dieser Zeit wirklich bereits ein griechisches Alphabet kannten oder nicht. Wichtig ist allein, wie sich der Dichter die Nachrichtenübermittlung vorstellte, mithin, welchen Erfahrungshorizont er hier seiner Dichtung zugrundelegt. Ihm ging es hier um die Übermittlung besonderer Nachrichten an bestimmte Adressaten über eine große Distanz, und zwar noch dadurch spezifiziert, daß der Überbringer keine Kenntnis von dem Inhalt dieser Nachricht haben sollte. Heubeck verweist hierfür auf verschiedene Beispiele von Diptychen und Polyptychen, deren Verschließen mit Band und Siegel genau dies bewirkt hätte.25 Blicken wir nun auf die ältesten griechischen Schriftzeugnisse selbst:26 Die meisten Texte finden sich auf Keramik, sind nicht besonders lang und vermitteln konkrete Nachrichten, auch wenn sie im einzelnen nicht immer völlig klar sind. Ich greife einige heraus: 23
24
25 26
11. 6, 167-170 (mit der Übersetzung von W. Schadewaldt): κ τ ε ΐ ν α ι μ έ ν ρ άλέεινε, σεβάσσατο γάρ τό γε θυμφ, πέμπε δέ μ ι ν Λ υ κ ί η ν δέ, πόρεν δ' ο γε σήματα λυγρά γράψας έ ν πίνακι πτυκτφ θυμοφθόρα π ο λ λ ά , δεϊξαι δ' ή ν ώ γ ε ι ν φ πενθερφ όφρ' άπόλοιτο. Zwar ihn [Bellerophontes] zu töten vermied er [Proitos], das scheute er in dem Mute, Doch schickte er ihn nach Lykien und gab ihm verderbliche Zeichen, in eine zusammengelegte Tafel geritzt, todbringende, viele, und befahl, sie dem Schwiegervater [Iobates] zu zeigen, um ihn zu verderben. Heubeck 1979, 128-146; unlängst hat Kullmann (1999, 198f.), Heubecks Interpretation dahingehend präzisiert, „daß Homer sich den Brief anachronistisch zumindest in griechischen Buchstaben vorgestellt haben muß, die sowohl in Griechenland als auch bei den Lykiern zu seinen Lebzeiten in Gebrauch waren." Dagegen kommt Powell 1991a, 198-200, bei seiner Behandlung der Proitos-Episode zu dem entgegengesetzten Schluß, indem er einem Klassiker der Homerforschung beitritt: „Wolf [1795] was surely right to maintain that Homer knew nothing of writing." (ebd. 200) Seine Argumente verfangen jedoch nicht: Die Tatsache, daß Homer die Alphabetschrift nicht erwähnt, besagt sicher viel über sein Darstellungsinteresse, jedoch nichts über seine Kenntnisse. Das argumentum e silentio verbietet sich bei einem Dichter, dessen Absicht offenkundig darin bestand, seinem Publikum eine heroische (vergangene) Welt vor Augen zu führen. Zur Situierung der homerischen Epen vgl. Ulf 1990, 267; Raaflaub 1991, 213f„ 251; Raaflaub 1997, 647; Raaflaub 1998a; Raaflaub 1998b. Heubeck 1979, 142-145. Jeffery/Johnston 1961/1990; nützlich auch die Zusammenstellung von Powell 1991a (wodurch diejenige von Powell 1989 ersetzt wird). Einige Korrekturen bzw. Ergänzungen zu Powell 1991a: 1. Zu streichen ist Powell 1991a, 138f. Nr. 31, weil die noch von Heubeck wiedergegebene Datierung inzwischen
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1) Έρπετιδας ό παιδοπιλας όδε „Erpetidas, der Knabenliebende, dieser (bin ich)"27 Kreta, Phaistos. Großes unbemaltes Vorratsgefäß (Pithos). Ende 8. Jh. Die Inschrift ist nach dem Brand eingeritzt. Jeffery/Johnston 1961/1990, 468 Nr. 8a; Guarducci 1978, 330-332 (mit Abb. des Pithos); Heubeck 1979, 125 Nr. 10; Powell 1991a, 138 Nr. 30; Manganaro 1995, 141f. (mit neuem Photo der Inschrift, ebd. Tav. 1). 2) 9opdpö ήμι ρύλιξ τ[ „Ich bin die Kylix des Korakos ..." Rhodos, genauer Fundort unbekannt. Einhenkliges schwarzes Trinkgefäß. Ende 8. Jh.? Die Inschrift ist nach dem Brand eingeritzt. Jeffery/Johnston 1961/1990, 347, 356 Nr. 1, 475; Guarducci 1967, 328f. (mit Abb. des Gefäßes); Heubeck 1979, 126 Nr. 13; Powell 1991a, 137f. Nr. 29. 3) Με]νεσθόι „Für Menesthos" Athen, Agora Ρ 6578. Fragment eines geometrischen Gefäßes. Um 700. Die eingeritzte Inschrift bezeichnet entweder den Adressaten einer Sendung (Lang) oder widmet den Gegenstand dem Empfänger als Geschenk (Steinhart/Wirbelauer). Lang 1976, 17 Nr. D 2; Johnston 1990, 431; Steinhart/Wirbelauer 2000, 281.
um ein Jahrhundert korrigiert wurde („um 600" statt „um 700"), vgl. Guarducci 3, 1978, 335f. Bei Powells Hinweis auf die Hetäre „Tainia" (Powell 1989, 330 Nr. 30, sowie noch ausfuhrlicher: Powell 1991a, 138f. Nr. 31) handelt es sich zudem um ein Mißverständnis der Information bei Heubeck 1979, 122 Nr. 4d, demzufolge „Voinantha" und die beiden von ihm gebotenen Varianten des zweiten Namens „M[...]ticha" als Hetärennamen belegt seien; zu diesem Zeugnis s. jetzt Dubois 1989, 79f. Nr. 79; Steinhart/Wirbelauer 2000, 272, 2 8 1 . - 2 . Bei dem Gefäß aus Rhodos (hier Nr. 2) handelt es sich nicht um eine Kylix, sondern um ein tassenförmiges einhenkliges Trinkgefäß lokaler Produktion, vgl. die Hinweise und die Abbildung bei Guarducci. - 3. Nicht bei Powell erscheinen das Graffito von der Athener Agora (hier Nr. 3) und der Chous aus dem Argivischen Heraion (hier Nr. 7). - 4. Wenig hilfreich ist Powell 1991a Nr. 21 (hier Nr. 8): Die Umzeichnung Powells differiert mehrfach deutlich gegenüber dem von Jeffery 1961, pl. 18.1a—b publizierten Photo; die Edition ist zumindest in der 2. Zeile zu korrigieren. - 5. Zu Powell 1991a, 134f. Nr. 23 s. jetzt Steinhart/Wirbelauer 2000, 263 Anm. 36 (mit weiterer Lit. und neuem Vorschlag zum Verständnis). 27
Die 1969 erstmals veröffentliche Inschrift wurde von Manganaro 1995, 141 f. mit Tafel 1, neu gelesen, so daß das frühere, durch Guarducci und Heubeck allgemein verbreitete Verständnis als Besitzerinschrift nicht mehr möglich scheint, da Manganaro im 9. Buchstaben ein San statt eines My erkennen will. Er deutet die Inschrift auf dem großen Pithos als Verspottung („una punta di ironia") des knabenliebenden Erpetidas; zur Bedeutung der Pädophilie gerade in Kreta s. Gehrke 1997, 31-34. Vor Manganaro las und verstand man mit Heubeck 1979, 125 Nr. 10: Έ ρ π ε τ ι δ ά μ δ Π α ι δ ο π ί λ α ς δδε (andere: ό δ ε „Des Erpetidamos, des Sohnes der Paidophila, [Eigentum ist] dieser [Pithos]". Manganaro korrigierte auch die frühere Ansicht, daß die Inschrift bereits vor dem Brand eingeritzt worden sei (so noch Powell 1991a, 138 Nr. 30).
Eine Frage von 4) (a)
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] μ ά λ ι σ τ α hov [ ]•[ [b]
[d[to ])
y
(b-d) - u u - ξ ] έ ν / ο ς τε φ'ιλος κ α ι π [ ι σ ] τ ό ς ε τ α ί ρ ο ς (sic) ca Η
" "]ιλα έν π[ ]οι τ ' έν άτ[ e) ]χορ[ ]οτ[ Das längste erhaltene (und einzig sicher zu übersetzende) Versfragment bedeutet: „... sowohl lieber Gastfreund als auch treuer Gefährte ..." Ithaka, Aetos. Mehrere Fragmente einer geometrischen Oinochoe mit aufgemalter, auf der Schulter umlaufender Versinschrift. Um 700 v. Chr. CEG 1, 251 f. Nr. 453 (danach die hier gebotene Textrekonstruktion); vgl. außerdem Jeffery/Johnston 1961/1990, 230, 233 Nr. 1, 452, pl. 45; Guarducci 1, 1967, 274f.; Powell 1991a, 148-150 Nr. 46; Wächter 2001, 168f. Nr. ITH 1 (mit etwas abweichender Lesung und Wiedergabe einer zeichnerischen Rekonstruktion des Gefäßes). 5) ] ι ν ο ς μ' έπο'ιέσε[ν oder: Ί ] ν ο ς με ποίέσε[ν ,,-]inos hat mich gemacht" Pithekussai. Fragment eines spätgeometrischen Krater mit aufgemalter Künstlerinschrift. Letztes Viertel des 8. Jh.s. (Dubois: „ca. 700"; Buchner bei Wächter: „c. 730-720)". Guarducci 3, 1978, 476; Heubeck 1979, 123f. Nr. 6d.; Powell 1991a, 127f. Nr. 10; Dubois 1995, 32f. Nr. 9; Wächter 2001, 171 Nr. EUC 1. 6) Κ α λ ι κ λ έ α ς πο'ιασε „Kal(l)ikleas hat (mich/es) gemacht" Ithaka, Aetos. Protokorinthische Platschkanne 28 lokaler Produktion mit aufgemalter Künstlerinschrift. 700-650. Jeffery/Johnston 1961/1990, 230f., 234 Nr. 2, pl. 45; Guarducci 1, 1967, 275f. (mit Abb. des Gefäßes); Guarducci 3, 1978, 477; Heubeck 1979, 122 Nr. 5b; Lorber 1979, 12 Nr. 7, 107; Powell 1991a, 139f. Nr. 33; Wächter 2001, 169 Nr. ITH 2. 7) Χ ο ς ήεμί. „Ich bin ein ,Chous"' Argivisches Heraion. Kleine subgeometrische zweihenklige Vase, Anfang des 7. Jahrhunderts mit eingeritzter Inschrift am Hals. Die Deutung ist ungewiß, da das Gefäß deutlich zu klein ist, um ein Chous (zum Vergleich: Ein attischer Chous beinhaltete 3,288 Liter) aufzunehmen. Jeffery/Johnston 1961/1990, 149f. Nr. 11, pl. 25.11; Guarducci 1, 1967, 242f.
28
Zur Bestimmung des Gefäßtyps: Lorber 1979, 12 Nr. 7. In der Literatur wird das Gefäß zumeist unter funktionalem Gesichtspunkt als Kerzenleuchter beschrieben („candlestick"; „vivace vasetto a forma di candeliere").
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(1)143 Abb. 1 nach Corinth XV/III, 1984, pl. 122 (1) Nr. 143 Zeichnung Korinth, Anfang 7. Jh. Zwei Scherben eines schwarzen Gefäßes, das der Töpfer vor dem Brand (Boegehold bei Stillwell/Benson 1984) mit horizontalen Linien versah und in die so markierten Zonen Namen einritzte. Die Deutung des Beginns der letzten Zeile ist schwierig. Zwar sind Personennamen auf -τοι = - τ ω ι gelegentlich belegt, vgl. etwa Lorber 1979, 83 Nr. 130: Ό λ υ τ τ ό ι , doch irritiert der Umstand, daß einzig hier ein Trennzeichen fehlt. Boegehold schlägt daher vor: τ ο ι Μ α λ έ ρ ο the sons (?) of Maleqo (?). Heubeck 1979, 121 Nr.4a; Lorber 1979, lOf. Nr. 2a.b; Boegehold bei Stillwell/Benson 1984, 358f. Nr. 1 (= 143), pl. 122.1; Amyx 1988 Gr 5a. 6; Powell 1991a, 132f. Nr. 21 (vgl. oben Anm. 26). 9) Τατα'ιες έ μ ΐ λ έ ς υ θ ο ς - ος δ' ά ν με κ λ έ φ σ ε ι , θ υ φ λ ο ς έ σ τ α ι . „Ich bin die Lekythos der Tataie; wer mich stiehlt, soll blind sein" Kyme. Aryballos, 675-650? mit eingeritzter Versinschrift. Jeffery/Johnston 1961/1990, 238, 238, 240 Nr. 3, 454, pl. 47.3; Heubeck 1979, 124 Nr. 7; Lorber 1979, 13 Nr. 9, 107; Powell 1991a, 166f. Nr. 60; Dubois 1995, 41f. Nr. 12. Soweit eine kleine Auswahl aus den Keramikinschriften. Daneben gibt es seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert auch vereinzelt andere Beispiele: Aus Ägina kennen wir das im dortigen Apollon-Tempel gefundene Fragment einer Tonvotivtafel, deren aufgemalte Inschrift
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wohl einst den Weihenden nannte (kurz vor bzw. um 700). 29 In Böotien, wahrscheinlich in Theben, weihte Mantiklos im 1. Viertel des 7. Jahrhunderts eine Bronzestatuette dem Apollon. 30 Die ältesten griechischen Steininschriften, die wir bislang kennen, stammen aus Athen (ein Fragment mit zwei eingeritzten, teilweise erhaltenen Wörtern, die an epische Sprache erinnern, vielleicht noch in das ausgehende 8. Jahrhundert zu datieren)31 sowie aus Thera. Doch sind die dort nachgewiesenen Felsinschriften, ζ. B. diejenigen mit Personen- und Götternamen in der Nähe des späteren Gymnasions und des gleichfalls späteren Tempels für Apollo Karneios, nur aufgrund ihrer Buchstabenformen zu datieren, so daß eine nähere Bestimmung im 7. (oder gar noch ausgehenden 8.) Jahrhundert nicht möglich scheint. 32 Die übrigen frühen Steininschriften werden gemeinhin nicht vor der Mitte des 7. Jahrhunderts angesetzt, auch wenn im Einzelfall die Datierung wegen fehlender Fundkontexte problematisch sein wird. Bleibt noch eine besondere Gattung der frühen griechischen Inschriften zu erwähnen, die sogenannten Abecedarien, unter denen die etruskische Schreibtafel von Marsigliana d'Albegna sicher das bekannteste Zeugnis darstellt.33 Doch es gibt nicht nur solche kostbaren Einzelstücke: Von der Athener Agora stammt ein Webgewicht, das aufgrund des Fundkontextes in das ausgehende 8. oder spätestens in das beginnende 7. Jahrhundert zu datieren ist und das ebenfalls ein Abecedarium (von α bis o) bietet. 34 Und auch bei dem Gefäß, das im Samischen Heraion gefunden wurde, handelt es sich um eine einfache schwarzgefirnißte Tasse lokaler Produktion; es zeigt ein eingeritztes Abecedarium, das älteste, das wir im ostgriechischen Raum kennen.35 Ich habe bewußt einmal nicht mit den beiden bekanntesten Beispielen frühgriechischer Schriftzeugnisse, der ,Dipylonkanne' 36 und dem ,Nestorbecher' 37 begonnen, um einen Ein-
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Jeffery/Johnston 1961/1990, 110, 403, 439, pl. 16.1; Guarducci 1, 1967, 196f.; Heubeck 1979, 121 Nr. 3; Immerwahr 1990, 9 Nr. 9; Powell 1991a, 147 Nr. 44. Die Rekonstruktion des Wortlauts durch Jeffery ist hypothetisch, doch stimmen alle darin überein, daß angesichts des Fundorts am ehesten der Name der weihenden Person zu erwarten ist. Nicht einsichtig ist, weshalb dieses Objekt im Katalog bei Wächter 2001 fehlt, da er die typologisch nächststehenden Objekte, die korinthischen Pinakes, ausfuhrlich behandelt, ebd. 119-155, 275-279 und sogar die hölzernen Pinakes von Pitsä in seine Untersuchung miteinschließt, ebd. 156f. Jeffery/Johnston 1961/1990, 90f„ 94, pl. 7.1; Guarducci 1, 1967, 145f.; Heubeck 1979, 120 Nr. 2; CEG 1, 175f. Nr. 326; Powell 1991a, 167-169 Nr. 61. IG I 3 1418 (bustrophedon, Dat.: „s. VIII?"; ehemals IG I2 484, DAA 310, vgl. SEG 30 Nr. 46): - - - | - - ένκεκάλ[υπται(?)] - - ά ν φ < ο τ > έ ρ ο ι σ ι ν έ - -; vgl. auch Jeffery/Johnston 1961/1990, 69f., 431, pl. 1.2; Heubeck 1979, 119 Nr. la; CEG 1, 240f. Nr. 433; Powell 1991a, 150f. Nr. 47. Heubeck 1979, 125 Nr. 11; Powell 1991a, 129-131 Nr. 13-16. Wohl etwas jünger als diese sind die Felsinschriften mit homoerotischen Inhalten, ebd. 171-180 Nr. 63-68. Jeffery/Johnston 1961/1990, 236-238, pl. 48.18; Guarducci 1, 1967, 228f. mit Abb. 89; Heubeck 1979, 143-145 mit Abb. 56 („frühes 7. Jh."); Powell 1991a, 155f. Nr. 55; Dubois 1995, 15-17. Jeffery/Johnston 1961/1990, 69f„ 431, pl. 1.2; Lang 1976, 7 Nr. A l ; Immerwahr 1990, 8 Nr. 3; Heubeck 1979, 119 Nr. Ib. Guarducci 1, 1967, 265f. mit Abb. 119; Powell 1991a, 157 Nr. 57. Die mit geometrischen Mustern versehene Oinochoe, die zu den Altfunden des athenischen Friedhofs Kerameikos zählt, bietet auf der Schulter eine eingeritzte Inschrift, die folgendermaßen beginnt: hog νυν ό ρ χ ε σ τ ο ν παντΟν ά τ α λ ο τ α τ α παίζει ... (Übersetzung von Studniczka [1893] bei Heubeck 1979, 117: „Wer nun von den Tänzern am zierlichsten tanzt, ..."). Auch wenn der Schluß der Inschrift sprachlich und epigraphisch Probleme bereitet, so besteht doch kaum ein Zweifel daran, daß er die Zueignung des Gefäßes an den Sieger zum Ausdruck brachte. - Hansen, CEG 1, 237f. Nr. 432 und CEG 2, 304; Immerwahr 1990, 7 Nr. 1; Duhoux 1991 bietet eine plausible Auseinandersetzung mit Powell
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druck von der .Normalität' zu vermitteln. Und dabei ist auch dies noch beschönigend, denn ich lasse hier alle diejenigen Zeugnisse außer Betracht, deren fragmentarischer Erhaltungszustand oder deren erhaltener Wortlaut umfangreicher Erörterungen bedürfte, um ihnen überhaupt einen Sinn abzugewinnen. 38 Insofern ist der Befund, vor allem was die Materialien und die Gattungen anbetrifft, immer noch verzerrt: Insgesamt stehen etlichen Dutzend von Graffiti und Dipinti auf Keramik nur ganz wenige Inschriften auf anderen Materialien gegenüber. Für die Zeit vor der Mitte des 7. Jahrhunderts habe ich die Inschriften auf anderen Materialien fast vollständig aufgeführt. Was haben nun all diese Schriftzeugnisse auf Keramik gemein? Sie sind von kurzem Umfang und teilen ihren Lesern unmittelbar einen, und meist nur einen Sachverhalt mit. Sie ersetzen also einerseits die Anwesenheit des Sprechers und erweitern zugleich den Kreis der Empfänger der Nachricht. Die unmittelbar zugrundeliegende Sprechhandlung ist bis in die Diktion hinein erkennbar. Die Verwendung der 1. und 2. Person sowie von Demonstrativa erwecken geradezu den Eindruck, als spreche der Gegenstand anstelle seines Beschrifters. Doch schauen wir nochmals genauer hin: Manche Beschriftungen zeigen, daß sie mit dem Ortswechsel des Gegenstandes rechnen. Gerade bei den Signaturen, aber auch bei einer Geschenkinschrift wird einsichtig, daß es sich um Botschaften' im engeren Wortsinn handelt, also um Nachrichten, die mittels des Gegenstandes, auf dem sie notiert sind, von einem Ort, an dem sich der Sender befindet, an einen anderen Ort mit einem Empfanger übertragen werden sollen. In anderer Hinsicht gilt dies auch für die Besitzerinschriften, deren Mitteilung entweder auf die Verhinderung eines Ortswechsels oder auf die Mitteilung der Herkunft (nach erfolgtem Ortswechsel) zielt. An diesem Punkt angekommen, müssen wir eine weitere Eigentümlichkeit der frühen griechischen Schriftgeschichte miteinbeziehen. Sie wurde bereits im vorletzten Jahrhundert von Adolf Kirchhoff beobachtet und hat den Vater der Historik, Johann Gustav Droysen, so sehr beeindruckt, daß er Kirchhoffs , Studien zur Geschichte des griechischen Alphabets' als
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1988 (die dieser bei der Veröffentlichung seines Buchs noch nicht kennen konnte, vgl. Powell 1991a, 158-163), und diskutiert auch das Verhältnis der Dipylonkannen-Inschrift zu den Hymettos-Graffiti. Ohne auf Duhoux's Argumente einzugehen, wiederholte Powell 1997, 24, seine Position. Vgl. demnächst auch: Meyer (im Druck). Die im Grab 168 der Nekropole Valle di San Montano bei Pithekussai gefundene rhodische Kotyle (rhod. spätgeom. II) bietet folgende eingeritzte Inschrift (nach Hansen, CEG 1 ): Νέστορος : ε[ίμ]ι : εΰποτ[ον] : ποτέρνον. | hog δ' αν τόδε πίεσι : ποχερί[ο] : αϋτίκα κ έ ν ο ν | [ήμερος Ιιαιρέσει : καλλιστε[φά]νο : Άφροδίτες. („Ich bin das Trinkgefaß des Nestor, aus dem man gut trinken kann. Wer aber aus diesem Trinkgefaß trinkt, denjenigen wird sogleich das Verlangen ergreifen nach der schönbekränzten Aphrodite.") - Die ältere Literatur ist nachgewiesen bei Hansen, CEG 1, 252f. Nr. 454 und CEG 2, 304 (mit nochmaligem Hinweis auf den zu korrigierenden Druckfehler bei der Datierung); Immerwahr 1990, 18 Nr. 53; Powell 1991a, 163-166 Nr. 59; Dubois 1995, 22-28 Nr. 2; Manganaro 1995; Powell 1997, 23; jetzt grundlegend (ζ. B. in der Richtigstellung archäologischer Irrtümer hinsichtlich der Gefäßform und des Grabungskontexts) und mit bedenkenswerten Vorschlägen zur Textrekonstruktion: Pavese 1996. Zur Sprechsituation vgl. demnächst: Meyer (im Druck). Sie sind über die einschlägigen Zusammenstellungen, ζ. B. Jeffery/Johnston 1961/1990, Guarducci 1, 1967; Heubeck 1979; Guarducci 1987; Powell 1991a, leicht zu finden.
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besonderes Beispiel einer gelungenen Quellenerschließung anführte. 39 Die Zeugnisse, von denen ich eben sprach, sind nämlich in ganz unterschiedlicher Weise geschrieben, j e nach ihrer Herkunft. Allerdings wäre es ganz falsch, wenn man sich nun vorstellen würde, daß die jeweils ähnlich geschriebenen Zeugnisse auch aus benachbarten Regionen stammen würden. Vielmehr zeichnen die Verbindungen recht genau die verschiedenen Kolonisationsbemühungen griechischer Mutterstädte nach, sodaß wir etwa in Pithekussai und Kyme ein euböisches Alphabet antreffen. Zwar überwiegen bei allen Alphabeten die Gemeinsamkeiten gegenüber den Unterschieden, doch machen es die Differenzen dem Leser fremder Lokalalphabete nicht gerade leicht, diese Nachrichten zu entziffern. Griechen waren also offenbar seit der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts in der Lage, mit ihrem Schreiben nicht nur Nachrichten zu übermitteln, und zwar prinzipiell über große Entfernungen, sie konnten auch durch die äußere Gestaltung der Nachricht zum Ausdruck bringen, von welcher Herkunft der Schreiber war. In einigen Fällen könnte das sogar zum ,Politicum' geworden sein: In Korinth, wo wir bislang nur Schriftzeugnisse ab dem frühen 7. Jahrhundert kennen, benutzte man nämlich eine Alphabetvariante, die den Eindruck vermittelt, als wolle man sich ganz bewußt von den übrigen Griechen absondern, indem man ausgerechnet für Epsilon sowie für Beta von übrigen Alphabeten deutlich abweichende Zeichen benutzte. Ein Fund aus Kyme bietet ein doppeltes Abecedarium in euböischer und korinthischer Variante, als wolle der Schreiber dadurch die ,Übertragbarkeit' von Nachrichten von einer politischen Einheit in die andere sichern. 40 Korinth und Euböa weisen uns nun auch den Weg zu einer wichtigen Funktion der frühgriechischen Schrift, und damit auch zu einer Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach dem Zweck des Schreibens: Wenn die Schrift gerade zur Sicherung von Nachrichten bei der Überwindung auch weiter Entfernungen dienen sollte, dann erklärt dies zwei Auffälligkeiten unseres Materials nunmehr recht zwanglos, und zwar Auffälligkeiten, die ungeachtet aller Überlieferungszufälle immer wieder registriert wurden: Erstens, daß eine überraschend hohe Anzahl von frühen Zeugnissen ausgerechnet aus den unteritalisch-sizilischen Kolonien stammen und sich überhaupt eine enorme Streuung des Materials von Anfang an feststellen läßt, und zweitens, daß unter den frühen Zeugnissen so wenig Beispiele von Sfe/mnschriften zu finden sind. Es handelt sich offenbar um Zeugnisse unseres zweiten Typs, den Mobilität und die Chance auf Nachrichtenübermittlung über weite Entfernungen hinweg kennzeichnet. Wenn nun der Schriftgebrauch in der ältesten für uns faßbaren Phase mehr mit Nachrichtenübermittlung über große Distanzen als mit Traditionssicherung zu tun haben sollte, dann hilft das Schreiben freilich nicht nur dem Händler - wobei überhaupt noch zu klären wäre, 39
Droysen, Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte tj 26, ed. R. Hübner 1937, 87: „Weiter aber gilt es, Dinge, die nicht historisches Material zu sein scheinen, durch richtige Einreihung dazu zu machen. Erst durch eine gewisse Art der Betrachtung bieten sie der Forschung eine ergiebige Seite. Namentlich für die alte Geschichte ist diese Art in weitem Umfang ergiebig. So Kirchhoffs glänzende Schrift über die Geschichte des griechischen Alphabets: die altertümlichen Inschriften, die Boeckh im Corpus Inscriptionum Graecarum als antiquissimae den übrigen vorausstellte, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, wie sie sich paläographisch verhielten, nahm Kirchhoff vor, entwickelte aus der Buchstabenform die verschiedenen Systeme und Zeitfolgen und gewann so chronologische Anhaltspunkte fur die Zeit bis zum Peloponnesischen Kriege und damit eine Fülle von Aufklärung für die politische und Kunstgeschichte."; vgl. ebenso die Hinweise auf Kirchhoff im Vorlesungsmanuskript ,Historik' (späterer Nachtrag) sowie im „Grundriß der Historik" § 26, ed. P. Leyh 1977, 121 bzw. 428.
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Jeffery/Johnston 1961/1990, 116f„ 130 Nr. 2, 237, 2 3 9 Nr. 2, pl. 18.2; Heubeck 1979, 122 Nr. 4c; Lorber 1979, 1 l f . Nr. 5, 106f.; Powell 1991a, 156 Nr. 56; Dubois 1995, 3 6 - 4 0 Nr. 11.
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wofür ein Händler, der ja selbst reist, überhaupt schreiben muß - , sondern etwa auch dem Kontakt zwischen Daheimgebliebenen und Ausgewanderten. Gerade diese Situation ist ja auf familiärer Ebene auch fur den Proitos-Brief vorausgesetzt. Im übrigen könnte ein solches Bedürfnis nach Aufrechterhalten des Kontakts zwischen Apoikie und Metropolis auch erklären, weshalb in den unteritalisch-sizilischen Städten die unterschiedlichen Schreibgewohnheiten beibehalten wurden, obgleich dies die Kommunikation der geographischen Nachbarn erschweren mußte. 41 Die gemeinsame Schrift würde dann nicht mehr nur der Nachrichtenübermittlung dienen, sondern wäre zugleich auch Erkennungsmerkmal, durch welches sich Gemeinsamkeit und Abgrenzung ausdrücken ließ.42 Wenn diese Vorstellungen vom Schriftgebrauch das Richtige treffen sollten, dann bliebe noch zu überlegen, wie sich die homerischen Epen als Gesamtheit in dieses Bild einfügen. Ich halte sie im Anschluß an neuere Homerforschungen für schriftlich konzipiert. 43 Was aber hat den Iliasdichter dazu veranlaßt, seine Dichtung diesem Medium anzuvertrauen? Die Auffuhrung vor Ort konnte er ja selbst beeinflussen, und ob es ihm persönlich oder anderen Rhapsoden, die seine Dichtungen vortrugen, hilfreich war, daß sie nun ein schriftlich fixiertes Werk vorliegen hatten, mag man eher bezweifeln. Nein, der ,Clou' liegt doch in der panhellenischen Perspektive der Epen, die eine - zumindest beanspruchte - panhellenische Verbreitung miteinschließt. Insofern bediente sich der Dichter eben jenes Mittels, das die Übermittlung von Inhalten über große Entfernungen ermöglicht: der Schrift. Damit sind wir aber inzwischen von der Welt der Händler weit entfernt, und könnten dies noch weitertreiben, wenn wir die beiden Kronzeugen frühesten Schriftgebrauchs noch hinzunähmen: Auch Dipylonkanne und Nestorbecher fügen sich bei aller Schwierigkeit der Einzelinterpretation doch in jenen Rahmen der aristokratischen Welt der frühen Griechen ein, die uns eben auch die homerische Dichtung vor Augen fuhrt: Beide sind Zeugnisse einer Welt ritualisierter Kommunikation im Wettkampf und im Symposion. Zu dieser Lebensweise gehörte also bereits im 8. Jahrhundert auch der Gebrauch der Schrift, um - so die These die zunehmende Distanz zwischen den einzelnen Kommunikationspartnern zu überbrükken. 44 Das Schreiben diente dazu, den Fortbestand der jeweiligen sozialen Entität, sei es nur ein Paar oder eine größere Gruppe, zu sichern, indem es das Aufrechterhalten der Kommunikation ermöglichte. Erst später - dies legt jedenfalls die Fundsituation der frühen Schriftzeugnisse nahe - erst später, d. h. im Laufe des 7. Jahrhunderts, trat der andere Zweck des Schreibens, die ,Verdauerung' in zeitlicher Dimension an einem Ort, hinzu. Nun erinnerte der beschriftete Grabstein an die Person des Verstorbenen, jetzt verpflichtete der auf Stein oder Bronze festgehaltene Schiedsspruch die Gemeinschaft zu einer gewaltarmen Streitbeilegung oder beschränkte die Macht der Funktionsträger. 45 Diesen zeitlichen Zweck des Schriftgebrauchs scheint der Iliasdichter noch nicht gekannt zu haben. Das Grabmal, das
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Allerdings ist hier auch die allgemein menschliche Erfahrung zu berücksichtigen: Nachbarn treffen sich, um miteinander zu sprechen, sie schreiben sich aber in der Regel nicht. Vgl. jetzt Johnston 1998. Wirbelauer 1996, 146f. Anm. 14 (mit weiteren Hinweisen). Es ist für die These unerheblich, ob einzelne Stücke nicht den Weg in die Ferne angetreten haben. Wichtig ist vielmehr, daß auch sie die Chance bezeugen, die Kommunikation über die konkrete mündliche Gesprächssituation hinaus zu ermöglichen. Vgl. Gehrke 1995; Gehrke 1997.
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Hektor seinem Zweikampfgegner am Hellespont in Aussicht stellt (Ilias 7, 8 6 - 9 0 ) , 4 6 und die sog. , Stadt im Frieden' auf dem Achilleus-Schild 4 7 kommen ohne aufgeschriebene Mitteilungen aus. Die homerische Dichtung ließe sich demnach in die erste für uns faßbare Phase des Schriftgebrauchs einordnen, in der die Überwindung der räumlichen Distanz im Vordergrund stand. Wenn es sich so verhält, dann ergibt sich auch für die Intention des Ependichters eine wichtige Konsequenz: Sein Schriftgebrauch zielt dann weniger darauf, ein thukydideisches κ τ ή μ α ές α ΐ ε ί („ein Besitz für die Ewigkeit") vorzulegen, sondern seiner Dichtung die in ihr angelegte weiträumige Verbreitung zu sichern. Und die Tatsache, daß die auch schon im 8. Jahrhundert erkennbare Ausdehnung Korinths (vor allem nach Nordwestgriechenland) überhaupt keinen Niederschlag in den Epen, auch nicht in der Odyssee, gefunden hat, könnte dann - ähnlich wie es bereits Roger Dion mit Blick auf die Odyssee vertreten hat 48 - mehr als bloßes Nichtwissen bedeuten. Vielleicht hatte der Dichter eben doch nicht alle Griechen als Empfänger seiner Botschaften im Auge, sondern nur bestimmte. Insofern scheinen auch die homerischen Epen den Eindruck zu bestätigen, den die Vielfalt der frühgriechischen Alphabete nahelegt. Nicht Unfähigkeit oder Ungeübtheit mit dem neuen
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Vgl. auch die Wendemarke für das Wagenrennen bei der Leichenfeier für Patroklos (23, 331), über die der Dichter die Vermutung äußert, sie könne das Grab eines längst verstorbenen Helden sein. 47 Vgl. Wirbelauer 1996. 48 Dion 1977. Die These ist so, wie sie Dion formuliert, nicht unangreifbar. Allerdings wäre sie erneut zu diskutieren, indem man die Argumentation Burkerts zur Entstehung des homerischen Apollon-Hymnos hinzunimmt (Burkert 1979; vgl. auch Burkert 1987, 53-56). Ausgangspunkt ist ein Scholion zu Pindar, ιWem. 2, 1, zur Erklärung des Begriffs ,Homeriden'. Burkert beginnt seine Ausführungen mit der Interpretation des letzten Satzes, demzufolge Kynaithos als erster in Syrakus Homerverse zitiert habe, und weist auf den Unterschied zwischen epischer Dichtung allgemein und homerischer Dichtung hin. Ohne diese Unterscheidung wirkt der Satz sinnlos - denn natürlich war epische Dichtung in Sizilien auch schon vor dem endenden 6. Jahrhundert bekannt - und wird erst verständlich, wenn man ihn wörtlich nimmt und sich dabei in Erinnerung ruft, daß Großgriechenland seinen ,eigenen Homer' in Gestalt des Stesichoros besaß. Der Auftritt des Kynaithos in Syrakus könnte also wirklich der erste Auftritt eines ,Homeriden' in der Stadt gewesen sein. Danach tastet sich Burkert zum Satz über die Autorschaft des Kynaithos am Apollon-Hymnos vor, kommt jedoch (völlig überzeugend) zur Einsicht, daß der offensichtlich polemische Kontext, aus dem das Scholion sein Wissen schöpfte, die Annahme einer wirklichen Autorschaft des Kynaithos geradezu verbietet. - Um der Entstehung des Hymnos auf die Spur zu kommen, versucht Burkert (nach Ausschaltung des Kynaithos) in einem weiteren Schritt das zentrale Interpretationsproblem des Apollon-Hymnos zu erklären, das in der auffälligen Zweiteilung in einen ,delischen' und einen ,pythischen' Hymnos besteht. Da es keine sprachlichen oder überlieferungsgeschichtlichen Hinweise auf eine spätere Verschmelzung zweier Hymnen gibt, hält er die bis in jüngste Zeit vertretene chorizontische Lösung fur nicht vertretbar. Für ihn ist der Hymnos kein überlieferungsgeschichtlicher Betriebsunfall, sondern eine gewollte Kombinationsleistung eines Dichters, der seinen Hymnos für ein delisch-pythisches Apollfest verfaßte. Die Suche nach einem plausiblen Anlaß für einen solchen ,Doppelhymnos' fuhrt ihn (und unabhängig von ihm auch Janko) zu jenem delischpythischen Fest, das der Tyrann Polykrates von Samos in Delos zur Manifestation seiner neuen Position in der Ägäis wohl kurz vor seinem Ende 522 ausrichtete. Der Apollon-Hymnos ist folglich als zentrales Zeugnis spätarchaischer Dichtung im Umfeld eines Tyrannen zu verstehen, und zwar eines Tyrannen, der soeben eine veritable Thalassokratie begründet hatte. - Syrakus war bekanntlich die einzige korinthische Kolonie Siziliens. Wenn also hier bis in das ausgehende 6. Jahrhundert ein Homeride nicht aufgetreten ist, dann paßt dies hervorragend zu der These Dions, demzufolge in der Odyssee eine antikorinthische Stimmung auszumachen sei. Wenn sich diese These noch erhärten ließe, dann wäre das hier diskutierte Zeugnis zugleich ein Zeugnis dafür, daß das archaische Publikum (in Syrakus) lange Zeit kein Interesse an homerischer Dichtung gehabt hätte.
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Medium, sondern Abgrenzungswille und Zusammengehörigkeitsgefühl kommen hierin zum Ausdruck. Der Gebrauch der Alphabetschrift durch die Griechen im 8. und 7. Jahrhundert ist folglich auch ein Kapitel aus der Frühgeschichte der griechischen Identitäten. 49
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Vgl. ζ. B. die Studie von Pierart 1991 zur nordöstlichen Peloponnes. Ähnliches ließe sich auch für die nordwestliche Peloponnes durchführen, um die Abgrenzungsbemühungen in Achaia und Elis zu beschreiben.
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Reinhold
Bichler
Das chronologische Bild der „Archaik"
Vorbemerkungen Das Fundament unseres wissenschaftlichen Bemühens um eine chronologisch gefestigte Geschichte des Zeitraums, der sich mit dem landläufigen Archaik-Begriff verbindet, ist bereits in den beiden Meisterwerken der klassischen Historie gelegt worden: in Thukydides' Rückschau vom Beginn des Peloponnesischen Krieges über die Pentekontaetie bis zu den elementaren Daten der griechischen Kolonisationsgeschichte und in Herodots Einbettung der griechischen Geschichte in das dynastische Geflecht der jüngeren Geschichte Ägyptens und Asiens. Obwohl Fragen der Chronologie nicht das zentrale Anliegen dieser beiden Autoren bildeten, ruht unsere Chronologie der Archaik dennoch weitgehend auf ihren Vorleistungen. Sie haben es der späteren Chronographie und der auf ihr aufbauenden neuzeitlichen Forschung zunächst einmal ermöglicht, überhaupt zentrale Daten der Perserkriegszeit und der anschließenden Epoche interner Hegemonialkriege an einen festen und einheitlichen Bezugspunkt zu binden und sie schließlich in den uns vertrauten Jahreszahlen nach der christlichen Zeitrechnung auszudrücken. Darüber hinaus haben Herodot und Thukydides auch die innere chronologische Struktur unseres standardisierten Epochenbildes der Archaik ganz entscheidend vorgeprägt. In der folgenden Untersuchung sollen nun die Elemente der Periodisierung und der chronologischen Schichtung im Bild der griechischen Geschichte vor der Perserkriegszeit, mit denen die Historie Herodots und Thukydides' aufwartet, deutlich gemacht werden. Dabei unterscheide ich im groben zwischen einer jüngeren Vergangenheit, die zur Gegenwart des Autors und seines ursprünglichen Publikums hinfuhrt, und einer weiter zurückliegenden Vorzeit, von der uns eine reiche mythopoetische Tradition Kunde gibt. Es ist eine Unterscheidung, die dem Verständnis der beiden Klassiker gerecht zu werden trachtet, ohne ihrer Sehweise einen kategorialen Unterschied von Mythos und Geschichte zuzuschreiben. 1 1 Vgl. dazu etwa Graf 1985, 117ff.; Gehrke 1994, bes. 246ff.; Harrison 2000, 195ff.; Gehrke 2001, 297ff. Gehrke formuliert m. E. prägnant einen wesentlichen Umstand im antiken Vergangenheitsverständnis, der einer scharfen Trennung von mythischer und historischer Zeit im Wege steht: „Everywhere we run into a zone of past time which is not separated in principle from the present. In it reigns the same logic
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Bichler
Das chronologische Bild der jüngeren Vergangenheit
I 1 Die Basis des chronologischen Spektrums S o w i e H e r o d o t s Historien
im B l i c k a u f d i e m a n n i g f a l t i g e n F o r m e n m e n s c h l i c h e n D a s e i n s
die W e i t e der O i k u m e n e ausloten, s o dringen sie a u c h in d i e T i e f e der Zeit vor. D a b e i entsteht ein v i e l s c h i c h t i g e s G e f i i g e c h r o n o l o g i s c h e r Strukturen. H e r o d o t s D a r s t e l l u n g u m f a ß t in ihrem Hauptstrang nur e i n e S p a n n e v o n rund 8 0 Jahren. S i e reicht v o n K r o i s o s ' U n t e r w e r f u n g der G r i e c h e n K l e i n a s i e n s und v o n K y r o s ' Entree als K ö n i g der Perser bis z u m M o m e n t , als die H e l l e n e n n a c h den E r f o l g e n v o n Plataiai und M y k a l e e i n e n B r ü c k e n k o p f a m H e l l e s p o n t g e w i n n e n konnten. A l l e w e i t e r e n V o r s t ö ß e in die V e r g a n g e n h e i t e r f o l g e n in Rückblenden und ,Exkursen' von vielfach höchst beachtlichen A u s m a ß e n . 2 Eine Anbindung d e s E r z ä h l w e r k s an d i e G e g e n w a r t d e s A u t o r s und s e i n e s P u b l i k u m s , die rund e i n h a l b e s Jahrhundert n a c h d e m X e r x e s - Z u g a n z u s e t z e n ist, erfolgt d a g e g e n nur m e h r in e i n i g e n A n s p i e l u n g e n und knapp g e h a l t e n e n A u s b l i c k e n . 3 M e h r war auch n o c h nicht n o t w e n d i g . D e n n die E i n s i c h t d e s Historikers w a r mit der schriftlichen Form der Publikation g r u n d s ä t z l i c h als ein intellektueller G e w i n n für die N a c h w e l t f e s t g e h a l t e n w o r d e n und k o n n t e damit aus ihrer z e i t g e s c h i c h t l i c h e n Aktualität g e l ö s t w e r d e n . 4 Freilich h i e ß das im Fall H e r o d o t s , daß die L e b e n s z e i t d e s A u t o r s für die N a c h w e l t nur mehr in U m r i s s e n erkennbar wird. 5 D e n n der
and necessity of relations and behaviour as in the present; obligations reach out from it through the present and into the future"; Gehrke 2001, 297. 2 Zur hier nicht weiter erörterten Problematik des Exkurs-Begriffs vgl. etwa Cobet 1971 und Payen 1997, bes. 95ff. 3 Eine Übersicht über die entsprechenden Partien und eine Analyse ihrer kompositorischen Funktion bietet Cobet 1971, 59-78. Mehr zu Herodots Bild der Pentekontaetie und der Anfänge des Peloponnesischen Krieges bei Bichler 2000, 366ff. 4 Rosier 1991 wertet jene Stellen aus, an denen sich Herodot ganz allgemein, ohne konkrete Anspielungen auf ,seine Zeit' bezieht. Er sieht darin ein Bemühen des Autors, seinem Text eine quasi zeitenthobene Position zu geben. Auf der anderen Seite läßt sich klar erkennen, daß sich Herodot mit seinen Argumenten in diversen Fragen der Naturkunde und der Medizin, der politischen Philosophie und der Anschauungen über religiöse Phänomene auf die zu seiner Zeit aktuellen Debatten unter den Sophisten (im neutralen Sinne des Wortes) bezog und sich als Intellektueller sui generis in seiner Gegenwart behauptete; vgl. dazu bes. Thomas 2000. 5
Aus Anspielungen im Werk einen genauen Zeitpunkt zu ermitteln, zu dem die Historien ihre fertige Gestaltung gefunden haben dürften, bereitet einige Probleme. Sicher - mit Thukydides' Hilfe - datierbare Episoden betreffen die Jahre 431 und 430. Eine starke Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß Herodot (VI 108) auch auf den Fall von Plataiai i. J. 427 anspielt. Vgl. dazu Hennig 1992, bes. 22ff. Einen Fall für sich stellt Herodots Bemerkung über die Verschonung von Dekeleia (IX 73) dar; vgl. dazu Hennig 1992, Anm. 20. - Nicht mehr eindeutig lassen sich mutmaßliche Anspielungen auf Ereignisse des Jahres 424 respektive auf deren offensichtliches Fehlen feststellen. Es geht dabei um den Tod Artoxerxes' (vgl. VI 98), die Kämpfe bei Delion (vgl. VI 118), die Besetzung von Kythera (vgl. VII 235) und das Schicksal von Aigina (vgl. VI 91). Die besonders von Ch. W. Fornara aktualisierte Frage, ob Herodots Historien oder zumindest ihre letzten Partien nicht bereits aus einer Perspektive gestaltet sind, die zumindest den Nikias-Frieden von 421 voraussetzt - vgl. Fornara 1971; Fornara 1981 - , ist starken Bedenken ausgesetzt; vgl. bes. Cobet 1977. - Probleme eigener Art sind mit der Suche nach literarischen Anspielungen auf herodoteische Szenen in Komödie und Tragödie verbunden; vgl. dazu etwa die mahnenden Überlegungen bei Podlecki 1977, bes. 249f., und Flory 1980, 23ff. Die Möglichkeit, daß im Theatertext auf eine Präsentation des Vortragskünstlers Herodot angespielt wird, vermehrt schließlich das Datierungsproblem
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Abstand, aus dem heraus die Perserkriege und ihre Vorgeschichte für Herodots ursprüngliches (ihm zuhörendes) Publikum als ein exemplarisches Geschick einer bereits spürbar zurückliegenden Vergangenheit erschienen waren, wird vom Autor selbst nur in einem recht vagen Zeitverhältnis ausgedrückt (vgl. etwa VI 98,2). Für das rapide zunehmende Bedürfnis nach chronographischer Genauigkeit schuf diese Vorgehensweise Herodots Probleme. Die vorsichtige Formulierung im Abschluß von Thukydides' Abriß der Pentekontaetie, das alles habe sich in einer Zeit von etwa fünfzig Jahren zwischen Xerxes' Rückzug und dem Beginn dieses Krieges ereignet (I 118,2), hat gewiß ihren Grund. Dennoch ließ sich über den Brückenschlag der Pentekontaetie - trotz aller notorischer Probleme ihrer internen Chronologie - ein fester Bezug zur zeitlich präzise verankerten Ereignisfolge des Peloponnesischen Krieges herstellen. Es bleibt eine Leistung, die Thukydides seiner Bemerkung über Hellanikos nach zu schließen, doch einige Mühe gekostet haben dürfte. 6 Die Zeit der Perserkriege, der entscheidende Bezugspunkt einer öffentlich gepflegten Erinnerung, die vor dem Verblassen in der Zeit durch die Kunst der herodoteischen Historie bewahrt wurde, war damit festgeschrieben. Soweit sich die ältere griechische Geschichte als eine Vorgeschichte der Perserkriege begreifen ließ, hätte sie somit in chronologischer Hinsicht auf deren Daten bezogen werden können. Einer solchen Praxis aber waren deutliche Grenzen gesetzt. Es gab keine gemeinsame Zeitrechnung und vor allem gab es kaum Traditionen, die sich zu einer gemeinsamen griechischen Geschichte der Zeit vor dem Ionischen Aufstand zusammenschauen ließen. Nicht von ungefähr stellt der Beginn dieses Aufstands das erste Ereignis der griechischen Geschichte dar, das sich innerhalb des Datengefüges der Historien Herodots aufs Jahr genau fixieren läßt. 7 Die Basis einschlägiger Berechnungen bilden Herodots Angaben über die Regierungsjahre der Perserkönige. Für die chronologische Verknüpfung dieser Daten mit Ereignissen der griechischen Geschichte bietet Herodot zwei entscheidende Hinweise: Das Jahr, in dem Xerxes' Armee zum ersten Mal Athen einnahm und in dem dann die Schlacht bei Salamis geschlagen wurde, ist zum einen das sechste Regierungsjahr des Großkönigs und zum anderen das Amtsjahr des Archon Kalliades (VIII 51 in Verbindung mit VII 7 und VII 20). Wieweit Herodot selbst schon die Archontenliste benutzte und ob er mit seiner Angabe über den Archon Kalliades bewußt ein Instrument für eine der Tendenz nach absolute Datierung durch spätere, kundige Leser schaffen wollte, bleibt höchst ungewiß. 8 Für unser historisches
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nochmals, da sich dann die Frage nach dem zeitlichen Abstand zwischen diesen Anspielungen und der Fertigstellung des Gesamttexts erneut stellt. Thukydides' Bemerkung, Hellanikos habe die Zeit zwischen Perserkrieg und Peloponnesischem Krieg als einziger vor ihm wenigstens berührt, wenn auch nur kurz und chronologisch ungenau (I 97,2), zeugt vom Stolz auf die eigene Leistung. Es spricht im Übrigen einiges gegen die verbreitete Vorstellung, in Hellanikos' Atthis ein Werk zu sehen, das unserem Begriff einer Chronik entspricht. Vgl. dazu bes. Toye 1995, 2 9 I f f . Toye's Zweifel betreffen - und das ist fiir den hier betonten Aspekt der Chronologie entscheidend - auch die annalistische Struktur der Schrift: „... the evidence for the work's supposed annalistic organization is as questionable as it is thin"; Toye 1995, 293. Hingegen betont Möller 2001, bes. 254ff., den innovativen Charakter der Hiereiai als eines ersten Versuchs einer „universal history on an annalistic pattern"; Möller 2001, 254. Vgl. dazu und zum Folgenden auch Bichler - Rollinger 2000, 31 ff. Die Ansichten gehen auseinander. „... hier haben wir den mit Vorbedacht gewählten Schlüsselpunkt der herodoteischen Chronologie vor uns", so urteilte Strasburger 1956/1982, 698, recht kategorisch. Dagegen polemisierte den Boer 1967 recht heftig (vgl. 32ff., 40ff., 50f.). Ob Herodot mit der Nennung des Kallia-
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W i s s e n aber ist mit d e m Jahr der S c h l a c h t v o n S a l a m i s , das d e m Jahr 4 8 0 v. Chr. entspricht, ein f i x e s D a t u m für die g r i e c h i s c h e w i e für die p e r s i s c h e G e s c h i c h t e g e w o n n e n , a u f das n u n relativ g e n a u datierte E r e i g n i s s e der älteren G e s c h i c h t e b e z o g e n w e r d e n k ö n n e n . 9 Innerhalb der Historien
betrifft das v o r a l l e m d i e S c h l a c h t bei Marathon, d e n F e l d z u g d e s M a r d o n i o s ,
der am A t h o s scheiterte, d i e Zerstörung M i l e t s und d e n B e g i n n d e s I o n i s c h e n A u f s t a n d s . ' 0 D i e Erwartung, in ähnlicher W e i s e a u c h f e s t e D a t e n der früheren g r i e c h i s c h e n G e s c h i c h te g e w i n n e n z u k ö n n e n , wird enttäuscht. H e r o d o t gibt z w a r der T y r a n n i s d e s Peisistratos und seiner S ö h n e in A t h e n die D a u e r v o n 3 6 Jahren ( V 6 5 , 3 ) , aber er verknüpft w e d e r d i e Peisistratiden n o c h den R e f o r m e r K l e i s t h e n e s exakt mit der C h r o n o l o g i e der späteren E r e i g n i s s e und d e n D a t e n der P e r s e r g e s c h i c h t e . Ä h n l i c h e s gilt für die G e s c h i c h t e Spartas. H e r o d o t bietet z w a r k o m p l e t t e A h n e n l i s t e n d e s L e o n i d a s und d e s L e u t y c h i d e s , d i e über d i e l e g e n d ä r e n A n f a n g e d e s D o p p e l k ö n i g t u m s zurück in m y t h i s c h e Z e i t e n führen, aber e s f i n d e n s i c h nicht e i n m a l g e n ü g e n d A n h a l t s p u n k t e , u m b e d e u t e n d e E r e i g n i s s e der Perserkriegszeit, d i e mit d e ren S c h l a c h t e n nicht unmittelbar verknüpft sind, g e n a u datieren zu k ö n n e n . D a s gilt e t w a für
des bewußt einen Schlüssel für diejenigen auslegte, die sich später Zugang zum chronologischen Gebäude der Archaik verschaffen wollten, muß in der Tat zweifelhaft bleiben. Schließlich macht Herodot selbst keine Bemühungen, die Distanz zwischen der Zeit der Perserkriege und seiner eigenen Zeit chronologisch zu vermessen. Auch die Frage, ob Herodot mit der Nennung des Archonten Kalliades überhaupt auf die damals aktuelle Archontenliste zurückgegriffen hat, bleibt offen. So figurieren etwa Miltiades, Kleisthenes und Solon bei ihm noch nicht als Archonten. Der Name des Archons des SalamisJahres kann sehr wohl ohne Bezug zu einer Ämter-Liste tradiert worden sein. Auch bliebe es der einzige Bezug Herodots auf diese eponymen Amtsträger. „... we might expect him (i.e. Herodotus) to date by archons more frequently were there a convenient list to refer to", gab daher Samuel 1972, 196, zu bedenken. Zudem bereitet die Glaubwürdigkeit der später literarisch überlieferten Archontenliste für die archaische Zeit notorische Probleme. Vgl. dazu etwa Plommer 1969; Ehrhardt 1992, 14ff. - Aufs Ganze gesehen stellt das interne chronologische Geftige in den Historien Herodots - anders als es den Boer sehen wollte, aber im Sinne Strasburgers - eine große konzeptionelle Leistung dar. „The need for a time structure different to that employed by oral traditions was clearly a major concern for Herodotus", halten Möller/Luraghi 1995, 12, fest. Sie betonen aber, daß Herodots Zeitgefüge gleichwohl noch in einem engen Bezug zur Welt der Erzählung steht: „in Herodotus there is, so to say, no time independent of the narration: it is always some episode that gives the starting point to a digression which, going back in time, allows the writer to narrate what had been going on elsewhere . . . " 9
Die für die neuzeitliche Chronologie entscheidende Korrelation zwischen den orientalischen Königsdaten und der griechischen Zeitrechnung aber stellte nicht eine Verknüpfung von Archontenliste und Herodots Perserdaten dar, sondern erst ein bei Clemens Alexandrinus erhaltenes Eratosthenes-Fragment, das ein elfgliedriges Datenwerk von Trojas Fall bis zum Tod Alexanders bietet (FGrHist 241 F 1). Aus der Verbindung dieses Eratosthenes-Fragments mit dem Ptolemäischen Königskanon ergibt sich dann die Grundlage der griechischen Chronologie. Vgl. dazu Bickerman 2 1963, 56f.; zu Eratosthenes' chronographischem Wirken vgl. Geus 2002, 308ff.; bes. 314ff. zum gegenständlichen Fragment. - Mehr Bedeutung fur die spätere Chronographie als seine Nennung des Archon Kalliades gewannen Herodots Angaben über die enge zeitliche Nähe von Thermopylen-Schlacht und Olympischen Spielen (VII 206; VIII 26). Vgl. dazu Bickerman 2 1969, 85f. - Die athenische Archontenliste des Zeitraums ab 302/1 v. Chr., für den Diodor nicht mehr erhalten ist, bietet sich dagegen als klassisches Puzzle für eine primär epigraphisch orientierte Forschung dar. Vgl. dazu den Überblick bei Samuel 1972, 21 Off.
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Eine knappe Übersicht über die Stellen in den letzten drei Büchern der Historien, in denen konkrete Angaben über die chronologische Relation zwischen bedeutenden Ereignissen im Gesamtgeschehen der Perserkriege erfolgen, stellt etwa Lendle 1992, 48ff., zusammen.
Das chronologische
Bild der
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Kleomenes' entscheidenden Sieg über Argos oder für die Verbannung seines Gegners Demaratos." Weiter zurück in die archaische Zeit fuhren aber auch die Angaben bei Thukydides nicht, insoweit es um eine absolute Chronologie geht. Das weist angesichts der Akribie, mit der sich der Historiker um eine präzise chronologische Bestimmung des Beginns und der Dauer des Archidamischen Krieges bemühte 12 , doch auf eine bewußte Zurückhaltung hin. Erst mit Marathon und dem Xerxes-Zug werden Ereignisse angesprochen, die sich für uns durch den Rekurs auf Herodot genau datieren lassen. Durch Thukydides' PeisistratidenExkurs erweitert sich dieser chronologisch präzisierte Rückblick nochmals um das Ausmaß einer runden Generation. Denn demzufolge verlor Hippias im vierten Jahr nach der Ermordung des Hipparchos die Tyrannis über Athen, ging ins Exil und zog noch als alter Mann, im 20. Jahr nach seiner Vertreibung, mit dem Perserheer nach Marathon (VI 59,4). 13 In Kombination mit Herodots Angabe, daß die Peisistratiden insgesamt 36 Jahre lang die Tyrannis innehatten (V 65,3), ergibt sich zwar die Möglichkeit, zum Beginn der PeisistratidenZeit zurückzurechnen, doch bleibt dieser Bezugspunkt angesichts von Herodots Bericht über die dreimalige Machtergreifung des Tyrannen vage. 14 Aufs Ganze gesehen fällt der Ertrag an absoluten Daten für die griechische Archaik somit recht karg aus. 15 Herodot wie Thukydides haben dieses Manko auf je eigene Art und Weise wettgemacht, Ersterer durch die Einbindung der älteren griechischen Geschichte in ein Netzwerk von Beziehungen zur dynastischen Geschichte Ägyptens und des Vorderen Orients und Letzterer durch ein dichteres Gefuge von relativen Zeitangaben zur Geschichte der Seemächte und ihrer Städtegründungen. Ich wende mich nun zunächst Herodots ägyptischen und orientalischen Daten zu.
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Vgl. dazu Thommen 1996, 92ff.; zum Datum und zu den Folgen der Schlacht bei Sepeia vgl. Gehrke 1985, 25f. mitAnm. 6 - 7 , 361 ff. Thuk. II 2,1; IV 133,2-3; V 19,1; 20. Vgl. dazu Hornblower I 1991, 235ff.; II 1996, 490ff. mit weiteren Verweisen. Diese Daten passen zu Thukydides' Bemerkung, daß der Putsch der Oligarchen ziemlich genau 100 Jahre nach dem Sturz der Tyrannen erfolgte (VIII 68,4). Dazu kommt noch die Angabe Herodots, daß die endgültige Machtergreifung des Peisistratos im 11. Jahr seit der zweiten Exilszeit erfolgte (I 62,1). Wieweit nun diese Angaben Herodots in Kombination mit den Angaben späterer Autoren zu verlässlichen Daten fuhren können, ist notorisch umstritten. Vgl. etwa die konsequent skeptische, bis auf K. J. Beloch zurück reichende Position bei Ehrhardt 1992, 14ff., mit der optimistischen Position, wie sie exemplarisch Rhodes 1976, 227, begründet: „In principle we should be prepared to find some authentic dates in the Atthides: though it was Hellanicus who first realised that an annalistic history of Athens could be based on the archon list, the realisation was surely made possible by the fact that some important events were already remembered as having occured in particular archontic years". Dagegen hatte schon den Boer 1967, 57f., mit Nachdruck die Ansicht verfochten, daß die Peisistratiden-Chronologie der Atthidographie rein auf Herodot beruhe. - Rhodes 1976 legt im Übrigen - unabhängig von seiner eigenen Sicht - die Probleme der Peisistratiden-Chronologie sehr übersichtlich dar. Was schließlich den annalistischen Charakter von Hellanikos' Atthis betrifft, so steht auch dieser durchaus zur Debatte. Vgl. dazu oben Anm. 6. Bei Herodot findet sich auch noch keine Angabe der Art, wie sie Thukydides im Einzelfall bietet, wenn er festhält, daß die Zerstörung von Plataiai im fünften Jahr des Archidamischen Krieges in das dreiundneunzigste Jahr nach seinem Bündnis mit Athen fällt (III 68,5). Zu den mit dieser singulären, offensichtlich „herausgerechnete(n)" Zeitangabe verbundenen Problemen und Kontroversen vgl. die Übersicht bei Hennig 1992, bes. Anm. 3; Hornblower I 1991, 464ff.
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I 2 Herodots Daten der jüngeren ägyptischen und der orientalischen Königsgeschichte Für die weiteren Überlegungen sind zunächst jene Daten im Bereiche der Geschichte Ägyptens und des Orients entscheidend, denen Herodot selbst ein größeres Maß an Präzision zu geben sucht. Die Historien lasen nämlich eine recht deutliche Zäsur erkennen, die eine jüngere, besser bekannte Geschichte der betroffenen Königshäuser von deren älterer Geschichte unterscheidet. 16 Ab Psammetichos in Ägypten und ab dem Meder Deiokes und dem Lyder Gyges in Asien bietet Herodot Herrscherlisten mit konkreten Regierungsjahren, die in etwa parallel zu einander verlaufen und zusätzlich durch einige - allerdings vage - Synchronismen verbunden sind. Weitere Synchronismen schlagen da und dort eine Brücke zu einzelnen Königen der Babylonier und Assyrier, zur Abfolge der namentlich hervortretenden Herrscher der Skythen, zu den griechischen Herrschern in der Kyrenaika und - mit Einschränkungen - zum Geschlecht der Temeniden in Makedonien. Auch für Kyros und seine Nachfolger gibt Herodot jeweils die Summe der Regierungsjahre an, so daß das Gemenge aus persischen, medischen, lydischen und ägyptischen Regierungszeiten sich zu einem chronologischen System fügt, dessen festen Sockel die Perser-Daten bilden. Im Aufbau dieses chronologischen Gefüges werden allerdings rasch Risse sichtbar. So läßt uns Herodot nicht wissen, in welchem Regierungsjahr Kambyses Ägypten eroberte und den Saiten ein Ende setzte, auch wenn er offensichtlich an Kambyses' Anfänge dachte. 17 Auch die Einnahme von Sardes und der damit verbundene Sturz des Lyder-Königs werden nicht exakt innerhalb der Regierungsjahre des Kyros datiert, werden aber wiederum von Herodot zu dessen Anfängen gezählt. So bleibt auch hier ein leichter Unsicherheitsfaktor innerhalb der herodoteischen Chronologie bestehen, ganz wie im Falle der Saiten und des Kambyses-Zugs. 18 Gleichermaßen gibt Herodot kein genaues Datum für die Eroberung Babylons durch Kyros an, rückt sie aber in eine deutliche Nähe zum Massageten-Zug und damit knapp vor das Ende seines Lebens (I 178,1; 201). Schließlich ist nicht ganz klar, ob und 16
Herodots Zäsur kommt nicht von ungefähr. Auch die moderne Ägyptologie hat ihre Probleme mit der vorsai'tischen Chronologie: „ . . . the chronology of the 24 th and 25 th Dynasties before Taharqa's accession remains problematical"; vgl. dazu Redford 1999; Zitat ebd. 58 (den Verweis danke ich R. Rollinger). Dabei ist die ägyptische Spätzeit noch gut dokumentiert. Die lydische Geschichte vor Gyges liegt nach wie vor im Dunkel, und die frühe Geschichte der Meder und Perser bleibt fragmentarisch und ist notorisch umstritten.
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Unser Wissen um die Datierung der Schlacht von Pelusion ins Jahr 525 (vgl. dazu unten Anm. 20) darf nicht gegen den Text dazu verfuhren, Herodot zu unterstellen, er habe den Feldzug des Kambyses in die Mitte von dessen Regierungszeit gesetzt. Vgl. dazu Lloyd 1975, 190f. - Der Zug gegen Ägypten stellt bei Herodot die erste erzählte Aktion des Kambyses dar und fällt damit in die Anfänge seiner Regentschaft. Zum Eindruck, den Herodot gibt, paßt auch die in altorientalischer wie ägyptischer Tradition bezeugte Topik von großen Aktionen im ersten Jahr der Herrschaft eines Königs. Die Zuversicht freilich, mit der Miller 1959, 35ff., davon ausgeht, daß für Herodots chronologische Sicht Kambyses' Feldzug in dessen erstes Jahr fiel und er fur die Darstellung der weiteren Ereignisse in Kambyses' Ära, insbesondere fur die Verknüpfung der persischen und der samischen Geschichte, Vorlagen hatte, die aufs Jahr präzisierte Daten gaben - Spartas Feldzug gegen Samos fiele demnach nach einer postulierten samischen Quelle ins Jahr 523, Polykrates' Tod ins Jahr 522 und die Einnahme der Insel ins Folgejahr vermag ich nicht zu teilen.
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Es spricht einiges dafür, daß Herodot damit bewußt die Unsicherheit des Wissens andeutet; vgl. Fehling 1985, 78ff., bes. 82.
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w i e w e i t d i e für K y r o s a n g e g e b e n e n 2 9 R e g i e r u n g s j a h r e ( 1 2 1 4 ) w e i t e r z u r ü c k r e i c h e n als nur bis z u m Sturz d e s letzten M e d e r k ö n i g s , A s t y a g e s , d e s s e n E n d e d e m n a c h im c h r o n o l o g i s c h e n G e f ü g e der Historien
ebenfalls ,schwimmt'.19
N u n läßt s i c h in e i n i g e n Fällen durch ä g y p t i s c h e und orientalische Q u e l l e n A u f s c h l u ß g e w i n n e n . D a s gilt vor a l l e m für d i e E r o b e r u n g Ä g y p t e n s durch K a m b y s e s 2 0 und für die E i n n a h m e B a b y l o n s durch K y r o s . 2 1 A u c h der Sturz d e s M e d e r s A s t y a g e s steht z e i t l i c h einig e r m a ß e n f e s t . 2 2 E n t g e g e n e i n e r verbreiteten A n s i c h t bleibt aber der Fall v o n S a r d e s - und d a m i t das E n d e der l y d i s c h e n D y n a s t i e - c h r o n o l o g i s c h ungeklärt. 2 3 Z u d e m dürften d i e R e gierungsjahre, d i e H e r o d o t d e n L y d e r n und M e d e r n gibt, w e i t g e h e n d a u f e i n e m Konstrukt beruhen 2 4 , w o g e g e n s i c h d i e D a t e n für d i e Saiten als w e i t g e h e n d z u t r e f f e n d e r w e i s e n . 2 5 U n -
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Diese Angabe der Regierungszeit des Kyros muß wohl die Jahre der Herrschaft über die Perser vor dem Sturz des Astyages mitgerechnet haben. Vgl. Parker 1995, 20f. mit Anm. 50. Drews 1969, 6, betont, daß sich Herodot dessen nicht bewußt war, daß diese tradierte Zahl die Jahre inkludiert, in denen Kyros als König von Anschan noch ein Vasall der Meder war. Indes ist auch dieses Vasallentum der Perser keineswegs so klar verbürgt. Vgl. dazu Rollinger 1999, bes. 127ff. Das moderne Datum der Schlacht von Pelusion - Frühsommer 525 - ergibt sich aus einer Kombination von ägyptischen Dokumenten und antiker Chronographie in der Nachfolge Manethos, wobei die herodoteische Angabe von sechs Monaten Regierungszeit des Psammenitos mitspielt (III 14,1). Diese Regierung muß nach ägyptischen Quellen, die das zweite Jahr des Königs bezeugen, noch das Jahresende von 526 umfaßt haben. Vgl. dazu Kienitz 1953, 154ff„ bes. 156f.; Miller 1959, 30 und 35f. Vgl. die Übersicht über die keilschriftlichen Quellen bei Rollinger 1993, 20ff. Zum spezifischen Problem des Sippar-Zylinders, dessen Angaben zum Sturz des Ischtumegu (= Astyages) entgegen denen der Nabonid-Chronik nicht ins Jahr 550, sondern ins Jahr 553 weisen, vgl. Rollinger 1999, 133f. Als vermeintlicher Beleg fur eine Datierung des Falles von Sardes ins Jahr 547/6 gilt die NabonidChronik. Bezogen aufs neunte Jahr des Nabonid hält sie fest, daß Kurasch, der König von Parsu, seine Truppen musterte, den Tigris überquerte und nach Lu(?) ... (marschierte); er besiegte den König und nahm seinen Besitz weg, stationierte seine Truppen dort; danach waren der König und seine Truppen in...; Nabonid-Chronik II 15-18 ed. Grayson; Grayson 1975, 282, hält dazu fest, man könne für das fragliche Ziel des Feldzugs eher Lu lesen als Zu, doch sei die Ergänzung offen. Die Lesung und ihre Konsequenzen sind notorisch umstritten, seitdem C. F. Lehmann-Haupt den Text auf Lydien und das Ende des Kroisos bezog. Doch läßt sich eine solche Beziehung nur mit ziemlicher Gewalt herstellen. Vgl. dazu die kritische Forschungsübersicht bei Rollinger 1993, 188-197. - Daß spätere antike Chronographen fur den Fall von Sardes ein Datum bieten, das - mit kleineren Unstimmigkeiten - auf die traditionelle Ansetzung um 547/6 fuhrt, sollte nicht täuschen. Dieses Datum dürfte aus den notorisch divergierenden Angaben Herodots zur relativen Chronologie der Meder und Lyder herausgerechnet worden sein. Vgl. dazu vor allem Fehling 1985, 88f. und 134f. - Eine Übersicht über die Angaben der späteren Chronographen zur Kroisos-Chronologie und dem Fall von Sardes bietet Miller 1963, 59ff. Sie setzt in ihren detaillierten Studien zur Kroisos-Chronologie freilich noch die Validität der entsprechenden Interpretation der Nabonid-Chronik voraus und sie geht davon aus, daß die spätere Chronographie auf einer babylonischen Tradition fuße. Auch W. Burkert geht in seiner akribischen Studie zur Entwicklung der divergierenden Traditionen über Kroisos' Ende - bezogen auf eine Überlieferung in der armenischen Fassung der Chronik des Eusebius: „Krisos wurde getötet durch Kyros, der die Lyderherrschaft beseitigte" (deutsch bei Karst 1911, 33) - davon aus, daß diese Angabe „mit der nächstliegenden Interpretation der Nabonid-Chronik zusammengeht", und postuliert Berossos als Vermittler; Burkert 1985, 5ff., bes. 7. Die Basis solcher Hypothesen, die Lesung der Nabonid-Chronik, bleibt aber äußerst prekär. Vgl. dazu Fehling 1985, 9 3 f f . ; Ivantchik 1993a, 109ff.
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ser W i s s e n über d i e R e g i e r u n g s z e i t d e s D y n a s t i e g r ü n d e r s P s a m m e t i c h o s paßt in e t w a z u d e n c h r o n o l o g i s c h e n V o r s t e l l u n g e n H e r o d o t s . D e n L y d e r k ö n i g G y g e s h i n g e g e n setzt er für unser h e u t i g e s W i s s e n v i e l z u früh an. 2 6 E r w e i s t s i c h s c h o n d i e e x a k t e V e r k n ü p f u n g der ä g y p t i s c h - o r i e n t a l i s c h e n D y n a s t i e n m i t ihren j e w e i l s v e r z e i c h n e t e n Herrscherjahren a l s h e i k e l , s o wird das c h r o n o l o g i s c h nutzbare N e t z w e r k in den Historien
rissiger, j e w e i t e r m a n s i c h v o n d e n Pfeilern entfernt, an d e n e n e s
a u f g e h ä n g t ist. S o erfahren wir v o n H e r o d o t nicht, in w e l c h e m R e g i e r u n g s j a h r d e s D a r e i o s der S k y t h i s c h e und der L i b y s c h e F e l d z u g erfolgt s e i n s o l l e n . 2 7 A u c h w e r d e n die herausrag e n d e n Fürsten der S k y t h e n und die Herrscher v o n K y r e n e nur durch gröbere S y n c h r o n i s m e n z e i t l i c h e i n g e o r d n e t . I m m e r h i n gibt e s e i n i g e w i c h t i g e Q u e r v e r b i n d u n g e n v o n den Battiaden z u d e n Saiten und z u d e n Persern w i e n a c h G r i e c h e n l a n d . 2 8 A u c h für d i e S k y t h e n läßt s i c h e i n e d u r c h g e h e n d e Liste der fuhrenden Herrscher erstellen, d i e durch e i n i g e w e n i g e S y n c h r o n i s m e n mit d e m G e s c h e h e n im K e r n b e r e i c h der Historien
verknüpft werden.29 V o n
d e n K ö n i g e n der B a b y l o n i e r und der A s s y r i e r erfahren wir d a g e g e n nur recht Fragmentaris c h e s . 3 0 D i e K ö n i g e der Thraker treten überhaupt erst mit der Perserkriegszeit n a m e n t l i c h hervor. 3 1 A u c h der s i e b e n G e n e r a t i o n e n w e i t z u r ü c k f ü h r e n d e S t a m m b a u m d e s T e m e n i d e n
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Herodots Zahlen stimmen mit unserem ägyptologischen Wissen bis auf kleine Differenzen überein. Vgl. Lloyd 1975, 189ff. Daß Herodot Apries um rund sechs Jahre zu lange regieren läßt, ist diesbezüglich das einzige gröbere Manko. Das Datum von Gyges' Tod läßt sich aufgrund keilschriftlicher Quellen ziemlich eng - gegen das Jahr 644 hin - eingrenzen, auch wenn vor allem hinsichtlich der Verknüpfung dieses Datums mit den antiken Nachrichten über die Kimmerier-Einfälle recht heterogene Ansichten herrschen. Vgl. dazu etwa Spalinger 1978; Ivantchik 1993a, 104f.; Parker 1996, 64ff. - Herodots Angaben über die Dauer der lydischen Königsherrschaft - sie ergeben insgesamt 132 Jahre für Ardys, Sadyattes, Alyattes und Kroisos - rücken Gyges' Ende, auch wenn man die Unsicherheit über das Basis-Datum, das Jahr des Falls von Sardes, in Rechnung stellt, viel zu ,hoch' hinauf. Herodots Angabe, nach der Eroberung Babylons erfolgte der Feldzug gegen die Skythen unter der persönlichen Leitung des Dareios (IV 1,1), hebt letzteren Umstand hervor, bleibt aber in der zeitlichen Bestimmung vage. Miller 1959, 33ff., setzt dagegen voraus, daß Herodot einer Tradition folge, fur die Dareios konkret im Jahr nach der Eroberung Babylons, das wäre das Jahr 519, gegen die Skythen zog, und sich dabei bewußt gegen eine griechische Tradition gestellt habe, die den Skythenzug zeitlich mit dem Tyrannenmord in Athen verknüpfte. Eine solche Tradition - vgl. FGrHist 252 Β § 8 = IG IV 1297 - ist aber erst für die frühe Kaiserzeit bezeugt. Entscheidend ist Herodots Nachricht, daß Battos II., der Enkel des Dynastiegründers in Kyrene, den Sturz des Pharao Apries durch Amasis erleben konnte (IV 159 in Verbindung mit II 161-163; 169). Vgl. dazu Vannicelli 1993, 140f. Die Reihe eröffnen Protothyes und dessen Sohn Madyes, der zeitlich mit dem Fall von Ninos verknüpft wird (I 103,3). Dann folgen nach Generationen Spargapeithes, Lykos, Gnouros und Anacharsis. Über dessen Bruder und Mörder Saulios fuhrt dann die Reihe zu Idanthyrsos (IV 76,5 - 6 ) , dem Gegner des Dareios (IV 120; 126-127). Zuletzt folgen Ariapeithes und Oktomasades, der seinen Bruder Skyles tötet (IV 78-79). Vgl. Bichler 2000, 108f. zur Herrscherreihe und 105ff. zur ominösen Herrschaft der Skythen über Asien. Die Assyrier herrschten nach Herodots Vorstellung bis zum Fall von Ninos über weite Teile Asiens, während sie dann von Babylon aus nur mehr das Kemland regierten. Herodot weiß noch, daß die Meder unter Kyaxares den Assyriern in Ninos schwer zu schaffen machten und daß ein Angriff des Skythenkönigs Madyes, Sohn des Protothyes, die Assyrier entlastete; Bichler 2000, 105ff., 135ff. und 241. Eine Übersicht über die relevanten Stellen bietet Asheri 1990, I50ff. - Der erste namentlich genannte Herrscher, Olorus, wird nur der Verehelichung seiner Tochter Hegesipyle mit Miltiades (dem Marathon-Sieger) wegen erwähnt (VI 39,2; 41,2). Obwohl er König der Thraker genannt wird (VI 39,2),
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Alexandras in Makedonien (VIII 139) hängt gewissermaßen in der Luft, da erst Alexandras und sein Vater Amyntas fest im historischen Geschehen verankert werden. 3 2 Und die zeitliche Ordnung der Geschehnisse in Hellas selbst hängt überhaupt nur an den nicht gerade zahlreichen Synchronismen, die ihre Protagonisten mit den Herrschergestalten der ägyptisch-orientalischen Geschichte verbinden. Es ist somit zu konstatieren, daß sich kein Ereignis der griechischen Geschichte vor dem Ionischen Aufstand und kein Ereignis im Barbarikum vor Kyros' Herrschaftsantritt allein auf der Grundlage der Historien absolut datieren läßt. Wohl aber bilden die Angaben, die mit der Regentschaft der Saiten, der Mermnaden und der Mederkönige verbunden sind, ein verhältnismäßig dichtes Gefiige von Daten, die eine relative Chronologie ermöglichen. Der davon betroffene Zeitraum jüngerer Geschichte bleibt aber auf die griechischen Verhältnisse bezogen sehr schmal bemessen. Er erstreckt sich, vom Ausbruch des Ionischen Aufstands aus betrachtet, nicht weiter in die Tiefe der Vorzeit zurück als eine Zeitspanne von rund zwei bis drei Generationen. Dann öffnet sich ein leerer Zeitraum, dessen Konturen verfließen und der durch eine lange, aber nur mehr vage kalkulierte Zeitstrecke von der Ära des Trojanischen Krieges und der ihm vorangegangenen Heroen-Taten sowie der auf ihn folgenden Wanderbewegungen getrennt ist. Unschwer läßt sich nun in dieser Traditionslage zur älteren griechischen Geschichte ein Grundmuster erkennen, das den Erforschern mündlicher Erzähltraditionen wohl vertraut ist: Eine dichtere Ansammlung von aitiologischen Geschichten und Identität stiftenden Mythen ballt sich um eine legendär ausgeschmückte Gründerzeit. Zwischen ihr und einem Zeitraum jüngerer Geschichte, die in einem kontinuierlichen und klaren Bezug zur Gegenwart steht, spannt sich ein weiter Zeitraum, über den nur vage Vorstellungen herrschen: Er bildet ein Floating Gap, das durch Listen und/oder Genealogien auf recht dürftige Weise überbrückt wird. 33 Der dementsprechend späte zeitliche Ansatz fur den Beginn der jüngeren, besser bekannten Geschichte der Hellenen stellt ein bezeichnendes Symptom für die Schwierigkeiten dar, mit denen die Konzeption einer umfassenden Geschichte der Hellenen vor der Zeit des Ionischen Aufstands verbunden war. Zwar gab es eine literarische Tradition, voran in der elegischen Dichtung, von Tyrtaios und Kallinos weg über Mimnermos bis zu Xenophanes, in der bedeutende Ereignisse einer jüngeren Vergangenheit bewahrt und einem kollektiven Gedenken anempfohlen wurden. Doch bot erst die Erfahrung des Perserkriegsgeschehens die Möglichkeit, griechische Geschichte in einer umfassenderen, nicht auf einzelne Gemeinwesen und ihre Nachbarwelt konzentrierten Dimension wahrzunehmen, die dem episch-mythischen Vorbild des Trojanischen Krieges entsprechen konnte. 3 4 Nicht von ungefähr ist Herodots Darstellung der griechischen Geschichte vor dem Xerxes-Zug a u f , e x k u r s h a f t e ' Weise in die
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handelt es sich dem Kontext nach nur um einen Stammesfursten. Das gilt aber im Grunde auch noch für Sitalkes (VII 137,3). Vgl. dazu Asheri 1990, 138 und 156f. Die Königsreihe von Perdikkas bis zu Amyntas und seinem bedeutenderen Sohn Alexandros (VIII 139) ist einzig über die Verehelichung von Alexandras' Schwester Gygaia mit dem Achaimeniden Bubares (VIII 136,1) an Herodots dynastisch-genealogischer Chronologie festgemacht. Zur historischen Verankerung dieser Episode vgl. Zahrnt 1992, 245ff. Zum Grundsätzlichen Vansina 1985, bes. 23f. und 168f.; zu Herodot einführend Thomas 2001. Vgl. zunächst etwa Bowie 1986, bes. 27ff.; Rosier 1990; Bichler - Sieberer 1996, bes. 148ff.; vgl. dann bes. Bowie 2001, 54ff. und 63ff. zur Bedeutung der Simonides-Fragmente, die bereits das Perserkriegsgeschehen in homerische Dimensionen rücken.
