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English Pages 348 [345] Year 2005
VM 13
VITA MATHEMATICA
Hans-Joachim Petsche
Graßmann
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Ä
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Vita Mathematica Band 13 Herausgegeben von Emil A. Fellmann
Graßmann von Hans-Joachim Petsche
Birkhäuser Verlag Basel · Boston · Berlin
Autor Prof. Dr. Hans-Joachim Petsche Hessestrasse 18 D-14469 Potsdam
Bibliografische IInformation der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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ISBN 3-7643-7257-5 Birkhäuser Verlag, Basel – Boston – Berlin
© 2006 Birkhäuser Verlag, P.O.Box 133, CH-4010 Basel, Switzerland Part of Springer Science+Business Media Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF Umschlagsabbildung: Hermann Günther Graßmann, Photographie aus dem Jahre 1874 Satz: HD Ecker TeXtservices, Bonn Printed in Germany ISBN-10: 3-7643-7257-5 ISBN-13: 978-7643-7257-6
987654321
e-ISBN: 3-7643-7541-8
Für Horst Obermann
Inhalt
Danksagung ..............................................................
IX
Vorwort ...................................................................
XI
Einleitung ................................................................
XV
Graßmanns Leben .................................................. Zeitverhältnisse .................................................... Familientraditionen und Elternhaus ............................. Jugend- und Universitätsjahre.................................... Durchgangspunkte auf dem Weg zur eigenständigen mathematischen Leistung (1830–1840) .......................... Mathematische Produktivität und erstes Ringen um Anerkennung (1840–1848) ........................................ Revolution in Deutschland (1848) ............................... Erneuter Kampf um mathematische Anerkennung ............ Abwendung von der Mathematik, sprachwissenschaftliche Erfolge und späte mathematische Anerkennung................
1 1 9 16
1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8
29 39 53 67 90
Anmerkungen zum 1. Kapitel .........................................
103
2 Anreger des Schöpfertums Graßmanns ........................... 2.1 Der Vater Justus Graßmann – Wegbereiter der mathematischen und philosophischen Auffassungen seines Sohnes............................................................... 2.2 Zusammenarbeit mit dem Bruder Robert Graßmann (1815–1901)......................................................... 2.3 Der Philosoph Friedrich Schleiermacher – Sein Wirken und Grundgedanken aus den Vorlesungen zur Dialektik ...........
113
Anmerkungen zum 2. Kapitel ......................................... Die Beiträge Hermann Günther Graßmanns zur Entwicklung der Mathematik und ihre mathematikgeschichtliche Einordnung.......................................................... 3.1 Zu einigen Grundzügen der Entwicklung der Geometrie vom 17. bis zum 19. Jahrhundert.......................................
113 130 145 174
3
181 182
VIII
Inhalt
3.2 Die Prüfungsschrift Graßmanns zur Theorie der Ebbe und Flut .................................................................. 3.3 Die Ausdehnungslehre von 1844 und die Graßmannsche Theorie der algebraischen Kurven ............................... 3.4 Die Preisschrift zur geometrischen Analyse (1847)............. 3.5 Die Ausdehnungslehre von 1862 ................................. 3.6 Bearbeitung der Grundlagen der Arithmetik (1861) ........... 3.7 Das Eingreifen der Ideen Graßmanns in die Entwicklung der Mathematik......................................................... Anmerkungen zum 3. Kapitel ......................................... 4
4.1 4.2 4.3
4.4
4.5 4.6
Genesis und Gehalt der philosophischen Auffassungen Hermann Günther Graßmanns in der Ausdehnungslehre von 1844 ................................................................. Die Genesis der Grundideen der Ausdehnungslehre ........... Die philosophischen Grundprinzipien Hermann Graßmanns bei der Bestimmung des Wesens der Mathematik .............. Die Auffassungen Hermann Graßmanns zur Neustrukturierung der Mathematik und zur Standortbestimmung der Ausdehnungslehre.................... Die Auffassungen Hermann Graßmanns vom Wesen der mathematischen Methode und ihrem Verhältnis zur philosophischen .................................................... Die Graßmannsche Ausdehnungslehre und die Schleiermachersche Dialektik .................................... Schlußbemerkung..................................................
187 192 213 217 219 227 235
243 244 250
259
266 269 274
Anmerkungen zum 4. Kapitel .........................................
275
Chronologie zum Leben Hermann Graßmanns........................
281
Abkürzungen .............................................................
287
Literatur..................................................................
289
Quellenverzeichnis der Abbildungen....................................
313
Personenregister .........................................................
315
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich zunächst Herrn Dr. Steve Russ vom Department of Computer Science der Universität Warwick danken, dem ich im April 2003 auf einem Workshop zu „Knowledge Management and Philosophy“ in Luzern begegnet bin und der mich bei einem Besuch in Potsdam drängte, mich noch einmal Graßmann zuzuwenden. Er gab mir den letztlich entscheidenden Impuls, dieses Buch in Angriff zu nehmen. Ferner gilt mein Dank Herrn Dr. Thomas Hempfling, der als Lektor des Birkhäuser Verlages meinen ersten Manuskriptentwurf so freundlich und aufgeschlossen aufnahm und mich ermutigte, weiter daran zu arbeiten. Ganz wesentlich habe ich Herrn Dr. Stefan Göller, dem Lektor des Birkhäuser Verlages zu danken, der mich betreute und den Forschritt meiner Arbeit konstruktiv und hilfreich begleitete. Auch Herr Prof. Dr. Peter Schreiber sei an dieser Stelle erwähnt, der mir wertvolle Hinweise zum Manuskriptentwurf gab. Letztlich sei den zahlreichen Helfern in Bibliotheken und Archiven gedankt, die mich bei meinen Nachforschungen durchweg schnell, freundlich und sachkundig unterstützten.
Vorwort
In seinem 1827 erschienenen „Allgemeinen Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften“ vermerkt Wilhelm Traugott Krug unter den Stichwörtern „Mathematik“ und „Mathematisch“: „Mathematik . . . [hat] es nur mit der in Zeit und Raum anschaulichen und daher in Zahlen und Figuren darstellbaren oder zählbaren und messbaren Größe zu thun . . . Der Philosoph soll also wohl sich mit der Mathematik und der Mathematiker mit der Philosophie befreunden, so innig als es Talent, Neigung, Zeit und Umstände nur immer gestatten mögen. Aber man soll nicht wieder vermischen und vermengen, was die fortschreitende wissenschaftliche Bildung aus guten Gründen geschieden hat. . . . eine mathematische Philosophie und eine philosophische Mathematik – in dem Mischsinne, wie man es gewöhnlich nimmt – ist ein wissenschaftliches oder vielmehr unwissenschaftliches Monstrum, und kann dem menschlichen Geiste, der zur wahren Selbstverständigung gelangt ist, ebensowenig gefallen, als ein aus Mann und Weib gemischter Menschenkörper.“1 Ungeachtet dessen veröffentlichte 1844 der 35jährige Gymnasiallehrer aus Stettin Hermann G. Graßmann2 eine mathematische Arbeit, deren Darstellungsweise, wie er später selbst vermerkt, „gewiss den mehr philosophisch gebildeten Lesern mehr zusagen wird“3 und die zudem mit dem Anspruch auftrat, eine Wissenschaft zu begründen, „welche die sinnlichen Anschauungen der Geometrie zu allgemeinen, logischen Begriffen erweitert und vergeistigt, und welche an abstrakter Allgemeinheit es nicht nur mit jedem andern Zweige, wie der Algebra, Kombinationslehre, Funktionenlehre, aufnimmt, sondern sie durch Vereinigung aller in diesen Zweigen zu Grunde liegenden Elemente noch weit überbietet, und so gewissermassen den Schlussstein des gesammten Gebäudes der Mathematik bildet.“4 Der in der Fachwelt bis dahin völlig unbekannte mathematische Debütant unterließ es nicht, sein Werk – es handelte sich um „Die lineale Ausdehnungslehre, ein neuer Zweig der Mathematik“ (1844) – den bedeutendsten Mathematikern seiner Zeit „zur gefälligen Beachtung“ zu übersenden. Deren Einschätzung war indes für Graßmann niederschmetternd und lag völlig im Rahmen der eingangs umrissenen Kantschen Auffassungen vom Wesen der Mathematik. August Ferdinand Möbius, der deutsche Mathematiker, dessen Ideen sich am engsten mit denen
XII
Vorwort
Graßmanns berührten, bemerkte in einem Brief an Apelt, daß er mehrfach angesetzt habe, Graßmanns Werk zu studieren, „. . . niemals aber weit über die ersten Blätter hinausgekommen [sei] . . ., da es . . . sich zu sehr von aller Anschaulichkeit, dem wesentlichen Charakter der mathematischen Erkenntnis, fern hält.“5 In einem Brief an Gauß spricht er ferner von Graßmanns „Abschweifungen vom mathematischen Grund und Boden“6 . Johann August Grunert schrieb an Graßmann: „Gewünscht hätte ich auch, daß Sie sich weniger in philosophische Reflexionen eingelassen . . . hätten.“7 Der mit Möbius befreundete Ernst Friedrich Apelt vermerkt zu „Graßmanns wunderliche[r] Ausdehnungslehre“: „. . . mir scheint eine falsche Philosophie der Mathematik zu Grunde zu liegen. . . . So eine abstrakte Ausdehnungslehre, wie er sucht, könnte sich nur aus Begriffen entwickeln lassen. Aber die Quelle der mathematischen Erkenntnis liegt nicht in Begriffen sondern in der Anschauung.“8 Letztlich konstatiert Richard Baltzer zur Ausdehnungslehre: „. . . mir schwindelt der Kopf und wird himmelblau vor den Augen, wenn ich drin lese.“9 So kommt es zu dem, was Moritz Cantor mit dem lapidaren Satz umreißt: „Das Buch erschien 1844 bei O. Wigand in Leipzig, fand nicht einmal einen Rezensenten, noch weniger einen Käufer und wurde in fast vollständiger Auflage eingestampft!“10 Ein halbes Jahrhundert später ist Graßmanns mathematische Leistung unumstritten. Von 1894 bis 1911 erscheint auf Veranlassung Felix Kleins die sechs Teilbände umfassende Sammlung seiner mathematischen und physikalischen Schriften11 . Dank des Wirkens von Mathematikern wie Hermann Hankel, Alfred Clebsch, Felix Klein, Friedrich Engel u. a. erfahren die Verdienste Graßmanns um die Begründung der Vektor- und Tensorrechnung, um die Entwicklung der n-dimensionalen affinen und projektiven Geometrie sowie, um nur einiges zu nennen, um die Begründung der Arithmetik, ihre retrospektive Würdigung. Graßmann ist in der mathematischen Fachwelt bekannt, sein mathematisches Hauptwerk jedoch noch immer fast unbekannt, denn, obwohl „sich eine gewisse Hochachtung vor dem Stettiner Mathematiker allmählich auch in weiteren Kreisen verbreitet“, wie F. Engel 1911 bemerkt, ist „. . . nicht zu leugnen . . ., daß sich diese Hochachtung selbst heute noch bei gar vielen nicht auf eigene Kenntnis der Graßmannschen Schriften gründet, sondern mehr auf Hörensagen.“12 Unter der Vielzahl der Gründe, die sich für das fast ein viertel Jahrhundert währende Ignorieren der 1844er „Ausdehnungslehre“ Graßmanns anführen lassen, kommt der Ablehnung ihres philosophischen Gehaltes und ihrer philosophischen Darstellungsweise offensichtlich eine hervorragende Bedeutung zu. Wie sich indes zeigen läßt, wird eine derartige philosophiefeindliche Haltung der „Ausdehnungslehre“ keineswegs gerecht. Eine eingehende Analyse bringt zutage, daß es u. a. gerade dieses philosophische, oder präziser, dieses dialektische
Vorwort
XIII
Herangehen Graßmanns an mathematische Probleme war, das ihm zur Schöpfung und relativ umfassenden Ausgestaltung einer neuen mathematischen Disziplin, der Vektor- und Tensorrechnung, befähigte. Ja, diese Feststellung läßt sich noch erweitern: Graßmann war in der Lage, eine neuartige vektoralgebraische Theorie des n-Dimensionalen aufzubauen, weil er auf der Höhe des philosophischen Denkens seiner Zeit stand, weil er die von den Ideologen der aufstrebenden deutschen Bürgertums entwickelte Dialektik als Erkenntnis- und Darstellungsmethode bewußt anzuwenden trachtete! Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch einer kritischen Würdigung des Lebens und des Werkes Hermann Graßmanns (1809–1877) dar. Hermann Graßmann ist heute, obwohl er als Begründer der Vektorrechnung in die Mathematikgeschichte Eingang fand, ein weitgehend unbekannter Mathematiker. Sein hundertster Todestag im Jahre 1977 verstrich weitgehend unbemerkt, eine Konferenz aus Anlaß des 150. Jahrestages des Erscheinens der „Linealen Ausdehnungslehre“ im Mai 1994 auf Rügen war einer der letzten markanten Versuche, ihn des Vergessens zu entreißen. Das neunzehnte Jahrhundert, der Zeitraum also, in dem Graßmann sein Schöpfertum entfaltete, harrt mathematikgeschichtlich noch immer weitgehend einer Aufarbeitung. Die Analyse der geschichtlichen Wechselwirkung von Philosophie und Mathematik steht fast vollständig aus.13 Grund genug also, sich Graßmann eingehender zuzuwenden.
Einleitung
Mit Hermann Graßmann, dessen zweihundertster Geburtstag ins Haus steht, tritt uns eine der außergewöhnlichsten Forscherpersönlichkeiten des 19. Jh. entgegen. Die Umstände, unter denen er seine wissenschaftlichen Leistungen vollbrachte, sind nicht minder beeindruckend als die erzielten Forschungsergebnisse selbst. Graßmann, der ursprünglich Theologe werden wollte und auf mathematischem und naturwissenschaftlichem Gebiet weitgehend Autodidakt war, wandte sich erst in einem Alter von über 30 Jahren der wissenschaftlichen Forschung zu. Mit Ausnahme seines dreijährigen Berliner Studiums blieb er Zeit seines Lebens seiner Geburtsstadt Stettin verhaftet, als Gymnasiallehrer fast ohne Kontakt zu den führenden Naturwissenschaftlern und Mathematikern seiner Zeit und fernab von den Zentren wissenschaftlicher Forschung. Seine Hausbibliothek umfaßte nur wenige wissenschaftliche Werke. – Aber welche Fülle wissenschaftlicher Leistungen stand dem gegenüber! In die Geschichte ging Graßmann ein durch Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektrizitätslehre, der Farbenlehre und der Vokaltheorie. Gleichzeitig gehört er zu den Pionieren der vergleichenden Sprachtheorie und der Vedaforschung. Sein Wörterbuch des Rig-Veda, der Sammlung vorbuddhistischer Götterhymnen Indiens (12.–6. Jh. v. u. Z.), erlebte 1996 eine sechste Nachauflage14 . Vor allem jedoch machte sich Graßmann auf dem Gebiet der Mathematik verdient. Mit seinen beiden „Ausdehnungslehren“ (A1, A2) aus den Jahren 1844 und 1862 sowie seinem „Lehrbuch der Arithmetik“ (LA) aus dem Jahre 1861 gehört er, unabhängig von dem englischen Mathematiker W. R. Hamilton, zu den Begründern der Vektor- und Tensorrechnung, war er, ein Jahrzehnt vor B. Riemann, der erste Mathematiker, der durch Verallgemeinerung der gewöhnlichen dreidimensionalen Geometrie eine Theorie der n-dimensionalen Mannigfaltigkeiten schuf. Obwohl seinen mathematischen Ergebnissen fast 30 Jahre die offizielle Anerkennung versagt blieb, übten sie noch einen nachhaltigen wissenschaftlichen Einfluß aus auf Mathematiker wie Felix Klein, Giuseppe Peano, Alfred North Whitehead, Élie Cartan, Hermann Hankel, Walther von Dyck, Josiah Willard Gibbs . . . um nur einige anzuführen. Schon aus diesen wenigen Fakten wird erkennbar, daß die wissenschaftlichen Leistungen Graßmanns ein vorzüglicher Gegenstand wissenschaftshistorischer Analyse sein sollten.
XVI
Einleitung
Nun muß indes vermerkt werden, daß die vorliegende Schrift nicht die erste Arbeit über Leben und Wirken Graßmanns ist. Bereits ein Jahr nach Graßmanns Tod, 1878, erschien eine Biographie von Victor Schlegel (1878) und 1911, anläßlich der Herausgabe der sechs Teile umfassenden gesammelten Werke Graßmanns, veröffentlichte Friedrich Engel eine umfangreiche Biographie (BIO). Die genannten Schriften sind als Fundgrube größtenteils verloren gegangener Dokumente über das Leben Graßmanns von unschätzbarem Wert – als wissenschaftliche Beiträge zur Klarstellung von Platz und Bedeutung Graßmanns in der Geschichte der Wissenschaft weisen sie jedoch eine Reihe von Unzulänglichkeiten auf. Wenn, um nur ein Beispiel anzuführen, Schlegel behauptet, Graßmanns mathematische Ideen seien „außer allem Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft“15 aufgetaucht, so drückt sich darin eine überaus vereinseitigende Sicht auf die Mathematikgeschichte aus, der man nur zugute halten kann, daß sie vermutlich die Bedeutung und die wissenschaftliche Leistung Graßmanns zusätzlich erhöhen sollte. Die in anderen Schriften Schlegels und Engels hervortretenden Einseitigkeiten hinsichtlich einer philosophischen Verortung der Mathematik schlagen sich auch in den genannten Biographien nieder. Ist die Biographie Schlegels von überschwenglichen Wertungen getragen, denen sich ein objektiver Blick auf den Platz Graßmanns in der Mathematikgeschichte verschließt, so finden wir in der Biographie Engels eine minutiöse Schilderung des Graßmannschen Wirkens, die sich jeglicher Wertungen enthält. Im Gegensatz dazu verfolgt die vorliegende Arbeit das wissenschaftshistorische Ziel herauszufinden, ob – und wenn ja, in welchem Umfang und in welcher Hinsicht – die individuell erzielten wissenschaftlichen Glanzleistungen Graßmanns, die genialisch singulär erscheinen, gleichwohl eine gesellschaftliche Determination der Mathematik zum Ausdruck bringen. Bei einem derartigen Versuch muß man sich jedoch davor hüten, eine gradlinige und unvermittelte Einwirkung der ideologischen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse auf die Wissenschaft zu suchen, eine, wie selbst Friedrich Engels meinte, „absurde“ Auffassung, die „die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode ja leichter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades . . .“16 erscheinen ließe. Orientierungspunkt soll vielmehr der Standpunkt von S. R. Mikulinskij sein, den er auf dem 15. Internationalen Kongreß für Geschichte der Naturwissenschaft und Technik im August 1977 in Edinburgh formulierte: „Der Weg zur Aufdeckung der Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten der Wissenschaftsentwicklung [besteht] im Erkennen der Wechselwirkung des gegenständlichen Inhalts der Wissenschaft, der
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sozialökonomischen und kulturhistorischen Bedingungen sowie der Persönlichkeitsfaktoren, wobei die sozialhistorische Praxis diese Wechselwirkung entscheidend beeinflußt [Übers. – H.-J. P.].“17 Unter Berücksichtigung dieser Grundstrategie zur Aufdeckung des konkreten Mechanismus der Entstehung neuen wissenschaftlichen Wissens ergibt sich, wie in der vorliegenden Schrift gezeigt wird, für die Determination des mathematischen Schaffens Graßmanns folgendes Bild: Entstehung, Struktur und Charakter des mathematischen Hauptwerkes Hermann Graßmanns, der Ausdehnungslehre von 1844, sind mindestens von sieben wesentlichen, historisch belegbaren Faktorengruppen geprägt. Erstens läßt sich hier auf die Familientraditionen verweisen. Graßmann stammte aus einer alteingesessenen pommerschen Pastorenfamilie mit ausgeprägten innerfamiliären Bindungen. Unter dem Einfluß des Pietismus und der Aufklärung, den der Großvater Hermann Graßmanns während seines Hallenser Theologiestudiums erfuhr, setzte jener schrittweise und widerspruchsvolle Prozeß der Abwendung von der Religion und der Zuwendung zur Wissenschaft ein, der, sich von Generation zu Generation verstärkend, mit den Söhnen Hermann Graßmanns – alle hatten sie ein naturwissenschaftliches bzw. technisches Studium absolviert – seinen relativen Abschluß fand. Im Pietismus und in der Aufklärung begann sich das deutsche Bürgertum auf seine eigenen praktischen und geistigen Fähigkeiten zu besinnen. Die familiäre Aufbewahrung und Weitergabe dieser wissenschaftsbejahenden Denkhaltung wurde unter den rückständigen Verhältnissen Pommerns zu einem Fundament, welches Hermann Graßmann überhaupt erst ermöglichte, sich von der Theologie ab- und der Mathematik zuzuwenden. Zweitens muß auf den Einfluß verwiesen werden, den Justus Graßmann, der Vater Hermann Graßmanns, auf seinen Sohn ausübte. Wie wohl selten in der Geschichte der Wissenschaften befruchteten die Ideen, Anschauungen und die Denkhaltung des Vaters das wissenschaftliche Schöpfertum des Sohnes. Justus Graßmann wiederum, der durch eigene wissenschaftliche Leistungen kaum hervortrat, zeichnete sich durch eine gediegene, an Leibniz, Kant und die romantische Naturphilosophie anknüpfende philosophische Bildung aus. Als Anhänger der Pädagogik Pestalozzis griff er Ansätze des Pestalozzischülers J. Schmid (1809) zur Entwicklung einer Elementar- und Volksschulmathematik auf. Aus der Synthese der hier vorgefundenen Geometrieansichten mit der Leibnizschen Kombinatorik, dem Kantschen Mathematikverständnis, den dialektischen Positionen der klassischen deutschen bürgerlichen Philosophie und der Romantik erwuchs jenes Gedankengebäude, dessen geniale Realisierung die Ausdehnungslehre Hermann Graßmanns ist. Den komplexen Charakter der
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Einleitung
Verwobenheit der Ideen Hermann Graßmanns mit denen seines Vaters darzustellen, wird ein Schwerpunkt dieser Schrift sein. Als ein dritter Bedingungskomplex, der Charakter und Entstehung der Graßmannschen Ausdehnungslehre beeinflußte, muß das soziale und kulturelle Klima seiner Heimat- und Wirkungsstadt Stettin gesehen werden. Im Gefolge der Befreiungskriege 1813/14 kam es in Stettin zu einer ausgesprochen kleinbürgerlich-provinziellen Blüte, die erst Mitte der 50er Jahre unter dem Einfluß der 1843 vollendeten Eisenbahnverbindung nach Berlin sowie der bürgerlichen Revolution von 1848 langsam endete. In diesen vier Jahrzehnten lebten in den Mauern Stettins Romantik, Religion und Deutschtümelei auf, regte sich ein kleinbürgerlicher Bildungseifer, erhielt die Freimaurerloge Stettins einen nie gekannten Zulauf. Am Stettiner Gymnasium, dem wissenschaftlich-kulturellen Zentrum der Stadt, war ein Kollegium von Professoren vereint, das teils wissenschaftlich-genial, teils lokal-borniert, keine wissenschaftliche Autorität anerkannte, die nicht den Maßstäben des eigenen Denkens standhielt, ein Kollegium, das in dem breiten Spektrum verschiedener Auffassungen nur durch die romantische Grundhaltung geeint war. Dieses die individuelle geistige Schöpferkraft bejahende Mikroklima bildete den Nährboden, auf dem das Zutrauen Graßmanns in die eigenen Fähigkeiten zu einer totalen Umarbeitung der gesamten Mathematik, beginnend mit der Begründung eines vollständig neuen mathematischen Zweiges, der Ausdehnungslehre, erwuchs. Andererseits ist es die gleiche kleinbürgerliche Atmosphäre, unter deren Einfluß der Bruder Hermann Graßmanns, Robert Graßmann, ein groteskes, 10-bändiges „Gebäude des Wissens“ (1882–90) verfaßte, das die Gesamtheit der menschlichen Erkenntnis in völlig neuer, angeblich erstmals „wissenschaftlicher“ Weise darstellen sollte und verständlicherweise an diesem Anspruch vollständig scheiterte. Auf dem schmalen Grat zwischen Provinzialismus und Deutschtümelei einerseits und wissenschaftlicher Schöpferkraft und Genialität andererseits sich bewegend, bringt somit die Graßmannsche Ausdehnungslehre die Zwiespältigkeit des Graßmann umgebenden geistigen Milieus zum Ausdruck. Viertens ist auf den Einfluß des Bruders, Robert Graßmann, zu verweisen. Robert war für Hermann Graßmann, der als Lehrer in Stettin, fernab der Universitäten und wissenschaftlichen Zentren seine wissenschaftlichen Ideen entwickelte, der einzige Partner, Kritiker und Mitstreiter. Er war dies in einem solchen Maß, daß es vielfach unmöglich ist, zu sondern, was von dem einen oder dem anderen Bruder an theoretischen Konzepten eingebracht wurde. Über Jahre arbeiteten sie täglich stundenlang gemeinsam an ihren wissenschaftlichen Projekten. Sie erörterten Schleiermachers Dialektik, sie diskutierten das Konzept der ersten und der zweiten Fassung der Ausdehnungslehre und gingen die Beweise durch.
Einleitung
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Gemeinsam verständigten sie sich über ihre Arbeitsfelder bei der Revision der Grundlagen der Mathematik: Hermann übernahm Ausdehnungslehre und Zahlenlehre, Robert Kombinationslehre und Logik. Die Brüder waren charakterlich sehr unterschiedlich und in der wissenschaftlichen Ausrichtung nicht deckungsgleich. Es wundert daher nicht, daß diese Zusammenarbeit für Hermann, sieht man vom Briefwechsel mit Möbius ab, nicht zuletzt aufgrund des Fehlens wissenschaftlicher Kontakte zur Fachwelt, sowohl ihre Licht- als auch Schattenseiten hatte und zweifelsohne zum Ignorieren seiner Ausdehnungslehre in der mathematischen Fachwelt, sowohl in der ersten wie in der zweiten Fassung, mit beitrug. Als fünfte Komponente, die auf Inhalt und Anlage der Ausdehnungslehre einen maßgeblichen, ja, neben den Ideen und Ansätzen des Vaters den entscheidenden Einfluß ausübte, ist die Dialektik Friedrich Schleiermachers anzuführen. Der Religionsphilosoph Schleiermacher, dem Graßmann an der Berliner Universität begegnete und dem er nach eigenen Worten für sein wissenschaftliches Denken „so unendlich viel zu danken“18 hatte, führte Graßmann in die Schatzkammer der vorhegelschen Dialektik ein. Selbst aus den Quellen Platons, Spinozas, Kants, Schellings, der romantischen Naturphilosophie und eigener naturwissenschaftlicher Studien schöpfend, gleichzeitig mitten in den politischen Parteikämpfen seiner Zeit stehend, war es Schleiermacher, der Graßmann die Notwendigkeit und die Bedeutung der Dialektik für das Aufspüren mathematischer und einzelwissenschaftlicher Theorieansätze sowie für deren systematische Entfaltung zu einem methodenbewußt komponierten theoretischen Ganzen vor Augen führte. Zwei Jahre vor dem Beginn der Arbeit Graßmanns an der Ausdehnungslehre erschienen aus dem Nachlaß Schleiermachers Vorlesungen zur Dialektik (DIAL). Sofort stürzte sich Hermann Graßmann, gemeinsam mit seinem Bruder, in ihr Studium. Somit begann die Arbeit an der Ausdehnungslehre, ihre systematische Entwicklung, unter dem unmittelbaren Einfluß dieser philosophischen Studien. Das lange Ringen um die endgültige Form der Ausdehnungslehre, von dem Graßmann im Vorwort der Schrift Zeugnis ablegt, sowie seine Darlegungen zur Notwendigkeit und zum Wesen der Anwendung der Philosophie auf die Mathematik in eben dieser Schrift weisen aus, daß Graßmann bewußt die dialektische Methode Schleiermachers zum Aufbau seines mathematischen Gebäudes nutzte, ja, daß er dem Leser in der Einleitung des Werkes vorsätzlich diese dialektische Verfahrensweise bewußt zu machen suchte. Aus dem intimen Verhältnis von Mathematik und dialektischer Methode schöpft das Werk Graßmanns seine Genialität. Damit soll zu einem sechsten Aspekt, der mathematikgeschichtlichen Determination der Graßmannschen Ausdehnungslehre, hinübergeleitet werden. In der Überwindung des begrenzten antiken Mathematikver-
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Einleitung
ständnisses war die Geometrie seit dem 16. und 17. Jh. hinter der Entwicklung der Algebra und der Analysis zurückgeblieben. Die revolutionären Umwälzungen des mathematischen Geometrieverständnisses wurden erst mit der Begründung der analytischen Geometrie Descartes’, einer ganz spezifischen Verknüpfung der Geometrie mit algebraischen und analytischen Methoden, eingeleitet. Diese nun erst einmal vollzogene, besondere, relativ einseitige Verzahnung algebraischer und geometrischer Methoden, bei der gleichzeitig die Rechnung gegenüber der geometrischen Betrachtung mehr oder weniger äußerlich war, stellte gegenüber der objektiv möglichen Vielzahl von Verkopplungen von Geometrie und Algebra einen dialektischen, die Entwicklung der Mathematik vorwärtstreibenden Widerspruch dar. Er wurde zum einen, durch praktische Bedürfnisse veranlaßt, gelöst durch die analytische Behandlung der projektiven Geometrie, die zu Punkt-, Linien-, Ebenenkoordinaten usw. führte, und wurde zum anderen gelöst durch die Suche nach der geometrischen Interpretation von komplexen und hyperkomplexen Zahlen, eine Suche, die, stimuliert durch Bedürfnisse der Mechanik, zur Vektoralgebra führte. Ein dritter Lösungsansatz ergab sich, ebenfalls beeinflußt durch Bedürfnisse der mathematischen Mechanik, aus den Bemühungen, eine neue, unmittelbarere Verbindung von Algebra und Geometrie zu begründen. In dieser Richtung versuchte sich Leibniz, in eben diesem Herangehen gelangte Graßmann durch seinen Ansatz einer Begründung der Vektor- und Tensorrechnung zum Erfolg, wobei er gleichzeitig alle die Grundprobleme mit in Angriff nahm – gemeint sind hier die Aufhebung der absoluten Koppelung von Geometrie und Metrik, die Verallgemeinerung des Dimensionsbegriffs auf n Dimensionen, die weitgehende Auflösung des Koordinatenbegriffs und die Untersuchung geometrischer Verwandtschaften – wobei er mithin alle die Grundprobleme in Angriff nahm, deren Bearbeitung im 19. Jh. zu einem neuen, abstrakteren Geometrieverständnis führte, das in F. Kleins „Erlanger Programm“ Ausdruck fand. Somit löste Graßmann auf eigenständigen Wegen mathematische Grundfragen seiner Zeit – und zwar dank seinem dialektischen Denken – auf hervorragende Weise. Siebentens und letztens sei auf individuelle Momente im Schaffen Graßmanns hingewiesen, die auf die Ausgestaltung seiner mathematischen Ideen von nachhaltigem Einfluß waren. Zu nennen wäre hier die autodidaktische Wissensaneignung, die Graßmann davor bewahrte, ausgetretene Wege des wissenschaftlichen Denkens zu beschreiten und sich zu sehr von den mathematischen Moderichtungen beeinflussen zu lassen. Anzuführen ist ferner die relativ späte Zuwendung zur Mathematik, die dem nachhaltigen Einfluß philosophischen Denkens erst Raum ließ, und zu nennen ist schließlich die ursprüngliche Studienweise Graßmanns, bei
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Abb. 1. Einflußfaktoren auf Darstellungsweise und Inhalt der Graßmannschen Ausdehnungslehre von 1844.
welcher er, ausgehend von der ganzen Breite des damaligen Gymnasialstoffes, möglichst tief in die elementaren Zusammenhänge und in die Grundlagen der Wissenschaften einzudringen versuchte und somit ein umfassendes und gediegenes Allgemeinwissen erwarb. Die Bedeutung, die ein derart solides Allgemeinwissen für den wissenschaftlichen Erfolg auf einem Spezialgebiet spielt, sollte als Fingerzeig der deutschen Geschichte die deutsche Gegenwart beunruhigen. In der Vielzahl der hier aufgeführten Faktoren nimmt der Mechanismus der sozial-ökonomischen, kulturell-historischen und individualspezifischen Determination des mathematischen Schaffens Hermann Graßmanns konkrete Gestalt an. Es tritt jener Rahmen inner- und außerlogischer Bedingungen hervor, der Graßmann den Spielraum für die Ausgestaltung der Ausdehnungslehre bot.
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Einleitung
Unter der Fülle dieser einzelnen Einflüsse tritt als generelle Tendenz der gesellschaftlichen Bedingtheit des mathematischen Schaffens Graßmanns die Aufnahme dialektischen Denkens zur Bewältigung mathematischer Problemstellungen hervor. Somit vollzieht sich im Falle Graßmanns die gesellschaftliche Determination des einzelwissenschaftlichen Schaffens in erster Linie unter dem Einfluß des Gedankengutes von Leibniz, Kant, Schelling und Schleiermacher, d. h. auf philosophischer Ebene, auf der Ebene des dialektischen Denkens. Die Dialektik entstand zu dieser Zeit jedoch nicht zufällig in der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie. Sie war unmittelbarer Reflex der ökonomischen und politischen Machtergreifung des Bürgertums als ein innereuropäischer Prozeß, war der ideelle Reflex der sich seit der Renaissance vollziehenden revolutionären Veränderungen in Gesellschaft, Naturwissenschaft und Technik. Graßmanns Ausdehnungslehre ist Moment und Ausdruck dieses Umwälzungsprozesses.
1 Graßmanns Leben
1.1 Zeitverhältnisse Seit Jahrhunderten war die Familie Graßmann fest in Pommern ansässig. Wie schon sein Vater wirkte Hermann Graßmann – bis auf ein dreijähriges Berliner Studium und eine einjährige Anstellung an der Berliner Gewerbeschule – ausschließlich in Stettin, wo er auf vielfältige Weise mit dem Leben seiner Heimatstadt verbunden war. Die spezifisch lokale Ausprägung, die die deutschen Verhältnisse in Stettin fanden, war daher für die Herausbildung der weltanschaulichen und politischen Auffassungen Hermann Graßmanns von nachhaltigem Einfluß. Pommern, in dem Graßmanns Geburts- und lebenslange Wirkungsstätte Stettin lag, gehörte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. zu den rückständigsten Gebieten Deutschlands. Durch seine ökonomische Schwäche und durch die strategisch bedeutsame Lage an der Ostsee war es in den vorhergehenden Jahrhunderten mehrfach zum Spielball dynastischer Auseinandersetzungen geworden. Der nordische siebenjährige Krieg (1563–1570), der dreißigjährige Krieg (1618–1648), der schwedisch-polnische Krieg (1655–1660), der nordische Krieg (1700–1721) – um nur einige Kriege zu nennen – verwüsteten das Land, brachten der arbeitenden Bevölkerung unsägliches Leid und Elend und warfen die Städte in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zurück. 1677 wurde Vorpommern mit Stettin, das sich in der Hand der Schweden befand, vom Brandenburgischen Kurfürsten erobert. Nach fünfmonatiger Belagerung (23. 7.–27. 12. 1677), die die Stadt stark zerstörte, fiel Stettin in die Hände der Brandenburger, mußte jedoch nach dem Frieden von St. Germain (1678) auf Betreiben Frankreichs wieder an Schweden abgetreten werden. Von den angerichteten Zerstörungen erholte sich die Hafenstadt lange Zeit nicht. Erst im Gefolge des nordischen Krieges (1700–1721) erreichte Friedrich Wilhelm I. (1713–1740) das alte Ziel Brandenburgs, mit Stettin „einen Fuß am Meer“ zu haben „und an dem Commercio der ganzen Welt teilnehmen“19 zu können. Die in den Stettiner Hafen gesetzten Erwartungen erfüllten sich – trotz zahlreicher Ausbau- und Verbesserungsarbeiten – indes nicht. Unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. (1740–1786) wurde die Verwaltungsstruktur Pommerns ganz auf die Ansprüche des
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1 Graßmanns Leben
militanten Feudalabsolutismus umgestellt. Die Unabhängigkeit der Stadt wurde vollends gebrochen. Von 1724 bis 1740 wurde sie zu einer der größten Festungen des Landes ausgebaut (43 Millionen Steine wurden hierbei für die Festungsanlagen verbraucht!).20 Entsprechend der Politik des militanten Feudalabsolutismus der Preußenkönige wurde nunmehr das Manufakturwesen staatlich reglementiert, durch Konzessionen, Privilegien und Monopole gestützt, entwickelt und auf die Bedürfnisse von Armee und Hof ausgerichtet. Kleinund Mittelbürger wurden hierdurch wirtschaftlich an Adel und Armee gebunden. Das Seehandelsgeschäft führte bei den Kaufleuten einerseits zu engen wirtschaftlichen Verbindungen mit den umliegenden Großgrundbesitzern, andererseits zu festen Wirtschaftsbeziehungen mit Hof und Armee, da fast ausschließlich landwirtschaftliche Rohstoffe zur Ausfuhr und hochwertige Manufakturgüter zur Einfuhr gelangten. Die sich aus dem absolutistischen Zentralismus und der ökonomischen Rückständigkeit ergebenden Widersprüche und Disproportionen in der Entwicklung Stettins bescherten vielen der neu gegründeten Gewerbe und Unternehmungen nur ein kurzes Leben. Die freie Entfaltung der Gewerbe wurde durch bürokratische und dirigistische Maßnahmen stark gehemmt, das Bürgertum an das Feudalsystem gekettet, die Entwicklung der Produktivkräfte deformiert.
Abb. 2. Stettin zur Zeit des Ausbaus zu einer der größten Festungsstädte Preußens
1.1 Zeitverhältnisse
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Nicht „eigene Kraft und Selbständigkeit“ wurden erweckt, nicht „freie Bürger, sondern Untertanen“21 wurden durch die absolutistischen Reformen und Regulationen geschaffen. Das Aufblühen des Protektionismus führte zu kleinbürgerlich-spießerhaftem Konservativismus, zu jener „trägen Gleichgültigkeit“ und „schlaffen und zähen Ermattung“ des Nordens22 , die F. Engels geißelte. Neben seiner Rolle als Hafen- und Militärstadt war Stettin gleichzeitig Sitz der pommerschen Landesregierung. Die Mehrzahl der Beamten stammte aus Stettin selbst und war am Stettiner akademischen Gymnasium aufgewachsen, das, 1662 aus dem Stettiner Pädagogikum hervorgegangen, das bedeutendste der drei zur Zeit Friedrich II. im preußischen Teil Pommerns befindlichen Gymnasien – zwei in Stettin und eins in Stargard – war.23 Trotz der Ausstattung mit einem gewissen akademischen Zierrat, wie wechselnden Rektoraten, bedingter Vorlesungswahl u. dgl. m. war es in einem äußerst schlechten Zustand. Erst die 1805 vollzogene Vereinigung der beiden Stettiner Gymnasien, des Rats-Lyceums und des akademischen Gymnasiums, zum Vereinigten Königlichen und Stadtgymnasium leitete eine Besserung ein. In der Mitte des 19. Jhs. erlebte das Gymnasium dann seine Blütezeit.24 Patriarchalische Zustände, eine strenge Trennung zwischen Adel und Bürgertum, Zivil und Militär, Beamten und Bürgern, blieben noch bis in die Mitte des 19. Jhs. bestimmend für den Charakter der Stadt.25 Die verhaltene wirtschaftliche Entwicklung Stettins wurde jäh unterbrochen durch die 1806 beginnende 7jährige Besetzung der Festungsstadt durch Napoleonische Truppen. Unter dem lastenden Druck der Besatzerarmee, die im Interesse der französischen Großbourgeoisie Stettin wirtschaftlich auspreßte, ging die Stadt dem Ruin entgegen. Ihr Gesamtverlust wurde damals auf mehr als 5 1/2 Millionen Taler geschätzt.26 Der Neubeginn Stettins vollzog sich unter dem Einfluß des erwachten Nationalbewußtseins und der durch die bürgerlichen „Halb-undhalb-Reformer“27 hervorgerufenen Lockerung des Absolutismus in der städtischen Verwaltung und im Gewerbe. Das Interesse der Klein- und Mittelbürger an den städtischen Angelegenheiten entwickelte sich nur langsam, so daß das Beamtentum weiterhin als Mittler zwischen Adel und Bürger auftrat. Besonders die Gymnasialintelligenz wurde politisch aktiv (Bartholdy, Sell, Koch, J. Graßmann). Von 1816 bis 1831 wirkte August Sack als Oberpräsident in Pommern. Er war ein enger Vertrauter und Schüler Steins und aktiv an der Abschüttelung des Napoleonischen Jochs beteiligt. Zunächst hatte er im Rheinland versucht, die angeschobenen Reformen zu verteidigen und fortzuführen. 1814 übernahm er das Generalgouvernement vom Niederrhein und erließ u. a. einen Aufruf, in dem er eine grundlegende Reform des gesamten Schulwesens ankündigte, „die Primärschulen als
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Abb. 3. Titelseite der „Stettiner Zeitung“ aus der Zeit der Besetzung Stettins durch Napoleonische Truppen
die ‚Urquelle aller Volksbildung und moralischen Volkskraft‘ bezeichnete und ‚jeden Schulmann, jeden Gelehrten, jeden Menschenfreund, welchem diese heiligste Angelegenheit der Menschheit am Herzen liegt‘, zur Mitarbeit aufforderte.“28 Aber sein Betätigungsfeld wurde von der wiedererstarkenden feudalen Reaktion zunehmend eingeengt. 1816 wurde Sack nach Pommern abgeschoben, blieb aber, in seinem Wirken stark eingeschränkt, seinen Idealen treu. Unter seiner Leitung setzte eine langsame Belebung des Wirtschaftslebens ein. Auf seine Initiative hin kam es zur Aufhebung der bisherigen kaufmännischen Zünfte, Gilden und Innungen und zur Bildung einer „Korporation der Kaufmannschaft“
1.1 Zeitverhältnisse
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(1821)29 , welche, obwohl durch Mitgliedszwang der Verordnung über die Gewerbefreiheit widersprechend, nachhaltigen Einfluß auf die Entwicklung der Hafenstadt Stettin hatte.30 Als er am 28. Juni 1831 starb, setzte ihm die Stettiner Kaufmannschaft ein Denkmal (1833).31 Obgleich in der Zeit von 1817 bis 1829 zwei neue Molen angelegt und das Fahrwasser von Oder und Swine vertieft wurde, blieb Stettin, die größte preußische Hafenstadt, für das Hinterland weitgehend unbedeutend. Gegen die Vormacht Bremens, Lübecks und Hamburgs konnte sich Stettin nur schwer behaupten. Der eigentliche Großhandel Stettins erhielt erst ab etwa 1839 einen merklichen Aufschwung.32 Bis in die Mitte des 19. Jhs. dominierte der Eigenhandel gegenüber der Spedition. Die weiterhin engen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Großgrundbesitzern und Kaufleuten kamen u. a. in der 1823 erfolgten Gründung der „Ritterschaftlichen Privatbank von Pommern“ zum Ausdruck, die als eine Vereinigung konservativer Großgrundbesitzer und wohlhabender Kaufleute bis 1846 die führende Geldmacht in Stettin darstellte und als erste deutsche Privatbank von der Preußischen Regierung die Erlaubnis erhielt, eigene Banknoten herauszugeben.33 Die Gründung neuer Betriebe verlief relativ langsam. Der Inbegriff einer modernen Fabrik, ja, die Fabrik Stettins überhaupt, blieb lange Zeit die 1817 gegründete „Pommersche Provinzial-Zuckersiederei“, ihrer Form nach eine Aktiengesellschaft. Ihre besondere Aufmerksamkeit wandte die pommersche Landesregierung der Entwicklung des Schiffbaus zu. Mit dem Bau der ersten preußischen Kanonenboote legte der konservative Vorsitzende des Gewerkes, der Schiffbaumeister A. E. Nüscke (1817–1891), nach 1848 in seiner Werft den Grundstein für die spätere preußische Kriegsmarine.34 1825 trat der Stettiner Wollmarkt ins Leben, der lange Jahre eine große Bedeutung für Norddeutschland besaß. 430 Produzenten beschickten ihn damals mit 10 000 Zentnern.35 Erst mit dem Ausbau des Straßen- und Chausseenetzes in den Jahren 1822 bis 1829, vor allem aber durch die Fertigstellung einer Eisenbahnlinie nach Berlin im Jahre 1843, wurde das Stettiner Gewerbe mit einer langsam wachsenden Konkurrenz, besonders seitens Berlins, vertraut. Die „große Industrie“ stand in den 50er Jahren noch in den ersten Anfängen. Die Zurückdrängung der handwerklichen Produktion durch die kapitalistische war selbst gegen Ende des 19. Jhs. hier noch nicht so weit wie im sonstigen Deutschland. Kapitalistische Unternehmungen wie Schiffbau-, Eisen- und Ziegelfabriken siedelten sich vorrangig an den Oderufern an. Unter der Protektion der Hohenzollern hatte Stettin eine ausgeprägt kleinbürgerliche und provinzielle Entwicklung durchlaufen. „Der Kleinbürger“, schreibt Engels 1847, wie auf die Stettiner Verhältnisse
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zugeschnitten, „repräsentiert den binnenländischen und Küstenhandel, das Handwerk, die auf der Handarbeit beruhende Manufaktur – Erwerbszweige, die sich auf einem beschränkten Terrain bewegen, geringe Kapitalien erfordern, diese Kapitalien langsam umschlagen und nur eine lokale und schläfrige Konkurrenz erzeugen.“36 Die politische Haltung des Kleinbürgers entsprach historisch seinen ökonomischen Verhältnissen: „Die Kleinbürgerschaft . . . mit ihren kleinlichen Lokalinteressen . . . [brachte] es in ihrer glorreichsten Zeit, im späten Mittelalter, nur zu lokalen Organisationen, lokalen Kämpfen und lokalen Fortschritten . . .“37 . Es verwundert daher nicht, daß am Vorabend der bürgerlichen Revolution in Deutschland die Stettiner Bürger bei den 1848 stattfindenden Wahlen zur preußischen Nationalversammlung für konservative Abgeordnete stimmten.38 Dieser kleinbürgerliche Charakter der städtischen Verhältnisse und die rückständige Wirtschaftsstruktur fanden ihren Niederschlag auch im Auftreten der Gymnasialintelligenz, stellte doch in der ersten Hälfte des 19. Jhs. das Stettiner Gymnasium das ideologische, wissenschaftliche und kulturelle Zentrum Stettins dar. Hatte die Aufklärung erst gegen Ende des 18. Jhs. in Stettin Fuß fassen können, und sich in freimaurerischen und enzyklopädischen Bestrebungen artikuliert, so wurde die höhere Lehrerschaft im Gefolge der kurz darauf hereinbrechenden Napoleonischen Fremdherrschaft und der Befreiungskriege von 1813 bis 1815 um so stärker von der Woge des Nationalismus, der Ablehnung alles Französischen und der Rückbesinnung auf die deutsche Geschichte erfaßt. Bei der streng monarchischen Gesinnung der Schulbeamten konnte sich diese Haltung nur in konservativer, höchstens aber liberaler Gestalt äußern. Gemeinsame Plattform der unterschiedlichen Bestrebungen wurde die Romantik, die unter den rückständigen, kleinbürgerlichen, ja patriarchalischen Stettiner Verhältnissen die unausbleibliche Tendenz zur politischen Reaktion und zum wissenschaftlichen Provinzialismus hatte. Als aufkeimendes bürgerliches Krisenbewußtsein trug die Romantik durch ihre konsequente, aber hoffnungslose Kritik sowohl an den bestehenden feudalen als auch an den sich ankündigenden bürgerlichen Verhältnissen sowie durch ihre Hinwendung zu Altertum und Mittelalter gleichzeitig progressive und reaktionäre Züge. Erweckte die Romantik in ihrer Ambitendenz mit der Hinwendung zum Mittelalter nationale Ideale und begeisterte sie das Volk für heroische Befreiungstaten durch die Wiederentdeckung der Volksdichtung und des Volksliedschaffens (Gebrüder Grimm, C. Brentano, E. M. Arndt, Th. Körner, H. v. Kleist u. v. a.), so brachte diese Orientierung am Mittelalter gleichzeitig die Glorifizierung der „ausgeprägtesten Klassenherrschaft der Junker und Pfaffen“39 mit sich. Letztere Tendenz wurde von der
1.1 Zeitverhältnisse
Abb. 4. Carl Loewe (1796–1869)
Carl Loewe (1796–1869), der bedeutende Balladenkomponist, wird als einer der letzten großen Meister der Neuromantik in der Musik gewürdigt.40 Als zwölftes Kind des Kantors Andreas Loewe wurde er am 30. November 1796 in Löbejün (bei Halle) geboren. Er fiel bereits als Chorknabe in Köthen auf und besuchte das Gymnasium in Halle. 1817 wurde er Student der Theologie. Seine Bekanntschaft mit Weber in Dresden prägte seinen weiteren Lebensweg als Musiker. 1820 kommt er als Musikdirektor nach Stettin. Dort wurde er zuerst in der Amtswohnung des Justus Graßmann im alten Gymnasium untergebracht. In den freien Abendstunden fand er liebevolle Aufnahme im Kreise der Familie Graßmann.41 Enge Freundschaft verband ihn mit Justus Graßmann und dem Professor Giesebrecht (alle drei gehörten der Stettiner Freimaurerloge an, in deren Dienst Carl Loewe viele öffentliche Musikvorführungen gab). Gemeinsam mit Justus Graßmann führte er Studien zur Astronomie und Akustik durch. Hermann Graßmann lernte bei ihm das Klavierspiel und den Generalbaß42 . Er selbst berichtet über sein Verhältnis zu J. Graßmann: „Am 29. Mai Abends war Polterabend bei Professor Graßmann, einem gelehrten und hochgebildeten Manne. Seit meinem Hiersein sind wir unzertrennliche Freunde, durch eine Menge von Berührungspunkten, in jedem Momente zur Unterhaltung gesinnt. – An seinen physikalischen Vorlesungen nehmen viele gebildete Männer der Stadt, auch Damen zahlreichen Antheil. Bei der Lehre vom Schall erfuhr ich Neues . . .“.43
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feudalen Reaktion aufgegriffen und zur romantischen Staatstheorie, um deren Realisierung sich insbesondere Friedrich Wilhelm IV. „bemühte“, weiterentwickelt. Der Religion wurde wieder die ganze Aufmerksamkeit zugewandt. Im Zusammenhang mit einem abstrakten Philantropismus, der in Armen-, Wohltätigkeits- und Bürgerrettungsvereinen Betätigung suchte, gewann sie bedeutend an Boden. Auch die Freimaurerloge, die sich von 35 Mitgliedern im Jahre 1798 auf 117 Mitglieder im Jahre 1818 stark vergrößerte44 und in der sich alle wissenschaftlichen und kulturellen Köpfe, die in Stettin einen Namen hatten, trafen, unterlag diesen Tendenzen. Neben dem liberalen Justus Graßmann, wurden hier H. Hering und C. G. Scheibert, zwei konservative Anhänger der Hohenzollern, Meister vom Stuhle. Musikalisch etablierte sich die Romantik mit dem 1820 nach Stettin übersiedelnden Komponisten Carl Loewe. Künstlerische und historische Vereine erlebten eine Blüte.45 Das Gymnasium, das noch lange Zeit akademische Züge behielt – so wurden zum Beispiel in der Prima fakultative Vorlesungen für Mediziner, Juristen, Philologen u. a. gehalten46 –, brachte es in lokaler Abgeschiedenheit zu einem wissenschaftlichen Aufschwung, der jedoch kaum aus den Mauern der Stadt herausdrang. Sieht man von den romantischen Bestrebungen ab, so ist eine gemeinsame religiöse oder philosophische Grundhaltung der Gymnasiallehrer nicht nachzuweisen. Vertreter der verschiedensten philosophischen Richtungen – von Platon über Aristoteles, Kant, Fichte, Hegel, Spinoza bis hin zu Schleiermacher47 – traten nebeneinander auf. Neben Hermann Graßmann, dem Physiker Rudolf Clausius und dem Dichter Robert Prutz gingen aus dem Stettiner Gymnasium während dieser seiner markantesten Entwicklungsetappe vor allem konservative Politiker wie die Minister v. Hertzberg, v. Raumer und Graf Schwerin, die 1848/49 aktiv gegen die Revolution auftraten, weiterhin die Präsidenten des Preußischen Abgeordnetenhauses und des Deutschen Reichstages v. Levetzow und v. Köller, ebenfalls Konservative, u. v. a. hervor.48 Mit der Entwicklung der Verkehrsverbindungen nach Berlin und dem Erstarken des Kapitalismus nach der 48er Revolution verlor das Gymnasium zunehmend an Bedeutung und Profil. Die eingangs erwähnte enge Bindung Graßmanns an Stettin liefert im Kontext der oben skizzierten ökonomischen und ideologischen Zustände den Schlüssel zum Verständnis wesentlicher Züge seiner weltanschaulichen und politischen Haltung. Hatten sich andere in Pommern gebürtige progressive Persönlichkeiten wie der revolutionär-demokratische Dichter und Literaturhistoriker Robert Eduard Prutz (1816–1872), der Physiker Rudolf Clausius (1822–1888) und der Mediziner Rudolf Ludwig Virchow (1821–1902) später weitgehend von diesen rückständigen Verhältnissen
1.2 Familientraditionen und Elternhaus
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H. Müller zur Eigentümlichkeit der wissenschaftlichen Blüte Stettins im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts „Stettin, zwar erster Platz für den deutschen Ostseehandel, nebenbei Sitz von allerhand Provinzialbehörden und garnisonreiche Festung, bot eigentlich wenig Raum für die Entwicklung einer wissenschaftlichen Atmosphäre . . . und so verhallte gar manches in den beschaulichen Bürgerkreisen, anderes zerschellte an den dicken Mauern der Stadt oder konnte die hohen Wälle nicht übersteigen. . . .. Zum Ersatz aber streute ein gütiger Genius seine Gabe um so herrlicher auf die Häupter einzelner Männer, die zum Teil, wie Robert Prutz, allenthalben in Deutschland Beachtung und Anerkennung fanden, zum größeren Teil freilich von der Menge übersehen wurden, obwohl sie durch die ihnen und ihren Werken innewohnende Idealität, sittliche Lauterkeit und Tiefe der Gedanken zum Besten unseres Volkes zu zählen sind. Erheben uns doch heute noch die Dichtungen eines Ludwig Giesebrecht . . . die Balladenkompositionen eines Karl Löwe, . . . die Quartette eines Ferd. Oelschläger . . . In die Reihe dieser geistigen Koryphäen jener klassischen Epoche Stettins gehören noch der Dichter Kugler, der Historiker Schmidt, Martin Plüggemann, den Wagner als den bedeutendsten Schüler Löwes bezeichnet, der originelle Pädagoge Calo, wie nicht zuletzt der als Mathematiker und Sanskritforscher gleich ausgezeichnete Hermann Graßmann. Sie alle und ihrer noch viele dazu sammelten sich in dem Bruderkreis der ‚Loge zu den 3 Zirkeln‘, entwickelten dort ihre hohe Originalität, bleiben aber freilich auch an diesen kleinen Raum gebannt, da sie weder dem Einflusse fremder Geistesrichtung, noch demjenigen des umgebenden Lebens große Zugeständnisse machten. Sie alle aber standen mehr oder weniger den gleichzeitigen Bestrebungen im übrigen Deutschland fern und sind daher nicht annähernd so gekannt, wie es nach ihrer geistigen Bedeutung zu erwarten wäre.“49
gelöst, so blieb Graßmann unter ihrem ständigen Einfluß. Seine Größe und seine Grenzen sind daher auch mit an diesen Verhältnissen zu messen. 1.2 Familientraditionen und Elternhaus Hermann Günther Graßmann (1809–1877) war Abkomme einer alten protestantischen Pastorenfamilie. Dies war von nachhaltiger Bedeutung für den ganzen Entwicklungsweg Graßmanns.50 Nicht rein zufällig traten die ersten wissenschaftlichen Interessen in dieser seit Jahrhunderten fest im rückständigen Pommern verwurzelten Familie in der Mitte des 18. Jhs. auf. Es läßt sich dem Einfluß des Pietismus und der deutschen Aufklärungsphilosophie zuschreiben, daß gerade mit Gottfried Ludolf Graßmann (1738–1798), dem Großvater Hermann Graßmanns, ein Theologe die Familienszene betrat, der für wissenschaftliche Arbeiten überaus aufgeschlossen war. Mit diesem Mann, der für seine Zeit maßgeblich zur Entwicklung der Agrarwissenschaften beitrug, setzte jene Tendenz der zunehmenden
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Abb. 5. Gottfried Ludolf Graßmann (1733–1798), der Großvater Hermann Graßmanns
Loslösung von der Theologie und der Hinwendung zur Wissenschaft ein, welche sich bei den nachfolgenden Generationen der Graßmanns ihren widersprüchlichen Weg bahnte. Gottfried Ludolf Graßmann, der am 3. April 1738 in Landsberg a. d. Warthe geboren wurde, verlor früh seinen Vater und mußte von Kindheit an der alleinstehenden Mutter in der Landwirtschaft zur Hand gehen. Erst in Alter von 22 Jahren, nachdem er die nötigen finanziellen Mittel durch Chorsingen aufgebracht hatte, konnte er ein Theologiestudium an der Universität in Halle aufnehmen. Die Bedeutung des dreijährigen Aufenthaltes an dieser Stätte ist nicht hoch genug einzuschätzen, wenn man bedenkt, daß die Hallenser Universität seit ihrer Gründung im Jahre 1694 die Hochburg der deutschen Aufklärung und des Pietismus in Deutschland war. August Hermann Francke, Christian Wolff und Sigmund Jakob Baumgarten, um nur einige zu nennen, hatten hier ein aufgeklärteres und freieres Religions- und Weltverständnis gegenüber der lutherischen Orthodoxie behauptet. Im Pietismus, als einer dem Weltverständnis des aufstrebenden deutschen Bürgertums zusagenden Religionsform, die nicht mehr nur auf ein himmlisches, sondern auch und in erster Linie auf ein irdisches Ziel
1.2 Familientraditionen und Elternhaus
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orientierte, fand G. L. Graßmann eine Weltanschauung, die die Basis für seine späteren landwirtschaftspraktischen und -theoretischen, wie auch für seine seelsorgerischen Arbeiten abgab. Nach Abschluß des Studiums kehrte er nach Pommern, in dem die lutherische Orthodoxie noch vorherrschend war, zurück und übernahm 1766 eine Landpfarre. Er gewann die Zuneigung seiner dörflichen Gemeinde in einer Weise, die ihn bewog, trotz mehrfacher günstiger Gelegenheiten, nie einen anderen Wirkungskreis zu suchen. „Jeder der ihn kannte, liebte ihn wegen seines gegen Jedermann freundlichen und gefälligen Betragens, und vorzüglich, wegen seiner ihm natürlichen Herzensgüte“, beschreibt ihn Robert Graßmann 1876. „Er war ein wahrer Verehrer der Religion, deren Diener er war und, wenn er von ihr sprach, belebte ein sanftes Feuer sein ganzes Wesen; weshalb, und fast noch mehr wegen seines herablassenden, und Jedem verständlichen Vortrages, er in der ganzen Gegend beliebt war. . . . Als man ihm die Separation seines Ackers anbot, die unstreitig sehr vorteilhaft für ihn gewesen seyn würde, lehnte er sie bloß aus der Ursache ab, weil er
Abb. 6. Preisschrift Gottfried Ludolf Graßmanns von 1776
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vorher sahe, daß dies Gelegenheit zu Streitigkeiten zwischen ihm und der Gemeinde geben würde, die er durchaus zu vermeiden suchte.“51 Neben der seelsorgerischen Tätigkeit begann er bald überaus erfolgreiche landwirtschaftliche Versuche. Er wurde Herausgeber der „Neue[n] Berliner Beiträge zur Landwirthschaftswissenschaft“, die von 1792 bis 1794 erschienen.52 Erfolgreich beteiligte er sich an der Bearbeitung vieler Preisaufgaben. So erhielt seine „Abhandlung über die allgemeine Stallfutterung des Viehes, und die Abschaffung oder Beybehaltung der Brache“ (Berlin 1788) den von der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin ausgesetzten Preis, und der Schrift „Ueber die Aufgabe, durch welche gute und nicht theure Mittel, das Schiffbauholz dauerhafter gemacht werden könne“ (Petersburg/Leipzig 1784) wurde der für 1779 ausgesetzte Preis der Russischen Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zuerkannt.53 Auf Grund seiner Verdienste zum königlichen Regierungscommisar für Landeskulturangelegenheiten in Pommern ernannt, stellte sich Gottfried Ludolf Graßmann in den Dienst des friderizianischen Absolutismus und setzte sich in treuem Königsglauben für die reformerische Veränderung der feudalen Landwirtschaftsverhältnisse entsprechend den Forderungen der Zeit ein. Dieser, für das deutsche Kleinbürgertum des 18. bis hin in die 40er Jahre des 19. Jhs. typische Glaube an die Durchsetzbarkeit der bürgerlichen Entwicklung in einem Bündnis mit der Monarchie sollte auch für die nächsten Familienglieder der Graßmanns von Bedeutung sein. Justus Günther Graßmann, der Vater Hermann Graßmanns, wurde am 19. Juni 1779 geboren. Sein Werdegang wurde bereits weitgehend von wissenschaftlichen Interessen bestimmt. Zwar bezog auch er, wie vordem sein Vater, die Hallenser Universität, um ein Theologiestudium aufzunehmen, doch berichtet er bereits aus dieser Zeit: „. . . meine Neigung zog mich aber von jeher mehr zu den exakten Wissenschaften hin, und ich habe daher bei Klügel und Gilbert die Mathematik und bei letzterem die Physik fleißig gehört.“54 Sein Studium in Halle von 1799 bis 1801 fiel in die Blütezeit der Naturphilosophie.55 Halle lag im Dunstkreis Jenas. Achim von Arnim, romantischer Poet, Physiker und Naturphilosoph, studierte und publizierte gerade zu der Zeit in Halle, zu der auch Justus Graßmann dort weilte:56 Und von Arnims spezielles Interesse galt der Kombinatorik und der Kristallonomie, jenen Gebieten, von denen Justus Graßmann Zeit seines Lebens am stärksten affiziert war. . . . Nach Beendigung des Studiums übernahm Justus Graßmann, wie einst sein Vater, eine Hauslehrerstelle. Nachdem er im März 1802 seine theologische Prüfung abgelegt hatte, wurde er an das Gymnasium nach Pyritz berufen, wo er gleichzeitig das Amt des Kollaborators an der Heili-
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Abb. 7./8. Die Eltern Hermann Graßmanns
gen-Geist-Kirche auszuüben hatte. 1806 gab er den Predigerberuf auf und trat die vierte Lehrstelle (Stelle des zweiten Mathematiklehrers) an dem eben eröffneten „Vereinigten Königlichen und Stadtgymnasium“ zu Stettin an, einem Wirkungsort, dem er bis zu seinem Tode treu bleiben sollte. Die schmähliche Kapitulation der Festungsstadt Stettin am 30. Oktober 1806 vor einer Vorhut von nur 800 feindlichen französischen Reitern57 und die sich anschließende Besetzung durch die Napoleonischen Truppen fällt zusammen mit dem Beginn seines Wirkens am Stettiner Gymnasium. Im Rahmen des wiedererwachenden Nationalbewußtseins griff Justus bürgerlich-progressives Gedankengut unter dem Banner christlicher Moral und Nächstenliebe auf und setzte sich aktiv für die städtischen Belange ein. Neben seinen schulischen Verpflichtungen wirkte er in verschiedenen städtischen Deputationen (namentlich in der städtischen Schuldeputation und der Armendirektion) zur Verbesserung des Elementarschulwesens. Ganz im Sinne Schleiermachers und Humboldts, die in der Belebung des Bildungswesens eine der wesentlichen Grundlagen für die nationale Wiedergeburt Deutschlands sahen58 , unterrichtete er seit August 1812 auch am Stettiner Lehrerseminar, das vom Stettiner Schulrat Bartholdy, einem Freund Schleiermachers, neubegründet worden war.59 1813 schloß sich Justus Graßmann – Vater von vier Kindern – als Freiwilliger der preußischen Armee an. Seine Frau, Johanna Friederike
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geb. Medenwald, die er 1804 geehelicht hatte, floh mit ihren Kindern – unter ihnen auch der am 15. April 1809 geborene Hermann Graßmann – aus der von Franzosen besetzten und von Preußen belagerten Stadt, um bei ihrer Mutter Schutz zu finden. Im Mai 1814 kehrte Justus Graßmann, entlassen als Secondelieutenant, an das Gymnasium zurück und rückte nach dem Tode des Schulrates Bartholdy (26. 5. 1815) auf dessen erste mathematische Lehrstelle. Bald darauf wurde ihm der Professorentitel verliehen. Als im Gefolge der Befreiung von der Napoleonischen Fremdherrschaft die kleinbürgerlich orientierte Romantik verstärkt hervortrat und sich die Religion neu belebte, wurde auch Justus Graßmann von dieser Woge erfaßt. Er trat der Stettiner Freimaurerloge bei und wurde bald eines ihrer führenden Mitglieder. Ferner beteiligte er sich an Unterstützungs-, Freiwilligen-, Krieger- und anderen patriotischen Vereinen. Dergestalt religiös und deutschtümlerisch illusioniert – als „gutmütiger Enthusiast“, „Deutschtümler von Blut und Freisinnige[r] von Reflexion“60 , wie Marx es faßte, – setzte er sich mit ganzer Kraft für bürgerlichen Humanismus und lokalen Fortschritt ein. Dies spiegelt sich, neben dem bisher Erwähnten, auch in seinen Aktivitäten als führendes Mitglied der Stettiner Philhellenistischen Gesellschaft wider, deren Wirken sich jedoch auf humanitäre Hilfe für die griechischen Freiheitskämpfer beschränkte. Als 1818 auch in Stettin die Turnübungen eröffnet wurden „hatten sich im ganzen nur 16 Turner gemeldet. Die Lehrer aber versagten mit einer Ausnahme ihre Beteiligung. . . . Nur der Professor Graßmann sagte seine Beihilfe zu.“61 Ab Januar 1819 gehörte J. Graßmann dann auch dem Stettiner Turnrat an.62 Neben dieser breiten Palette praktischen Wirkens fand er indes noch die Zeit, wissenschaftlich tätig zu sein. Er verfaßte drei an die bürgerlichhumanistischen Auffassungen Pestalozzis anknüpfende Mathematiklehrbücher für Volksschulen und Gymnasien63 , die von Diesterweg äußerst lobend rezensiert wurden.64
Justus Graßmann und die Entwicklung der Armenschulen in Stettin „. . . aber wohl muß erwähnt werden, daß durch seine Studien und seine Bemühung um Ausbildung der Lehrer (in Verbindung mit seinem Bruder, dem Schulrathe Graßmann, und dem Schulrathe Bartholdi) das in der Pestalozzischen Unterrichtsmethode wahrhaft Fruchbare in die ihm überwiesenen Armenschulen eingeführt wurde und so allgemeinen Eingang in den übrigen Schulen fand; daß es seiner Mitbemühung bei den städtischen Behörden gelang, die Armenschule der Stadt auf eine von den Bürgern beneidete Höhe zu heben, und die Bürger zu bedeutenden Bewilligungen für ihre Stadtschulen, und so die heutige Blüte des Stadtschulwesens der Stadt Stettin zu veranlassen.“65 (C. G. Scheibert 1853)
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Ferner begründete er 1835 die „Physikalische Gesellschaft“, hielt dort Vorträge und führte Experimente durch. Einige Verbesserungen an physikalischen Instrumenten veröffentlichte er in Poggendorffs Annalen. Gemeinsam mit seinem Freund, dem romantischen Komponisten C. Loewe führte er astronomische Beobachtungen durch. Daneben verfaßte er eine philosophisch gehaltene Programmschrift zur Zahlenlehre (ZL) und schrieb ein Werk zur Kristallographie (KRY), dessen Indizesbezeichnung späte wissenschaftliche Beachtung fand.66 Die in allen diesen Werken niedergelegten wissenschaftlichen und philosophischen Ansätze wurden zu einem entscheidenden Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Entwicklungen seines Sohnes Hermann Graßmann. Zur Abrundung des Charakterbildes J. Graßmanns seien noch die folgenden Worte seines Schwiegersohnes C. G. Scheibert angeführt: „Die Leuchte des Evangeliums, in welchem sein Auge Alles und Jedes ansah, ließ ihn alle Verhältnisse, große wie kleine, klar überschauen, verklärte seine unbegrenzte Liebe zum Vaterlande und Königshause, brachte in alle seine Beziehungen zu näher und ferner Stehenden eine wohlthuende und belebende Wärme . . . Wie auf dem ethischen Gebiete, so war er auch eine
Abb. 9./10. Titelseiten der „Raumlehren“ von Justus Graßmann
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solche Harmonie auf dem Gebiete seiner Erkenntniß. Er studierte viel, doch rechnete er nur Dasjenige zu seinen gewonnenen Kenntnissen hinzu, was er ganz durchdrungen und mit seinem ganzen Denkkreis verarbeitet und in denselben hineingearbeitet hatte, so daß auch das von ihm Erlernte durchaus in ihm Original wieder wurde.“67 Die hier erwähnte, erkenntnistheoretische Eigenart sollte sich auch bei seinem Sohn Hermann Graßmann wiederfinden. Die Entwicklung Justus Graßmanns verlief dergestalt ganz unter dem unmittelbaren Eindruck der Befreiungsbewegung von der Napoleonischen Fremdherrschaft. Durch die häusliche Erziehung stand er auf der Seite des bürgerlichen Humanismus und hegte eine tiefe Liebe zur Naturwissenschaft und Mathematik. Die Ereignisse von 1806 bis 1813 modifizierten diese Grundeinstellung und gaben ihr ein nationalistisches religiös-romantisches Gepräge. Inmitten rückständiger Verhältnisse setzte er sich liberal-patriotisch für den lokalen Fortschritt ein und glaubte unumschränkt an die „positiven Werte“ der Monarchie.
1.3 Jugend- und Universitätsjahre Es war der 15. April 1809, der Geburtstag Eulers, als Hermann Günther Graßmann als drittes Kind seiner Eltern in Stettin das Licht der Welt erblickte. Justus Graßmann hatte mit seiner Frau Johanna Friederike, geb. Medenwaldt, insgesamt zwölf Kinder:68 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Luise Mathilde (1805–1807); Karl Gustav (1807–1841), Prediger; Hermann Günther (1809–1877), Professor am Stettiner Gymnasium; Alwine Marie (1810–1834), verheiratet mit dem Rektor der Stettiner Ottoschule Christian Heß; Adelheid (1812–1861), verheiratet mit dem Rektor der Stettiner FriedrichWilhelmsschule Carl Scheibert, Geh. Regierungs- und Provinzial-Schulrat; Siegfried Robert Ludolph (1815–1901), Lehrer, Druckereibesitzer und Zeitungsherausgeber; Emma Friederike Therese (1817–1867), verheiratet mit dem Justizrat Ferdinand Alexander Wegeli; Justus Gotthold Oswald (1813–1893), Superintendent; Karl Friedrich Eduard (1820–1847), cand. theol.; Heinrich August Friedrich (1824–1855), Referendar; Johanna Elise (1827–1861), Lehrerin; Sophie (1830–1834).
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Seine Kindheit wurde von der Besetzung Stettins durch Napoleonische Truppen überschattet. Da sein Vater sich 1813 zu den preußischen Freiwilligen gemeldet und die Familie in einem nahe Stettin gelegenen Dorf Zuflucht gesucht hatte, erhielt er den ersten Unterricht von seiner Mutter. Als sich die Familie im Sommer 1814 wieder in Stettin vereinte, besuchte der Knabe zunächst eine Privatschule, dann, ab Quinta, 7 1/2 Jahre das „Vereinigte Königliche und Stadtgymnasium“, an dem sein Vater als Professor tätig war. Vom jungen Hamilton, dessen spätere wissenschaftliche Forschungen sich so eng mit denen Graßmanns berührten, wußte man zu berichten, daß er der reinste Wunderknabe an Gelehrsamkeit war: „Mit drei Jahren las er schon recht gut Englisch und war ziemlich bewandert in der Arithmetik; mit vier war er ein guter Geograph; mit fünf las und übersetzte er Latein, Griechisch und Hebräisch . . .; mit acht Jahren beherrschte er dazu noch Italienisch und Französisch und gab aus dem Stegreif in fließenden lateinischen Hexametern seiner Freude über die Schönheit der irischen Landschaft Ausdruck . . .; schließlich legte er, noch keine zehn Jahre alt, den Grund zu einer außerordentlichen Gelehrsamkeit in den orientalischen Sprachen, indem er mit Arabisch und Sanskrit begann. . . . Mit dreizehn Jahren konnte sich Hamilton brüsten, für jedes Jahr seines Lebens eine Sprache erlernt zu haben . . .“69 . Ganz anders verhielt es sich da mit Hermann Graßmann. Er war alles andere als ein frühreifes Genie. Von schwächlicher Konstitution, mußte er in späteren Jahren erst durch einen starken Aufwand an Willenskraft Selbstgefühl und geistige Spannkraft erringen. Besonders drei Hindernisse waren es, die das Talent des Jungen verdeckten: Schüchternheit, Vergeßlichkeit und Träumerei. Wesentliche Aufschlüsse über die Entwicklung Graßmanns finden sich in zwei von ihm für Prüfungen angefertigten Lebensläufen70 , die durch außerordentliche Offenheit und schonungslose Selbsteinschätzung bestechen. Dort stellt er fest, daß er in den ersten Schuljahren keine Begabung zeigte, geistiger Anstrengungen nicht fähig war und in Verstand und Gedächtnis hinter seinen Mitschülern zurückblieb. „Der Vater habe oft geäußert, er werde es mit Gleichmut ertragen, sollte auch sein Sohn Gärtner oder Handwerker werden, wofern er nur einen seinen Kräften angemessenen Beruf wähle und diesen mit Ehren und zu Nutzen seiner Mitmenschen ausfülle.“71 Die Zeit bis zum 14. Lebensjahr wird von Hermann Graßmann rückblickend als eine Zeit des „Schlummers“ und der „Träumereien“ bezeichnet, „welche vermöge einer geistigen Trägheit Raum gewannen . . .“72 Diese Träumereien von einem Wohlleben, vom Geliebt- und Verehrtwerden waren nach seinen Worten voll von Eitelkeit und Eigenliebe. Sie machten ihn „für die äußere Welt unempfänglich“. Bei Spielen mit älteren Knaben
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zog er sich meist scheu zurück oder ließ sich widerspruchslos leiten, ohne selbst je die Initiative zu ergreifen. Die Ferien verbrachte Hermann Graßmann häufig auf dem Lande bei Verwandten, die fast alle Prediger waren, – und so träumte er von einem „sorgenfreien angenehmen Leben“.73 Mit der einsetzenden Pubertät änderte sich aber seine Lebensweise grundlegend. Etwa mit dem 14. Lebensjahr brach für ihn die Zeit des „Erwachens“ aus seinem „Schlummerzustand“ an, wie er selbst bemerkt. Ethischen Fragen aufgeschlossener, begann er über sein bisheriges Leben nachzudenken. Angeregt durch seinen Konfirmationslehrer beschloß er nunmehr, alle seine geistigen Kräfte anzuregen und zu wecken. „Ich war damals in der Tertia“, berichtet er in seinem Lebenslauf, „und hatte gerade ein Gedicht zu lernen, wozu ich mir eine Stelle aus Klopstocks Messias gewählt hatte; den frischen Entschluß, meine Kräfte zu wekken, wandte ich zuerst hierauf an; ich nahm mir vor, alle meine Kräfte anzustrengen, um den Sinn dessen, was ich lernen wollte, mir recht lebhaft zu vergegenwärtigen, und es gelang über alles Erwarten . . . Nun erst sah ich ein, daß nur meine Schuld es gewesen sei, wenn ich früher nichts hatte fassen können, nun erst ward mir ganz klar, daß ich erwachen müßte und könnte. Voll Vertrauen . . . beschloß ich nun, mein ganzes Leben aufzuwecken. In der Tat wurden meine deutschen Aufsätze, die bis dahin sich nur gerechten Tadel zugezogen, seitdem meist von den Lehrern gelobt; als ob ich damals erst zu denken angefangen hätte. Auch in dem äußeren Leben wurde ich seitdem lebhafter.“74 Auf dem Hintergrund der strengen Religiosität des Elternhauses und des erneuten Auflebens der Religion in jenen Jahren ist es verständlich, daß die moralisch-ethischen und weltanschaulichen Reflexionen des jungen Graßmann im lutherisch-christlichen Glauben Fuß zu fassen begannen. Die Erweckung seiner schöpferischen Kräfte schrieb er nicht sich selbst zu, sondern sah sie als Wirkungen christlicher Glaubensstärke an: „Die religiösen Eindrücke gaben den ersten Anstoß; erst durch das allmähliche Erwachen des religiösen Sinnes konnten die Neckereien, die bisher nur meine Eitelkeit gereizt hatten, so wirken, daß sie mich zur Selbsterkenntnis führten . . . Nun erst konnte auch eine religiöse Überzeugung in mir entstehen, da ich erst jetzt durch die Erfahrung den Einfluß der Religion erfahren hatte . . .“.75 Die kindliche Erfahrung der Möglichkeit, die eigenen Kräfte bewußt entfalten zu können – von ihm der Wirkung der Religion zugeschrieben –, sollte die Basis für sein lebenslanges Festhalten am christlichen Glauben, für sein späteres Engagement bei der streitbaren Propagierung der christlichen Religion abgeben. Unter diesen Umständen ist es um so bemerkenswerter, daß er in seinen späteren mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschungen – im Gegensatz auch zu seinem Vater – jeden Verweis auf Gott und Religion vermied.
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Vorerst jedoch prägten sich bei Hermann Graßmann rationalistisch gefärbte weltanschauliche Grundhaltungen aus, die seine schöpferischen Potenzen bis an den Rand seiner physischen Möglichkeiten mobilisieren sollten. „Ich meinte nämlich“, so schreibt er, „das geistige Talent beruhe nur auf der Kraft, mit der wir den Geist anzuregen vermögen, ein Talent zeige sich nur in dem Maße, als man imstande sei, den Geist in Bewegung zu setzen, – nicht das Schicksal gestalte den Menschen, sondern der Mensch sich selbst, und dadurch auch die Art, wie das Schicksal auf ihn wirkt; allen sei ein Ziel vorgesteckt: die Vollkommenheit (Gottähnlichkeit), welche für alle Menschen dieselbe sei; – mein phlegmatisches Temperament müsse von Grund aus vertilgt werden, denn ein solches schien mir mit der Vollkommenheit unverträglich.“76 Wir finden bei Hermann Graßmann, beginnend mit der Zeit der Konfirmation (1823) und abschließend etwa mit dem Jahre 1840, d. h. mit der endgültigen Zuwendung zur Mathematik, jenes aktive Ringen um weltanschauliche Grundpositionen, das ihm gestattete, seinen Platz im gesellschaftlichen Leben zu finden. Das Suchen nach dem Sinn des Lebens, nach humanistischen Idealen, der Kampf mit dem eigenen Charakter, resultierend aus dem der Selbstreflexion und der Selbsterkenntnis entspringenden Vergleich der unter den herrschenden ideologischen Verhältnissen von ihm konzipierten Ideale mit der eigenen Verhaltensdisposition und Persönlichkeitsanlage, sind in diesem Entwicklungszeitraum für ihn charakteristisch und prägen sein ganzes weiteres Leben. Am 17. September 1827 bestand Hermann Graßmann die Reifeprüfung mit einem „Entlassungszeugnis No. 1“, also mit der besten Note. Sein von ihm geschildertes Charakterbild spiegelt sich in der Abgangsbeurteilung wider: „A u f f ü h r u n g : a) gegen Mitschüler: Durch sanftmütigen Sinn, Friedfertigkeit und Gefälligkeit erwarb er sich die allgemeine Liebe seiner Kommilitonen und gab nie Veranlassung zu irgend einem Mißverhältnis. b) gegen Vorgesetzte: Bescheidenheit und Regelmäßigkeit zeichneten ihn vorteilhaft aus und gewannen ihm die allgemeine Zufriedenheit seiner Lehrer in vorzüglichem Grade. Fleiß: Durch ununterbrochenen regelmäßigen Besuch der Lehrstunden, durch gespannte Aufmerksamkeit in denselben, so wie durch erfreuliche Beweise eines eifrigen, gründlichen und glücklichen Fleißes77 hat er seinen Lehrern in allen Objekten des Unterrichts Befriedigung gewährt.“78
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Abb. 11. Die Berliner Universität in der Mitte des 19. Jhs.