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Darstellung der Geschichte vom Handeln und Scheitern der großen fremden ErobererKönige hineingestellt.
I 3 Der späte Zeitansatz in Herodots Bild der jüngeren Vergangenheit Zunächst ist festzuhalten, daß Herodot überhaupt nur im Falle von Athen und Sparta eine fortlaufende Geschichts-Erzählung anzubieten weiß, die ein beachtliches Stück weit über die Zeit vor dem Ionischen Aufstand zurückreicht. Dabei hatte sich Herodot sichtlich bemüht, die ganze Reichweite der griechischen Oikumene zur Geltung zu bringen, vom westlichen Mittelmeer über die Kyrenaika und Zypern bis zum Schwarzen Meer. Doch der Zeitpunkt, zu dem diese Gebiete sichtbar werden, ist zumeist sehr spät angesetzt. Von der frühen Präsenz der Griechen in der Levante bleibt kaum ein Reflex. Die griechische Präsenz in Ägypten ist auf Naukratis konzentriert. Was die griechisch-ägyptischen Beziehungen im Allgemeinen betrifft (Kyrene - Ägypten, Samos - Ägypten, Rhodos - Ägypten), so werden diese überhaupt erst für die Zeit des Amasis deutlicher hervorgehoben. Ein beachtliches Stück über drei Generationen - weiter zurück reicht freilich die Geschichte der Battiaden aus Thera in der Kyrenaika. Eine chronologische Verknüpfung mit der Saiten-Geschichte aber erfolgt auch hier erst für die Zeit Battos' II., der noch herrschte, als Apries von Amasis gestürzt werden konnte. 35 Die Temeniden in Makedonien, die auf ihre argivische Abkunft pochten, leiten sich zwar von Perdikkas als dem sechstem Vorgänger des Alexandros her (V 22; VIII 137,1; 139), doch die legendäre Geschichte vom Ursprung ihres Königtums (VIII 137-138) spielt in einer chronologisch noch äußerst vagen Vorzeit. Erst mit Alexandros und seinem Vater Amyntas, die sich mit der Expansion der persischen Herrschaft unter Dareios konfrontiert sahen, werden die Makedonen zu einem realen Faktor im historischen Geschehen, von dem Herodot zu berichten weiß. 36 Über Ioniens Städte wird schließlich immerhin im Rahmen der Lydischen Geschichte ab Gyges regelmäßig berichtet, aber zunächst - für die Ära von Gyges und Ardys - auch nur äußerst vage (I 14,4-15). Die griechischen Siedlungen im westlichen Mittelmeerraum und an der Adria, im Schwarzmeergebiet, an der Propontis und auf Zypern treten mit wenigen Ausnahmen überhaupt erst im Zusammenhang mit der Geschichte der persischen Eroberer hervor. Wo die Frühzeit der Kolonisation deutlicher ins Blickfeld rückt, wie bei der Geschichte Gelons, dessen Ahnen zu den Gründervätern von Gela gehörten, fehlt jeglicher Zeitbezug, der die Dauer dieser griechischen Präsenz im Westen veranschaulichen könnte. Das gilt auch für die
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Vgl. dazu oben Anm. 28. - Pindar, Pythien IV 9ff., 59ff., zählt 17 Generationen von den Argonauten bis zu Battos, dem Gründer, und erreicht mit Arkesilaos als dem achten König des Herrschergeschlechts die Gegenwart des Festgedichts (das von der Forschung ins Jahr 462 gesetzt werden kann). D e m entspricht das Delphische Orakel bei Herodot, das den Battiaden insgesamt acht Herrscher zubilligt (IV 163). Die ersten sechs dieser Herrscher (und Pheretime) spielen eine entsprechende Rolle im Libyschen Logos. Vgl. dazu Vannicelli 1993, 123ff.; Bichler 2000, 99ff.; Giangiulio 2001, 128ff. Zum Anlaß von Pindars Festgedicht vgl. Braswell 1988, Iff.; zur Bedeutung des Hinweises auf die genealogischen Traditionen im Hintergrund von Pindars Generationen-Rechnung vgl. Giangiulio 2001, 124f. Vgl. auch unten Anm. 75.
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Vgl. dazu oben Anm. 32; speziell zur Königslegende Kleinknecht 1966; zur Problematik eines Königtums der Temeniden vor Alexandros vgl. aber auch Rosen 1987, bes. 27ff.
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Episode, wie Telines das prestigeträchtige Priesteramt am Heiligtum der unterirdischen Götter erlangen konnte. Erst ab der Generation unmittelbar vor Gelon läßt sich eine zusammenhängende Herrschaftsgeschichte schreiben (VII 153). An Zahlen, wie sie sich in der Sizilischen Archäologie des Thukydides finden, scheint es noch völlig zu fehlen. Allerdings stellt die Aristeas-Geschichte, die in Prokonnesos, Kyzikos und Metapont spielt (IV 14-15), eine gewisse Ausnahme dar, denn sie bietet ein präzises Datum, das Herodot eruiert haben will: Die durch Delphi legitimierte Weihe eines Apollonaltars und einer Statue für Aristeas in Metapont und sein vormaliges mirakulöses Verschwinden aus Prokonnesos liegen 240 bzw. 247 Jahre auseinander (IV 14-15). 37 Zwischen Herodots Erkundigungen und der Altarweihe in Metapont muß man sich nochmals eine unbestimmte, aber nicht zu geringe Zeitspanne denken. Dazu kommt noch die unbestimmte Zeit, welche zumindest die genannten Städte an der Propontis dem Kontext nach vor dem legendären ersten Wirken des Aristeas bereits bestanden haben müssen. Aus alledem ergibt sich m. E. ein vages Maß für das Zeitgefühl, mit dem das Alter der besagten griechischen Kolonien bemessen wurde - ein Maß, das sich gar nicht schlecht zu den Zahlen fügt, die dann Thukydides für die Geschichte der jüngeren, lange nach Minos' Zeiten praktizierten Seefahrt und der Koloniegründungen bieten wird. 38 Selbst bei den Protagonisten von Hellas setzt die fortlaufende Geschichtsdarstellung Herodots zu einem späten Zeitpunkt ein. Im Falle Spartas ist dies die Zeit der Könige Leon und Hegesikles (= Hegesilaos), die nur zwei Generationen vor Kleomenes und Demaratos wirkten (I 65-68). Die Anekdote vom ungerechten Glaukos spielt gerade noch eine Generation früher (VI 86). Lykurg dagegen gehört - ebenso wie die aitiologische Ankedote um die Zwillingsgeburt der Söhne des Aristodemos (VI 52) - in eine legendäre Frühzeit. Doch läßt der Kontext seiner Einführung bei Herodot noch erkennen, daß dieser den Begründer von Spartas Eunomie im Grunde gar nicht so weit vom engeren Vorfeld der geschlossenen Erzählung über die jüngere Geschichte entfernt denkt, wie es die Plazierung Lykurgs als Vormund des Leobotes in der Genealogie der Agiaden suggeriert (vgl. I 65-66,1 in Verbindung mit VII 204). 39 Thukydides dagegen wird dann den Abstand zwischen der legendären Gründungszeit von Spartas guter Verfassung und seiner Gegenwart kräftiger markieren und mit rund 400 Jahren bemessen. Zwar nennt er Lykurg in diesem Zusammenhang nicht, doch
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Vgl. zur Tradition über Aristeas und dessen mögliche Datierung Corcella 1993, 239, und vor allem Ivantchik 1993b.
38
Auch bei Herodot, der über Minos - anders als Thukydides - ausdrücklich als einen spricht, der nicht zum Menschengeschlecht im eigentlichen Sinne gehört (III 122,2), finden sich bereits knappe Anspielungen auf die Tradition von Minos' Verbindungen in den Westen, die zur selben mythischen Wanderzeit gehören wie die Auswanderung der Lyder unter Tyrsenos u. a. m. Vgl. zu dieser Tradition Prinz 1979, 138ff.; zu Thukydides' Vorstellungen über Minos' Thalassokratie generell Hornblower 1 1991, 18 ff.
39
Vgl. zur Darstellung Lykurgs bei Herodot etwa Vannicelli 1993, 45ff., der hervorhebt, daß Herodot Lykurgs Gestalt trotz seiner bekanntermaßen zentralen Bedeutung für Spartas Geschichte nur in einem Exkurs, lose angebunden über die Ära der Könige Leon und Hegesikles an die des Lyders Kroisos bzw. der spartanischen Könige Anaxandrides und Ariston, behandelt. Noch auffälliger sei die Vagheit, mit der die Gestalt Chilons (I 59,2; VII 235,2) eingeordnet wird. Doch möchte Vannicelli diese Umstände auf Herodots Grundsätze zurückführen. Sie seien ein Zeichen dafür „che l'autore delle Storie non considerava suo compito parlare in modo organico di questo personaggio (diesfalls Chilon), che non rientra nel periodo scelto come specifico oggetto dell'esposizione"; Vannicelli 1993, 50.
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Reinhold Bichler
wird indirekt klar, daß Spartas legendärer Staatsgründer damit in eine zeitliche Nähe zu Homer und Hesiod nach den Vorstellungen Herodots rückt (I 18,1). Für die Geschichte Athens werden Herodots Schwierigkeiten noch deutlicher. Zum einen gibt es - anders als im Falle Spartas mit seinen Königsgenealogien - keine konkret ausgestalteten Linien, die von jener mythischen Zeit, in der die Athener sich von den Pelasgern getrennt hatten und Hellenen geworden waren, in die jüngere Vergangenheit herabführen. Es bleibt, wovon noch zu sprechen ist, bei nicht konkretisierten Angaben über die genealogische Herkunft nobler Familien und einzelner bedeutender Männer. Zum anderen setzt die kontinuierlich erzählte jüngere Geschichte noch später ein als im Falle Spartas. Denn Solons Exil (1 29) und die Machtergreifung des Peisistratos gehören bereits in die Zeit des Kroisos.40 Erst von da weg wird die Geschichte Athens fortlaufend dargeboten. Die nur in ganz kurzen Rückblenden erwähnten Geschichten von Tellos und Athens Kämpfen um Eleusis (I 30,3-5) sowie von Kylons Putsch (V 71) passen in einen vagen, nicht sehr tiefen Zeitraum vor Peisistratos' Machtergreifung.41 Auch Thukydides blieb im Übrigen sehr vage, als er auf den Kylonischen Frevel zu sprechen kam (I 126,3) 42 In diesem nur vage fixierbaren Zeitraum vor dem Einsetzen der kontinuierlichen Erzählung über die Geschichte von Sparta und Athen treten bei Herodot auch berühmte Seefahrer und bedeutende Kolonie-Gründer auf. So wird Battos, der Gründer von Kyrene, mit Korobios von Itea, dem Entdecker der Insel Platea an der libyschen Küste, und mit Kolaios von Samos, dem Entdecker des legendären Handelsplatzes bei Tartessos, auf eine Zeitstufe gestellt (IV 150-153), die dadurch präzisiert werden kann, daß Battos II., der Enkel des Dynastiegründers in Kyrene, wie bereits erwähnt den Sturz des Ägypters Apries durch Amasis erlebte (IV 159). Auch die anekdotenhafte Episode von einer Gesandtschaft der Eleier nach Ägypten, wo König Psammis ihre angebliche Gerechtigkeit beim Ausrichten der Olympischen Spiele als Selbstbevorzugung entlarvt (II 160), ist in diesem schmalen Vorfeld vor dem Spatium der fortlaufend erzählten Geschichte angesiedelt. Für eine Geschichte des .dritten Griechenland' 43 in der Zeit vor dem Ionischen Aufstand bieten die Historien noch weniger an dichtem Stoff. Die notorischen Kämpfe der Athener und Aigineten werden zwar in einer unbestimmten, legendären Zeit vor Kleisthenes und vor Kleomenes begründet (V 82-88).44 Aber erst mit diesen zwei Persönlichkeiten erhalten sie eine konkrete historische Verankerung. Eine regelrechte ältere Geschichte Aiginas findet sich in den Historien nicht. - Die Thebaner können zwar auf eine eindrucksvolle mythische Tradition zurückblicken, die in Oidipus' und Kadmos' Zeit führt (bes. V 57-61), sie treten
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D. Fehling stellt die kompositorische Relevanz der Bündnis-Suche des Kroisos und jener des Aristagoras am Vorabend des Ionischen Aufstands für das chronologische Gefüge der Historien heraus. Die beiden Aktionen stimmen nämlich in etwa - von ein paar Jahren abgesehen - mit Beginn und Ende der Peisistratiden-Herrschaft überein, die ihrerseits insgesamt 36 Jahre währte (V 65,3). Vgl. Fehling 1985, 82ff., bes. 85f. - Was Solons Datierung betrifft, so währt der späte zeitliche Ansatz bis ins Werk Piatons und ζ. T. darüber hinaus. Vgl. dazu Plommer 1969, 128; Fehling 1985, 1 Iff.; Ehrhardt 1992, 15f. Vgl. zur Gestalt des Tellos Asheri 1988, 284; zu Kylon Welwei 1992, 133ff. Thukydides weist zunächst nur darauf hin, daß Kylon ein Schwiegersohn des Theagenes von Megara war, der zu jener Zeit die Tyrannis innehatte (Thuk. I 126,3). Jedenfalls aber geschah das Unrecht an Kylons Anhängern geraume Zeit vor Kleomenes' gewaltsamem Eingreifen in Athen (vgl. I 126, 11). Mit dem Ausdruck folge ich Gehrke 1986. Vgl. dazu Welwei 1992, 212ff.
Das chronologische Bild der „Archaik"
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aber ,historisch' erstmals zur Zeit des Kleisthenes von Sikyon (V 67) und dann als Verbündete des Peisistratos kurz in Erscheinung (I 61,3)· Ab der Kleisthenischen Zeit gewinnen sie als notorische Gegner der Athener dann fest umrissene Konturen. - Die Argeier erhalten erstmals mit der Zeit des Kroisos (I 82) und deutlicher dann in der Ära des Kleomenes als erbitterte Gegner Spartas ihr historisches Profil. Ihr legendärer Tyrann Pheidon wird in die gleiche Zeit wie Kleisthenes, der Tyrann von Sikyon, gesetzt (VI 126-127), somit also sehr spät datiert. Denn Kleisthenes von Sikyon ist ja nur zwei Generationen vor dem athenischen Reformer Kleisthenes und damit eine Generation vor Peisistratos und Kroisos angesetzt. 45 Nicht zuletzt bekommt die Ära der Kypseliden in Korinth durch den Synchronismus zwischen dem Lyderkönig Alyattes, dem mi lesischen Tyrannen Thrasybulos und Korinths Tyrannen Periandros eine eindeutige chronologische Obergrenze (I 20; V 92), so daß die Geschichten über Periandros' Vater Kypselos nicht weiter als zwei Generationen vor Kroisos zurückführen. 46 Über die Bakchiaden, die führende Familie im oligarchisch regierten Korinth vor Kypselos' Zeit, gibt Herodot nur mehr höchst vage Bescheid. Bemerkenswert sind auch die Zeitansätze, die Herodot für einige bekannte Dichter trifft. Denn zum hohen Ansatz von rund 400 Jahren, die Homer und Hesiod seiner Schätzung nach vor seiner eigenen Zeit gelebt haben (II 53,2), stehen die meisten von ihnen in einem deutlichen Mißverhältnis. Wenn er es konnte, so arbeitete Herodot bereits mit der Standardmethode, literarische Anspielungen .historisch' auszuwerten, wobei offen bleiben soll, wieweit ein solches Verfahren vertrauenswürdige Resultate liefern kann. Archilochos wird somit seiner poetischen Recusatio an Gyges' Tyrannis wegen als dessen Zeitgenosse eingeschätzt (I 12,2)47 und gehört damit nach Herodots Maßstäben in die früheste Phase der allmählich konkret werdenden Geschichte jüngerer Zeit. Eine ganze Gruppe weiterer berühmter Poeten wird dagegen gemeinsam auf einer recht späten Zeitstufe postiert, die auf dem Felde der Herrschaft durch Amasis, Kroisos und Polykrates repräsentiert wird. Sappho erscheint durch die Gleichsetzung einer im Gedicht verewigten Hetäre, die es ihrem Bruder angetan hatte,
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Was das Problem der traditionell hohen Daten für Pheidon betrifft, so hatte Kinzl 1977/1979, 298ff„ eine radikale Lösung propagiert: Er sieht in der nachherodoteischen Tradition über Pheidon, die zu entsprechend höheren Daten fuhrt, das Produkt der Verschmelzung eines mythischen Königs Pheidon mit dem „von Herodot als Tyrann apostrophierte(n) argivische(n) Tyrann(en) Pheidon", welch letzterem allein historische Realität zukomme; Zitat 301. Zur Verteidigung eines frühen Zeitansatzes für Pheidon vgl. dagegen Gehrke 1990, 38ff.; vgl. dazu auch die folgende Anm.
46
Vgl. zur Kypseliden-Chronologie generell Parker 1993, der engagiert die innere Stimmigkeit von Herodots Chronologie und deren tiefen Zeitansatz verteidigt. Das paßt gut zu den hier vorgelegten Überlegungen. Zwei Einschränkungen aber sind zu treffen: Parker setzt die traditionelle Datierung des Falls von Sardes voraus (Anm. 26) und ist davon überzeugt, die so genannte Thales-Finsternis mit der Sonnenfinsternis von 557 identifizieren zu können (390ff.). Vgl. zu diesem letztgenannten Problem Bichler 2000, 239ff. mit weiteren Verweisen. - Eine engagierte Verteidigung des hohen Zeitansatzes für die Kypseliden-Chronologie (und in weiterer Folge für die Datierung Pheidons von Argos) bietet Gehrke 1990. Gehrke postuliert aber nicht nur ein höheres Vertrauen in die nachherodoteische Chronographie und in spätere Nachrichten der Historiographie, sondern auch einen (in der Forschung immer wieder erwogenen) Texteingriff in Hdt. III 48, 1; bes. Gehrke 1990, 36f. Wichtig für die Beurteilung der gesamten Diskussion ist sein grundsätzliches Urteil: „Allzuviel Kohärenz gerade in der griechischen Chronologie darf man ihm (seil. Herodot) also nicht von vornherein unterstellen - jeder Einzelfall ist gesondert zu prüfen ..."; Gehrke 1990, 42.
47
F 19 West = F 15 Lasserre - Bonnard. - Sehr zuversichtlich, Archilochos' Dichtung aufgrund diverser Anspielungen ziemlich präzise datieren zu können, zeigt sich Parker 1996, 59ff.
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mit der legendären Rhodopis und dank deren Verknüpfung mit der Gestalt des Königs Amasis als dessen Zeitgenossin (II 134-135). 48 Alkaios und die Kämpfe der Lesbier und Athener um Sigeion am Hellespont werden ausdrücklich mit dem Peisistratos-Sohn Hegesistratos verknüpft (V 94-95) und in Übereinstimmung damit erscheint Pittakos, den Alkaios in seinen Gedichten so hart attackiert, als Zeitgenosse des Lyders Kroisos (I 27,2). 49 Wie Sappho soll auch der Fabeldichter Aisopos der Zeit des Ägypters Amasis angehören (II 134,3-4), was chronologisch ziemlich auf dasselbe hinausläuft wie die enge Verknüpfung zwischen Anakreon und Polykrates (III 121,1). In der Summe mögen diese Beobachtungen ernüchternd wirken. Doch darf die systematische konzeptionelle Leistung nicht unterschätzt werden, die hinter Herodots chronologischem Bezugsystem für eine Geschichte der Griechen vor dem Ionischen Aufstand sichtbar wird. Der Vergleich mit dem, was Thukydides an chronologisch einschlägigen Daten bietet, ist durchaus dazu angetan, diese Leistung noch mehr zu würdigen.
I 4 Das chronologische Bild der jüngeren Vergangenheit in Thukydides' Exkursen zur Archäologie 14.1
ZUR ARCHÄOLOGIE
In seiner Archäologie konstatiert Thukydides eine entscheidende Wende in der Geschichte der Seemächte, von der weg neue Zeiten für Hellas anbrachen. Während Minos' legendäre Thalassokratie noch einer fernen Zeit der Wanderungen und Städtegründungen vor dem Trojanischen Krieg angehört (vgl. I 8,2-4), figuriert Korinth als älteste Seefahrerstadt nach ,modernen' Maßstäben: Seine Bürger praktizierten als erste einen Schiffsbau ε γ γ ύ τ α τ α του νυν τ ρ ό π ο υ und konstruierten die ersten Trieren in Hellas (I 13,2). Zwar bleibt dieser epochale Schritt selbst undatiert, doch verknüpft Thukydides mit dem Korinthier Ameinokles, der für die Samier die ersten vier Schiffe gebaut haben soll (I 13,3) und der damit den Beginn von Samos' Seepolitik ermöglichte, eine markante chronologische Angabe: Es war rund 300 Jahre vor dem Ende dieses Krieges, daß Ameinokles nach Samos kam (I 13,3).50 Mit dieser Rundzahl, die an Herodots Maße erinnert, führt uns Thukydides offensichtlich in eine Zeit, die er mit der Frühphase der griechischen Siedlungstätigkeit im Westen verbindet. Denn er stellt fest, daß die erste Seeschlacht, von der wir überhaupt etwas wissen, zwischen Korinthiern und Kerkyraiern geschlagen wurde, und datiert sie rund 260 Jahre vor 48
Vgl. zur Rhodopis-Geschichte und ihrer Verknüpfung mit Sappho Lloyd 1988, 84ff. Lloyd bewahrt aber die traditionelle Frühdatierung Sapphos; vgl. auch Lloyd 1975, 32. Herodot selbst „fuhrt eindeutig auf ein späteres Datum für ... die lesbischen Dichter"; so Fehling 1985, 107.
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Die Angabe Herodots, daß Periandros als Schiedsrichter in den Konflikten um Sigeion vermittelt habe (V 95,2), bereitet der Kypseliden-Chronologie notorische Schwierigkeiten. Sie könnte eine Erfindung der Seebundzeit darstellen. Vgl. in diesem Sinne Welwei 1992, 210ff., bes. Anm. 184. Vgl. generell zu Athens Ausgreifen auf Sigeion Stahl 1987, 21 Iff. und 220ff. Die Rundzahl erinnert durchaus an Herodots Maße; vgl. in diesem Sinn auch Gomme 1945, 122. Im Übrigen sind sowohl der faktische Beginn des Baus von Trieren als auch die Frage, ob sich Thukydides mit der Angabe von rund 3 0 0 Jahren konkret schon auf den Bau von Trieren und nicht auf irgendeine andere Neuerung im Schiffsbau bezog, strittig; vgl. dazu Hornblower I 1991, 42ff.
50
Das chronologische
Bild der „Archaik"
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dem gleichen Bezugspunkt, dem Ende des gegenwärtigen Krieges (I 13,4). Wenn sich dieses Ereignis auch einem potentiellen Quellenvergleich entzieht 51 , so ist doch eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit Herodots Statement über die notorischen Feindseligkeiten zwischen Korinthiern und Kerkyraiern seit Besiedlung der Insel (Hdt. III 49,1) nicht zu übersehen. Zwischen diesen zwei Daten für die Frühgeschichte des ,modernen' Seekriegswesens und der jüngeren Geschichte, die sich kontinuierlich zur Gegenwart hin erzählen läßt, öffnet sich in Thukydides' großer Archäologie nun allerdings ein veritables Floating Gap. Zwar wird die Etablierung der Tyrannis in weiten Teilen Griechenlands in eine zeitliche Parallele zum oben herausgestellten Erstarken der Seefahrt gesetzt (I 13,1), doch scheint Thukydides hier keine bedeutendere, auch in ihrer außenpolitischen Wirkung folgenreiche Tyrannis vor der des Polykrates in den Sinn gekommen zu sein, da er diese als erstes konkretes Beispiel nennt, so daß der angeführte Parallelismus in concreto wenig ergibt (vgl. I 13,6 mit I 17). Und eine nächste nennenswerte Etappe in der Entwicklung der Seemächte Griechenlands konstatiert Thukydides erst für die Zeit der Expansion des Perserreichs in den Westen Kleinasiens: „Auch die Ionier hatten später eine starke Flotte, zur Zeit des Kyros, des ersten Perserkönigs, und seines Sohnes Kambyses, und konnten gegen Kyros eine Zeitlang ihr Meer behaupten" (I 13,6).52 Auch die weiteren Überlegungen zur Entwicklung der Seemächte in Griechenland orientieren sich chronologisch just an jenem orientalischen Herrschergefuge, das den festen Daten-Rahmen von Herodots Historien bildet. So paßt die lapidare Feststellung, daß sich „Polykrates, der zur Zeit des Kambyses Tyrann von Samos war, ... durch die Kraft seiner Flotte eine Reihe von Inseln (unterwarf), darunter Rhenaia, das er dem delischen Apollon weihte" (I 13,6)53, genau zu Herodots chronologischen Vorgaben. Zudem teilt Thukydides offenbar Herodots Ansicht, daß die Ioner zur Zeit des Kyros (wie zuvor des Kroisos) zur See noch nicht gefährdet waren, da die phoinikische Flotte damals noch nicht in Diensten der Perser stand (Hdt. I 143,1). Denn er notiert, daß durch Kyros' Sieg über Kroisos wohl die Städte am Festland westlich des Halys unterworfen wurden, aber erst durch Dareios' phönizische Flotte auch die Inselwelt (I 16). Erst kurz vor den Perserkriegen und vor dem Tode von Kambyses' Nachfolger Dareios verfügten dann auch die Tyrannen Siziliens und die Kerkyraier über eine Fülle von Trieren, womit auch sie in Thukydides' Auflistung der Seemächte in der Zeit vor den Perserkriegen noch ihren Platz finden (I 14,1), während Athen und Aigina erst ganz knapp vor dem Zug des Xerxes ihre Flotten rüsteten und für diesen Katalog daher nicht mehr in Frage kommen (I 14,2).54 Mit dieser Feststellung bezieht sich Thukydides in chronologischer Hinsicht erneut auf die durch Herodot vertraute persische Königsreihe und auf das Eckdatum in der
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„...nothing further is known of this battle either, if Thucydides' date, c. 660 or 680, is correct", notiert Gomme 1945, 122. Die Übersetzung des Thukydides folgt, wenn nicht anders angegeben, G. P. Landmann. Thukydides geht auf die konkrete Polykrates-Geschichte auch andern Orts nicht mehr ein. Das einzige Detail, das er loc. cit. und III 104,2 anbietet, ist bezeichnenderweise eine Nachricht, die sich bei Herodot nicht findet: die Eroberung und Weihung von Rhenaia. Vgl. dazu Homblower I 1991, 46f. und 526. „Erst zuletzt - ό ψ έ - bewog Themistokles die Athener, im Krieg gegen Aigina und zugleich in Erwartung der Barbaren, die Schiffe zu bauen, mit denen sie dann die Seeschlacht schlugen ..."(I 14,2). Mit dieser Begründung folgt Thukydides im Prinzip Herodots Darstellung.
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Geschichtserinnerung der vorhergehenden Generationen: die Siege über Xerxes' Heer. Und noch eine weitere Notiz über die Seemächte der älteren Zeit, die der Forschung im Übrigen keine geringen Probleme bereitet, ist nur durch diesen Bezug zur Reihe der Großkönige chronologisch einigermaßen faßbar. Unmittelbar nach seiner Bemerkung über Polykrates' Seemacht erwähnt Thukydides nämlich ein Ereignis im Westen: Φ ω κ α ή ς τε Μ α σ α λ ί α ν ο'ικίζοντες Κ α ρ χ ε δ ο ν ί ο υ ς έ ν ί κ ω ν ν α υ μ α χ ο ΰ ν τ ε ς (I 13,6).55 Thukydides konnte für die Datierung dieser Schlacht offenbar keine genaueren Angaben machen, so daß er ihre Erwähnung an den - von Herodot vorgegebenen - Synchronismus von Polykrates und Kambyses einfach anschloß. Ein weiteres Indiz dafür, wie wenig chronologische Vorarbeiten Thukydides für jene Aspekte einer Geschichte der Griechen, die sich nicht mit den bekannten Herrschern des Orients verknüpfen ließen, zu Gebote standen, bilden seine Überlegungen über die Entwicklung der Landmächte. Im Gegensatz zu den Konflikten zur See formierten sich nach Thukydides' Urteil Landkriege abseits von Grenzstreitigkeiten erst sehr spät - mit einer Ausnahme: dem Krieg zwischen Chalkis und Eretria, in dem sich das übrige Hellas in Verbündete und Gegner teilte (I 15). Thukydides macht keinen Versuch, dieses Kriegsereignis, das er π ά λ α ι π ο τ έ γ ε ν ό μ ε ν ο ν nennt, zeitlich näher einzuordnen (I 15,3). Das paßt durchaus zu Herodots Umgang mit der einschlägigen Tradition. Es geht bei ihm um eine historische Begründung für die Waffenhilfe, welche die Eretrier zu Anlaß des Ionischen Aufstands den Milesiern leisteten. Herodots Erklärung, „die Milesier hatten nämlich den Eretriern in früherer Zeit den Krieg gegen Chalkis tragen helfen, damals, als auf der anderen Seite die Samier den Chalkidern halfen gegen Eretrier und Milesier" (Hdt. V 99,1), ist chronologisch genauso vage. Nur der panhellenische Charakter dieses vorzeitlichen Kriegs erscheint in Thukydides' knapper Bemerkung noch größer dimensioniert. 56 Hellas war nach Thukydides' Einschätzung jedenfalls lange Zeit durch die Tyrannen niedergehalten und leistete nichts Gemeinsames (I 17).57 Aber nach der Vertreibung der Tyrannen, an der meistens Sparta beteiligt war, erfolgte bereits nicht viele Jahre später - ού π ο λ λ ο ί ς έ τ ε σ ι ν ύστερον - die Schlacht bei Marathon (I 18,1). Und im 10. Jahr danach
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„ . . . another event of which we know nothing from other sources"; so Gomme 1945, 124. Gomme hält freilich fest, daß Thukydides nicht in genauer chronologischer Reihenfolge schreibe, und möchte den Bezug zur Schlacht von Alalia retten: „I would suggest reading here Α λ α λ ί α ν for Μ α σ σ α λ ί α ν " . Es sei aber daran erinnert, daß Herodot den Seesieg der Phokaier bei Alalia einen Kadmos-Sieg nannte (I 166,2). Hornblower I 1991, 47, warnt vor der Tendenz, unsere spärlichen Zeugnisse zu harmonisieren: „ . . . we should not assume that events not otherwise known to us did not happen, nor should w e force into agreement all those pieces o f evidence which happen to survive". Vgl. auch Nicolai 2001, 273.
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Fehling 1979, 199ff., betont die Abhängigkeit der Thukydides-Stelle von Herodot, dessen einzige Quelle für die Nachricht über den seinerzeitigen Krieg zwischen Eretria und Chalkis jene Elegie des Archilochos gewesen sei, der F 3 West (= Plut. Thes. 5, 2 - 3 ) zuzuordnen ist. Demgegenüber beharrt Parker 1996, 20f., für die Thukydides-Stelle auf einer von Herodot unabhängigen Tradition über den Lelantischen Krieg. Parker versucht mit kombinatorischem Eifer und dem prinzipiellen Vertrauen in die Validität späterer Überlieferungen eine lange Geschichte fortdauernder Kämpfe zwischen Chalkis und Eretria, vom 8. Jahrhundert w e g bis tief in die archaische Zeit, zu rekonstruieren. Zurückhaltender, um die Rekonstruktion eines einmaligen, nach der communis opinio um die Wende vom 8. zum 7. Jahrhundert angesetzten Kriegsereignisses bemüht, zeigt sich Tausend 1992, 137 - 1 4 5 .
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. . . ο ύ τ ω π α ν τ α χ ό θ ε ν ή ' Ε λ λ ά σ έπι π ο λ ύ ν χ ρ ό ν ο ν κ α τ ε ί χ ε τ ο . . . ; T h u k . I 17. Herodot hatte sich in ähnlicher Weise zur Lage Attikas unter Peisistratos geäußert (Hdt. I 59,1).
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kam dann der Barbar mit dem großen Heer (I 18,2). Dieser Krieg gegen die Perser bildete für Thukydides zweifellos von allen Kriegsfällen der Vergangenheit den bedeutendsten und er war doch, wie der Historiker des Peloponnesischen Krieges sogleich betont, bereits nach zwei Seeschlachten und zwei Landschlachten zu Ende (I 23,l). 58 Somit werden in Thukydides' Archäologie einzig mit der Nennung von Marathon und dem Xerxes-Feldzug Ereignisse angesprochen, die sich - im Anschluß an Herodots Historien - aufs Jahr genau einordnen lassen.
1 4 . 2 Z U R SIZILISCHEN A R C H Ä O L O G I E
Vor noch größere Probleme fur das Streben nach absoluten Daten stellt uns die Sizilische Archäologie, obgleich sie eine ganze Reihe von Zahlenangaben bietet, die dem Bemühen um eine dichte relative Chronologie entspringen. Mit seiner Feststellung, daß die Ankunft der ersten griechischen Kolonisten auf Sizilien rund 300 Jahre nach der Einwanderung der Sikeler erfolgte (VI 2,5), bezeichnet Thukydides eine jüngere zeitliche Marke, von der weg er konkrete Daten zur Siedlungsgeschichte anzugeben weiß, die er wahrscheinlich aus dem Werk des Antiochos von Syrakus gewonnen hat.59 Diese Daten lassen sich zu zwei chronologischen Reihen anordnen, mit denen wiederum - wie mit den Angaben zum Bau der ersten Trieren und zur ersten Seeschlacht in der Archäologie (300 Jahre bzw. 260 Jahre vor dem Ende „dieses" Krieges) - die Kluft überspannt wird, die sich zum Beginn der jüngeren, kontinuierlich erzählbaren Geschichte hin auftut. Die erste Zahlenreihe hängt an der Gründung von Syrakus als dem ,oberen' Referenzpunkt. Die andere Reihe hängt an einem ,unteren' Referenzpunkt: der Zerstörung von Megara Hyblaia durch Gelon von Syrakus. Beide Reihen hängen chronologisch betrachtet ,in der Luft'. Denn es fehlt ein Datum für die Gründung von Syrakus und es fehlen genauere Angaben für den Konnex der Zerstörung von Megara mit der Chronologie der Perserkriege und mit der Reihe der relativen Daten, die sich auf die Gründung von Syrakus beziehen. Jene Datenreihe, die auf die Gründung von Syrakus bezogen ist, ergibt nun im Wesentlichen Folgendes: Naxos, die erste Siedlung der Griechen, wurde ein Jahr vor Syrakus gegründet, Leontinoi im fünften Jahr seit der Gründung von Syrakus und Gela im 45. Jahr seit eben diesem Datum (VI 3; 4,3).60 Akrai wurde 70 Jahre nach Syrakus gegründet, Kasmenai etwa 20 Jahre danach und Kamarina ziemlich genau 135 Jahre nach der Gründung von Syrakus (VI 5,2-3). Akragas wiederum wurde ziemlich genau 108 Jahre nach Gela gegründet (VI 4,4).61 - Was Megara Hyblaia betrifft, so erfahren wir vor allem, daß Gelon von Syrakus 58
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Mykale wird also nicht mehr zum reinen Abwehrkampf gerechnet - im Gegensatz zu Herodot, passend aber zu Thuk. I 89,2, wo Mykale als erstes Ereignis auf dem Wege der Trennung von Athen und Sparta erscheint. Vgl. bes. Dover 1953/1968 mit Resümee ebd. 368: „Die Zahlenangaben des Thukydides in VI 3 - 5 beruhen ausschließlich auf denen des Antiochos ..." Es spricht nach den Darlegungen von Dover viel dafür, daß sich Thukydides - anders, als es vormals Felix Jacoby sah - nicht auf Hellanikos stützte. Die Art solcher relativer Daten entspricht Herodots Angabe, daß Chalkedon 17 Jahre vor Byzantion gegründet wurde (Hdt. IV 144,2); vgl. dazu Dover 1953/1968, 364f. Pindar, Olympien II 93 (aus dem Jahr 476 v. Chr.) nennt Akragas eine Stadt von hundert Jahren. Vgl. dazu Dover 1953/1968, 364f., der diesbezüglich eine vom Dichter abgerundete genealogische Überlieferung der Akragantiner annimmt. Thukydides stellt jedenfalls keinen derartigen chronologischen Bezug zwischen dem Gründungsdatum von Akragas und seiner Zeit her.
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die Bürgerschaft vertrieb, nachdem sie 245 Jahre lang dort gesiedelt hatte. Früher aber, 100 Jahre nach der Gründung von Megara, war von dort aus Selinus gegründet worden (VI 4,1). In diesem Datengefüge bleibt der zeitliche Abstand zwischen der Gründung von Syrakus und der Gründung von Megara Hyblaia unklar. Es heißt bloß, daß die Ankunft von Siedlern aus Megara in Sizilien um die Zeit erfolgte, in der Kamarina gegründet wurde; Kamarina aber war nach der Gründung von Leontinoi gegründet worden und diese Siedlung wiederum im fünften Jahr seit der Gründung von Syrakus. Da nun die Ankömmlinge aus Megara sich eine unbestimmte Zeitlang an verschiedenen Orten aufhielten, ehe sie Megara Habylaia anlegten (VI 3-4,1), läßt sich der zeitliche Abstand zur Gründung von Syrakus nur vage kalkulieren. 62 Es ist zu vermuten, daß Thukydides keine klaren Anhaltspunkte vorgefunden hat, um mehr an chronologischer Präzision zu geben. Zu diesem Befund paßt der Umstand, daß die Fragmente aus Antiochos keinerlei Hinweis auf eine von den Städtegründungen weg kontinuierlich erzählte Geschichte der Folgezeit bieten. 63 Thukydides selbst trifft auch keine Anstalten, um den Zeitpunkt, zu dem Megara Hyblaia zerstört wurde, mit anderen - bekannten - Ereignissen der Perserkriegszeit zu verbinden, so daß auch die Rückrechnung von Gelons Tyrannis her vage bleibt. Üblicherweise sucht man Abhilfe bei Herodot, der Gelons Geschichte kurz umreißt. Demzufolge wäre der Zeitpunkt der Zerstörung von Megara nicht allzu weit vor der erwarteten Konfrontation der Hellenen mit Xerxes' Heer anzusetzen. Doch ein absolutes Datum läßt sich aus der Kombination der beiden Autoren nicht schlüssig ermitteln und auch approximative Daten müssen vage bleiben. Denn von den Unsicherheiten in der Chronologie Gelons abgesehen, die weit geringer wiegen, bleibt das Hauptproblem bestehen: die Zeitspanne zwischen der Gründung von Syrakus und der von Megara bleibt „unsatisfactorily vague". 6 4 Angesichts der Akribie, mit der sich Thukydides um eine präzise chronologische Festlegung des Beginns und der Dauer des Archidamischen Kriegs bemühte, und der Entschiedenheit, mit der er dieses Bemühen gegen Hellanikos' System verteidigte 65 , spricht vieles dafür, in dieser Vagheit ein bewußt gesetztes Zeichen des begrenzten Wissens zu sehen. Noch viel mehr an solch bewußter Zurückhaltung wird sich zeigen, wenn man die Darlegungen Herodots und Thukydides' zur sagenhaften Vorzeit und ihrer zeitlichen Erstreckung vergleicht.
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Daß Antiochos ein solches Datum geboten hätte, lassen die Fragmente jedenfalls nicht erkennen. Vgl. dazu Pearson 1987, 14f. „His account o f later times, from the colonial beginnings to the fifth century, has disappeared completely"; Pearson 1987, 18. Es fragt sich freilich, ob eine solche durcherzählte Geschichte überhaupt existierte. Was sich etwa für die Sizilische Geschichte des Philistos rekonstruieren läßt, gibt diesbezüglich nicht zu Optimismus Anlaß; vgl. dazu Pearson ebd. 22ff. Gomme/Andrews/Dover 1970, 202. Vgl. in diesem Zusammenhang die Erörterungen Lendles über Thukydides' Reaktion auf Hellanikos' Atthis und das ihr zugrunde gelegte Datierungs-System: Lendle 1964/1968. Vgl. generell über Thukydides' Verhältnis zu Hellanikos Hornblower 1987, 83ff. Zu Hellanikos' mutmaßlicher Chronographie vgl. Möller 2001, bes. 254ff.
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II Der Rückblick in die Vorzeit. II 1 Der vorzeitliche Dualismus von Athen und Sparta und das Floating Gap in Herodots Bild der griechischen Frühzeit Im Zentrum der mythischen Gründerzeit steht für die griechische Tradition die Geschichte vom Trojanischen Krieg, die durch das homerische Epos normative Geltung gewonnen hatte.66 Eine ganze Serie von Völkerwanderungen und Gründertaten diverser Heroen, mit Herakles an der Spitze, war seitdem zu diesem Krieg in eine zeitliche, nach Generationen gerechnete Beziehung gesetzt worden. 67 Mit konkreten Berechnungen hielt sich Herodot dabei zwar zurück. Traditionen wie die, daß die Rückkehr der Herakliden in die Peloponnes erst 100 Jahre nach dem Tode von Herakles' Sohn Hyllos gelingen sollte, waren ihm aber vertraut (IX 26). Auf diese und andere derartige mythographische Traditionen spielt er, ohne eigene chronologische Relationen aufzustellen, in seinem Werk häufig an. So entsteht ein recht dichtes Bild einer frühgriechischen Landnahme-Zeit. Ich skizziere es hier nur in groben Zügen. Die dorische Wanderung in die Peloponnes vertrieb aus dieser die Ioner pelasgischen Ursprungs (VII 94-95), während die Arkader - wenn auch nicht alle (vgl. I 146,1) - in ihren Gebieten verblieben (II 171,3). Die Zuwanderung der Argeier nach Boiotien vertrieb von dort die phoinikischen Kadmeier und Gephyraier (V 57) und die Zuwanderung der Thessaler die vormals pelasgischen Aioler (VII 95,1 in Kombination mit VII 176,4). Nach einer μεταβολή der Athener von Pelasgern zu Hellenen (I 56-58; vgl. bes. 57,3) wurden die restlichen Pelasger aus Attika vertrieben und kamen nach Lemnos (VI 137). Von Kreta und den Ägäis-Inseln wurden Lykier und Karer durch die dorischen und ionischen Auswanderer nach Kleinasien verdrängt (I 171; 173) usf. - In seiner Gesamtheit zeigt sich Herodots Bild dieser Wanderungen vom Erfahrungs-Horizont der Seebundzeit und des wachsenden Antagonismus zwischen Athen und Sparta bestimmt. Konstitutiv dafür ist die Vorstellung einer a priori dorisch-hellenischen und einer vormals pelasgischen, später attisch-ionischen Bevölkerung in Griechenland. Im Kern dürfte die Vorstellung von einer recht breiten nichtgriechischen Komponente in der Bevölkerung der Vorzeit schon durch Hekataios fixiert worden sein. 68 Für Herodot aber gewann der dorisch-ionische Antagonismus, der in der Polarität von Athen und Sparta aufgeht, die entscheidende Bedeutung im Bild der griechischen Frühgeschichte. 69 Doch wirkt sein Urteil keineswegs einseitig zugunsten des einen oder anderen Lagers. Da ist zunächst einmal die eminente Bedeutung hervorzuheben, die Herodot dem fremden, in seiner Grundsubstanz aus Ägypten stammenden Erbe in der hellenischen Kulturwelt zuschreibt, das durch autochthone Pelasger wie durch zugewanderte Phoiniker (Kadmeier)
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Vgl. nur etwa die extreme Hochschätzung des Homertexts als Faktor für die griechische Ethnogenese bei Assmann 1997/1999, 272ff. Vgl. dazu Prinz 1979, 2 0 6 - 3 1 3 ; Ulf 1996a. Vgl. dazu Kubanda 1995. Eine ironische Komponente in Herodots Konzeption vom pelasgischen Ursprung der Athener notiert Thomas 2000, 119ff., bes. 122. Zur Entwicklung der Konzeption vom dorischen Charakter Spartas vgl. U l f 1996a, bes. 259ff.
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und Ägypter (Danaiden) vermittelt worden war. 70 Deutlich spürbar und wiederum spezifisch ist andererseits eine fast schon ironische Distanziertheit gegenüber den stolzen Ansprüchen, die sowohl Athener wie Lakedaimonier bzw. Dorier wie Ioner aus ihrer mythischen Frühgeschichte postulieren könnten. So wird Spartas Anspruch auf ein rein heraklidisches Königtum zum einen durch eine Tradition vom ägyptischen Ursprung dieser Geschlechter konterkariert (II 43; VI 53-54; VII 150), zum andern dadurch, daß ein solches heraklidisches Königtum nicht nur den Makedonen (VIII 137,1; 138,2)71 und den Lydern (I 7) attribuiert wird, sondern - über Perseus wohl auch den Assyriern und Persern (VII 61,3; 150,2).72 Selbst die Skythen-Mythologie spielt mit einer Deszendenz von Herakles (IV 8-10). 7 3 Wenn somit die Protagonisten von Hellas' Freiheit in ihrer Herrscherfolge bis über die Zeit des Trojanischen Krieges zurückreichen wollen, sei es nun über Herakles, sei es noch weiter über Perseus' mütterlichägyptische Vorfahren (II 91), so stellt das nichts Besonderes dar, da ja auch die Perser sich auf Perseus und über die Verbindung mit Herakles' Sohn Alkaios eben auf heraklidische Ursprünge zurückführen können. Zudem bekommt die heraklidische Linie im Königtum der Lakedaimonier bzw. der Dorier noch lange nach Perseus' ägyptischen Ahnen einen weiteren, bedeutenden Zuschuß fremden Bluts: durch die mütterliche Zurückführung der Königshäuser auf die Kadmeier Thebens, die über Argeia und ihre Verehelichung mit Aristodemos erfolgt (VI 52). Den Ionern geht es nicht besser. Ihr genereller Anspruch auf edle Abkunft, bis hin zu jenen noblen Familien, die direkt vom Prytaneion von Athen ausgewandert sein sollen, wird auf bissige Weise bloßgestellt. Erweisen sich doch die Ioner und erst recht ihre führenden Häupter in Herodots Augen als ein ausgesprochenes Völkergemisch (I 146-147). Auch die Athener selbst müssen bei ihrem Anspruch auf eine ehrwürdige Tradition Federn lassen. Abgesehen von ihrer pelasgischen Provenienz, die sie als Hinzukömmlinge unter den Hellenen ausweist, ist zu konstatieren, daß sich in den Historien nur sehr lose Bande zwischen der mythischen Vorzeit Athens und der jüngeren Vergangenheit finden lassen. Nur eine vage Linie führt von Athens mythischen Königen in die historisch helle Zeit: Wie die zugewanderten Urkönige Kodros und Melanthos sollen auch die Peisistratiden von den Neleiden zu Pylos abstammen (V 65,3). Theseus figuriert in den Historien nur als Frauenräuber (IX 73)
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Nachweise bei Bichler 2000, 172ff. Vgl. zur traditionellen, bei Herodot nicht eigens erwähnten Ableitung der Temeniden von Herakles Prinz 1979, 279ff., mit Stemma ebd. 280. Der Konnex zwischen Perseus und den Herakliden ist allerdings unklar. H o w - Wells II ^ 1928, 83 (zu Hdt. VI 53,1) postulieren für Herodot eine genealogische Linie, die von den dorischen Herakliden zu Sparta über Hyllos, Herakles, Amphitryon und Alkaios zu Perseus fuhrt; ähnlich Prinz 1979, 261 Anm. 34. Aber dieser Alkaios, Vater des Amphitryon, figuriert bei Herodot nicht explizit. Dagegen nennt er in der lydischen Genealogie einen Alkaios, Sohn des Herakles, von dem er über Belos, Ninos und Agron die Herakliden zu Sardes herleitet (I 7,2). Vgl. dazu Burkert 1995, 145: Alkaios „is one of the most obvious names for a son of Herakles, whose children were Alkaidai at Thebes". Zur Identität von Alkiaos' Sohn Belos siehe unten Anm. 97. Nach der einheimischen' Berechnung wären die von Zeus gezeugten Ahnherrn der Skythen rund 1000 Jahre vor dem Dareios-Zug in die Welt getreten (IV 5,1; IV 7,1). Rechnet man dagegen die zeitliche Ansetzung von Herakles, dem Sohn des Amphitryon, nach den Rundzahlen im Ägyptischen Logos, denen zufolge er rund 900 Jahre vor Herodots Zeit angesetzt wird (II 145,4), würden die Skythen in der .griechischen' Variante über 100 Jahre jünger.
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und nicht etwa als Stifter des attischen Synoikismos wie bei Thukydides. Vor allem aber erweisen sich gerade auch die Athener als wahres Völkergemisch. So werden bedeutende Familien der jüngeren Geschichte als solche von fremder Herkunft vorgestellt - ein bissiges Apercu angesichts des Perikleischen Bürgerrechts-Gesetzes: Die Peisistratiden leiten sich, wie bereits gesagt, von Nachfahren des Neleus aus Pylos her (V 65,3). Die Tyrannenmörder aus der Gruppe der Gephyraier stammen von Kadmos-Leuten in Boiotien ab (V 57). Die Philaiden, mithin die Ahnen des Siegers von Marathon, gelten als Aiakiden aus Aigina (VI 35,1). Isagoras' Geschlecht schließlich opfert dem Karischen Zeus (V 66,1). Dazu kommen noch kleine Seitenhiebe: Die heimischen Alkmeoniden werden - zu Lasten einer konsistenten Chronologie - in anekdotenhafter Manier als Neureiche aus Kroisos' Zeiten verächtlich gemacht (VI 125) und Themistokles wird wie ein Parvenü vorgestellt (VII 143). So gibt Herodot auf der einen Seite den Protagonisten unter den Hellenen eine lange Tradition und projiziert damit die Konstellation seiner Zeit in die Tiefe der Vorgeschichte, auf der anderen Seite wird diese lange Tradition von ihm ironisch relativiert. Noch deutlicher aber tritt der imaginäre Charakter dieser langen Frühgeschichte hervor, wenn man die kurze Reichweite in Betracht zieht, die dabei der Geschichte der Griechen vor der Zeit des Ionischen Aufstands de facto zugemessen wird. Der Versuch, das Floating Gap, das die mythopoetische Welt des Trojanischen Krieges und der folgenden Wanderungszeit vom Beginn einer ,dichten' Überlieferung zur Vorgeschichte der Perserkriegszeit trennt, chronologisch auszuloten, muß daher folgerichtig zu notorischen Problemen führen. Herodots Bemühen, dieser Probleme Herr zu werden, ist beeindruckend. Doch konnte er keine glatte Lösung finden. Für den Bereich der griechischen Geschichte bilden die Ahnenlisten des Leonidas und des Leutychides, der Herrscher Spartas zur Zeit des Xerxes-Kriegs, die einzigen kontinuierlichen Linien, die das besagte Floating Gap in konkreter Gestalt überbrücken und an die Mythengenealogie anschließen. Das bekannte Doppelkönigtum läßt sich damit bis in seine legendären Ursprünge verfolgen (VII 204; VIII 131,2) und von dort in einer einfachen Filiations-Kette noch weiter, bis zu Herakles zurückfuhren (VI 52). Wann und wie diese Listen entstanden sind, bleibt unsicher.74 Festzuhalten aber ist, daß überhaupt nur ganz wenige Traditionen aus vorherodoteischer Zeit bekannt sind, in denen mit einer expliziten Generationen-Zählung die Distanz von der mythopoetisch überlieferten Vorzeit zur jeweiligen Gegenwart überspannt wird.75 74
Thommen 1996, 25 Anm. 3, vermutet „aufgrund der späten Einführung im Werk Herodots" Hellanikos und nicht etwa Hekataios als Urheber der Listen. Freilich dürfte schon Pindar mit ähnlichen Genealogien gerechnet haben. Vgl. dazu oben Anm. 35.
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Hekataios' stolzer Anspruch, sein Geschlecht über sechzehn Generationen auf die Götterwelt zurückführen zu können, ist uns nur in der ironisch gemeinten Szene bei Herodot überliefert, in der sich Hekataios angesichts der alten Traditionen der ägyptischen Priester zu Theben entsprechend blamiert (II 143). Eine konkrete Ahnenliste wird dabei nicht vorgeführt. Zu Herodot als entscheidendem Gestalter des entsprechenden Szenarios vgl. West 1991, 145ff., bes. 152; Bichler 2000, 179f.; die konträre Ansicht, der sich die Hekataios-Szene als authentisch darstellt, verficht etwa Berteiii 2001, 9Iff., bes. Anm. 91. - Auch Hellanikos' Zeugnis über die Abkunft des Andokides von Odysseus und Telemachos (FGrHist 4 F 170 = FGrHist 323a F 24) bleibt vage. Es gilt als unwahrscheinlich, daß er eine volle Genealogie gab. Vgl. Thomas 1989, 155ff., bes. 159. - Im Einzelnen nicht belegt, aber durchgezählt ist die genealogische Herleitung des Hippokrates von Asklepios und Herakles bezeugt, als deren ältester Repräsentant Pherekydes figuriert (FGrHist 3 F 59). Schon Jacoby wies allerdings darauf hin, daß Phere-
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Für d a s w e i t e r e c h r o n o l o g i s c h e B e z u g s s y s t e m in d e n Historien
Bichler
werden die genealogi-
s c h e n L i s t e n v o n Spartas K ö n i g e n k a u m g e n u t z t . 7 6 H e r o d o t bietet auch k e i n e k o n k r e t e n Z a h l e n a n g a b e n , u m d i e S p a n n w e i t e seiner K ö n i g s - G e n e a l o g i e n z u v e r a n s c h a u l i c h e n .
Im-
m e r h i n l i e ß e s i c h im S i n n e m y t h e n g e n e a l o g i s c h e r S p e k u l a t i o n mit d i e s e n Listen l e i d l i c h rechnen. E i n w e s e n t l i c h e s E l e m e n t d i e s e r Listen ist dabei d i e Gestalt der A r g e i a , der Gattin d e s A r i s t o d e m o s , d e s g e m e i n s a m e n Ahnherrn der b e i d e n K ö n i g s h ä u s e r (VI 1 5 2 , 2 ) . Ü b e r die l e g e n d ä r e n V o r f a h r e n der A r g e i a , K a d m o s ' G e s c h l e c h t in T h e b e n , läßt s i c h e i n e l ü c k e n l o s e i n n e r g r i e c h i s c h e Z ä h l u n g nach m y t h i s c h e n G e n e r a t i o n e n s o g a r ein g u t e s Stück über d i e m u t m a ß l i c h e Zeit d e s Trojanischen K r i e g e s hinaus z u r ü c k v e r f o l g e n . D a m i t k ö n n t e ein g r o b kalkuliertes D a t u m für d i e s e n legendären K r i e g im S i n n e H e r o d o t s g e w o n n e n w e r d e n . A l s Parameter d i e s e r und der f o l g e n d e n B e r e c h n u n g e n soll j e w e i l s d i e Z e i t s p a n n e z w i s c h e n d e m T r o j a n i s c h e n K r i e g und der R e g i e r u n g d e s D a r e i o s d i e n e n . Für d i e V e r a n k e r u n g d e s T r o j a n i s c h e n K r i e g s in der g r i e c h i s c h e n M y t h e n c h r o n o l o g i e m u ß dabei H e r a k l e s g r o b eine Generation vor dem Trojanischen Krieg angesetzt werden. D i e zeitliche Distanz v o n H e r a k l e s ' S o h n H y l l o s bis zur Zeit d e s A g i a d e n K l e o m e n e s - als Z e i t g e n o s s e n d e s D a r e i o s - beträgt nun n a c h H e r o d o t s Listen 2 0 G e n e r a t i o n e n , H y l l o s und K l e o m e n e s e i n g e r e c h n e t . E i n e a n a l o g e Z ä h l u n g über die E u r y p o n t i d e n ergibt d i e s e l b e M e n g e an G e n e r a t i o n e n , v o n
kydes selbst die Asklepios-Genealogie noch kaum bis zu Hippokrates herab gezogen haben dürfte, „dessen rühm nach Phs zeiten fällt"; FGrHist I, 409. - Detailliert, aber vom Überlieferungs-Kontext in der Markellinos-Vita des Thukydides her problematisch ist der Stammbaum der Philaiden nach dem Zeugnis des Pherekydes (FGrHist 3 F 2). Siehe dazu Thomas 1989, 161ff.; Möller 1996, bes. 22ff. Möller hält die Philaidengenealogie bei Pherekydes für eine Ausnahme, die der freundschaftlichen Beziehung zu Miltiades zu danken sein könnte. - Einen Fall fur sich stellt die epigraphisch erhaltene Genealogie des Heropythos aus Chios dar, der 14 Vorfahren namentlich aufzählt. Eine Abbildung der Inschrift findet sich bei Wade-Gery 1952, 8 f . (Fig. 1); vgl. auch Anm. 25 zur Lesung des Texts. Heropythos' Ahnenliste war weder an bekannte Götter oder Heroen angebunden noch anderweitig mit bekannten Mythengenealogien verzahnt. Vgl. dazu Thomas 1989, 159 mit Anm. 9; Möller 1996, 21. - Die Bilanz der Zeugnisse ist jedenfalls ernüchternd: „We have full genealogies only for the Philaid family ..., for Heropythos of Chios, and for Hippokrates. ... This is a tiny number considering how often we know of a legendary ancestor claimed by a family"; Thomas 1989, 159. - Ein in Hinblick auf die Entwicklung der chronologischen Vorstellungen in der nachmaligen Historiographie besonders bemerkenswertes Zeugnis bildet die Brücke, die Pindar von den Argonauten zu den regierenden Battiaden schlägt, da er die Generationsfolgen in Zahlen ausdrückt (Pythien IV 9ff., 59ff.); dazu oben Anm. 35 und unten Anm. 78. 76
Die zu Herodots Zeit noch geringe chronologische Relevanz dieser Genealogien betont auch Giovannini 1995, 144f. - Zum Charakter der Listen, die als genealogische Listen aufgefaßt und nicht als Königslisten mißverstanden werden sollten, vgl. die durch ethnologische, vor allem afrikanistische Untersuchungen motivierten Überlegungen von Henige 1974, 207 213. Vgl. auch Thomas 1989, 191 f., bes. Anm. 99 mit Bezug auf Henige. Herodot selbst erklärt ausdrücklich, daß die ersten sieben Ahnen des Leutychides nicht Könige in Sparta waren (VIII 131,3). Die Ahnenliste des Leonidas läßt er unkommentiert, stellt aber heraus daß dieser als jüngerer Bruder des Kleomenes und Dorieus zunächst kaum auf das Königtum hatte hoffen können (VII 204-205,1). Bemerkenswert bleibt auch der von Samuel konstatierte Umstand, daß sich mit den sogenannten Königslisten keine Jahresdatierungen verbanden; Samuel 1972, 238. - Zur Schwierigkeit des Unterfangens, aus den von Herodot und Pausanias tradierten Listen die ,echten' Königsnamen herauszudestillieren vgl. die Überlegungen bei Cartledge 1979, Appendix 3, 341-346. Die einst auf Ed. Meyers Autorität gegründete, weit verbreitete Hypothese, nach der schon Hekataios mit heraklidischen Generationen zu 40 Jahren gerechnet hätte, wurde inzwischen durch W. Burkert und A. Giovannini einer gründlichen Kritik unterzogen; Burkert 1995, 143f.; Giovannini 1995, 140ff.
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Hyllos bis zu Kleomenes' Rivalen Demaratos. Das paßt nicht nur genau ineinander, sondern fugt sich auch recht gut zu Herodots Ausspruch, zwanzig Generationen lang sei nicht soviel Unheil über Hellas gekommen wie (dann) unter Dareios, Xerxes und Artoxerxes (VI 98). Rechnet man nun die Zahl von 20 Generationen nach dem Schlüssel von drei Generationen auf ein Jahrhundert um 77 , so wäre der Trojanische Krieg etwas mehr als 660 Jahre vor Dareios anzusetzen. Das paßt nicht schlecht zu Pindars Kalkül über die Anzahl der Generationen, die von Arkesilaos IV. zurück zum Argonauten Euphemos führt. 78 Ein entsprechender Zeitansatz für den Trojanischen Krieg wird aber von Herodot selbst nicht explizite erwogen. Die von Herodot verarbeiteten heterogenen Traditionen und sein eigenes Kalkül ließen sich offensichtlich nicht zu einer befriedigenden Synopsis fügen. So suchte er nach Maßstäben und wollte sie - wie auch sonst - im chronologischen Gefüge der dynastischen Geschichte Ägyptens und des Orients finden.
II 2 Herodots Vorstoß in die Tiefe der Zeit: Die Rundzahlen im Ägyptischen Logos und die Divergenzen in der Datierung des Trojanischen Kriegs II 2 . 1
Z u DEN ÄGYPTISCHEN DATEN
Das Alte Ägypten mit seiner durch Gelehrsamkeit und Priestertradition, durch imposante Denkmäler und eine intensive Verschriftlichung ausgezeichneten Kultur nötigte dem hellenischen Betrachter Respekt ab und wies Herodots Bemühen, die zeitlichen Dimensionen der Vorzeit anschaulich zu machen, den Weg. Es wurde ein Weg, auf dem der Betrachter die traditionelle griechische Mythenchronologie weit hinter sich lassen konnte. Seine Meilensteine sind mit eindrucksvollen Zahlen beschriftet. Herodot vermutet zunächst, daß das fruchtbare Land am Nil durch die Tätigkeit des Flusses in einem sehr langen Prozeß aufgeschüttet wurde, der aber eher gegen 10 000 als gegen 20 000 Jahre gedauert habe (II 11). Danach richtet sich auch die Länge menschlicher Herrschaft über das Land. Die Existenz der Hauptstadt Memphis und die ersten Arbeiten zur Regulierung des Nils setzten nach Herodots Kalkül mit dem Urkönig Min ein. Von ihm weg sollen, so will es Herodot von Priestern Ägyptens erfahren haben, gezählte 341 Generationen von Königen und Oberpriestern bis zum Ende der älteren, vor-sa'itischen Königsgeschichte Ägyptens gewirkt haben. Diese Zeitstrecke kann mit Hilfe des taxativen Umrechnungsschlüssels von drei Generationen auf hundert Jahre auf insgesamt 11 340 Jahre kalkuliert werden (II 142, 1-3). 79 Ihre kolossale Dauer läßt sich aber auch in kosmischen Perioden veranschaulichen (II 142,4).80 77
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Burkert 1995, 144, stellt heraus, daß ein analoges Kalkulations-Schema auch für Hellanikos anzunehmen ist. Daß Herodot in concreto freilich nur in besonderen Fällen mit einem solchen Schlüssel wirklich rechnet, zeigen die Beobachtungen von Ball 1979. Rechnet man, bezogen auf den Libyen-Feldzug unter Dareios, im Sinne von Herodots GenerationenKalkül und mit seinen Angaben zur Geschichte der Battiaden, so müßte man, Arkesilaos III. eingerechnet, 6 Generationen der Battiaden und weitere 15 Generationen der Nachfahren des Euphemos zusammenrechnen, um zu einem Datum für den Trojanischen Krieg im Sinne Pindars zu kommen: Es läge rund 700 Jahre vor Dareios. In einer - für unsere Arithmetik inkonsequenten - Generationen-Rechnung hat Herodot für 341 Generationen 11340 Jahre veranschlagt. Herodot rechnet zwar rund drei Generationen auf 100 Jahre, aber er kalkuliert nicht mit Bruchzahlen; vgl. dazu Mitchel 1956, 62ff.; Fehling 1985, 73 Anm. 152. Herodots
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In Herodots Bild von Ägypten stellen aber nicht nur das außergewöhnliche Alter seiner Königsherrschaft und die ehrwürdige Priester-Tradition, die von ihr Kunde zu geben weiß, ein chronologisches Monument besonderer Qualität dar. In diesem faszinierenden Land läßt sich auch der Ort erkennen, an dem erstmals eine menschliche Königsherrschaft die Ära abgelöst hat, in der nach vertrauten Vorstellungen griechischer Theogonie noch die Götter auf Erden walteten. Mit wiederum höchst eindrucksvollen Zahlenangaben versteht es Herodot, auch dem komplexen Gefiige seiner aus griechischer wie aus ägyptischer Tradition gemischten Überlegungen zum Alter der Götter-Geschlechter eine feste zeitliche Struktur zu geben. 8 ' Jene Personen, welche die griechische Tradition in ihrer Naivität als Heroen und Götterkinder ansieht, wie Semeies Sohn Dionysos und Alkmenes Sohn Herakles, können keinen Platz mehr unter den Repräsentanten dieser viele Jahrtausende zurückliegenden Vorzeit beanspruchen und sie mutieren in Herodots Erkenntnis zu heroisierten Menschen einer weit jüngeren Zeit. Die alten Gottheiten, die im Namen des Herakles und des Dionysos zurecht eine ihnen entsprechende kultische Ehrung erfahren, müsse man von diesen viel jüngeren, heroisierten Menschen strikt unterscheiden. Deren Alter wird folgerichtig mit .niedrigen' Rundzahlen veranschlagt: Dionysos, der Sohn der Kadmos-Tochter Semele, lebte nach Herodots Ansicht höchstens 1 000 (oder 1 600) Jahre vor seiner eigenen Zeit (II 145,4) 82 und Herakles, der Sohn der Alkmene, etwa 900 Jahre (II 145,4). Pan schließlich, der Sohn der Penelope, soll höchstens 800 Jahre vor Herodots Zeit gelebt haben, während der Trojanische Krieg noch etwas weiter zurückliegt (II 145,4). Dazu paßt in etwa, daß König Moiris, der drei Generationen vor Proteus herrschte, jenem König, der durch die Helena-Geschichte fest mit dem Trojanischen Krieg verknüpft ist (II 112-120), nicht ganz 900 Jahre vor Herodot
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Rechnung nach Fehling: 341 Generationen = 333 plus 8 Generationen = 11100 Jahre plus 8 χ 30 = 240 Jahre = 11340 Jahre. Vgl. dazu auch Herodots Generationen-Rechnung in der Solon-Szene (I 32). Generell stellte Ball 1979, 281, fest, „that Herodotus' use of generation dating was not very extensive or consistent". Viermal hätte sich in dieser Zeit der Lauf der Sonne umgekehrt, ohne daß sich dadurch die Lebensumstände in Ägypten wandelten, hält Herodot fest (II 142,4). Mit dieser Nachricht und der Zeitangabe zur Dauer der Menschenherrschaft im Land am Nil spielt Herodot vielleicht auf die von ihm anderen Orts geschilderten 3000jährigen Seelenwanderungs-Perioden an, die er als ägyptische Konzeption ausweist; Hdt. II 123,2-3. Vier solche Perioden würden nämlich 12000 Jahre umfassen. Zudem könnte sich mit der Konzeption von vier vorangegangenen Zeit-Zyklen auch eine unausgesprochene, nicht ganz unkritische Hommage an Hesiods Mythos von den vier Geschlechtern, die dem jetzt lebenden vorangegangen sind, verbinden. - Vgl. zu den beiden hier kombinierten Herodot-Stellen generell Lloyd - Fraschetti 1989, 342f. und 360. 17000 Jahre vor König Amasis erfolgte demnach der Übergang von der Regentschaft einer älteren Achtheit der Götter zur Regierung der Zwölfheit (II 43,4; vgl. 145,2). 15000 Jahre vor Amasis (II 145,2) ist eine dritte Götter-Generation aus der Zwölfheit hervorgegangen. 11340 Jahre (= 341 Generationen bzw. 341 Oberpriester und Könige) vor König Sethos setzte schließlich mit Min das Urkönigtum ein (II 142,1-2; 99,2). Zuvor aber war noch eine vierte Göttergeneration an der Macht: Horos = Apollon, der den Dionysos-Sohn Typhon gestürzt hatte, war der letzte der Götter-Könige (II 144,2). Die Angabe von 1000 Jahren ist eine durch die Handschriften nicht gedeckte Korrektur der Zahl 1600. Diese bringt zwar eine grobe Diskrepanz zur Kadmos-Chronologie in den Historien und reißt Dionysos und Herakles über alle Maßen auseinander, muß aber als solche wohl in Kauf genommen werden. Vgl. dazu eingehender Mitchel 1956, 59f. - Die alte Gottheit Dionysos = Osiris gehört in Herodots Schema zur dritten Göttergeneration.
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gelebt haben soll (II 13,1). Homer und Hesiod aber, die poetischen Künder der Vorzeit und die Väter des traditionellen Götterbildes, gelten in etwa als halb so alt wie das zentrale Geschehen der epischen Tradition: Sie hätten etwa 400 Jahre vor Herodot gelebt, nicht mehr (II 53,2). Besagter Moiris erscheint nun bei Herodot als erster Herrscher, von dem weg eine kontinuierliche, durch bunte Episoden ausgezeichnete Königsgeschichte der Ägypter erzählt wird. Doch sollen vor ihm gezählte 330 Könige das Land regiert haben. Ihre Namen seien ihm von den Priestern (zu Memphis) vorgelesen worden, versichert Herodot (II 100,1). Doch gäbe es von ihnen mit Ausnahme des Gründerkönigs Min und der Königin Nitokris, einer Rachegestalt mythologischen Zuschnitts (II 100)83, nichts an nennenswerten Taten zu berichten (II 101,1). Mit Moiris, der Nummer 331 in der oben erwähnten Herrscherliste, setzt dann aber eine fortlaufende Geschichtserzählung ein, die mit Sethos, dem 341. legitimen König des Landes, ein vorläufiges Ende findet, das durch das folgende Intermezzo der Zwölfherrscher noch deutlicher markiert wird. Während Herodot diese seine Geschichten über die ältere Zeit mit der Autorität der Priester zu Memphis (und zu Theben und Heliopolis) legitimiert, möchte er für die jüngere, auf die Zwölfherrscher folgende Zeit der Saiten das Wissen der Hellenen, direkte Kunde und seine - potentielle - Augenzeugenschaft geltend machen (II 147,1; 154,3-4). Mit seinem Hinweis auf eine Liste von 330 Vorgängern des Moiris und mit seinem analogen Rekurs auf die 341 Generationen von Königen und Oberpriestern, die bis zum Ende der älteren Königsherrschaft regierten (II 142,l) 84 , gewann Herodot einen theoretischen Standpunkt, von dem aus betrachtet die Frühzeit nach den Vorstellungen der hellenischen Mythentradition als sehr jung erscheint. Erst in dieser so späten Zeit setzt jenes Geschehen rund um die Taten des Herakles und um den Trojanischen Krieg ein, das zum fixen Bezugspunkt der chronologischen Spekulation über die Vorzeit in der griechischen Mythographie geworden war. Was sind die gut über 800 Jahre, die der Trojanische Krieg zurückliegt, gegen die fast 12 000 Jahre, die Ägyptens Priester angeblich ihre Könige zurückverfolgen können? Doch so kühn Herodots Zahlenwerk wirkt, es vermag dennoch ein Manko nicht zu kaschieren: Die Dauer der tatsächlich erzählten Königsgeschichte vermag mit dem hohen zeitlichen Ansatz von König Moiris und vom Trojanischen Krieg nicht mitzuhalten. Die Zeit von Dareios bis zum Trojanischen Krieg, der entscheidende Parameter in den hier angestellten Kalkulationen, läßt sich nämlich auch über die konkrete Königsgeschichte Ägyptens und ihre Zählung nach Herrscherfolgen berechnen. Für die Zeit von König Proteus, der einst Helena Quartier gab, bis hin zu Dareios sind - je nach Zählung - 15 bis 18 Herrschafts-Abfolgen, inklusive Proteus, zu veranschlagen. Das Ausmaß dieser Zählungsvarianten richtet sich danach, ob man auch Psammenitos, der extrem kurz regierte, das Intermezzo der Zwölfherrscher und den Fremdherrscher Sabakos mitzählt. 85 - Gibt man nun 83 84 85
Vgl. dazu Haider 2002, der den Nei'th-Mythos als den Hintergrund von Herodots Geschichte erhellt. Zur Veranschaulichung von Herodots Zählung der Könige vgl. Kaiser 1967, bes. 97; Lloyd 1975, 186ff. Vgl. dazu vor allem Burkert 1995. Allerdings rechnet Burkert selbst sehr rigoros: Herodot setze bei seiner Zählung nach Generationen in der ägyptischen Linie nur sieben Generationen zwischen den Trojanischen Krieg und den Ionischen Aufstand (141). Burkert nimmt also weder den sehr lange regierenden Fremdherrscher Sabakos noch die Zwölfherrscher in sein Kalkül. So muß die Differenz innerhalb der divergierenden Zeitansätze gegenüber Burkerts Kritik etwas abgemildert werden. Dazu kommt Herodots sichtliches Bemühen, die Diskrepanz dadurch zu verwischen, daß er einzelnen Herrschern extrem
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grob zwei Generationen zu den 15-18 Generationen hinzu, die den Zeitraum von Dareios bis zum Trojanischen Krieg respektive bis zu König Proteus nach den ägyptisch-persischen Herrscher-Listen umfassen, um solcherart auf Herodots eigene Zeit herabzukommen, und rechnet man dann im herodoteischen Sinne mit rund drei Generationen für ein Jahrhundert, so kommt man bei einer Rückrechnung von Herodots eigener Zeit auf die des Trojanischen Kriegs auf grob 560 bis 660, aber keinesfalls auf etwas über 800 Jahre. Doch die Dinge werden noch heikler. Sieht man nämlich genauer auf die persisch-ägyptische Linie und stellt in Rechnung, daß deren unterer, saitischer Teil genaue (und auch in unserem wissenschaftlichen Sinne gute ,historische') Daten bietet und daß Herodot dabei den Saiten und Kambyses zusammen kaum mehr als 150 Jahre an Regierungszeit gibt 86 , so wird das Manko noch um ein Beträchtliches größer: Denn auch großzügig gerechnet umfaßt die Herrscherreihe von Proteus bis zu den Saiten nicht mehr als neun Generationen. 87 Es ist unmöglich, damit auf jene über 800 Jahre zu kommen, die der Trojanische Krieg von Herodots Zeit aus gesehen zurückliegen soll. Hingegen paßt Herodots Königsliste nicht schlecht zu Hekataios' Anspruch, sein Geschlecht in der 16. Generation auf eine Gottheit zurückführen zu können. Ohne die Zwölfherrscher einzurechnen, ließe sich damit ganz gut die Königsfolge von Amasis bis Moiris, dem Zeitgenossen des Heros Herakles, erfassen. Herodot selbst spricht freilich eine solche Überlegung nicht aus. Offensichtlich reicht selbst Herodots verlockendes Angebot an novellistischen Königsgeschichten über Ägypten nicht aus, um das gewaltige Floating Gap zu überspannen, das sich zwischen der Ära des Trojanischen Krieges und dem Einsatz einer faktischen Geschichte der ,Archaik' im chronologischen Bild der griechischen Tradition öffnet. Dessen Ausdehnung ist auch nach dem Maß der spartanischen Königs-Genealogien deutlich höher zu veranschlagen als nach der ,Rückrechnung' zu König Proteus. Rechnet man die 20 Generationen, um die es in diesem Fall geht, nach dem Schlüssel von drei Generationen auf ein Jahrhundert um, so wäre der Trojanische Krieg etwas mehr als 660 Jahre vor Dareios anzusetzen. Die Diskrepanz zu Herodots Rundzahlen beträgt freilich noch fast ein rundes Jahrhundert. 88 Um auf ein höheres Datum zu kommen, müßte man die Dauer der spartanischen Herakliden-Generationen über das traditionelle Maß hinaus strecken. Diesen Weg hat erst eine spä-
lange Regierungszeiten zuweist - Cheops, Chephren und Sabakos regieren insgesamt 156 Jahre - , aber wohlweislich darauf verzichtet, für alle fraglichen Könige Regierungsjahre anzugeben. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, wie sehr sich Herodot der Schwierigkeiten bewußt war, die einem chronologischen Brückenschlag zwischen Vorzeit und jüngerer Vergangenheit mittels einer glatten Generationenzählung im Wege standen. Vgl. dazu und zu weiteren Indizien, die in dieselbe Richtung weisen, Vannicelli 2001, 225ff. 86 87 88
Es regierten nach Herodot Psammetichos, Nekos, Psammis, Apries und Amasis zusammen 54 + 16 + 6 + 25 + 4 4 = 145 Jahre. Psammenitos regierte nur 6 Monate, Kambyses 7 Jahre und 5 Monate. Die Reihe umfaßt Proteus und Rhampsinitos, Cheops, Chephren und Mykerinos, Asychis, Anysis und Sabakos, Sethos und die Ära der Zwölfherscher. Von der Summe der gut über 800 Jahre vor seiner eigenen Zeit, die Herodot als Datum für den Trojanischen Krieg angibt, sollte man zunächst noch rund 50-60 Jahre abziehen, um von Herodots Zeit in die des Dareios zu kommen; die 20 Generationen zwischen Dareios und dem Trojanischen Krieg machen weitere rund 660 Jahre aus. Somit fehlt auf die Gesamtzahl von gut über 800 Jahren gut ein ganzes Jahrhundert.
Das chronologische Bild der „Archaik"
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tere Chronographie tatsächlich beschritten. 8 9 Schon Herodot wußte aber noch auf zwei weitere ,lange Linien' Bezug zu nehmen, durch die das fatale Floating Gap überbrückt wird, Linien die ebenfalls eine hohe Datierung des Trojanischen Kriegs aufrecht halten. Es sind Traditionen über die Dauer des Königtums in Asien, welches die mythengenealogische Spekulation gleichfalls mit heraklidischen Ursprüngen geadelt hatte.
II 2 . 2
Z U DEN ORIENTALISCHEN DATEN
Herodot verflocht diese und analoge Traditionen im Laufe des Fortschreitens seiner Darstellung nach und nach zu einem weitmaschigen Netz von Völkerverwandtschaften und gemeinsamen dynastischen Ursprüngen. So entstand ein wohldurchdachtes Geflecht von Beziehungen, das alle namhaften Kulturvölker unter den ,Barbaren', d. h. alle die seßhaften und Städte bewohnenden Völker mit mythischer Geschichte, umfaßt und mit griechischen Traditionen verknüpft. Ägypter, Assyrier und Babylonier, Lyder und Perser, einige k l e i n e re' Völkerschaften Kleinasiens und mit Einschränkungen sogar die Skythen kommen solcherart zur Ehre eines urverwandtschaftlichen Verhältnisses mit den Griechen. 9 0 In der Mitte dieses Netzes aus mythengenealogischen Beziehungen stehen Herakles und Perseus, deren chronologische Einordnung sich wiederum am Trojanischen Krieg ausrichtet. 91 In zwei Fällen nun werden aus diesem Netzwerk heraus lange Linien zu den Königshäusern der jüngeren Geschichte gezogen und bemessen. Sie sollen die Dauer des Königtums in Asien anschaulich machen: 520 Jahre währte demnach die Herrschaft der Assyrier über das obere Asien, ehe die Meder von ihnen abfielen (I 95,2) 92 , und 505 Jahre, 22 Generationen hindurch, regierten Nachfahren des Herakles-Sohnes Alkaios bei den Lydern, ehe der Mermnade Gyges an die Macht kam (I 7). 93 Mit der Etablierung einer medischen Dynastie unter Deiokes und mit Gyges' Usurpation des lydischen Throns beginnt dann jeweils eine Zeit, über die Herodot konkrete Geschichten zu erzählen weiß und für deren Herrscher er nun auch genaue Regierungszeiten angibt. Die lydischen Mermnaden regierten demnach von Gyges' Usurpation bis zu Kroisos' Sturz 170 Jahre. 94 Die Meder-Könige wiederum regierten 150 Jahre 95 , von Deiokes weg bis
89 90 91 92
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94
Vgl. dazu die konkreten Nachweise bei Burkert 1995. Vgl. Bichler 2000, 13Iff. Allerdings bleibt die zeitliche Relation zwischen Perseus und Herakles recht widersprüchlich. Dazu unten Anm. 97. Ob diese Zahl von Belos oder Ninos weg gerechnet ist, läßt sich nicht eindeutig sagen, obgleich natürlich einiges fur den Eponymen Ninos spricht. - Interessante, aber spekulative Überlegungen über die Provenienz der Zahl bietet Ivantchik 1993a, 109ff.; vgl. dazu Bichler 2000, 229 mit Anm. 62. Zur möglichen Provenienz der Zahl 505 vgl. Ivantchik 1993a, 108ff.; kritische Vorbehalte demgegenüber bei Bichler 2000, 228 Anm. 56. Burkert 1995, 142, betont, daß die Angaben von 22 Generationen und 505 Jahren unabhängig von einander seien - „one generation would amount to c. 22.95 years" und schließt auf eine konkrete Vorlage fur Herodot oder dessen Quelle: eine Königsliste „with variable lengths of reigns, wich Herodotus did not copy ...". Gegenüber Burkerts Zuversicht, letztlich einen lydischen Ursprung des ganzen Konstrukts zu erweisen, äußert Vannicelli 2001, 234 Anm. 40, m. E. begründete Skepsis. Giovannini 1995, 140ff., hingegen kommt diesbezüglich zu recht ähnlichen Überlegungen wie Burkert; vgl. bes. ebd. 145. Gyges + Ardys + Sadyattes = 38 + 49 + 12 = 99 Jahre; Alyattes + Kroisos = 57 + 14 = 71 Jahre (inklusive der 3 Gnadenjahre). Vgl. zur mutmaßlichen Konstruktion der Zahlen Fehling 1985, 93.
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z u m Sturz d e s A s t y a g e s durch K y r o s , der nach H e r o d o t s D a r s t e l l u n g d e m Fall v o n Sardes nur u m e i n w e n i g e s v o r a n g e g a n g e n war. - R e c h n e t m a n j e t z t , n a c h o b e n ' w e i t e r , s o heißt das, d a ß A g r o n s Inthronisation m i n d e s t e n s 6 7 5 Jahre ( 5 0 5 + 1 7 0 ) vor S a r d e s ' E r o b e r u n g durch K y r o s a n g e s e t z t ist u n d daß v o n N i n o s ' R e g e n t s c h a f t über A s s y r i e n b i s z u m Sturz d e s letzten M e d e r s A s t y a g e s m i n d e s t e n 6 7 0 Jahre ( 5 2 0 + 1 5 0 ) v e r g i n g e n . 9 6 U m d i e Zeit v o n H e rakles' ersten N a c h f a h r e n bis zu D a r e i o s a u s z u m e s s e n , m ü s s e n i m Falle der L y d e r n o c h d i e H e r a k l i d e n A l k a i o s , B e l o s u n d N i n o s im , o b e r e n ' B e r e i c h der K a l k u l a t i o n d a z u g e r e c h n e t w e r d e n , u n d d i e Zeit v o n K y r o s b i s D a r e i o s im ,unteren' B e r e i c h . Für d e n Fall der A s s y r i e r und M e d e r gilt ä h n l i c h e s , w o b e i das V e r w a n d t s c h a f t s v e r h ä l t n i s v o n N i n o s ' V a t e r B e l o s zu H e r a k l e s P r o b l e m e s c h a f f t . 9 7 A u f j e d e n Fall aber fuhren d i e B e r e c h n u n g e n d e s Z e i t r a u m s z w i s c h e n d e m T r o j a n i s c h e n K r i e g und D a r e i o s über H e r o d o t s o r i e n t a l i s c h e D a t e n z u h ö h e r g e l e g e n e n Werten als das Kalkül mit der G e n e r a t i o n e n f o l g e g e m ä ß den spartanischen K ö n i g s - G e n e a l o g i e n 9 8 , w a s vermutlich d a z u einlud, letztere im N a c h h i n e i n durch h o h e E i n z e l daten a u s z u w e i t e n . 9 9
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Deiokes + Phraortes = 53 + 22 = 75 Jahre; Kyaxares + Astyages = 40 + 35 = 75 Jahre. Die Konstruktion ist hier sinnfälliger. Das notorische Problem mit der Einbeziehung der 28jährigen Skythenherrschaft über (das obere) Asien muß hier beiseite bleiben. Diese Rechnung geht bei Herodot nicht ganz so glatt auf, denn es vergeht eine gewisse, freilich nicht lang bemessene Zeit, bis sich Gyges' Ansprüche nach der Ermordung des Kandaules durchsetzen konnten (I 13,1). Auch die Kombination der etwa 520 Jahre assyrischer Herrschaft vor dem Abfall der Meder mit den 150 Jahren der Meder-Regenten zu einem Datum von 670 Jahren, die von Ninos' Regentschaft bis zu Astyages' Sturz vergingen, geht nicht reibungslos auf. Denn vom ersten Freiheitskampf der Meder bis zu ihrer Unterordnung unter die von Deiokes begründete Monarchie liegt eine unbestimmte, freilich nicht sehr lange währende Zeit der Anarchie (vgl. I 96-97). Diese beiden Zäsuren entsprechen einander in etwa. - Burkert 1995 rechnet m. E. zu zuversichtlich die Summen der Mederkönige und der Assyrierherrschaft zusammen, um das Konstrukt für den Beginn von Ninos' Herrschaft zu errechnen: 670 Jahre vor Astyages' Sturz. Herodot aber beließ in seinen Angaben zum Königtum in Asien eine schmale Zone chronologischer Ungewissheit. Diese Zone liegt nicht allzu weit von der Ära der Zwölfherrscher Ägyptens entfernt, die ebenfalls eine unbestimmte Zeit dauerte, während die darauf folgende Saitenzeit klar berechnet 145 Jahre vor Kambyses' Zug gegen Psammenitos endete. Diese chronologischen Zäsuren haben in den Historien durchaus ihre Signalfiinktion; dazu Fehling 1985, 81 f. Cum grano salis hat Burkert mit seiner Folgerung aus dem Vergleich der theoretischen Einsatzpunkte der lydischen und der medisch-assyrischen Chronologie natürlich recht: „both dates evidently belong to the same construct"; Burkert 1995, 145.
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Ob Ninos' Vater Belos mit Belos, dem Vater des Kepheus, identifiziert werden darf und ob Ninos, der Assyrier, derselbe ist wie Herakles' Urenkel, ist nicht eindeutig geklärt. Wenn aber Belos, der Sohn des Alkaios (1 7,2), zugleich Belos, der Großvater der Andromeda, sein soll (VII 61,3), ,rutscht' Perseus, der Gatte der Andromeda, zwangsläufig generationenmäßig weit unter Herakles. Das macht Probleme, denn aus der Jlias geht hervor, daß Perseus zwei Generationen vor Herakles anzusetzen wäre (Ilias XIX 95-124; bes. 116; 123). Diese zeitliche Priorität des Perseus macht sich auch in der Abstammung der Herakliden zu Sparta geltend (vgl. Hdt. VI 53). Belos' Platz variiert allerdings in der griechischen Tradition vor Herodot; vgl. dazu Fehling 1989, 182 mit Anm. 11. Trotz dieser Probleme sollte Herodots Belos in I 7,2 von Belos in VII 61,3 nicht geschieden werden, denn damit ginge ein Stück mythischer Völkerverwandtschaft verloren, das fur Herodots Konzeption sehr wichtig ist. Drews 1969, 6, stellt heraus, daß schon aus Symmetriegründen die lydischen und die assyrischen Herakliden zusammengehören: „Thus the unity of Asia, realized in the career of Cyrus, had been anticipated in the person of Ninus".
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Diesen Umstand stellt Giovannini 1995, 140ff., mit Nachdruck heraus. Dazu paßt es, daß diese Sparta betreffenden Listen in Herodots Historien noch keine tragende Funktion besitzen. Nicht unerheblich ist
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Während die orientalischen Daten Herodots relativ nahe an seine Rundzahl für den Trojanischen Krieg aus dem Ägyptischen Logos heranfuhren, läßt sich mit der Generationenrechnung über die spartanischen Königs-Genealogien kein so hohes Datum gewinnen. Erst recht aber schafft die ägyptische Königsliste diesbezüglich Probleme. Es gelingt mit der durchgängig erzählten Königsgeschichte Ägyptens nicht wirklich, jenes Floating Gap auszufüllen, das durch die spartanischen Genealogien einerseits und durch die orientalischen Daten andererseits überspannt wird, obwohl Herodot sicher sein Bestes gab. Thukydides hatte dem kaum etwas anderes entgegenzusetzen als ein vermehrtes Maß an Zurückhaltung gegenüber der Tradition und einen Verzicht darauf, ein approximatives Datum für den Trojanischen Krieg zu benennen. Wo er aber das Bild der Frühzeit zu erweitem trachtete, war er auf - begründete - Spekulationen angewiesen.
II 3 Herodots Vermächtnis und das chronologische Bild der mythischen Vorzeit bei Thukydides II 3 . l
ZUR
ARCHÄOLOGIE
Anders als Herodot setzte es sich Thukydides nicht zum Ziel, die Tiefe der Zeit und die Weite der Oikumene in seiner Darstellung anschaulich zu machen. Wohl aber rang er in seiner Historie um eine methodisch klar begründete Abgrenzung seines Sujets, über das er zuverlässigen Bescheid zu geben versprach, gegenüber einer anfechtbaren Darstellung der Geschichte weiter zurückliegender Zeiten. Zur Präzisierung dieser Abgrenzung bedurfte es wiederholt eines kritischen Rückblicks in die Frühzeit. Das beginnt schon mit der einleitenden Archäologie, in der Athens Macht vor dem Bild der Vorzeit als ein neuartiges Phänomen schärfer sichtbar wird. Wie bei Herodot auch, steht das Bild der Vorzeit unter dem Eindruck der aktuellen Kämpfe um die Hegemonie in Hellas. Dem analytischen Charakter von Thukydides' Historie entsprechend aber treten die systematischen Gegensätze in der Entwicklung von Athen und Sparta, insbesondere der Kontrast von Landmacht und Seemacht stärker hervor.100
es auch, daß die Ephorenliste bei Herodot noch keine Spuren hinterläßt. Das bekräftigt die Vermutung, daß erst durch Charon von Lampsakos auf der Grundlage lokaler Tradition ein entsprechendes nach rückwärts ergänztes - Instrumentarium zum Nutzen der Historiographie geschaffen wurde, in welches auch Daten für die Könige integriert wurden. Vgl. dazu Thommen 1996, 78; Thommen 2000, 402. Eine Liste der Sieger bei den musischen Bewerben an den Kameen hatte zuvor schon Hellanikos erstellt (FGrHist 4 F 85f.). Beide Autoren schrieben indes keine „übergreifende Darstellung der Geschichte Spartas", wie Thommen - unter Rekurs auf F. Jacoby - zu Recht anmerkt; Thommen 2000, 402. Im Übrigen steht auch der Charakter von Hellanikos' Atthis als einer Chronik im üblichen Sinn durchaus zur Debatte. Vgl. dazu oben Anm. 6. 99 100
Dazu Burkert 1995, 143ff. Zum methodischen Anliegen der Archäologie, nicht nur die prinzipiell größere Bedeutung des gegenwärtigen Kriegsgeschehens gegenüber dem der früheren Zeiten, sondern vor allem auch die anderen Möglichkeiten zu präziser Erkenntnis darzustellen, vgl. Nicolai 2001 mit weiterer Literatur. Hier geht es nur um den Aspekt der Chronologie. Die generelle Bedeutung der Archäologie fur die erkenntnistheoretische Diskussion über den Status der Geschichtswissenschaft, bis hin zur modernen Konstruktivismus-Debatte, beleuchtet Gehrke 1993.
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Attika war Thukydides' Überlegungen zufolge dereinst kein bevorzugtes Land für Völkerwanderungen - im Gegensatz zu den fruchtbaren Gebieten Thessaliens, Boiotiens und weiter Teile der Peloponnes , wohl aber bot es sich als Zufluchtsort für vertriebene Eliten an. Seine Bevölkerung blieb daher von Anfang an identisch, wuchs aber durch Zuzug konstant. Gewann so die Stadt der Athener schon ά π ο π α λ α ι ο ύ beträchtliche Bedeutung (I 2,6), stellt Athen zur See eine junge Macht dar. Die Geschichte der Seemächte beginnt dagegen früh, setzt schon mit König Minos ein (I 4; 8,2), noch vor der Zeit des Trojanischen Krieges, für dessen Durchführung dann bereits eine stattliche Flotte aufgeboten wurde (I 3,5; 8,4; 9,3^1). Wohl erweist sich auch in Thukydides' Augen dieser Krieg als der bedeutendste der Vorzeit, doch sollte seine Dimension - gerade in Hinsicht auf die Flotte - im Vergleich zu den Ereignissen der Gegenwart nicht überschätzt werden (I 10,3^1; 11). Doch wie zuvor Herodot und vor diesem die Ordner der mythopoetischen Genealogien, sah Thukydides den von Homer geschilderten Kriegszug als ein zentrales Ereignis an, dem sich einzelne der mythisch bezeugten Wanderbewegungen zeitlich zuordnen lassen. So kann man der Archäologie entnehmen, daß einst, vor Minos' Zeiten, Karer und Phönizier 101 die Inseln der Ägäis besiedelt hatten (1 4; 8,1) und daß die fruchtbaren Regionen des Festlands bis in die Zeit nach dem Trojanischen Krieg den Schauplatz zahlreicher Wanderbewegungen und damit verbundener Kämpfe bildeten (I 2 , 1 ^ ; 12,1-2). Doch geht Thukydides nur selten ins Detail. Immerhin gibt er auch zwei konkrete Daten an: Die Vertreibung der Boioter aus Arne durch die Thessaler erfolgte im 60. Jahr nach dem Fall von Troja und die Eroberung der Peloponnes durch die Dorier und Herakliden im 80. Jahr (I 12,3). 102 Mit weiteren Präzisierungen dieser Art hielt sich Thukydides freilich zurück, und der Abstand zwischen dem Trojanischen Krieg und der Gegenwart des Peloponnesischen Krieges bleibt in concreto unvermessen. Doch fand Thukydides ein Verfahren, mit dem dieses breite Spatium untergliedert und in weiterer Folge durch Zahlenwerte anschaulich gemacht werden konnte. Die dafür maßgebende Zeitangabe betrifft Athens Antipoden. Sparta war demnach von den bekannten Städten seit seiner Besiedlung durch die Dorier am längsten im Bürgerkriegszustand, erhielt aber doch auch έ κ π α λ α ι τ ά τ ο υ eine feste Ordnung η ύ ν ο μ ή θ η - und blieb damit frei von Tyrannis. Thukydides schätzt nun, daß Sparta vom Ende des gegenwärtigen Krieges gerechnet etwas über 400 Jahre lang dieselbe Verfassung gehabt habe (I 18,1). 103 Thukydides' Datum für Lykurg, dessen N a m e freilich weder hier noch sonst fallt, läge damit in etwa eine knappe Generation tiefer als Herodots bekanntes
101 102
103
„Thucydides gives no evidence for the latter, but relies on well-known Greek traditions of their presence in Rhodes, Thasos and other islands"; Gomme 1945, 106. Gomme 1945, 117, vermutet die Troika des Hellanikos als Quelle und betont, daß es sich bei diesen beiden Daten nicht um Resultate einer konsistenten Generationenrechnung handeln könne. Burkert 1995, Anm. 27, verweist darauf, daß Thukydides' Angaben der Struktur nach der Tradition entsprechen, auf die Herodot IX 26,4 anspielt: Erst 100 Jahre nach Hyllos' Tod können die Herakliden die Peloponnes erobern. Zum ideologischen Kontext dieser Herodot-Stelle vgl. Siewert 1986, 863ff., bes. 867f. Zur Frage nach der Identität von Arne vgl. Hornblower I 1991, 38f. Das .Ende dieses Krieges' bedeutet in der Sizilischen Archäologie jedenfalls die Kapitulation Athens 404 v. Chr. Es scheint mir angesichts der weithin feststellbaren Kohärenz des Werks angemessen zu sein, auch in der großen Archäologie mit Athens Fall im Jahre 404 als maßgebendem Bezugsdatum zu rechnen. Zum Aspekt der inneren Geschlossenheit des Werks vgl. generell Leppin 1999, 7ff., mit weiteren Verweisen.
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Datum für Homer und Hesiod, nach dem diese nicht mehr als 400 Jahre vor ihm gelebt hätten (Hdt. II 53,2). Thukydides' Notiz über das Alter von Spartas Verfassung dürfte wohl kalkuliert sein.104 Denn damit wäre die durch Herodots Rundzahlen geläufige Zeitstrecke von über 800 Jahren Distanz zwischen dem Trojanischen Krieg, als dem wichtigsten Bezugspunkt der Mythenchronologie, und der erlebten Gegenwart des Historikers auf analoge Weise halbiert wie bei dessen Verortung von Homer und Hesiod. Thukydides begnügt sich zwar diesbezüglich mit der Feststellung, daß Homer viel später als der Trojanische Krieg lebte (I 3,3) und verzichtet - wohl bewußt - auf ein eigenes Datum für diesen Krieg, korrigiert aber auch das gegenständliche Datum Herodots nicht. Während aber Herodots Datum für die großen Dichter noch weit entrückt erscheint und sich ein tiefer Graben zur Kette jener Zeitpunkte auftut, ab denen jeweils eine kontinuierliche Tradition über die jüngere Geschichte herausragender griechischer Gemeinwesen einsetzt, gelingt es Thukydides, diesen Graben bereits in der einleitenden Archäologie durch ein festeres Netzwerk von datierten Ereignissen zu überspannen - ein Verfahren, das er in der Sizilischen Archäologie mit vermehrter Intensität fortsetzt. Gegenüber der großen Archäologie aber hat der Exkurs zur Sizilischen Frühgeschichte noch eine weitere Neuerung zu bieten: Auch das Bild der frühzeitlichen Völkerwanderungen gewinnt etwas an zeitlicher Tiefe.
II 3 . 2
Z U R SIZILISCHEN A R C H Ä O L O G I E
Thukydides bietet einen Abriß an Daten, der aus literarischen Traditionen kondensiert zu sein scheint, zu deren wesentlichen Gestaltern Antiochos von Syrakus gehört haben dürfte.105 Demnach gelten die aus der Odyssee in eine ethnohistorische Realität überführten Kyklopen und Laistrygonen als die ersten Siedler Siziliens, das zugleich als Trinakria identifiziert wird (VI 2,1—2).106 Da Thukydides für alles Weitere diesbezüglich mit deutlicher Distanziertheit auf ,die Dichter' verweist (VI 2,1), läßt sich erschließen, daß er sein nächstes Datum, die Ankunft der Sikaner, die er als Vertriebene aus Iberien auffaßt107, für ein besser bezeugtes Faktum der Sizilischen Frühgeschichte hält (VI 2,2). Bei Herodot kommen zwar keine Sikaner vor, wohl aber faßt er Sikanien als den Namen für Sizilien in der Zeit von Minos' legendärem Besuch der Insel auf (Hdt. VII 170,1). Dazu fügt sich Thukydides' Angabe über die nächste Welle von Zuwanderern, die bereits in die Zeit unmittelbar nach Trojas Fall gesetzt wird: Die nachmaligen Elymer rekrutieren sich aus Trojanern, die nach Ilions Zerstörung in ihre neue Heimat geflohen waren, wozu noch einige Phoker kamen, die von Troja 104
Die 700 Jahre ruhmreicher Geschichte Spartas, auf die Isokrates' Archidamos in der bitteren Zeit nach Leuktra zurückblickt (Isokr. VI 12), beziehen sich dagegen offensichtlich auf die Einwanderung der Herakliden. Daß es sich bei der Zahl um eine glatte Rundzahl handelt, zeigt die Parallelstelle in der Rede über den Frieden (Isokr. VIII 95). Als Chiffre passen diese 700 Jahre zum respektablen Alter, das Thukydides der autonomen Gemeinschaft der Melier gab, die nun - i. J. 416 v. Chr. - an Athens Machtgelüsten zugrunde gehen sollte (Thuk. V 112,2). Vgl. zu dieser chronologischen Fixierung von Melos' Gründungauch Giovannini 1995, 146.
105 106
Vgl. dazu Gomme/Andrews/Dover 1970, 201f.; Pearson 1987, 1 Iff. Zur Ableitung des Namens Trinakria aus einer Verballhornung des homerischen Thrinakie zu einer Pseudo-Etymologie der Insel mit drei Hörnem vgl. Gomme/Andrews/Dover 1970, 211. Gomme/Andrews/Dover 1970, 211, verweisen darauf, daß Hekataios eine Polis namens Sikane in Iberien kannte; vgl. FGrHist 1 F 45 (nach Stephan von Byzanz).
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nach Libyen und dann nach Sizilien verschlagen worden waren (VI 2,3). 108 Die Ankunft der aus Italien vertriebenen Sikuler, die den Sikanern nach einer großen Schlacht die besten Siedlungsplätze wegnahmen und dem Lande Sikanien nun ihren Namen - Sizilien - gaben (VI 2,4—5), kann folglich erst eine bestimmte Zeit nach dem Zuzug der Sikaner und der Elymer und damit nach dem Trojanischen Krieg erfolgt sein. 109 Thukydides spricht nun davon, daß sich die Sikuler ihrer guten Siedlungsgebiete nahezu 300 Jahre erfreuen konnten, ehe die ersten Hellenen ins Land kamen (VI 2,5). Auch die letzte Gruppe barbarischer Zuwanderer, die Phoiniker, hatte sich noch eine gewisse Zeit vor den Hellenen in Sizilien festgesetzt (VI 2,6). Mit der Rundzahl von etwa 300 Jahren, die zwischen der Einwanderung der Sikeler und der Ankunft der ersten Griechen liegen, ist somit eine Brücke vom Ende des dichten Erzählstratums aus der mythischen Wanderzeit zum Beginn eines zweiten Stratums von dichten Ereignisfolgen innerhalb der Frühzeit geschlagen: der Gründungszeit der griechischen Siedlungen im Westen. Für diese Zeit, die in Herodots Historien nur sehr vage in Erscheinung tritt, bietet Thukydides ein ganzes Geflecht aus Daten, zu dem noch jene Rundzahlen dazukommen, die bereits in der Archäologie den entsprechende Zeitraum veranschaulichen. Zwar bleibt Thukydides' dort getroffene Erklärung, daß erst geraume Zeit nach den Wanderbewegungen und Neugründungen, die bis in die Zeit nach dem Trojanischen Krieg angehalten hatten, Hellas soweit zur Ruhe gekommen war, daß nun eine neue Gründerzeit in Ionien und auf den Inseln wie in Italien und auf Sizilien - einsetzen konnte, reichlich blaß (I 12), doch empfiehlt es sich, mit dem Einsetzen erster absoluter Rundzahlen, die in diesem Kontext in der Archäologie geboten werden, eine deutlichere Zäsur innerhalb der Geschichte der Vorzeit der Griechen zu markieren. Der auf rund 300 Jahre bemessene Zeitraum aber, der sich zwischen der Landnahme der Sikeler und jener der ersten Griechen erstreckt, bleibt leer. Das fugt sich gut zur Beobachtung, daß auch die Fragmente des Antiochos ein analoges Floating Gap erkennen lassen. 110 Erst mit dessen unterem Ende wird auch bei Thukydides der Beginn einer neuen Epoche erkennbar, die sich nun gern und gut als Prototyp unserer Archaik begreifen läßt.
Schlußbemerkungen Herodot und Thukydides haben das Fundament für unsere Chronologie der archaischen Geschichte gelegt, doch nicht nur das. Sie haben überhaupt die wesentlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, daß es zur festen Gewohnheit der Altertumswissenschaft werden konnte, einen größeren Zeitraum vor den Perserkriegen als eine eigenständige und formative Periode
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Zu mythographischen Spekulationen, die hinter dieser Nachricht gestanden haben könnten, vgl. Gomme/Andrews/Dover, Commentary IV (1970), 212f. Hellanikos setzte dagegen die Ankunft der Sikeler in der dritten Generation vor dem Trojanischen Krieg an (FGrHist 4 F 79b = Dion. Hal. Arch. I 22,3). Dies ist ein wichtiges Argument gegen die Annahme, daß er als einschlägige Quelle für Thukydides' Sizilische Archäologie anzusehen sei. „No fragment has been preserved to tell us what Antiochus had to say about the period between the Sicel migration and the first Greek colonial expeditions"; Pearson 1987, 14f.
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zu erfassen, die dann unter den spezifischen Rezeptionsbedingungen der Wilhelminischen Zeit auf einen ziemlich affekterfüllten Archaik-Begriff festgelegt wurde. 111 Während dessen besondere Konnotationen wieder verblaßten, wurde seine zunächst eher diffuse Reichweite im Zuge der weiteren Differenzierung unseres konventionellen Epochenbilds auf ein Maß eingegrenzt, das sich gar nicht schlecht zu den Vorgaben der klassischen Historiographie fügt. Zunächst einmal bietet sich der Abwehrerfolg in den Perserkriegen, ein erstes unter einem panhellenischen Aspekt faßbares Großereignis seit dem legendären Kampf um Troja, als ein epochaler Wendepunkt dar. In der Folge begann sich eine neuen Ära abzuzeichnen, die in zunehmendem Maße durch innergriechische Hegemonialkämpfe geprägt war und die in den Peloponnesischen Krieg mündete. Der relativ schmale Zeitraum vom Ionischen Aufstand bis zu Xerxes' Debakel ließe sich somit als untere zeitliche Begrenzung für einen in der klassischen Historie begründeten Prototyp des künftigen Epochenbegriffs der Archaik auffassen. Nun vermittelt aber das Bild der Vorzeit, das Herodot und Thukydides zeichnen, den Eindruck, daß sich auch schon weit früher, eine gewisse Zeitspanne nach dem monumentalen Wirken Homers und Hesiods, gleichermaßen eine neue Ära abzuzeichnen begann, welche mit einer deutlichen Intensivierung der Seefahrt und der damit verbundenen Siedlungstätigkeit im Westen einherging. Somit läßt sich auch eine - vage - Obergrenze für den hier apostrophierten Epochenbegriff einer ,Proto-Archaik' aus dem Werk der beiden Klassiker ablesen. In dieser Zeit der ,Proto-Archaik' wird - aus der Perspektive der klassischen Historie ein neuer Typus konzentrierter Macht sichtbar. Er ist zunächst durch eine forcierte Flottenpolitik bestimmt und dann auch durch das Entstehen bedeutender Tyrannen-Herrschaften. Die davon betroffene Geschichte des .dritten' Griechenland wird aber bereits dem Dualismus von Athen und Sparta zugeordnet. Diese beiden Mächte erscheinen somit schon früh als die künftigen Protagonisten und Antagonisten am Schauplatz einer gemeinsamen griechischen Geschichte, als die Vormächte der Dorier respektive der Ioner und als die Prototypen von Landmacht und Seemacht - eine Sehweise, die Herodot und Thukydides der Nachwelt vermittelt haben. Diese ,Proto-Archaik' steht somit bei Herodot wie bei Thukydides in einem weit stärkeren Gegenwartsbezug als die von der mythopoetischen Tradition rund um den Trojanischen Krieg geprägte Vorzeit. Zwischen dieser ferneren Vorzeit und der jüngeren, in den Perserkriegen mündenden Geschichte der Vorfahren, die hier als ,Proto-Archaik' tituliert wird, setzte die klassische Historie folgerichtig auch einen ersichtlichen Trennstrich: das Wirken Homers und Hesiods, der maßgeblichen Gestalter einer gemeinsamen literarischen Tradition der Griechen. Das Auftreten der beiden Dichter markiert dabei in etwa die Hälfte jener langen - auf rund 800 Jahre bemessenen - Wegstrecke, die von der für uns .klassischen' Zeit der Begründung der Historiographie zurück zur mutmaßlichen Zeit des Trojanischen Krieges fuhrt." 2 Zwar enthält sich Thukydides - anders als Herodot - selbst einer vagen Zeitangabe fur den Trojanischen Krieg, doch läßt sein approximatives Datum für den Beginn von Spartas Eunomie vermuten, daß er sich zumindest an Herodots Datum für die Zeit der beiden großen Dichter der Frühzeit orientiert haben dürfte, und dessen Kalkül für die Zeit des Trojanischen Krieges läßt sich durchaus mit Thukydides' Archäologie
111 112
Vgl. zu letzterem Aspekt vor allem Most 1989, bes. 17ff. Zur Datierung des Trojanischen Kriegs bei den antiken Autoren vgl. generell Burkert 1995.
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und vor allem mit seiner Sizilischen Archäologie vereinbaren. Die Zeit rund um diesen legendären Krieg wird ihrerseits bei beiden Autoren als eine durch Wanderungen und neue Landnahme charakterisierte Umbruchszeit wahrgenommen, die von der nachhomerischen ,zweiten' Gründerzeit nun durch eine Art von ,Dark Ages' (im Ausmaß von rund drei Jahrhunderten) getrennt erscheint. Auch das nimmt in bemerkenswerter Weise unser konventionelles Epochen-Bild vorweg. Daß sich die Forschung schließlich seit der Ergrabung Trojas und der Entdeckung der bronzezeitlichen Kulturen Griechenlands im Streit um die Möglichkeit, den Trojanischen Krieg archäologisch dingfest zu machen, selbst mitunter in hartnäkkige, aber gottlob akademische Kriege zu verstricken droht, gehört indes zu einer anderen Geschichte. 1 1 3
113
Zur Problematik einer Identifikation der mythopoetisch vorgestellten heroischen Zeit mit der realen Spätbronzezeit vgl. Birgitta Eder in diesem Band .
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Reinhold Bichler
Herodots ägyptische und orientalische Herrscher-Folgen
330 Könige vor Moiris
Herakles Alkaios Belos
Belos
Ninos
Kepheus
Ninos
Sardanapallos
Andromeda
Agron
Moiris Sesostris Pheros
Perses
Proteus 505 Jahre = 22 Generationen Herakliden vor Gyges
Rhampsinitos Cheops Chephren Mykerinos Asychis Anysis Sabakos Sethos Zwölfherrscher
Sanacharibos Semiramis
Kandaules
Psammetichos
Deiokes
Gyges
Nekos
Phraortes
Ardys
Psammis Apries
Labynetos
Sadyattes Kyaxares
Nitokris
Kambyses
Alyattes
Kyros
Kroisos
Astyages Amasis Psammenitos
Labynetos
Kambyses "Smerdis" Dareios Xerxes
Tabelle 1
Artaxerxes
Das chronologische Bild der ,Archaik'
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Chronologische S k i z z e der älteren griechischen Geschichte nach Thukydides' A n g a b e n
Minos' Seemacht - vor llions Fall
Slkaner in Sizilien
Elymer in Sizilien - nach llions Fall Boioter in Arne = 60 Jahre nach llions Fall Sikuler in Sizilien Herakliden-Rückkehr = 80 Jahre nach llions Fall
Melos* ~ 700 Jahre vor der Zerstörung [416/5]
Eunomie in Sparta ~ 400 Jahre vor Kriegsende [404]
Schlacht Sikuler - Sikaner - 300 Jahre vor Ankunft der Hellenen
Phönizier in Sizilien [?] Syrakus" Megara Hyblea* = 245 Jahre vor Gelons Eroberung
Trierenbau in Samos - 300 Jahre vor Kriegsende [404] Seeschlacht Korinth - Kerkyra - 260 Jahre vor Kriegsende [404]
Gela* = 40 Jahre nach Syrakus
Selinus' = 100 Jahre nach Megara Hyblea Akragas* = 100 Jahre nach Gela
Landkrieg Chalkis - Eretria [?] Kroisos/Kyros - Ionische Seemacht
- Seeschlacht Massalioten - Karthager
Kambyses - Polykrates' Seemacht 20 Jahre vor Marathon ~ Hippias' Sturz Xerxes-Zug ~ 50 Jahre vor Kriegsbeginn [431]
Tabelle 2
Gelon von Syrakus - Eroberung von Megara Hyblea
Reinhold Bichler
248
Ein chronologisches S c h e m a der griechischen G e s c h i c h t e bis z u m ionischen Aufstand nach A n g a b e n Herodots
Europa
Kadmos
Minos
Oidipus
Amphitryon
'f.
Alkmene
I Herakles
Moiris - Herakles - 900 Jahre vor Herodot
Proteus - Helena Trojan. Krieg
Argeia
Theras
υ bor B00 Jahre vor Herodot
Aristodemos 1
I
Eurystheus
Homer u. Hesiod
Prokies
Lykurg, Vormund des Leobotes
- 400 Jahre vor Herodot
(13 Generationen vor Kleomenes)
Aristeas < 240 Jahre vor Altar in Metapont [?J
Gyges
~
Archilochos Thaies , , Thrasybulos
Altyattes
Kroisos
„ . Periandros
Bias-Prttako6-Solons Exil / 36 Jahre Peisistratklen
Hippias/Kicästhaies
~
Kleomenes
-
Demaratos
(15 Generationen nach Aristodemos}
Dareios
~
Abfall von Milet
= 29 Jahre vor Salamis
Tabelle 3
Astrid Möller
Elis, Olympia und das Jahr 580 v. Chr. Zur Frage der Eroberung der Pisatis1
M i t d e m D a t u m der 5 0 . O l y m p i a d e , traditionell a u f 5 8 0 Jahre v o r Christi Geburt u m g e r e c h net, w e r d e n e i n e g a n z e A n z a h l p o l i t i s c h e r und kultischer V e r ä n d e r u n g e n in E l i s und O l y m pia verknüpft: D i e E r h ö h u n g der Zahl der H e l l a n o d i k e n a u f z w e i soll mit e i n e m V e r f a s s u n g s w a n d e l in Elis e i n h e r g e g a n g e n s e i n . 2 Z u d i e s e m Zeitpunkt sei mit der A u f z e i c h n u n g der O l y m p i o n i k e n b e g o n n e n w o r d e n , 3 und e s hätte ein W e c h s e l v o n der j ä h r l i c h e n zur p e n teterischen A u s t r a g u n g der S p i e l e s t a t t g e f u n d e n . 4 Ein für d i e e l i s c h e G e s c h i c h t e in archais c h e r Zeit o f f e n s i c h t l i c h s o zentrales D a t u m dient z u d e m als terminus
ante quem
der D a t i e -
rung v o n Inschriften. L a n g e Zeit w u r d e die I v O l y m p i a 2 , die nur e i n e n H e l l a n o d i k e n nennt, a u f g r u n d dieser T a t s a c h e vor 5 8 0 v. Chr. datiert. O b w o h l bereits Kahrstedt g e w i c h t i g e Arg u m e n t e d a g e g e n vorbrachte, setzte s i c h d i e Spätdatierung der e l i s c h e n Inschriften j e d o c h erst mit J e f f e r y durch. 5 N o c h i m m e r dient das D a t u m der 5 0 . Ol. der D a t i e r u n g v o n Inschriften, 6 d o c h s e i n e Q u e l l e n b a s i s w i r d selten hinterfragt.
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Dieser Beitrag verdankt viel dem regen, freundschaftlichen Austausch mit Massimo Nafissi, was aber nicht heißt, daß wir in allem einer Meinung wären oder daß er für Mängel dieses Beitrags verantwortlich ist. Seine jüngsten Überlegungen werden in den Akten einer von ihm 2002 in Perugia veranstalteten Tagung über Elis und Olympia erscheinen. Danken möchte ich auch Peter Rhodes fur seine Kommentare und Birgitta Eder für die großzügige Übersendung ihrer publizierten und unpublizierten Arbeiten und weitere Hinweise.
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Wade-Gery 1925, 544f., bestimmte die 50. Ol. ,or thereabouts' als Zeitpunkt für die Nominierung eines zweiten Hellanodiken, die Gründung des Prytaneion in Olympia, den Beginn der elischen Gesetzgebung und den Sturz der pisatischen Tyrannen. Dies deutete ihm alles auf einen Verfassungswandel hin. Busolt, GG I2 587, zufolge begannen die Hellanodikai nach der endgültigen Übernahme der Festleitung durch die Eleer in der 52. Ol. (aus den Angaben des Eusebios geschlossen) mit den Aufzeichnungen und ergänzten diese, so gut es eben ging, nach oben bis zur ersten penteterischen Feier. Jacoby, FGrHist II Ib Kom. 226, betrachtet die 50. Ol. als Zäsur zwischen den älteren, wahrscheinlich rekonstruierten Namen und den danach aufgezeichneten. Dieser Punkt wurde vor allem bei Versuchen, den Beginn der Spiele herunter zu datieren, diskutiert, vgl. Cavaignac 1913-20; Lenschau 1936. Kahrstedt 1927, 166: IvOlympia 2 nicht lange vor 470 v. Chr.; Jeffery, LSAG 2 216-221 Nr. 15: ca. 4 7 5 450; IvOlympia 14 kann so ergänzt werden. Siewert 1994b, 23f.; 27, datiert eine im Gebiet der späteren Stadt Elis gefundene und von ihm publizierte Inschrift aufgrund der Schrift in die erste Hälfte des 6. Jh., schränkt dies aber wegen der vorausgesetzten
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Bei genauerer Betrachtung müßten sich eigentlich Zweifel erheben. Einzig Pausanias (V 9, 4) verdanken wir die Datierung der Erhöhung der Zahl der Hellanodiken auf zwei, die durch das Los bestimmt wurden, in die 50. Ol. Abgesehen davon, daß der demokratische Anstrich, den das Losverfahren der Auswahl der zwei Hellanodiken zu verleihen scheint, sicher zu Recht bezweifelt worden ist, 7 bleibt der gesamte Passus über die Vermehrung und Verminderung der Anzahl der Hellanodiken bei Pausanias problematisch. 8 Als Ursache hinter all diesen Reformen der ersten Hälfte des 6. Jh. erblicken Historiker die endgültige Besiegung Pisas und die Übernahme der Aufsicht über die Olympischen Spiele durch Elis. Von Auseinandersetzungen um die Aufsicht über die Olympischen Spiele zwischen Elis und Pisa berichten die literarischen Quellen jedoch erst ab dem 4. Jh. Ihre offensichtlichen Widersprüche haben unzählige Interpretationen hervorgerufen. Während Strabon und Eusebios diese Auseinandersetzungen jeweils als dürres chronologisches Gerüst längerer Phasen wiedergeben, berichtet Pausanias überhaupt nur von drei einzelnen Agonothesien. Nach Strabon (VIII 3, 30, C355) hatten die Eleer die Prostasie über das Heiligtum von Olympia und die Spiele bis zur 26. Ol. inne. Nachdem die Pisaten in der 26. Ol. ihr Land wiedergewonnen hatten, richteten diese die Spiele aus. Später - Strabon macht keine genaueren Angaben - fiel die Pisatis zurück an Elis, das nun endgültig die Leitung der Spiele übernahm. Eusebios (chron. 92 Karst) bemerkt, daß die Pisaten die 28. Olympischen Spiele (668 v. Chr.) beaufsichtigten, da die Eleer durch Krieg verhindert waren. Während der 30. Ol. revoltierten sie gegen Elis und übten die Aufsicht danach noch über weitere 22 Feste aus. Das ergibt arithmetisch die 52. Ol. (572 v. Chr.), was als Alternative zum Jahr 580 verwendet und wahlweise mit den diversen Veränderungen verbunden wird. Obwohl sich beide Darstellungen recht wenig decken, hat Viedebantt 1930 beide Quellen kombiniert. Er nahm Strabons Angabe der elischen Agonothesie über 26 Olympiaden und schloß aus der bei Eusebios errechneten Angabe, die Pisaten hätten bis zur 52. Ol. die Aufsicht ausgeübt, daß den Pisaten weitere 26 Olympiaden zuzuschreiben seien, bis die Eleer wieder die Aufsicht übernahmen. Das hielt er für eine schematisierte Chronologie, bei der die Agonothesie alle 100 Jahre wechselte: Ol. 1 - 2 6 die Eleer, Ol. 2 7 - 5 2 die Pisaten, dann folgten wieder die Eleer. 9 Doch behauptet Eusebios nur, die Pisaten hätten 22 Olympiaden lang den Vorsitz gehabt, während sie bei Strabon eine unbestimmte Zeit die Agonothesie innehatten, von 26 pisatischen Olympiaden spricht keiner. Vielleicht sollte man da-
Eroberung Pisas und der damit verbundenen Verlagerung des Publikationsortes öffentlicher Inschriften von Elis nach Olympia auf die Zeit zwischen 600 und 570 v. Chr. ein. 7 Jacoby, FGrHist Illb Komm. 233. Kahrstedt 1927, 160, sieht in der elischen Demokratie mit ihrem Rat der 500 und den zehn Phylen eine so genaue Kopie der athenischen Demokratie, daß man sich auch erloste Beamte erst nach dem Synoikismos vorstellen darf. Peter Rhodes (im Druck) argumentiert, daß die Erlösung von Amtsträgern keineswegs nur mit Demokratien verbunden war. Es handelte sich um einen Weg, unter gleichermaßen geeigneten Kandidaten auszuwählen. 8 Auf die Widersprüche zu anderen Quellen (Hellanikos FGrHist 4 Fl 13; Aristot. F492 Rose) wies bereits Kahrstedt 1927, 157-160, hin; vgl. Gehrke 1985, 365ff.; Bultrighini 1990, 147ff. 9 Viedebantt 1930, 30f. Inglis 1998, 62, bezeichnet die bei Eusebios genannte Zahl von 22 Olympiaden als Originalangabe, auf die auch Strabons chronois hysteron zurückginge.
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von absehen, beide Quellen zur Deckung zu bringen und sie als Ergebnis verschiedener Traditionen betrachten. 10 Pausanias (VI 22, 2-3) kennt gar keinen Zeitraum, in welchem die Pisaten die Agonothesie innehatten. Die nicht von den Eleern geleiteten Spiele werden auf drei einzelne Spiele reduziert, von denen er behauptet, sie seien Anolympiaden genannt und nicht in die Liste der Olympioniken aufgenommen worden:" Die 8. Ol. veranstalteten die Pisaten gemeinsam mit Pheidon von Argos, die 34. Ol. hielt der Tyrann Pantaleon von Pisa mit Hilfe einer aus der Umgebung gesammelten Armee ab und die dritte, die 104. Ol. (364 v. Chr.), wurde durch die Arkader ausgerichtet. Interessanterweise erwähnt Pausanias die Pisaten hier, wo wir ihre Agonothesie das einzige Mal historisch belegen können, nicht, sondern nur die Arkader, die die Pisaten zweifellos als Marionette mißbrauchten. Der Kontext läßt allerdings keinen Zweifel, denn es geht um die Böswilligkeit der Pisaten, die die Spiele an sich reißen wollten und schließlich untergingen. Versucht man, die Angaben über pisatische und elische Agonothesien mit Namen in der Olympionikenliste zu verbinden, so fällt auf, daß z.B. in der auf ein chronographisches Minimum reduzierten Version der Auseinandersetzung bei Eusebios während der angeblichen pisatischen Agonothesie über 22 Olympiaden kein einziger pisatischer Olympionike verzeichnet ist. Überhaupt finden sich die Pisaten bei Eusebios nur in der Nachricht, sie hätten die Spiele ausgerichtet. Das sieht danach aus, als wäre da eine Olympionikenliste überliefert worden, die ganz und gar eine elische Handschrift trägt, aber mit historischen Nachrichten angereichert wurde, die aus anderen Quellen stammen. Siegreiche Pisaten muß man denn auch woanders suchen. Pausanias (V 8, 6) überliefert einen Hypenos aus Pisa, der in der 14. Ol. den ersten diaulos gewann. Hinweise, daß dies keine normale Olympiade unter elischer Aufsicht war, sucht man vergebens. 12 Bei Eusebios (chron. 91 Karst) erheben sich hingegen keine Zweifel, daß Hypenos als Eleer siegte. 13 Und doch ist Pausanias' Angabe interessant, denn sie entspricht einem Entwicklungsschema der Olympischen Spiele, das den ersten Stadionsieg einem Eleer, den Sieg im als zweiten Agon eingeführten diaulos einem Pisaten und den Sieg im als dritten Agon eingeführten dolichos einem Lakedaimonier zuschreibt. Pausanias dürfte sich an dieser Stelle nicht an einer Tradition umkämpfter Agonothesien orientiert haben, sondern folgte einer bei Phlegon (FGrHist 257 Fl, 2) greifbaren Überlieferung, in der Elis, Pisa und Sparta gemeinsam die olympischen Spiele einrichteten. Phlegons Ansatz, alle drei Poleis gleichmäßig verantwortlich zu machen, findet seinen Ausdruck auch in der Tatsache, daß Antimachos, der Stadionike der 2. Ol., nach Eusebios aus Elis stammend, in einem bei Stephanus von Byzanz überlieferten Fragment des Phlegon (FGrHist 257 F4) als Eleer aus Dyspontion bezeichnet wird, d.h. das
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Jacoby, FGrHist Illb Anm.bd. 149 Anm. 35, hielt Eusebios' Version fur eine Kompromißlösung, die bis zu einem gewissen Grade die pisatischen Ansprüche berücksichtigte, während er bei Strabon die Spuren Apollodors erkannte, der über Ephoros von einer pisatischen Version Kunde gehabt haben muß. Aber gerade bei Ephoros spielen die Pisaten eine untergeordnete Rolle. E. Meyer 1950, 1754, ist darin zuzustimmen, daß der Begriff der Anolympiade sicher erst mit der Olympiade von 364 v. Chr. entstanden sein kann. Dies ist an dieser Stelle auch nicht Thema des Pausanias, denn er behandelt die Entwicklungsgeschichte der olympischen Agone. Auch wenn der Armenier ,Klier' geschrieben hat, so ist das sicher kein Fehler, der aus Pisate oder Pisaios entstand.
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Dyspontion, das Stephanus bei dieser Gelegenheit explizit als Polis der Pisaten charakterisiert. 14 Hier lassen sich entweder zwei Traditionslinien ausmachen, von denen eine nur elische Sieger nennt, die andere hingegen auch solche aus Pisa, oder aber die pisatischen Sieger sind bis zu der bei Eusebios erhaltenen Version der Olympionikenliste verloren gegangen. Während sich die späteren Quellen ab dem 4. Jh. bezüglich der Agonothesien widersprechen, fehlen in den Quellen des 5. Jh. - Pindar und Herodot - Hinweise auf die Kenntnis solcher Streitigkeiten. Pindar bezeichnet das Heiligtum von Olympia und seine unmittelbare Umgebung als Pisa und verwendet es als Synonym fur Olympia (Pindar Ο. XIV 23). 15 In Pisa werden die Olympischen Siege gewonnen (Ο. I 18. IV 11. XIII 29), der heilige Hain des Zeus liegt in Pisa (Ο. VIII 9. II 3. VI 5. X 43-5), und Herakles veranstaltet die ersten Spiele in Pisa (Ο. II 4). Daß für Pindar Pisa ein Teil von Elis ist, geht aus seiner Bezeichnung als akroterion Alidos (Ο. IX 7), als Ausbuchtung der elischen Landschaft, hervor. Pisa ist mithin der in diesem Fall poetische Name der Landschaft um Olympia und das liegt in Elis. 16 Pindars Oden läßt sich nicht entnehmen, daß zwischen Pisa und Elis ein Antagonismus herrschte. Auch Herodots Maßangabe (II 7) des Weges vom Zwölfgötteraltar in Athen bis nach Pisa und dem Zeustempel in Olympia bestätigt die Zusammengehörigkeit von Pisa und Olympia. 17 Selbst Herodots Geschichte (II 160) über die elischen Gesandten, die zu Psammetichos II. reisten und ihn um Rat fragten, ob die Ägypter eine gerechtere Ordnung fur die Abhaltung von Spielen erfunden hätten, können wir nicht entnehmen, daß dieser Zweifel an der rechtmäßigen Agonothesie der Eleer hegte. Diese Anekdote läßt sich schlecht als terminus ante quem für die Ausschaltung eines pisatischen Anspruchs auf Olympia verwenden, denn dies setzt eine Annahme voraus, die erst noch zu beweisen ist.18 Ebenso wenig tritt Pisas Anspruch auf Olympia in Herodots Bericht (VI 127, 3) vom Frevel des Pheidon in Erscheinung, der den Eleern die Leitung der Spiele entriß. Die Ungereimtheiten der Quellen versuchte Niese 1910 aufzulösen, indem er die Nachrichten von der elisch-pisatischen Auseinandersetzung um das Heiligtum von Olympia und dessen Spiele zur historischen Fiktion erklärte. Der Streit, der sich zwischen dem um 364 v. Chr. existierenden pisatischen Staat und Elis um Olympia erhob, warf nach Niese seine
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Vgl. Phlegon FGrHist 257 F6, das an F4 anschließt und einen Eleiön ek Dyspontiou als Sieger des Wagenrennens der 27. Ol. benennt. Phlegon F7 (ap. Steph. Byz. s.v. Λ ή ν ς ) könnte auf einen pisatischen Sieger der 48. Ol. verweisen. Die IvOlympia 11 (LSAG 2 220 Nr. 8: ca. 50CM75 v. Chr.; Koemer 1981, 2 0 1 - 4 ; Nomima I Nr. 21) scheint daraufhin zu deuten, daß Pisa etwas mehr als das Heiligtum von Olympia umfaßte, da einem Deukalion Recht auf Landbesitz in Pisa verliehen wird; vgl. Inglis 1998, 30. 42. Schol. Pind. Ο. X 55b Drachmann nennt Unterkünfte für Festbesucher um das Heiligtum herum ,in Pisa'. Viedebantt 1930, 24f., vertrat die Ansicht, daß Pisa nichts anderes als die Landschaft bezeichne, in der Olympia liege. E. Meyer 1950, 1753, verband die Zugehörigkeit zu Elis mit einem Vergessen durch Versinken in die Bedeutungslosigkeit, so daß der Name Pisa nur noch an dem Ort Olympia hängen geblieben sei; vgl. Siewert 1991a, 66. Niese 1910, 29. Nach Ulf 1997, 31, war Herodot der Anspruch der Eleer noch suspekt. In jedem Fall handelt es sich um eine unhistorische Anekdote des 5. Jh., vgl. Jacoby, FGrHist Illb Anm.bd 154 Anm. 63; Lloyd, Herodot Komm, ad II 160.
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Schatten bis weit in die Vergangenheit zurück. 19 Nieses kategorische Verneinung jeglicher Existenz selbständiger Pisaten vor 364 v. Chr. stieß lange Zeit auf Ablehnung. 20 Die Forschung ist seither nicht stehen geblieben und hat zudem neue Fragestellungen entwickelt. Sollte die Beendung der Auseinandersetzungen zwischen Elis und Pisa ursächlich für diverse organisatorische und politische Veränderungen in Elis und Olympia gewesen sein, muß zunächst geklärt werden, wer denn da als Pisaten Ansprüche erhoben haben soll. Um die Historizität des Datums der 50. Ol. für die endgültige Besiegung der Pisaten zu klären, sollte die alte Frage noch einmal in neuer Form gestellt werden: Seit wann existierten die Pisaten als ethnische, politisch handelnde Gruppe mit Anspruch auf ein Territorium in der Vorstellung der Griechen? Dieser Frage ist Thomas H. Nielsen in Bezug auf Triphylien nachgegangen, indem er untersuchte, zu welcher Zeit Triphylien als geographical, political and ethnic concept' existierte. 21 Legt man diese Kriterien an die Pisatis an, ergibt sich folgendes Bild:
1. Die Pisatis in der geographischen Vorstellung In den homerischen Epen werden weder Pisa noch die Pisatis, noch Olympia erwähnt. Zur Zeit des Schiffskatalogs gehörte die Gegend bis an den Alpheios zu Elis. Thryon, das am Alpheios lag, begrenzte Pylos nach Norden (Horn. II. II 591 f.) und bildete so die Grenze zwischen Elis und Pylos. 22 Im Gegensatz dazu waren die alexandrinischen Kommentatoren der Meinung, daß sich der Herrschaftsbereich des Nestor und damit Pylos weit über den Alpheios hinaus nach Norden erstreckte und somit die Pisatis einschloß. 23 Strabon (VIII 3, 2f. C337) wiederholt hauptsächlich die geographischen Vorstellungen, die Apollodor in seinem Kommentar zum Schiffskatalog vertrat. Der Widerspruch zwischen dem Schiffskatalog und seinen Kommentatoren ist offensichtlich: Gemäß Schiffskatalog scheint die Pisatis ein Teil von Elis gewesen zu sein, nach dem, was wir jedoch über Apollodors Kommentar und Strabons Vorstellung wissen, gehörte die Pisatis zu Pylos. Durch die Ereignisse des 4. Jh. erwuchs das Interesse, die Pisatis auch in homerischer Zeit zu lokalisieren, und da der Schiffskatalog zwischen Elis und Pylos keinen Raum für eine Pisatis gelassen hatte, diese Gegend auch nicht nannte, mußten die hellenistischen Kommentatoren eine ihnen bekannte Pisatis zuordnen und lokalisierten diese nördlich des Alpheios, aber zu Pylos gehörig. Aus dem Schiffskatalog kann man nur schließen, daß in einer älteren Zeit gar keine von Elis getrennte Pisatis existierte. Die vermutlich erst im 4. Jh. entstandene Vorstellung der Trennung
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Niese 1 9 1 0 , 2 7 . Viedebantt 1930; E. Meyer 1950, 1749f. Nielsen 1997, 145-157. Horn. II. II 6 1 5 - 7 zum elischen Gebiet; vgl. Strab. VIII 3, 10 (C342); Niese 1910, 25f.; 31; Siewert 1991a, 65.
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Dies wurde aufgrund des Verses Horn. Π. V 545 (Alpheios fließt durch Pylos) geschlossen, vgl. Niese 1910, 33ff., bes. 35 Anm. 3; Bölte 1938, 142-160, zur ins einzelne gehenden Quellenscheidung in Strabons Beschreibung Triphyliens; E. Meyer 1950, 1740-2; Maddoli 1991, 154; Inglis 1998, 20ff.; 48f. zum Gebiet der Epeier.
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der Pisatis von der Koile Elis, die die alexandrinischen Grammatiker aus Homer herauszuinterpretieren suchten, darf als Grundlage der pisatischen Ansprüche auf Olympia gelten. 24 Pausanias (V 1, 6f.; VI 21, 3 - 5 ) hat dagegen eine ganz eigentümliche Vorstellung der geographischen Lage der Pisatis. Bei ihm liegt sie südlich vom Alphaios, g e g e n ü b e r von Olympia', das dadurch von der Pisatis getrennt wird. Die Trennung der Pisatis von Olympia vereinfachte gewiß die Argumentation, Olympia habe nie den Pisaten, sondern immer den Eleern gehört, doch andererseits verbindet auch Pausanias in vielen alten Geschichten Olympia mit mythischen Pisaten, so daß dies wenig stimmig erscheint. Carl Robert erklärte die Unklarheiten der Lokalisierung mit der Versetzung dieser Passage an eine Stelle, für die sie ursprünglich nicht geschrieben war. 25
2. Die Pisatis als politische Größe 365 v. Chr. provozierte Elis den arkadisch-elischen Krieg und verlor zum zweiten Mal nach 400 einen großen Teil seines Territoriums, neben dem Bergland Akroreia diesmal auch die Gegend um Olympia, die für kurze Zeit zum Staat der Pisaten erklärt wurde. 2 6 Die 104. Olympischen Spiele fanden unter pisatischem Vorsitz statt. Die Eleer nahmen dies nicht ohne weiteres hin und marschierten nach Olympia, wo sie den Arkadern eine Schlacht direkt im Heiligtum lieferten. 27 Von der staatlichen Autonomie zeugen ein Bündnisvertrag zwischen Pisaten, Arkadern, Messenien, Sikyon und Akroreia, 28 ein Proxeniedekret 29 sowie eine Liste mit Proxenoi. 30 Neben dieser Episode politischer Autonomie berichten die literarischen Quellen von einem um die Vorherrschaft in Olympia kämpfenden Pisa. Pausanias steigert Pisas Geschichte durch weitere historisch-politische Erzählungen über Tyrannen, die mit Versuchen, von der elischen Herrschaft abzufallen, verquickt werden. In Pisa herrschten nach Pausanias' Angaben grausame und rohe Tyrannen. Pantaleon tötete einen seiner Gegner, der sich gegen den Abfall von Elis wandte (VI 21, 1) und riß die Leitung der 34. Olympischen Spiele (644 v. Chr.) an sich. Ihm folgte Damophon, der während der 48. Ol. (588/5 v. Chr.) König war, als ihn die Eleer verdächtigten, einen Aufstand gegen sie zu planen (VI 22, 3). Nach ihm herrschte noch sein Bruder Pyrrhus, der schließlich von den Eleern endgültig besiegt wurde (VI 22, 4). Nimmt man diese Erzählung ernst, wurden die Tyrannen von Pisa kurz nach der 48. Ol. gestürzt und die Pisaten endgültig in das elische Gemeinwesen integriert. Diese Stelle bildet, 24 25 26 27 28
Niese 1 9 1 0 , 4 6 . Robert 1 9 0 9 , 2 3 7 - 2 4 1 . vgl. Roy 1971, 584 zum historischen Ablauf. Xen. hell. VII 4, 2 8 - 3 2 ; Paus. VI 4, 2; 8, 3; 22, 3; Diod. X V 78, 1 - 3 . SEG XXII 339, Bengtson, StdA II2 285a, SEG X X I X 405, SEG XXXII 411; vgl. Diod. X V 78, 2. DuSanic 1979, 117-128, lieferte eine Lesung, die durch einen Neufund (Mallwitz 1981, 9 9 - 1 0 1 Taf. la) widerlegt wurde, vgl. Siewert 1994a, 262ff.; Beck 1997, 77 Anm. 70; Ringel, Siewert, Taeuber 1999.
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IvOlympia 36, Syll. 3 171. IvOlympia 31; SEG XXII 358; SEG X X X V I 390.
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neben der Angabe bei Pausanias (V 9, 4-6), in der 50. Ol. sei die Zahl der Hellanodikai auf zwei erhöht worden, die Quelle fur die These, der Konflikt sei zwischen 580 und 570 mit der Besiegung Pisas durch Elis gelöst worden. Die Historizität ist jedoch leider dubios. Pantaleon ist mit entsprechender Tyrannentopik in Aristoteles' Eleion politeia erwähnt worden, doch tauchen Nachrichten über pisatische Tyrannen - oder Könige - eben erst im 4. Jh. auf.31 Bei Pausanias ist Pantaleon einmal basileus (VI 22, 2), einmal Tyrann (VI 21, 1), was an sich nicht viel besagen will. Die bei Apollodor (FGrHist 244 F 334 ap. Strab. VIII 4, 10) überlieferte Unterstützung der Messenier im 2. Messenischen Krieg durch Pantaleon ist sicher unhistorisch, denn die Pisaten werden zum Gegenbild der spartafreundlichen Eleer stilisiert. Darüber hinaus handelt es sich, wie Klaus Tausend nachgewiesen hat, um ein Konstrukt politischer Konstellationen des 4. Jh. 32 Die ganze Geschichte scheint mir denn auch eher, wie Massimo Nafissi gezeigt hat, zur Tendenz des Pausanias zu passen, partikularistische Bestrebungen negativ darzustellen, 33 sowie darüber hinaus eine Begründung der definitiven Lösung der Pisatenfrage durch die Eleer zu liefern als auf historischen Fakten zu beruhen. Der Versuch einer Erklärung der Befriedung der aufgebrochenen Gegensätze zeigt sich noch an anderer Stelle, wo Pausanias die Eroberung der Pisatis mit dem Entstehungsmythos des Kollegiums der 16 Frauen, die den Peplos fur Hera woben und den Heraia der Mädchen vorstanden, verknüpft. Ein Pausanias bekanntes aition erklärte die Entstehung dieses Kollegiums mit dem Wunsch, den elisch-pisatischen Konflikt zu lösen und Frieden mit Pisa zu schließen. Zu diesem Zweck wurde aus jeder der 16 elischen Poleis, die damals noch bewohnt waren, 34 eine Frau ausgewählt. Pausanias zählte einst auch die 16 Städte auf, doch klafft hier leider eine Lücke im Text und alle Namen bis auf den von Elis selbst sind verloren. Wir müssen uns auf die Aussage des Pausanias verlassen, daß es sich um ein rein elisches Gremium handelte. Interessanterweise wird hier zwischen bösen Tyrannen und unschuldiger Bevölkerung differenziert - ein Argument, das an die jüngsten politischen Ereignisse in Afghanistan denken läßt und auch dort der Befriedung dient.
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Aristoteles ap. Herakleides Lembos, Excerpta Politiarum 22f., 1-3 Dilts; vgl. Niese 1910, 47, der ihn als ursprünglich elischen Tyrannen betrachtete. Beloch, GG I l 2 386 Anm. 1, hielt dies f ü r wenig überzeugend, denn wo hätte Aristoteles ihn sonst erwähnen sollen, da er keine Politie der Pisaten schrieb. Pantaleon scheint, versehen mit entsprechender Tyrannentopik, sowohl f ü r Elis als auch f ü r Pisa in Anspruch genommen worden zu sein. Jacoby, FGrHist Illb Komm. 234, zweifelt, ob diese Schauergeschichte wirklich ,den historischen König' betrifft, hält ihn aber möglicherweise f ü r eine historische Figur des 2. Messenischen Krieges. Tausend 1992, 153f.; vgl. auch E. Meyer 1950, 1751. Nafissi 2001, 314f., zufolge hat Pausanias die Unabhängigkeitsbewegungen nach 146 v. Chr., die gegen eine regionale Einheit gerichtet waren, in eine ferne Vergangenheit zurückprojiziert und alle gegen Elis gerichteten Abfallbewegungen wie die der Pisaten als negativ hinstellt. Die bei Pausanias sichtbaren Aussöhnungsbemühungen zwischen Elis und Pisa könnten aus der Zeit stammen, als Pisa nach der kurzen Autonomie wieder in den elischen Verband zurückkehrte. Paus. V 16, 5; etwas weiter (V 16, 7) spricht Pausanias davon, daß die Eleer noch immer der alten Sitte entsprachen, nun aber, da einige der alten Poleis zerstört worden seien, je zwei aus den bestehenden acht Phylen auswählten, vgl. dazu Bultrighini 1990, 170ff., der daraufhinweist, daß aus dem Text keineswegs hervorgeht, daß von den 16 Frauen die Hälfte aus Elis, die andere Hälfte aus Pisa seien. Die 16 Städte dürften eher den Zustand vor dem Synoikismos widerspiegeln. Vgl. auch E. Meyer 1950, 1738, gegen die Verbindung dieses Kollegiums mit Pisa. Es erscheint als rein elisches Kultgremium.
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Die Frage nach dem politischen Status der Gegend um Olympia stellt sich auch im Zusammenhang mit der IvOlympia II, 3 5 in der einem gewissen Deukalion im ersten Viertel des 5. Jh. bestimmte Rechte verliehen wurden, und zwar durch die Chaladrier. Dazu gehören das chaladrische Bürgerrecht, die Iso-Proxenie, 36 die Iso-Damiourgie, sowie das Recht auf Landbesitz in Pisa. Ein Vergehen gegen seine Unverletzlichkeit soll vor dem Altar des Zeus verfolgt werden, solange der damos nichts anderes beschließt. Der Bezug auf den Zeustempel in Olympia und der Landbesitz in Pisa machen deutlich, daß diese Gemeinde in der Nähe von Olympia lag, allem Anschein nach auf der Flur, die als Pisa bezeichnet wurde. Daß dieses Gebiet zu Beginn des 5. Jh. politisch zu Elis gehörte, wird nicht bezweifelt. Wieso konnte jedoch eine Gemeinde Rechte verleihen, die wir im allgemeinen mit dem Status einer Polis verbinden? Als mögliche Erklärungen werden erwogen: Es könnte sich um elische Perioiken mit gewissen Rechten oder um Untergruppen des elischen Staates handelten, die ihr eigenes Bürgerrecht verleihen konnten. Kahrstedt argumentierte, daß eine elische Gemeinde zu dieser Zeit kein Bürgerrecht übertragen konnte, denn das hätte das von Elis sein müssen. Mithin stand diese Gemeinde außerhalb des eigentlichen elischen Staates, so daß sie folglich zu den Perioikoi gehörte. 37 Ernst Meyers Argumentation für den Perioikenstatus der Chaladrier übernahm die Lokalisierung der Pisatis durch Pausanias und vermutete das Deukalion garantierte Land südlich des Alpheios, in dem Gebiet der Pisatis, das seiner Meinung nach nicht unmittelbar elisch wurde, aber später zum Perioikengebiet gehörte. 38 Peter Rhodes soll es nach James Roy jedoch für möglich halten, daß die Chaladrier auch als konstitutiver Bestandteil des elischen Staates das chaladrische Bürgerrecht verleihen konnten. Roy erwägt die Vergabe von Landnutzungsrechten an dem Stückchen Land bei Olympia, das die Chaladrier während des Festes bewohnen konnten. 39 Auch Uwe Walter betrachtet die Chaladrier als Teil von Elis, als damos innerhalb des elischen Staates, und bezeichnet diese Inschrift als ältestes erhaltenes Bürgerrechtsdiplom, durch das Deukalion das aktive Bürgerrecht erhielt. 40 Massimo Nafissi sieht in Deukalion einen Bürger von Elis, der durch diese Rhetra Mitglied der Gemeinde der Chaladrier wird. 41 Diese komplexen Zusammenhänge lassen sich vielleicht am besten erklären, wenn man davon ausgeht, daß die Gegend um Olympia direkt zum elischen Staatswesen gehörte, 42 das
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LSAG 2 2 2 0 Nr. 8: ca. 5 0 0 - 4 7 5 v. Chr.; Kahrstedt 1927, 161-167; Koemer 1981, 201—4; Nomima I 21. Kahrstedt 1927, 161, erklärt diese Formulierung als Recht, die Gemeinde in Olympia zu vertreten. In IvOlympia 12 sollen die Proxenoi mit den Manteis die Vertragsbrüchigen vom Altar, d.h. von den Opfern, femhalten. Koerner 1981, 203, verneint, daß es sich hier um das Recht auf Amtsführung handeln könne, sondern versteht dies als Garantie des Status; vgl. Gauthier 1972, 44ff.
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Kahrstedt 1927, 161. E. Meyer 1950, 1752. Rhodes nach Roy 1997, 313 Anm. 31, dort auch die These von den Landnutzungsrechten. Walter 1993, 117f„ 123. Nafissi in einem Vortrag im Februar 2002. Er interpretiert die Eleer, die wir aus den spätarchaischen IvOlympia kennen, als stato etnico, der die Koile Elis und die spätere Pisatis umfaßte. Davon zunächst unberührt bleibt die Frage, ob das Gebiet der späteren Pisatis einst durch Elis zwangsweise eingegliedert wurde oder im Grunde schon immer enge Beziehungen zu den Nachbarn am Peneios hatte. Link 1991, 148f., stellte die These auf, die elischen Oligarchen hätten das pisatische Land nach der Eroberung 572 v. Chr. an ihresgleichen verteilt, was Eingriffe in die Poleis der Pisatis zur Folge
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El is, Olympia
und das Jahr 580 v. Chr.
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sich durch eine Bündnisstruktur einzelner Gemeinden auszeichnet und dadurch den Gemeinden gewisse Rechte zugesteht. 43 Angesichts der sich in den Inschriften spiegelnden politischen Verhältnisse in der Gegend um Olympia, die eine gewisse, von Elis unabhängige Selbständigkeit der handelnden Gemeinden zeigen (IvOlympia 9 - 1 1 ) , die allerdings ebenso wenig bekannt oder zu lokalisieren sind wie die Chaladrier, schlug Kahrstedt vor, im 6. und vielleicht noch im frühen 5. Jh. eine Amphiktyonie aus selbständigen Gemeinden um Olympia herum zu postulieren, die allmählich immer mehr von Elis dominiert wurde. 4 4 Gegen diese Hypothese wurden Einwände erhoben, da keine Zeugnisse vorhanden sind, die eine nicht-elische Phase der amphiktyonischen Verwaltung belegen könnten, und sich daher genauso argumentieren läßt, daß die in den Inschriften erscheinenden Gemeinden Mitglieder eines elischen Ethnosstaates oder Verbündete der Eleer waren. 45 Da es andererseits unwahrscheinlich ist, daß die Gegend von Olympia zum Periökengebiet der Eleer gehörte, muß sie Teil des elischen Staates gewesen sein. 4 6 Nichts deutet darauf hin, daß die Gegend vor dem 4. Jh. eine pisatische Identität ausbilden konnte, geschweige denn als politische Einheit betrachtet wurde.
3. Die ethnische Identität der Pisaten Schon Max Weber definierte eine ethnische Gruppe als Menschengruppe, die auf Grund von Ähnlichkeiten des äußeren Habitus und/oder gemeinsamer Sitten oder von Erinnerungen an Kolonisation oder Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinsamkeit objektiv vorliege oder nicht. Weber unterschied die ethnische Gruppe durch ihren Glauben an Gemeinsamkeit von der Sippe, die
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hatte. Als einziges Beispiel fuhrt er IvOlympia 11 an, die aber ganz klar 100 Jahre später als die von Link postulierten Vorgänge datiert ist. Dies kann hier nicht der Ort sein, die Möglichkeiten staatlicher Ordnung der Griechen zu untersuchen. Funke 1997, 145, weist daraufhin, daß die verfassungs- und staatsrechtlichen Strukturen weitaus vielfältiger und differenzierter waren als oft angenommen und erläutert anhand der Aitoler verschiedene Konzepte, griechische Staatswesen neben und über der Polis zu beschreiben. Kahrstedt 1927, 161 ff. Der These von der Amphiktyonie folgen Siewert 1991b, 81-84; Siewert 1994a, 257-264; Siewert 1994b, 27-31; Taita 1999, 149-186; Taita 2000, 147-188. vgl. Gauthier 1972, 43ff.; Tausend 1992, 58; Nafissi im Vortrag vom Februar 2002. Roy 1997, 296, meint, selbst wenn jemals eine Amphiktyonie existiert hätte, wäre sie als Instrument elischer Kontrolle schnell verkommen. Die Ausdehnung und der Status der Pisatis wird entweder durch Strabons Angabe der ,acht Poleis', wofür er jedoch die einzige Quelle darstellt, bestimmt. Da keiner dieser Orte in der Liste der Perioiken bei Xenophon (hell. III 2, 30; vgl. E. Meyer 1950, 1739) erscheint, wird geschlossen, daß die Pisatis vollkommen in den elischen Staat eingegliedert wurde (Niese 1910, 11; Roy 1997, 283 mit Anm. 12). Oder man geht von den bei Xenophon genannten Poleis aus, die in den Perioikenstatus fielen und in Anlehnung an Demetrios (-Artemidoros) bei Athenaios VIII 346bc im Gebiet des gesamten Alpheiostals bis zur Küste lagen (Siewert). Ebert, Siewert 1999, sehen in einer Bronzeurkunde des letzten Viertels des 6. Jh., die ,die Eleer und ihre Symmachie' erwähnt, eine Stütze der Kahrstedt'sehen These von einer Ampiktyonie. Doch sind eine Amphiktyonie und eine Symmachie zwei verschiedene Dinge, wie auch Ebert, Siewert 1999, 404, zugeben. Während erstere der Verwaltung eines Kultes dient, liegt die Funktion der Symmachie eindeutig auf militärischem Gebiet.
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aufgrund einer realen Gemeinschaft handle. Auch betonte er die Wirkung, die die Abgrenzung zu Gruppen, deren Mitglieder anders aussehen, anders riechen, sich anders verhalten, auf den Gemeinsamkeitsglauben hat. Gerade Rassemerkmale werden so zu Grenzen, die nicht positiv gemeinschaftsbildend wirken, sondern nur durch negative Abgrenzung vom ästhetisch nicht akzeptierten äußeren Typus. Letztlich meinte er aber den Begriff der ethnischen Gemeinschaft bei exakter Begriffsbildung besser ganz über Bord werfen zu sollen. 4 7 Webers Einsicht in den subjektiven Charakter des Gemeinsamkeitsbewußtseins ethnischer Gruppen konnte sich jedoch nicht überall durchsetzten, so daß sich lange Zeit ein essentialistisches Verständnis von Ethnizität behauptete, nach welchem objektivierbar erscheinende Merkmale wie Sprache, Herkunft, Territorialität und Religion zur Bestimmung ethnischer Gruppen herangezogen wurden. Untersuchungen zeigten jedoch, daß die Prägung eines Wir-Bewußtseins der Interaktion mit anderen sozialen Gruppen, die sich in bestimmten Zügen unterscheiden, bedarf. Eine ethnische Gruppe definiert sich mithin im Verhältnis zu anderen Gruppen und dies fließend und situationsgebunden, ihr diskursiver Charakter ist relational und situativ. Obwohl Ethnizität als ein ideologisches Konstrukt erkannt wurde, ist das Problem ethnischer Gruppen nicht gelöst, denn existieren sie einmal, werden sie zu realen, geschichtsmächtigen Größen. 4 8 Daher werde ich im folgenden einer möglichen ethnischen Identität der Pisaten anhand von fünf Punkten nachgehen.
a.
Abstammungsgemeinschaft
Der griechischen Kultur ist das Denken in ethnischen Einheiten keineswegs fremd. Poleis und polisübergreifende Verbände wurden als Verwandtschaftsgruppen angesehen und so dargestellt. Die Gründungsväter dienten als Bezugspunkt und Klammer ethnischer Identitat. 49 Auch die Pisaten legten sich einen eponymen Gründungsheros namens Pisos zu, der eine Gattin namens Olympia hatte, die ihrerseits eine Tochter des Arkas, des eponymen Heros der Arkader, war. 5 0 Indem Pisos eine Tochter des Arkas heiratete, wurden die Pisaten in der Vorstellungswelt der Griechen nicht selbst zu Arkadern, sondern mit ihnen v e r w a n d t s c h a f t lich' verbunden. Diese Mythenversion ist zwar erst spät belegt, paßt aber hervorragend in die 360er Jahre, als die Pisatis einen unabhängigen Staat bildete und mit den Arkadern einen Bündnisvertrag schloß.
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W e b e r 5 1 9 7 6 , 237ff. vgl. Mahmood 1992, 1 - 1 4 ; Hall 1995, 83f.; Hall 1997, 1-3. 17f.; Jones 1997, 6 5 - 7 9 , zu den instrumentalist' und ,primordialist' Ansätzen; Kohl 1998, 2 6 9 - 2 8 7 ; Luraghi 2001, 293f.; Gehrke im Druck. vgl. Luraghi 2001, 293f. Etym. Mag. 623, 16f s.v. ' Ο λ ύ μ π ι α vgl. 673, 13 s.v. Π ί σ α ; Η. Herter, RE XVIII 1 (1939) s.v. Olympia (2), Sp. 174f.; Roy 1997, 316 Anm. 68; Roy 2000, 144, behandelt die Pisatis als Beispiel fur Beschränkungen, die ethnische Identität zu wechseln. Eponyme Gründungsheroen sind kein Kennzeichen für sehr alte Überlieferungen; vgl. Lorenz 1996, 50ff.; Taita 2000, 172f. Anm. 77. Zudem weisen sie in diesem Falle auch keine Genealogisierung möglicher Nachkommen auf, sind also nur an bestehende Stammbäume angehängt und nicht integriert.
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Pisa wurde in das Geflecht griechischer Stammbäume eingegliedert, in dem Pisos als Sohn des Perieres, der wiederum Sohn des Aiolos war, bezeichnet wurde. 51 Aiolos war Sohn des Hellen und Bruder des Xouthos und des Doros und herrschte über Teile Thessaliens. 52 Er bekam von Enarete sieben Söhne, in denen sich die Vorstellung einer Ausbreitung des aiolischen Stammes spiegelt: unter ihnen Salmoneus, Eponym von Salmone, 53 und Perieres, König der Messenier. 54 Salmoneus' Abstammung von Aiolos gehört deutlich in eine ältere Schicht von Abstammungsmythen als die Verbindung des eponymen Pisos mit Perieres, und dürfte zunächst durch seine Lokalisierung am Alpheios mit Elis verbunden gewesen sein. Erst als Salmone eine Polis der Pisatis wird (Strab. VIII 3, 31), wechselt Salmoneus in die Reihe pisatischer Heroen. Das Konzept, das Pisos zum Nachkommen eines messenischen Königs macht, ist dennoch interessant. Es kann erst nach Leuktra entstanden sein, nachdem die messenische Geschichte geordnet worden war, und dürfte mithin Konstruktionen des 4. Jh. entsprechen, nach denen die Pisaten die Messenier im 2. Messenischen Krieg unterstützten. 55 Die Eleer leiteten sich hingegen aus einer anderen Linie her: Deukalion hatte neben seinem Sohn Hellen, auf den sich die Pisaten über Aiolos zurückführten, eine Tochter namens Protogeneia, die Zeus einen Sohn gebar, der als der erste König von Elis bezeichnet wird: Aethlios, Vater des Endymion. 56 Endymion herrschte über Elis und galt als einer der Gründer der Olympischen Spiele. 57 Er bekam drei Söhne: Aitolos, der in das später nach ihm benannte Gebiet Nordwestgriechenlands vertrieben wurde; Paion, der in das Gebiet jenseits des Flusses Axios auswanderte, das daraufhin Paionia genannt wurde; und Epeios, nach welchem die Epeier ihren Namen hatten. Seine Tochter Eurykyda hatte einen Sohn namens Eleios, der nach Epeios und Aitolos die Herrschaft über Elis innehatte und den Bewohnern dieser Landschaft den Namen Eleer gab. 58 Durch diesen Stammbaum werden Aiolos, von dem die Pisaten abstammen, und Aethlios, der erste König von Elis, zu Cousins, Aiolos stammt über Hellen von Deukalion ab, Aethlios über seine Mutter Protogeneia. 59 Die elisch-
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Paus. VI 22, 2; vgl. IV 2, 2ff., V 17, 9. Im Schol. Theok. IV 29/30b Wendel wird Pisos zum Sohn des Aphareus, eines mythischen Königs der Messenier, der als Sohn des Perieres bekannt ist. Nach Hall 1997, 48, ist die Abstammungslinie des Aiolos ein recht altes Element des Deukalionidenstammbaums, da sie einmal mit Thessalien verbunden ist, wo die ersten Hellenen verortet wurden (Thuk. I 3; vgl. West 1985, 53), zum anderen, weil Aiolos als einzigem Sohn des Hellen im ps.hesiodeischen Frauenkatalog ein Epitheton zugedacht wurde (F9) und weil er an der Spitze entwickelter lokaler genealogischer Traditionen steht. Fowler 1998, 9, sieht im ps.-hesiodeischen Frauenkatalog das Ende der Revision des Stemmas des Hellen; vgl. 11 zur Bedeutung Thessaliens für die Ausgestaltung des Stammbaums des Hellen. Ursprünglich war Salmoneus in Thessalien beheimatet, bei Eur. Aiolos F29 Jouan, van Looy, F14 Nauck ap. Strab. VIII 3, 32 (C356) schon am Alpheios; vgl. Diod. IV 68, I; Schol. Pind. P. IV 190 Drachmann für die Genealogie des Salmoneus. Ps.-Hes. cat. F10 MW; Apollod. I 7, 3; Paus. IV 2, 2ff. Apollodor FGrHist 244 F 334 ap. Strab. VIII 4, 10; vgl. Tausend 1992, 153f., der zeigen konnte, daß es sich um ein Konstrukt politischer Konstellationen des 4. Jh. handelt; vgl. S. 255. Ps.-Hes. cat. F245 MW; App. FlOa, 58-65 MW; Apollod. I 7,5; Paus. V 1, 3. Sein Name ist sprechend und deutet auf den Zusammenhang mit den Agonen und Siegesprämien in Olympia: τά άεθλα. Paus. V 1 , 3 - 5 . 8 , 1. Paus. V I , 3-8. vgl. West 1985, 52f.
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aitolische Linie führt sich zwar auf Deukalion zurück, 60 aber über eine andere Linie als die des Hellen, aus der sich über Aiolos die Pisaten herleiten. Die Abstammung aus verschiedenen Linien des Deukalion scheint in einer späteren Version aufgelöst worden zu sein, deren Spuren sich in den Scholien zu Pindars Olympischer Ode I und Theokrits Idylle IV finden. Mit Hilfe einer gewissen Pise, Tochter des Endymion, 61 werden die Pisaten in die Linie des Aethlios und Endymion versetzt, Pise zur Schwester des Aitolos und Epeios. Die Gemeinschaft der Pisaten ist auf diese Weise konzeptionell näher mit Elis verwandt, allerdings genealogisch nicht als Nachfahre von Elis, sondern in derselben Generation wie die Epeier.
b.
Ethnonym
Als weiteres Indiz für Ethnizität wird die Existenz eines kollektiven Eigennamens angenommen. Es ist zwar davon auszugehen, daß keine ethnische Gruppe ohne Ethnonym auskam, aber die umgekehrte Schlußfolgerung führt in die Irre, da sich natürlich auch politische, soziale und ökonomische Gruppen durch Namen abgrenzen, was bei Forschern, Reisenden und britischen Kolonialbeamten zu mancherlei Mißverständnissen führte. 62 So bezeichnen sich Gruppen auch je nach Situation verschieden, ob sie im Sommer in den Bergen leben oder im Winter im Tal, ob sie sich gegenüber Nachbarn oder gegenüber Fremden erklären. Viele Gruppen verdanken ihre Namen dem Klassifizierungsbestreben der Wissenschaftler, so daß Wenskus vor Namen, die nur in geographischen Quellen wie Strabon oder Ptolemaios auftauchen, warnte. Gerade in den Selbst- und Fremdbezeichnungen mag man die dynamische und diskursive Natur der ethnischen Identität besonders gut studieren. Das Ethnikon Pisates wird vor dem 4. Jh. nur für mythische Figuren verwendet. 63 Wie der kollektive Eigenname der Eleer, die sich als ,Leute vom Tal' bezeichneten, dürfte die Bezeichnung Pisates von der Gegend um Olympia abgeleitet sein, zumal die Existenz eines Ortes namens Pisa nicht gesichert und eher unwahrscheinlich ist.64
60
Nach West 1985, 139ff., zeigt sich hier die Anerkennung einer Verwandtschaft zwischen Eleern und Aitolern und die elische Übernahme der aitolischen Heroentradition. Taita 2000, 170-173, verknüpft die Entstehung der Verwandtschaftsbeziehung zwischen Eleern und Aitolern (so hätten sich die Mitglieder der Amphiktyonie von Olympia bezeichnet, vgl. Siewert 1994b, 29; Ebert, Siewert 1999, 403f.) mit der Besiegung der Pisaten zwischen 5 8 0 und 5 7 0 v. Chr. Doch scheint die Verwandtschaft zwischen Aitolos über Endymion mit Aethlios, dem ersten König von Elis, sowie deren Verbindung mit Olympia bereits länger verwurzelt (Ps.-Hes. cat. App. FlOa, 5 8 - 6 5 MW); vgl. West 1985, 6 0 mit Anm. 67; jetzt vor allem Gehrke im Druck, der die elischen Abstammungsmythen stratigraphisch aufschlüsselt.