Ergänzt werden muß, daß Graßmanns Abiturarbeit zur Mathematik noch nichts von seiner späteren Originalität erkennen ließ. Unter den eingereichten Arbeiten kam sie erst an zweiter Stelle. Auffallend ist bei dem jugendlichen Graßmann aber bereite das ausgeprägte musische Interesse, das er mit seiner Familie teilte. Früh lernte er bei dem Balladenkomponisten Carl Loewe, der längere Zeit im Hause der Graßmanns wohnte, Klavier und Generalbaß. Die romantischen Auffassungen Loewes mögen auch schon auf ihn gewirkt haben und bei der Ausprägung seines weiteren Weltbildes von Einfluß gewesen sein. Die Liebe zur Musik begleitete ihn sein ganzes Leben. In späteren Jahren leitete er längere Zeit mit Erfolg und Freude den Knabenchor des Stettiner Gymnasiums und sammelte Pommersche Volkslieder, die er selbst mehrstimmig setzte und mit seinen Kindern sang. Als er nach Beendigung des Gymnasiums gemeinsam mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Gustav die Berliner Universität bezog, um ein Theologiestudium aufzunehmen, war seine erste große Erwerbung ein Pianoforte, und mit anderen Studenten, die gleich ihm sehr musikalisch waren, sollen in der kleinen Dachkammer, die er gemietet hatte, ganze Opern und Oratorien mit Klavierbegleitung durchgesungen worden sein.79 Das so mit großer Ausgelassenheit begonnene Studium sollte jedoch zu einem neuen, entscheidenden Lebensabschnitt für Hermann Graßmann werden. In vorzüglichem Maße herrschte an der noch jungen Berliner Universität ein geistiges Klima, das die Entwicklung Graßmanns zu einem bürgerlichen Wissenschaftler beförderte. Diese Bildungsstätte, die im Oktober 1810 im Gefolge der Reformen zur bürgerlichen Umgestaltung Preußens eröffnet wurde, war von
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hervorragender Bedeutung für die Formierung der bürgerlich gesinnten Intelligenz Preußens. Auf Vorschlag Steins wurde Wilhelm von Humboldt der Organisator und Begründer dieser Bildungseinrichtung. Programmatische Vorarbeiten für die Schaffung einer Berliner Universität wurden von Schleiermacher und Fichte geleistet. Letzterer war auch der erste Rektor und setzte sich im Rahmen der bürgerlichen Umgestaltung Deutschlands für eine bürgerliche Nationalerziehung ein. Ein Vorzug der Berliner Universität bestand, verursacht durch die späte Gründung, in dem Fehlen hemmender scholastischer Traditionen: „Sie war von Anbeginn eine moderne Universität im Geiste des aufstrebenden deutschen Bürgertums, entstanden unter der Einwirkung der Ideen der Französischen Revolution und der deutschen Klassik . . . Es war Wilhelm von Humboldts Bestreben, die von ihm gegründete Universität zu einem Sammelpunkt der bedeutendsten, humanistischen, freiheitlich und patriotisch gesinnten Wissenschaftler zu machen.“80 Diese Universität bewahrte auch während der Zeit der feudalen Reaktion eine gewisse Eigenständigkeit und ordnete sich nicht voll den Bestrebungen des herrschenden Adels unter.81 Die Studien Hermann Graßmanns an dieser Bildungseinrichtung, beginnend mit dem Jahre 1827, waren ein weiterer bedeutsamer Schritt bei der Ausformung seiner Persönlichkeit. Sechs Semester studierte er in Berlin; in den ersten fünf fast ausschließlich Theologie. So besuchte er Vorlesungen bei Neander, drei bei Schleiermacher, eine bei Hengstenberg, eine bei Strauß und eine bei Marheinecke. Außerdem hörte er im ersten und im dritten Semester deutsche und englische Reformationsgeschichte bei F. v. Raumer. Ferner belegte er im ersten Semester bei Zeune die Vorlesungen über die Geographie Deutschlands, im zweiten Semester die Vorlesungen zur Dialektik bei Schleiermacher, im fünften Semester die Moral bei Neander und Griechische Altertümer bei Boeckh. Bemerkenswert ist, daß Graßmann im sechsten Semester keine theologischen Vorlesungen mehr besucht hat; er hörte nur die Psychologie bei Schleiermacher, die Geschichte der griechischen Literatur bei Boeckh und die Geschichte der Philosophie bei H. Ritter. Noch merkenswerter ist, daß er während seines gesamten Studiums nicht eine einzige Mathematikvorlesung besucht hat!87 Zum tieferen Verständnis seines Entwicklungsganges in dieser Zeit bilden die bereits erwähnten Lebensläufe Graßmanns eine unschätzbare Fundgrube, und es ist ein Verdienst seines Biographen Friedrich Engel, diese aufgespürt und weitgehend zugänglich gemacht zu haben. So wissen wir, daß ihn anfangs vor allem die Vorlesungen des Theologen Neander anzogen. Bei ihm fand er sich in seinen bisherigen Glaubensauffassungen bestätigt, und keimende Zweifel beruhigten sich. Die hohe Wertschätzung, die er Neander entgegenbrachte, wurde erst
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Der Kirchenhistoriker August Wilhelm Neander (1789–1850) – sein ursprünglicher Name war David Mendel – war seit 1812 Professor der Theologie in Berlin. Unter dem Einfluß Schleiermachers wandte er sich von seiner jüdischen Religion ab und wurde ein entschiedener Parteigänger des Protestantismus. Er bekämpfte den Pantheismus und verurteilte die religionskritischen Arbeiten von D. Strauß. Weltabgewandt führte er seine kirchenhistorischen Studien, die teilweise unkritisch und dogmatisch waren, vorwiegend bis in die Zeit des 14. Jhs. hinein. Politisch stand er zwischen dem liberalen Schleiermacher und dem reaktionären Hengstenberg. Von den Führern der pommerschen Orthodoxie wurde er verehrt. Als Gegner Hegels versuchte er, das Wunder als das Agens der Kirchengeschichte nachzuweisen und Gott als herrschendes und fortentwickelndes Prinzip der Geschichte darzustellen. Wenn auch wissenschaftlich ohne nachhaltige Bedeutung, hatte er doch einen großen Einfluß auf die theologische Jugend seiner Zeit.82 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) wurde 1809 zum ersten Dekan der Theologischen Fakultät der Berliner Universität gewählt. Er war ein fortschrittlicher patriotischer Gelehrter, der trotz Maßregelung durch die Behörden – wegen seines Eintretens für die Burschenschaften –, mutig für die bürgerliche Umgestaltung Deutschlands eintrat.83 Der Führer der orthodoxen Lutheraner Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802– 1869) war seit 1824 an der Berliner Universität. 1842/43 wurde er zum Dekan der theologischen Fakultät gewählt. Unter seinem Einfluß entwickelte sich die Fakultät – insbesondere auch 1848/49 – zu einer Hochburg der Orthodoxie. Hegel und Schleiermacher bekämpfte er entschieden. Als Führer der Allianz zwischen altpreußischem Adel und neupreußischer Orthodoxie stellte er, antirevolutionär gesinnt, die Kirche in den Dienst der Reaktion.84 Der Pietist Gerhard Abraham Strauß (1786–1863) wurde 1821 zum Professor der Theologie nach Berlin berufen. Für die Entwicklung der Theologie lieferte er kaum nennenswerte Beiträge. Der anfangs zwischen Liberalismus und Reaktion vermittelnde Strauß ging später auf die Position Hengstenbergs über.85 Philipp Konrad Marheinecke (1780–1846) war seit 1810 Professor für Dogmatik und Kirchengeschichte an der Berliner Universität. Er wurde der erste Anhänger, den Hegel in Berlin gewann. Dadurch geriet Marheinecke später in Konflikt mit seiner Fakultät, an der orthodoxe Lutheraner und Pietisten vorherrschten, die eine Unterordnung der Theologie unter die Philosophie ablehnten. In den Jahren 1817/18 und 1831/32 war er Rektor der Universität.86
allmählich durch den wachsenden Einfluß, den Schleiermacher auf ihn ausübte, relativiert. Doch auch in späteren Jahren schätzte er Neander noch – zwar weniger dessen Lehre, aber dafür Haltung und Persönlichkeit um so mehr: „mir [ist] immer diese wahrhaft kindliche Einfalt in seinem ganzen Wesen, wie in seinem Vortrage, diese Innigkeit der religiösen Überzeugung, mit der er das Fremdartige aufnimmt und verarbeitet, ohne sich im mindesten irre machen zu lassen, diese echte Demut und Bescheidenheit, höchst achtungswert und liebenswürdig gewesen“, schreibt er im November 1836 an seinen Bruder Robert.88 Am
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Abb. 12. August Boeckh (1785–1867)
wenigsten unter den Theologen sagten ihm hingegen Marheinecke und Hengstenberg zu.89 Bereits während der Universitätszeit eignete sich Hermann Graßmann eigenständige Studienmethoden an, welche ihn zu seinem späteren autodidaktischen Eindringen in die Mathematik befähigten. Hinterließ anfangs die Wissenschaft, wie sie die Professoren verkündeten, einen derart gewaltigen Eindruck auf ihn, daß er glaubte, aus der reinen Quelle der Wahrheit zu schöpfen, so wurde er doch bald von einem kritischeren Geiste beseelt. Schrittweise begann er nun, „seine eigenen Wege zu gehen und zu begreifen, daß die akademischen Vorlesungen nur dann Frucht bringen können, wenn man sie sparsam genießt . . .“94 Wie kam es nun aber, daß er sich, erkennbar auch aus seiner Vorlesungsbelegung, im letzten Jahr seines Studiums von der Theologie abund der Philologie zuwandte? Er selbst betont, daß dieser Entschluß nicht plötzlich gekommen sei. Die jugendliche Liebe zum Landleben sei allmählich verblaßt und die Verkümmerung des wissenschaftlichen Interesses bei vielen Landpfarrern habe ihn abgeschreckt und für sich selbst ähnliches ahnen lassen. Außerdem sei die Hoffnung, ein geistliches Amt in einer Stadt bekleiden zu können, gering gewesen. So wollte er die Zeit bis zum Antritt einer Landpfarre möglichst ausgiebig nutzen, um sich durch allseitige wissen-
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Der Historiker Friedrich von Raumer (1781–1873) erhielt 1811 eine Professur in Breslau. 1819 wurde er als Professor der Staatswissenschaften und der Geschichte nach Berlin berufen. In den Jahren 1822/23 und 1842/43 wurde er zum Rektor der Universität gewählt. 1848 war er Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung (rechtes Zentrum).90 Johann August Zeune (1778–1853) war einer der führenden Vertreter der bürgerlichen Intelligenz an der Berliner Universität. Während der Zeit der Napoleonischen Fremdherrschaft war er Mitglied des „Tugendbundes“ und gehörte mit zu den Begründern des sogenannten Deutschen Bundes. Er stand Pestalozzi nahe und war eng befreundet mit Jahn. 1810 wurde er außerordentlicher Professor an der Berliner Universität. Hier sorgte er in hervorragender Weise für die Verbreitung der Ideen A. v. Humboldts. Sein Auftreten war ganz im Sinne des Neuhumanismus. Gleichzeitig zeigten sich bei ihm jedoch auch Elemente eines reaktionären Nationalismus, die in seiner Deutschtümelei Ausdruck fanden.91 August Boeckh (1785–1867) wurde 1810 als Professor für klassische Philologie an die Berliner Universität berufen. Während seiner fünfzigjährigen Lehrtätigkeit hatte er sechsmal das Amt des Dekans der Philosophischen Fakultät inne und wurde fünfmal zum Rektor gewählt. Boeckh verband die Philologie mit der Geschichtsforschung und gilt als Begründer der modernen Inschriftenkunde. Seine wissenschaftlichen Leistungen und sein Eintreten für liberale Reformen erwarben ihm ein hohes Ansehen bei Kollegen und Studenten.92 Der Philosophiehistoriker Heinrich Julius Ritter (1791–1869) hatte von 1811 bis 1815 in Halle, Göttingen und Berlin Theologie studiert. In Berlin wurde er ein Anhänger und Schüler Schleiermachers. Er promovierte 1817 in Halle und habilitierte sich in Berlin als Privatdozent. Erst 1824 erhielt er eine außerordentliche Professur. 1833 verließ er die Berliner Universität, da er selbst nach dem Tode Hegels – unter dem weiteren Einfluß der Anhängerschaft Hegels – keine Aussicht auf eine ordentliche Professur hatte. Seine Philosophie trägt eklektizistische Züge. „Sein philosophisches Streben geht auf eine christlich-theistische Weltanschauung, indem er auch den Wunderbegriff und die Wirklichkeit der Offenbarung verteidigt.“93
schaftliche Bildung ein unauslöschliches Interesse an der Wissenschaft zu erhalten. Dazu eben sollte ihm die Philologie dienen.95 Er war überzeugt, daß ihm das Studium der Philologie, das sehr viele Gebiete der Wissenschaft einbegriff, eine Liebe zur Wissenschaft erwekken würde, die auch in ländlicher Abgeschiedenheit nicht mehr absterben könnte. So ging er nun daran, ganz im Sinne seiner vorher dargelegten Auffassungen über den Wert von Vorlesungen, seine Philologiestudien systematisch, nach einen umfangreichen Plan zu betreiben. Zunächst wollte er sich dem Griechischen als Grundlage für das Lateinische zuwenden, jedoch zur Abwechslung auch den einen oder anderen Römer einbeziehen. Hätte er erst einen festen Grund in der Philologie, so wollte er sich der Mathematik zuwenden, die ihm den alten Sprachen zu entgegengesetzt schien, um beide gleichzeitig betreiben zu können.
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Dieses umfassende, eigenständige Programm, das den in seiner Jugendzeit charakteristischen Fleiß wiederholt bestätigt, überstieg jedoch sein geistiges und physisches Leistungsvermögen, so daß er, mitten in der Ausführung, erkrankte. Neben dem sich ankündigenden Einfluß Schleiermachers war diese Krankheit ein Grund für ihn, seine Lebensauffassung noch einmal gründlich zu revidieren. Er erkannte, daß die betriebene Studienintensität seiner Natur zuwider lief und die Gesundheit ernstlich angriff. So entschloß er sich, ein angemesseneres Tempo zu wählen und bei unvermindertem Fleiße den Wissensstoff sorgfältiger auszuwählen. Sich beschränkend auf das wirklich Bildende wollte er nunmehr bei größter Abwechslung des Stoffes und angemessener Proportion von Arbeit und Erholung seine Studien zu Ende führen. Sein Herangehen führte ihn zu größter Selbständigkeit, Allseitigkeit sowie zu optimaler Ausnutzung seines physischen und psychischen Lei-
Abb. 13. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834)
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stungsvermögens. Gleichzeitig trugen aber diese stark autodidaktischen Züge seines Schaffens die Keime der Isolation von den neueren Tendenzen der zeitgenössischen Wissenschaftsentwicklung in sich. In seinem späteren Schaffen traten diese negativen Momente autodidaktischer Wissensaneignung, modifiziert durch vielfältige Einflüsse, verstärkt hervor. Gleichzeitig mit der Veränderung der Studienweise vollzog sich unter dem wachsenden Einfluß Schleiermachers die Weiterentwicklung seiner weltanschaulich-ethischen Grundprinzipien. In seinem Lebenslauf schreibt Graßmann hierüber: „Schon im zweiten Semester hatte ich Kollegia bei Schleiermacher gehört, die ich aber nicht verstand96 ; dagegen fingen seine Predigten an, Einfluß auf mich zu gewinnen. Doch erst im letzten Jahre zog mich Schleiermacher ganz an; und obwohl ich damals schon mich mehr mit der Philologie beschäftigte, so erkannte ich doch nun erst, wie man von Schleiermacher für jede Wissenschaft lernen kann, weil er weniger Positives gibt, als er geschickt macht, eine jede Untersuchung von der rechten Seite anzugreifen und selbständig fortzuführen, und in den Stand setzt, das Positive selbst zu finden. Zugleich hatten auch seine Ideen selbst mich angeregt, seine Predigten mein Gemüt erweckt, und dies konnte nicht ohne Einfluß auf meine Grundsätze und meine ganze Denkweise bleiben. Dazu kam noch eine Krankheit, die mich ernster stimmte und mich auf mich selbst zurückwies; und so kam ich denn mit der Zeit zu der Erkenntnis, daß meine bisherigen Grundsätze falsch und einseitig gewesen seien. – Ich sah ein, daß das Ankämpfen gegen das Temperament ein durchaus vergebliches, ja verderbliches Abmühen gewesen sei; ein vergebliches, weil es doch nie gelingen könne, das Temperament zu vernichten oder in das entgegengesetzte zu verwandeln; ein verderbliches, weil damit immer notwendig ein Zerstören des Körpers, ein Aufheben der Geisteseigentümlichkeit, also überhaupt eine Zerstörung des individuellen Lebens verbunden sei [Hervorheb. – H.-J. P.].“97 In dieser bemerkenswerten Rechenschaftslegung über die Befestigung seiner weltanschaulichen Positionen findet der zwiefache Einfluß, den Schleiermacher auf Graßmann ausübte, deutlichen Ausdruck. Es handelt sich erstens um die kritische Aneignung der Schleiermacherschen Ansätze zur Erkennntnistheorie und Methodologie der Wissenschaften, die dieser vorrangig in seinen Vorlesungen zur Dialektik vortrug, und zweitens um den Einfluß der ethischen Anschauungen Schleiermachers auf das Denken Hermann Graßmanns. Im vorzüglichen Maße schöpfte er aus dem Gedankenreichtum und der dialektischen Tiefe Schleiermachers98 jenes dialektisch-methodische Rüstzeug, welches ihm erlaubte, sein Lebenswerk, die Ausdehnungslehre, zu schaffen.99 Die ethische Konzeption Schleiermachers, die auf die volle Ausbildung der Individualität in der menschlichen Gemeinschaft
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und durch den Einsatz für die Gemeinschaft zielte100 , regte Graßmann an, beständig nach der seiner Persönlichkeit adäquaten Lebensweise zu suchen und sich am geistig-kulturellen Leben seiner Zeit – besonders nach der Rückkehr in seine Heimatstadt Stettin – aktiv zu beteiligen. Schleiermacher führte Graßmann zur weiteren Selbsterkenntnis und wies ihm den Weg, sich auf eigene Weise die Wissenschaft anzueignen. Sich selbst als phlegmatisch kennzeichnend, kommt Hermann Graßmann zu dem Schluß: „So muß der Phlegmatische nicht dahin streben, den Schlendrian seiner Gedanken zu einem kühnen Fluge antreiben zu wollen, denn die Flügel, mit denen er zur Sonne sich aufzuschwingen strebt, sind nicht ihm eigentümlich; und er wird daher bald wie Ikarus auf die Erde zurückstürzen. Er muß vielmehr seinem Gedankengange Klarheit zu geben suchen und in der Klarheit Tiefe . . . Demgemäß gestaltete sich denn auch die Idee von der Anstrengung um; und diese sollte sich jetzt nur darauf hinwenden, alles, was die Sinnlichkeit dem Geist hemmend entgegenstellt, wegzuräumen; und das Streben richtete ich, soviel ich konnte, auf alle Lebensgebiete (nicht bloß auf das der Wissenschaft).“101 Das breite Spektrum des während seiner Studienzeit erworbenen Wissens war eine wesentliche Grundlage für die Ausreifung des Weltbildes Graßmanns und für seine spätere große Produktivität auf den verschiedensten Wissenschaftsgebieten. Namentlich seine Studien der Philologie waren ein Fundus für die hervorragenden sprachwissenschaftlichen Leistungen, welche ihm viel eher Anerkennung und Ehren einbringen sollten als sein mathematisches Lebenswerk.
Der Begriff des Phlegmatikers tritt in der Selbstdarstellung Graßmanns häufig auf. Aufschluß über den Inhalt, den er diesem Begriff beilegt, sowie über seine Vorstellungen vom Idealtypus der Charakteranlage, gibt ein Brief, den Graßmann im November 1848 an seine Verlobte schrieb. In diesem Brief geht er von den klassischen vier Temperamenten – Phlegmatiker, Choleriker, Melancholiker und Sanguiniker – aus, denen er die negativen Bestimmungen nimmt und die er als gleich wertvoll ansieht. Er führt aus: „Von meinen vier Temperamenthelden soll nun zuerst der Phlegmatische die Bühne betreten. Damit ich aber sogleich das Vorurteil, was an diesem Namen klebt, los werde, und Du nicht glaubst, es müßte nun so ein unempfindlicher Faulpelz und Dickhäuter auftreten, der sich an nichts in der Welt kehrt und nächster Tage einschlafen wird, so will ich ihn lieber mit seinem ehrlichen deutschen Namen bezeichnen, und ihn den ‚Beharrlichen‘ nennen. Nun, dessen Bild ist leicht entworfen. Von Sentimentalität und schnellem Überspringen von einem zum andern weiß er nichts. Das, was er einmal begonnen hat, läßt er nicht leicht unvollendet; gelingt es ihm nicht sogleich, so fängt er von neuem an, und arbeitet unverdrossen daran weiter, bis ers vollendet hat. Ein Ziel ist es, was er vor Augen hat, und alle einzelnen Taten und Bestrebungen ordnen
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sich dem Einen großen Ganzen unter, der einen Idee, die er als Aufgabe und Zweck seines Lebens erkennt. Sein ganzes Leben und Wirken gestaltet sich so zu einer großen Einheit, in deren Kreis er alles hineinzieht. Festigkeit des Willens, Einheit des Strebens, unerschütterliche Ausdauer in dem begonnenen Werke, unermüdliche Verfolgung des einen Lebenszweckes ist also das Eigentümliche, was ihn auszeichnet. Die mannigfachen Eindrücke und Verwickelungen des äußeren Lebens, die auf ihn eindringen wollen, stören ihm das reine und volle Bild, was er verwirklichen und vollenden will; daher schließt er sich gerne dagegen ab und erscheint daher oft als unempfindlich und gleichgültig, was er doch nicht ist.“102 Die Identifikation Graßmanns mit diesem Typus des Phlegmatikers, des „Beharrlichen“, wie er ihn nennt, ist deutlich erkennbar, in dem angeführten Zitat spiegelt sich das Hinausgehen über sein Suchen nach angemessenen Wertvorstellungen während der Universitätszeit wieder, das in der positiven Bestimmung der eigenen Verhaltensdisposition gipfelt. Sein Lebensziel, die Ausarbeitung der Ausdehnungslehre, hatte er zu dieser Zeit bereits gefunden, und sein Hauptwerk (A1) war schon erschienen. Neben dem Phlegmatiker führt er als zweiten Haupttypus der männlichen Charaktere – das Sanguinische („Gemütsoffene“) und das Melancholische („Gemütstiefe“) sieht er als Hauptattribute weiblicher Charaktere an – den Choleriker an und grenzt ihn vom Phlegmatiker ab: „Nach dem Phlegmatischen mag nun sein Bruder, der Cholerische, den ich lieber, damit Du Dir nicht eine Art Zornteufel darunter denkst, den Entschlossenen nennen will, auftreten. Das hat er mit seinem Bruder gemein, daß er ebenso von aller Sentimentalität ferne ist, oder wenigstens von jener in sich selbst versunkenen Sentimentalität, und daß er ebenso bereit ist zur Tat. Aber es ist nicht Ein großes Werk, was er unabhängig von den verschiedenen Anreizungen des äußeren Lebens vollenden will; sondern eben diese Anreizungen locken in ihm selbst den Entschluß und die Tat hervor. Dieses Hervortreten des Entschlusses in den plötzlich eintretenden, mannigfach verschlungenen Lebensverhältnissen, dies schnelle, wie durch eine unbewußte Macht hervorgerufene Entscheiden und Handeln ist ihm vor allem eigen. Schnell reift in ihm der Entschluß, da braucht er nicht lange hin und her zu überlegen; wie durch einen Instinkt greift er schnell das rechte Mittel heraus, um seinen Zweck zu erreichen. Der Entschlossene ist daher vor allen dazu berufen, auf die Gestaltung des Lebens einzuwirken, oder in die Triebräder der Zeitentwickelung selbsttätig hineinzugreifen; während der Phlegmatische, dem wechselnden Leben mehr entfremdet, dazu berufen ist, mit kalter Besonnenheit und sorgsam abwägender Prüfung weitaussehende Pläne zu entwerfen oder wissenschaftliche Gebäude aufzurichten.“103 Der Phlegmatische ist ihm somit der Typus des Wissenschaftlers, der besonnen seine wissenschaftlichen Ideen verfolgt, während der Cholerische (oder Entschlossene), der in dieser Darstellung viele Ähnlichkeiten mit Graßmanns Bruder Robert aufweist, der Typus des aktiven Politikers ist. Hermann Graßmann ist jedoch nicht davon überzeugt, daß in dieser Trennung der Charaktere das Idealbild des Menschen zu finden sei. Ihre Einheit stelle erst das wahrhaft Menschliche dar, das sich jedoch – hier treten Auffassungen Schleiermachers hinzu – nur in der Ganzheit der Menschheit verwirklichen kann und am Einzelindividuum seine Schranken findet.
1.4 Durchgangspunkte zur Mathematik (1830–1840)
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Was nun die Mathematik anbetrifft, so wurde bereits hervorgehoben, daß er während seines Studiums keinerlei mathematische Vorlesungen hörte. In seinem Lebenslauf betont er zwar, daß er sich bereits mit der Mathematik zu beschäftigen begann; genauere Angaben fehlen jedoch, so daß er wohl kaum über Anfänge hinausgekommen ist. Anzunehmen ist aber, daß sich Hermann Graßmann104 mit den in dieser Zeit erschienenen mathematischen Schriften seines Vaters „Über den Begriff und Umfang der reinen Zahlenlehre“ (ZL) sowie der Abhandlung „Zur physischen Krystallonomie und geometrischen Kombinationslehre“ (KRY) intensiv beschäftigt hat und sie systematisch durcharbeitete. Die sonstige Ausführlichkeit seines Lebenslaufes, der sich aber in bezug auf den Inhalt der mathematischen Studien während der Universität ausschweigt, läßt es als sicher erscheinen, daß eine systematische Beschäftigung mit der Mathematik noch nicht vorlag. Damit liegt der Schluß nahe, daß Hermann Graßmann bei seinem späteren vertieften Eindringen in die Mathematik vor allem durch diese beiden Schriften „vorbelastet“ war, und somit die Auffassungen seines Vaters in ihm intensiv weiterwirken konnten.105
1.4 Durchgangspunkte auf dem Weg zur eigenständigen mathematischen Leistung (1830–1840) Mit dem Nahziel der Vorbereitung auf die Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen kehrte Hermann Graßmann im Herbst 1830 nach Stettin zurück. Da er wieder vollständig gesundet war, griff er den vormaligen Plan der Organisation des Selbststudiums wieder auf. In den fünf Vierteljahren vom Herbst 1830 bis zum Dezember 1831 beschäftigte er sich daher intensiv mit der Mathematik, deren Studium er mit dem der Physik (nach einem Lehrbuch von Ernst Gottfried Fischer 1826) und der Naturkunde (Zoologie, Botanik und Mineralogie nach Georg August Goldfuß) verband. Philologische, mythologische und geschichtliche Untersuchungen trieb er zur Abwechslung. Er begann mit dem gleichzeitigen Studium der Geometrie mit Adrien-Marie Legendres „Eléments de Géométrie“ (1823) sowie der Arithmetik nach Georg Freiherr von Vega (1802), wobei er die Behandlung der mehr in das Gebiet der Geometrie fallenden Lehren mit den Theorien der Arithmetik verband, weil dadurch, wie er in seinem 1834 verfaßten Lebenslauf vermerkt, das Studium vielseitiger wäre, da die Geometrie „das, was sie bewiesen hat oder was bewiesen werden soll, einem gewissermaßen vor Augen stellt, während die Lehren der Arithmetik mit dem Geiste und dem Denken erfaßt werden müssen“.106 Hieran schlossen sich die Kombinationslehre, „die ihm den Weg zu den höheren Gebieten der
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Mathematik bahnen sollte“107 , und die sphärische Trigonometrie an, die er jeweils nach Heften seines Vaters studierte. Es folgte das Studium der Kegelschnitte nach Friedrich Wilhelm Schneider (1824), das er als Zugang zur Differential- und Integralrechnung auserkor, ferner die Beschäftigung mit der Theorie der endlichen und unendlichen Reihen sowie mit den algebraischen Gleichungen dritten und vierten Grades und letztlich die Bearbeitung der Differentialrechnung nach Johann Tobias Meyer (1819). Die von Graßmann hier gewählte Studienweise war ein wesentlicher Quellpunkt für die späteren genialen Ideen, die er in seiner Ausdehnungslehre niederlegen sollte. Die enge Verbindung von Geometrie, Arithmetik und Kombinationslehre, für die ihm auch die Bücher seines Vaters ein Beispiel gaben, schärfte seinen Blick für übergreifende Gesetzmäßigkeiten und förderte das Analogiedenken. Bekräftigt wird diese Feststellung durch Aussagen Graßmanns, nach denen er bereits 1832 die geometrische Addition und Multiplikation von Strecken (Vektoraddition und äußeres Produkt von Vektoren) fand108 , und damit, im Ansatz bereits weit über Möbius hinausgehend, Kerngedanken seiner Ausdehnungslehre antizipierte109 . Vorerst jedoch blieben es nur vereinzelte Ideen, Randprodukte der Vorbereitung auf die Lehramtsprüfungen. Als Ostern 1831 am Stettiner Lehrerseminar, das mit dem Gymnasium gekoppelt war, zwei Plätze frei wurden, nahm man Hermann Graßmann auf. Mit dem Eintritt in diese Einrichtung war die Erklärung verbunden, sich unmittelbar nach Ausscheiden wenigstens drei Jahre als Lehrer zu betätigen oder die Hälfte des Stipendiums, das sich auf 150 Taler jährlich belief, zurückzuzahlen. Gleichzeitig war ein bestimmtes Unterrichtspensum am Stettiner Gymnasium zu leisten.110 Während des Sommers 1831 unterrichtete Hermann Graßmann daher zehn Wochenstunden Deutsch und zwei Wochenstunden Raumlehre als Hilfslehrer am Stettiner Gymnasium. Gleichzeitig schrieb er an den drei Prüfungsarbeiten für die wissenschaftliche Prüfungskommission in Berlin. Unter diesen Prüfungsschriften befand sich auch eine zur Mathematik, die dem Thema „Über den Begriff eines Differenzial“ gewidmet war. Friedrich Engel vermerkt zu dieser Arbeit: „Sie enthält allgemeine, zum Teil etwas philosophisch gehaltene Betrachtungen über den Begriff des Unendlichen, über die unendlich kleinen Größen und über die Differentiale; Originalität zu zeigen war Graßmann selbstverständlich hierbei nicht in der Lage, wohl aber erkennt man, daß er scharf und gründlich über alle diese Begriffe nachgedacht und sie sich vollkommen klar gemacht hat . . .“111 Obgleich das Urteil Engels recht zurückhaltend ausfällt, wird auch in ihm die für das Denken Hermann Graßmanns typische (und hierin seinem Vater folgende) Herangehensweise an die Mathematik
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sichtbar, bei der der mathematische Zugang stets von philosophischen Überlegungen flankiert oder gar initiiert wird. Die mündliche Prüfung erfolgte am 17. Dezember 1831. In dem vom 31. Dezember datierten Zeugnis wird ihm die Lehrberechtigung für den philologischen Unterricht in den unteren und mittleren Klassen, für den historischen Unterricht bis Tertia, für den mathematischen Unterricht bis Sekunda sowie für die Naturlehre und für Deutsch in den unteren und mittleren Klassen erteilt. Nur bezüglich seiner philosophischen Kenntnisse hatte die Prüfungskommission Bedenken. Im Zeugnis heißt es: „Die Prüfung in der Philosophie . . . ergab, daß der Kandidat zwar diejenige philosophische Bildung besitzt, welche zu einer methodischen Entwickelung allgemeiner Begriffe erforderlich ist, daß er aber mit den Ergebnissen der philosophischen Untersuchungen nur wenig bekannt ist . . . Er ist daher noch nicht fähig, die philosophische Propädeutik zu lehren und die Übungen zu leiten, welche das allgemein wissenschaftliche Denken anregen und ausbilden sollen.“112 Damit werden die Aussagen Graßmanns erhärtet, daß es ihm während des Studiums vorrangig nur um die Aneignung der philosophischen Methode ging, nicht aber um den Ideengehalt philosophischer Systeme. Wie sehr er jedoch in der Lage war „das allgemein wissenschaftliche Denken“ anzuregen, bewies er in der Folgezeit an seinen eigenen wissenschaftlichen Ergebnissen. Nach bestandenem Examen blieb er noch bis zum Herbst 1834 als Hilfslehrer am Gymnasium. Den Militärdienst, zu dem er sich im April 1832 meldete, brauchte er nicht anzutreten, da er „wegen allgemeiner Körperschwäche als Halbinvalide anerkannt und dem Train sowie dem zweiten Aufgebote der Landwehr bis zum zurückgelegten 39. Lebensjahre zur Verfügung gestellt“113 wurde. Er beschäftigte sich in der Zeit nach dem Examen vorrangig mit seiner Lehrtätigkeit und führte, davon angeregt, botanische Studien und eine barometrische Höhenmessung durch. In der griechischen Literatur wandte er sich besonders den Dialogen des Platon zu. Auch mathematische Studien müssen in dieser Zeit fortgeführt worden sein. 1833 legte Graßmann sein erstes theologisches Examen ab. Noch immer hatte er den Gedanken einer Anstellung als Prediger nicht aufgegeben, wie auch durch Aussagen seines Bruders erhärtet wird.114 Der Wunsch nach einer wissenschaftlichen Tätigkeit schien sich jedoch schon relativ stark gefestigt zu haben, denn als sich ihm im Oktober 1834 die Möglichkeit bot, eine Anstellung als Mathematiklehrer an der Berliner Gewerbeschule zu erlangen, griff er sofort zu. Durch die Ernennung J. Steiners zum Extraordinarius an der Berliner Universität war die Stelle eines mathematischen Oberlehrers frei geworden. Steiner, der eigenwillige Neubegründer der synthetischen Geo-
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metrie in Deutschland, hatte seit 1829 an der Berliner Gewerbeschule unterrichtet und war froh, nunmehr von dem „verhaßten Schuljoch“115 befreit zu werden. Bei der Suche nach einem angemessenen Ersatz fiel die Wahl auf den Schulamtskandidaten Graßmann, „dessen Zeugnisse und anderweitig über ihn eingezogene Nachrichten am meisten von allen Bewerbern für ihn zu sprechen schienen . . .“.116 In einem Bericht des Direktors an das Kuratorium der Schule wird Graßmann folgendermaßen charakterisiert: „Herr Graßmann ist ein junger Mann, dem es nicht an Kenntnissen fehlt. Auch ist ersichtlich, daß er insonderheit über die Elemente der Mathematik reichlich nachgedacht hat und klar darüber denkt. Er scheint aber wenig Umgang gehabt zu haben und ist deswegen in den gewöhnlichen Formen des geselligen Lebens zurück, schüchtern, leicht verlegen, und dann unbeholfen.“117 Graßmann übernahm vorerst 10 Unterrichtsstunden in den unteren Klassen, während Steiner sich bereiterklärte, den Unterricht in den oberen Klassen noch ein halbes Jahr weiterzuführen. Gleichzeitig wurde Steiner von der Schule verpflichtet, „zum Besten der Schule, dem oder denjenigen Lehrern der Mathematik, welche in den unteren Klassen unterrichten, nicht allein dadurch nützlich zu werden, daß sie seinem Unterrichte in den oberen Klassen, soweit ihre Zeit reicht, beiwohnen, sondern ihnen auch die wesentlichen Gesichtspunkte seiner Methode anzugeben, ihre Fragen zu beantworten, und sie, soweit dies hierdurch möglich ist, zur Ausübung seiner Methode anzuleiten“118 . Den persönlichen Einfluß, den Steiner auf Graßmann ausübte, kann man trotz dieser Abmachungen nicht als sehr nachhaltig bezeichnen. Beide sind wohl kaum in enge Beziehung gekommen. Schon charakterlich waren die Differenzen zu groß. Der fünfundzwanzigjährige Graßmann war schüchtern und zurückgezogen, der achtunddreißigjährige Steiner wegen „seiner Derbheit und Grobheit bekannt, ja berühmt . . .“.119 Der Name Steiners tritt auch in den Briefen an Eltern und Geschwister in dieser Zeit nie auf. Zwar berichtet sein Bruder Robert später über diese Zeit: Hermann „trieb nun eifrig Mathematik, wobei ihm die Arbeiten Jakob Steiners, seines Vorgängers im Amte, viel Anregendes boten, obwohl der Weg, auf dem Steiner wandelte, mehr der synthetisch konstruierende, der Weg, den Graßmann einschlug, mehr der analytisch ableitende war.“120 Unzweifelhaft ist indes die Feststellung von Engel, der diesbezüglich betonte: „Aber es liegt klar zutage, daß das Studium der Schriften Steiners auf Graßmanns Art, mathematisch zu denken, keinen merkbaren Einfluß ausgeübt hat.“121 Das noch geringe Zutrauen in seine eigenen mathematischen Fähigkeiten drückt sich auch in der nur sehr zögernden und „ängstlichen“122 Korrektur der Druckbogen eines mathematischen Lehrbuches (J. Graßmann 1835) seines Vaters aus, das in dieser Zeit bei Reimer erschien.
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Abb. 14. Jakob Steiner (1796–1863)
Sehr wechselnd und anfangs belastet vom Tod seiner jüngsten Schwester, die, noch nicht vierjährig, in Februar 1834 verstorben war, zeigte sich die Gemütsstimmung Graßmanns. Hinzu kommt, daß er sich, entfernt von Verwandten und Bekannten, in der Großstadt Berlin verlassen fühlte. Religiöse Grübeleien und weltverächtliche Gedanken nehmen daher anfangs in seinen Briefen breiten Raum ein. Auch seine schüchterne, unpraktische Art förderte diesen Hang zur Innerlichkeit. So schreibt er im Januar 1835 an seinen Vater: „Meine Ansichten wollen sich noch immer nicht recht fixieren und namentlich in Beziehung auf alles das, was das praktische Leben betrifft; wo sich fast täglich meine Ansichten ändern . . .“123 Langsam beginnen jedoch, wie Graßmann in seinem Lebenslauf andeutete, in dieser Zeit, da er, auf eigenen Füßen stehend, ganz auf sich angewiesen ist, seine weltanschaulich-religiösen Ansichten mehr und mehr die mystischen Züge zu verlieren. Neben der Wertschätzung der Religion tritt unter dem Eindruck des eigenen Erlebens die Wert-
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schätzung der Wissenschaft zunehmend stärker hervor und bahnt die spätere endgültige Lösung vom Wunschbild einer Predigertätigkeit an. In einem Brief an seinen Vater vom März 1835 findet dieser Klärungsprozeß Ausdruck: „Ich bin in der letzten Zeit um vieles ruhiger geworden, und namentlich fängt meine ganze religiöse Richtung an, sich mehr mit dem Leben zu versöhnen; ich erkenne immer mehr, wie es ein vergebliches Bestreben ist, Gott immer unmittelbar schauen zu wollen, ja wie durch ein solches Streben, indem sich immer gar leicht Gefühle einmischen, die nur halb unser eigen sind, der Sinn für das Göttliche gerade abgestumpft werden kann; ich erkenne immer mehr, wie in der Tätigkeit des Lebens, im Studium der Wissenschaft auch Gott mittelbar geschaut werden kann, wie wir auch da ebenso die heiligste Aufgabe, die uns gegeben ist, lösen, wie wir auch da nach dem Reiche Gottes trachten können; ich fühle es an mir, wie gerade hierdurch wieder der Sinn geschärft wird, um nun das Göttliche von andern Seiten her auch unmittelbar zu schauen; – und es geistiger und wahrer zu erfassen. So glaube ich auch, daß es keinesweges ein Vergehen ist, wenn man sich in die Wissenschaft so versenkt, daß man in ihr sich selbst vergißt, um die Wahrheit d. h. sein höheres Selbst zu finden; . . .“124 Die sich hier abzeichnenden pantheistischen Tendenzen verstärken sich in seinem späteren wissenschaftlichen Schaffensprozeß. Obgleich er das Ziel der Beschäftigung mit der Wissenschaft als ein „rein geistiges Bedürfnis“ auffaßt, das „seinen letzten Zielpunkt auch in Gott hat“125 , tritt in allen seinen wissenschaftlichen Abhandlungen der Begriff Gottes, im Gegensatz zu den Arbeiten seines Vaters, weder explizit noch implizit auf. Gott liegt vor und nach der Wissenschaft, aber nicht in ihr. Gleichzeitig mit der Aufwertung der Wissenschaft beginnt Graßmann sich die ethischen Wertvorstellung Schleiermachers zu eigen zu machen und seine Zurückgezogenheit zu durchbrechen: „Mir wird es immer klarer, daß das gesellige Leben in engern und weitern Kreisen keineswegs eine bloße Erholung gewähren, sondern unser Bildungsplatz, unser heiliger Beruf sein soll; ja jeder Versuch, den eigentlichen Wirkungskreis auf den äußern Beruf der Schule zu beschränken, ist mir mißlungen und mußte mir mißlingen: um in der Schule wirken zu können, muß ich im gesamten geselligen Leben wirken; nur so bleibe ich frei von Schulpedanterie, nur so kann jene Wirksamkeit Leben und Innerlichkeit gewinnen.“126 Damit bereitet sich jene gesellschaftliche Aktivität Graßmanns vor, die ihn veranlassen wird, in den verschiedensten Vereinen und Organisationen seiner Heimatstadt später tätig zu sein und das wissenschaftlichkulturelle Leben Stettins mitzuprägen. Vorerst jedoch tritt Graßmann nur der Stettiner Freimaurerloge bei, in der neben seinem Vater viele der angesehensten Bürger der Stadt versammelt waren.
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Lange hält es ihn nicht in Berlin. Als sich Ende 1835 die Möglichkeit bietet, Lehrer an einer neu errichteten Stettiner Bürgerschule zu werden, löst er sein Verhältnis zur Gewerbeschule und kehrt am 1. Januar 1836 zurück in die Heimatstadt, in der er bis zu seinem Lebensende bleiben sollte. Wie Graßmann hier wieder auflebt, jedoch gleichzeitig den Wert der zurückliegenden Berliner Zeit erkennt, geht aus einem Brief an seinen Bruder Robert hervor, den er Ende Februar 1836 verfaßte. Er schrieb dort u. a.: „Anderthalb Monate bin ich nun schon in Stettin, und ich kann Dir nicht sagen, wie wohl es mir hier gefällt, besonders im Vergleich mit Berlin. Gleich damals, als ich nach Berlin ging, dachte ich mir freilich, wie viel ich verlieren würde an alle dem, was das Leben angenehm und schön machen kann, aber ich vergegenwärtigte mir auch, wie die ganze veränderte Lebenslage, der neue Wirkungskreis, die Selbständigkeit, auf die ich hier notwendig angewiesen war, verbunden mit den mannigfachen geistigen Anregungen, die Berlin darbietet, wie dies alles notwendig neue geistige und moralische Kräfte in Bewegung setzen müsse, und in jedem Falle also meiner Entwickelung förderlich sein müsse; und ich habe mich nicht geirrt. Die Erfahrung dieses Jahres möchte ich nicht gegen eine im alten Gleise fortfließende Zeit vertauschen. Doch war ich in der Tat zuletzt schon recht müde und dies hin- und hergeworfne, nirgends mit rechter Liebe und Freude haftende Leben, fing an mich abzuspannen, und ich war daher recht herzlich (froh), als ich Stettin wiedersah. Die Anregungen sind hier nicht so stürmisch aber desto inniger; der Wirkungskreis im Beruf nicht so groß, aber dafür segensreicher für die, auf die er gerichtet ist, wie für mich selber; und selbst die Hilfsquellen fließen hier zwar nicht so reichhaltig, aber ich bin desto mehr im Stande, daraus zu schöpfen.“127 Am 5. Januar 1836 stellt Graßmann an den Stettiner Magistrat das Gesuch, ihm „die an der hiesigen Ottoschule neu errichtete Lehrerstelle geneigtest zu erteilen“.128 Die neu gegründete Einrichtung sollte den Schülern eine etwas bessere Bildung zuteil werden lassen als die Bürgerschule, ohne jedoch die Ziele einer höheren Bürgerschule zu erreichen. Der erste Rektor der Schule war Christian Heß, ein Schwager Hermann Graßmanns. Von ihm ist H. Graßmann wahrscheinlich auch für die Stelle des wissenschaftlichen zweiten Lehrers protegiert worden. Diese Vermutung wird auch dadurch bekräftigt, daß Graßmann sofort den Unterricht übernahm, während seine Berufung und Vereidigung erst im Februar bzw. März 1837 erfolgte.129 Er wurde verpflichtet, 24 Stunden wöchentlich in den beiden höchsten Klassen zu unterrichten. Hiervon entfielen vier auf Mathematik und drei auf Physik. Hervorzuheben ist, daß sich Graßmann für den Experimental-Unterricht einsetzte und die Schüler anregte, auch zu Hause Expe-
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Abb. 15. Hermann Graßmann als Lehrer Bleistiftzeichnung eines Schülers
rimente durchzuführen. Seine wissenschaftliche Tätigkeit verknüpfte er eng mit dem Unterricht. „Ich treibe jetzt fast weiter nichts als Gegenstände, die mit der Schule in enger Beziehung stehen, und treibe alles so, als ob ich mein Leben lang Lehrer an der Ottoschule bliebe;“ schreibt er im Februar 1836 an seinen Bruder, „denn es gibt auch hier einen Weg, sich dabei wissenschaftlich auszubilden, indem ich bei dem, was in der Schule vorkommen soll, überall so tief wie möglich hineinsteige, und ich glaube sogar, daß dies der beste Weg der Entwickelung sei, indem die Richtung derselben dann allerdings durch die amtliche Tätigkeit bestimmt, dabei aber dem wissenschaftlichen Streben an sich durchaus keine Grenzen gesetzt wird.“130 Er beschritt in dieser Weise einen ähnlichen Weg wie sein Vater. Durch die Beschäftigung mit dem Schulstoff, durch die Analyse der scheinbar elementaren mathematischen und physikalischen Begriffe, wurde das Urteils- und Kritikvermögen in einer Weise geschult, welche ihm in späteren Jahren gestattete, die Geometrie völlig neu aufzubauen
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und die Gesetzmäßigkeiten der Arithmetik in einer für seine Zeit beispielgebenden, über M. Ohm hinausgehenden Schärfe zu formulieren.131 Ein erstes Ergebnis seiner „schulorientierten“ Studien war eine an die Schrift seines Vaters „Zur physischen Krystallonomie und geometrischen Combinationslehre“ (1829)132 anknüpfende Abhandlung im Programm der Ottoschule von 1839, mit dem Titel: „Ableitung der Krystallgestalten aus dem allgemeinen Gesetze der Krystallbildung“ (1839). Ausgehend vom Prinzip der Symmetrie, verfolgte die Schrift die mathematische Ableitung einfacher Kristallgestalten und deren Einteilung in Systeme, wobei Graßmann sich auf die Benutzung elementarer geometrischer Zusammenhänge beschränkte. Diese Arbeit, von Graßmann für den Unterricht konzipiert, fand bei Möbius, der sich zeitweilig mit ähnlichen Fragen beschäftigte, reges Interesse. 1854 schreibt er in einem Brief an Graßmann: „Ich habe diese Abhandlung mit wahrem Vergnügen gelesen, und ich kann nur wünschen, daß Sie bei der neuen Bearbeitung Ihrer Ausdehnungslehre alles mit eben der Klarheit, wie hier, auseinandersetzen mögen.“133 Der wissenschaftliche Einfluß seines Vaters scheint sich in dieser Zeit insgesamt verstärkt zu haben. So trat Hermann Graßmann im Oktober 1836 der von seinem Vater begründeten und geleiteten Physikalischen Gesellschaft bei, der zu jener Zeit 20 Stettiner Bürger angehörten, und prägte ihr wissenschaftliches Niveau durch seine Vorträge mit. Die Idee der Ausübung eines geistlichen Amtes war zu dieser Zeit jedoch nicht vollständig verdrängt. Noch immer schwankte er unentschlossen hin und her zwischen mathematisch-naturwissenschaftlichen und theologischen Interessen. Seine theologischen Studien hatte er während der ganzen Jahre fortgesetzt. Im Mai 1838 meldete er sich, trotz überaus reichlicher Inanspruchnahme durch seine Lehrertätigkeit, zur Ablegung der zweiten theologischen Prüfung. Im Zeitraum eines Jahres hatte er wiederum drei theologische Arbeiten anzufertigen. Am 10. Juli fand die mündliche Prüfung nebst einer Anzahl von Klausurarbeiten statt und am 12. Juli erhielt er das Zeugnis mit dem Prädikat: „Sehr gut bestanden und wahlfähig“134 . Allein dieser hervorragende Abschluß der Prüfung, die neben den laufenden Lehramtsaufgaben erfolgte, ist anerkennenswert. Erstaunlicherweise meldete sich Hermann Graßmann jedoch bereits 4 1/2 Monate vor Abschluß der theologischen Prüfung zur Nachprüfung in Mathematik und Physik. An den Vorsitzenden der Berliner wissenschaftlichen Prüfungskommission schreibt er am 28. Februar 1839: „Euer Hochwohlgeboren bitte ich ganz ergebenst, mich zu einer Nachprüfung in bezug auf meine physikalischen und mathematischen Kenntnisse gütigst zuzulassen. Seit ich nämlich vor achthalb Jahren mein Examen vor Einer Hochlöblichen Prüfungskommission machte, worüber ich das Zeugnis übersende, habe ich mich fast ausschließlich mit diesen beiden Gegen-
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ständen beschäftigt. Indem ich nun im Begriff stehe, mich um eine physikalische und mathematische Lehrstelle zu bewerben135 , aber doch nicht hoffen kann, mit meiner Bewerbung zu einem günstigen Erfolge zu gelangen, wenn ich nicht vorher meine Befähigung dazu nachgewiesen habe: so fühle ich mich veranlaßt, einer Hochlöblichen Prüfungskommission noch einmal mit der ergebensten Bitte beschwerlich zu fallen, mich in der Physik und Mathematik einer abermaligen Prüfung zu unterwerfen.“136 Am 4. März 1839 wird das Gesuch an Professor Conrad, das für Mathematik zuständige Mitglied, weitergeleitet, der es noch am selben Tage an die Prüfungskommission zurückgibt mit dem Vermerk: „Mathematisch-physikalische Aufgabe: Theorie der Ebbe und Flut“137 . Am 10. März wurde die Aufgabe an Graßmann abgesandt und von diesem am 20. April des folgenden Jahres bearbeitet zurückgeschickt mit der Bitte: „Da ich die Resultate meiner Prüfung zu einer sehr nahe bevorstehenden Wahl benutzen möchte, so bitte ich . . . den weiteren Verlauf der Prüfung möglichst zu beschleunigen.“138 Die mündliche Prüfung wurde daher für den 1. Mai einberufen. Das Zeugnis fiel überaus gut aus. Es heißt dort abschließend: „Die Kommission erklärt ihn . . . zu jeder Lehrstelle bei einem Gymnasium oder einer höheren Bürgerschule im Fache der Mathematik, der Physik, der Mineralogie und der Chemie für vollkommen und vorzugsweise befähigt.“139 Zur Einschätzung der mathematischen Befähigung Graßmanns finden wir in dem Zeugnis folgende Passage: „In der Mathematik besitzt derselbe ebenso umfassende als gründliche Kenntnisse, die sich über das ganze Gebiet der Wissenschaft mit Einschluß der Mechanik und der gesamten höheren Analysis erstrecken. Seine Probearbeit behandelt die Theorie der Ebbe und Flut durchaus gründlich und streng, und er hatte sogar nicht ohne Glück eine von der Laplaceschen Theorie in manchen Stücken abweichende eigentümliche Methode gewählt. Bei der mündlichen Prüfung wußte er sich in vorgelegte Aufgaben schnell und mit Besonnenheit zu finden und zeigte überhaupt eine so tüchtige mathematische Durchbildung, daß er vollkommen befähigt ist, den mathematischen Unterricht in allen Klassen eines Gymnasiums und einer höheren Bürgerschule zu leiten.“140 Mit der Ablegung dieser beiden Prüfungen, der theologischen und der zweiten Lehramtsprüfung, deren so erfolgreiche Absolvierung von einem außergewöhnlichen Fleiß zeugt und uneingeschränkte Bewunderung verdient, ist nicht nur ein vorläufiger Abschluß der intensivsten geistigen Belastung gegeben, sondern gleichzeitig die endgültige Hinwendung zur Mathematik besiegelt. Der Charakter der Prüfungsarbeit über die Theorie der Ebbe und Flut, die Engel in ihrer Tragweite mit der Prüfungsarbeit des jungen Weierstraß vergleicht141 , lassen Graßmann endgültig an seine mathematischen Fähigkeiten glauben und sich nun vollständig der Mathematik zuwenden.
1.5 Mathematische Produktivität (1840–1848)
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Obwohl sein Gutachter, C. L. Conrad nicht im entferntesten die Bedeutung der grundlegend neuen mathematischen Ansätze Graßmanns zu würdigen wußte und es bei der nichtssagenden Einschätzung, nicht ohne Glück habe Graßmann eine „eigentümliche Methode gewählt“142 , bewenden ließ, war sich Graßmann von der Tragweite seiner Entdekkungen voll im klaren. Die nächsten zwanzig Jahre seines Lebens widmete er ihrer Vertiefung und Propagierung. Mit seiner erst im späten Alter von 30 Jahren einsetzenden mathematischen Kreativität nimmt Graßmann, ähnlich wie Steiner, Vandermonde und Lie, eine gewisse Sonderstellung in der Geschichte der Mathematik ein.
1.5 Mathematische Produktivität und erstes Ringen um Anerkennung (1840–1848) Das Jahr 1840 brachte mit der Bearbeitung der Prüfungsaufgabe zur Theorie der Ebbe und Flut einen der entscheidenden Einschnitte im weiteren Entwicklungsweg Hermann Graßmanns. Endgültig wandte er sich nunmehr der Mathematik zu und gab seine Vorstellungen von der Übernahme eines theologischen Amtes auf. In einem Schreiben an den preußischen Kultusminister Eichhorn, in welchem er sich im Mai 1847 um eine akademische Lehrstelle bewarb, äußert er sich über diesen Wandlungsprozeß: „Ursprünglich Theologe, und der Theologie von Herzen zugetan, fühlte ich mich dennoch von jeher durch die mathematischen Studien auf besondere Weise angezogen, und noch schwankend, wofür ich mich entscheiden sollte, wurde ich, während mich beiderlei Studien beschäftigten, durch eine eigentümliche Reihe von Entdeckungen in ein bisher noch von keinem betretenes Gebiet der Mathematik hineingezogen. . . . es trat mir eine ganz neue mathematische Methode entgegen, durch die sich oft die schwierigsten Probleme der Mathematik und Physik mit überraschender Leichtigkeit lösen ließen. Und dennoch stand ich erst am Anfange; . . . Mein Entschluß war gefaßt, aus der Bearbeitung dieser Wissenschaft eine Aufgabe meines Lebens zu machen.“143 Ähnlich äußert er sich auch in seiner Schrift „Über den Abfall vom Glauben“ (1878) aus dem Jahre 1877: Erst „durch Entdeckungen auf dem Gebiete der Mathematik“ habe er „die bestimmte Überzeugung“ gewonnen, daß sein „Lebensberuf auf wissenschaftlichem Gebiete liege“, da erst habe er „den praktischen Beruf“, der sich an die Theologiestudien knüpfte, aufgegeben.144 Autodidaktisch hatte sich Graßmann 1839 die Grundlagen der analytischen Mechanik und der höheren Infinitesimal- und Variationsrech-
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nung aus den Werken Lacroix’ und Lagranges angeeignet.145 Zur Bewältigung der Prüfungsaufgabe mußte er Lagranges „Mécanique analytique“ (1811/15) und Laplaces Theorie der Ebbe und Flut in dessen Hauptwerk „Traité de mécanique céleste“ (1799–1827) durcharbeiten. Die Kompliziertheit der dort abgehandelten Theorien ließ ihn auf seine Ansätze zur Vektorrechnung aus dem Jahre 1832 zurückgreifen146 , da er von ihnen eine größere mathematische Transparenz erhoffte. In seiner Prüfungsschrift zeigt nun Graßmann nicht nur eine sehr fundierte Kenntnis der „dunklen und schwierigen“ Theorie des Laplace, eine Leistung, die für eine Prüfungsarbeit schon hinreichend wäre und auf eine weitere große Produktivität des Prüflings hoffen ließe, sondern er entwickelt gleichzeitig ein vollständig neues mathematisches Instrumentarium – die Vektorrechnung und die äußere Algebra – zur eleganteren, übersichtlicheren und objektadäquateren mathematischen Darstellung dieser Theorie. Die weitere Ausgestaltung dieser neuen mathematischen Methode, deren Tragweite und Effizienz er klar erkannte147 , sollte zum Inhalt seines weiteren wissenschaftlichen Strebens werden. Die Prüfungsarbeit, für deren Aufnahme in die nach Graßmanns Tod herausgegebenen Gesammelten Werke sich besonders J. W. Gibbs einsetzte148 , gibt einen interessanten Einblick in die Entstehung und Entwicklung vieler Ideen der neuen Methode. Graßmann war in der mißlichen Lage, nicht nur die Theorie der Ebbe und Flut zu behandeln, sondern mußte gleichzeitig schrittweise, je nach Bedarf, die Elemente seiner neuen Methode begründen. Es wechselt sich daher die Darstellung der Ergebnisse und Zusammenhänge der neuen Methode ständig ab mit der Darstellung der eigentlichen Betrachtungen über die Theorie der Ebbe und Flut. Auf Grund des begrenzten Raumes – Graßmanns Arbeit überschritt weit den Umfang des damals üblichen Maßes – konnte er die neue Methode nicht so begründen, wie er es wünschte, und war häufig auf Analogiebetrachtungen angewiesen. Dergestalt ist diese Arbeit das ganze Gegenstück seiner Ausdehnungslehre, die als ein ausgefeiltes System an die Öffentlichkeit trat. Es ist bedauerlich, daß der Gutachter Professor Carl Ludwig Conrad, der Lehrer für Mathematik und Französisch am Königlichen Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin war und selbst nie mit mathematischen Publikationen an die Öffentlichkeit getreten ist149 , den Wert dieser Arbeit nicht im geringsten einschätzen konnte. Schon zu dieser Zeit zeigt sich die Problematik des Graßmannschen Schaffens, die zeitlebens die ihm gebührende Anerkennung erschweren und verhindern sollte. Er war auf dem Gebiet der Mathematik wesentlich Autodidakt, gehörte keiner mathematischen Schule an und hatte keine „großen Gönner“. In seiner Bibliothek befanden sich nur wenige mathematische Werke.
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Die Hausbibliothek Hermann Graßmanns umfaßte nach den Angaben von Friedrich Engel nur die folgenden mathematischen Werke:
Lagranges „Théorie des fonctions analytiques“ (1797) sowie dessen „Mécanique analytique“ (1811/15); Poncelets „Traité des propriétés projectives des figures“ (1822); Moignos „Lecons de calcul differentiel et de calcul intégral, rédigées d’après les méthodes de A.-L. Cauchy“ (1840/61); Verhulsts „Traité élémentaire des fonctions elliptiques: ouvrage destiné à faire suite aux traités élémentaires de calcul intégral“ (1841); Ohms „Versuch eines vollkommen consequenten Systems der Mathematik“ (1829–55); Magnus’ „Sammlung von Aufgaben und Lehrsätzen aus der analytischen Geometrie“ (1833, 1837); Steiners „Systematische Entwickelung der Abhängigkeit der geometrischen Gestalten voneinander“ (1832) sowie dessen Schrift „Die geometrischen Konstruktionen, ausgeführt mittelst der geraden Linie und Eines festen Kreises“ (1833); Möbius’ Werk „Der barycentrische Calcul, . . .“ (1827) sowie dessen Schrift „Die Elemente der Mechanik des Himmels“ (1887a).150
Wesentlichen Einfluß als Lehrer und Anreger hatte auf ihn nur sein Vater gehabt. Hinzu kommt, daß er, gleich seinem Vater und seinem Bruder, extravagante deutsche Wortschöpfungen den historisch sanktionierten Begriffen der Mathematik vorzog. Damit ergaben sich für die Kommunikation mit anderen Mathematikern beträchtliche Schwierigkeiten. Da jedoch alle diese Tendenzen in seiner Prüfungsschrift hinter der exzellenten Demonstration der Bedeutung seiner neuen mathematischen Theorie für die Behandlung der höheren Mechanik zurücktraten, ist es bedauerlich, daß Graßmann für die geplante Bearbeitung der Prüfungsschrift für einen späteren Druck nicht die Zeit aufbrachte. Auch die grundlegende und systematische Ausgestaltung seiner mathematischen Ideen mußte vorerst eine Zeitlang aufgeschoben werden, da ihn schulische Aufgaben stärker in Anspruch nahmen. Die in dem Gesuch um eine schnelle Bearbeitung der Prüfungsunterlagen erwähnte Lehrstelle erhielt Graßmann noch nicht. Zwar wurde in Stettin eine höhere Bürgerschule gegründet, die den Namen FriedrichWilhelmsschule erhielt und von seinem Schwager C. Scheibert geleitet wurde, doch blieb Graßmann bis 1842 weiter an der Ottoschule. Im März 1842 erschien im Programm der Ottoschule ein von ihm verfaßter „Grundriß der deutschen Sprachlehre“. Dieser Grundriß ist insbesondere deshalb von großem Interesse, weil der methodische Aufbau dieser Schrift, das Anknüpfen an die Dialektik Schleiermachers, das Wissenschaftsverständnis, das sich in seiner Ausdehnungslehre von 1844 manifestieren sollte, vorwegnimmt.151
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Victor Schlegel zur Arbeit der Brüder Graßmann an der Sprachlehre: „Die kurz zuvor veröffentliche Dialektik seines verehrten Meisters Schleiermacher zog ihn zu mächtig an und riß ihn vorübergehend in eine neue Strömung, in der er gemeinsam mit seinem Bruder Robert arbeitete. So wurde im nächsten Jahre (1841) eine philosophische Sprachlehre ausgearbeitet, deren Resultate er in einem ‚Grundriss der deutschen Sprachlehre‘ und in einem ‚Leitfaden für den deutschen Unterricht‘ niederlegte. (Die beiden Bücher, das letztere eine gemeinsame Arbeit der Brüder, erschienen 1842).“152
Graßmann unterrichtete auf den verschiedensten naturwissenschaftlichen und mathematischen Gebieten, angefangen bei der Zoologie über die Mineralogie, bis hin zur Physik und Chemie. Weiterhin legt er großen Wert auf den Experimentalunterricht.153 Fast täglich führt er mit den Schülern der obersten Klasse in den Mittagsstunden in einem eigens dafür eingerichteten Zimmer chemische und physikalische Experimente durch und fertigt mit den Schülern einfache Apparate an.154 Es wäre daher einseitig, in Graßmann nur einen weltfremden philosophierenden Mathematiker zu sehen. Der außerordentliche Spagat zwischen abstraktester mathematischer Entwicklung einerseits und exzellentem Umgang mit der experimentellen Methode andererseits verleiht dem Schaffen Graßmanns einen besonderen Reiz. 1842 erfolgte für Graßmann eine Veränderung des Anstellungsverhältnisses. Der Stettiner Magistrat hatte beschlossen, ihm die letzte ordentliche Lehrstelle am Gymnasium mit sofortiger Wirkung zu übertragen. Diese Anstellung war jedoch nicht von langer Dauer; bereits Ostern 1843 konnte er durch behördlich genehmigten Tausch zur Friedrich-Wilhelmsschule übertreten, an der er bis zum Tode seines Vaters (1852) verblieb. Angeregt durch seine neuen schulischen Aufgaben, verfaßte er mehrere kleinere Schriften für den Unterricht in Deutsch und Latein.155 „Nebenbei“ schuf er, von Ostern 1842 bis Herbst 1843, sein mathematisches Hauptwerk, die „Ausdehnungslehre“ (A1). Dieses Buch sprengte die zeitgenössischen Vorstellungen von der Behandlung der Geometrie. Umfangreiche philosophische Vorbetrachtungen, Darlegung einer abstrakten, als Grundlage der gesamten Mathematik konzipierten Theorie der Verknüpfungen, spärlicher Formelgebrauch, Ablehnung der Geometrie als mathematische Disziplin und Entwicklung einer n-dimensionalen, metrikfreien Theorie der mathematischen Mannigfaltigkeit u. a. m. wurden dem Leser „zugemutet“.156 1844 erschien die Ausdehnungslehre im Buchhandel und – fand fast keine Beachtung. Graßmanns Methoden und Ergebnisse waren neu, befremdend und lagen abseits von den Hauptrichtungen der mathemati-
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schen Forschungen des europäischen Kontinents. Seine Darstellungsweise war schwer zugänglich. Das Werk wurde ignoriert. Die zeitgenössischen Gründe des Scheiterns werden aus der Darstellung von Moritz Cantor (und August Leskien) deutlich: „Es ist in ihr [der Ausdehnungslehre von 1844 – H.-J. P.] vorbereitet, was man seit Riemann Mannigfaltigkeiten zu nennen pflegt, eine Functionslehre in geometrischem Gewande mit geometrischen Namen, denen nur in speciellen Fällen auch ein geometrisches Bild entspricht. Wie aber geometrische Namen für Begriffe auftreten, welche nicht räumlich im Erfahrungssinne sind, werden an diesen Operationen ausgeübt, welche mit dem Beweisverfahren und mit den Construktionen der Geometrie früher nie in Verbindung gesetzt worden waren. Die durch zwei Punkte geführte Gerade ihrer Größe nach als Multiplikation der zwei Punkte, das zwischen drei Punkten vorhandene Dreieck dem Flächenraume und der Lage seiner Ebene nach als Multiplikation der drei Punkte aufgefaßt zu finden, das mußte damals eine abschreckende Wirkung ausüben, zu einer Zeit, in welcher der Name des Verfassers der betreffenden Schrift noch nicht genügte, um bei mangelhaftem Verständnis die Schuld an dem Leser finden zu lassen.“157 Der einzige, der ihm in Deutschland mathematisch nahe stand, war A. F. Möbius. Zwischen dessen baryzentrischem Kalkül158 und seiner eigenen Ausdehnungslehre hatte Graßmann Berührungspunkte gefunden. 1844 besuchte er daher Möbius in Leipzig und bat ihn später, am 10. Oktober 1844, in einem Brief um eine Rezension seines Werkes: „. . . ich bin überzeugt, daß, da eben niemand den dort [in der Ausdehnungslehre – H.-J. P.] niedergelegten Ideen näher steht als Sie, auch niemand im Stande sein wird, das Werk so gründlich zu beurteilen . . . wie eben Sie.“159 Möbius erwiderte zurückhaltend, daß er sich freue, in Graßmann einen Geistesverwandten gefunden zu haben, „daß aber diese Geistesverwandtschaft nur hinsichtlich der Mathematik, nicht auch in Beziehung auf Philosophie stattfindet; . . . Das philosophische Element Ihrer vortrefflichen Schrift, das doch dem mathematischen Elemente zum Grunde liegt, nach Gebühr zu würdigen, ja auch nur gehörig zu verstehen, bin ich daher unfähig, was ich auch genüglich daraus erkannt habe, daß bei den mehrfachen Versuchen, ihr Werk uno tenore zu studieren, ich immer durch die große philosophische Allgemeinheit aufgehalten worden bin.“160 Diese Absage Möbius’ war nicht gegründet in Nichtwollen, sondern im ehrlichen Eingeständnis des Unvermögens der richtigen Einschätzung der Graßmannschen Arbeit. Das ist aus seinem Briefwechsel mit Baltzer und Apelt ersichtlich, denen Möbius die Ausdehnungslehre zum Studium empfahl, um ihr Urteil zu hören; es kommt auch zum Ausdruck in der Bitte an Drobisch um Rezension des Graßmannschen Buches. Bei allen jedoch stieß das Buch auf Unverständnis. Möbius hatte die zu große
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Abb. 16. Titelseite der zweiten Auflage der „Ausdehnungslehre von 1844“
philosophische Allgemeinheit gestört, Apelt fand die Ausdehnungslehre zu abstrakt und der mathematischen Erkenntnis zuwiderlaufend, da es in der Ausdehnungslehre an jeglicher Anschaulichkeit fehle, „die Quelle der mathematischen Erkenntnis“ jedoch „nicht in Begriffen, sondern in der Anschauung“161 liege, und Baltzer wurde beim Studium des Buches ganz einfach „himmelblau vor den Augen“ und im Kopf schwindlig162 . Selbst Gauß und Grunert, denen Graßmann je ein Exemplar seiner Ausdehnungslehre schenkte, konnten nicht hinter die „Tendenz“ des Werkes kommen. Gauß sprach davon, daß er zu beschäftigt sei, um
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sich mit der Graßmannschen Terminologie zu „familiarisieren“163 und Grunert vermerkt, daß es ihm nicht gelungen sei, die Tendenz der Graßmannschen Schrift zu erfassen: „Gewünscht hätte ich auch“, schreibt er an Graßmann, „daß Sie sich weniger in philosophische Reflexionen eingelassen und lieber nach Ihrem ersten Plane die Euklidische Form beibehalten hätten.“164
Gauß schrieb in einem Brief vom 14. Dezember 1844 in der für ihn typischen Manier, sich für die Übersendung der Ausdehnungslehre bedankend, an Graßmann: „. . . in einem Gedränge von andren heterogenen Arbeiten Ihr Buch durchlaufend glaube ich zu bemerken, dass die Tendenzen desselben theilweise denjenigen Wegen begegnen, auf denen ich selbst nun seit fast einem halben Jahrhundert gewandelt bin, und wovon freilich nur ein kleiner Theil 1831 in den Comment der Göttingischen Societät und noch mehr in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen (1831, Stück 64) gleichsam im Vorbeigehen erwähnt ist, nemlich die concentrirte Metaphysik der complexen Grössen, während von der unendlichen Fruchtbarkeit dieses Princips für Untersuchungen räumliche Verhältnisse betreffend zwar vielfältig in meinen Vorlesungen gehandelt, aber Proben davon nur hin und wieder, und, als solche nur dem aufmerksamen Auge erkennbar, bei andren Veranlassungen mitgetheilt sind. Indessen scheint dies nur eine partielle und entferntere Aehnlichkeit in der Tendenz zu sein; und ich sehe wohl, dass um den eigentlichen Kern Ihres Werkes herauszufinden, es nöthig sein wird, sich erst mit Ihren eigentümlichen Terminologien zu familiarisiren. Da aber dazu, bei mir, nothwendig eine von andren Beschäftigungen freiere Zeit erforderlich sein wird, so darf ich jetzt nicht länger anstehen, Ihnen meinen ergebensten Dank für die gefällige Uebersendung Ihres Werkes auszusprechen . . .“.165
So kam es in der Tat dazu, daß Graßmann einen Hinweis Grunerts auf eine Selbstrezension seiner Schrift aufgreifen mußte. Seine „Kurze Übersicht über das Wesen der Ausdehnungslehre“, die 1845 in Grunerts Archiv erschien, blieb daher die einzige Besprechung der Ausdehnungslehre in der Fachpresse – das Werk wurde ignoriert. Ungeachtet des sich abzeichnenden Mißerfolges seines Werkes ging Hermann Graßmann daran, durch Veröffentlichungen zu interessanten Problemen für die Verbreitung seiner Ideen zu wirken. Es erschien 1845 in Poggendorffs Annalen eine Abhandlung zur „Neuen Theorie der Elektrodynamik“, in welcher er das Ampèresche Grundgesetz für die magnetische Wechselwirkung zwischen zwei kleinen Leiterelementen kritisierte und mit Hilfe seines geometrischen Kalküls auf eine einfachere und elegantere Form brachte. Merkwürdig ist, daß der bedeutende Physiker Clausius, von völlig anderen Voraussetzungen ausgehend, 30 Jahre später zu dem gleichen Ergebnis gelangte. Clausius, der über die Arbeit Graßmanns falsch
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In seiner Abhandlung zur „Neue[n] Theorie der Elektrodynamik“ (1845a) aus dem Jahre 1845 kritisiert Graßmann das Ampèresche Elementargesetz für die magnetische Wechselwirkung zwischen infinitesimalen Stromelementen. Bei der Aufstellung seines Gesetzes war Ampère von der Beobachtung der Wirkungen geschlossener Ströme aufeinander und auf infinitesimale Stromteile ausgegangen und hatte diese Beobachtungen durch die Hypothese ergänzt, daß die Richtung der Wechselwirkung der Stromelemente (analog zur gravitativen Wechselwirkung von Punktmassen) in die Verbindungslinie ihrer Mitten falle. Diese zusätzliche Hypothese Ampères erregt bei Graßmann Kritik. Durch seine vektoralgebraischen Untersuchungen war es für ihn durchaus nicht plausibel, daß bei vektoriellen Größen, wie sie Stromelemente darstellen, eine Wechselwirkung in der von Ampère angenommenen Weise stattfindet.166 Ferner nahm Graßmann an der verwickelten Gestalt des Ampèreschen Gesetzes dF D mit: dl 1 , dl 2 dF I1 , I2 r
I1 . I2 . dl 1 . dl 2 . (cos(dl 1 . dl 2 ) 3/2 cos(dl 1 . r ) cos(dl 2 . r ) r2 . . . Leiterelemente, . . . Kraft zwischen dl 1 und dl 2 , . . . Ströme durch dl 1 und dl 2 , . . . Abstand zwischen dl 1 und dl 2 ,
Anstoß. Aus diesen Gründen suchte er nach einem neuen, der vektoriellen Behandlungsweise entsprechenden Grundgesetz. Über die Einführung des Begriffs des „Winkelstroms“ gelangte Graßmann zur folgenden Formulierung des Grundgesetzes, das als Umkehrung des Biot-Savartschen verstanden werden kann: dF 12 D k .
I1 . I2 . [dl 2 . [dl 1 . r12 ]] 3 r12
mit: k dl 1 , dl 2 I1 , I2 . dF 12 r12
. . . Konstante, . . . Leiterelemente in Richtung der Ströme . . . Kraft, mit der dl 1 auf dl 2 wirkt, . . . Vektor, der von dl 1 nach dl 2 weist.
Bei der Integration, also für geschlossene Ströme, führt sowohl das Ampèresche als auch das Graßmannsche „Elementargesetz“ zu dem gleichen Ergebnis, etwa in der Form: dF D [I . dlB] (ebenfalls unter dem Namen Ampèresches Gesetz bekannt) . Bemerkenswert an dem Graßmannschen „Elementargesetz“ ist, daß es dem Newtonschen Prinzip der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung widerspricht, wenn man, wie zur Zeit Graßmanns üblich, die Fernwirkungstheorie der Elektrodynamik zugrunde legt. Geht man indes von der in der Folgezeit als zutreffend erkannten Feldwirkungstheorie aus, so verschwinden diese Widersprüche. Die vektorielle Betrachtungsweise Graßmanns barg somit bereits
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Tendenzen – wenn auch für Graßmann nicht bewußt werdend –, die über den Rahmen der damaligen Vorstellungen zur Elektrodynamik hinauswiesen. Die Suche nach einem experimentellen Kriterium zur Entscheidung zwischen dem Graßmannschen und dem Ampèreschen „Elementargesetz“ stimulierte längere Zeit die Forschung auf diesem Gebiet. Durch die Maxwellsche Theorie der Elektrodynamik wurde indes die Frage nach einem „Elementargesetz“ dahingehend gelöst, daß der Nachweis gelang, daß es in der Natur nur geschlossene Ströme gibt. In der modernen Literatur wird das Graßmannsche Gesetz weiterhin als praktische Berechnungsgrundlage benutzt, wenn auch unverständlicherweise unter dem Namen „Ampèresches Gesetz“167 .
informiert gewesen war, erkannte sofort öffentlich Graßmanns Priorität an, als dieser ihn darauf aufmerksam machte. An Graßmann selbst schrieb er: „Ich kann Ihnen aufrichtig sagen, daß ich mich ganz besonders freue, gerade mit Ihnen, dem Sohne meines geliebten und verehrten Lehrers, in so schöner Weise in wissenschaftlichen Untersuchungen zusammengetroffen zu sein.“168 Neben dieser Abhandlung zur mathematischen Physik begann Graßmann 1846 mit einer Reihe von Veröffentlichungen zur Theorie der algebraischen Kurven. Er entwickelt hierin einen in seiner Ausdehnungslehre nur am Rande aufgestellten Satz über die Erzeugung algebraischer Kurven beliebiger Ordnung.169 Die von ihm beschriebene Erzeugungsweise beeindruckt durch die Einfachheit ihres Grundgedankens. Möbius begeisterte sich für diese Arbeiten: „Die Abhandlungen, welche Sie . . . über die Erzeugung algebraischer Kurven durch gerade, sich um feste Punkte drehende Linien in Crelles Journal haben einrücken lassen, haben mein ganzes Interesse in Anspruch genommen, und die hohe Einfachheit, welche die Betrachtungen durch Ihre dabei angewendete Symbolik gewinnen, hat meine volle Bewunderung erregt.“170 Selbst noch 25 Jahre später, als F. Klein auf diese Untersuchungen stößt, zollt er ihnen in seinen „Vorlesungen zur Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert“ größte Hochachtung: „Eine besondere Erwähnung verdienen die sog. ‚linealen Konstruktionen‘ oder Erzeugungen algebraischer Gebilde durch ‚planimetrische Produkte‘, eine Theorie, die leider viel zu wenig bekannt geworden ist, obwohl sie sich durch leichte Faßlichkeit auszeichnet“171 , vermerkt er. Und er fährt fort: Mit dieser Theorie habe Graßmann „eine Grundlage für die Theorie der algebraischen Kurven gewonnen, wie sie einfacher wohl kaum gedacht werden kann“.172 Bei den Zeitgenossen Graßmanns findet sie jedoch, mit wenigen Ausnahmen, kaum Beachtung.173 Erste und für lange Zeit letzte öffentliche Anerkennung sollte ihm indes die Bearbeitung einer von der Jablonowskischen Gesellschaft
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der Wissenschaften in Leipzig ausgeschriebenen Preisaufgabe bringen. Bemerkenswerterweise erfuhr Graßmann durch seinen Briefwechsel mit Möbius von der Ausschreibung. Dieser hatte die Verwandtschaft der Preisaufgabe mit der in der Ausdehnungslehre behandelten Thematik erkannt und bot Graßmann nunmehr die Möglichkeit, seine Gedanken weiter auszuformen. Am 2. Februar 1845 schreibt er an Graßmann: „Schließlich erlaube ich mir noch, Ihnen im Auftrage der hiesigen Jablonowskischen Gesellschaft der Wissenschaften beiliegendes Blatt mitzusenden, falls Sie auf die darin auch an die Mathematiker ergehende Einladung zu einer Preisbewerbung reflektieren wollten.“174
Die Preisaufgabe der Fürstlich Jablonowskischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig zu Ehren des 200. Geburtstages Leibniz’ hat folgenden Wortlaut: „Es sind noch einige Bruchstücke einer von Leibniz erfundenen geometrischen Charakteristik übrig . . ., in welcher die gegenseitigen Lagen der Orte, ohne die Grösse von Linien und Winkeln zu Hülfe zu ziehen, unmittelbar durch einfache Symbole bezeichnet und durch deren Verbindung bestimmt werden, und die daher von unsrer algebraischen und analytischen Geometrie gänzlich verschieden ist. Es fragt sich, ob nicht dieser Calcul wieder hergestellt und weiter ausgebildet, oder ein ihm ähnlicher angegeben werden kann, was keineswegs unmöglich zu sein scheint . . .“.175 Das erwähnte Bruchstück einer „geometrischen Charakteristik“, das Leibniz in einem Brief an Huygens (8. September 1679) sandte, ist in Graßmanns Gesammelten Werken abgedruckt (franz.).176
In der Preisaufgabe wird auf Bruchstücke einer von Leibniz erfundenen geometrischen Charakteristik hingewiesen, die 1833 erstmals veröffentlicht wurden. Die von Leibniz hier angedeuteten mathematischen Ideen berührten sich auf das engste mit den Forschungen Graßmanns.177 Es ist daher als einer der großen historischen Zufälle anzusehen, daß gerade im Frühjahr 1844 von Drobisch diese Preisaufgabe – Graßmanns Ausdehnungslehre war noch nicht erschienen – gestellt wurde, zu deren Lösung einzig Graßmann in der Lage war. Er blieb auch der einzige Bewerber um den Preis. Von den Mitgliedern der Jablonowskischen Gesellschaft, zu denen u. a. W. Weber und G. Th. Fechner gehörten, hatten Drobisch und Möbius die Gutachten anzufertigen. Drobisch stand der von Graßmann eingereichten Arbeit, in welcher dieser, über seine Ausdehnungslehre hinausgehend, besonders das innere Produkt von Vektoren entwickelte, relativ kühl und ablehnend gegenüber: „Eine Wiederherstellung des Leibnizschen Kalküls kann sie [die Schrift Graßmanns – H.-J. P.] nicht genannt werden . . .“178 , wobei es ihm zudem in der Arbeit an Anwendungen fehlte, die den Wert des Graßmannschen Kalküls klarer hätten erkennen lassen.
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Abb. 17. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)
Möbius hingegen äußert sich viel optimistischer und verständiger. Im Gegensatz zu Drobisch stellt er fast: „Daß nun die auf solche Weise gefaßte Idee Leibnizens durch die in neuerer Zeit hauptsächlich von Graßmann in Stettin erfundenen . . . Rechnungsarten . . . verwirklicht, oder doch mit der Verwirklichung ein schöner Anfang gemacht worden – denn wer kann ihr Ende absehn? – läßt sich wie es mir scheint, nicht leugnen.“179 Ferner hebt er hervor, daß er die in der Preisschrift vorgetragene „Theorie der vom Verfasser sogenannten inneren Produkte von vielem Scharfsinn zeugend gefunden“180 habe. Zweierlei Tadel findet sich jedoch in seinem Gutachten. Zum einen sind ihm, ähnlich wie Drobisch, zu wenige Anwendungsbeispiele in der Preisschrift geboten; zum anderen kritisiert er die Methode Graßmanns. „Das Fundament der Geometrie ist die Anschauung“, führt er aus und betont, daß hingegen in der Graßmannschen Arbeit „nach gewissen
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Abb. 18. Die Preisschrift Graßmanns
Analogien mit der Arithmetik Objekte als Größen behandelt werden, die an sich keine Größen sind, und von denen man sich zum Teil gar keine Vorstellung machen kann“181 . Diese Kritik von Möbius ist nicht ganz von der Hand zu weisen, da Graßmann in seiner Neigung zu größter Abstraktion zuweilen zu formalen Begriffsbildungen gelangt, die keiner geometrischen Interpretation zugänglich sind und die Möbius daher als „Scheingrößen“ bezeichnete.182 Trotz dieser Mängel muß betont werden, daß die Preisschrift sich dem Leser bedeutend leichter erschließt als die Ausdehnungslehre. Dem weitsichtigen Urteil Möbius’ ist es zu verdanken, daß Graßmann zu Leibniz’ 200. Geburtstag den Preis der Jablonowskischen Gesellschaft zuerkannt bekam. Der Brief, den Drobisch an den Preisträger richtete, mußte Graßmann in seinen mathematischen Ideen bestärken: „Mögen sich Ihre Erfindungen“, heißt es dort, „durch fruchtbare Anwendungen ferner bewähren und auch denen empfehlen, die vielleicht durch die
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abstrakt-philosophische Grundlage, die Sie der Darstellung derselben gegeben haben . . . sich von dem Studium ihrer Schriften haben abhalten lassen.“183 Die überaus intensive Beschäftigung mit der Mathematik füllte indes nicht die gesamte freie Zeit Graßmanns aus. Neben seinen unmittelbaren schulischen Verpflichtungen verfaßte er 1846 gemeinsam mit einem Kollegen ein „Lesebuch“ (Graßmann/Langbein 1868) für die unteren Klassen, das in der Folgezeit in Stettin mehrfach neu aufgelegt wurde und in den Grenzen der Stadt reichen Gebrauch fand. Für seine schulischen Verdienste erhielt Graßmann im Mai 1847 den Titel des Oberlehrers. Des weiteren fallen in das Jahr 1845 Arbeiten Graßmanns an einer Kirchenverfassung für Pommern. Gleichzeitig war er in Armen- und Wohltätigkeitsvereinen aktiv und entwarf für diese, zusammen mit seinem Bruder Robert Graßmann, Statuten. Angeregt durch den Erfolg seiner Preisschrift beginnt er mit seinem Bruder Robert Graßmann die gemeinschaftlichen Studien zur Neugestaltung der Mathematik.184 Immer stärker tritt in ihm die Gewißheit seiner mathematischen Befähigung hervor. Er wünscht nichts sehnlicher, als sich mit ganzer Kraft und ungeteilt der Mathematik widmen zu können. In dieser Lage entschließt er sich zu einem für seinen Charakter ganz ungewöhnlichen Schritt: er richtet im Mai 1847 an den Kultusminister Eichhorn ein Schreiben, in dem er um Berücksichtigung bei Vakanz einer mathematischen Lehrstelle an einer preußischen Universität bittet. Er umreißt kurz seinen bisherigen Entwicklungsweg und bedauert, daß ihm das Schulamt zu wenig Zeit zur Bearbeitung seiner neuen mathematischen Methoden ließe. Auf seine neueren Untersuchungen eingehend, schreibt er: „Zugleich ergab sich, daß der neu entdeckte Zweig eine wesentliche Umgestaltung der ganzen Mathematik nötig machte, welche auf die gesamte angewandte Mathematik, ja auch auf den Schulunterricht in diesen Wissenschaften den entscheidendsten Einfluß üben mußte. . . . Durfte ich nun schon nicht hoffen“, fährt er fort, „in den freien Zeiten meines jetzigen Berufs so viel Muße zu finden, um auch nur den kleinsten Teil dieser meiner Arbeit zu verwirklichen, so fehlte es mir auch an derjenigen Wirksamkeit, welche durch Mitteilung an empfängliche Gemüter die rechte Frische und Freudigkeit geben könnte, um auch nur der Bearbeitung dieses geringen Teiles die erforderliche formelle Vollendung zu verleihen.“185 Indem er weiterhin auf sein Alter hinweist, das einen baldigen Wechsel des Berufes geraten erscheinen läßt, wenn er von Erfolg sein soll, bittet er die mitgeschickten Schriften – die Ausdehnungslehre und die Preisschrift – „unparteiischen Mathematikern zur Prüfung vorzulegen“186 . Eichhorn schickte die Bücher auch tatsächlich am 17. Mai an E. E. Kummer, der sie am 12. Juni – nach kaum einem Monat – mit einem Gutachten an Eichhorn zurücksandte. Dieses Kummersche
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Abb. 19. Ernst Eduard Kummer (1810–1893)
Gutachten war im Hinblick auf die erwünschte akademische Anstellung niederschmetternd. Kummer betont hier, indem er sich der Ausdehnungslehre zuwendet, daß die Idee Graßmanns, Lage und Größe räumlicher Gebilde in „symbolischen Formeln“ zu berücksichtigen, „schon früher vielfach ausgesprochen und auf verschiedene Weisen angewendet worden, ohne daß man nötig gefunden hat hierfür eine neue mathematische Disziplin zu schaffen“187 . Der Versuch Graßmanns könne daher „von vornherein weder als ein glücklicher noch als ein verfehlter bezeichnet werden, denn es kommt hierbei nur auf die Ausführung an, und bei der Beurteilung des wissenschaftlichen Wertes derselben werden wir hier die Form und den Inhalt besonders zu berücksichtigen haben“188 . Die Form wird nun von Kummer als mißlungen charakterisiert, obwohl er zugesteht, daß der Stil gut ist. Er beanstandet eine unzweckmäßige Gliederung des Stoffes und kritisiert, daß Graßmann die „sehr schändliche Manier hat, in der Erfindung neuer Worte originell zu sein, und diese seine neu gemachten Worte anstatt der historisch sanktionier-
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ten auch da überall . . . [anwendet], wo durchaus keine neuen Begriffe vorhanden sind“189 . Und er zieht hieraus den leider sich für Jahrzehnte bewahrheitenden Schluß, daß es mit Gewißheit zu erwarten sei, „daß diese Schrift von den Mathematikern ferner ignoriert werden wird wie bisher; denn die Mühe, sich in dieselbe einzuarbeiten, erscheint zu groß in Beziehung auf den wirklichen Gewinn an Erkenntnis, welchen man aus derselben schöpfen zu können vermutet“190 . In Bezug auf inhaltliche Fragen betont Kummer, daß er darüber auf Grund der erwähnten Formschwierigkeiten wenig sagen könne, jedoch „neue und interessante Gesichtspunkte“ gefunden habe191 . Das Gesamturteil Kummers über die Eignung Graßmanns für eine akademische Anstellung fällt negativ aus: Erstens fehle seiner Darstellung die nötige Klarheit; zweitens sei der Bildungsgang und das von Graßmann bearbeitete Gebiet zu einseitig; drittens gäbe es noch einige junge Mathematiker, deren Fähigkeiten und Leistungen eher für eine derartige Anstellung sprechen würden. Den Professorentitel hielt er aber den Leistungen Graßmanns angemessen. Eichhorn schloß sich natürlich diesem Gutachten an. Doch auch den Professorentitel erhielt Graßmann erst fünf Jahre später, da das königliche Provinzialschulkollegium zu Stettin auf Anfrage mitteilte, daß „die Stellung des p. Graßmann in dem Lehrkollegium der Anstalt eine derartige Auszeichnung bedenklich erscheinen läßt. Derselbe hat nämlich die Stelle des fünften Oberlehrers . . . und keiner der ihm vorgehenden Oberlehrer, auch nicht der Direktor der Anstalt, erfreut sich des Professortitels“192 . Das nüchterne Ergebnis dieser Episode, die für Graßmann zu einem entscheidenden Wendepunkt seiner Entwicklung hätte werden können, bildete die diplomatisch-verschleierte, abschlägige Antwort des Kultusministers an Graßmann, daß es für eine akademische Anstellung „gegenwärtig durchaus an Gelegenheit fehlt und die Umstände es auch nicht gestatten . . . dazu für die Zukunft eine bestimmte Aussicht zu eröffnen“193 . Vorerst waren alle Bemühungen Graßmanns um die Propagierung seiner mathematischen Ideen gescheitert.
1.6 Revolution in Deutschland (1848) Die revolutionären Veränderungen in Deutschland, die sich durch den Vormärz ankündigten, rissen auch Hermann Graßmann aus seinem politischen Dornröschenschlaf. Als in Berlin am 21. April 1847 die Bäckerund Fleischerläden sowie die Markthalle gestürmt wurden, war dies ein Signal für die Stettiner. Am 24. April kam es zum Einsatz von Militär, als durch Arbeitslosigkeit und Teuerung verbitterte und zu allem ent-
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Abb. 20. Hungerunruhen in Stettin, Holzstich von G. Nicholls 1847.
schlossene Einwohner Stettins vor den Augen der machtlosen Polizei die Bäckerläden stürmten. Rücksichtslos wurde in die Menge gefeuert. Weite Teile des Bürgertums, die ihre Geschäfte stocken sahen, unterstützten das Militär: „Für die Nacht übernahmen die alten Bürgerkompanien den Wachdienst. Am nächsten Tage wurden neue Versuche zu Plünderungen gemacht, doch sofort mit Gewalt zurückgewiesen. Diese ‚Kartoffelrevolution‘ beunruhigte das geschäftliche Leben in Stettin auf längere Zeit; man mußte die Verkäufer in polizeilichen oder militärischen Schutz nehmen, einen festen Preis für die Kartoffeln bestimmen, ein Ausfuhrverbot erlassen und die Mahlsteuer auf einige Zeit teilweise aufheben. Die Anstifter und Teilnehmer erhielten harte gerichtliche Strafen.“194 Von den plötzlich in Stettin sich verschärfenden politischen Auseinandersetzungen wurde Hermann Graßmann mitten in seinen mathematischen Arbeiten zur Neubegründung der Mathematik und seinen Bemühungen um eine mathematische Professur überrascht. Neben den Diskussionen um Ursachen und Folgen dieser Hungerunruhen beschäftigten vor allem wirtschaftliche Fragen die Gemüter Stettins. Drei Problemkreise standen 1846/47 im Mittelpunkt erregter Diskussionen der Bürger: Erstens die Fragen, die sich mit der Entwicklung des Zollvereins verbanden und für den Stettiner Handel von großer Bedeutung waren; zweitens erörterte man die Folgen des 1844 abgeschlossenen Eisen-
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bahnbaus zwischen Berlin und Stettin für die weitere Entwicklung der Wirtschaftsstruktur der Stadt. Unsicherheit der Bürger, gegründet im Konkurrenzdruck Berlins, löste Diskussionen aus über die weitere Entwicklung von Gewerbe und Industrie im Umkreis der Stadt; drittens sind die Meinungsverschiedenheiten über den Vor- und Nachteil von Schutzzöllen und Freihandel unter der Stettiner Kaufmannschaft zu nennen, die zur Spaltung der Kaufleute in zwei „Parteien“ führten.195 Ein, wenn auch noch relativ schwaches Echo findet dieses durch die Krisenzeit der Jahre 1847/48 sprunghaft angewachsene Interesse an wirtschaftspolitischen Fragen in staatspolitischen Forderungen. Der Ruf nach der von Friedrich Wilhelm III. versprochenen und von Friedrich Wilhelm IV. entschieden abgelehnten preußischen Verfassung wurde vernehmlicher; ein Bürgerverein machte in Stettin erste, zaghaft-zaudernde Gehversuche, und selbst eine demokratische Zeitschrift, der „Wächter an der Ostsee“, erhebt 1847 – durch die Zensur eingeengt – ihre Stimme. Hatte Hermann Graßmann sich bisher nur mit Schule und Wissenschaft, mit Religion und Armenvereinen beschäftigt, und hatte bei ihm für die „sogenannten Tagesfragen . . . kein Interesse . . .“196 bestanden, so suchte er sich nun zunächst theoretisch mit den anstehenden politischen Fragen vertraut zu machen. Aus diesem Grund studierte er gemeinsam mit seinem Bruder Robert Graßmann die Dahlmannsche „Politik“ (1835) und Schleiermachers „Die Lehre vom Staat“ (1845). Beide Bücher, von liberalen bürgerlichen Intellektuellen verfaßt, zielten auf den Ausgleich zwischen Bürgertum und Adel, der auf der Grundlage einer konstitutionellen Monarchie erfolgen sollte. Schleiermacher und Dahlmann traten ein für eine evolutionäre Machterweiterung der Positionen des Bürgertums gegenüber der Krone und dem Adel. Philosophische Grundlage ihrer Staatskonzeptionen bildeten vor allem Elemente der romantischen Naturphilosophie.197 Sie dienten der Begründung der Notwendigkeit der Einheit der Gegensätze von Bürgertum und Adel. Antidespotisch und antirevolutionär beriefen sich die Schriften auf eine „historische Entwicklung“ des „staatlichen Organismus“ der Deutschen (wobei beständig das Leitbild Englands mitschwingt), die in einer die Interessen des Bürgertums berücksichtigenden Staatsgesetzgebung Ausdruck finden sollte.
In seiner „Politik“ (1835) führt Dahlmann u. a. aus: „. . . jede Revolution ist nicht bloß das Zeugniß eines ungeheuren Misgeschicks, welches den Staat betroffen hat, und einer keineswegs bloß einseitigen Verschuldung, sondern selbst ein Misgeschick, selbst schuldbehaftet. Darum werden weise und gewissenhafte Männer weder das Gelingen einer Revolution, darum weil es ihre Straflosigkeit verbürgt, als ihre Rechtfertigung darstellen, noch die zögernde Hand zur Wider-
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Abb. 21. Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860)
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Abb. 22. Titelseite der zweiten Auflage der „Politik“ Dahlmanns
setzlichkeit erheben, als wenn kein Mittel sonst mehr übrig, der allgemeinen Herabwürdigung zu entgehen. Denn was allein auf den Herrscher oder die Dynastie angesehen ist, schlägt gar leicht zu einem Umsturze der ganzen gesellschaftlichen Ordnung aus, und wenn sich auch der bessere Wille der neuen Herrschaft verbürgen ließe, wird sie sich auch befestigen können? Eben darum kann der einmahl entschiedenen Umwälzung sich löblich auch der Vaterlandsfreund anschließen, derselbe der ihren Ausbruch misbilligte, weil ein Zustand nicht dauern darf, in welchem die Regierung nirgend ist, weil sie überall ist . . .“198
Waren diese Auffassungen, die im wesentlichen vor 1835 entwickelt wurden, Mitte der 30er Jahre des 19. Jhs. in bezug auf Deutschland noch progressiv, so verloren sie diesen Charakter in dem Maße, wie sich eine wirklich revolutionäre Situation unter den bereits veränderten Klassen- und damit Kräfteverhältnissen herausbildete. Bei Festhalten an den alten Konzeptionen war es daher folgerichtig, daß die liberale Bourgeoisie – darunter auch Dahlmann – die 48er Revolution bekämpfte. Hinzu kommt, daß die Klassenlage der deutschen Bourgeoisie in dieser Revolution eine völlig andere war als die der französischen in der Revolution von 1789: „Die preußische Bourgeoisie war nicht, wie die französische von 1789, die Klasse, welche die ganze moderne Gesellschaft den Repräsentanten der alten Gesellschaft, dem Königtum und dem Adel,
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gegenüber vertrat. Sie war zu einer Art von Stand herabgesunken, ebenso ausgeprägt gegen die Krone als gegen das Volk . . . von vornherein zum Verrat gegen das Volk und zum Kompromiß mit dem gekrönten Vertreter der alten Gesellschaft geneigt, weil sie selbst schon zur alten Gesellschaft gehörte; nicht die Interessen einer neuen Gesellschaft gegen eine alte, sondern erneute Interessen innerhalb einer veralteten Gesellschaft vertretend; . . . revolutionär gegen die Konservativen, konservativ gegen die Revolutionäre . . .“199 Die aus der Lektüre dieser beiden Bücher gewonnenen politischen Auffassungen und Haltungen konnten damit offensichtlich nicht zur Herausbildung einer revolutionär-demokratischen Einstellung Hermann Graßmanns beitragen. Ja selbst die bürgerlich-liberalen Positionen Schleiermachers und Dahlmanns wurden von Graßmann nicht uneingeschränkt übernommen. Die Gründe hierfür sind, wie bereits angedeutet200 , vor allem in den noch weitgehend unentwickelten sozialen und ökonomischen Verhältnissen Stettins sowie in der sozialen Stellung Hermann Graßmanns als höherer preußischer Schulbeamter zu suchen. Bedenkt man, daß Berlin 1847/48 ökonomisch bedeutend weiter entwickelt war als Stettin, Marx und Engels es aber dennoch als Ort der Herausgabe der revolutionär-demokratischen „Neuen Rheinischen Zeitung“ mit den Worten ablehnten: „Das damalige Berlin . . . mit seiner kaum entstehenden Bourgeoisie, seinem maulfrechen, aber tatfeigen, kriechenden Kleinbürgertum, seinen noch total unentwickelten Arbeitern, seinen massenhaften Bürokraten, Adels- und Hofgesindel . . .“201 , so wird deutlich, wieviel weniger Stettin geeignet war, revolutionär-demokratische Regungen emporkommen zu lassen. Als es 1848 in ganz Deutschland zu revolutionären Erhebungen kam, blieb es, bis auf Zeitungs- und Redegefechte, sowie kleinere Streiks, besonders bei den Schiffszimmergesellen202 , in Stettin ruhig. Ohne an dieser Stelle noch einmal näher auf die Stettiner Verhältnisse eingehen zu wollen, sei nur auf die dominierend konstitutionell-monarchische Gesinnung der Stettiner Gymnasialprofessoren203 verwiesen. Desgleichen ist auf den Einfluß des näheren Bekannten- und Freundeskreises zu verweisen, der – soweit bekannt – fast ausschließlich eine konservative politische Haltung einnahm. So waren die Familien der Graßmanns und der Droysens seit Jahrzehnten eng befreundet. Als während der Befreiungskriege 1813/14 die Mutter Hermann Graßmanns mit ihren Kindern zu ihrer verwitweten Mutter aufs Land zog, um Schutz zu suchen, war der Pfarrer des Zufluchtsortes der Vater von J. G. Droysen. Über das Verhältnis der Familien Droysen und Graßmann finden wir in der Biographie J. G. Droysens – des führenden Historikers der kleindeutschen Schule, der im antirevolutionären
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Geist der ideologische Wegbereiter der Bismarckschen „Revolution von oben“ war –, folgende Bemerkungen: „Von der Greifenhagener Zeit her waren die Familien Graßmann und Droysen eng befreundet und keinem von seinen Lehrern bewahrte der Predigersohn sein Leben lang dankbarere Gesinnung, als diesem edel und treu gesinnten Manne [J. G. Graßmann – H.-J. P.], . . .“204 . Ferner war der Schwager Graßmanns, der Direktor der Friedrich-Wilhelmsschule zu Stettin, Carl Gottfried Scheibert, ein Mann erzkonservativer Gesinnung, der jeglichen liberalen und demokratischen Regungen feindlich gegenüber stand (Vgl. Schulze 1939). Er wurde 1848/49 als Vertreter der Konservativen ins Erfurter Parlament gewählt. 1847 wetterte er in einem Brief an Suffrian gegen den „konstitutionssüchtigen, liberalismusbesoffenen Zeitgeist . . .“205 , den er entschieden ablehne. 1855 wurde er Schulrat für die evangelischen Gymnasien der Provinz Schlesien, ein Amt, das er jedoch aus politischen Gründen 1873 niederlegte. In politischen Fragen erwies sich daher auch Hermann Graßmann als überaus stark an das sozial-ökonomische Klima Preußens, und hier insbesondere Stettins gebunden, so daß es dem revolutionären Erneuerer der Mathematik im März 1848 nicht gegeben war, auch nur ansatzweise die wirkliche geschichtliche Bedeutung einer Revolution in Deutschland zu ermessen. Als schließlich im Februar 1848 in Paris eine Revolution ausbrach, die „in Frankreich gerade die Regierungsform vernichtet[e], die die preußische Bourgeoisie in ihrem eigenen Lande eben errichten wollte“206 , mußte die Feindschaft Graßmanns gegen jegliche Revolution besiegelt sein. 1853 schreibt er an Möbius, sich für die lange Unterbrechung der Korrespondenz entschuldigend: Der Grund hierfür liege „einzig in den Ereignissen des Jahres 48, die mich auf geraume Zeit den mathematischen Arbeiten entfremdeten und mein Interesse auf andere Gegenstände leiteten“. Weiter erläutert er: „Bis dahin war ich der Tageslitteratur ferne geblieben, und die sogenannten Tagesfragen hatten kein Interesse für mich. Aber die revolutionären Bewegungen jenes Jahres, gegen welche ich den tiefsten Abscheu hegte, schienen es mir zur Pflicht zu machen, die geringe Schar derer, die gegen jene Bewegungen ankämpften, zu verstärken, und zugleich dahin zu wirken, daß an der Stelle des büreaukratischen Systems, welches mir eine Hauptschuld an jenen Ausbrüchen des demokratischen Fanatismus zu tragen schien, womöglich ein gesunderes lebenskräftigeres System sich Geltung schaffe.“207 Noch krasser äußert sich die Revolutionsfeindlichkeit und das politische Unverständnis Graßmanns in einem von ihm verfaßten Artikel, der am 15. April 1848 in der „Königlich privilegierten Stettinischen Zeitung“ unter dem Titel „Die Früchte des Berliner Barrikadenkampfes“ erschienen ist. Über den Trauermarsch zu Ehren der gefallenen Barrika-
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Abb. 23. Eingesandt Hermann Graßmanns in der „Vossischen Zeitung“
denkämpfer am 19. März in Berlin schreibt er hier in monarchistischer Verblendung: „. . . der wutentbrannte Pöbel schleppte die Leichname der Gefallenen vor das Schloß, entblößte die Wunden, und als ob alles menschliche Gefühl aus ihrer Brust gewichen wäre, fordern sie ungestüm des Königs Erscheinen und schreien um Rache. Und die Berliner Bürger? sie lassen alles geschehen, ohne einen Schritt zur Hintertreibung dieser
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Greuel zu tun. So lohnten sie das Vertrauen, die hingebende Liebe eines Königs, dem es nur ein Wort gekostet hätte, und Berlin lag in Trümmern. . . . Aber erwachte Berlin nun aus seinem Traum? äußerte es nun seinen gerechten Unwillen über die Barrikadenkämpfer? brandmarkte es nun diese Empörer mit dem verdienten Namen der Verräter? Nein, die verblendete Stadt war und ist noch heute so fern davon, daß sie vielmehr die gefallenen Empörer bis in den Himmel erhebt und ihnen zum ewigen Gedächtnis ein Ehrendenkmal errichten will. Ich würde die Inschrift vorschlagen: Den gefallenen Verrätern, ihnen und sich zur ewigen Schande, die Bürger Berlins. . . . möchten doch endlich alle Besonnenen mit Entschiedenheit ihre Stimme erheben gegen das Treiben derer, welche Aufruhr und Empörung mit dem heiligen Namen der Menschenrechte stempeln; möchte der tiefste Unwillen über jedes revolutionäre Treiben alle Schichten der Gesellschaft durchdringen. Nur wenn das geschieht, können wir hoffen, daß Preußen sein Haupt wieder aus den innern Zerwürfnissen emporheben und kräftig auf der Bahn einer freien und volkstümlichen Entwickelung fortschreiten werde.“208 Die Entscheidung Hermann Graßmanns gegen die Revolution war subjektiv zutiefst ehrlich und erfolgte mit ganzem persönlichen Engage-
Der Bruder Robert Graßmann, schreibt mit Stolz in seinem Lebenslauf: „Dem Verfasser war es in diesem Zeitabschnitt mehrfach gestattet, fördernd in das politische Leben einzugreifen. Als die National-Versammlung 1848 in eine gefährliche Bahn einlenkte und die Mehrheit derselben im November 1848 trotz ihrer Auflösung weiter tagte, eilte der Verfasser am 11. November nach Berlin . . . [er] hatte . . . eine längere Besprechung mit mehreren Mitgliedern des rechten Centrums und überzeugte sich darin, dass die Mehrheit der National-Versammlung auf eine Republik hinsteuere . . . Am folgenden Morgen eilte er demnächst zu dem früheren Präsidenten der National-Versammlung Grabow und zu dem Minister des Innern von Manteuffel, sowie nach Potsdam zu den Herren vom Hofe und zu dem Abgeordneten Bassermann aus Mannheim . . . und orientierte sich genau über die Sachlage. Alle diese Männer waren sich darin einig, dass dem Treiben der National-Versammlung Halt geboten werden müsse. Herr von Manteuffel wollte damals die belgische Verfassung oktroyiren. Der Verfasser machte ihn aufmerksam, wieviel korrekter es sei, die von der National-Versammlung beschlossene Verfassung provisorisch als Staatsgrundgesetz zu veröffentlichen und dann weiter zu verbessern; Herr v. Manteuffel erkannte dies an und hat dementsprechend gehandelt. Inzwischen hatten sich die Behörden Stettins unter dem Terrorismus der sogenannten Fortschrittspartei in Abwesenheit des Verfassers gegen das Ministerium und für die National-Versammlung erklärt; . . . Die Aufgabe des Verfassers war es nun, die Stettiner wieder auf die richtige Bahn zurückzuführen; es gelang dem Verfasser und seinen Freunden, diese Aufgabe zu lösen. Die Stadtverordneten-Versammlung Stettins nahm am 16. November den früher gefassten Beschluss zurück und erklärte sich . . . für die Regierung und gegen die National-Versammlung. . . . Die Gefahr war beseitigt.“209
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Abb. 24. Titelseite der ersten Nummer der von Hermann und Robert Graßmann herausgegebenen politischen Wochenschrift
ment. Einen großen Teil seines Vermögens – über 2000 Taler – gab er für die mit seinem Bruder Robert Graßmann gemeinsam im Mai 1848 gegründete „Deutsche Wochenschrift für Staat, Kirche und Volksleben“ (1848) hin, die als Propagandistin der von ihm erwünschten konstitutionellen Monarchie mit „freier volkstümlicher Entwicklung“ auftreten sollte, und die – schwankend zwischen Liberalismus und Konservativismus – gegen jede revolutionär-demokratische Regung Stellung nahm. Als Leitmotiv der Zeitung wurde proklamiert: Kampf für „echte Freiheit auf dem Boden der Sittlichkeit und des Gesetzes und in lebendiger, selbständiger Gliederung . . . Kampf für Freiheit und Recht, . . . Kampf wider Revolution und Reaktion...“210 Wie sahen nun die von den Brüdern Graßmann gemeinsam entwikkelten politischen Konzepte – die jeweilige Urheberschaft der veröffent-
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lichten Beiträge ist leider nicht ausweisbar – in der von ihnen herausgegebenen „Deutschen Wochenschrift“ aus? Der Ursprung der neueren deutschen Geschichte wird von den Graßmanns in den Befreiungskriegen gegen die Napoleonische Fremdherrschaft gesehen, als sich die Krone genötigt fühlte, dem Bürger- und Kleinbürgertum Zugeständnisse zu machen, als durch die Reformer eine „freie Städteordnung“ und eine „volkstümliche Wehrverfassung“211 wie sich Graßmann ausdrückt – geschaffen wurden. Nur durch „Kurzsichtige Fürsten und Beamte“212 habe ab 1820 wieder eine Zeit der Reaktion eingesetzt. „Da kam die Zeit des Mißtrauens über Deutschland, der Argwohn der Fürsten schöpfte Vordacht aus jeder freien Regung des Volksgeistes; der kaum gepflanzte junge Baum freier Volksinstitutionen wurde von oben her beschnitten und seiner Krone beraubt. Erst mit dem Regierungsantritt unseres jetzigen Königs [gemeint ist Friedrich Wilhelm IV. – H.-J. P.] wurde weiter gearbeitet an der Entwickelung des organischen Staatsganzen.“213 Mit diesem, auch 1848 noch ungebrochenen Glauben an den „romantischen König“ geht einher die Verteidigung der Deutschtümelei: „. . . und auch viele, die sich selbst Liberale nannten, belächelten vornehm die Deutschthümelei, und vermochten nicht die Deutsche Begeisterung zu begreifen.“214 Die Ablehnung der französischen politischen Entwicklung, besonders seit der Februarrevolution des Jahres 1848, findet ihre naturphilosophische Artikulierung, wenn Deutschland mit einer Pflanze und Frankreich mit einem Kristall bzw. mit einem toten Mechanismus verglichen wird.215 Nach Graßmann wäre es „eine gänzliche Verkennung des germanischen Wesens, wenn man eine Centralisation, wie sie etwa Frankreich besitzt, auch nur als das äußerste Ziel der Entwickelung Deutschlands hinstellen wollte“.216 In seiner antirevolutionären Grundeinstellung fährt er an anderer Stelle fort: „. . . organische Einrichtungen Preis geben und statt dessen den Mechanismus fremder Staaten einführen wollen, wäre der roheste Vandalismus, der die Zerstörung der Kunstschätze klassischer Zeit durch rohe Völkerhorden noch weit hinter sich zurücklassen würde.“217 Die scheinbare Wiederentdeckung des „germanischen Wesens“ findet bei den Graßmanns ihren Höhepunkt in einem extremen Nationalismus: „. . . daß Deutschland, sich fernhaltend von jeder gedankenlosen Nachahmung fremder Zustände, seine ihm übertragene Mission darin finde, jene ihm vor allen Völkern eigentümliche, dem höchsten organischen Leben entsprechende Entwickelung treu durchzuführen und darin der Staatenentwickelung der Erde ein neues, in dieser Weise bisher nicht gekanntes Muster aufzustellen.“218 Vom „auserwählten Volk“ der Deutschen bis zum Leitbild Preußens sind nur noch wenige theoretische Konstruktionen nötig: „Kurz, wird Preußen an die Spitze Deutschlands gestellt, geht es in
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Deutschland auf und Deutschland in Preußen, so ist das deutsche Reich das Herz von Europa, der Angelpunkt, um den sich alles bewegt.“219 Die vorhegelsche Dialektik wird benutzt, um eine romantische Spielart eines sozialen Reformismus zu begründen. „Soll die Verfassung [Preußens – H.-J. P.] eine lebenskräftige sein, so muß die Gesetzgebung die zwiefache Bedingung jedes Lebens in sich tragen, nämlich die Erhaltung des eigenthümlichen Daseins, der Lebenseinheit und die Fortentwicklung in neuen, frischen Lebensformen. Jenes konservative und dieses bewegliche, zu Reformen hindrängende Element sind daher die wesentlichen Bedingungen jener lebensfrischen Gesetzgebung.“220 Dieser auf die Gesellschaft bezogene romantisierende Biologismus führt zur Verteidigung der Rolle des Adels: „. . . wobei der Fürst, . . . das konservative Element, die Lebenseinheit, die Volksvertretung das bewegliche Element, die Lebensentwickelung darstellt.“221 Konstitutionelle Monarchie mit Zwei-Kammern-Vertretung, also mit Unter- und Oberhaus, ist der politische Gehalt der dialektischen Schematik. Letztlich zeigt sich in den Auffassungen der Graßmanns über das für Deutschland (und Preußen) notwendige Wahlsystem ihre, zwischen Adel und Bourgeoisie vermittelnde, gegen die Volksmassen gerichtete Haltung. Es wird der Versuch unternommen, sich an die Vereinbarungstheorie der liberalen Bourgeoisie anlehnend, jegliche Kämpfe, sowohl zwischen feudalen und bürgerlichen Interessen, als auch beider gegen die proletarischen, zu harmonisieren. „Zur gesunden Entwickelung des politischem Lebens gehört es“, wird betont, „wenn sich nach allen Seiten hin Gegensätze bilden; aber diese Gegensätze müssen sich je nach der Natur des Gegenstandes, auf den sie sich beziehen, neu und immer neu gestalten und verschlingen, und auf lebendige Weise sich mannigfaltig aneinander schließen und von einander lösen. Wenn aber alle Gegensätze von einem einzelnen Gegensatze verschlungen werden, . . . so ist das politische Leben erstarrt und zerrissen, so ist der staatliche Organismus verknöchert, und die reiche Lebensfülle eines nach allen Seiten hin sich frei entwickelnden und gestaltenden Staatsganzen ist in eine armselige, zwiegespaltene Einseitigkeit ausgeartet.“222 Die entschiedene Absage gegen Parteien und Parteikämpfe wird gegründet auf die „natürlichen und in ihren Wurzeln unverwischbaren Standesunterschiede, die nur der Kommunismus ganz auszutilgen versuchen möchte . . .“223 . In dem allgemeinen, direkten Wahlrecht wird vom kleinbürgerlichen Intellektualismus der Graßmanns die Gefahr des „Kulturunterganges“ durch die „Pöbelherrschaft“ des Volkes gesehen, da alle „höheren Interessen“ durch eine „geringere Kopfzahl“ vertreten seien: „Man hätte somit durch diese Vertretung eine sich stets steigernde Knechtung aller höheren Güter unter den materiellen Interessen der Arbeiter; man hätte keine Demokratie sondern eine Pöbelherrschaft, eine
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Ochlokratie. Wie man in dieser Rückkehr zu der Herrschaft der rohen Masse einen Fortschritt, wie man in dieser Einengung und Verdrängung aller edleren Güter durch das allein geltende Interesse der leiblichen Arbeit die breitesten Grundlagen einer freien Verfassung erblicken kann, ist mir vollkommen räthselhaft.“224 Mit diesen Bemerkungen wird eines der wichtigsten Ziele der Revolution von 1848 abgetan, wird das Volk um die Ergebnisse seines opferreichen Kampfes betrogen. Auch die Stimmzettelwahl ist den Graßmanns zu mechanisch und zu unpersönlich. Das einzig mögliche Wahlverfahren wird in einem Stufenwahlsystem mit bleibendem Kollegium von Wahlmännern gesehen. Beim eigentlichen Wahlmodus – es geht hierbei nur um die Wahlen zum sogenannten Unterhaus – ergreifen die Brüder Partei für das Bürgertum. Mit der Feststellung, daß „bei allen producirenden Thätigkeiten der Werth, den das Ganze der Arbeit beilegt, und die politische Bedeutung, die es dem Producenten zuerkennt, genau im Verhältnis steht zu dem reinen Einkommen desselben . . .“225 , werden Forderungen der liberalen Bourgeoisie aufgegriffen. Der politische Machtzuwachs des Bürgertums soll sich über die Einkommenssteuer realisieren: „Es stehe der Antheil jedes Einzelnen an der Wahl der Volksvertreter in möglichst genauem Verhältniß zu der Steuer, die er zahlt, nachdem man dieser denjenigen Antheil hinzugerechnet hat, welcher dem zur Existenz nothwendigen Einkommen entspricht; dabei ist jedoch jedem gestattet, eine höhere Steuer, als die von ihm geforderte, zu zahlen.“226 Graßmann weiß sehr wohl darauf hinzuweisen, daß aus dieser Wahlform den Herrschenden keine Gefahr erwächst. Da die Arbeiter etwa nur 45 % der Gesamtsteuern aufbringen, sind sie nach seiner Meinung nicht „benachtheiligt“227 ; – sie sind aber damit auch nie in der Lage, die Mehrheit der Volksvertreter zu nominieren und dadurch stets gegenüber dem Bürgertum im Nachteil. Charakteristisch für die kleinbürgerliche Haltung der Brüder ist nicht zuletzt die hohe Wertschätzung der provinziellen Mitbestimmung. Gerade in dieser Sphäre sieht nach Engels228 der Kleinbürger seinen eigentlichen Wirkungsbereich. Wenn die Selbstverwaltung der Gemeinden und Städte mit Nachdruck gefordert, wenn verlangt wird: „Jeder Staatsbürger soll durch das Gesetz an der Leitung der Gemeindeangelegenheiten betheiligt werden . . .“229 , wenn schließlich nach altgermanischem Muster von Zeit zu Zeit Beratungen der erwachsenen Männer in Dörfern und Stadtbezirken zu regionalen Fragen wie Armenpflege, Bürgerwehr, Feuerdienst, Polizeiaufsicht, Straßenwesen, Schule u. dgl. m. empfohlen werden, so leben mittelalterliche Bürgerforderungen wieder auf. Trotz seiner subjektiven Ehrlichkeit stand Hermann Graßmann damit auf der Seite der Fortschrittsfeinde und verhalf der Konterrevolution mit zum Sieg. Seine Parteinahme gegen das „Büreaukratische System“ und nicht gegen die herrschenden ökonomischen Verhältnisse, seine
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Parteinahme für eine monarchische, „frei-volkstümliche“ Entwicklung und nicht für eine demokratische, bürgerliche, zeugt von der gänzlichen Unkenntnis der wirklichen deutschen Verhältnisse. Die rückständige Pommersche Wirtschaftsstruktur und die unentwickelte Klassenlage in dieser Gegend Deutschlands, in der man weder von Klassen noch Ständen, „sondern höchstens von gewesenen Ständen und ungebornen Klassen . . .“230 reden konnte, weiterhin der dominierende Einfluß der spätromantischen Staatsauffassung, die in den 40er Jahren des 19. Jhs. in Preußen zur Staatsideologie erhoben wurde, und nicht zuletzt der Einfluß der sich naturwissenschaftlich bewährenden, aber für die Erklärung gesellschaftlicher Phänomene, wie die revolutionären Veränderungen des Jahres 1848, unbrauchbaren vorhegelschen Dialektik, bildeten die historischen Schranken, innerhalb derer Graßmann verblieb.
Heinrich Heine schrieb schon 1834, auf das Verhältnis von romantischer Naturund Staatsphilosophie eingehend, in seiner „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“: „Während Oken, der genialste Denker und einer der größten Bürger Deutschlands, seine neuen Ideenwelten entdeckte und die deutsche Jugend für die Urrechte der Menschheit, für Freiheit und Gleichheit begeisterte: ach! zu derselben Zeit dozierte Adam Müller die Stallfütterung der Völker nach naturphilosophischen Prinzipien; zu derselben Zeit predigte Herr Görres den Obskurantismus des Mittelalters nach der naturwissenschaftlichen Ansicht, daß der Staat nur ein Baum sei und in seiner organischen Gliederung auch einen Stamm, Zweige und Blätter haben müsse, welches alles so hübsch in der Korporations-Hierarchie des Mittelalters zu finden sei; zu derselben Zeit proklamiert Herr Steffens das philosophische Gesetz, wonach der Bauer von der Natur bestimmt sei zu arbeiten, ohne zu genießen, der Adelige aber berechtigt sei zu genießen, ohne zu arbeiten; – . . .“231 . „Ach, die Naturphilosophie, die in manchen Regionen des Wissens, namentlich in den eigentlichen Naturwissenschaften, die herrlichsten Früchte hervorgebracht, hat in den anderen Regionen das verderblichste Unkraut erzeugt.“232
Aus seiner relativ einheitlichen Weltanschauung entsprangen unter den gegebenen widersprüchlichen historischen Bedingungen zwei völlig diametrale Tendenzen: zum einen die progressive Behandlung der Naturwissenschaft und Mathematik, ausgehend von der von Schleiermacher weiterentwickelten, vorhegelschen Dialektik, zum anderen die sozial rückgebundene fortschrittshemmende politische Haltung Graßmanns, die sich mit eben dieser Dialektik philosophisch untermauern ließ.233 Dergestalt findet in Graßmanns Weltanschauung die zwiespältige deutsche Wirklichkeit ihren Widerschein, in der sich Fortschritt mit Reaktion paarte, ein Deutschland, von dem Marx konstatiert: „Es ist jede Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, die ihre Niederlage erlebt, bevor sie ihren
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Sieg feiert, ihre eigne Schranke entwickelt, bevor sie die ihr gegenüberstehende Schranke überwunden, ihr engherziges Wesen geltend macht, bevor sie ihr großmütiges Wesen geltend machen konnte, so daß selbst die Gelegenheit einer großen Rolle immer vorüber ist, bevor sie vorhanden war . . .“234 Nach dem Sieg der Konterrevolution und der Ablehnung der Kaiserkrone durch Preußens König stellte sich zunehmend politischer Ver-
Abb. 25. Ankündigung der Norddeutschen Zeitung
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druß bei Hermann Graßmann ein. Die ersehnte „volkstümliche“ Entwicklung wurde nicht erreicht. Die „unpraktische“ theoretische Haltung Graßmanns zu den Ereignissen von 1848/49 und die ihr entsprechende Staatskonzeption erwiesen sich als unrealisierbar. Die von den Brüdern Graßmann herausgegebene „Deutsche Wochenschrift für Staat, Kirche und Volksleben“ (1848) erschien vom 20. Mai bis 24. Juni 1848 in sechs Nummern. Sie wurde abgelöst durch eine ebenfalls noch von beiden Brüdern herausgegebene Tageszeitung, die „Norddeutsche Zeitung“, die vom 1. Juli 1848 an täglich erschien. Mehr und mehr wandte sich Hermann jedoch von der zusätzlichen Last der Zeitungsarbeit ab. Am 15. Februar 1850 schied er endgültig aus der Redaktion dieser Zeitung aus, die sein Bruder noch bis 1854 als Chefredakteur und Herausgeber weiterführte.235 1853 resümiert Hermann Graßmann: „Bald jedoch, als sich die Zustände wieder befestigt hatten, und zwar in einer Weise, die meinen Ideen wenig zusagte, stellte sich politischer Überdruß ein. Nach und nach zog ich ein Glied nach dem andern aus der politischen Umhüllung, die mir nie recht bequem gesessen, heraus; allmählich wandte ich wieder ein wenig Zeit, dann immer mehr der Mathematik zu, bis ich endlich mit der Politik förmlich brach, die Zeitung, und was damit zusammenhing, ganz meinem Bruder überließ, und alle meine Mußezeit, die mir aus meinem Amte damals nicht eben reichlich zufloß, wieder der Mathematik zuwandte.“236 In späteren Jahren sollte er sich nie wieder öffentlich über Politik äußern.
1.7 Erneuter Kampf um mathematische Anerkennung Ab Mitte 1849 erlahmte das Interesse Hermann Graßmanns an der politischen Betätigung in dem von ihm und seinem Bruder begründeten Zeitungsunternehmen. Doch nicht nur die politische Desillusionierung und der Wunsch nach einer Fortsetzung seiner mathematischen Studien mag diesen Prozeß beschleunigt haben: In den April des Jahres 1849 fiel nämlich seine Heirat, nachdem er sich im August 1848 mit der fast fünfzehn Jahre jüngeren Marie Therese Knappe, der Tochter einer pommerschen Rittergutsbesitzerin, verlobt hatte. Es sollte für den bereits vierzigjährigen Hermann Graßmann eine überaus glückliche Ehe werden. Seine Gattin gebar ihm im Laufe ihrer Ehe elf Kinder, von denen im Jahre 1911 noch sieben am Leben waren, unter ihnen viele, die mit großem Erfolg die wissenschaftliche Laufbahn beschritten. Hermann Graßmann, der selbst unter vielen Geschwistern aufgewachsen war und einen ausgeprägten Familiensinn besaß, fühlte
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Hermann Graßmann hatte mit seiner Frau Therese, geb. Knappe, elf Kinder: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Emma Dorothea Johanna (1850–1923); Karl Justus (1851–1909); Max Siegfried (1852–1917); Robert Helmuth (30. 9. 1854–17. 4. 1856); Agnes Klara (1855–1925); Hermann Ernst (1857–1922); Luise (28. 12. 1858–1. 1. 1859); Ludolf Edmund (1861–?); Karl Richard (1864–? ); Klara Marie Therese (1866–1881); Konrad Günther (1867–1877).237
Justus, sein erster Sohn, studierte Mathematik und Naturwissenschaften in Göttingen, Leipzig, Königsberg und Berlin. 1875 promovierte er in Berlin und bestand im folgenden Jahr die Oberlehrerprüfung. 1901 wurde er Direktor des Friedrich-Wilhelm-Realgymnasiums in Stettin. Hermann studierte in Leipzig und Halle Mathematik und Naturwissenschaften. In Halle bestand er 1880 sein Staatsexamen. 1899 habilitierte er sich und wurde dann 1904 als außerordentlicher Professor nach Gießen berufen. Sein Lebensziel war, das Werk seines Vaters, die Ausdehnungslehre, fortzusetzen und zu propagieren. Ludolf studierte in Berlin Medizin. Er promovierte 1885 in Berlin und war als Armeearzt, später als Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenerkrankungen in Stettin, tätig. Richard schließlich studierte in Berlin Maschinenbau und wurde 1895 zum königlichen Regierungsbaumeister ernannt. Vom Staatsdienst beurlaubt, entwickelte er als Vorsteher der Abteilung für elektrische Kraftwerke bei der Berliner AEG Kraftwerksanlagen im In- und Ausland, u. a. „die Elektrizitätswerke von Baku am Kaspischen Meer, Barcelona, Genua, Buenos Ayres und Santiago de Chile . . .“238 . 1902 wurde er als ordentlicher Professor an die Technische Hochschule in Karlsruhe berufen.
sich in dem beständig wachsenden Kreis seiner Familie überaus glücklich. Alle Kinder liebten und verehrten ihn als gütigen Familienvater. Nur die aufopferungsvolle Liebe seiner Frau erlaubte ihm, Familie, Beruf und wissenschaftliche Arbeit in so glücklicher Synthese zu vereinen. Friedrich Engel weiß von dieser Frau zu berichten: „Daß er bei den Pflichten, die Amt und Familie ihm auferlegten, doch noch Zeit, Kraft und Lust für seine wissenschaftlichen Arbeiten behielt, das ist im eigentlichsten Sinne des Worts das Verdienst seiner Frau, die mit rührender Liebe an ihm hing und die in ihrer willensstarken und willensfesten Art einen äußerst glücklichen Gegensatz zu seinem stets zur Nachsicht und Nachgiebigkeit neigenden Charakter bildete. Die Sorgen des täglichen Lebens trug sie ganz allein, und ihr sinniges und heiteres Wesen sowie ihr praktischer Blick schufen ihm eine behagliche, trauliche Häuslichkeit.
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Sie verstand es, die Kinder von dem Heiligtume seines Arbeitszimmers fern zu halten, führte sie ihm aber wiederum zur rechten Zeit zu, wo er dann, zum Beispiel beim Nachmittagskaffee, auch an den kleinsten seine Freude hatte . . .“239 Seine Frau ermöglichte ihm jene äußerste Regelmäßigkeit im täglichen Leben, die die Grundlage für seine immense Schöpferkraft bot. Sie schuf ihm ein Heim, das ihn die ständige Mißachtung der mathematischen Fachwelt verwinden half. Frau und Familie sollen daher nicht unerwähnt bleiben. Wenden wir uns aber wieder der wissenschaftlichen Tätigkeit Graßmanns zu. Nachdem er sich von der Politik zurückgezogen hatte, ging er 1849 zunächst daran, den angekündigten zweiten Teil seiner Ausdehnungslehre für den Druck zu bearbeiten. Wesentliche Vorleistungen hierfür waren bereits 1847 im Verein mit seinem Bruder erbracht worden. Nachdem Hermann Graßmann, auf diesen Studien aufbauend, bereits einige Kapitel erarbeitet hatte, erhielt er auf eine Anfrage an den Verleger seiner Ausdehnungslehre von 1844, O. Wigand, in der er sich erkundigte, ob der Verlag auch den zweiten Teil in Druck nehmen wollte, eine derart ungenügende Antwort, daß er sich entschloß, das Unternehmen in dieser Art nunmehr aufzugeben. „Auch schien mir“, schreibt er im Mai 1853 an Möbius, „bei der geringen Beachtung, die der ersten Hälfte meines Werkes zuteil geworden, die Vollendung desselben, wenigstens in der Form, wie es begonnen, ein ziemlich überflüssiges Unternehmen: meine Idee war vielmehr nun die, in einer späteren Zeit vielleicht das ganze Werk umzuarbeiten, namentlich da es mir gelungen war, die Prinzipien desselben auf die einfachste Form zu bringen, welche, wie ich hoffen durfte, auch den eigentlichen Mathematikern zusagen würde.“240 Möbius begrüßte dieses Vorhaben sofort auf das entschiedenste und drängte Graßmann auf eine möglichst baldige Neubearbeitung.241 Es sollten jedoch noch Jahre vergehen, bis 1861 dieses Unternehmen vollendet war. Vorerst wandte sich Graßmann weiteren Publikationen zur Anwendung seiner Ausdehnungslehre auf die Theorie der algebraischen Kurven und Oberflächen zu, mit denen er vor der 48er Revolution bereits begonnen hatte. So datieren vom Juli 1850 eine (H. Graßmann 1851c), vom Juli 1851 zwei (H. Graßmann 1851a, 1851b), vom Dezember 1851 eine (H. Graßmann 1852) und vom Juli 1852 gleich fünf Arbeiten zu diesem Gebiet (1855a–1855e), welches er für die Propagierung von Resultaten seiner Ausdehnungslehre ausersehen hatte. Bis auf zwei aus den Jahren 1854 und 1855 (H. Graßmann 1855f, 1855g) stammende Veröffentlichungen, die aus Anlaß von Prioritätsansprüchen gegen Cauchy und Saint-Venant sowie zur Rechtfertigung gegen wissenschaftliche Einwürfe
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von Bellavitis242 entstanden, waren dies auf lange Zeit – bis November 1872 – seine letzten Zeitschriftenpublikationen zur mathematischen Forschung. Die Gründe für diese 17jährige Publikationspause liegen, wie sich im weiteren noch näher zeigen wird, zum einen darin begründet, daß Graßmann nach 1853 seine ganze freie Zeit der neuen Bearbeitung der Ausdehnungslehre (A2) und der Ausarbeitung seiner Arithmetik (LA) widmete, zum anderen auch darin, daß er nach dem Erscheinen dieser
Abb. 26. Erste Seite des von Graßmann ausgefüllten Personalbogens des Stettiner Provinzial-Schul-Collegiums vom 1. Juni 1866
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beiden Werke in den Jahren 1860 und 1861243 , über ihren Mißerfolg resignierend, sich vollständig der sprachwissenschaftlichen Forschung zuwandte und die mathematische Forschung aufgab. Konnte es bisher den Anschein haben, daß sich die Wiederaufnahme wissenschaftlicher Forschungen durch Graßmann im Jahre 1849 nur auf die Mathematik beschränkte, so muß dieser Eindruck sofort korrigiert werden. Graßmann begann sich in dieser Zeit wieder aktiv an der Arbeit der Stettiner Physikalischen Gesellschaft zu beteiligen, deren Mitglied er seit 1837 war.244 Hatte er im Februar 1848 das vorerst letzte Mal vorgetragen, so hielt er, 1850 beginnend, nunmehr jährlich meist zwei Vorträge. Vor den interessierten Zuhörern wurden von ihm aktuelle Themen vor allem aus dem Bereich der Elektrizitätslehre, der Optik, der Akustik und ausgewählter chemischer Gebiete behandelt. Derartige Beiträge sind unter anderem: der 1850 gehaltene Vortrag über Diamagnetismus (1845 entdeckt durch Faraday), die Ausführungen über den Foucaultschen Pendelversuch zum Nachweis der Erdrotation durch die scheinbare Drehung der Schwingungsebene eines Pendels (Foucault 1851 in Paris), gehalten im Jahre 1851, ein Vortrag aus dem Jahre 1862 zur Spektraltheorie und zum Bunsenschen Spektralapparat (Bunsen und Kirchhof 1859), 1863 die Erläuterungen zu Knoblauchs Versuchen über die Diathermansie des Steinsalzes, den Wellencharakter der Wärmestrahlung betreffend (Knoblauch 1848ff.).245 Die Arbeit in der Physikalischen Gesellschaft, besonders in den ersten Jahren nach 1849, gab ihm nicht nur wesentliche Impulse für eigene Forschungen, sondern wurde ihm auch zu einem Podium für die erste Darstellung seiner physikalischen Entdeckungen und Erfindungen. Bereits im Oktober 1852 sprach er dort über seine neuesten Erkenntnisse zur Theorie der Farbmischung, die er 1853 in Poggendorffs Annalen (H. Graßmann 1853) einer breiten Öffentlichkeit vortrug und die von Helmholtz sehr positiv aufgenommen wurden. In Auseinandersetzung mit einigen fehlerhaften Schlußfolgerungen Helmholtz’ (1852), die dieser nach Erscheinen der Graßmannschen Arbeit korrigierte251 , präzisierte Graßmann die Farbentheorie Newtons, die dieser in seinem Werk „Opticks: or, a treatise on the reflexions, refractions, inflexions and colours of light“ (London 1704) entwickelt hatte. Diese „Präzisierung“ ging soweit, daß er an die Stelle des Newtonschen Konzepts eines diskreten Spektrums mit privilegierten Farben das Konzept eines kontinuierlichen Spektrums gleichberechtigter Farben setzte, ohne daß er es für nötig erachtete, diesen theoretischen Umbau Newtons auch nur zu erwähnen. Indem er nur den Forderungen seiner mathematischen
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Die Schrift „Zur Theorie der Farbenmischung“ (H. Graßmann 1853) beginnt mit den folgenden Worten: „Hr. Helmholtz [theilt] eine Reihe zum Theil neuer und sinnreicher Beobachtungen mit, aus welchen er den Schluss zieht, dass die seit Newton allgemein angenommene Theorie der Farbenmischung in den wesentlichsten Punkten irrig sei, und es namentlich nur zwei prismatische Farben gebe, nämlich Gelb und Indigo, welche vermischt Weiss liefern. Daher möchte es nicht überflüssig sein, zu zeigen, wie die Newton’sche Theorie der Farbenmischung bis zu einem gewissen Punkte hin, und namentlich der Satz, dass jede Farbe ihre Complementarfarbe hat, welche mit ihr vermischt Weiss liefert, aus unbestreitbaren Thatsachen mit mathematischer Evidenz hervorgeht, so dass dieser Satz als einer der wohlbegründetsten in der Physik angesehen werden muss. Ich werde dann zeigen wie die von Helmholtz angestellten positiven Beobachtungen, statt gegen diese Theorie zu zeugen, vielmehr dazu dienen können, dieselbe theils zu bestätigen, theils zu ergänzen.“246 Seinen Gesetzen der Farbmischung gibt er folgenden Wortlaut: 1. „. . . jeder Farbeneindruck [zerlegt] . . . sich in drei mathematisch bestimmbare Momente . . .: den Farbenton, die Intensität der Farbe, und die Intensität des beigemischten Weiss.“247 2. „. . . wenn man von den beiden zu vermischenden Lichtern das eine stetig ändert . . ., auch der Eindruck der Mischung sich stetig ändert.“248 3. Es geben „. . . zwei Farben, deren jede constanten Farbenton, constante Farbenintensität und constante Intensität des beigemischten Weiss hat, auch constante Farbenmischung . . ., gleich viel aus welchen homogenen Farben jene zusammengesetzt seien.“249 4. „. . . die gesammte Lichtintensität der Mischung [ist] die Summe . . . aus den Intensitäten der gemischten Lichter.“250
Theorie folgte, schuf er eine neue physikalische Interpretation des Phänomens der Farben.252 Die Leistung Graßmanns besteht darin, daß er die empirischen Regeln Newtons zur Farbentheorie253 „. . . in Gestalt der Graßmannschen Gesetze in einfachen Lehrsätzen präzisiert und so ein Fundament für die Weiterarbeit anderer Forscher geschaffen“254 hat. Die von ihm gefundenen Grundsätze benutzt Graßmann, um sein eigentliches Ziel – die Ableitung einer Farbenmischungsregel – zu erlangen. Er beweist, daß sich Farben wie Vektoren addieren lassen und zeigt die Identität dieser Darstellung mit der Newtonschen Schwerpunktkonstruktion. Die Ideen seiner Ausdehnungslehre wurden ihm damit zu einem heuristischen Muster der Aufdeckung von Naturgesetzen. An Möbius schrieb er diesbezüglich: „Für den baryzentrischen Kalkül habe ich kürzlich eine interessante Anwendung im Gebiete der Optik aufgefunden . . . So bieten sich nach und nach immer mehr Beziehungspunkte zwischen der geometrischen Analyse und den Gesetzen der Natur dar, wie dies allerdings zu
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Abb. 27. Hermann von Helmholtz (1821–1894)
erwarten stand, wenn jene Analyse eine naturgemäße war. [Hervorheb. – H.-J. P.]“255 Die Graßmannschen Gesetze fanden ihren Niederschlag in den Arbeiten von Helmholtz (1867) und Maxwell (1859). Helmholtz baute auf den Graßmannschen Gesetzen seine Theorie der Farbenmischung auf; Maxwell benutzte die Graßmannsche Mischungsregel, um die genaue Lage der Spektralfarben in der Farbtafel zu bestimmen.256 In der Folgezeit wurden den Graßmannschen Gesetzen vielfältige Neufassungen gegeben. Es erwies sich auch, daß sie nur in einem begrenzten Intensitätsbereich der Farben Gültigkeit haben. In der neueren Literatur wurden die Graßmannschen Gesetze zu einem „Farbmetrischen Grundgesetz“ zusammengefaßt, das folgende Fassung hat: „Der helladaptierte Zapfenapparat des trichromatischen Auges bewertet die einfallende Strahlung nach drei voneinander unabhängigen, spektral verschiedenen Wirkungsfunktionen linear und stetig, wobei sich die Einzelwirkungen additiv linear zu einer einheitlichen, untrennbaren Gesamtwirkung zusammensetzen, die Farbvalenz genannt wird.“257 Mit seiner Arbeit zur Theorie der Farbenmischung hat Graßmann die Entwicklung der Farbenmetrik bis in die Gegenwart beeinflußt. Seine Leistung tritt plastisch hervor, wenn man bedenkt, daß selbst 60 Jahre nach Erscheinen der Graßmannschen Arbeit noch dem bedeutenden
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deutschen Physikochemiker W. Ostwald in der Farbenlehre, die er als sein Lebenswerk ansah, gerade in diesen Fragen gravierende Irrtümer unterliefen, in welchen Graßmann Klarheit geschaffen hatte.258 Graßmanns Farbengesetze tragen bis heute seinen Namen. Sich wiederum mit wissenschaftlichen Arbeiten Helmholtz’ berührend, trug er im November 1854 seine Theorie über die physikalische Natur der Sprachlaute vor, zu der er im September des gleichen Jahres in einem Schulprogramm (H. Graßmann 1854) des Stettiner Gymnasiums einige Ausführungen gemacht hatte, die verständlicherweise in der Fachwelt unbeachtet geblieben waren und die von ihm erstmals 1877 – seinem Todesjahr – einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Die Graßmannsche Arbeit zur Vokaltheorie ist von Bedeutung, weil sie als einer der Vorläufer der Helmholtzschen Resonanztheorie der Vokale (1859ff.) gilt.259 Wie R. Willis (1832) und Ch. Wheatstone (1837) ging Graßmann (1854) davon aus, daß die Vocalität dadurch bedingt sei, daß neben dem Grundton in Folge der Resonanz der Mundhöhle gewisse Obertöne besonders stark mitklingen. In der konkreten Ausgestaltung dieser Auffassung – Graßmann versuchte u. a. die Vokaltheorie analog zur Theorie der Farbmischung, durch Schwerpunktkonstruktion in einer „Vokalebene“ zu bestimmen – irrte er jedoch. „Man kann“, so schreibt er 1877, „. . . wenn man U, I, A oder irgend drei andere Vokale, von denen einer nicht als zwischen den anderen beiden liegend erscheint [d. h. nicht durch stetigen Übergang beim Singen etc. erreichbar ist – H.-J. P.], durch drei Punkte einer Ebene darstellt, jeden anderen Vokal durch einen genau bestimmten Punkt dieser Ebene darstellen.“260 Die Ursachen für diesen Irrtum sind nicht zuletzt darin begründet, daß sich Graßmann bei der Aufstellung seiner Theorie nur auf sein – wenn auch außergewöhnliches – Gehör stützen konnte, da ihm mechanische Resonatoren u. dgl. m. noch nicht zur Verfügung standen. Schließlich muß bemerkt werden, daß die Resonanztheorie der Vokale, bereichert durch die Analyse der jeweiligen Formatenbereiche, erst in den zwanziger Jahren des zurückliegenden Jahrhunderts allgemeine wissenschaftliche Anerkennung erzielte.261 Ungeachtet seiner Irrtümer wurde er durch seine Untersuchungen zu einem Mitbegründer der modernen Vokaltheorie. Letztlich sei in diesem Zusammenhang noch ein verbesserter und von ihm entworfener, für die Sammlung der Physikalischen Gesellschaft bestimmter Heliostat erwähnt, den er in den 70er Jahren bei dem bedeutenden Berliner Mechaniker Fuess anfertigen ließ. In welch hohem Maße die Stettiner Physikalische Gesellschaft in Hermann Graßmann ihren eigentlichen Träger fand, zeigt sich auch daran, daß sie kurz nach seinem Tode im Jahre 1877 zerfiel.
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Abb. 28./29. Das Stettiner Gymnasium zur Zeit Graßmanns
Neben den mathematischen und physikalischen Studien, die Hermann Graßmann nach 1849 wieder verstärkt betrieb, müssen seine sprachwissenschaftlichen Untersuchungen noch Erwähnung finden. Wandte er sich nach 1861 endgültig enttäuscht von der Mathematik ab und der Sprachwissenschaft zu, so war dieser Wechsel des Forschungsgebietes nur möglich, weil hierfür – abgesehen von seiner Universitätszeit – bereits 1849 der Grundstein gelegt wurde. Vorerst aus allgemeinem Interesse und zur Erholung von der „hirnzersprengenden“ mathematischen Forschung262 beschäftigt er sich mit der jungen, erst in den Kinderschuhen steckenden sprachvergleichenden Wissenschaft. Angeregt durch die Arbeiten des Begründers der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft in Deutschland, F. Bopp, dessen vergleichende Grammatik (Bopp 1833–1852) er mit Begeisterung studierte, und gestützt auf Lehrbücher aus dem Besitz seines Bruders, erlernt er in den folgenden Jahren Gotisch, Litauisch, Altpreußisch, Altpersisch, Russisch und Kirchenslawisch. Diese für ein tieferes Verständnis der
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Vergleichsforschung notwendigen Studien einer wesentlichen Gruppe der indoeuropäischen Sprachen zeitigten zum Ende der 50er Jahre erste wissenschaftliche Ergebnisse. Abhandlungen, die von ihm in den Jahren 1860 bis 1863 veröffentlicht wurden, fanden unter den Sprachforschern sofort große Beachtung.263 Neben seinen späteren Arbeiten über den Rig-Veda stellt seine Abhandlung zu einem später nach ihm benannten Hauchdissimilationsgesetz (Aspiratengesetz), welche 1863 in Kuhns Zeitschrift abgedruckt wurde (H. Graßmann 1863), die Krönung seiner sprachwissenschaftlichen Forschungen dar. Mit dieser Entdeckung, „durch die sich Graßmann in der Geschichte der Sprachwissenschaft ein Denkmal für alle Zeiten gesetzt hat . . .“264 , trug er wesentlich zur weiteren Klärung der germanischen Lautverschiebung bei.265 Bedenkt man, daß sich Graßmann der Sprachwissenschaft erst in einem Alter von über vierzig Jahren zuwandte und, als er die 50-Jahr-Grenze bereits überschritten hatte, in einem der Mathematik fremden Gebiet wissenschaftliche Ergebnisse erzielte, die u. a. den Ausschlag für die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen im Jahre 1876 gaben266 , so erhält man einen tiefen Eindruck von der Kreativität und der geistigen Spannkraft dieses Forschers, welche gepaart mit einem immensen Fleiß zu jenen hervorragenden Leistungen führten. Kaum vorstellbar ist es, daß ihm bei seinen schulischen Verpflichtungen – gerade im Zeitraum 1849/50 mußte Graßmann sehr viele Vertretungen übernehmen, da ein Kollege von ihm wegen Krankheit längere Zeit beurlaubt werden mußte267 – für eine derart breite Palette wissenschaftlicher Arbeiten noch ausreichend Zeit verblieb. Sein wissenschaftlicher Neubeginn wurde indes noch von einem weiteren Ereignis belastet: Am 9. März 1852 verstarb sein Vater. Mit diesem Tod verlor das Stettiner Gymnasium den Professor für Mathematik und die Stettiner Physikalische Gesellschaft ihren Vorsitzenden und Begründer. Hermann Graßmann, der in Denkungsart und wissenschaftlichen Interessen seinem Vater so sehr gleichgesinnt war, wurde noch im selben Jahr sowohl zum Nachfolger am Stettiner Gymnasium als auch zum Nachfolger seines Vaters im Physikalischen Verein gewählt. Die materielle Lage Graßmanns war damit überaus günstig geworden: Hatte er an der Friedrich-Wilhelmsschule bisher nur ein jährliches Einkommen von 800 Thlr., so erhielt er nunmehr 1250 Thlr. Gleichzeitig damit aber verschlechterten sich die Chancen, einen Lehrstuhl an einer deutschen Universität zu erlangen, da die Einnahmen der meisten Universitätsprofessoren weit unter seinen jetzigen Einkünften lagen. Negativ auf seine weiteren wissenschaftlichen Studien wirkte sich auch die nunmehr wesentlich veränderte Unterrichtsstruktur aus. Hatte Graßmann an der Friedrich-Wilhelmsschule Mathematik und Physik nur
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Abb. 30. Das Lehrerkollegium am Stettiner Gymnasium in der Mitte der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Bleistiftzeichnung eines Schülers
am Rande zu erteilen, so füllte jetzt der mathematische und physikalische Unterricht fast sein ganzes Stundenvolumen aus. Daraus ergab sich in den folgenden Jahren eine erhebliche Mehrarbeit, da der neue Unterricht ihm umfängliche Vorbereitungen abverlangte. Die Verleihung des einst verwehrten Professorentitels war hingegen nur eine natürliche Folge seiner neuen Dienststellung als vierter Oberlehrer am Gymnasium, da dieser Titel für die ersten sieben Oberlehrerstellen obligat war. 18 bis 20 Stunden wöchentlich hatte Graßmann bis an sein Lebensende am Gymnasium zu unterrichten. Zudem übernahm er 1853 noch die Leitung eines Schülergesangvereins, der sich bald großer Beliebtheit erfreute und dem er sich mit ganzer Hingabe widmete. Da Graßmann auf Grund seines bescheidenen und religiösen Auftretens bei den Schülern im Laufe der Zeit den Spitznamen „Pater“ erworben hatte, wurde dieser Gesangverein bald auch außerhalb der Grenzen der Schule unter dem Namen „Paterverein“ bekannt.268 Letztlich muß noch erwähnt werden, daß Graßmann seit der Mitte der 50er Jahre im Vorstand des „Pommerschen Hauptvereins zur Evangelisierung Chinas“ tätig war und ab Ostern 1858 das Vereinsblatt redigierte. Die Vielzahl der auf ihn einströmenden neuen Anforderungen zwang Hermann Graßmann, seine Pläne für eine Neubearbeitung der Ausdehnungslehre einige Zeit zurückzustellen. Selbst die sehnlich erwünschte
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Abb. 31. Handzettel zur ersten Nummer der Stettiner Missionsschrift „Mittheilungen aus China“. Unter den Vorstandsmitgliedern findet man den Professor Hermann Graßmann Seit 1857 war Graßmann Mitglied des Vorstandes des Pommerschen Hauptvereins zur Evangelisierung Chinas. Der Verein, der 1850 ins Leben gerufen wurde, hatte sich das Ziel der Ausbildung protestantischer Missionare zur Bekehrung der „heidnischen“ Chinesen gestellt. Erste Spenden Hermann Graßmanns für diesen Verein datieren aus dem Jahre 1853, während sein jüngerer Bruder Justus Gotthold Graßmann, Divisionsprediger in Stettin, seit 1852 das Amt des Sekretärs inne hatte. Als dieser Bruder 1858, zum Superintendenten ernannt, einen anderen Wirkungskreis erhielt, wurde Hermann Graßmann Vorstandsmitglied, übernahm dessen Geschäfte und wurde in den 70er Jahren zum Vorsitzenden gewählt. Ab Ostern 1858 kam zu Graßmanns sonstigen vielfältigen Verpflichtungen noch die Redigierung des Vereinsblattes „Mittheilungen aus China“ (1858–61) hinzu. Dieses Blatt erschien bis 1861, wurde dann aber auf Grund der missionarischen Fehlschläge eingestellt.269
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Äußerungen ehemalige Schüler zu Graßmann als Lehrer A. Müller: Es gab „bei Graßmann’s auch äusserlich unendlich wohlwollender weise, bei seiner unerschöpflichen gutmütigkeit nichts harmloseres als den verkehr zwischen ihm und der nicht immer von allerhand übermute freien jugend“270 G. Wandel: „Immer unverdrossen, immer pünktlich auf seinem Platze, immer voller Freundlichkeit und nachsichtiger Geduld, kaum jemals, auch wenn seine Langmut bisweilen auf harte Proben gestellt wurde, zornig, am wenigsten rachsüchtig . . .“271 A. Jonas: „Es war doch gerade nichts Seltenes, daß . . . Schüler in Graßmanns Stunden sich mit den Aufgaben für andere Lehrfächer beschäftigten. Er vermochte es nicht über sich, scharf und kräftig einzugreifen. . . .So ist mir auch folgende Szene in lebhafter Erinnerung. Einige üble Burschen hatten in gröblichster Weise den Unterricht gestört und ließen sich durch keine Ermahnungen Graßmanns davon abhalten. Anstatt zu der ultima ratio magistrorum auch Primanern gegenüber zu greifen, sprang Graßmann plötzlich auf das Podium, betete lange und laut zu Gott und bat, daß er ihnen ihr böses Betragen nicht als Sünde anrechnen und sie durch seine Gnade bald zu besserer Einsicht führen möge.“272 P. Rusch: „Ich entsinne mich noch, daß wir in Obertertia ein Semester Religion bei ihm hatten. Er betete zu Beginn und am Ende der Stunde. Als ihn einmal ein Schüler heftig geärgert hatte, erklärte er zum Schluß des Unterrichts, er könne nicht beten, er habe sich zu sehr geärgert. Das machte auf uns Rangen großen Eindruck, und als der Inkulpat nach der Stunde zu Graßmann ging und abbat, verzieh er ihm und gab ihm einen Kuß.“273 M. Wehrmann: „In den Mathematikstunden ging es eigenartig zu. Graßmann beschäftigte sich vornehmlich mit den Schülern, die ein besonderes Interesse und Begabung für seine Wissenschaft hatten; die andern trieben recht viel Allotria und Unfug.“274
Wiederaufnahme des seit Mitte der 40er Jahre unterbrochenen Kontaktes zu Möbius mußte vorerst verschoben werden. Als Lehrer war Graßmann wohl bei weitem nicht so erfolgreich wie als Wissenschaftler.275 Seinem ganzen Wesen war autoritäres Auftreten fremd. Und sofern nicht seiner zutiefst christlichen Grundhaltung, seinem lauteren Auftreten und seiner wissenschaftlichen Gediegenheit eine gewisse, sicher auf wenige Schüler beschränkte Autorität entsprang, muß sein Unterricht wohl eher von Disziplinlosigkeit und nur eingeschränktem Bildungserfolg gekennzeichnet gewesen sein. Schon während seiner Ausbildung am Stettiner Seminar für gelehrte Schulen hatte das Provinzialschulkollegium Brandenburg auf die „eigenthümliche schüchterne Persönlichkeit des p. Graßmann“276 verwiesen, die zu Bedenken hinsichtlich einer festen Anstellung als Lehrer Anlaß gebe. Während seiner ersten Anstellung als Mathematiklehrer an der Berliner Gewerbeschule
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(1834/1835) hatte er beträchtliche Disziplinschwierigkeiten, so daß der Direktor der Schule in den Akten vermerkte: „Die Disziplin der Schule hat von jeher als musterhaft gegolten. Im letzten Halbjahr wankte sie in den mathematischen Stunden, ungeachtet meiner sorgfältigsten und kräftigsten Unterstützung, und die schlimme Verwöhnung fing an, sich selbst auf einige andere Stunden zu übertragen . . .“277 Aus späteren Jahren gibt es vielfältige Berichte278 von Schülern Graßmanns, die erkennen lassen, daß dieser Mann, der als Lehrer ein wohl nur von wenigen geliebtes Fach vertrat, mit seiner idealistischen, sanften Art wohl oftmals den Eindruck erweckt haben muß, als wäre er nicht von dieser Welt. Erst am 22. Mai 1853 nimmt Graßmann den Briefwechsel mit dem nunmehr bereits 63jährigen Möbius wieder auf: „Gleich mit der Erneuerung meiner mathematischen Studien tauchte auch die Idee auf, wieder mit Ihnen, der Sie mir fast überall in meinen mathematischen Arbeiten und Ideen auf eine fast wunderbare Weise als ein Gleichgesinnter begegnet waren, und den ich innig hochschätzen gelernt habe, in geistigen Verkehr zu treten“, schreibt er anläßlich der Wiederaufnahme des Briefkontaktes an Möbius. Ehe sich jedoch diese Idee verkörpert hatte, traten allerlei teils schmerzliche teils freudige Ereignisse dazwischen, welche diese Idee vorläufig wieder in das Reich der Träume verflüchtigten. „Die Krankheit meines hochbejahrten Vaters und endlich sein Tod, der am 9. März erfolgte, unterbrach alle jene Arbeiten und Pläne und gab den Gedanken eine andere Richtung. Und dann endlich meine Anstellung am Gymnasium an der Stelle meines seligen Vaters (zu Johanni 52), gab mir, der ich bisher mathematischen und physikalischen Unterricht nur sporadisch erteilt hatte, ein so reiches Quantum von Beschäftigung, daß ich erst jetzt in den Pfingstferien dazu gelangen kann, jenen Plan ins Leben zu rufen.“279 Dieser Briefwechsel sollte für Graßmann äußerst fruchtbar und anregend sein. Graßmann teilte Möbius in seinen Briefen die Gedanken seiner 1853 entstandenen Farbmischungstheorie mit, informierte ihn über die 1854 angestellten Untersuchungen zur physikalischen Theorie der Sprachlaute, unterrichtete ihn von seinen Gedanken über den Bau einer Apparatur, ähnlich einer Physharmonika, zur experimentellen Überprüfung dieser Theorie und tauschte mit Möbius seine Ansichten über die musikalische Harmonienlehre aus.280 Allen diesen Fragen brachte Möbius großes Interesse entgegen, regte an, zweifelte und ergänzte durch eigene Gedanken. Vor allem standen jedoch mathematische Fragen im Vordergrund des Briefwechsels. Nicht nur, daß man sich gegenseitig die neuesten Arbeiten zusandte; Möbius wußte auch Graßmann in seinen mathematischen Vorhaben beständig zu unterstützen.
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Abb. 32. August Ferdinand Möbius (1790–1868)
Bereits in seinem ersten Brief nach 1848 wies er Graßmann darauf hin, daß in den „Comptes Rendus“ von 1853 Arbeiten Cauchys und Saint-Venants enthalten seien281 , deren Inhalt vollkommen mit den §§ 45 und 93 der Ausdehnungslehre von 1844 übereinstimme. „Recht sehr wünschte ich daher“, schreibt er an Graßmann, „daß Sie in dieser Beziehung Ihre Priorität gegen Cauchy und de Saint-Venant rechtfertigen möchten. Eng mit diesem Wunsche hängt noch der zusammen, daß Sie mit allen Kräften an der Vollendung der neuen Fassung und ERWEITERUNG Ihrer Ausdehnungslehre arbeiten mögen.“282 Dieser Hinweis auf Priorität sollte für Graßmann der letzte Anstoß sein, die neue Bearbeitung der Ausdehnungslehre in Angriff zu nehmen. Im Februar 1854 schreibt er an Möbius, betreffs der erwähnten Arbeiten Cauchys und Saint-Venants: „Übrigens hat diese ganze Sache meinen Entschluß, mich an die neue Bearbeitung meiner Ausdehnungslehre her-
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anzumachen, zur Reife gebracht . . . Ich habe dabei die Absicht, alle ausführlicheren Anwendungen auf die Mechanik und die Physik überhaupt wegzulassen und das Ganze so einfach wie möglich einzurichten, auch die schwierigeren und für die Anwendung nicht so fruchtbaren oder von mir noch nicht hinreichend überwältigten Partien lieber ganz zu übergehen, damit das neue Werk nicht wieder Gefahr laufe, von niemanden oder nur von Einem ganz durchgelesen zu werden.“283 Im Januar 1855 teilt er Möbius bereits mit, daß er beabsichtige, im Sommer seine neue Bearbeitung der Ausdehnungslehre drucken zu lassen.284 Im Mai schreibt er, daß jede freie Stunde der Fertigstellung der neuen Arbeit gewidmet sei. Jedoch erst im Oktober 1861 sollte sein zweites großes mathematisches Werk vollendet sein. Kehren wir vorerst aber noch einmal zurück zu dem Prioritätsstreit Graßmanns mit Cauchy und Saint-Venant.285 Bereits vor 1853 war er mit diesen beiden Mathematikern in Berührung gekommen. 1847 war er auf eine Abhandlung Saint-Venants in den „Comptes Rendus“ vom September 1845 gestoßen, in welcher dieser die geometrische Addition und Multiplikation von Strecken entwickelte. Da Graßmann die Anschrift Saint-Venants unbekannt war, schickte er einen Brief an Cauchy, dem er zwei Exemplare der Ausdehnungslehre sowie einen Brief an Saint-Venant beilegte. In dem beigefügten Brief wies er darauf hin, daß die von Saint-Venant entwickelte Theorie bereits seit einiger Zeit in seinem Besitz war. Cauchy wurde gebeten, ein Exemplar der Ausdehnungslehre sowie den Brief an Saint-Venant weiterzuleiten. In einem Antwortschreiben stellte Saint-Venant indes fest, daß er die Ausdehnungslehre nicht erhalten hätte, jedoch sehr an diesem Werk interessiert wäre. Im Januar 1848 antwortete Graßmann ausführlich auf diesen Brief und übersandte seine Preisschrift (PREIS) und seine „Grundzüge einer rein geometrischen Theorie der Kurven“ (H. Graßmann 1846). Saint-Venant antwortete nach dieser Sendung nicht mehr. In seinem Nachlaß fand man aber eine Übersetzung der „Geometrischen Analyse“, die vom Interesse Saint-Venants für die Graßmannschen Arbeiten zeugt. Als Graßmann nunmehr 1853 zwei Abhandlungen zu Gesicht bekam, die fast völlig mit Entwicklungen seiner Ausdehnungslehre übereinstimmten und die von den einzigen beiden französischen Mathematikern stammten, denen er vormals sein Werk zugesandt hatte, ergriff ihn verständlicher Unmut. Anfang Februar 1854 verfaßte er daher einen Artikel in französischer Sprache für Crelles Journal, der 1855 unter dem Titel „Sur les différents genres de multiplication“ (H. Graßmann 1855f) erschien. In diesem Artikel weist Graßmann auf die Übereinstimmung der Theorie Cauchys mit seiner bereits 1844 veröffentlichten hin, wobei er gleichzeitig weitergehende algebraische Untersuchungen durchführt.
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Abb. 33. Augustin Louis Cauchy (1789–1857)
Zusätzlich richtete er im April 1854 eine Cauchy und Saint-Venant betreffende Prioritätsreklamation an die Pariser Akademie. Die hierauf gebildete Kommission zur Prüfung der Graßmannschen Einwürfe, bestehend aus Cauchy selbst, sowie Lamé und Binet, ließ jedoch nie etwas von sich hören. Cauchy des bewußten Plagiates zu beschuldigen, kann hier nicht der Ort sein, und selbst Graßmann sprach diesen Gedanken nie aus. Bei der außergewöhnlichen Produktivität und Originalität Cauchys ist ein Zusammentreffen mit Ideen Graßmanns durchaus nicht ausgeschlossen. Es ist jedoch Engel zuzustimmen, wenn er bemerkt: „Unbegreiflich ist es dagegen und auf keine Weise zu billigen, daß Cauchy zu Graßmanns Prioritätsreklamation schwieg.“286 Während Graßmann dergestalt 1853 aufs neue erleben mußte, wie unbekannt seine mathematischen Arbeiten in Deutschland und Frank-
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reich geblieben waren, stieß ein Engländer auf seine Schriften und konnte sich nicht genug an ihnen begeistern. Dem genialen englischen Mathematiker und Physiker W. R. Hamilton war im Verlaufe historischer Studien für das Vorwort seiner „Lectures On Quaternions“ (Hamilton 1853) die Graßmannsche Ausdehnungslehre in die Hände gefallen, und sofort erkannte er die unmittelbare Nähe dieser Schrift zu seinen eigenen Arbeiten über Quaternionen. Welchen tiefen Eindruck die erste Bekanntschaft mit dem Werke Graßmanns in ihm hinterließ, wird aus einem Brief Hamiltons an seinen Freund de Morgan, datiert von 31. Januar 1853, ersichtlich. Es heißt dort u. a.: „I have recently been reading . . . more than a hundred pages of Graßmann’s Ausdehnungslehre, with great admiration and interest. Previously I had only the most slight and general knowledge of the book, and thought that it would require me to learn to smoke in order to read it. If I could Hope to be put in rivalship with Des Cartes on the one hand, and with Graßmann on the other, my scientific ambition would be fulfilled!“287 Zwar flaute die Bewunderung nach intensiverem Studium etwas ab, wobei Hamilton seine Freude darüber, daß Graßmann die Quaternionen nicht entdeckt hat, kaum verhehlt. „Graßmann is a great and most German genius; his view of space is at least as new and comprehensive as mine of time; but he has not anticipated, nor attained, the conception of the quaternions . . .“288 , so preist ihn – einschränkend – Hamilton,
Abb. 34. William Rowan Hamilton (1805–1865)
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während Graßmann in Deutschland keine Leser findet. Bedauerlich ist, daß Graßmann nie die Vorrede Hamiltons in seinen „Lectures On Quaternions“ (Hamilton 1853) zu Gesicht bekam, in der er auf Seite 62 würdige Erwähnung und wissenschaftliche Ehrung fand. Wieviel Enttäuschung hätte ihm erspart bleiben können. Bemerkenswert und nicht ohne geschichtliche Ironie ist jedoch, daß beide Forscher, sowohl Hamilton als auch Graßmann, die Bedeutung ihrer mathematischen Entdeckungen und Entwicklungen überschätzten und sich dabei zunehmend vor der sich entwickelnden Mathematik verschlossen. War Hamilton die Entdeckung der Quaternionen „. . . für die Mitte des 19. Jahrhunderts ebenso wichtig . . . wie die Entdeckung
Abb. 35. Hamiltons Lectures on Quaternions
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der Fluxionen (die Infinitesimalrechnung) für das ausgehende 17. Jahrhundert . . .“289 , so daß er ihrer Erforschung die letzten 22 Jahre seines Lebens widmete, so ging für Graßmann die gesamte moderne Geometrie, einschließlich Invariantentheorie, auf in der Ausdehnungslehre. Ohne von Hamiltons Schrift auch nur etwas zu ahnen setzte Graßmann unterdessen mit beharrlichem Fleiß seine mathematischen Arbeiten fort. 1854/55 nahm er die gemeinsamen mathematischen Studien mit seinen Bruder Robert wieder auf.290 Die Ergebnisse dieser Jahre fanden bei Hermann Graßmann ihren Niederschlag in seinem 1860 fertiggestellten „Lehrbuch der Arithmetik“ (LA) sowie in seiner 1861 vollendeten Neubearbeitung der Ausdehnungslehre (A2). 1855, also noch während der Zeit intensivster mathematischer Forschung, erhielt der Wunsch nach einer mathematischen Professur neue Nahrung. Als zur nämlichen Zeit an dem Berliner Gewerbeinstitut eine entsprechende Professur frei wurde, zog er sofort bei seinem Berliner Schwager Erkundigungen ein. Da er offensichtlich aber keine amtlichen Schritte unternahm und auch von keiner Seite für diese Stellung vorgeschlagen wurde, zerschlug sich der Traum rasch.291 Wenden wir uns nunmehr den mathematischen Hauptarbeiten dieser Schaffensperiode Graßmanns zu. Hier ist zuerst das „Lehrbuch der Arithmetik für höhere Lehranstalten“ (LA) zu nennen. Dies nicht nur, weil dieses Buch vor der neuen Bearbeitung der Ausdehnungslehre erschien, sondern auch weil es in der Darstellungsweise als unmittelbarer Wegbereiter der zweiten Fassung der Ausdehnungslehre anzusehen ist und deutlich den geistigen Einfluß des Bruders, Robert Graßmann, erkennen läßt. Bereits im Vorwort weist Hermann Graßmann auf die Gemeinschaftsarbeit beim Zustandekommen dieses Lehrbuches hin. Selbst der zuweilen überhebliche Ton der Vorrede deutet auf den Einfluß Roberts hin und ist Hermann Graßmann sonst ganz fremd: „Die vorliegende Bearbeitung der Arithmetik . . . tritt mit dem Anspruche auf, die erste streng wissenschaftliche Bearbeitung jener Disziplin zu sein, und mit dem noch weiter gehenden Anspruche, daß die darin befolgte Methode, wie sehr sie auch von der üblichen abweichen mag, dennoch, in allen ihren wesentlichen Momenten, nicht eine unter vielen möglichen, sondern die einzig mögliche Methode einer streng folgerichtigen und naturgemäßen Behandlung jener Wissenschaft ist.“292 In der Darstellungsweise dieses Buches besteht ebenfalls ein erheblicher Unterschied zu der der Ausdehnungslehre des Jahres 1844. War ehemals die Entwicklung der mathematischen Ideen vorrangig begrifflicher Natur und dadurch zuweilen etwas unpräzis, so ist nunmehr die euklidische Form der Darstellung in der denkbar strengsten Weise durchgeführt und die begriffliche Entwicklung – trotz Betonung ihrer Wichtigkeit im Vorwort – fast vollständig verschwunden. Das Buch ist
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Abb. 36. Titelseite der „Arithmetik“ von Hermann Graßmann
eine Aneinanderreihung von Definitionen, Sätzen und Beweisen, wobei nach jedem neuen Schluß auf die vorhergehenden Sätze verwiesen wird. Als Lehrbuch für das Gymnasium zwar weitgehend ungeeignet, besticht das Werk dennoch durch seine zwingende Strenge. Bemerkenswert ist ferner, daß Hermann Graßmann unter dem Einfluß des Bruders von seiner Konzeption der Mathematik als Formenlehre abgeht und zur Bestimmung der Mathematik als Größenlehre,
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Abb. 37. Die Neubearbeitung der Ausdehnungslehre
anknüpfend an Ideen Leibniz’, zurückkehrt.293 Seine wissenschaftliche Bedeutung verdankt dieses Buch ebenfalls der Tatsache, ein Abkömmling der Ausdehnungslehre von 1844, insbesondere der darin entwickelten allgemeinen Formenlehre, zu sein.294 Die in den ersten Paragraphen des Lehrbuchs gegebene Grundlegung der Arithmetik war richtungweisend für die weitere mathematische Forschung. Den krönenden Abschluß dieser Periode des mathematischen Schaffens stellt aber „Die Ausdehnungslehre. Vollständig und in strenger Form bearbeitet.“ (A2) dar. 300 Exemplare ließ Hermann Graßmann in der Druckerei seines Bruders auf eigene Kosten drucken und gab sie bei Th. Chr. Fr. Enslin in
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Verlag. Diese Arbeit stellt mathematisch einen ganz entscheidenden Fortschritt gegenüber dem Werk von 1844 dar. Größere Vielfalt des Inhalts, exaktere Handhabung der mathematischen Begriffe und Verzicht auf die unhaltbare, vollständige Unabhängigkeit von der Analysis zeichnen es aus. Gleichzeitig hat es jedoch einen entschiedenen, ja gravierenden Nachteil: Es ist in streng euklidische Form gefaßt. Neben dem Einfluß seines Bruders Robert Graßmann ist der Wechsel der Darstellungsweise möglicherweise auch einer Äußerung Grunerts geschuldet, der in einem Brief an Graßmann eine Darstellung der Ausdehnungslehre in euklidischer Form gewünscht hatte.295 Durch diesen methodischen Fehlgriff, der sich bereits in seinem Lehrbuch der Arithmetik andeutete, fiel Graßmann von einem Extrem ins andere. Zwar konnten ihm die Mathematiker nun nicht mehr die philosophische Darstellung zum Vorwurf machen; dafür aber wurde ihnen zugemutet, einen völlig fremdartigen mathematischen Stoff in der am schwersten zugänglichen Darstellungsweise jener Zeit angeboten zu bekommen, ohne auch nur eine Vorstellung vom Nutzen der mathematischen Entwicklungen zu haben. Ein Echo auf das Erscheinen seines Werkes blieb daher vollständig aus. Das Buch wurde totgeschwiegen, und die Wirkung auf die mathematische Fachwelt war noch geringer als im Jahre 1844. Dabei hatte Graßmann an seine letzten beiden mathematischen Publikationen große Hoffnungen geknüpft. Beide Werke schickte er nämlich sofort nach ihrem Erscheinen an den nunmehrigen preußischen Kultusminister v. Bethmann-Hollweg, folgende Zeilen beifügend: „Euer Exzellenz erlaube ich mir ganz gehorsamst das beifolgende mathematische Werk zu überreichen, mit der ganz gehorsamsten Bitte, mich, wenn ein Lehrstuhl in der Mathematik an einer Preußischen Universität vakant werden sollte, hochgeneigtest berücksichtigen zu wollen.“296 In der Antwort vom 11. 2. 1862 finden wir dann: „Was Ihren Wunsch, als Professor der Mathematik an eine Universität berufen zu werden, betrifft, so werde ich denselben, wenn sich eine geeignete Gelegenheit darbietet, gern in Erwägung nehmen. Ich mache Sie jedoch schon jetzt darauf aufmerksam, daß die meisten Besoldungen derartiger Universitätsstellen hinter dem Betrag Ihrer jetzigen Einnahmen zurückstehen.“297 Mit dieser beamtlich verklausulierten Absage war dem nunmehr bereits 53jährigen Graßmann zum dritten Mal die Möglichkeit versagt worden, sich durch eine Universitätsprofessur, frei von der drückenden Last schulischer Verpflichtungen, der Entwicklung seiner vielfältigen mathematischen Ideen ausschließlich widmen zu können. Resignierend vor dem Unverständnis der mathematischen Zeitgenossen, doch ungebrochen im Glauben an den zukünftigen Nutzen seiner Ideen für die Entwicklung der Mathematik, wandte er sich von sämtlichen
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mathematischen Studien ab und gab sich ausschließlich der Sprachwissenschaft hin, die ihn mit geöffneten Armen bereitwillig empfing und ihm die seitens der Mathematik – nicht ganz unverschuldet – verwehrte Anerkennung in so reichem Maße zollen sollte. 1.8 Abwendung von der Mathematik, sprachwissenschaftliche Erfolge und späte mathematische Anerkennung Resignation am mathematischen Schaffen: „So habe ich denn auch seit dem Erscheinen der zweiten Ausgabe meiner Ausdehnungslehre außer einem Schulbuche der Trigonometrie (1865) nichts mehr auf mathematischem Gebiete veröffentlicht und ich habe mir selbst auch dann Schweigen auferlegt, wenn, was häufig genug geschah, Gegenstände als neue Entdeckungen vorgetragen wurden, welche in meinen Arbeiten schon vollständig entwickelt vorlagen, und dort meist in umfassenderer Weise behandelt waren.“298 Brief H. Graßmanns an H. Hankel, 8. 12. 1866
Nach dem erneuten Ausbleiben jeglicher Resonanz auf seine zweite Bearbeitung der Ausdehnungslehre hatte Graßmann nicht mehr die Kraft, durch Veröffentlichung weiterer Beispiele der Anwendung seiner originellen Theorie kämpferisch um Anerkennung zu ringen. „Die Tätigkeit meines Amtes [gemeint ist das Schulamt – H.-J. P.] legte es mir vielmehr als eine Art Pflicht auf“, schreibt er Ende 1866 an H. Hankel, „mir diese Anstrengungen, welche ohne entgegenkommende Anregungen, ja ohne auch nur die sichtbare Frucht einer geistigen Gemeinschaft zu tragen, immer in ihrer Vereinsamung etwas ermüdendes, ich möchte fast sagen, verzehrendes an sich tragen, für die Dauer zu versagen. . . . Meine selbständigen und zusammenhängenden Arbeiten bewegten sich seitdem auf anderem (sprachvergleichenden) Gebiete . . .“299 Erst die besonderen Ereignisse zu Beginn der 70er Jahre, auf welche noch eingegangen werden soll, führten den nunmehr über 60jährigen teilweise zur Mathematik zurück. Zunächst aber wandte er sich fast ausschließlich der Sprachwissenschaft zu, die er bisher nur als Ausgleich zur Mathematik betrieben hatte. Seine anfangs der 60er Jahre erzielten Ergebnisse in der historisch-vergleichenden Sprachtheorie, die in Fachkreisen großes Aufsehen erregten, bestätigten ihn in dem Versuch eines wissenschaftlichen Neubeginns. Viele glückliche Stunden sollte ihm das neue Betätigungsfeld gewähren. Von Graßmann wissen wir bereits, daß er alles, was er betrieb, mit äußerster Gründlichkeit anpackte und nach vorher genau festgelegten Plane seine Studien stets auf die allgemeinsten Zusammenhänge richtete und beständig versuchte, von einem einheitlichen und ursprünglichen Prinzip
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auszugehen. Dies spiegelt sich auch in seinen weiteren linguistischen Forschungen wider, bei denen Graßmann sich nunmehr den ältesten Quellen der indoeuropäischen Sprachen zuwandte. Galt das Sanskrit als eine der ursprünglichsten Sprachen der indoeuropäischen Sprachfamilie, so waren es hier besonders die ältesten indischen Literaturdenkmäler, die Veden, die bei den Sprachforschern zunehmend Beachtung fanden. Die wiederum älteste dieser überlieferten Liedsammlungen, den Rig-Veda, hatte sich Hermann Graßmann zum Forschungsobjekt ausersehen. Als er Anfang der 60er Jahre begann, sich der Übersetzung der fast 3 000 Jahre alten indischen Hymnen zuzuwenden, waren die Hilfsmittel, welche ihm zur Verfügung standen, noch sehr spärlich. Erst mit der Zeit flossen sie ihm reicher zu.300 Die mühselige Kleinarbeit, die Graßmann für sein Unternehmen auf sich nahm, und der außerordentliche Fleiß, der von ihm an den Tag gelegt wurde, verdienen unsere vollste Bewunderung. Ein ehemaliger Schüler Graßmanns weiß aus dieser Zeit zu berichten: „Freilich verging ihm auch, mit ausnahme bestimmter zeit, welche er seiner familie widmete, keine minute des tages ohne arbeit; unermüdlich fügte er stets in derselben klaren und schönen handschrift wort an wort, zal an zal in jenen unendlichen sammlungen, aus welchen wörterbuch und übersetzung des Veda hervorgegangen sind.“301
Unermüdlicher Fleiß „Niemals aber kam es vor, daß er Abends ausging, ein Glas Bier zu trinken; als daher 1863 die Deutsche Naturforscherversammlung in Stettin tagte, und er von Virchow aufgefordert wurde, mit in ein Bierrestaurant zu gehen, da wußte er keines.“302
Nach zehnjähriger intensiver Arbeit, die fast seine ganze freie Zeit ausfüllte303 , konnte Graßmann 1872 das Manuskript seines „Wörterbuch[s] zum Rig-Veda“ (H. Graßmann 1873–75) – erschienen in sechs Lieferungen von 1873 bis 1875 bei F. A. Brockhaus in Leipzig – abschließen. Sofort bei Erscheinen der ersten Lieferung fand das Wörterbuch sehr gute Aufnahme in Kreisen der Sanskritforscher. Hervorragende Veda-Forscher, wie u. a. Th. Benefey304 , gaben dem Werk vorzügliche Rezensionen. Die American Oriental Society ernannte ihn 1876 zu ihrem Mitglied, und am 13. Juli desselben Jahres wurde ihm auf Antrag des bedeutenden Philologen R. Roth der Titel „Doctor philosophiae et artium liberalium magister honoris causa“ der Universität Tübingen verliehen.305 Die Anerkennung, die ihm die mathematische Fachwelt
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Abb. 38. Tübinger Doktordiplom Graßmanns vom 18. Juli 1876
beharrlich versagt hatte, war ihm hier nun um so reichlicher zugeflossen. Wenn auch seine Arbeiten zum Rig-Veda durch die außerordentlichen Fortschritte der Veda-Forschung – die sich in den letzten Jahrzehnten zu einer förmlichen „Vedologie“ verbreitert hat306 – schon nach kurzer Zeit in vielen Passagen überholt und veraltet waren, so hatte Graßmann doch erheblichen Anteil an dieser fruchtbaren wissenschaftlichen Entwicklung. Die für seine Zeit hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen geben ihm einen Platz unter den bedeutendsten Veda-Forschern an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert. Und noch heute ist das Wörterbuch als zuverlässiges Quellenverzeichnis bei Sprachforschern im Gebrauch, wovon allein schon eine sechste Nachauflage dieses Buches aus dem Jahre 1996 (H. Graßmann 1996) beredtes Zeugnis ablegt. Neben der Vedaforschung, die Hermann Graßmann in den 60er Jahren betrieb, muß eine weitere sprachwissenschaftliche Arbeit Erwähnung finden. Es handelt sich um das Buch „Deutsche Pflanzennamen“ (H. Graßmann 1870), dessen Drucklegung sich über drei Jahre, von 1867 bis 1870 hinzog, und das aus gemeinsamen Arbeiten mit seinem Bruder Robert und seinem Schwager C. Heß hervorgegangen war. Aus der Sichtung von mehr als 56 Werken, in denen deutsche Pflanzennamen aufgeführt waren, kam nach kritischer sprachvergleichender Verarbei-
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Abb. 39. Titelseite der „Deutsche[n] Pflanzennamen“ von Hermann Graßmann
tung dieses Buch „wissenschaftlich bestimmter deutscher Namen“307 zustande. „Es ist das Ziel jeder Wissenschaft, volksthümlich zu werden. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn sie sich eine volksthümliche Sprache verschafft.“308 „. . . für die Wissenschaft selbst ist die Einführung deutscher Namen nothwendig, wenn sie nicht der ausschließliche Besitz eines kleinen durch Unterricht in jenen beiden Sprachen [gemeint ist Latein und Griechisch – H.-J. P.] herangebildeten Kreises bleiben, und durch diese Vereinzelung nach und nach in todtem Formalismus untergehen soll [Hervorheb. – H.-J. P.].“309 Mit diesen Worten motiviert Graßmann, neben dem Anliegen der Belebung des Botanikunterrichtes in Volks- und Töchterschulen, seine Schrift. Sie reiht sich damit ein in die „volksthümlich-deutschthümlerischen“ Grundbestrebungen der Brüder Graßmann.