61
Schol. Pind. Ο. I 28d Drachmann; Schol. Theok. IV 29/30b Wendel. Taita 2000, 176f., interpretiert diese Überlieferung als Resultat pro-elischer Propaganda.
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vgl. Wenskus 1961, 61; Behrend, Meillassoux 1994, 12; Hall 1997, 25. Niese 1910, 29f.; vgl. E. Meyer 1950, 1735 zu Formen des Ethnikon. Strab. VIII 3 , 3 1 (C356) kennt keine polis Pisa; Schol. Theoc. IV 29/30c Wendel bezeichnet Pisa gar als τ ό π ο ς έ ν 'Ολυμπία. Gschnitzers Entwurf (1955, 1 2 0 - 1 4 4 ) einer Unterscheidung zwischen Orts- und Stammgemeinden dürfte uns hier wenig weiterhelfen. Seiner Erklärung der Ortsgemeinden als politischem Zusammenschluß von Nachbargemeinden kann man noch folgen, die der Stammesgemeinden führt zu viele inzwischen unhaltbar gewordene Voraussetzungen der Landnahme durch große
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Vor der Staatswerdung Pisas gibt es einen Hinweis auf Ansprüche der Umwohner von Olympia auf die Aufsicht der Spiele, sie werden aber nicht namentlich genannt: Xenophon {hell. III 2, 31) erwähnt, daß die Spartaner nach ihrem Sieg über die Eleer zwar die Perioiken befreiten, den Eleern aber nicht die Aufsicht über das Heiligtum in Olympia nahmen, obwohl es ihnen ursprünglich nicht gehört hätte. Diejenigen aber, die es ihnen streitig machten, seien nur als choritai, Bauerntölpel, betrachtet worden, denen man die Leitung nicht zutraute. Als Pisaten bezeichnet er sie nicht, geradeso als wäre ihnen das Ethnonym Pisaten erst durch die kurze Phase staatlicher Autonomie zuteil geworden. 65
c.
Sprache
Die Sprache als spezifisches ,Massenkulturgut' (Weber) erzeugt unter den Trägern einer gemeinsamen Sprache ein dauerhaftes Gemeinschaftsgefühl. 66 Jonathan Hall kommt jedoch bei der Untersuchung der griechischen Dialekte zu dem Schluß, daß sich ethnische Gruppen nicht in erster Linie durch ihre Dialekte definieren und sie folglich nicht einzig aufgrund linguistischer Merkmale zu bestimmen seien. Gruppen können sich zwar aktiv durch Sprache abgrenzen, aber es wäre irrig, Sprache als Kriterium von Ethnizität zu betrachten. 67 Daher ist der Versuch Kiechles, einen triphylischen und einen pisatischen vom elischen Dialekt abzugrenzen, durchaus problematisch. 68 Kiechle stellte die These auf, daß die Aiolismen in den elischen Inschriften von Olympia nicht einem von den nordwestgriechischen Einwanderern überdeckten Substrat im eigentlichen Elis entstammen, sondern einem in der Pisatis und wohl auch in Triphylien erhaltenen geschlossenen, stark aiolisch gefärbten Dialektgebiet. Diese Annahme arbeitet nicht nur mit der Voraussetzung, die Pisatis sei wie Triphylien ein ursprünglich autonomes Gebiet gewesen, das sich sprachlich von Elis unterschied - eine Behauptung, die erst bewiesen werden muß - , sondern ignoriert auch die Tatsache, daß die Funde der elischen Inschriften fast ausschließlich aus Olympia stammen und
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einwandernde Stämme, die dann bei Seßhaftwerdung zersplittern, mit sich; vgl. U l f 1996, 2 7 6 - 2 7 9 zur Kritik. Niese 1910, 11 Anm. 5. 43f., erklärte diese Bemerkung zur späteren Korrektur des Xenophon, die unter dem Eindruck der Ereignisse von 364 erfolgt sei. Es ist prinzipiell möglich, daß Xenophon diese Bemerkung erst nach 365/4 in seine Erzählung vom elisch-spartanischen Krieg einfugte, denn er arbeitete an den letzten Büchern seiner Hellenikä noch nach 358/7. Lendle 1992, 112, spricht von einer Endredaktion, die Xen. noch durchgeführt haben soll. Dillery 1995, 12ff., gibt einen nützlichen Abriß der Debatte zwischen ,Unitariern' und ,Analysten'. Er selbst glaubt, der zweite Teil ab II 3, II sei erst nach der Schlacht bei Mantinea (362) geschrieben worden.
66 67
W e b e r 5 1 9 7 6 , 238. Hall 1995, 8 3 - 1 0 0 ; Hall 1997, 177-181; vgl. Ulf 1996, 248f. 276, gegen die Annahme einer Gleichsetzung von Dialekt und Stamm.
68
Kiechle 1960, bes. 363. Striano 1991, 139-143, sieht keinerlei linguistische Grundlage für einen triphylischen Unter-Dialekt, und aus der Untersuchung von Thevenot-Warelle 1988, die den elischen Dialekt phonetisch und phonologisch untersucht, aber zu dem hier interessierenden Problem keine Stellung bezogen hat, ergeben sich keine Differenzierungen innerhalb des elischen Dialekts. Siewert 1987, 275f., unterscheidet einen Dialekt von Olympia und einen des südlichen Triphylien und spricht sich gegen die Vermutung aus, die nordwestgriechischen Elemente in Nordtriphylien und der Pisatis könnten auf die ab 5 7 0 errungene Oberherrschaft der Eleer im Alphaios-Tal zurückgehen. Im übrigen wird man Siewerts neues Corpus der IvOlympia mit weiteren unpublizierten Inschriften abwarten müssen.
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zudem chronologisch einer Zeit zugeordnet sind, in der Elis bereits ein entscheidendes Gewicht in Olympia zugesprochen wird. Argumentiert man wie Kiechle, daß die Eleer darauf geachtet hätten, daß die in ihrem Einflußbereich in Olympia aufgestellten Inschriften den von ihnen gesprochenen nordwestgriechischen Dialekt gezeigt hätten, 69 können die bekannten Inschriften gar keine dialektalen Abweichungen aufweisen. Die von Kiechle beobachteten Aiolismen dürften denn auch zum in dieser Gegend gesprochenen Dialekt gehören. Neuere Untersuchungen belegen, daß der aiolische Dialekt eine große Anzahl linguistischer Merkmale mit dem in Elis gesprochenen westgriechischen Dialekt teilt. 70 Befreit man sich zudem von dem Gedanken, daß sprachlicher Wandel immer mit Wanderungsbewegungen einhergeht, 71 erscheinen die Aussagen antiker Gelehrter in einem anderen Licht. Strabon berichtet, daß die Bevölkerung, die Oxylos und die Aitoler aufnahm, aiolisch sprach und dem aiolischen genos entstammte. Nach Strabon ergaben sich durch die Wanderungsbewegungen Vermischungen des dorischen und des aiolischen Dialekts. Diese Bemerkungen sind eine Konsequenz aus der Annahme Strabons, vor der Ankunft der Dorer sei die Peloponnes von Aiolern bewohnt gewesen, die natürlich aiolisch gesprochen haben müssen, und nicht aus der Fähigkeit der Griechen, wirklich Dialektgruppen zu unterscheiden. 72 Während sich Strabons Bezeichnung der vor-elischen Bevölkerung als Aioler auf das gesamte Gebiet zwischen Achaia und Messene bezieht (VIII 3, 1 C336), wird bei Ephoros die Bevölkerung, die vor der Rückkehr der Aitoler mit Oxylos, einem Nachkommen des Aitolos, das Gebiet beherrschte, als Epeier bezeichnet. Das Heiligtum von Olympia lag hingegen in den Händen von Achaiern (FGrHist 70 Fl 15), die wie die Aioler bei Strabon als vor— dorische Bevölkerung verstanden wurden. 73 Strabon (VIII I, 2 C333) bezeichnet zwar die Achaier als aiolischen Stamm, was kaum mit sprachlichen Beobachtungen zusammenhängen kann, denn die historischen Achaier gehören zusammen mit den Lakoniern und Messeniern einer Untergruppe des westgriechischen Dialekts an. 74 Aus Strabons Äußerung ergibt sich also weder zwangsläufig, daß die ,achäische' Bevölkerung um Olympia herum und am unteren Alpheios aiolische Dialektmerkmale aufwies, noch daß sie im Gegensatz zur elischen Bevölkerung ,aiolisierte'. 75 Die Aiolismen dieser Gegend scheinen ein Phänomen des elischen Dialekts gewesen zu sein. Kiechles Aufsatz kann mithin als gutes Beispiel dafür dienen, wie wenig ethnische Gruppen durch dialektale Unterschiede aufgespürt werden können.
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74 75
Kiechle 1 9 6 0 , 3 5 0 . Hall 1997, 165 mit 155 nach BartonSk 1972, 192. 220f.; BartonSk 1979, 126f. ; vgl. auch Garcia Ramon 1997, 782flf. zur Sonderstellung des Elischen. Hall 1997, 162. Hall 1997, 177. Das Gebiet des historischen Achaia wird interessanterweise bei Pausanias V 4,3 in die elische Frühgeschichte übertragen: Oxylos wird durch ein delphisches Orakel aufgefordert, einen Synoikisten zu suchen, der aus dem Geschlecht des Pelops stammt. Er findet Agorios, Urenkel des Orestes aus Helike in Achaia, der mit einigen Achaiern nach Elis umsiedelt. vgl. Hall 1997, 155 nach Bartonfik 1972, 220f. Das elische Lokalalphabet ähnelt übrigens dem von Lakonien und Arkadien, vgl. LSAG 2 2 1 6 - 2 2 1 . vgl. Kiechle 1960, 339.
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d. Materielle Kultur Jonathan Hall hat sich gegen die seit langem herrschende Vorstellung, man könne eine ethnische Gruppe aufgrund archäologischen Materials bestimmen, ausgesprochen. Es bedürfe in jedem Falle weiterer Zeugnisse. Dagegen könne die Archäologie aufzeigen, wie sich bestehende ethnische Gruppen aktiv abgrenzen. 76 Bei der Suche nach archäologisch fixierbaren Abgrenzungsbemühungen der Pisaten stößt man auf mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede mit benachbarten Gebieten der nordwestlichen Peloponnes. Die geometrische und subgeometrische Keramik des 8. und 7. Jh., obwohl die Funde sehr spärlich sind, weist in den Flußtälern des Peneios und des Alpheios eine weitgehend homogene Dekoration auf. Der Ton deutet aber auf unterschiedliche Produktionsstätten.77 Die Bronzefunde sind hingegen generell schwieriger als Nachweis kultureller Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zu interpretieren, denn deren Typologien sind überregionaler als die sog. lokaler Keramik. 78 Die Funde aus dem Gebiet der späteren Stadt Elis und Olympias mit dessen Umgebung deuten eher auf Homogenität hin, als daß sich eine kulturelle Abgrenzung der Pisatis im archäologischen Befund manifestieren würde.
e.
Traditionsgemeinschaft
Reinhard Wenskus hat einst die Ethnogenese der gentes der Völkerwanderungszeit untersucht und dabei festgestellt, daß die ethnische Existenz einer Gemeinschaft in dem Moment beginnt, an dem sie eine historisch-ethnische Tradition entwickelt hat.79 Eine kollektive Identität ist daher immer auch Ergebnis eines kreativen Umgangs mit Traditionen. Dabei ist die Rede von der .Invention of Tradition' (Hobsbawm und Ranger) eine praktische und griffige Formulierung, die man natürlich nicht zu wörtlich nehmen sollte. 80 Niese hat sicher
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Hall 1997, 111-142, bes. 142; vgl. auch die anregende Studie von Jones 1997. Morgan 1990, 49-56, bes. 52, 235-247. Hingegen konstatiert Eder 2001a, 107f., zunächst wenig Entsprechung zwischen der früheisenzeitlichen Keramik des Alpheiostals und den Gräbern der Stadt Elis, betont aber andererseits, daß der Vergleich aufgrund unterschiedlicher Zeitstufen der Befunde, der sehr geringen Menge und der Unterschiede im Material problematisch sei. In geometrischer und früharchaischer Zeit ließen sich jedoch durch die Keramik Verbindungen der Ortschaften in Elis erkennen, die auf einen landschaftsweiten Regionalstil deuteten; vgl. jetzt auch Eder 2001b. Je ein in Elis gefundenes geometrisches Stier- und Pferdefigürchen der argivisch-olympischen Gruppe (Eder, Mitsopoulos-Leon 1999, 15f. Abb. 7, 8) und eine ebenfalls von dort stammende Blattstabsima einer westgriechischen Werkstatt (Eder, Mitsopoulos-Leon 1999, 26ff. Abb. 14: 580-560 v. Chr.) weisen durch ihre Ähnlichkeiten mit in Olympia gefundenen Beispielen auf enge Kontakte, zumindest aber auf Wanderhandwerker. Nach Eder und Mitsopoulos-Leon dürfte dieselbe Werkstatt sowohl fur Olympia als auch fur Elis gearbeitet haben. Zwei bronzene Gewandnadeln in Olympia und in einem Grab in Elis entsprechen sich, sind aber aufgrund der allgemein überregionalen Typologie nicht sehr aussagekräftig. Papadopoulos 2001 hat die achäischen Kantharoi im Mutterland und der Magna Grecia untersucht und deutlich gemacht, wie überregional auch die weniger beachteten, da nicht feinbemalten Keramikstile sind. Es ist derzeit unmöglich anzugeben, ob die achäischen Kantharoi in wenigen Werkstätten produziert und von dort verbreitet wurden oder es sich um eine keramische koine der nordwestlichen Peloponnes handelte; für Elis und Olympia siehe dort S. 396-405. Wenskus 1961,54. Hobsbawm, Ranger 1983; Luraghi 2001, 302.
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zu Recht darauf hingewiesen, daß alle unsere schriftlichen Quellen bereits in Kenntnis der Ereignisse um die 104. Ol. (364 v. Chr.) verfaßt wurden, was auf deren Darstellung höchst wahrscheinlich nicht ohne Einfluß blieb. 81 Doch es scheint eher unwahrscheinlich, daß die Schaffung eines pisatischen Staates unzählige, gänzlich fiktive antiquarische Abhandlungen hervorbrachte, ohne daß auf bereits zuvor schon kursierende Erzählungen, die umgedeutet wurden, und auf Personen und Gegenstände, an denen sich die kollektive Erinnerung anlagern konnte, zurückgegriffen wurde. 82 Neben den schon behandelten, sicher erst ab dem 4. Jh. entwickelten Abstammungsmythen, die einen eponymen Pisos als Ahnherrn der Pisaten propagieren, ranken sich um Olympia die Erzählungen von Oinomaos, Pelops und Hippodameia, die im allgemeinen als Herrscher von Pisa galten. 83 Oinomaos' Verbindung mit Olympia manifestierte sich in einer Holzsäule, die nach Pausanias (V 20, 6) zwischen dem großen Altar und dem Zeustempel stand. Diese zu Pausanias' Zeiten bereits verwitterte, durch ein Dach geschützte Holzsäule, stammte angeblich aus dem Haus des Oinomaos, das durch einen Blitz entzündet abbrannte. 84 Der Mythos von der Wettfahrt des Pelops um die Braut Hippodameia und der damit verbundene Tod des Oinomaos wird gerne mit der Einführung der Wagenrennen bei den Olympischen Spielen assoziiert. 85 Einen Bezug zwischen dem Wagenrennen und der Wettfahrt des Pelops entnehmen wir Pindar (Ο. I 24), wonach Pelops Olympia gründete und das Stadion ,dromos des Pelops' (Ο. I 94f.) genannt wurde. Phlegon (FGrHist 257 Fl, 6) ergänzt, daß Pelops das Fest und die athla fur den toten Oinomaos stiftete. Dagegen steht allerdings eine andere Version Pindars (Ο. X 24), gemäß der die Agone von Herakles beim Grabmal des Pelops gegründet worden seien. Dieser Kernbestand an Mythen konnte je nach Interesse mobilisiert werden. Nach dem Synoikismos von Elis spiegelt sich die Bedeutung des Pelops im Ostgiebel des 457 v. Chr. fertiggestellten Zeustempels. Kyrieleis vermutet, daß sich der elische Staat nach dem Synoikismos eine Art Nationalheros zulegte, so wie die Athener Theseus etablierten. 86 Wie Theseus' Knochen 475 v. Chr. von Skyros nach Athen gebracht wurden, bewahrte man Pelops' Knochen in der Nähe von Olympia auf (Paus. VI 22, 1) und sein Schulter-
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Niese 1910, 27; vgl. Nafissi 2001, 308 Anm. 20. Roy 1994, 203f.; Roy 1997, 290. Oinomaos wurde bereits von Pindar Ο. I 7 0 als Pisate bezeichnet und Strabon VIII 3, 31 (C356) kennt Oinomaos, Pelops und dessen Söhne, die mit Olympia assoziiert zu Herrschern der Pisatis werden. Sie trug eine Bronzetafel, auf der ein Epigramm Auskunft über ihr Schicksal gab (Paus. V 20, 7; Anth. Pal. App. I 26 Cougny). Pausanias (V 14, 7) beschreibt in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Haus des Oinomaos einen Altar des Zeus Herkeios (als Hausgott), der Oinomaos zugeschrieben wird, und einen des Zeus Keraunios (Blitzeschleuderer), der nach dem Einschlag des Blitzes errichtet worden sein soll. H.-V. Herrmann 1972, 62ff.; 223f. Anm. 130; Kyrieleis 1990, 188, betrachten sie als möglichen Überrest eines anikonischen Kultes. So Wilamowitz 1 9 2 2 , 2 1 3 . Kyrieleis 1997, 13-27, der kurz die älteren Rekonstruktionen des Ostgiebels Revue passieren läßt (vgl. dazu auch Gronauer 1981, 258ff.; 281ff.), analysiert die Bedeutung der Szene. Sie stellt keinen einzelnen Moment im Ablauf des Geschehens dar, sondern ist eine überzeitliche Vergegenwärtigung des Mythos. vgl. Howie 1991 für eine gründliche Analyse des Mythos anhand Pind. Ο. I und der archäologischen Denkmäler. Zu Theseus siehe jetzt B. Kreuzer, Im Dienst der Polis. Politische Propaganda und ihre Helden im archaischen Athen, im Druck.
El is, Olympia und das Jahr 580 v. Chr.
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blatt, das in Pausanias' Version aus Pisa stammt, wurde von den Eleern viele Jahre nach Troja aus Euboia zurückgeholt und in Elis ausgestellt (Paus. V 13, 4-6). 87 Und was läge näher, als den Gründer der Olympischen Spiele im Zentralheiligtum von Elis zum wichtigsten Heros zu machen? So aktivierte Elis den Mythos im 5. Jh., während die Pisaten sicherlich im 4. Jh. ,ihren' Oinomaos für sich reklamierten und Pelops als Nachfolger des Oinomaos ebenso mit Pisa verbunden werden konnte. Ihm wird bei Pausanias (V 1,7) die Trennung der Pisatis vom Land des Epeios zugeschrieben. Salmoneus, der eponyme Gründer von Salmone am Ufer des Alpheios, 88 das als eine der acht pisatischen Städte galt (Strab. VIII 3, 31 C356), ist einer der Söhne des Aiolos. Schon Strabon beklagte, daß manch jüngere Autoren Augeias über die Pisatis herrschen ließen, Oinomaos und Salmoneus hingegen über Elis. Daraus läßt sich ersehen, daß für Strabon zwar die traditionelle Zuordnung in Augeias zu Elis, hierin Homer folgend, und Oinomaos und Salmoneus zu Pisa bestand, daß aber andererseits die Zuordnungen fließend waren, je nach dem, ob Pisa und Elis als getrennt dargestellt werden sollten oder Olympia als Teil von Elis reklamiert wurde. Die Pisaten des 4. Jh. konnten jedenfalls auf einen Bestand an Geschichten über ihre Könige der Heroenzeit zur Bildung einer kollektiven Erinnerung zurückgreifen. Zur Betonung der Eigenständigkeit wurden diese Erzählungen erst mobilisiert als der Gegensatz zwischen Eleern und Pisaten aufgebrochen war und sie der kollektiven Erinnerung der Pisaten dienen konnten. Insgesamt ergibt sich demnach, daß die Pisatis im 5. und zu Beginn des 4. Jh. ein integraler Bestandteil von Elis war, die Pisaten waren Eleer, ohne eigene ethnische Identität, ohne geographische Bestimmung und ohne politische Autonomie. 89 Viedebantt nahm dieses Ergebnis einst kopfschüttelnd auf: 90 „Denn hätte Niese recht, so wäre Pisa allerdings nichts anderes gewesen, als ein vorgeschobener Posten homogenen Volkstums der Eleier, der zu keiner Zeit bis zum 4. Jahrh. irgendwelche Anwandlung verspürt hätte, die in seiner Flur gelegenen olympischen Heiligtümer und das olympische Fest frei von der Bevormundung durch die mächtigere Nordgemeinde für eigene Rechnung und Gefahr in Selbstverwaltung zu nehmen. Unmöglich wäre das ja nicht, aber griechischen Verhältnissen entspricht es auch nicht."
87 88
McCauley 1998, 2 2 5 - 2 3 9 , hat die Überfuhrung der Knochen der Hippodameia von Mideia nach Olympia in den Kontext der elisch-argivischen Allianz gegen Sparta von 4 2 0 v. Chr. eingeordnet. Diod. IV 68, 1. Strab. VIII 3, 32 (C356) ist genauer, Salmone hätte an der Quelle des Flusses Enipeus gelegen, der in den Alpheios mündet. Ein Pachtvertrag gibt Auskunft über Land in Salamonai (IvOlympia 18, SGDI 1168; LSAG 2 221 Nr. 20: 425 bis Angang 4. Jh. v. Chr.), wobei unklar ist, ob Elis das Land verpachtet oder die beiden genannten Personen untereinander, wahrscheinlich ist letzteres.
89
Zu diesem Ergebnis kamen bereits Niese 1910 und Roy 1997, jeder auf seine Weise. Niese 1910, 27, hielt historische Pisaten vor 365 v. Chr. für Fiktion; Roy 1997, 283f. 297f., kommt zu der Ansicht, indem er zeigt, daß die Pisatis nicht zum elischen Perioikengebiet gehörte und daher integraler Teil des elischen Staats gewesen sein muß (so auch Niese 1910, 1 lf.).
90
Viedebantt 1930, 26f.
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Doch scheint dies gerade auch den griechischen Verhältnissen entsprochen zu haben, obwohl wir natürlich nicht wissen, ob einzelne Gruppen nicht doch hin und wieder um Einfluß in Olympia konkurrierten. Um zum Schluß auf unsere ursprüngliche These zurückzukommen, bleibt zu bemerken, daß ohne einen zwischen Elis und Pisa bestehenden Antagonismus und ohne Anzeichen, daß Pisaten einen Anspruch auf Olympia und die es umgebende Landschaft erhoben hätten, das Datum der militärischen Eroberung der Pisatis durch die Eleer bis zur 50. Ol. in Anlehnung an Pausanias oder bis zur 52. Ol. nach Eusebios als chronographische Konstruktion erscheint, die kaum bei der Datierung weiterer Ereignisse oder epigraphischer und archäologischer Quellen Verwendung finden sollte.91
91
Jacoby, FGrHist IHb Korn. Anm.bd. 143, Anm. 1, lehnte die Urkundlichkeit des Datums von 580 ab, betrachtete es andererseits aber als ungefähr zutreffend.
Elis, Olympia
und das Jahr 580 v. Chr.
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Kurt A. Raaflaub
Zwischen Ost und West: Phönizische Einflüsse auf die griechische Polisbildung?
Alexander Demandt zum 65. Geburtstag gewidmet 1
Vor mehr als hundert Jahren schrieb Jacob Burckhardt: Schon vor den Griechen hatten die Phönizier Poleis, d. h. Stadtgemeinden, städtische Staatswesen gegründet, mit Verfassungen; ihre Königtümer waren beschränkt durch Räte, deren Mitglieder die Häupter der bevorzugten Familien gewesen zu sein scheinen. Diese Städte hatten die Fähigkeit, Kolonien auszusenden, als freie Abbilder ihres heimischen Zustandes. Es war etwas Anderes als die alten Königsburgen des Orients, welche bei jeder einzelnen Nation den Mittelunkt des Ganzen vorstellten, etwas Anderes als das enorme Heerlager der assyrischen Dynastien am Tigris, als das zur gemeinsamen Burg aller Güter und Götter gegründete Baylon, als die drei wechselnden Residenzen der Achämeniden, als die Grossmärkte des orientalischen Handels und als die Tempelstädte Ägyptens: es waren bereits Bürgerschaften. Höchst aktiv, lauter feste Seestädte, ohne Kriegerkaste wie ohne Kasten überhaupt, hatten sich die phönizischen Poleis doch auf alle Weise wehrhaft zu halten gewusst. Sollte der Ehre der Griechen ein Abbruch geschehen, wenn man annähme, dass dies Vorbild nicht ohne Wirkung auf sie geblieben? ... Jedenfalls ... müssen die Griechen schon
1 Alexander Demandt gehört zu den relativ wenigen Althistorikern, deren Forschung neben der griechischrömischen Welt auch die des antiken Nahen Ostens einbezieht. Der vorliegende Beitrag sei ihm deshalb in dankbarer Erinnerung an eine fast dreißigjährige Freundschaft gewidmet. — Dies ist die überarbeitete Fassung eines Referates, das in verschiedenen Versionen an der ersten Tagung des „European Network for the Study of Archaic and Classical Greece" in Utrecht im April 2001, an der Jahresversammlung des amerikanischen Althistorikerverbandes in Lubbock, Texas, im Mai 2001, im Workshop über „Cultures and Religions of the Ancient Mediterranean" an der Brown University im Oktober 2001 und an der Tagung in Innsbruck im November 2001 gehalten wurde. Allen Beteiligten, die zur Diskussion beigetragen haben, sowie Charles Fornara, Barbara Lesko, Marek Wecowski und besonders Robert Rollinger und Christoph Ulf danke ich fur wertvolle Kritik und Anregungen. Nancy Demand danke ich für die Erlaubnis, ihr unpubliziertes Vortragsmanuskript (2001) einzusehen. Daß dies noch immer ,work in progress' ist, wird dem Kenner der Materie sofort klar werden. Vieles müßte vertieft und vor allem auch komparatistisch weiterverfolgt werden.
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Kurt A.
Raaflaub
früh auch Kunde von den Städten der phönizischen Küste und von den Kolonien derselben gehabt haben. 2 Dieser Gedanke ist in den letzten Jahrzehnten wiederholt aufgegriffen worden, etwa von Robert Drews, der glaubt, spartanische Institutionen auf phönizischen Einfluß zurückführen zu können, und von Fritz Gschnitzer, der folgert: „Die Griechen haben den Stadtstaat nicht geschaffen, sie haben ihn, wie so vieles andere, vom Orient übernommen." 3 An einer Tagung, die ich 1990 selber organisierte, erklärte Martin Bernal es als „virtually certain that slave society and the city-state of the type conventionally seen as Greek, started in Phoenicia in the 11th century BC and spread to Greece some centuries later." Solch extreme Behauptungen provozierten natürlich eine intensive Diskussion sowie schwerwiegende sachliche und methodologische Einwände, 4 aber sonst ist dieser Meinung, soviel ich weiß, selten ausdrücklich widersprochen worden. 5 Es scheint im Gegenteil zu einer weithin akzeptierten communis opinio geworden zu sein, daß die Griechen die Polis ,νοη den Phöniziern lernten' oder zumindest in deren Entwicklung maßgeblich von phönizischen Vorbildern beeinflußt waren. 6 Die Befürworter dieser Meinung haben es freilich bisher versäumt zu erklären, wie man sich diese .Verpflanzung' phönizischer Wurzeln in griechischen Boden im einzelnen vorzustellen hat und unter welchen Voraussetzungen sie sich dort zu entfalten vermochten. Mein Referat geht von dieser Frage aus und baut zum Teil auf einem Aufsatz von John Davies auf, der zu Recht betont, wie komplex diese Problematik ist und wie schwierig es hier ist, zu konkreten Lösungen vorzudringen. 7 Auch mir geht es vor allem darum, Fragen zu stellen, Zweifel zu äußern und methodologische Schwierigkeiten aufzuweisen. Ich hoffe, daß ich damit eine erneute Diskussion auslösen kann, die zu einem besseren Verständnis führen wird. Zunächst zwei Vorbemerkungen. Zum einen wissen wir alle, daß der Terminus ,Polis' problematisch ist: das Wort änderte seine Bedeutung im Lauf der Zeit und konnte zur Bezeichnung einer Vielfalt von politischen Organismen dienen, die Davies „micro-states" nennt. Dennoch handelt es sich um einen Typ mit bestimmten Charakteristika, den man als solchen mit andern Typen ,stadtstaatlicher' Organisation vergleichen kann. Im gegenwärtigen Zusammenhang scheint besonders wichtig, daß es sich, wie immer man die Polis defi-
2 3 4 5 6
7
Burckhardt 1956, 57 (Erstausgabe 1898). Drews 1979; Gschnitzer 1988 (Zitat: 301); siehe auch Oliver 1960, 57. Bernal 1993 (Zitat: 253); fiir Einwände und Diskussion s. Humphreys 1993 sowie Raaflaub/MüllerLuckner 1993, 3 6 5 - 7 0 ; 3 9 4 - 4 0 4 . Starr 1977, 101 gehört zu den Ausnahmen. Siehe etwa Snodgrass 1980, 32; Günther 1996 (mit weiterer Lit.); Murray 2000, 2 3 7 - 3 8 : If „we must provide an original stimulus, I think that the old theory that the Phoenicians were the originators o f the polis would best conform to the chronology, morphology and geographical spread of city-state urbanisation in the eighth and seventh centuries. A s a form of social organisation even in the Mediterranean area the polis is not a Greek invention at all, ... but an adaptation by the Greeks o f the type o f trading settlement that had developed on the Levantine coast. Trade therefore diffused the prototype across the Mediterranean." Davies 1997.
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niert, jedenfalls mehr um eine ,Bürgergemeinde' als einen .Stadtstaat' handelt: einen ,citizen-state' und nicht einen ,city-state'; die Stadt ist für die Polis gerade nicht konstitutiv. 8 Zum zweiten steht es natürlich außer Zweifel, daß die Griechen in der kritischen Epoche vielfach in Kontakt mit den Phöniziern gerieten, in der Levante, auf Zypern, in der Ägäis und im westlichen Mittelmeer, wo sie bereits in der Bronzezeit und erneut spätestens vom 10. Jh. an deren Partner und Rivalen in Handel und später Kolonisation waren. Ebenso unbestreitbar ist, daß sie eine Fülle von nahöstlichen und ägyptischen Einflüssen in ihre Kultur integrierten, 9 auch wenn ihre eigenen Auffassungen über den Vorgang solcher Entlehnungen oft naiv waren und Ägypten gegenüber Mesopotamien, der Levante und Anatolien unverhältnismäßig bevorzugten. 1 0 Auch sollte man sich wohl davor hüten, wie es gegenwärtig M o d e zu sein scheint, die hier ablaufenden Vorgänge als eine Einbahnstrasse zu betrachten; 11 unser Verständnis der Voraussetzungen, Formen und Grenzen solchen kulturellen Austausche ist jedenfalls immer noch sehr beschränkt. 1 2 Gewiß scheint mir, daß man zwischen verschiedenen Arten von Einflüssen zu unterscheiden hat. Die Herausbildung gemeinschaftlicher und staatlicher Strukturen ist ein komplexer Prozeß, der durch verschiedene spezifische Faktoren bestimmt wird, darunter geopolitische, demographische, ökonomische und soziale Bedingungen, den Entwicklungsstand der betreffenden Gesellschaft, die dort herrschende interne Dynamik, äußeren Druck und eben auch äußere Einflüsse aller Art. In solchen sozio-politischen Prozessen spielen auswärtige Einflüsse von vornherein eine andere Rolle als etwa in den Bereichen von Handwerk, Kunst und den dazu benötigten Fertigkeiten. Je komplexer das Objekt, um das es geht, desto komplexer hat man sich die Bedingungen vorzustellen, die eine Integration dieses Objektes ermöglichen. Handwerker und Künstler vermögen Techniken und Motive relativ rasch und einfach zu lernen und, losgelöst von ihrem kulturellen Kontext, zu übernehmen, 1 3 aber wenn es sich um religiöse, soziale und politische Ideen, Strukturen oder Institutionen handelt, werden fremde Impulse vermutlich nicht einfach übernommen, sondern umgewandelt und den vorhandenen Bedingungen und Möglichkeiten angepaßt. Ich habe das kürzlich an zwei Beispielen nachzuweisen versucht. Daß die Griechen den Brauch, Gesetze durch Inschrift auf Stein öffentlich festzuhalten, aus dem Nahen Osten
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Dazu etwa Hansen 1993, 7 - 2 9 ; Hansen 1998; zur Problematik des Polis-Begriffs: Gawantka 1985; zur Vielfalt der möglichen Organisationsformen: Gehrke 1986; vgl. jetzt auch die vergleichende Analyse von zahlreichen ,Stadtstaatkulturen' in Hansen 2000. Siehe neuerdings bes. S. Morris 1992; West 1997, die aber m. E. beide das Thema zu pauschal und undifferenziert behandeln; weitere Lit. bei Raaflaub 2000, 53 Anm. 6. Ich stelle hier auch gleich fest, daß ich trotz nicht seltener Siedlungskontinuität (Morris 1991; Welwei 1992) gegenüber Versuchen, die Ursprünge der Polis in der Bronzezeit zu suchen (van Effenterre 1985) oder sie unmittelbar aus deren Trümmern erwachsen zu lassen (S. Morris 1992, 124; vgl. auch Demand 2001) große Bedenken hege. Auch wenn vielfache Kontinuitäten nicht zu leugnen sind, so sind gerade im sozio-politischen Bereich die Diskontinuitäten markant (I. Morris 1997, 541), und die Polis läßt sich am besten als Teil eines umfassenden Neubeginns im Lauf der Dark A g e s verstehen. Lloyd 1975, 4 9 - 6 0 ; 147-49; Zhmud 1996, 6 5 - 6 9 . Raaflaub 2000, 6 3 - 6 4 . Vgl. bes. Whittaker 1974; Morel 1984, 129-34; ferner Braun 1982a, 1982b; Haider 1996 und Haiders Beitrag zum vorliegenden Band. Vgl. dazu grundsätzlich neuere Überlegungen zur Identitäts- und Kulturbildung, wozu Jonathan Halls Beitrag zum vorliegenden Band einen guten Einstieg bietet. Siehe etwa Osborne 1996, 40.
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übernommen haben, liegt nahe, auch wenn dort die Dokumentation gerade im 1. Jt. sehr dünn ist;14 für die Abschüttelung oder Erleichterung von Schulden (bekannt namentlich durch Solons seisachtheia) ist dies einigermaßen wahrscheinlich. In beiden Fällen haben die Griechen jedoch das orientalische Muster durch die Eingliederung in ihre völlig andersartigen sozialen und politischen Strukturen in seiner Funktion und Bedeutung so stark verändert, daß Termini wie ,Übernahme' oder ,Einfluß' nur einen Teil eines viel komplizierteren Vorganges abzudecken vermögen. 15 Um zwei andere Beispiele zu erwähnen, für die in jüngster Zeit ebenfalls Übernahme postuliert worden ist: Griechen, die nach Ägypten reisten, mögen von dem dort wichtigen Konzept von Gerechtigkeit (ma'at) beeindruckt gewesen sein, und ehrgeizige griechische Aristokraten schauten gewiß mit Neid zu den mächtigen und reichen Königen Lydiens hinüber, aber trotz gewisser Ähnlichkeiten ist die griechische eunomia nicht mit der ägyptischen ma'at identisch, und die archaische Tyrannis verdankt ihre Charakterzüge und historische Funktion spezifischen griechischen Bedingungen und nicht lydischen Vorbildern. 16 Im sozio-politischen Bereich scheint es also von vornherein geraten, nicht mit unverändertem Import, sondern mit komplizierten Prozessen von Anpassung und Umwandlung zu rechnen. In jedem einzelnen Fall ist zu fragen, woher und auf welchem Wege die Griechen welche Impulse aufnahmen, wie sie solche Impulse integrierten und wie diese im Verlauf solcher Integration umgewandelt und mit neuen Inhalten und neuer Bedeutung gefüllt wurden. Dies führt mich endlich zum Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, mit der ich zwei grundlegende Fragen zu beantworten versuche: Inwiefern waren die phönizischen Stadtstaaten als Muster für die griechische Polis geeignet? Und wie wahrscheinlich ist es, daß die Griechen nicht nur von diesen Stadtstaaten hörten (was bestimmt der Fall war), sondern auch so nachhaltig von dieser Kunde beeindruckt waren, daß sie sie nachzuahmen versuchten? Die meisten phönizischen Städte bestanden bereits in der Bronzezeit; sie waren Überbleibsel eines weitgespannten Systems von Stadtstaaten, das sich von Mesopotamien bis zur Levante erstreckte. Sie allein vermochten sich der völligen und permanenten Integration in die großen Territorialmonarchien des Nahen Ostens zu entziehen. Im Gegensatz zu den Stadtstaaten im Norden (besonders Ugarit) und Süden der Levante (im Gebiet der Philister) waren sie auch in relativ geringem Masse von den Umwälzungen der ausgehenden Bronzezeit und der Seevölkerstürme betroffen. Sie erholten sich bald und profitierten dann von der zeitweiligen
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Hinweis von Robert Rollinger. Piotr Michalowski macht mich ferner darauf aufmerksam, daß Keilschriftstelen in jedem Fall nur von einer kleinen Gruppe von Spezialisten (den ,Schreibern') gelesen werden konnten. Zu den Entstehungsbedingungen von Gesetzgebung in Griechenland siehe Gehrke 1993; Hölkeskamp 1994.
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Raaflaub 2000, 5 4 - 5 7 mit Lit. Für die seisachtheia sei immerhin auf die alternative Interpretation von Harris 1997 verwiesen, der einen Zusammenhang mit Land und Schulden völlig bestreitet. Übernahme: Tyrannis: Fadinger 1993; vgl. auch West 1997, 14-19; Davies 1997, 3 3 - 3 4 ; dagegen: Raaflaub 2000, 6 2 - 6 3 . Eunomia: Fadinger 1996; zur ägyptischen ma'at: Assmann 1990; zur griechischen eunomia: Ostwald 1969, 6 2 - 9 5 ; Meier 1980, 279f.
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Schwäche der großen Reiche im Süden und Osten. Erst im 9. und besonders im 8. Jh. vermochten die neuassyrischen Könige ihre Macht wieder bis ans Mittelmeer auszudehnen. 17 Die phönizischen Stadtstaaten waren also unzweifelhaft älter als die griechischen Poleis, und sie waren reich und dynamisch, als die Griechen noch in den ,Dark Ages' steckten, wie dunkel oder hell diese auch gewesen sein mögen. Über ihre politischen Strukturen wissen wir extrem wenig: im Durchschnitt sind es offenbar nicht mehr als ein bis zwei Dokumente pro Jahrhundert (auf Inschriften oder Täfelchen erhaltene Verträge oder Briefe oder Hinweise im Alten Testament), die irgendwelche Institutionen erwähnen; kein einziges gibt einen auch nur annähernd zusammenhängenden Überblick. 18 Fritz Gschnitzer versucht diese Wissenslücke durch die Überlegung zu umgehen, „daß uns die Phoiniker des Ostens auf dem Umweg über ihre nahen Verwandten doch einigermaßen faßbar sein sollten. Wir sollten ... keine Hemmungen haben, von den Phoinikern des Westens auf die des Ostens zu schließen; denn es spricht von vornherein alles dafür, daß die Phoiniker des Westens ihre Institutionen und Ordnungsprinzipien im wesentlichen schon aus dem Mutterland mitgebracht (und in ständigem lebhaftem Kontakt weiterentwickelt) haben." Gschnitzer nimmt demnach an, die von Aristoteles und noch späteren griechischen und römischen Autoren beschriebenen karthagischen Institutionen des 4. und späterer Jahrhunderte hätten im wesentlichen nicht nur denjenigen der Zeit der Gründung Karthagos im 8. Jh., sondern auch denjenigen der phönizischen Städte der Levante entsprochen. 19 Ich halte dies aus methodologischen und historischen Gründen fur sehr problematisch. Es ist anzunehmen, daß Aristoteles wie die Autoren, auf die er sich stützt, Karthago aufgrund der ihnen vertrauten und in der griechischen Poliswelt weithin geltenden Voraussetzungen beurteilten; sie mögen deshalb im Banne von oberflächlichen Ähnlichkeiten wichtige Unterschiede übersehen oder für unwichtig gehalten haben. 20 Außerdem muß Karthago sich nicht anders als die griechischen Poleis zwischen dem späten 8. und dem späten 4. Jh. ganz wesentlich verändert haben, und die Reichsbildung hat gewiß wie in Athen und Rom auch hier die Entwicklung der sozialen und politischen Strukturen des einstigen Stadtstaates wesentlich beeinflußt. 21 Selbst wenn wir mit sachlich richtiger Berichterstattung rechnen dürften, wären 17
Dazu wie zum Folgenden vgl. neuerdings bes. (in alphabetischer Reihenfolge) Gehrig und Niemeyer 1990; Gras et al. 1989; Krings 1995; Kuhrt 1995, 1.402-10; Lemche 1995; Lipmski 1995; Markoe 2000; Niemeyer 2000; Sommer 2000; Ward und Joukowsky 1992, Kap. 13-16, bes. Bikai 1992.
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Zu den phönizischen Verfassungen und Institutionen siehe bes. Tzirkin 1990; Bondi 1995a, 1995b; Sommer 2000, Kap. 4, bes. 2 3 8 - 4 9 . Gschnitzer 1993 mit den Quellen. Siehe dazu Ameling 1993, 4 - 6 (mit reichen Literaturangaben): „Die Verfassungstheoretiker von Piaton und Isokrates über Aristoteles bis zu Eratosthenes, Polybios und Cicero interessierten sich für die Stadt, weil ihnen Karthago als Muster innenpolitischer Stabilität erschien, weshalb es oft mit Sparta verglichen wurde. Nach den Schemata des 4. Jhrdts. konnte die stabile Konstitution Karthagos nur eine Mischverfassung sein; die Einzelheiten wurden dementsprechend ausgestaltet. Dabei wurde die Rolle des Volkes überbetont; anfangs, um die eigentlich aristokratische Herrschaft in Karthago der theoretischen Norm anzupassen, später dann, um den Sieg Roms durch dessen bessere Verfassung zu erklären ... Die Beispiele zeigen, mit welchen Einseitigkeiten und Verformungen in diesem Teil der Überlieferung zu rechnen ist; verstärkend hat noch gewirkt, daß karthagische Einrichtungen immer von den bekannten griechischen und römischen Institutionen her interpretiert wurden." Vgl. etwa auch Niemeyer 2000, 89.
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Zur Geschichte und den sozialen und politischen Strukturen Karthagos s. etwa Ameling 1993; Huss 1985; Huss 1992.
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deshalb Rückschlüsse aus Verhältnissen des späten 4. Jh. auf diejenigen des späten 8. Jh. und erst recht auf die der phönizischen Städte unzulässig. 22 Karthago ist in dieser Hinsicht nicht anders zu behandeln als die griechischen Poleis oder Rom. 23 Einiges wissen wir dennoch. Die meisten phönizischen Städte verfügten über ein relativ kleines agrarisches Hinterland und waren auf Industrie, Handel und eine Handelsflotte angewiesen. Sie waren befestigt und auf die See ausgerichtet, um gute und geschickt ausgebaute Häfen angelegt und in Quartiere unterteilt, in denen die Bevölkerung nach Funktion und Gewerbe gegliedert war. Dies waren also nicht, wie die griechischen Poleis, vorwiegend Ackerbaustädte; entscheidend ist dabei, daß das Umland von der Stadt aus beherrscht wurde und der Agrarsektor in sozialer Hierarchie und im sozialen Wertesystem einen viel niedrigeren Rang einnahm als in der griechischen Polis. 24 Sie wurden von Königen regiert; ein Rat, bestehend aus den Häuptern der im Handel fuhrenden Familien, und der Tempel der Stadtgottheit sind häufig erwähnt, während eine Volksversammlung eher schattenhaft bleibt. In der Bewertung ist sich die Forschung uneinig: Während unter anderen Gschnitzer und Nancy Demand Analogien mit den griechischen Polisverfassungen betonen, hat zum Beispiel Maria Aubet kürzlich die Macht und enge Verbindung von Monarchie und Tempelhierarchie hervorgehoben, und S. F. Bondi folgert aus seiner erneuten Überprüfung der sozialen und politischen Strukturen, daß die phönizischen Stadtstaaten bis ins 8. Jh. als „Palastgesellschaften" betrachtet werden müssen, die von Königen dominiert waren.25 Wenn es richtig ist, die phönizischen mit den mesopotamischen Stadtstaaten zu verbinden, scheint dies auch plausibler. Auch wenn vom späten 8. Jh. an wichtige Strukturveränderungen zu beobachten sind - das Königtum wurde offenbar von einer zunehmend mächtigen Handelsaristokratie
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So auch Kuhrt 1995, 2.403: As „Carthage developed to some extent independently of the Phoenician homeland (a feature also true of its language), such [d.h. Roman] descriptions of Carthaginian ... culture, dating from the second century, cannot be relied on too heavily for reconstructing Phoenician civilization in the Levant." Vgl. auch Bondi 1988, 126f.; 1995a, 290; Günther 1996, 791f. Im Falle Roms läßt sich nachweisen, wie unbedenklich die späten Quellen die ihnen vertrauten Verhältnisse in die Früh- oder sogar Gründungszeit zurückprojiziert haben und in welchem Masse sich Strukturen und Institutionen in denselben vier Jahrhunderten veränderten: siehe etwa Raaflaub 1986; Cornell 1995. In Griechenland stellen Athen und Sparta zwei Extreme in der Polisentwicklung dar; in beiden Fällen haben die Strukturen des 4. Jh. trotz elementarer Kontinuitäten sehr wenig mit denen im 8. Jh. gemeinsam. Vgl. Markoe 2000, 11: „Unlike their Syrian or Palestinian neighbors, the Phoenicians were a confederation of traders rather than a country defined by territorial boundaries." Sommer 2000, 219-22: „Die Dienstbarmachung der Landwirtschaft fur die Interessen städtischer Oberschichten und des Fernhandels ist offenbar ein grundlegendes Strukturelement phönikischer Wirtschaftspraxis. Der agrarische Sektor war im ökonomischen System der phönikischen Stadt räumlich und funktional an der Peripherie angesiedelt" (221). Man mag in der Frage des Hinterlandes der phönizischen Städte verschiedener Meinung sein, aber das Beispiel von 1. Könige 9:10-14 (10. Jh.) „is likely also to reflect the inadequate agricultural base on which the populous Phoenician cities were built" (Osborne 1996, 39). Auch scheint es bezeichnend, daß in der Forschung über die Phönizier Erörterungen des agrarischen Sektors einen sehr geringen Raum einnehmen und, wenn Moscati 1988, 26; Rouillard und Teixidor 1989, 73-79, oder Yon 1995, 367-68 repräsentativ sind, die genaue Bestimmung des Territoriums dieser Städte bisher kein wichtiges Forschungsanliegen gewesen ist. Auch Katzenstein 1972 beschreibt in Kap. 1 („Historical and Geographical Surveys") die phönizische Küste und die Lage der Stadt Tyros, aber nicht deren Hinterland oder Territorium; in der wissenschaftlichen Beschreibung einer griechischen Polis wäre solches undenkbar. Gschnitzer 1993; Demand 1996; Aubet 1993, chap. 5; Bondi 1995a, 1995b.
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zurückgedrängt - , so spricht doch vieles gegen die Annahme, daß die phönizischen Städte in der für die vorliegende Frage wichtigen Zeit (d. h. bis zum späten 8. Jh. und wahrscheinlich weit darüber hinaus) in ähnlichem Sinne wie die griechischen Poleis ,Bürgergemeinden' waren. 26 Gewiß, Monarchie ist nicht prinzipiell unvereinbar mit der Polis, und manche griechischen Poleis, zumal in Nordafrika und Zypern, wurden in der Tat von Königen regiert, aber dies waren Ausnahmen, und es war keinesfalls typisch für die Polis, von einem König beherrscht zu werden. Macht und Handlungsspielraum zunächst der big men, chiefs oder leaders und später der wichtigsten Beamten waren beschränkt. 27 Sie waren primi inter pares in einer größeren Gruppe von ,Proto-Aristokraten', die bei Homer und Hesiod alle basileis genannt werden, und hatten sich in Rat und Versammlung durchzusetzen. Dies gilt auch für das in mancher Hinsicht außergewöhnliche Sparta, dessen archagetai, wie die ,Große Rhetra' beweist, schon früh in das Zusammenspiel der Institutionen eingebunden waren. 28 Von einer mächtigen religiösen Hierarchie kann natürlich im Hinblick auf die Polis keine Rede sein, und in der jüngsten Forschung ist mehrfach betont worden, daß schon in der frühen Polis die freien Bauern in Heer und Versammlung eine für ihre Gemeinden unverzichtbare Rolle spielten, und diese Gemeinden deshalb mindestens im griechischen Kernland (im Gegensatz etwa zu den griechischen Poleis auf Zypern) auf wichtigen Elementen von bürgerlicher' Gleichheit basierten. 29 Die Formel andres polis, bekannt aus Thukydides, taucht schon bei Alkaios auf und gilt m. E. im wesentlichen bereits für die Anfänge der Polis/ 0 Daß die phönizischen Städte ein anderes militärisches Ethos und eine andere militärische Organisation hatten, ist deshalb wichtig. 31 Insgesamt scheint deshalb die Frage berechtigt,
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Um dies schlüssig beurteilen zu können, müßte man mehr über die Zusammensetzung und Rolle der Versammlung wissen — nicht nur in den phönizischen, sondern auch in den mesopotamischen Stadtstaaten; vgl. zu diesen etwa Dandamaev 1981, 1982, 1997 (Dandamaev bereitet offenbar eine größere Arbeit zu neo-babylonischen „popular assemblies" vor); Schemeil 1999; Fleming 2004; zu jenen Sznycer 1975; Bondi 1988, 126; Bondi 1995a, 293-94; vgl. auch Wilson 1945. Mehrere Kapitel in Hansen 2000 über Stadtstaat-Kulturen des antiken Nahen Ostens bieten jetzt einen Einstieg. Ein Problem ist auch hier, daß für das 5. und 4. Jh. (ζ. B. von Arrian!) bezeugte Verhältnisse in Phönizien kaum schon fur das 8. oder 7. Jh. gelten. Außerdem weist Christoph Ulf (brieflich) zu Recht daraufhin, daß man im Vergleich zwischen den phönizischen und griechischen Städten auch andere Wesensmerkmale als nur die öffentlichen Institutionen berücksichtigen müßte, um die Konturen klarer zeichnen zu können. Zu diesem Vergleich siehe jetzt Sommer 2000, 267ff. Strukturveränderungen: Sommer 2000, 238-66.
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Wie man diese frühen ,Anfuhrer' zu bezeichnen hat, ist ein vieldiskutiertes Problem. ,König' ist auf jeden Fall irreführend. Zur Diskussion siehe etwa Donlan 1989; Donlan 1994; Ulf 1990, 223-31; Raaflaub 1997a, 633-34 (alle mit weiterführender Lit.). Dazu etwa Welwei 1983, 118ff. mit Lit. (Die Authentizität der Rhetra ist freilich nicht unbestritten: Sealey 1976, 74-78.) Für Spartas Kolonie Tarent gilt wohl dasselbe. Siehe etwa Morris 1996; Raaflaub 1997b, 1997c. Thuk. 7,77,7 (vgl. Hdt. 8.61); Alk. 112,10 und 426 Campbell. Bartolini 1988; Brizzi 1995. Bezeichnend ist auch, daß Sommer 2000, obwohl ausnehmend differenziert, kein Kapitel über Krieg oder Militärorganisation enthält; ein entsprechender Abschnitt fehlt etwa auch bei Moscati 1968 oder Rouillard und Teixidor 1989, und Markoe 2000, 80 beschränkt sich auf eine Seite: „Little is known." All dies ist natürlich mit der Seltenheit von Quellen zu diesem Thema zu erklären, was aber, wie das Fehlen jeglicher Äußerungen im Alten Testament über eine von den Phöniziern ausgehende militärische Bedrohung, durchaus aussagekräftig ist. Bartolini 1988, 132 verweist auf den „political and territorial status of the Phoenician cities, which lacked inland holdings and were therefore unable to equip themselves with large permanent armies."
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ob die Unterschiede zwischen griechischer Polis und phönizischer Stadt nicht gewichtiger waren als die Ähnlichkeiten und ob diese deshalb wirklich als Muster für jene dienen konnte. Ein Blick auf die .Kolonisation' unterstreicht solche Zweifel. Die Phönizier trieben Handel, zumal mit Metallen, im ganzen Mittelmeerraum und darüber hinaus, lange bevor die Griechen sich zu ernsthaften Rivalen entwickelten. Sie bedienten sich dabei einer Kette von kleinen Stützpunkten an geschützten Orten, von denen die meisten erst von der Mitte des 8. Jh. an zu dauerhaften Siedlungen ausgebaut wurden, und errichteten gelegentlich auch Handelsposten in bestehenden Siedlungen anderer Völker (enoikismoi). 3 2 Mit wenigen Ausnahmen - in erster Linie Kition auf Zypern und Karthago - dienten diese .Kolonien' fast ausschließlich dem Handel; sie waren also nicht primär Ackerbausiedlungen, und sie blieben abhängig von ihrer Mutterstadt (in den meisten Fällen Tyros). 33 Beides ist auch fur griechische Kolonien bezeugt - wir denken einerseits an Naukratis oder Pithekoussai, andererseits etwa an die korinthischen Kolonien, die Gschnitzer als „abhängige Orte" kennzeichnet - , aber dies sind Ausnahmen. Hans Georg Niemeyer vermutet außerdem, die Phönizier hätten ihre Handelsposten erst in permanente Siedlungen verwandelt, als die Ausbreitung griechischer Kolonien entlang den Küsten des Mittelmeers sie dazu zwang, ihre eigenen Interessen zu sichern. 34 Phönizische und griechische Kolonisation waren also sehr verschieden, und dies wirft wiederum ein bezeichnendes Licht auf den Charakter und die Interessen der Mutterstädte. Es scheint mir deshalb unwahrscheinlich, daß der Prozeß der griechischen Polisbildung von den phönizischen Kolonien im Westen des Mittelmeers beeinflußt wurde. Wenn, wie Irad Malkin vermutet, Erfahrungen im Kolonialbereich auf diesen Prozeß im Mutterland einwirkten, so war dies jedenfalls ein innergriechischer Vorgang. 3 5
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Die neueste phönikologische Literatur scheint sich darin einig, daß die frühen Gründungsdaten der literarischen Überlieferung durch die archäologische Forschung nicht bestätigt werden und die eigentliche phönizische Kolonisation etwa zeitgleich mit oder nur wenig vor der griechischen beginnt. Daß .Kolonisation' eine der Lektionen war, die die Griechen von den Phöniziern lernten (so etwa S. Morris 1992, 127), verliert damit an Wahrscheinlichkeit. Vielmehr hat man wohl auch hier mit einem interaktiven Verhältnis zu rechnen; siehe u. zu Anm. 34. Enoikismoi: u. Anm. 40. 33 Moscati 1988, 27: „all the Phoenician colonies were founded exclusively as commercial cities." Frankenstein 1989; Aubet 1993; Niemeyer 1982; Niemeyer 1989; Niemeyer 1990; Niemeyer 1993; Niemeyer 1995; Niemeyer 2000, 96-105, siehe bes. 100: The criteria for the choice of site „significantly reproduce the settlement pattern of the Phoenician homeland on the Levant coast... These criteria show the extent to which the early Phoenician settlements in the western Mediterranean had dramatically different goals from the Greek colonization movement, which mainly focused on the gain of arable land." Vgl. auch id. 1993, 336-37: Despite „extensive fieldwork and surveys during the last 20 years, none of the Phoenician settlements on the south coast of Spain seem to have possessed a chora - the most essential feature of the ancient town or polis." They were „factories or commercial agencies having trading and industrial functions." Osborne 1998; Tandy 1997, 75-83 stellen traditionelle Auffassungen zu Konzept und Zweck der griechischen .Kolonisation' in Frage; Sommer 2000, 99-121 tut dies fur die phönizische Westexpansion. 34 Gschnitzer 1958, Kap. 23; Niemeyer 1993, 341-42; Niemeyer 2000, 100. Zum Verhältnis zwischen Griechen und Phöniziern im Westen des Mittelmeeres siehe auch Markoe 1992 sowie die Kapitel von Snodgrass, Ridgway und Coldstream in Tsetskhladze und De Angelis 1994. 35 Malkin 1994.
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Insgesamt scheint es also zweifelhaft, daß die Herausbildung der Polis von Phönizien her ,inspiriert' war. 36 Dies schließt natürlich keineswegs aus, daß die Kenntnis des phönizischen .Modells' und der Vergleich mit den Phöniziern das Denken der Griechen anregte und diese in jenem ,Modell' Züge entdeckten (etwa gewisse Methoden, bestimmte Probleme zu lösen), die ihnen nützlich sein konnten. Das Problem, wie und auf welchen Wegen die Polis betreffende Einflüsse übermittelt worden sein könnten, ist kaum je sorgfältig untersucht worden. Die Antwort scheint ja auf der Hand zu liegen: Wie so vieles andere verbreitete sich auch das Konzept des Stadtstaates oder seiner wesentlichen Institutionen von der Levante aus nach Norden und Westen, vermittelt durch persönliche Beziehungen und Handelskontakte, individuelle Auswanderung und Niederlassung, und durch Beziehungen zwischen benachbarten Gemeinden, wo Rivalität und Nachahmung einen Prozeß der Anpassung und Homogenisierung vorantrieben. Bei näherer Betrachtung scheint mir daran freilich manches recht fragwürdig, und eine kurze Erörterung ist angebracht. Zumal Gschnitzer stellt sich die Ausbreitung des Urbanisierungsprozesses im Mittelmeerraum als eine wellenförmige Bewegung vor, die von den frühen Stadtstaaten Mesopotamiens aus die Levante, dann Griechenland, Süditalien, Sizilien und die Provence und von dort aus das Innere Italiens, Siziliens und Galliens erfaßte, bis als Ergebnis von Hellenisierung und Romanisierung schließlich die ganze antike Welt von Städten überzogen war. 37 Ich sehe in diesem Modell folgende Probleme: Zum einen wirft Gschnitzer Städte und Stadtstaaten in einen Topf. Urbanisierung ist nicht dasselbe wie die Entwicklung und Verbreitung von Stadt- oder Mikro-Staaten. In Gallien war beispielsweise zur Zeit der Ankunft der Römer bereits ein Prozeß im Gange, der zweifellos maßgeblich von den Griechen im Süden, besonders Massilia, beeinflußt war, aber dies war ein Prozeß der Urbanisierung, nicht der Polisbildung. 38 Zum zweiten unterschätzt Gschnitzer die Wirkung geographischer Trennung. Stadtstaaten entwickelten sich oft in Gruppen oder Systemen, innerhalb derer intensive freundliche und feindliche Beziehungen gepflegt wurden. Ort und Ausrichtung solcher Systeme sind deshalb wichtig. Trotz gewiß vielfacher Kontakte schlossen sich im 8. Jh. die PolisSysteme, die sich im Ägäis-Raum entwickelten, nicht unmittelbar an diejenigen auf Zypern oder in Phönizien an. Die Lücke wurde erst im 7. Jh. durch griechische Kolonien an der Südküste Anatoliens geschlossen, als die Polisbildung schon weit fortgeschritten war, und im Innern Anatoliens kam ein Urbanisierungsprozeß noch viel später in Gang. Wir dürfen deshalb nicht selbstverständlich annehmen, daß phönizische Einflüsse, die auf Zypern wirk-
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Die Unterschiede scheinen mir auch zu grundsätzlich, um mit Murray (Anm. 6) an eine griechische Adaptation eines phönizischen Modells zu denken. Die bemerkenswerten städtischen Strukturen von Alt-Smyrna, die man aufgrund der lange vorherrschenden Frühdatierung allenfalls hätte als Gegenbei3 spiel anfuhren können, werden jetzt offenbar ins 7. Jh. datiert: Oxford Classical Dictionnary 1996, 1417.
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Gschnitzer 1988; ähnlich Murray 2000. Siehe jetzt Collis 2000 (229: „I do not believe the sites which 1 am dealing with qualify as ,citystates'.").
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sam wurden, weil Kition Teil des dortigen Polis-Systems war, in gleicher Weise auf die Ägäis einwirken konnten. 39 Denn dort gab es, drittens, keine phönizischen Kolonien, und das ist symptomatisch für eine grundlegende Tatsache, die Gschnitzer mißachtet. Auch an den Küsten der metallreichen italischen Halbinsel vermochten die Phönizier nicht Fuß zu fassen, und dort kamen auch die Griechen nicht über die kampanische Küste hinaus. Der Grund muß darin liegen, daß in der Ägäis und in Mittelitalien zu Beginn der griechischen und phönizischen Kolonisation die Staatsbildung bereits genügend fortgeschritten war, um die Gründung eigenständiger fremder Siedlungen zu verhindern - so sehr man, wie die griechischen Immigranten und punischen emporia in etruskischen Hafenstädten oder auch Rom sowie die phönizischen enoikismoi auf Kreta oder in Pithekoussai und vielleicht auch andernorts bezeugen, die Ansiedlung von Individuen oder kleinen Gruppen tolerierte oder sogar begrüßte. 40 Dies aber heißt, daß der Beginn der Herausbildung polis-artiger Gemeinden sich in jenen Gebieten unabhängig von der Präsenz griechischer bzw. phönizischer Stadtstaaten vollzog - ein Schluß, der sich an manchen Orten aufgrund der Siedlungsentwicklung auch archäologisch erhärten läßt - , auch wenn gewiß später von solchen Nachbarn ausgehende Einflüsse willig integriert wurden. Wenn nicht ganze Gemeinden, dann könnten doch kleine Gruppen oder Individuen Anregungen vermittelt haben, die der Bildung oder Weiterentwicklung von Stadtstaaten förderlich waren. Wir denken an griechische Kauffahrer, die aus der Levante zurückkehrten oder im Westen phönizische Kollegen getroffen hatten oder an phönizische Händler oder wandernde Kunsthandwerker, die Griechenland besuchten oder sich gar dort niederließen. Die Vielfalt solcher Kontakte ist gut bezeugt, etwa durch die Anwesenheit von Phöniziern in der Ägäis - auch wenn nicht jedes in griechischem Boden gefundene phönizische Bronzegefäß voraussetzt, daß sein Hersteller dort lebte - und von Griechen in Städten der Levante. 41 Kein Zweifel, die Griechen der späten Dark Ages wußten von den phönizischen Stadtstaaten und wohl auch von deren Institutionen. Die Frage ist nur, ob sie solche Informanten genügend respektiert hätten, um von ihnen auch in politicis lernen zu wollen, und ob sie die entsprechenden Informationen wichtig und nützlich genug fanden, um sich davon zu einer Änderung ihrer Lebensformen bewegen zu lassen.
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Wobei erst noch zu untersuchen wäre, inwiefern sich auch auf Zypern griechische und phönizische Siedlungen in charakteristischer, aber unterschiedlicher Weise entwickelten (Anregung von Lin Foxhall). Dazu etwa Ampolo 1976-77; Morel 1984, 146-50; Torelli 1989, 4 8 - 5 1 ; Ridgway 1992a; Palmer 1997. Pithekoussai und andere enoikismoi: Buchner 1982; Ridgway 1992b; Niemeyer 1995, 266. Kommos, der offenbar bedeutendste phönizische enoikismos auf griechischem Boden, liegt bezeichnenderweise an der von der Ägäis abgewandten Südküste Kretas, an der phönizischen Handelsroute von der Levante und Zypern nach dem Westen des Mittelmeers (Shaw 1989). S. Morris 1992, Kap. 7 interpretiert diese phönizischen Enklaven in griechischen Siedlungen anders. Griechen in Italien: man beachte hier die archäologischen Indizien fur bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Etruskern in der Vorkolonisations- und frühen Kolonisationsphase: Herrmann 1983, bes. 2 8 7 - 8 9 . Morel 1984, 1 2 7 - 2 9 betont die großen Lücken in der Karte der griechischen Kolonisation. Siehe etwa für Phönizier in der Ägäis: Coldstream 1982; die Beiträge von Bisi und Baslez in Lipinski 1987; Burkert 1992, Kap. 1; S. Morrris 1992, 130-49; Hoffman 1997; für Griechen in der Levante: Riis 1982; Braun 1982a; Haider 1996. Siehe auch Papadopoulos 1997.
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Bei Homer stehen Bewunderung für die Kunstfertigkeit der ,Sidonier' und Verachtung für phönizische Händler nebeneinander, die als Lügner, Betrüger und Entführer verrufen waren. 42 Phönizische Kunsthandwerker, die sich in griechischen Siedlungen niederließen, waren vielleicht besser angesehen, etwa vergleichbar mit manchen der demiourgoi, die wir in den Epen antreffen; sie waren gesucht wegen ihrer Fertigkeit, aber dennoch Außenseiter, metanastai, und deshalb ungeschützt. In einer Welt von Bauern, in der man, um zu zählen und dazuzugehören, Land besitzen musste, waren sogar professionelle griechische Händler gering geschätzt. 43 Man kann die hier angesprochene Problematik an einem konkreten Beispiel verdeutlichen. Robert Drews versucht, zwei einzigartige spartanische Institutionen, das Doppelkönigtum und den aus dreißig Mitgliedern bestehenden Rat (gerousia) durch phönizischen Einfluß zu erklären, der über Kreta nach Sparta gelangt wäre. Die Spartaner unterhielten ja enge Kontakte mit Kreta, Übereinstimmungen zwischen kretischen und spartanischen Institutionen wurden schon in der Antike hervorgehoben, und häufige Besuche und sogar die Ansiedlung von Phöniziern auf Kreta sind archäologisch nachgewiesen. 44 So richtig dies alles sein mag, in ihrem Ergebnis bleibt diese Argumentation rein spekulativ. Die einzigen erwägenswerten (aber durchweg umstrittenen) Hinweise auf die Existenz der fraglichen Institutionen im phönizischen Bereich findet Drews in Karthago aufgrund von späten Quellen, die er unbedenklich in die Anfangszeit zurückprojiziert. 45 Meines Wissens ist bisher in keiner kretischen Polis ein Doppelkönigtum oder ein Rat der Dreißig nachweisbar. Selbst wenn die Spartaner, wie Stephen Hodkinson und andere überzeugend nachweisen, bis weit ins 6. Jh. hinein viel weniger fremdenfeindlich und gegenüber Reichtum und Künsten weniger negativ eingestellt waren als der ,Mythos Sparta' dies behauptet, 46 so genossen Landbesitz und Wehrfähigkeit als Kennzeichen des Vollbürgers dort doch schon sehr früh einen noch höheren Wert als im übrigen Griechenland. Es ist deshalb nicht einzusehen, weshalb gerade die Spartaner aufgrund von Informationen, die sie, direkt oder indirekt, von prestige-armen fremden Händlern oder Künstlern bezogen, fremde Institutionen in ihre Gemeinschaft eingeführt haben sollten. Und weshalb hätten nur die Spartaner dies getan? Für Art und Namen des obersten Amtes und die Größe der Ratskollegien finden sich in den griechischen Poleis fast beliebige Varianten, offenbar weil jede Polis die ihr gemäße Lösung für ein gemeinsames Problem zu finden suchte. Dafür, daß sie sich für die einzigartige Kombination von dreißig Ratsmitgliedern und einem erblichen Königsamt, und dazu noch einem Doppelkönigtum, entschieden, hatten die Spartaner vermutlich ihre eigenen guten Gründe. Diese bleiben uns verborgen, weil die spartanische Frühgeschichte insgesamt im Dunkeln liegt. Wir
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Latacz 1990; S. Morris 1992, Kap. 1. Dabei ist zusätzlich zu beachten, daß die Griechen den Terminus ,Phönizier' sehr weit und ungenau verwendeten: Kuhrt 1995, 2.410; Frankenstein 1979, 288. Demiourgoi, metanastai: Gschnitzer 1981, 29, 3 3 - 3 4 . Zugehörigkeit: Walter 1993. Händler: Donlan 1997, 6 5 1 - 5 4 ; Raaflaub 1997a, 6 3 6 - 3 7 ; Tandy 1997, 6 2 - 7 5 ; Foxhall 1998. Morel 1984, 1 4 7 ^ 8 betont die prekäre Stellung solcher Einwanderer.
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Drews 1979; Phönizier auf Kreta: Coldstream 1982; Shaw 1989; Hoffman 1997. Drews 1979, 4 9 - 5 6 . Nach Joseph. Ap. 155-58 hatte Tyros fur den kurzen Zeitraum von sechs Jahren, etwa elf Jahre nach der Belagerung durch Nebukadnezar, ein Doppelamt von dikastai (Sufeten?) statt einem König. Diese in einer Zeit großer Instabilität praktizierte Ausnahmelösung hätten, so Drews, die Gründer Karthagos für ihre neue Kolonie vorgesehen. Möglich ist alles!
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Zuletzt Hodkinson 2000.
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sollten in solchen Situationen unser Nichtwissen zugeben; ohne konkrete Anhaltspunkte bringt uns die Annahme fremder Einflüsse keinen Schritt weiter. Wenn Individuen bei der Übermittlung politischen Wissens eine Rolle spielten, müssen wir gewiß an eine andere Ebene denken, an aristokratische Beziehungen, die weit über die Grenzen einzelner Poleis und der Poliswelt als Ganze hinausreichten. Hier kann ich nur spekulieren. Mitglieder der griechischen Elite sammelten und tauschten Prestigegüter und engagierten wandernde Künstler; als Anführer von Kolonisations- und Abenteuerzügen kamen sie weit im Mittelmeer herum. Dort trafen sie auf Vertreter einer phönizischen .Handelsaristokratie', die nach Bondi seit etwa dem 8. Jh. in den kommerziellen Aktivitäten der phönizischen ,Faktoreien' eine zunehmend wichtige Rolle spielte. Seit dem späten 8. Jh. traf man sich wohl auch an panhellenischen Anlässen in den panhellenischen Heiligtümern, die gerade in jener Zeit zu Bedeutung gelangten, und dort stellten sich auch Nichtgriechen ein. 47 Bei solchen Gelegenheiten mochte man Informationen austauschen und sich auch über Ideen unterhalten, die für die Bewältigung gemeinschaftlicher Probleme nützlich schienen, zumal wenn diese in ähnlicher Weise an verschiedenen Orten auftauchten - etwa die Möglichkeit, durch schriftlich festgehaltene Gesetzgebung brisante Konflikte in der Gemeinde zu verhindern oder durch einen Schuldenerlaß aufsässige verarmte Bauern zu beruhigen. Besonders im Orakel von Delphi sammelten sich alle möglichen Kenntnisse und Erfahrungen an, die den Ratsuchenden bereitwillig zur Verfügung gestellt wurden. Solche Kenntnisse stammten aus allen Bereichen der griechischen, aber vielleicht auch aus Teilen der nichtgriechischen Welt, und sie betrafen nicht zuletzt politische Probleme. Delphi diente als Quelle politischer Legitimation, wie Tyrtaios schon furs 7. Jh. bezeugt, als zentrale Autorität in Fragen, die die Gründung neuer Kolonien betrafen, und in gewissem Sinne auch als Inspiration für eine sich im 6. Jh. ausdehnende Kultur des politischen Denkens und eine neue Moralität. 48 Die Elite hatte somit Zugang zu Informationen und Anregungen aus aller Welt, und es scheint nützlich, hier an eine Anregung von Klaus Seybold und Jürgen von Ungern-Sternberg zu erinnern, daß wir vielleicht mit einer kulturellen koine rechnen sollten, die sich im Lauf der ersten Hälfte des 1. Jt. im östlichen Mittelmeer ausbreitete und an der Griechen wie Phönizier und viele andere Anteil hatten. 49 So wichtig all dies ist, entscheidend scheint mir freilich, daß es erst dann eine Rolle zu spielen begann, als die Polis als Gemeinschaftsform und Konzept im wesentlichen bereits geformt war - und dies war jedenfalls schon der Fall, als die homerischen Epen im späten 8. oder frühen 7. Jh. ihre Ausgestaltung erfuhren. 50 Es fragt sich ja überhaupt, ob die Griechen in den Anfängen der Polisbildung wirklich auf fremde Anregungen angewiesen waren. Polis wie mittelitalische Stadtstaaten entwickelten sich organisch aus den kleineren und einfacheren Gemeinden der Dark Ages. Ihre Institutionen stellen nichts Außergewöhnliches dar. Die Familiengruppen, die im 11. und 10 Jh. in zerstreuten Siedlungen oder Siedlungsgruppen lebten, hatten ihren Anführer und regelten ihre Angelegenheiten in einem Rat der Familien47
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Zu alledem etwa Humphreys 1978, Kap. 7; Stein-Hölkeskamp 1989; Raaflaub 2004, sowie die in Anm. 4 2 angeführte Lit. zu Händlern. Heiligtümer: Morgan 1990. Phönizische Handelsaristokratie: Bondi 1995b, akzeptiert von Niemeyer 2000, 102. Tyrt. fr. 4 West. Kolonisation: Malkin 1987, Kap. 1; Londey 1990. Politisches Denken: Meier 1980, 7 3 - 7 9 ; vgl. insgesamt auch Malkin 1989. Seybold und von Ungem-Sternberg 1993; vgl. auch S. Morris 1992, 1 1 6 - 1 7 . 124ff. Raaflaub 1991, Raaflaub 1993.
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häupter und einer Versammlung der Krieger. Ich denke mir, daß sie Nachrichten über große und reiche Städte mit mächtigen Königen und großen Tempeln an fernen Küsten eher verwirrend gefunden hätten, auch wenn ihre führenden Mitglieder die Produkte fremder Kunstfertigkeit bewunderten und als Prestigegüter sammelten und austauschten, die eigenen Handwerker diese vielleicht zu kopieren versuchten, und ihre Anfuhrer allenfalls sogar, wie es in Lefkandi und anderwärts geschah, die ,heroischen' Bestattungen nachzuahmen trachteten, mit denen, wie sie hörten, Könige in fremden Ländern geehrt wurden. 51 Aber der Gedanke, selber eine Stadt oder eine Polis ,zu machen', würde ihre Vorstellungskraft und ihr Potential weit übertroffen haben. Auf ihre Erben, einige Generationen später, traf dies nicht mehr zu. Unter sich rasch verändernden Bedingungen hatten sich ihre Gemeinden vergrößert und verdichtet, ihre Institutionen sich vermehrt und eine gewisse Regelung erfahren. Land war zur Mangelware geworden; neben die seit langem üblichen Freibeuterzüge traten Kriege zwischen Gemeinden um die Kontrolle von Land. Die Polis war entstanden, soziale Differenzierung und Spannungen nahmen zu, neue Lösungen wurden benötigt.52 Vergleiche mit dem, was anderweitig geschah und versucht wurde, und Informationen aus andern Teilen der griechischen oder sogar nichtgriechischen Welt wurden jetzt nützlich und wichtig. Damit komme ich auf eine frühere Frage zurück: Was genau könnten die Griechen in sozialer und politischer Hinsicht von den Phöniziern gelernt haben, was nicht in ihrer eigenen Kultur bereits vorgegeben war? Darauf sollte sich m. E. die künftige Forschung konzentrieren. Für jetzt fasse ich die Ergebnisse meiner Diskussion in drei Thesen zusammen. Erstens: Die Unterschiede zwischen der griechischen Polis und der phönizischen Stadt gehen zu tief, als daß die Entstehung der Polis im wesentlichen durch Akkulturation fremder Einflüsse erklärt werden könnte. Entscheidend ist dabei, daß die Polis eben nicht als Stadt, sondern als Gemeinde freier und wehrfähiger Männer, als ,Bürgergemeinde', begann, während die phönizische Stadt sich erst vom 8. Jh. an von einer Monarchie in diese Richtung (aber wie weit?) entwickelte. 53 Zweitens: Wenn phönizische Einflüsse wirklich auf die Evolution der Polis einwirkten, dann wahrscheinlich eben nicht in der frühen Phase ihrer Formation oder Kristallisation, sondern in späteren Stadien ihrer Weiterentwicklung. Und drittens: Daß die Griechen die Polis als Ganzes aus dem Orient importierten, ist deshalb auszuschließen; daß sie dagegen von dort Ideen und Methoden übernahmen, die ihnen halfen, die Polis zu verbessern und ihre Probleme zu lösen, ist durchaus wahrscheinlich, auch wenn sie diese ihren spezifischen Bedürfnissen anpaßten und dabei in Zweck und Funktion grundlegend veränderten. 54
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Lefkandi: etwa Blome 1984, 1991; Antonaccio 1995. Prestigegüter: etwa Niemeyer 1990, 97f., der betont, daß phönizischer Einfluß auf die griechische Kunstentwicklung vor dem 8. Jh. kaum festzustellen ist. Eine kurze Skizze dieser Entwicklung bei Raaflaub 1997c, 53-57. Dies ist mein Haupteinwand gegen Murray 2000 und Sommer 2000, dessen wichtiges Buch mir erst bekannt wurde, als die hier vorgelegten Überlegungen ausgestaltet waren. Seine sorgfältige Erörterung der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen phönizischen Stadtstaaten und griechischen Poleis (26785) ist sehr nützlich und stellt alles in den Schatten, was zuvor zu diesem Thema geschrieben wurde. In einem bisher unpublizierten Referat über die Ursprünge des griechischen Symposion kommt Marek Wecowski zu einem ganz ähnlichen Ergebnis.
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Hittites and Greeks. Mythical Influences and Methodological Considerations.1
Introduction The Hittites occupied a privileged position between East and West, first of all, in a physical, geographical sense, because the Anatolian Peninsula is halfway between the Near East and the Mediterranean. But, above all, because the Hittites were very receptive to borrow foreign literary themes, myths and legends as their own, especially those belonging to the neighbouring cultures of the Near East, and in its turn, Greek literature borrowed some oriental elements from the Hittites, although the exact way in which this transmission was produced is still a mystery. The archaeological excavations allowed the access to the wonderful archive of Hattusa, near modern Bogazköy, offering us about 25,000 clay tablets with a great variety of texts. When Bedrich Hrozny deciphered in 1914 the language in which they were written, he promoted the access to the history and literature of the Hittites. Among these texts we are interested today in a rich series of mythological texts in which, first of all, we perceive an eclectic combination of cultural contributions from different origins: Hattian, that is, coming from the community that inhabited the country of Hatti before it was dominated by the 'peoples of Nesa', Hurrian, from the neighbouring Mittani, Babylonian (there are some versions of the poem of Gilgamesh in the archives of Boghazköy) or Canaanite. We are dealing with a mixture in which often, due to the lack of a model with which to compare the Hittite versions, we cannot know to what extent these have been recreated or altered. Already from the 1930s pioneering articles by Porzig, Lesky, Forrer or Güterbock attracted the attention of scholars to the curious analogies noticed between Hittite and Greek
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This work has received economic support by the Spanish Ministerio de Educaciön y Cultura (Proyecto de Investigation del Programa Sectorial de Promotion del Conocimiento, PB98-0763). 1 am very grateful to Helena Bernabe for the translation of this paper into English.
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myths. 2 Since then, the publication of new papers insisting in more analogies has not stopped. In a previous paper 3 1 offered some reflections about the problems rising from the comparison of Greek myths or literary works with those of the oriental cultures. The most relevant point for our analysis is to state that, when a myth or a particular theme coming from a foreign culture appears in a literary work written in a different cultural background, it necessarily suffers the pressure of the cultural and literary schemes of the culture that has adopted it. Therefore, I proposed that, although we do not know in which way the influences we perceive have been produced, it is a useful working method to analyze the analogies and, above all, the differences among those similar motifs in order to see in which way the same theme is inserted in a different cultural and mythical background, restructuring its elements in the most different ways. And, it is precisely this adaptation what reveals different ways of thinking. The way in which a culture adapts myths from another one shows clearly the differences between both cultures. In the transmission and reformulation of the myth multiple factors are at work, like a) the religious background, b) the cultural models, c) the kind of society, d) other mythical complexes or other thematic variants, e) the literary form in which the myth is told, and f) the structure it adopts. In this paper I intend to present two significant examples of the way in which Hittite myths are adapted to become part of Greek myths.
The myth of the God that disappears The first example we shall analyze is the myth of the God that disappears. In Hittite we know a wide range of texts very similar to each other, with a practically identical narrative scheme. Their protagonists often vary, although all of them (Telipinu, Anzili and Zukki, and others) are gods coming from the Hattian religious background. These narrations are invariably set in a magical ritual framework (so-called mugawar, that is 'plea'). The underlying belief is that any abnormal disaster is due to the departure of a god. This ritual consists in carrying out certain practices in order to make the offended divinity return and reestablish the normal situation. The heading of these mugawar indicated the occasion in which they should be recited; for instance, for helping a woman with difficulties to give birth, for palliating the queen's sterility, or for making a dry fountain flow again. The myth usually starts ex abrupto with the account of a god's irritation, without giving too much importance to its reasons. His irritation is expressed in a funny tone, indicating that „he drew on the right shoe on his left foot and the left shoe on his right foot". The immediate
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Porzig 1930; Foner 1935; Güterbock 1948; Lesky 1950. Bernabe 1995.
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effect of the god's departure is a terrible situation in the earth, with the stagnation of life and fertility. Let's see how it is related in the first version of Telipinu's myth4: CTH 324 A I 5.ff. Mist seized the windows. Smoke seized the house. In the fireplace the logs were stifled. At the altars the gods were stifled. In the sheep pen the sheep were stifled. In the cattle bam the cattle were stifled. The mother sheep rejected her lamb. The cow rejected her calf. Telipinu too went away and removed grain, animal fecundity, luxuriance, growth, and abundance to the steppe, to the meadow ... therefore barley and wheat no longer ripen. Cattle, sheep, and human no longer become pregnant. And those already pregnant cannot give birth. The mountains and the trees dried up, so that the shoots do not come forth. The pastures and the spring dried up, so that famine broke out in the land. Humans and gods are dying of hunger. Let's continue summarizing the events. The gods in heaven are hungry and they decide to look for the god. In this search some gods cooperate and, it is usually Hannahanna, the mother goddess, the one that determines what should be done. There are also some animals taking part. Let's see Telipinu's version: CTH 324 A I 24 ff. The great and small gods began to search for Telipinu. The Sun God sent the swift eagle: „Go search the high mountains. Search the deep valleys. Search the Blue Deep". The eagle went but didn't find him. They send a bee to search for the god too, and it finds him, but she cannot pacify him. Then, some magical performances are practiced to the god - the first, fruitless, the last, effective with the intervention of gods like Kamrushepa, the goddess of magic, and men. These magical performances - which, of course, were also carried out by those reciting the myth - were based in the principle of magic by sympathy, according to which what is similar produces similar effects. Finally, as a result of the rites practiced, the god comes back and the situation is reestablished: at the same time as nature returns to normality, the king's vigor and power are correctively reinforced. Let's see the same version: CTH 324 A IV 20 ff. Telipinu came back home to his house and took account of his land. The mist released the windows. The smoke released the house. The altars were in harmony again with the gods. The fireplace released the log. In the sheepfold he released the sheep. In the cattle barn he released the cattle. Then the mother looked after child. The sheep looked after the lamb. The cow looked after her calf. And Telipinu too looked after the king and the queen and took account of them in respect to life, vigor and longevity. Telipinu took account of the king. Before Telipinu there stands an eyan-tree (or pole). From the eyan is suspended a hunting bag made of the skin of a sheep. In the
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I quote this and the following Hittite texts in the translation by H o f f n e r 1998, with some minor corrections
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bag lies Sheep Fat. In it lie (symbols) of Animal Fecundity and Wine. In it lie (symbols of) Cattle and Sheep. In it lie Longevity and Progeny. 5 We find a similar myth in very old Sumerian texts, although I will refer to one that only dates back to the beginning of the second millennium BC. In this myth we are told that Ishtar goes to the Underworld. She must go through seven doors and, in front of each of them, she must remove part of her clothes. When she arrives to netherworld, after she has finished this kind of divine 'striptease', her sister Ereshkigal throws against her the sixty diseases and takes her prisoner. As a result of this imprisonment the following situation takes place 6 : After the lady Ishtar went down to the netherworld, the bull would not mount the cow, the ass not impregnate the jenny, the young man would not impregnate the girl in the thoroughfare, the young man slept in his bedroom (?), the girl slept by herself. Papsukkal, vizier of the great gods, was downcast and his features were gloomy. He was dressed in mourning and left his hair unkempt. Off went he in despair before Sin his father, weeping. Before Ea the king his tears flowed down. The gods intervene and they propitiate a series of stratagems, so that the situation is sorted out and the goddess goes through the doors again and she returns to the Earth. It is supposed, although it is not told, that fertility reappears with her. We find something similar in an Ugaritic myth, discovered in Ras Shamra's archives, and which dating from the fortieth century BC, the one dealing with the fight of Baal (Weather god, Ugaritic equivalent to Greek Zeus) who declares himself servant of Motu, god of infertility and death. After a series of episodes, Baal disappears and some gods are sent to look for him. Among them is the goddess Anat. It is then that we find the following verses 7 : KTU 1.5 VI 26 ff. Anat also went out, and searched every mountain in the midst of the earth, every hill in the midst of the steppe. ( . . . ) She found Baal, fallen to the earth. For clothing she put on a loin-cloth. Her skin with a stone she scored her side-loks with a razor, she gashed cheeks and chin. (...) Until she was sated she wept, like wine she drank her tears. Aloud he cried the Luminary of the gods, Shapsh 'Pray, load on to me Valiant Baal!' etc.
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Hoffner 1998, 38 adds in note 45 the following: „this and the following items that lie inside the hunting bag are probably symbols o f what the worshipers want from the gods". I quote the translation by Foster 1995, 81. I quote the translation by Wyatt 1998, 128f.
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She asks for the help of the god Shapsh, the Sun god. Once Baal is dead, Athtar is put in charge of the throne, but his feet couldn't reach the footstool and neither his head could reach its top (that is, the throne was physically too big for him), therefore he resigns. Then it occurs a situation of drought described summarily in the following text: KTU 1.6 II 17 ff. My appetite felt the want of human beings, my appetite the multitudes of the earth. It is a situation of stagnation, shortly told. We find it further developed in the thematically parallel epic poem called 'The history of king Keret'. In this myth, the king's illness is what produces the dearth on Earth, which is described as follows 8 : KTU 1.6 III 12 ff. The ploughmen lifted up their heads, those preparing the wheat looked up. Exhausted was the bread in their granaries, exhausted was the wine from their wineskins, exhausted was the oil from their vats. But let's continue with the epic poem of Baal and Motu. Anat fights against Motu and she destroys him, Baal recovers at last the power and with him comes fertility back. In Greece we find this topic in the Homeric Hymn to Demeter. There it is described how Persephone, Demeter's daughter, is abducted by the god of netherworld, Hades. Before disappearing under the earth, the girl gives a cry that is heard by her mother. Her reaction is described in this way9: Hymn to Demeter 40 ff. Sharp grief seized her heart, and she tore the veil on her ambrosial hair with her own hands. She cast a dark cloak on their shoulders and sped like a bird over dry land and sea, searching. No one was willing to tell her the truth, not one of the gods and mortals: no bird of omen came to her as truthful messenger. Then for nine days divine Deo roamed over the earth, holding torches ablaze in her hands. It is Helios, the Sun, who tells her that Hades has abduced her daughter. Demeter becomes angry and she separates from the rest of the gods going down to the Earth, to Eleusis. There she is taken in the king's palace as wet nurse and servant. A servant, Iambe, manages to reduce her irritation and the goddess founds the Eleusian ritual. The goddess however remains in anger and as a result of this a terrible situation takes place: Hymn to Demeter 305 ff. For mortals she ordained a terrible and brutal year on the deeply fertile earth. The ground released no seed, for bright-crowned Demeter kept it buried.
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Cf.Wyatt 1998, 231. I quote the translation by Foley 1994.
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In vain the oxen dragged many curved plows down the furrows. In vain much white barley fell on the earth. She would have destroyed the whole mortal race by cruel famine and stolen the glorious honor of gifts and sacrifices from those having homes at Olympus, if Zeus had not seen and pondered their plight in his heart. Indeed, Zeus sends Iris and other gods to her, but he fails in making her giving up her attitude. Therefore, he sends Hermes to Hades for convincing him to bring Persephone back. Finally, they make a deal: the girl should spend part of the time with her mother and part with Hades in Netherworld. And the dearth on earth is sorted out in this way : Hymn to Demeter 470 ff. So Rheia spoke, and rich-crowned Demeter did not disobey. At once she sent forth fruit from the fertile fields and the whole wide earth burgeoned with leaves and flowers. She went to the kings who administer law, Triptolemos and Diokles, driver of horses, mighty Eumolpos and Keleos, leader of the people, and revealed the conduct of her rites and taught her Mysteries to all of them. Even, later on in time, we find parallels to this interruption of life and fertility in fairy tales like The Sleeping Beauty. Let's see Grimm's description of the moment in which the girl pricks her finger with a spindle: Und dieser Schlaf machte sich über das ganze Schloß breit. Der König und die Königin, die gerade nach Hause gekommen waren, fingen an einzuschlafen und mit ihnen alle Menschen und Tiere, die im Schloß waren. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hof, die Vögel oben auf dem Dach und die vielen kleinen Tiere an den Wänden. Das Feuer, das gerade brannte, wurde still und schlief ein, und das Fleisch hörte auf zu braten ... Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloß bewegte sich kein Blättchen mehr. The situation returns to normality when the girl wakes up. After having seen the texts, we will proceed to outline the course and alterations of the basic themes. According to a widespread interpretation, the Babylonian myth of Ishtar's Descent seems to be an aition of both Venus' (Ishtar's star) disappearance and the seasonal lack of fertility. We are dealing therefore with a recurrent myth, which has to do with cyclical events in nature. Its plot is relatively simple and, although it has a quite elaborated literary character, it still preserves a clear relation with a seasonal ritual. On the other hand, the goddess Ishtar, π ό τ ν ι α θ η ρ ώ ν warrior and divinity of love is the most suitable protagonist for a myth like this, which is basically concerned with the universal disappearance of loving desire. As regards the Anatolian myth, it still maintains a ritual function, but it is not a seasonal myth any more, one of New Year, but it serves as an illustration of an appeasement rite. It is understood that a disastrous situation is due to the fact that a god has stopped watching over men's welfare and he must be appeased by means of a series of magical practices. On the other hand, human beings are now involved in the plot. Telipinu and the other protagonists
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of the Hittite myths of disappearing gods do not die, but they go away, angry because of evil human actions, so that those who provoked their bitterness must propitiate their coming back. Therefore, we do not find signs of grief. Their departure produces a disastrous situation, characterized by its effects both on vegetation and on animals and human beings. We find the theme of the search again. But above all, a new topic is added: the lack of offerings from human beings provokes the hunger of the gods, which live on them. There are still in this very rich myth another secondary topics, like the sending of an eagle, as a lookout from the heights, and the bee, which is based in the popular belief that its sting heals paralysis and its honey purifies. The god is found and appeased with magical practices. The situation of welfare is reestablished and, as in the Ugaritic myth, it is introduced the topic of the relation between the welfare on Earth and the welfare of the royal family. A lamb fleece hanged on a tree serves as a talisman of royal legitimacy and of the harmonious relation of the royal power with the order of nature. The Hymn to Demeter inherits this set of themes, but it is enriched with new elements: a) Demeter's visit to Eleusis and the foundation of the mysteries, and b) the dearth caused by the abduction. The myth is again etiological and seasonal (the abduction causes the seasonal lack of fertility on Earth). In the oldest version Demeter herself would probably descend to Netherworld. We find traces of this version in the Orphic Hymn 41,5. However, in the Homeric hymn, the theme is split into two. Persephone is the one that descends to Netherworld and it is the loss of her daughter what causes the goddess' irritation and the stagnation on Earth. The motivation of the Greek is a divine abduction, not human actions. But the human beings do take part in the propitiation of the irritated deity. The servant Iambe with her derisive comments and, probably, her obscene gestures makes the goddess abandon her irritation. We see in the hymn the theme of the signs both of irritation, as in the Anatolian myth, and of grief, as in the Babylonian one. Later we see an adaptation of the topic of sending the eagle. The goddess does not send an eagle, but she „sped like a bird of prey over dry land and sea" (how much this passage reminds us of the eagle that, looking for Telipinu, „inspects the deep valleys, inspects the dark swell"!). And then, it is said „no one of the birds approaches him as a fast messenger". The Greek poet has adapted the Anatolian theme. 1 0 It is the goddess's irritation that causes a disaster on Earth, now reduced to the lack of vegetation, since Demeter is the cereal goddess. The goddess provokes the famine of men, but not the hunger of the gods any more. It is evident that the Greek poet does not consider proper with his conception of gods that they can suffer hunger. Demeter does not threaten the gods' stomach, but only their honor. But we find curiously traces of this older conception in The Birds by Aristophanes, where the birds build a wall between the sky and the earth leaving the gods without offerings and condemning them to hunger. But continuing with the Hymn to Demeter, it is the Sun god, Helios, who helps Demeter, telling her about the abduction. Although Helios appears traditionally in Greek literature as witness and guardian of right, and as a god that sees everything, its appearance here seems neither fortuitous, taking into account the important role of the Sun god in the myths of the Near East with which we are comparing this one. But it is Zeus, the supreme god, who inter10 Cf. Bernabe 1988.
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venes in the matter and solves the question. In the oriental conception of gods, these can be defeated and recover the power in several occasions, but the supreme god of Greek religion, Zeus, cannot be defeated. The disaster appears only as an unreal hypothesis, and the challenge to his power is immediately controlled by the god. But, what is most important, the Hymn to Demeter is no longer the text of a ritual, as such. It refers to elements of Eleusinian ritual, and it is an aition of their foundation, but it is not recited in it. It is literature in a more modern sense. The relation between the fertility myth and the power seems more vague. It is mentioned the coming of Demeter to the palace of the king of Eleusis, and how she reveals to men the ceremonial of the rites. In a community that has no longer kings, the topic of royalty is transferred to the legitimacy of the sole families that hold the right of celebrating the rites. But we still find the topic of the fleece hanged on a tree related to the legitimacy of royalty in another myth, that of Iason and the Argonautai, who set out in search of the golden fleece, fetish of royalty and the prosperity of earth. Finally, the theme of the stagnation of life due to the lethargy or defeat of a god comes attenuated to the mythology „for wearing around the house" that is the European fairy tale. The big topic is reduced to a domestic matter. The stagnation on Earth is limited to the surrounding area of the palace. It is no longer a divinity that provokes it (we are in a Christian frame); it deals only with a girl in a deep sleep due to the envy of an evil fairy. The solution of the conflict is not the fight but the love kiss of a Prince Charming. The description is humorous, as a consequence of the literary character of European fairy tales.
Kingship in Heaven Our second example leads us to a very well known theme: the relations between the Hittite myth of Kingship in Heaven and Hesiod's Theogony. In this case we are dealing with a myth from the so-called cycle of Kumarbi, coming from the Hurrian field." Güterbock12 pointed out multiple coincidences between the Hittite myths of Kumarbi and that about divine succession in Hesiod's Theogony. Since then, many authors have considered in depth the comparison between both mythical tales from different points of view.13 But, as it is characteristic, they have insisted much more on showing analogies rather than differences. According to the initial approach of this paper, I will insist precisely on the opposite.
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There are remains o f a Hurrite version, that we must date about 16.-17.th century B. C. Cf. Salvini 1977, but they are too scanty to allow a comparison with the Hittite version. Güterbock 1948, following observations by Forrer 1935 and by Barnett 1945. Guterbock edited the Hittite 'Theogony' (Giiterbock 1946). Meriggi 1953, Steiner 1959, Vian 1960, Barnett 1960, Schwabl 1960, Schwabl 1962, Walcot 1966; West 1966, Thompson 1967, Scott Littleton 1970, Kirk 1970; Hölscher 1975, Martinez - Perez Jimenez 1978; Duchemin 1979, Dahle 1980, Burkert 1987, Burkert 1992, Podbielski 1984, Adrados 1986, Adrados 1987, Adrados 1989, Solmsen 1989, Mondi 1990, Penglase 1994; Lebrun 1995, West 1997.
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We shall start with the comparison between the so-called Kingship in Heaven and, less appropriately, Theogony14 and the Hesiod's Theogony. In order to make things easier, I do not present the complete texts of the two myths in a consecutive way, but I fragment them to compare one by one the elements conforming them. First of all, we can observe that both versions share a greater concern for the gods' fight for power than for cosmogonical aspects, and that is the reason why the theme of the origin of the world is simply omitted by the Hittite poet and only outlined in a few verses by Hesiod. 15 CTH238 I 7 Long ago (karu), in primeval years Alalu was king in heaven. Hes. Th. 116 Chaos was first of all (πρώτιστα). We can already find in these verses quoted above a deep difference between the two poems: Hesiod starts by saying which was the first being that appeared in the world, and that is because he is writing a real theogony, in which it is important to refer to the birth of the gods. Therefore, he will mention later a prime couple (Ouranos-Gaia) and some female partners of the gods (Rea, Metis) that are mothers of other gods. On the other hand, the Hittite poet starts telling us who was the first king and later, he does not worry about the birth of the gods, except cases in which the reference to one of them is structurally necessary (as when Tessub is born). As a consequence, the female partners of the gods are simply forgotten. In other words, in the Hittite myth we are not primarily talking about who is born but about who is reigning, whereas in Hesiod, the reference to those that are reigning is closely linked to the reference to those that are born. As regards the characters taking part in the action, in the Hittite myth we are told about four gods which succeed one another in the reign of the heaven: Alalu, Anu, Kumarbi, and Tessub. In Hesiod the divine kings are only three: Ouranos, Kronos and Zeus. Apparently only Alalu does not have parallel in the Greek myth, but, as it has been observed, 16 it is Gaia, the Earth, who takes his place to a certain extent in the Hesiod's text. Like Alalu, she is a deity of earth and is the first divinity to appear after the opening of Chaos. She does not take part in the fight for the power, neither is she deposed, but she is relegated at a given moment. And it is her son Kronos who, like Kumarbi, will take revenge on the celestial divinity that has her relegated. It gives the impression that Hesiod has inserted the scheme of the Hittite text in a genealogical frame, in which the first divinity is the Earth Mother, origin of everything, and beginning of a series of genealogies, an element which has absolutely nothing to do with the oriental sources. But let's return to the Hittite myth. The action starts when Anu, cup-bearer and righthand man of Alalu, strips him of the power. CHT 238 I 9 Alalu was sitting on the throne, and weighty Anu, the foremost of the gods, was standing before him. He was bowing down at his (Alalu's) feet, and was placing in his hand the drinking cups. 14
Cf. Laroche 1965, 153 (text). Cf. et the translation into German by Jakob-Rost 1977; into Italian by Pecchioli Daddi - Polvani 1990; into English by Hoffner 1998; into Spanish by Bernabe 1987. Bernabe 1998 offers an overview of Hittite mythology.
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West 1966, 192; Bernabe 1990. Adrados 1986.
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For a mere nine years Alalu was king in heaven. In the ninth year Anu gave battle against Alalu and he defeated Alalu. He (Alalu) fled before him and went down the Dark Earth. The name Alalu is identified with the Sumerian Alala, one of the „21 fathers and mothers" of the Sky God which are quoted in a list of Babylonian gods. It seems clear that he is an underground god, since, when he is attacked and defeated by his cup-bearer, Alala takes refuge in the earth. As for Anu, his name is clearly identified with the Sumerian Sky God. It is evident the parallelism between Anu and Hesiod's Ouranos: both represent the Sky God personified. In Hesiod (Th.127 al.) he is described as 'starry' (άστερόεις). The continuation of the Hittite story confirms that Anu is a celestial god: CTH 238 I 18 Anu was sitting on his throne, and weighty Kumarbi was giving him drink. (Kumarbi) was bowing down at his feet and placing in his hand the drinking cups. For a mere nine years Anu remained king in heaven. In the ninth year Anu gave battle against Kumarbi. Kumarbi, Alalu's offspring, gave battle against Anu. Anu can no longer withstand Kumarbi's eyes. Anu wriggled loose from his (Kumarbi's) hands and fled. He set out for the sky. The story of Alalu is almost exactly repeated: the reign of 'mere nine years', the conflict (although now it is Anu who takes the initiative against his cup-bearer), the fight and the king's defeat. But in this occasion Anu does not escape towards the dark earth. Since he is a sky god, he tries to soar up to heaven, his dwelling. The name Kumarbi does not tell us anything about his characteristics. But he seems to have an agrarian origin, since in the lists of Hurrit gods of Ras Shamra 17 he matches with the Semitic Dagan, the Grain. 18 The last king to intervene later in the conflict, Tessub, is a Weather god, whose weapon is the ray. The corresponding Greek god, Kronos is described as ά γ κ υ λ ο μ ή τ η ς (Th. 137), an epithet usually understood as 'crooked-plaining', but perhaps, as Cook and West suggest, it originally meant 'of the curved sickle'. 19 This epitet and the fact that Kronos uses a sickle to castrate Ouranos would suggest that we are dealing with an old agrarian divinity. 20 The last gods in the two divine sequences will be Tessub in the Hittite one, and Zeus in Greek one. I do not think it necessary to insist on the obvious functional parallelism between the two, both Weather gods and supreme divinities of the new order. There is, however, a profound difference in the relationship between the gods involved in the fight for power. In Hesiod, Ouranos is the father of Kronos, and the latter is the father of Zeus. It cannot even be said that Ouranos reigns. 21 On the other hand, in the Hittite text, there is not any son who snatches the power from his father. Kumarbi, the god that reigns in
17 18 19 20 21
Haas 1982,34; 131. Cf. Lebrun 1995, 1971 f. Cook 1914-1940, II 549 f., III 928 n. 7; West 1966, 158. Cf. Plut. Aet. Rom. 42. contra West 1966, 205; 218. Cf. Vemant 1971. Ouranos is the first king in heaven following Apollod. 1.1.1, but it is Kronos following Hesiod. The criticism by Dale 1980, 49 is not convincing.
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third place, is 'descendant of Alalu', that is, the first king, but the second god in the skies, Anu, does not seem to have relationship with Alalu, in spite of what we read in some prestigious studies.22 What there is in the Hittite myth is a fight between two lines that compete for supremacy, which perhaps is reflection of a conflict between rival cities23, or maybe better24, it represents the confrontation between two lines of gods: one of a Netherworld god, Alalu, whose descendant is Kumarbi, and other of a celestial god, Anu. The conflict for power between the two lines is solved in a peculiar way: CTH 238 I 23 ff. (But) Kumarbi rushed after him, seized Anu by the feet/legs, and dragged him down him from the sky. (Kumarbi) bit his (Anu's) loins (i. e. genitals) and his 'manhood' (i. e. seed) united with Kumarbi's insides like bronze (results from the union of copper and tin). When Kumarbi had swallowed the 'manhood' of Anu, he rejoiced and laughed out loud. Anu turned around and spoke to Kumarbi: „Are you rejoicing within yourself because you have swallowed my 'manhood ?" „Stop rejoicing within yourself. I have placed inside you a burden. First I have impregnated you with the noble Storm God (= Tessub). Second, 1 have impregnated you with the irresistible Aranzah River (= Tigris). Third, I have impregnated you with the noble Tasmisu. (And) two (additional) terrible gods I have placed inside you as burdens." Kumarbi, in order to prevent Anu from having descendants, he devours his phallus, but his purposes are frustrated because what he becomes himself pregnant. Therefore, Tessub will be the son of Anu, since he comes from the seed of the devoured member of the celestial god, but he is also son of Kumarbi, who, becoming pregnant, plays the role of the mother of the god. This is said explicitly in a Hurrian invocation of Tessub of Halpa 25 Your father Anu fathered you ... your mother, Kumarbi, gave birth to you. In the Hittite myth, Tessub represents a synthesis of the divine functions of a sky god and those of a Netherworld god, which qualifies him better than anybody else for being king in heaven. However, in Hesiod, the generational fight (not between lines) is solved in a different way: Hesiod, Theogony 886ff. Now, Zeus, king of the gods, first took to wife
22
Curiously enough a competent scholar as Kirk 1970, 95 says the following: „Kumarbi goes to excess by swallowing the male member of this father, the sky-god Anu whom he has displaced". The error is repeated by Versnel 1987. 123 and multiplicated by Dahle 1980, 2 0 who presents Alalu as father of Anu and this as father of Kumarbi. Scott-Littleton's version (1970, 94) is more complicated: „Although Anu ... is not specifically identified as Alalu's son, the fact that a god Alalu is listed in a Babylonian god list as father of Anu leaves no doubt as to filial relationship here". But in the Babylonian text there is a different pattern: Anu has many 'fathers and mothers'. On the other hand, in mythological borrowings the parental pattern is no necessarily maintained. For example, Marduk in Hittite myth is different from Tessub, although they would be the same god.
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Laroche 1977, 134. Bernabe 1989, 175f. Cf. Haas 1982, 133.
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Metis, wisest of all, of gods and men. But when she was about to bear the child grey-eyed Athene, he deceived her mind with clever words and guile, and thrust her down into his belly, as he was advised by Earth and starry Heaven. In that way they said, no other god than Zeus would get the royal power over all the gods who live forever. For her fate would be to bear outstanding children, greadly wise, first a girl, Tritogeneia, the grey-eyed ... then se would bear a son with haughty heart, a king of gods and men. Another difference is that in the Hurrian poem, as we have observed, the gods are deposed at regular intervals of 'mere nine years'. 26 In the Hesiod's poem there is not any reference to temporal periods. There is therefore in the Hittite text a cyclical view (maybe a reflection of an old seasonal myth 27 ), of which we do not notice any trace in Hesiod's poem. The main interest of each of the gods involved in Hesiod's Theogony is to prevent their descendants from deposing them. Ouranos tries to avoid the birth of his sons, preventing Gaia from giving them birth (that means probably, that he joined her without stopping): Hesiod, Theogony 154 ff. And these most awful sons of Earth and Heaven were hated by their father from the first. As soon as each was born, Ouranos hid the child in a secret hiding-place in Earth and would not let it come to see the light, and he enjoyed this wickedness. Only his castration will allow the birth of his sons. Kronos, in his turn, allows their birth, but he devours all his sons so that they cannot replace him: Hesiod, Theogony 459 ff. Then, as each child issued from his mother's holy womb and it was brought to his (i. e. Kronos') knees each one was seized by mightily Kronos, and gulped down He had in mind that no proud son of Heaven should hold the royal rank among the gods except himself. For he had learned from Earth and starry Heaven, that his destiny was to be overcome, great though he was, by one of his own sons, and through the plans of mighty Zeus. 26 27
Cf. Lebrun 1995, 1974. Bernabe 1989, 174 f.
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His plans are frustrated when instead of devouring his son Zeus, he devours a stone. We will consider later this aspect. The point is that Zeus escapes alive and probably deposes Kronos, although Hesiod does not tell us that. We have only the prediction of the event that we have just read in the verse 464. From that moment, Kronos becomes an irrelevant character in the poem. In the Hittite poem, there isn't any moral consideration of the events, which are told without any kind of commentary. On the other hand, Hesiod draws a clear line of transgression/ punishment. Both Ouranos and Kronos behave themselves in the wrong way, and, as a result, they are punished and their plans are frustrated. On the other hand, Zeus' coming to the throne is not an act of violence, but something fated (πέπρωτο Hes. Th. 464). His reign is peaceful, fair and accepted by the gods: Hesiod, Theogony 883ff. they ... urged far-seeing Zeus, Olympian, to rule and be king of the immortals. Thus he gave out rank and privilege to each. Also the theme of the castration of a god has totally different purposes, effects and meanings in the two versions. In the Hittite text, which we have already seen, Kumarbi catches Anu when he tries to escape towards the sky and he devours his genitals. His purpose is to prevent Anu from having descendants and, consequently, to get rid of a possible rival that could dethrone him in the future. But his ploy has the opposite effect to that intended. Kumarbi becomes pregnant and he is paradoxically the one that is going to give birth to Anu's descendants. The poet develops later the theme of the difficulties of the god to get rid of his offspring. In the Hesiod's version, Kronos uses a toothed sickle to castrate Ouranos: Hesiod, Theogony 174s She set him in a hidding-place, and put into his hands the saw-toothed scimitar, and told him all the plot she had devised. 28 The secondary effects of Anu's castration and of that of Ouranos are also different. Anu's semen spat by Kumarbi fertilizes the mountain Kanzura. The result of this is the birth of a god, Suwaliya, that is, Tasmisu, Tessub's brother and vizier: CTH 238 I 37ff. When Anu had finished speaking, he went up to the sky and hid himself. Kumarbi, the wise king, spat from his mouth. He spat from his mouth spittle (?) and semen mixed together. What Kumarbi spat up, Mount Kanzura ... ed the frightful. CTH 238 II 82ff. 29 They (the midwives) took care of Mount Kanzura, to deliver a baby ... and Suwaliya, the hero, came out.
28
Cf. a similar motif in The Song of Ullikummi, CTH 345, A III 4 0 - 4 4 Ubelluri spoke to Ea, „When they built heaven and earth upon me, I was aware o f nothing. And when they came and cut heaven and earth with a coppe cutting tool, I was even unaware of that".
29
Hoffner's interpretation differs in this point.
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In the Hesiod's story there is not a god spitting semen. It is blood that pours from the cut Kronos' phallus. Hesiod, Theogony 183ff. for all the bloody drops that leaped out were received by Earth; and when the year's time was accomplished, she gave birth to the strong Furies, and the huge Giants, who fought in shining armour, with long spears, and the nymphs called Meliae on the broad earth. However, in the myth of Kumarbi, we find another extraordinary birth: CTH 238 II 37f. The divine KA.ZAL, the valiant king, came up out of his skull. The identification of the god born from Kumarbi's skull, referred to with the ideogram KA.ZAL, is not clear 30 , but the fact that the born divinity is called 'the hero, the king' seems to point to a male god. It is obvious the parallel between this motif and Athena's birth, told by Hesiod. But the Greek poet has moved the theme to a later moment in the plot, because at this point, it results secondary. In Hesiod's poem, what is devoured is not the member of a god but Zeus' wife, Metis, which causes the god the problem of giving birth to Athena, who will comes out of his skull. Kumarbi, after having given himself birth to KA.ZAL, wants to devour him, as well as Tessub, who is not still born. He is furious due to the humiliation of becoming a woman as a result of his unexpected pregnancy: CTH 238 II 42ff Give me my child, that I may eat him up. He turned me into a woman. 3 1 1 will eat up Tessub. I will smash him like a brittle reed. In the Hesiod's text, however, Kronos devours his sons born of his wife, not because he is angry, but responding to a plan to avoid his deposing, as we can see in the already quoted verses 459ff. of Hesiod's theogony. Another difference is the use of the stone. The Hittite version has at this point some gaps. It seems that, when Kumarbi tries to devour KA.ZAL, the god Ea gives him instead a diorite or basalt stone wrapped in nappies. When the text becomes legible again, we see that Kumarbi hurts his mouth when he tries to devour it and he spits it, so that the stone that has been touched by the god becomes an object of worship. The text continues with the description of the offerings made to the stone by several worshippers. The story seems to have been created to explain the fall of a meteorite. According to Hesiod, Th. 4 6 8 f f , Gaia hides newborn Zeus in a cave and gives Kronos a stone wrapped in nappies instead. Kronos devours the stone but he ends up vomiting it. The stone also becomes an object of worship, but Hesiod reinterprets the oriental theme as an aition that is specifically Greek: the stone existing in Delphos (which received still worship in Pausanias' time). Furthermore, the stone acts as an emetic that makes Kronos vomit all the gods he had swallowed before. 30 31
Cf. Meriggi 1953, 149 (Ishtar?), and Hoffner 1975, 138. Hoffner's interpretation differs in this point.
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Curiously enough in this case Hesiod is betrayed by the words and his vocabulary gets closer to his old source than he intended: Hesiod, Theogony 493ff. when one year passed, Earth entrapped great clever Kronos with shrewd words advising him to bring his offsprings back. (His son, by craft and power, conquered him.) And first he vomited the stone, which he had swallowed last. Kronos vomits the stone and the gods he had inside έ π ι π λ ο μ έ ν ο υ δ' ένιαυτοϋ (v. 493), a usual formula in Greek epic to describe the labor resulting of a pregnancy, although in his own story Hesiod had not related the event as a pregnancy. In the Orphic version of the myth of divine succession related in the Derveni Papyrus, it is Zeus who devours the member of the Sky god and becomes pregnant of the whole creation32, which means that the theme of the pregnancy has come to Greece. But I am not going to develop this aspect because it will lead me away from my main purpose here. The continuation of the story in the Hittite poem Kingship in Heaven is unknown to us, because of the dreadful conservation of the text. We know, however, other poems in which Kumarbi keeps being a thread to Tessub. Although he does not fight personally with him any more, he goes on fathering descendants to dethrone him. We cannot go into details in the stories told in the Hedammu and in the Song of Ullikummi. I will confine myself only to point out that Kumarbi fathers rivals of Tessub. They beat him, until the deposed and defeated god occupies the reign again. In Hesiod, however, the Titans and Typhoeus represent challenges to Zeus' power that are never fulfilled: the absolute end of the story is the establishment of order. Zeus, chosen by general consent, remains as undisputed lord of gods and men. This has nothing to do with instability of Tessub's power. Therefore, we observe that, although we find in Hesiod's Theogony undeniable traces of the influence of the Hittite poem Kingship in Heaven, it is not less true that the poet (or the tradition he depends on, or both) does not assume them in a mechanical way, but he adapts them in order to make them compatible with the typically Greek religious ways of thinking. It is obvious that in a cosmogony or a theogony we work on the assumption that the mythical story conditions and founds the structure of the world and a status of divinity. In the same way as the Hittite mythical story differs from the Greeks one, the Hittites image of the world and of the divinity also differs from the Greek one. It would be better to invert the terms: it is the fact that the Greek and the Hittite do not share the same view of the world and of the gods that motivates the differences between the two mythical stories. Let's summarize first of all the differences in the mythical story derived from our analysis. Both poems deal with the fight for the power, which is correlative to a conflict between order and disorder. In the Hittite myth the centre of the conflict is the instability of divine power, due to a fight between a celestial line and a Netherworld one, in which the kings are cyclically dethroned. The conflict between the two lines must be stopped. The way to solve it and to impose a new order consists in the pregnancy of a male god, which allows the merg32
Cf. Bernabe 2001, with bibliography.
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ing of the two lines into one. Tessub, the last king, represents the synthesis of the two. The conflict persists later, with cyclical dethronement of the god (going back to disorder) and recovering of power. In the Greek myth, there is only one line involved. It is a generational problem instead of a cyclical one, and it is necessary to prevent descendants from seizing power. Zeus is the last king because he succeeds in avoiding the birth of a dangerous heir. The synthesis heavenearth had been achieved from the very beginning by means of the union of a female-male divine couple. On the other hand, the story in the Hittite myth is open, in perpetual conflict. The last god is defeated again and again, he is even mutilated, he suffers, is afraid and he must recover the lost power again and again. Divine power is, therefore, unstable. In the Greek myth, the story is closed. The menaces against the last god's power fail and Zeus never sees his reign seriously threaten. This means that, while in the Hittite myth disorder is a threat carried out at regular intervals in a story that never ends, for Hesiod the current order remains permanently settled. There is a different reorganization of the secondary and marginal elements. For example, the Hittite myth develops the theme of the morn parturiens, a topic that appears also in other instances of their religious literature. The Greeks, on the other hand, structure the birth of secondary gods, like the Meliae or the Giants, according to associative etiological principles, foreign to the Hittite myth and specifically Greek. It is introduced the topic of Athena's birth, in a different place from one it had in the Hittite myth. Following this comparison, we can summarize the differences between the Hittites and the Greeks in their conception of world order. For the Hittites, the world order is precarious, cyclical, capricious and in perpetual conflict. Human beings are seen as toys in the conflicts among gods, which produce sporadic disasters. The world order can be altered at unforeseeable intervals. For Hesiod, however, the world is stable, static, with a linear development, without conflicts among gods and governed by divine justice. There is a clear assessment of the told events. Hesiod establishes a division between two periods. The first period, that of Ouranos and Kronos, is characterized by injustice and by a transgression-punishment dynamics. The second period is presided by the justice of a fair and rational sovereign god, Zeus. Zeus does not only have power and introduces order. He also introduces justice. Human beings live still in precariousness, but it derives from the supreme god's will. They hope that a fair behavior will also receive a fair reward. Consequently, Tessub is for the Hittites a god in a precarious situation, without a total control of the situation. His whining image when he sees Ullikummi and the description of his defeat and humiliation contrast with the hesiodic image of Zeus as a strong, undisputed god that controls the situation. The challenge to Zeus' power is only a possibility immediately aborted. His power is never really in danger. Above all the similarities, the predominant role the Greek poet gives to Zeus leads him to distort remarkably the oriental myth, in order to make it compatible with the Greek religious ways of thinking. His characteristics tend to be described as respectable. As a result, the quod non decet of the oriental myth is deleted in the Greek version. In the Hittite version the 'harsh' elements are abundant: a castration by biting, the hunger of the gods and the lack of a moral assessment of the events.
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Hesiod tends to minimize the aspects that are 'indecorous' for his view of the supreme god. The castration is carried out by means of a sickle; gods are attacked in their honor and never in their stomach. There is a strongly patriarchal view of the supreme god, there are allusions to the family, and the decrease of masculinity that would be produced by the god's pregnancy is avoided. The birth of Athena from Zeus' head is not described as a pregnancy of Zeus. It was Metis who was pregnant and is inside him. This is an 'arrangement' we can consider more rationalized and 'normalized'. To sum up, as it happens always in the adaptation of myths from one community to another, Hesiod, too, has inherited narrative sequences, adventures, and segments of plot or basic motives of an oriental myth. However, these elements have a meaning for the Hittites, in the light of basic interests of their own culture, their religious, social and ideological coordinates, while in the Greek field, these narrative sequences or arguments crystallize in another structure with totally different meanings. We have seen how the myths about Kumarbi and those told in Hesiod's Theogony work with materials from the same quarry, but they put up totally different buildings, as it happens in our first example. And also how the basic ideologies of two cultures are clearly manifested in the adaptation of a common mythical material.
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1.
Zu Forschungsgeschichte und methodischem Ansatz
Franz Dornseiff hat in seinem 1934 publizierten und vielbeachteten Aufsatz „Hesiods Werke und Tage und das alte Morgenland" auf die weite Verbreitung belehrender Literatur im Alten Orient aufmerksam gemacht und damit einer schon von Friedrich Hölderlin 1790 begründeten Forschungsposition neuen Auftrieb gegeben, die Hesiod in die Tradition nahöstlicher Spruchweisheit stellte. Der Wiederabdruck dieses Beitrags in der Sammlung seiner Schriften „Antike und alter Orient" und in dem von Ernst Heitsch herausgegebenen Sammelband „Hesiod. Wege der Forschung" zeigt Akzeptanz und Breitenwirkung dieses Ansatzes auf, der bis in die heutige Literatur hineinwirkt. 2 Dornseiff verweist darauf, daß die unter dem Begriff ,Weisheitsliteratur' bzw. .Weisheitstexte' zusammengefaßte Gattung ein charakteristisches Element nahöstlicher Literatur darstelle. 3 In ihren Grundschemata, in Einzelmotiven und in einzelnen Sprüchen und Mahnungen ließen sich auffallende Parallelen finden, die identisch oder fast identisch auch in dem bekanntesten griechischen Lehrgedicht, Hesiods „Werken und Tagen", begegneten. Die „Werke und Tage" seien ein Lehrgedicht, von Vers 342 an ein gnomisches Lehrgedicht, das sich vordergründig an den Bruder Perses und die Basileis als Schiedsrichter wende, doch seien dies nur herausgegriffene Muster von
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Für Hinweise und Korrekturen danke ich Fabian Goldbeck. Dornseiff 1934. Eine Würdigung von D o m s e i f f s wissenschaftlichen Arbeiten findet sich bei Werner 1986a. Schmidt 1986, 64 akzeptiert im großen ganzen die Position Domseiffs: „Was Hesiod und Homer, nach Dornseiff, eint, ist zu einem guten Teil der ihnen gemeinsame Rückgriff auf orientalisches Formund Gedankengut. Daß Dornseiff bei der Beobachtung dieses Prozesses einige seiner glücklichsten Entdeckungen gemacht hat, ist heute nicht mehr strittig. Dies gilt für Hesiods Göttermythen wie für seine Spruchweisheit und selbstverständlich für seinen Weltaltermythos" (ähnlich S. 69; vergleiche aber auch einige kritische Bemerkungen dazu S. 69f.).
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So auch Preuß 1987, 27: Weisheitsliteratur als „Gemeingut des Alten Vorderen Orients". Weisheitstexte als charakteristische altägyptische Literaturgattung auch Sternberg-el Hotabi 1991, 191. - Einen Überblick über die Forschungsgeschichte der alttestamentlichen Weisheitsliteratur geben Westermann 1990, 1 1 - 1 3 und Weeks 1994, 6 - 1 9 .
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Adressaten. Wie die Lehrschriften im alten Orient werde Hesiods Werk durch einen realen oder fingierten Fall aus dem eigenen Leben eingerahmt, um das eigentliche Kernstück, die Lehrsprüche, literarisch zu beleben. Aufgrund dieser Parallelen im Aufbau, in der Rahmenhandlung, in den sprachlichen Ausdrucksformen und in der inhaltlichen Aussage hatte Dornseiff geschlossen, daß Hesiod sehr stark von dieser nahöstlichen Literaturgattung beeinflußt war. Insbesondere ließen sich viele Übereinstimmungen mit den Sprüchen Salomos aufzeigen. „Und das ganze Hesiodische Lehrgedicht ebenso wie den Theognis kann von der altorientalischen Weisheitsspruchliteratur nur trennen, wer nicht sehen will", und: „Griechische und israelitische Literatur reflektieren unabhängig voneinander altvorderasiatische Tradition. Hier spiegeln sie gnomische Literatur, die fur sie beide Voraussetzung ist".4 Nicht nur hinsichtlich der „Werke und Tage" vertrat Dornseiff die Auffassung, es sei - so eine spätere Würdigung - „die frühantike Welt aus ihrer Isolierung zu befreien und sie durch eine Fülle von wechselseitigen Bezügen hineinzustellen in den Kultur- und Lebenszusammenhang der Welt des Alten Orients". 5 Mit der Auffassung, die Welt habe nicht mit den Griechen begonnen und die Entstehung der griechischen Kultur sei keine creatio ex nihilo gewesen, vertrat Dornseiff eine antiklassizistische und antieuropazentrische Position, wobei diese Auffassung einer .semitischen' Beeinflussung, nach 1933 formuliert, politische Brisanz hatte. 6 Dabei setzte Dornseiff voraus, daß die frühen Griechen in gewissem Umfang Kenntnisse fremder Sprachen hatten, denn nur so hätten die Literaturen in Ägypten und im Vorderen Orient Hauptinspirationsquelle frühgriechischer Dichter werden können. 7 Franz Dornseiff ging es bei seinen vergleichenden Untersuchungen auch darum, durch den Nachweis solcher Parallelen die Echtheit einzelner Verse bei Hesiod (als Übernahme aus nahöstlichen Weisheitstexten) zu untermauern. 8 Die Publikation des Dornseiff sehen Beitrags fiel in eine Zeit, in der auch in anderen Bereichen eine spezifische Nähe, ja eine unmittelbare Abhängigkeit von nahöstlichen Vorbildern postuliert wurde. Ich verweise in diesem Zusammenhang nur auf die Untersuchungen von Max Mühl zur frühen griechischen Gesetzgebung, die insgesamt durch den Nahen Osten initiiert worden sei und die bei verschiedenen Rechtsbereichen auf Inhalte und Verfahren nahöstlicher Vorbilder zurückgegriffen habe.9 Den von Dornseiff eingeschlagenen Weg hat vor allem Peter Walcot weiterverfolgt, der aufgrund neuerer Editionen nahöstlicher Texte auf weitere Parallelen hinweisen konnte. 10 In einer 1966 publizierten Monographie „Hesiod
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Dornseiff 1934, 77f.; 84. So Hermann Kleinknecht (zitiert nach Werner 1986b, 19). Schmidt 1986b, 54 verweist auf eine rückschauende Bemerkung Dornseiffs von 1953, wonach er seinerzeit „aus Opposition gegenüber der Bevormundung von oben seit 1933 und der dazugehörigen halbgebildeten Aufwärmung der Autarkie, Bodengebundenheit des Volksgeistes romantischen Angedenkens" seine Position formuliert habe. In diesem Sinne faßt Werner 1986b, 18-20 die Position Dornseiffs hinsichtlich der Beziehungen zwischen Altem Orient und Griechenland zusammen (ähnlich Schmidt 1986, 54-58). Schmidt 1986, 58. Mühl 1933. Zu den Berichten über weite Reisen griechischer Gesetzgeber, insbesondere nach Kreta und Ägypten, siehe Hölkeskamp 1999, 45-48. Walcot 1962a; Walcot 1962b; Walcot 1966, 80-103. - Texte und Übersetzungen nahöstlicher Weisheitstexte finden sich bei Lambert 1960, 96-107 (Counsel of Wisdom); 121-138 (SamaS Hymn); Pritchard 1955, 412—430 (Proverbs and Precepts; darunter 420f.: The Instruction of Ani [Auszüge]; 426f.: Counsel of Wisdom; 4 2 7 ^ 3 0 : The Words of Ahiqar); Volten 1937; Volten 1940; Volten 1941; Licht-
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and the Near East" hat er fur die einzelnen Partien von Hesiods Theogonie und die Erga kai hemerai Parallelen in den nahöstlichen Quellen zusammengestellt. Für die Pandorageschichte und den Zeitaltermythos sei bereits ein nahöstlicher Ursprung vorgeschlagen worden, doch weist Walcot auch auf Gegenpositionen wie die von Martin Nilsson hin und resümiert: „as yet we have no really convincing analogy"." Dies gelte aber nicht für andere Elemente von Hesiods Werk, sei es für den bäuerlichen Arbeitskalender, sei es für die mahnenden Sprüche, sei es für den Plot der Rahmenhandlung. 12 Nach Walcot bietet Ägypten für einen Vergleich den reichhaltigsten Quellenfundus, Werke vom 3. Jahrtausend v. Chr. bis in die Zeit nach Hesiods „Werken und Tagen". Trotz der großen zeitlichen Spanne beinhalteten die Sammlungen die gleichen moralischen und praktischen Anweisungen. Immer wieder gehe es darum, sich von schlechter Gesellschaft fernzuhalten, Hilfe für den Bedürftigen zu leisten, sich nicht durch Unrecht seinen Lebensunterhalt zu verschaffen, denn nur rechtschaffene Arbeit zahle sich auf die Dauer aus, den Kult gegenüber den Göttern gewissenhaft zu erfüllen, sich des Streits und der Feindschaften zu enthalten und keine unangemessene Rede zu fuhren, um sein Ansehen in der Gemeinschaft zu wahren. Diese Parallelen führten Peter Walcot dazu, von einem „common heritage of Europe and the Orient" zu sprechen. 13 Allerdings räumt Walcot ein, daß es im einzelnen durchaus bemerkenswerte Unterschiede gebe, die zeigen, daß Hesiod die nahöstlichen Vorlagen auf die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen Griechenlands abgestimmt hat. Die bäuerlichen Arbeitskalender seien „adapted to different patterns of economy". 14 Trotzdem sei an einer grundsätzlichen Inspiration und einer Übernahme nahöstlichen Gedankenguts nicht zu zweifeln, und Hesiod habe mit seinem, durch die bäuerliche Welt geprägten Werk wiederum auf spätere Werke nahöstlicher Weisheitsliteratur, so auf die demotische Lehre des Anchscheschonqi, eingewirkt. Auffällig sei nämlich, daß die Lehre des Anchscheschonqi stärker als andere Spruchsammlungen aus dem
heim 1983 (Instruction o f Anksheshonqy; Instruction of Papyrus Insinger; minor wisdom texts); Thissen 1984 (Lehre des Anchscheschonqi); Weisheitstexte 1991 (Lehre des Ptahhotep; Lehre des Amenemope; Lehre des Anchscheschonqi; Lehre des P.Louvre 2414; Lehre des P.Insinger; Geschichte und Sprüche des Achiqar); vgl. Weisheitstexte 1990. Zur alttestamentlichen Weisheitsliteratur Küchler 1979; Preuß 1987; Westermann 1990. Nach Westermann ist das Buch der Sprüche, in dem kurze Sprüche beherrschende Bedeutung haben, im Vergleich zu den anderen Weisheitsschriften (Hiob, Prediger, Jesus Sirach, Weisheit Salomos) als früheste Sammlung anerkannt. Ein Überblick über die ägyptischen Weisheitstexte und Spruchsammlungen in Mesopotamien bei West 1978, 3 - 1 5 ; Preuß 1987, 1 3 - 1 9 ; 2 3 - 2 7 ; Weeks 1994, 1 6 2 - 1 8 9 . 11
Walcot 1966, 85. Als Fazit formuliert er: „The Near East does not help us at the moment with the myth o f the ages" (S. 86).
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Walcot 1966, 8 0 - 1 0 3 . Walcot 1962b, 14. Ähnlich schon D o m s e i f f 1934, 77: „Immer wieder zeigt es sich, daß man in der älteren griechischen Literatur mit einem starken altvorderasiatischen Stratum zu rechnen hat, einer langen und großen literarischen Tradition, von der sowohl die Griechen wie die Israeliten abhängen" und Dornseiff 1937, 37: „Vielmehr sind die Griechen auch literarisch, w o wir sie von etwa 1000 ab sehen, Teilhaber an der Jahrtausende alten gemeinsam vorderasiatisch-mittelmeerischen Kultur". Ähnlich Burkert 1984, 1 1 0 - 1 1 4 . Eine intensive Beeinflussung griechischer Literatur durch die des Nahen Ostens sieht Bremmer 1980, der zu einem Neufund eines Archilochosfragments mit einer sprichwörtlichen Redensart bemerkt: „It therefore seems likely that the proverb derived from the Middle East and is one more example o f the fastly growing material testifying the strong influence of the Ancient Near East on Archaic Greece".
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Walcot 1962b, 22. Ebenso West 1997, 306f.
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Nahen Osten Bilder vom bäuerlichen Leben und aus der Natur einbezieht, so daß ein bäuerlicher Adressatenkreis anzunehmen ist. „Passage after passage from Hesiod may be set beside an extract from the Instructions of ,Onchsheshonqy' where we find the identical sentiment expressed, and the accumulation of parallels which results is most impressive. Whichever way the influence flowed, that one text did influence the other seems beyond dispute". 15 Allerdings sei angemerkt, daß Walcot in seinen Arbeiten zur bäuerlichen Lebenswelt im archaischen Griechenland auch den Erkenntnisgewinn durch einen strukturellen Vergleich mit anderen bäuerlichen Gesellschaften anerkannt und angewandt hat, wobei er von der Voraussetzung ausgegangen ist, daß unter gleichen strukturellen Bedingungen gleiche oder ähnliche Strategien entwickelt werden, ohne daß eine direkte Beeinflussung vorliegen muß. 16 Relativiert wurde die Auffassung von einer unmittelbaren und direkten Abhängigkeit der „Werke und Tage" von nahöstlichen Vorläufern durch Verweise auf Weisheitsliteratur, die es eben nicht nur im Nahen Osten gab. In seinem umfangreichen und bis heute als Standardwerk benutzten Kommentar hat Martin L. West bei den einzelnen in die „Werke und Tage" eingeflochtenen Sprüchen nicht nur auf diese nahöstlichen Parallelen, sondern auch auf jene aus anderen Kulturen - aus Irland, England und Frankreich, aus Italien und Deutschland in Mittelalter und Neuzeit, aber auch aus Afrika - verwiesen. 17 Traditionen solcher Art können also unabhängig voneinander an verschiedenen Orten entstehen. Damit wird eine direkte Beeinflussung in Frage gestellt bzw. sie benötigt zusätzliche Beweise. 18 Martin L. West nimmt allerdings bei den anderen Elementen der „Werke und Tage" - den Fabeln und dem Zeitaltermythos - nahöstliche Einflüsse an. Und: die Nähe von Hesiods Gedicht zu nahöstlicher Weisheitsliteratur sei enger als zu Texten anderer Kulturen, so daß man es, wäre die Herkunft unbekannt, in diesen Zusammenhang einordnen würde. 19
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Walcot 1966, 88. - Die Lehre des Anchscheschonqi ist eine auf einem Papyrus der spätptolemäischen Epoche überlieferte demotische Spruchsammlung, die häufig in das 5./4. Jahrhundert v. Chr. datiert wird. Vgl. aber Thissen 1991, 251: „Die demotische Schrift weist in die späte Ptolemäerzeit, eine genauere Datierung ist nicht möglich". Insbesondere Walcot 1970; Walcot 1974. Zum Erkenntnisgewinn des strukturellen Vergleichs Walcot 1970, 9-13. Eine Einbeziehung fremder, u. a. auch afrikanischer Spruchweisheit ebenso bei Westermann 1990, 10; 151-161. West 1978, 3-29; 27: „The question of Near Eastern influence on the genre must now be raised. We must distinguish between content and form. As far as content is concerned, the commentary will show that many of Hesiod's principles and sentiments can be paralleled from oriental wisdom texts. This, however, may be evidence not so much of interaction between one literature and another as of basic similarity between ancient peoples in their moral outlook and to some extent in their forms of expression. Often we are simply observing that they are more like each other than they are like us - not a very surprising state of affairs in view of our distance from them. In some cases a shared idiom or concept may suggest a more significant relationship, but one to be accounted for from general cultural diffusion rather than from the influence of any particular type of literature". Zum Zeitaltermythos und den Fabeln West 1978, 28f. (vgl. Walcot 1966, 89f.). Für einen entscheidenden Aspekt hält West die Grundkonstellation in Hesiods „Werken und Tagen", die aus der Sicht einer Person geschrieben sind, die Unrecht erlitten hat. Eine solche Position ist auch in nahöstlichen Texten (Achiqar und Anchscheschonqi) eingenommen und in älteren angelegt (so die Complaints of the Peasant und Father and Misguided Son). Seine Position zu nahöstlichen Einflüssen im Werk Hesiods hat West erneuert in West 1997, 306-333.
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Miriam Lichtheim, die in einer 1983 erschienenen Monographie über die spätägyptische Weisheitsliteratur die in demotischer Sprache abgefaßten Lehren des Anchscheschonqi, des Insinger Papyrus und solche auf einigen kleineren Fragmenten in neuer Übersetzung mit Kommentar vorgelegt hat, stellt keine Verbindung zwischen diesen Texten und Hesiods Lehrgedicht her. 20 Wohl sieht sie viele Übereinstimmungen mit der unter dem Namen Menanders laufenden Sentenzensammlung und mit der Spruchsammlung des Sextus, die in der Zeit um 200 n. Chr. zusammengestellt wurde. Aufgrund der Hellenisierung des östlichen Mittelmeerraumes in der Zeit nach Alexander dem Großen scheinen mir die Voraussetzungen für einen kulturellen Austausch in dieser Zeit ganz andere gewesen zu sein, so daß nicht ohne weiteres Ähnliches für die archaische Zeit vorausgesetzt werden kann. Insofern ist es bezeichnend, daß Miriam Lichtheim die „Werke und Tage" Hesiods nicht mit einbezieht. Skepsis gegenüber einer direkten Beeinflussung äußert auch Heinz Josef Thissen, der in einer neuen Bearbeitung der Lehre des Anchscheschonqi als Fazit formuliert, man tue gut daran, inhaltliche Ähnlichkeiten zu konstatieren, ohne gegenseitige Abhängigkeiten zu konstruieren. Die (zeitlich nach den „Werken und Tagen" entstandene) Spruchsammlung des Anchscheschonqi stehe in ägyptischer Tradition, ebenso wie die Lehren auf dem Papyrus Insinger; dort seien die Vorläufer zu suchen, nicht in Hesiods Gedicht. Thissen steht also der Auffassung von Walcot, Hesiod habe einen Einfluss auf die späten ägyptischen Weisheitstexte ausgeübt, kritisch gegenüber. Der Kompilator der Sammlung habe die Sprichwörter seiner Zeit zusammengestellt und gebe damit ein Spiegelbild seiner Gesellschaft. 21 Insgesamt herrscht in der gegenwärtigen Forschung, die sich mit ägyptischer und alttestamentlicher Spruchweisheit beschäftigt, eher Skepsis vor, ob nahöstliche Weisheitsschriften die bei Hesiod enthaltene Spruchweisheit unmittelbar beeinflußt haben oder umgekehrt Elemente aus Hesiods Werk Eingang in demotische Weisheitsschriften gefunden haben. Vielfach ist Hesiods Lehrgedicht aus den Untersuchungen ausgeklammert und nur ein Vergleich mit hellenistischer und kaiserzeitlicher Spruchweisheit gefuhrt. Insgesamt ist statt einer bereitwilligen Annahme einer engen Verflechtung im inhaltlichen und sprachlichen Be-
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Lichtheim führt bei ihren Hinweisen zu den „Greek Gnomologia" nur die pseudo-isokrateische Schrift Ad Demonicum, die Sentenzen des Menander und des Sextus an (ebenso bereits Küchler 1979). Ob es eine direkte Beeinflussung gab, läßt sie offen (Lichtheim 1983, 2 4 - 2 8 ; 27: „If the author o f the Instruction o f Ankhsheshonqy had some knowledge o f Hellenistic gnomologia, he would have found there models for his own manner of composition"; siehe auch S. 65 und etwas deutlicher S. 185: Der Kompilator der Lehre des P. Insinger habe Kenntnis von der „international culture o f Hellenism"). Ähnlich Lichtheim 1979, 3 0 1 - 3 0 5 .
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Thissen 1984, 6f.; ähnlich Thissen 1991a, 251: „Die auf die Einleitung folgenden, meist einzeiligen Sprichwörter, Redensarten, Aphorismen usw. spiegeln die Vertrautheit des Verfassers mit der .Weisheit' seiner Zeit wider, sie beweisen seine Kenntnis aramäischer, hebräischer und hellenistischgriechischer Quellen" (Hervorhebung von mir). - Schwer einzuschätzen ist die bei Strabon (16,762) und Clemens von Alexandrien (Stromata 1,15,69) überlieferte Nachricht, daß Demokrit von Abdera Sprüche von einer „Stele des Achiqar" übersetzt habe (als Titel im Titelverzeichnis bei Diog. Laert. 5,50). Nach Cowley 1923, 206 ist mit Akikaros bzw. Akicharos ohne Zweifel Achiqar gemeint. Nach Kottsieper 1991 gehört die Erzählung in das 8. oder beginnende 7. Jahrhundert v. Chr. und in einen reichsaramäischen Kontext, während die Sprüche auf südsyrisch-libanesische Traditionen zurückgehen, so daß eine Nähe zur alttestamentlichen Weisheit nicht erstaunt. Von der Geschichte und Lehre des Achiqar gibt es zahlreiche Übersetzungen in syrischer, arabischer, armenischer, türkischer, altslavischer und äthiopischer Sprache (dazu Kottsieper 1991, 320f.).
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reich eine deutliche Vorsicht zu spüren, die solche Einflüsse offen läßt oder eher ablehnt. 22 Neuere, detaillierte Untersuchungen zu den ägyptischen und alttestamentlichen Weisheitsschriften, zu deren gegenseitigen Abhängigkeiten, zu Gemeinsamkeiten (bis hin zu wörtlichen Zitaten) und Unterschieden ermöglichen es mittlerweile, Entwicklungen und Tendenzen in der nahöstlichen Weisheitsliteratur festzumachen, ihren Kontext zu rekonstruieren und damit einen differenzierteren Vergleich mit den griechischen Texten zu fuhren. 23 Bemerkenswert ist, daß es auch den neueren Untersuchungen wie denen von Max Küchler oder Miriam Lichtheim vorrangig darum geht, Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Spruchsammlungen aufzudecken, womit eine gegenseitige Abhängigkeit und Beeinflussung zumindest nahe gelegt wird. Zwischen den verschiedenen altägyptischen Weisheitslehren lassen sich solche Abhängigkeiten mitunter zweifelsfrei nachweisen, ζ. B. durch identische Formulierungen oder Bilder oder durch direkte Zitate aus früheren Lehren, wie sie Hellmut Brunner zusammengestellt hat. 24 Eine Abhängigkeit der griechischen Lehren von nahöstlichen Vorbildern beurteilt Brunner aber als unwahrscheinlich. Bei den von Brunner angeführten Verweisen in Form von Zitaten innerhalb der altägyptischen Lehren ist eine deutlich engere Nähe in Inhalt und sprachlicher Form gegeben, wie sie sich in Hesiods „Werken und Tagen" nicht nachweisen läßt. 25 Der philologisch ausgerichtete Ansatz, inhaltliche und sprachliche Parallelen aufzuweisen, hat in den Arbeiten über die nahöstliche Weisheitsliteratur lange Zeit im Vordergrund gestanden. Die Spruchsammlungen wurden vorrangig als literarische Werke behandelt - was
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So etwa das Fazit von Sternberg-el Hotabi 1991, 193: „Die Sprichwörter der Lehre des Anchscheschonqi finden sich in gleichen oder ähnlichen Wortlauten in anderen Sprachen und bei anderen Völkern wieder. Doch die Frage der Beeinflussung der ägyptischen Literatur, etwa durch die griechische, ist durchaus eine offene". Steiert 1990, 191-209 beschreibt zwar eine enge Nähe zwischen alttestamentlichen und mesopotamisch-ägyptischen Weisheitsschriften, hält aber den Beweis einer Abhängigkeit für nicht möglich. Eine ähnliche Zurückhaltung zeigt sich auch in der althistorischen bzw. altphilologischen Forschung. So ist die Position von Maria S. Marsilio eher skeptisch: „Comparing Hesiod, Perses, and the dramatization of the brothers' quarrel to similar characters and themes in extant Greek and Near-Eastern ,wisdom' literature does indeed facilitate interpretation of Works and Days. But the brother-to-brother instruction in Works and Days has no parallel in surviving Near-Eastern wisdom texts (...), where the standard pattern is father-to-son advice" (Marsilio 2000, 64). Unentschieden bleibtauch Lamberton 1988, 108. 23 Einen Überblick über verschiedene Phasen innerhalb der Weisheitsliteratur und der für jede Phase kennzeichnenden Charakteristika gibt Sternberg-el Hotabi 1991. Zum Vergleich der verschiedenen demotischen Weisheitstexte Lichtheim 1983; Thissen 1984, 1-7. Auch Assmann 1979 trägt zu einer solchen Differenzierung bei. Zur Deutung der altägyptischen Texte als Grablehren siehe Bergmann 1979. 24 Zu der Schwierigkeit, solche Abhängigkeiten und damit die Verbreitung von Spruchweisheit stichhaltig nachzuweisen, Brunner 1979. Zu beobachten ist bei den nahöstlichen Weisheitstexten die Tendenz, eine Spruchsequenz zu zitieren, sie dabei gleichzeitig aber zu variieren. Als Beispiel aus der Lehre des Djedefhor nennt Brunner: „Wenn du ein Mann in selbständiger Position bist, dann gründe dein Haus, dann heirate eine kräftige Frau", was bei Ptahhotep variiert ist zu: „Wenn du ein Mann in selbständiger Position bist, dann gründe dein Haus, dann liebe deine Frau wie es sich gehört" (Brunner 1979, 112). In der Sache entspricht dies Hes. erg. 405/7, doch es ist zu berücksichtigen, daß diese Elemente (Feld, Haus und Ehefrau) die typische Grundlage des selbständig wirtschaftenden Bauern in vielen Gesellschaften ist. 25 Zu den wortwörtlichen Übersetzungen innerhalb der ägyptischen Weisheitsschriften siehe die von Brunner 1979, 112f.; 119; 132 angeführten Beispiele. Zu den Abhängigkeiten innerhalb der altägyptischen Weisheitsschriften siehe auch Lichtheim 1983, 21 f.
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sie natürlich auch sind - , die als Literatur rezipiert, verbreitet und in andere Sprachen übersetzt wurden. 26 Geringeren Stellenwert hatten hingegen Versuche, die Sprüche auf ihren sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund und auf die kommunikativen Bedingungen hin zu untersuchen. 27 Zu diesen Aspekten bieten literaturwissenschaftliche, historische und ethnologische Untersuchungen weiterfuhrende Ansätze. Literaturwissenschaftliche Arbeiten haben sich nicht nur mit literarischen Hochformen, sondern auch mit volkskundlichem Material auseinandergesetzt, also mit den in der Literaturwissenschaft so genannten einfachen Formen' wie sprichwörtlichen Redensarten, Sprüchen, Dorfgeschichten (folk-tales), den Texten von Volksliedern usw., die in praktisch allen Gesellschaften anzutreffen sind. Vor allem soziologische, speziell agrarsoziologische und auf solchen Grundlagen aufbauende ethnologische Forschungen haben sich bemüht, die Strategien und Mechanismen, den sozialen Ort und die Bedeutung dieser Formen der Kommunikation zu analysieren. 28 Eine besondere Bedeutung haben Sprüche in traditionalen, wenig differenzierten Gesellschaften. Sie stellen einen zunächst mündlich tradierten Code dar, der die Gedanken und Werte, die Auffassungen und Beschreibungen nicht der Oberschicht, sondern mittlerer und unterer, meist bäuerlicher Schichten in eine spezifische Form der Kommunikation faßt. In diesen Gesellschaften dienen die Sprüche vornehmlich der Integration der heranwachsenden Generationen in die Werteordnung der Gemeinschaft, aber auch der ständigen Vergewisserung, daß die Werteordnung dieser traditionellen Gruppen Bestand hat und man sich zu ihr bekennt. Die Dorfgeschichten, die volkstümlichen Erzählungen und die Sprüche setzen bestimmte Entstehungsbedingungen voraus: - eine abgeschlossene Gemeinschaft einer face-to-face society mit einer geringen sozialen Stratifizierung, die ein einheitliches Werte- und Normensystem ermöglicht; - einen gemeinsamen Erfahrungshorizont, denn nur dies erlaubt es, Sprache in solcher Weise zu verkürzen; - eine verbreitete Oralität, die darauf angewiesen ist, Bewahrenswertes in eine kurze, prägnante Form zu bringen, um es zu tradieren und gegen Veränderungen zu immunisieren. So können normierte Handlungs- und Beziehungsmuster an die folgende Generation weitergegeben werden. Generell sind einfache, traditionale, bäuerliche Gesellschaften normierender als differenzierte, städtische Gesellschaften. 29 Aufgrund der Ergebnisse dieser Untersuchungen ist davon auszugehen, daß in vielen Gesellschaften mit gleichen oder ähnlichen wirtschaftlichen und 26
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So auch Schmidt 1986, 57 über die Thesen Dornseiffs: „Seinerseits sieht er Literatur vor allem von Literatur beeinflußt, es ist für ihn ein Prozeß bewußter Übernahme inhaltlicher und gestalterischer Elemente" (Hervorhebungen bei Schmidt). Vgl. S. 58; 70. Eine Ausnahme stellt das Buch von Hermisson 1968 dar, der S. 2 7 - 3 6 die kommunikativen Bedingungen für die Sprüche behandelt. Zu Form, Definition und Anwendungsbereichen der Sprüche Hain 1951, 3 2 - 7 9 ; Ammar 1954, 1 6 1 163; Ohly 1960; Herzenstiel 1968; Planck/Ziche 1979, 139f.; Mieder 1993, bes. 3 - 4 0 . Zu den verschiedenen Arten ,einfacher' Sprachformen (Sinnspruch, Epigramm, Gnome, Sentenz, Aphorismus, Apophthegma, Maxime, Witz, Sprichwort): Fleischer 1991, 2 4 - 6 2 . Vgl. llien 1976. - Zur Verbreitung Fleischer 1991, 9: Der Spruch „umfaßt mehrere, mitunter auch sehr verschiedene Phänomene, tritt in diversen kommunikativen Situationen auf und ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Kultur". Zu Funktionen und Kontexten auch Mieder 1993, 1 lf. Dazu Planck/Ziche 1979, 8 7 - 9 0 . Zur Bedeutung der Oralität auch Westermann 1990, 10.
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sozialen Bedingungen solche kommunikative Formen herausgebildet wurden. 30 Ungeachtet dessen können die Sprüche aufgrund der sprachlichen Prägnanz eine ungeheure Verbreitung erfahren. 31 Untersuchungen zu Sprüchen und Sprichwörtern haben gezeigt, daß einer der zentralen Geltungsbereiche des Sprichworts die bäuerliche Familie, die bäuerliche Hausgemeinschaft, die bäuerliche Dorfgemeinschaft ist. Die Sprache des Sprichworts gilt daher auch als eine bäuerliche ,Sondersprache', die in knapper und prägnanter Form eine kollektive Erfahrung anschaulich zusammenfaßt, was gemeinschaftliches und traditionsgeleitetes Handeln voraussetzt. 32 Das Sprichwort erfüllt dabei unterschiedliche Funktionen: Es kann rückblickend eine bestimmte Situation reflektieren, ein Verhalten entschuldigen, Negatives im Dasein rechtfertigen, ein Unabwendbares hinnehmen helfen, insbesondere aber ernste Mahnung sein und erzieherische Funktion haben. Die Träger gerade solcher Sprüche sind Erwachsene und alte Leute, die dem Sprichwort Autorität verleihen. Kommunikation in ländlichen Gesellschaften folgt in der Regel der Statushierarchie, vor allem der altersmäßigen. 33 Insbesondere die französische Historikerin, Soziologin und Ethnologin Martine Segalen hat sich bei ihren Untersuchungen ländlicher Gesellschaften auf Sprüche und volkskundliches Material gestützt, das von so genannten ,folklorists' im 19. Jahrhundert aufgezeichnet wurde. Sie stellt dabei fest, daß eine Vielzahl von Sprichwörtern das tägliche Leben der ländlichen Gesellschaft durchwebt, es mit dem angesammelten Wissen von der Wiege bis zum Grab begleitet, mit Vorschriften für alle Jahreszeiten, für jeden Moment bei der Arbeit und in der freien Zeit. Die Entschlüsselung dieser Spruchweisheit bringe wesentliche Erkenntnisse über ländliche Gesellschaften. 34 Es ist also Zurückhaltung geboten, allein aufgrund inhaltlich gleicher oder ähnlicher, in Spruchform gebundener Aussagen bei Hesiod die unmittelbare Kenntnis nahöstlicher Weisheitsliteratur vorauszusetzen, zumal auch deswegen, weil einige der immer wieder herangezogenen nahöstlichen Schriften zeitlich erst nach Hesiods Gedichten anzusetzen sind. Aufgrund der literaturwissenschaftlichen, agrarsoziologischen und ethnologischen Forschungen zu den kommunikativen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen von Spruchweisheit sol30
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Dies hebt auch Thissen, 1984, 6f. hervor. Westermann 1990, 1 Of.; 122f. geht davon aus, daß die mündlich tradierten Sprüche zunächst gesammelt und aufgezeichnet wurden, später dann komplexere Lehrgedichte hinzugefügt wurden. Ich halte dies fiir eine recht schematische Rekonstruktion. Die Ansicht, daß die schriftliche Fixierung das Ende der mündlichen Tradierung bedeute, teile ich nicht, denn die Übertragung in eine schriftliche Form geschah vielfach erst durch außerhalb der Gemeinschaft Stehende. Dazu Mieder 1993, 3-17. Herzenstiel 1968, 31; 151; 329: Als Geltungsbereich wird „übereinstimmend von der Forschung der bäuerliche Clan, die bäuerliche Hofgemeinschaft, die bäuerliche Dorfgemeinschaft oder nur die bäuerliche Familie - etwas enger oder weiter - bezeichnet" (S. 31). Vgl. im Unterschied dazu die Untersuchung von Mieder 1993, dem es vor allem um die Funktion und Bedeutung von Sprichwörtern in der modernen Welt geht. Ihre Funktion sei dort eine völlig andere als im traditionellen Kontext, wo sie didaktische und moralische Funktion hätten (bes. S. 71). Planck/Ziche 1979, 139f.; Ammar 1954, 162f. : „The accumulated wisdom of the past, the adults think, is contained in these proverbs and the reported deeds and acts of men of religious or social prestige. They are inordinately fond of quoting proverbs and maxims whenever an occasion for them arises ... In the text of the stories and tales, one can find reflections of many of the social, moral and religious norms and attitudes". Segalen 1983, 6f.
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len im folgenden die Sprüche im Werk Hesiods im Vordergrund stehen und zunächst isoliert von den anderen Bestandteilen (Mythen, Fabeln, Rahmenhandlung) betrachtet werden.
2. Zum inhaltlichen Vergleich normierten Wissens im archaischen Griechenland und im Nahen Osten Angesichts der durch die Literaturwissenschaft und die Ethnologie bzw. die Volkskunde erreichten Ergebnisse zu den kommunikativen, wirtschaftlichen und sozialen Kontexten von Sprüchen ist es methodisch bedenklich, eine direkte Abhängigkeit der „Werke und Tage" Hesiods von nahöstlichen Weisheitstexten schon allein damit belegen zu wollen, daß sich einzelne Sprüche, Lebensweisheiten oder Redewendungen gleichlautend oder ähnlich in beiden Kulturen finden. Ohne Frage sind die eingliedrigen oder zweigliedrigen Sprüche, die Hesiod in die „Werke und Tage" eingeflochten oder in ,Sprichwortnestern' zusammengefaßt hat, in sich abgeschlossene und eigenständige Einheiten, die als solche im alltäglichen Leben in verschiedenen Zusammenhängen zitiert wurden. Die Untersuchungen insbesondere von Martine Segalen haben aber gezeigt, daß erst eine Sammlung der Spruchweisheit ein in sich schlüssiges Bild der bäuerlichen Gesellschaft ergibt, sich die Sprüche also erst im Kontext der bäuerlichen Werteordnung erschließen. Aus diesem Kontext sollten die Sprüche nicht isoliert werden. 35 Ich möchte die Spruchweisheit Hesiods und nahöstliche Weisheitsschriften auf mehreren Ebenen einander gegenüberstellen und dabei sowohl den Kontext, der sich aus den Werken als Ganzes erschließt, als auch einzelne Sprüche in diesen Vergleich einbeziehen. Die in den „Werken und Tagen" Hesiods überlieferten Sprüche sind solche einer einfachen bäuerlichen Gesellschaft. Die Voraussetzungen, die für die Herausbildung dieser Art von Sprache notwendig sind, waren gegeben: Die Gesellschaft war klar strukturiert und jeder wußte, wer welcher sozialen Schicht angehörte, ob der landbesitzenden, Ackerbau und Viehzucht treibenden Oberschicht, ob einer Subsistenzwirtschaft betreibenden Mittelschicht aus Vollbauern, ob den Kleinbauern, die auf Ausleihe von Gerät, vielleicht auch von Saatgut und Nahrungsmitteln angewiesen waren, oder ob der unterbäuerlichen Schicht, die ihre Kinder frühzeitig in den Dienst bei größeren Bauern geben mußten. Der gemeinsame Erfahrungshorizont der normtragenden Schicht der Vollbauern gründete auf der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft und den damit zusammenhängenden Problemen einer längerfristig zu sichernden Versorgung und der Wahrung der sozialen Position. Die Sprüche beziehen sich auf viele Bereiche des bäuerlichen Lebens, die unablässige Arbeit auf den Feldern, die Rechtschaffenheit der Arbeit, das Alter bei der Heirat, die Zahl der Kinder, die Aufnahme von Gesinde in das Haus, den Umgang mit dem Gesinde, das Verhalten gegenüber Nachbarn
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Auch die nahöstlichen Weisheitsschriften weisen häufig eine nicht zufällige Disposition auf, sei es, daß sie auf Begriffs- oder Ideenassoziationen beruht, sei es, daß sie sachlich Zusammengehörendes verbindet. Andere nahöstliche Weisheitsschriften zeigen hingegen keine logische Abfolge. Zur Frage eines systematischen Aufbaus und zu den zu erschließenden Kontexten Weeks 1994, 20-40.
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und der Gemeinschaft. Erst vor diesem bäuerlichen Hintergrund lassen sich die Sprüche verstehen. Die nahöstlichen Weisheitssprüche scheinen mir in dieser Hinsicht mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Unterweisung erhält ein Schüler vom Meister, ein Nachfolger vom Vorgänger, ein Sohn vom Vater, und dieser ist nicht Hausvater auf einem bäuerlichen Hof, sondern Ratgeber, Schreiber oder Amtsträger des Königs. 3 6 Anchscheschonqi ζ. B., dessen Lehre in stärkerem Maße auch bäuerliche Sprüche enthält, war Priester des Re in Heliopolis. Als er nach Memphis kam, um seinen Freund Horiesis zu besuchen, der am Königshof Chefarzt war, wurde er in eine Verschwörung von Höflingen gegen den König hineingezogen und deswegen gefangen gesetzt. Während der Haft schrieb er fiir seinen Sohn eine Lebenslehre. 37 Der Hintergrund ist bei den nahöstlichen Texten also ein völlig anderer, und er schlägt sich in den Sprüchen nieder, in denen eher allgemeine Verhaltensanweisungen ausgesprochen sind und die Beachtung kultischer Vorschriften eingefordert wird. 38 Die Sprüche beziehen sich also auf ethisch-moralische Normen, das Verhalten und die Umgangsregeln bei H o f bis hin zu Benimmregeln bei Tisch. 3 9 In großen Passagen dieser Lehren fehlt ein bäuerlicher Hintergrund völlig, ja sie widersprechen ihm geradezu. 40 Statt dessen ist eine Einbindung in eine Hierarchie unverkennbar, da immer wieder zu Zurückhaltung gegenüber Großen und Mächtigen gemahnt wird oder dazu, Niedere nicht zu mißachten. 41 Hin und
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Generell Sternberg-el Hotabi 1991, 191 (Lehren aus der Sicht alter, weiser Männer). In der Lehre des Ptahhotep (ca. 2300-2155 v. Chr.) unterweist ein hoher Beamter des Hofes (nach 641 BURKARD ist er 110 Jahre alt) seinen Nachfolger (= „Sohn"). Die Lehre des Amenemope ist aus der Position eines Angehörigen der niederen Tempelhierarchie geschrieben. Achiqar stand in Diensten des assyrischen Königs Sanherib und unterweist seinen Nachfolger und ,Sohn' Nadin bzw. Nadan. In der Lehre des Ani ist der Vater königlicher Schreiber. Siehe insgesamt Preuß 1987, 29: „Weisheitliches Denken und Glauben sowie das Schaffen und Tradieren von Weisheitsliteratur waren überwiegend an einen bestimmten Stand gebunden, nämlich den des weisheitlichen, beamteten Schreibers, der oft ein ausgeprägtes Standesbewußtsein erkennen ließ und den mehr besitzenden Schichten angehörte" (vgl. S. 46). Ähnlich bereits Hermisson 1968, 136 und Küchler 1979, 33, wonach die alttestamentlichen Weisheitstexte eher als Schultexte einer „intellektuellen Elite der Schriftgelehrten, Pharisäer und Rabbinen" aufzufassen sind. - Eine Hesiods Erga kai hemerai vergleichbare Konstellation zeigt die hethitische Geschichte des Appu, in der die beiden Söhne ,Gut' und ,Böse' über das Erbe des Vaters in Streit geraten (Friedrich 1950, 218-225; vgl. 246). Inhaltlich gibt es aber keine weiteren Parallelen, auf die eine Abhängigkeit der hesiodischen Erga gestützt werden könnte. Vgl. dazu Walcot 1966, 98f. 37 Lehre des Anchscheschonqi 1,7—4,21 THISSEN. 38 Dies als Charakteristikum ägyptischer Lehren Burkard 1991, 196; Shirun-Grumach 1991, 223. - Die religiöse Fundierung ist allerdings sehr allgemein gehalten, so daß sie tendenziell in verschiedenen Religionen verankert werden könnte. So Westermann 1990, 145: „In diesen Reden fehlt das spezifisch Theologische und es fehlt das spezifisch Kultische, also das, was die Religionen der Menschheit voneinander unterscheidet und voneinander trennt". 39 Brunner 1979, 132f. zu den Vorschriften bei Tisch, wonach „das Essen stellvertretend für die ganze Lebenshaltung steht — Bescheidenheit' lautet ja immer wieder das zentrale Thema bei Amenemope". 40 Lehre des Ptahhotep 188 BURKARD („Beschneide nicht die Zeit der Muße, ..."). Lehre des Anchscheschonqi 10,2 THISSEN („Sag nicht: ,ich bin gut im Schreiben', und Du bist nicht [ . .] ."). Lehre auf dem P. Insinger 16,5 THISSEN („Wenn Du großen Besitz erworben hast, wende (davon) für Deine Stadt auf, daß es keine Unterdrückung in ihr gebe"); 17,20 THISSEN („Die Lebenszeit dessen, der knausrig war, ist vorbeigegangen, ohne daß man ihn (oder: es) zur Kenntnis genommen hat"). Neben bäuerlichen Bildern kommen auch andere Wertschätzungen zum Ausdruck (Lehre des Achiqar 159 COWLEY). 41 Zur Einbindung in die Hierarchie siehe ζ. B. Lehre des Ptahhotep 84-87 BURKARD: „Wenn du in leitender Stellung bist, und die Angelegenheiten der breiten Masse lenkst, ..."; 220-223: „Wenn du dich
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wieder begegnen Bilder, Begriffe und Tätigkeiten aus dem bäuerlichen Bereich, die aber eher metaphorisch gemeint sind. 42 Nur bei der Lehre des Anchscheschonqi sah Walcot eine engere Beziehung zur bäuerlichen Welt, die sich in Bildern aus dem bäuerlichen Leben und aus der Natur niederschlagen. Da dies in der nahöstlichen Weisheitsliteratur außergewöhnlich ist, hatte ja Walcot die Annahme formuliert, diese Lehre sei durch die bäuerliche Spruchdichtung Hesiods beeinflußt worden. 43 Aber auch wenn in der Lehre des Anchscheschonqi bisweilen ein bäuerliches Milieu aufscheint - der durch und durch bäuerliche Hintergrund der „Werke und Tage" ist dort nicht vorhanden. 44 Auf einen zweiten Unterschied möchte ich aufmerksam machen. Die nahöstlichen Weisheitsschriften sind dezidierter als die „Werke und Tage" Hesiods Lehrschriften, in denen ein durch reiche Erfahrungen ausgezeichneter älterer Mann den noch unerfahrenen Sohn und potentiellen Nachfolger oder einen Schüler unterrichtet. Es liegt also ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Vater und Sohn, Meister und Schüler vor. 45 Die nahöstlichen Texte wurden in dieser Form auch als Schultexte eingesetzt und haben dadurch eine relativ weite Verbreitung gefunden. 46 Hesiod hingegen wendet sich an seinen Bruder, Bauer wie er, der sich durch Unrecht und ein ,krummes Urteil' des Basileus seinen Unterhalt zu verschaffen sucht statt durch harte und ehrliche Arbeit. Auch der Bruder Perses wird gewußt haben, zu welcher Zeit welche bäuerlichen Arbeiten zu verrichten waren, und auch er dürfte die unter den Bauern umlaufenden Sprichwörter nur zu gut gekannt haben. Hesiods Schrift verfolgte also vom Handlungsrahmen eine andere Intention: die Ermahnung des Devianten, die Normen einzuhalten, nicht die Unterweisung eines Unkundigen.