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Muß somit das Motiv des Buches im wesentlichen negativ eingeschätzt werden, so ist damit noch kein Urteil über den sprachwissenschaftlichen Wert der Arbeit gefällt. Die durchgeführten Untersuchungen Graßmanns zur Etymologie und Sprachstruktur deutscher Pflanzennamen fanden von sprachwissenschaftlicher Seite Anerkennung310 , und auch einige Volksschulbücher übernahmen einen Teil der von ihm aufgeführten deutschen Pflanzennamen. Zum Ausgangspunkt einer ausschließlich deutschen Pflanzennomenklatur in der Biologie wurde das Buch verständlicherweise jedoch nicht. Fand Graßmann dergestalt Befriedigung in seinen sprachwissenschaftlichen Studien, so konnte er im November 1866 erstmals erfahren, daß seine mathematischen Arbeiten nicht völlig ohne wissenschaftliche Wirkung bleiben sollten. Es war ein Brief des jungen und leider viel zu früh verstorbenen Mathematikers Hermann Hankel, der dem alten Wunsch Graßmanns, daß seine mathematischen Ideen mit der neueren Mathematik „in Beziehung treten, und dadurch vielleicht fördernd in die weitere Entwickelung eingreifen werden“311 , neue Nahrung gab. Hankel hatte sich in den 60er Jahren als eifriger Schüler Riemanns das Ziel gestellt, ein systematisches Lehrbuch über die von diesem begründete Theorie der Funktionen komplexer Größen herauszugeben. Bei der Bearbeitung des ersten und leider einzigen Bandes seiner „Vorlesungen über die komplexen Zahlen und ihre Funktionen“ mit dem Titel „Theorie der komplexen Zahlensysteme“ (Hankel 1867) hatte er sich zum Studium des Wesens der komplexen und hyperkomplexen Zahlen Hamiltons „Lectures on Quaternions“ zugewandt. Hier war er auf die bereits erwähnte Würdigung der Leistungen Graßmanns gestoßen und hatte sich nach anschließendem Studium der Ausdehnungslehre für deren Ideen begeistert. Am 24. November 1866 schreibt Hankel an Graßmann: „Nachdem ich dieselben [und zwar Hamiltons „Lectures on Quaternions“ – H.-J. P.] gelesen, wurde ich auch auf Ihre beiden ‚Ausdehnungslehren‘ aufmerksam und sah zu meiner großen Freude, daß in denselben der Begriff der komplexen Zahlen – so nenne ich Ihre extensiven Größen – in einer Allgemeinheit und einer so sachgemäßen Weise behandelt und benutzt wird, als ich es zu meiner eigenen Aufklärung nur wünschen konnte.“313 Hankel ließ sich nicht, wie so viele deutsche Mathematiker vor ihm, von der Darstellungsweise und der Abstraktheit der Ausdehnungslehre „abschrecken“. Als Gründe hierfür lassen sich mindestens vier entscheidende Faktoren nennen: Erstens war Hermann Hankel durch die Hamiltonsche Quaternionentheorie in Graßmanns Arbeiten eingeführt worden. Die Schriften des damals in Deutschland ziemlich unbekannten, aber in England über-
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Abb. 40. Hermann Hankel (1839–1873) Hankel als Gymnasiast: „Seine hervorragenden Leistungen in dieser [gemeint ist die Mathematik – H.-J. P.] verschafften ihm in den letzten Schuljahren die Erlaubniss des Rectors der Schule, zum Gegenstande seines Privatstudiums statt der alten Classiker die Schriften der Mathematiker des Alterthums in der Ursprache zu wählen, um so in höherem Maasse den philologischen Anforderungen der Schule und seinem der Mathematik zugewandten Wissensdrange zu genügen. Bei seiner reich angelegten Natur musste hierdurch ein lebhaftes Interesse geweckt werden, als die ihm eigene Gründlichkeit ihn stets auf den Zusammenhang der von ihm gewonnenen Kenntnisse blicken, und rechte Befriedigung erst dann finden liess, wenn er ihnen durch Zusammenschluss unter eine höhere Einheit Abrundung zu geben wusste.“312
aus berühmten und von der Krone für seine wissenschaftlichen Leistungen geadelten Hamilton314 , dessen Theorie sich in so vielen Punkten mit der Graßmanns berührte, konnten Hankel vorzüglich auf die Gedanken der Ausdehnungslehre vorbereiten und gestatteten ihm, sich schneller mit dessen begrifflichen Konstruktionen zu „familiarisieren“. Zweitens trat Hankel dem Graßmannschen Gedankenkreis dadurch nahe, daß er von Kindheit an ein außerordentliches mathematikhistorisches und mathematisch-philosophisches Interesse entwickelt hatte und somit von der philosophisch-mathematischen Darstellung der ersten Fassung der Ausdehnungslehre eher fasziniert als abgestoßen wurde.
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Drittens war Hankel ein Schüler von Möbius315 , also des deutschen Mathematikers, der den Graßmannschen Ideen in Deutschland selbst am nächsten gestanden hatte und in dessen geistiger Verwandtschaft sich Graßmann selbst sah. Und viertens war Hankel ein Schüler Riemanns, dessen durchdringende Abstraktions- und Verallgemeinerungskraft, gepaart mit einer naturphilosophisch an Herbart anknüpfenden gedanklichen Tiefe, ihm wertvolle Anregungen für ein Verständnis der Graßmannschen Gedanken vermitteln mußte. Die zeitweilige Korrespondenz, die sich auf dieser Grundlage zwischen Graßmann und Hankel entwickelte, war im wesentlichen an die Fertigstellung der „Theorie der komplexen Zahlensysteme“ geknüpft. Hankel bat Graßmann in seinen Briefen um einige Erläuterungen über dessen Behandlung der Determinantentheorie, da er plante, die extensiven Größen Graßmanns als ein Beispiel hyperkomplexer Zahlen in seinem Buche vorzutragen. Nachdem alle Auskünfte Graßmanns zu seiner Zufriedenheit ausgefallen waren, übersandte er Graßmann Ende 1867 ein Exemplar seines Buches mit der ausdrücklichen Bitte um Rezension: „Es ist für das Bekanntwerden meines Buches . . . unumgänglich notwendig, daß es von sachverständigen Leuten angezeigt und rezensiert wird“, schreibt er an Graßmann. „Da Sie in Grunerts Archiv früher schon geschrieben haben, so richte ich an Sie die gehorsame Bitte, in diesem mein Buch so anzeigen zu wollen, daß unbeschadet des Tadels, den Sie über das und jenes auszusprechen hätten, doch jedem Leser einleuchten müßte, daß durch dasselbe ein beachtenswerter Zweig der Mathematik systematisch behandelt [ist]. Sie würden mich . . . durch diesen Dienst unendlich verbinden, und einem Ihrer Verehrer einen großen Gefallen erweisen.“316 Graßmann kam dieser Bitte auch wirklich nach und schickte eine Besprechung an Grunert. Hier ist sie aber im Gedränge der sich häufenden Veröffentlichungen leider nie erschienen und anscheinend verloren gegangen.317 Die Hochachtung, die Hankel vor der Meinung Graßmanns hatte, kommt in der folgenden Briefstelle sehr schön zum Ausdruck: „Ihr Urteil ist das einzige, was ich für kompetent halten kann, denn nur Sie haben in den einschlägigen Fragen den allgemeinen Standpunkt eingenommen, von dem sie allein ohne Vorurteil und Leichtfertigkeit behandelt werden können. Nur etwa der nun verstorbene Hamilton kann hierin mit Ihnen wetteifern. Empfängt mein Buch Ihre Billigung, so werde ich, im Bewußtsein, die wissenschaftliche Forschung um einen wesentlichen Schritt auch objektiv gefördert zu haben, mit Gleichmut die vornehme Ignoranz und das Totschweigen ertragen, was mir ebensowenig zu leiden erspart bleiben wird, als Ihnen.“318
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Mit der Fertigstellung des Buches brach der Kontakt zwischen beiden Forschern wieder ab. Leider konnte auch Hankels Werk anfangs nur sehr wenig zur Popularisierung der Graßmannschen Auffassungen beitragen: Bei Erscheinen des Buches stand der erst 28jährige Verfasser am Anfang seiner mathematischen Laufbahn und besaß daher noch nicht die wissenschaftliche Autorität, die dem Versuch, die Mathematiker auf Graßmanns Ausdehnungslehre aufmerksam zu machen, baldigen Erfolg versprochen hätte. Erst vier Jahre später sollte der Einfluß von A. Clebsch dazu beitragen, daß die mathematische Öffentlichkeit wirklich auf Graßmann aufmerksam wurde. Wie sehr Graßmann, der sich schon seit Jahren nicht mehr mit der mathematischen Forschung beschäftigt hatte, noch mit allen Fasern seines Herzens an der Mathematik hing, sollte sich auch Ende 1868 zeigen, als sich für ihn erneut – nunmehr zum vierten Mal – die Hoffnung auf eine mathematische Professur regte. An der Greifswalder Universität wurde zu Ostern 1869 durch den Weggang Königsbergers die zweite ordentliche Professur für Mathematik frei. Grunert, der die erste Stelle inne hatte, schlug der Fakultät – in der er ziemlich isoliert stand – Baltzer und Graßmann als Nachfolger vor; Königsberger hingegen Fuchs, Dedekind und Schwarz. Die Fakultät stimmte schließlich in ihrem Schreiben an das Ministerium nur für L. Fuchs. Grunert, der als einziger gegen diesen Beschluß auftrat, legte dem Schreiben an das Ministerium ein Begleitpapier bei, in dem er sich für Graßmann und Baltzer aussprach, jedoch Baltzer erkennbar präferierte.319 Auf das Ministerium machte das Votum Grunerts begreiflicherweise kaum Eindruck, und L. Fuchs wurde am 20. Febr. 1869 zum Nachfolger ernannt. Graßmann hatte noch im Dezember 1868 durch Grunert von der freiwerdenden Greifswalder Professur erfahren. Grunert versicherte ihm aller möglichen Unterstützung und gab ihm Ratschläge, wie er sich, falls Interesse bestünde, zu verhalten und an wen er sich zu wenden habe. Was Grunert zu dem Schritt, für eine Ernennung Graßmanns zu stimmen, bewogen haben mag, ist unklar. Sicher spielte seine Kontroverse mit der Fakultät eine Rolle. Aus allen seinen vorhergehenden Äußerungen war zu ersehen, daß er den wissenschaftlichen Wert der Ausdehnungslehre nicht hoch ansetzte. So schrieb er etwa 1862 in einem Brief an Graßmann: „. . . daß ich z. B. in Ihrer Ausdehnungslehre oder Ihren Arbeiten über die sogenannte extensive Größe keinen eigentlichen wissenschaftlichen Fortschritt erkenne, von derselben keine ersprießlichen Früchte für die Wissenschaft erwarten kann, so sehr ich auch Ihren dabei an den Tag gelegten Scharfsinn ehre.“320
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Abb. 41. Johann August Grunert (1797–1872)
Es liegt daher nahe anzunehmen, daß Grunert auf Graßmann, der bereits sieben Jahre keine mathematischen Forschungsergebnisse mehr veröffentlicht hatte, durch die von diesem verfaßte und ihm zwecks Veröffentlichung zugesandte Rezension des Hankelschen Werkes wieder aufmerksam geworden war und gedachte, seine resoluten Urteile über Graßmanns mathematische Leistungen abzumildern, indem er diesem eine, wenngleich geringe, Chance eröffnete, eine Professur zu erlangen.321 Wie dem auch sei. Der fast Sechzigjährige ergriff sofort und ohne Rücksicht auf materielle Einbußen die sich ihm scheinbar bietende Gelegenheit. „Zwar würde sich“, schrieb er noch im Dezember 1868 an Grunert, „wenn es mir gelingen sollte, die zweite mathematische Professur an der Greifswalder Universität zu erlangen, mein Gehalt bedeutend verringern, . . . Aber dennoch werde ich dies Opfer gerne bringen, da es sich darum handelt, eine Stellung zu gewinnen, welche meinen Wünschen und Neigungen, und, wie ich glaube sagen zu dürfen, der ganzen Richtung, welche meine geistige Entwickelung genommen hat, so vollkommen entspricht.“322 Da die Ernennung Graßmanns bei der dargestellten Konstellation von Anfang an kaum Aussicht auf Erfolg hatte, ist es bedauerlich, daß
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in Graßmann nur unerfüllbare Hoffnungen geweckt wurden, die immer eine gewisse Bitterkeit zurücklassen mußten. Trotz dieses persönlichen Mißerfolges sollte sich Anfang 1869 für die Anerkennung der Ausdehnungslehre in Mathematikerkreisen das Blatt wenden. Erstens begann in diesem Jahr der Gymnasiallehrer Victor Schlegel, der während der Jahre 1866 bis 1868 ein Kollege Graßmanns am Stettiner Gymnasium gewesen war, aber erst nach seinem Amtswechsel an das Warener Gymnasium freie Zeit und Interesse an der Ausdehnungslehre seines ehemaligen Kollegen gefunden hatte, mit der Arbeit an einem Buch, dessen erster Teil im Spätherbst 1872 unter dem Titel „System der Raumlehre. Nach den Prinzipien der Graßmannschen Ausdehnungslehre und als Einleitung in dieselbe“ erscheinen sollte. Dieses Buch ist von Bedeutung, weil es den ersten Versuch einer geschlossenen Fremddarstellung der Auffassungen Graßmanns verkörpert. Schlegel war jedoch nicht der Mathematiker, der in der Lage war, eine werbende Kraft für die Ideen Graßmanns in der Öffentlichkeit auszuüben. Ihm gelang es nicht, die Synthese des Werkes Graßmanns mit der Mathematik seiner Zeit zu vollziehen. Viel stärker als das genannte Werk wirkte seine 1878 erschienene Graßmannbiographie. Wenngleich Schlegel auch häufig kritiklos und voreingenommen für seinen verehrten Stettiner Kollegen eintrat und damit nicht wenig zu dem späteren Kult um Graßmann beitrug, so strahlte doch das Buch eine fesselnde und herzliche Begeisterung für diesen Gelehrten aus. Zweitens aber ist das Jahr 1869 ausschlaggebend für die Einleitung der breiten, öffentlichen Anerkennung Graßmanns durch die mathematische Fachwelt. Neben der Tatsache, daß Felix Klein im Januar dieses Jahres durch das Buch Hankels erstmals auf Graßmann aufmerksam wurde, trug die Aufnahme eines Mathematikstudiums durch den ältesten Sohn Graßmanns, Justus Graßmann, in eigentümlicher Weise dazu bei, daß der Name Graßmann bei einem der führenden mathematischen Köpfe der Zeit wissenschaftliches Gewicht erlangen sollte. Ostern 1869 hatte Hermann Graßmann nämlich die große Freude, seinen Ältesten, der sich für die Mathematik entschieden hatte, zum Studium nach Göttingen zu entsenden, wo zu dieser Zeit die Mathematik durch Alfred Clebsch und Moritz Abraham Stern vertreten war. Beiden ließ Graßmann durch seinen Sohn je ein Exemplar der Ausdehnungslehre überbringen, das die Professoren freundlich annahmen. Allem Anschein nach waren ihnen Graßmanns Schriften noch unbekannt gewesen. Diesmal aber fielen Graßmanns Arbeiten in die rechten Hände! Wie Engel bemerkt323 , war es wohl der ruhige, aber belesene Stern, durch den Klein, zwischen 1869 und 1871, nunmehr das zweite Mal, mit den Worten: „Das sind sehr interessante Sachen“324 auf Arbeiten Graßmanns aufmerksam gemacht wurde.
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Nicht unbemerkt soll an dieser Stelle bleiben, daß auch Stern, der hier Graßmanns Ideen aufgriff, von Grunert wissenschaftlich nicht anerkannt wurde. In einem Brief an Graßmann vom 6. November 1862 vermerkt er u. a.: „. . . Prof. Stern in Göttingen, mit dessen algebraischer Analysis ich mich auch nicht einverstanden erklären kann . . .“.325 Felix Klein aber, der zu dieser Zeit an der Konzeption seines „Erlanger Programm[s]“ (Klein 1974) arbeitete, erkannte, daß Graßmann bereits vor Jahrzehnten mathematische Fragestellungen untersucht hatte, die für die moderne Mathematik richtungweisend waren.326 Zu der um Clebsch versammelten Mathematikerschule gehörig, begeisterte er diesen nunmehr für die Arbeiten Graßmanns. So schenkte er Clebsch am 19. Januar 1872, zu dessen Geburtstag, ein Modell der linealen Erzeugung von Kurven dritter Ordnung nach Graßmanns Vorgehen (verschiebbare Stecknadeln, die durch Fadenverknüpfungen an bestimmte Schnittpunktsbedingungen gebunden wurden).327 Clebsch seinerseits erwärmte sich für die Schriften Graßmanns und zögerte nicht, seine Wertschätzung für die von ihm aufgespürten wertvollen Ansätze Graßmanns öffentlich zu bekunden. Er veranlaßte, daß Graßmann in der Sitzung der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften vom 2. Dezember 1871 zum korrespondierenden Mitgliede gewählt wurde. In seiner in derselben Sitzung gehalten Gedächtnisrede auf den verstorbenen Mathematiker und Physiker Julius Plücker, an deren Ausarbeitung auch F. Klein als Schüler Plückers beteiligt war, wies er mehrfach nachdrücklich auf die Leistungen Graßmanns hin.328 Seit der Zuerkennung des Preises für die „Geometrische Analyse“ im Jahre 1846, also seit einem Vierteljahrhundert, war dies wieder die erste öffentliche Anerkennung Graßmanns durch einen deutschen Mathematiker von Ruf. Und Clebsch gelang es mit seinen wenigen Bemerkungen, auf Graßmann aufmerksam zu machen. Der höhere Entwicklungsstand der Mathematik förderte gleichzeitig das Verständnis der Arbeiten Graßmanns.329 Vorerst nur im weiteren Kreis der Anhänger Clebschs, später zunehmend auch bei ferner stehenden Mathematikern, kam Graßmann ins Gespräch.330 Wie hatte Graßmann, der noch immer an der Mathematik hing, auf diese Anerkennung gewartet! Die anerkennenden Worte von Clebsch und die Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaft genügten, daß sich Graßmann, der mitten in der Arbeit zur Herausgabe seines Wörterbuches zum Rig-Veda steckte, wieder teilweise der Mathematik zuwandte. Leider verstarb Clebsch bereits ein Jahr darauf, am 7. November 1872, und konnte somit nicht mehr viel für die Verbreitung und Aufbereitung der Ideen Graßmanns tun. Nur wenige Tage zuvor hatte Graßmann – nach über zehnjähriger Pause – wieder seine erste mathematische
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Abb. 42. Felix Klein (1849–1925)
Abhandlung verfaßt und sie Clebsch zugesandt! Doch die wachsende Anerkennung Graßmanns war nicht mehr aufzuhalten. Sophus Lie, ein enger Freund Kleins und von diesem auf die Graßmannsche Behandlung des Pfaffschen Problems aufmerksam gemacht, kam eigens nach Stettin, um sich von Graßmann über diesen Gegenstand, an dem er sich schon geraume Zeit versucht hatte, informieren zu lassen. Es scheint indes, daß sich Graßmann in diesen Fragen nach der langen Abwendung von der Mathematik nicht mehr ganz heimisch fühlte und Lie gegenüber sehr verlegen war mit einer hilfreichen Interpretation seiner eigenen – bis dahin unübertroffenen und vollständigen – Klassifizierung des Problems . . .331 Graßmann erhielt nun ständig neue Beweise der Wertschätzung. In dem wissenschaftlichen Nachruf auf Clebsch (Clebsch 1874), der von dessen Freundeskreis verfaßt worden war, wurde Graßmann höchst ehrenvoll erwähnt.332 Seit 1873 trat V. Schlegel mit ihm in regen Briefwechsel; viele Briefe kamen von Klein, der nach dem Tode Graßmanns die
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Herausgabe seiner Gesammelten Werke initiierte. Der Straßburger Mathematiker Reye schickte Graßmann 1877 in Verehrung seine „Geometrie der Lage“ (Reye 1877). Und so erlebte Hermann Graßmann an seinem Lebensende noch, daß seine mathematischen Ideen späte – großenteils leider zu späte – Beachtung fanden. Bereits von Krankheit gezeichnet, nahm Graßmann in der wenigen, ihm neben der Sprachforschung verbleibenden freien Zeit seine physikalischen und mathematischen Studien wieder auf. Besonders in seinem letzten Lebensjahr, als ein Herzleiden und zunehmende Bewegungsunfähigkeit bedrohliche Ausmaße anzunehmen begannen, verfaßte er eine Vielzahl wissenschaftlicher Abhandlungen, die vorrangig das Ziel hatten, Prioritätsansprüche in der Physik zu verteidigen333 und seine alte Theorie zu propagieren, indem er versuchte, sie mit den neuesten mathematischen Entwicklungen in Beziehung zu bringen.334 War letzteres der Fall, so wurden die Einschätzungen Graßmanns leider häufig subjektiv. Lange Zeit der mathematischen Entwicklung fernstehend, versuchte Graßmann, mangelhaft durch die unvollständigen Bestände der Stettiner Bibliotheken informiert, allen neuen mathematischen Theorien einen Platz in seiner Ausdehnungslehre anzuweisen und zwang sie damit in ein Kleid, das ihnen viel zu eng war. Die Mathematik hatte in der Zwischenzeit neue Methoden entwickelt, die den seinigen teilweise überlegen waren. Sein System war somit nicht mehr in die neuere Mathematik hinüberzuretten – nur einzelne Ansätze, Ideen und Methoden konnten in den bleibenden Bestand der lebendigen Mathematik aufgenommen werden. Dies zu erkennen, war der Fünfundsechzigjährige nicht mehr in der Lage – und es von ihm zu verlangen, hieße ungerecht zu sein. So neigte sich das Leben eines großen, lange Zeit unverstandenen und in geistiger Vereinsamung um den Fortschritt der Mathematik ringenden Wissenschaftlers erfüllt dem Ende zu. Als er am 26. September 1877 starb, war er in der Sprachwissenschaft gefeiert, in der Physik geachtet und konnte noch die ersten Wirkungen seiner Ideen in der Mathematik erleben, für die er so lange, fernab von den eigentlichen Zentren des wissenschaftlichen Lebens, gerungen hatte. Sein sehnlicher Wunsch, einen Kreis von gleichgesinnten Schülern um einen mathematischen Lehrstuhl zu versammeln, war jedoch nicht in Erfüllung gegangen. Glücklich konnte er aber 1877, kurz vor seinem Tode, noch eine zweite Auflage seines Erstlingswerkes von 1844 erleben, nachdem er erfahren mußte, daß Restbestände der ersten Auflage wegen mangelnden Absatzes eingestampft worden waren. Seine letzte Abhandlung (H. Graßmann 1878), eine Schrift wider Materialismus und Atheismus und für eine Neubelebung des geoffenbarten und wundertätigen christlichen Glaubens, deren Vorwort er wenige Tage
Anmerkungen zum 1. Kapitel
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Abb. 43. Einweihung der Gedenktafel für H. G. Graßmann am Gebäude des Mathematischen Institutes der Universität Szczecin 28. 5. 1994 anläßlich des 150. Jahrestages des Erscheinens der Ausdehungslehre in gemeinsamer Initiative der Deutschen und der Polnischen Mathematiker-Vereinigung
vor seinem Tode beendete und die in vielen Punkten seiner praktizierten wissenschaftlichen Denkhaltung entgegen stand, legt letztes Zeugnis über seinen widerspruchsvollen Entwicklungsweg ab.
Anmerkungen zum 1. Kapitel 1 Krug 1827, S. 699–702. 2 Graßmann schrieb sich selbst, wie im Titel der Biographie ausgewiesen, mit „ß“. In der Literatur trifft man sowohl auf die Schreibweise mit „ss“ als auch auf die mit „ß“. 3 A1, S. 20. 4 A2, S. 4. 5 Brief von A. F. Möbius an E. F. Apelt, 5. Januar 1846. Zitiert nach BIO, S. 101. 6 Brief von A. F. Möbius an C. Fr. Gauß, 2. Februar 1847. Zitiert nach BIO, S. 118.
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7 Brief von J. A. Grunert an H. Graßmann, 9. Dezember 1844. Zitiert nach BIO, S. 103. 8 Brief von E. F. Apelt an A. F. Möbius, 3. September 1845. Zitiert nach BIO, S. 101. 9 Brief von R. Baltzer an A. F. Möbius, 26. Oktober 1846. Zitiert nach BIO, S. 102. 10 Cantor 1879, S. 596. 11 GW11–GW33. 12 BIO, S. 314. 13 Vgl. Kedrovskij 1974. 14 H. Graßmann 1996. 15 Schlegel 1878, S. 20. 16 Engels 1967a, S. 463. 17 Mikulinskij 1977, S. 104. 18 Zitiert nach BIO, S. 21. 19 Zitiert nach Wehrmann 1906, S. 199. 20 Näheres in Wehrmann 1911. 21 Wehrmann 1911, S. 363. 22 Engels 1967c, S. 246. 23 Vgl. Wehrmann 1906, S. 241. 24 Siehe hierzu: Wehrmann 1894, Runze 1910, Rühl 1887, S. 18–23. 25 Vgl. auch Wehrmann 1911, S. 404. 26 Vgl. Wehrmann 1906, S. 268. 27 Engels 1959, S. 573. 28 König 1972, S. 323. 29 Vgl. Wehrmann 1911, S. 451. 30 1822 umfaßte die Korporation bereite 226 Mitglieder. Bis 1872 stieg ihre Mitgliederzahl auf 728. – Vgl. Wehrmann 1911, S. 451. 31 Vgl. Wehrmann 1911, S. 468. 32 Vgl. Wehrmann 1911, S. 465. 33 Vgl. Wehrmann 1911, S. 464. 34 Vgl. Altenburg 1936, S. 160ff. 35 Vgl. Wehrmann 1906, S. 270. 36 Engels 1959, S. 45. 37 Engels 1959, S. 47. 38 Vgl. Wehrmann 1911, S. 476. 39 Mehring 1973, S. 105. 40 Vgl. Scherwatzky 1939, S. 201. 41 Vgl. Löwe 1870, S. 81. 42 Vgl. Wandel 1888, S. 228. 43 Ebenda, S. 156. 44 Vgl. Geschichte der Grossen National-Mutterloge 1903, S. 512f. 45 Vgl. Wehrmann 1911, S. 490ff. 46 Vgl. Runze 1910. 47 Vgl. ebenda. 48 Einen Überblick über einige namhafte Schüler des Stettiner Gymnasiums findet man in Runze 1907. 49 H. Müller 1926, S. 15. Vgl. ähnlich A. Müller 1878 und M. Wehrmann 1911, S. 489ff. 50 Vgl. auch Klein 1926, S. 173. 51 R. Graßmann 1876c, S. 21/22. 52 Eine Aufzählung seiner weiteren Schriften findet sich u. a. in G. L. Graßmann 1868 sowie in Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 9, S. 593–595.
Anmerkungen zum 1. Kapitel
105
53 Nach G. L. Graßmann 1868 und R. Graßmann 1876c, S. 19ff. 54 R. Graßmann 1876c, S. 26; siehe auch: Lebenslauf, verfaßt von Justus Graßmann, wiederabgedruckt in Scheibert 1937, S. 33ff. 55 Vgl. diesbezüglich auch J. Graßmanns Reden zu den „akademischen Erinnerungsfesten“ (1846). 56 Vgl. hierzu und zum Einfluß der romantischen Naturphilosophie auf J. Graßmann in Heuser 1996. Daß Klügel in Halle bei der Behandlung der Kombinatorik an die Hindenburg Schule anknüpfte, wird J. Graßmann eher weniger begeistert haben, da er sich von dieser Schule später distanzierte und direkt an Leibniz anschloß. Vgl. KRY, S. 175. 57 Vgl. hierzu Näheres in Wehrmann 1911, S. 415ff. 58 Näheres in Kapitel 2, Abschnitt 3. 59 Vgl. Runze 1910. 60 Marx 1956, S. 380. 61 König 1973, S. 41. 62 Vgl. Rühl 1887, S. 56. 63 Es handelt sich um J. Graßmann 1817, 1824, 1835. 64 Ausführlicher hierzu in Kapitel 2, Abschnitt 1. 65 Scheibert 1937, S. 36 66 Siehe Kapitel 2, Abschnitt 1. 67 Scheibert 1854, S. 160/161. 68 Vgl. Scheibert 1937. 69 Becker/Hofmann 1951, S. 327/328. 70 Es handelt sich hierbei um das „Curriculum vitae et studiorum ratio“, eingereicht bei der Berliner Prüfungskommission zwecks Ablegung der ersten Lehramtsprüfung (25 halbe Folioseiten) und um einen deutschen Lebenslauf vom 3. April 1834, der anläßlich der Ablegung der theologischen Prüfung in Stettin von Graßmann eingereicht wurde (15 halbe Folioseiten). Beide Lebensläufe werden bei Engel (BIO) ausführlich zitiert. Dieses Werk wurde daher auch vom Autor als Quelle herangezogen. Ein von Engel erwähnter wissenschaftlicher Nachlaß Graßmanns (BIO, S. 373) konnte bei den Nachforschungen des Autors nicht aufgefunden werden. Recher´ chen im Szczeciner Wojewodschaftsarchiv „Wojewódzkie Archiwum Panstwowe“ im Jahre 1976/77 blieben ebenfalls ohne Ergebnis. Auch Gert Schubring, der seit Ende der 1970er Jahre dem Nachlaß Graßmanns nachspürte, erging es nicht viel besser (Vgl. Schubring 1996c). Das Möbiusarchiv in Leipzig, das Briefe Graßmanns enthielt, fiel dem zweiten Weltkrieg vollständig zum Opfer. Der Autor mußte sich daher weitgehend auf die umfangreiche Dokumentation zum Leben Graßmanns in (BIO) stützen. 71 Nach den Graßmannschen Lebensläufen referiert von F. Engel in BIO, S. 9. 72 Lebenslauf von H. Graßmann vom 3. April 1834. Zitiert nach BIO, S. 9. 73 Vgl. Lebenslauf von 1834, in BIO, S. 10. 74 Lebenslauf H. Graßmanns vom 3. April 1834. Zitiert nach BIO, S. 10/11. 75 Ebenda. 76 Lebenslauf H. Graßmanns vom 3. April 1834. Zitiert nach BIO, S. 11. 77 Justus Graßmann soll gesagt haben, daß von seinen Söhnen „Hermann der Fleißigste und Robert der Begabteste“ (Scheibert 1937, S. 68) sei. 78 Reifezeugnis H. Graßmanns, zitiert nach BIO, S. 17. 79 Vgl. BIO, S. 19. 80 Heinrici 1889, S. 49. 81 Vgl. dazu ausführlicher in Wirzberger 1973.
106
1 Graßmanns Leben
82 Vgl. u. a. Stichwort Neander in Lenz 1910a, 1918. 83 Vgl. Wirzberger 1973, S. 78. Näheres zu Schleiermacher findet sich im Kapitel 2, Abschnitt 3. 84 Vgl. u. a. Stichwort Hengstenberg in Lenz 1910a, 1910b, 1918 sowie bei Ziegler 1921, S. 166ff. 85 Vgl. u. a. Stichwort G. A. Strauß in Lenz 1910a, 1910b, 1918. 86 Vgl. Wirzberger 1973, S. 78. 87 Vgl. BIO, S. 20. 88 Brief an den Bruder Robert Graßmann vom 26. 11. 1836. Zitiert nach BIO, S. 21. 89 Vgl. BIO, S. 21. 90 Vgl. u. a. Stichwort F. v. Raumer in Lenz 1910a, 1910b, 1918. 91 Vgl. u. a. Stichwort Zeune in König 1972, 1973. 92 Vgl. u. a. Wirzberger 1973, S. 78. 93 Ueberweg 1923, S. 274. – Vgl. u. a. Stichwort H. Ritter in Lenz 1910a, 1910b, 1918. 94 BIO, S. 24. 95 Über den hohen wissenschaftlichen Stand der Forschungen zur Philologie an der Berliner Universität vgl. u. a. Wirzberger 1973. 96 Er hörte zu dieser Zeit bei Schleiermacher die Dialektik und die Erklärung des Evangeliums des Matthäus. 97 Lebenslauf H. Graßmanns vom 3. April 1834. Zitiert nach BIO, S. 21/22. 98 Näheres zu den philosophischen Positionen Schleiermachers siehe im Kapitel 2, Abschnitt 3. 99 Ausführlicher hierzu in Kapitel 4. 100 Zur ethischen Konzeption Schleiermachers siehe Kapitel 2, Abschnitt 3. 101 Lebenslauf H. Graßmanns vom 3. April 1834. Zitiert nach BIO, S. 22. 102 Zitiert nach BIO, S. 150. 103 Ebenda, S. 150f. 104 Die nachfolgenden Feststellungen wurden auch von Justus Graßmann, dem ältesten Sohn Hermann Graßmanns, bestätigt. – Vgl. BIO, S. 29. 105 Vgl. Kapitel 2, Abschnitt 1. 106 Lebenslauf H. Graßmanns vom 3. April 1834. Zitiert nach BIO, S. 36. 107 Ebenda. 108 Bezugnehmend auf eine Prioritätsreklamation schreibt er in einem Brief an Saint-Venant vom 18. April 1847, daß er Grundbegriffe seiner Ausdehnungslehre bereits 1832 besaß: „Comme je lisais l’extrait de votre mémoire sur les sommes et les différences géométriques publié dans les Comptes rendus, je fus frappé par la ressemblance merveilleuse, qu’ il y a entre les résultats, qui y sont communiqués et les découvertes faites par moi même depuis l’année 1832 . . .“. (Zitiert nach BIO, S. 42/43). 109 Vgl. Kapitel 3 u. 4. 110 Vgl. BIO, S. 39. 111 BIO, S. 40. 112 Zeugnis Graßmanns, ausgefertigt am 31. Dezember 1831; zitiert nach BIO, S. 41. 113 Zitiert nach BIO, S. 41/42. 114 Vgl. die Aussagen von Engel in BIO, S. 44. 115 Biermann 1973, S. 39. 116 BIO, S. 46. 117 Bericht des Direktors der Gewerbeschule K. F. Klöden an das Kuratorium der Schule, datiert vom 17. Oktober 1834; zitiert nach BIO, S. 46.
Anmerkungen zum 1. Kapitel
107
118 Vertrag des Direktors der Gewerbeschule Klöden mit J. Steiner, datiert vom 14. Oktober 1834; zitiert nach BIO, S. 48. 119 Biermann 1973, S. 38. 120 Zitiert nach BIO, S. 49. 121 BIO, S. 49. 122 In einem Brief an den Vater vom 25. Januar 1835 schreibt Hermann Graßmann zur Korrektur des Lehrbuches: „. . . ich bemerkte dabei einzelne Schreibfehler in manchen Formeln, die ich daher gleich, obwohl mit einiger Ängstlichkeit, herauskorrigiert habe . . .“. Zitiert nach BIO, S. 51. 123 Brief Hermann Graßmanns an den Vater, 24. Januar 1835. Zitiert nach BIO, S. 53. 124 Brief Graßmanns an den Vater, 9. März 1835. Zitiert nach BIO, S. 53. 125 Ebenda, S. 54. 126 Brief Hermann Graßmanns an seinen Bruder Robert, 9. März 1835. Zitiert nach BIO, S. 54/55. 127 Brief Hermann Graßmanns an seinen Bruder Robert, 24. Februar 1836. Zitiert nach BIO, S. 60/61. 128 Gesuch Hermann Graßmanns an den Stettiner Magistrat bezüglich einer Anstellung an der Ottoschule, datiert vom 5. Januar 1836. Zitiert nach BIO, S. 58. 129 Vgl. BIO, S. 59. 130 Brief Hermann Graßmanns an seinen Bruder Robert, 24. Februar 1836. Zitiert nach BIO, S. 61. 131 Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 6. 132 Näheres hierzu im Kapitel 2, Abschnitt 1. 133 Brief Möbius an H. Graßmann vom 17. Juni 1854. Zitiert nach BIO, S. 66. 134 Zeugnis Graßmanns, ausgefertigt am 12. Juli 1839. Zitiert nach BIO, S. 69. 135 Es handelt sich um eine Lehrstelle an der im folgenden Jahr – Oktober 1840 – gegründeten Friedrich-Wilhelmsschule, die Graßmann im Auge hatte. – Vgl. BIO, S. 67, Anm. 136 Gesuch Graßmanns an die Berliner wissenschaftliche Prüfungskommission vom 28. Februar 1839. Zitiert nach BIO, S. 67/68. 137 Zitiert nach BIO, S. 69. 138 Begleitschreiben Graßmanns zur eingesandten Prüfungsarbeit vom 20. April 1840. Zitiert nach BIO, S. 69. 139 Zeugnis Graßmanns ausgefertigt am 1. Mai 1840. Zitiert nach BIO, S. 70. 140 Ebenda. 141 Vgl. BIO, S. 79. 142 Zeugnis Graßmanns ausgefertigt am 1. Mai 1840. Zitiert nach BIO, S. 70. 143 Schreiben Graßmanns an den Preußischen Kultusminister Eichhorn vom Mai 1847. Zitiert nach BIO, S. 124/125. 144 Siehe: H. Graßmann 1878, S. 5. 145 Nach den Erinnerungen seines Bruders Robert Graßmann. – Vgl. BIO, S. 73, Anm. 146 Vgl. auch Kapitel 4, Abschnitt 1. 147 Näheres hierzu im Kapitel 3, Abschnitt 2 und Kapitel 4, Abschnitt 1. 148 Vgl. F. Engel in: GW11, S. XII. 149 Zu Conrad (1796–1861) vgl. u. a. in BIO. S. 68. 150 Vgl. BIO, S. 75, Anm. 151 Die Schrift basiert auf der Entfaltung symmetrischer Gegensätze. Die Sprachlehre zerfällt in ihrer Totalität in Formenlehre und Begriffslehre. Die Begriffslehre wird als Abbild-Theorie mit dem doppelten Widerspruch von Zeichen und
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152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167
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171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182
1 Graßmanns Leben Denkform einerseits und Denkform und äußerer Wirklichkeit anderseits gefaßt. Die Sprache wird als Totalität von Formen und Ideen beschrieben, während sie gleichzeitig Konstrukt des Subjektes und Abbild der Wirklichkeit ist. Vgl. hierzu auch die erstmalige Analyse dieser Schrift durch Erika Hültenschmidt (1995). Schlegel 1878, S. 10. Vgl. BIO, S. 90. Vgl. BIO, S. 90, Anm. Vgl. das Verzeichnis der Schriften H. Graßmanns in BIO, S. 356. Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 3. M. Cantor und A. Leskien: „Hermann Graßmann“. In: Allgemeine Deutsche Biographie 1875ff., Bd. 9, S. 596. Zum „Barycentrischen Calcul“ (Möbius 1827), vgl. u. a. die Ausführungen von Wußing 1969, S. 17–19, 24–31. Brief Graßmanns an Möbius, 10. Oktober 1844. Zitiert nach BIO, S. 99. Brief Möbius’ an Graßmann, 2. Februar 1845. Zitiert nach BIO, S. 100. Brief Apelts an Möbius, 3. September 1845. Zitiert nach BIO, S. 101. Vgl. den Brief Baltzers an Möbius, 26. Oktober 1846. Auszüge in BIO, S. 101f. Brief Gauß’ an Graßmann, 14. Dezember 1844. Zitiert nach GW12, S. 397/398, Anm. d. Herausgebers. Brief Grunerts an Graßmann vom 9. Dezember 1844. Zitiert nach BIO, S. 103. Brief Gauß’ an Graßmann, 14. Dezember 1844. Zitiert nach GW12, S. 397/398, Anm. d. Herausgebers. Vgl. Stanke 1974, S. 18f. Vgl.: Jaworski/Detlaf 1972, S. 413. Näheres zur Graßmannschen Theorie der Elektrodynamik vgl. auch in Sturm/Schröder/Sohncke 1879, S. 33f., ferner bei Müller/Pouillet 1932, S. 403 sowie in Reif/Sommerfeld 1898ff., S. 462. Brief Clausius’ an Graßmann, 15. Mai 1877. Zitiert nach BIO, S. 105. Mit dem von Clausius angeführten „geliebten und verehrten Lehrer“ ist Justus Graßmann gemeint, der ihn während seiner Gymnasialzeit in Stettin unterrichtete. – Vgl. auch GW22, S. 255ff. Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 3. Brief Möbius’ an Graßmann, 9. Juni 1853. Zitiert nach BIO, S. 106. Bei den von Möbius erwähnten Abhandlungen handelt es sich um H. Graßmann 1848a, 1851a, 1851b, 1851c, 1852. Klein 1926, S. 180. Klein 1926, S. 181. – Vgl. auch Klein 1928, S. 132f. Vgl. auch die Anmerkungen Scheffers’ zur Graßmannschen Kurventheorie in GW21, insbesondere S. 383. Brief Möbius’ an Graßmann vom 2. Februar 1845. Zitiert nach BIO, S. 109. Zitiert nach GW11, S. 415/416, Anm. des Herausgebers. Siehe GW11, S. 417–420. Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 4. Zitiert nach BIO, S. 111. Gutachten der Graßmannschen Preisschrift durch Möbius. Zitiert nach BIO, S. 112. Ebenda, S. 113. Ebenda, S. 114. In einem Anhang (Möbius 1847) zur Preisschrift Graßmanns versuchte Möbius, eine geometrische Interpretation dieser „Scheingrößen“ von seiner Sicht aus zu geben. In späteren Arbeiten läßt Graßmann einen Teil dieser „Scheingrößen“ selbst fallen. – Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 4.
Anmerkungen zum 1. Kapitel
109
183 Brief Drobischs an den Preisträger Graßmann, 8. Juli 1846. Zitiert nach BIO, S. 115/116. 184 Vgl. Kapitel 2, Abschnitt 2. 185 Brief Graßmanns an den Preußischen Kultusminister Eichhorn, Mai 1847; zitiert nach BIO, S. 125. 186 Ebenda, S. 125. 187 „Gutachten des Prof. Dr. Kummer über die mathematischen Schriften des Gymnasiallehrers Hermann Graßmann in Stettin und über den darauf gegründeten Beruf desselben für ein akademisches Studium“, 12. Juni 1847. Zitiert nach BIO, S. 126. 188 Ebenda, S. 126. 189 Ebenda, S. 127. 190 Ebenda. 191 Ebenda. 192 Mitteilung des Stettiner Provinzialschulkollegiums an den Minister Eichhorn, 31. Juli 1847. Zitiert nach BIO, S. 130. 193 Schreiben Eichhorns an H. Graßmann, 4. September 1847. Zitiert nach BIO, S. 130. 194 Wehrmann 1911, S. 471/472. 195 Vgl. Wehrmann 1911, S. 470ff. 196 Brief Graßmanns an Möbius, 22. Mai 1853. Zitiert nach BIO, S. 160. 197 Vgl. u. a. die Ausführungen von Dahlmann in Dahlmann 1835, S. 80f. 198 Dahlmann 1835, S. 179/180. Zur simultanen Ablehnung von Demokratie und Despotismus vgl. Dahlmann 1835, S. 13ff. 199 Marx 1959, S. 108/109. 200 Vgl. Kapitel 1, Abschnitt 1. 201 Engels 1962b, S. 19. 202 Vgl. Altenburg 1936, S. 160ff. 203 Näheres hierzu siehe in Bartholdy 1907, Heintze 1907, Ilberg 1885, Runze 1907, Runze 1910, Schulze 1939. 204 Droysen 1911, S. 34f. 205 Schulze 1906, S. 40. 206 Engels 1960, S. 39. 207 Brief Graßmanns an Möbius, 22. Mai 1853. Zitiert nach BIO, S. 160. 208 H. Graßmann: „Die Früchte des Berliner Barrikadenkampfes“. In: Königlich privilegierte Stettinische Zeitung, 15. 4. 1848. Zitiert nach BIO, S. 138/140. 209 R. Graßmann 1890a, S. XXI/XXII, Anm. 210 Deutsche Wochenschrift 1848, Nr. 5, Beil. 211 Deutsche Wochenschrift 1848, S. 23/1. 212 Ebenda, S. 2/1. 213 Ebenda, S. 23/1. 214 Ebenda, S. 2/1. 215 Vgl. ebenda, S. 2/2 sowie Nr. 5, Beil. 216 Ebenda, S. 2/2. 217 Ebenda, S. 23/2. 218 Ebenda, S. 2/2. 219 Ebenda, S. 10/1. 220 Ebenda, S. 17/1. 221 Ebenda, S. 18/1. 222 Ebenda, S. 21/2, 22/1. 223 Ebenda, S. 28/2.
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1 Graßmanns Leben
224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241
Ebenda, S. 27/1. Ebenda, S. 29/1. Ebenda, S. 30/2. Ebenda, S. 30/2. Vgl. Engels 1959, S. 43ff. Deutsche Wochenschrift 1848, S. 23/2. Marx/Engels 1958, S. 178. Heine 1834, S. 138. Ebenda, S. 136. Zur Dialektik Schleiermachers vgl. Kapitel 2, Abschnitt 3. Marx 1956, S. 389. Vgl. R. Graßmann 1890a, S. XXI, Anm. Brief Graßmanns an Möbius, 22. Mai 1853. Zitiert nach BIO, S. 160/161. Vgl. Scheibert 1937, S. 45–50. Ebenda, S. 49. BIO, S. 248. Brief Graßmanns an Möbius, 22. Mai 1853. Zitiert nach BIO, S. 161. Vgl. den Brief von Möbius an Graßmann, 9. Juni 1853. Auszüge in: BIO, S. 162/163. Bellavitis glaubte beweisen zu können, daß die von Graßmann angegebenen Erzeugungsarten von Kurven dritter Ordnung (H. Graßmann 1848a) nicht allgemein seien. Graßmann konnte jedoch den uneingeschränkten Beweis der Allgemeinheit erbringen und gleichzeitig die Fehler, die Bellavitis unterliefen, aufdecken (vgl. H. Graßmann 1855g). Bellavitis bekam diese Arbeit Graßmanns erst im August 1859 zu Gesicht. Er nahm sofort öffentlich zu seinem Irrtum Stellung und teilte dies Graßmann auch in einem Brief vom 26. März 1860 mit. – Vgl. BIO, S. 106. Nach den Aussagen von Engel erschienen die „Arithmetik“ (LA) und die zweite „Ausdehnungslehre“ (A2) bereits 1860 bzw. 1861. Die Umdatierung beider Werke auf 1861 bzw. 1862 sei aus drucktechnischen Gründen erfolgt. – Vgl. BIO, S. 225 u. 230. Siehe Kapitel 1, Abschnitt 4. Es sei bemerkt, daß Graßmann am 6. Februar 1864 auf Antrag des Physikers Knoblauch zum ordentlichen Mitglied der „Naturforschenden Gesellschaft“ zu Halle a. S. ernannt wurde. Die näheren Zusammenhänge hierüber sind nicht bekannt. – Vgl. BIO, S. 267, Anm. H. Graßmann 1853, S. 161. Ebenda, S. 162. Ebenda, S. 163. Ebenda, S. 168. Ebenda, S. 171. Vgl. Helmholtz 1855. Vgl. hierzu ausführlich in Turner 1995. Vgl. auch Wußing 1977, S. 41ff. Friesler 1953, S. 93. Brief Graßmanns an Möbius, 22. Mai 1853. Zitiert nach BIO, S. 162. Zum nachhaltigen Einfluß des Graßmannschen Ansatzes auf die Helmholtzsche Wahrnehmungstheorie vgl. Lenoir 2004. Ebenda, S. 105. Vgl. Rodnyj/Solowjew 1977, S. 163. Vgl. Trendelenburg 1961, S. 179ff.
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Anmerkungen zum 1. Kapitel
111
260 H. Graßmann 1877d, S. 231. 261 Vgl. Trendelenburg 1961. 262 Vgl. den Artikel von M. Cantor und A. Leskien in Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 9 1875ff., S. 597. 263 Vgl. hierzu die Ausführungen in Junghans 1978, S. 251f. 264 BIO, S. 244/245. Dort findet sich auch Näheres zu dem von Graßmann entdeckten Gesetz der vergleichenden Sprachforschung. 265 Vgl. auch Elfering 1995. 266 Vgl. Junghans 1978, S. 252. Siehe auch Reich 1995. 267 Vgl. BIO, S. 154f. 268 Vgl. BIO, S. 159, Wandel 1888, S. 241f. 269 Vgl. Briefwechsel zwischen dem Comitee 1861. – Vgl. auch BIO, S. 209ff. 270 Müller 1909, S. 344. 271 Wandel 1888, S. 254. 272 Zitiert nach BIO, S. 262. 273 Zitiert nach BIO, S. 265. 274 Zitiert nach BIO, S. 265. 275 Als vorzügliche Einführung in die damalige Situation der Mathematiklehrer sei auf die Schrift G. Schubrings zur Entstehung des Mathematiklehrerberufs im 19. Jahrhundert (1991) verwiesen. 276 Zitiert nach Schubring 1991, S. 169. 277 Ebenda 278 Zu Graßmann als Lehrer und zum Stettiner Gymnasium vgl. BIO, S. 255ff., Bartholdy 1907, Delbrück 1877, Heintze 1907, Ilberg 1885, Müller 1909, Runze 1907, Runze 1910, Schlegel 1878, Wandel 1888, Wehrmann 1894. Ferner im Überblick bei Schwartze 1996. 279 Zitiert nach BIO, S. 161. 280 Vgl. die ausgewählten Textstellen des Briefwechsels zwischen Graßmann und Möbius in BIO. 281 Es handelt sich hierbei um die Arbeiten Cauchys: 1. „Sur les clefs algébriques“. In: Comptes Rendus. 36 (1853), S. 70–75 u. S. 129– 136. 2. „Sur les avantages que présente, dans un grand nombre de questions, l’emploi des clefs algébriques“. In: Comptes Rendus. 36 (1853), S. 161–169. Ferner geht es um Saint-Venants Arbeit: „De l’interprétation (géométrique) des clefs algébriques et des déterminants“. In: Comptes Rendus. 36 (1853), S. 582ff. 282 Brief Möbius’ an Graßmann, 2. September 1853. Zitiert nach BIO, S. 175. 283 Brief Graßmanns an Möbius, 19. Februar 1854. Zitiert nach BIO, S. 182. 284 Vgl. den Brief Graßmanns an Möbius, 7. Januar 1855. Die entsprechende Textstelle ist abgedruckt in BIO, S. 192. 285 Die nachfolgende Darstellung über Cauchy und Saint-Venant bezieht sich auf die Angaben von Engel in BIO, S. 120–122 und S. 195–201. 286 BIO, S. 203. 287 Graves 1889, S. 441f. 288 Brief Hamiltons an de Morgan, 2. Februar 1853. In: Ebenda. 289 Zitiert nach Bell 1967, S. 347. 290 Näheres in Kapitel 2, Abschnitt 2. 291 Vgl. BIO, S. 202f. 292 LA, S. V. 293 Vgl. LA, S. 1. 294 Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 6.
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1 Graßmanns Leben
295 Vgl. den Brief J. A. Grunerts an H. Graßmann vom 9. 12. 1844. In: BIO, S. 103. 296 Schreiben Graßmanns an den Preußischen Kultusminister v. Bethmann-Hollweg 14. Januar 1862. Zitiert nach BIO, S. 232. 297 Antwortbrief des Kultusministers v. Bethmann-Hollweg an Graßmann, 11. Februar 1862. Zitiert nach BIO, S. 232. 298 Brief H. Graßmanns an H. Hankel, 8. 12. 1866. Zitiert nach BIO, S. 272. 299 Ebenda. 300 Vgl. BIO, S. 302ff. 301 Müller 1878, S. 346. 302 BIO, S. 254. 303 Nach den Erinnerungen von Robert Graßmann. – Vgl. BIO, S. 303. 304 Vgl. BIO, S. 304. 305 Vgl. auch Wandel 1888, S. 250, ferner Reich 1995. 306 Vgl. Toporov 1960, S. 235. 307 H. Graßmann 1870, S. 1. 308 Ebenda. 309 Ebenda, S. III. 310 Vgl. Bezzenberger 1873. 311 Brief Graßmanns an Hankel, 8. Dezember 1866. Zitiert nach BIO, S. 271. 312 Zahn 1874, S. 583/584. 313 Brief Hankels an Graßmann, 24. November 1866. Zitiert nach BIO, S. 270. 314 Vgl. Bell 1967, S. 326ff. 315 Vgl. Zahn 1874, S. 584. 316 Brief Hankels an Graßmann, 4. Juni 1867. Zitiert nach BIO, S. 276. 317 Vgl. BIO, S. 278. 318 Brief Hankels an Graßmann, 4. Juni 1867. Zitiert nach BIO, S. 276. 319 Vgl. BIO, S. 285/286. 320 Brief Grunerts an Graßmann, 1. Juni 1862. Zitiert nach BIO, S. 242. 321 G. Schubring verweist anläßlich der Lehramtsprüfung von Robert Graßmann 1839/40 ferner darauf, daß Grunert mit der Familie Graßmann befreundet gewesen sei. Vgl. Schubring 1996d, S. 65. 322 Brief Graßmanns an Grunert, Januar 1869. Zitiert nach BIO, S. 280. 323 Vgl. BIO, S. 312. 324 BIO, S. 312. 325 Brief Grunerts an Graßmann, 1. Juni 1862. Zitiert nach BIO, S. 244. 326 Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 7. 327 Vgl. BIO, S. 312, Anm. 328 Vgl. die Ausführungen von Clebsch, in: Clebsch 1871, S. 8 und S. 28. 329 Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 7. 330 Zur Rezeption Graßmanns durch Clebsch und seine Schule vgl. Tobies 1995. 331 Vgl. BIO, S. 318f. 332 Vgl. Clebsch 1874, S. 12, 31 Anm. 333 Vgl. Graßmanns Arbeiten 1877b, 1877d. 334 Vgl. u. a. Graßmanns Arbeit 1877e.
2 Anreger des Schöpfertums Graßmanns
2.1 Der Vater Justus Graßmann – Wegbereiter der mathematischen und philosophischen Auffassungen seines Sohnes Mehrfach wurde in den vorangehenden Abschnitten darauf verwiesen, daß Hermann Graßmann unmittelbar in der wissenschaftlichen Tradition seines Vaters stand. Leider gibt es hierzu nur wenige Untersuchungen. Neben der Dissertation des Autors aus dem Jahre 1978 (Petsche 1979a), an die hier im wesentlichen angeknüpft wird, liegen erst in neuerer Zeit detaillierte Darstellungen vor zum Einfluß der romantischen Naturphilosophie auf Justus Graßmann (Heuser 1996), zur Bedeutung der vektoralgebraischen Ansätze Justus Graßmanns für das Schaffen Hermann Graßmanns (Scholz 1996), wie auch zur Konzeption Justus Graßmanns hinsichtlich der Strukturierung der Mathematik und der Grundlegung der Arithmetik sowie den hieraus sich ergebenden Einflüssen auf seinen Sohn (Radu 2000). Wie sich in allen diesen Untersuchungen zeigt, erschließt sich die Kreativität Hermann Graßmanns in ihrer spezifischen Eigenart erst, wenn man einen näheren Blick auf die theoretischen Positionen Justus Graßmanns wirft, die einen tieferen Einblick in die vielfältigen Anknüpfungspunkte des Sohnes geben und das geistige Mikroklima, unter dem sich die Auffassungen Hermann Graßmanns ausformten, stärker hervortreten lassen. An dieser Stelle soll daher ein kurzer Abriß des wissenschaftlichen Schaffens Justus Graßmanns, insbesondere der für Hermann Graßmann relevanten Momente, Raum finden. Die schrittweise Ausgestaltung der mathematischen und philosophischen Anschauungen J. Graßmanns läßt sich, beginnend mit seinen Lehrbüchern für den mathematischen Elementarunterricht (J. Graßmann 1817, 1824) aus den Jahren 1817 und 1824, über seine Schrift zum Begriff und Umfang der reinen Zahlenlehre (ZL) von 1827 bis hin zur Veröffentlichung seiner Abhandlung zur geometrischen Kombinationslehre (KRY) aus dem Jahre 1829 und des Lehrbuchs der Trigonometrie von 18351 verfolgen. Von den Ideen der „Formenlehre“ Joseph Schmids (1809) angeregt, bemühte er sich 1817 und 1824 um eine elementare Synthese von Kom-
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2 Anreger des Schöpfertums Graßmanns
binatorik und Geometrie, durch die er auf eine elegante mathematische Behandlung einfacher Kristallgestalten stieß. Gedanken Kants und Leibniz’ aufgreifend, wurde er – veranlaßt durch die neuartige Behandlung der Geometrie – einerseits auf eine philosophische Analyse des Gegenstandes der Mathematik geführt und andererseits stimuliert, seine Ansätze einer „geometrischen Kombinationslehre“ auszubauen und ihre Bedeutung für die Kristallographie zu untersuchen. Im einzelnen bietet sich folgendes Bild: Den Anlaß für die Erarbeitung zweier Lehrbücher für den Elementarunterricht bildet die Einrichtung mehrerer Armenschulen in Stettin, für die er gemeinsam mit seinem Freund, dem Schulrat Bartholdy (seinerseits ein enger Freund Schleiermachers2 ), kostenlos Ausbildungsmaterial für
Aus der Raumlehre J. Graßmanns von 1817: „Allgemeine Vorüberlegungen. Zur Erweckung der Aufmerksamkeit auf das Thun und Reden des Lehrers, und im richtigen Zusammensprechen.“ „Die Kinder befinden sich in ruhiger Stellung vor dem Lehrer, oder um ihn so geordnet, daß Schüler und Lehrer einander stets vor Augen haben: die Hände der Kinder liegen frei neben einander, oder hangen auf jeder Seite hinab. Lehrer.
(künftig L) Merkt auf Kinder, was ich thue und sage! (indem er die rechte Hand aufwärts hebt) ‚ich strecke die rechte Hand aufwärts.‘
L.
Thut mir jetzt nach, was ich gethan habe; aber nicht eher, bis ich es auch sage, und euch dazu einen Wink gebe. – Rechte Hand aufwärts! (Wink, indem der Lehrer ohne die Lage seines Armes zu ändern, blos seine Hand ein wenig aufwärts hebt, welches künftig mit ‚W!‘ bezeichnet werden soll). Zwischen dem Geheiße des Lehrers an die Kinder über das, was sie thun sollen, und zwischen dem Augenblicke, wo es geschehen soll, müssen die Kinder eine kleine Zwischenzeit behalten, um zu überlegen, was sie zu thun haben. (Diese Zeit der Ruhe soll künftig mit ‚R!‘ bezeichnet werden: und es würde sich dann dieser ganze Absatz kürzen lassen):
L.
Rechte Hand aufwärts! – R. – W! Die Kinder thun das Geheißene. (künftig ‚Kr. t.‘) Wenn ein Kind etwa die Hand vor dem Winke des Lehrers, oder wenn es die linke Hand statt der rechten erhebt; so wird der Fehler liebreich verbessert.
L.
Merkt wieder auf, und thut auf meinen Wink, was ich euch sage! – Rechte Hand wieder zurück! – R. – W. – Kr. t.“3
Hieran schließt sich die Einübung des rhythmischen Sprechens an, dirigiert durch die Handbewegungen des Lehrers. Dem folgt das Einüben des Antwortens in ganzen Sätzen: „Vergeßt also künftig in euren Antworten nie, mir jedes Mal genau anzugeben, wovon ihr sprechen wollt, und was ihr davon zu sagen habt!“4 „Jetzt erst sind die Kinder zu dem vollen Bewußtsein ihres ganzen Thuns gelangt . . .“5
2.1 Der Vater Justus Graßmann – Wegbereiter seines Sohnes
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Lehrer (die „ohne eine eigentliche wissenschaftliche Bildung“6 waren) sowie für die Schüler bereitstellen wollte7 . Unter dem Einfluß der Pestalozzischen Schule entwickelten sich, besonders nach den Befreiungskriegen 1813/1814, die Aktivitäten Justus Graßmanns und seine Auffassungen zum mathematischen Elementarunterricht, die ihren Niederschlag u. a. in den beiden Teilen seiner „Raumlehre für Volksschulen“ (J. Graßmann 1817, 1824) fanden. Dieses Lehrbuch, das von Diesterweg mehrfach außerordentlich lobend rezensiert wurde8 , greift Gedanken eines ähnlichen Schulbuches, der „Formenlehre“ (Schmid 1809) des Pestalozzi-Mitarbeiters Joseph Schmid, auf. Ausdrücklich beruft sich J. Graßmann im Vorwort auf die Grundprinzipien dieser Schrift, wenngleich er der mathematischen Ausführung durch Schmid eher reserviert gegenübersteht. Joseph Schmid unterwarf die bisherige euklidische Geometrie einer Kritik, wobei er ihren pädagogischen und philosophischen Bildungswert in Frage stellte9 . Er formuliert seine Ablehnung gegen die euklidischen Darstellungs- und Lehrweise der Geometrie, die „als Bildungsmittel der Menschennatur keinen Verdienst“ hätte, da sie nicht in einem „innern organischen Zusammenhang mit der Entfaltung der menschlichen Anlagen [Hervorheb. – H.-J. P.]“ stehe, nicht „parallel mit ihr“10 laufe, sondern sich in einer „Auflösungsarbeit einzelner isolirter, als Bruchstücke dastehender, geometrischer Aufgaben“11 verliere und erschöpfe. J. Schmid führt daher eine Aufgliederung der euklidischen Aufgaben nach den Elementen Form (Konstruktionen mit Zirkel und/oder Lineal) und Größe durch12 und entwickelt seine Geometrie nach der Idee eines „befreundeten Mathematikers“: „Man solle nämlich in der Geometrie zuerst alles, was man mit einer geraden Linie, hernach, was man mit zweyen u. s. w. machen könne, vornehmen“13 , so daß das Gesetz, nach dem man baue „nicht ein willkürliches Hinschleudern von Aufgaben“ sei, „sondern die Aufgaben . . . nothwendige Resultate der Idee, von der man ausgegangen ist“14 wären. Die Geometrie, die ihm im Pestalozzischen Sinne eine „formelle Anschauungslehre“15 ist, beginnt daher auch in diesem kombinatorisch-synthetischen Sinne nicht mit Definitionen, sondern diese folgen erst am Schluß – denn „wie kann eine Form auf einen geistigen Grundbegriff“ zurückgeführt werden, „ehe . . . dieselbe nur angeschaut“16 . Die hier angedeuteten Auffassungen J. Schmids finden ihren Widerhall in den Grundprinzipien, von welchen die Lehrbücher J. Graßmanns zur Raumlehre durchdrungen sind17 : 1. Die Raumlehre geht aus von der Anschauung, nicht von Begriffen, sie muß daher auch auf der Anschauung basieren. Damit ist die Raumlehre in erster Linie Konstruktion in der reinen Anschauung, an die sich eine spätere begriffliche Analyse anschließt.
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2 Anreger des Schöpfertums Graßmanns
2. Die Raumlehre hat zwei Elemente: Linear- und Winkelgrößen (oder Linien und Winkel); sie ist daher reicher als die Arithmetik, die nur von einem Element ausgeht. Methodisch ergibt sich daraus eine Behandlung zuerst des einen Elements, anschließend des anderen Elements und zum Schluß die Behandlung des Zusammenhanges beider. Somit könne man alle Wahrheiten, im Gegensatz zur euklidischen Behandlung, leicht überschauen und ordnen. 3. Die Ordnung des Stoffes erfolgt analog der Struktur eines Organismus, so daß kleine verbundene Ganzheiten entstehen, die Glieder eines größeren Ganzen sind, wodurch die Darstellung eine Art Kunstwerk werde. Ausgehend von der Erzeugung geometrischer Objekte durch Bewegungen18 und beginnend mit dem Punkt als „Grenze aller Ausdehnung“19 , untersucht J. Graßmann Linien „in Beziehung auf die Zahl und Lage der . . . entstehenden Durchschnittspuncte und Winkel“20 , so daß dieses inzidenzgeometrische Vorgehen als eine Anwendung der Kombinatorik auf die Geometrie erscheint. Der zweite Teil der Raumlehre beschäftigt sich mit einer „Anwendung der Verknüpfungen der allgemeinen Größenlehre auf räumliche Gegenstände“21 . In dieser „Art von Anschauungsgeometrie ohne strenge mathematische Form der Begründung“22 (Moritz Cantor) wird nacheinander das „Addiren der Striche“, das „Abziehen der Striche“, die „Multiplication der Striche“23 etc. dargelegt, wobei eigentümliche Verdeutschungen mathematischer Begriffe auffallen (z. B. multipliciren = veröften, Multiplicandus = Oeftstoff, Product = Geöft, Faktoren = Veröfter, Dividendus = Theilstoff, Divisor = Theiler, Quotient = Theilfund usw.). Bei der Einschätzung der Grundsätze, von denen sich Justus Graßmann in seiner „Raumlehre für Volksschulen“ leiten ließ, sind im wesentlichen drei Gesichtspunkte hervorzuheben: 1. Das erste Prinzip weist, nicht zuletzt bedingt durch die Orientierung an der Pestalozzischen Lehre24 , grundsätzliche Ähnlichkeiten mit dem Kantschen Verständnis der Mathematik, insbesondere der Geometrie25 , auf. Die Konstruktion geometrischer Gestalten in der „reinen Anschauung“, aus der sich die geometrischen Wahrheiten apodiktisch ergäben, ist ganz im Sinne Kants. Doch ähnlich wie Pestalozzi ist J. Graßmann die „reine Anschauung“ nicht die ganze Anschauung, behalten die Konstruktionen des Weltorganismus neben den Rekonstruktionen des menschlichen Geistes ihren Platz. 2. Die im zweiten Prinzip sich niederschlagende kombinatorische Behandlung der Geometrie regte J. Graßmann an, sich eingehender mit den Grundsätzen der Kombinatorik zu beschäftigen. Damit aber bewegt er sich im wissenschaftstheoretischen Programm Leibniz’, der als einer der Schöpfer der Kombinationslehre diese methodisch auf alle Gebiete
2.1 Der Vater Justus Graßmann – Wegbereiter seines Sohnes
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des wissenschaftlichen Denkens anwendete26 und ihre Grundlagen einer logischen und philosophischen Analyse unterwarf. Ausdrücklich betont Justus Graßmann in seiner späteren Schrift „Zur physischen Krystallonomie und geometrischen Combinationslehre“, daß er in der Behandlung der Kombinatorik direkt an Leibniz anknüpfe und sich von der schwerfälligen Darstellungsweise der kombinatorischen Schule um Hindenburg distanziere.27 3. Die im dritten Prinzip vertretene Auffassung von der Wissenschaft als „Organismus“, als „Kunstwerk“ weist ihn aus als einen Vertreter der in Deutschland herrschenden romantischen Naturphilosophie (Schelling, Steffens, Schleiermacher u. a.). Ihr Einfluß prägt besonders die dialektischen Momente seines Mathematikverständnisses. Die Adaptation wesentlicher Züge der bürgerlichen deutschen Nationalerziehung und die aktive Teilnahme an der patriotischen Bewegung in Deutschland führten J. Graßmann bei seinen weiteren Reflexionen über Gegenstand und Wesen der Mathematik zu den Ideen der klassischen bürgerlichen Philosophie und Pädagogik, insbesondere zu Leibniz, Schelling, Pestalozzi und Schleiermacher. Richtungweisende Anregungen hierzu fanden sich ebenfalls bei Joseph Schmid, wenn er schreibt: „Wenn der Mathematiker ein wirklich großer Mathematiker, aber auch nur Mathematiker ist . . .“, so geht er „nicht mit Freyheit, Leben und Selbständigkeit in alles geistige Leben der Natur und des Menschen über“28 . „Der vollendet gebildete Mathematiker wird . . . nothwendig auf sich selber, auf die innere und äußere Natur seiner Umgebung übergehen und übergehen müssen; er wird Physiker, Philosoph.“29
Leibniz zur „kombinatorischen Methode“: „Es gibt zwei Methoden, die synthetische mit Hilfe der kombinatorischen Wissenschaft und die analytische. Jede von beiden kann den Ursprung der Erfindung zeigen, das ist also nicht das Vorrecht der Analyse. Der Unterschied besteht darin, daß die Kombinatorik, ausgehend von dem Einfacheren, eine ganze Wissenschaft oder wenigstens die Reihe der Lehrsätze und Probleme darstellt, darunter auch das, was gesucht wird. Die Analyse dagegen führt ein aufgestelltes Problem auf Einfacheres zurück. . . . Die vollkommenste wissenschaftliche Methode aber wird nicht mit dem von Natur Späteren, Zusammengesetzten und Besonderen beginnen, welches in die Sinne fällt, sondern mit den einfachsten und allgemeinsten Begriffen und Wahrheiten, die sich zuerst dem Verstande zeigen, von wo sie allmählich zu den besonderen und zusammengesetzten Begriffen hinabsteigen. Sie folgt den Gesetzen der Synthese oder der kombinatorischen Wissenschaft, welche zeigt, wie die verschiedenen Arten aus den höchsten, miteinander vereinigten Gattungen nach der Ordnung hervorgehen . . . Wenn man sie einmal hat, wird es nichts Klareres und Leichteres als diese synthetische Methode geben.“30
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2 Anreger des Schöpfertums Graßmanns
Die Rekonstruktion der Mathematik für die Belange der Elementarschulen, das Ausgehen von neuen, aus der sinnlichen Anschauung gewinnbaren Elementen, deren Synthese in der inneren Anschauung eine stringente mathematische Struktur erzeugt, führte zu neuen Prinzipien der Grundlegung der Mathematik, die aus innermathematischen Antrieb vermutlich nicht entstanden wären. So schreibt er in der Vorrede der Raumlehre von 1817: „Es ist hier nicht der Ort, meine Ansicht über die Mathematik niederzulegen, und muß ich mir dieses für eine andere Zeit vorbehalten, doch kann ich nicht unbemerkt lassen, dass, so wie die Synthesis des Gleichartigen die Größe, so die Verknüpfung des Verschiedenen als eines solchen die Combination giebt, es bestehe nun diese Verschiedenheit in der vorausgesetzten Ungleichartigkeit der Elemente, oder in ihrer Folge in Zeit und Raum. Auch die Geometrie hat demnach ihre Combinationslehre, und das vorliegende Büchlein ist ein Versuch die Anfangspuncte derselben zu geben. “31 Hier findet sich das dialektische Schema bereits angelegt, daß Justus Graßmann später entfalten sollte und an das anknüpfend, Hermann und Robert Graßmann eine neue Grundlegung der Mathematik betrieben. Ausdruck der weiteren intensiven Beschäftigung mit den Grundlagen der Mathematik und ihrer philosophischen Wesensbestimmung ist die 1827 erschienene Schrift „Über den Begriff und Umfang der reinen Zahlenlehre“ (ZL). Die hier entwickelte Begründung der Zahlenlehre in Form einer Philosophie der Mathematik geht über das vom kritischen Kant in dieser Frage Geleistete weit hinaus und prägte in hervorragender Weise die Auffassungen seines Sohnes Hermann Graßmann. Justus Graßmann geht in seiner Schrift davon aus, daß bei dem gewachsenen Umfang der mathematischen Wissenschaften der Geist
Abb. 44. Anfangsworte der reinen Zahlenlehre
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selbst Gefahr läuft „ein blindes Werkzeug zu werden, welches man wie zufällig auf die Erscheinungen der Natur anwenden kann, statt daß sie die Entwickelung der Natur auf eine geordnete Weise begleiten, oder vielmehr, da sie von derselben unabhängig ist, das Muster und Vorbild für die Darstellung derselben seyn sollte.“32 Aus dieser Einsicht in die Notwendigkeit einer geschlossenen und anwendungsfähigen Theorie für die Naturerkenntnis gelangt er – unter intensiven religiösen Bezügen – zu der Forderung nach einer Gliederung des rohen Wissens, um dieses zu einem „geeigneten wahrhaften Wissens zu erheben“33 , so daß die „Funktion jedes Theiles in dem Ganzen deutlich [zu] erkennen, und so dieses letztere als ein organisches, als eine Offenbarung eines unendlichen Geistes [Hervorheb. – H.-J. P.].“34 erfahrbar sei. Aus dieser im Sinne der romantischen Philosophie und Naturauffassung akzentuierten, religiös verklärten Aufgabenstellung leitet sich für ihn die Notwendigkeit ab, die „Elemente der Wissenschaft“ aufzuklären, „den inneren Zusammenhang der Operationen und Constructionen klar dar[zu]legen, jede durch die Natur des Gegenstandes bedingte Stufe als solche hervortreten [zu] lassen, und, in den gewonnenen Resultate dem Geiste einen Ruhepunct gewährend, es zugleich als Ausgangspunct für höhere Entwickelungen“35 zu benutzen.
Romantische Naturphilosophie in Deutschland: „Als wichtigste Anregung gibt die romantisch genannte Naturphilosophie . . . das Vertrauen in die Wissenschaft als ein Mittel, sich der Natur und des Menschen zu versichern, Vernunftgesetze und Naturbildungen als Vorbild des menschlichen Lebens sich anzueignen. In aufklärerischer Überhöhung und unter Verzicht auf Betonung des Hegelschen Widerspruchs stehen sie für die Möglichkeit einer Harmonisierung des Weltbildes und des Lebens. Im Vertrauen in die Wissenschaften und der durch sie vielleicht erreichbaren Harmonie ist der Widerspruch der Realität in Deutschland und ihrem Zurückbleiben hinter der bereits angelaufenen technischen und wissenschaftlichen Entwicklung durch das Orientieren auf das Studium der Natur kompensiert . . .“36
Mit der sich anschließenden „konstruktiven“ Begründung der Mathematik rückt er in die geistige Nähe Kants37 , wenn er das Wesen der Mathematik als ein Erzeugen „ihrer ersten Begriffe durch eine ihr eigenthümliche Synthesis (welche wir eine Construction im weitern Sinne nennen)“38 erfaßt. Die Abgrenzung von Kant erfolgt dadurch, daß J. Graßmann einen Zusammenhang zwischen mathematischer Synthesis und „synthetischen Urteilen“ im Sinne Kants verneint. Als Beispiel führt er die Synthesis der Zahl (1 C 1) an: „. . . allein von einer objektiven Gültigkeit dieser Synthesis – ob nämlich das eine Eins dem andern
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wirklich zukomme – kann hier gar nicht die Rede seyn, und der dadurch hervorgebrachte Begriff, das Produkt dieser Synthesis, ist die Zahl zwei.“39 Die von ihm vertretene Auffassung von der Inhaltlichkeit mathematischer Sätze ist durchaus als modern zu bezeichnen: „Die Mathematik stellt nun Lehrsätze auf, in welchen allerdings ein Subject mit einem Prädicate nicht auf eine willkürliche Weise, sondern mit Rücksicht auf ihren Inhalt verknüpft ist; allein dieser Inhalt ist eben ein solcher, welcher erst durch die Synthesis . . . hineingelegt ist. Diese Sätze sind also Aussagen über die Beschaffenheit jener eigentlich mathematischen Synthesis, und das was mit ihr zugleich gegeben ist.“40 Auf Grund der intensiven Beschäftigung mit der Kombinatorik – Grundzüge seiner Schrift von 1829 (KRY) waren bereits konzipiert41 – kommt er zu einer Verallgemeinerung des Gegenstandes der Mathematik über den Größenbegriff hinaus. Sich von der Logik unterscheidend, ist das Objekt der Mathematik für Justus Graßmann ein schlechthin inhaltslos Gesetztes. Dieses wird für die zugrundegelegte Synthesis entweder als gleich oder als ungleich gesetzt, wobei indes gilt: „Es kann keine Gleichheit ohne eine Ungleichheit gedacht worden . . . Gleichheit und Ungleichheit sind nur Momente an dem zu verknüpfenden, und es kommt nur darauf an, welches von beiden Momenten als die der Synthesis zum Grunde liegende Bestimmung gilt, während stets beide vorhanden sind.“42 In begriffsdialektischen Entwicklungen stellt er sein Einteilungsprinzip der mathematischen Disziplinen auf, das später sein Sohn unmittelbar aufgriff und ausbaute.43 Von philosophischer Relevanz ist auch die sich an diese allgemeinen Untersuchungen anschließende spezielle Analyse der Grundlagen der Zahlenlehre, die mit der Erörterung der „Entstehung des Zahlbegriffs“, seiner „genetische[n] Erklärung“44 beginnt. Nur der „Gegensatz von Eins und Vielen“45 kann nach J. Graßmann zur Bildung des Zahlbegriffes veranlassen. „Der Begriff der Zahl kommt dadurch zu Stande, daß dieses bestimmte Mannichfaltige [d. h. eine Vielheit vorgestellter Dinge – H.-J. P.] in einer Einheit des Bewußtseins verknüpft wird. – Jede der als gleichartig gedachten Vorstellungen nennt man in Beziehung auf die Zahl die Einheit.“46 Ausdrücklich unterscheidet jedoch J. Graßmann zwischen der Entstehungsursache eines Begriffes und seiner wissenschaftlichen Definition. „Die vorstehenden Erklärungen“, schreibt er, „sind genetisch, d. h. sie weisen den Besitz und die Gelegenheitsursache der Erzeugung der Begriffe nach. Die Zahl an sich aber muß als die bestimmte Quantität des Setzens der Einheit angesehen werden.“47 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang seine Auffassung von konkreten und abstrakten Zahlen, die von unveränderter Aktualität ist;
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„Eine Zahl“, bemerkt er, „heißt nun eine concrete oder benannte, wenn die Einheit eine bestimmte Vorstellung ist; ist sie aber nur die Vorstellung eines Gegebenen überhaupt ohne bestimmten Inhalt (die Vorstellung einer Vorstellung) so heißt die Zahl eine abstracte oder unbenannte.“48 Die reine Zahlenlehre muß für Graßmann demnach frei sein von allen Gegenständen der Erfahrung, die den Inhalt bestimmter Vorstellungen ausmachen. In Polemik mit der – auch von Kant vertretenen – Auffassung, daß „unter Einheit eine stetige Größe verstanden wird“49 , führt er aus, daß die reine Arithmetik, selbst wenn dies der Fall wäre, davon abstrahiere. Im übrigen gäbe es jedoch auch in der Natur und im Denken unteilbare Einheiten, wie drei Personen oder drei Begriffe, was diese Auffassung rechtfertige. In eben diesem Zusammenhang verteidigt er mit beachtlicher Einsicht auch die Atomistik der Physiker als einen Versuch, „den Entwickelungen der Natur die ganzen Zahlen unterzulegen, und so ihre Veränderungen unter die Verhältnisse der Zahlenlehre zu bringen und zu begreifen“50 , was in der heutigen Ausdrucksweise bedeutet, Seiten der Gesetzmäßigkeiten der Natur im Modell der natürlichen Zahlen auszudrücken. Die Rechenoperationen an natürlichen Zahlen, die Addition, die Multiplikation, das Potenzieren sowie ihre Umkehroperationen begreift Graßmann nach einem einheitlichen Erweiterungsprinzip als drei Stufen des Zählens bzw. Auflösens: „Die Thätigkeit des Geistes zur Hervorbringung einer Zahl aus der Einheit nennt man das Zählen, und dieses besteht in dem Zusammenfassen gegebener Einheiten in eine Einheit des Bewußtseyns. . . . Das Zählen und das Auflösen sind die beiden Grundthätigkeiten des Geistes in der numerischen Arithmetik; auf sie müssen sich alle arithmetischen Constructionen am Ende zurückführen lassen.“51 Aus dieser Konzeption ergibt sich für J. Graßmann die Multiplikation als Zählen gleicher Zahlen (die gleichen Zahlen repräsentieren die neuen Einheiten). „Das Erzeugnis dieses Zählens ist eine Zahl von Zahlen, aber von bestimmten, z. B. 4 Neunen, die sogenannte multiplicative Verknüpfung.“52 Ferner begreift er das Potenzieren – seiner Leitidee folgend – als ein Zählen gleicher Faktoren (hierbei sind wiederum diese Faktoren die neuen Einheiten), so z. B. bei 4 4 4 1. Die aus dieser Verknüpfung entstehende Zahl „dritter Stufe“ ist der Exponent, die zu zählende Einheit die Wurzel.53 Mit dieser Begriffsbildung haben sich für J. Graßmann die Möglichkeiten des Zählens erschöpft. Waren die bisher aufgezählten Verknüpfungen synthetische, so sind die Umkehroperationen nach Graßmann analytische.54
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P. Lorenzen zur operativen Begründung der Mathematik: „Denn der Sinn der Zahlen liegt im ‚Zählen‘ – und das Zählen gehört wesentlich mit zu den Tätigkeiten, die den Mathematiker zu Aussagen über schematisches Operieren führen.“55
Hervorgehoben seien letztlich die Betrachtungen Graßmanns über die Möglichkeit der Vertauschbarkeit der Elemente der Verknüpfung in der Arithmetik: „Bei der Addition“, schreibt er, „unterscheiden sich die Bestandtheile einer Zusammensetzung der Art nach gar nicht, bei der Multiplikation unterscheiden sie sich dem Begriffe nach, verhalten sich aber als Zahlwerthe gleichgültig gegeneinander; beim Potenzieren aber ist die Verschiedenheit völlig ausgebildet, Wurzel und Exponent unterscheiden sich nicht bloß dem Begriffe nach, sondern man darf sie auch nicht mehr vertauschen.“56 Noch einen Schritt weiter geht er in seiner Trigonometrie (1835). Hier führt er aus, daß nicht nur die Vertauschbarkeit der Elemente einer Verknüpfung problematisch ist, sondern das Produkt selbst sich von den Elementen der Synthesis qualitativ unterscheidet, mithin nicht nur die negative Zahl nichts in der reinen Zahlenlehre zu suchen hat, sondern eigentlich schon die Multiplikation von Zahlen keine Zahl mehr liefert, sondern „eine Zahl auf höherer Stufe ist“57 . Während mithin für die negativen Zahlen in der reinen Zahlenlehre kein Platz ist und die Multiplikation von Zahlen dennoch wieder zu Zahlen führt, ist die Subtraktion von Strecken in der Geometrie erstmals uneingeschränkt möglich58 , während das Produkt (von Punkten/Linien) zu neuen Elementen (Linien/Körper) führt. Mit der Darlegung der Stufenfolge der arithmetischen Verknüpfungen: der mechanischen (Addition), der chemischen (Multiplikation), der organischen (Potenzierung), wie er sie – als naturphilosophischen Fingerzeig – nennen möchte59 , aber sich nicht getraut (er nennt sie daher mechanische, chemische und dynamische Verknüpfung), ist für Justus Graßmann der Rahmen der reinen Zahlenlehre abgesteckt. Ihr Feld „ist nach seiner Länge bestimmt durch die drei Stufen des Zählens, nach seiner Breite durch die reine Einheit, als die Vorstellung eines schlechthin Gegebenen . . . Seine Tiefe ist unbegrenzt, wie jedes Organische, welches sich zwar nach Außen bestimmt, und eine leicht faßliche Gestalt annimmt, aber in seinem Innern eine unendliche Tiefe verbirgt, wodurch es ein Gegenstand einer nie beendigten Forschung wird.“60 Dieses innere Verständnis der Zahlenlehre ist für ihn ein allgemein erstrebenswertes Ideal. Es muß „auf gewisse Weise den Typus reiner Wissenschaftlichkeit“ überhaupt darstellen.