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in einem Amt aufhältst, dann verhalte dich deinem Rang gemäß, ...". Lehre des Amenemope 1,1-4 SHIRUN-GRUMACH: „Anfang der Lehre für das Leben, der Unterweisung für das Heilsein, aller Vorschriften, unter die Beamten zu treten, der Regeln für die Hofleute". Lehre des Anchscheschonqi 19,19 THISSEN: „Wenn Dein Vorgesetzter Dir weise Worte sagt, solltest Du ihm Respekt erweisen". So ζ. B. Lehre des Ptahhotep 161-166; 491f. BURKARD oder im Mischnatraktat Pirque 'aboth 1,3 („Seid nicht wie Knechte, die dem Herrn dienen unter der Bedingung, daß sie Lohn empfangen"). Walcot 1966, 87f. So auch Lichtheim 1983, 4: „Equally unfortunate was Glanville's opinion that the work was written ,for the guidance of the peasant farmer', and this accounted for the ,rather elementary level' of its morality. The fact is that fewer than one-tenth of the more than five-hundred sayings have any bearing on farming and country life. It is, moreover, obvious that images and comparisons drawn from country life and the animal world would come naturally to all segments of the population in an ancient society where town and country lay close together". Zum stark belehrenden Charakter siehe den Epilog der Lehre des Ptahhotep (508-646 BURKARD). Gleichrangigkeit zeigt sich nur in einzelnen Sprüchen der Lehre des Anchscheschonqi, so 9,13 THISSEN: „Sei nicht der Grenznachbar zu dem, der höher[en Ranges] ist als Du"; vgl. auch 11,3. Die Funde stellen ζ. T. Texte dar, anhand derer Schreiben geübt wurde (dazu Brunner 1979, 123; 129; Römer 1990). Zur Frage, ob die alttestamentliche Spruchweisheit in ,Religionsschulen' eingesetzt wurde, siehe Preuß 1987, 45f. („Festzuhalten aber bleibt, daß es sich bei den Weisheitssprüchen des Proverbienbuches nicht um allgemeine Volkssprichworte handelt, sondern um in Spruchsammlungen zusammengefaßte Kunst- und Bildungsweisheit, hinter der auch ein bestimmter Stand als Trägerkreis steht, ..."). Siehe dazu auch Hermisson 1968, 7; 31; 34f.; 97-136. Kritisch äußert sich Stuart Weeks zu dieser allgemein verbreiteten These, bei der alttestamentlichen Weisheitsliteratur handle es sich um Schultexte. Auch wenn ein solcher Kontext für die mesopotamischen und ägyptischen Lehrschriften sicher sei, so sei dies für die altisraelitischen Texte hingegen nicht zu beweisen (Weeks 1994, bes. 132— 156).
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Im Nahen Osten nutzte man die Bewahrung traditionellen Wissens durch Sprüche und Sprichwörter vielfach im religiösen Bereich. Nicht nur die alttestamentlichen Spruchweisheiten, sondern auch andere Schriften haben dieses Medium zur Unterweisung im Glauben genutzt. 47 In dem - freilich späteren - Mischnatraktat Pirque 'aboth sind Sprüche und Mahnungen zusammengetragen, die über viele Generationen angesammelt wurden, beginnend mit Moses und den Propheten bis hin zu Rabbinern des 3. Jahrhunderts n. Chr., deren Inhalte durch die Spruchform unverändert bewahrt bleiben sollten. Spruchsammlungen dieser Art sind durch und durch religiös geprägt und ihr Ziel war die religiöse Unterweisung von Schülern, die sich dem Studium der heiligen Schriften widmeten. 48 Auch die altägyptischen Weisheitslehren lassen sich nach Jan Assmann durch die Begriffe , Weisheit' und Frömmigkeit' charakterisieren. 49 Mit den „Werken und Tagen" Hesiods hat dies wenig gemein. Von ihrer Funktion her sind die nahöstlichen Schriften eher mit Spruchsammlungen vergleichbar, die in Kreisen griechischer Naturphilosophen verwandt wurden, die ihre Erkenntnisse und Theorien über die Natur und den Kosmos in Gnomen gefaßt haben sollen, um sie im mündlichen Unterricht an Schüler vermitteln und in die nächste Generation eines Schülerkreises weitergeben zu können. Es sind also - so meine ich - zwei Gattungen von Spruchsammlungen zu unterscheiden: diejenigen, die auf mündlicher , Volksweisheit' beruhen, in denen die ,im Volk umlaufenden Sprüche' zusammengestellt sind, und Werke weiser Lehrer für ihre Schüler oder Schülerkreise, die einen stärker pädagogischen Anspruch haben. Beide Gattungen lassen sich nicht trennscharf voneinander abgrenzen, und in der alttestamentlichen Forschung wurde mal der eine, mal der andere Aspekt in den Vordergrund gerückt. 50
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Zu den unterschiedlichen Kontexten von Spruchweisheit Preuß 1987, 36-45; zum religiösen Kontext Küchler 1979. Pirque 'aboth 1,2 FIEBIG: „Simon der Gerechte gehörte zu dem Überrest der großen Synagoge. Er pflegte zu sagen: auf drei Dingen steht die Welt: auf der Thora, auf dem Gottesdienst, auf dem Liebeserweis"; 1,4: „Jose, Sohn des Jo'eser, aus Zereda, sagt: Es sei dein Haus ein Haus der Zusammenkunft für die Weisen; - bestäube dich mit dem Staub ihrer Füße, trinke mit Durst ihre Worte". Die Bedeutung für die Lehre kennzeichnet vor allem der Spruch 3,9: „Jeder, der ein Wort von dem, was er gelernt hat, vergisst, dem rechnet es die Schrift so an, als hätte er sein Leben verwirkt". Zum Mischnatraktat siehe auch Küchler 1979, 176-198. - Zur Allmacht Gottes siehe auch die Lehre auf dem P. Insinger 2 9 - 3 3 THISSEN.
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Assmann 1979, 12 nennt dies insbes. für die Lehre des Amenemope, in der „Frömmigkeit das zentrale Thema weisheitlicher Unterweisung und den Inbegriff der Weisheit darstellt". Zur Abgrenzung und zur Frage der Aufnahme von Volkssprichwörtem in die Spruchweisheiten Hermisson 1968, 7; 15-27; 37; 46 („Kurz: es zeigt sich in alledem nur ein schwacher Zusammenhang zwischen ,Volksgut' und Proverbien"); 62; 187 („Gegenüber der üblichen Meinung, nach der ein erheblicher Teil der in den Sammlungen überlieferten Sprüche ursprünglich Volkssprichwörter gewesen oder doch durch eine einfache Erweiterung aus Volkssprichwörtern entstanden wäre, wurde der Nachweis zu fuhren versucht, daß ein volkstümlicher Ursprung nur für eine geringe Zahl von Sprüchen überhaupt in Betracht kommt und, ..., auch in diesen Fällen nicht sehr wahrscheinlich ist, einzelne, aber kaum mehr feststellbare Ausnahmen mag es immerhin gegeben haben"). Für eine solche Unterscheidung plädiert auch Preuß 1987, 38: „Volkssprichwort und künstlerisch formulierter Weisheitsspruch sollten aber voneinander abgehoben werden und unterschieden bleiben". Ähnlich Lichtheim 1983, 9: die biblischen Mahnsprüche sind „literary creations, which now and then incorporated folk proverbs". Die ägyptischen Sprüche sind ebenso „literary products with some grounding in folk wisdom" (vgl. S. 185).
Griechische und nahöstliche
Spruchweisheit
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Wenden wir uns nun den einzelnen Sprüchen und deren inhaltlichem Vergleich zu. Bei den Sprüchen, bei denen ein bäuerlicher Hintergrund aufscheint 51 , ist zu berücksichtigen, daß wir es mit bäuerlichen Gesellschaften zu tun haben, die strukturell mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten und immer wieder mit ähnlichen Strategien darauf reagierten. Zu diesen Strategien gehörte ζ. B. die Mahnung, daß nur die intensive bäuerliche Arbeit den sozialen Status erhält. Bei Hesiod lauten sie: „Denn der Hunger ist treuer Kumpan dem trägen Gesellen", „Arbeit, die ist nicht Schande; das Nichtstun jedoch, das ist Schande" und „Und niemals verschieben auf morgen und übermorgen" (erg. 302; 311; 410). Im alttestamentlichen Buch der Sprüche heißt es ähnlich: „Wenn der Winter einsetzt, will der Faule nicht pflügen; zur Erntezeit sucht er, aber nichts ist da" (Spr 20,4) 52 , und bis in unsere moderne Welt haben sich die Sprüche erhalten: „Morgenstund' hat Gold im Mund" und „Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen". Der Nachbar ist in der bäuerlichen Dorfgemeinschaft der typische Nothelfer, mit dem man sich daher gut stellen und den man dem entfernt wohnenden Verwandten vorziehen soll. Hesiod mahnt daher: „Droht unversehens ein Unheil im Dorf, eilen die Nachbarn ungegürtet herbei, die Verwandten aber gürten sich" (erg. 344f.). Im demotischen Weisheitsbuch des Papyrus Insinger lautet er in gleichem Sinne: „Wer seinen Nachbarn liebt, der findet Familie um sich", im Buch der Sprüche: „Deinen und deines Vaters Freund verlaß nicht; und geh am Tag deines Unglücks nicht ins Haus deines Bruders. Besser ein naher Nachbar als ein ferner Bruder". 53 Immer wieder begegnet auch die Mahnung, bei der Wahl der Ehefrau eine Frau aus dem Dorf einer Frau aus einer anderen Stadt vorzuziehen. Die lokale Endogamie ist typisch für bäuerliche Gesellschaften. Denn sie gewährleistet, daß die Frau mit den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen vor Ort vertraut ist und daß der Ehemann ihren Charakter und ihre Arbeitsamkeit einschätzen kann, so daß er nicht die Gefahr eingeht, seinen Ruf in der Dorfgemeinschaft zu schädigen. 54 So rät Hesiod: „Nimm eine Jungfrau zum Weib, sie richtigen Wandel zu lehren, und eine solche am besten, die nah bei dir selber zuhause. Doch schau in allem dich um, sonst schaffst du den Nachbarn Vergnügen" (erg. 699-701). Mahnungen solcher Art finden sich auch in der Lehre des Anchscheschonqi: „Laß deinen Sohn sich keine Ehefrau aus einem anderen Dorf nehmen, auf daß man ihn Dir nicht wegnimmt" und in den Lehren des Ani: „Nimm dich in acht
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So ζ. B. in der Lehre des Amenemope VII 11—IX 8 zum rechtmäßigen Erwerb bäuerlichen Unterhalts. In den anderen Passagen der Schrift fehlt aber ein bäuerlicher Hintergrund. In der Lehre des Anchscheschonqi 8,15f.; 9,14; 10,18; 26,17-19 u. a. Zu Sprüchen bezüglich Ackerbau und Viehzucht Hermisson 1968, 64-66. Vgl. Spr 22,7: „Der Reiche beherrscht den Armen; wer borgt, wird der Knecht des Mannes, der ausleiht". Zu weiteren Sprüchen, die zur Arbeit mahnen und den Faulen angreifen, Westermann 1990, 2 7 31; zum Buch der Sprüche insgesamt Preuß, 1987, 31-68. Zu einseitig auf den Alten Orient ausgerichtet scheint mir das Urteil Dornseiffs, wonach die positive Bewertung der Arbeit, „die europäische Arbeitsethik", nicht eine Erfindung Hesiods sei, sondern aus vorderasiatischer Paränetik komme, wie sie auch bei den Israeliten greifbar sei (M959, 83). P. Insinger 16,8 VOLTEN (allerdings weicht Thissen davon in seiner neueren Übersetzung leicht ab: „Wer den mag, der ihm nahesteht, findet Familie in seiner Umgebung"). Spr 27,10 (Übersetzung Arenhoevel/Deißler/Vögtle). - Weit verbreitet sind auch Mahnungen, schlechte Gesellschaft zu meiden; so die Lehre auf dem P. Louvre 2,2 THISSEN („Mache nicht einen üblen Menschen zu Deinem Gefährten") oder der Mischnatraktat Pirque 'aboth 1,7 („Halte dich fern von einem bösen Nachbarn; geselle dich nicht zu einem Bösewicht"). Dazu Schiffauer 1987, 189-194; 199.
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vor einer Frau von draußen, die man in ihrer Stadt nicht kennt" und auch in den alttestamentlichen Sprüchen: „Warum aber, mein Sohn, wolltest du durch eine Fremde in Taumel geraten?". 55 Sie entsprechen dem deutschen Sprichwort: „Heirate über den Mist, dann weißt du, wer sie ist" oder in etwa dem neugriechischen: „Schuh aus deinem Land, auch wenn er geflickt ist". 56 Konflikte innerhalb der Dorfgemeinschaft sollten so weit wie möglich vermieden werden, um in der Not willige Helfer zu finden. 57 Unrecht, das die bäuerliche Gemeinschaft selbst nicht bestrafen kann, wird durch eine göttliche Autorität gestraft, wobei diese göttliche Autorität häufig in das Bild des ,Dorfauges' gefaßt wird. 58 Aber selbst ein so signifikantes Bild wie das des ,Dorfauges' läßt sich nur schwer als eine durch die Kulturen wandernde Metapher nachweisen. Vorstellungen von einem ,Dorfauge', das die Kontrolle über die Einhaltung der Ordnung gewährleistete, beschreibt Christina Vanja auch für hessische Dörfer, Heinrich Schmidt für Berner Landgemeinden im 17. Jahrhundert. 59 Neben den Ähnlichkeiten, die meines Erachtens eher auf gleiche strukturelle Grundbedingungen zurückzuführen sind, sind auch Unterschiede zu konstatieren. Vergleichen wir auch dazu einige Sprüche. In den „Werken und Tagen" mahnt Hesiod: „Wer dein Freund, den lade zum Mahl, unterlaß es beim Feinde. Den aber lade vor allem, der nah dem deinen sein Haus hat" (erg. 343-345). Martin L. West verweist im Kommentar dazu auf Sprüche des demotischen Weisheitsbuches auf dem Insinger Papyrus: „Wenn es in deiner Macht steht, dann lade sowohl den, der dir fern ist, wie den, der dir nahe ist, ein. (Denn) wer den Fernen einladet, dessen Name wird geehrt, ist er auch fern". 60 Im demotischen Weisheitstext geht es also darum, zu dem Nahen gerade auch den Fernen herbeizurufen, wobei d e r , F e r n e ' wohl nicht derjenige ist, der sich in der Ferne aufhält, sondern derjenige, der einem fremd, der einem Feind ist. Hesiods Rat entspricht dem eines Subsistenzbauern, der sich durch eine gute Beziehung zum Nachbarn Helfer in der Not sichern muß. Der demotische Spruch dagegen hat einen karitativen Charakter, wie auch der Zusammenhang deutlich macht. Immer wieder wird dort zur Einbeziehung des sozial Schwächeren, des Hilfebedürftigen gemahnt. 61 Hesiods Handlungsethik ist zweckrational ausgerichtet: Wenn er dem Nachbarn hilft, findet er selbst später Helfer. Sozialer Kontakt wird gepflegt zu demjenigen, der sich normkonform verhält; wer gegen die Normen verstößt, wird ausgegrenzt. Anders die Lehre des Ani und die
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Lehre des Anchscheschonqi 15,15 THISSEN; Lehre des Ani 3,13 PRITCHARD („Be on the guard against a woman from abroad, w h o is not known in her (own) town"); Spr 5,20. Gressmann 1909, 2 0 3 bezog den Spruch des Ani auf eine Hure, „die in der Stadt, in der sie sich aufhält, nicht daheim ist". Weitere Sprüche zur lokalen Homogamie in der Weisheitsliteratur bei Dornseiff 2 1959, 83f. West 1978, 384. Zu unrechtmäßiger Bereicherung siehe die Lehre des Amenemope VII 11—VIII 20 SHIRUN-GRUMACH und die Beispiele bei Walcot 1962b 25f.; 32. Zu den entsprechenden Sprüchen im Griechischen siehe noch Ps.-Phokylides 35: ά γ ο υ γ ε ι τ ο ν έ ο ν τ ο ς ώ π ό σ χ ε ο , μ ή δ' άρ' υ π ε ρ β ά ς - „Halte dich vom Feld des Nachbarn fern, überschreite nicht die Grenze". Hes. erg. 2 6 7 - 2 6 9 . Parallelen in nahöstlicher Weisheitsliteratur bei Walcot 1962b 24; West 1978, 223f. Schmidt 1995, 320; Vanja 1996, 216. P. Insinger 16,6-7. West 1978, 243 zitiert dabei die Übersetzung von Volten 1941. Siehe demgegenüber aber die neuere Übersetzung von Thissen: „Wenn Du Macht erworben hast, rufe nach dem, der Dir fern steht, ebenso wie nach dem, der Dir nahe ist. Wer nach dem ruft, der (ihm) fernsteht, dessen Name ist groß, (auch) wenn er in der Ferne ist". Ζ. B. Lehre des Amenemope XXIV 8 - 2 0 SHIRUN-GRUMACH.
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Spruchweisheit
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demotischen Weisheitsschriften: „Man soll Essen dem Feind geben (und) Speisen dem uneingeladen Kommenden" (Ani 8,13). Wohltaten dem sozial Schwächeren zu gewähren, ist gottgefällig. Nicht der auf gleicher Stufe stehende Bauer, sondern Gott ist dort derjenige, der zurückgeben wird, was man Armen gewährt hat.62 Wie stark das Religiöse die in den demotischen Weisheitsschriften gesammelten Normen geprägt hat, zeigen insbesondere die Sprüche auf dem Papyrus Insinger 16,3-4 THISSEN: „Daß der Arme vor ihm gesättigt wird, stellt das Herz Gottes zufrieden. Wenn Du Besitz erworben hast, gib einen Teil (davon) Gott; das ist der Teil für die Armen", sowie 16,11 THISSEN: „Denn Gott gibt tausend zu eins dem, der einem anderen gegeben hat".63 Wohltätigkeit und Sorge für den Bedürftigen prägen auch weitere Sprüche in der Lehre des Ani, in der Lehre des Anchscheschonqi und im ,Counsel of Wisdom'. 64 Auch in anderen Bereichen sind Hesiods „Werke und Tage" näher am bäuerlichen Leben als die ägyptischen Lehren. In der Lehre des Ptahhotep beginnt der weise Lehrer mit der Schilderung seiner Position als gebrechlichem Alten, der aber nicht von der Welt gehen darf, bevor er sein Wissen und seine Erfahrung nicht an die nächste Generation weitergegeben hat. Die Ausführungen beschränken sich auf die Ambivalenz von körperlichen Gebrechen und der in all den Jahren gesammelten Weisheit. Bei Hesiod hingegen steht die Gefahr einer sozialen Desintegration der Alten im Vordergrund, die mit dem Übergang des alten Vaters auf das Altenteil verbunden ist; bei der Geburt eines Sohnes gilt die Sorge Ptahhoteps der Erziehung zu einem guten Menschen, Hesiods Sorge den damit verbundenen Besitzstrategien.65 Sind die Bauern Hesiods freie Subsistenzbauern, zeugt der Spruch in der Lehre des Anchscheschonqi: „Sag nicht: ,Ich habe den Acker gepflügt, aber man hat mich nicht bezahlt', pflüge noch mal, es ist gut zu pflügen" von abhängiger bäuerlicher Arbeit. 66 Nach dem Spruch Hesiods sollte der Mann mit etwa 30 Jahren heiraten. Denn dann ging der etwa 60jährige Vater auf das Altenteil und der Sohn übernahm den Hof, warb um eine Frau und zeugte Kinder, die ihn selbst wieder versorgen konnten, wenn er mit 60 Jahren aufs Altenteil ging. Wenn in der Lehre des Anchscheschonqi zu einer Heirat mit 20 Jahren geraten wird, dann lag in Ägypten offensichtlich ein ganz anderes familiales Modell zugrunde. So ähnlich also zunächst die in ein Sprichwort gefaßte Norm zum rechten Heiratsalter auf den ersten Blick erscheint, so verweisen doch beide Sprüche auf unterschiedliche Konzepte in der Realität.67
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Auf diesen Unterschied weist auch Walcot 1970, 3 hin. Ähnlich auch P. Insinger 16,12-14 THISSEN. Lehre des Anchscheschonqi 12,17 THISSEN: „Laß deine Wohltätigkeit zu dem gelangen, der ihrer bed a r f . Zum Counsel of Wisdom: Lambert 1960, 96-107, bes. Ζ. 4 1 ^ 4 ; 61-65; Pritchard 1955, 426f. Z. 35^t0, 2,12-16. Vgl. auch den alttestamentlichen Spruch: „Wenn du dem Rind oder Esel deines Gegners, die sich verlaufen haben, begegnest, sollst du sie ihm wieder zuführen" (Ex 23,4). Solche Aufforderungen zur Barmherzigkeit finden sich in griechischen Spruchsammlungen erst in späterer Zeit (ζ. B. bei Ps.-Phokylides 22-30; dazu van der Horst 1978, 128-135). Ähnlich dem Spruch in Exodus ist Ps.-Phokylides 140: κτήνος δ' ην έχθροΐο πέση καθ' όδόν, συνέγειρε. - „Wenn das Vieh deines Feindes auf dem Weg stürzt, hilf ihm a u f . Vgl. zu den religiös geprägten Lehren auch Assmann 1979, 32; Steiert 1990. Lehre des Ptahhotep 8-28; 197-219; Hes. erg. 185-188; 331-334; 376-380. Lehre des Anchscheschonqi 9,14 THISSEN. Lehre des Anchscheschonqi 1 1 , 7 THISSEN: „Nimm Dir eine Ehefrau, wenn Du 2 0 Jahre bist, damit Du einen Sohn bekommst, wenn Du (noch) jung bist".
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Ich möchte zum Abschluß noch einen speziellen Bereich in den Blick nehmen: Mahnungen über das Reden, also die in den Spruchsammlungen enthaltenen kommunikativen Regeln. Hesiod hat der Pheme eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Die kunstvolle Komposition von Hesiods „Werken und Tagen" zeigt sich nach Meinung von Peter Walcot auch daran, daß der Omnipotenz des Zeus und dem Bild der beiden streitenden Erides am Anfang des Stücks die Vergöttlichung der Pheme am Ende gegenübersteht. 68 „Und nicht im Übermaß gastlich und auch nicht ungastlich heißen, Und nicht der Schlechten Geselle und auch nicht der Rechten Bekrittler. Und bring's nie übers Herz, die entnervende grausige Armut Einem zum Vorwurf zu machen; sie kommt von den ewigen Göttern. Ja, ein Schatz ist die Zunge und gilt unter den Menschen das meiste, Spart sie das Wort; sie gefallt und gewinnt, geht sie ruhig am Zügel; Doch hast du Böses gesagt, hörst bald du Schlimmeres selbst". Und: „Und nimm dich in acht vorm Gerede der Menschen. Denn das Gerede ist schlimm: ganz leicht ist's, wenn du es aufliest, Ohne Bemühn, beim Tragen ist's schwer, und zäh, willst du's lossein. Und ein Gerede vergeht nie ganz, haben einmal es viele Leute im Munde geführt. So ist es denn auch eine Gottheit". 69 In vielen nahöstlichen Weisheitslehren finden sich Ratschläge ähnlicher Art, deren Übereinstimmung zunächst frappierend anmutet. Im .Counsel of Wisdom', einer wahrscheinlich um 1500-1200 v. Chr. entstandenen Sammlung, heißt es: „Verbreite keine Verleumdung, sage nur, was gut bezeugt. Sprich keine üblen Dinge aus, rede gut über die Leute. Wer Verleumdung ausstreut und übel redet, dem werden Menschen auflauern mit dem Schuldbuch des Shamash. Hüte dich vor sorgloser Rede, hüte deine Lippen; Sprich keine feierlichen Eide aus, wenn du allein bist, Denn was du in dem Moment sagst, verfolgt dich nachher; Bemühe dich vielmehr, deine Rede zurückzuhalten". 70 Ja, bereits in der Lehre des Ptahhotep aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. heißt es: „Du sollst schweigen, das ist sinnvoller als Geschwätzigkeit... Die Rede ist schwieriger als jede andere Tätigkeit, wer sie beherrscht, der kann sie sich zunutze machen". Diese Ratschläge sind aber eingebunden in einen Zusammenhang, der wenig gemein hat mit dem Hesiods: 68 69 70
Walcot 1966, 83f. Hes. erg. 715-721; 760-764 (Übersetzung Marg). Counsel of Wisdom 127-134 nach Walcot 1966, 90-92. Ähnlich die Lehre des Ani (Papyrus des 1 1 8. Jh. v. Chr.): „Do not talk a lot. Be silent, and you will be happy" (4,1).
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„Wenn du ein angesehener Mann bist, der im Rat seines Herrn sitzt, dann richte dein ganzes Trachten auf besondere Tüchtigkeit. Du sollst schweigen, das ist sinnvoller als Geschwätzigkeit, und du sollst nur sprechen, wenn du deine Lösung gefunden hast: Es ist ein Künstler, der (allein) im Rat sprechen sollte. Die Rede ist schwieriger als jede andere Tätigkeit, wer sie beherrscht, der kann sie sich zunutze machen. Wenn du Macht hast, dann verbreite Respekt vor dir: durch Bildung und durch Zurückhaltung beim Sprechen". 71 Auch in den demotischen Weisheitslehren aus Ägypten, in den alttestamentlichen und jüdischen Sammlungen finden sich immer wieder Mahnungen, seine Zunge im Zaum zu halten: „Magst Du über Deinen Fuß stolpern im Haus eines Reichen, Du sollst nicht über Deine Zunge stolpern", heißt es in der Lehre des Anchscheschonqi (10,7 THISSEN), „Öffiie nicht dein Herz deiner Frau; was du ihr gesagt hast, gehört der Straße" (13,16) und: „Sei nicht zu hastig beim Reden, daß du keinen Ärger erregst. Sprich nicht das, was dir gerade einfällt, in demselben Moment aus" (7,23-24). 72 In der auf P. Louvre 2414 erhaltenen Lehre wird gemahnt: „Beschimpfe nicht, daß man Dich nicht beschimpfe" (2,1 THISSEN). Aus dem alttestamentlichen Buch der Sprüche lassen sich mehrere Beispiele anfuhren: „Manches Mannes Geschwätz verwundet wie Schwertstreich", „Tod und Leben steht in der Gewalt der Zunge", „Der Nordwind bringt Regen, heimliches Geschwätz verdrießliche Gesichter" und: „Für das Silber der Schmelztiegel und für das Gold der Ofen; über den Mann aber entscheidet der Ruf'. 7 3 Und im Mischnatraktat heißt es: „Simon, des Rabban Gamli'el Sohn, sagt: ,ΑΙΓ mein Lebtag bin ich aufgewachsen unter den Weisen und ich habe fur den Menschen nichts Besseres gefunden als Schweigen'". 74 Auch die Agrarsoziologie und die Ethnologie haben sich mit diesem Phänomen beschäftigt und Zurückhaltung im Reden als typisch für einfache, bäuerliche Gesellschaften erkannt. Im bäuerlichen Dorf herrscht eine .reduzierte Kommunikation', bedingt durch die Allgegenwart der dörflichen Kontrolle, die keinen Rückzug ins Private erlaubt. Insgesamt resultiert daraus ein mißtrauisches, vorsichtiges und angepaßtes Verhalten, um ja nicht aufzufallen, um nicht selbst Opfer von bösen Gerüchten zu werden. Triebfeder für die Verhaltensan-
71 72 73
74
Lehre des Ptahhotep 3 6 2 - 3 7 1 BURKARD. Eine Warnung zur Zurückhaltung vor unbedachter Rede im Zorn auch in der Lehre des Amenemope XII 1 - 1 0 SHIRUN-GRUMACH. Siehe des weiteren die Sprüche in der Lehre des Anchscheschonqi 13,17f.; 14,12; 15,16; 17,10; 17,25; 23,10, in der Lehre des P. Insinger 3,6; 21,14 THISSEN. Spr 12,18; 18,21; 25,23. Siehe dazu Westermann 1990, 19; 2 4 - 2 7 . - Dornseiff ( 2 1959, 83) hatte den hesiodischen Versen Spr 5 , 1 5 - 1 7 an die Seite gestellt: „Trinke Wasser aus deiner Zisterne und was aus dem Brunnen hervorquillt Sollen deine Quellen nach außen überfließen, deine Wasserbäche auf die freien Plätze? Dir allein müssen sie gehören und nicht Fremden neben dir". Zu Mahnungen, seine Zunge im Zaum zu halten, siehe auch Walcot 1962a, 25f. Pirque 'aboth 1,17 FIEBIG.
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passung ist die Sorge um den guten Ruf. Da der gute oder schlechte Ruf vom einzelnen auf seine Familie und sein Haus zurückschlägt, wird auf die Angehörigen des Hauses ein erheblicher Druck ausgeübt, keinen Anlaß zum Gerede zu geben. 75 In einer ethnologischsoziologischen Untersuchung türkischer Dörfer unterschied Werner Schiffauer in Hinblick auf solche geschlossenen dörflichen Gesellschaften zwischen der Rede mit dem anderen und der Rede über den anderen. Die erste ist die offizielle, die repräsentative Rede, die nach außen ein respektvolles Umgehen demonstriert, in der man den gleichgestellten Hausvorstand mit einem Titel und Verwandtschaftsgrad benennt (ζ. B. Ali Bey), den Gesprächspartner nicht unterbricht und die Redetabus beachtet. „Man pflegt einen Diskurs gegenseitiger Anerkennung und Bestätigung". Es ist ein affirmativer Diskurs, in dem man die Ansichten des Gesprächspartners bestätigt, nicht kontrovers diskutiert; man präsentiert und läßt präsentieren. Die zweite Rede ist die inoffizielle, der Klatsch, der den Finger in die offenen Wunden des anderen legt. Er läßt die unter der Oberfläche brodelnden Konflikte und Spannungen erkennen. Der Klatsch lebt von der Vertrautheit mit dem anderen, hebt das Individuelle in den Vordergrund, verwendet Spitznamen, die den Träger charakterisieren, ist aggressiv, stellt die Würde des einzelnen in Frage, kann wie Nacktheit beschämende und entwürdigende Bloßstellung sein. Da sich der Klatsch durch den Betroffenen kaum noch kontrollieren läßt, führt er als Konsequenz zu einer strengen Disziplinierung der Rede. Bewußte Indiskretionen können schnell auf den Urheber zurückfallen. 76 Bei Hesiods Warnungen handelt es sich um eine solche Angst, durch unbedachte Worte ins Gerede zu kommen und sozial ausgegrenzt zu werden. Dies ist etwas völlig anderes als die Mahnungen in den nahöstlichen Weisheitstexten, gegenüber Höheren, Älteren, Weiseren zu schweigen oder nur dann als Ratgeber am Hof das Wort zu ergreifen, wenn man eine gute Lösung vorschlagen kann. Emma Brunner-Traut hat in einer detaillierten Untersuchung über die Schweigeregeln und Mahnungen zum Schweigen im koptischen Mönchtum nach Einflüssen gefragt, die die altägyptischen Verhaltensideale auf diese Schweigeregeln der frühchristlichen Eremiten in Ägypten gehabt haben könnten. Denn in den altägyptischen Lehren war der ,Schweiger' eine Schlüsselfigur normativen Verhaltens. Nach den verschiedenen Beweggründen hat Brunner-Traut die Schweigevorschriften klassifiziert: kultisches Schweigen, Schweigen angesichts Gottes, das am Anfang der Kulthandlung zu herrschen habe, durch das man sein Herz reinigt und vom Irdischen freimacht, Höflichkeitsregeln rechten Schweigens insbesondere gegenüber Höheren, Ermahnungen zur verantwortlichen Rede, Schweigen als Leistung des beherrschten Menschen, Schweigen als Demutsgebärde, also nicht andere aufgrund eigener überlegener Stellung zu demütigen, bis hin zu mystischem Schweigen als Vorbereitung auf das göttliche Wort, das zum Gebet fuhrt als einer aus der Kontemplation hervorgegangenen Rede, und zum Schweigegebot, um keine Sünde zu begehen. 77 BrunnerTraut zeichnet dabei den Prozeß einer stufenweise zunehmenden Vergeistigung nach. All diese Formen, die sich auch für die altägyptischen Weisheitsschriften nachweisen lassen, 75
Planck/Ziche 1979, 138; 142f.
76
Schiffauer 1987, 2 1 7 - 2 3 2 .
77
Brunner-Traut 1979. Zu den verschiedenen Formen siehe ζ. B.: „Mache keine laute Stimme (im) Haus des Gottes, (denn) das Schreien ist ihm eine Abscheu" (Lehre des Ani); „Wenn du zu den Gästen gehörst an der Tafel eines Mannes, der bedeutender ist als du, ... sprich nicht zu ihm, bis er das Wort ergreift" (Lehre des Ptahhotep 1 1 9 - 1 2 6 BURKARD). Zu den Mahnungen hinsichtlich des Redens und S c h w e i g e n s siehe auch Lichtheim 1983, 1 9 - 2 2 .
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entsprechen nicht den Warnungen Hesiods. 78 Bei ihm geht es darum, keinen Anlaß zu geben für im Dorf umlaufende böse Gerüchte, um Instrumente, den Frieden unter den Bauern zu sichern und eine Integration in den Kreis der Nachbarn zu gewährleisten. Wie anders ist da das trotzige Reden des ägyptischen Oasenbauern, wenn sein Herz wegen des ihm angetanen Unrechts beladen ist, wenn der Zorn sich Bahn bricht und wie bei einem gebrochenen Damm sich sein Mund zur Rede öffnet. Auch im alten Ägypten wurde also eine strenge Disziplinierung der Sprache angemahnt, doch darauf ausgerichtet, die höhere Autorität eines anderen zu akzeptieren und sich damit in die Hierarchie einzufügen oder gegenüber dem Gott durch Schweigen Ehrfurcht und Respekt zu zeigen.
3. Fazit Auf die Frage, warum es in verschiedenen Kulturen gleichlautende oder ähnliche Spruchweisheit gibt, sind also zwei Antworten möglich: durch intensive, direkte Beziehungen und Kontakte, die zur Übernahme kultureller Muster führen, oder durch strukturell gleiche Bedingungen. Die sprachlichen und inhaltlichen Übereinstimmungen scheinen mir nicht nah und eng genug, um fur die Sprüche in den „Werken und Tagen" Hesiods eine unmittelbare Beeinflussung durch nahöstliche Weisheitstexte als erwiesen anzusehen. Jedenfalls liegt keine vordergründige und offensichtliche Übernahme vor. Wenn es eine unmittelbare Kenntnis der nahöstlichen Weisheitsliteratur bei Hesiod gab, dann hat Hesiod bei seiner Dichtung den nahöstlichen Kolorit weitgehend übermalt. Dem höfischen Kontext, der Einbindung von Schriftgelehrten und Weisen in eine hierarchische Struktur zwischen Herrscher und Unterworfenen steht eine bäuerliche Welt bei Hesiod gegenüber, deren soziale Vernetzung und deren wirtschaftlicher Hintergrund ein völlig anderer ist als im Nahen Osten. Wer Hesiods Spruchweisheit inhaltlich und formal nur vor dem Hintergrund nahöstlicher Weisheitsliteratur verstehen zu können glaubt, muß m. E. erklären, wie dieses bäuerliche Weltbild, das uns Hesiod vermittelt, im 19. Jahrhundert auch in Dörfer Südfrankreichs gelangte, in denen sehr ähnliche soziale Strukturen zu ähnlichen, manchmal identischen Sprüchen geführt haben. Die neueren Arbeiten zu den nahöstlichen Weisheitstexten haben gezeigt, daß diese Texte literarische Produkte darstellen, die im Kontext einer Schultradition stehen, mittels derer Schreiber, Priester und Hofbeamte instruiert wurden. Die Sprüche im Werk Hesiods hingegen gehen viel unmittelbarer auf die wirtschaftlichen, sozialen und kommunikativen Bedingungen einer bäuerlichen Dorfgemeinschaft zurück, stehen also volkstümlichen Sprüchen, den oralen Traditionen bäuerlicher Gemeinschaften sehr viel näher. Die Spruchform allein und die Zusammenbindung in eine Spruchsammlung bieten also keine Handhabe, eine direkte Abhängigkeit oder eine nachhaltige Beeinflussung sicher nachzuweisen. So deutlich die Sprüche in den „Werken und Tagen" ihre .volkstümlichen' Wurzeln offenbaren, eine spezifische Form mündlich tradierten, auf Erfahrung bäuerlichen 78
Dies zeigt deutlich auch die Wertung von Hermisson 1968, 72f.: „Das Thema Schweigen und Reden nimmt in den Proverbien großen Raum ein. Gleichwohl braucht auch darüber hier nicht viel gesagt zu werden, denn daß dieses Thema speziell der höfischen, der Bildungsweisheit angehört, ist kaum kontrovers".
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Lebens und Arbeitens beruhenden Wissens in einer dörflichen Gesellschaft darstellen, so deutlich ist auch, daß die „Werke und Tage" Hesiods keine simple bäuerliche Spruchsammlung sind, sondern ein komplexes dichterisches Werk, das unterschiedliche literarische Formen, Fabeln, Mythen und Sprüche, in eine Rahmenhandlung verwoben hat und über einen bäuerlichen Hintergrund hinausweist. Auch in den nahöstlichen Texten sind die Sprüche häufig in eine, sich authentisch gebende und auf die Person des Autors verweisende Rahmenhandlung eingebunden. Der Vergleich zeigt aber, daß auch die Struktur der nahöstlichen Texte sehr viel einheitlicher ist, auf einen Prolog ein geschlossener Block von Sprüchen folgt, der wiederum von einem Epilog beendet wird. 79 An den „Werken und Tagen" Hesiods wird also kenntlich, wie griechische Dichter kulturelle Einflüsse aus dem Osten aufnahmen und verarbeiteten. Auch wenn sich bei Fabeln, dem Zeitaltermythos und in den homerischen Epen, in technischen Fertigkeiten und in der Kunst mannigfach Anstöße, Einflüsse und Übernahmen aus dem Nahen Osten nachweisen lassen, so hat doch Hesiod letztendlich Eigenes und damit spezifisch Griechisches geschaffen. 80
79 80
Zur formalen Einheitlichkeit (Prolog, Spruchkatalog, Epilog) der nahöstlichen Weisheitstexte Kitchen 1979. Auf die anderen Elemente des hesiodischen Lehrgedichts kann hier nicht weiter eingegangen werden. Zu den Fabeln siehe Brunner-Traut 1959, 176 und oben Anm. 19. Die in Fragmenten des Archilochos erhaltene Fabel vom Adler und Fuchs hat eine Entsprechung in der babylonischen Fabel vom Adler und der Schlange und in einer ägyptischen Fabel vom Geier und der Katze (Franzow 1931; Gaster 1983, 65-75). Hinsichtlich des Zeitaltermythos' resümiert West 1978, 176: „Thus in the orient, while we do not find a system that combines all the features of Hesiod's system of metallic ages, we find parallels for each of those features, and sometimes for several of them together, which go beyond coincidence. A historical connection of some kind must be assumed. That the myth originated in Greece is improbable". - Zu orientalischen Importstücken, neuen technischen Kenntnissen in der Metallerzeugung und Keramikherstellung und der Beeinflussung in der Kunst, aber auch zur Übernahme mythischer und kosmischer Vorstellungen siehe den knappen Überblick bei Ulf 1990, 254-258 mit dem Fazit: „Die Parallelität dieser und auch noch weiterer Stellen bzw. der in ihnen sichtbar werdenden Gedankenwelt zu den genannten orientalischen Vorbildern ist offenkundig" (S. 257). Zu den in den homerischen Epen feststellbaren nahöstlichen Einflüssen siehe den Überblick bei Morris 1997.
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Günther Lorenz
Asklepios, der Heiler mit dem Hund, und der Orient
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Vorüberlegungen
Asklepios ist eine Gestalt der griechischen Glaubens- und Mythenwelt, die der religionsgeschichtlichen Forschung noch so manche Frage aufgibt. Die wichtigsten unter diesen mehr oder weniger offenen religionsgeschichtlichen Problemen seien hier in Erinnerung gerufen: - Es ist unklar, was der Name des später so berühmten Heilgottes ursprünglich bedeutet hat und woher er kommt. Er begegnet in mehreren phonetischen Varianten beziehungsweise Schreibungen und läßt sich nicht überzeugend aus einer griechischen oder indoeuropäischen Wurzel herleiten. Seriöse nicht-indogermanische Deutungen liegen nicht vor. 1 - Asklepios ist bekanntlich kultisch mit der Verehrung von heiligen Schlangen - oder richtiger Nattern - verbunden. Diese Verbindung hat sein ikonographisches Erscheinungsbild bis hin zum Äskulapsymbol der modernen Ärzte und Apotheker geprägt, aber wie sie religionsgeschichtlich herzuleiten ist, ist noch nicht wirklich präzise festgestellt. - Von der Forschung durchaus bemerkt, aber im allgemeinen Bewußtsein weniger geläufig ist die Verbindung zwischen Asklepios und dem Hund. Es ist vor allem Walter Burkert, der hier auf mögliche altorientalische Vorbilder hingewiesen hat.2 Doch ist dies noch eine eher isolierte Überlegung, und es stellt sich die Frage, wie dieses Element in das Gesamtbild des vergöttlichten Heilers zu integrieren ist. - Die Quellenlage zu Asklepios steckt voller Merkwürdigkeiten, ja Widersprüche - und dies besonders im Hinblick auf die Ausgangspunkte und die alten Zentren seines Kultes innerhalb der griechischen Welt. Die älteren literarischen Quellen erzählenden oder genealogischen Charakters - vom homerischen Epos über Hesiod, Schiffs- und Frauenkataloge bis zu Pindar - scheinen prima vista auf Ursprünge in Thessalien (Trikka) oder allenfalls Messenien (Oichalia) zu deuten. Sucht man hingegen nach literarischen Bezeugungen von Kultstatuen und Kult-
1 Näheres dazu unten S. 351. 2 Besonders Burkert 1992, 77.
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Günther Lorenz plätzen, die nach Stil und Charakter in die archaische Epoche zurückreichen könnten, so stößt man vornehmlich auf Pausanias' Ausführungen über Titane, das am alten und wichtigen Verbindungsweg zwischen der Argolis und Sikyon, nahe der Wasserscheide zwischen dem Argolischen und dem Korinthischen Golf gelegen war. 3 Bemerkenswert ist freilich auch das Xoanon aus Holz vom Keuschlamm, das in einem Heiligtum am sogenannten Dromos in Sparta stand und dem Gott zum lokalen Beinamen Agnitas verhalf. 4 Fürs fünfte Jahrhundert werden dann Epidauros, Sikyon, Kyllene, Piräus und Athen genannt. Das sogenannte primäre Material schließlich setzt - mit der möglichen Ausnahme des arkadischen Gortys - trotz der frühen, schon in der Ilias vorliegenden Bezeugung des Asklepios erst relativ spät, nämlich im fünften Jahrhundert v. Chr., ein. Dies gilt für die ältesten nachweisbaren Bauphasen in den Heiligtümern von Epidauros. 5 Piräus und Athen ebenso wie fur die bildlichen Darstellungen auf einem attischen Teller und auf Votivreliefs sowie für die ältesten Weihinschriften. Aus Trikka liegt gar nichts, aus Titane nur eine Inschrift mit dem Namen des Gottes im Dativ vor. 6 Im letztgenannten Fall mag dies freilich daran liegen, daß dort noch zu wenig systematisch gegraben wurde.
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Wenn man die antiken Berichte über die Träume der Pilger im Inkubationsraum nicht für die ganze Wahrheit hält, so stellt sich immer noch die Frage, was die Heilungsuchenden dort wirklich erlebten. Es wurde schließlich noch wenig beachtet, daß es einen mit Asklepios fast namensgleichen Heros gibt, der freilich im Mythos keinen erkennbaren Bezug zum ärztlichen und heilenden Tun aufweist: Es handelt sich um Askalaphos, den das Epos in Boiotien unter den Minyern beheimatet sein läßt. Das Verhältnis zwischen den beiden Gestalten verlangt nach einer Klärung.
Besondere Aufmerksamkeit gebührt sodann einem weiteren prinzipiellen Punkt. All die oben genannten Fragen müssen in einem größeren historischen Kontext gesehen werden, den man angesichts der Tatsache, daß Asklepios seit der spätklassischen Epoche eine der beliebtesten und meistverbreiteten griechischen Gottheiten war, leicht aus den Augen verliert: Der nachmalige Gott figuriert - samt seiner mythischen Familie - in den Quellen bis zum fünften Jahrhundert ganz generell implizit, bei Pindar freilich auch ausdrücklich als Heros. 7 Dieser Umstand hat eine nicht immer mit Nachdruck gezogene Konsequenz: Die Überlegungen, die die neuere Forschung zur Entstehung sowie zur religiösen und sozialen Bedeutung des griechischen Heroenglaubens angestellt hat, sind auch auf den späteren Heilgott und seine Anfänge anzuwenden. Man sollte die Entwicklung der literarischen Gestalt wie
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Paus. 2 , 1 1 , 4 - 1 2 , 2 , vgl. dazu unten 354f. Paus. 3,14,7. Diese Feststellung bezieht sich auf das Heiligtum am Bergfuß; das Maleatas-Heiligtum am Berghang war nicht Asklepios, sondern (Apollon) Maleatas gewidmet. Großzügige Säulenhallen, die in Trikka/Trikala östlich der Kirche H. Nikolaos freigelegt wurden, stammen aus hellenistischer-römischer Zeit; die Verbindung eines Fürstengrabs vom Ende des 2. Jahrtausends v.Chr. mit dem Asklepios-Kult ist m. E. Spekulation ohne zureichende Grundlage. Vgl. dazu F. Hild 1989, 690f. - Zu Titane vgl. Meyer 1932, 1 4 8 8 - 1 4 9 1 und 1939, 1 1 - 1 6 mit Plan I. Vgl. unten S. 353f.
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auch des kultisch verehrten Wesens Asklepios eingebettet sehen in die Entfaltung der griechischen Heroenvorstellung in ihrer Gesamtheit. Dieses Thema ist noch immer Gegenstand lebhafter Forschungsdiskussionen. Einige Grundgedanken dazu seien hier kurz skizziert. 8 Nachdem die Griechen der Dark Ages durch Jahrhunderte in einem dünn besiedelten Land, in einer kaum geschichteten Gesellschaft und in einer oralen Kultur gelebt hatten, vollzog sich in der spätgeometrischen Epoche ein grundlegender Wandel. Er war die Folge einer deutlichen Bevölkerungsverdichtung in Hellas selbst und eines intensivierten Zusammenlebens zwischen Griechen und Orientalen, nicht nur im Bereich von Zypern, sondern auch von Kilikien und Syrien. Zu diesem Wandel gehörte der mehr oder minder bewußte Versuch, über die geschichtliche Rückerinnerung einer oralen Kultur, also über drei Generationen hinaus ein Bild der eigenen Vergangenheit mit historischer Tiefe zu gewinnen. Jene fernere Vergangenheit, die man sich auszumalen begann, wurde mit Heroen und Heroinen bevölkert. Dies waren fiktive Vorfahren mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, vor allem ausgestattet mit erstaunlicher Körperkraft, mit dem Besitz von Zaubermitteln und wunderbaren Tieren, und man sah sie in einem Naheverhältnis zu den Göttern, nicht selten als deren Söhne oder Töchter. Freilich galten sie als verstorben und erhielten Zuwendung in den Formen des Totenrituals. In der griechischen Kulturlandschaft fand diese Vorstellung Anknüpfungspunkte an mykenischen Gräbern und den Ruinen der Großbauten und Siedlungen, aber auch in Kulten und Kultplätzen mit alter, nach moderner Begrifflichkeit bronzezeitlicher Tradition. In den homerischen Epen und in den Werken Hesiods wurden einerseits bereits vorhandene Gestalten dieser Art in einer großartigen Weise erzählerisch verknüpft, andererseits haben diese Dichterpersönlichkeiten die Zahl der Heroen und Heroinen sicherlich selbst schöpferisch vermehrt. J e nach dem Ausgangspunkt der Imagination kann man in der rückblickenden Betrachtung mit folgenden wichtigen Typen von Heroen und Heroinen rechnen: -
dichterische, literarische Verkörperungen von Kraft, Macht und Stärke, Klugheit und Tugend,
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Eponyme für Landschaften und Gemeinschaften,
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Gottheiten bronzezeitlicher, also mykenischer Herkunft, die in gewissem Sinne .absanken' und historisiert wurden, darunter besonders viele Heroinen,
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Gestalten altorientalischer (und in einer späteren Geschichtsepoche auch ägyptischer) Provenienz, die man dank der neuen Kontakte kennenlernte, mit hellenisierten Namen versehen und mehr oder minder verändert in die entstehende Mythologie einbauen konnte.
Die beiden ersten Typen von Heroen und Heroinen sind an ihren sprechenden Namen in der Regel wohl relativ leicht erkennbar. Jene Gestalten, für welche die historische Genese aus bronzezeitlichen Gottheiten in Betracht kommt, sind gewiß nicht mit letzter Sicherheit zu identifizieren, doch kann man durchaus Indizien nennen, die in diese Richtung weisen. 9
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Ausfuhrlicher dazu Lorenz 1996 Vgl. dazu Lorenz 1996, 4 8 - 5 0 .
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In ähnlicher Art und Weise lassen sich natürlich Indizien namhaft machen, die für eine orientalische Herkunft einer Sagengestalt sprechen. So macht es sicherlich Sinn, folgende Merkmale einer Heroengestalt als Hinweis auf altorientalische Herkunft zu betrachten: - Der Name ist nicht griechisch etymologisierbar, wohl aber als phonetische Anpassung eines orientalischen Namens zu verstehen. Dabei ist auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß eine Kultepiklese einer orientalischen Gottheit, also ein in Anrufungen und Hymnen oder auf Opfer- und Weihegaben verwendeter Ehren- oder Ruhmestitel, der sich auf bestimmte Funktionen beziehen kann, hellenisiert oder übersetzt werden konnte. - Der Heros oder die Heroine hat bestimmte Attribute oder Begleiter, die im Orient mit einer Gestalt verwandter Funktion und Mythologie verbunden sind. - Die im Zusammenhang mit dem Heros oder der Heroine überlieferten Riten enthalten Elemente, die mit dem üblichen, am Totenritual orientierten Heroenkult nichts zu tun haben, für die es aber im Orient Parallelen gibt. - Die Mythen, die über den Heros erzählt werden, entsprechen orientalischen Erzählmotiven. - Diese Mythen können so verstanden werden, daß sie orientalische Rituale in scheinbar historische Erzählungen übersetzen. 10 - Der Heros steht in mehr oder minder dichter mythisch-erzählerischer oder genealogischer Verbindung mit weiteren Gestalten, für die ihrerseits eine orientalische Herkunft wahrscheinlich zu machen ist. - Der Heros wird in gemeinsamen Tempeln, Temena oder Heiligtümern zusammen mit solchen Gestalten verehrt. Die Frage, auf welchem Wege solche Gestalten Eingang in die griechische Welt finden konnten, stellt sich auf verschiedenen Ebenen. Einerseits geht es um die Übertragung von Kulten und Riten ins reale religiöse Leben der Griechen, andererseits haben wir aber auch damit zu rechnen, daß die Dichterpersönlichkeiten sich auf ihre spezifische, eben literarische und mythenbildende Weise mit den Anregungen aus dem Osten auseinandergesetzt haben. Dabei ging es wiederum zum einen um die Kulte und Kultstätten, die innerhalb der griechischen Welt entstanden, und zum anderen um die Informationen Uber die Verhältnisse im Orient selbst. All diesen Aspekten werden wir im folgenden begegnen, wenn wir nunmehr die Frage nach möglichen altorientalischen Bezügen des Asklepioskultes stellen.
2. Asklepios und der Hund Wie erwähnt, gibt es in der Forschung bereits die Vermutung, daß die Rolle, die der Hund als Attribut und Begleiter des Asklepios spielte, auf altorientalische Anregungen zurückgehen könnte, und deshalb setzen wir hier mit unseren Überlegungen an. Zunächst sei rekapitu-
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Beispiele dieser Art gibt es in der Relation zwischen der griechischen Welt und Ägypten und in der konkreten Ausformung bei oder durch Herodot: Wir meinen die Nitokris-Geschichte, die offenbar ein Ritual im Kult der ägyptischen Neith in eine Erzählung übersetzt, vgl. Haider 2002.
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liert, welche Belege es fur die besagte Verbindung zwischen dem heilenden Heros und späteren Gott und dem Hund gibt." Zwar nicht die älteste, aber doch die eindeutigste Aussage, daß reale und lebendige Hunde in den Kultbezirken des Heilers Asklepios umherliefen, stammt aus den inschriftlich erhaltenen Heilungsberichten von Epidauros. Auf der dortigen Inschriftenstele Β liest man folgendes: „Ein Hund heilte einen Knaben von Aigina. Dieser hatte ein Gewächs am Hals. Als er zu dem Gott gekommen war, behandelte ihn einer von den heiligen Hunden im Wachen mit seiner Zunge und machte ihn gesund." 12 Die bewußten Heilungsberichte wurden gegen 300 v. Chr. von Priestern zusammengestellt und redigiert. In vielen Fällen behaupten sie, die Pilger hätten im Schlaf eine Begegnung mit dem Gott gehabt, der sie selbst behandelte oder ihnen Ratschläge gab. Es sprechen gute Gründe dafür, daß es sich dabei um Auftritte des Kultpersonals handelte, das als Traumgeschehen ,verkauft' und damit gleichzeitig gegen rationalistische Kritik geschützt wurde. Auf diese Weise wurden unter anderem Scheinoperationen im Stil neuzeitlicher indigener Medizinmänner oder philippinischer Heiler in Szene gesetzt.13 Bei der Hundebegegnung des Knaben, den man von der benachbarten Insel ins Heiligtum gebracht hatte, mußten die Priester freilich nicht vor dem Vorwurf geschützt werden, sie hätten sich als göttliche Personen verkleidet - deshalb wohl betont der Text hier ausdrücklich, daß der Patient wach war, als das Tier des Asklepios ihm das Leiden mit der Zunge wegnahm. 14 Die Formulierung ,einer von den heiligen Hunden' macht es wahrscheinlich, daß die Vierbeiner tatsächlich in größerer Zahl im Temenos gehalten und möglicherweise in den Inkubationsraum gefuhrt wurden. 15 Die Goldelfenbeinstatue von Thrasymedes aus Paros, die das Kultbild im spätklassischen Tempel von Epidauros darstellte, zeigte den Gott mit einem Stab, der eine Hand über das Haupt der Schlange oder Natter hielt, andererseits ergänzte aber ein Hund, der ihm zur Seite lag, die plastische Gruppe. So schildert das Pausanias, und so lassen es jene Silbermünzen von Epidauros aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. erkennen, die wahrscheinlich die Kultstatue wiedergeben wollen.16 Damit ist noch einmal dokumentiert, daß der Hund an diesem Wallfahrtsort der Natter als gleichrangiges Attribut gegenüberstand.
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Vgl. generell zum folgenden zuletzt Burkert 1992, 77; Lorenz 2000, 206-212, bes. 211 f. IG IV 2 1, Nr. 122 = Fall Nr. 26 Herzog (Übersetzung ebd.) = T.423 p. 226 bzw. 234 Edelstein. Lorenz 1990, 155-160. Die Satire im Rahmen der Komödie geht aller Verschleierung zum Trotz davon aus, daß es sich um Auftritte des Kultpersonals handelte, vgl. Aristoph.Plut. 653ff. Zum heilenden Kontakt mit der Zunge vgl. unten 347. Das älteste größere, archäologisch nachweisbare Gebäude (Gebäude Ε nach Kawadias/Burford), um 430 v.Chr. entstanden, besaß einen Hof, der durch eine Mauer mit irregulärem Verlauf geteilt war (im Sommer 2002 nach neuen archäologischen Arbeiten wieder gut sichtbar). Vielleicht sollte diese Mauer das Geschehen dahinter, also die Aktionen des Kultpersonals und die Annäherung der Hunde und Nattern, vor den Blicken der Außenstehenden abschirmen? - Vgl. dazu Tomlinson 1983, 72f. Paus. 11,27,2 = T. 630.688 Edelstein; Münzen: Silber-Trihemidrachmen von Epidauros, BMC Peloponnesus, 156 Nr. 7, Abb. 29,14; Babelon, Traite II 3, Nr. 679-681; Krause 1972, 251f, Fig. 14-18, vgl. Holtzmann, LIMC Nr. 84.
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Ein Votivrelief aus Epidauros, das sich jetzt im Nationalmuseum von Athen befindet, macht die Hunde zum Begleiter der erstmals im homerischen Epos erwähnten Asklepiossöhne Podaleirios und Machaon. 1 7 Die kultische Bedeutung des Hundes in Epidauros wurde auch vom Verfasser jener Erzählung berücksichtigt, der die Geburtsgeschichte des Asklepios als Ursprungs- und Gründungmythos des argivischen Heiligtums gestaltete: Koronis, die mythische Mutter des großen Heilers, sei mit ihrem Vater aus Thessalien ins Land gekommen. Sie war von Apollon schwanger und kam nun auf dem Boden von Epidauros nieder. Das Kind wurde am Berge Titthion ausgesetzt und von einer Ziege, die sich von ihrer Herde entfernt hatte, gesäugt. Auch ein Hund machte sich von der selben Herde davon und bewachte den Knaben, bis ihn der Hirte Aresthanas auf der Suche nach seinen entlaufenen Tieren fand. Da erstrahlte es in magischem Glanz und es zeigte sich, daß es alles heilen konnte. 1 8 So schildert es Pausanias, doch erlauben Bildquellen aus Athen die Vermutung, daß die Geschichte schon um 400 v. Chr. so erzählt wurde. 1 9 Die Ziege als Nährmutter des Asklepios ist wohl in die Geschichte gekommen, um das Verbot von Ziegenopfern für Asklepios aitiologisch herzuleiten. 2 0 Nach einer Variante, die der Stoiker Apollodoros von Athen aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert bietet, wurde Asklepios freilich von einer Hündin gesäugt, bis ihn Jäger (im Griechischen bekanntlich κ υ ν η γ έ τ α ι , also wörtlich ,Hundeführer') fanden. Apollodor erzählt dann weiter, das Kind sei zum Kentauren Cheiron gebracht worden, und lokalisiert die Geschichte damit in Thessalien, also im Sinne der Ansprüche von Trikka. Dementsprechend erzählt er weiter, Asklepios hätte seine Heiltätigkeit zuerst in Trikka und dann in Epidauros begonnen. 2 1 Ein ganz wesentlicher Faktor im Aufstieg des vormaligen Heros Asklepios zum panhellenischen Heilgott war offenbar die Übertragung des Kultes aus Epidauros nach dem Piräus und schließlich weiter nach Athen. Aus dem Tempel von Piräus hat sich nun inschriftlich ein Kultgesetz erhalten, das zeigt, daß auch die kultische Rolle des Hundes von Epidauros an den neuen Kultort übertragen wurde. Vorgeschrieben wird da ein Voropfer von jeweils drei Kuchen an Maleatas, Apollo, Hermes, Iaso, Akeso, Panakeia sowie zuletzt ' f ü r die Hunde und Hundeführer' ( κ υ σ ι ν π ό π α ν α τρ'ια. κ υ ν η γ έ τ α ι ς π ό π α ν α τρια). 2 2 Burkert hat daran gedacht, daß es sich konkret um Statuen handelte, vor denen die Gaben deponiert wurden. Dies ist gut vorstellbar, doch sollte man einen sprachlichen Umstand bedenken: Das Wort ,Hundefuhrer' hat zwar im Griechischen, wie schon erwähnt, meistens die Spezialbedeutung ,Jäger', ist aber als Wortzusammensetzung so durchsichtig, daß man es wohl auch leicht auf die Grundbedeutung reduzieren kann. Man kann somit auch erwägen, daß es sich um die
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Relief Nationalmus. Athen Inv.Nr. 1426; vgl. Nilsson 1906, Nr. 7; Hausmann 1948, Fig. 10; Kerenyi 1948, Fig. 15; Burkert 1992, 77.
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Paus. I I , 2 6 , 3 f f = T . 7 Edelstein. Vgl. dazu unten 341. Zu diesem Verbot vgl. Graf 1997, 97 mit Belegen. Apollod. FgrHist 2 4 4 F 138 = Theodoret. Graec.aff.cur. VIII, 19ff = T. 5 Edelstein. Vgl. Burkert 1992, 77. IG II/III2 4 9 6 2 = LSCG 21.9f; vgl. Burkert 1992, 77.
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Asklepios-Söhne Podaleirios und Machaon handeln könnte, die j a auf Reliefdarstellungen von den Tieren begleitet werden. 2 3 Solche Reliefdarstellungen zeigen den Hund schließlich auch in Athen selbst in klarer Verbindung mit Asklepios. Besonders wichtig ist hier jene skulpierte und beschriftete Stele, die Anfang des vierten Jahrhunderts v. Chr. in Athen zur Erinnerung an die Gründung des Asklepieions durch einen gewissen Telemachos aufgestellt wurde. Dieses Denkmal wurde erst durch akribische Archäologenarbeit aus Fragmenten, die über die verschiedensten Museen verstreut sind, rekonstruiert. Die wichtigsten Publikationen dazu stammen von Otto Walter und Luigi Beschi. Das Monument bestand demnach aus einem mit ausführlicher, aber ebenfalls teilweise verlorener Inschrift versehenen Pfeiler, dessen Oberteil reliefiert war und seinerseits eine doppelseitig skulpierte Platte trug. Darauf erblickte man Hygieia, die auf der im Heiligtum vorhandenen Trapeza saß, mit Asklepios, durch medizinische Instrumente charakterisiert, und andererseits das Tor zum Heiligtum. Während Schlange und Hahn an dessen Giebelverzierung auf den Asklepioskult Bezug nehmen, hat Luigi Beschi den Storch, der auf einem Baum hinter dem linken Mauerzug sitzt, als topographische Anspielung auf das dem Asklepieion am Fuße der Akropolis benachbarte Pelargikon erkannt. Hunde erscheinen nun auf den Reliefs des Monuments gleich mehrfach: Unter der Trapeza beziehungsweise unter dem Sitz der Hygieia ruht ein mächtiger Molosser, und auf der Reliefzone des Pfeilers blikken zwei Tiere mit erhobener Pfote zu einem Asklepios-Sohn, vermutlich Machaon, auf. Dazu kommt noch eine Asklepios-Tochter in Hundebegleitung. Dahinter steckt wohl mehr als nur die „qualitä eroica della scena", von der Beschi spricht. 24 Ein Bruchstück eines Votivreliefs aus dem Heiligtum am Fuße der Akropolis zeigt wiederum einen Hund zu Füßen des Podaleirios. 2 5 und ein weiteres solches Stück stellt ebenfalls eine Illustration zur epidaurischen Geburtsgeschichte dar. 26 Schließlich ist noch darauf zu verweisen, daß ein bedeutender attischer Vasenmaler, der als Meidias-Maler bekannt ist, offenbar die epidaurische Geburtsgeschichte zum Vorwurf für die Gestaltung eines rotfigurigen Tellers genommen hat: Er zeigt den Asklepios-Knaben von der Ziege gesäugt und vom Hund des Aresthanas bewacht. 2 7 Dies alles macht es wahrscheinlich, daß auch am Fuß der Akropolis von Athen heilige Hunde gehalten wurden. 2 8 Auch für das Asklepios-Heiligtum von Lebena an der kretischen Südküste sowie für die Kultfiliale auf der römischen Tiberinsel gibt es entsprechende Hinweise. 29
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Neben dem oben erwähnten Stück aus Epidauros vgl. u. a. auch jenes aus Athen, Nr. 68 bei Holtzmann, LIMC, und das Telemachos-Monument, dazu vgl. den nächsten Absatz. - Burkert 1992, 77 verweist darauf, daß Hunde und Hundeftihrer auch in der Parodie eines Kults aus der Feder des Komikers Piaton vorkommen: Plat. Com. Phaon fr. 188,16 (= PCG p. 511 = Athen. X,441 (p. 5 0 2 Loeb)).
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Walter 1930; Beschi 1967, bes. 383 (Hygieia). 3 8 9 (Lage beim Pelargikon). 4 1 7 f (Machaon, Asklepiostochter), Abb. 1 (p. 382). 9 (p. 402). 10 (p. 403). 22 (p. 411); Holtzmann LIMC Nr. 394 mit Text und Rekonstruktionszeichnung nach L. Beschi. Holtzmann LIMC Nr. 68, Nat.Mus. Athen Inv.-Nr. 2399. Holtzmann LIMC Nr. 5, mit Verweis auf die Interpretation von Svoronos. Holtzmann LIMC Nr. 1: Teller des Meidias-Malers, vgl. dazu auch Holtzmann p. 892. Vgl. auch noch die Geschichte vom wachsamen Hund im athenischen Asklepieion Ael.nat.anim. VII,13. Vgl. Thraemer 1896, 1682; Deubner 1900, 39 (Athen, Lebena); Schmidt 1909, 45 nach Paul. Fest. 110 M.
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All dies zeigt wohl mit großer Klarheit, daß der Hund nicht nur als vages Kennzeichen der Heroenwelt oder als gelegentlich vorkommendes ikonographisches Attribut des Asklepios zu betrachten ist, sondern in der kultischen Realität in einer festen Verbindung zu ihm stand. Sie war so konstitutiv für den gesamten kultischen Komplex, daß sie auch von Epidauros nach dem Piräus und nach Athen übertragen wurde - auf jenem Weg also, der für den Aufstieg des heilkundigen Heros zum panhellenischen Heilgott so wesentlich geworden ist. Damit stehen unsere Überlegungen an jenem Punkt, an dem die Belege dafür vorzuführen sind, daß der Hund auch im Alten Orient mit Gestalten verwandter Funktion verbunden war oder eine Rolle in Ritualen spielte, die der Abwehr von Krankheit und Übel dienten. 30
3. Altorientalische Gottheiten und Riten mit Hunden Chronologisch am weitesten zurück reicht wohl die Beziehung zwischen der mesopotamischen Heilgöttin Gula und dem Hund. Sie, die in den Texten auch mit Baba, der sumerischen ,Ärztin der Schwarzköpfigen', gleichgesetzt wurde, besaß in Nippur einen Tempel, der den sumerischen Namen E-ur-gi 2 -ra trug, was so viel bedeutet wie ,Haus der Hunde'. Auf kassitischen Grenzsteinen (kudurru) erscheint sie mit dem Hund, und ein neuassyrischer Text verspricht: „... wenn (ein kranker (unreiner) Mann) den Hund der Gula berührt, ist er (wieder) rein." 31 Ein Hymnus, der nach der altbabylonischen Epoche von einem gewissen Bullussarabi verfaßt wurde, sehr weit verbreitet war und bis in die Seleukiden- und Partherzeit immer wieder abgeschrieben wurde, setzte sie mit der sumerischen Heilgöttin Nintinugga (,Herrin, die die Toten belebt') gleich und legte ihr als Selbstprädikation den Satz in den Mund: „Die Toten bringe ich aus der Unterwelt zurück." 32 Ansonsten kommt sie aber vor allem in Fluchformeln vor, die sie als Gottheit ansprechen, die die Menschen mit Krankheit straft, besonders aber mit Wunden, die sich wie Geschwüre ausbreiten. 33 Gula verkörpert damit den Typus einer ambivalenten Heilgottheit, die Krankheiten sendet und auch wieder wegnehmen kann. 34 Vor diesem kultgeschichtlichen Hintergrund hat man eine viel diskutierte archäologische Fundsituation beim Gula-Tempel von Isin im südlichen Mesopotamien zu sehen. In diesem Heiligtum hat man ungefähr in der Zeit zwischen 1050 und 900 v. Chr. eine gepflasterte Tempelrampe zugeschüttet und in die so gewonnene Schicht insgesamt dreiunddreißig Hundegräber eingetieft. Unter den dort beigesetzten Vierbeinern waren fünfzehn Welpen und eine Totgeburt, nur neun Tiere waren älter als eineinhalb Jahre. Unter den erwachsenen Ex-
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Das im folgenden gebotene Material habe ich - zum Großteil - in etwas anderer Anordnung bereits vorgestellt, Lorenz 2000, 262-266. Fuhr 1977, 135f.; Stager 1991, 41; Lorenz 2000, 264. Hymnus des Bullussarabi, I 8 und (X) 179 = TUAT II 5 (1989) 759 (hier auch die Angaben zur Textüberlieferung); 764. Für den Hinweis auf diese Stelle danke ich R. Rollinger. Vgl. zur Totenerweckung auch unten S. 360. Fuhr 1977, 136. Vgl. zu den Typen von Heilgottheiten Lorenz 1988 passim.
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emplaren hatten zwei schwere, schlecht verheilte Knochenbrüche erlitten. Bei einem Tier war eine schwere Beinhautentzündung (Periostitis ossificans) eingetreten, bei einem anderen hatte sich die linke Vorderpfote im Verheilen um eineinhalb Zentimeter verkürzt. Die Hunde waren ohne Beigaben in die Erde gebettet, doch fanden sich im Bereich der erwähnten Straßenrampe Bronzeplättchen und Terrakotten, die Hunde darstellten, und eine kleine Bronzestatuette eines knienden Beters mit Hund. 35 Eine fragmentierte Hundeterrakotta trug folgende Weihinschrift: „Zu Gula, der Herrin vom Egalmah, / der Herrin über das Leben, der großen Ärztin ..., / die Atem des Lebens schenkt, / seiner Herrin, / hat Iii...daja / gebetet, und sie hat sein / Gebet erhört ... / Atanah-ili .../ hat (diesen) Hund geweiht.". 36 Diese Funde aus Isin wurden sicherlich zu Recht herangezogen, um den Sinngehalt jener babylonischen Bronzestatuetten zu eruieren, die im Heraion von Samos in Schichten des siebenten vorchristlichen Jahrhunderts gefunden wurden. Es bleibt offen, ob es orientalische Kaufleute oder Griechen mit Orienterfahrung waren, welche die Statuetten auf die ägäische Insel gebracht und sie der Hera geweiht haben. 37 An der levantinischen Mittelmeerküste sind bei Ausgrabungen noch weitere ,Hundefriedhöfe', die dem fünften vorchristlichen Jahrhundert angehören, zum Vorschein gekommen freilich können sie nicht direkt mit einem Heiligtum und einer Gottheit in Beziehung gesetzt werden. Der größte davon, erst um 1990 von amerikanischen Archäologen entdeckt, wurde etwa zwischen 500 und 450 v. Chr. in Askalon im Süden Palästinas angelegt. Die ehemalige Philisterstadt wurde damals von einem phönikischen Statthalter, wahrscheinlich aus Tyros, verwaltet, und hatte einen kanaanäisch-phönikischen Charakter. Auf einer Fläche innerhalb der Zitadelle, die um das Jahr 450 v. Chr. mit einem großen Warenmagazin verbaut wurde, haben die Ausgräber mehr als 700 Hundeskelette gefunden; da der Westteil des Bezirks im Lauf der Jahrhunderte von der Brandung ins Meer gerissen worden ist, könnte der Friedhof aber einstens auch tausende davon geborgen haben. Die Tiere wurden alle in der gleichen Haltung - auf der Seite liegend, die Beine abgebogen und den Schwanz um die Hinterläufe gelegt - ohne Beigaben in Gruben gelegt, wobei spätere Deponierungen manchmal die früheren störten. Mit sechzig bis siebzig Prozent Welpen war die Altersverteilung fast ident mit Isin; ein Heiligtum konnte aber nicht festgestellt werden. Der Ausgräber von Askalon, Lawrence E. Stager, verweist auf weitere sieben Hundegräber der gleichen Periode im benachbarten Ashdod und in Teil Qasile (Tel Aviv); auf der Zitadelle von Berytos, dem heutigen Beirut, wurden ähnliche Funde gemacht. 38
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Hrouda 1977, passim, bes. 17-19 (Beschreibung, Datierung); 43ff. (Terrakotten); 52 (Bronzebleche); 97-102 (Boessneck zu den Knochenfunden). Taf. 14-17.25; Plan 3. Femer Hrouda 1981, bes. 9;16;18;66f (Entdeckung des Gula-Tempels, Hortfund von Hundeterrakotten); Kurzbeschreibungen auch bei Driesch 1989, 19f; Stager 1991, 42; Lorenz 2000, 262f. Übersetzung von Edzard/Wilcke in Hrouda 1977, 90, unter Weglassung einzelner diakritischer Zeichen. Zu den Funden Kyrieleis 1979, vgl. Furtwängler 1978, 113f; entsprechend interpretiert bei Burkert 1992, 75-77 mit Abb. S. 76. Stager 1991, der Befund von Askalon 27-39, bes. 30f und 38f.; die Hinweise auf Ashdod etc. 39; die Information über Beirut entstammt einem Vortrag des Ausgräbers Uwe Finkbeiner, Tübingen.
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Um den Motivationen für die kultischen Beziehungen zwischen der Heilgottheit und dem Hund und fur die Beisetzungen auf die Spur zu kommen, muß man sowohl vom Wesen der Gottheit als auch von der Rolle des Hundes im Alten Orient ausgehen: Gula verkörperte, wie bereits herausgestellt, den Typ der ambivalenten Heilgottheit, und so machte es Sinn, ihr ein Tier als Stellvertreter für bedrohte Personen anzubieten - ein Verfahren, das im Zweistromland auch sonst sehr beliebt war, etwa unter Verwendung von Ferkeln. Doch auch der Hund bot sich dafür an, und dies aus durchaus widersprüchlichen und schillernden Gründen. Einerseits war er Begleiter und Wächter des Menschen und im günstigen Fall stark mit einer Person verbunden; andererseits war er als Fleischtier uninteressant, und es kamen damals wie heute mehr Welpen zur Welt, als man brauchen konnte; ein materieller Verlust war also kaum gegeben, wenn man ein solches Tier der Gottheit stiftete. Zudem gab es viele streunende Hunde - gerade unter ihnen wohl viele voll von schwärenden Wunden und Geschwüren, also von Gula geradezu gezeichnet. Oft genug leckten sie ihre Wunden und kamen letztendlich erstaunlicherweise doch davon. Geht man von solchen Motiven und Beobachtungen aus, so kann man durchaus verstehen, daß unter den erwachsenen Tieren von Isin solche mit schweren Verletzungen, die vielleicht entzündet waren und eiterten, auffallend stark vertreten sind. Aber auch die Dominanz von Welpen überrascht nicht - verstärkt wurde sie womöglich dadurch, daß man sie besonders gern benutzte, um Gefahr von Kindern abzuwenden. Doch in welcher Art und Weise wurden die Tiere der Gottheit übereignet? Vielleicht wurden sie einfach in den Tempelbezirk verbracht. Sie lebten dann dort als Eigentum der Gula, die deshalb als Hundeführerin dargestellt werden konnte, und sie wurden nach ihrem natürlichen Tod im vorgesehenen Bereich vergraben. Denkbar ist es aber auch, daß man sie auf unblutige Art getötet hat - grobe Gewalt wäre ja an den Skeletten sichtbar. Den konkretesten Hinweis gibt wohl eine Stelle im Jesaja-Buch, verfaßt im fünften oder vierten vorchristlichen Jahrhundert und damit zeitlich und räumlich gar nicht weit entfernt von der Anlage in Askalon. Sie wendet sich gegen nichtjüdische Kultbräuche und listet dabei in Stichworten vielerlei auf, um schließlich auch Hundetötungen zu erwähnen: „Man schlachtet einen Stier, man tötet einen Menschen, man opfert ein Schaf, man erwürgt einen Hund ..." 39 Die vielen Hundevotive aus unterschiedlichem Material sowie die Darstellungen von Männern mit Tieren vertreten dann die realen Opfertiere und deren Stifter. Im westsemitischen Bereich, also insbesondere in Syrien und Phönikien und in deren Ausstrahlungsbereichen wie Kilikien und Zypern, dominierten im späten zweiten und im ersten vorchristlichen Jahrtausend ambivalente Heilgottheiten männlichen Geschlechts, so zum Beispiel ReSep, Mukol und Eshmun. ReSep ist für unsere weiteren Überlegungen besonders bedeutsam. Er läßt sich in der altsyrischen Stadt Ebla bis in die Texte des dritten vorchristlichen Jahrtausend zurückverfolgen. 40 Aus den keilschriftalphabetischen Texten aus Ugarit (13. Jhdt. v. Chr.) ergibt sich unter anderem, daß man ihn in dieser Stadt mit dem mesopotamischen Unterwelts- und Seuchengott Nergal parallelisierte, daß er monatliche Opfer erhielt und daß seine Statue ebenso wie jene 39 40
(Trito-)Jesaja 66,3. Unter der Namensform Rasap, vgl. Haas 1994, 546-548.
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der sogenannten hurritischen Astarte oder der ,Astarte des Feldes' bei einem großen Festritual in den Königspalast überfuhrt wurde. Beim Empfang der hurritischen Astarte mußte sich der König von Ugarit in hurritische Gewänder kleiden, um der Göttin zu bieten, was sie erwarten konnte.41 Hier gerinnt die Verbindung mesopotamischer, westsemitischer und anatolischer Elemente, die fur diese Region charakteristisch ist, gleichsam zur Szene. Es illustriert im übrigen die Ambivalenz des Reäep, daß ein ugaritischer Mythos die Auslöschung eines Teils der Königsfamilie auf ihn zurückfuhrt, und daß eine Beschwörung Baal anfleht, seine Pfeile abzuwehren. 42 während andererseits theophore Personennamen ihren Trägern wohl den Schutz vor Seuchen vermitteln sollten.43 Anscheinend vermutete man den Wohnort des Gottes in Anatolien, und zwar in der sonst unbekannten Stadt Bibit(u) und damit dort, wo auch die Hethiter den Hauptsitz ihres Schutzgottes Nubadig ansetzten.44 Jener Beschützer der Hethiter teilte mit dem westsemitischen Gott im übrigen auch mehrere Beinamen, die auf den militärisch-kriegerischen Aspekt der beiden Gestalten hinweisen: ,Nubadig des Bogens', ,des Kriegers', ,des Heeres', ,des Schildes'. 45 Doch nicht nur in Ugarit wurde Reäep verehrt; auch in Sidon war im ersten vorchristlichen Jahrtausend ein Stadtteil nach ihm benannt, man verehrte ihn ebenfalls in Karatepe, und im nordsyrischen Sam'al stellte er eine der Hauptgottheiten dar.46 Mukol begegnet im spätbronzezeitlichen Palästina in Beth Sean,47 während ESmun im ersten Jahrtausend in Sidon eine herausragende Rolle spielte.48 Es gibt, wie bereits mehrfach gesehen wurde, einen Hinweis, daß diese männlichen Seuchenund Heilgottheiten Syriens und Phönikiens in ähnlicher Weise mit dem Hund verbunden wurden wie die mesopotamische Gula. Es handelt sich dabei um eine phönikische Inschrift der Zeit um 450 v. Chr. auf einer Kalksteinplatte aus Kition, der Phönikerstadt auf Zypern. Sie nennt unter der .Belegschaft' des dortigen Tempels für Astarte und den zuvor genannten Mukol Hunde (klbm·) und Welpen (grm).49 Wir fugen hinzu, daß im zweiten Jahrtausend auch in den Heiligtümern verwandter hethitischer Gottheiten Hunde gehalten und mit spezieller Nahrung versorgt wurden: Dies gilt für Jarri, den hethitischen Pest- und Kriegsgott, den ,Herrn des Bogens' und ,Gott der Vernichtung', der zusammen mit der ,IStar der Flur' 41
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KTU 1.47,27 und 1.118,26 (Götterlisten in Keilschrift) in Verbindung mit RS 20.24,26 (akkadische Götterliste aus Ugarit); KTU 1.43 (= TUAT 11,3 p. 326f); 1.91; 1.148; vgl. Haas 1994, 557f.; Niehr 1998, 41; ebd. 52 auch Parallelwiedergabe der Götterlisten. - Zu Nergal als Seuchengott und zu ReSep vgl. Schretter 1974, 88-98; 111-130 mit zahlreichen Belegen. Beschwörung I auf der Sammeltafel KTU 1.82, Zeile 3 (= TUAT 11,3, p. 337, Übersetzung von Dietrich/Loretz): „Ba'al [weh]re die Pfeile des Raschap ab,/erkenne, wenn er sie auf ihr Leibesinneres (wörtl. ihre Nieren und ihr Herz) losschießt!" KTU 1.14 (Schicksal der Familie des Königs Kirtu), 1.107,156, vgl. 1.100,30-34 (theophore Namen). Dazu Niehr 1998, 36. KTU 1.100,30-31 (Die Sonnengöttin sucht Raäpu in Bibitu) (= TUAT 11,3, p. 347 (Übersetzung von Dietrich/Loretz)); vgl. KTU 1.115,11; 1.171,3, dazu Barre 1978, 467 mitAnm. 32; Niehr 1998, 75. Barre 1978, 466f mit Belegen. KAI 15; KAI 214,2-3.11.18; 215,22; vgl. Barre 1978, 466; Niehr 1998, 123;160. Möglicherweise handelt es sich um eine Lokalversion des ReSep, in der Ikonographie unter starkem ägyptischem Einfluß, vgl. dazu Niehr 1998, 99f. KAI 14,17; 15.16; vgl. Niehr 1998, 123. CIS 86; vgl. dazu Schretter 1974, 157f.; Burkert 1975; Stager 1991, 39f mit Abb. der Inschrift und älterer Literatur.