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„Jede innere Verständigung ist aber zugleich eine Verständigung mit der Natur, welche uns das Gesetz ihrer äußeren Entwickelung nicht weiter offenbaren kann, als wir das Gesetz der innern Synthesis in uns entwickelt haben“61 . Das heißt, Graßmann hebt die aktive Rolle des menschlichen Geistes bei der Erkenntnis hervor und stellt die Bedeutung des theoretisch-konstruierenden Denkens für die Ergründung der empirischen Wirklichkeit heraus. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß Justus Graßmann, anknüpfend an die romantische Naturphilosophie und in Auseinandersetzung mit Kant, mit seiner „Zahlenlehre“ zu einer eigenständigen, originären philosophischen Analyse der Grundlagen der Mathematik gelangte. Die vom Einfluß der romantischen Naturphilosophie geprägte ganzheitliche Betrachtungsweise der Wissenschaften führte ihn, bei gleichzeitigem Bemühen um eine logische Verarbeitung begriffsdialektischer Widersprüchlichkeiten, zu einem tieferen Verständnis der Mathematik. Seine Darlegungen sind vom Wissenschaftsoptimismus der romantischen Naturphilosophie durchdrungen. In seiner „reinen Zahlenlehre“ hatte J. Graßmann mehrfach auf die nach seiner Meinung vorhandenen strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Kombinationslehre und Arithmetik verwiesen. Durch die Analyse der Grundlagen der Mathematik hatte er nunmehr die heuristischen Hilfsmittel gewonnen, die ihm die erstrebte Entwicklung seiner geometrischen Kombinationslehre ermöglichten. Die 1829 verfaßte Schrift „Zur physischen Krystallonomie und geometrischen Combinationslehre. Erstes Heft.“ läßt den Leser spüren, daß J. Graßmann zutiefst überzeugt war, eine neue mathematische Disziplin begründet zu haben. „In der Fluth von Schriften jeder Art“, schreibt er im Vorwort, „welche sich in unübersehbarer Menge täglich hervordrängen, wird selbst das wirklich Neue und Fördernde nur zu leicht übersehen, wenn es sich nicht keck und schroff hervordrängt, und sich geltend zu machen weiss. Es handelt sich hier also um das Vorhandensein und die Gültigkeit einer neuen selbständigen mathematischen Wissenschaft, deren Zweck es ist, einfache und zusammengesetzte Gestalten hervorzurufen, und ihren Zusammenhang zu zeigen, und welche den Anspruch geltend macht, alle Krystallgestalten in einer einzigen Aufgabe zu umfassen.“62 Wenn auch die Behauptung, eine neue Wissenschaft begründet zu haben, weit über das wirklich von ihm Geleistete hinausgeht63 , so ist doch sein methodisches Vorgehen mustergültig und zudem für seinen Sohn beispielhaft gewesen. Er will nicht den Weg, den er bei der Entwicklung seiner theoretischen Auffassungen beschritten hatte, verschleiern, sondern im Gegenteil gerade das Vorfeld seiner Entdeckungen transparent machen. „Indem ich . . . das Urtheil der Kenner ruhig erwarte“, führt er daher aus, „halte ich mich doch verpflichtet, über die Entstehung und allmählige
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Entwickelung meiner Ansicht des hier behandelten Gegenstandes, so wie über Inhalt, Umfang und Form des vorliegenden und der folgenden Hefte, mich in aller Kürze zu erklären, zumal sich aus dieser Entstehung einige nicht ganz unwichtige Momente zur Beurtheilung meiner Bestrebungen ergeben möchten. [Hervorheb. – H.-J. P.]“64 Er legt Zeugnis darüber ab, wie ihn die Beschäftigung mit der Kombinationslehre, die nicht auf dem Größenbegriff aufbaut, zu der Erkenntnis führte, daß der bisherige Begriff der Mathematik zu eng sei, und wie er damit sowohl zu einer neuen Bestimmung des Wesens der Mathematik als auch zu einer neuen Charakterisierung der Kombinationslehre gelangte. An Gedanken der „Raumlehre“ (1817) wie der „Reinen Zahlenlehre“ (1827) anknüpfend, führt J. Graßmann aus, daß das Moment der „Ungleichheit des Gegebenen“ der Kombinationslehre zugrunde liege, das sie damit „in directen Gegensatz gegen die Arithmetik [stellt], und . . . sie von derselben in dem, was ihr innerstes Eigenthum ist, gänzlich los [reisst], so dass sie eine eigenthümliche, von keiner andern abhängige Wissenschaft wird, die eben jenes Gegensatzes wegen aber einen gewissen Parallelismus mit der Arithmetik behauptet, und ähnliche Synthesen gestattet.“65 In einer Zeit des expansiven Wachstums der Mathematik stellte er bereits eindringlich die Forderung nach mathematischer Grundlagenforschung: „Der Mathematiker soll nicht bloss die Grenzen seiner Wissenschaft erweitern, und seine Theorien weiter hinausspinnen, während er sein altes Eigenthum vernachlässigt, oder es nur auf dem betretenen Wege verächtlich durchläuft, sondern er soll dasselbe von Neuem erforschen, ordnen, anbauen . . .“66 . Von welcher Bedeutung diese Forderung war, läßt sich am Schaffen Hermann Graßmanns ablesen. Die entschiedene Verteidigung des „Reinheitsideals“ der Mathematik entspringt bei J. Graßmann nicht der Verachtung empirischer Forschung. Denn nur wenn das Ergebnis der mathematischen Entwicklung „eine vollendete Darstellung der Synthesis des Geistes ist“, führt er aus, „[wird es] von selbst sich näher an die Synthesis der Natur in ihren Bildungen anschliessen, . . . so wie umgekehrt das tiefere Eindringen in die Natur dem Mathematiker einen Wink geben kann, wo er in seinem System noch zu bessern, zu erfinden, zu bauen hat.“67 Religiös motiviert, ist ihm die bewußte Darstellung der „Uebereinstimmung von Natur und Geist . . . [der] Erlösungsprocess des menschlichen Geistes von der Folter leerer Abstractionen und roher Empire.“68 Die Auffassung, daß Gott den Menschen und die äußere Welt nach seinem Bilde, nach einem einheitlichen Plan, schuf, bildet eine Grundlage seines Erkenntnisoptimismus. Jede „äussre Gestalt, welche uns die Natur darbietet, kann und muss als Ausdruck eines verborgenen Innern, als eine
2.1 Der Vater Justus Graßmann – Wegbereiter seines Sohnes
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Hieroglyphe betrachtet werden, welche uns die Natur entgegenhält, und deren Entzifferung sie uns als eine Aufgabe hinstellt“69 , variiert er diesen Gedanken in der Krystallonomie (1829), und fährt fort: „Die Mathematik kann den ihr gebührenden Standpunct nur dann wiedergewinnen, sie kann ihre ganze Tiefe nur dann aufschließen, wenn es anerkannt wird, dass sie die innerliche Mitgabe des äusserlichen Weltgesetzes ist, so weit sich dasselbe uns zu offenbaren vermag.“70 Hoch einzuschätzen, für seinen Sohn richtungsweisend und unvermindert aktuell ist seine Forderung nach einem Bündnis von Philosophie, Naturwissenschaft und Mathematik: „Möge endlich eine geistreiche und gesunde Philosophie, welche die Klarheit liebt und die Tiefe nicht scheut, das gegenseitige Verständnis zwischen Speculation und Beobachtung, und dadurch die gegenseitige Anerkennung vermitteln . . .“.71 Bei der Darlegung der Genesis seiner Auffassungen von einer geometrischen Kombinationslehre gelangt J. Graßmann zu ersten Ansätzen einer metrikfreien Behandlung der Geometrie. Räumliche Gegenstände könnten als Kombinationen betrachtet werden, sofern man „noch von jedem Grössenverhältniss“72 absehe. „Es giebt eine Methode“, schreibt er, „Linien und Flächen so miteinander in Verbindung treten zu lassen, dass sich daraus von selbst eine Menge der einfachsten und regelmässigsten Gestalten entwickeln . . .“73 . Diese Methode präsentiere er in seinem Buch. Die Charakteristik der „Linien durch Lage und Richtung“74 stelle hierbei die Grundlage seiner Wissenschaft dar, die frei von der Größenlehre ausführbar sei. Wie Scholz nachweist, führt ihn die Beschreibung von Kristallgestalten durch „Complexionen“ mit „Wiederholungsexponenten“ zur Entwicklung eines dreidimensionalen Vektorkalküls mit ganzzahligen Koeffizienten.75 Ohne hier auf den mathematischen Gehalt seiner Schrift näher einzugehen, soll auf einige Begriffsbildungen verwiesen werden, die erst bei Hermann Graßmann ihre konkrete Ausgestaltung erfuhren. Anzuführen ist die Auffassung J. Graßmanns, daß das „Produkt der Combination zweier Linien“76 ihr Durchschnittspunkt sei, d. h. eine Auffassung, die später bei Hermann Graßmann im planimetrischen Produkt77 erneut hervortritt. Ferner ist die eigentümliche Ausweitung des Additions- und Multiplikationsbegriffes auf die Kombinationslehre zu nennen, die jedoch in der mathematischen Fachwelt nie auf Resonanz stieß. Ist für J. Graßmann die Addition von „Complexionen“ noch auf eindeutige Weise zu realisieren, so betont er ausdrücklich, daß die Multiplikation von „Complexionen“ auf verschiedene Weise möglich sei, je nachdem, was als „Einheit“ aufgefaßt ist.78 Die Nachwirkung dieser Auffassung auf Hermann Graßmann und ihre Konkretisierung in der äußeren Vektoralgebra, besonders in den vielfältigen multiplikati-
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2 Anreger des Schöpfertums Graßmanns
ven Verknüpfungen, die dort entwickelt werden – ist nicht zu übersehen.79 Die geometrische Kombinationslehre war das mathematische, naturphilosophische und theologische Zentralgestirn des wissenschaftlichen Schöpfertums J. Graßmanns. Sie zu verstehen und zu lehren bildete jene Provokation seines Denkens, die zur begrifflichen und methodischen Neufassung der Mathematik führte: deontologisierend, dearithmetisierend, antiaxiomatisch, synthetisch-konstruktiv, dialektisch-ganzheitlich, wie Radu80 nachweist. „Meiner Ueberzeugung nach“, schreibt er in einer Fußnote zur Zahlenlehre (1827), „wird die Combinationslehre für die Naturgeschichte und Chemie einst dasselbe, was die Größenlehre für die Physik ist.“81 Die Kombinationslehre ist der Schlüssel zu einer neuen Einheit von Geist und Natur, von Mensch und Gott: Sie wird „dereinst, wenn ich mich dieses Vergleichs hier bedienen darf, als das verbindende Glied in die galvanische Kette, deren Extreme Mathematik und Naturkunde sind, eintretend, die Kette schliessen, die beiden anderen Glieder zu erhöhter Thätigkeit auffordern und dadurch ganz neue Erscheinungen an das Licht bringen.“82 Justus Graßmann plante seine Ansätze, die er in dieser Schrift entwickelte, in der Folgezeit auszubauen. Jährlich wollte er, falls seine Arbeiten auf Resonanz stießen, vier derartige Hefte herausgeben und, wenn möglich, eine Anzahl Mitarbeiter um sich scharen. „Der zweite Band“, schreibt er, „wenn die Schrift einen solchen
Justus Graßmann zur Kristallentstehung: Romantische Welterfassung zwischen naturwissenschaftlicher Analogie und naturphilosophischer Spekulation Die Entstehung eines Kristalls „. . . ist nicht die blosse Entgegenstellung der Grundkräfte, wodurch er besteht, sondern der stete Wechsel von Contraction und Expansion, welche ihn nach gewissen Richtungen durchdringen, und nach diesen Richtungen hin pulsiren; jenes Gleichgewicht der Grundkräfte, . . . ist nicht ein ruhendes und todtes, sondern ein bewegliches und lebendiges, ja es ist eigentlich in keinem Momente wirklich vorhanden, sondern indem es sich wiederherzustellen strebt, überschreitet es, wie ein oscillirendes Pendel, seine Grenze bis die hervorgerufene Reaction mächtig genug wird, um nach der entgegengesetzten Richtung das Gleichgewicht zu suchen. Jedes Theilchen ist in einer fortdauernden Undulation, und besteht durch sie und so ist der ganze Krystall nur dadurch, dass er beständig wird, . . . er ist nicht todt, sondern durch und durch ein klopfendes Herz! – Einen ähnlichen Pulsschlag, einen ähnlichen Wechsel von Contraction und Expansion bemerkt man nicht nur in allem Lebendigen, sondern auch in der Verbreitung des Lichtes, des Schalles etc. – Er findet auch nicht bloss statt, während der Krystall sich bildet, sondern er besteht fortwährend durch denselben . . .“83 .
2.1 Der Vater Justus Graßmann – Wegbereiter seines Sohnes
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erleben sollte, würde sich nicht mehr auf einen so speciellen Gegenstand beschränken, indess denkt der Verfasser darin seine Ansicht der allgemeinen Combinationslehre und ihrer Anwendung auf die Naturkunde, insbesondere auf die Systematik, so wie den Begriff der Mathematik, von welchen ausgehend er zu dieser Ansicht gelangt ist, zu entwickeln.“84 Leider kam es nicht zur Ausführung dieser Schriften, da Graßmanns Veröffentlichung unbeachtet blieb. Erst die Arbeiten des englischen Mineralogen W. H. Miller stellten die Verdienste J. Graßmanns um die Kristallphysik heraus. Unabhängig von W. Whewell (1825) hatte J. Graßmann (1829) vermittels seiner geometrischen Methode die Indicesbezeichnung zur Kennzeichnung der Kristallflächen eingeführt, die mit Miller (1839) als „Rationalitätsgesetz“ in die Wissenschaft Eingang fand. Als Schöpfer neuer mathematischer und naturwissenschaftlicher Theorien blieb J. Graßmann unbedeutend. Als Anreger und Wegbereiter der wissenschaftlichen Glanzleistungen seines Sohnes Hermann Graßmann hat er sich jedoch ein unsterbliches Verdienst um die Entwicklung der Mathematik erworben, so daß sein Name nicht der Vergessenheit anheimfallen sollte. Die nachfolgende Übersicht soll abschließend noch einmal die Auffassungen von Justus und Hermann Graßmann in geraffter Form gegegenüberstellen, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Anknüpfungspunkte aufzeigend: Kontinuität und Diskontinuität der wissenschaftlichen Auffassungen Justus Günther Graßmann
Hermann Günther Graßmann
I. Auffassungen und Begriffsbildungen in der „ Raumlehre für Volksschulen“ (J. Graßmann 1817, 1824) Geometrie als Konstruktion in der „reinen Anschauung“.
Geometrie als Anwendung der reinen Denkkonstruktionen auf die äußeren räumlichen Verhältnisse, 1844 (A1).
Raumlehre hat zwei Elemente: Linearund Winkelgrößen. Methodische Behandlung erst der Linien, dann der Winkel und schließlich der Kombination beider.
Geplanter Aufbau des ersten und zweiten Teiles der Ausdehnungslehre: 1. Teil: metrikfreie Behandlung der affinen n-dimensionalen Geometrie auf der Grundlage des Begriffs orientierter Strecken und äußerer Produkte. 2. Teil: Behandlung der aus der Verallgemeinerung des Winkelbegriffs und des Drehungsbegriffs erwachsenden Zusammenhänge auf der Grundlage des inneren Produktes von Vektoren im Rahmen der n-dimensionalen euklidischen Geometrie. 1844 (A1).
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2 Anreger des Schöpfertums Graßmanns
Justus Günther Graßmann
Hermann Günther Graßmann
Forderung einer ganzheitlichen, stufenweisen Gliederung der mathematischen Darstellung.
Stufenweiser Aufbau der Ausdehnungslehre mit schrittweiser Ausdehnung des Produktbegriffes sowie impliziter Verwendung der Gruppentheorie und des Permanenzprinzips. 1844 (A1).
Ablehnung der euklidischen Lehr- und Darstellungsweise der Geometrie.
Gleichfalls, 1844 (A1).
Verknüpfung von Geometrie und Kombinatorik.
Verknüpfung von n-dimensionaler Geometrie und Kombinatorik. Vektoren und Multivektoren als „stetige Komplexionen“. 1844 (A1).
Bewegungsprinzip zur Erzeugung geometrischer Objekte, ausgehend vom Punkt als „Grenze aller Ausdehnung“.
Bewegungsprinzip zur Erzeugung von geometrischen Gebilden beliebiger (endlicher) Dimension, vermittels „stetiger Änderung des Elements“ bei jeweils festgehaltener Richtung. 1844 (A1).
Übertragung algebraischer Begriffsbildungen auf die Geometrie; u. a. Rechteckfläche als Produkt zweier angrenzender Seiten.
Unmittelbarer Anknüpfungspunkt für Hermann Graßmann zur Entwicklung der Vektoraddition und des äußeren Produkts von Vektoren. 1840 (EBBE).
Deutschtümliche mathematische Begriffsbildungen.
Gleichfalls. 1844 (A1).
II. Auffassungen und Begriffsbildungen in der Schrift „Ueber den Begriff und Umfang der reinen Zahlenlehre“ (ZL) von 1827 Philosophische Reflexion über die Grundlagen der Mathematik.
Philosophische Einleitung der Ausdehnungslehre von 1844. 1844 (A1).
Forderung der Objektadäquatheit und des Modellcharakters der Mathematik bei Anwendung auf die Naturwissenschaften.
Gleiche Forderung bereits in der Prüfungsschrift zur Theorie der Ebbe und Flut. 1840 (EBBE).
Auffassung, daß die Mathematik zur Erkenntnis Gottes führt und religiösen Charakter hat.
Diese Auffassung kommt in den mathematischen und naturwissenschaftlichen Arbeiten Hermann Graßmanns nicht mehr explizit zum Ausdruck.
Konstruktive Erzeugung der mathematischen Objekte durch mathematische Synthesis in der „reinen Anschauung“.
Konstruktive Erzeugung der mathematischen Objekte durch mathematische Synthesis im „reinen Denken“. 1844 (A1).
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Justus Günther Graßmann
Hermann Günther Graßmann
Ausgangspunkt der mathematischen Synthesis ist ein schlechthin „Gegebenes“, abstrahiert von allem realen Inhalt.
Ausgangspunkt der mathematischen Synthesis (oder Konstruktion) ist ein vom Denken „Gesetztes“, ein „Besonderes schlechthin“, abstrahiert von allem realen Inhalt. 1844 (A1).
Die mathematische Synthesis kann stetig oder diskret, das Gegebene gleich oder ungleich sein.
Gleicher Standpunkt bei Hermann Graßmann. 1844 (A1).
Einteilung der mathematischen Disziplinen:
Einteilung der mathematischen Disziplinen:
diskret
stetig
gleich
Zahlenlehre
Geometrie
ungleich
Kombinatorik
?
diskret
stetig
gleich
Zahlenlehre
Funktionstheorie
ungleich
Kombinatorik
Ausdehnungslehre
Geometrie als mathematische Disziplin und Repräsentant der Theorie stetiger Größen.
Geometrie als Theorie des physikalischen Raumes. Ihr mathematisches Pendant sei die Ausdehnungslehre. Theorie stetiger Größen sei eigenständig und unabhängig von der Geometrie. 1844 (A1).
Natürliche Zahlen als Produkt einer mathematischen Synthesis, der kein Wahrheitswert zukommt.
Unmittelbar konstruktive Erzeugung der ganzen Zahlen in der „Arithmetik“. 1860 (LA).
Der Begriff der Zahl ist unmittelbar an den Begriff der Einheit geknüpft.
Begriff des Vektors als ein Aggregat von n unabhängigen Einheiten. 1861 (A2).
Begriffliche Unterscheidung zweier Elemente einer Verknüpfung. Nichtkommutativität von Basis und Exponent beim Potenzieren.
Nichtkommutativität der Faktoren in äußeren Produkten von Vektoren. 1840 (EBBE).
III. Auffassungen und Begriffsbildungen in der Schrift „Zur physischen Krystallonomie und geometrischen Combinationslehre“ (KRY) von 1829 „Geometrische Combinationslehre“ als neue selbständige Wissenschaft begründet.
„Ausdehnungslehre“ als neue selbständige Wissenschaft begründet. 1844 (A1).
Notwendigkeit wird verspürt, Entstehung und Entwicklung der Theorie sowie Inhalt, Umfang und Form derselben zu umreißen und dem Leser darzulegen.
Gleiches Vorgehen in der Ausdehnungslehre von 1844. 1844 (A1).
Metrikfreier Beginn der „geometrischen Kombinationslehre“.
Metrikfreie Grundlegung der Ausdehnungslehre. 1844 (A1).
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2 Anreger des Schöpfertums Graßmanns
Justus Günther Graßmann
Hermann Günther Graßmann
Die alleinige Berücksichtigung von „Lage und Richtung der Linien“ ist Grundlage der „geometrischen Kombinationslehre“.
Die gleichzeitige Beachtung von „Lage und Richtung“ einer Strecke ist Grundlage der Ausdehnungslehre. 1844 (A1).
„Produkt der Kombination zweier Linien ist ihr Durchschnittspunkt.“
Eingewandtes Produkt zweier Geraden in der Ebene ist ihr Durchschnittspunkt. Dies ist eine der Grundlagen für die „rein geometrische“ Theorie der Kurven. 1844 (A1).
Der Charakter der Kombinationslehre bedingt, daß eine Vielzahl multiplikativer Verknüpfungen in der „geometrischen Kombinationslehre“ möglich ist und auftritt.
Hermann Graßmann entwickelt in der Ausdehnungslehre eine Vielzahl von äußeren, inneren und formalen (tensoriellen) Produkten von Vektoren und Multivektoren. 1844 (A1), 1847 (PREIS), 1861 (A2).
Unmittelbares Anknüpfen an die Darstellung der Kombinatorik durch Leibniz.
Weiterentwicklung der „geometrischen Charakteristik“ von Leibniz. 1847 (PREIS).
Forderung nach Kritik der Grundlagen der Mathematik und Forderung nach einer neuen, besseren Philosophie.
Bemühen um eine Kritik der Grundlagen der gesamten Mathematik im Verein mit dem Bruder Robert Graßmann, vor allem 1847/48 und 1856/57.
2.2 Zusammenarbeit mit dem Bruder Robert Graßmann (1815–1901) Der Zeitraum von Anfang der 40er bis Anfang der 60er Jahre des 19. Jhs. ist ausgefüllt von mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschungen und politischen Aktivitäten Hermann Graßmanns. Eng arbeitet er in diesen Jahren mit seinem Bruder Robert Graßmann (1815–1901) zusammen. Dieser gehört, neben Friedrich Schleiermacher und Justus Graßmann, zu den drei Menschen, die Hermann Graßmann am nächsten standen und die auf seine weltanschauliche, politische und wissenschaftliche Entwicklung den größten Einfluß ausübten. Sein Leben und Schaffen nachvollziehen zu wollen, ohne auf das Verhältnis der beiden Brüder einzugehen, verbietet sich daher von selbst. Wie die Gebrüder v. Humboldt und die Gebrüder Grimm fanden die Brüder Graßmann – in Stettin weitgehend vom wissenschaftlichen Leben isoliert – aneinander Partner, Anreger und Kritiker in der Ausprägung weltanschaulicher, politischer und einzelwissenschaftlicher Auffassun-
2.2 Zusammenarbeit mit dem Bruder Robert Graßmann
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gen. Charakterlich und vom Temperament völlig verschieden – Hermann, der Beharrliche, Fleißige, Schüchterne, Bescheidene, völlig in der Wissenschaft Aufgehende, im gesellschaftlichen Umgang Unbeholfene; Robert, der mehr auf die äußere Wirkung bedachte, auf das praktische Handeln Ausgerichtete, politisch und ökonomisch stark Engagierte, Selbstgefälligere und weniger Bescheidene –, blieben sie den größten Teil ihres Lebens unzertrennlich verbunden in Freundschaft und gemeinsamer Arbeit. Bereits während seines Berliner Studiums schreibt Hermann Graßmann 1835 in einem Brief an seinen zwanzigjährigen Bruder, bezugnehmend auf eine Differenz in ihren Ansichten: „Und so wollen . . . wir von einander lernen und aufnehmen, was wir uns geistig darbieten können, aber nichts äußerlich annehmen, was nicht innerlich ganz das Unsere ist.“85 Die hier zum Ausdruck kommende Geisteshaltung, in der sich Reichweite und Grenzen gemeinsamer Forschungskonzepte manifestieren, sollte zum Prinzip der weiteren gemeinschaftlichen naturwissenschaftlichen, mathematischen, philosophischen und politischen Studien werden. Rückblickend erinnert sich Robert Graßmann 1896: „Wir beiden Brüder waren aufs engste mit einander befreundet, eine lange Reihe von Jahren haben wir täglich stundenlang mit einander gearbeitet, teils in Sprachwissenschaft, teils in Philosophie, teils in Mathematik und in Physik.“86 Robert Graßmann, der 1815 geboren wurde, wuchs in den ersten Lebensjahren bei seinem Onkel, dem Schulrat Friedrich Heinrich Graßmann, auf, dessen Ehe kinderlos geblieben war. Schon in den oberen Klassen des Gymnasiums führt er nach eigenen Aussagen täglich 2 bis 3 Stunden mathematische und physikalische Studien durch. Nach der Beendigung des Gymnasiums, 1834, nahm er ein Studium an der Universität in Bonn auf, wo er bereits im ersten Semester so erfolgreich Mathematik und Naturwissenschaften studierte, daß er in das „Seminar für die gesammten Naturwissenschaften“ aufgenommen wurde87 . Der Tod seiner Schwester Alwine im November 1834 muß ihn stark getroffen haben, denn er wandte sich radikal von den Naturwissenschaften ab und beschäftigte sich fast ausschließlich mit Theologie. Erst im dritten und vierten Semester öffnete er seine Studien wieder und belegte auch Kurse für Geschichte der Philosophie, für Logik, Psychologie und Anthropologie. Im Gegensatz zu seinem Bruder, der nur wenig reiste, konnte Robert dank der Unterstützung seines Onkels größere Reisen durch Deutschland, die Schweiz, Italien, Österreich, Belgien, Holland und Frankreich unternehmen. An das Studium in Bonn schlossen sich noch zwei Semester an der Berliner Universität an, wo er ausschließlich Theologie studierte und vornehmlich Vorlesungen bei August Wilhelm Neander hörte.
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2 Anreger des Schöpfertums Graßmanns
Nach eigenen Aussagen hatte er während seines Studiums Mathematik bei Carl Dietrich von Münchow, Naturwissenschaften bei Ludolph Christian Treviranus und Heinrich Wilhelm Dove gehört, Philosophie bei Christian August Brandis und Immanuel Hermann Fichte belegt, sowie Theologie, außer bei Neander, bei Friedrich Bleek und Karl Immanuel Nitzsch studiert. 1838 legte er sein erstes theologisches Examen ab und kehrte nach Stettin zurück. Sich nunmehr doch wieder stärker auf ein mathematisch-naturwissenschaftliches Lehramt orientierend, nahm er in Greifswald Kontakt zu J. A. Grunert auf, der Vorsitzender der gerade neu eingerichteten Wissenschaftlichen Prüfungskommission für die Provinz Pommern war, um sich Empfehlungen für das mathematische Selbststudium zu holen: Lacroix, Ettinghausen und Cauchy für die Analysis, Biot für die analytische Geometrie, Francoeur für die Mechanik und Lagrange für die Theorie der analytischen Funktionen. Während er seine Studien aufnahm, vertrat er zunächst für drei Monate den ersten Lehrer am Stettiner Lehrerseminar und anschließend, 1839, erneut für drei Monate den dortigen Direktor und diente (1838/39) bei den Pionieren, wo er eine galvanische Minenzündung erfand.88 Nach dem Dienst in der Armee – sein Bruder war auf Grund körperlicher Gebrechlichkeit davon freigestellt worden –, von dem er als Pionieroffizier entlassen wurde, nahm er seine Lehramtsprüfungen in Greifswald in Angriff. Aus Zeitmangel und wegen drängender Termine ließ er sich in das Werk von Lagrange durch seinen Bruder Hermann einführen. Nach den Angaben von Schubring wurde Roberts Antrag, ihn in Mathematik, Physik und Philosophie zu examinieren, von Grunert am 28. 12. 1839 in die Prüfungskommission eingebracht. Von Ernst Stiedenroth, Professor für Philosophie an der Universität Greifswald, erhielt er als philosophisches Thema, er möge die Gründe spezifizieren und kritisieren, die zu der Behauptung führten, daß die Mathematik keine philosophische Wissenschaft sei. Diese Aufgabe nahm ihn ganz in Anspruch. Zweimal mußte er Verlängerung erbitten und die letztlich eingereichte, über hundert Seiten starke Schrift, blieb unvollendet. Am 24. Juli 1840 reichte Robert seine Prüfungsarbeiten ein, die leider nicht erhalten geblieben sind. Stiedenroth war voll des Lobes über die philosophische Originalität und Befähigung des Prüflings. Obgleich Grunert im mathematischen Wissen Roberts noch einige Lücken ausmachte, erteilte auch er ihm die volle Lehrberechtigung. Als fünfter Prüfling der neu errichteten Kommission brachte ihm die vorzüglich bestandene Lehramtsprüfung die unbeschränkte Lehrberechtigung in Mathematik, Physik, Philosophie und Theologie ein. Dem Beispiel seines Bruders folgend, ging er 1841 in den Schuldienst über.
2.2 Zusammenarbeit mit dem Bruder Robert Graßmann
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Er unterrichtete zunächst an der Friedrich-Wilhelmsschule und wechselte 1843 auf die erste Lehrerstelle an der Stettiner höheren Töchterschule, an der er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Schuldienst im Jahre 1852 blieb. Obwohl die Brüder von Kind an in engem Kontakt blieben – man erinnere sich daran, wie schmerzlich Hermann Graßmann die Trennung von Familie und Freunden während seiner Tätigkeit an der Berliner Gewerbeschule empfand –, begann die eigentliche Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem Gebiet erst um 1840, als beide Brüder ihre Lehramtsprüfungen abgeschlossen hatten und sich neben der alltäglichen Lehrertätigkeit wissenschaftlichen Studien zuwandten. Der Ausgangspunkt war hierbei erstaunlich asymmetrisch. Hermann wurde bei seiner ersten Lehramtsprüfung 1831 nur die mathematische Lehrberechtigung bis Sekunda erteilt, während man ihm hinsichtlich der Philosophie attestierte, daß er „mit den Ergebnissen der philosophischen Untersuchungen nur wenig bekannt“ und daher „noch nicht fähig“ sei, „die philosophische Propädeutik zu lehren“, gleichwohl aber „diejenige philosophische Bildung“ besitze, „welche zu einer methodischen Entwickelung allgemeiner Begriffe erforderlich ist“89 . Er erlangte erst im zweiten Anlauf 1839/40 mit einer Nachprüfung in Physik und Mathematik die volle Lehrbefähigung, nunmehr aber mit solcher Bravour, daß seine Prüfungsschrift zur „Theorie der Ebbe und Flut“ der Grundstein einer neuen mathematische Disziplin wurde. Robert hingegen bestand seine Prüfung gleich im ersten Anlauf. Während die Kenntnis der Mathematik jedoch noch nicht frei von Lücken war, bestach seine philosophische Prüfungsschrift zum Verhältnis von Mathematik und Philosophie und fand höchste Anerkennung. Dergestalt beginnen sich 1840 die Forschungswege abzuzeichnen, die einzuschlagen die Brüder sich berufen fühlen werden – hier Hermann, der philosophierende Mathematiker, dort Robert, der mathematisch inspirierte Philosoph. 1839 war aus Schleiermachers Nachlaß die „Dialektik“ (DIAL) erschienen. Obgleich die Brüder zunächst von den Aufgaben voll in Anspruch genommen wurden, die das Lehramt ihnen abverlangte, beginnen sie gleich 1840 das gemeinsame Studium Schleiermachers, dessen Philosophie Hermann seit seiner Studienzeit faszinierte.90 Somit eignete sich Hermann, im ständigen Meinungsaustausch mit seinem Bruder, neben dem mathematischen auch das philosophische und wissenschaftsmethodologische Rüstzeug für die ab Ostern 1842 einsetzende Bearbeitung der Ausdehnungslehre an.91 Robert Graßmann fühlte sich ebenfalls außerordentlich angeregt von den Gedanken Schleiermachers. Die „Dialektik“ wurde der Anlaß für seine im Winter 1844/45 beginnende Ausarbeitung einer philosophischen Denklehre, die die Grundlage aller Wissenschaften sein sollte.
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Die gemeinsamen philosophischen Studien werden auch in den folgenden Jahren fortgesetzt. 1846 arbeiten die Brüder die Dialektik Hegels durch, der sie jedoch auf Grund ihrer spekulativen Darstellungsweise ablehnend gegenüberstehen.92
Robert Graßmann zur Hegelschen Schule („Denklehre“ 1975) „Den Gipfel und, wie es scheint, auch den Schluss dieser willkürlichen Systeme und Schulen bildet die Hegelsche Schule. Mit einer Anmasung sonder Gleichen verwirft sie den Weg und die Ergebnisse strenger Wissenschaft, mit einer Verblendung, welche nur modernen Philosophen eigen ist, glaubt sie in den Phrasen der Schule das Wesen der Sache ergriffen zu haben, ohne dass sie sich um die Sache kümmert, mit einem Hochmuthe, der an Wahnsinn grenzt, leugnet sie Offenbarung und Gotteslehre, um auch Gott aus dem Nichts ihrer eigenen Gedankenwelt durch Formeln zu erzeugen. Sie hat durch dieses Gebaren unsägliches Unheil gestiftet und ein Mistrauen gegen alle Philosophie erweckt, welches nicht ohne bedenkliche Frucht für die geistige Entwickelung der neuesten Zeit gewesen ist, und der Halbheit und Phrasenherrschaft wesentlich Vorschub geleistet hat.“93
Robert ist nach der Lektüre Hegels endgültig davon überzeugt, daß eine neue Philosophie, ja, eine Rekonstruktion des gesamten Gebäudes des Wissens nunmehr notwendig ist. Mehr als ein halbes Jahrhundert „fast täglich 4 bis 8 Stunden angestrengte Arbeit“94 sollte er der Ausarbeitung dieses enzyklopädischen Unternehmens widmen. Die gemeinsamen mathematischen Studien werden von den Entdekkungen Hermann Graßmanns getragen. In dem kurzen Zeitraum von Ostern 1842 bis Herbst 1843 arbeitet Hermann den ersten (und einzigen) Teil seiner Ausdehnungslehre (A1), seines mathematischen Hauptwerkes, vollständig aus. Trotz der vollen Belastung durch seine Schultätigkeit wird das Werk mehrfach umgearbeitet, „bald in euklidischer Form von Erklärungen und Lehrsätzen in möglichster Strenge, bald in Form einer zusammenhängenden Entwickelung mit möglichster Übersichtlichkeit, bald beides miteinander verflechtend“95 . Die gefundenen Ergebnisse trug er 1843 seinem engsten Freundeskreis96 , zu dem natürlich auch der Bruder gehörte, vor und stellte sie zur Diskussion. 1844 erscheint Hermann Graßmanns „Lineale Ausdehnungslehre“ und wird – nicht zuletzt aufgrund ihrer philosophischen Anlage – von den Mathematikern weitestgehend ignoriert. Dies gibt nun zu einer Reihe von Fragen Anlaß. Hat Robert den Bruder zu dieser philosophischen Form der Ausdehnungslehre gedrängt? War Robert der philosophisch führende Kopf bei der Konzeption der Ausdehnungslehre?
2.2 Zusammenarbeit mit dem Bruder Robert Graßmann
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Hat mithin nicht Schleiermacher, wie die Äußerungen Hermann Graßmanns vermuten lassen, sondern Robert den Haupteinfluß ausgeübt, indem er Ideen seiner philosophischen Prüfungsschrift einfließen ließ? Und hat also, da Roberts Schrift zur Philosophie der Mathematik hoch gelobt wurde, aber der bedeutendste zeitgenössische Philosoph der Mathematik Jakob Friedrich Fries war, dieser den Stil der ersten Ausdehnungslehre geprägt?97 Gehen wir diesen Fragen kurz nach. In seinem „Lebensbild“ im „Vorwort des Gebäudes des Wissens“ schreibt Robert, daß er seine Hauptstudien den Philosophen zuwandte. „Er stu¯ von den Alten, und hauptsächlich Hegel dirte Aristotél¯es und Pláton und Schleiermacher von den Neueren.“98 Aus diesen Äußerungen läßt sich zumindest schließen, daß, sofern er Fries studiert hat, dieser auf ihn keinen wesentlichen Eindruck hinterließ. Bestärkt wird diese Vermutung auch durch Inhalt und Anlage der „Geschichte der Philosophie“ die Robert seinem „Gebäude des Wissens“ voranstellt. „Die Geschichte der Philosophie, wie ich sie nachstehend zur Einleitung in die Wissenslehre gebe, soll die Aufgabe haben, die Lehren der einzelnen Philosophen soweit vorzutragen, als dieselben für die Entwicklung der Wissenslehre von Bedeutung gewesen sind“, schreibt er hier. „. . . dagegen wird dieselbe grosenteils die Dichtungen und Hirngespinste der einzelnen Philosophen übergehen, welche diese als Ersatz für die ihnen und ihrem Zeitalter mangelnden Erkenntnisse aufgestellt haben und welche für die Wissenslehre oder Philosophie meist ganz wertlos gewesen sind.“99 Selektiv und wertend wird die Entwicklung des philosophischen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Wissens in der Geschichte gegenüberstellt, wobei es nahe liegt zu vermuten, daß diese Schrift teilweise mit der verloren gegangenen Prüfungsschrift übereinstimmt. Von Fries ist aber in dieser Geschichte nirgends die Rede. Wohl aber findet sich ein Abschnitt über Schleiermacher. Dieser sei „der bedeutendste Kritiker . . ., den die neuere Zeit gesehen hat.“100 „Schleiermacher hat das grose Verdienst,“ heißt es weiter, „dass er der erste ist, der die Grundidee der Erspähungslehre oder Spekulationslehre, des höchsten Zweiges der logischen Wissenschaften richtig erkannt und in die Wissenschaften eingeführt hat, wenn er diese Idee auch noch nicht praktisch anzuwenden und die Wissenschaften dadurch umzugestalten gelernt hat.“101 Und Robert fährt fort: „Nach seiner ‚Dialektik‘ Berlin 1839 gibt es nur zwei Disziplinen, welche die Idee des Wissens zur Anschauung bringen. Beide behandeln die Idee des Wissens, d. h. die Beziehungen des Denkens und Seins aufeinander, aber die Dialektik, welche es mit den Gegensätzen in der Einheit zu tun hat, tut dies unter der Form des Allgemeinen, die Mathematik, welche es nur mit den gleichen und ungleichen Grösen zu
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tun hat, tut dies unter der Form des Besondern. In jedem realen Denken ist nach ihm soviel Wissenschaft, als darin Dialektik und Mathematik ist (§§ 344–346). Von beiden ist die Mathematik mehr der empirischen, die Dialektik mehr der spekulativen Form verwandt. Das empirische Verfahren geht stets dem spekulativen voran und bedingt dies. In allen diesen Sätzen hat Schl. das Richtige getroffen; aber nun fehlt es ihm, wie er selbst sagt, an der Kenntniss der Mathematik . . .“102 Deutlich wird an diesen etwas längeren Zitaten, daß Schleiermacher maßgebliche Bedeutung für das Philosophie-Verständnis Robert Graßmann hatte, eine Bedeutung, die sich nicht zuletzt unter dem Einfluß und den Anregungen seines Bruders, von dem der Impuls zum Studium der Schleiermacherschen Dialektik ausging, geltend machte. Beide Brüder knüpfen in ihrem Mathematik- und Philosophie-Verständnis an Schleiermacher an, aber auf je eigene Weise. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden konzentriert sich anscheinend in dem einem Satz: „Das empirische Verfahren geht stets dem spekulativen voran und bedingt dies.“ Diesen Satz würde wohl Hermann nicht unterschreiben. Bei ihm greifen, im Anschluß auch an seinen Vater, beide Verfahren ineinander, sichern, in der Einheitlichkeit von Darstellungs- und Forschungsweise, die organische Ganzheitlichkeit des Wissens und die Souveränität des Subjektes über seinen Gegenstand. Robert aber folgt im Anschluß an Leibniz seiner Interpretation Schleiermachers: gründet seine Philosophie zunächst auf das zunächst vorfindliche und empirisch vorauszusetzende, die Sprache; schließt daran Mathematik (als Formenlehre) und Logik an, baut hierauf seine atomistische Monadologie auf und beschließt sein System mit dem Gottes- und Engels-Reiche. Die Ausdehnungslehre von 1844 fußt philosophisch und methodologisch dergestalt im wesentlichen auf den philosophisch-dialektischen Intentionen Schleiermachers sowie des Vaters Justus Graßmann. Erst nachdem die mathematische Öffentlichkeit dem Werk einen Mißerfolg beschied, scheint sich Hermann dem Konzept des Bruders gebeugt zu haben. In seinen Erinnerungen schreibt Robert zur Zusammenarbeit der Brüder: Hermann „machte im Winter 1839 bis 1840 eine grose Arbeit über die Ebbe und Flut . . . [und kam] zu einer Reihe von Gesetzen über Addition und Multiplikation von Strecken bez. Bewegungen. Er verfolgte die Sache in den folgenden Jahren weiter und gab ‚Die lineale Ausdehnungslehre‘ Leipzig 1844 heraus. In diesem Werke geht er noch vorwiegend von geometrischen Grösen, bez. statischen Momenten aus und sucht daraus die Gesetze der neuen Wissenschaft zu gewinnen. . . .
2.2 Zusammenarbeit mit dem Bruder Robert Graßmann
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Im Jahre 1847 verbanden sich nun die Brüder Hermann und Robert Graßmann, um die Ausdehnungslehre, unabhängig von der Geometrie, als eignen Zweig der reinen Mathematik in strenger Form durch Formentwicklung abzuleiten und bis zu den Grenzen ihres Geltungsgebiets zu entwickeln. . . . Jeder von beiden Brüdern fühlte, dass er allein erlahmen würde, wenn er die Ideen mit eiserner Konsequenz bis in die letzten möglichen Operationen verfolgen wollte, und dass sie nur mit vereinten Kräften die Sache zwingen könnten. . . . Dem Robert Graßmann kommt nur das Verdienst zu, auf die Allgemeinheit der Auffassung und auf die Strenge der Form hingewirkt und dadurch an der Lösung der Schwierigkeiten mitgewirkt zu haben.“103 Erkennbar wird, daß sich Robert nicht als Inspirator der Darstellungsweise der 1844er Ausdehnungslehre begreift, ja, ihr eher reserviert gegenübersteht, während er den folgenden mathematischen Arbeiten, so auch dem von Hermann herausgegebenen Lehrbuch der Arithmetik (LA), seine Konzeption der Strenge der Form aufprägte. Carl Gottfried Scheibert, Hermanns Schwager, der 1834 ein „Lehrbuch der Arithmetik und ebenen Geometrie für die mittlern Classen der Gymnasien“ herausgegeben hatte, mit dem sich Justus Graßmanns Lehrbuch der Trigonometrie (1835) in „vollkommener Übereinstimmung“104 fand, schrieb im Mai 1861 angesichts des Erscheinens des Lehrbuches der Arithmetik von Hermann Graßmann: „Ich habe aber auch keine Neigung, mich noch in diejenige Richtung der Mathematik hineinzustudieren, die sie seit einigen Dezenien eingeschlagen hat, denn sie führt sich selbst aus der Schule heraus, wie ein schlagendes Beispiel in dem von meinem eigenen Schwager, dem Professor Graßmann in Stettin, geschriebenen Lehrbuche vorliegt; sie scheint – ich sage das sehr vorsichtig – doch die Köpfe gar zu sehr auszudörren, . . . während ich das systematische, in Begriffen dialektisch fortschreitende Erkennen als das Pädagogische an der Mathematik schätze und das Lösenkönnen von Aufgaben, trotz der Reglementsforderungen für die geistige Bildung sehr unwesentlich und für einen Ausweis dieser Bildung sehr unzulänglich erachte.“105 Sieht man jedoch von dem konzeptionellen Wandel im Verständnis des Wesens der Mathematik und der mathematischen Methode einmal ab, so war die Leistung, die die beiden Brüder beim Umbau der Mathematik und bei der Grundlegung der Ausdehnungslehre erbrachten immens. Von ihrer gemeinsamen Arbeit berichtet Robert 1890: „Im Jahre 1847 verbanden sich nun die Brüder Hermann und Robert Graßmann, um die Ausdehnungslehre, unabhängig von der Geometrie, als eignen Zweig der reinen Mathematik in strenger Form durch Formentwicklung abzuleiten und bis zu den Grenzen ihres Geltungsgebiets zu entwickeln. Das damals ausgearbeitete Heft von 132 Seiten ist noch heute im Besitz des Verfassers.
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In dieser gemeinsamen Arbeit behandelten sie zunächst die Gebietslehre bis zu den Gebieten n-ter Stufe und der Unabhängigkeit derselben von den ursprünglichen Einheiten und gewannen hier bereits den Satz, dass die Summe der Stufenzahlen zweier Gebiete gleich der Stufenzahl des beide umfassenden oder des verbindenden Gebietes plus der Stufenzahl des beiden gemeinschaftlichen Gebietes sei. Sie leiteten demnächst die verschiedenen Arten der Multiplikation ab und kamen bereits damals zu den drei Arten derselben: der Flachung, welche sie äusere Multiplikation nannten, der Schattung oder der inneren Multiplikation und der additiven (algebraischen) Multiplikation. Bei der Flachung oder äusern Multiplikation leiteten sie zunächst die Gesetze der Flachung, namentlich die Gesetze über den Zeichenwechsel bei Vertauschung der Flache oder Faktoren, sowie die Gesetze der linearen Aenderung ab, behandelten dann das Produkt zweier Grösen höherer Stufen oder die Flache der Flache und die Summen dieser Flache und entwickelten die Gesetze der bezüglichen Flachung, wie die der Ergänzungen zum Hauptgebiete und die der Zurückleitung auf ein Gebiet. Bei der innern Multiplikation (der Schattung) leiteten sie die Beziehung der innern Multiplikation zu der Multiplikation der Ergänzungen ab, ebenso die Sätze, wann das innere Produkt Null wird, sowie den Satz über die Gleichheit der innern Quadrate, oder mit andern Worten den Satz für die Einführung der Winkel. Bei der additiven Multiplikation (der Flechtung) endlich entwickelten sie die Gesetze derselben, führten demnächst den Quotienten ein, leiteten die Gesetze für die Division ab, wie für die Affinität und die Multiplikation der Quotienten, und gelangten zu den Potenzen der Quotienten wie zu den Produkten mit einer oder mehren Lücken und zu einem polynomischen Lehrsatze für diese Art der Produkte.“106 Aus diesen, die deutschtümlichen Begriffsbildungen Hermann Graßmanns noch übertreffenden Darlegungen Robert Graßmanns läßt sich deutlich erkennen, wie weit H. Graßmann bereits 1847 in seine neue mathematische Disziplin eingedrungen war und wie eng die beiden Brüder in ihrem wissenschaftlichen Streben – zumindest bis 1848 – verbunden waren. Dabei war die wissenschaftliche Zusammenarbeit durchaus nicht nur einseitig ausgerichtet. Regte Hermann Graßmann seinen Bruder vor allem an, indem er ihn auf Schleiermacher orientierte (und damit auf die Einheit von Naturwissenschaft und Philosophie verwies) und ihn durch die Entwicklung seiner Ausdehnungslehre auf die Notwendigkeit einer Analyse der Grundlagen der Mathematik, insbesondere der Geometrie, aufmerksam machte, so revanchierte sich Robert durch die scharfsichtige Aufdeckung von logischen Mängeln mathematischer Definitionen und
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von Beweisschwächen in den mathematischen Ausarbeitungen seines Bruders und richtete dessen Blick stets auf die größtmögliche mathematische Allgemeingültigkeit der Aussagen. Die Forschungen der Brüder wurden jedoch jäh unterbrochen durch die politischen Unruhen des Jahres 1847, durch die auch Stettin erfassenden Hungerunruhen sowie die Verfassungsforderungen des Bürgertums. Gemeinsam studieren sie jetzt Schleiermachers „Lehre vom Staat“ (1845) und Dahlmanns „Politik“ (1835) und greifen 1848 durch die Gründung einer eigenen Zeitung aktiv – auf monarchistisch-konservativer Seite – in die politischen Auseinandersetzungen des Revolutionsjahres ein. Als sich die Brüder acht Jahre später wieder gemeinsamen Studien zuwandten, wurde die Form ihrer Zusammenarbeit differenzierter. Wie Robert Graßmann berichtet, „gaben sie die Methode gemeinsamen Arbeitens auf“. Er fährt fort: „Sie beschränkten sich auf gemeinsame Besprechungen. Der Eine arbeitete einen Entwurf aus und trug ihn vor, der Andere nahm ihn kritisch durch und machte seine Ausstellungen. Diese Art der Arbeit war eine äußerst fruchtbringende und fördernde und führte bald zu der streng wissenschaftlichen Methode in den einzelnen Zweigen der Formenlehre oder Mathematik, wie auch der logischen Wissenschaften. Es zeigte sich bei dieser Art des Arbeitens bald, dass der eine Bruder Hermann mehr für die mathematischen Zweige, für die Zahlenlehre und Ausdehnungslehre, der andere Bruder Robert mehr für die philosophischen Zweige, für Logik und für Bindelehre oder Kombinationslehre passe. Die beiden Brüder teilten sich also Ende 1856 in die Arbeit, Hermann übernahm die Zahlenlehre und die Ausdehnungslehre, Robert die Logik und die Kombinationslehre zur selbständigen Bearbeitung.“107 Früchte dieser Zusammenarbeit waren das 1860 von Hermann Graßmann herausgegebene „Lehrbuch der Arithmetik“ (LA) und die 1862 erschienene zweite Bearbeitung der Ausdehnungslehre (A2) in streng euklidischer Form. Robert, der sich in der Folgezeit wieder stärker der Politik zuwandte, veröffentlichte die Ergebnisse seiner Studien aus dieser Zeit erst 1872 in seinem Buch „Die Formenlehre oder Mathematik“ (R. Graßmann 1872). Das besonders von Robert Graßmann ausgehende Bestreben nach äußerster Formalisierung, Symbolisierung und Allgemeinheit der Resultate kommt in den genannten Werken, leider unter Verzicht auf die explizite Darlegung philosophisch-dialektischer Momente der bearbeiteten Gegenstände, klar zum Ausdruck. Beide erreichen in dieser Zeit Bedeutendes. Robert Graßmann wurde durch sein Buch „Die Formenlehre oder Mathematik“ (1872) zu einem Pionier der mathematischen Logik108 und Wegbereiter der Neugestaltung des Aufbaus der Elementarmathematik109 , während das spätere, Regale füllende enzyklopädisch-philosophi-
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sche Gesamtwerk, das mehr als zehn Bände umfassende „Gebäude des Wissens“ (R. Graßmann 1882–90), kaum wissenschaftliche Bedeutung errang. Hermann Graßmann leistete, sieht man hier von seiner „Ausdehnungslehre“ ab, mit dem „Lehrbuch der Arithmetik“ (LA) gleichfalls Wegweisendes in seinen über die Ergebnisse M. Ohms110 hinausgehenden Ansätzen einer strengen Neubegründung der Arithmetik111 . Während Robert Graßmann dergestalt ein unentbehrlicher Partner für die wissenschaftliche Entwicklung Hermann Graßmanns war, konnte er ihm jedoch den Umgang und Meinungsaustausch mit bedeutenden Mathematikern seiner Zeit nicht ersetzen; ja er behinderte sogar objektiv die öffentliche Anerkennung der von Hermann Graßmann entwickelten mathematischen Ideen, indem er ihn in seinen deutschtümlerischen Tendenzen und den daraus entspringenden eigenwilligen Begriffsneuschöpfungen unterstützte, ja übertraf, und damit die Isolation von der zeitgenössischen Mathematik vertiefte. In diesem Zusammenhang sind einige Bemerkungen über die weltanschaulichen Positionen Robert Graßmanns angebracht. Wie bereits angeführt, gingen die Interessen der Brüder in den 50er Jahren, nicht zuletzt unter dem Eindruck der politischen Ereignisse der Jahre 1848/49, etwas auseinander. Während sich Hermann Graßmann fernerhin vorrangig der Mathematik und den Naturwissenschaften zuwandte, beschäftigte sich Robert Graßmann verstärkt mit Politik, Philosophie und Logik. Den gemeinsamen Gedankenaustausch pflegten sie jedoch noch Jahrzehnte. Obwohl nun der Einfluß der philosophischen Auffassungen Robert Graßmanns auf seinen Bruder im einzelnen nicht zu ermessen ist, zeigen sich bei ihm doch viele Züge, die in abgeschwächter Form bei Hermann Graßmann wiederkehren. Wesentliche Anregungen für die Einordnung der politischen und weltanschaulichen Auffassungen Robert Graßmanns finden sich bei Fr. Engels, insbesondere in seinem Aufsatz über Ernst Moritz Arndt aus dem Jahre 1841 (Engels 1967b). Dieser Artikel ist insofern von besonderem Interesse, als Arndt sowohl hinsichtlich seiner Auffassungen als auch hinsichtlich seines territorialen, sozialen und ökonomischen Umfeldes viele Gemeinsamkeiten mit den Brüdern Graßmann aufweist. Nachdrücklich weist Friedrich Engels auf den Zusammenhang zwischen theologischer Orthodoxie, Deutschtümlertum und spätromantischer Staatstheorie in den Auffassungen Arndts hin, indem er diese als kleinbürgerlichen Reflex der Ergebnisse und Wirkungen der Befreiungskriege von 1813–1815 faßt. Betont Engels, daß die Deutschtümelei gegen die geistige Hegemonie Frankreichs gerichtet war, jedoch in ihrer Rückbesinnung auf die „Reinheit des Urdeutschtums“112 reaktionäre
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Tendenzen in sich trug, so findet sich dies bei Robert Graßmann explizit wieder. In seiner 1875 erschienenen Denklehre schreibt er: „Französische Leichtfertigkeit und Sittenlosigkeit zog mit der französischen Sprache in Deutschland ein und verderbte Adel und Fürsten.“113 In der Konsequenz ergibt sich bei R. Graßmann hieraus ein extremer Nationalismus: „. . . in den Schulen fordern wir deutsche Lehrer, angehaucht von dem ächt deutschen Geiste, durchweht von dem Hauche deutscher Begeisterung, Männer, welche deutsch reden und denken und die Kinder einführen können in deutsche Sprache und deutsches Wesen.“114 Wen er ferner vermerkt: „Es lässt sich im Deutschen für jeden Begriff ein deutsches Wort finden und ist es die Pflicht des Gebildeten und Lehrers diese deutschen Worte zu suchen und einzuführen“115 , so offenbaren sich hier die Wurzeln für jene Sucht nach der Verbannung sämtlicher Fremdwörter aus der Wissenschaft, die das Studium der wissenschaftlichen Arbeiten sowohl Hermann als auch Robert Graßmanns so sehr erschwerten und letztlich mit dazu beitrugen, daß ihnen die öffentliche Anerkennung versagt blieb. Die Gründe dafür, daß sich diese Tendenzen bei R. Graßmann derart ausprägen konnten, finden sich in den rückständigen ökonomischen Verhältnissen seines Wirkungsbereiches und in der ihnen entsprechenden wissenschaftlichen und ideologischen Borniertheit des Kleinbürgertums, das hier das ganze „Gewicht seiner Trägheitskraft“116 geltend machen konnte.
Robert Graßmann über die Deutschen „Das deutsche Reich ist das Land der Mitte und doch, durch Gebirge zerschnitten, zugleich das Land der Mannigfaltigkeit und der freien Entwickelung. Die Deutschen sind gros und starkknochig, fleisig und ordentlich, treu und traulich, dem innern Leben zugewandt, daher gemüthlich und beschaulich. Die Deutschen sind das Volk des tiefen Gemüthes, der klassischen Musik und zugleich die Männer der strengen Wissenschaft; in beiden Dingen sind sie die Lehrmeister der Völker, die eigentlichen Träger der wissenschaftlichen Bildung und des religiösen Fortschritts, ein Volk von Denkern und Forschern, in Tiefe der Erforschung und Allseitigkeit des Wissens, in Ernst des Ringens nach Lösung der heiligsten Fragen von keinem Volke erreicht, in Innigkeit des Gemüths, in Melodie und Harmonie der Musik allen Völkern voran . . .“117 .
Neben den umrissenen politischen Auffassungen R. Graßmanns finden die mathematisch-naturwissenschaftlichen Studien Widerhall in seinen philosophischen Konstruktionen. Zum einen findet die bewußte Übertragung der naturwissenschaftlich-mathematischen Denkhaltung auf die Philosophie Ausdruck in Elementen eines naturwissenschaftlichen empirisch bewährten Realismus: „Der Weg, den wir einzuschlagen haben,
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. . . ist kein anderer, als der Weg, den unsere grosen Naturforscher, ein Kopernik und Kepler, ein Galilei und Newton eingeschlagen haben und der stets, wo er eingeschlagen ist, zum Ziele geführt hat und führen muss, der Weg der geistigen Verarbeitung der durch die Erfahrung errungenen, in der Naturwissenschaft gewonnenen Sätze. Wie jeder Naturforscher, gehen auch wir von der Erfahrung aus, gewinnen die Sätze der Erfahrung durch Beobachtung und Versuch, entfernen die Fehler, welche sich eingeschlichen haben, vergleichen ob und wieweit diese Sätze und Gesetze mit einander übereinstimmen. In allem diesem stimmen wir ganz mit dem Verfahren der jetzigen Naturwissenschaft überein und behaupten, dass dies der einzig mögliche Weg ist, wie man zu einem sichern und allgemeingültigen Wissen gelangen kann. Wir fordern daher auch von jedem Philosophen, dass er diesen selbigen Weg einschlage, um zu einem Wissen zu gelangen, und behaupten, dass jeder Satz, der nicht in Uebereinstimmung mit dem durch die Erfahrung gewonnenen Wissen gewonnen ist, ein unwissenschaftlicher Satz, ein Spiel der Phantasie sei ohne jeden wissenschaftlichen Wert.“118 Zum anderen erfolgt eine orthodox-theologische Verarbeitung der Dialektik Schleiermachers – in minderem Maße Hegels119 –, die durch eine Spielart des mathematischen Idealismus ihre Vermittlung zur Naturwissenschaft sucht: „Der Geist des Menschen muss die geistigen Formen und Gesetze, welche in der Natur walten, nachzeichnen, nachbilden können, wenn er sie verstehen will. Jeder Naturforscher muss daher die Lehrsätze der Raumlehre und der Zahlenlehre, kurz der Mathematik kennen, wenn er überhaupt die Naturgesetze erkennen und verstehen will, . . . [Hervorheb. – H.-J. P.]“120 . Ausgehend von Schleiermacher121 wird Gott als „Urquell alles Seins und Werdens . . . Urquell alles Wissens und Erkennens . . .“122 begriffen: „Aller Wechsel, alles Leben des Alls geht also aus dem einzigen Gotte hervor; aus ihm gehen also auch alle Gegensätze und Kreuzbeziehungen hervor, durch welche aus der Einheit die Mannigfaltigkeit entsteht. . . . Gott erschafft aus seinem freien geistigen Willen . . . Wesen, welche in der Ausenwelt aus Gotte eine eigene Wesenheit haben, sich nach den Gesetzen Gottes im leeren Räume bewegen, die Gesetze Gottes dadurch äuserlich darstellen . . .“123 . Robert Graßmann beschränkt sich jedoch nicht auf diesen pantheistischen bzw. deistischen Gottesbegriff, sondern Gott wird – orthodox-theistisch – zum aktiven Lenker des weltlichen Geschehens proklamiert: „Gott greift also in einem bestimmten Zeitpunkte und an einem bestimmten Orte in die Welt ein“, betont R. Graßmann, „er ist nicht ein ruhender, unthätiger Götze, wie ihn die Philosophen dichten, sondern ein stets thätiger, schaffender und bewegender, ein lebendiger, geistiger Gott, der den Dingen Wesenheit und Bewegung, den Menschen Geist und Leben
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giebt und allen einfachen Wesen die Kraft gegeben hat eignen Seins und Wirkens, ein unvergängliches, unsterbliches Erbtheil, das ihnen Niemand rauben kann.“124 Hinzu treten bei diesem mit einem außerordentlichen logischen Scharfsinn begabten Theoretiker irritierende Eklektizismen und äußerst skurrile Phantasmen über das aktuelle Wirken Gottes in der Welt.
Robert Graßmann über die Lehre vom Gottesreiche Zu seiner Konzeption der Gotteswissenschaft schreibt R. Graßmann in der Einleitung seines „Gebäude[s] des Wissens“: „Die Gotteswissenschaft soll uns in streng wissenschaftlicher Weise in die Lehren von Gotte und den göttlichen Dingen einführen. . . . Die Lehre vom Gottesreiche führt den Beweis für das Dasein Gottes, leitet die Eigenschaften Gottes ab und führt uns dann in das Reich der Etherwesen und Ethergeister im Gottesreiche des Himmels ein. . . . die Lehre vom Himmelsreiche wird die Lehre von dem himmlichen Leben der Menschen mit dem strengen Beweise der Unsterblichkeit bringen.“125 „Jede Sekunde ruft Gott auf den verschiedenen Erden 30,000 Millionen Geisteswesen oder Menschen, jedes Jahr eine Trillion Menschen ins Dasein, und dies seit Tausenden Jahren“, schreibt er an anderer Stelle, über die millionenfache Schöpfung auf Millionen von Erden im Universum sinnierend. „Aber auch vor dieser Zeit ist Gott nicht unthätig gewesen, sondern hat unzählige Sterne und Wesen geschaffen.“126
Die intensive Rezeption des Gedankengutes Leibniz’, die sich in der Kombinationslehre von Justus Graßmann, der Ausdehnungslehre von Hermann Graßmann und der Logik von Robert Graßmann bereits mathematisch bewährt hatte und zu wesentlichen einzelwissenschaftlichen Erkenntnissen anregte, wird von Robert Graßmann in Gestalt der Monadenlehre auf seine Ontologie übertragen. Gott als einfaches Punktwesen oder Monade hat nach seiner Ansicht alle anderen Wesen – Massewesen, Ätherwesen und Geisteswesen – geschaffen. Die Massewesen, die mit den physikalischen Teilchenvorstellungen seiner Zeit weitgehend identisch waren, gehören nach R. Graßmann in das Reich der Notwendigkeit; die Geisteswesen – die menschlichen Seelen und die „Engelseelen“ – ins Reich der Freiheit und des Zufalls. Mechanischer Determinismus sollte so mit der Freiheit der Persönlichkeit in Einklang gebracht werden. Gleichzeitig werden die Newtonschen Grundgesetze modifiziert auf die Geisterwesen – die unsterblichen Seelen – übertragen. Physikalismus und Spekulation vermischen sich in einzigartiger Weise, so daß die eigenen, eingangs postulierten Erkenntnisgrundsätze aufgegeben werden. Als positiver Ausfluß seiner Monadologie und gleichsam beeindrukkendes Beispiel der naturphilosophischen Hypothesenbildung ist hier das Äther- und Atommodell der Brüder Hermann und Robert Graßmann
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anzuführen, das erstmals von Robert Graßmann 1862 veröffentlicht wurde.127 Leider läßt sich der Anteil Hermann Graßmanns an diesem Modell nicht im einzelnen nachweisen.128 Nur die folgenden zwei Charakteristika der Äther- und Atomauffassung der Brüder seien hier hervorgehoben: 1. Der Äther ist ein unwägbares Teilchengas. Die Ätherteilchen setzen sich zusammen aus einem positiven und einem negativen elektrischen Elementarteilchen, welche umeinander kreisen. 2. Atome sind nicht die einfachsten Bausteine der Natur. Sie bestehen aus einem Kern (Masseteilchen) und einer Hülle aus positiven und negativen elektrischen Elementarteilchen. Die Hülle bestimmt das chemische und elektrische Verhalten der Atome, d. h. die Bindungseigenschaften und das Dissoziationsverhalten der Moleküle. Die Hülle determiniert die räumlichen Abmessungen der Atome. Friedrich Kuntze vermerkt hierzu: „Da finden wir, daß die Graßmanns 1862, zwanzig Jahre etwa vor Helmholtz’ Faraday-Rede, die atomistische Struktur der Elektrizität gelehrt haben. Da finden wir weiter, daß den Graßmanns die Atome der Chemie keine letzten Einheiten waren, daß sie aber auch nicht der bekannten Auskunft sich bedienten, die Atome aus Wasserstoffatomen oder Bruchteilen solcher oder überhaupt aus materiellen Elementarteilchen aufzubauen. Vielmehr wurden eben jene Elementarquanta der Elektrizität von ihnen dazu verwendet, den Bau der Atome und ihr chemisches Verhalten zu erklären.“129 Die Atomhypothese der Graßmanns, die in wesentlichen Punkten ähnlichen Atommodellen der Physik um Jahrzehnte vorauseilte, fand in der physikalischen Fachwelt ihrer Zeit keinerlei Resonanz. Abschließend muß konstatiert werden, daß der Eklektizismus R. Graßmann in seiner Ambiguität eine eigenartige Faszination ausübt. Finden sich einerseits skurrile Aussagen über die physikalischen Grundlagen der „Engelsseelen“, so stößt man andererseits auf faszinierende Atommodelle. Wird einesteils etwa spekuliert, wie viele Erlöser es in Abhängigkeit von der Vielzahl der von Gott geschaffenen Welten geben muß, so stößt man andernteils auf interessante dialektische Überlegungen: „Zwei Begriffe oder Dinge, welche wesentlich verschieden sind und die beiden Glieder einer Einheit bilden, nennt man einen Gegensatz.“, schreibt er 1875. „Man kann also sagen, die Aufgabe der Philosophie sei es, die Gegensätze in der Einheit und die Einheit in den Gegensätzen aufzusuchen.“130 Ja, selbst einen an Materialismus grenzenden Realismus kann man der folgenden Äußerung entnehmen: „. . . wenn man den Raum und die Zeit, in welcher die Wesen auf einander einwirken, die Wirklichkeit nennt, so kann man auch sagen, Wesen sind die wirklichen, wirkenden Dinge. Die Begriffe dagegen sind die geistigen Abbilder dieser wirklichen Dinge, die
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ihr Sein nur im Geiste, nicht im Raume, nur im Gedanken, nicht in der Wirklichkeit haben.“131 Unzweideutig ist bei Robert Graßmann jedoch die Ablehnung jeglicher philosophischer und wissenschaftstheoretischer Konzepte, die sich auf eine reine subjektive Konstruktion der Welt im menschlichen Geist zurückführen läßt. Dies wird als menschliche Überhebung, als phantastische Anmaßung gottgleicher Erschaffung der Welt, entschieden abgelehnt: „Es ist gewiss eine erhabne Aufgabe“, schreibt er, „welche die Wissenschaftslehre der Neuzeit sich gestellt hat, wenn sie ohne alle Voraussetzungen, aus dem Nichtse des Gedankens die ganze Welt des Geistes und der Gedanken aufbauen will. Es ist dies auf dem Gebiete des Denkens dieselbe Aufgabe, als wenn der Mensch sich auf dem Gebiete des äusern Handelns und Wirkens die Aufgabe stellen wollte, ohne allen Stoff und ohne alle Werkzeuge und Kräfte aus dem körperlichen Nichtse die ganze Welt der körperlichen Dinge mit ihren Sonnen, Erden und irdischen Wesen zu schaffen.“132 Die philosophischen Ansichten Robert Graßmanns bilden damit eine verworrene Synthese aus naturwissenschaftlichem spontanem Materialismus, romantischer Naturdialektik, Fideismus und klassischer bürgerlicher Philosophie. Als provinzielle Blüte am Baum der Erkenntnis war die philosophische Konzeption politisch rückwärtsgewandt, aber dennoch in der Lage, der naturwissenschaftlichen und mathematischen Forschung in begrenztem Umfeld außerordentliche Impulse zu verleihen.
2.3 Der Philosoph Friedrich Schleiermacher – Sein Wirken und Grundgedanken aus den Vorlesungen zur Dialektik Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher war eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. Als Theologe, Philosoph, Pädagoge und Politiker wirkte er in einer Zeit, in der sich die Anfänge der bürgerlichen Umwälzungen im verstockten Deutschland vollzogen, einer Zeit, die zugleich geprägt war von der bürgerlichen Revolution in Frankreich (1789) und der industriellen Revolution in England, Revolutionen, in denen sich das Ende des Feudalismus und der Beginn des Siegeszuges des Kapitalismus ankündigten, und die ihren ideellen Reflex in einer einzigartigen geistesgeschichtlichen Umwälzungsepoche fanden, in der im zeitgleichen Nacheinander die Häupter von Aufklärung, Klassik, Romantik und Neuhumanismus im Wettstreit lagen. Obwohl das philosophische Werk Schleiermachers nicht minder umfangreich ist als sein theologisches, fällt doch die spätere Rezeption seines Schaffens sehr uneinheitlich aus. Als „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“133 gefeiert, blieb er, wie Fischer vermerkt, als Philosoph „eigentüm-
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lich wirkungslos“134 , wenngleich sein System der Wissenschaften „dem Range nach mit den Konzeptionen des deutschen Idealismus vergleichbar“135 war. Querliegend hierzu war die Rezeption, die er bei den Brüdern Graßmann fand. „Als fühlender Mensch ist Schleiermacher fromm; als Denker ist er gottlos“136 , vermerkt Robert Graßmann in seiner Geschichte der Philosophie: „Selbstredend musste seine Lehre von Gotte hiernach ein gänzlich unhaltbares, unwissenschaftliches Gebäude werden . . .“137 Konträr dazu die einhellige Wertschätzung Schleiermachers als philosophischer Denker. Fand sich schon in dem bereits zitierten Lebenslauf Hermann Graßmanns vom April 1834 die Bemerkung, daß er Schleiermacher in geistiger Hinsicht unermeßlich viel zu danken habe, da man von ihm „für jede Wissenschaft lernen kann, weil er weniger Positives gibt, als er geschickt macht, eine jede Untersuchung von der rechten Seite anzugreifen und selbständig fortzuführen, und in den Stand setzt, das Positive selbst zu finden“138 , so wird diese Einschätzung, wenngleich etwas abgeklärter, auch von Robert Graßmann geteilt.139 Erstaunlich einstimmig ist diese, von den Brüdern Graßmann getroffene Wertung des philosophischen Denkansatzes Schleiermachers mit der jüngst von Hermann Fischer, einem der Herausgeber der Kritischen Gesamtausgabe Schleiermachers, getroffenen: „Sein dialektischer Denkstil befähigt ihn“, heißt es dort, „jedes Phänomen mit einem anderen in Beziehung zu setzen, es wissenschaftlich einzuordnen und in einem überschaubaren Zusammenhang zu deuten. Allen radikalen Alternativen und absoluten Gegensätzen ist er abgeneigt. Jeder Satz enthält seinen Gegensatz potentiell in sich. Schleiermachers Dialektik ist nicht exklusiver, sondern inklusiver Natur und wird zum Fundament einer imponierenden wissenschaftstheoretischen Architektur ausgebaut. Über die Vermittlung von Erkennen und Handeln, oder, wie Schleiermacher es auch ausdrücken kann, von symbolisierender und organisierender Tätigkeit, von Individuellem und Allgemeinem, von Spekulativem und Empirischem läßt sich die Vernetzung der Probleme einsichtig machen. Schleiermacher nimmt im Umfeld der Philosophie des deutschen Idealismus darin eine Sonderstellung ein, daß er die Vermittlung von Spekulation und Empirie geradezu zum Prinzip seines philosophischen Denkens erhebt. Damit gewinnt seine Problembearbeitung einen weit über das spekulative Zeitalter hinausweisenden Zug. . .“140 Die Faszination Schleiermachers – nicht nur Hermann Graßmann erlag ihr, selbst der junge Friedrich Engels geriet in ihren Bann – bestand nicht nur darin, daß er eine herausragende Persönlichkeit in einer Epoche tiefgreifender Umwälzungen war; er selbst „verkörpert eine geistig-kulturelle Welt, ist Repräsentant einer ganzen Epoche. “141 Sein Leben
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und Wirken ist das Komplement, ist jene kontrastierende Gegenfolie zur Provinzialität Graßmanns, gleichwohl mit ihr auf vielfältige Weise verflochten und sie genialisch beflügelnd. Schleiermachers Werdegang erhellt dergestalt die ‚andere Seite‘ der Biographie Hermann Graßmanns. Sein Wirken, das über mannigfache Fäden – romantische Naturphilosophie, Widerstand gegen die Napoleonische Fremdherrschaft, Reorganisation des Schulwesens, Wertschätzung der Individualität, Innigkeit des religiösen Gefühls, um nur einige Stichworte zu nennen – schon mit dem Schaffen Justus Graßmanns auf das innigste verwoben ist, prägt mit der Abgeklärtheit eines neuhumanistischen Liberalismus, dessen dialektisches Denken Anschluß an die Naturwissenschaften finden will und zugleich eine tiefe Religiosität nicht preiszugeben gewillt ist, nachhaltig auch Hermann und, modifiziert, Robert Graßmann. Ohne ein Eingehen auf Schleiermacher wäre die Biographie Graßmanns nur ein Torso. Dergestalt soll zunächst eine kurze Skizze des Lebens und Wirkens Friedrich Schleiermachers gegeben werden. Daran anschließend wird zu klären sein – und wir haben es hier mit einem jener historische singulären Fälle eines direkten Einflusses einer Philosophie auf die Neubegründung einer wissenschaftlichen Disziplin zu tun –, inwiefern Schleiermachers Dialektik dazu prädestiniert war, auf die Ausgestaltung der Mathematik-Konzeption Graßmanns nachhaltigen Einfluß ausüben zu können.
Überblick über Schleiermachers Leben Am 21. 11. 1768 wurde Friedrich Schleiermacher, ältester Sohn eines reformierten preußischen Feldpredigers, in Breslau geboren. Vom 14. bis zum 19. Lebensjahr erhielt er zusammen mit seinen Geschwistern in der Herrnhuter Brüdergemeine Ausbildung und Erziehung. Im Jahre 1787 erfolgte auf Grund der dogmatischen theologischen Enge und des streng organisierten Behütungssystems der Bruch mit der Brüdergemeine und die Aufnahme eines Theologiestudiums an der der Aufklärung verbundenen Hallenser Universität. Nach Beendigung seines zweijährigen Studiums bereitete sich Schleiermacher auf die theologische Prüfung vor und wohnte vorerst bei seinem Onkel S. E. T. Stubenrauch, da eine erstrebte Hauslehrerstelle nicht in Aussicht war. Nach bestandener theologischer Prüfung wird er 1790 Hofmeister und Hauslehrer bei der gräflichen Familie von Dohna in Schlobitten. Hier kommt es nach anfänglicher Harmonie 1793 hinsichtlich des Erziehungsstils zu einem Zerwürfnis und schließlich zum offenen Bruch mit dem Grafen zu Dohna. Schleiermacher siedelt wieder zu seinem Onkel nach Dresden über, bereitet sich auf die
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zweite theologische Prüfung vor und geht 1784 als Pastorengehilfe nach Landsberg a. W., wo er erneut eine Hauslehrertätigkeit ausübt, die „von den neuen Methoden eines Rousseau und von den Lehren der französischen revolutionären Bewegungen einen Abglanz hatte . . .“142 . 1796 erhält er in Berlin Anstellung als Prediger an der Charité. Die folgenden Jahre in Berlin werden für seine weitere Entwicklung bedeutsam. Durch Henriette Herz, die Frau des angesehenen Arztes Marcus Herz, wird er in die Berliner Salons der weltoffenen wohlhabenden jüdischen Kreise eingeführt, in denen sich die führenden Köpfe der bürgerlichen Intelligenz, so Schiller, Fichte, Jean Paul, W. v. Humboldt, die Brüder Schlegel, Arndt, Mirabeau, Steffens, Frau v. Staël u. a. treffen. Es entwickelt sich eine tiefe Freundschaft zwischen ihm und Friedrich Schlegel, die dazu führt, daß beide zeitweilig eine gemeinsame Wohnung beziehen. Die Begeisterung für die Persönlichkeit Friedrich Schlegels bindet Schleiermacher für längere Zeit an die frühromantische Bewegung. 1799 veröffentlicht er im Gefolge des „Atheismusstreites“ seine „Reden über die Religion“ (Schleiermacher 1913) und läßt ihnen 1800 die „Monologen“ (Schleiermacher 1914a) folgen. Da sich von Seiten seiner theologischen Vorgesetzten Anfeindungen bezüglich seines Umgangs mit den Romantikern, seiner atheistischen Tendenzen und seiner Beziehung zur Frau eines befreundeten Predigers häufen, nimmt er 1802 eine sich ihm bietende Predigerstelle in Stolp an. In der dortigen Abgeschiedenheit arbeitet er an seinem ersten, streng wissenschaftlichen Werk, den „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre“ (1803). Da ihn jedoch auf die Dauer das Predigeramt auf dem Lande nicht befriedigt, bewirbt er sich um ein Lehramt an den Universitäten in Würzburg und Königsberg und erhält daraufhin 1804 von der preußischen Regierung eine Berufung an die Universität in Halle als außerordentlicher Professor für Theologie und Universitätsprediger. Hier verbindet ihn bald eine enge Freundschaft mit dem Naturforscher und Naturphilosophen Henrik Steffens. Als 1806 der preußische Staat durch die Napoleonische Armee in seinen Grundfesten erschüttert wird, erwacht bei Schleiermacher die politische Aktivität. Er hält patriotische Predigten und übersiedelt, als Halle in den Herrschaftsbereich Napoleons gelangt, nach Berlin. Von Berlin aus knüpft er Verbindungen mit Stein, Scharnhorst und Gneisenau, fährt 1808 in geheimer Gesandtschaft nach Rügen und Königsberg, hat eine Zusammenkunft mit Bülow und setzt sich im Kampf um die Abschüttelung des Napoleonischen Jochs mit aller Kraft für eine bürgerliche Neubelebung Deutschlands und für einen Volksaufstand ein. Zusammen mit Fichte, Wolf und Schmalz beginnt er in Berlin einen geheimen Vorlesungsbetrieb. Erstmals liest er über die Theorie des Staates. Im folgenden Jahr wird er Mitglied der Kommission zur Errichtung der Berliner Universität. Endlich geht ihm auch der lange ersehnte
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Wunsch nach häuslichem Glück durch die Heirat mit Henriette v. Willich, geb. v. Mühlenfels, der Witwe seines früh verstorbenen Freundes, in Erfüllung. 1810 wird er auf Initiative W. v. Humboldts Mitglied der „Wissenschaftlichen Deputation“ der „Sektion für den öffentlichen Unterricht“ und hat teil an der Durchsetzung des Reformwerkes Steins. Gleichzeitig wird er erster Dekan der theologischen Fakultät an der gerade gegründeten Berliner Universität. 1813 tritt er dem Landsturm bei. Als Mitbegründer und Herausgeber des „Preußischen Korrespondenten“ wird er für sein mutiges Auftreten gegen die Reaktion des Hochverrats verdächtigt. Polizeiliche Bespitzelungen und Anfeindungen seitens der sich konsolidierenden Reaktion sollten bis zu seinem Lebensende nicht mehr aufhören. So erfolgt 1815 die Entfernung Schleiermachers aus der Sektion für öffentlichen Unterricht. 1817 schließt sich das Verbot seiner Vorlesungen über den Staat an. 1819 tritt er mutig gegen die Beschneidung der Rechte der Universität auf und setzt sich für den im Gefolge der Ermordung Kotzebues entlassenen Professor de Wette ein. Polizeiliche Verhöre wegen „Majestätsbeleidigung“, Eintretens für die Turnbewegung, für die Erhaltung der Pressefreiheit und der demokratischen Rechte der Universitäten muß er 1823 über sich ergehen lassen. Gegen den „kirchlichen Despotismus“ auftretend, greift er 1824/25 in den kirchlichen Agendenstreit ein. Nach arbeitsamen Jahren stirbt er am 12. Februar 1834, eine Vielzahl wissenschaftlicher Manuskripte unvollendet zurücklassend. Die angeführten, relativ formalen Lebensdaten geben zwar einen gewissen Überblick über das Leben Schleiermachers sie sind jedoch noch unzureichend für das Verständnis seines Wirkens. Zwei Problemkreise, welche einen Einblick in die Ausgestaltung der weltanschaulichen Positionen Schleiermachers gestatten, seien deshalb herausgegriffen: 1. Das Ringen um den weltanschaulichen Standort während der Zeit der Anstellung an der Berliner Charité (1796–1802); 2. Der politische Reifeprozeß Schleiermachers im Gefolge der Napoleonischen Fremdherrschaft. Wesentliche soziale und geistesgeschichtliche Determinanten der Genese der Auffassungen Schleiermachers treten hierbei hervor. Erst in diesem Zusammenhang eröffnet sich der Zugang zu dem Ideengehalt der Vorlesungen Schleiermachers zur Dialektik. Seine geschichtliche Größe und seine Grenzen werden sichtbar.
Das Ringen um den weltanschaulichen Standort während der Zeit an der Berliner Charité (1796–1802) Im Jahre 1796 kam Schleiermacher als Prediger an die Charité nach Berlin. Bereits im folgenden Jahr machte er die Bekanntschaft mit Friedrich Schlegel, die sich bald zu einer innigen Freundschaft entwickelte und ihn
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in den Kreis der Berliner Frühromantiker führte. Schon in den vorhergehenden Jahren hatte sich Schleiermacher mit Kant, Leibniz, Shaftesbury, Spinoza, Aristoteles, Platon, Rousseau und Montaigne beschäftigt. Nunmehr suchte er in den weltoffenen Berliner romantischen Zirkeln die philosophische Diskussion.143 Fünf Jahre währte dieser enge Kontakt, einschneidend abgebrochen durch die Übernahme einer Predigerstelle in Stolp durch Schleiermacher im Sommer 1802. In der Berliner Zeit entstanden seine beiden, häufig als Hauptwerke bezeichneten Schriften „Reden über die Religion“ (1799) und „Monologen“ (1800), welche deutlich die Einflüsse frühromantischen Gedankengutes zeigen. Ist nun die frühromantische Bewegung an sich schon sehr different und inhomogen gewesen, so ist das Verhältnis Schleiermachers zu ihr noch durch einige wesentliche Besonderheiten gekennzeichnet. Waren die Frühromantiker großen Teils freie Schriftsteller, die in steter Sorge um ihren Lebensunterhalt sein mußten144 , so hatte Schleiermacher als Prediger eine feste Anstellung mit einem festen Einkommen. Er konnte Friedrich Schlegel, der häufig in Geldnot war und sich vergeblich um eine Universitätsstellung bemühte, zeitweilig sogar finanziell unterstützen. Damit unterschied sich die materielle Lage Schleiermachers ganz erheblich von der der meisten Frühromantiker. Ebenso wie die Frühromantiker145 hatte er die Französische Revolution begrüßt, hatte sich 1791 für „das gute Volk“ der Franzosen ausgesprochen146 und seinem Vater 1793 geschrieben, daß er „die französische Revolution im Ganzen genommen sehr liebe; freilich . . . ohne alles, was menschliche Leidenschaften und überspannte Begriffe dabei gethan haben . . .mit zu loben“147 . Bei Schleiermacher zeigt sich jedoch im Gegensatz zur Frühromantik eine Ablehnung des revolutionären Terrors und die Verteidigung der humanistischen These, „daß keine Politik der Welt zu einem Morde berechtige“148 , die sich in der Hoffnung niederschlägt, Deutschland nicht „den unseligen Schwindel einer Nachahmung [dieser Revolution – H.-J. P.] zu wünschen“149 . Mit diesen Auffassungen nähert sich Schleiermacher mehr den bürgerlich-nationalen Strömungen des deutschen Geisteslebens, die für Deutschland auf eine Herbeiführung der Ergebnisse der Französischen Revolution auf dem Wege von Reformen hofften. Ein weiterer Differenzpunkt zur Frühromantik ist Schleiermachers Verhältnis zur Antike und zum Mittelalter. Schon früh interessierte er sich für Platon, Aristoteles, Lucian u. a. Von dem ständig Projekte schmiedenden Friedrich Schlegel läßt er sich in Berlin für eine gemeinsame Platonübersetzung begeistern. Es kommt jedoch nicht über Anfänge in der Zusammenarbeit hinaus, denn Friedrich Schlegel wendet sich in steter Unrast sehr bald wieder neuen Projekten zu und findet über das Studium der indischen Philosophie den Weg zum Katholizismus und
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zur politischen Reaktion.150 Im Gegensatz dazu blieb Schleiermacher ein Leben lang den antiken Idealen verbunden. Seine Platonübersetzung, an deren fünf Bände er von 1802 bis 1809 nun auf sich gestellt arbeitete, bestimmte im 19. Jahrhundert die Platonrezeption in Deutschland maßgeblich.151 Noch in seiner späteren Tätigkeit als Professor an der Berliner Universität hielt er Vorlesungen zur griechischen Philosophie. Eine Orientierung auf das dem Katholizismus verbundene Mittelalter war Schleiermacher schon auf Grund seiner protestantischen Gesinnung und seines Bekenntnisses zur Reformationsbewegung unmöglich. Die Hinwendung zu Platon führte Schleiermacher, im Gegensatz zu seinen frühromantischen Freunden, nicht zu deren spätere Absage an die Dialektik152 , sondern zu ihrer schöpferischen Ausarbeitung. Sein Bemühen um die Fruchtbarmachung der dialektischen Methode für Wissenschaft und Erkenntnistheorie findet Niederschlag in den Vorlesungen zur Dialektik, die, 1811 einsetzend, zurückgreifen auf Ideen, welche bereits 1803 in den „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre“ entwickelt wurden.153 Ein weiterer Differenzpunkt verbindet sich mit der Haltung Schleiermachers und der Frühromantiker zum subjektiven Idealismus. Obwohl auch Schleiermacher unter dem Einfluß der Frühromantiker einen sehr starken Hang zur Innerlichkeit und zur Überhöhung der schöpferischen Individualität aufwies, obwohl er ebenfalls vom Fichteschen Ich tief beeindruckt war, versuchte er stets die Verbindung zur Wirklichkeit zu bewahren. Er teilte nicht die spezifisch ästhetische Fundierung des subjektiven Idealismus der Frühromantiker, leugnete den direkten Weg von der Kunst zur Religion und hielt sich überhaupt von der Poesiekonzeption der Romantik zurück. „Wer nun aber die Philosophie und das Leben so streng trennt, wie Fichte thut“ schreibt er an Brinckmann, „was kann an dem Großes sein? Ein großer einseitiger Virtuose, aber wenig Mensch.“154 Fichte, so kritisiert er, räume der Individualität des Menschen keinen Platz ein. Zum Ärger seiner frühromantischen Freunde ist Schleiermacher Prediger. Gleichwohl steht er mit der zeitgenössischen protestantischen Theologie auf dem Kriegsfuß. Schon 1789, Auffassungen seiner „Reden zur Religion“ (1799) teilweise vorwegnehmend, schreibt er zur Ablehnung der christlichen Dogmatik an Brinckmann: „Ohne sie [die Dogmatik – H.-J. P.] würde meiner Meinung nach das Christenthum gar nicht das geworden sein, was es ist, es würde vielleicht lauter Nutzen und gar keinen Schaden gestiftet haben“155 . Dessen ungeachtet legt er 1790 seine theologische Prüfung in Berlin ab. Die in der Jugend erfahrene Herrnhuterische Frömmigkeit hinterläßt weiterhin ihren Eindruck auf Schleiermacher. Beeinflußt durch Ideen Rousseaus und Herders entwickelt er eine ethische Konzeption des
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Wertes der Individualität, die ihren Ausdruck findet in seiner Gefühlsund Anschauungsreligion. Gefördert wird diese Auffassung durch die Absage an den wirklichkeitsfremden Rationalismus, durch die Absage an die (spieß)bürgerliche Vernunft in Deutschland während der Zeit der Französischen Revolution. Ähnlich wie der junge Hegel versucht Schleiermacher über die Religion die Ergebnisse der Französischen Revolution auch auf Deutschland zu übertragen. Wie Hegel156 sagt er sich vom kategorischen Imperativ Kants los und huldigt einem mystischen anthropologischen Pantheismus und Spinozismus. Er sucht die Religion sich zu erhalten und verlegt sie in das Gebiet der Anschauung und des Gefühls. In seiner Auffassung der Religion als „Anschauen des Unendlichen“157 kommen Gedanken der Frühromantik zum Tragen. Während bei den Aufklärern die Religion „vernünftig“ werden sollte, Gott dem Menschen mit dem Verstande erfaßbar und damit die Religion Zielpunkt für das sittliche Leben, für eine bürgerliche Sittlichkeit werden sollte, ist für Schleiermacher die Religion, deren Wesen er jedoch im Gefühl findet, der Impuls für die Sittlichkeit. Bleibt indes die Religion auf die „Anschauung des Universums“ und das dieses begleitende Gefühl beschränkt158 , so birgt sie selbst keine ethischen und philosophischen Aussagen mehr und ist gesondert von Ethik und Philosophie. Mit der sich aus dieser Konzeption ergebenden Transformation der religiösen Begriffe befördert Schleiermacher eine Religionsauffassung, die der Freiheit und dem Fortschritt der Wissenschaft breiten Raum läßt und die gleichzeitig das Streben des Bürgertums nach Freiheit, Selbsttätigkeit und Individualität auf eine liberale Art zum Ausdruck bringt. Die erste Ausgestaltung dieser Auffassungen findet sich, modifiziert durch die frühromantischen Einflüsse, in der bereits genannten Schrift „Reden über die Religion“, der die „Monologen“ zur Seite gestellt werden müssen, da Teile ihrer Gedanken „nachweislich schon vor den Reden konzipiert waren“159 . Schleiermacher greift in Gestalt dieser Schriften mit einem eigenständigen Beitrag in den sogenannten „Atheismusstreit“ ein.160 Bereits bei der Konzipierung war Schleiermacher klar, daß die Schrift den Vorwurf des Atheismus einbringen würde.161 Gott und Unsterblichkeit sind für Schleiermacher keine notwendigen Bedingungen der Religion mehr162 , und er geht daran, den „gemeine[n] Begriff“ der Religion „völlig zu vernichten“163 . Die Verquickung von Religion, Moral und Metaphysik wäre für alle drei Bereiche schädlich, darum müsse jede endlich ihr eigenes Gebiet bekommen. „Auch herrschen möchte sie [die Religion – H.-J. P.] nicht in einem fremden Reiche: denn sie ist nicht so eroberungssüchtig, das ihrige vergrößern zu wollen.“164 Der Religion geht es nach Schleiermacher um das „Grundgefühl der unendlichen und lebendigen Natur, deren Symbol Mannigfaltigkeit und Individualität ist“165 . Sie greift Raum, wenn Wissenschaft und Künste
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die Welt menschlich gestaltet haben. Getragen von einem tiefsitzenden Erkenntnis- und Gestaltungsoptimismus kommt er zu dem Schluß, daß die Zeit kommen wird, da „Wissenschaft und Künste . . . uns diese toten Kräfte werden dienstbar machen, . . . die körperliche Welt und alles von der geistigen, was sich regieren läßt, in einen Feenpalast verwandeln . . ., wo der Gott der Erde [d. i. der Mensch – H.-J. P.] nur eine Feder drücken braucht, wenn geschehen soll, was er gebeut. Dann erst wird jeder Mensch ein Freigeborner sein, dann ist jedes Leben praktisch und beschaulich zugleich. . .“166 . Hervorgehoben zu werden verdient in diesem Zusammenhang noch die Auffassung Schleiermachers von der menschlichen Freiheit. Wie Fichte in seiner vorkritischen Zeit, ist Schleiermacher vom mechanischen Determinismus beeinflußt und tritt ein für den „absoluten Kausalzusammenhang innerhalb der Welt, in den der Mensch einbezogen ist. Bei ihm dürfen wir sogar eine viel energischere direktere Einwirkung Spinozas, annehmen . . .“167 . Andererseits ist ihm, unter dem Einfluß Fichtes, die Freiheit des Menschen das Höchste: „So bist du Freiheit mir in allem das ursprüngliche, das erste und innerste.“168 In der Synthese beider Auffassungen entfaltet sich nun die Weltanschauung Schleiermachers: Der Mensch wächst auf, unter den Gesetzen des Universums stehend und von ihnen gestaltet. Das Universum wirkt auf das Individuum und dieses muß werden, wie ihn jenes bildet. Ziel des Universums sei es jedoch „eigene Wesen“ hervorzubringen, ein Ziel, welches das Individuum durch Frömmigkeit erkennt, welches ihm durch die Selbstanschauung bewußt wird.169 Die Ausbildung der individuellen Eigenart sei damit im Einklang mit dem Wirken des Universums. Entwickelt nun der Mensch seinen Charakter, so ist er frei – nicht als sinnliches Wesen frei vom Universum (wie bei Fichte), sondern frei als sittliches Wesen, in freier Selbstbestimmung. Durch die Anschauung des Universums, durch die Religion, offenbare sich ihm gleichzeitig ein Wesen, das ihm weit überlegen ist. Damit ergibt sich ein Ziel: Entwicklung der eigenen freien Individualität. Die Personifikation und Verendlichung dieses Wesens ist nun Gott und diese Gottheit hat „die Wahrheit einer schönen Allegorie auf das was der Mensch sein soll“170 . Das Verständnis des Universums werde dem Individuum am deutlichsten in dessen geistigen Geschöpfen, den Menschen. Für den Frommen ist daher nach Schleiermacher jeder Mensch eine Darstellung des Universums, stellt „jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit [dar] in einer eignen Mischung ihrer Elemente . . .“171 . Im Austausch der Menschen untereinander lernen sie tiefer in das Wesen des Universums einzudringen und es auf eigene Weise zu verkörpern. In der gegenseitigen Bildung der Menschen zur Vervollkommnung der eigenen Individualität brauchen die Menschen daher einander. Jeder soll ein „Kompendium der
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Abb. 45. Der junge Schleiermacher
Menschheit“172 werden. Indem der Mensch so sich selbst erkennt, wird er ein freier und starker Charakter und erreicht das Ziel der Sittlichkeit. Damit ist aber gleichzeitig ein sittliches Leben nur in der Gemeinschaft Gleichgesinnter möglich. Hatte Fichte in seinem philosophischen System Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gefordert und zum Ausdruck gebracht, so blieb bei Schleiermacher nur die Freiheit und die Brüderlichkeit – die revolutionäre These von der bürgerlichen Gleichheit wurde durch die nachrevolutionäre liberale These von der vollen Entfaltung der Individualität – in der Wiederaufnahme Herderscher und Goethescher Gedanken – ersetzt und somit der Anschluß an den Neuhumanismus gefunden. Der Subjektivismus Schleiermachers, der sich unter dem Einfluß der Romantiker verstärkt hatte, wird aber ständig überlagert von dem Gedanken der Menschheit, der Einheit der Menschen: „Je mehr sich jeder dem Universum nähert, je mehr sich jeder dem andern mitteilt, desto vollkommner werden sie eins; keiner hat ein Bewußtsein für sich, jeder hat zugleich das des andern, sie sind nicht mehr nur Menschen sondern auch Menschheit, und aus sich selbst herausgehend, über sich selbst triumphierend . . .“173
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Stark subjektiv-idealistische Züge, von denen besonders auch die beiden letzten Teile der Monologen geprägt sind, verbinden Schleiermacher mit resignativ-weltabgewandten Tendenzen der Frühromantiker. Die Projektion einer besseren Welt in die Zukunft und der Versuch daran durch die Religion mitzuwirken, läßt ihn aber die Fäden zur wirklichen Welt nie ganz verlieren. Mit den Romantikern und Fichte stimmt er ein in den Jammer über die deutsche Misere: „Beuge dich o Seele dem herben Schiksal, nur in dieser schlechten und finstern Zeit das Licht gesehn zu haben. Für dein Bestreben, für dein inneres Thun ist nichts von einer solchen Welt zu hoffen! nicht als Erhöhung, immer nur als Beschränkung deiner Kraft wirst du deine Gemeinschaft mit ihr empfinden müssen.“174 „O mitten im Reichthum beklagenswerthe Armuth! Hülfloser Kampf des Bessern, der die Sittlichkeit und Bildung sucht mit dieser Welt, die nur das Recht erkennt . . .“175 Die Äußerungen zeigen jedoch gleichzeitig, welche Bedeutung diese seine Welt für ihn hat und daß er sich den Glauben an eine bessere Zukunft nicht nehmen läßt: „Wie tief im Innern ich das Geschlecht verachte, das so schamlos als nie ein früheres gethan sich brüstet, den Glauben kaum an eine bessere Zukunft ertragen kann, und schnöde Jeden, der ihr angehört, beschimpft . . .“176 „. . . dass nichts, was mir begegnet der eignen Bildung Wachsthum zu hindern, und vom Ziel des Handelns mich zurückzutreiben vermag; der Glaube ist lebendig in mir durch die That“177 . Auf den Glauben und der aus ihm folgenden Tat gründet sich die sittliche Weltanschauung bei Schleiermacher, da ihm die Ideale der „ewigen“ Vernunft in der Französischen Revolution und im bürgerlichen Alltag gescheitert sind. Es paart sich hier Resignation mit dem verhaltenen Optimismus eines neuen Versuches der Gestaltung der Welt. Ziel aller Arbeit der Menschheit ist für Schleiermacher die Erhöhung ihrer sittlichen Gemeinschaft. Dem sollen Kirche, Staat und Ehe dienen. Da diese sittliche Gemeinschaft jedoch in Deutschland an der Wende zum 19. Jh. für Schleiermacher in keiner Weise zu verwirklichen ist und er sie nur im engsten Freundeskreis zu haben glaubt, wird er gezwungenermaßen ein „prophetischer Bürger einer spätern Welt, zu ihr durch lebendige Fantasie und starken Glauben hingezogen, ihr angehörig jede That und jeglicher Gedanke“178 . Aus diesem tief verwurzelten Glauben an den Fortschritt der Menschheit nimmt er in den späteren Jahren die Kraft für ein aktives kämpferisches Eintreten für die Durchführung und Verteidigung bürgerlicher Reformen gegen den erbitterten Widerstand der feudalen Reaktion. In diesem Zusammenhang kann es nicht all zu sehr verwundern, daß Emil Fuchs, einer der herausragenden Religiösen Sozialisten der Weimarer Zeit, seinen Zugang zu Marx über Friedrich Schleiermacher fand.179
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Der politische Reifeprozeß Schleiermachers – Besinnung und Parteinahme Schleiermachers Differenzen zu Friedrich Schlegel, dem Hauptvertreter des Berliner frühromantischen Kreises, überwogen bald die Gemeinsamkeiten. Schon kurze Zeit nach dem Erscheinen der Monologen äußert sich Schleiermacher in einem Brief vom Dezember 1801 über seine neuen Absichten: „Den Platon abgerechnet werden wir also eine Zeitlang in unsern litterarischen Arbeiten ganz verschiedene Wege [gehen]. Er wird durch Poesie die Darstellung seiner ziemlich poetischen theoretischen Philosophie vorbereiten, und ich werde meine praktische Philosophie [Hervorheb. – H.-J. P.] in verschiedenen Werken darlegen . . .“180 . Die Relativierung seines Verhältnisses zu Friedrich Schlegel tritt in der Folgezeit stärker hervor.181 Der kräftige, auf praktische Veränderungen gerichtete Wesenszug Schleiermachers, der ihn von den Frühromantikern des Jahres 1802 trennt, tritt in der Stolper Zeit wieder verstärkt hervor und stellt ihn an die Seite Fichtes. Es geht ihm nicht um theoretische Systeme, die beziehungslos zur Wirklichkeit ersonnen werden, sondern um tätige Teilnahme an der Vermenschlichung des Menschen: „Über die Vollendung einer Schrift, die kein bloßes reines Kunstwerk ist“, schreibt er in einem Brief aus dem Jahre 1803, „sondern auf die Denkungsart und die Ansichten des Menschen Einfluß haben soll, muß man nicht zu bedenklich sein; sie erscheint entweder zu der Zeit, wo sie eingreifen und nützen könne, oder sie werde gar nicht geschrieben.“182 In der Isolation von jeglichem wissenschaftlichen Umgang, welche die 1802 erfolgende Abschiebung auf eine Predigerstelle in Stolp (Pommern) mit sich führte, beginnt er mit der Arbeit an einem Werk zur Kritik der Sittenlehre, sich mit Kant, Fichte, Spinoza, Platon und Helvetius intensiv auseinandersetzend. Kam unter dem Einfluß der Frühromantiker das individuelle Moment der Selbstübersteigerung des Fichteschen „Ich“ in seinen Auffassungen stärker zum Tragen, so tritt zunehmend wieder das Moment der freien menschlichen Gemeinschaft hervor. Nach der Überwindung einer tiefen persönlichen Krisis, verursacht durch die unerfüllte Liebe zu Eleonore Grunow, der Frau eines befreundeten Predigers in Berlin, findet sich im Sommer 1803 der Versuch eines Neubeginns.183 Schon im November 1803 beweist er zur „poetischen Schule“ der Frühromantiker einen kühlen Abstand.184 Wir finden ihn näher zu Schelling hinneigend und mit dem Prinzip der „Individuation des Identischen“ als Grundprinzip der Welt Kerngedanken seiner Sittenlehre und Dialektik formulierend. Zunehmend findet er seinen Erkenntnisoptimismus wieder: „Allein jedes Leben ist ein beständiges Werden“, schreibt er an Henriette Herz; „es soll kein Stillstand darin sein, es
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soll weiter kommen und in ununterbrochener Entwicklung fortschreiten.“185
Schleiermacher zum philosophischen Systembau (Schelling und Fichte) „Das Ausgehn von der Individualität bleibt aber gewiß der höchste Standpunct, da er zugleich den der Allgemeinheit und der Identität in sich schließt. Ist denn die ganze Welt etwas anders als Individuation des Identischen? Und kann man sie also erreichen, wenn man, wie Schelling trotz seines Rühmens von der Indifferenz meines Erachtens nach thut, sich nur auf den einen Pol stellt? . . . Mir ist es nemlich immer verdächtig, wenn jemand von einem einzelnen Punkt aus auf sein System gekommen ist. So Fichte offenbar nur aus dialektischem Bedürfniß um ein Wissen zu Stande zu bringen, daher er nun auch nichts hat als Wissen um nichts als das Wissen; . . . Schelling nun geht es wol eben so mit der Natur. Freilich wer die Natur wirklich construirt hätte! aber wer eine vorher wollte so und so, mag schwerlich die rechte haben.“186 (An Brinckmann, 14. 12. 1803)
Schleiermacher hat während seiner Stolper Zeit mit den gleichen Problemen gerungen wie bisher: um die Verwirklichung der menschlichen Individualität in der Gemeinschaft. Er kritisiert die „offenbar Infamen“ unter den Pfaffen, die „so lange die Pfarren noch 1000 Thl. eintragen“ bleiben werden und deren „gänzliche Verschlossenheit für alles Höhere, die ganze niedere sinnliche Denkungsart“187 ihn empört. Er geißelt die deutschen Philister, die „gewöhnlich den Himmel leer lassen, nämlich die Fantasie . . . Sie haben’s nur immer mit der Vernunft, und zwar mit der auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichteten, in welchen allein sie leben, weben und sind . . .“188 . In der Predigt sah er die letzte verbliebene Möglichkeit, unter den gegebenen Zeitverhältnissen die Menschen zu ändern: „Das Predigen ist jetzt das einzige Bild von persönlicher Wirkung auf den gemeinschaftlichen Sinn der Menschen in Masse. Es ist freilich der Realität nach nur ein ziemlich leeres Bild; denn es wird wenig gewirkt; aber wenn einer redet, der die Sache nimmt und behandelt, wie sie sein soll, und nicht, wie sie ist, und man sich dann nur zwei oder drei denken kann, die wirklich hören, so muß es doch eine schöne Wirkung machen.“189 Schleiermacher strebte in den folgenden Jahren stets die Einheit von Kanzel und Katheder an. Aus Halle schreibt er 1805: „Das kann ich aber recht lebendig hoffen, durch das Verhältnis meiner Kanzelvorträge zu meinen Vorlesungen den Studirenden das Zusammentreffen der Spekulation und der Frömmigkeit recht anschaulich zu machen; und sie so von beiden Arten zugleich zu erleuchten und zu erwärmen.“190 Zur Anregung des Gefühls und des Gemüts dient ihm die Kanzel; das Katheder beschränkt sich auf Vernunft und Raisonnement.
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Abb. 46. Henrik Steffens (1773–1845)
Das Wirken Schleiermachers an der Hallenser Universität ist als Übergangszeit zu sehen. Wesentlich tritt die Freundschaft mit Steffens hervor, der für ihn „ein wahrer Priester der Natur“191 ist und durch den er inniger mit der Schellingschen Naturphilosophie in Berührung gebracht wird: „Ich halte ihn für den Tiefsten aus der ganzen Schule, und bei dem sich die Philosophie an wenigsten einseitig gebildet hat, in welcher Hinsicht ich ihn sogar Schelling vorziehe“192 , schreibt er im Dezember 1804 an G. v. Brinckmann. Er baut seine praktische Philosophie aus und hält Vorlesungen zur philosophischen Ethik, in die naturphilosophische und identitätsphilosophische Gedanken einfließen. Noch immer ist jedoch die Verwirklichung einer wirklich humanistischen Welt in die Zukunft projiziert. Die Niederlage der preußischen Armee in der Schlacht gegen die Napoleonische bei Jena und Auerstädt im Oktober 1806 war der entscheidende Anlaß für Schleiermacher wie für viele bürgerliche Patrioten, den Träumereien zu entsagen und sich aktiv mit den Problemen zu beschäftigen, die die Geschichte auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Schleiermacher sah in Napoleon den „Tyrannen“193 . Er sah den Krieg Napoleons gegen Deutschland nur insofern als positiv an, als daraus eine „innere Erneuerung“ Deutschlands hervorgehen könnte. Er sah in Napoleon den Zerstörer, der durch Zerstörung „mithalf“,
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die fortschrittlichen Kräfte in Deutschland zu aktivieren. Schon im Juni 1806 orakelte er: es stehe bevor ein „allgemeiner Kampf, dessen Gegenstand unsere Gesinnung, unsere Religion, unsere Geistesbildung nicht weniger sein werden als unsere äußere Freiheit und äußern Güter . . . ein Kampf, . . . den die Völker mit ihren Königen gemeinschaftlich kämpfen werden . . .“194 . Doch sind auch zeitkritische und über die Gegenwart hinausweisende Gedanken anzutreffen. Er schreibt über Deutschland: „Alles Politische aber, was bis jetzt bestand, war, im Großen und Ganzen angesehn, ein unhaltbares Ding, wie leerer Schein, die Trennung des Einzelnen vom Staat und der Gebildeten von der Masse viel zu groß, als daß Staat und Masse hätten etwas sein können. Dieser Schein muß verschwinden, und nur auf seinen Trümmern kann die Wahrheit sich erheben. Eine allgemeine Regeneration ist nothwendig . . .“195 Sich in der Rolle eines Märtyrers sehend, steht Schleiermacher auf der Kanzel und ruft das Volk zum Widerstand gegen die französischen Unterdrücker auf, fördert das Selbstbewußtsein des zweiten und dritten Standes. Im aktiven Eingreifen in das politische Geschehen, in die tobenden „Parteikämpfe in Deutschland“ wächst Schleiermachers politische Reife entschieden. Sein bisher unterdrückter Trieb zum aktiven Handeln kann sich nun voll entfalten, und die endgültige Loslösung von weltanschaulich-kontemplativen und resignativen Zügen der Frühromantik geht vor sich. So schreibt er im Herbst 1807: „Die einzelnen kleinen Verhältnisse des Lebens verschwinden ganz neben dem großen Schauspiel. Das Kleinste, was ich in diesem wirken könnte, würde mich jetzt mehr freuen, als das Größte in meinem besonderen Kreise.“196 Die Hoffnungen auf ein neues Deutschland radikalisieren sich zugleich: „Um ein neues Deutschland zu haben, muß wol das alte noch viel weiter zertrümmert werden.“197 Gleichwohl schwingt er sich nicht zu den radikal-demokratischen Forderungen Fichtes auf. Der Bruch mit der Romantik, die scharenweise in den Katholizismus übergelaufen ist, ist endgültig: „Die Literatur ist fast todt“, schreibt er im Juli 1812 an seinen Jugendfreund G. v. Brinckmann. „Das Katholischwerden aus Weichlichkeit ist mir zu verächtlich . . .“198 . In der Zusammenarbeit mit Freiherrn von Stein, Wilhelm von Humboldt, Ernst Moritz Arndt u. a. gehört er mit zu dem Häuflein bürgerlicher Intellektueller, die damals Geschichte machten.199 An drei Reformwerken hat er aktiven Anteil: Neben den Bemühungen um eine Kirchenreform gehört er zu den aktivsten Wegbereitern der Universitätsreform und nimmt teil an den Reformmaßnahmen auf dem Gebiet des öffentlichen Unterrichts als Mitglied der Sektion für den Kultus und den öffentlichen Unterricht. 1808 veröffentlicht Schleiermacher aus Anlaß der bevorstehenden Universitätsneugründung in Berlin unaufgefordert seine Schrift: „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem
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Sinne nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende“ (Schleiermacher 1808). Wilhelm von Humboldt, der 1809 als Leiter der Sektion für den Kultus und den öffentlichen Unterricht mit der Gründung der Berliner Universität befaßt war, ließ, nachdem ihm die Schrift zur Kenntnis kam, alle bestellten Gutachter fallen und hielt sich nur an Schleiermacher. Drei tragende politische Tendenzen zeichnen Schleiermachers Konzept aus: „Erstens verteidigt Schleiermacher in ihr, getragen von echtem Patriotismus, die nationale kulturelle und wissenschaftliche Tradition der Nation . . . Zweitens tritt er ein für den Grundsatz der Freiheit der Wissenschaften und der Wissenschaftspflege gegenüber staatlicher und kirchlicher Bevormundung. Und drittens fordert er die innere Demokratisierung der obersten Bildungsinstitutionen.“200 Doch bereits 1809 sieht er seine Hoffnungen auf eine Regeneration Deutschlands zerrinnen. Der von den deutschen Patrioten geplante Volksaufstand, an dessen Organisation Schleiermacher aktiven Anteil hatte201 , scheitert an der schmählichen Feigheit und Unentschlossenheit des preußischen Monarchen und den noch unzureichenden Voraussetzungen einer Volkserhebung. Der auf Schleiermachers aktives Betreiben mit gegründete, sogenannte „Tugendbund“, der eine Vereinigung der aktivsten Patrioten war, mußte auf Grund des Verbotes durch Friedrich Wilhelm III. wieder aufgelöst werden. Ebenso blieb der Versuch einer nationalen Erhebung durch Schill vereinzelt und folgenlos. Schleiermacher sieht sich im Gefolge dieser Ereignisse um seine Ideale betrogen: „Unser Preußen kommt mir noch immer vor wie eine schwimmende Insel“, schreibt er im Dezember 1809 an Brinckmann, „die gerade eben so gut versinken als fest werden kann. Die Hoffnung zu einer zweckmäßigen Regeneration des Staates, zu der wirklich vieles sehr schöne eingeleitet war, sinkt immer mehr; und indem man das wenige, was wirklich aufgebaut ist, einzeln wieder untergräbt, so ist früher oder später ein plötzlicher Zusammensturz sehr wahrscheinlich.“202 Er wirkt 1813 besonders intensiv für die Bildung der Landwehr, des Landsturms und der Freiwilligenverbände. In ihrer Beibehaltung für ganz Deutschland sieht er eine der Garantien der nationalen Einheit. Das entschiedene Eintreten gegen den schmählichen Waffenstillstand mit Napoleon (4. Juni 1813) als Redakteur des „Preußischen Korrespondenten“ – der neu geschaffenen politischen Zeitung der Patrioten – bringt ihm den Haß der feudalen Reaktion ein und leitet die Zeit der Bespitzelungen ein, die bis an sein Lebensende währen sollte. Er hoffte auf eine Erneuerung des Krieges, die das Erstarken der reaktionären und halbherzigen Elemente in der preußischen Regierung unterbinden und damit „die wahren Repräsentanten der öffentlichen Meinung allmählich an die Spitze und das Volk zu dem rechten Selbstbe-
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wußtsein bringen sollte, welches jetzt freilich noch sehr verschlossen ist in der Masse“203 . Ein Jahr später schon sieht sich Schleiermacher politisch isoliert und das Volk um die Früchte seines Kampfes betrogen.204 Er fühlt sich unter den „meisten Menschen nicht passend“ mit seinen Ansichten, vermißt „überall das recht klare Hineinschauen in den Geist und die Forderungen der Zeit, das geschichtlich schöpferische Talent“, sieht „überall, daß die Zukunft verdirbt“.205 Schritt für Schritt wird er in den folgenden Jahren – ähnlich wie die anderen Reformer – aus seinen Funktionen verdrängt, und es wird der Versuch unternommen, ihn politisch „kalt zu stellen“. Doch Schleiermacher bleibt in seinen liberalen Auffassungen den bürgerlichen Teilreformen aus der Zeit des Befreiungskrieges von der Napoleonischen Fremdherrschaft verbunden und kämpft ohne Rücksicht auf seine Person gegen deren schrittweisen Abbau. Immer wieder schaltet er sich in die Auseinandersetzungen um die bürgerlichen Rechte und Freiheiten ein. Auf die einsetzende Patriotenverfolgung aus Anlaß der Ermordung Kotzebues reagiert Schleiermacher mit dem Eintreten für den Professor de Wette und erwägt für die Aufrechterhaltung der Turnbewegung und der Universitätsfreiheiten „illegale“ Mittel. Im Verlauf seines politischen Reifeprozesses machte sich Schleiermacher nicht nur die „höhere Geistlichkeit“ zum Feind, sondern zog sich nach eigenen Worten auch die „Feindschaft fast aller derer, die am meisten gelten“206 zu. Auch die Freunde wechselten in dieser Zeit: „Die Herz ist die Einzige aus unserm alten Kreise, die mir in unverändertem Verhältniß übrig geblieben ist“207 , schreibt er 1822 an seinen Jugendfreund Brinckmann. Jetzt sind Neuhumanisten und bürgerlich-liberale Wissenschaftler sowie Politiker wie Alexander und Wilhelm von Humboldt, E. M. Arndt, Georg Reimer u. a. seine Mitstreiter. Im September 1832, eineinhalb Jahre vor seinem Tod, zieht Schleiermacher noch einmal wehmütig politische Bilanz: „Heute habe ich auf der Straße ein langes Gespräch mit Alexander Humboldt gehabt, der als erzliberaler sehr wüthend ist über den gegenwärtigen Stand der deutschen Angelegenheiten. Ich theile das nicht ganz; aber ich bin auch nicht so gar ruhig dabei . . . Es macht mich doch oft wehmüthig, nach so schönen Ansätzen und Hoffnungen unsre deutsche Welt in einem so sehr zweideutigen Zustand zurücklassen zu müssen, wenn ich scheide, wie es doch höchst wahrscheinlich mein Los sein wird . . .“208 Die langwährende Feindschaft zwischen Hegel und Schleiermacher ist eine der Merkwürdigkeiten jener Zeit: War Hegel, der größte Vordenker der revolutionären Umwälzungen des aufstrebenden Bürgertums, im praktischen Wirken Stütze der Reaktion, so war Schleiermacher, der im philosophischen Denken eher unhistorische, der begeisterte und
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begeisternde Praktiker der Emanzipationsbestrebungen des deutschen Bürgertums.
Die Vorlesungen Schleiermachers zur Dialektik Friedrich Schleiermacher hielt seine Vorlesungen zur Dialektik, beginnend 1811, über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren. Ständig war er bemüht, seine Gedanken über diesen Gegenstand klarer und umfassender auszudrücken. So liegen wesentliche Überarbeitungen aus den Jahren 1814, 1818, 1822, 1828 und 1831 vor. Schleiermacher kam jedoch nicht mehr dazu, seinen Wunsch auf Veröffentlichung der Dialektik selbst zu verwirklichen. Erstmals 1839 wurden die Vorlesungen Schleiermachers zur Dialektik von Jonas aus dem Nachlaß der Öffentlichkeit vorgelegt. Diese Ausgabe stellt die Vorlesung aus dem Jahre 1814 in den Mittelpunkt und fügt die Bemerkungen und Entwürfe aus den anderen Jahren als Anhang bei. Das derart vorliegende Werk bereitet dem Leser jedoch vielfältige Verständnisschwierigkeiten, da, wie der Schleiermacherinterpret Wehrung überzeugend nachweist (Wehrung 1920), die einzelnen Entwicklungsstadien der Dialektik, die zudem den mannigfaltigsten äußeren Einflüssen unterlagen, nicht ein organisches und logisches Ganzes darstellen, sondern mehr oder weniger separate Stufen des Ringens um die Bewältigung der Thematik sind. Dies erschwert insbesondere auch die Analyse, welche der Versionen des Schleiermacherschen Dialektik-Entwurfs die Brüder Graßmann besonders inspirierte, da sie nur auf diese Jonassche Kompilation zurückgreifen konnten. Da zudem eine historisch-genetische Erörterung der Gedanken der Schleiermacherschen Verlesungen zur Dialektik den Rahmen dieser Graßmann-Biographie sprengen würde, sollen nur einige wesentliche Akzente und Aspekte der Entwicklung der Dialektik sowie ihres Inhalts aufgegriffen werden, um die ihr innewohnenden Tendenzen anzudeuten und ihre Bedeutung zu umreißen. Die Beschäftigung Schleiermachers mit der Dialektik ist im Zusammenhang mit seinen Bemühungen um die Gründung der Berliner Universität, seinem Eintreten für die Förderung der Wissenschaften während der Zeit der Napoleonischen Fremdherrschaft zu sehen. Getragen von der Auffassung, nichts werde „so stark auf die Ertödtung des Nationalgeistes wirken . . . als die Umwandlung der Unterrichtsanstalten“, trat er aktiv für die Gründung der Berliner Universität als ein „Asyl für deutsche Art und Wissenschaft“209 ein. Gleichberechtigt neben dem Glauben trat das Wissen in den Mittelpunkt der Vorstellungen Schleiermachers von den menschlichen Werten. In seinen „Gelegentliche[n] Gedanken über Universitäten in deutschem Sinne“ (1808) greift er die von der Aufklärung
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ausgearbeitete ethische Wertung der Wissenschaften auf und stellt sie in den Dienst der Erkämpfung eines einheitlichen bürgerlichen Nationalstaates. Die politische Funktion der Wissenschaft für die Emanzipation des Bürgertums wird klar von ihm erkannt: „. . . je mehr sich der Geist der Wissenschaft regt, desto mehr wird sich auch der Geist der Freiheit regen . . .“210 ; Erkennen befreie „vom Dienst jeder Autorität“211 . Ausschlaggebend für die eigenständige Ausarbeitung der Dialektik wird für Schleiermacher die Differenz zu Fichte und, wenn auch schwächer, zu Schelling. So vermerkt er in seinen „Gelegentlichen Gedanken“: es beruhe „das Gedeihen des ganzen Geschäftes darauf, daß es nicht die leere Form der Speculation sei [Hervorheb. – H.-J. P.], womit allein die Jünglinge gesättigt werden, sondern daß sich aus der unmittelbaren Anschauung der Vernunft und ihrer Thätigkeit die Einsicht entwikkele in die Notwendigkeit und den Umfang alles realen Wissens, damit von Anfang an der vermeinte Gegensaz zwischen Vernunft und Erfahrung, zwischen Speculation und Empirie vernichtet . . . werde“212 . Diese Vorstellungen Schleiermachers sind wesentlich geprägt von seiner vorhergehenden Beschäftigung mit der Naturphilosophie und der sich stürmisch entwickelnden Naturwissenschaft, wobei vor allem der Einfluß seiner engen Freundschaft mit dem Naturwissenschaftler und Naturphilosophen Henrik Steffens während seines Wirkens an der Hallenser Universität hervorzuheben ist. Im Ergebnis seiner Opposition gegen die „reine Spekulation“ der Philosophie, gegen die Mißachtung der empirischen Erfahrungen sieht er sich, ähnlich wie vormals Kant, veranlaßt, sich dem Problem des Wissens zuzuwenden. Seine Philosophie erschöpft sich für ihn in der Lösung dieses Problems. Damit wird sie für Schleiermacher zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie (im weiteren Sinne). Zum einen soll sie sich mit dem Zusammenhang aller Erkenntnisse und zum anderen mit der Natur der Erkenntnis selbst beschäftigen.213 Neben diesen beiden Aspekten tritt bei Schleiermacher als dritte Seite der Philosophie die „dialektische Kunst“ hinzu214 , die für ihn die Methode der Wissensfindung repräsentiert und später in der „technischen Seite“ seiner Dialektik zur Darstellung kommt. Aus dem bisher Festgestellten ergibt sich, daß die Schleiermachersche Dialektik – ausgehend vom Erbe der klassischen bürgerlichen Philosophie und geprägt vom Ringen um die theoretische Bewältigung des stürmischen Fortschritts der Naturwissenschaften – in einer Zeit der „wirklichen Parteikämpfe“, einer Zeit des Kampfes der bürgerlichen Reformer gegen die rückständigen gesellschaftlichen Verhältnisse Deutschlands mit eindeutig politischem Anliegen an die Öffentlichkeit trat. Hieraus schöpft die Dialektik Schleiermachers ihre Progressivität. Wie Kants „Kritik der reinen Vernunft“ stellt sie sich die Aufgabe, Empirismus und Rationalismus zu vereinen, wobei sie sich auf das dialektische Denken
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der neueren Philosophie stützt. Doch Schleiermacher scheiterte an der Größe des Problems und der Inkonsequenz der Lösung dieser Aufgabe, die ihn zu beständigen Umarbeitungen seines Systems trieb. Die Dialektik Schleiermachers war aus diesem Grunde nur ein Durchgangspunkt in der Philosophiegeschichte und wurde, kaum entstanden, in großen Teilen durch die politischen Implikationen der Philosophie Hegels und das Gewicht der Philosophie Kants bei der dem Entwicklungsdenken noch fernstehenden Naturwissenschaft zu Unrecht ad acta gelegt.
Friedrich Engels über Friedrich Schleiermacher (1839) „. . . er ist ein großer Mann gewesen, und ich kenne unter den jetzt Lebenden nur einen, der gleichen Geist, gleiche Kraft und gleichen Mut hat, das ist David Friedrich Strauß.“215
Auffassungen der verschiedensten philosophischen Systeme waren von Schleiermacher verarbeitet worden. Gedanken Platons, Spinozas, Herders, Kants, Fichtes und Schellings wurden aufgegriffen und zu einem neuen Ganzen verschmolzen. Diese zuweilen sehr verschiedenartigen Elemente, riefen in der Schleiermacherschen Synthese jedoch ständig neue Widersprüche hervor, und es gelang ihm nicht, ein einheitliches philosophisches System zu entwerfen. Von dem ständigen Ringen um Form und Inhalt zeugen die vielfältigen Neuentwürfe. Wesentlich unverändert in dieser ganzen Zeit blieb jedoch die Zielstellung der Dialektik: Kampf gegen die spekulative Philosophie – wenn sich auch Schleiermacher selbst nur unvollständig von der Spekulation lösen konnte – und Bemühen um die Sicherung eines „freien“ Nebeneinander von Wissenschaft und Religion: „Immer ist es die Selbstisolierung der Philosophie, die bekämpft wird: im Anfang die Isolierung von der Humanität, vom Leben überhaupt, vom werktätigen Schaffen, von der Poesie im Ursinn des Wortes . . ., nachher [in der Dialektik – H.-J. P.] . . . die Isolierung von der realen Wissenschaft“, betont Wehrung bei der Analyse des Platzes der Dialektik im Schaffen Schleiermachers.216 Die Dialektik Schleiermachers sucht die Antwort auf die Frage: Wie ist ein objektives Wissen möglich? Sie bewegt sich daher vorrangig im Rahmen der subjektiven Dialektik. Das Wesen seiner Dialektik bestimmt Schleiermacher dabei selbst sehr unterschiedlich. Zum einen versteht er sie als Gesamtheit der „Principien der Kunst zu philosophiren“217 , zum anderen ist sie für ihn „Organon des Wissens, d. h. der Siz aller Formen seiner Construction“218 . Als dritte Bestimmung gesellt sich hierzu noch das Zurückgehen auf die antike Dialektikvorstellung, wobei Dialektik von Schleiermacher verstanden wird als „Auflösung des Denkens in
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Sprache, daß vollständige Verständigung dabei ist, indem man dabei immer die höchste Vollkommenheit, die Idee des Wissens im Auge hat“219 . Schleiermachers Grundanliegen zielt damit nicht auf die Aufstellung eines abstrakt-theoretisierenden Systems, sondern auf die Ausarbeitung einer praktisch anwendbaren Methodologie der Wissensfindung. Sämtliche theoretische Reflexionen über die Bedingungen des Wissens und seines Charakters sind daher nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Auffindung von Regeln seiner wirklichen Erlangung im Erkenntnisprozeß. „Die Regeln der Verknüpfung, wenn man sie wissenschaftlich besizen will“, betont Schleiermacher, „sind nicht von den innersten Gründen des Wissens zu trennen. Denn um richtig zu verknüpfen, kann man nicht anders verknüpfen als die Dinge verknüpft sind, wofür wir keine andere Bürgschaft haben als den Zusammenhang unseres Wissens mit den Dingen.“220 Der Denkeinsatz Schleiermachers erfolgt in der Auseinandersetzung mit dem subjektiven Idealismus Fichtes: „Ein bloß positives Ich und bloß negatives Nichtich geben in keinem Sinn eine Welt.“221 „Denn wenn die organische Thätigkeit von der Vernunftthätigkeit abstammt: so machen wir die organischen Eindrükke selbst.“222 Die Lösung der grundlegenden Aufgabe, „das Wissen vom unbestimmten willkührlichen Denken“223 zu trennen, ist nur möglich, wenn der Inhalt des Denkens als unabhängig vom Denken gesetzt wird. Unter diesen Voraussetzungen erfolgt bei Schleiermacher die Rückwendung zu Ideen Kants, die Wiederaufnahme der Trennung von Verstand und Sinnlichkeit im Denken. Schleiermacher nennt diese beiden Seiten je nachdem Vernunft und Organisation, intellektuelle Funktion und organische Funktion bzw. Vernunft und Sinnlichkeit. Das Denken ist ihm das gemeinsame Ergebnis von Vernunft und Organisation, wobei die Vernunft auf die Bestimmung geht, die Organisation auf die Belebung – wobei die Vernunft die Form, und die Organisation den Stoff gibt. Doch stärker noch als Kant sieht er die Notwendigkeit des „organisch Affiziertseins“ ein. Die äußere Welt ist ihm nicht nur ein „Ding an sich“, sondern die wirkliche Totalität in ihrer Gegensätzlichkeit. Das Kriterium der Wahrheit wird damit die Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein. So sieht sich der immanenzphilosophisch ausgerichtete
Schleiermacher zum Verhältnis von Denken, Sein und Wissen „In jedem Denken wird ein gedachtes außer dem Denken gesezt.“224 Wissen „ist dasjenige Denken, welches dem Sein entspricht.“225 Wissen ist „Uebereinstimmung des Gedankens mit dem Sein“.226 „Jeder Gedanke, der zwar auf ein außer ihm geseztes bezogen, aber nicht als übereinstimmend gesezt wird, ist kein Wissen.“227
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Wehrung bei der Analyse der Schleiermacherschen Dialektik gezwungen zu konstatieren: „Das zähe Festhalten an der Ursprünglichkeit der Sinnesfunktion neben der Vernunft kehrt wieder als feste Ueberzeugung von der Wirklichkeit eines dem Denken erst seinen Inhalt spendenden, dem Wissen Unabänderlichkeit verleihenden Seins.“228 Auch in der Raum- und Zeitauffassung Schleiermachers spiegelt sich sein gnoseologisches und historisches Hinausgehen über Kant wider. Raum und Zeit werden nicht wie bei Kant nur als Formen der sinnlichen Anschauung bestimmt229 , sondern auch den äußeren Dingen objektiv zugeschrieben. Jedes objektive Sein, das unter der Form des Gegensatzes steht, existiert für Schleiermacher notwendig in Raum und Zeit.
Zur Modernität des Schleiermacherschen Raumbegriffs „Raum und Zeit sind die Art und Weise zu sein der Dinge selbst, nicht nur unserer Vorstellungen.“230 Es gibt keinen leeren Raum, „wenn er auch nicht mit Materie erfüllt ist, so ist er mit Action erfüllt. . . . Der Raum ist das Außereinander des Seins, die Zeit das Außereinander des Thuns. Der innere Raum oder erfüllte Raum repräsentirt die Mannigfaltigkeit des Dinges in der Einheit seines Seins. Jeder erfüllte Raum repräsentirt einen inneren Gegensaz; wo dieser aufhört . . . da ist auch kein Raumverhältniß.“231
Die Möglichkeit der Übereinstimmung so ungleichartiger Größen wie Denken und Sein wird von Schleiermacher nicht theoretisch postuliert, sondern aus der inneren empirischen Erfahrung des Selbstbewußtseins gewonnen. Im Selbstbewußtsein findet der Mensch nach Schleiermacher die unmittelbare Identität, die unmittelbare Übereinstimmung des eigenen Seins mit dem eigenen Denken. Aus dieser Übereinstimmung extrapoliert Schleiermacher die Möglichkeit und Notwendigkeit der Übereinstimmung des äußeren Seins mit dem Denken, auf die sich die wahre Erkenntnis gründet: „Man könnte sagen, Uebereinstimmung des Gedankens mit dem Sein sei ein leerer Gedanke wegen absoluter Verschiedenartigkeit und Incommensurabilität beider. Allein im Selbstbewußtsein ist uns gegeben, daß wir beides sind, Denken und gedachtes, und unser Leben haben im Zusammenstimmen beider.“232 Diese materialistisch anmutende These wird jedoch sehr schnell umgebogen in die Auffassung der Schellingschen Identitätsphilosophie. Aus der Identität des Idealen und Realen, des Ideellen und Materiellen im menschlichen Sein wird auf die Identität des Idealen und Realen im „Urgrund allen Seins“ geschlossen. Die Auffassung von der Identität des Materiellen und Ideellen im absoluten Sein ist bei Schelling und Schleiermacher im wesentlichen gleich. Verschieden ist jedoch der erkenntnis-
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theoretische Ausgangspunkt beider. Schelling kommt zur Identität über die intellektuelle Anschauung;233 Schleiermacher über die innere Erfahrung. Der nachhaltige Einfluß der Schellingschen „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“, besonders der ersten Verlesung,234 ist indes unverkennbar. Das Prinzip des Zusammenstimmens von Idealem und Realem wird aber von Schleiermacher nicht nur nach außen hin, in Anwendung auf die Natur, verfolgt, sondern auch in das Denken hineingetragen und so die Erkenntnistheorie weiter modifiziert. Vernunft und Organisation, und damit Begriff und „Schema“, entsprechen jeweils dem Idealen und Realen im äußeren Sein. „Da nun die Vernunftthätigkeit gegründet ist im idealen, die organische aber als abhängig von den Einwirkungen der Gegenstände im realen: so ist das Sein auf ideale Weise eben so gesezt wie auf reale, und ideales und reales laufen parallel neben einander fort als modi des Seins.“235 In dieser Auffassung von der Duplizität des Seins kommen verstärkt spinozistische Einflüsse zum Ausdruck. Gleichzeitig tritt der Einfluß Platons hervor, wenn Schleiermacher hierbei vorgibt, daß das System der Begriffe im Intellekt auf zeitlose Weise vorhanden sei und daß es eine natürliche Entsprechung der im Sein sich findenden Abstufung der Kräfte und Erscheinungen mit der vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitenden Ordnung der Begriffsreihen gäbe236 . Wird somit einerseits eine ideale Welt einer realen streng gesondert gegenübergestellt, so wird andererseits wieder betont, daß das reale Wissen in seinem Werden nur in der Identität beider Seiten, der intellektuellen und der organischen Funktion gegründet ist. In diesem Spannungsfeld zwischen Differenz und Indifferenz von Materiellem und Ideellem bei der Erklärung des Verhältnisses von Denken und Sein schwanken die verschiedenen Entwürfe der Dialektik Schleiermachers in sich und untereinander. Gleichzeitig jedoch werden wunderbar dialektische Gedanken entwickelt, wie beispielsweise über die Einheit von Denken und Sprache oder über das Wechselspiel von Vernunft und Sinnlichkeit im Erkenntnisprozeß. Wie für Schelling ist auch für Schleiermacher die Anerkennung der Wirklichkeit als Totalität sich bedingender Gegensätze grundlegend. Für das erkennende Denken ist daher, nach Schleiermacher das Fortschreiten in Gegensätzen eine der Grundfunktionen. Hatte nun Schleiermacher aus der Erfahrung des Selbstbewußtseins auf eine Identität des Denkens und des Seins, des Idealen und des Realen im absoluten Sein geschlossen und war er dabei von der Betrachtung des endlichen menschlichen Seins, auf die Betrachtung des unendlichen „Universums“ übergegangen, so bemüht er sich jetzt, das absolute Sein, das ihm durch Gott repräsentiert wird, begrifflich zu bestimmen. Im Fortschreiten von den konkreten begrifflichen Gegensätzen zu immer allgemeineren trifft er bei dem höchsten Gegensatz von Realem und Idealem auf eine Grenze. Dieser allgemeinste
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Schleiermacher zum Verhältnis von Denken, Sprache und Rede „Die Sprache ist nur durch das Denken und umgekehrt; beide können sich also nur durch einander vervollkommnen.“237 „. . . alles Reden ist ein erscheinendes Denken. [Denken] . . . ist also diejenige innere Geistestätigkeit, die erst durch das Reden eine vollkommene wird.“238 „was ist Denken . . . Antwort: Diejenige Geistestätigkeit, welche sich in der Identität mit der Rede vollendet, und sich auf ein außer der Tätigkeit selbst Gesetztes bezieht.“239 Die Rede „ist von der einen Seite Ausdrukk des Seins, von der andern Verknüpfung des Denkens, und dieselbe Duplicität muß nun auch im Wort sein als in einem Theil der Rede. . . . Jedes Wort ist beides, Zeichen des Seins und Zeichen der Verknüpfung im Denken . . . Die Worte sind entweder materielle Theile der Rede, aber auch in sofern immer Verknüpfungszeichen oder formelle, aber auch in sofern immer zugleich einen Theil des Seins ausdrükkend.“240
Gegensatz ist für Schleiermacher die Grenze, unter die „sich das System der Gegensäze ausdehnt“241 . Nach Schleiermacher ist die Idee des Seins in der absoluten Einheit des Realen und des Idealen dem erkennenden Denken „kein Begriff mehr“242 . „Diese Idee ist also zwar der Materie nach ein Begriff, aber nicht der Form nach.“243 Der Grund hierfür ergibt sich Schleiermacher aus der Analyse der Schwächen des Schellingschen Begriffs des Absoluten. Von der absoluten, gegensatzfreien Identität führt kein Weg zum theoretischen Verständnis der gegensätzlichen Wirklichkeit; in der absoluten Identität finden sich keine Ursachen für die Entfaltung gegensätzlicher Seiten244 . Schleiermacher kommt daher zu der Auffassung, daß die Idee der absoluten Einheit des Seins der Form nach kein Begriff ist, „denn es kann nichts davon ausgesagt werden; sie ist die bloße Sezung, die aber nicht in eine Mannigfaltigkeit, in ein System von Gegensätzen zerlegt werden kann“245 . Der transzendente Grund des Wissens – Schleiermacher benutzt hier Begriffsbildungen Kants – ist damit nicht begrifflich faßbar; er liegt außerhalb der Grenzen der Begriffsbildung. Trotzdem gibt Schleiermacher die Idee der absoluten Einheit des Idealen und des Realen nicht auf, weil damit der Gottesbegriff, welcher diese Einheit repräsentiert, endgültig fallen würde. Nach den vorangehenden Konstruktionen bleibt indes der Gottesbegriff eine leere, wertlose Formel, und Wehrung ist zuzustimmen, wenn er über Schleiermachers Dialektik feststellt, daß für Schleiermacher „Die Gottheit mit den gefundenen Grenzen [der Begriffs- und der Urteilsbildung – H.-J. P.] keineswegs identisch sei, sondern außerhalb ihrer stehe; er kann die Gottheit nicht eigentlich beweisen, sondern muß bei der Erklärung halt machen: ist eine Gottheit, so dürfen ihr keine endlich-sinnlichen Wesenszüge beigelegt werden; für den Menschen ist sie demnach ein
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‚Nichts‘246 . . ., d. h. ein Nicht-Etwas, unaussagbar. Jeder Versuch, sie vorzustellen, zieht sie herab in einen ihr schlechthin fremden Kreis“247 . Schleiermacher schreitet somit weiter auf dem schon in den „Reden über die Religion“ betretenen Weg der Zersetzung der Religion im Namen der Wiederbelebung der Religion. Die dabei notwendig auftretenden Inkonsequenzen und Widersprüche gaben später vielfältigen Anlaß, ihn teils unter linkshegelanischen Vorzeichen – so Strauß und Feuerbach – teils unter lebensphilosophischen Vorzeichen – so Nietzsche und Schopenhauer – zu „korrigieren“.
Schleiermacher zum Ziel der Dialektik Das Ziel der Dialektik ist, „. . . das einwohnende Sein Gottes als das Princip alles Wissens, aber dieses Princip nicht anders haben wollen als in der Construction des realen Wissens.“248
In dem Versuch, die Hauptformen der Wissenschaften aus diesem transzendenten Grund, aus der Idee Gottes, wirklich zu bestimmen und zu klassifizieren, ist Schleiermacher gezwungen, der Idee Gottes noch die „Idee der Welt“ zur Seite zu stellen. Gott und Welt werden als Gegensätze gefaßt; sie sind für Schleiermacher nicht identisch: „Denn im Gedanken ist die Gottheit immer als Einheit gesezt ohne Vielheit, die Welt aber als Vielheit ohne Einheit.“249 Indes, so stellt er weiter fest, wir können „keine Vielheit wirklich sezen, ohne sie . . . auf eine bestimmte Einheit zurückzuführen“250 , und er kommt zu der Relativierung der obigen Feststellung, indem er die Welt auch als Einheit setzt, sofern sie die „Totalität der Gegensäze“251 ist. Die klarste Formel, zu der sich Schleiermacher in seinem Bemühen um die Vermeidung eines offenen Bekenntnisses zum Pantheismus durchdringen kann, ist: „Gott = Einheit mit Ausschluß aller Gegensätze; Welt = Einheit mit Einschluß aller Gegensätze.“252 Sollen nun Gott und Welt beide transzendente Ideen sein, so ist ihre Transzendenz für Schleiermacher nicht vergleichbar. Die Idee der Welt kann nach Schleiermacher im Erkenntnisprozeß immer mehr approximiert werden; die Gottesidee ist dem Denken des Menschen unerreichbar. Nur im Gefühl kann sie erfaßt werden.253 Wird nun die Gottesidee von Schleiermacher als Möglichkeitsgrund des Wissens verstanden (als theoretisch konstitutives Prinzip) und die Weltidee als Norm, als Maßstab des objektiven Wertes des Wissens (als praktisch konstitutives Prinzip)254 , so ist dies die praktische Absage an jegliche Bedeutung des Gottesbegriffes für den wirklichen Erkenntnisprozeß. Robert Graßmann, Hermanns Bruder, kommt daher auch zu der Auffassung, daß Schleier-
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macher als Denker faktisch Atheist ist: „Wir wissen nach ihm nicht von einem Sein Gottes auserhalb der Welt. Gott hat nie ohne die Welt sein können, also kann auch nicht von einem Sein Gottes vor der Welt die Rede sein. Die Dinge sind von Gott abhängig, heist soviel als: sie sind bedingt durch den Naturzusammenhang, und demnach ist ein unmittelbares Eingreifen Gottes, als das Wunder, nicht möglich. Als Denker kann er Gott weglassen, ohne dass in seinem Systeme etwas geändert wird; . . .“255 Für die Einteilung der Wissenschaften wird denn von Schleiermacher auch nur auf die Weltidee Bezug genommen. Sie ist der wirkliche Quellpunkt des Wissens. Dergestalt fließen in den Auffassungen Schleiermachers immer wieder spinozistische und pantheistische Momente zusammen mit objektiv idealistischen und machen die Dialektik zu einer eigenartigen Zwittergestalt, deren tragendes Gerüst die dialektische Methode Schleiermachers ist: „. . . er [Schleiermacher – H.-J. P.] hat seine Stärke mehr in der reinlichen Sonderung, der sorgfältigen Abgrenzung, der dialektischen Gegenüberstellung und Verknüpfung der Begriffe, als in der Zusammenfassung des Einzelnen zum Ganzen und der organischen Entwicklung der Idee in ihre Momente“, schreibt E. Zeller über ihn. „Er liebte es, von einem Gegebenen auszugehen, seine verschiedenen Elemente zu unterscheiden, es aus den entgegengesetzten Gesichtspunkten, unter die es gestellt werden kann, zu betrachten, mit dem einen gegen den andern zu operieren, diesen durch jenen und jenen durch diesen näher zu bestimmen, und so allmählich, nach gründlicher Prüfung aller Für und Wider, zu einer abschließenden Entscheidung vorzudringen.“256 Die dialektischen Betrachtungen Schleiermachers haben jedoch noch die gleiche Grenze wie die Schellings; sie repräsentieren keine Entwicklungsdialektik. Schleiermacher betrachtet zwar die Welt als Totalität von Gegensätzen, sieht aber nie die Entwicklung dieser Gegensätze. Die Einheit der Gegensätze wird von Schleiermacher zwar als Wechselbeziehung, als „kreuzende“ Einheit der Gegensätze gefaßt, jedoch wird diese Einheit niemals aufgehoben, kann niemals aus einem andern, niedern Gegensatz ein neuer, höherer durch Aufhebung hervorgehen. Veränderung der Gegensätze ist für Schleiermacher nur ein Mehr-oder-Weniger, nie aber ein Umschlag. In dieser Frage erreicht Schleiermacher nicht die philosophische Tiefe Hegels. Schleiermachers „Struktur- und Funktionsdialektik“ ist zwar geeignet, viele wertvolle Gedanken in der lebendigen Naturwissenschaft seiner Zeit anzuregen –, ja besser anzuregen, als dies die Dialektik Hegels vermag; sie ist jedoch unfähig, den Charakter der gesellschaftlichen Erscheinungen in der Dynamik ihrer Entwicklung zu erfassen. Sie ist damit der adäquate Ausdruck der konsequent liberalen, aber revolutionsfeindlichen Haltung Schleiermachers und spiegelt sich politisch wider in der Forderung Schleiermachers nach einer konstitutionellen Monarchie im
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Rahmen seiner Staatsauffassung. Seine Dialektik ist schon evolutionär, aber noch nicht revolutionär.
P. Ruben zur Naturdialektik Schellings Auch für Schleiermachers Dialektik zutreffend schreibt P. Ruben: „Allein Schellings Auffassung des Widerspruchs im Sinne der dualen Entgegensetzung von Kräften bzw. von Vorgängen zeigt eindeutig, daß er tatsächlich den dialektischen Widerspruch, also die konkrete Einheit der Naturgegenstände mit ihrem Verhalten durchaus nicht erfaßt hat. Die Existenz dual entgegengesetzter Vorgänge ist nämlich in der wissenschaftlichen Naturerkenntnis stets unter der Voraussetzung definiert, das untersuchte (makroskopische) System sei abgeschlossen und seine äußeren Eigenschaften seien konstant. Damit aber ist genau die Entwicklung ausgeschlossen, und der Gleichgewichtszustand gilt als Grundlage und Ziel des Systemverhaltens.“257
Im zweiten, „technischen oder formalen Teil“ seiner Dialektik, der etwa 2/5 des gesamten Werkes ausmacht, untersucht Schleiermacher das „Wissen in der Bewegung, im Werden“. Ist nun die Dialektik Schleiermachers insgesamt philosophisch kaum rezipiert, so wird dieser Part des Werkes entweder völlig übergangen oder bestenfalls nur mit wenigen Bemerkungen gestreift. Er ist indes – und so sah es Schleiermacher auch selbst – der eigentliche Kern seiner Dialektik, der Zielpunkt der vorangegangenen Bemühungen um die Sicherung eines objektiven Wissens im Erkenntnisprozeß. Dies kommt auch in der Charakterisierung der Dialektik zum Ausdruck, die er eingangs des „technischen Teils“ noch einmal trifft: „Bedingt durch ursprüngliches Wissen und Combinationsregeln soll sie sein Organon und Kriterion. Das ursprüngliche Wissen sind die beiden Ideen (Gott und Welt). Aus diesem haben wir die Combinationsregeln zu entwikkeln.“258 Der erkenntnistheoretische Unterbau wird jetzt benutzt, um den Einzelwissenschaften ihr methodisches Rüstzeug zu „konstruieren“. Als notwendige Grundlage jeder Deduktion stellt Schleiermacher die Bedeutung des Induktionsprozesses heraus und fordert die Einheit von Theorie und Empirie. „Es will etwas heißen für jene Zeit“, betont Wehrung, „wenn Schleiermacher . . . einräumt, die deduktiven Bemühungen der Naturwissenschaft stünden billigerweise unter der Potenz der Induktion, d. h. sie benützten rechtmäßig den Leitfaden der Erfahrung!“259 Schleiermacher erkannte sehr deutlich, „wie schwankend alle spekulativen Theorien über die Natur sind und welche Fortschritte das Wissen um die Natur durch die entgegengesetzte Verfahrensweise gemacht hat.“260 Sein Bemühen, die bürgerliche Wissenschaft an der Praxis zu orientieren, ist richtungweisend für die Vorbereitung des deut-
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schen Bürgertums auf die industrielle Revolution. Auch sind die Einflüsse bürgerlicher Humanisten, wie Wilhelm und Alexander von Humboldt, mit denen Schleiermacher befreundet war, in der Ausgestaltung dieser Auffassungen von der einzelwissenschaftlichen Forschung nicht zu übersehen. Doch ist Schleiermacher nicht in der Lage, sich vollständig von der Überbewertung der Deduktion in seinen Entwicklungen zu lösen. Immer wieder bleibt er ihr verhaftet. Wehrung ist daher zuzustimmen, wenn er die Misere Schleiermachers kennzeichnet: „Seine Losung lautet: an die Wirklichkeit hinan; sie lautet nicht: aus der Wirklichkeit heraus.“261
Leitsätze aus Robert Graßmanns Erspähungslehre, entwickelt in Anknüpfung an Schleiermachers Dialektik „(1201): Der Geist des Menschen erzeugt die Begriffe. Alle Begriffe, welche der Geist auf einem Gebiete erzeugt, bilden eine Einheit. (1202): Alle Begriffe, welche der Geist auf einem Gebiete bildet, müssen wesentlich Eins und doch zugleich jeder von jedem andern wesentlich verschieden sein. (1203): Der Geist des Menschen setzt Bestimmungen, durch welche er die Begriffe bestimmt, gegenseitig abgrenzt und von einander unterscheidet. (1204): Jede Bestimmung und Unterscheidung der Begriffe wird durch das Setzen eines Gegensatzes bewirkt. Jeder Gegensatz wird von zwei (nicht mehr) Begriffen gebildet, und zwar ist der erste Begriff der Gegenbegriff des zweiten und der zweite der Gegenbegriff des ersten. (1205): Begriff und Gegenbegriff entstehen zugleich durch den Gegensatz aus der Einheit. Die Tätigkeit des Geistes besteht darin, in der Einheit Gegensätze zu setzen. (1206): Begriff und Gegenbegriff bilden also einen Gegensatz in der Einheit, in der Weise, dass von den beiden Gegenbegriffen jeder die ganze Einheit nur in einseitiger Weise bildet. (1207): Zwei Gegenbegriffe in einer Einheit werden gebildet, indem die je zwei Seiten zweier Gegensätze in jedem der beiden Gegensätze vorhanden, aber im einen gerade, im andern entgegengesetzt, kurz, sich kreuzend verbunden werden, oder die beiden Gegenbegriffe in der Einheit entstehen durch kreuzende Verbindung zweier Gegensätze, d. h. durch die Kreuzverbindung zweier Gegensätze.“262
Im technischen Teil der Dialektik bemüht sich Schleiermacher weiterhin um die Darlegung eines „heuristischen Verfahrens“, das den Wissenschaftler in die Lage versetzen soll, im Erkenntnisprozeß zum Wissen vorzudringen. Er betont hierbei die Rolle der Analogie und der Kongruenz, der Beobachtung und des Versuchs. Er opponiert gegen die idealistische Konstruktion der Wirklichkeit in gedanklichen Spekulationen. Im technischen Teil kommt die Hauptstoßrichtung der Dialektik voll zum
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Tragen: Überwindung des Gegensatzes von Philosophie und empirischer Einzelwissenschaft! Es ist vor allem der zweite Abschnitt der zweiten Abteilung des „technischen oder formalen Teils“ der Schleiermacherschen Dialektik – die Paragraphen 330 bis 346 – die es den Brüdern Graßmann angetan haben. Hierin geht es um die Frage, wie man neues Wissen erlangt und dieses in den Kontext der Wissenschaften einbettet. Dies war für Hermann Graßmann, der eine neue Wissenschaft begründen wollte, wie auch für Robert Graßmann, der das gesamte Gebäude der Wissenschaft rekonstruieren wollte von höchstem Interesse. Was hier zur Sprache kommt: die Einheit von Induktion und Deduktion, von Ahnung, Analogie und Begründung, von Architektonik und Heuristik des Wissens, das, wenn man es wahrhaft konstruieren will, unter den doppelten relativen Gegensatz fallen muß – all das findet bei Ihnen höchstes Interesse, explizite Hervorhebung (in Roberts Gebäude des Wissens) und meisterhafte implizite Anwendung (in Hermanns Ausdehnungslehre). Die ganze vorhergehende Abhandlung hatte für Schleiermacher nur den eigentlichen Zweck, das Wissen in seiner Realität und Möglichkeit zu begründen und damit die Grundlagen zu schaffen für seine Auffassungen von den Methoden der Erlangung wirklichen Wissens. Es ging ihm darum, dem rationalen Gehalt der Schellingschen Naturphilosophie durch Synthese von Auffassungen Kants, Spinozas und Platons eine sichere Stütze zu geben, welche den Ansprüchen der Naturwissenschaft gerecht wird. A. Twesten notiert nach der ersten Vorlesung zur Dialektik, die er 1811 bei Schleiermacher hörte: „Heute begann denn die so lang ersehnte Schleiermachersche Dialektik. Es war eine herrliche Vorlesung. Er zeigte wie aus der Philosophie, wenn man sie von der realen Wissenschaft trenne, oder, wie dies in andern Zeiten geschehen sei, ihr wohl gar entgegensetze, nur etwas Ungesundes und Krüpplichtes hervorgehen könne . . .“263
Schleiermachers Dialektik war ein großer Versuch der Durchbrechung der Schranken der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie, ein Versuch, der jedoch in dem erstrebten religionsphilosophischen Gewande scheiterte. Sie war damit, kaum entstanden, zur geschichtlichen Randerscheinung degradiert und griff kaum in die philosophische Diskussion öffentlich ein.
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Anmerkungen zum 2. Kapitel 1 Dieses Lehrbuch wäre nicht erschienen, „wenn nicht der bestimmt ausgesprochene Wille der höchsten Behörde dem ganzen mathematischen Schulcursus auf jedem Gymnasio ein und dasselbe Lehrbuch zum Grunde zu legen, keine andre Wahl gelassen hätte, als entweder ein solches zu schreiben, oder unter den bereits genehmigten eins auszuwählen.“ (1835, S. IV) Da sich auch hier interessante, zum Teil über die früheren Schriften hinausgehende Überlegungen zum Begriff der negativen Größe in der Mathematik und der Summe bzw. des Produktes in der Geometrie finden, mit denen sich Hermann Graßmann nachweislich 1830/31 und 1834 intensiver beschäftigte, ist es verwunderlich, daß diese Schrift in der bemerkenswerten Arbeit von M. Radu (2000) völlig ignoriert wird. 2 M. Radu bringt Bartholdy (und damit J. Graßmann) nur mit der Gymnasialreform Humboldts, an der er wesentlichen Anteil hatte, in Verbindung (Radu 200, S. 87f.). Dies ist im Kontext der beiden Raumlehren eher bedeutungslos, da diese für Armenschulen konzipiert waren. Zudem ist der Schluß von der Nähe zu Humboldt auf eine Beeinflussung durch Kant und Fichte (ebenda, S. 88f.) gewagt, da Bartholdy nachweislich eng mit Schleiermacher befreundet war und als Anhänger Pestalozzis sein Individualitäts-, Anschauungs- und Konstruktionskonzept (ähnlich wie bei Justus Graßmann) wohl von diesen herrührt. Damit relativieren sich zugleich alle Überlegungen, eine geistige Nähe Graßmann zu I. Kant, J. Schultz und J. F. Fries zu vermuten. 3 J. Graßmann 1817, S. 1. 4 Ebenda, S. 7. 5 Ebenda, S. 6. 6 J. Graßmann 1824, S. IV. 7 Es ist verwunderlich, daß M. Radu (2000) bei ihrer vorzüglichen Analyse des Mathematikverständnisses weder J. Schmid noch J. H. Pestalozzi auch nur erwähnt. Viele der Ideen Graßmanns sind bei J. Schmid angelegt und nicht originär von J. Graßmann. 8 Vgl. Diesterweg 1956, S. 195–197, 264, 525 sowie Diesterweg 1959, S. 224. 9 Vgl. Schmid 1809, S. XIXf. 10 Schmid 1809, S. XV. 11 Ebenda, S. XX. 12 Vgl. ebenda, S. XXII. 13 Ebenda, S. XXIII. 14 Ebenda, S. XXIV. 15 Ebenda, S. XIX. 16 Ebenda, XXV. 17 Vgl. hierzu auch Diesterweg 1956, S. 195. 18 Die Einführung des Bewegungsbegriffes in die Geometrielehrbücher der ersten Hälfte des 19. Jhs. wird vor allem den methodischen Ratschlägen d’ Alemberts zugeschrieben. Vgl. Molodschi 1977, S. 176. 19 J. Graßmann 1817, S. 18. 20 Ebenda, S. 57. 21 Ebenda, S. 1. 22 Cantor 1879, S. 598. 23 J. Graßmann 1824, S. 3ff. 24 Zum Anschauungsbegriff von Pestalozzi und Schmid vgl. Spranger 1959, Memmert 1963, de Moor 1999.
Anmerkungen zum 2. Kapitel
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25 Vgl. Kant 1971, S. 98. 26 Erste Anfänge der Kombinatorik finden sich bereits bei Pascal (1665). Die Bezeichnung „ars combinatoria“ für die Kombinationslehre stammt angeblich von Leibniz. Ausgebaut wurde diese Theorie von Wallis und Jacob Bernoulli I. Vgl. Leibniz 1960, S. 495, Anm. des Herausg. 27 Vgl. KRY, S. 175. 28 Schmid 1809, S. 122. 29 Ebenda, S. 124f. 30 Leibniz 1960, S. 84/85. 31 J. Graßmann 1817, S. X/XI. 32 ZL, S. 1. 33 Ebenda. 34 Ebenda. 35 ZL, S. 2. 36 Ley 1969, S. 182. 37 Vgl. Kapitel 4, Abschnitt 2. 38 ZL, S. 3. 39 ZL, S. 3. Vgl. hierzu ferner I. Kant in Kant 1971, S. 68/69, 260/261. Die Ablehnung der meisten Ideen Kants tritt bei Robert Graßmann deutlich hervor. Vgl. R. Graßmann 1890b, S. 68–73. Dort heißt es u. a.: „Fassen wir Alles zusammen, so hat Kant mit grosem Fleise und scharfen Verstande gearbeitet, ist aber in der reinen Subjektivität stecken geblieben, welche zu einem Verständnisse der äusern Welt und unsers Lebens in der Welt, wie der Offenbarung Gottes in der Welt gar nicht gelangen kann.“ (ebenda, S. 73) 40 ZL, S. 4. 41 In seiner Schrift „Ueber den Begriff und Umfang der reinen Zahlenlehre“ vermerkt J. Graßmann in einer Fußnote, daß sich eine „Schrift über die allgemeine und geometrische Combinationslehre“ „unter seinen Händen“ (ZL, S. 2) befinde. 42 ZL, S. 5. 43 Vgl. Kapitel 4, Abschnitt 3. 44 ZL, S. 9/10. 45 Ebenda. 46 Ebenda, S. 10. 47 Ebenda. 48 Ebenda. Zur Aktualität vgl. etwa Kummer 1972, S. 284. 49 ZL, S. 11. 50 Ebenda, S. 11/12. 51 Ebenda, S. 12. 52 ZL, S. 13. 53 Vgl. ZL, S. 14. 54 Vgl. ZL, S. 17f. 55 Lorenzen 1969, S. 91. 56 ZL, S. 21. 57 J. Graßmann 1835, S. 10. Siehe auch KRY, S. 194/195. 58 Ebenda, S. 26ff. 59 Ebenda, S. 18. Siehe auch Heuser 1996. Nur können wir M.-L. Heuser nicht folgen, daß organismische Entwicklung und Naturgeschichte ein Konzept der „Höherentwicklung“ impliziert. Vgl. Heuser 1996, S. 50. 60 ZL, S. 39. 61 Ebenda, S. 40.
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62 KRY, S. VI/VII. 63 Zur mathematischen Behandlung der Kristallgestalten durch J. Graßmann vgl. Quenstedt 1873, S. 58ff. und die Anmerkung von F. Engel (GW22, S. 244ff.). Eine elegante Behandlung der gleichen Theorie wurde auch von Hermann Graßmann (1839) geliefert, der unmittelbar an die Ausführungen seines Vaters anknüpfte. 64 KRY, S. VII. 65 KRY, S. IX. 66 KRY, S. 184. 67 KRY, S. 174. Dies klingt sehr modern. Vgl. Poincaré 1906, S. 19–21. 68 KRY, S. 172. 69 KRY, S. XII/XIII. 70 KRY, S. 173. 71 Ebenda, S. 134. 72 Ebenda, S. IX. 73 Ebenda, S. 2. 74 Ebenda. 75 Vgl. Scholz 1996, S. 40f. 76 Ebenda. 77 Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 3. 78 Vgl. KRY, S. 34/35. 79 Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 3. 80 Radu 2000, S. 95. 81 ZL, S. 7. 82 Ebenda, S. 171/172. 83 KRY, S. 166. 84 KRY, S. XVII/XVIII. 85 Brief Hermann Graßmanns an seinen Bruder Robert vom 3. Mai 1835. Zitiert nach BIO, S. 57. 86 Brief Robert Graßmanns an Friedrich Engel vom 10. März 1896. Zitiert nach BIO, S. 133. 87 Diese und folgende Aussagen stützen sich auf Schubring 1996d, sowie auf R. Graßmann 1890a. Es ist das Verdienst von G. Schubring, Abiturzeugnis, Lebenslauf und Prüfungsunterlagen von Robert Graßmann im Archiv der Greifswalder Universität aufgespürt zu haben. Siehe Schubring 1996d. Leider ist es ihm genauso wenig wie mir gelungen, ein Porträt von Robert aufzufinden. 88 Vgl. hier und im folgenden: R. Graßmann 1890a, S. XIXff. 89 Zeugnis Graßmanns, ausgefertigt am 31. Dezember 1831; zitiert nach BIO, S. 41. 90 Vgl. Lebenslauf von Hermann Graßmann vom 3. April 1834. Zitiert nach BIO, S. 21. 91 Nach den Aussagen seines Bruders Robert Graßmann. – Vgl. BIO, S. 91/92. 92 Vgl. Hermann Graßmanns Vorwort zur Ausdehnungslehre von 1844 (A1, S. 15). 93 R. Graßmann 1875a, S. 116/117. 94 R. Graßmann 1890a, S. XX. 95 A1, S. 16. 96 Zu diesem Kreis gehörten neben Robert Graßmann der spätere Kriegsminister G. v. Kameke, ferner ein Lehrer der Friedrich-Wilhelmsschule (Jungklaß) sowie Graßmanns Schwager Scheibert, der Direktor der Friedrich-Wilhelmsschule. – Vgl. BIO, S. 92. 97 Gert Schubring (1996d) etwa beantwortet alle diese Fragen positiv. 98 R. Graßmann 1890a, S. XX. 99 R. Graßmann 1890b, S. 11.
Anmerkungen zum 2. Kapitel 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119
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Ebenda, S. 82. Ebenda, S. 82/83. Ebenda, S. 83. R. Graßmann 1890c, S. 312–314. J. Graßmann 1835, S. IV. Brief C. G. Scheiberts an Ludwig Wiese, 1. 5. 1861. In: Schulze 1906, S. 91. R. Graßmann 1890c, S. 312/313. Ebenda, S. VII. Vgl. Birjukov 1960. Vgl. Hoffmann 1966. Zu M. Ohm vgl. u. a. Eikenjäger 1977, S. 35. Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 6. Engels 1967b, S. 122. R. Graßmann 1875a, S. 80/81. Ebenda, S. 82. R. Graßmann 1875a, S. 82. Vgl. Engels in Engels 1959, S. 48. R. Graßmann 1876a, S. 246. R. Graßmann 1890e, S. 174/175. Trotz der Ablehnung Hegels greift Robert Graßmann bei der Entwicklung seiner „Erspähungslehre“ (R. Graßmann 1890c, S. 509ff.) auf Elemente der Hegelschen Dialektik zurück, freilich unter Verzicht auf die Hegelsche Negation. – Vgl. R. Graßmann 1890c, S. 511ff. R. Graßmann 1890e, S. 174/175. Vgl. Abschnitt 3 dieses Kapitels. R. Graßmann 1875a, S. 20. R. Graßmann 1890e, S. 268. R. Graßmann 1876b, S. 123. R. Graßmann 1890b, S. XXX/XXXI. R. Graßmann 1876b, S. 131. Vgl. Kuntze 1909b. Vgl. ebenda, S. 280ff. Ebenda, S. 284/285. R. Graßmann 1875b, S. 63. Ebenda, S. 66. R. Graßmann 1875a, S. 10. Fischer 2001, S. 137. Ebenda. Ebenda, S. 75. R. Graßmann 1890b, S. 83. Ebenda, S. 84. BIO, S. 21/22. Siehe Kapitel 2 Abschnitt 2. Fischer 2001, S. 13. Ebenda, S. 12. Meisner 1922, S. 16. Vgl. auch den Brief Schleiermachers vom 27. 9. 1797 an seine Schwester Charlotte. In: Meisner 1922, S. 94. Vgl. hierzu die Ausführungen in Heinrich 1976, S. 62f. Vgl. hierzu die Darlegungen in Heinrich 1976, S. 37/47. Brief Schleiermachers an Sam. Henri Catel, 24. 5. 1792. In: Meisner 1922, S. 66.
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Brief Schleiermachers an seinen Vater, 10. 2. 1793. In: Meisner 1922, S. 73. Ebenda. Ebenda. Vgl. Geerdts 1966, S. 280/281. Vgl. Wirzberger 1973, S. 78. Vgl. hierzu die Ausführungen in Heinrich 1976, S. 79f. u. 199f. Vgl. hierzu die Untersuchungen in Wehrung 1920, S. 12ff. Brief an G. v. Brinckmann vom 14. 12. 1803. In: Meisner 1922, S. 332. Vgl. auch schon den Brief an G. v. Brinckmann vom 4. 1. 1800. In: Meisner 1922, S. 163. Brief Schleiermachers an G. v. Brinckmann, 28. 9. 1789. In: Meisner 1922, S. 48. Vgl. in Ueberweg 1923, S. 82. Schleiermacher 1913, S. 14. Vgl. Schleiermacher 1913, S. 26. Fuchs 1969, S. 35. Vgl. ebenda, S. 31. Siehe den Verteidigungsbrief Schleiermachers gegen den Vorwurf des Spinozismus an seinen theologischen Vorgesetzten F. S. G. Sack vom Juni 1801. In: Meisner 1922, S. 212. Vgl. Schleiermacher 1913, S. 8. Schleiermacher 1913, S. 23. Ebenda, S. 18. Ebenda, S. 28. Schleiermacher 1913. S. 116. Fuchs 1969, S. 46. Schleiermacher 1914a, S. 18. „Mich kann ich nur als Freiheit anschaun.“, schreibt Schleiermacher in den Monologen (1914a, S. 212). Schleiermacher 1914a, S. 28. Ebenda, S. 30. Ebenda, S. 51. Schleiermacher 1913, S. 118. Schleiermacher 1914a, S. 52/53. Ebenda, S. 59/60. Ebenda, S. 50. Ebenda, S. 71. Ebenda, S. 89. Vgl. Fuchs 1969, S. 133. Brief Schleiermachers an E. v. Willich, 13. 12. 1801. In: Schleiermacher 1914b, S. 28. Vgl. auch den Brief an E. Grunow vom 10. 9. 1802. In: Meisner 1922, S. 270/271. Brief Schleiermachers an A. v. Dohna, 10. 4. 1803. In: Meisner 1922, S. 301. Vgl. den Brief Schleiermachers an E. v. Willich, 10. 8. 1803. In: Schleiermacher 1914b, S. 69. Vgl. den Brief Schleiermachers an G. v. Brinckmann, 26. 11. 1803. In: Meisner 1922, S. 322. Brief Schleiermachers an H. Herz, 17. 12. 1803. In: Meisner 1922, S. 331/332. Brief an G. v. Brinckmann vom 14. 12. 1803. In: Meisner 1922, S. 331. Brief Schleiermachers an E. Grunow, 8. 7. 1802. In: Meisner 1922, S. 250. Brief Schleiermachers an E. Grunow, 12. 8. 1802. In: Meisner 1922, S. 255. Brief Schleiermachers an H. Herz, 16. 9. 1802. In: Meisner 1922, S. 275.
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Anmerkungen zum 2. Kapitel
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190 Brief Schleiermachers an E. und H. v. Willich, 26. 11. 1805. In: Schleiermacher 1914b, S. 141. 191 Brief Schleiermachers an H. Herz, 27. 3. 1805. In: Meisner 1923, S. 33. 192 Brief Schleiermachers an G. v. Brinckmann, 15. 12. 1804. In: Meisner 1923, S. 29. 193 Brief Schleiermachers an Ch. v. Kathen, September 1806. In: Meisner 1923, S. 67. 194 Brief Schleiermachers an Ch. v. Kathen, 20. 6. 1806. In: Ebenda, S. 64. 195 Brief Schleiermachers an G. Reimer, Nov. 1806. In: Ebenda, S. 72. 196 Brief Schleiermachers an Ch. v. Kathen, Herbst 1807. In: Ebenda, S. 95. 197 Brief Schleiermachers an Friedr. v. Reimer, 12. 1. 1807. In: Ebenda, S. 87. 198 Brief Schleiermachers an G. v. Brinckmann, Juli 1812. In: Ebenda, S. 148. 199 Vgl. Dilthey 1985. 200 Schuffenhauer 1956, S. 42. 201 Vgl. weiteres hierzu in Schuffenhauer 1956, S. 44ff. 202 Brief Schleiermachers an G. v. Brinckmann, Dez. 1809. In: Meisner 1923, S. 122. 203 Brief Schleiermachers an die Gräfin v. Voss, 7. 6. 1813. In: Ebenda, S. 185. 204 Vgl. den Brief Schleiermachers an die Gräfin v. Voss, Jan. 1814. In: Ebenda, S. 201. 205 Brief Schleiermachers an die Gräfin v. Voss, 7. 1. 1814. In: Ebenda, S. 209. 206 Brief Schleiermachers an G. v. Brinckmann, 19. 2. 1822. In: Ebenda, S. 322. 207 Brief Schleiermachers an G. v. Brinckmann, 19. 2. 1822. In: Ebenda, S. 323. 208 Brief Schleiermachers an G. v. Brinckmann, Sept. 1832. In: Ebenda, S. 364/365. 209 Brief Schleiermachers an G. v. Brinckmann, Sept. 1811. In: Meisner 1923, S. 138. 210 Schleiermacher 1808, S. 112. 211 Ebenda, S. 110. 212 Ebenda, S. 57/58. 213 Vgl. Schleiermachers Ausführungen in Schleiermacher 1808, S. 35. 214 Siehe ebenda, S. 66ff. 215 Engels 1975, S. 150. 216 Wehrung 1920, S. 75. 217 DIAL, S. 8. 218 Ebenda, S. 22. 219 Ebenda, DIAL, S. 261. 220 Ebenda, S. 7. 221 Ebenda, S. 129. 222 Ebenda, S. 77. 223 Ebenda, S. 95. 224 DIAL, S. 48. 225 Ebenda, S. 48. 226 Ebenda, S. 50. 227 Ebenda. 228 Wehrung 1920, S. 109. 229 Vgl. Kant 1971, S. 457a. 230 DIAL, S. 335/336. 231 DIAL, S. 336. 232 DIAL, S. 53. 233 Vgl. Schelling 1859, S. 255. 234 Schelling 1859, S. 215ff. 235 DIAL, S. 75/76. 236 Vgl. die Ausführungen Schleiermachers in DIAL, S. 102ff. 237 DIAL, S. 261. 238 Schleiermacher 1942, S. 126.