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Muräili II. in die Schlacht vorausgeeilt sein soll, und fur die große Göttin Nikkal/Niggalu. Die Hunde bekamen Gebildbrote im Gestalt von Schiffchen zu fressen, die mit einer genau vorgeschriebenen Fülle versehen waren: Blut, Fettstücke vom Schaf, Gerstenbrei, Grütze und Bröckchen eines bestimmten Brotes. 50 Doch zurück nach Zypern: Manfred Schretter und Walter Burkert haben darauf aufmerksam gemacht, daß die transkulturellen Beziehungen vom phönikischen Kition weiter zu den zypriotischen Griechen gelaufen sind: In Idalion nämlich, das Kition im Inneren der Insel benachbart war, ist eine Gleichsetzung von ReSep-Mukol mit dem griechischen Apollon belegt, der hier den Beinamen Amuklos erhielt. 51 Es ist hier nicht der Ort, umfassend über die Basis und die Gründe für diesen Synkretismus zu reflektieren, doch sei immerhin auf einen Aspekt besonders hingewiesen: Eine wesentliche Funktion Apollons war ohne Zweifel die des Initiationsgottes für die heranwachsenden jungen Männer - und zwar eine Funktion, die eng mit dem Charakter der kaum stratifizierten griechischen Gesellschaft der ,Dark Ages' verknüpft war und keine religionssoziologische Parallele im Alten Orient hatte. Insofern greifen wir hier wohl eine genuin griechische Komponente des Gottes. Da sich die Initiation der jungen Leute aber nicht zuletzt in Form einer rituell und festlich ausgestalteten Jagd unter Anleitung älterer Männer abspielte, ergaben sich für den Gott, der darüber wachte, zwanglos bestimmte Attribute - neben dem jugendlichen Erscheinungsbild und der festlichen Lyra insbesondere Pfeil und Bogen und - eben der (Jagd-)Hund. 52 Das paßte vortrefflich zur Ikonographie und zum Kult eines Resep/Mukol und hat wohl die Identifikation der beiden Gottheiten sehr erleichtert. Das Ergebnis war eine Gottheit mit sehr vielen und unterschiedlichen, ja widersprüchlichen Funktionen und Konnotationen - und dies gilt selbst für die Hunde in ihrem Gefolge. Vorläufig halten wir aber eines fest: Es zeichnet sich unübersehbar eine Brücke von Reäep/Mukol zu Apollon und von diesem zu seinem griechischen Kultgenossen beziehungsweise Kultnachfolger, also zu Asklepios und seinen Hunden ab! Doch es gibt noch einen zweiten Strang von Überlieferungen und Relikten, die den Hund als Lebewesen zeigen, das im Rahmen ritueller Abwehr von Krankheit und Übel eingesetzt wurde. Wir meinen die einschlägigen hethitischen Rituale, die unter anderem dadurch auffallen, daß sie mehrmals davon sprechen, das Tier sei zu zerteilen oder zu verbrennen - eventuelle archäologische Spuren solchen Tuns müßten dies also erkennen lassen. 53 Im Prinzip unterscheiden die Ritualtexte terminologisch genau zwischen dem Anliegen, das Tier gleichsam als Ersatz oder Tauschobjekt statt des Betroffenen preiszugeben - für eine solche Substitution wird das hethitische Wort tarpassa (luwisch: tarpalli) verwendet oder es gleichsam als Vehikel für den Abtransport des Übels zu benützen. Für letzteres, die Elimination, steht der churritische Terminus nakussi. In der Realität sind die Ritualhandlungen freilich nicht immer eindeutig dem einen oder anderen Typ zuzuordnen, zumal beide mit
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Zu Jarri KBo 1.3 + Rs. 19; 5.8 Rs. III 29; KUB 19.37 Vs. II 40 (= AM 159, 171) und KUB 41.17, vgl. Haas 1994, 369; zu Nikkal/Niggalu (bzw. sumerisch NIN.GAL) KUB 45.47 + Bo 4186 (= ChS 1/3.1 1994, Nr. 70) Rs. III 1 6 ' - 2 0 \ vgl. Haas 1994, 376. Idalion: Donner/Röllig 1966/69, Nr. 34; Schretter 1974, 151-173, bes. 155ff; Burkert 1975 passim. Mehr zu Initiation und Jagd: Lorenz 2000, 304-307. Das Material auch in diesem Fall von mir schon einmal dargeboten: Lorenz 2000, 143-146.
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dem Tod des eingesetzten Tieres enden konnten. Immerhin gilt, daß «a^wii/'-Rituale auch mit minderwertigen oder ausgefallenen Tieren vollzogen werden konnten. 54 Das Motiv, daß der Hund die Krankheit ablecken kann - es begegnete uns in den Heilungsberichten von Epidauros - wird mit besonderer Deutlichkeit und wiederholt in einem Beschwörungsritual ausgesprochen, das einem Priester namens Zuwi zugeschrieben wurde: „Wie das Hündchen seine neun Gliedmaßen ableckt, ebenso soll es - ich nenne den Menschen bei seinem Namen - auch die Krankheit von dessen Gliedmaßen ablecken. Ich husche von hinten an ihn heran ... Und ein Hündchen halte ich an seinen K o p f . . . Die Krankheit soll es ablecken." 55 In diesem Fall erfahren wir nicht, was mit dem Welpen weiter geschieht, wohl aber in anderen Fällen. So heißt es im Ritual einer Beschwörerin, ein Ferkel sei zwischen dem Betroffenen und dem Auftraggeber des Rituals hin und her zu schwenken, zu töten und dann mit Wein und Gebäck zu begraben. Dann wird auch ein kleiner Hund zum taz-pa/Z/'-Substitut erklärt, die Ritualherren spucken ihm ins Maul, sodann wird er getötet und ebenfalls vergraben. 56 Ein analoges Ritual für den König und die Königin apostrophiert den Welpen als ,Esel', der das Übel wegtragen soll und sagt, daß das Hundejunge nachher zerteilt werden müsse.57 Wenn das Heer der Hethiter eine Niederlage erlitten hatte, nahm das Ritual eine besonders aufwendige und schaurige Form an: „Wenn Truppen vom Feind besiegt werden, dann richtet man hinter dem Fluß das Ritual folgendermaßen her: Hinter dem Fluß schneidet man einen Menschen, ein Zicklein, einen kleinen Hund (und) ein Ferkel mitten durch und legt auf die eine Seite die (einen) Hälften, auf die andere die (anderen) Hälften hin. Davor macht man ein Tor aus Weißdorn und zieht eine Schnur quer darüber. Daraufhin zündet man vor dem Tor auf der einen Seite ein Feuer an (und) auch auf der anderen Seite zündet man ein Feuer an. Die Truppe geht mitten durch." 58 Falls das Heer auf seinem Marsch ungünstigen Vogelzeichen begegnete, reagierte man ähnlich, doch beschränkte sich der Aufwand auf einen Ziegenbock und einen Welpen. 59 Im hethitischen Bereich sind bisher archäologisch noch keine Hundebeisetzungen nachgewiesen, die direkt mit solchen Ritualen in Verbindung zu bringen wären. Es gibt allerdings einen Fundkomplex aus wesentlich späterer Zeit, der wie eine Illustration zu diesen Texten wirkt. Er stammt aus der lydischen Hauptstadt Sardes und ist etwas vage datiert; die größte Wahrscheinlichkeit spricht aber für das sechste Jahrhundert v. Chr. Es handelt sich um dreißig kleine Gruben beziehungsweise Depots im sogenannten ,Lydian trench' mit jeweils fast
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Ζ. B. mit Vögeln, Fischen, Mäusen oder Eidechsen, vgl. Haas 1994, 8 9 5 - 8 9 7 mit zahlreichen Beispielen. K U B 35.148 Rs. III 1 4 - 2 8 (CTH 412); vgl. Collins 1990, 2 1 4 f mit Text in Umschrift; Haas 1994, 901. CTH 404; K U B 32.115+, Vs. 11,50-54; vgl. Collins 1990, 218 (mit Text in Umschrift); Haas 1994, 908. K B o 4,2 II 5 - 1 4 und 6 1 - 6 2 ; Collins 1990, 217 (Text mit Umschrift). K U B 27.28 Rs. IV 4 5 - 5 2 ; vgl. Kümmel 1967, 151; Collins 1990, 2 1 9 f (Text mit Umschrift); Haas 1994, 899. KBo 23.8 bv. 9 - 1 8 ; vgl. Collins 1990, 213.
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identischem Inhalt: Eine Weinkanne, ein Becher sowie eine flache Schale und ein Eisenmesser waren jeweils um einen Krug gruppiert, in dem sich ein zerschnittenes Hundebaby befand. 60 Wir fassen zusammen: Es gab im Alten Orient vom dritten bis ins erste vorchristliche Jahrtausend Kultstätten für Seuchen- und Heilgötter, an denen Hunde gehalten wurden, und Orte, wo die Tiere begraben wurden - vor allem Welpen oder solche Exemplare, die durch Krankheit und Wunden gezeichnet waren. Wie diese Tiere zu Tode kamen oder gebracht wurden, ist freilich nicht klar; es gibt jedoch keine Spuren für den Gebrauch von Messern oder Beilen. Insgesamt handelt es sich um eine Tradition, die allem Anschein im sumerischen Mesopotamien ihren Ausgang nahm und im westsemitischen Bereich und Zypern, aber auch im hethitischen Anatolien ihre Fortsetzung fand. Daneben gibt es Belege für blutige Hundetötungen mit dem Ziel, bedrohlichen Mächten einen Stellvertreter für gefährdete Personen anzubieten oder aber ein Übel, das auf das Tier übertragen worden war, mit diesem zu entfernen und zu vernichten. Hier handelt es sich, nach der Quellenlage zu schließen, um eine anatolische Tradition. Die Welt Phönikiens, Nordsyriens und Kilikiens bildete spätestens seit dem 14. Jahrhundert v. Chr. und ins erste Jahrtausend hinein eine Kontaktzone, in der sich diese Traditionen verbinden konnten. Zugleich war dies der Bereich, aus dem Orientalen im ersten Jahrtausend westwärts führen, und in dem die Griechen des achten und siebenten Jahrhunderts diese Traditionen im persönlichen Zusammenleben kennenlernen konnten. In einem nächsten Schritt soll gezeigt werden, daß die Hundetötungsrituale, die in der klassischen' griechischen Welt vollzogen wurden, im Hinblick auf Motive, allenfalls angesprochene Gottheiten und Details des Vollzugs in deutlichem Konnex zu den anatolischen Belegen stehen.
4. Hundetötungsrituale in Griechenland Aus den Quellen zur Geschichte der griechischen Religion ist uns eine Reihe von Nachrichten über Hundetötungsrituale erhalten, die über verschiedene sachliche Querverbindungen zum Gesamteindruck führt, daß hier Einflüsse kleinasiatischer Provenienz wirksam waren, die letztlich auf die Rituale der Bronzezeit zurückgehen könnten. In einem ersten Fall ist es die schaurige und ausgefallene Gesamtinszenierung: Curtius, Livius und Plutarch berichten uns von boiotischen und makedonischen Ritualen, bei denen das Heer beziehungsweise die Bürgerschaft zwischen dem Vorder- und dem Hinterleib eines in der Körpermitte auseinandergehauenen Hundes hindurchzog. 61 Die Parallele zu den erwähn-
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Hanfmann 1962/63; Greenewalt 1978; Zusammenfassung auch bei Day 1984, 25. Curtius 10,9,12 (Makedonien, beim Tod Alexanders des Großen); Livius 40,6 (182 v.Chr., Makedonien); Plut.qu.R. 111 (Boiotien); vgl. Nilsson 1967, 1,106. Nicht als Abwehrritual, sondern als grausame
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ten Ritualen für das hethitische Heer nach einer Niederlage beziehungsweise nach ungünstigen Vogelzeichen ist so offensichtlich, daß an eine unabhängige Entstehung schwer zu denken ist. Die Anlässe, nämlich der Tod Alexanders des Großen, und ein Akt, der mit dem lateinischen Terminus ,lustratio' umschrieben wird, fugen sich durchaus zu den Situationen, in denen das hethitische Ritual greifen sollte. Freilich enthalten die Quellen selbst in diesem Fall keinerlei Hinweis auf eine kleinasiatische Herkunft der magischen Vorschriften oder auf den Vermittlungsweg, auf dem diese nach Griechenland gekommen sein könnten. Kaum anders liegen die Dinge, wenn man bei Pausanias liest, jede Abteilung der spartanischen Epheben hätte bei ihren Kriegsspielen dem Enyalios im Phoibeion unweit von Therapne nächtens einen jungen Hund als Opfer dargebracht. 62 Pausanias rationalisiert, der Hund werde geopfert, weil dem wehrhaftesten der Götter wohl auch das wehrhafteste Haustier genehm sei, und erzählt noch, die Epheben würden anläßlich des Opfers abgerichtete Eber aufeinander loslassen. Als Zweck des Hundeopfers ist aber doch anzunehmen, daß die jungen Männer ganz analog zu den einsatzbereiten oder kämpfenden Truppen vor bedrohlichen Mächten oder Wesen, die sich an ihre Fersen heften mochten, gefeit gemacht werden sollten, und daß sie dieses Ritual bei der Einführung ins Kriegshandwerk kennenlernen sollten. Schließlich ist anzumerken, daß Enyalios niemand anderer ist als der Kriegsgott Ares unter einem Namen, der möglicherweise kleinasiatischer, nämlich karischer Herkunft ist.63 Was Pausanias als Opfer für diesen Gott bezeichnet, müßte man als Religionshistoriker wohl präziser als Tötungsritual mit substituierender oder eliminatorischer Funktion in jener Sphäre, über die der Kriegsgott wacht, umschreiben. Solche Unscharfen in der Diktion später antiker Quellen sind aber bekanntlich gang und gäbe. Recht ähnlich liegen die Dinge bei der nächtlichen Opferung junger schwarzer Hunde, die im Kult der Göttin Hekate beziehungsweise Enodia ihren Platz hatte. Pausanias nennt sie als Besonderheit neben den eben besprochenen spartanischen und lokalisiert sie im kleinasiatischen Kolophon. 64 Wieder ist die Funktion dieser Tiertötungsrituale leicht aus dem Wesen der göttlichen Adressatin zu verstehen. Hekate ist die halb dämonische, halb göttliche Herrin der Gespenster und Verfolgerin der Blutbefleckten, Mörder und Totschläger; als Enodia waltete sie, wie der Name sagt, en hodois, auf den Wegen oder Wegkreuzungen. Aus der hippokratischen Schrift ,Über die heilige Krankheit' wissen wir, daß sie auch als Urheberin epileptischer Anfälle betrachtet wurde. 65 Es machte ebenso Sinn, ihr und ihrer Meute ein Ersatzopfer preiszugeben, wie dies zum Schutze von Heeren und Soldaten Sinn machte. Nun gibt nicht nur die Lokalisierung der Hundeopfer in Kolophon Anlaß, die Wurzeln und Vorbilder der griechischen Hekate in Kleinasien zu suchen. Es scheint auch, daß Hesiod eine besondere Beziehung zu ihr hatte, die aus den Versen 411^t32 seiner ,Theogonie' spricht.66 Das mag mit seinem biographischen Hintergrund zusammenhängen, denn seine
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Form der Todesstrafe begegnet eine analoge Szene als Bestrafung des Pythios durch Xerxes bei Herodot (7,39). Paus. 3,14,9. Fauth 1964a, Sp. 527. Paus. 3,14,9. Zum Hundeopfer für Hekate vgl. Kraus 1960, 25; Day 1984, 27f mit Literatur. morb.sacr. 1,35 und 1,38 (Krankheitsbilder mit Kotabgang und Angstzuständen). Vgl. dazu Burkert 1977, 266. Die Verse werden teilweise als Interpolation betrachtet, doch vgl. West 1966, 276-280.
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Familie stammte aus dem karischen Kyme, und es ist klar, daß er auch andere orientalische Motive ins Griechische übertrug. Hekata begegnet schließlich auch noch als Beiname der Artemis, die über die Geburten wacht. Sie steht damit zusammen mit Eileithyia oder Elioneia (so ihr Name in Argos) in der Reihe jener Göttinnen, die die schicksalhaften Stunden für Mutter und Kind regierten - Situationen, in denen die Griechen ebenfalls Hunde, und insbesondere Welpen opferten. 67 Wieder ist hier der Gedanke des Ersatzopfers wohl die beste Erklärung: Anstelle des bedrohten Kindes, vielleicht aber auch für die Mutter, sollte der kleine Hund den lauernden Mächten preisgegeben werden. 68 In der Summe ergibt sich aus dem zuletzt ausgebreiteten Material meines Erachtens ein recht geschlossenes Bild für die Herkunft der Hundetötungsrituale in Griechenland: Die Riten, die Gefahren von den Heeren abwenden sollten, liefern so komplexe Parallelen zu den hethitischen Fällen, daß an Zufall kaum zu denken ist; die ,Opfer' für Enyalios gelten einer Gottheit wohl kleinasiatischer Provenienz mit dem Funktionsbereich Krieg und Heer und lassen an analoge Anlässe denken. Hekate, eine Göttin mit starken kleinasiatischen Bezügen, erhält die Opfer in Bedrohungssituationen, die jenen der Heereslustrationen eng verwandt sind, und auch die Hundetötungen zugunsten der Gebärenden und ihrer Kinder werden unter einem verwandten Bedrohungsbild vollzogen. Man ist doch wohl berechtigt, die These zu formulieren: Hier ist ein ritueller Komplex, der schon im bronzezeitlichen Kleinasien entstanden ist, von den Griechen übernommen worden. Die nächstliegende Vermutung zum Vermittlungsweg wird wird sich auf das Nachleben hethitischen Erbes in den sogenannten späthethitischen Staaten Kilikiens und Syriens und auf die intensiven griechischen Kontakte mit dieser Zone ab ca. 750 v. Chr. beziehen. Es wurde schon dargelegt, daß in Kilikien und Syrien in der genannten Epoche zwei Traditionslinien zusammenliefen und aktuell waren: Präsenz und Beisetzung von Hunden in heiligen Bezirken von Heil- und Seuchengöttern wie Gula und Reäep (nicht notwendig verbunden mit Tötungsritualen), eher mesopotamischen Ursprungs, sowie drastische Hundetötungsund Zerstückelungsrituale mit dem Charakter von Ersatzopfern zur Abwehr drohenden Übels, eher aus dem hethitisch-churritischen Ritualschatz stammend. Die Übertragung der letztgenannten Tradition nach Griechenland läßt sich anhand der eben besprochenen Riten verfolgen. Bei den Hunden als heiligen Tieren haben die bisherigen Überlegungen und religionsgeschichtlichen Linien bis zu Reäep beziehungsweise Apollon Amuklos in Kition und Idalion geführt, und eine beiläufige Parallele zu den Hunden des Asklepios, der als Sohn eben dieses Apollon galt, ist festgestellt. Damit stehen wir vor dem nächsten Gedankenschritt, und dieser betrifft den Namen des Asklepios.
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Artemis Hekata, die über Geburten wacht, bei Aischyl.Hiket. 675f; vgl. Nilsson 1967,1, 725. Im Rahmen dieser Vorstellung sind Gottheiten als Adressaten im Grunde überflüssig. Die Verbindung des Rituals mit dem Kult der Geburtsgöttin ist möglicherweise sekundär; eine andere Möglichkeit ist die, daß Eileithyia und die anderen Göttinnen nicht rein positiv als Helferinnen, sondern als ambivalent und damit potentiell bedrohlich aufgefaßt wurden.
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5. Thesen 5.1. Der Name Asklepios: Der Heiler mit dem Hund Der Name des Asklepios hat sich bislang einer befriedigenden etymologischen Herleitung und Deutung entzogen. 69 Hier sei nun eine Deutung zur Diskussion gestellt, die davon ausgeht, daß es sich um eine griechische Neubildung in Anlehnung an semitische Vokabeln handelt. Zunächst ist festzuhalten, daß der Name des Heros beziehungsweise des Gottes in zahlreichen phonetischen Varianten belegt ist - was schon für sich genommen einen Hinweis darauf darstellt, daß er aus einem fremden Idiom übernommen, der griechischen Zunge nicht gemäß und in seiner Bedeutung für viele Sprecher oder Schreiber undurchsichtig war. Neben dem ' Α σ κ λ η π ι ό ς der Ilias und der anderen literarischen Quellen steht der Α ι σ χ λ α β ι ό ς einer Bronzestatuette aus einem Fund bei Bologna; in Epidauros ging man anscheinend während des fünften Jahrhunderts von der Form Α ί σ κ λ α π ι ό ς auf Α σ κ λ α π ι ό ς über, außerdem finden sich noch Α σ χ λ α π ι ό ς in Orchomenos und Α γ λ α π ι ό ς in Thalamai. 70 Hier sei nun vorgeschlagen, hinter diesen Formen zwei Wörter aus den Sprachen des Alten Orients anzusetzen, die im Akkadischen als asü(m) ,Arzt' und kalbu(m) ,Hund' belegt sind. 71 asü(m) wurde in der Form 'asja ins Aramäische übernommen. Es bezeichnete tendenziell eher den praktisch tätigen Heiler, während ein weiterer Terminus, akk. (w)asipu, eher den Beschwörer meinte; in der Praxis waren die beiden Sphären freilich nicht so scharf getrennt. 72 kalbu(m) lautete im Ugaritischen wohl /kalb-/ und im Syrischen kleb, im Hebräischen khleb-,73 Eine griechische Wort- beziehungsweise Namensschöpfung Α σ κ λ α π ι ό ς oder Α σ κ λ η π ι ό ς hätte demnach die Bedeutung ,Arzt' oder, neutraler, ,Heiler mit dem Hund oder mit Hunden' gehabt. Sie wäre sehr gut geeignet gewesen, als Name einer Gestalt zu dienen, die im Wissen um die kultische Verbindung einer Göttin Gula oder eines Gottes ReSep mit dem Hund oder um die Methoden orientalischer Beschwörungspriester bei der
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Vgl. dazu Fauth 1964b, Sp.644f mit älterer Lit.; Burkert 1992, 78. Α ί σ κ λ α π ι ό ς : IG IV I2, 136, Epidauros; Anf. 5. Jhdt., vgl. Kawadias, Fouilles d'Epidaure 37, Nr. 8 und 10, vgl. IG IV 1202f; Troizen: IG IV 771. Α ί σ χ λ α β ι ό ς : Inscriptiones Graecae Antiquissimae 549, Bronzestatuette aus Fund bei Bologna, 5.Jhdt. Ά σ κ λ α π ι ό ς : IG IV 1204, Epidauros, etwa Mitte 5.Jhdt. Ά σ χ λ α π ι ό ς : IG VII 3191, Orchomenos. Ά γ λ α π ι ό ς : Dickins 1904/05, 1 3 l f , Thalamai. Zu den Belegen vgl. Schmidt 1905, 40; Fauth 1964b, 644, dort auch schon der Hinweis, daß die Formenvarianz auf fremde Herkunft hinweist.
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A H w 76 und 424f. Über die begriffliche Trennung vgl. Ritter 1965. Köhler-Baumgartner, Hebr.Wb. - Für eingehende philologische Auskünfte, auf die ich mich hier stütze, danke ich Manfred Schretter und Robert Rollinger. Es sei nicht verhehlt, daß Koll. Schretter meiner These der Übernahme als griechischer Name skeptisch gegenübersteht; ich trage sie hier aufgrund meiner Einschätzung der griechischen Reaktionen auf sachliche und sprachliche Vorlagen dennoch vor.
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Abwehr von Seuchen und Übeln konzipiert wurde und Exotisches in sprachlich gräzisiertem Gewand repräsentierte. Um diesem Vorschlag zu folgen, darf man sich nicht daran stoßen, daß im Akkadischen und im Aramäischen bisher kein entsprechendes Kompositum belegt ist, und man muß auch phonetische Veränderungen, insbesondere eine Umformung von 'asja oder einer ähnlichen Lautgestalt zu Ais- und von kal(a)b zu klap oder klep vielleicht im Anschluß ans Syrische im Zuge der Übernahme ins Griechische für möglich halten. Hier dürfen nun meines Erachtens die Uberzeugenden Argumente Geltung beanspruchen, die Walter Burkert in seiner ,Orientalizing Revolution' vorgetragen hat. Zahlreiche Beobachtungen und Beispiele belegen nämlich, wie frei die Griechen mit sprachlichem Material aus dem Alten Orient umgegangen sind, um es der eigenen Sprache anzupassen. Diese Beobachtungen haben Burkert bekanntlich darin bestärkt, den Beinamen Asgelatas, den Apollon nach inschriftlichen Zeugnissen auf der Insel Anaphe bei Thera/Santorin geführt hat, vom akkadischen asu gallatu (,großer Arzt') herzuleiten. Dies stellt eine sprachliche und sachliche Parallele zu unserer These dar. 74 Inhaltlich handelt es sich auch hier um die griechische Modifikation einer Epiklese beziehungsweise Funktionsbeschreibung für die Gottheit in ihrer heilenden Rolle. Lautlich wird auch hier mit einer Verschiebung von a > e gerechnet, die an zahlreichen anderen Beispielen von Übernahmen altorientalischer Termini zu beobachten ist. Unter den Beispielen, die Burkert anfuhrt, sind wohl daleth > delta und aram. laqna > lekane besonders eingängig. 75 Bei den Namensvarianten Ά σ κ λ α π ι ό ς und ' Α σ κ λ η π ι ό ς entspricht die geographische Verteilung zudem den Dialektregionen, die Variante ' Α σ κ λ η π ι ό ς paßt ins Ionische der homerischen Sprache. In der Anlautvariante von Α ί σ κ λ α π ι ό ς - sie hat bekanntlich aufs Lateinische weitergewirkt - könnte noch das j der aramäischen Form 'asja nachwirken, wobei wieder auf die parallele Nebenform Aiglatas zum Asgelatas des Apollon von Anaphe zu verweisen ist. Wir arbeiten also im folgenden mit der Hypothese, daß der Name ,Asklepios' in etwa ,der Arzt' oder ,der Heiler mit dem Hund' bedeutet. Nach allem, was oben über die kultische Bedeutung des Hundes dargelegt wurde, ist es wohl klar: Mit diesen Worten ließ sich ein Aspekt beziehungsweise eine Funktion einer Heilgottheit vom Typus des Resep sehr gut bezeichnen; auch als kultische Anrede, Anrufung oder Titulatur (Epiklese) einer solchen Gottheit sind sie gut vorstellbar. Denkbar freilich wäre es auch, daß eine solche Bezeichnung an Heilern hing, die unter Berufung auf Reäep oder eine verwandte Gottheit tätig wurden und bei von ihnen vollzogenen Ritualen ,mit Hunden arbeiteten'. Wie der rituelle Einsatz der Tiere aussehen konnte, wissen wir aus den oben besprochenen Quellen. Solche Riten konnten wiederum in einem Tempelbezirk vollzogen werden, sie könnten aber auch charakteristische Methoden im Repertoire jener .orientalischen 74
Burkert 1992, 77f. Dem Verfasser ist der Gedanke zur Deutung des Asklepios-Namens zunächst spontan bei der Beschäftigung mit orientalischen Texten zur Verwendung des Hundes in Kult und Magie gekommen. - Die frühe, aber doch jüngere Nebenform Aiglatas bildet eine schöne Parallele dazu, daß ein Zweig der Überlieferung, repräsentiert durch Isyllos von Epidauros, dem Asklepios eine Mutter Aigle geben wollte (Isyllos paian D 10,19).
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Burkert 1992, 36 und 82. Außerdem verweist er auf Gallu > Gello, Kubaba > Kubebe, Baal > Belos, Mada > Medes und hält dementsprechend auch taw(a)tu > Tethys für möglich, Burkert 1990, 82 und 93.
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Wanderpriester' gewesen sein, über deren mögliches Auftreten im früharchaischen Griechenland seit entsprechenden Vermutungen Walter Burkerts in der Forschung immer wieder nachgedacht wird. 76 Damit ergibt sich die These: Der Name Asklepios bezeichnet eine Gestalt, die direkt aus altorientalischen Gottheiten und Riten abgeleitet wurde.
5.2. Mythen und Kulte um Asklepios im Lichte der Orient-These Im folgenden gilt es zu prüfen, wie sich diese These mit den Informationen verträgt, die uns die älteren griechischen Quellen über Asklepios liefern, und ob sie sich dadurch bewährt, daß sie uns hilft, bestimmte Details besser zu verstehen. Gleichzeitig soll untersucht werden, ob sich die Indizien fur einen altorientalischen Ursprung der Asklepios-Gestalt im Sinne des einleitend aufgestellten Katalogs ergänzen und vermehren lassen. Auch die Gegenprobe anhand des boiotischen Askalaphos soll nicht übersehen werden.
5.2.1.
D I E ÄLTEREN A S K L E P I O S - M Y T H E N UND FRÜHE KULTPARTNER DES ASKLEPIOS
Asklepios existierte, wie bereits festgestellt, in der griechischen Literatur gut zwei Jahrhunderte lang implizit oder explizit als Heros. Die Belege aus dieser Phase seien als Basis für die weiteren Überlegungen zunächst etwas genauer rekapituliert. Die einzige Stelle im fortlaufenden Erzählzusammenhang der Ilias, an der Asklepios - freilich nicht als handelnde Person - mit mehr als einem Wort erwähnt wird, findet sich im vierten Gesang. Da wird Machaon zum verwundeten Menelaos gerufen und als Sohn des Asklepios, des amymonos ieteros vorgestellt. Machaon hat eine Gefolgschaft aus dem rossenährenden Trikka nach Troia gefuhrt und kennt Heilmittel, die der Kentaur Cheiron einst seinem Vater, also dem Asklepios, gegeben hatte. 77 Aufgrund der Lokalisierung der Kentaurenheimat in späteren Quellen wird man sich diese Begegnung zwischen Asklepios und Cheiron im Pelion-Gebirge vorstellen. Neben Machaon begegnet noch Podaleirios als Arzt der Achäer, wobei ihre Verwandtschaftsbeziehung nicht direkt angesprochen wird. 78 Dazu kommt eine Nennung im Schiffskatalog: Dort figuriert Machaon zusammen mit seinem Bruder Podaleirios als Sohn des Asklepios, und die beiden führen nicht nur Leute aus Trikka, sondern auch aus Ithome sowie aus Oichalia, der Stadt des Eurytos Oichalieus. 79 Hier kommen Ortsnamen ins Spiel, die primär nach Messenien weisen, wobei freilich Oichalia schon den antiken Homer-Erklärern Probleme bereitete. 80 Einerseits wurde es mit Anda-
76 77
Vgl. dazu u. a. Rollinger 1996, 2 0 2 - 2 1 0 . II. 4 , 1 9 3 - 2 1 9 . Zu Cheiron als Kentaur und Kenner von Heilmitteln, über die er Achilleus belehrte, vgl. II. l l , 8 3 0 f f . , in anderen Belangen wird Phoinix - also ,der Phöniker'- als Lehrer des Helden eingeführt, II. 9,438. - Machaon wird nochmals 11,51 Iff - wo seine Verwundung durch Hektor erzählt wird - ausdrücklich als Sohn des Asklepios und Arzt bezeichnet.
78 79 80
II. l l , 8 3 3 f f . 11.2,729-733. Vgl. dazu Meyer 1972, 251 f s.v.
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nia an der Nordgrenze dieser Landschaft gegen Arkadien gleichgesetzt, andererseits überhaupt in Arkadien gesucht. 81 In den Frauenkatalogen oder Ehoien war dann nach dem Ausweis mehrerer kurzer Fragmente zu lesen, Asklepios sei der Sohn Apollons und der Thessalierin Koronis gewesen, die freilich heimlich den Ischys heiratete, also einen Heros, Dämon oder Gott, dessen Namen nichts anderes bedeutet als ,Macht, Kraft, Stärke'. Apollon wurde durch einen Raben davon benachrichtigt - darin steckt offenbar das Wortspiel korax zu koronis - und war darüber erzürnt. Über seine weitere Reaktion steht nichts in den erhaltenen Ehoien-Fragmenten, doch erfahren wir durch Pherekydes von Athen und von Pindar, daß er seine Schwester Artemis fur seine Rache einsetzte. Offenbar stand in den Ehoien auch schon, daß Zeus den Asklepios mit dem Blitz niedergestreckt habe. Stark zerstörte Textpartien beziehen sich offenbar auf den Konflikt zwischen Zeus und Apollon, der daraus resultierte: Phoibos wandte sich gegen die Kyklopen, die den Donnerkeil für Zeus gefertigt hatten, und wurde schließlich dazu verurteilt, in den Dienst eines Sterblichen zu treten. 82 Den Grund für das Strafgericht, das Zeus über Asklepios ergehen ließ, findet man schließlich bei Pindar: Asklepios habe versucht, Tote wieder zum Leben zu erwecken, und so den Zorn des obersten Olympiers herausgefordert. Pindar nahm im Jahr 474/73 v. Chr. die Tatsache, daß der Besitzer des in Delphi siegreichen Wagengespanns, Hieron von Syrakus, krank war, zum Anlaß, die Asklepios-Geschichte in seine dritte Pythische Ode einzuflechten. Er bezeichnete den Heiler in diesem Zusammenhang explizit als Heros (ήρωα π α ν τ ο δ α π α ν ά λ κ τ ή ρ α νούσων, (Pyth. 3,7) und erzählte, daß Apollon das Asklepios-Kind am Scheiterhaufen aus dem Leib der verbrennenden Koronis gerettet habe - eine unübersehbare Parallele zum Mythos von Dionysos und seiner Mutter Semele. Ischys, den Nebenbuhler Apollons, läßt er im übrigen aus Arkadien nach Thessalien an den Boibis-See kommen, wo Koronis lebte. Sodann folgt die bereits erwähnte Geschichte von der versuchten Totenerweckung und Bestrafung des Asklepios durch Zeus. 83 Anspielungen darauf finden sich auch im .Agamemnon' des Aischylos und in der ,Alkestis' des Euripides. 84 Es ist klar, daß diese literarischen Überlieferungen das Thema entwickeln, indem sie aufeinander Bezug nehmen. Sie sind also in einer intertextuellen Perspektive zu betrachten. Darüber hinaus liegt aufgrund dessen, was wir über viele andere Mythologeme wissen, eine weitere Annahme nahe: Man wird davon ausgehen dürfen, daß zumindest ein Teil der Mythen, die sich in dieser literarischen Überlieferung finden, Beziehungen zwischen Asklepios und jenen Heroen oder Gottheiten herstellen will, die in den alten und großen Heiligtümern zu-
81 82
83 84
Pherekydes FGrH 2 F 82a versus Paus. 4,2,2f.33,4f. Hesiod fr. 122.123.125 Rzach = T.2I.22.24a Edelstein; p. 1 0 7 - 1 0 9 in der Übersetzung von L. und K. Hallof, die der Anordnung der Fragmente nach Merkelbach/West folgt. Dabei auch eine Benennung der Asklepios-Mutter als Arsinoe, die auf die spartanisch-messenische Variante der Genealogie deutet, vgl. dazu unten S. 360. Pind.Pyth. 3 , 1 - 5 8 , bes. 2 5 f f (Ischys-Episode); 47ff. (Heilungen, Totenerweckung und Strafe). Aischyl.Agam. 1 0 1 9 - 1 0 2 4 (= T. 66 Edelstein); Eurip.Alcest. 1 - 7 . 1 2 2 - 1 2 9 (= T. 67.107 Edelstein); hier 9 6 5 - 9 7 1 (= T. 2 2 0 Edelstein) übrigens die Variante, daß Apollon selbst den Söhnen des Asklepios Heilmittel übergeben habe.
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sammen mit ihm verehrt wurden. Im Hinblick darauf müssen die wichtigsten alten Verehrungsstätten hier noch einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Wir beginnen mit jenem Asklepieion, dessen hochaltertümlichen Eindruck uns die Beschreibung durch Pausanias sehr lebendig vermittelt, nämlich Titane. Schon das Kultbild des Asklepios selbst erregte dort die besondere Aufmerksamkeit des Reiseschriftstellers: „Aus welcher Holzsorte des Kultbild gefertigt ist oder ob es aus Metall besteht, konnte ich nicht erfahren; auch nicht, wer es gemacht hat ... Vom Kultbild ist nur das Gesicht und die Hände und die Füße sichtbar, es ist ihm ein weißer wollener Chiton und ein Himation übergeworfen." Dies deutet möglicherweise auf ein Xoanon aus dunkel glänzendem Holz, vielleicht auch auf ein Sphyrelaton hin. Daneben gab es, Pausanias zufolge, in Titane noch eine weitere Statue des Asklepios. Sie stand in der Säulenhalle des Tempels, war aus Stein und hieß die gortynische. Dies heißt wohl, daß den Gläubigen hier eine ,modernere Version' des aufsteigenden Heros oder Gottes vor Augen gestellt wurde. Zum Xoanon der Koronis und zu ihrem Kult, der hier besonders verankert war, weiß Pausanias folgendes zu berichten: „Auch ein hölzernes Götterbild der Koronis ist da, jedoch nicht im Tempel aufgestellt, sondern, nachdem man einen Stier, ein Lamm und ein Schwein geopfert hat, trägt man die Koronis in den Tempel der Athena und verehrt sie dort. Was davon zum Geopferten gehört, verbrennen sie, und es genügt ihnen nicht, die Schenkel auszuschneiden. Sie verbrennen alles auf der Erde - außer den Vögeln. Diese verbrennen sie auf dem Altar." Das Ziel der Prozession mit dem Bilde der Koronis war ein Athenatempel, indem ebenfalls ein Holzbild dieser Göttin stand, das vom Blitz getroffen und dennoch seiner Altehrwürdigkeit wegen nicht ersetzt worden war. Die vierte altertümliche Kultstatue von Titane stellte Hygieia dar, nach späterer Auffassung eine der Töchter oder auch die Gattin des Asklepios: „Ebenso (seil, wie bei Asklepios) verhält es sich bei der Statue der Hygieia, auch diese kann man nicht leicht sehen, sosehr umgeben sie die Haare der Frauen, die sich für die Göttin scheren lassen, und die Bänder babylonischen Gewebes. Wer eines von beiden sich gnädig gestimmt machen möchte, der ist angewiesen, das zu verehren, was sie Hygieia nennen." Die mythische Familie des Asklepios wurde in Titane außerdem noch durch Statuen des Alexanor und des Euamerion repräsentiert. Der Name des Erstgenannten wird als ,der die Müdigkeit abwehrt' gedeutet und galt als Enkel des Asklepios über seinen Sohn Machaon. Nach Sonnenuntergang bekam dieser Heros, dem man die Gründung des Heiligtums zuschrieb, ein Ganzopfer; während Euamerion (,der Gute, der Milde') ein Götteropfer erhielt. Außerhalb der Asklepios-Genealogie waren in der Stoa des Asklepieions noch eine bemerkenswerte Reihe weiterer Gottheiten durch Xoana, also durch altertümliche hölzerne Götterbilder, vertreten: Es handelte sich um Dionysos und Hekate, Aphrodite, die kleinasiatische Göttermutter und Tyche. 85 Nun zu den anderen älteren Asklepieien: In Epidauros ging Apollon einerseits am Berghang als Maleatas, andererseits aber auch im Tal als Pythios dem Asklepios historisch voraus;
85
Paus. 11,11,4-12,2. Die Altertümlichkeit von Titane mag darin begründet sein, daß der Weg von Argos nach Sikyon, an dem es lag, mit der zunehmenden Dominanz von Korinth ins Abseits geriet.
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daneben hatten, abgesehen von einer Statue der Epione, nur noch Artemis und, ein wenig in Randlage, Aphrodite einen Platz im Heiligtum. 86 In Sikyon befanden sich am Eingang des Temenos Sakralräume fur Hypnos, den personifizierten Schlaf, und für Apollon Kameios 87 , für Piräus nennt die schon oben besprochene Inschrift neben Maleatas und Apollon noch Hermes, Iaso, Akeso, Panakeia und die ,Hundeführer' 88 , und für Athen selbst bezeugt das Telemachos-Monument durch seine Bilder Podaleirios und Machaon, ferner durch die fragmentarische Inschrift Hygieia, und Pausanias erwähnt auch noch seine Kinder.89 In Sparta befanden sich in der Nachbarschaft des Asklepios-Tempels mit dem Holzbild aus Keuschlamm Heiligtümer der Eileithyia, des Apollon Karneios und der Artemis Hegemone; im Umfeld eines weiteren Asklepieions stand ein Tempel mit einem Xoanon einer bewaffneten Aphrodite. 90 Die Konstruktion des großen Heiligtums in Messene fällt zwar in die hellenistische Zeit, aber vielleicht ist es doch von Interesse, wer dort, abgesehen von den Bezügen zu den thebanischen Befreiern Messeniens, als Kultgenossen des Heilgottes installiert wurde: Artemis (sie hatte als Limnatis ja schon am Abhang des Ithome-Berges, auf dem Zeus Ithomaios residierte, ein Heiligtum), Apollon, Tyche und Herakles. Im folgenden sei versucht, unter der Annahme wesentlicher orientalischer Anregungen die literarischen Überlieferungen mit diesen kultisch-rituellen Gegebenheiten in Beziehung zu setzen. Dabei soll die ,Elterngeneration' des Asklepios im Mittelpunkt stehen - also Apollon, Koronis und Ischys - ; dann sollen einige vorläufige Überlegungen zu anderen Kultpartnern und Mythen folgen.
5.2.2.
APOLLON
In Epidauros läßt es sich zeigen, daß Apollon dem Asklepios historisch voranging und im Heiligtum präsent blieb. In Sikyon erhielt er als Kameios im Asklepieion selbst Verehrung, in Sparta in der unmittelbaren Nachbarschaft, im Piräus befand er sich unter den Gottheiten, die von den Pilgern, die den Heilgott aufsuchten, Voropfer erhielten. Die bisherigen Überlegungen haben zu dem Denkansatz geführt, daß der Name Asklepios die spezifische Rolle Apollons als ,Heiler mit dem Hund' ansprach, die er in Anlehnung an ReSep/Mukol mancherorts bekam, und daß damit die Grundlage dafür gegeben war, daß sich eine Gestalt dieses Namens - mythisch wie kultisch - von ihm abspalten und verselbständigen konnte. Was die literarische und mythische Seite dieses Vorgangs betrifft, so kann man die Nennung des Asklepios als Vater mythischer Ärzte in der Ilias - freilich ansonsten nicht als handelnde Person - als geschickten Kunstgriff begreifen, mit dem die heroische Szene um eine weitere Gestalt bereichert und Kenntnisse des Dichters über orientalische Ideen und Gestalten in leicht verschlüsselter Form eingesetzt werden.
86 87 88 89 90
Paus. 11,27,5. Vgl. Tomlinson 1983, 75f.,93. Paus. II, 10,2 = T. 747 Edelstein. Vgl. oben S. 340. Inschrift des Telemachos-Monuments: T. 720 Edelstein; Paus. 1,21,4f. Paus. 3,14,6f; 3,15,10.
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Der Verfasser der Ehoien - er schrieb jedenfalls vor dem fünften Jahrhundert und damit vor dem Aufstieg des Asklepios zum selbständigen Gott - hat im Falle des Asklepios wie auch sonst versucht, das Verhältnis zwischen den Heroen und den olympischen Göttern mit den Mitteln der genealogischen Erzählung zu klären. Dies geschah aber nicht in freier Willkür, sondern unter Bezugnahme auf das literarisch, vor allem durch das Epos Vorgegebene und auf die kultischen Gegebenheiten. Im Fall des Asklepios hieß dies, daß er nun als Sohn des großen ambivalenten Seuchen- und Heilgottes Apollon eingeordnet wurde. Das paßte gut für eine Gestalt, die im Epos wie ein Heros figurierte, denn Heroen wurden j a stets in eine mehr oder weniger enge Beziehung zu Gottheiten gesetzt. Dazu kam, daß Asklepios tatsächlich einen Teilaspekt Apolls verkörperte, an mehreren Kultorten zusammen mit ihm verehrt wurde und mit wichtigen Elementen seines Kults (Inkubation, Rolle des Hundes) verbunden war. Diese genealogische Einordnung warf freilich auch die Frage nach der Mutter auf.
5.2.3.
KORONIS
Die mythische Asklepios-Mutter Koronis, die für uns ebenfalls zum ersten Mal in den Ehoien faßbar wird, ist im Hinblick auf den Fragenkatalog, der in der Einleitung dieses Beitrags formuliert wurde, besonders interessant. Sie ist ja offensichtlich eine alte Kultpartnerin des ,Heilers mit dem Hund', was Pausanias' Bericht über Titane eindrucksvoll zeigt. Neben dem Xoanon, das in einer Prozession zum Athena-Tempel mitgeführt wurde, erwähnt er, wie oben ausgeführt, Opferriten. Es handelt sich um ein aufwendiges Holokaustopfer eines Stiers, eines Lamms und eines Schweines, das auf dem Erdboden vollzogen wird, und - besonders auffallig - um Vögel, die auf einem Altar verbrannt werden. Das weckt Assoziationen an hurritisch-hethitische Holokaustopfer und - an Vogelopfer für Istar.91 Mit geschärfter Aufmerksamkeit wird man sich daher auch dieser Gestalt nähern und zunächst fragen, ob ihr Name einen Hinweis auf ihren Charakter enthält. Im Gegensatz zu jenem des Asklepios entspricht er einem griechischen Wort. Dieses κ ο ρ ω ν ι ς erscheint in den Epen als Adjektiv und Beiwort für Schiffe, wird als ,gekrümmt' übersetzt und charakterisiert offensichtlich die Silhouette, die die Schiffe der homerischen Zeit abgaben, wenn sie mit ihrem geschwungenen Bug auf dem Wasser schaukelten. 92 Schon früh, nämlich bei Archilochos, kennzeichnet es aber auch Rinder mit ihren gekrümmten Hörnern. 93 Die Verbindung zwischen der Krümmung und dem Rinderhorn, aber auch jene zwischen den beiden Bildern - schaukelnde Schiffe und langsam pendelnde Rinderköpfe mit ihrem Gehörn - ist leicht nachzuvollziehen; man wird an die sprachliche Wurzel denken, die auch im lateinischen cornu vorliegt. Daneben steht im altgriechischen Lexikon freilich auch das Substantiv κ ο ρ ώ ν η ,Krähe', das etymologisch mit κ ό ρ α ξ ,(Kolk-)Rabe' und lateinisch cornix zusammengebracht wird. 91
92 93
Brandopfer: Haas 1994, 6 6 1 - 665, vgl. bes. den Verweis auf die Opferlisten S. 663: Vögel, Lämmer, Schafe, Ziegen und Rinder als die gewöhnlichen Brandopfer. Vogelopfer: Das älteste Beispiel dafür stammt aus Alalah und betrifft einen Eid beim Wettergott und bei IStar, A1T * 126, vgl. dazu Janowski/Wilhelm 1993, 152-158; Haas 1994, 658. II. 18,338f.; Od. 19,182.193. Archilochos fr. 48D; vgl. Theokr. 25,151.
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Der Name von Apollons Geliebter und Braut lautet aber nun einmal Κορων'ις und auch inhaltlich macht es nicht viel Sinn, dahinter eine , Krähe' zu vermuten. Deutet man ihn aber im Wortsinn des erwähnten Adjektivs als ,die mit den (krummen) Hörnern' oder einfach ,die Gehörnte', so wäre er durchaus als Chiffre fur eine weibliche Gestalt geeignet, die zwei Hörner oder eine Hörnerkrone trägt - und genau dies ist die Ikonographie für syrisch-phönikische Göttinnen, insbesondere für ,Anat' in Ugarit und für ' A t tart/'AStart, die syrisch-palästinensische Variante der IStar! Wir verweisen hier nur auf ein ugaritisches Rollsiegel, das beide Göttinnen darstellt und der geflügelten 'Anat die Hörnerkrone verleiht, oder auf eine Darstellung derselben Göttin auf einer Elfenbeinplatte vom Bett des Palastes in Ugarit, wo sie zwei junge Männer säugt. 94 'Attart/'AStart wiederum ist wohl die Göttin, die in entsprechendem Schmuck auf einer Stele im ägyptischen Stil aus Bet-Sean erscheint. 95 Aus der Ähnlichkeit der Funktionen heraus ergab sich auf dem Weg ins erste Jahrtausend in der Levante eine Tendenz zur Austauschbarkeit und letztlichen Verschmelzung der beiden Gottheiten. 96 Nicht genug damit - aus Ugarit kennen wir die bereits erwähnten feierlichen Prozessionen mit der Statue der hurritischen Astarte und des Reäep 97 , und eine Prozession zum Athenatempel bildet auch in Titane ein Hauptelement des Koronis-Kults. Zusammen mit den einleitend bemerkten Opfern ist uns all dies Anlaß genug, das Paar Apollon/Koronis mit ReSep/'Anat ('Aätart) in Parallele zu setzen. 98 Das heißt nicht zwingend, daß das Vorbild ausschließlich in Ugarit zu suchen sei, wo die Verhältnisse am besten dokumentiert sind, wohl aber in einem eng umschriebenen geographischen Umfeld, in dem entsprechende kultische und mythische Traditionen im ersten Jahrtausend fortleben konn-
5.2.4.
ISCHYS
Den Ehoien beziehungsweise Pherekydes und Pindar zufolge erregt Koronis den Zorn Apolls, indem sie die Ehe mit Ischys schließt - also mit einem männlichen Wesen, dessen Name im Griechischen einfach ,Stärke' bedeutet, das aber sonst im Mythos keine individuellen Züge erhält. Sieht man aber in Ugarit Parallelen zur ganzen Konstellation, so muß es auffallen, daß dort auch der Götterkönig Baal/Ba'lu selbst hymnisch als .Heilender' (rpu) und ,der Starke' angesprochen wurde. 100 Angesichts der Tatsache, daß 'Anat, mit IStar/Astarte eng verwandt, in Ugarit als seine Geliebte galt, daß noch im fünften vorchristlichen Jahrhun94 95 96 97 98 99
100
Pope/Röllig 1965, 241 mit Abb. 2; Gese 1970, 159 mit Abb. 16 (Rollsiegel aus Ugarit RS 5089 = A O 17242; ca. 1450/1365 v.Chr.). Pope/Röllig 1965, 252 mit Abb. 7. Gese 1970, 159 erinnert auch an die Ba'alat von Byblos mit Kuhhörnern, etwa auf der Jehawmilk-Stele ANEP Nr. 477; Abb 16 bei Gese. Vgl. dazu Gese 1970, 161. KTU 41, vgl. Niehr 1998, 41 mit Lit. Vgl. oben S. 345. Antikes Bildmaterial zu Koronis fehlt auffälligerweise fast völlig; das wenige zeigt keine charakteristischen Details, also auch keine Hömerkrone, vgl. Simon 1992. Das Fortleben von 'Anat dokumentiert u. a. eine phönikisch-griechische Bilingue des vierten Jahrhunderts v.Chr. aus dem zyprischen Lapethos, die die Göttin als ,,Zuflucht(?) der Lebenden" anspricht: KAI 42,1; vgl. Gese 1970, 157. KTU 1.108, bearbeitet von Dietrich/Loretz 1980, 171-179 und 1991, 822f. (= TUAT 11,6); vgl. Haas 1994, 559f.
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dert eine phönikische Priesterschaft Baal als Gatten der 'Anat betrachtete, wie das eine aramäische Inschrift aus Ägypten lehrt101, liest sich der griechische Mythos nun fast schon als Versuch einer Antwort auf die Frage: War die ,Gehörnte' nun die Partnerin des , Starken' (Baal) oder des ReSep/Apoll? Daß sich Koronis für Ischys entscheidet, wird in den Ehoien zum Anlaß für ihre Tötung durch Artemis oder - nach Pindar noch konkreter - für ihre Verbrennung. Hier könnte ein aitiologischer Bezug zu den Holokaustopfern für Koronis vorliegen.102 Gleichzeitig wird Koronis durch ihre Sterblichkeit in den Bereich der Heroinen verwiesen; auf die Parallele zum Mythos von Zeus, Semele und Dionysos - der in Titane in der Stoa zu sehen war - wurde schon hingewiesen. 5.2.5.
WEITERE MYTHEN UND KULTPARTNER RUND UM ASKLEPIOS
Nach so vielen orientalischen Bezügen für Asklepios und seine Mutter Koronis, wie sie in Titane verehrt wurde, sei auch noch daran erinnert, daß die Statue der Hygieia an diesem Ort mit Bändern ,aus babylonischem Stoff behängt wurde. 103 Dies könnte mehr als nur ein Kuriosum sein und an die Ursprünge des Kultkomplexes erinnern. Schließlich sei noch herausgestellt, daß die wichtigsten Kultgenossinnen des Heilers in den Asklepieien gut in das nunmehr entwickelte Bild passen. Dies gilt insbesondere für Aphrodite, die in der Stoa zu Titane bemerkenswerterweise durch ein Xoanon vertreten war und auch im Temenos von Epidauros einen Tempel erhielt. In Sparta wurde sie - bemerkenswerterweise in ihrer bewaffneten Erscheinungsform - in der Nachbarschaft eines Asklepieions verehrt. Über ihre Bezüge zu 'Attart/'Aätart muß hier nicht viel ausgeführt werden.104 Ähnliches gilt für Hekate, Artemis und Eileithyia, die in Titane, Sparta und Epidauros in oder nahe bei den Asklepieien verehrt wurden: Sie fügen sich nicht nur von den Funktionen her, sondern auch unter der hier entwickelten religionsgeschichtlichen Perspektive sehr gut zu einem Kultkomplex kleinasiatisch-syrischer Provenienz und empfingen, wie oben ausgeführt, des öfteren Hundeopfer. Nachdem sich so viele Parallelen zwischen Apollon, Asklepios und Koronis und orientalischen Gottheiten und Kulten ergeben haben, scheint es auch vertretbar, zu einem weiteren Element des Asklepios-Mythos zurückzukehren und zu überlegen, wie weit es sich vom orientalischen Hintergrund abhebt:
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Dupont-Sommer 1956, 79ff; 84ff.; Gese 1970, 157. Vielleicht ist wegen der Beziehung koronis/korone besonders an die Verbrennung der Vögel auf dem Altar zu denken. Vgl. oben S. 355. Wenn in Sparta Arsinoe, die Schwester der Leukippiden, als Mutter des Asklepios galt (vgl. das oben S. 354 erwähnte Ehoien-Fragment sowie Apollod. 3,10,3,5f; Paus. 2,26,7; 4,3,2), so könnte durch die Beobachtung, daß Arsinoe bzw. Arsinoe Kypris auch ein - allerdings spät belegter - Name der Aphrodite war (Strab. 17,800; Athen. 7,318d) ebenfalls ein - anders verschlüsselter - Bezug zu den westsemitischen Göttinnen hergestellt werden. Die Bedeutung des Namens deutet auf die wehrhafte Seite der Aphrodite.
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Schließlich begegnete offenbar schon in den Ehoien das Motiv, daß Asklepios versuchte, Tote wieder aufzuwecken, und dafür von Zeus mit dem Blitz bestraft wurde. Auch darin könnte eine Anspielung auf altorientalische Überlieferungen liegen: Schon in den FaraTexten ist eine Göttin Nintinugga belegt, eine ,Herrin, die den Toten belebt', die dann später mit Gula identifiziert wurde. Noch Nabonid beschrieb in einem Text eine Traumvision, in der er Gula erblickte, ,die die Sterbenden/Toten heilt, die Geberin langen Lebens'. 105 Diese Idee mag im Orient durchaus auch auf andere Heilgottheiten übertragen und den Griechen bekannt geworden sein - der griechische Mythos, oder vielmehr die religiösen Denker, die dahinter stehen, weisen sie aber zurück, indem sie von der Bestrafung des Asklepios durch Zeus erzählen. Der Arzt Asklepios ist für den Verfasser der Ehoien und für Pindar ein Heros und den Göttern nahe, aber der Versuch der Totenerweckung wird ihm als Hybris und Grenzüberschreitung ausgelegt, die die Strafe der höchsten Gottheit herausfordert. Einige vorläufige Gedanken seien am Ende dieses Abschnitts noch zu den Asklepios-Söhnen geäußert. Das Epos fuhrt ja zunächst einmal Podaleirios und Machaon ein, zwei große Kämpfer, die zugleich ärztliche Kenntnisse besitzen. Der Name Podaleirios ist bisher nicht befriedigend gedeutet. 106 Der Bruder des Podaleirios führt hingegen einen der geläufigsten griechischen Termini im Namen, der freilich - bemerkenswert genug - keine indogermanische, sondern eine semitische Etymologie aufweist. Mit akkadisch mahasu ,schlagen, treffen' hängt aramäisch maha ,die Schlacht' zusammen, von denen griechisch μ ά χ η nicht zu trennen ist.107 Asklepios steht in der Ilias als Vater der beiden noch sehr im Hintergrund, was noch dadurch unterstrichen wird, daß der eigentliche Verwalter des Wissens um Heilmittel Cheiron ist, der dieses Wissen ja auch an Achilleus weitergibt. Asklepios selbst bleibt im Grunde unlokalisiert, Machaon wird als Herr von Trikka ebenso an den äußeren Rand Thessaliens versetzt wie Cheiron. Je mehr man orientalische Einflüsse in Betracht zieht, desto entschiedener stellt sich die Frage: Ist hier wirklich die Kenntnis eines thessalischen Kults für Asklepios und seine Söhne die Basis, oder wird die Landschaft Thessalien vom Ependichter in literarisch-erzählerischer Absicht mit Gestalten besiedelt, für die er sich aus anderen Quellen inspirieren ließ? 108 Der Schiffskatalog nennt nun als Herrschaftsgebiet der beiden Brüder Orte, die schon für die Antike nicht wirklich eindeutig in Thessalien lokalisierbar waren. Fast sieht es so aus, als
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Vgl. Edzard 1965, 78 unter Verweis auf SAHG sum. Nr. 41 (Gottesbrief an N.); Butler 1998, 233 (Nabonid 8, VII 12'—15' Text in Umschrift mit Übersetzung). Vielleicht wäre zu erwägen, ob Podaleirios denjenigen meint, ,der die Füße salbt': λ'ιπα α λ ε ί φ ε σ θ α ι , ,sich reichlich mit Öl einschmieren' setzt Burkert bei seinem hier schon mehrfach zitierten Überlegungen mit dem akkadischen lipü (Akk. lipo) ,Fett' in Beziehung, und wir fugen hinzu, daß der Sinn des Namens damit nach neuerer Auffassung jenem des phönikischen Heilgottes ESmun nahekommt, der in einem Vertrag zwischen Baal von Tyros und Asarhaddon aus dem Jahre 6 7 6 v. Chr. zum ersten Mal belegt ist. Er wurde unter anderem auf der Insel Arwad südlich von Al Mina und im Heiligtum von Amrith verehrt. Sein Name wird vom nordwestsemitischen Wort fur Öl, smn, hergeleitet und bezeichnet seinen Träger somit als ,Salber' oder ,Heiler' Burkert 1992, 36 mit Hinweis auf A H w 555, aber auch auf idg. Vergleichsmaterial Chantraine 1968/80, 642; Niehr 1998, 120 mit Hinweis auf Lipin'ski 1973; Xella 1992 und Xella 1993. Burkert 1992, 39. Auffällig ist, daß das Epos zur ,Belebung' Thessaliens auch ziemlich häufig auf eponyme Gestalten zurückgreift, vgl. Lorenz 1996, 51.
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hätte der Verfasser Namensähnlichkeiten zwischen Toponymen benützt, um die in der epischen Erzählung gegebene Verankerung der Heiler in Thessalien mit dem Wissen um Kultorte des ,Heilers mit dem Hund' - sei das nun Apollon selbst oder der verselbständigte Asklepios - in Messenien und/oder Arkadien zu versöhnen.
5.2.6.
ASKALAPHÖS
Abschließend noch ein Wort zum boiotischen Helden Askalaphös: In der Ilias gilt er als großer Kämpfer und Sohn des Enyalios, also des Kriegsgottes Ares. Nachdem ihn der Trojaner Deiphobos getötet hat, kann Athene Ares nur mit Mühe davon abhalten, seinen Sohn entsprechend zu rächen. Der Schiffskatalog ordnet den Helden zusammen mit seinem Bruder Ialmenos als Führer der boiotischen Minyer ein und gibt ihm eine Mutter mit dem durchsichtigen, aber nichtssagenden Namen Astyoche. 109 Diese Geschichte könnte damit zu tun haben, daß .heilsame Hunde' in Tiertötungsritualen für Enyalios alias Ares eine entscheidende Rolle spielten; die Lokalisierung des Helden in Boiotien könnte im Zusammenhang mit jenem Ritual zum Schutz des Heeres stehen, das offenbar noch bis in späte Zeiten in Boiotien üblich blieb.' 10 Auffällig ist im übrigen, daß dem Askalaphös im Schiffskatalog mit Ialmenos ein Bruder beigesellt wird, dessen Name wiederum einen Bezug zum Wortfeld von ιάομαι, ιατρός usw. andeuten könnte.
5.2.7.
Z U R ÄSKULAP-NATTER
Von der Natter des Asklepios war hier bislang nicht die Rede. Die Spuren der religionsgeschichtlichen Entwicklung, wie sie hier nachgezeichnet werden, führen eben - um es ein wenig scherzhaft auszudrücken - über die Hundefährten in den Orient. Es fehlt aber auch nicht an Verbindungen zwischen Nattern und orientalischen Heilgottheiten: In Mesopotamien trug eine behütende Gottheit den sumerischen Namen Nirah, was so viel wie ,Natter' bedeutet. Später wurde sie als Bote des (ursprünglich wohl elamischen) Heilgottes Sataran aufgefaßt. In der Brechung der Reäep-Gestalt, die uns durch die ägyptischen Stelen vermittelt wird, überreicht eine Göttin auch diesem Gott zwei Schlangen oder Nattern. 111 Evidentermaßen existierte aber auch auf der griechischen Seite eine starke, letztlich aus der Bronzezeit herrührende Tradition des Schlangenkults. Ähnlich wie bei der Entwicklung der facettenreichen Apollongestalt, die uns in der homerischen und in der archaischen Epoche entgegentritt, mögen sich auch im Asklepios-Kult Elemente verschiedener Herkunft zu einem neuen Ganzen verbunden haben.
109 110 111
II. 13,519. 15,11 Off; Schiffskatalog: 2 , 5 1 1 - 5 1 6 . Vgl. oben S. 348. - Erinnert sei auch daran, daß im Tempel des hethitischen Kriegsgottes Jarri heilige Hunde gehalten und rituell gefuttert wurden, vgl. oben S. 355f. Edzard 1965, 120; Gese 1970, 143f. mit Abb. 12.
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5.3. Zusammenfassung und Schluß Im Ganzen führen unsere Überlegungen zu folgendem Schluß: Asklepios ist ein verselbständigter Aspekt Apolls, sein Name entspricht einer semitischen Bezeichnung seiner Rolle als ,Heiler mit dem Hund'. Der Gang der religionsgeschichtlichen Entwicklung, die zu diesem Ergebnis führte, läßt sich zusammenfassen wie folgt: Apollon war im innergriechischen Kontext insbesondere mit der Jünglings-Initiation verbunden; Pfeil und Bogen sowie der Jagdhund als Begleiter entsprachen dieser Funktion. In der Levante wurde er mit ReSep/Mukol verknüpft, der Seuchenund Heilgottheit mit kriegerischer Note, die ebenfalls mit dem Hund verbunden war. Der komplexe und facettenreiche Gott, der so entstand, fand wohl schon in der früharchaischen Zeit vor allem auf der Peloponnes Eingang in zahlreiche Kulte und Kultstätten, und zwar zusammen mit der Göttin, die im Orient seine Partnerin war, also mit 'Anat beziehungsweise Iätar/Astarte. Parallel dazu übernahm Hellas diverse Hundetötungsrituale anatolischer Provenienz. Um die Rolle des göttlichen ,Heilers mit dem Hund' zu bezeichnen, wurden die entsprechenden semitischen Vokabeln zum gräzisierten Namen Asklepios umgeformt. Das Epos gebraucht ihn zum ersten Mal und verleiht ihn einer Gestalt, die es nur lose mit Thessalien verbindet, - durch das Prestige Homers wurde diese Verbindung aber zum fixen Bestandteil der nachfolgenden Tradition. Im Kult wurde Apolls Aspekt als ,Heiler mit dem Hund' allmählich als eigener Adressat der Verehrung abgespaltet und trat neben den Seuchengott; gleichzeitig erklärten Männer wie der Verfasser der Ehoien, Pherekydes und andere die Asklepios-Gestalt zum Sohn Apolls und seiner aus dem Orient übernommenen Partnerin, der gehörnten Göttin. Manche zusätzliche Spuren der orientalischen Herkunft des Asklepios lassen sich auch im Kult, in der mythischen Familie, in einigen Erzählmotiven und in der Konstellation der Kultpartner entdecken. Die Gestalt, die im Zuge des skizzierten Prozesses ins kollektive Bewußtsein der Griechen trat, figurierte im literarischen Kontext implizit oder explizit unter den Heroen, stieg letztlich im fünften Jahrhundert aber doch zur panhellenischen Gottheit auf. Diese unterschied sich von Apoll nun in einem bedeutsamen Punkt: Es handelte sich nicht mehr um einen ambivalenten Seuchen- und Heilgott, sondern eindeutig um einen göttlichen Arzt. Dieser wurde im religiösen Bereich gewissermaßen zum Gegenstück des profanen, aufklärerisch orientierten Ärztestandes, der sich im fünften Jahrhundert v. Chr. in Hellas entwickelte.
Asklepios, der Heiler mit dem Hund, und der Orient
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EXTERNE IMPULSE
Robert
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Die Verschriftlichung von Normen: Einflüsse und Elemente orientalischer Kulturtechnik in den homerischen Epen, dargestellt am Beispiel des Vertragswesens1
1.) Zielsetzung und Fragestellung In den letzten 15 Jahren hat sich die althistorische Forschung bei der Betrachtung der griechischen Geschichte 2 sowohl der sogenannten Dark Ages wie der Archaik zusehends Fragestellungen geöffnet, die bei der Untersuchung der Ausformung gesellschaftlicher Phänomene und Entwicklungen in einzelnen Regionen Griechenlands auch mögliche Einflüsse und Impulse durch die sowie Kontakte mit der Welt der Levante mit ins Kalkül ziehen. Standen dabei zunächst vor allem mögliche Interaktionen und Beeinflussungen in den Bereichen von Religion, Literatur und Mythos im Vordergrund 3 , so hat sich in den letzten Jahren das Interesse der Forschung auch auf den Bereich des Politischen konzentriert, wobei im Speziellen die Frage nach der Bedeutung der Levante für die Entwicklung und die Ausformung der PoIis Bedeutung gewann. Dabei wurden Themenbereiche wie das Entstehen von Bürgergemeinden 4 , das politische Denken 5 , politische Institutionen und soziale Organisationsformen 6 , die Ausprägung einer sich über distinktive Verhaltensnormen definierenden Hautevolee 7 oder das Phänomen der Verschriftlichung sozialer Normen 8 einer näheren Untersuchung unterzogen. 9 Verlassen wir den komplexen Makrokosmos der Polis und richten unseren Blick
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Für die Diskussion von Einzelaspekten sowie für wichtige Hinweise danke ich Reinhold Bichler (Innsbruck), Simo Parpola (Helsinki) und Christoph Ulf (Innsbruck). Zu einer Problematisierung des Begriffs griechische Geschichte' vgl. Rollinger 2003a. Vgl. etwa West 1997. Burkert 1992. Burkert 1998a. Burkert 1999. Faraone 2003. Noegel 2003. Rollinger 1996. Ribichini/Rocchi/Xella 2001. Xella 2001. Vgl. Gschnitzer 1988. Günther 1996. Murray 2000. Sommer 2000. Siehe auch den Beitrag von K. Raaflaub in diesem Band. Raaflaub 1993. Fadinger 1996. Raaflaub 2000. Fadinger 1993. Weiler 1996. Kistler 1998. Kistler 2001a. Kistler 2001b. Gehrke 1994. Bichler 1996, 5 4 - 5 6 . Gehrke 2000. Raaflaub 2000, 5 4 - 5 7 . Allgemein zum Bereich der ,Wissenskultur' vgl. Pongratz-Leisten 1999. Lawson 2001. Pettinato 2 0 0 2 sowie die Beiträge von B. Patzek und P. Haider in diesem Band.
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auf den Mikrokosmos der Einzelphänomene, so scheint der Verschriftlichung von gesetzlichen Normen und der damit verknüpften Institutionalisierung von Gesetzgebung eine besondere Bedeutung zuzukommen. Nicht ohne Grund hat Karl-Joachim Hölkeskamp gerade diesen Vorgang als „eigentlichen Kern der Verdichtung der spezifischen ,Stadtstaatlichkeit' der Polis" hervorgehoben. 10 Dabei machte er für diesen wichtigen Entwicklungsschritt vier Voraussetzungen namhaft: das Medium der Schrift und die erst damit einhergehende Möglichkeit, Normen jenseits von Konventionen zu fixieren, das Entstehen eines öffentlichpolitischen Raumes, die Existenz von gesellschaftlichen Führungskräften und ,Gremien', die Uber die Einhaltung der Normen wachen und Verstöße sanktionieren sowie als eigentlichen Anstoß Impulse von außen." Hat Hölkeskamp auch das Verdienst, ein ausgefeiltes Stemma eines innergriechischen Entwicklungsszenarios entworfen und den Blick für die bestimmenden Faktoren geschärft zu haben, so bleibt der gewichtige Faktor der von außen auf die Polis einwirkenden Mechanismen auffallend blaß. 12 Neben einem pauschalen Hinweis auf die „Kolonisation" 13 sieht Hölkeskamp vornehmlich ein inner- und intergriechisches Szenario, als dessen wesentliches Movens er ein ausgeprägtes Konkurrenzverhalten vermutet. Dadurch hätten sich die einzelnen Poleis einerseits in ihren jeweiligen Entwicklungen ausdifferenziert, andererseits wäre gerade dadurch eine „vielfaltig vernetzte panhellenische Kultur der ,Stadtstaatlichkeit'" entstanden, die auf dem Austausch gemeinsam entwickelter Modelle beruhte. 14 Hölkeskamp bestimmt diesen gemeinsamen kulturellen Kontext durch folgende Faktoren: „Diese Kultur bestand aus der Vielzahl der einzelnen ,Politien' mit ähnlichen gesellschaftlichen, politisch-institutionellen und religiösen Grundstrukturen und damit einem ähnlichen Entwicklungsstand von Staatlichkeit. Diese ,Politien' konkurrierten permanent miteinander, etwa um Ressourcen, aber auch um Vorrang innerhalb des gesamten Systems, sie kopierten ihre Errungenschaften, und sie entwickelten sich dabei weiter. Die Grundvoraussetzung für diese Konkurrenz bestand darin, daß sie bei allen lokalen und regionalen Unterschieden viele kulturelle Werte und Orientierungen teilten - von ihren Göttern und Mythen und anderen Bestandteilen eines gemeinsamen ,nomologischen Wissens' über Sprache, Schrift und Literatur, künstlerische Ausdrucksformen in Großplastik und Vasenmalerei bis hin zur Architektur des Tempels, der in jeder einzelnen Politie dann wiederum eine zentrale Rolle in der inneren Integration spielte". 15 Ein genauerer Blick auf die hier angenommenen Zusammenhänge führt näher an die zu behandelnde Thematik heran. Hölkeskamps Gedankengang setzt die Einheit der griechischen Kultur voraus. Das erweist sich bei näherer Betrachtung nicht nur für die Zeit der Dark Ages, sondern über die formative Phase der Polis am Ende des 8. und zu Beginn des 7. Jahrhunderts hinaus für die gesamte Archaik als nicht unproblematisch. 16 Archäologisch läßt sich
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Hölkeskamp 1999,282. Hölkeskamp 1999, 270-285. Siehe auch Hölkeskamp 1994. Hölkeskamp 1992a und Hölkeskamp 1992b. Vgl. zu den archaischen Gesetzgebern' ferner Linke 1992. Linke 1994. Vgl. Hölkeskamp 1992b, 65f. Hökeskamp 1999, 281 f. Siehe v. a. Hölkeskamp 1992b, 79-81. Hölkeskamp 1999, 283-285. Hölkeskamp 1999,283. Vgl. dazu grundlegend Morris 1997. Morris 1998.
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nur für einzelne Großregionen ein gemeinsamer kultureller Kontext feststellen 17 , und auch der Gebrauch der Schrift zeigt - gerade im Kontext der Gesetzgebung - deutlich regionale Besonderheiten. 18 Darüber hinaus darf man die Frage stellen, wie sich die von Hölkeskamp postulierten Gemeinsamkeiten erklären lassen, wenn man sie nicht als ,genetisch' verankert auffassen will19, sondern auf spezifische „Impulse" zurückfuhrt. Mit einem betont innergriechischen Szenario, das allein die kompetitive Ebene der Konkurrenz herausstreicht, mag ein wichtiger Faktor bestimmt sein. Das Ausmaß seiner Bedeutung ist jedoch von dem Aussehen der Gesellschaft abhängig, in der das kompetitive Verhalten angesiedelt wird. 20 Als alleiniges Erklärungsmodell mag ein solches Szenario deshalb kaum befriedigen. Es ist wohl kein Zufall, daß Ian Morris die die verschiedensten Lebensbereiche durchdringenden Veränderungen in einer von ihm als „Central Greece" definierten Kernzone als „social revolution" auffaßte und gerade in diesem Kontext auf die mannigfaltigen Beziehungsgeflechte zur Levante hinwies.21 Für alle der von Hölkeskamp im oben angeführten Zitat namhaft gemachten und als genuin griechisch erachteten „Werte und Orientierungen" werden nämlich von der modernen Forschung inzwischen Anregungen aus und Verbindungen zu dem Vorderen Orient angeführt: ob Götter, Mythen oder ,nomologisches Wissen', Schrift oder Literatur, künstlerische Ausdrucksformen oder Tempelarchitektur - der Einfluß des Orients scheint omnipräsent. 22 Um es - bezogen auf die Welt des Epos - mit den Worten Kurt Raaflaubs zu sagen: „the more we learn about it the clearer it becomes that knowledge of Near Eastern events, traditions, objects, and motifs has substantially influenced the epic narrative and picture". 23 Daß hier in vielen Bereichen Neues geschaffen wurde, Impulse aufgenommen und in spezifische Formen gegossen wurden, ist dazu kein Widerspruch - im Gegenteil. Denn die Ausformung von distinktiven Identitäten und neuer kultureller Orientierungsmuster ist kein sich selbst generierender Prozeß, sondern einer, der eben nur über Wechselbeziehungen mit einer als Projektionsfolie verstandenen Außenwelt denkbar wird. Die Beschränkung auf innergriechische Impulse vermag deshalb einen solchen Prozeß nicht plausibel darzustellen. Er scheint ohne eine außer- und transgriechische Komponente weder erklärbar noch verständ-
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Morris 1998. Morris 2000. Dabei ist es unerheblich, ob man die von Morris im einzelnen festgelegten Definitionen dieser Regionen teilen will oder nicht. Die Mannigfaltigkeit der kulturellen Ausprägungen Griechenlands ist nicht zu bestreiten. Whitley 1997. Whitley 1998. Demand 1997, 103 spricht in ähnlichem Zusammenhang vom „old trap o f construing the Greeks as the forerunners o f their own political ideals". Zudem läuft dieses einseitige Erklärungsmodell Gefahr, erneut die Vorstellung einer ,genetisch' determinierten Kultur - diesmal jedoch in einer verklausulierten Terminologie - zu bemühen, indem der Agon zum Inzentiv einer charakteristisch griechischen' Entwicklung erklärt wird. Doch gerade gegen dieses Konzept wurden schon vor geraumer Zeit substantielle Vorbehalte erhoben. Vgl. Weiler 1974 und Weiler 1999. Siehe auch U l f in diesem Band.
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Morris 1997, 166 und passim. Morris 1998. Hier gilt, was Burkert 1991a, 174 - bezogen auf die Welt Homers - festgehalten hat: „Sofern es uns überhaupt darum geht, unsere Kultur als eine geschichtliche zu verstehen, ist mit einem isolierten hellenischen ,Ursprung' bei Homer nichts anzufangen. Wie immer man ,Homer' chronologisch zu fixieren versucht, er stand in einem Umfeld, das in immer mehr Einzelheiten kenntlich geworden ist. Der sogenannte Orient mit seinen Hoch- und Schriftkulturen als das zeitweilig dominierende, maßgebende Strahlungszentrum ist daraus nicht wegzuretouchieren".
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lieh. 24 Ist es nun tatsächlich denkbar, daß ausgerechnet bei der Verschriftung von die Gemeinschaft determinierender N o n n e n eine Beeinflussung durch die Kulturen der Levante auszublenden ist, zumal gerade auf diesem Gebiet der Alte Orient auf eine lange Tradition entwickelter Legistik zurückblicken konnte 2 5 ? Schon Hans-Joachim Gehrke hat auf diese prinzipielle Möglichkeit hingewiesen und dabei jene kretische Inschrift des 6. Jahrhunderts angeführt, deren Schreiber Spensithios als π ο ί ν ι κ α σ τ ά ς , als ,Phönizist' bezeichnet wird. 26 Dabei ortet er ein „gemeinsames know how in Fragen der Konfliktlösung und -bewältigung", hinter dem er eine „internationale Kommunikation der Intellektuellen" vermutet, die wohl die innergriechischen Grenzen gesprengt hat. 27 Hier eröffnet sich ein breites Aufgabengebiet fur eine weitere Forschungstätigkeit. Im folgenden soll dazu ein erster Schritt gesetzt und ein wohl nicht unwesentlicher Einzelaspekt der Verschriftlichung der die Gemeinschaft regelnder Normen aufgegriffen werden. Ein wesentliches Element in der Ausformung komplexerer politischer und sozialer Gemeinschaften sind normativ festgelegte Verfahrensweisen sozialer Interaktion, die sowohl Beziehungsgeflechte innerhalb definierte Gemeinschaften herzustellen, zu festigen und für einen längeren Zeitraum abzusichern beabsichtigen als auch derartige Bezugssysteme zu anderen Gemeinschaften aufzubauen und zu bewahren trachten. Einen gewichtigen Aspekt dieser sozio-politischen Interaktion stellen Übereinkünfte und Vertragsabschlüsse dar, in denen sich ,Politien' - um den von Hölkeskamp verwendeten Terminus aufzugreifen - sowohl nach innen als auch nach außen geradezu definieren müssen. Sie stellen somit einen nicht zu unterschätzenden Faktor einer ,Verdichtung' von Gemeinschaften 2 8 dar, wie sie letztendlich die Ausprägung der durch Institutionen gekennzeichneten Polis kennt. Es ist auffallig, daß etwa im Gegensatz zum weiten Bereich der Gesetzgebung diese Thematik - sieht man von der Betrachtung von Einzelaspekten ab - kaum eine nähere Beachtung fand, handelt es sich dabei doch um gesellschaftliche Phänomene, die mit einigem Recht nicht nur als Indikatoren der spezifischen sozialen und politischen Entwicklung einer
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Bezogen auf die Gesamtentwicklung des Mittelmeerraumes in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends v. Chr. wurde dies von Sherratt/Sherratt 1993, 375 treffend formuliert: „Neither diffusion nor autonomy can adequately describe the nature of this process of growth; rather, the pattern of development can best be described as co-evolution within the extending limits and zonation of a growing world-system".
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Vgl. dazu zuletzt den Überblick bei Joannes 2 0 0 0 und Levy 2000. Freilich ist dabei zu berücksichtigen, daß aus dem Zweistromland für das 1. Jahrtausend v. Chr. wohl kein eigener ,Codex' überliefert ist. Doch gerade wenn wir mit Oelsner 1997 das „neubabylonische Gesetzesfragment" als eine im Schulbetrieb zusammengestellte Sammlung von „Lehrsätzen" und „Handlungsanweisungen für die Rechtssprechung" verstehen, „bestimmt zum Gebrauch für die Richter und vielleicht der lokalen Gerichte", wird die traditionelle Beschäftigung mit gesetzlichen Normen und deren potentielle Ausstrahlung nach außen überdeutlich. Dies zeigt etwa die lange Beschäftigung mit dem Codex Hammurapi, die mindestens bis in die Zeit eines Artaxerxes reichte! Siehe dazu Oelsner 1996.
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Gehrke 2000, 144. Siehe dazu auch Rollinger 1996, 204. Gehrke 1997, 46 weist dabei ausdrücklich darauf hin, daß Spensithios nicht nur als Schreiber ( π ο ι ν ι κ α σ τ ά ς ) , sondern auch als μ ν ά μ ο ν , als Kenner der Rechtstradition, ausgewiesen wird. Vgl. zur Inschrift Effenterre 1994, 102ff. Thomas 1996, 2 1 23. Der Text wird bezeichnenderweise von Hölkeskamp im gegebenen Zusammenhang nicht erörtert. Gehrke 2000, 150. Der wissenschaftsgeschichtlich aufgeladene Terminus .Staatlichkeit' wird hier bewußt vermieden. Die Vorstellung von staatlichen' und ,vorstaatlichen' Gesellschaften hat ihren Platz im 19. Jahrhundert und ist in hohem Maße durch zeitgenössisches Kolorit geprägt. Vgl. dazu Ulf in diesem Band. Siehe ferner Ulf 2002.
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Gesellschaft angesehen werden dürfen, sondern auch um ein vergleichsweise weites Feld, bei dem mit Einflüssen von außen zumindest theoretisch zu rechnen ist.29 Spätestens seit der Untersuchung von Moshe Weinfeld vor beinahe 30 Jahren sind formale und terminologische Übereinstimmungen sowie Gemeinsamkeiten zwischen altorientalischen und griechischen Verträgen im weitesten Sinn bekannt. 30 Dabei hat Weinfeld vor allem auf frappante Ähnlichkeiten der Terminologie aufmerksam gemacht. So findet etwa die schon bei Homer bezeugte Phrase für das Schließen einer Übereinkunft ό ρ κ ι α τ α μ ν ε ι ν " , also einen Vertrag ,schneiden' 31 , ihre genaue Entsprechung in einer Reihe von westsemitischen Sprachen. Sowohl im Hebräischen (krt brjt) als auch im Altaramäischen (gzr 'd) 32 und Phönikischen (krt 'lh) 33 ist ein analoger Sprachgebrauch anzutreffen. 34 Ähnliche Bezugssysteme stellte unlängst Martin West zusammen und wies dabei erneut auf zahlreiche Übereinstimmungen in Terminologie und Semantik hin.35 Gleichzeitig machte West auf zwei Faktoren aufmerksam, die sowohl inhaltlich als auch formal den Blick weiter zu schärfen vermögen. Einerseits lenkte er den Blick auf die oft gemeinsame Thematik der Stipulationen, wobei er nicht so sehr die homerischen Epen, sondern vielmehr die inschriftlich überlieferten Vertragswerke der Archaik im Auge hatte.36 Darüber hinaus betonte er auch die formalen Bezüge. In diesem Zusammenhang traten die homerischen Epen stärker ins Blickfeld. Die mit den Übereinkünften verbundenen Elemente der göttlichen Zeugenschaft, der obligatorische Fluch sowie vor allem im westsemitischen Bereich geortete Elemente des begleitenden Rituals wurden dabei besonders herausgestrichen. Sowohl Weinfeld als auch West haben interessante und beachtenswerte Parallelen zwischen griechischem und orientalischem Vertragswesen aufgezeigt, doch sind beide Untersuchungen sehr breit angelegt und lassen eine Reihe grundsätzlicher Fragen offen. Ähnlichkeiten werden namhaft gemacht, ohne genügend auch auf die Divergenzen aufmerksam zu machen. Dadurch wirken die verglichenen Phänomene ziemlich ubiquitär und zeitlos. Dies zeigt sich allein schon
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Auch Hölkeskamp 1999 läßt das Vertragswesen nahezu gänzlich außer acht. Weinfeld 1973. Vgl. Kirk 1985, 274. Rudhardt 1992, 282-284. Faraone 1993, 65-74. Siehe dazu Hoftijzer/Jongeling 1995, Teil 1, 220 s. v. gzri, bzw. Teil 2, 824f. s. v. 'di, wo als Belege jeweils die Stellen in den SfTre-Stelen gebucht sind. Vgl. zu diesen Stelen sowie zu 'd (= ade), das als aramäisches Lehnwort auch im Neuassyrischen erscheint, unten S. 384f. Hoftijzer/Jongeling 1995, Teil 1, 538f. s. v. krt,, bzw. Teil 1, 60f. s. v. 'lh2. 'lh in der Bedeutung „Vertrag" ist jedoch umstritten. Es gibt nur vier Belege, die sich alle in einem einzigen Text, Beschwörung I aus Arslan Ta§ (7. Jahrhundert v. Chr.), befinden (KAI 27 = Donner/Röllig 1971, 6f. bzw. Donner/Röllig 1973, 4 3 ^ 7 ; eine Übersetzung auch bei Rosenthal 1969, 658). Wolfgang Röllig teilt mir brieflich mit, wofür ich ihm hiermit herzlich danke, daß seiner Meinung nach im Text von einer Bedeutung „Vertrag" auszugehen ist (Brief vom 9. Oktober 2002). Daneben machte Weinfeld 1973 auf weitere semantische Übereinstimmungen aufmerksam. So wies er auf die verwandte Terminologie fur den Vertragsbruch ebenso hin, wie er die einheitliche Charakterisierung des Vertrages selbst mit Hilfe eines Hendiadyoins, das die Vorstellung eines ,Bandes' mit jener des Eides kombiniert, herausstellte. West 1997, 19-23. West 1997, 19f. Als solche Gemeinsamkeiten erkannte er: to have the same friends and the same enemies, to provide military assistance when called upon, and to do so whole-heartedly, to disclose any plots or treachery that may come to notice, not to harbour any fugitives from the other party.
374
Robert Rollinger
in dem Umstand, daß orientalisches Quellenmaterial unbedenklich sowohl aus dem 2. als auch aus dem 1. Jahrtausend angeführt wird. Demgegenüber wird eine ebenso einheitliche wie uniforme griechisch-antike Welt gestellt, die von Homer bis in die Spätantike reicht. Kontaktzonen und Wanderungswege werden ebenso wenig angesprochen wie jene methodischen Voraussetzungen, die eine Beeinflussung wahrscheinlich machen oder nicht. Auch die Einbettung des Problems in einen möglichen historischen Kontext blieb völlig offen. Andere Schwachstellen zeigt die ausführliche und breit angelegte Untersuchung von Peter Karavites. 37 Zwar konzentrierte er sich ausschließlich auf die homerischen Epen und präsentierte in diesem Zusammenhang eine Analyse all jener Passagen, die er für ein Studium des Vertragswesens als relevant ansah 38 , doch betrachtete er die in den homerischen Epen festgemachten gesellschaftlichen und sozialen Phänomene weitgehend unhinterfragt als Spiegelbild des bronzezeitlichen und mykenischen Griechenland. Diese a priori geltende Überzeugung versuchte er dadurch zu untermauern, daß das von ihm herangezogene Vergleichsmaterial vor allem altorientalische Verträge der ausgehenden Bronzezeit darstellte. 39 Unter diesen Auspizien betrachtet mag das skeptische Urteil Hölkeskamps nicht zu überraschen, der zwar konzediert, daß „die Rezeption von Institutionen und Ritualen, Bildern und Symbolen aus den Hochkulturen des Vorderen Orients (zu Recht) zu einem wichtigen Thema geworden" ist, doch dazu einschränkend festhält, man gewinne allerdings „zuweilen wiederum den Eindruck, daß solche kulturellen Beziehungen mehr postuliert als wirklich erwiesen werden" , 40 Methodische Überlegungen sind demnach geboten, und sie wurden in jüngerer Zeit auch präzisiert. Zu nennen sind hier in erster Linie zwei wichtige und unabhängig voneinander entstandene Studien, die die Frage der Faßbarkeit von Übernahme und Beeinflussung in der literarischen Überlieferung benachbarter Kulturen erörtern. Sowohl Jeffrey Tigay als auch Alberto Bernabe machen in diesem Zusammenhang deutlich, daß vor allem der Verdichtung von Einzelmotiven, dem Auftauchen von Motivketten sowie dem sogenannten „circumstantial evidence", der nachgewiesenen chronologischen und geographischen Verknüpfung der untersuchten Zeugnisse entscheidende Bedeutung zukommt. 41 Mehr oder weniger berück37 38 39
Karavites 1992. Karavites 1992, 1 7 - 4 7 . Es ist hier nicht der Ort, sich in extenso mit Karavites 1992 auseinanderzusetzen, doch soll zumindest auf die Problematik der von Karavites vertretenen Grundprämissen in aller Kürze hingewiesen werden. Für ihn ist von vornherein unbestritten, daß Homer eine besondere Nähe zur mykenischen Welt aufweist, weshalb er auch kein Problem darin erkennen kann, vornehmlich auf spätbronzezeitliche Verträge als Vergleichsmaterial zurückzugreifen (vgl. die grundsätzlichen Bemerkungen S. 9f., 48, 81 f., 86, 89, 92, 95, 101, 109, 115). Dabei kommen auch die klassischen Orient-Stereotypen nicht zu kurz. Denn während Homer mit der mykenischen Welt eine von Freiheit geprägte Lebensauffassung teilte, sei der Orient vor allem durch Despotie gekennzeichnet (vgl. etwa S. 86, 100, 107, 116, 132, 147, 200). Obwohl Karavites eingangs behauptet, orientalische Vergleichsmaterialien zum Vertragswesen existierten nur aus hethitischer Zeit (S. 59), zieht er sporadisch dann doch auch Material des 1. Jahrtausends heran (vgl. etwa S. 83, 100, 107, I ΙΟΙ 16). Doch kommt dabei nie die Frage auf, ob nicht vielleicht auch diese Texte - oder zumindest die dort greifbaren Vorstellungen - auf Homer eingewirkt haben könnten. Man gewinnt den Eindruck, daß der Grund dafür in der bereits fest verankerten Verknüpfung zwischen Homer und Mykene liegt, die eine derartige Fragestellung erst gar nicht aufkommen Iäßt. Zum einzig namhaft gemachten Unterschied, den Karavites zwischen Homer und Mykene ortet, vgl. unten Anm. 57.
40 41
Hölkeskamp 2000, 324. Tigay 1993. Bernabe 1995.
Die Verschriftlichung von Normen
375
sichtigt wurden diese Überlegungen in einer neueren Untersuchung, die auch für die Analyse des Vertragswesens Gewicht hat. So unterzog Christopher Faraone die Vorstellungen vom Eid sowie dessen praktische Ausführung einer näheren Untersuchung, wobei er auf verblüffende Ähnlichkeiten im Kontext des begleitenden Rituals hinweisen konnte. Der Gebrauch sympathetischer Magie spielte dabei eine wesentliche Rolle. Faraone erblickte vor allem im westsemitisch-levantinischen Bereich eine der entscheidenden Kontaktzonen zwischen Ost und West. 42 Er richtete sein Augenmerk allerdings nur auf einen - wenn auch gewichtigen Einzelaspekt des Vertragswesens. Außerdem beschränkte er seine Betrachtungen keineswegs auf die homerischen Epen, sondern verfolgte die „Greek oath ceremonies" bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. Dabei entstand auch hier die Vorstellung einer gegenüber dem Orient uniformen griechischen Welt mit ebenso uniformen Sitten und Gebräuchen. Im folgenden möchte ich die Frage möglicher orientalischer Einflüsse auf die frühe griechische' Vertragspraxis erneut aufgreifen. Aus methodischen wie arbeitstechnischen Gründen beschränke ich mich dabei auf eine Analyse der homerischen Epen. 43 Dies hat nicht nur den Vorteil der Überschaubarkeit, sondern trägt dem Umstand Rechnung, daß die Entstehung der Epen mit hoher Wahrscheinlichkeit in jener Umbruchsphase anzusiedeln ist, in der einzelne Regionen Griechenlands beachtliche Entwicklungsschübe erfahren und der Einfluß der Levante evident erscheint.44 Dabei gehe ich von einer Prämisse aus. Die Epen repräsentieren eine Zeit massiver Veränderungen, setzen sich mit diesen intensiv auseinander und beziehen sich auf ein geschlossenes Gesellschaftsbild, das in einer Zeit realer Umwälzungen Norm geben soll.45 Dieses Modell hat seine Gültigkeit für die Zeit der Entstehung der Epen sowie für jene Regionen Griechenlands, in denen diese Veränderungen zwischen etwa 750 und 650 v. Chr. auch archäologisch faßbar sind 46 .Griechisch' meint im folgenden .homerisch-griechisch' und bezieht sich keineswegs auf eine vermeintlich einheitliche Kultur aller griechisch Sprechenden der ägäischen Welt. Die nun einsetzenden kulturellen Entwicklungen einzelner Regionen heben sich deutlich von älteren Zuständen ab. Da die Entstehung der Epen in dieser Zeit zu verorten ist, weisen sie kaum Verbindungen zur bronzezeitlichen Kultur Griechenlands auf. Dieser Umstand wird nicht nur durch die Schöpfung der griechischen Alphabetsysteme etwa in dieser Zeitspanne nahegelegt47, sondern auch durch die modernen Erkenntnisse der oral tradition48, die deutlich zeigen, daß mündlich überlieferte Erzählungen keine über drei Generationen hinaus reichende Zeitspannen in homogener und unveränderter Form zu überbrücken vermögen.49 Dies impliziert, um auf mein Thema zurückzukommen, daß bei der Betrachtung eines möglichen Einflusses orientalischer Vertragspraxis primär Texte heranzuziehen sind, die in einem zeitlichen Nahverhältnis zur Entstehung der Epen stehen. Dies scheint eine wichtige methodische Vorausset-
42 43 44 45 46 47 48 49
Faraone 1993. Zu den späteren Verträgen siehe Bengston 1962. Faraone 1993. Vgl. auch generell Koerner 1993. Van Effenterre/Ruze 1994. Van Effenterre/Ruze 1995. Vgl. zur Entstehungszeit der homerischen Epen Ulf 1990, 213-269. Raaflaub 1991. Raaflaub 1998. Kullmann 1993. Kullmann 1995. Kulimann 1999a. Kulimann 1999b. Vgl. zu dieser Problematik Ulf 1990, 213-269. Raaflaub 1998. Van Wees 2002. Morris 1998 versuchte eine solche Region mit dem Terminus „Central Greece" zu fassen. Vgl. dazu den Beitrag von Wirbelauer in diesem Band. Vgl. zum Terminus Patzek 2003. Ulf 2003b. Siehe dazu grundlegend Patzek 1992. Vgl. ferner Ulf 1990, 233-238. Thomas 1992, 101-127. Raaflaub 1998. Kullmann 1999b. Kullmann 2001, 662, mit jeweils weiterführender Literatur.
Robert Rollinger
376
zung. 50 Bevor wir uns jedoch dem altorientalischen Material zuwenden, soll als Ausgangspunkt der Untersuchung ein Blick auf die homerischen Epen geworfen und das dort greifbare Material zum Vertragswesen zusammengetragen und kurz vorgestellt werden. Zu diesem Zweck werden all jene Textabschnitte präsentiert, in denen Übereinkünfte im weitesten Sinne nicht nur angesprochen, sondern auch zumindest in rudimentärer Form paraphrasiert und näher umrissen werden. 51
2.) Der Bild der homerischen Epen52 Versucht man das in den Epen greifbare Material zum Vertragswesen zusammenzustellen, ist man zunächst mit nicht unbeträchtlichen Schwierigkeiten konfrontiert, die einer umfassenden Analyse entgegenstehen. Wir werden nämlich nicht mit ausformulierten Verträgen an sich konfrontiert, sondern mit einer epischen Erzählung, die die Kenntnis solcher Vereinbarungen voraussetzt und Einzelbausteine sowohl des Vertragsinhaltes wie auch des Vertragsabschlusses bestenfalls einmal stärker, einmal weniger stark durchschimmern läßt. Es werden also keine eigentlichen Dokumente präsentiert, sondern die Verträge sind durchwegs im epischen Kontext formuliert. Dies erschwert die Analyse, zumal auch in diesem Zusammenhang mit jener „poetic distortion" zu rechnen ist, die Kurt Raaflaub als durchgehendes Kennzeichen bei der Zeichnung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Epen herausgestrichen hat. 53 So stehen relativ kurz gefaßte Andeutungen von Übereinkünften neben breiter ausgestalteten Erzählsträngen und Episoden. Ferner fällt eine besondere Vielfalt in der Auswahl der für den , Vertrag' gebrauchten Termini auf (συνθεσίαι, δ ρ κ ι α , ά ρ μ ο ν ί η , σ υ ν η μ ο σ ύ ν η , ρ ή τ ρ η , σ π ο ν δ α ί , ό π ό σ π ο ν δ ο ς ) . Dies gilt ebenso fur jene Bezeichnungen, die den mit dem Vertragsabschluß eng verknüpften Vorgang des Beeidens und Sich-Verpflichtens charkterisieren ( σ υ ν τ ι θ έ ν α ι , ό μ ν ύ ν α ι , ϋ π ι σ χ ν ε ΐ σ θ α ι , κ α τ α ν ε ύ ε ι ν , ύ π ι σ τ ά ν α ι , πιστοΰν). 5 4 Es stellt sich die Frage, wie diese aus modemer Sicht - mangelnde Systematik, abgesehen von den Möglichkeiten poetischer Variation, zu erklären ist. Ist darin lediglich ein anderes Einteilungsprinzip zugrundegelegt, das auf verschiedene Aspekte des Vertragsabschlusses rekurriert 55 , oder versteckt sich dahinter gar eine dynamische Entwicklung, innerhalb derer sich einheitliche Vertrags Vorstellungen erst auszudifferenzieren beginnen? 56 Jedenfalls sollte man nicht unbedingt von vornherein
50
51 52 53 54 55 56
Freilich können auch zusätzlich ältere Texte des Alten Orients herangezogen werden, zumal es sich dort - im Gegensatz zu Griechenland - um über Jahrhunderte verschriftete Kulturen mit starken Traditionselementen handelt. Im wesentlichen kann dabei auf das von Karavites 1992, 17—47 zusammengetragene Material zurückgegriffen werden. Dies wird jedoch modifiziert und unterschiedlich gewichtet. Zitate aus Ilias und Odyssee richten sich im folgenden nach den Übertragungen von Hans Rupe und Anton Weiher. Raaflaub 1998. Vgl. dazu ausfuhrlich Karavites 1992. Dies betont grundsätzlich Baltrusch 1994, 202f., wobei er die Terminologie der archaischen und klassischen Zeit im Auge hat. Ein Indiz dafür wäre vielleicht die Beobachtung von Baltrusch 1994, 4—6, wonach in den homerischen Epen noch keine Symmachie-Verträge bezeugt seien. Ähnliches zeigt sich bei der Betrachtung der in
Die Verschriftlichung von Normen
377
und in allen Fällen mit einem jeweils festen, kanonischen Regeln unterworfenen Vertragstyp rechnen, der - in seinen Grundbestandteilen isolierbar - nicht nur in der Ägäis, sondern auch in der Levante Verwendung gefunden habe. Auch hier muß sich erst zeigen, ob nicht etwa mit komplexeren und vielschichtigeren Entwicklungen zu rechnen ist. Eine weitere durch den epischen Blickwinkel hervorgerufene Schwierigkeit ergibt sich beim Versuch einer eindeutigen Trennung zwischen staatsrechtlichen' und ,privatrechtlichen' Vereinbarungen. 5 7 Auch wenn der exakten Scheidung dieser beiden Kategorien ein gewisses anachronistisches Moment anhaftet, so ist es nicht zuletzt im Hinblick auf mögliche Vorbilder und Beeinflussungen aus dem Alten Orient wichtig, Kategorien von Übereinkünften zu erfassen und gegeneinander abzugrenzen. Die Fokussierung des Dichters auf Einzelpersonen bereitet nicht nur in diesem Zusammenhang erhebliche Schwierigkeiten. 5 8 Eine jeweils unzweideutige Trennung der Kategorien in allen Einzelfällen ist unter diesen Voraussetzungen kaum erreichbar. Ein wichtiges Kriterium erscheint dabei die Frage, inwieweit die als .Vertragspartner' auftretenden Helden ein jeweils hinter ihnen stehendes Kollektiv vertreten und wie die solcherart geschlossenen Übereinkünfte zu klassifizieren sind. Unterstützungs- (Nr. 3 unten) und Treuebündnis (Nr. 5 unten), Heiratsvereinbarungen kombiniert mit Beistandsverpflichtungen (Nr. 10, Nr. 11 unten) sowie der Abschluß eines Waffenstillstandes und eines möglichen Freundschaftsbündnisses (Nr. 4, Nr. 6, Nr. 7, Nr. 8 unten) scheinen eindeutig Übereinkünfte zu repräsentieren, denen ein mehr oder weniger breiter Gemeinschaftsbezug zugesprochen werden kann. Gleichzeitig werden dadurch unterschiedliche Vertragstypen erkennbar, die sich durch den jeweiligen Vertragsgegenstand erfassen lassen. Bei anderen Beispielen mag man diskutieren, inwieweit ein solcher ,Gemeinschaftsbezug' implizit oder explizit vorausgesetzt werden darf. Eine Entscheidung mit letzter Gewißheit läßt sich hier wohl nicht treffen. Darüber hinaus läßt es die Verfremdung durch das epische Kolorit ratsam erscheinen auch vertragsähnliche Texte mit in die Überlegungen miteinzubeziehen. Dazu gehört etwa der II 7.76ff. präsentierte Vorschlag Hektors (Nr. 7 unten), der sich wohl am besten als V e r tragsentwurf charakterisieren läßt. Ähnlich verhält es sich mit dem Ansinnen des Priamos, die geraubten Güter zurückzugeben und einen Waffenstillstand zu schließen (II 7.365ff. = Nr. 8 unten) und jenem Hektors, eine Übereinkunft zu erzielen (II 2 2 . 2 5 4 - 2 5 9 = Nr. 15 unten). Auch das von Eumaios abgelehnte Angebot des als Bettler verkleideten Odysseus, sich im Falle der Rückkehr des Helden nach Ithaka bestimmten Bedingungen zu unterwerfen, ist hier zu nennen (Od 14.393^100 = Nr. 21 unten). Andererseits werden oft nur Einzelaspekte eines möglichen Vertrages angesprochen oder bestehende Verträge gar nur kurz referiert (II 2.112f. = Nr. 2 unten; Od 4 . 6 - 7 = Nr. 17 unten). 59
den Epen greifbaren σ π ο ν δ α ί , in denen Baltrusch 1994, 9 9 - 1 0 4 primär keine Vertragsabschlüsse erkannte, sondern durch Libation begleitete Praktiken zum Schutz von Einzelpersonen („eine zeitlich befristete Sicherheitsgarantie"), die später in das entwickelte Vertragswesen eingegangen sind. 57
58
59
Karavites 1992, 48 wollte darin den in seinen Augen einzigen Unterschied zwischen Homer und der Welt Mykenes erkennen. Demnach spiegelten die inter-ethnischen Verträge die Verhältnisse der Bronzezeit, wohingegen die personenbezogenen Verträge die aristokratische Welt der Eisenzeit reflektierten. Man beachte etwa die Probleme, die bei der Scheidung von Einzel- und Massenkampf zu berücksichtigen sind und die wichtige Frage inkludieren, inwieweit die Epen bereits den Kampf in der Phalanx repräsentieren. Sie dazu Latacz 1977. van Wees 1992. Wenn die vertragsähnlichen Vereinbarungen jedoch völlig im Hintergrund bleiben und lediglich durch
378
Robert Rollinger
Nach der Festlegung all jener Passagen, in denen in epischem Kolorit vom Abschluß einer Übereinkunft oder eines Vertrages die Rede ist, ist - gerade im Hinblick auf die bereits festgestellte Mannigfaltigkeit in der Vertragsterminologie - ein besonderes Augenmerk auf die erkennbaren Elemente des Vertragsaufbaues zu legen. Dabei sollen die Einzelglieder dieser Vereinbarungen besonders herausgestrichen werden. Vor allem der Frage des Nachweises einzelner Vertragsbestandteile, die miteinander fest verknüpft ein spezifisches Geflecht an Verbindungen darstellen, hat in diesem Zusammenhang erhebliches Gewicht. 60 Um einen möglichst dichten Analyseraster zu erhalten, empfiehlt es sich, das greifbare Vertragsmaterial nach zwei Gesichtspunkten zu untersuchen. Einerseits wird der Vertrag nach inhaltlichen Kriterien charakterisiert, und es werden die Vertragspartner bestimmt. Ebenso werden alle faßbaren Einzelbestandteile markiert und in ihrer jeweiligen Gliederung präsentiert. Auf der anderen Seite werden auch, soweit erkennbar, die Elemente der den Vertrag begleitenden Ritualhandlungen berücksichtigt und ebenfalls nach ihren jeweiligen Einzelbausteinen gegliedert vorgeführt. Aus der Kombination beider Ebenen ist ein spezifisches Bild zu erwarten, das in einem weiteren Abschnitt mit altorientalischen Texten verglichen werden kann. Insgesamt sind in Ilias und Odyssee 23 Textabschnitte erkennbar, die sich Vertragsabschlüssen und Vereinbarungen im weitesten Sinn zuordnen lassen. Dabei wird ersichtlich, daß sich aus den isolierbaren Einzelelementen keineswegs nur eine Art,Idealtyp' des homerischen Vertrages bilden läßt, der aus den unterschiedlichen Fallbeispielen erst .zusammengesetzt' werden muß. Denn der Dichter präsentiert ein Fallbeispiel, in dem alle auch sonst wenn auch jeweils in unterschiedlichem Verband mit anderen Einzelgliedern mehr oder weniger stark isoliert - im Epos greifbaren Einzelglieder des Vertragsabschlusses erkennbar werden. Gemeint ist die im dritten Gesang der Ilias relativ breit beschriebene Waffenstillstandvereinbarung (Nr. 4 unten) 61 , der auch für den Gesamtkontext und den weiteren Verlauf der Handlung entscheidendes Gewicht zukommt. Hier lassen sich am deutlichsten alle in den Epen erkennbaren Einzelglieder eines zwischen zwei unterschiedlichen politischen Gemeinschaften geschlossenen Vertragswerkes fassen. 62 Andere - im Hinblick auf den Vertragsabschluß fragmentarischer gestaltete - Textstellen vermögen dieses Bild abzurunden, sodaß sich ein stimmiges Gesamtbild ergibt. So verwundert es auch nicht, daß die Zusammenschau eine erstaunliche Systematik erkennen läßt. Dabei weist die Analyse der herangezogenen Textstellen folgende als Vertragsbestandteile erfaßbare Elemente auf 63 :
60 61
62
63
wenige Worte kurz angedeutet werden, werden sie im folgenden nicht berücksichtigt. So etwa II 6.233, wo Diomedes und Glaukos sich die Hände reichen und Freundschaft schwören (χείρας τ' ά λ λ ή λ ω ν λαβέτην καΐ πιστώσαντο). Ebenso II 19.191, wo die Versöhnung zwischen Achill und Agamemnon angesprochen wird (δρκια πιστά τάμωμεν). Vgl. dazu die oben S. 374 festgehaltenen methodischen Überlegungen von Tigay 1993 und Bernabe 1995. Auch hier wird die ,epische Verzerrung' besonders deutlich, weil sich die Präsenz aller Einzelglieder erst durch den .Nachtrag' II 4. I58f. ergibt, wo der Handschlag angesprochen wird. Bei der Beschreibung der Vertragszeremonie im dritten Gesang fehlt dieses Element! So ist es auch kein Zufall, daß gerade dieser Textabschnitt auch in der Vergangenheit auf besonderes Interesse der Forschung gestoßen ist. Vgl. Burkert 1991b, 85. Gschnitzer 1991, 190. Baltrusch 1994, 104-112. West 1997, 19. Starke 1997b, 483 Anm. 195. Högemann 2000a, 27f. Högemann 2000b, 190. Baltrusch 1994, 106 isoliert B, C und Ε; Α rechnet er zum Ritual.
379
Die Verschriftlichung von Normen Vertragsbestandteile (inhaltlich)
Sigle
Schwur auf eine .Vertragsklausel' (promissorischer Eid) Gottesschutz/-zeugenschaft 66 Stipulation Vorgeschichte Ermahnung gegen Vertragsbruch Fluch
Α (Al) 64 (A2) 65 Β C D Ε F
Die Analyse des begleitenden Rituals läßt folgende konstitutive Elemente bestimmen 67 : Vertragsbestandteile (Ritual)
Sigle
Handschlag Weinspende Schlachten der Opfertiere Wasser(spende?)
a b c d
Bei der Zuweisung der Einzelbestandteile gende Bild:
zu ihrem jeweiligen Kontext ergibt sich das fol-
Stelle
Vertragspartner
Art bzw. Ziel und Inhalt der Überein- Vertragskunft elemente 68
Nr. 1 II 1.74-79, 8669—91
Achill und Kaichas
Nr. 2 II 2.112-113
Schutzbündnis (Kalchas verrät Grund A1 70 des Gotteszorns; Achill schützt ihn Β dafür - „mit Wort und Händen") C (D) 7 ' Vernichtung Troias C 73
Zeus und Agamemnon 72 Agamemnon und Unterstützungsbündnis Danaer
Nr. 3 II 2.286-288, 339-341
Al 7 4 C b
64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75
Eine Partei. Zwei Parteien. Kann im Schwur integriert sein, muß es aber nicht. Baltrusch 1994, 107 isoliert A, c, b und a. Angeführt in der Reihenfolge ihrer Erwähnung im Text. Karavites 1992, 18 setzt die Zäsur erst mit Z. 88. Achill schwört bei Apoll, Z. 76: σύνθεο bzw. δμοσσον. Nr. 1 schließt unmittelbar an die .Vorgeschichte' an: die Griechen werden von der Pest heimgesucht. Von Agamemnon vor Heeresversammlung referiert. Ζ. 112: ύπέσχετο και κατένευσεν. Ζ. 286: ϋπόσχεσιν, ήν περ ύπέστ(ησ)αν, Ζ. 339: συνθεσίαι und όρκια. Ζ. 341: δεξιοί.
Robert Rollinger
380
Stelle
Vertragspartner
Nr. 4 II 3. 6 7 - 7 3 , 8 6 - 1 ΙΟ 7 7 , 116-120,
Art b z w . Ziel und Inhalt der Ü b e r e i n -
Vertrags-
kunft
elemente68
Troer ( P r i a m o s )
Waffenstillstand; Zweikampf-
A2
und A c h a i e r
entscheidung Menelaos-Paris;
(Agamemnon)
-»80 78
Freundschaftsbündnis (Bußzahlung )
D8 B8 -83
130-138, 245-258, 268-301,
„85
114. 1 5 5 - 1 6 8 , 114.269-271
a ,89
Nr. 5 II 4 . 2 6 6 - 2 6 9
I d o m e n e u s und
Treuebündnis
Al9' C
Agamemnon
D Nr. 6 1 1 7 . 2 9 - 3 1 ,
A p o l l o und
38-45 Nr. 7 II 7 . 6 7 9 1 - 8 6
W a f f e n r u f e und Z w e i k a m p f
Athena
H e k t o r - A j as
Troer ( H e k t o r )
Z w e i k a m p f und V e r h a l t e n n a c h S i e g
C D B92
und A c h a i e r
C 93
Nr. 8 1 1 7 . 3 6 5 - 4 1 2 '
Troer ( P r i a m o s 9 4 ) R ü c k g a b e der geraubten Güter;
C
und A c h a i e r
W a f f e n s t i l l s t a n d zur B e s t a t t u n g der
D
(Agamemnon)
Toten
Al
95
B96
76 77 78 79
80 81 82
83 84 85
86 87 88 89 90 91 92
Z. 341: σπονδαί τ' ά κ ρ η τ ο ι . Karavites 1992, 22 setzt die Zäsur mit Z. 86-94. Z. 286, 289; Z. 290: π ο ι ν ή (Sühne). Z. 73: φ ι λ ό τ η τ α και δ ρ κ ι α π ι σ τ ά τ α μ ό ν τ ε ς . Ζ. 94: φ ι λ ό τ η τ α και δ ρ κ ι α π ι σ τ ά τ ά μ ω μ ε ν ; Ζ. 105: δ ρ κ ι α τ ά μ ν η ; Ζ. 107: Δ ι ό ς δ ρ κ ι α ; Ζ. 252: δ ρ κ ι α πιστά τ ά μ η τ ε , Ζ. 256: φ ι λ ό τ η τ α και δρκια πιστά ταμόντες. Ζ. 67-75, 86-94, 105-110, 130-138, 250-258, 281-291. Ζ. 100. Ζ. 104: Ge, Helios und Zeus (ebenso Ζ. 107). Ζ. 276-281: Zeus, Helios, Potamoi, Gaia, Unterweltsgötter: Zeugen und Wächter der δ ρ κ ι α π ι σ τ ά ; Ζ. 296 (Götter allgemein), Ζ. 297: Zeus und „die unsterblichen Götter". II 4. 160 u. 167f.: Zeus. Z. 107. Z. 279; 298: bei Zeus und den „unsterblichen Göttern": Verletzen der δ ρ κ ι α (Ζ. 299). Ζ. 103f.: zwei Lämmer: ein Böcklein mit weißem Fell und ein schwarzes Weibchen ftir Ge und Helios; Zeus empfange ein drittes; Z. 246, 269: δ ρ κ ι α πιστά. Ζ. 273, 292-294: Agamemnon opfert Tiere, schneidet Haar von deren Köpfen und verteilt Fleisch unter Troer und Achaier. Z. 245, 269, 295f. Z. 269: Wasser über Hände gegossen. II 4. 158f.: δεξιαί. Der Z. 269-271 genannte Fluch gehört zu Nr. 4. Z. 267: ύ π έ σ τ η ν . Karavites 1992, 27 setzt die Zäsur erst mit Z. 76 an; dadurch entgeht ihm aber D. Zeus Kronion.
381
Die Verschriftlichung von Normen Stelle
Vertragspartner
Nr. 9 II 10.321-331 Nr. 10
11 13.363-369
Nr. 11
1114.235-241, 267-280"
Art bzw. Ziel und Inhalt der Überein- Vertragskunft elemente 68
Dolon und Troer Spionageauftrag gegen Belohnung (Hektor) Othryoneus aus Heiratsbündnis und Beistandspakt Kabesosund Priamos Here und Hypnos Heiratsbündnis und Beistandspakt
C 97 Al C A2 9 8 C D Al100 B.o,
Nr. 12
II 16.50—100
102
Achill und Patroklos
Auftrag: Oberbefehl über Myrmidonen an Patroklos
D 103 C b
,04
1120.313-317
Here und Athene Vernichtung Troias
1121.369-376
Xanthos und Here
Ablassen des Hephaistos und Rückzug des Xanthos
Nr. 15 Nr. 16
1122.254272 1 0 7 II 2 4 . 6 5 6 - 6 7 2
Hektor und Achill Achill und Priamos
Zweikampf und Umgang mit gefallenem Verlierer Leichenfeier fur Hektor und 12 Tage Waffenruhe
A2 1 0 5 C D C Al106 B108 C C a 109
Nr. _17
Od 4 . 6 - 7
Menelaos und Achill
Heiratsvertrag (Neoptolemos und Menelaos' Tochter)
C 10 Β
Nr. 13 Nr. 14
93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110
Karavites 1992, 28 setzt die Zäsur mit Z. 406-411 an. Als Auftraggeber der Botschaft: II 7.365-378. Z. 411: δ ρ κ ι α bei Zeus. Agamemnon hebt Szepter zu allen Göttern empor. Hektor möge Szepter erheben und schwören (όμοσσον), tut dies auch bei Zeus. Z. 366: ύ π έ σ χ ε τ ο , Ζ. 368: έ σ χ ε τ ο . Karavites 1992, 31 setzt die Zäsur Z. 276. Z. 271-273: Schwur ( ό μ ο σ σ ο ν ) bei Styx; Fassen der Erde und des Meeres. Schwur Z. 277-280: bei allen Göttern im Tartaros - Titanen. Z. 280: δ μ ο σ ε ν und δ ρ κ ο ν Ζ: 273f.: alle Unterweltsgötter (Götter versammelt um Kronos unter der Erde). Karavites 1992, 32 setzt die Zäsur Z. 80-96. Z. 50-60. Zeus, Apollo, Athene. ώ μ ό σ σ α μ ε ν ό ρ κ ο υ ς , vor Unsterblichen. Z. 373: δ μ ο ΰ μ α ι . Karavites 1992, 34 setzt die Zäsur mit Z. 259. Vide Ζ. 255: ά ρ μ ο ν ι ά ω ν . Ζ. 261: σ υ ν η μ ο σ ύ ν α ς bzw. Ζ. 262 δ ρ κ ι α πιστά, Ζ. 66: δ ρ κ ι α . Götter als „Zeugen" Ζ. 6 7 1 ί . : έ π ί κ α ρ π φ χ ε ί ρ α γ έ ρ ο ν τ ο ς / έ λ λ α β ε δ ε ξ ι τ ε ρ ή ν . Götter.
Robert Rollinger
382 Stelle
Vertragspartner
Nr. 18 Nr. 19 Nr. 20 Nr. 21
Od 5. 173191'" Od 10.333 113 347 Od 12.298-304
Nr. 22 Nr. 23
Od 15.431-453 Phöniker und Magd in Syria Od 24.539 1 2 0 - Ithakesier 548 (Freund und Feind)
Odysseus und Kalypso Kirke und Odysseus Odysseus und Gefährten Od 14.393-400 Odysseus und Eumaios
Art bzw. Ziel und Inhalt der Überein- Vertragselemente' kunft Schutzversprechen und Abfahrt Schutzversprechen und Beilager
C Al"2 C A2"4 A2 1 ' 5 C
Verbot des Schlachtens der Rinder und Schafe 116 Bestimmungen im Falle der Rückkehr C ß,17 des Königs nach Ithaka (F 118 ) Rückkehrversprechen gegen Kindes- C Al 1 1 9 entführung Beendigung des Bürgerkrieges auf C ß,2. Ithaka A2 122
Berücksichtigen wir die oben festgehaltenen Unwägbarkeiten und Unsicherheiten, ergibt sich nichtsdestotrotz ein in Summe erstaunlich geschlossenes Bild. Dies läßt sich allein schon aus jenen Beispielen erschließen, deren Charakterisierung als Verträge zwischen Kollektiven keine allzu großen Probleme bereitet. Aber auch die anderen Exempla fügen sich gut in dieses Gesamtbild ein. Insgesamt tritt uns ein beachtlich dichtes Beziehungsgeflecht offenkundig standardisierter Vorstellungen entgegen, was nicht nur die Verteilung der Vertragselemente auf inhaltlicher, sondern auch auf formaler Ebene nahelegt. Hier scheint ein in Summe durch fixierte Strukturelemente ausgeprägtes Vertragsformular erkennbar, das der Dichter als bekannt voraussetzt und in seine epische Schilderung von Übereinkünften immer wieder einfließen läßt. Freilich geschieht dies in jeweils unterschiedlicher Dichte und Ausprägung. Die Einzelbausteine bleiben jedoch als solche konstant und verweisen auf ein vorgegebenes Formular. Diese Beobachtung trifft auch - wenn auch nicht in dieser Schärfe auf die Elemente des begleitenden Rituals zu, das ebenfalls in einen bereits formalisierten Rahmen eingebettet scheint. Wenn wir uns nun der Frage zuwenden, inwieweit diesbezüg-
111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122
Karavites 1992, 37 setzt Ζ. 177-179 als Zäsur. Z. 178: μέγαν δ ρ κ ο ν όμόσσαι. Kalypso tut dies bei Erde (γαία), Himmel (ούρανός) und Wasser der Styx (Στυγός δδωρ). Karavites 1992, 37 setzt die Zäsur Z. 342-344. Kirke: μέγαν δ ρ κ ο ν όμόσσαι (ebenso Odysseus Ζ. 345 f.) Odysseus und Gefährten: όμόσσατε κατερόν ό ρ κ ο ν (Ζ. 298). Ζ. 303: άπώμνυον (negativer Eid). Ζ. 393: Ρήτρην. Olympische Götter als Zeugen. Ζ. 398^100: kein Fluch im eigentlichen Sinn, sondern Teil des Vertragsgegenstandes. Siehe dazu unten Anm. 163. Z. 436: δ ρ κ φ πιστωθήναι. Ζ. 437: έπώμνυον. Ζ. 438: δ μ ο σ ά ν δρκον. Karavites 1992, 40 setzt die Zäsur Ζ. 546. Pallas Athene. δρκια έθηκε.
Die Verschriftlichung von Normen
383
lieh mögliche Parallelen oder gar Vorbilder vorliegen könnten, müssen wir zunächst einen Blick auf das altorientalische Vergleichsmaterial werfen.
3.) , Staats Verträge' im Alten Orient in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends v. Chr.123 Wie bereits eingangs festgehalten, muß bei einem Vergleich zwischen homerischen Epen und altorientalischem Textmaterial die zeitliche Überlieferungssituation als wesentlicher Faktor beachtet werden. Die etwa von Karavites und anderen angestellte Gegenüberstellung von Ilias und Odyssee mit ausschließlich aus der Spätbronzezeit stammenden hethitischen Verträgen suggeriert im ägäischen Raum ein Kontinuum zwischen Bronze- und Eisenzeit über die Dark Ages hinweg, das nach derzeitigem Quellenstand nicht gegeben ist.124 Angesichts des Verlusts der Schriftlichkeit nach dem Untergang der Palastkulturen für mehrere hundert Jahre und dem anschließenden Auftauchen eines völlig neuen Schriftsystems erscheint eine Überlieferung in sich geschlossener Texte und Erzählungen, standardisierter Normen oder gar eines ,Vertragsformulars' innerhalb der Dark Ages kaum denkbar. Halten wir also nach altorientalischem Vergleichsmaterial Ausschau, so müssen wir vor allem auf Texte zurückgreifen, deren Entstehung mit jener der Abfassungszeit der homerischen Epen in Verbindung gebracht werden kann. Hier bieten sich in erster Linie die aus neuassyrischer Zeit überlieferten , Staats Verträge' an, die ein in sich geschlossenes und homogenes Corpus bilden. Neben zahlreichen Hinweisen auf die Technik des Vertragsabschlusses in den neuassyrischen Keilschrifttexten sind uns im Original 13 Vertragstexte überliefert, die aus der Zeit zwischen 825 und 625 v. Chr. stammen und unsere wichtigste Quellengrundlage für diese Thematik bilden.125 Zwar ist hier in den letzten Jahren eine partiell rege Diskussion darüber entbrannt, inwieweit diese Texte als Verträge im eigentlichen Sinn anzusprechen sind und es sich nicht vielmehr um vom assyrischen König auferlegte und durch Schwur bekräftigte unilaterale Verpflichtungen, „loyalty oaths", handle, doch sind zumindest einige von diesen Texten eindeutig als bilaterale Übereinkünfte erkenn- und somit als Verträge mehrerer Parteien definierbar. 126 Allen Texten gemeinsam ist eine einheitliche Struktur und ein festes standardisiertes Formular, sodaß sie sich als geschlossenes Corpus zu erkennen geben. Auch
123 124
Soweit nicht besonders vermerkt, richten sich die folgenden Übersetzungen nach den in den Einzelbänden im „State Archives of Assyria" ( S A A ) präsentierten Textausgaben. Dies gilt freilich nicht fur die altorientalische Welt, zu der auch Zentral- und Südanatolien gerechnet werden darf. Die Versuche, eine solche Kontinuität auch fur Westanatolien zu erweisen (so etwa Starke 1997b, Starke 1999, 531, Högemann 2000a, Högemann 2000b), stehen auf einem schmalen Fundament und bleiben anfechtbar. Bedenklich mutet besonders das Bemühen an, die Epen selbst zu einem „anatolischen Literaturwerk" zu machen und sie in diese vermeintliche Kontinuität einzubetten. Siehe dazu Cobet/Gehrke 2002, 292f., 2 1 6 - 3 1 8 . Rollinger 2003b sowie unten Anm. 245.
125
Siehe dazu Parpola/Watanabe 1988. Bei dem dort ebenfalls veröffentlichten Text Nr. 14 handelt es sich nicht um einen Vertragstext im eigentlichen Sinn, sondern um den Teil einer Königsinschrift Asarhaddons. Man vgl. insgesamt zu den Verträgen, die uns durch die keilschriftliche Überlieferung greifbar sind ebenda, LIV Anm. 2.
126
Vgl. zur Diskussion Watanabe 1987, 6 - 2 5 . Parpola/Watanbe 1988, XVf.
384
Robert Rollinger
wenn es im Einzelfall zwischen Verträgen und Eiden nicht immer eine klare Trennung gibt erstere mögen wohl aus letzteren entstanden sein - so handelt es sich dennoch nicht um simple Loyalitätsbekundungen, sondern um bilaterale Abkommen zwischen Herrschern, bei denen der Eid jedoch einen integralen Bestandteil darstellt. Alle Texte sind somit „binding political agreements, pacts or treaties whose exact nature was determined by the mutual status of contracting parties".127 Der diese Verträge bezeichnende Terminus Technicus lautet ade und umspannt jenes breite Spektrum, das vom Eid bis zum Vertrag reicht.128 Dabei handelt es sich um ein aramäisches Lehnwort ('d) im Assyrischen129, sodaß auch damit gerechnet werden muß, daß die in den Verträgen greifbare Vertragspraxis und deren Einzelelemente nicht immer als genuin assyrisch anzusprechen130, sondern gleichsam auch westsemitische Einflüsse zu gewärtigen sind.131 Für die vorliegende Untersuchung ist diese Beobachtung jedoch von untergeordneter Bedeutung, da es allein darum gehen kann, auf der Suche nach möglichen Vorbildern fiir die griechische Vertragspraxis in homerischer Zeit nach jenen altorientalischen Texten Ausschau zu halten, die einen - wenn auch zeitlich begrenzten - international' verbreiteten und üblichen Standard des Vertragsabschlusses bezeugen. Eine solche Praxis spiegeln die neuassyrischen Verträge zweifelsohne wider, ohne daß die Frage beantwortet werden muß, ob diese stärker assyrische oder aramäische Usancen reflektiert. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, daß es sich dabei um die Vertragspraxis des zu homerischer Zeit größten Imperiums handelt von dem auch auf anderen Ebenen wichtige Impulse nach Westen ausgegangen sind.132 Zudem weist die aramäische Komponente in den weiten Raum der Levante, der mit Gewißheit als eine der wichtigsten Kontaktzonen zwischen Ost und West angesprochen werden darf. Und es ist wohl kein Zufall, daß uns just aus dieser Zone aus der Mitte des 8. Jahrhunderts mit den auf drei Stelen aus Sftre überlieferten Verträgen des Königs Bar-Ga'yah von Ktk mit König Mati'-Il von Arpad ein in formaler Hinsicht identes Vertragswerk aus aramäischer Sicht überliefert ist.133 Allein dadurch zeigt sich ein in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends standardisierter Usus des Vertragsabschlusses, der über politische Grenzen hinweg auf ein einheitliches Formular zurückgreifen konnte. Wenden wir uns nun den Einzelbausteinen dieser Vertragspraxis zu.
127 128 129 130 131
132 133
Parpoal/Watanabe 1988, XV. Parpola 1987, 1 8 0 - 1 8 3 . Vgl. dazu oben Anm. 32. Zu den im Babylonischen üblichen Terminologien für den Vertragsschluß vgl. Weinfeld 1973. Parpola 1987, 183 hält dies mit bedenkenswerten Argumenten jedoch für unwahrscheinlich, zumal sich deutliche Verbindungen nicht nur zur mittelassyrischen Vertragspraxis, sondern sogar zu den ältesten greifbaren Verträgen des 3. Jahrtausends anfuhren lassen (ebenda, 181). Zum Aramäischen im neuassyrischen Reich vgl. jetzt grundlegend Fales 2000. Lanfranchi 2000. Rollinger 2001. Vgl. zu diesem Vertrag (KAI 2 2 2 - 2 2 4 = Donner/Röllig 1971, 41^15, bzw. Donner/Röllig 1973, 2 3 8 274) Rössler 1982/85, 1 7 8 - 1 8 9 mit weiterführender Literatur. Zur Frage der Lokalisierung von Ktk sowie der Identität des Bar-Ga'yah, hinter dem auch ein hoher assyrischer Beamter oder gar der assyrische König selbst vermutet wurde, siehe jetzt Lipinski 2000, 2 2 1 - 2 3 1 . Vgl. auch generell Röllig 2000. Sader 2000.
385
Die Verschriftlichung von Normen
Die Struktur der neuassyrischen Verträge - einschließlich jener der auf den Stelen von SfTre überlieferten bilateralen Übereinkünfte - läßt sich folgendermaßen beschreiben 134 : Vertrag
1
2
3
4
5
6
+
+ + + + + + +
7
8
9
10
11
12
+ -
+ _ +
_
+
+ _ +
+ +
+ + +
+ + + + * +
+ -
+
+
13
Sf
STRUKTURELEMENT
Präambel Siegel Gottesschutz/zeugenschaft Schwur/Eid Vorgeschichte Stipulation Ermahnung gegen Vertragsbruch Fluch Kolophon und Datum
-
-
+ + +
+ +
+ + * *
+
+
+
+
+ +
+
+ +
+
+
+ + + +
+
+ + + -
Legende: 1-13: neuassyrische Verträge; Sf: aramäische Verträge von Sffre; Bezeugte Strukturelemente: +; Fehlen eines Strukturelements: - ; Strukturelement nur indirekt greifbar: *; Leerzeile zeigt eine Fehlstelle im überlieferten Text.
Lassen wir die aufgelisteten Vertragsbestandteile Revue passieren, so sind ein paar grundsätzliche Besonderheiten hervorzuheben, die die erhaltenen neuassyrischen Verträge kennzeichnen. Dies betrifft zunächst die inhaltliche Ebene. Alle Verträge sind bezüglich der politischen Macht der Vertragspartner durch ein großes Ungleichgewicht charakterisiert. Der besondere Status des assyrischen Königs ist durchwegs evident, sodaß manche Verträge gar wie unilaterale Diktate anmuten. Wir wissen jedoch aus zahlreichen Hinweisen, die aus assyrischen Inschriften stammen, daß dieser Eindruck keineswegs als repräsentativ für das assyrische Vertragswesen gelten kann. Zumindest werden dort ebenso Verträge angesprochen, die auch Konzessionen des assyrischen Königs beinhalten.135 Das Vertragsspektrum war demnach wesentlich weiter gefaßt, als allein aus dem auf uns gekommenen Material geschlossen werden kann. Auch lassen die erhaltenen Texte eine relativ große Bandbreite an Vertragsgegenständen erkennen, wie es vor allem in den Stipulationen deutlich wird. 136 Formale Besonderheiten ergeben sich daraus, daß uns die Verträge als Originale vorliegen und nicht ausschließlich über deren Inhalt referiert wird. Die Präambel identifiziert die
134 135
136
Die folgende Tabelle geht in ihrer Grundstruktur auf das von Parpola/Watanabe 1988, X X X V präsentierte „Chart 1" zurück. Sie wurde fur die vorliegende Untersuchung leicht adaptiert und abgewandelt. Parpola/Watanabe 1988, XVI-XXII nennen diesbezüglich „bilateral and unilateral treaties", „nonaggression pacts", „peace and friendship treaties", „mutual assistance pacts", „alliance treaties", „treaties with exiled foreign royalty", „treaties with assyrianized foreign royalty", „treaties with submissive adversaries". Siehe Parpola Watanabe 1988, XXXVIII „Chart 2", wo folgende Vertragsgegenstände - mit entsprechender Zuordnung zu den jeweiligen Verträgen - aufgelistet werden: „loyalty to Assyrian king", „obligation to inform/report", „relation toward enemies", „military cooperation", „extradition of rebels", „commercial regulations", „recognition of royal deputy", „accepting ASSSur as god", „mutual noviolation clause", „Assyrian concessions".
386
Robert Rollinger
Vertragspartner137, die Siegelung verleiht dem Vertrag göttliche Observanz138, Kolophon und Datum bestimmen Zweck, Zeit und Ort der Niederschrift.139 Alle anderen Vertragselemente finden sich auch in den durch die homerischen Epen umschriebenen Verträgen, die nun den assyrischen Texten gegenübergestellt werden sollen.
4.) Die Gegenüberstellung: altorientalische versus homerische ,Vertragspraxis' Versucht man das durch die homerischen Epen und die neuassyrischen Vertragstexte greifbare Material zur Praxis des Vertragsabschlusses miteinander zu vergleichen, so sind zunächst terminologische Unterschiede erkennbar. Während sich in den homerischen Epen eine vergleichsweise bunte terminologische Vielfalt feststellen läßt, um den Vertrag und dessen Abschluß zu bezeichnen140, sind die assyrischen Dokumente diesbezüglich wesentlich präziser. Dies trifft vor allem fur die Bezeichnung des Vertrages selbst zu, der ausschließlich mit dem aramäischen Lehnwort ade charakterisiert wird. Zwar ist auch hier für den Vertragsabschluß eine größere Formulierungsbreite erkennbar, doch findet sich gerade die sonst so typische Wendung des , Vertrag-Schneidens' nicht.141 Wie immer man diese Divergenzen beurteilen mag - es ist denkbar, daß die Vorstellung vom ,Vertrag-Schneiden' speziell vom phönikisch-palästinischen Raum nach Westen ausstrahlte - so sind doch auch terminologische und konnotative Berührungspunkte feststellbar. Dies betrifft die Doppelbedeutung von όρκια und ade, die beide sowohl den Eid als auch den Vertrag an sich bedeuten können, was auf strukturelle Verbindungen hindeuten mag.142 Die assyrischen Verträge geben sich jedenfalls als geschworene Verpflichtungen und Vereinbarungen zu erkennen, die durch die Eidesleistung erst jene Wirksamkeit erlangen, die ihnen Dauerhaftigkeit und Stabilität verleiht.143 Sie sind demnach als geschworene Dokumente, „sworn documents"144, zu betrach137 138 139 140 141
Parpola/Watanabe 1988, X X X V f . Parpola/Watanabe 1988, XXXVI. Siehe dazu unten S. 390. Parpola/Watanabe 1988, XLIII. Vgl. dazu oben S. 376. Vgl. die Übersicht bei Watanabe 1987, 6 - 2 5 . Dabei wird für das Schließen eines Vertrages weniger auf das Bild des .Schneidens' rekurriert, sondern vielmehr jenes des .Setzens eines Vertrages' bemüht {ade sakänu). Auch wenn ersteres in den homerischen Epen zu dominieren scheint (vgl. etwa II 3. 73, 94, 105, 252, 256), so ist doch auch letzteres faßbar: δ ρ κ ι α τ ι θ έ ν α ι (Od 24. 546). Darüber hinaus scheint die den Vertrag umschreibende Formel φ ι λ ό τ η τ α κ α ι δ ρ κ ι α π ι σ τ ά in jener von , die seit den Sargtexten des Mittleren Reiches belegt ist, hatte sich ursprünglich auf die (Unbegrenztheit), (Endlosigkeit) des Nun bezogen, war aber dann sehr rasch zum eigenständigen Begriff (Unendlichkeit) geworden. 129 Es mag noch so unglaublich erscheinen, doch ägyptische Priester hatten bereits an der Wende vom zweiten zum ersten Jahrtausend einerseits die Vorstellung von Urstoffen entwickelt, die sich auf Wasser, Erde, Luft und Feuer beschränkten, und andererseits auch abstraktere Begriffe an den Anfang der Weltentstehung gesetzt wie die Unbegrenztheit und die Leere. Unübersehbar ist dabei die Analogie zu den Vertretern der griechischen Naturphilosophie, die ihrerseits nach der Arche suchten. Bezüglich der Frage, ob die dem Thaies von Milet (ca. 6 2 0 - 5 5 0 ) zugeschriebene oder tatsächlich von ihm vertretene Auffassung, daß das Wasser der Anfang und Urstoff von allem sei 130 , ein Gedanke, der in Bezug auf den Okeanos ja auch in der Ilias 131 zu finden ist,
127
128 129 130
Anlage siehe Arnold 1992, 216 (= unsere Abb. 11).- Erstaunlicherweise wußte Strabo (nat. quaest. 3,12,2), daß „die Ägypter vier Elemente annahmen", und zwar „Luft, ..Wasser, ... Feuer ... und Erde". Leider verrät er uns seine diesbezügliche Quelle nicht. Das gesamte Quellenmaterial zur Kosmologie von Hermopolis findet sich bei Sethe 1929, §§81 ff. zusammengestellt und ausgewertet. Diese vier Paare bilden die von Hermopolis Magna. Der ägyptische Name der Stadt war daher Chemnu, 'Stadt der Acht' Sie beherbergte das Hauptheiligtum für Thot, den Gott der Schreibkunst und der Weisheit, den Götterboten und Seelenführer, weshalb er seitens der Griechen mit Hermes identifiziert wurde. Unter dem Einfluß der thebanischen Priesterschaft wurde dann Niau/Niaut durch Amun/Amaunet, "die Verborgenheit" ersetzt. In anderen Varianten können stattdessen Gereh/Gerehet, (der Mangel), oder Tenemu/Tenemujt, (Das Verschwinden) genannt sein. - In der schon oben (Anm.126) angesprochenen Strabon-Stelle (nat. quaest. 3,12,2) findet sich auch die Kenntnis von dieser ägyptischen Konzeption einer Verdoppelung der Urstoffe in Form männlicher-weiblicher Namenspaare. Quellen bei Sauneron/Yoyotte 1959, 17ff. CT II 118f.; CT V 166h; CT VI 1490; Tb 175, 16. VS 11 A12. 14. 15 (= Mansfeld 1999, 10-12); VS 21 B30 (= Mansfeld 1999, 22). Es ist hier nicht der Ort auf die Ansicht von Fehling 1985, 53ff. und 1994, 71 ff. u. 113ff. einzugehen, daß die Vorstellung von einem Urstoff generell und die vom Wasser im speziellen erst von Aristoteles dem Thaies zugeschrieben wurde, weil die erhaltene diesbezügliche Quellenlage wegen der Tatsache, daß Thaies selbst nichts Schriftliches hinterlassen hat, problembeladen ist und Fehling fur den innergriechischen Raum keine älteren Belege für diese Urstoff-Vorstellung ins Treffen führen kann. Hier geht es darum aufzuzeigen, daß zur Zeit des Thaies sehr wohl Angehörige der griechischen Elite, vorwiegend solcher aus Ionien, auf ägyptischem Boden mit dieser Vorstellung bekannt wurden. Sollte sich die Abhängigkeit der dem Thaies zugeschriebenen und den fur seine unmittelbaren Epigonen bezeugten und für die damalige griechische Welt ganz neuen Erkenntnisse von der damaligen ägyptischen Geistes-
Kontakte zwischen Griechen und Ägyptern
469
autochthon griechisch war, aus dem Orient übernommen oder von Ägypten angeregt war, so besteht längst die einhellige Auffassung, daß dieses Bild nicht griechischen Ursprungs war, sondern seine Anregung dem Vorderen Orient verdanke. 132 Doch in wieweit kann diese Annahme als die einzig mögliche angesehen werden? Im mythischen Denken der führenden sozialen Schicht Mesopotamiens des 1. Jahrtausends, das uns vor allem im babylonischen Schöpfxmgsmythos um die Zentralgestalt des Gottes Marduk greifbar ist, findet sich zwar ebenfalls die Vorstellung von uranfänglichen Wassermassen. Es sind dies die männliche Gestalt des Apsü und die seiner Partnerin Tiamat, welche die ersten Götter zeugten. 133 Da sich bei Thaies aber zusätzlich die Vorstellung findet, „alles sei von Göttern voll" 134 , auch unbeseelte Dinge 135 , so erinnert dieses Bild, das nicht den damaligen Vorstellungen von der Götterwelt in den Kreisen der griechischen Elite entsprach, hingegen sehr wohl an den pantheistischen Allgottglauben in Verbindung mit den zugehörigen Vorstellungen von der Erschaffung der Welt im spätzeitlichen Ägypten. Eine derart spezifisches Gesamtkonzept fehlte jedoch zu dieser Zeit im Vorderen Orient. Weiter muß auffallen, daß sämtliche Dreiecks- und Winkelfunktionen, deren Entdekkung die griechische Überlieferung Thaies zuschreibt 136 , ihre Entsprechungen in den ägyptischen Handbüchern zur Geometrie finden.137 Angesichts der hier schon aufgezeigten engen Beziehungen zwischen den kleinasiatischen Griechen und Ägypten zu jener Zeit, in der Griechen im Gegensatz zur folgenden persischen Ära auch noch Zugang zu Bibliotheken und Heiligtümern hatten, gewinnt die Mitteilung, daß der Milesier die Höhe der Pyramiden aus ihren Schattenlängen selbst errechnet habe 138 , an Wahrscheinlichkeit, es sei denn, man erklärt - nicht zuletzt auch in Unkenntnis der damaligen intensiven Kontakte vornehmlich zwischen Milet und dem Pharaonenhof - sämtliche Angaben über die mathematischen Erkenntnisse des Thaies für spätere anachronistische Zuweisungen. Sein Erklärungsversuch für die Nilschwelle 139 spricht nicht zuletzt gerade wegen seiner sachlichen Unrichtigkeit für eine Entstehung noch in der Frühphase griechisch-ägyptischer Kontakte.
131
weit vermehren lassen, dann wächst die Wahrscheinlichkeit, daß auch die mit der Gestalt des Thaies verbundenen Ideen aus diesem frühen Zeithorizont stammen. II. XIV 200, 245f., 311. In den Versen 201f. (= 301ff.) tritt neben Okeanos auch Tethys auf. Hinter diesem Paar kann man entweder Apsu und Tiamat oder Nun und Naunet vermuten. Daß der Name Tethys auch aus dem Ägyptischen ableitbar ist, soll an anderer Stelle gezeigt werden. Zum Versuch, diesen Namen aus dem Akkadischen abzuleiten, siehe Burkert 1984, 89. - Zur frühen OkeanosVorstellung in der griechischen Literatur siehe auch ausführlich Seligman 1962, 134fif.
132
Dies wird mit gutem Grund aus dem Fehlen einer Verankerung des Okeanos innerhalb der griechischen Mythologie allgemein und in der dortigen Kosmologie im besonderen geschlossen; siehe dazu schon Gisinger 1931, 2308ff., Herter 1931, 2349ff.; Hölscher 1968, 40ff.; Burkert 1984, 88fr.; Burkert 1995, 1 8 3 . - Z u altorientalischen Elementen bei Anaximander siehe Burkert 1995, 183.
133
Enuma elisch, Taf. I 3ff. - Eine neue deutsche Ubersetzung bietet jetzt W.G. Lambert in : T U A T III, 1994, 569ff. Zur Vorstellung vom Apsü siehe Horowitz 1998, 3 3 4 . - 3 4 7 mit Belegstellen. VS 11 A 2 2 (= Mansfeld 1999, 14). VS 11 A 2 2 (= Mansfeld 1999, 16) und V S 11 A 1,86, und Β 7. V S 11 A l u. 2 0 (= Mansfeld 1999, 6 - 9 ) . Dreiecksberechnungen: Pap. Rhind (Pap. BM 10057 u. 10058), Kap. 5 0 - 6 0 (Hyksoszeitliche Abschrift eines Handbuches aus dem Mittleren Reich), ediert von Peet 1925, sowie Chase 1927. VS 11 A l (= Mansfeld 1999, 6). VS 11 A 1 6 (= Mansfeld 1999, 13). Daß diese Erklärung zudem einer im ägyptischen Mythos entspricht, und die Ansetzung des Pleiadenaufganges am 25. Tag nach der Frühlingstagundnachtgleiche
134 135 136 137 138 139
470
Peter W. Haider
So spricht einiges dafür, daß ein Vertreter der ionisch-kleinasiatischen Elite im frühen 6. Jh. seine mathematischen Kenntnisse wie seine pantheistische Weltsicht und wohl auch die Frage nach einem Urstoff, den er im Wasser sah, auf indirektem oder direktem Wege Ägypten verdankte. Neu an seinem Bild war auf jeden Fall die Säkularisierung der Idee vom Urelement. Daß dann der Milesier Anaximander (ca. 610-540), ein Schüler des Thaies, erklärtermaßen nicht Wasser, Feuer oder Luft, sondern just das Apeiron, die (Endlosigkeit), zum „Anfang und Element" wählte, „aus dem alles entstanden" sei 140 , erscheint nun in einem neuen Licht. 141 Die Parallelität zwischen und in Ägypten einerseits und < Wasser) bei Thaies sowie (Endlosigkeit) bei Anaximander andererseits ist dermaßen spezifisch und schlagend, daß hier eine Abhängigkeit kaum noch zu negieren möglich sein wird. Das Abstreifen des theologischen Hintergrundes, das im Rahmen der Adaptierung der ägyptischen Konzeption seitens des Anaximander erfolgte, macht das Spezifikum an diesem Kulturtransfer aus. Wenn dann Anaximenes von Milet (ca. 580-525) ,die Luft' als ,Arche der seienden Dinge' betrachtete 142 , entspricht dieses Element nicht nur dem als eine der entscheidenden Manifestationen des Ur- und Schöpfergottes Amun-Re in der von Mendes. Die Charakterisierung dieses Urstoffes seitens des Milesiers als bewegendes Element, das sich in unterschiedlicher Weise zu Wind, Wolken, Wasser und Erde verdichtet und dadurch den weiteren Prozeß zur Entstehung der Welt auslöst 143 , findet ihre analoge Vorstellung in der Weltentstehung von Hermopolis. Hier war es nämlich ebenfalls Schu, der den Urzustand dadurch veränderte, daß er durch seine zunehmende Bewegung als Wind und Sturm, das Urgewässer aufwühlte und dadurch den in ihm befindlichen Schlamm sich zur ersten festen Landmasse verdichten ließ. 144 Bekanntlich wählte Heraklit von Ephesos (ca. 540/30-590/80) das „immer lebende Feuer" 145 zum Urstoff der Welt. Dieses sah er als „vernunftbegabt" 146 an und glaubte, daß es
(VS 11 A 1 8 ) nur in Ägypten zu beobachten ist, verwies besonders schon Hölscher 1968, 44f., ohne jedoch rezipiert zu werden. 140
141
142 143 144
145
VS 12 A l u. 9. 11. 14-16, B1 (= Mansfeld 1999, 4 - 1 0 . 12. 14. 15). - vgl. dazu auch Kahn 1960, 32f. und 23Iff., noch ausführlicher Seligman 1962, 11 Iff., und Classen 1970, 36ff., jeweils mit Angabe der älteren Literatur. Damit ist der an sich schon mit vielen Problemen behaftete Versuch von Burkert 1963, 112ff. die Apeiron-Vorstellung von der Idee der „anfangslosen Lichter" in den Avestatexten abzuleiten, wohl gegenstandslos geworden. Auch der jüngste Vorschlag von Fehling 1994, 76ff., die ApeironVorstellung dem Anaximander nun überhaupt abzusprechen und sie als eine nach-aristotelische Konzeption zu betrachten, weil sie für die frühe griechische Welt, fur die Fehling 1994, 7 I f f . den Gedanken einer Urstofflehre überhaupt für unwahrscheinlich hält, als zu rational und abstrakt gedacht erscheint, verliert angesichts der ägyptischen Vorlage und des auch sonst nachweisbaren Kulturtransfers geistiger Errungenschaften der Ägypter in die ionische Welt schon um 600/580 an Überzeugungskraft. Daß die Überlieferung der Schrift des Anaximander bis hin zu den Exzerpten bei späteren Doxographen mangels der uns heute noch greifbaren Quellen problembehaftet ist, bleibt unbestritten. V S 13 B2 (= Mansfeld 1999, 2). - Zu Anaximenes siehe jetzt Wöhrle 1993 passim. VS 13 B2 u. 3 und A 5 - 7 (= Mansfeld 1999, 2. 3. 5. 7 - 9 ) . Der Gedanke der Selbstverfestigung (ägyptisch 'tz') findet sich schon in den Sargtexten des Mittleren Reiches: CT I 316a, 318b, 336a. Das weitere einschlägige Quellenmaterial und seine Auswertung bietet Sethe 1929, §§ 151ff., 187ff. VS 22 B30. 31 (= Mansfeld 62. 64; Snell 1995, 14).
Kontakte zwischen Griechen und Ägyptern
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schließlich „kommen" werde, „alles zu richten und zu verdammen". 147 Diese moralischethische Qualität, die Heraklit dem Feuer zuschrieb, zeichnet im besonderen Maße Re aus, dessen Manifestation dem Urstoff bei Heraklit entspricht. Denn am Ende der Weltschöpfung zog sich Re in den Himmel zurück, um von dort aus als „Herr der Zeit" die Geschöpfe zu beobachten sowie über Recht und Unrecht zu wachen. 148 So wie sich beim täglichen Sonnenaufgang die Schöpfung wiederholt, so richtet Re auf seiner nächtlichen Fahrt durch die Unterwelt die dort auf ihn wartenden Verstorbenen. 149 So stehen hinter Heraklits Bild vom Feuer als Urstoff nicht allein das Bild vom , sondern auch noch wesentliche Eigenschaften des Gottes Re selbst. Doch wie schon seine Vorgänger so entkleidete auch der Ephesier die ägyptischen Vorbilder ihrer religiösen Dimensionen und profanisierte sie. Da es sich nun so deutlich gezeigt hat, wie sehr die Nachfolger des Thaies unter den ionischen Naturphilosophen in ihrer Gedankenwelt von den ägyptischen Konzeptionen in Mendes und Hermopolis beeinflußt waren, ist es ebenso wahrscheinlich, daß auch die mit der Person des Thaies verknüpften Vorstellungen und Erkenntnisse aus dem damaligen ägyptischen Geistes- und Wissesgut adaptiert worden waren.
Zusammenfassung Das bisher vorliegende epigraphische wie archäologische Quellenmaterial bezeugt, daß Angehörige der griechischen wie karischen Eliten seit der Regierungszeit Psammetichs 1. in die ägyptische Gesellschaft integriert wurden und im Pharaonenstaat auch eine militärische wie zivile Karriere machten, sofern sie sich im entsprechenden Ausmaß akkulturiert hatten. Gar nicht so selten scheinen auch schon in der ersten Generation eheliche Verbindungen mit der einheimischen Bevölkerung eingegangen worden zu sein, die den Prozeß der Ägyptisierung und Integration besonders begünstigten und beschleunigten. Kinder aus diesen Ehen, die in der Regel an ihren ägyptischen Namen zu erkennen sind, machten sich die bodenständigen Glaubensvorstellungen sowie die daraus resultierenden Bestattungsformen und -riten zu eigen. Der letztgenannte Umstand stieß in den Kreisen der ägyptischen Oberschicht des 6. Jahrhunderts auch auf Ablehnung, was auf eine relativ hohe Anzahl und einen entsprechenden Einfluß der im Lande lebenden ägyptisierten Griechen und Karer hinweist. Handel und diplomatische Beziehungen hielten den Kontakt zwischen den Griechen im Pharaonenreich und ihrer Heimat aufrecht. Schon der Import von ägyptischen Amuletten und Miniaturgefäßen, welche bereits im 7. Jahrhundert auf Grund der starken Nachfrage im griechischen Mutterland zur Herstellung von Imitationen auf Rhodos(?) geführt hat, zeigt, daß zu den frühesten Auswirkungen dieses Kulturkontaktes neben wirtschaftlichen auch solche auf religiösem Gebiet gehörten. Noch deutlicher tritt dieser Einfluß in den Weihun146 147 148 149
VS 22 B64a (= Mansfeld 1999, 69; Snell 1995, 22). VS 22 B66 (= Mansfeld 1999, 74; Snell 1995, 22). Quellenbelege bei Assmann 1975, 60ff. und 1979, 31 sowie 1983, 227f, 231 f. Gott Re wurde dabei mit Osiris gleichgesetzt, siehe Morenz 1960, 174ff.; Assmann 1983, 234ff. mit Quellenangaben.
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gen originaler ägyptischer Götterbilder speziell im Heraion auf Samos, aber auch in dem von Perachora und Argos, sowie in den Heiligtümern der Artemis von Ephesos und der Athena von Lindos hervor. Nicht zu übersehen ist dabei eine von den weihenden Griechen wohl gezielt vorgenommene Auswahl der gestifteten Objekte, die sich nur mit Hilfe ägyptischer Vorstellungen sinnvoll erklären läßt. So wurden einerseits Hera bzw. Athena mit den bedeutendsten und mächtigsten ägyptischen Göttinnen wie Mut, Hathor und Neith verbunden, andererseits übernahmen ägyptisierte Griechen Elemente der Jenseitshoffnungen der Bevölkerung im Land am Nil. Beides trug zu einer Erweiterung der traditionellen griechischen Glaubensvorstellungen zumindest innerhalb der elitären Schicht bei. Ein weiteres Phänomen dieser Entwicklung manifestierte sich in den Weihungen originaler ägyptischer Steinplastiken in Ionien und auf Rhodos. Sie stellen den Stifter selbst dar und tragen in ägyptischer Manier zudem eine - allerdings in Griechisch verfaßte - Inschrift. Deutlich tritt in diesen Objekten ein individuelles, in ägyptischen Diensten gewonnenes Selbstbewußtsein und -wertgefuhl zu Tage, das der Weihende damit öffentlich kundtat. Gleichzeitig und aus derselben Motivation heraus setzt in der ägäischen Welt ab ca. 650 ohne bodenständig-griechische Vorläufer und sichtlich in Nachahmung ägyptischer Vorbilder die Anfertigung eigener steinerner Großplastiken ein, welche in kürzester Zeit monumentale Ausmaße annehmen. Unübersehbar an den Kuroi ist die Zielstrebigkeit, mit der man bis ins frühe 6. Jahrhundert die ägyptischen Vorbilder immer getreuer zu kopieren bemüht war, bis dies dann um 580 einem Meister auf Samos in optimaler Weise gelang, der dabei sogar die ägyptische Königselle als Grundmaß einführte. Mit diesen Kuroi hatten sich Vertreter der ägyptisierten griechischen Elite, welche ja die Auftraggeber derartiger, nicht selten beschrifteter Plastiken waren, selbst ein Denkmal gesetzt. Die übermenschliche Größe ihrer idealisierten Standbilder sollte die überragende Arete, ihr Prestige, ihre wirtschaftliche Potenz und ihren Machtanspruch im wahrsten Sinne des Wortes unübersehbar und zudem auf Dauer fur die Nachwelt zum Ausdruck bringen. Aufgestellt wurden diese Kuroi - genauso wie ihre Vorbilder - entweder als Weihungen in einem Heiligtum oder als Grabstatuen auf Friedhöfen. Auf den Einfluß der ägyptischen Monumentalplastik folgte dann um 570 die Adaptierung des monumentalen steinernen Tempelbaues, speziell des ägyptischen Umgangstempels. Damit wurde in der griechischen Architektur, was Material und Dimensionen anbelangt, geradezu ein Quantensprung vollzogen. Es waren wohl der Architekt Rhoikos und der Künstler Theodoros, welche diesen revolutionären Schritt im Heraion von Samos vollzogen. Rund zwanzig Jahre später folgte das Artemision von Ephesos mit noch etwas weiter gesteigerten Dimensionen und noch reichhaltigeren Dekorationselementen. Blieben diese Bauten in ihrer stilistischen Ausführung zwar den traditionellen ionischen Wurzeln treu, so brachten sie aber in dem absichtlich größeren Abstand zwischen Cellatür und Götterbild, und damit zwischen dem Gläubigen und der Gottheit, doch wohl auch eine neue transzendentere Gottesvorstellung zum Ausdruck. Im konkreten Fall bezog sich diese gesteigerte Distanz zum Göttlichen zuerst auf Hera und Artemis, später schloß dieser Prozeß dann bekanntlich alle olympischen Götter mit ein. Der ägyptische Einfluß auf die geistige Welt des archaischen Griechenland läßt sich auch in Bezug auf die Seelenvorstellung und den Glauben an die Wiederbelebung des Leibes im Rahmen jener Jenseitshoffnungen fassen, welche mit der Gestalt des Osiris verbunden waren. Diese ägyptische Unterweltsgottheit setzten die Griechen mit ihrem Dionysos
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gleich. Aus den zugehörigen Unterweltsbüchern übernahmen die frühen Orphiker das für die griechische Welt so ungewöhnliche Bild vom „windbefruchteten" Welt-Ei, welches ursprünglich aus der Kosmologie von Hermopolis Magna stammt. Selbst die ältesten griechischen Naturphilosophen schöpften aus dem ägyptischen Geistesgut. Denn bei ihnen erfuhr der Gedanke von den vier materiellen Manifestationen des ägyptischen Ur-, Schöpfer- und Allgottes in den Formen Wasser, Erde, Luft und Licht/Feuer seine Säkularisierung und Reduzierung auf einen einzigen dieser Urstoffe. Sogar der abstrakte Begriff des Apeiron, den Anaximander gegen seinen Lehrer Thaies als Ur- und Grundstoff der Welt propagierte, fand sich neben anderen abstrakten Begriffen in der Weltentstehungslehre von Hermopolis, welche bereits im frühen zweiten Jahrtausend v.Chr. konzipiert worden war. Insgesamt hat die Analyse wohl gezeigt, von welch vielfältiger, weitreichender und daher eminenter Bedeutung der Kontakt zu Ägypten für den Entstehungsprozeß der archaischgriechischen Gesellschaft und ihrer Kultur war. Die entscheidende Voraussetzung für das Ausmaß einer derartigen Folgewirkung stellte zweifellos die Integration und Akkulturation von Vertretern der griechischen Eliten innerhalb des Pharaonenreiches der 26. Dynastie dar.
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Kontakte zwischen Griechen und Ägyptern
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Abb. 1: Literarische und/oder archäologische Zeugnisse f ü r die Anwesenheit von Griechen in Ägypten zwischen ca.650 und 520 v. Chr. •
Festung, Militärkolonie
•
Handels- (und Militär-?) Kolonie
Ο
Nekropole
Δ
Import einzelner Gefäße
1 Rakedet/Rhakotis, 2 Milesiermauer, 3 K o m Firin, 4 K o m el-Bakar, 5 K o m Kortas, 6 Naukratis, 7 Sais, 8 Mendes, 9 Daphnai/Tahpanhes, Migdol/ Teil el-Heir, 11 Teil el-Maschuta, 12 Bubastis, 13 Athribis, 14 Heliopolis, 15 Memphis mit den Nekropolen in Abusir und Sakkara, 16 Fayum, 17 Theben-West, 18 Karnak und Luksor, 19 Edfu, 20 Elephantine.
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482 Psammetich II.
Griechische Leibwache Anaxor von Ialysos
Hör „Admiral der kgl. Kampfschiff-Flotte
Padisemataui/
Ahmose/Amasis
Potasimto
„General der Soldaten''
„General der Ausländer" u.
im Mittelmeer", „Be-
(Ägypter)
„General der Griechen"
fehlshaber der Ausländer und der Griechen"
Psamtek-ewi-Neith(L)
Bakenrenf
NN
„General"
„Oberster der Truppen
(Kommandant
der Karer
der Griechen"
der Asiaten)
I Psammetichos, Sohn des Theokies
Archon,
Pelekos,
Sohn des Amoibichos
Sohn des Eudamos
I Helesibios
Telephos
Python,
aus Teos
aus Jalysos
Sohn des
[...]
I
I
Ch[...]
Pambis aus Kolophon
Amoibichos Abb. 2: Kommandostruktur während des Nubienfeldzuges Psammetichs II. im Jahre 592-591 v. Chr.
Kontakte zwischen Griechen und Ägyptern
Γ Ε
k
A ^ ^ A ^ ö B K f e
V v o t ' ^ ^ ^ ^ B T I x o
fi 5 k ΠΗΔΩΜΜΑΝΕΘΗΚΕ ΝΩΜΦΙΝΝΕΩ:ΕΞΑΙΓ ΥΠΤΩΓΑΓΩΝ:ς>ΩΙΒΑ ΣΙΛΕΥΣΕΔΩςΩΙΓΎΠ ΤΙΟΣ:ΨΑΜΜΗΤΙΧΟ Σ:ΑΡΙΣΤΗΙΙΑΨΙΛΙΟ ΝΤΕΧΡΥΣΕΟΓΚΑΙ ΠΟΛΙΝΑΡΕΤΗΣΕ ΝΕΚΑ
2 4 6 8
Λ
Πήδωμ μ ' άνέθηκεν ώμφίννεω : έξ Αίγγύπτώγαγών : ς ά ι βασιλεύς ίίδως' ώιγύπτιος : Ψαμμήτιχος : άριστήϊια ψίλιον τε χρύσεογ καΐ πόλιν αρετής ενεκα.
Abb. 3: Würfelhocker des Ioners Pedon mit biographischer Weihinschrift (ca. 630/610 v. Chr.).
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486
h a
-β c
ca
ο
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5 * Ό U Έ U. C
ξ 3 Μ = ΰ
D.
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•Μ δ V S
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