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Ebenda, S. 125. DIAL, S. 249. DIAL, S. 77. Ebenda, S. 86. Ebenda. Siehe auch Ruben 1975, S. 37. DIAL, S. 86. Wehrung bezieht sich hier auf eine Feststellung Schleiermachers in DIAL, S. 416. Wehrung 1920, S. 306. DIAL, S. 17. DIAL, S. 162. Ebenda, S. 165. Ebenda, S. 162. Schleiermacher 1942, S. 303. Vgl. Wehrung 1920, S. 155. Vgl. DIAL, S. 164/165. R. Graßmann 1890b, S. 83/84. Zeller 1875, S. 609. Ruben 1975, S. 36/37. Die Dialektik Schleiermachers und Schellings findet in den 30er und 40er Jahren des 19. Jhs. Eingang in die romantischen Staatstheorien der konservativen Reaktion in Deutschland, wird gleichzeitig theoretisches Fundament für die kompromißlerische Haltung des liberalen Bürgertums in der Revolution von 1848. DIAL, S. 173. Wehrung 1920, S. 287. DIAL, S. 559. Wehrung 1920, S. 289. R. Graßmann 1890c, S. 517–520. Nach Heinrici 1889, S. 177.
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3 Die Beiträge Hermann Günther Graßmanns zur Entwicklung der Mathematik und ihre mathematikgeschichtliche Einordnung
„Die Geschichte der Wissenschaft hat . . . die Aufgabe, den Gedanken nachzuspüren, welche gemeinschaftlich in Generationen sich entwickeln, und die allgemeinen Processe darzulegen, für welche die Entdeckungen des Einzelnen mehr die Symptome als die treibende Ursache darstellen. Bei einer solchen Auffassung wird man weniger oft Gelegenheit haben, davon zu sprechen, dass eine Entdeckung ihrer Zeit vorausgeeilt sei, oder dass eine einzelne Persönlichkeit einer Zeit ausschliesslich das Gepräge ihres Geistes aufgedrückt habe; aber dafür nimmt das Ganze der Wissenschaften einen organischen Charakter an. Im Einzelnen freilich bleibt immerhin zu untersuchen, in wie weit nahezu gleiche Erscheinungen ursächlich auf einander gewirkt haben; nur darf man die Zeitfolge mit der ursächlichen Einwirkung nicht schlechthin verwechseln.“1 A. Clebsch
Den hier vorangestellten Forderungen des hervorragenden deutschen Mathematikers Alfred Clebsch gerecht zu werden, verlangt, die Bedeutung und das Schicksal des mathematischen Lebenswerkes Hermann Günther Graßmanns vor dem Hintergrund der in der ersten Hälfte des 19. Jhs. zutage tretenden revolutionären Umwälzungen der geometrischen Vorstellungen zu begreifen. Erst in diesem mathematikgeschichtlichen Kontext wird erkennbar werden, daß die geometrisch-algebraischen Untersuchungen Graßmanns und die geometrischen Hauptforschungsrichtungen seiner Zeit einer gemeinsamen mathematischen Problemstellung entsprangen, obgleich die theoretischen Ansätze Graßmanns dem konkreten Inhalt der geometrischen Forschungen seiner Zeit relativ fern standen. Die mannigfachen Anregungen, die Mathematiker wie Klein, Peano, Whitehead u. a. noch nach der retrospektiven Anerkennung der Bedeutung Graßmanns aus dessen Werk empfingen, belegen die außerordentliche Fruchtbarkeit seiner mathematischen Ideen.
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3 Graßmanns Beiträge zur Entwicklung der Mathematik
3.1 Zu einigen Grundzügen der Entwicklung der Geometrie vom 17. bis zum 19. Jahrhundert Beginnend mit dem 17. Jh. kam es zu einer Ausprägung des Widerspruchs zwischen dem Entwicklungsstand der Geometrie und dem außerordentlichen Fortschritt von Analysis und Algebra. Während die Algebra bereits im 16. und 17. Jh. mit der Buchstabenrechnung und die Analysis im Verlaufe des 17. und 18. Jhs. mit der Ausarbeitung des funktionalen Denkens und der Durchbildung infinitesimaler Methoden den antiken Standpunkt durch völlig neuartige Ansätze überwanden2 , war das relativ eigenständige, fast 2 000 Jahre alte geometrische Gebäude des Euklid noch unerschüttert geblieben. Erst mit der Herausbildung der analytischen Geometrie3 durch Descartes (1637) vollzog sich schrittweise die Verquickung der antiken Geometrie mit dem modernen algebraisch-analytischen Instrumentarium. Die sich anschließende Entwicklung des „rein Technischen“ der kartesischen analytischen Geometrie durch Fermat (1679, postum), Wallis (1655), de Witt (1659), Newton (1703) und Euler (1748)4 erstreckte sich vom Ende des 17. Jhs. bis über den größten Teil des 18. Jhs.5 Der bestehende Widerspruch zwischen dem Entwicklungsstand der Geometrie und dem der Analysis und Algebra wurde während dieser Zeit jedoch nicht wesentlich verringert, sondern verschärfte sich weiter. Der eingeschlagene Weg, Algebra, Analysis und Geometrie vermittels der kartesischen Koordinaten zu verknüpfen, war den sich stellenden Problemen der „anschauungsmäßigen Mathematik“, repräsentiert durch die Mechanik6 , häufig nicht angepaßt. Bereits 1686 empfand dies ein weitsichtiger Denker wie Leibniz. „. . . man muß aber wissen“, bemerkt er, „daß die Algebra, die Analyse von Viéta und Descartes, viel mehr eine Analyse von Zahlen als von Linien ist, obwohl man hier indirekt die Geometrie (auf die Arithmetik) zurückführt, insoweit alle Größen durch Zahlen ausgedrückt werden können. Jedoch zwingt dies oft zu großen Umwegen; und oft können manche Geometer in wenigen Worten beweisen, was auf dem Wege des Rechnens sehr lang ist. Und wenn man bei irgendeiner schwierigen Aufgabe eine Gleichung gefunden hat, so fehlt noch viel, daß man dafür eine Konstruktion der Aufgabe hat, wie man sie verlangt. Der Weg von der Algebra zur Geometrie ist sicher, aber er ist nicht der beste; . . .“7 Und selbst 200 Jahre später sah sich Engel noch zu ähnlichen Gedanken veranlaßt.8 In engem Zusammenhang mit der Suche nach einer adäquaten mathematischen Behandlung physikalischer Problemstellungen stimulierte diese „Beschränktheit“ der kartesischen Geometrie die Herausbildung modifizierter und erweiterter Koordinatenbegriffe. Repräsentativ für diese Bestrebungen sind die Ansätze Möbius’ (Möbius 1827), Graßmanns (A1) und Plückers.9 Aus analogen Erwägungen wurde, erstmals mit
3.1 Die Entwicklung der Geometrie vom 17. bis zum 19. Jh.
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Leibniz’ Ideen zu einer rein „geometrischen Charakteristik“ (1679), nach Möglichkeiten eines direkten algebraischen Operierens mit geometrischen Objekten gesucht.10 Mathematisch bedeutsame Ergebnisse auf dem von Leibniz eingeschlagenen Weg erzielte jedoch erst 150 Jahre später Graßmann (1832/1840), indem er, vom gleichen Grundgedanken ausgehend, Grundzüge der Vektor- und Tensorrechnung entwickelte. Unabhängig hiervon führten die Untersuchungen zur geometrischen Interpretation komplexer und hyperkomplexer Zahlen und zur mathematischen Beschreibung von Drehungen und Rotationen im Raum – Wessel (1797), Gauß (1799ff.), Argand (1806), Hamilton (1843)11 – ebenfalls zur Herausbildung der Vektoralgebra. Aus dem Wechselspiel analytischer und geometrischer Methoden in der analytischen Geometrie ergab sich ein weiterer, die bisherigen Dimensionsauffassungen tangierender, innermathematischer Widerspruch. War die Dreidimensionalität des Raumes bisher geometrisch evident gewesen, so gab es für diese Beschränkung im Rahmen der analytischen Rechnung mit verallgemeinerten Koordinaten, besonders in Anwendung auf die Mechanik, keine Notwendigkeit.12 Andeutungen und Ansätze eines Hinausgehens über die empirisch tradierten Dimensionsauffassungen der Geometrie finden sich daher wesentlich bei analytischen Geometern wie Wallis (1685), d’ Alembert (1764) und Lagrange (1780).13 Bewußte Ausbildung findet die n-dimensionale Geometrie schließlich bei Cayley14 (1843), Graßmann (1844) und Schläfli (1850/52). Dieser Prozeß der Erweiterung des Geometrieverständnisses, der maßgeblich zur Trennung des mathematischen vom physikalischen Raumbegriff mit beitrug, wurde begleitet von intensiven Auseinandersetzungen mit der idealistischen Philosophie, insbesondere mit Auffassungen des Kantschen Apriorismus. Die Lösung der sich im Entwicklungsprozeß der analytischen Geometrie dergestalt ergebenden Widersprüche erlangte mit Klein (1872) einen Höhepunkt und relativen Abschluß, der sich in einem umfassenderen und einheitlicheren Geometrieverständnis niederschlug. Rückblickend konnte Lie, einer der geistigen Väter der Neuformierung der Geometrie, 1871 in seiner Dissertation bemerken: „Die rasche Entwicklung der Geometrie in unserem Jahrhundert steht, wie bekannt, in einem intimen Abhängigkeitsverhältnis zu philosophischen Betrachtungen über das Wesen der Cartesischen Geometrie . . .“15 Der Fortschritt der Geometrie im 18. und 19. Jh. wäre indes höchst unvollständig erfaßt, wenn nicht wenigstens zwei weitere geometrische Forschungsrichtungen – welche den bisher dargestellten Prozeß überlagerten – Beachtung fänden. Es handelt sich hierbei zum einen um die seit der Antike nicht abreißenden Versuche, die Abhängigkeit des Parallelenaxioms von den übrigen Axiomen des Euklid zu beweisen. Zu wertvollen, ein späteres Problemverständnis vorbereitenden Ergebnissen gelangten hierbei Wallis, Saccheri,
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Legendre, Lambert, Schweikart und Taurinus.16 Aber erst zu Beginn des 19. Jhs., als u. a. die sich entwickelnde Ingenieurtechnik das Interesse der Mathematiker zunehmend auf die Geometrie lenkte, kamen drei bedeutende Mathematiker – Gauß (1817), Janos Bolyai (1831) und Lobacˇ evskij (1826) – nahezu gleichzeitig und unabhängig voneinander zu der Erkenntnis, daß eine neuartige „nichteuklidische Geometrie“, der eine Negation des euklidischen Parallelenaxioms zugrunde liegt, möglich ist.17 Die Ergebnisse dieser drei Forscher, die die bisherigen Raumauffassungen in Frage stellten und damit von außerordentlicher philosophischer Relevanz waren, regten vor allem bei Riemann, Beltrami, Helmholtz, Klein und Lie18 weitreichende Überlegungen zum Verhältnis von physikalischem und mathematischem Raumbegriff an und stimulierten dadurch die Überwindung des antiken Geometrieverständnisses. Neben der Entwicklung der nichteuklidischen Geometrie muß die sich zu Beginn des 19. Jhs. vollziehende Entwicklung der projektiven Geometrie zu einer eigenständigen mathematischen Disziplin hervorgehoben werden. Retrospektiv lassen sich auch bei dieser zweiten geometrischen Forschungsrichtung einzelne Ansätze bis in die Antike verfolgen, wobei auf Apollonios von Perge und Pappos zu verweisen wäre.19 Einen bedeutenden Impuls erfuhr die Lehre von der Perspektive während der Renaissance, als sie von Handwerkern, Künstlern und Festungsbaumeistern wie Alberti, Piero della Francesca, Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer unter praktisch-künstlerischen Aspekten ausgebaut wurde. Spätere innermathematische Ansätze, die sich bei Desargues, Pascal und ein Jahrhundert später bei dem hervorragenden elsässischen Mathematiker Lambert fanden, erlangten noch keine allgemeine Beachtung. Erst mit Gaspard Monge setzt, durch nachhaltige militärtechnische und wirtschaftliche Interessen stimuliert, die eigentliche Entwicklung der projektiven Geometrie ein.20 Unter dem Eindruck seiner Projektierungsarbeiten für Festungsbauten schuf er mit außerordentlicher Originalität eine neue geometrische Disziplin, die Darstellende Geometrie, welche bisherige festungsbauliche Berechnungen um ein vielfaches abkürzte. Seine Vorlesungen zur darstellenden Geometrie, die er an der im Gefolge der französischen Revolution 1794 gegründeten Pariser École Polytechnique, der damals modernsten ingenieur-wissenschaftlichen Einrichtung der Welt, hielt, sicherten ihm bald einen umfänglichen Schülerkreis.21 Die sich an Monge anschließende französische geometrische Schule rezipierte dessen Werk unterschiedlich und teilte sich in eine mehr analytische und eine stärker synthetisch orientierte Richtung, die der Benutzung von Koordinatenmethoden in der Geometrie weitgehend ablehnend gegenüberstand. Während Carnot, Brianchon und Poncelet stärker vom synthetischen Gehalt des Werkes Monges angesprochen wurden und insbesondere Victor Poncelet in russischer Kriegsgefangenschaft fast ohne
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Hilfsmittel die projektive Geometrie als selbständige Disziplin in genialer Weise begründete, fanden sich in Gergonne, Lamé und Chasles bedeutende Vertreter der analytischen Behandlung projektiver Eigenschaften geometrischer Objekte.22 Das Ponceletsche Hauptwerk, der „Traité des propriétés projectives des figures“ (Poncelet 1822), in dem bereits 1822 alle wesentlichen Begriffe der Projektiven Geometrie, wie das Doppelverhältnis, die Perspektivität, die Projektivität u. dgl. m. enthalten waren, repräsentiert eine Abkehr von der Geometrie Euklids, verbunden mit einer Präzisierung und Erweiterung geometrischer Begriffsbildungen. Durch die weitgehende Lösung von metrischen Eigenschaften geometrischer Objekte wurde die bis dahin unauflösbar scheinende Kopplung von Geometrie und Metrik in Frage gestellt und als erkenntnistheoretisches Problem aufgeworfen. Die Aufdeckung des Prinzips der Dualität hob die antike Vorstellung vom Punkt als geometrischem Ausgangsobjekt auf und leitete inzidenzgeometrische Studien ein, die zur Entwicklung einer Vielzahl neuer „Geometrien“ führte. Mitte der zwanziger Jahre des 19. Jhs. griffen die Ideen Poncelets auch auf Deutschland über. In den Arbeiten Steiners (1826, 1832) und v. Staudts (1847) erlangte die synthetische Behandlung der projektiven Geometrie ihren Höhepunkt und relativen Abschluß. Das 1847 erschienene Buch v. Staudts „Geometrie der Lage“ (Staudt 1847) begründete die projektive Geometrie axiomatisch und unabhängig von der euklidischen. Die analytische Behandlung der projektiven Geometrie fand ihre ersten deutschen Vertreter in Möbius (1827) und Plücker (1828, 1831). H. Wußing zur Entwicklung der Geometrie: „Tatsächlich nämlich handelte es sich bei der Entwicklung der Geometrie während dieses Zeitraumes nicht um die Abfolge einer Entwicklungsrichtung, sondern um die Entfaltung der der Geometrie innewohnenden, selbständig werdenden Tendenz in scheinbar divergierenden Richtungen. Fundamentale Denkbestimmungen in und über Geometrie hörten auf, durch Gewohnheitsrecht bestimmt zu sein: Begriffe wie Koordinate, Länge, Parallele und Entfernung, die Denkgewohnheit vom Punkt als Ausgangselement aller Geometrie, ja, die ganze Auffassung von Geometrie als Meßkunst konnten und mußten verallgemeinerungsfähig bzw. kritikbedürftig erscheinen, seit die Geometrie – verstanden nach Inhalt, Methode und Zielstellung im Sinne der jahrtausende alten euklidischen Tradition – einmal in Bewegung geraten war. Aus der Aufhebung einer scheinbar unabänderlichen Denkgewohnheit wurde dann die Verselbständigung dieses einen Bestandteils der Geometrie: An die Stelle der scheinbar festgefügten Einheit ‚Geometrie‘ trat im Ergebnis einer begriffsdialektischen Entfaltung der diesem Vorstellungsinhalt innewohnenden Widersprüche eine Fülle von nur attributiv bestimmbaren ‚Geometrien‘, der ‚nichteuklidischen‘, der n-dimensionalen, der Liniengeometrie, der projektiven Geometrie usw.“23
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Beide Forscher entwickelten das analytische Instrumentarium zur Behandlung der von Poncelet synthetisch gefundenen projektiven Eigenschaften geometrischer Objekte. Die barycentrischen Koordinaten von Möbius sowie die Tetraeder- und Linienkoordinaten Plückers sind Ausdruck dieser Bemühungen um eine adäquate Behandlung der projektiven Geometrie mit analytischen Mitteln. Nach längerem, ausgeglichenem Ringen zwischen der analytischen und der synthetischen Methode der Behandlung der projektiven Geometrie gewann in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. die analytische Richtung die Oberhand, da sie, enger mit dem Gesamtgefüge der Mathematik verbunden, über ein reichhaltigeres Methodenarsenal verfügte. Die der Entwicklung der kartesischen Geometrie inhärenten dialektischen Widersprüche traten in der nunmehr umfassenderen analytisch-algebraischen Behandlung geometrischer Zusammenhänge erneut hervor, verschärft durch den Umstand, daß die einheitliche euklidische Grundlage zerstört und eine Vielzahl geometrischer Richtungen an ihre Stelle getreten war. Zusammenfassend lassen sich wenigstens vier Momente hervorheben, die zur Aufhebung des begrenzten antiken Geometrieverständnisses – beginnend mit der analytischen Geometrie Descartes’ – führten: 1. Die Erweiterung des Koordinatenbegriffs über den kartesischen hinaus und die Suche nach neuen, algebraisch-analytischen Ausdrucksmitteln geometrischer Zusammenhänge; 2. der Übergang zu n-dimensionalen Mannigfaltigkeiten; 3. die Herausbildung der nichteuklidischen Geometrie; 4. die Aufhebung der scheinbar unabdingbaren Kopplung von Geometrie und Metrik und damit die Frage nach dem Zusammenhang von projektiver und metrischer Geometrie.24 Die in der ersten Hälfte des 19. Jhs. einsetzende Entfaltung der Geometrie in scheinbar divergierende Richtungen führte gleichzeitig zu Gegenbewegungen und zur Suche nach einer neuen, einheitlichen Grundlage der Geometrie. Der Rückgriff auf algebraisch-analytische Methoden wurde zur Triebkraft der weiteren Entwicklung der Geometrie. Bemerkenswerterweise fanden sich bereits bei Möbius (1827) und Graßmann (1844) tragfähige Ansätze zu einer neuen, von übergreifenden Gesichtspunkten ausgehenden Strukturierung der Geometrie. Diese Ansätze wurden jedoch von der zeitgenössischen Mathematik nicht aufgegriffen. Erst in den 60er Jahren des 19. Jhs. sollten Geometer der englischen algebraischen Schule, unabhängig von Möbius und Graßmann, weitere wesentliche Schritte in der angegebenen Richtung unternehmen. „Einen ersten und bedeutenden Fortschritt erzielte die englische Schule um Boole, Cayley, Sylvester u. a. mit dem Rückgriff auf eine ursprünglich zahlentheoretische Disziplin, die Theorie der Formen, welche dann in
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der Gestalt der Invariantentheorie ein erstes Mittel der Klassifizierung verschiedener Geometrien darbieten sollte.“25 Mit dem Plücker-Schüler Felix Klein erreichte die Klassifizierung der unterschiedlichen geometrischen Richtungen einen vorläufigen Abschluß und Höhepunkt. In enger Zusammenarbeit mit dem norwegischen Mathematiker Sophus Lie entwickelte er unter dem Einfluß der gruppentheoretischen Untersuchungen Jordans sein über den invariantentheoretischen Standpunkt hinausweisendes Programm einer gruppentheoretischen Klassifizierung der Geometrie, das 1872 unter dem Titel „Vergleichende Betrachtungen über neuere geometrische Forschungen“ (Klein 1974) – genannt „Erlanger Programm“ – erschien. Nun erst wurde der Wert der bereits 30 bis 50 Jahre zurückliegenden Arbeiten von Möbius, Graßmann und Hamilton erkannt und gewürdigt. Mit dem „Erlanger Programm“ erreichte der über 200 Jahre währende Prozeß der Auflösung des antiken Geometriebegriffes einen ersten relativen Abschluß. Die neuere Geometrie war sowohl abstrakter, als auch reichhaltiger an mathematischen Strukturen. Ihr Entwicklungsstand war der Analysis und Algebra angeglichen und damit die Möglichkeit einer innigen Verflechtung dieser drei Disziplinen gesichert worden.26
3.2 Die Prüfungsschrift Graßmanns zur Theorie der Ebbe und Flut Die Entfaltung der mathematischen Produktivität Hermann Günther Graßmanns in der ersten Hälfte des 19. Jhs. steht unter dem Eindruck der Ende des 18. Jhs. eingeleiteten Umwälzung der gesamten Geometrie. Auch seine Suche nach neuen Formen der Behandlung geometrischer Zusammenhänge wurde durch die den Theoriebildungsprozeß stimulierenden, methodologischen, begriffsdialektischen und erkenntnistheoretischen Widersprüche der Geometrie27 verursacht. Doch im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit seiner mathematischen Zeitgenossen beschritt er hierbei einen neuartigen Weg der direkten Verbindung von Algebra und Geometrie, der ihn von der projektiven Geometrie weg- und zur vektoralgebraischen Durchdringung und Ausarbeitung der affinen Geometrie hinführte. Graßmann knüpfte an Arbeiten seines Vaters über eine neue geometrische Kombinationslehre an, die unter dem Eindruck der Pestalozzischen Bestrebungen zur Reform des Elementarschulwesens entstanden waren. Mit den Ansätzen Pestalozzis und seines Mitarbeiters Joseph Schmid, die Geometrie in den Elementarschulen lehrbar zu machen und die starre euklidische Darstellungsweise zu überwinden, findet sich eine weitere außerwissenschaftliche Triebkraft der Überwindung der antiken Geome-
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Forschung zur affinen und projektiven Geometrie zu Beginn des 19. Jhs. Die projektive Geometrie vereinnahmte in der ersten Hälfte des 19. Jhs. den überwiegenden Anteil der geometrischen Forschungen. Untersuchungen zur affinen Geometrie wurden erst 1827 von Möbius in Anlehnung an Ideen Eulers wieder aufgenommen, fanden jedoch in der Fachwelt keine Resonanz. Noch Ende der 50er Jahre des 19. Jhs. machte Cayley im Zusammenhang mit der nach ihm benannten projektiven Maßbestimmung begeistert die Feststellung: „Metrische Geometrie ist damit ein Teil der projektiven Geometrie, und die projektive Geometrie ist die gesamte Geometrie.“28
trieauffassung. Von diesen Ansätzen Pestalozzis und J. Schmids gingen nicht nur Impulse auf Justus Graßmann aus, sondern auch Jacob Steiner wurde durch sie zur Geometrie geführt.29 In den Arbeiten des Vaters fanden sich nun für Hermann Graßmann neben kombinatorisch-inzidenzgeometrischen Betrachtungen Ansatzpunkte für ein direktes Rechnen mit orientierten Strecken. Nach eigenen Aussagen30 war er bereits 1832 im Besitz der Vektoraddition und der Erzeugung von Vektoren zweiter und dritter Stufe31 (oder, wie er sich ausdrückt: der geometrischen Addition und der geometrischen Multiplikation von Strecken). Der Tragweite dieser neuartigen algebraischen Behandlung der Geometrie wurde er sich jedoch erst um 1840 bewußt, als ihn ein Problem der mathematischen Physik, die Theorie der Ebbe und Flut wieder auf die Ansätze von 1832 zurückführte.32 Die analytisch-geometrische Behandlung, die diese Theorie bei Laplace (Laplace 1799–1827) erfahren hatte, war ihm zu schwerfällig und zu wenig problemorientiert. „Die Wege, auf welchen Laplace zu seinen Resultaten gelangt“, bemerkt Graßmann auf den ersten Seiten seiner Schrift, „zeigt er selbst fast nirgends an; und überdies sind dieselben fast immer von so indirekter Art, daß man von vorne herein auch nicht einmal ahnen kann, wie er auf dieses oder jenes Verfahren gekommen ist. Wollte man sich daher darauf beschränken, seinen Wegen nachzugehen, so würde es einem nicht anders ergehen als einem, der mit verbundenen Augen nach einem ihm unbekannten Ort geführt wird, und der zwar jeden Schritt, um zu seinem Ziele zu gelangen, selbst macht, wenn er aber angekommen ist, doch nicht weiß, wie er eigentlich hingekommen ist.“33
N. Bowditch zu Laplace (er übersetzte ihn ins Englische): „Niemals stieß ich auf eine der Laplaceschen Wendungen ‚somit erkennt man leicht‘, ohne völlig sicher zu sein, daß ich stundenlange, angestrengte Arbeit aufwenden mußte, um die Lücke zu schließen und herauszubekommen und zu zeigen, wie man es leicht erkennt.“34
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Ausdrücklich betont er, daß ihn der Konflikt mit der bisherigen koordinatengeometrischen Behandlung der Mechanik zur Rückbesinnung und zum Ausbau seiner frühen vektoralgebraischen Versuche führte: „Dafür aber, daß die gewöhnliche Methode von mir verlassen ist, habe ich als Grund anzuführen, daß nach derselben durch die Einführung willkürlicher Koordinaten der Natur ein Zwang angetan wird, welcher sich dadurch zu erkennen gibt, daß die Entwickelung der Formeln in ihrem Fortschreiten sich von dem Gange der Natur entfernt und den Blick, statt ihn für die Auffassung der Idee zu schärfen, vielmehr davon abzieht und hineinversenkt in Umgestaltungen und Formelentwickelungen, welche mit der Idee nichts zu schaffen haben.“35 In seiner außergewöhnlichen Prüfungsarbeit zur Erlangung der unbeschränkten Lehrberechtigung für den Physikunterricht an Gymnasien, die allein schon durch ihren Umfang von 190 Druckseiten über das damals übliche Maß hinausging, entwickelt Graßmann bereits viele der wesentlichen Grundbegriffe der Vektorrechnung und der äußeren Algebra.36 Noch beschränkt auf den dreidimensionalen Raum finden sich hier: die Addition von Vektoren und Bivektoren („geometrische Addition von Strecken und Flächenräumen“), wobei Assoziativität und Kommutativität dieser Operation nachdrücklich betont werden;37 ferner die bereits von Möbius 1827 gefundene geometrische Schwerpunktkonstruktion eines Systems von Punktmassen;38 weiterhin die äußere Multiplikation zweier und dreier Vektoren, geometrisch interpretiert als orientierter Parallelogramm- bzw. Spatinhalt (der Vorzeichenwechsel bei Kommutation der Faktoren wird hervorgehoben!);39 der Begriff des Skalarproduktes zweier Vektoren („lineares Produkt zweier Strecken“), gewonnen über die Projektion des einen Vektors in den Unterraum („Gerade“) des anderen;40 als dritte Form der multiplikativen Vektorverknüpfungen das Produkt eines Vektors in eine Exponential- und Winkelgröße, deren geometrisches Substrat eine Drehung der gerichteten Strecke um ihren Angriffspunkt darstellt.41 Bei den zuletzt genannten drei Produktbildungen wird die Distributivität bezüglich der Vektoraddition explizit hervorgehoben und methodisch zur Anknüpfung an die Gesetzmäßigkeiten der gewöhnlichen Addition und Multiplikation genutzt (indirekte Anwendung der formalen Permanenz der Verknüpfungsgesetze). Typisch sind hierbei Formulierungen wie: „Nennen wir nun geometrische Multiplikation diejenige Verknüpfung, welche auf dieselbe Weise durch die geometrische Addition
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bedingt ist, wie die algebraische Multiplikation durch die algebraische Addition, so muß notwendig auch . . .“42 Hervorgehoben sei letztlich, daß Graßmann in dieser Arbeit zur Theorie der Ebbe und Flut, also bereits 1840, implizit über den Begriff des linearen Operators über den V 3 verfügt („geometrische Größe nullter Dimension und zweiter Ordnung“), ihn in Matrixform (!) darstellt und seine Bedeutung voll erfaßt: „Durch Multiplikation einer Strecke mit einer geometrischen Größe 0ter Dimension und zweiter Ordnung kann dieselbe in jeden andern Wert (in jede andere Richtung und Größe) umgewandelt werden.“43 Ein Jahr später bezeichnet er in einer Anmerkung zur Abschrift seiner Arbeit diese Größen als „Affinitätsfaktoren“.44 Überblickt man den Reichtum der Begriffsbildungen, den Graßmann in dieser frühen Schrift entwickelt – selbst, wenn auf Grund der äußeren Umstände der Arbeit45 vieles noch nicht zwingend und systematisch dargestellt werden konnte – so muß man sie als die eigentliche Geburtsurkunde der Vektoralgebra ansehen. Analoge Bestrebungen zum Aufbau der Vektoralgebra gab es bis zu dieser Zeit nur wenige. Mit Graßmann in der Grundidee einer direkten algebraischen Behandlung der Geometrie übereinstimmend, hatte Leibniz im 17. Jh. die Idee einer rein „geometrischen Analyse“ entwickelt, ohne jedoch zu bedeutenderen Ergebnissen zu gelangen.46 Erneute Ansätze zu einer geometrischen Addition von orientierten Strekken finden sich erst weit später bei Möbius im Jahre 1827 und 1843 (Möbius 1827, 1887a) und unabhängig davon bei Bellavitis47 im Jahre 1835 (Bellavitis 1835). Die von diesen Forschern auf dem Gebiet der Vektoralgebra erzielten Ergebnisse reichen indes nicht an die Leistungen Graßmanns heran. Einer zweiten, zur Entwicklung der Vektorrechnung führenden Entwicklungsrichtung gehörten Wessel, Argand und Gauß an. Diese Forscher fanden bei der geometrischen Interpretation der komplexen Zahlen ebenfalls erste vektorielle Verknüpfungen. Ihren Höhepunkt erreichten diese Untersuchungen mit William Rowan Hamilton. Ausgehend von Problemen der Mechanik suchte dieser bedeutende englische Physiker und Mathematiker nach einer Algebra, die für Rotationen im dreidimensionalen Raum dasselbe leisten sollte, wie die komplexen Zahlen für Drehungen in der Ebene. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang ihm schließlich 1843 die Entdeckung der Quaternionen. In Überschätzung des Wertes dieser hyperkomplexen Zahlen widmete er die letzten zweiundzwanzig Jahre seines Lebens fast ausschließlich der Entwicklung der Quaternionentheorie.48 Umfangreiche Teile dieser Theorie behandeln die Vektoralgebra und -analysis des dreidimensionalen euklidischen Raumes. Völlig unabhängig von Graßmann entdeckte er die Vektoraddition, die Vektormultiplikation, das skalare Produkt von Vektoren u. dgl. m.
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Mit diesen Leistungen wurde er neben Graßmann zum Begründer der Vektorrechung. Wie auf Hamilton, so hinterließ die Vektoralgebra auch auf Graßmann einen überwältigenden Eindruck. Die Eleganz und die Leistungsfähigkeit der neuartigen Behandlung der affinen und euklidischen Geometrie waren für Graßmann derart bestechend, daß er ihrer systematischen Entwicklung sein ganzes Leben widmen sollte. In der Auseinandersetzung mit der kartesischen Geometrie war Graßmann zu neuartigen mathematischen Begriffsbildungen vorgestoßen. Die Ursachen für die Sonderstellung der algebraisch-geometrischen Ansätze Graßmanns im Gefüge der mathematischen Forschungen der ersten Hälfte des 19. Jhs. liegen in den besonderen Umständen, unter denen Graßmann sein mathematisches Schaffen entfaltete. Felix Klein bemerkt in diesem Zusammenhang: „Trotz aller Originalität und Bedeutung seiner Arbeiten ist . . . Graßmann niemals Universitätslehrer gewesen, wie ihm denn überhaupt infolge seiner eigenartigen Arbeitsentwicklung während der Hauptzeit seines Lebens als Mathematiker keine rechte Anerkennung zuteil wurde. Begreiflicherweise hat sich Graßmann über dies ungerechte Schicksal oft beklagt; dennoch barg es auch für ihn gewisse Vorzüge, deren Folgen sich in Graßmanns Arbeiten und Persönlichkeit wohl bemerken lassen. Wir Akademiker wachsen in scharfer Konkurrenz mit Gleichstrebenden auf, wie ein Baum mitten im Walde, der nach oben kommen und schmal bleiben muß, um nur überhaupt existieren zu können und sich sein Teil an Licht und Luft zu erobern; wer hingegen einsam steht, wie Graßmann, kann sich nach allen Seiten voll auswachsen, Wesen und Arbeit zu harmonischer Durchbildung und Abrundung bringen. Freilich ist ein gewisses Maß von Dilettantismus bei der Allseitigkeit, die Graßmann verkörperte, wohl unerläßlich, . . .“49 Außenseiterstellung und Originalität Graßmanns wurzeln mithin in der späten, durch autodidaktische Studien und philosophische Interessen geprägten Zuwendung zur Mathematik, im Anknüpfen an das geistige Erbe des Vaters und nicht zuletzt in seiner, durch den Gymnasiallehrerberuf in Stettin bedingten, relativen Abgeschiedenheit vom wissenschaftlichen Leben seiner Zeit. Der Einfluß dieser Umstände wird in den weiteren Arbeiten Graßmanns sowohl in seinen positiven als auch in seinen negativen Momenten immer wesentlicher. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß auch Möbius und Steiner, deren mathematisches Werk bedeutend enger mit den Bestrebungen der Geometer ihrer Zeit verbunden war als das Graßmanns, eine ähnliche Außenseiterstellung innehatten wie dieser. So war Steiner, der von Analysis und Algebra nur mangelhafte Kenntnisse besaß, erst
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mit fast dreißig Jahren zur Geometrie gestoßen. Seine beispiellose Anschauungskraft ließ ihn zum Neubegründer der synthetischen Geometrie werden, in seiner Art ohne Vorgänger und Nachfolger. So weiß Biermann zu berichten: „Steiners Absicht, nach seinem Tode durch die Berliner Akademie alle zwei Jahre Preise für die Lösung von Aufgaben aus der synthetischen Geometrie ‚hauptsächlich mit Berücksichtigung der von ihm aufgestellten Methoden und Prinzipien‘ aus seinem Vermächtnis verleihen zu lassen, wurde in dieser Form schon nach kürzester Zeit undurchführbar, weil sich keine Bewerber mehr fanden.“50 Waren auch Steiners Ergebnisse allgemein anerkannt, so blieb seine Methode unnachahmlich. Bei Möbius ist die Analogie zu Graßmann noch auffälliger. Obgleich seine Untersuchungen zur Klassifizierung der geometrischen Verwandtschaften aufs engste mit der Hauptentwicklungsrichtung der Geometrie des 19. Jhs. verbunden waren, so wurden diese weitreichenden Ansätze von den Zeitgenossen in ihrer Tragweite doch nicht erkannt. Selbst Gauß wußte sie nicht zu würdigen. „Bescheiden im persönlichen Auftreten und im Stile seiner Publikationen, zu den führenden Zentren mathematischer Forschung nur im indirekten Kontakt stehend, hat August Ferdinand Möbius zu seinen Lebzeiten nicht die volle Anerkennung erfahren können, die seiner Bedeutung angemessen wäre.“51 Zu Lebzeiten fanden daher vor allem seine Beiträge zur angewandten Mathematik Beachtung und Anerkennung.52
3.3 Die Ausdehnungslehre von 1844 und die Graßmannsche Theorie der algebraischen Kurven Mit außergewöhnlicher Energie ging Graßmann nach 1840 daran seine Ideen auszubauen. Die Prüfungsarbeit, deren Wert der Gutachter der Prüfungskommission, Prof. Conrad53 , nicht zu erkennen wußte, wurde erst aus Anlaß der Herausgabe der Gesammelten Werke Graßmanns im Jahre 1911 veröffentlicht. Das Empfinden der Mangelhaftigkeit der Anlage der Arbeit hatte Graßmann von einer Veröffentlichung abgehalten. Erst im Jahre 1844 trat er in einem umfänglichen Werk mit seinen Ideen an die Öffentlichkeit. Schon der Titel des Buches „Die Wissenschaft der extensiven Grösse oder die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische Disciplin, . . . Erster Theil, die lineale Ausdehnungslehre“ (A1), zeugt von der Bedeutung, die Graßmann seinen neuen mathematischen Entwicklungen beimißt. Die Ansätze von 1840 hatten sich nunmehr zu einer umfassenden Theorie ausgewachsen. „. . . äußerst schwer zugänglich, ja fast unlesbar . . .“54 , enthält diese Arbeit nichts Geringeres als die
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Alfred Clebsch zu den Leistungen Graßmanns „Leider sind die schönen Arbeiten dieses höchst bedeutsamen Geometers noch immer wenig gekannt; was wohl hauptsächlich dem Umstande zuzuschreiben ist, dass in der Darstellung Graßmanns diese geometrischen Resultate als Corollare viel allgemeinerer und sehr abstracter Untersuchungen auftreten, die in ihrer ungewöhnlichen Form dem Leser nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereiten.“55
Entwicklung der n-dimensionalen affinen Algebra. Im Gegensatz zur diskussionswürdigen Darstellung ist der Aufbau der Schrift meisterhaft. Graßmann leitet sein Werk mit philosophisch-methodologischen Ausführungen ein. Der durch die Entwicklung seiner neuen Theorie induzierten Analyse zur Gegenstandserweiterung der Mathematik folgen methodisch-methodologische Betrachtungen und eine Einordnung der neuen Theorie in das Gefüge der Mathematik.56 Der mathematische Teil der Arbeit beginnt mit der Konzipierung einer „allgemeinen Formenlehre“. Ausgehend von der Auffassung der Mathematik als Formenlehre, untersucht er ganz abstrakt die allgemeinsten Strukturen der konkreten „Verknüpfung von Formen“.57 Hierbei hebt er die „einfachen Verknüpfungen“ hervor, von denen er die Moduleigenschaften fordert, d. h. die Assoziativität, die Kommutativität sowie die Existenz des inversen und des neutralen Elementes. An die derart bestimmte Verknüpfung erster Stufe oder „formale Addition“ schließt er die Untersuchung der Verknüpfung zweiter Stufe („formale Multiplikation“) an, von der er nur die Distributivität bezüglich der formalen Addition verlangt. Die Gültigkeit der Moduleigenschaften für die formale Addition und der Distributivität für die formale Multiplikation wird direkt als Konstruktionsprinzip dieser Verknüpfungen postuliert: „Es ist dies überhaupt die Art“, schreibt er, „wie von vorne herein, das heisst wenn noch keine Verknüpfungsart gegeben ist, eine solche nebst der sich daran anschliessenden höheren bestimmt werden kann.“58 Da Graßmann von den durch Verknüpfung zweiter Stufe erzeugten Formen nicht die Einbettung in den Grundbereich fordert, kann ihm im weiteren diese Verknüpfungsweise zur formalen Erzeugung neuer mathematischer Objekte dienen. Die formalen Verknüpfungen werden nach Graßmann zu „realen“ durch die „Natur der zu verknüpfenden Grössen“59 , d. h. durch Konkretion. Bei den realen Verknüpfungen können dabei weitere strukturelle Bestimmungen hinzutreten – so bei der gewöhnlichen Multiplikation die Kommutativität und die Assoziativität. Die Graßmannsche Formenlehre schließt damit das Permanenzprinzip als Spezialfall mit ein.
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Der Körperbegriff gehört bei Graßmann – im Gegensatz zu Hamilton – nicht zu den allgemeinsten Begriffen, sondern ist für ihn an die Objekte besonderer mathematischer Disziplinen, wie der Arithmetik der reellen Zahlen, gebunden. Nachdem Graßmann durch diese, in ihrer Allgemeinheit bisher beispiellosen gruppentheoretisch-strukturellen Abstraktionen60 das Fundament für alle mathematischen Disziplinen gelegt hat, beginnt er mit der eigentlichen Darstellung seiner neuen mathematischen Disziplin. Er behandelt diese in zwei Abschnitten, überschrieben mit „Die Ausdehnungsgrösse“ und „Die Elementargrösse“61 . Im ersten Abschnitt werden im wesentlichen die Ansätze zur „Strekkenrechnung“ aus seiner Prüfungsschrift, jedoch noch ohne Bezugnahme auf den Begriff des inneren Produktes, weitergeführt und verallgemeinert. Er löst sich nunmehr von der Geometrie, die er nicht mehr der reinen Mathematik zuordnet62 und wendet sich der Untersuchung eines „n-fachen Ausdehnungsgebildes von Elementen schlechthin“ zu. Im modernen Sprachgebrauch ist hierunter nichts anderes als der n-dimensionale affine Punktraum zu verstehen. An die Stelle der geometrisch-mechanischen Auffassungen von der geraden Linie als einem durch die Bewegung eines Punktes erzeugten Gebilde tritt bei Graßmann nunmehr das „Gebiet erster Stufe“ als die „Gesammtheit . . . aller Elemente, welche durch Fortsetzung derselben und der entgegengesetzten [stetigen – H.-J. P.] Grundänderung erzeugbar sind“63 . Auf ähnlich abstrakte Weise wird der Begriff der „Ausdehnungsgrösse erster Stufe“ (freier Vektor) aus dem Begriff der Strecke gewonnen und der Begriff des „Gebietes n-ter Stufe“ (entspricht dem affinen Punktraum) eingeführt. Um einen Eindruck von der begrifflichen Entwicklung Graßmanns zu gewinnen, sei exemplarisch das folgende etwas längere Zitat angeführt, das die Erzeugung einer Ausdehnungsgröße erster Stufe beschreibt: „Das Ausdehnungsgebilde wird nur dann als ein einfaches erscheinen, wenn die Aenderungen, die das erzeugende Element erleidet, stets einander gleich gesetzt werden; so dass also, wenn durch eine Aenderung aus einem Element a ein anderes b hervorgeht, welche beide jenem einfachen Ausdehnungsgebilde angehören, dann durch eine gleiche Aenderung aus b ein Element c desselben Ausdehnungsgebildes erzeugt wird, und zwar wird diese Gleichheit auch dann noch stattfinden müssen, wenn a und b als stetig aneinandergränzende Elemente aufgefasst werden, da diese Gleichheit durchweg bei der stetigen Erzeugung stattfinden soll. Wir können eine solche Aenderung, durch die aus einem Element einer stetigen Form ein nächst angränzendes erzeugt wird, eine Grundänderung nennen, und werden dann sagen:
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‚das einfache Ausdehnungsgebilde sei ein solches, das durch stetige Fortsetzung derselben Grundänderung hervorgeht.‘ In demselben Sinne nun, in welchem die Aenderungen einander gleich gesetzt werden, werden wir auch die dadurch erzeugten Gebilde gleich setzen können, und in diesem Sinne, dass nämlich das durch gleiche Aenderungen auf dieselbe Weise Erzeugte selbst gleichgesetzt werde, nennen wir das einfache Ausdehnungsgebilde erster Stufe eine Ausdehnungsgrösse oder Ausdehnung erster Stufe oder eine Strecke. Es wird also das einfache Ausdehnungsgebilde zur Ausdehnungsgrösse, wenn wir von den Elementen, die das erstere enthält, absehen, und nur die Art der Erzeugung festhalten; und während zwei Ausdehnungsgebilde nur dann einander gleich gesetzt werden können, wenn sie dieselben Elemente enthalten, so zwei Ausdehnungsgrössen schon dann, wenn sie, auch ohne dieselben Elemente zu enthalten, auf gleiche Weise (das heisst durch dieselben Aenderungen) erzeugt sind.“64 Schon zu Graßmanns Zeiten konnten diese Begriffsbildungen den Anforderungen der mathematischen Strenge nicht gerecht werden. Sein groß angelegter Versuch, die Ausdehnungslehre unabhängig von den anderen mathematischen Disziplinen, insbesondere von der Geometrie und der Analysis, zu begründen, führte zuweilen zu unscharfen Begriffsbildungen (z. B. bei „Grundänderung eines Elementes“). Das Bestreben Graßmanns, alle Begriffe in der allgemeinsten Form, welcher sie fähig waren, darzustellen, die einfachen Grundgedanken hervortreten zu lassen und Nebensächliches und Wechselndes in den Hintergrund zu drängen, gibt der Ausdehnungslehre von 1844 ein dem Mathematiker ungewohntes, halbphilosophisches Gepräge mit äußerst sparsamen Formelapparat. Die Zwiespältigkeit dieser Denkhaltung Graßmanns wird von F. Engel prägnant erfaßt, wenn er schreibt: „Verdankt nun auch sein Werk diesem Bestreben sehr wesentliche Vorzüge, die es in einzelnen seiner Teile geradezu als vorbildlich erscheinen lassen, und ist Graßmann auch auf diesem Wege zu äusserst wichtigen Einsichten in die Prinzipien der mathematischen Wissenschaft gelangt – wir erinnern beispielsweise nur an seine Theorie der . . . Verknüpfungen und an seine allgemeine Auffassung der Multiplikation – so kann doch nicht geleugnet werden, dass Graßmann in seinem Streben nach Allgemeinheit zuweilen den festen Boden unter den Füssen verloren hat.“65 Um Graßmann gerecht zu werden, muß man indes hervorheben, daß sich diese Begriffsunschärfen nur auf einige Grundbegriffe sowie auf seine unbefriedigende Kritik der euklidischen Geometrie erstrecken. Auch diese Mängel lassen sich leicht korrigieren. Beispielsweise wird der Begriff der „Grundänderung“ sofort klar, wenn man ihn durch den der Parallel-
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verschiebung im n-dimensionalen Raum ersetzt. Alle sich anschließenden Entwicklungen Graßmanns lassen dann kaum an Strenge zu wünschen übrig. Aufschlußreich ist ein Vergleich mit Riemann.
Graßmann und Riemann zur Erzeugungsweise höherdimensionaler Räume Graßmanns begriffliche Entwicklung des Ausdehnungsgebietes höherer Stufenzahl in der Ausdehnungslehre von 1844:
Riemanns begriffliche Entwicklung der Erzeugung von Mannigfaltigkeiten höherer Dimension im Habilitationsvortrag von 1854:
„Nehme ich nun, um zu den Verknüpfungen verschiedenartiger Strecken zu gelangen, zunächst zwei verschiedenartige Grundänderungen an, und lasse ein Element die erste Grundänderung (oder deren entgegengesetzte) beliebig fortsetzen und dann das so geänderte Element in der zweiten Aenderungsweise gleichfalls beliebig fortschreiten, so werde ich dadurch aus einem Element eine unendliche Menge neuer Elemente erzeugen können, und die Gesammtheit der so erzeugbaren Elemente nenne ich ein System zweiter Stufe. Nehme ich dann ferner eine dritte Grundänderung an, . . .“66 .
„Geht man bei einem Begriffe, dessen Bestimmungsweisen eine stetige Mannigfaltigkeit bilden, von einer Bestimmungsweise auf eine bestimmte Art zu einer andern über, so bilden die durchlaufenen Bestimmungsweisen eine einfach ausgedehnte Mannigfaltigkeit, deren wesentliches Kennzeichen ist, dass in ihr von einem Punkte nur nach zwei Seiten, vorwärts oder rückwärts, ein stetiger Fortgang möglich ist. Denkt man sich nun, dass diese Mannigfaltigkeit wieder in eine andere, völlig verschiedene, übergeht, und zwar wieder auf eine bestimmte Art, d. h. so, dass jeder Punkt in einen bestimmten Punkt des andern übergeht, so bilden sämmtliche so erhaltene Bestimmungsweisen eine zweifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit. In ähnlicher Weise erhält man eine dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit . . .“67 .
Stellt man die Ausführungen Graßmanns denen Riemanns gegenüber, so wird deutlich, daß das philosophische Abstraktionsniveau und das Grundprinzip bei beiden übereinstimmt. Unterschiedlich ist nur, daß Riemann die Erzeugungsweise von Mannigfaltigkeiten noch allgemeiner als Graßmann bestimmt und somit über den Rahmen der affinen Geometrie weit hinaus geht. Eine Beeinflussung Riemanns durch die Gedanken der zehn Jahre vor seinem Habilitationsvortrag erschienenen Graßmannschen Ausdehnungslehre war nicht nachweisbar. In der Einleitung seines Habilitationsvortrages verweist Riemann nur auf Arbeiten von Gauß und Herbart, die er zur Ausarbeitung herangezogen habe.68
3.3 Die Ausdehnungslehre von 1844 und die Kurventheorie
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Kehren wir jedoch zu den mathematischen Entwicklungen der Ausdehnungslehre zurück. Vermittels der besonderen Erzeugungsweise des „Ausdehnungsgebietes n-ter Stufe“ (n-dimensionaler affiner Punktraum) verfügt Graßmann über ein System von n paarweise disjunkten Teilräumen, in denen jeweils linear unabhängige Vektoren liegen. Anknüpfend an den Begriff der formalen Addition, den er in der allgemeinen Formenlehre konzipiert hatte, und ausgehend von der Vorstellung der Überlagerung der „Änderungsweisen der Elemente des Ausdehnungsgebietes“ (Parallelverschiebungen der Punkte), kommt Graßmann schrittweise zur Einführung der Vektoraddition. „Wenn zwei Strecken gegeben sind“, bemerkt Graßmann hierzu, „und man ändert ein beliebiges Element um einen Theil der ersten, und dann (fortschreitend) um den entsprechenden Theil der zweiten, so bildet die Gesammtheit der so erzeugbaren Elemente die Summe jener beiden Strecken.“69 Auch hier dürfte die Ausdrucksweise den zeitgenössischen Mathematiker eher abgestoßen haben. Das Bemühen, seine Untersuchungen von der besonderen Art der Basisdarstellung der Vektoren (nach Graßmann: „besondere Erzeugungsweise der Elemente“) unabhängig zu machen, findet seinen Ausdruck in der begrifflichen Entwicklung des – 1861 von ihm vollständig formalisierten und ein halbes Jahrhundert später von Steinitz wiederentdeckten70 Austauschsatzes der Basisvektoren. Hierbei führt er den Beweis für die folgende Formulierung dieses Satzes: „Ich will zuerst zeigen, dass, wenn das System durch irgend welche m Aenderungsweisen erzeugbar ist, ich dann statt jeder beliebigen derselben eine neue von den (m 1) übrigen unabhängigen demselben System m-ter Stufe angehörige Aenderungsweise (p) einführen, und durch diese in Verbindung mit den (m 1) übrigen das gegebene System erzeugen kann.“71 Gleichzeitig kommt Graßmann über den Begriff der linearen Unabhängigkeit von Vektoren zur Dimensionsbestimmung des „Ausdehnungsgebietes“, wenn er vermerkt: „Jedes System m-ter Stufe kann erzeugt gedacht werden durch je m unabhängige Aenderungsweisen desselben aus jedem beliebigen Element desselben, das heisst aus Einem solchen Elemente können alle übrigen durch jene Aenderungsweisen erzeugt werden.“72 Auf diesem Stand der Entwicklung angelangt, kehrt Graßmann zu seinem Ausgangspunkt, der Kritik der bisherigen Geometrieauffassung, zurück. Er will, gemäß seiner Auffassung, daß die Geometrie die Wissenschaft vom realen Raum ist, nur jene Grundsätze in ihr gelten lassen, welche der „Anschauung des Raumes“73 entnommen sind. Dieser Grundgedanke veranlaßt ihn, von kinematischen Erwägungen beeinflußt, die geometrischen Grundsätze auf zwei zu reduzieren, welche die „Grundeigenschaften des Raumes . . ., wie sie unserer Vorstellung ursprünglich mitgegeben sind, nämlich dessen Einfachheit und relative
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Beschränktheit“74 zum Ausdruck bringen sollen. Der Einfachheit des Raumes entspricht laut Graßmann der Grundsatz: „Der Raum ist an allen Orten und nach allen Richtungen gleich beschaffen, das heisst an allen Orten und nach allen Richtungen können gleiche Konstruktionen vollzogen werden. Dieser Grundsatz zerfällt . . . seinem Ausdruck nach in zwei Grundsätze, von denen der eine die Möglichkeit der Fortbewegung, der andere die Möglichkeit der Schwenkung setzt . . .“75 Die Beschränktheit des Raumes kommt nach ihm zum Ausdruck in der Begrenzung der Dimensionen auf drei. Mit dieser Bestimmung des physikalischen Raumes als homogen, isotrop und dreidimensional, die bei Graßmann wesentlich an den Bewegungsbegriff geknüpft ist, nimmt er Denkansätze vorweg, welche später – unabhängig von Graßmann – in der von Helmholtz entwickelten bewegungsgeometrischen Konzeption zum Tragen kommen sollten.76 Graßmann befindet sich jedoch im Irrtum, wenn er annimmt, daß diese zwei Grundsätze die Struktur des realen Raumes vollständig charakterisieren. Dieser Trugschluß hängt offensichtlich mit der Unkenntnis der Bedeutung des Krümmungsmaßes für den Charakter des Raumes zusammen. Nur wenn das Krümmungsmaß des Raumes gleich Null gesetzt wird, folgt aus den beiden Grundsätzen Graßmanns wirklich der euklidische Charakter des Raumes.
Helmholtz zum physikalischen Raum „Somit zeigt sich, daß der Raum als Gebiet meßbarer Größen betrachtet, keineswegs dem allgemeinsten Begriffe einer Mannigfaltigkeit von drei Dimensionen entspricht, sondern noch besondere Bestimmungen erhält, welche bedingt sind durch die vollkommen freie Beweglichkeit der festen Körper mit unveränderter Form nach allen Orten hin und bei allen möglichen Richtungsänderungen; ferner durch den besonderen Wert des Krümmungsmaßes, welches für den tatsächlich vorliegenden Raum gleich Null zu setzen ist . . . Diese letztere Festsetzung ist in den Axiomen von den geraden Linien und von den Parallelen gegeben.“77
In diesem konkreten Fall gelang es Graßmann – wie vielen der hervorragendsten Geometer seiner Zeit – nicht, die „größte Schwierigkeit . . ., daß sich mit den logischen Begriffsentwickelungen gar zu leicht Ergebnisse der alltäglichen Erfahrung als scheinbare Denknotwendigkeiten vermischen . . .“78 , zu überwinden. Gleichzeitig verschloß er sich damit jeglichen weiteren Zugang zur nichteuklidischen Geometrie. Erst Riemann und Helmholtz sollte es elf bzw. fünfundzwanzig Jahre später gelingen, sich, von analogen Vorstellungen ausgehend, diese tiefere Einsicht zu erschließen.
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Im Anschluß an den Exkurs über die Grundlagen der Geometrie wendet sich Graßmann der Mechanik zu. Die Tragfähigkeit der Vektoraddition für die Behandlung der Bewegung eines Systems von Punktmassen – Schwerpunktbestimmung, Ermittlung der resultierenden Geschwindigkeit etc. – wird plastisch vor Augen geführt. Der sich in den bisherigen Ausführungen Graßmanns andeutende Wechsel zwischen abstrakten Untersuchungen zum n-dimensionalen affinen Punktraum einerseits und hinführenden bzw. illustrierenden Darlegungen zur Geometrie und Mechanik andererseits ist kennzeichnend für die Darstellungsweise und den methodischen Aufbau der Ausdehnungslehre von 1844. Häufig beginnen Graßmanns abstrakte Untersuchungen des n-Dimensionalen mit Analogieüberlegungen im Rahmen der geometrischen Anschauung und münden schließlich wieder ein in Anwendungsbeispiele aus dem Bereich der Geometrie und der Mechanik. Auch bei der Einführung der äußeren Multiplikation von Vektoren beschreitet er diesen Weg. So beginnt der § 28 der Ausdehnungslehre mit den Worten: „Wir gehen zuerst von der Geometrie aus, um aus ihr die Analogie zu gewinnen, nach welcher die abstrakte Wissenschaft fortschreiten muss, und sogleich eine anschauliche Idee vor Augen zu haben, welche uns durch die unbekannten und oft beschwerlichen Wege der abstrakten Entwickelung geleitet.“79 Durch die Charakterisierung orientierter Parallelogrammflächen als nichtkommutatives Produkt der sie aufspannenden Vektoren gelangt Graßmann, stets geleitet von den Prinzipien seiner allgemeinen Formenlehre, in beeindruckenden begrifflichen Entwicklungen schrittweise zur Bestimmung des äußeren Produktes von m Vektoren des n-dimensionalen Vektorraumes. Die bei dieser Verknüpfung erhaltenen neuen mathematischen Objekte (Multivektoren)31 werden interpretiert als orientierte Parallelotope. Die Distributivität der äußeren Multiplikation bezüglich der Vektoraddition sowie der Vorzeichenwechsel bei Kommutation beliebiger Faktoren werden herausgearbeitet. In seinen philosophisch-methodologischen Vorbetrachtungen hatte Graßmann betont, daß die Ausdehnungslehre das stetige Gegenstück der Kombinationslehre sei.80 Diese Parallelisierung von Ausdehnungslehre und Kombinationslehre findet nunmehr mathematischen Ausdruck in dem engen Zusammenhang zwischen den äußeren Produkten von Vektoren und der Determinantentheorie einerseits sowie in der impliziten gruppentheoretischen Durchdringung der gesamten Ausdehnungslehre andererseits.81 Graßmann wird sich in der Ausdehnungslehre von 1844 dieses Sachverhalts insofern bewußt, als er die Anwendung der äußeren Multiplikation auf die Lösung von linearen inhomogenen Gleichungssystemen illustriert82 und hierbei zu den gleichen Formeln gelangt, welche die Determinantentheorie liefert.
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17 Jahre später zeigt er in seiner vollständig überarbeiteten und erweiterten Ausgabe der Ausdehnungslehre explizit, wie man mit Hilfe des äußeren Produkts von n Vektoren des n-dimensionalen Vektorraumes auf einfache Weise die Sätze der Determinantentheorie beweisen kann.83 Gerade diese Behandlung der Determinantentheorie durch Graßmann war es, welche das besondere Interesse Hankels erregte und Anlaß zu einem intensiven Briefwechsel zwischen beiden Forschern gab.84 Im weiteren Aufbau seiner äußeren Vektoralgebra geht Graßmann folgerichtig dazu über, die Addition und die äußere Multiplikation von Multivektoren („Addition und Multiplikation von Größen höherer Stufe“) zu untersuchen. Hieran schließen sich Betrachtungen über die Möglichkeit und Eindeutigkeit einer Umkehroperation zur äußeren Multiplikation an, die Graßmann mit dem Namen „äußere Division“ belegt.85 Vermittels des Nachweises der Eindeutigkeit des „Quotienten gleichartiger Größen“, d. h. des Quotienten zweier Multivektoren, welche den gleichen Unterraum aufspannen, gelangt er schließlich im Rahmen der Ausdehnungslehre zur Einführung der Zahlgrößen als „Größen nullter Stufe“. Dieses Vorgehen charakterisiert das Bestreben Graßmanns, seine Theorie unabhängig von den übrigen mathematischen Disziplinen, insbesondere auch von der Arithmetik, aufzubauen. Bei der Lösung der sich objektiv abzeichnenden Problemstellung der Umgestaltung der Geometrie war Graßmann, ähnlich wie Möbius, seinen Zeitgenossen in einigen Fragen weit voraus. Davon zeugt sowohl die von metrischen Betrachtungen völlig befreite Behandlung der Geometrie
Graßmanns Geometriekritik: Zum Verhältnis von Messung, Zahl und Größe „Es ist als ein wesentlicher Uebelstand bei den bisherigen Darstellungen der Geometrie zu betrachten, dass man bei der Behandlung der Aehnlichkeitslehre auf diskrete Zahlenverhältnisse zurückzugehen pflegt. Dies Verfahren, was sich zuerst leicht darbietet, verwickelt . . . bald genug in die schwierigen Untersuchungen über inkommensurable Grössen; und es rächt sich das Aufgeben des rein geometrischen Verfahrens gegen ein dem ersten Anscheine nach leichteres durch das Auftreten einer Menge schwieriger Untersuchungen von ganz heterogener Art, welche über das Wesen der räumlichen Grössen nichts zur Anschauung bringen. Allerdings kann man sich nicht der Aufgabe entziehen, die räumlichen Grössen zu messen und das Resultat dieses Messens in einem Zahlenbegriff auszudrücken. Allein diese Aufgabe kann nicht in der Geometrie selbst hervortreten, sondern nur dann, wenn man ausgerüstet einerseits mit dem Zahlenbegriff, andrerseits mit den räumlichen Anschauungen, jenen auf diese anwendet, also in einem gemischten Zweige, welchen wir im allgemeinen Sinne mit dem Namen der Messkunde belegen können. . . . Bis auf diesen Zweig nun die Aehnlichkeitslehre oder auch noch gar die Flächeninhaltslehre hinausschieben zu wollen, wie es zwar nicht der Form nach, aber dem Gehalte nach in der That bisher geschehen ist, hiesse die (reine) Geometrie ihres wesentlichen Inhaltes berauben.“86
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in Form der affinen Geometrie – metrische Betrachtungen sollten erst 1847 in der „geometrischen Analyse“ in Verbindung mit der Einführung des inneren Produktes von Vektoren (Skalarprodukt) hinzutreten – als auch der von der Zahlentheorie unabhängige Aufbau der Geometrie. Von Seiten der Geometrie gab es für Graßmann zwei, bis auf Euklid zurückgehende Ansätze, um den Zahlbegriff zu umgehen. Es handelt sich hierbei zum einen um die Strahlensätze, zum anderen um Aussagen über die Flächengleichheit von Dreiecken (Parallelogrammen), welche einen Winkel gemeinsam haben und in denen die diesen Winkel einschließenden Seiten umgekehrt proportional sind. Legt man dem einen oder anderen Ansatz „einer Definition der Proportion zwischen Strecken zu Grunde, so drücken sich die fundamentalen Eigenschaften der Proportionen in Behauptungen über den Parallelismus oder über die Flächengleichheit aus, und diese müssen also direkt bewiesen werden, ohne daß der Begriff des Verhältnisses und damit des Zahlbegriffes zu Hilfe genommen wird.“87 Beide Wege werden von Graßmann vermittels der Distributivität der äußeren Multiplikation gleichzeitig verwirklicht. Graßmann lieferte damit im vollen Bewußtsein der Tragweite seiner Geometriekritik einen Beitrag zur axiomatischen Grundlegung der Geometrie, die erst 1899 mit Hilbert (Hilbert 1900) ihren relativen Abschluß fand. Auf den letzten Seiten des ersten Abschnittes seiner Ausdehnungslehre führt Graßmann den Begriff der Projektion („Abschattung“) von Vektoren und Multivektoren nach einem gegebenen Unterraum ein und liefert den Nachweis für die Invarianz aller bisher eingeführten Vektorverknüpfungen gegenüber dieser neuen Operation.88 Daran anknüpfend behandelt er die Koordinatentransformation im n-dimensionalen Vektorraum und stellt die Gleichungen für die affinen Transformationen im dreidimensionalen Punktraum auf. Erwuchsen im ersten Abschnitt der Ausdehnungslehre alle Untersuchungen aus der Zugrundelegung des Begriffs der Strecke, so geht Graßmann im zweiten Abschnitt dazu über, die affine Geometrie auf dem Grundbegriff des Punktes aufzubauen. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet hierbei die Addition einer Anzahl starrer Ortsvektoren („Abweichungen der Elemente von einem gegebenen Element“). Da nun der Endpunkt des resultierenden Ortsvektors des Systems („Gesamtabweichung“) unabhängig von der Wahl des Ausgangspunktes der Ortsvektoren ist, setzt er anstelle der Addition der Vektoren unmittelbar die Addition der Punkte. In dieser Weise gewinnt Graßmann, vom Vektorbegriff ausgehend, dieselbe „Addition der Punkte“, die Möbius 1827 in seinem barycentrischen Calcul (Möbius 1827) aufstellte. Unverkennbar tritt in der Anlage des zweiten Abschnittes der Ausdehnungslehre der Einfluß des Möbiusschen Werkes hervor.
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Wie Möbius ordnet Graßmann den Punkten des Raumes Gewichte zu, die er als die Koeffizienten dieser Punkte interpretiert, so daß der Größenbegriff auf sie anwendbar wird. Die geometrische Summe eines derart mit Gewichten belegten Systems von Punkten ergibt dann den Schwerpunkt des Systems. Einfache Punkte betrachtet Graßmann als mit dem Gewicht 1 behaftet. Im allgemeinen normiert er daher auch die Koeffizientensumme eines Punktsystems auf 1, so daß er vollständig im Rahmen der affinen Geometrie verbleibt. Als Grundbegriff aller weiteren Untersuchungen kreiert Graßmann den Begriff der Elementargröße. Diesen definiert er wie folgt: „Jedes Gebilde wird dadurch als Grösse fixirt, dass der Bereich seiner Gleichheit und Verschiedenheit bestimmt wird. Wir bezeichnen daher zwei Elementarvereine [d. h. Systeme gewichteter Punkte – H.-J. P.] als gleiche Grössen und zwar als gleiche Elementargrössen, wenn ihre Abweichungen von denselben Elementen jedesmal gleichen Werth haben. Ein Elementarverein wird also zur Elementargrösse, wenn man von der besonderen Art seiner Zusammensetzung absieht und nur die Abweichungswerthe festhält, welche er mit anderen Elementen bildet, so dass also eine Elementargrösse auf verschiedene Weise als Elementarverein da sein kann, und jeder Elementarverein als eine besondere Verkörperung einer Elementargrösse . . . aufzufassen ist.“89 In seinen weiteren Entwicklungen sucht Graßmann nach elementaren Repräsentanten für Elementargrößen. Ist die Summe der Gewichte eines Punktsystems ungleich Null, so läßt sich das System durch seinen Schwerpunkt ersetzen, und dieser wird damit für Graßmann zu einem einfachen Repräsentanten einer Elementargröße. Ist hingegen die Summe der Gewichte gleich Null, so repräsentiert der Summenpunkt einen „ins Unendliche“ gerückten Punkt der Masse Null, welcher sich, wie Graßmann zeigt, stets als wohlbestimmte Differenz B A zweier Punkte gleichen Gewichts darstellen läßt. Diese Differenz wird von Graßmann nunmehr als vom Punkt A zum Punkt B gerichteter, räumlich aber frei verschiebbarer Vektor („Strecke“) interpretiert und als Repräsentant einer Elementargröße vom Gewicht Null gewählt. Damit sind die Elementargrößen erster Stufe vollständig beschrieben: sie stellen sich dar als gewichtete Punkte und freie Vektoren. Eine derartige Begriffsentwicklung erlaubte nun Graßmann, die Untersuchungen zur Vektorrechnung im ersten Abschnitt der Ausdehnungslehre als Sonderfall in die Theorie der Elementargrößen einzubetten. Der Fortschritt des zweiten Abschnittes besteht somit in einer Erweiterung des Vektorbegriffs, die von Graßmann durch die Einführung der Elementargröße vollzogen wird. Es werden nicht mehr nur gerichtete Strecken des affinen Raumes als Vektoren behandelt, sondern den Punkten des affinen Raumes selbst werden Vektoren zugeordnet. Be-
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sonders einfach lassen sich diese beiden Arten von Vektoren, oder mit Graßmann, „Arten von Elementargrößen“, durch (n C 1)-Tupel reeller Zahlen beschreiben. Die den Punkten zugeordneten Vektoren werden hierbei durch (n C 1)-Tupel dargestellt, an deren erster Stelle das dem Punkt zugeordnete Gewicht steht, während den freien Vektoren (n C 1)Tupel entsprechen, deren erste Stelle stets von einer Null belegt ist. Die Realisierung dieser Addition der (n C 1)-Tupel ist hierbei offensichtlich. In den weiteren Entwicklungen folgt Graßmann dem Gange des ersten Abschnittes. Die Ausdehnung des Begriffes der äußeren Multiplikation auf Elementargrößen liefert für den Fall, daß sämtliche Faktoren freie Vektoren sind, keine neuen Ergebnisse. Alle anderen Fälle, in denen die Faktoren entweder nur Punktgrößen sind oder sowohl Punktgrößen als auch freie Vektoren auftreten, lassen sich, wie Graßmann zeigt, auf die Form des äußeren Produktes einer Punktgröße mit einem Multivektor bringen. Die auf diese Weise gewonnenen neuen Größen werden von Graßmann als „starre Elementargrößen“ bezeichnet. Sie stellen nichts anderes dar als gebundene Multivektoren – d. h. das äußere Produkt zweier Punkte oder eines Punktes und eines Vektors ergibt einen linienflüchtigen Vektor („Liniengrösse“); das äußere Produkt dreier Punkte oder zweier Punkte und eines Vektors oder eines Punktes und zweier Vektoren ergibt einen gebundenen, d. h. in nur einer Ebene frei verschiebbaren Bivektor („Plangrösse“) usw.
Definition der „starren Elementargröße“ durch Graßmann „Wir nennen nun ein Produkt von n Elementargrössen erster Stufe oder eine Summe von solchen Produkten eine Elementargrösse n-ter Stufe, und ein solches Produkt, dessen einfache Faktoren nicht sämmtliche Strecken sind, eine starre Elementargrösse. Somit haben wir den Satz gewonnen, ‚dass eine starre Elementargrösse n-ter Stufe sich als Produkt eines Elementes in eine Ausdehnung (n 1)-ter Stufe darstellen lässt, dass diese Ausdehnung, welche wir die Ausweichung jener Elementargrösse nennen, durch dieselbe vollkommen bestimmt sei, dass aber als Element jedes beliebige angenommen werden kann, was dem durch die einfachen Faktoren der Elementargrösse bestimmten Systeme angehört‘.“90
Im Rahmen der Diskussion des äußeren Produktes von m Punkten des affinen Raumes ist noch die Frage nach der Ausdehnung der dieses Produkt repräsentierenden räumlichen Größe offen. Graßmann definiert diese Ausdehnung als das durch die m Punkte aufgespannte Simplex („Eckengebilde“). Durch den Nachweis, daß das durch das äußere Produkt der m Punkte gebildete (m 1)-dimensionale Parallelotop sich
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in m! derartige Simplexe zerlegen läßt, stellt Graßmann die Einheit der Begriffsbildungen wieder her. 1861 gibt er jedoch diese Definition der Ausdehnung einer „starren Elementargrösse“ durch das aufgespannte Simplex wieder auf und bestimmt sie nunmehr als Parallelotopvolumen, da er sich andernfalls größeren Schwierigkeiten bei der Einführung des Skalarproduktes gegenübergesehen hätte. In einer Anmerkung seiner zweiten Bearbeitung der Ausdehnungslehre (A2) aus dem Jahre 1861 schreibt er diesbezüglich: „Man hätte als Inhalt des Flächenteiles ABC auch den Flächeninhalt des Dreiecks ABC setzen können. Aber es wird sich in der Folge . . . zeigen, dass dann der Inhalt des inneren Quadrates einer Strecke nur die Hälfte von dem Inhalte des Quadrates (der Länge) dieser Strecke sein würde, während beides bei unserer Benennung in Uebereinstimmung ist.“91 Im Anschluß an diesen topologischen Exkurs94 gelangt Graßmann in der Anwendung seiner Begriffsbildungen auf die Geometrie zu beachtlichen Erkenntnissen über die verschiedenen Möglichkeiten von Koordinatensystemen. Hervorgehoben sei hier nur, daß Graßmann aus seinen Prinzipien mühelos die homogenen (und inhomogenen) Punkt-, Linien-
Graßmann zur Koordinatenbestimmung „Nehmen wir vier starre Elementargrössen (das heisst vielfache Elemente) als Grundmasse an, so haben wir die von Möbius in seinem barycentrischen Kalkül zu Grunde gelegte Art der Koordinatenbestimmung, . . . Als Richtgebiete zweiter Stufe erscheinen hier sechs gerade Linien, welche je zwei der Richtelemente verbinden und als Kanten einer Pyramide erscheinen, welche jene Richtelemente zu Ecken hat; als Richtgebiete dritter Stufe vier Ebenen, welche durch je drei der Richtelemente gelegt sind und als Seitenflächen jener Pyramide erscheinen; und die Richtmasse zweiter und dritter Stufe stellen Theile jener Linien und Ebenen dar; . . . Jede Elementargrösse erster Stufe, . . . kann im Raum als Vielfachsumme der vier Grundmasse dargestellt werden; jede Elementargrösse zweiter Stufe, mag sie nun eine Liniengrösse oder ein Flächenraum von konstanter Richtung, oder eine Summengrösse sein, kann als Summe von sechs Liniengrössen dargestellt werden, welche den oben erwähnten sechs Linien angehören; kurz jede Grösse kann als Vielfachsumme der Richtmasse gleicher Stufe, oder als Summe von Stücken, welche den Richtgebieten gleicher Stufe angehören, dargestellt werden.“92 Das heißt, sind X D (x1 , x2 , x3 , x4 ) und Y D (y1 , y2 , y3 , y4 ) die homogenen Koordinaten zweier Punkte des projektiven Raumes, so stellt ihr äußeres Produkt die Summe der sechs Unterdeterminanten x1 y2 y1 x2 , x1 y3 y1 x3 , x1 y4 y1 x4 , x2 y3 y2 x3 , x2 y4 y2 x4 , x3 y4 y3 x4 dar, welche mit den Linienkoordinaten pj k Plückers identisch sind. Diese wichtigen Resultate, die Graßmann offensichtlich den Anregungen Möbius’ verdankt, wurden von seinen Zeitgenossen ebenfalls nicht beachtet. Erst Alfred Clebsch sollte gelegentlich eines Nachrufes auf Julius Plücker (1871) auf sie aufmerksam machen.93
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und Ebenenkoordinaten gewinnt und damit insbesondere Plücker in der Definition der Linien- und Ebenenkoordinaten vorgreift. Wohlgemerkt: Dies will nicht besagen, daß Graßmann der erste war, der Linien- und Ebenengeometrie betrieb: dies taten vor ihm schon Chasles, Plücker u. a.95 Er verfügte jedoch bereits über eine exakte Begriffsbestimmung der Linien- und Ebenenkoordinaten96 und griff damit Plücker um zwei Jahre vor. Selbst die Bedingungsgleichung für die Linienkoordinaten, die im allgemeinen A. Cayley (1860) zugeschrieben wird, stellte Graßmann in der Ausdehnungslehre von 184497 als Zwischenergebnis einer Untersuchung zur Mechanik beiläufig auf.98 Hatte Graßmann in den Untersuchungen des zweiten Abschnittes der Ausdehnungslehre bisher im wesentlichen die Begriffsbildungen des ersten Abschnittes auf die Elementargröße verallgemeinernd angewendet, so führt er nunmehr, nach der Behandlung der Koordinatenproblematik, eine neue Form der Produktbildung für diese vektoriellen Größen ein. In schwer zugänglichen, vom übersteigerten Streben nach höchster Abstraktion gekennzeichneten begrifflichen Entwicklungen99 gelangt er zu einer dem äußeren Produkt dualistisch gegenüberstehenden Produktverknüpfung, der er die Bezeichnung „eingewandtes Produkt“ gibt (später, in der Neubearbeitung der Ausdehnungslehre 1861, heißt die Verknüpfung dann „regressives Produkt“ und wird umfassend entwickelt). Seine Überlegungen knüpft Graßmann an Dimensionsbetrachtungen über die Erzeugendensysteme zweier in eine multiplikative Verknüpfung eintretender Multivektoren A und B. Hierbei gewinnt er die fundamentale Beziehung: Dim(A) C Dim(B) D Dim(A C B) C Dim(A \ B), d. h. die Summe der Dimensionen der Erzeugendensysteme von A und B ist gleich der Summe der Dimensionen des Summenraumes („umfassendes Gebiet“) und des Durchschnittsraumes („gemeinschaftliches Gebiet“) der Erzeugendensysteme von A und B.100 Setzt man nun ferner die Dimension des Ausgangsraumes („Hauptgebiet“) gleich n, so hat das äußere Produkt der Multivektoren A und B nur dann einen von Null verschiedenen Wert, wenn Dim(A \ B) D 0 und Dim(A) C Dim(B) D Dim(A C B) n ist, d. h., wenn „A ganz außerhalb des Gebietes von B liegt“ (daher die Bezeichnung „äußeres Produkt“). Für das Produkt AB gilt dann: Dim(AB) D Dim(A) C Dim(B) D Dim(A C B) . Für das eingewandte Produkt fordert nun Graßmann gerade, daß es auch dann einen geltenden, d. h. von Null verschiedenen Wert habe, wenn der Durchschnittsraum der Erzeugendensysteme von A und B nicht leer ist. Bei der Analyse der Möglichkeit eines solchen Produktes kommt er zu der Feststellung, daß für ein von Null verschiedenes eingewand-
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tes Produkt folgende Bedingungen gelten müssen: Dim(A \ B) > 0, Dim(A) C Dim(B) > n und Dim(AB) D Dim(A) C Dim(B) n D Dim(A \ B). Wurde also mit der äußeren Multiplikation ein Multivektor erzeugt, der dem Summenraum der Faktoren angehört, so wird mit der eingewandten Multiplikation ein Multivektor des Durchschnittsraumes gebildet. Die Dualität beider Begriffsbildungen tritt damit zutage. Die „reale Bedeutung des eingewandten Produktes“101 zweier Multivektoren gewinnt Graßmann, indem er das vorliegende Produkt derart umformt, daß als erster Faktor ein Multivektor der Dimension n und als zweiter Faktor ein Multivektor der Dimension (A \ B) auftritt. Der erste Faktor wird anschließend durch eine reelle Zahl ersetzt, welche das Volumen des zugeordneten n-dimensionalen Parallelotops repräsentiert. Somit ist das eingewandte Produkt zweier Multivektoren vollständig bestimmt und die Beziehung zur äußeren Multiplikation hergestellt. Die Einführung einer Norm für den Multivektor n-ter Stufe („Hauptmaß“) weist bereits über den Rahmen der Ausdehnungslehre von 1844 hinaus. Sie dient Graßmann im Jahre 1861 unmittelbar zur Herleitung des Skalarproduktes von Vektoren und Multivektoren. Durch die Einführung des Begriffs der Ergänzung eines Multivektors werden in jener späteren Arbeit auch die Entwicklungen zum eingewandten bzw. regressiven Produkt eleganter und geschlossener. Vermittels der Aufstellung des Begriffs der eingewandten Multiplikation ist Graßmann nunmehr in der Lage, beliebige m-faktorige Produkte von Multivektoren („bezügliche Produkte von Elementargrössen“) zu erklären. Für diese Produkte existieren im allgemeinen weder Regeln für die Vertauschbarkeit der Faktoren noch Regeln für die Assoziativität. Das Produkt sowie etwa auftretende Klammerausdrücke werden schrittweise von links nach rechts ausgewertet, so daß der aus dem Produkt der vorangehenden Faktoren bestimmte Multivektor mit dem nächsten Faktor in Abhängigkeit von der Stufenzahl beider Größen entweder äußerlich oder eingewandt multipliziert wird. Einen Sonderfall der m-faktorigen Produkte von Multivektoren stellen die sogenannten „reinen Produkte“ dar, bei denen alle Faktoren entweder nur äußerlich oder nur eingewandt multipliziert werden. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die reinen Produkte von Vektoren bzw. von Multivektoren (n 1)ter Stufe. Sie zeichnen sich durch vollständige Reziprozität aus, d. h. aus den n linear unabhängigen Vektoren bzw. Multivektoren (n 1)ter Stufe läßt sich mit Hilfe des äußeren bzw. des eingewandten Produktes die gesamte äußere Algebra des V n aufbauen. In der Anwendung auf die Geometrie entsprechen das äußere und das eingewandte Produkt gebundener Größen jeweils den Konstruktionen des Schneidens und Verbindens von Punkten, orientierten Strecken und orientierten Ebenenteilen. Graßmann gelangt somit im Rahmen
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der affinen Geometrie zur algebraischen Beschreibung von Operationen, welche den dualistischen Lagebeziehungen der projektiven Geometrie entsprechen. So ergeben sich beispielsweise für den Raum die Sätze: Das äußere/eingewandte Produkt zweier Punkte/Ebenenteile bestimmt genau einen Teil der Verbindungsgeraden/Schnittgeraden der Punkte/ Ebenenteile. Das äußere/eingewandte Produkt dreier nicht in einer Geraden liegenden/nicht durch dieselbe Gerade gehenden Punkte/Ebenenteile bestimmt genau einen Ebenenteil der Verbindungsebene/den Schnittpunkt der Ebenenteile. Und letztlich sei für die Planimetrie angeführt: Das äußere/eingewandte Produkt zweier Punkte/Linienteile bestimmt genau einen Teil der Verbindungsgeraden/den Schnittpunkt der Linienteile. Für die Planimetrie ergibt sich damit insbesondere, daß sich alle Konstruktionen, die nur vermittels des Lineals ausgeführt werden – d. h. die sich aus einer Folge der Operationen des Schneidens und Verbindens von Punkten und Geraden ergeben – durch mehrfaktorige Produkte von Punkt- und linienflüchtigen Vektoren beschreiben lassen, in denen äußere und eingewandte Multiplikation der Faktoren alternierend wechseln (nach Graßmann „gemischte Produkte“). Graßmann formuliert diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Jede Konstruktion vermittels des Lineals in der Ebene besteht nämlich darin, dass entweder zwei Punkte durch eine gerade Linie verbunden, oder der Durchschnittspunkt zweier Linien bestimmt wird; die gerade Linie zwischen den beiden Punkten ist aber das Produkt derselben, und der Durchschnittspunkt zweier gerader Linien, wenn es nicht auf das Gewicht ankommt, gleichfalls ihr Produkt; folglich kann ich jeder linealen Konstruktion, bei welcher ein Punkt oder eine Linie angewandt wird, eine Multiplikation mit diesem Punkte oder dieser Linie substituiren; . . .“102 Ist nunmehr insbesondere in dem mehrfaktorigen bezüglichen Produkt der Punkt- und linienflüchtigen Vektoren die Summe der Stufenzahlen der Faktoren kongruent Null modulo n (n = Anzahl der unabhängigen Punkte des entsprechenden Raumes, d. h. für die Ebene n D 3), so stellt sein Wert eine reelle Zahl dar und läßt sich, beim Übergang zu den Koordinaten, durch eine einzige algebraische Gleichung in den Koordinaten der eintretenden geometrischen Objekte darstellen. Wird dieses Produkt ferner noch gleich Null gesetzt, so scheiden auch die reellen Koeffizienten der Faktoren, d. h. der punkt- und linienflüchtigen Vektoren aus der Betrachtung aus, und das Produkt wird zum unmittelbaren algebraischen Repräsentanten der Lineal-Konstruktionen, welche sich in einer Koordinatengleichung ausdrücken lassen. Graßmann nennt derartige Produkte „planimetrische Produkte“. Von den vorstehenden Überlegungen ausgehend, gewinnt Graßmann ein fundamentales Prinzip zur Erzeugung sämtlicher ebener Kurven beliebiger Ordnung. Tritt nämlich in einem planimetrischen Produkt ein
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3 Graßmanns Beiträge zur Entwicklung der Mathematik
variabler „Punkt“ x n-mal als Faktor auf, so definiert dieses Produkt, da die entsprechende Koordinatengleichung eine algebraische Gleichung n-ten Grades in den Koordinaten des Punktes c ist, den geometrischen Ort des Punktes als eine Kurve n-ter Ordnung. Somit gelangt Graßmann zu seinem Hauptsatz über ebene algebraische Kurven: „Wenn die Lage eines Punktes (p) in der Ebene dadurch beschränkt ist, dass drei Punkte, welche durch Konstruktionen vermittels des Lineals aus jenem Punkte (p) und aus einer gegebenen Reihe fester gerader Linien oder Punkte hervorgehen, in Einer geraden Linie liegen (oder drei solche Geraden durch Einen Punkt gehen), so ist der Ort jenes Punktes (p) eine algebraische Kurve, deren Ordnung man durch blosses Nachzählen findet. Nämlich man hat nur nachzuzählen, wie oft bei den angenommenen Konstruktionen auf den beweglichen Punkt (p) zurückgegangen wird, ohne dass man auf einen andern beweglichen Punkt zurückgeht; die so erhaltene Zahl (m) ist dann die Ordnungszahl der Kurve.“103 Die Umkehrung dieses Satzes, daß nämlich jede algebraische Kurve durch eine derartige Konstruktion gewonnen werden kann, beweist Graßmann 1851. In der Ausdehnungslehre von 1844 illustriert er den ersten Teil des Hauptsatzes nur am Beispiel der „geometrischen Gleichung für die Kurven zweiter Ordnung“104 . Das planimetrische Produkt hat hierbei die Gestalt xaBcDex D 0 (x . . . variabler Punkt, a, c, e . . . feste Punkte, B, D . . . feste Geraden). Setzt man für die entsprechenden Größen die Koordinatenwerte ein, so erhält man eine allgemeine algebraische Gleichung zweiten Grades in den Koordinaten von x. Die geometrische Interpretation besagt: Wird die Gerade durch x und a mit der Geraden B zum Schnitt gebracht, ferner die Gerade durch den Schnittpunkt und einen festen Punkt c mit der Geraden D zum Schnitt gebracht und befindet sich schließlich der Punkt x auf Verbindungsgeraden des festen Punktes e mit dem Schnittpunkt auf D, so ist x ein Punkt des Kegelschnittes, dessen Parameter durch die festen Größen a, B, c, D und e bestimmt sind, bzw. x ist ein Punkt des gesuchten Kegelschnittes, wenn der durch die Punkte a, c, e und die Geraden B, D bestimmte Geradenzug in sich selbst zusammen läuft. Diese Erzeugung entspricht somit der bekannten Maclaurinschen Konstruktion der Kegelschnitte, welche auf die Erzeugung durch projektive Büschel zurückgeht. Während aber die Erzeugung von algebraischen Kurven höherer als zweiter Ordnung durch projektive Strahlenbüschel nur Spezialfälle liefert, bleibt die Graßmannsche Erzeugung allgemein. Die offensichtliche Einordnung des planimetrischen Produktes in die projektive Geometrie wird von Graßmann selbst 1851 geliefert.105 Er führt hierzu den Begriff der „höheren Projektivität“ ein, die darin besteht, daß an die Stelle projektiver Strahlenbüschel einander zugeordnet Büschel von Kurven höherer Ordnung treten. Er beweist, daß die durch ein
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planimetrisches Produkt erzeugte Kurve (n C m)-ter Ordnung identisch ist mit dem Durchschnitt zweier projektiver Kurvenbüschel n-ter bzw. m-ter Ordnung. In der Aufstellung des Satzes über die projektive Erzeugung von Kurven höherer Ordnung, die allgemein M. Chasles (für m D 1, n D 2, 1853) und E. de Jonquières (m, n beliebig, 1858) zugeschrieben und nach ihnen benannt wird106 , gehört offensichtlich Graßmann die Priorität. Da Kurven höherer als zweiter Ordnung nicht mehr mit dem Lineal vollständig konstruiert werden können, entwickelt Graßmann aus der geometrischen Interpretation des planimetrischen Produktes den Begriff des linealen Mechanismus. Man versteht hierunter nach Klein „. . . ein System von teils festen, teils beweglichen Geraden und Punkten, wobei die beweglichen geraden Linien gezwungen sind, durch bestimmte (nicht notwendig feste) Punkte zu gehen, und die Punkte gezwungen sind, auf bestimmten (nicht notwendig festen) Geraden sich zu bewegen“107 . Somit geht der Graßmannsche Hauptsatz über in die Feststellung: „Eine Kurve ist algebraisch, wenn sie durch einen linealen Mechanismus erzeugt werden kann.“108 Die linealen Mechanismen – nicht zu verwechseln mit ˇ den Gelenk- und Kulissenmechanismen, mit denen sich P. L. Cebyšev eingehend beschäftigte, und die ihn zur Entwicklung seiner Approximationstheorie veranlaßten109 – sind indes nur von theoretischem Interesse, weil sie in der praktischen Ausführung stets „schlottern“. Die Graßmannsche Kurventheorie wurde, soweit bekannt, nach 1900 nicht mehr weitergeführt.110 Hatte Graßmann in der Ausdehnungslehre von 1844 nur ein Beispiel für die Erzeugung von ebenen Kurven zweiter Ordnung gegeben, so stellte er jedoch bereits den allgemeinen Satz über die Möglichkeit der Erzeugung von Hyperflächen beliebiger Ordnung vermittels des erwähnten bezüglichen Produktes auf und bewies ihn in der folgenden Form: „dass, wenn wir eine beliebige Gleichung zwischen Ausdehnungsgrössen haben, deren Glieder gemischte Produkte sind, der Grad der Gleichung in Bezug auf eine derselben (P ) stets so hoch ist, als die Anzahl (m) beträgt, wie oft diese Ausdehnungsgrösse (P ) in einem und demselben Gliede von geltendem Werthe höchstens als Faktor vorkommt, das heisst, dass sie durch Zahlengleichungen ersetzt wird, von denen wenigstens Eine in Bezug auf die Zeiger der veränderlichen Ausdehnungsgrösse einen Grad erreicht, welcher jener Anzahl gleich ist.“111 In der Folgezeit veröffentlichte Graßmann nicht weniger als 12 Arbeiten112 zur Anwendung dieses Satzes bei der Erzeugung ebener algebraischer Kurven und algebraischer Oberflächen. Die Erzeugung von Kurven und Oberflächen dritter Ordnung ist nach Graßmann benannt worden. Den Ausklang der Ausdehnungslehre von 1844 bildet ein Kapitel über die geometrischen Verwandtschaften, das an Betrachtungen von Möbius
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Luigi Cremona zu Graßmanns Kurventheorie Bereits 1860 äußert sich Cremona begeistert über Graßmann. Er bezeichnet ihn als „un éminent géomètre allemand“ und bemerkt anerkennend zu den Entwicklungen Graßmanns in (Graßmann 1846): „A l’occasion de ces théorèmes qui se rapportend à la géométrie des intersections, je ne pui m’empêcher de mentionner une méthode très-expéditive et trèscurieuse, dont la première idée praît appartenir à Leibniz, mais qui a été vraiment établie par M. Graßmann dans un ouvrage intéressant [gemeint ist die Ausdehnungslehre von 1844 – H.-J. P.] . . . je ne sache pas que quelque géomètre ait donné aux recherches d. M. Graßmann l’attention qu’elles méritent.“113
in dessen „Barycentrischem Calcul“ (Möbius 1827) anknüpft, sowie eine Anmerkung über sogenannte „offene Produkte“. Bereits in der Vorrede seines „Barycentrischen Calculs“ (Möbius 1827) hatte Möbius den Standpunkt, daß die Lehre von den Verwandtschaften eine Lehre sei, „. . .welche in dem hier gebrauchten Sinne die Grundlage der ganzen Geometrie in sich fasst, die aber auch eine der schwierigsten seyn möchte, wenn sie in völliger Allgemeinheit und erschöpfend vorgetragen werden soll.“114 Es liegt nahe, daß sich Graßmann in seinem Bestreben nach einer Kritik der Grundlagen der Geometrie und in seinem Bemühen um größtmögliche Allgemeinheit der mathematischen Resultate für die derart von Möbius charakterisierte Theorie erwärmte. Bei der Behandlung der geometrischen Verwandtschaften geht er vom Begriff der Affinität aus. Er knüpft seine Entwicklungen hierbei an die Vorstellung eines Raumes massebehafteter Punkte wobei Punkte mit gleicher räumlicher Lage, aber unterschiedlichen Massen als verschiedene geometrische Objekte angesehen werden. Für diese „Elementargrößen“ definiert er den Begriff der affinen Verwandtschaft vektoralgebraisch (jedoch ohne Verwendung des Transformationsbegriffs): Zwei Vereine von Größen sind gemäß Graßmann affin zu einander, „wenn jede Zahlenrelation, welche zwischen Grössen der einen Reihe, welche von beiden es auch sei, stattfindet, auch zwischen den Grössen der andern Reihe herrscht . . .“115 . Die Graßmannsche Bestimmung der Affinität geht in die allgemein gebräuchliche über, wenn man die Dimension des affinen Punktraumes um Eins erhöht, d. h. das Spektrum der reellen „Massenwerte“ als zusätzliche Dimension annimmt. Andererseits geht die Graßmannsche Affinitätsbestimmung ebenfalls in die gewöhnliche über, wenn man alle Massen auf Eins normiert. F. Klein spricht in diesem Zusammenhang auch von der „naiven Interpretation“ der homogenen Koordinaten des Rn als affine Koordinaten des Rn1 durch Graßmann, wobei er
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gleichzeitig die hervorragende Bedeutung dieser Interpretation für die physikalische Anwendung hervorhebt.116 Schließlich gelangt Graßmann über den Nachweis, daß nur die äußeren Produkte von Vektoren und die eingewandten Produkte von Multivektoren (n 1)-ter Stufe in bezug auf Affinität invariant sind, zu den Begriffen der direkten und reziproken Affinität.117 Die projektive Verwandtschaft leitet Graßmann aus der affinen durch die Betrachtung von Unterräumen ab, d. h., sind zwei Gesamtheiten („Vereine“) von „gewichteten“ Punkten, Linienteilen etc. affin verwandt, so sind die entsprechenden affinen Unterräume („Systeme“), deren Elemente („Punkte, Linienteile“) sich jeweils nur im Gewicht unterscheiden, projektiv verwandt („linear verwandt“). Diese Betrachtungsweise entspricht dem Übergang zu homogenen Koordinaten nach dem Prinzip des Projizierens und Schneidens.
Felix Klein zum Zusammenhang projektiver und affiner Verwandtschaften Im Zusammenhang mit der Erörterung der von Graßmann konstituierten geometrischen Objekte schreibt F. Klein: „Diese ‚affine‘ und die ‚projektive‘ Deutung der Invariantentheorie sind natürlich nicht in prinzipiellem Gegensatz, sondern können geometrisch – nach dem sogenannten Prinzip des Projizierens und Schneidens – auseinander abgeleitet werden. Die projektive Deutung im R3 entsteht aus der affinen Deutung im R4 , indem man die dort von 0 auslaufenden Figuren eben von 0 aus auf irgend einen im R4 verlaufenden R3 projiziert. Da ergibt dann die von 0 auslaufende Strecke im R3 einen Punkt, das zweidimensionale von 0 auslaufende lineare Gebilde im R3 eine gerade Linie usw.“118
Der direkten Affinität korrespondiert nach Graßmann hierbei die Kollineation („kollineare Verwandtschaft“) im Projektiven; der reziproken Affinität die Korrelation („reciproke Verwandtschaft“).119 Am Rande betrachtet Graßmann die metrischen Invarianten bei kollinearen Transformationen, die sich bei ihm organisch aus der äußeren Division ergeben. Unter den fünf Doppelverhältnissen („Doppelquotienten“), die er anführt, befindet sich das zuvor in der projektiven Geometrie unbekannte Doppelverhältnis von vier Geraden im Raum120 , welches heute seinen Namen trägt.121 Den Abschluß der theoretischen Untersuchungen dieses Kapitels bilden einige Sätze über harmonische Punkte und Gleichungen. In der Anwendung dieser Ergebnisse auf die Kristallographie stellt Graßmann erstmals explizit den Zusammenhang zwischen dem sogenannten Zonengesetz und dem Gesetz der rationalen Indizes dar, indem er letzteres aus dem ersteren auf elegante Art ableitet.122
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Der abschließende Paragraph der Ausdehnungslehre ist dem Begriff des „offenen Produktes“ gewidmet. Graßmann betrachtet hierzu eine Summe gemischter Produkte von Multivektoren, welche einen Multivektor als gemeinsamen Faktor aufweisen. Da die Vertauschungsregeln für die Faktoren gemischter Produkte äußerst eingeschränkt sind, ist es im allgemeinen nicht möglich, den gemeinsamen Faktor auszuklammern. Das Ausklammern ist jedoch formal möglich, wenn man den Faktor „herauszieht“ und in den verbleibenden Produkten die „Lücke“ markiert, in die dieser Faktor eintreten muß. Derartige formale Produkte mit Lükken bzw. Linearkombinationen solcher Produkte nennt Graßmann nun offene Produkte. Einfache Zusammenhänge beim Umgang mit offenen Produkten werden nur am Beispiel eines offenen Produktes von Vektoren und Bivektoren im R3 mit einer Lücke illustriert. Eine allgemeinere und umfassende Entwicklung dieses Begriffes, den er für Optik und Mechanik als äußerst bedeutsam herausstellt123 , behält er einer weiteren Arbeit vor.124 Die von Graßmann entwickelten offenen Produkte stellen, benutzt man die moderne Terminologie, Tensoren dar. Das von Graßmann behandelte Beispiel eines, offenen Produktes repräsentiert einen symmetrischen Tensor zweiter Stufe, dessen Unabhängigkeit von der Basisdarstellung Graßmann bereits hervorhebt.125 In der zweiten, vollständig neu bearbeiteten Ausgabe der Ausdehnungslehre vom Jahre 1861 erfahren die offenen Produkte, nunmehr unter dem Namen „Lückenprodukte“ bzw. „Lückenausdrücke“ umfassende Behandlung. Es werden dort die wesentlichen Gesetze für das Operieren mit symmetrischen und schiefsymmetrischen Tensoren beliebiger Stufe hergeleitet.126 Mit den Anmerkungen über offene Produkte schließt sich der Kreis der von Graßmann 1844 behandelten Themen. Vermittels des eigens entwickelten Instrumentariums aus der linearen Algebra gelangte er zu tiefen Einsichten in die Zusammenhänge der projektiven und affinen Geometrie des n-dimensionalen Raumes. Der Ausdehnung seiner Methoden auf die metrische Geometrie, d. h. der Entwicklung der mit dem inneren Produkt („Skalarprodukt“) von Vektoren und Multivektoren zusammenhängenden Sätze wollte Graßmann in einem zweiten Band der Ausdehnungslehre Raum geben. Dieser Band, der die noch nicht veröffentlichten Ansätze seiner Prüfungsschrift aus dem Jahre 1840 zur Entfaltung bringen sollte, erschien jedoch auf Grund der ausbleibenden Anerkennung der Arbeit von 1844 nicht. Als Ersatz kann jedoch in gewissem Sinne Graßmanns 1847 veröffentlichte Preisschrift „Geometrische Analyse, geknüpft an die von Leibniz erfundene geometrische Charakteristik“ (PREIS) angesehen werden.
3.4 Die Preisschrift zur geometrischen Analyse (1847)
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3.4 Die Preisschrift zur geometrischen Analyse (1847) Die aus Anlaß des 200. Geburtstages Leibniz’ gestellte Preisaufgabe, in der es darum ging, Bruchstücke einer von Leibniz unvollendet hinterlassenen „geometrischen Charakteristik“ so weit als möglich zu rekonstruieren und weiterzuentwickeln, war wie auf Graßmann zugeschnitten. Mit den gleichen Worten, mit denen Graßmann seine neue geometrische Methode pries, hatte auch Leibniz von seiner Entdeckung geschwärmt. In einem Brief an Huygens vom 8. September 1679, in welchem er einige Kostproben seiner Charakteristik gibt127 , heißt es u. a.: Der Hauptvorteil der geometrischen Charakteristik gegenüber der analytischen Geometrie Descartes’ „besteht . . . in den Resultaten und Schlußfolgerungen, die sich durch Rechenoperationen mit solchen Charakteren (Symbolen) erzielen lassen, die man nicht durch Diagramme (oder Modelle) ausdrücken kann, ohne sie übermäßig zu komplizieren oder durch eine übergroße Anzahl von Punkten und Strichen zu verwirren, so daß man eine unendliche Anzahl vergeblicher Versuche machen müßte: Im Gegensatz dazu würde diese Methode sicher und einfach zu dem gewünschten Ziel führen. Ich glaube, die Mechanik ließe sich durch diese Methode fast wie Geometrie betreiben“128 . Graßmann zur Rekonstruktion der Leibnizschen Charakteristik Auf Leibniz Bezug nehmend schreibt Graßmann in der Einleitung der Preisschrift: „Um die wissenschaftliche Bedeutung seiner eigenthümlichen Charakteristik ans Licht treten zu lassen, und damit sein wissenschaftliches Verdienst auf diesem Gebiete auch nach der andern Seite hin zur Anschauung zu bringen, will ich bei der Ableitung und Entwickelung der neuen Analyse den Weg einschlagen, dass ich von der Leibniz’schen Charakteristik ausgehe und zeige, wie von diesem Keime aus bei konsequenter Durchführung und Fortentwickelung, bei gehöriger Ausscheidung des Fremdartigen und Befruchtung durch die Ideen der geometrischen Verwandtschaften, die Analyse hervorgeht, welche ich als die, wenn auch nur relative, Verwirklichung der Leibniz’schen Idee einer geometrischen Analyse anzusehen geneigt bin. Dass dies nicht der Weg ist, auf welchem ich zu dieser Analyse gelangt bin, bedarf wohl kaum einer Erwähnung.“129
In der Preisschrift zeigt nun Graßmann, wie die Ansätze Leibniz’, die ihm zuvor unbekannt gewesen waren130 , bei entsprechender Modifizierung in den in der Ausdehnungslehre dargelegten, durch den Begriff des inneren Produktes erweiterten geometrisch-algebraischen Entwicklungen aufgehoben sind. Der Inhalt der Graßmannschen Arbeit läßt sich folgendermaßen umreißen: Graßmann geht aus von den Ideen Leibniz’. Dieser knüpfte seine
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Untersuchungen zur geometrischen Charakteristik an einen eigentümlichen Symbolismus zur Bezeichnung kongruenter Punktsysteme, welche sich vermittels Bewegungen ineinander überführen lassen. Dergestalt bedeutet, wenn a, b, c feste Punkte sind, x ein variabler Punkt ist und mit Leibniz „8“ für das Zeichen der Kongruenz genommen wird, die Formel a x 8 b c, daß die Strecke ax durch Bewegung stets mit der Strecke bc zur Deckung gebracht werden kann. Diese Formel definiert somit den geometrischen Ort aller Punkte x als Oberfläche einer Kugel mit dem Mittelpunkt a und dem Radius bc. Analog bestimmt die Formel a x 8 b x eine Ebene als geometrischen Ort aller Kugelmittelpunkte x, welche durch zwei feste Punkte a und b gehen und a x 8 b x 8 c x eine Gerade als geometrischen Ort aller Kugelmittelpunkte x, welche durch drei feste Punkte gehen. Wie sich zeigt, läßt sich nach diesem Vorgang die gesamte euklidische Geometrie auf den Begriff der Kugel zurückführen. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß der Zurückführung der Geometrie auf den Begriff der Kugel bei den Untersuchungen zu den Grundlagen der Geometrie im 19. Jh. eine hervorragende Bedeutung zukam. Dieses Vorgehen findet sich bei Lobaˇcevskij, Bolyai, Helmholtz, de Tilly und Lie, ohne daß diese Mathematiker auf Leibniz Bezug nahmen bzw. nehmen konnten.131 Graßmanns Kritik setzt nun nicht bei der Methode, sondern bei dem von Leibniz angewendeten Symbolismus ein. Er verwirft ihn, weil man in derartigen Kongruenzausdrücken nicht „statt jedes Ausdrucks den ihm kongruenten setzen könne“132 . Erst in zweiter Instanz kritisiert Graßmann, daß Leibniz unmittelbar vom Begriff der Kongruenz ausgeht, da sich, wie er in der Ausdehnungslehre zeigte, ganze Teile der Geometrie noch ohne diesen Begriff aufbauen lassen (d. h. u. a. die projektive und die affine Geometrie). Graßmann geht daher in seinen Entwicklungen von der Hierarchie der geometrischen Verwandtschaften aus. Über die Betrachtung der Kollineation zwischen jeweils sechs Punkten des Raumes und der Affinität zwischen jeweils vier Punkten des Raumes sowie der Darstellung der ihnen korrespondierenden stereometrischen (planimetrischen) Produkte bzw. äußeren (eingewandten) Produkte von Punkt-, Linien- und Flächengrößen kehrt er von einem höheren Standpunkt zur Betrachtung der Kongruenzbeziehung zurück. Graßmann weist nach, daß die einfachste Leibnizsche Kongruenzformel a b 8 c d identisch ist mit der Forderung, daß die Längen der Strecken ab und cd übereinstimmen. Im Rahmen seiner Vektorrechnung muß im Falle der Kongruenz also allemal auch die Vektorgleichung a b D c d (mit (ab) u. (c d) als Vektoren von b nach a, bzw. von d nach c) erfüllt sein. Somit muß sich die Länge der Strecke ab bzw. cd als „geometrische Funktion“133 der Vektoren (a b) resp. (c d) darstellen lassen, und die Leibnizsche Formel a b 8 c d wird ersetzt durch die Gleichung
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f (a b) D f (c d). Die Bestimmung dieser Vektorfunktion und die Entwicklung der sich daran anknüpfenden Theorie sieht Graßmann als die zeitgemäße Wiederbelebung und Vollendung der Leibnizschen geometrischen Charakteristik an. Die kritikwürdigen Punkte der Leibnizschen Charakteristik hatte Graßmann somit erledigt. Erstens lag nunmehr eine Gleichung und keine geometrische Kongruenzrelation mehr vor, so daß sich gleiche Größen stets in der Gleichung substituieren ließen. Zweitens trat diese Gleichung nicht unvermittelt, wie die Leibnizsche Kongruenzformel hervor, sondern sie war eingebettet in seine neugeschaffene Theorie der Vektoralgebra. Das Vorgehen Graßmanns zur Aufstellung der gesuchten Vektorfunktion, welche sich als inneres Vektorprodukt (bzw. Skalarprodukt von Vektoren) erweisen wird, demonstriert anschaulich das folgende Zitat: „Um eine solche Funktion zu finden“, schreibt Graßmann, „nehmen wir zuerst an, alle zu betrachtenden Grössen seien in derselben Geraden. Hier können zwei gleich lange Linientheile nur entweder gleiche oder entgegengesetzte Richtung haben. . . . Bedeutet also p eine Strecke, so ist p gleich lang mit (p); aber ausser diesen beiden p und (p) giebt es auch in derselben geraden Linie keine mit p gleich lange Strecke. Es würde also hier nur folgen, dass f (p) eine solche Form haben muss, dass f (p) D f (p) sei. Könnte man die Strecken innerhalb einer Geraden wie Zahlen behandeln, so würde p 2 eine solche Funktion, und zwar die einfachste, sein, welche dieser Bedingung genügte. Wir haben also zunächst zu untersuchen, ob und wie weit die Gesetze der Zahlenverknüpfungen sich auf Strecken derselben Geraden anwenden lassen . . .“134 Letztere Untersuchung bereitet Graßmann keine Schwierigkeiten, da er bereits 1844 die Zahlen über den Begriff des äußeren Quotienten eingeführt hatte. Nimmt man einen Divisor eines solchen äußeren Quotienten als gemeinsames Maß an, so lassen sich alle Vektorgleichungen abbilden. Somit ergibt sich für Graßmann die Definition: „Unter inneren Produkten je zweier paralleler Strecken verstehe ich solche Grössen, welche den Zahlen proportional gesetzt werden, die hervorgehen, wenn man die beiden parallelen Strecken eines jeden inneren Produktes durch dasselbe Mass misst, und die Quotienten dieser beiden Messungen unter sich multiplicirt, alle Masse aber gleich lang annimmt. Das innere Produkt zweier Strecken sei mit a b bezeichnet, das innere Quadrat a a mit a2 .“135 Bemerkt werden muß an dieser Stelle, daß Graßmann in dieser Arbeit unter einem „inneren Produkt von Größen gleicher Stufe“ noch keine Zahlgrößen versteht, sondern nur „Grössen, welche den Zahlen proportional gesetzt werden“136 , über deren weitere Bestimmung aber nichts ausgesagt ist. Erst in der Neubarbeitung der Ausdehnungslehre 1861 ist das innere Produkt von Multivektoren gleicher Stufe unmittelbar eine reelle Zahl.
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Das innere Produkt eines Vektors vom Punkt a zum Punkt b wird von Graßmann als Quadrat des Abstandes der Punkte a und b interpretiert. Indem also Graßmann jeweils einen Vektor jedes eindimensionalen Unterraumes normiert, hieran anschließend ein Skalarprodukt definiert, kommt er schließlich zur Einführung der euklidischen Metrik in den affinen Punktraum. Das von Graßmann entwickelte innere Produkt paralleler Vektoren erweist sich als kommutativ und distributiv bzgl. der Vektoraddition. Die Forderung der Permanenz dieser Eigenschaften, nebst der Postulierung der Gültigkeit des Pythagoräischen Lehrsatzes führt ihn zur Verallgemeinerung des inneren Produktes für beliebige Vektoren: „Unter dem inneren Produkt a b zweier nicht paralleler Strecken a und b soll das innere Produkt der ersten a in die senkrechte Projektion des zweiten auf die erste verstanden sein.“137 Der Zusammenhang zwischen dem inneren und dem äußeren Produkt wird über den Begriff „des senkrecht proportionalen“138 vermittelt. Hierbei erweist sich das innere Produkt zweier Vektoren als proportional zum äußeren Produkt einer der beiden Vektoren in den „senkrecht proportionalen Flächenraum“139 des anderen (d. h. in den ergänzenden Bivektor). Diese noch unausgereifte und teilweise unzweckmäßige Begriffsbildung140 wird 1861 in dem Begriff der „Ergänzung“ aufgehoben und erfährt ihre vollständige und konsequente Entwicklung.141 Die Beziehung zur äußeren Multiplikation gestattet es Graßmann jedoch, bereits in dieser Preisschrift die Definition innerer Produkte beliebiger Multivektoren einzuführen. Die restlichen Teile der Arbeit bilden einige Anwendungen auf die Geometrie und die Mechanik sowie die Einführung einiger formaler Begriffsbildungen (z. B. „inneres Produkt von Punkten“), welche in späteren Arbeiten als nicht tragfähig ausgeklammert werden. Mit der Fertigstellung dieser Schrift im Jahre 1847 ist der begriffliche Aufbau der linearen Algebra durch Graßmann im wesentlichen abgeschlossen. Nach der affinen Geometrie ist nunmehr auch die euklidische Geometrie im n-dimensionalen Raum der algebraischen Behandlung zugänglich gemacht worden. Die Loslösung von den verbal-begrifflichen Entwicklungen und die halbformale Darstellung vollzog Graßmann 1861 in der umgearbeiteten Ausgabe der Ausdehnungslehre, welche noch heute sehr lesenswert und lesbar ist, wenn man sich nur mit der Graßmannschen Terminologie angefreundet hat.
3.5 Die Ausdehnungslehre von 1862
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3.5 Die Ausdehnungslehre von 1862 Mit der Neubearbeitung der Ausdehnungslehre in den 60er Jahren unternahm Graßmann einen letzten Versuch, seinen in Fachkreisen bisher völlig ignorierten Forschungsergebnissen doch noch die ihnen gebührende Anerkennung zuteil werden zu lassen.142 Die Umarbeitung seiner Entwicklungen war radikal. Philosophische Überlegungen wurden vollständig ausgespart. Die Trennung der Ausdehnungslehre von der Analysis wurde aufgegeben, das Rechnen mit benannten und unbenannten Zahlen vorausgesetzt und die Vielfältigkeit des Inhaltes bedeutend vergrößert. „Ich . . . habe nun“, schreibt Graßmann in der Vorrede, „für das vorliegende Werk die übrigen Zweige der Mathematik, wenigstens in ihrer elementaren Entwickelung vorausgesetzt. Ebenso habe ich in der Form der Darstellung gerade den entgegengesetzten Weg eingeschlagen, wie dort, indem ich die strengste mathematische Form, die wir überhaupt kennen, die Euklidische, für das vorliegende Werk angewandt, und Alles, was zur Erläuterung oder zur Begründung des gewählten Ganges diente, in Anmerkungen verwiesen habe.“143 Doch auch diese Arbeit sollte erst gegen Ende des Jahrhunderts die verdiente Anerkennung finden – dann aber sogar als methodologisches Musterbeispiel herausgestellt werden.144 Hier soll nur ein kurzer Überblick über diese Arbeit gegeben werden, da die enthaltenen Begriffsbildungen teils bereits im Vorangehenden besprochen wurden, teils, wenn auch in anderer Form, in das Arsenal der modernen Mathematik übergegangen sind. Gleichzeitig soll (soweit als möglich) die moderne Terminologie gewählt werden, um den Kern der Graßmannschen Betrachtungen unmittelbar hervortreten zu lassen. Ausgehend von Linearkombinationen über einem System linear unabhängiger Größen („Einheiten“), entwickelt Graßmann, ohne Bezugnahme auf die Geometrie, die Grundbegriffe der Vektorrechnung über einen Rn . Er definiert die Dimension des Vektorraumes, untersucht Basistransformationen, stellt den Austauschsatz für Basisvektoren auf und bestimmt die Dimensionsbeziehungen zwischen Summe und Durchschnitt von Teilräumen. Die Moduleigenschaften der Vektoraddition und die Linearität bezüglich der Verknüpfung der Vektoren mit Elementen des Körpers der reellen Zahlen werden expliziert. Bei der Untersuchung der möglichen Produktbildungen zwischen Vektoren werden Additivität und Homogenität der erzeugenden Verknüpfung als Konstruktionsprinzip postuliert. Anknüpfend an Produktbildungen zweier Vektoren in Basisdarstellung werden zwei Arten der Tensorprodukte, d. h. die schiefsymmetrischen und die symmetrischen, als einzig bedeutsam hervorgehoben.
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3 Graßmanns Beiträge zur Entwicklung der Mathematik
Der erste Abschnitt der Ausdehnungslehre von 1862 beschäftigt sich mit den schiefsymmetrischen Produkten und darauf aufbauenden Produktbildungen, d. h. die äußere Algebra über dem V n wird entwickelt. Im zweiten Abschnitt, in dem Vektorfunktionen X D F(Y ) über dem V n behandelt werden, tritt als wesentliche Größe der symmetrische Tensor in der Form des „Lückenausdruckes mit vertauschbaren Lücken“ hinzu. In Analogie zum äußeren Produkt von Vektoren werden schiefsymmetrische Tensoren, d. h. „Lückenausdrücke mit nicht vertauschbaren Lücken“ kreiert. Ein gemischter Lückenausdruck wird somit zum allgemeinen Repräsentanten eines Tensors. Der erste Abschnitt entwickelt umfassend die Zusammenhänge der äußeren Algebra über dem V n . Die Untersuchung der Multivektoren, ihrer Beziehungen und Transformationsinvarianzen führt über Anwendungen auf die Determinantentheorie und die Lösung linearer inhomogener Gleichungssysteme zum Begriff der Ergänzung. An den Begriff der Ergänzung eines Multivektors knüpft Graßmann folgerichtig den Begriff des inneren oder Skalarprodukts von Multivektoren. Das Skalarprodukt von Vektoren führt ihn zur Orthogonalisierung des n-dimensionalen Vektorraumes und zum Begriff des Orthonormalsystems („einfaches vollständiges Normalsystem“), damit zur Einführung der Metrik und der Definition des Winkels. Die Invarianz der Vektoren gegenüber orthogonalen Transformationen wird in der nunmehr „vollständigen“ Ausdehnungslehre herausgearbeitet. Erst hiernach erfolgt die Anwendung auf die Geometrie, die sich in Analogie zu den Untersuchungen der Elementargrößen über dem R3 , wie sie in der Ausdehnungslehre von 1844 erfolgten, gestaltet. Planimetrische und stereometrische Produkte werden behandelt und der erwähnte Hauptsatz über die Erzeugung algebraischer Kurven vollständig bewiesen. Geometrisch wird nur das innere Produkt von Vektoren interpretiert und damit die euklidische Geometrie der vektoralgebraischen Behandlung unterworfen. Im zweiten Abschnitt werden die Eigenschaften von Vektorfunktionen erörtert sowie ihre Differentiation und Integration untersucht, wobei der Tensorbegriff in der Form des Lückenproduktes als methodisches Instrumentarium benutzt wird. Als spezielle „Lückenausdrücke mit einer Lücke“ treten lineare Operatoren in Erscheinung, die Graßmann als „Quotienten“ bezeichnet. Die Bestimmung ihrer charakteristischen Wurzeln wird bis auf komplexe Operatoren ausgedehnt und die Möglichkeit der Umgestaltung dieser Operatoren in die Dreiecksform bewiesen.145 Die Bedeutung der „Quotienten“ für die Charakterisierung der Affinität bzw. Collinearität wird von Graßmann hervorgehoben. Gegenüber der Ausdehnungslehre von 1844 bleibt die Behandlung der geometrischen Verwandtschaften zurück, jedoch wird als neue Form
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der Verwandtschaft die von Möbius eingeführte Kreisverwandtschaft beispielhaft ausgebaut. Die Untersuchung der Differentiation von Vektorfunktionen unter Verwendung von Lückenprodukten führt Graßmann organisch zum Begriff der Jacobischen Funktionaldeterminante. Den Ausklang der Arbeit bilden die Entwicklung des Begriffs der schiefsymmetrischen Tensoren und seine Anwendung auf die Lösung von Systemen partieller Differentialgleichungen. Insbesondere gelingt es Graßmann, durch Ausnutzung der Verknüpfungsgesetze schiefsymmetrischer Tensoren die historisch erste, vollständige Gruppierung aller bei der Behandlung der sogenannten Pfaffschen Differentialgleichungen auftretenden Möglichkeiten zu liefern und damit indirekt auf die Bedeutung der äußeren Algebra für die Differentialgeometrie hinzuweisen. Dieses gigantische Werk, dessen Ideenkreis hier nur knapp umrissen werden konnte, bildete die Krönung des mathematischen Schaffens Graßmanns. In vielen Fragen war Graßmann seinen mathematischen Zeitgenossen vorausgeeilt. Dabei hatte er sich jedoch nicht von den mathematischen Grundfragen des 19. Jhs. entfernt. Er hatte sie nur, geschult an der ihrer Epoche verpflichteten Dialektik Schleiermachers, tiefer erfaßt und damit Lösungen anzubieten vermocht, denen die offizielle Mathematik, besonders des Kontinents, erst in den 70er und 80er Jahren Gleichwertiges entgegensetzen konnte. Zu den wenigen, die frühzeitig den Wert der Graßmannschen Forschungen erkannten, gehörte Hamilton, der unter der geistigen Atmosphäre der englischen algebraischen Schule selbst wegweisend war und dank seiner wissenschaftlichen Autorität über genügend Durchsetzungsvermögen für seine Ideen verfügte. Ferner ist Hermann Hankel zu nennen, der, von ähnlicher Geisteshaltung wie Graßmann, auch erst gegen Ende des Jahrhunderts zur verdienten Anerkennung gelangte. Bevor wir uns jedoch dem Eingreifen der Graßmannschen Ideen in den lebendigen Organismus der Mathematik zuwenden, müssen wir noch auf eine andere Arbeit Graßmanns eingehen, welche scheinbar in keinem Zusammenhang mit den bisherigen Untersuchungen dieses Mathematikers steht.
3.6 Bearbeitung der Grundlagen der Arithmetik (1861) Bei dem hier zu besprechenden Werk handelt es sich um das „Lehrbuch der Arithmetik für höhere Lehranstalten“, dessen Inhalt den gemeinschaftlichen Forschungen der Brüder Hermann und Robert Graßmann entsprang und das Hermann Graßmann 1861 veröffentlichte. In seinem „streng euklidischen Aufbau“ nimmt es den methodischen Wandel der ein Jahr später datierten zweiten Ausdehnungslehre vorweg und läßt den
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gewachsenen Einfluß Roberts erkennen. Was der Titel verspricht, kann daher das Buch nicht einlösen – der hohe wissenschaftliche Abstraktionsgrad und die gewählte Darstellungsweise machten es als Lehrbuch für höhere Lehranstalten ungeeignet. Dafür aber war es von außerordentlichem wissenschaftlichen Wert; enthielt es doch die bis dahin tiefgreifendste Untersuchung und Darlegung der Grundlagen der Arithmetik. Der Anlaß zur Durchführung dieser Untersuchungen ergab sich einerseits aus dem methodischen und methodologischen Auffassungen Graßmanns über das Verhältnis der mathematischen Disziplinen, andererseits aus den Betrachtungen über die philosophische Begründung der Mathematik, beides expliziert auf den ersten Seiten der Ausdehnungslehre von 1844. Das heißt, die Notwendigkeit, der Ausdehnungslehre einen Platz im Gebäude der Mathematik zuzuweisen, führte ihn gleichzeitig zu einer Neubestimmung des Platzes und des Aufbaus der anderen mathematischen Disziplinen.146 Damit aber ordnen sich die Untersuchungen zur Arithmetik organisch ein in den programmatischen Ansatz von 1844, und die scheinbar zufällige Beschäftigung mit der Arithmetik wird zur notwendigen Konsequenz. Daß dieser Ansatz wiederum durch die intensive Beschäftigung mit den Grundlagen der Arithmetik gesprengt wurde, ist bemerkenswert und kaum beachtet. Der methodologische Ausgangspunkt Graßmanns wird treffend von Felix Klein charakterisiert: Graßmann verwahrt sich dagegen, schreibt Klein, „daß die Geometrie nur eine Anwendung der Arithmetik sei, und nimmt für seine ‚Ausdehnungslehre‘ den Charakter einer selbständigen Wissenschaft in Anspruch. Von ihr unterscheidet er als eine wiederum selbständige Disziplin die ‚Meßkunde‘. Diese baut sich auf der Arithmetik auf, und es ist darum durchaus konsequent, daß sich Graßmann nun auch mit den Grundlagen der Arithmetik beschäftigt. So wird er einer der ersten, welche die wesentlichen Eigenschaften des gewöhnlichen Rechnens untersucht haben.“147 Ist nun in diesem Moment der Betrachtungsweise Graßmann die Ursache zu suchen, daß er sich zu einer eigenständigen Begründung der Arithmetik entschloß, so bestimmen seine – wesentlich vom Vater tradierten und durch die Wirkung der Schleiermacherschen Dialektik modifizierten – philosophischen Auffassungen zum Wesen der Mathematik den eigentlichen Ansatz zur Grundlegung der Arithmetik. Die hierbei bedeutsamen Ansichten seien daher in der folgenden Übersicht noch einmal kurz aufgeführt:
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Philosophische Grundlegung des „konstruktiven“ Aufbaus der Arithmetik Justus Graßmann:
Hermann Graßmann:
1. Das Wesen der Mathematik besteht im Erzeugen „ihrer ersten Begriffe durch eine ihr eigentümliche Synthesis (welche wir eine Construction im weitern Sinne nennen)“ . . . „Es ist aber nicht die Form dieser Synthesis, sondern das Produkt derselben ihr Gegenstand.“148
1. „Denken ist nur in Bezug auf ein Sein, was ihm gegenübertritt und durch das Denken abgebildet wird; aber dieses Sein ist bei den realen Wissenschaften ein selbständiges, außerhalb des Denkens für sich bestehendes, bei den formalen hingegen ein durch das Denken selbst gesetztes, was nun wieder einem zweiten Denkakte als Sein sich gegenüberstellt.“149
2. Die Lehrsätze der Mathematik „sind also Aussagen über die Beschaffenheit jener eigentlich mathematischen Synthesis, und das was mir ihr zugleich gegeben ist“.150
2. „Die reine Mathematik ist . . . die Wissenschaft des besonderen Seins als eines durch das Denken gewordenen. Das besondere Sein, in diesem Sinne aufgefasst, nennen wir . . . eine Form. Daher ist reine Mathematik Formenlehre.“151
3. „Die Synthesis des Gleichartigen gibt uns die Größe; sie ist eine diskrete, wenn bei ihrer Erzeugung das zu verknüpfende (durch dessen Synthesis die Größe entsteht) als ein Gegebenes betrachtet wird; . . .“152
3. „Jedes durch das Denken gewordene kann auf zwiefache Weise geworden sein, entweder durch einen einfachen Akt des Erzeugens, oder durch einen zwiefachen Akt des Setzens und Verknüpfens. . . . das auf die letztere Weise gewordene [ist] die diskrete oder Verknüpfungs-Form.“153
Aus dieser Zusammenstellung wird offensichtlich, daß für Graßmann eine axiomatische Darstellung der Arithmetik von vornherein ausschied. In der Ausdehnungslehre von 1844 vermerkt er dementsprechend: „Wenn man in die formalen Wissenschaften, wie zum Beispiel in die Arithmetik, . . . Grundsätze eingeführt hat, so ist dies als ein Missbrauch anzusehen, der nur aus der entsprechenden Behandlung der Geometrie zu erklären ist . . . Hier genüge es, das Fehlen der Grundsätze in den formalen Wissenschaften als nothwendig dargethan zu haben.“154 Die Sätze der Mathematik waren für ihn inhaltliche Aussagen über effektiv im Denken vollziehbare Konstruktionen, d. h. Sätze über alle ideellen Konstruktionen, die bezüglich wohldefinierter Kriterien gleiche Struktur haben. In diesem Sinne ist Graßmann als einer der ersten Begründer der konstruktiven bzw. operativen Mathematik anzusehen. Die hier angeführten Kontexte, in denen das Lehrbuch der Arithmetik steht, werden aber im Werk selbst, im Gegensatz zur Ausdehnungslehre von 1884 nicht reflektiert. Es tritt mit dem apodiktischen „Anspruche
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auf, die erste streng wissenschaftliche Bearbeitung jener Disciplin zu sein, und mit dem noch weiter gehenden Anspruche, dass die darin befolgte Methode, wie sehr sie auch von der üblichen abweichen mag, dennoch, in allen ihren wesentlichen Momenten, nicht eine unter vielen möglichen, sondern die einzig mögliche Methode einer streng folgerichtigen und naturgemässen Behandlung jener Wissenschaft sei.“155 Dennoch wird der Beweis der Begründetheit dieses Anspruchs nicht angetreten, da eine Auseinandersetzung der Methode für ein Lehrbuch unpassend sei: „Wir hoffen diesem Mangel späterhin durch eine Bearbeitung der Mathematik abzuhelfen, welche, wissenschaftlich durchgebildete Leser voraussetzend, überall die leitenden Gedanken hervorheben und die Nothwendigkeit der befolgten Methode im Einzelnen nachweisen soll.“156 Schon der Ton dieser Vorrede unterscheidet sich maßgeblich von dem sonst von Hermann Graßmann gewohnten. Waren für den Vater Justus Graßmann das dialektische Fortschreiten, das Erkennen einer leitenden Idee und das Gespür für die organische Ganzheit eines mathematischen Konzeptes gerade für die Schule fundamental, wichtiger als jede Rechnung und jeder schriftliche Beweis,157 so ist jetzt der „möglichst strengste[n] Methode“158 pädagogisch der Vorzug zu geben. Obgleich im Weiteren im Vorwort betont wird, daß der Lehrer den von Justus Graßmann benannten Gesichtspunkten Rechnung zu tragen hätte, findet dies in der mathematischen Darstellungsweise keinen Niederschlag. Carl Gottfried Scheibert, der mit Justus Graßmann gemeinsam Lehrbücher zur Trigonometrie konzipierte, wendete sich daher angewidert von einer solchen unpädagogischen Vorgehensweise eines mathematischen Lehrbuchs ab.159 Wie entwickelt Hermann Graßmann nun aber die Arithmetik? Er beginnt nicht mit der Erzeugung von Zahlen, sondern mit der Erzeugung einer nach beiden Seiten unendlichen Reihe von Größen durch Verknüpfung positiver und negativer Einheiten. Er eröffnet den ersten Abschnitt des Lehrbuches der Arithmetik mit folgender Konstruktionsanweisung: „Erklärung. Man bilde aus einer Grösse e eine Reihe von Grössen durch folgendes Verfahren: Man setze e als ein Glied der Reihe, setze e C e . . . als das nächstfolgende Glied der Reihe, und so fahre man fort, aus dem jedesmals letzten Gliede das nächstfolgende dadurch abzuleiten, dass man zu jenem C e hinzufügt. Ebenso setze man e C e . . . als das dem e zunächst vorhergehende Glied der Reihe, und so fahre man fort, aus dem jedesmal ersten Gliede der Reihe das nächst vorhergehende dadurch abzuleiten, dass man zu jenem Gliede C e hinzufügt, so erhält man eine nach beiden Seiten unendliche Reihe . . . Wenn man in dieser Reihe jedes Glied von allen übrigen Gliedern der Reihe verschieden annimmt, so nennt man diese Reihe die Grundreihe, e die positive Einheit, e die negative Einheit.“ [Unterstreichungen – H.-J. P.]160
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Für die so erzeugten Glieder der Grundreihe definiert er rekursiv die Addition, aber noch immer ist von Zahlen nicht die Rede. Erst unter § 4 Multiplikation, Satz 52, führt er die 1 ein: „a 1 D a . . . ‚Mit eins multipliciren ändert nichts.‘ “161 Unter Erklärung 53 erfahren wir, daß eine Grundreihe, deren Einheit gleich 1 ist, Zahlreihe heißt. Und mit dem Satz 60 wird gezeigt, daß das Produkt einer Zahl mit einer Größe wieder eine Größe der gleichen Grundreihe ist. Schließlich erfahren wir unter Erklärung 64: „Wenn a eine Grösse der aus e 6D 1 erzeugten Grundreihe und a D e α ist, so nennt man a eine benannte Grösse, e ihre Einheit, α ihren Zahlwerth.“162 Jetzt, auf Seite 21 des Lehrbuches, wird endgültig klar, worum es Graßmann geht: die Arithmetik ist nicht mehr „reine“ Zahlenlehre wie noch bei seinem Vater, sie hält sich auch nicht mit der Frage auf, ob 0 und 1 Zahlen sind, ob die Addition eine arithmetische Operation sei und das Negative in der Zahlenlehre einen Platz hätte, nein: Graßmann konstruiert die „benannte Zahl“ als den Gegenstand der Arithmetik.163 Die Herleitung der ganzen Zahlen und der rationalen Zahlen ist hierbei nur notwendiges Beiwerk. Er konstruiert die „benannten Zahlen“ als extensive Größen: als (zunächst ganzzahlige, im weiteren Verlauf des Lehrbuches dann auch als rationale164 ) eindimensionale Vektorkomponente, den Grund-Baustein der Ausdehnungslehre von 1862165 . Der Einstieg mit der Konstruktion einer unendlichen zyklischen Gruppe ist hierfür der natürlichste Ausgangspunkt. Daß „benannte Zahlen“ von Hermann Graßmann als extensive Größen aufgefaßt wurden, finden wir in der Ausdehnungslehre von 1862 bestätigt: „Nur wenn das System bloss aus der absoluten Einheit (1) besteht, ist die abgeleitete Grösse keine extensive, sondern eine Zahlgrösse. Den Ausdruck Grösse überhaupt werde ich nur für diese beiden Gattungen derselben festhalten.“166 Und er macht hierzu die Anmerkung: „Aus der Elementarmathematik setzen wir die Rechnungsgesetze für Zahlen, und auch für die sogenannten ‚benannten Zahlen‘, das heisst, für die aus Einer Einheit abgeleiteten extensiven Grössen voraus; jedoch nur für den Fall, dass jene Einheit eine ursprüngliche ist.“167 Damit ist eine tiefgehende Wendung in der Grundlegung der Mathematik vollzogen. Das in der Ausdehnungslehre von 1844 entwickelte Klassifizierungsschema der Mathematik bricht vollständig in sich zusammen: Gegenstand der Mathematik sind nunmehr ausschließlich extensive Größen, die im Spezialfall – einer Grundreihe mit der Einheit „1“ – als Zahlgrößen auftreten. Zahlenlehre wird zum Spezialfall der Arithmetik, die wiederum zum – wenngleich wichtigsten – Spezialfall der Ausdehnungslehre gerät. Die in der Ausdehnungslehre von 1844 entwik-
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kelte allgemeine Formenlehre wird hinfällig. Das Klassifizierungsschema der Mathematik muß völlig umgeschrieben werden (es dient später, in den mathematisch-logischen Veröffentlichungen Robert Graßmanns, zur Trennung von Mathematik und Logik). Mathematik rückt von der Philosophie ab und schließt sich noch enger an die „Realwissenschaften“. Sie wird zur Formaltheorie (und Modelltheorie) des Meßbaren, wie sich in den obigen Ausführungen Kleins sowie in den Überlegungen Helmholtz’ (1887) angedeutet findet. Daß diese Konsequenz den Brüdern Graßmann bewußt war, läßt sich aus den Erinnerungen Robert Graßmann erkennen. Rückblickend schreibt er: „Einen wirklichen Versuch, die Grösenlehre auszuführen, machten die Gebrüder Graßmann, Hermann und Robert, im Jahre 1847 in gemeinsamer Arbeit. Sie gingen damals von den einzelnen Zweigen der Formenlehre oder Mathematik, von Zahlenlehre und Ausdehnungslehre, sowie von der Kombinationslehre, welche sie damals noch zu den mathematischen Zweigen rechneten, aus, und suchten die Operationen dieser Zweige zu verallgemeinern, konnten aber nicht zu ersprieslichen Gesetzen gelangen und verzichteten daher auf eine Darstellung dieses Zweiges.“168 Vermutlich ist es der Rezeptionsgeschichte des Graßmannschen Lehrbuches der Arithmetik und seiner außerordentlichen Bedeutung für die Axiomatisierung der Theorie der natürlichen Zahlen geschuldet, daß seine fundamentale Rolle bei der Begründung der MathematikKonzeption Graßmanns bisher keine Beachtung fand und die Schrift fast ausschließlich als Zahlenlehre reflektiert wurde.169 Einzig Victor Schlegel – in seiner Graßmann-Biographie von 1878 – scheint den umfassenderen konzeptionelle Stellenwert der Schrift zu spüren, wenn er in einem Halbsatz vermerkt, daß das Lehrbuch ein Vorläufer der Ausdehnungslehre von 1862 sei, „weil es die in der neuen Bearbeitung derselben vorausgesetzten Elemente der Arithmetik enthält . . .“170 Beschränkt man sich auf den „beiläufigen“ Beitrag zur Begründung der Arithmetik (unbenannter Zahlen), so ist man auch hier von der Genialität des Ansatzes der Schrift beeindruckt.171 Vermittels der Verknüpfung der „Addition der Einheiten“172 führt Graßmann in der Betrachtung der Grundreihe den Begriff des Nachfolgers von a („zunächst folgendes Glied von a“) durch a C e, den Begriff des Vorgängers von a („zunächst vorhergehendes Glied von a“) durch a e ein und definiert die Null als Abkürzung für e C e. Störend für die begriffliche Klarheit wirkt sich aus, daß Graßmann von Anfang an für die Charakterisierung des Nachfolgers und für die Addition dasselbe Zeichen „C“ verwendet. Er weicht hierbei von der formalen Verknüpfungsbezeichnung der allgemeinen Formenlehre von 1844 ab. Die Addition wird, wahrscheinlich erstmals in der Geschichte173 , rekursiv definiert: „Wenn a und b beliebige Glieder der Grundreihe sind,
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so versteht man unter der Summe a C b dasjenige Glied der Grundreihe, für welches die Formel a C (b C e) D (a C b) C e gilt. [Zweite Klammer eingefügt – H.-J. P.]“174 Diese Definition gestattet, durch die Bezugnahme zur Grundreihe, die effektive Konstruktion aller gültigen Additionsformeln175 . Sie ist daher für Graßmann kein Axiom. Assoziativität und Kommutativität der Addition werden induktiv bewiesen, wobei sich Graßmann noch keine Gedanken über die Gültigkeit des induktiven Beweises macht.176 Nach der Behandlung der Subtraktion und sich dabei ergebender Sätze beweist Graßmann die Permanenz aller bisher entwickelten Aussagen und Definitionen für Kalküle, die auf folgende Weise aus der Grundreihe abgeleitet sind: „Wenn man aus einer von Null verschiedenen Grösse E der Grundreihe eine Reihe von Grössen auf dieselbe Weise ableitet, wie aus e die Grundreihe abgeleitet war, so ist auch in der so erhaltenen Reihe jedes Glied von allen übrigen verschieden . . . und gelten dann für diese neue Einheit und diese neue Grundreihe alle bisher aufgestellten Sätze.“177 Der Übergang von der Grundreihe zur Zahlreihe erfolgt über die Einführung der Multiplikation. Graßmann schreibt: „Unter a . 1 (gelesen a mal Eins oder a multiplicirt mit Eins) versteht man die Grösse a selbst, dass heisst a . 1 D a. . . . Eine Grundreihe, deren Einheit gleich Eins ist, heisst Zahlreihe, die Glieder derselben Zahlen . . .“178 In der so postulierten Zahlenreihe wird nun die Multiplikation allgemein wieder rekursiv definiert: „Die Multiplikation mit den übrigen Zahlen (ausser 1) wird durch folgende Formeln bestimmt: . . . a . (β C 1) D aβ C a . . . a . 0 D 0 ... a . (β) D (aβ) . . .“179 Nachträglich beweist er induktiv, daß das Produkt zweier Zahlen wieder eine Zahl der Grundreihe ist.180 Der Beweis der Assoziativität und Kommutativität der Multiplikation und der Distributivität bezüglich dar Addition sowie die Einführung der Kleiner- und Größer-Relationen folgen auf den nächsten Seiten. Die Tiefgründigkeit der Untersuchungen Graßmanns wird auch daran erkennbar, daß seine Definitionen und Sätze für eine Axiomatik der ganzen Zahlen hinreichen. Das nachfolgende Axiomensystem hat Hao Wang aus den Entwicklungen des Graßmannschen Lehrbuches herausgelöst und seine Identität mit einem ähnlichen System der modernen abstrakten Algebra nachgewiesen: „Graßmann’s calculus L2 : A. Atoms: D, (, ); a, b, c, d, etc. (letters); 1, C, , .; Pos.
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B. Terms: 1 is a term; 1 is a term; a letter is a term; if s and t are terms, then (s C t) and (s . t) are terms. C. Definitions . . .: (2.20) 0 D 1 C 1. (2.21) For any a and b, a b is the number such that b C (a b) D a. (2.22) a D 0 a. (2.23) a > b $ a b 2 Pos. D. Axioms: (2.26) a D (a C 1) C 1. (2.27) a D (a C 1) C 1. (2.28) a C (b C 1) D (a C b) C 1. (2.29) a . 0 D 0. (2.30) 1 2 Pos. (2.31) a 2 Pos. ! a C 1 2 Pos. (2.32) b D 0 or b 2 Pos. ! a . (b C 1) D (a . b) C a. (2.33) b 2 Pos. ! a . (b) D (a . b). (2.34) If 1 2 A, for all b, b 2 A ! b C 1 2 A, and b 2 A ! b C 1 2 A; then for all a, a 2 A. (2.35) If 1 2 A, and for all b, b 2 A ! b C 1 2 A, then for all a, a 2 Pos. ! a 2 A.“181 Zu der hier explizierten Rezeption des Graßmannschen Lehrbuches der Arithmetik durch Hao Wang muß jedoch zweierlei bemerkt werden: Wenn Hao Wang von der Arbeit Graßmanns schreibt: „This was probably the first serious and rather successful attempt to put numbers on a more or less axiomatic basis.“182 , so handelt es sich um eine Überbetonung des axiomatischen Standpunktes, die der konstruktiven Grundhaltung Graßmanns, wie vorangehend gezeigt, nicht gerecht wird. Wenn Hao Wang ferner an anderer Stelle hervorhebt, daß Graßmann nicht explizit ausgeschlossen hätte, daß alle ganzen Zahlen auch als identisch untereinander hätten gesetzt werden können, um die von ihm implizit entwickelte axiomatische Struktur zu erfüllen, so kann auch dieser Einwand hier nicht geteilt werden, da er den konstruktiven Ausgangspunkt Graßmanns unterschlägt.183 In der bereits angeführten Definition der Grundreihe wird nämlich die Verschiedenheit der Zahlen direkt vorausgesetzt: „Wenn man . . . jedes Glied von allen übrigen Gliedern der Reihe als verschieden annimmt, so nennt man diese Reihe die Grund-
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reihe . . .“184 , und alle Sätze und Definitionen Graßmanns beziehen sich ausdrücklich auf Grundreihen. Graßmann war sich der Notwendigkeit dieser Voraussetzung bei der Begründung der Arithmetik der natürlichen (und ganzen) Zahlen durch die gemeinsamen Studien mit seinem Bruder vollständig bewußt. Wie sich Robert Graßmann erinnerte, hatten sich die Brüder Graßmann in den Jahren 1847/48 und 1855/56 teils gemeinschaftlich, teils arbeitsteilig um eine Neubegründung der Mathematik und Logik bemüht, wobei sich Robert Graßmann mehr und mehr auf die Logik konzentrierte. Die gemeinsame Grundlage für diese Untersuchungen bildete die Verknüpfung „einwertiger Größen“. Es verfestigte sich die Auffassung, daß für die Mathematik nur Verknüpfungen der Form e C e 6D e und für die Logik nur Verknüpfungen der Form e C e D e (dies entspricht der logischen Konjunktion bzw. der Booleschen Algebra) Gültigkeit hätten. Hermann Graßmann mußte sich also über die Unterschiede dieser beiden Verknüpfungsformen vollständig im Klaren gewesen sein.185
3.7 Das Eingreifen der Ideen Graßmanns in die Entwicklung der Mathematik Der erste Mathematiker, der die algebraisch-geometrischen und die arithmetischen Untersuchungen Graßmanns aufgriff und ihnen öffentliche Anerkennung zuteil werden ließ, war Hermann Hankel mit seinem Werk über die Komplexen Zahlensysteme (Hankel 1867) aus dem Jahre 1867. Hankel, der ein ausgeprägtes Interesse für die Geschichte und die philosophischen Fragen der Mathematik hatte, von Drobisch, Möbius, Riemann, Weierstraß und Kronecker in die moderne Mathematik eingeführt worden war186 und sich durch umfassende Kenntnis der algebraischgeometrischen Forschungen der englischen Mathematiker auszeichnete, war wie kaum ein anderer Mathematiker seiner Zeit prädestiniert, in die mathematische Gedankenwelt Graßmanns einzudringen. Der Beitrag zur Axiomatisierung der Algebra187 , den er 1867 leistete, ist in hohem Maße gekennzeichnet von dem Bestreben einer Synthese und Verallgemeinerung der algebraischen Studien Graßmanns und Hamiltons. Nicht nur, daß Hankel die geometrische Interpretation der äußeren Algebra Graßmanns übernimmt, ihre Bedeutung für einen eleganten Aufbau der Determinantentheorie ausweist und die grundlegenden Ergebnisse Graßmanns über den Aufbau der Arithmetik aufgreift, sondern auch der bedeutsame erste und zweite Abschnitt seiner Theorie der komplexen Zahlensysteme, d. h. die „Exposition“ und die „Allgemeine Formenlehre“188 , in denen er das Permanenzprinzip entwickelt, ein abstrakteres Verständnis der
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mathematischen Objekte entwirft und wesentliche Vorarbeiten zur Herausbildung der abstrakten Auffassung der Begriffe Gruppe, Körper und Erweiterungskörper leistet, stehen unter dem unverkennbaren Einfluß der beiden Ausdehnungslehren Graßmanns, insbesondere jedoch der Formenlehre von 1844. Die Bedeutung Hankels für die Entwicklung der abstrakten Gruppentheorie hervorhebend, schreibt Hans Wußing: „Besonders sei auf den Umstand verwiesen, daß Hankel sich in seiner ‚Theorie der complexen Zahlensysteme‘ . . . u. a. das Ziel gestellt hat, Hamiltons Quaternionenkalkül nach Deutschland zu verpflanzen, und zwar in einer von ihm ‚durchsichtig gemachten‘, d. i. formalistischen Weise; bei dieser Gelegenheit werden auch die seit etwa 1840 in England bereits voll eingebürgerten Fachausdrücke ‚distributiv‘, ‚kommutativ‘ und ‚assoziativ‘ übernommen. – Für den Bezug zur Gruppentheorie besonders bedeutsam – ohne daß das Wort ‚Gruppe‘ aufträte – ist der zweite Abschnitt, ‚Allgemeine Formenlehre‘, und da wieder § 4, ‚Algorithmus associativer Rechnungsoperationen ohne Commutation‘.“189 Ähnlich äußern sich N. Bourbaki.190 Gleichwohl wird die große Bedeutung, die Graßmanns Ideen für das Werk Hankels hatten, in der Literatur fast nicht beachtet. Aber auch Hankel blieb das Schicksal Graßmanns noch nicht erspart. Die mathematische Entwicklung auf dem europäischen Kontinent war noch nicht soweit fortgeschritten, daß sie seine abstrakten Auffassungen hätte in sich aufnehmen können. Das Interesse und die Anerkennung sowohl für die Arbeiten Graßmanns und Hankels als auch für die wegweisenden Ansätze von Galois, Möbius, Chasles, Cayley, Plücker, Riemann, Lobaˇcevskij, Boole, Bolzano u. a., die mit ihrem abstrakteren Herangehen tiefer liegende Strukturen der Mathematik aufzudecken begannen, sollte erst in den 70er und 80er Jahren des 19. Jhs. hervortreten.194 Für die Geometrie wurde dieser Entwicklungsprozeß bereits angedeutet.195 Die Beschäftigung mit Grundlagenfragen der Mathematik überhaupt nahm in dieser Zeit einen gewaltigen Aufschwung. Cantor legte seine ersten Grundsätze zur Mengenlehre nieder, die mathematische Logik begann sich mit G. Frege und E. Schröder in Deutschland, B. Peirce in den USA und G. Peano in Italien zu entwickeln, die Formalisierung der abstrakten Algebra wurde beachtlich vorangetrieben u. v. m. Unter diesen Bedingungen wurden nun retrospektiv die Leistungen Graßmanns gewürdigt und die noch ausbaufähigen Ansätze aufgegriffen und umgearbeitet.
3.7 Eingreifen der Ideen Graßmanns in die Mathematikentwicklung
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Hankels „Theorie der complexen Zahlensysteme“ (1867) Als Beleg für den Einfluß Graßmanns auf die begrifflichen Entwicklungen Hankels seien exemplarisch nur die folgenden, für sich sprechenden Zitate angeführt, denen sich leicht weitere hinzufügen lassen: Zur allgemeinen Formenlehre: „Die rein formale Mathematik, deren Principien wir hier dargelegt haben, besteht nach eben diesen nicht in einer Verallgemeinerung der gewöhnlichen Arithmetik; sie ist eine durchaus neue Wissenschaft, deren Regeln durch letztere nicht bewiesen, sondern nur exemplificirt werden . . .“191 „Solche formalen Gesetze, die von den gemeinen arithmetischen immerhin ganz verschieden sein mögen, können nun einer besonderen propädeutischen Untersuchung unterworfen werden, die gänzlich von der actuellen Bedeutung der Operationen abstrahirt, und es wird sich dies besonders dann als zweckmässig erweisen, wenn dieselben Gesetze mit verschiedenem Inhalte mehrmals in verschiedenen Disciplinen wiederkehren. Diese formale Mathematik würde dann mit der unter dem Namen des ‚calculus of operations‘ oder ‚symbols‘ besonders von den Engländern in letzter Zeit mit specieller Vorliebe gepflegten Disziplin zusammenfallen.“192 Graßmanns Verdienst: „Der Gedanke, eine reine Formenlehre der Grössenlehre vorangehen zu lassen und letztere aus dem Gesichtspunkte der ersten zu betrachten, so wichtig er auch für die Begründung und die structive Gliederung des Gebäudes der Mathematik sein mochte, war so lange für den weiteren Aufbau derselben ohne wesentlichen Werth, als man sich nur darauf beschränkte, ihn ausschliesslich zum Beweise von Sätzen zu verwenden, die nicht allein schon längst bekannt, sondern auch sattsam, wenn auch so zu sagen nur empirisch, begründet waren. Erst H. Graßmann hat diesen Gedanken mit wahrhaft philosophischem Geiste ergriffen und von einem umfassenden Gesichtspunkte aus betrachtet.“193
1. Arithmetik Die Untersuchungen Graßmanns zur Grundlegung der Arithmetik aus dem Jahre 1861 wurden 1873 von E. Schröder in seinem „Lehrbuch der Arithmetik und Algebra.“ (Schröder 1873) aufgegriffen und für den Aufbau der Arithmetik der natürlichen Zahlen genutzt. Auch Helmholtz schloß sich 1887 in seinem philosophisch bedeutsamen Aufsatz „Zählen und Messen erkenntnistheoretisch betrachtet“ (Helmholtz 1887) dem Vorgehen Graßmanns an. Für die Aufstellung der arithmetischen Postulate durch Peano (Peano 1889b) bildete die Arbeit Graßmanns, neben den Ergebnissen Dedekinds, den unmittelbaren Anlaß.196 Die nachhaltige Wirkung der Graßmannschen Untersuchungen zur Begründung der Arithmetik in Mathematikerkreisen wird deutlich, wenn man bedenkt, daß sich O. Hölder noch 1914 in seiner Abhandlung „Die Arithmetik in strenger Begründung“ (Hölder 1914) eng an den Vorgang Graßmanns hält.
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2. Geometrie Besonders beachtenswert scheint hier in erster Linie der Tatbestand zu sein, daß die Untersuchungen Graßmanns zu den Invarianzen der affinen und euklidischen Transformationen in seinen beiden Ausdehnungslehren noch einen Einfluß auf die Konzipierung des bedeutsamen „Erlanger Programms“ von F. Klein ausübten. Klein, der durch Hankel und Stern auf die Ausdehnungslehre Graßmanns aufmerksam gemacht worden war, hatte sich 1871 intensiver mit dem Werk dieses Mathematikers vertraut gemacht. In einem Brief an F. Engel aus dem Jahre 1909 schreibt er hierüber: „Graßmann ist bekanntlich in seiner Ausdehnungslehre affiner Geometer, nicht projektiver. Dies wurde mir im Spätherbst 1871 klar und führte mich (neben dem Studium von Möbius und Hamilton und der Verarbeitung aller Eindrücke, die ich in Paris erhalten hatte) zur Konzeption meines späteren Erlanger Programms. Ich unterschied (je nach der adjungierten Gruppe) verschiedene ‚Methoden‘ der Geometrie. . . . Im Herbst 1872, als ich mein Erlanger Programm schrieb, während Lie bei mir in Erlangen war, haben wir uns dann sehr rasch verständigt. Das Wort ‚Methode‘ hatte ihn geniert und ich hatte es dann ja auch ausgemerzt.“197 Im Erlanger Programm finden wir daher auch mehrfach Verweise auf Graßmann bezüglich dessen Kreistransformationen198 , Begriffsbildungen zur n-dimensionalen Mannigfaltigkeit199 und des indirekt gruppentheoretischen Vorgehens bei der Entwicklung der Ausdehnungslehre200 . Bei der näheren Betrachtung des Erlanger Programms fällt indes auf, daß Klein die affine Gruppe noch nicht untersucht, sie folglich auch noch nicht zwischen die Hauptgruppe und die Gruppe der Kollineationen gestellt hat. Klein erklärte dies später als ein „Ergebnis einseitiger Tradition“, durch die er zu jener Zeit noch nicht zur „vollen Würdigung der Arbeiten von Möbius und Graßmann“201 habe vorstoßen können. „Erst in den Jahren 1895/96 hat Klein – in seinen Vorlesungen über Zahlentheorie – die affine Gruppe bei Zugrundelegung nicht homogener Variabler als Gesamtheit aller ganzen linearen Substitutionen der Variablen in den Vordergrund gerückt.“202 Neben dem Einfluß der Graßmannschen Arbeiten auf die Entstehung des Erlanger Programms ist deren Bedeutung für die axiomatische Grundlegung der Geometrie hervorzuheben. Hatte Graßmann bereits 1844 von der Notwendigkeit einer von der Lehre von den Eigenschaften des realen Raumes losgelösten mathematisch-abstrakten Geometrieauffassung gesprochen und ihr in Form seiner Ausdehnungslehre „Elemente schlechthin“ zugrunde gelegt, so wird dieser Gedanke von Peano 1889 in seiner Schrift „I principii di Geometria, logicamente expositi“ (Peano 1889a) wieder aufgegriffen, indem er die Grundelemente der Geometrie als „Dinge“ betrachtet, welche die allerverschiedenste Bedeutung haben
3.7 Eingreifen der Ideen Graßmanns in die Mathematikentwicklung
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können.203 Die vollständig konsequente Entwicklung dieses Standpunktes wird 1899 von Hilbert in seinen „Grundlagen der Geometrie“ (Hilbert 1900) erreicht.204 In den Bestand der projektiven Geometrie gingen das Graßmannsche Doppelverhältnis, die aus der projektiven Deutung der planimetrischen und stereometrischen Produkte abgeleitete Erzeugung von algebraischen Kurven und Oberflächen dritter Ordnung sowie der Begriff der Graßmannschen Mannigfaltigkeit36 ein. Letztere Begriffsbildung schälte sich erst zu Beginn des 20. Jhs. besonders durch die Forschungen von Severi heraus.205
3. Abstrakte Gruppentheorie In seiner mathematikgeschichtlichen Studie „Die Genesis des abstrakten Gruppenbegriffes“ schreibt H. Wußing: „Bemerkenswerterweise – und zwar in Hinblick auf den nun rasch vor sich gehenden Prozeß der Herausbildung des abstrakten Gruppenbegriffes – ist es . . . das Jahr 1882, in dem alle drei historischen Wurzeln der abstrakten Gruppentheorie – die aus der Auflösungstheorie algebraischer Gleichungen entspringende – durch einen alle drei Komponenten bewußt in sich aufnehmenden abstrakten Gruppenbegriff vereinigt wurden. Es scheint daher gerechtfertigt, das Jahr 1882 als das entscheidende Jahr der Herausbildung des in diesem Sinne totalen abstrakten Gruppenbegriffes anzusetzen . . . Die in diesem Sinne entscheidende Abhandlung stammt von W. v. Dyck (1856 bis 1934).“206 W. v. Dyck, der als Schüler Kleins von diesem mit allen drei Anwendungsbereichen der Gruppentheorie vertraut gemacht worden war, schließt sich in seinen Untersuchungen eng an die Vorleistungen Cayleys an.207 Bezüglich seiner abstrakten Gruppenauffassung beruft er sich jedoch ausdrücklich auf Graßmanns Ausdehnungslehre und Hankels Theorie der komplexen Zahlensysteme und kommt zur retrospektiven Würdigung und zeitgemäßen Umsetzung der hervorragenden Leistungen beider Mathematiker auf dem Gebiet der abstrakten Algebra. In der Einleitung seiner „Gruppentheoretischen Studien“ von 1882 schreibt er: „Indem wir die gruppentheoretischen Operationen rein formal auffassen, zeigt sich deutlich ihre Stellung in einer formalen Entwickelung analytischer Operationen überhaupt. Es sind Multiplicationsoperationen, welche das associative, nicht aber das commutative Princip befolgen.“208 Und in einer Anmerkung fügt er hinzu: „Ich erwähne hier die Entwickelungen in Graßmanns Ausdehnungslehre über die Multiplication extensiver Grössen, einzelne Abschnitte über die Multiplication der Quaternionen in Hamilton’s Elements of Quaternions, sowie Hankel’s Vorlesungen über die complexen Zahlen, . . . endlich Arbeiten von E. Schröder, welcher
232
3 Graßmanns Beiträge zur Entwicklung der Mathematik
speciell der Stellung gruppentheoretischer Operationen in einer formalen Entwicklung der Algebra gedenkt.“209 Damit griffen die fast 40 Jahre zurückliegenden Arbeiten Graßmanns noch in hervorragender Weise ein in die endgültige Ausgestaltung der Gruppentheorie. Und selbst weitere 16 Jahre später sollten die algebraisch-geometrischen Untersuchungen Graßmanns unter den Händen Whiteheads als Grundlage der Bearbeitung der Algebra dienen und zur Erhärtung der mathematischen Konzeption des Formalismus beitragen.
Whitehead zum Einfluß Graßmanns auf die „Principles of Universal algebra“ in seinem „A treatise on Universal Algebra“ (1898) „The discussions of this chapter are largely based on the ‚Uebersicht der allgemeinen Formenlehre‘ which forms the introductory chapter to Graßmann’s Ausdehnungslehre von 1844.“210
In seinem 1898 erschienen Werk „A treatise on Universal Algebra“ (Whitehead 1898) stellte sich Whitehead das Ziel „. . . to exhibit the algebras both as systems of symbolism, and also as engines for the investigation of the possibilities of thought and reasoning connected with the abstract general idea of space“211 . Wie vormals Hankel begeisterte er sich für die Grundideen und die algebraischen Entwicklungen der beiden Ausdehnungslehren. „The greatness of my obligations in this volume to Graßmann“, schreibt er in der Einleitung seines Werkes „will be understood by those who have mastered his two Ausdehnungslehres. The technical development of the subject is inspired chiefly by his work of 1862, but the underlying ideas follow the work of 1844“212 . Es sind jedoch verständlicherweise nur die formalen Ansätze, die Whitehead bei Graßmann aufgreift;213 diese jedoch nutzt er für eine zeitgemäße Erhöhung des Abstraktionsniveaus der Mathematik. Somit trugen die ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Arbeiten Graßmanns noch maßgeblich dazu bei, die Grundlagenkrise der Mathematik zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verschärfen und damit gleichzeitig die weitere Präzisierung der mathematischen Grundbegriffe zu stimulieren.214 4. Vektor- und Tensorrechnung Neben der Ausarbeitung der äußeren Algebra gehört die Begründung der Vektor- und Tensorrechnung zu den eigentlichen Hauptleistungen Graßmanns auf dem Gebiet der Mathematik. Hierbei muß sich Graßmann seinen Ruhm jedoch mit Hamilton teilen.215 Beide Mathematiker stimmen in ihren Untersuchungen zur Ausdehnungslehre bzw. zur Theorie der Quaternionen darin überein, daß sie
3.7 Eingreifen der Ideen Graßmanns in die Mathematikentwicklung
233
direkt mit gerichteten Größen operieren und erst später zur Komponentendarstellung übergehen. Ferner verallgemeinern beide die Bedeutung des Wortes „Produkt“ und gehen inhaltlich in den Entwicklungen zur gewöhnlichen Vektorrechnung weitgehend konform. Während Graßmanns Ausdehnungslehre von 1844 die Theorie der Invarianten der Gruppe jener affinen Transformationen behandelt, welche den Koordinatenursprung festlassen, tritt bei Hamiltons Quaternionen und den Entwicklungen Graßmanns zum inneren Produkt aus dem Jahre 1862 die Theorie der Gruppe der Drehungen im euklidischen Raum in den Vordergrund. Terminologisch sind jedoch die Arbeiten beider Mathematiker von Grund auf verschieden. Sowohl die vielen Gemeinsamkeiten als auch die bestehenden Unterschiede der Entwicklungen Graßmanns und Hamiltons führten zwischen den sich seit etwa 1890 formierenden nationalen „Schulen“ der Graßmannianer und Quaternionisten zu einer heftigen, bis zum ersten Weltkrieg anhaltenden Fehde um den Alleinvertretungsanspruch der jeweiligen Richtung.216 Dies brachte eine heillose begriffliche Verwirrung mit sich, die durch das manische Streben der Anhängerschaft Graßmanns nach immer neueren, originelleren deutschen Kunstausdrücken noch gefördert wurde.217 Hinzu traten die eigenständigen Rezeptionen und Umsetzungen der Arbeiten Hamiltons und Graßmanns durch Gibbs (1881) in den USA und Peano (1888) in Italien.218
Bourbaki über die Bedeutung Peanos: „Peano, einer der Schöpfer der axiomatischen Methode und auch einer der ersten Mathematiker, die das Werk von Graßmann in seinem Wert zu schätzen wissen, gibt von 1888 an [vgl. Peano 1888, 1889a, 1898 – H.-J. P.] . . . die axiomatische Definition der Vektorräume (endlicher oder unendlicher Dimension) über dem Körper der reellen Zahlen und in einer ganz modernen Bezeichnungsweise die Definition linearer Abbildungen eines solchen Raumes in einen anderen . . .“219
In die englische Physik drang die Vektorrechnung in Modifizierung der Hamiltonschen Bezeichnungsweise durch Maxwells „Treatise on Elektricity and Magnetism“ (Maxwell 1873) ein. Die amerikanische Physik stand unter dem Einfluß der Gibbsschen Synthese der Graßmannschen und Hamiltonschen Begriffsbildungen zur Vektorrechnung, und in Deutschland wurden die Physiker ebenfalls durch Gibbs sowie durch die „Electromagnetic Theory“ (Heaviside 1951) des englischen Telgrapheningenieurs Heaviside mit den Vektortheorien Graßmanns und Hamiltons bekannt.220 Die divergierende Symbolik, die diese Entwicklung hervorbrachte, ist noch heute spürbar.
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3 Graßmanns Beiträge zur Entwicklung der Mathematik
Zu Beginn des 20. Jhs. erhielt die Vektor- und Tensorrechnung durch die Herausbildung der Einsteinschen Relativitätstheorie einen gewaltigen Aufschwung. Ihr weiterer Ausbau erfolgte dabei entsprechend den Bedürfnissen der Mathematischen Physik für den vierdimensionalen Raum. Die innermathematische Entwicklung der Vektor- und Tensorrechnung vollzog sich im Rahmen der linearen Algebra und führte in den letzten Jahrzehnten des zurückliegenden Jahrhunderts, stimuliert durch die Fortschritte und die Bedürfnisse der elektronischen Datenverarbeitung, zu ihrer heutigen, abstrakten Gestalt.
5. Äußere Algebra Die von Graßmann entwickelte äußere Algebra auf einem endlichdimensionalen Vektorraum über dem Körper der reellen Zahlen bildete eine der ersten Formen einer assoziativen, nichtkommutativen Algebra221 , welche jedoch erst nach 1900 in den Bestand der abstrakten Algebra aufgenommen wurde.222 Die vielfältigen Anwendungsgebiete der äußeren Algebra haben ihr einen festen Platz in der modernen Mathematik gesichert. Ihre Bedeutung für die Determinantentheorie hatte Graßmann schon erkannt und Hankel 1867 aufgegriffen. Bereits zum Ende des 19. Jhs. erschienen unzählige Werke, in denen von der Behandlung der Determinantentheorie vermittels des äußeren Produktes von n Vektoren eines n-dimensionalen Vektorraumes über dem Körper der reellen Zahlen Gebrauch gemacht wurde. Selbst moderne Lehrbücher greifen auf eine derartige Behandlung der Determinantentheorie zurück.223 Die äußere Algebra über einem endlichdimensionalen Hilbertraum liefert im Zusammenhang mit der Determinantentheorie wertvolle Ergebnisse über Determinanten von Blockmatrizen.224 Eine weitere, heute zum mathematischen Allgemeingut gehörende Anwendung der äußeren Algebra ist die auf Graßmann zurückgehende äußere Produktbildung von Tensoren.225 Darüber hinaus wurde die Anwendbarkeit der äußeren Algebra in der modernen Literatur bis auf unitäre R-Rechtsmodule ausgedehnt („Äußere Potenz eines Moduls“). Auf die von E. Cartan entwickelte Theorie über assoziierte Unterräume von Idealen in der äußeren Algebra sei nur verwiesen.226 Von hervorragender Bedeutung ist letztlich die ebenfalls direkt auf Graßmann zurückgehende Theorie der äußeren Differentialformen, welche sich gleichfalls als eine Anwendung der äußeren Algebra erweist. Ihren Grundstein hatte Graßmann mit der 1862 erfolgten Behandlung der Pfaffschen Differentialgleichungen vermittels schiefsymmetrischer Tensoren gelegt. E. Cartan knüpfte an Graßmann an, verallgemeinerte dessen Untersuchungen und nutzte die äußeren Differentialformen für den Aufbau der Differentialgeometrie.227 Damit war, wie Bourbaki be-
Anmerkungen zum 3. Kapitel
235
tont, den Werken Graßmanns endgültig der ihnen gebührende Platz im Gebäude der Mathematik eingeräumt worden. 228 Sich diese vielfältigen Anregungen vor Augen haltend, welche Graßmanns Arbeiten noch Jahrzehnte nach ihrer Veröffentlichung bewirkten, kann man Graßmanns Leistungen, welche er in der Stettiner Isoliertheit und unter der Last der umfangreichen schulischen und gesellschaftlichen Verpflichtungen vollbrachte, nur die allerhöchste Hochachtung zollen.
Anmerkungen zum 3. Kapitel 1 Clebsch 1871, S. 3. 2 Vgl. Wußing 1969, S. 15. 3 Erste Ansätze zur analytischen Geometrie lassen sich über E. Torricelli, G. Galilei, J. Kepler, N. Oresme bis auf Apollonius von Perge zurückverfolgen. – Vgl. Böhm et al. 1975, S. 16ff. 4 Vgl. Struik 1972, S. 109ff. 5 Vgl. Clebsch 1871, S. 10. 6 Vgl. Clebsch 1871, S. 10. 7 Leibniz 1686, S. 22. 8 1890 stellte F. Engel fest, daß in der analytischen Geometrie etwas „Unruhiges und Ungleichmäßiges“ zutage tritt, „denn die einzelnen Schritte der Rechnung haben fast nie eine geometrische Bedeutung, sie erscheinen meistens als Kunstgriffe . . .“ (Engel 1890, S. 17/18). 9 Vgl. Wußing 1969, S. 30ff. 10 Vgl. Abschnitt 4 dieses Kapitels. 11 Vgl. Study 1898, S. 159. 12 Vgl. Loria 1888, S. 115ff. 13 Vgl. Alexandroff/Markuschewitsch/Chintschin 1971, S. 342ff. und History of science. Bd. 3 1965, S. 34f. 14 Von Cayley stammt der Begriff „n-dimensionale Geometrie“. – Vgl. Alexandroff/ Markuschewitsch/Chintschin 1971, S. 342ff. 15 Lie 1934, S. 105. 16 Vgl. Licis 1976, S. 87ff. 17 Vgl. Wußing 1976, S. 53ff. 18 Vgl. Ruzavin 1977, S. 99f., ferner Helmholtz 1868, Riemann 1876a sowie Klein 1921. 19 Vgl. Blaschke 1948, S. 12ff. und Wußing 1969, S. 17f. Vgl. dort auch zu den folgenden Ausführungen. 20 Vgl. Wußing/Arnold 1975, S. 270ff. 21 Die grundlegenden differentialgeometrischen Arbeiten Monges, die besonders von Gauß und Riemann weitergeführt wurden und die das Antlitz der modernen Geometrie mit prägten, seien in dem gewählten Rahmen nicht weiter untersucht. 22 Vgl. Fano 1907. 23 Wußing 1969, S. 16. 24 Vgl. ebenda. 25 Ebenda, S. 33. 26 Auf die verbleibenden grundlagentheoretischen Fragen der eigenständigen axiomatischen Begründung der Geometrie, die von Hilbert, Poincaré, Pasch, Weyl
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27 28 29 30 31
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3 Graßmanns Beiträge zur Entwicklung der Mathematik u. a. in Angriff genommen wurden, kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. Ausdrücklich sei betont, daß es sich hierbei nicht um logische Widersprüche handelt. Zitiert nach der Einleitung von Wußing in Klein 1974, S. 20. Vgl. auch Wußing 1969, S. 126ff. Vgl. Gerhardt 1877, S. 289f. sowie Struik 1972, S. 172. Vgl. Kapitel 1, Abschnitt 4. In der Literatur werden die Begriffe „Multivektor“, „Vektor n-ter Stufe“, „homogene Komponente k-ter Stufe eines äußeren Vektors“, „p-Vektor“, „vollständig alternierender Tensor“, „rein ko- oder rein kontravarianter in allen Indizes alternierender Tensor der Stufenzahl p“ synonym verwendet. Vgl. auch Kapitel 4, Abschnitt 1. EBBE, S. 11. Zitiert nach Struik 1972, S. 143. EBBE, S. 17. Nähere Informationen zur „Graßmannschen oder Äußeren Algebra“ sowie zu verwandten Begriffsbildungen aus der Sicht der neueren Mathematik finden sich in: Naas/Schmid 1972a, S. 130, 648; Naas/Schmid 1972b, S. 209f.; Kupcov 1977; Onišˇcik 1977a; Onišˇcik 1977b; Eisenreich 1971, S. 40ff.; Gröbner 1966, S. 30ff.; Groh 1956; Schatz 1970 u. a. Vgl. EBBE, S. 19/20. Vgl. ebenda, S. 28. Vgl. ebenda, S. 30. Vgl. ebenda, S. 40. Vgl. ebenda, S. 56ff. EBBE, S. 57. EBBE, S. 81. Vgl. die Anmerkung des Sohnes Hermann Graßmanns, Justus Graßmann, zur Prüfungsarbeit. In GW31, S. 221. Vgl. Kapitel 1, Abschnitt 4. Vgl. Abschnitt 4 dieses Kapitels. In seinem Äquipollenzkalkül (Bellavitis 1835) entwickelte Bellavitis ein Rechnen mit äquipollenten Strecken, wobei er zwei Strecken als äquipollent bezeichnete, wenn sie in Länge, Richtung und Richtungssinn, nicht aber in der Lage übereinstimmen. Durch nähere Untersuchungen gelangte er dabei u. a. zur vektoriellen Addition. – Vgl. Rothe 1916. Vgl. Näheres in Becker/Hofmann 1951, S. 326ff. Klein 1926, S. 174. Biermann 1973, S. 38. Wußing/Arnold 1975, S. 352. Vgl. auch Clebsch 1871, S. 15f. sowie Clebsch 1874, S. 12. Vgl. Kapitel 1, Abschnitt 4. Klein 1926, S. 175. Clebsch 1871, S. 8. Vgl. Kapitel 4. Siehe hierzu die Ausführungen Graßmanns in A1, S. 33–45. A1, S. 42. A1, S. 44. Birjukova/Birjukov 1997 verweisen darauf, daß Graßmann mit der allgemeinen Formenlehre der erste Mathematiker ist, der – im Kontext eines genetisch-kon-
Anmerkungen zum 3. Kapitel
61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81
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237
struktiven Mathematikprogramms – eine abstrakte algebraische Theorie der Gruppoide, Halbgruppen, Quasigruppen, Gruppen, kommutativen Gruppen und Ringe entwickelt hat. Vgl. A1, S. 46 u. S. 158. Vgl. Kapitel 4. A1, S. 49. A1, S. 48/49. Anmerkung des Herausgebers der gesammelten Werke Graßmanns, F. Engel zur Ausdehnungslehre von 1844. In: GW11, S. 404. A1, S. 51/52. Riemann 1876a, S. 257. Vgl. Riemann 1876a, S. 255. A1, S. 60. Vgl. Segre 1912, S. 22/23. A1, S. 61. A1, S. 62. A1, S. 65. Ebenda. A1, S. 65/66. Vgl. u. a. Helmholtz 1868, S. 203. Helmholtz 1868, S. 203. Helmholtz 1868, S. 190. A1, S. 77. – Vgl. auch die Ausführungen über die Vorstellungen Graßmanns zum Wesen der mathematischen Methode, im Abschnitt 4, Kapitel 4. Näheres im Kapitel 4, Abschnitt 3. Klein spricht in diesem Zusammenhang direkt vom „Graßmannschen Determinantenprinzip“ zur Erzeugung von linearen Invarianten der Geometrie. Vgl. Klein 1925, S. 22ff., 31ff. Vgl. A1, S. 99–102. Vgl. A2, S. 43ff. Siehe auch Abschnitt 8 des ersten Kapitels. Vgl. A1, S. 118ff. A1, S. 137/138. Enriques 1907, S. 53. Graßmann schreibt: „Statt das Ergebniss einer Grundverknüpfung [Vektoraddition, Äußere Multiplikation sowie die entsprechenden Umkehroperationen – H.-J. P.] abzuschatten, kann man deren Glieder in demselben Sinne abschatten.“ (A1, S. 148). A1, S. 161. A1, S. 178/179. A2, S. 172. A1, S. 192/193. Vgl. Clebsch 1871, S. 28. Vgl. A1, S. 179–185. Vgl. Wußing 1969, S. 31, 201. Vgl. Clebsch 1871, S. 28, Anm. Siehe A1, S. 205/206. Vgl. auch die Ausführungen in Rothe 1916, S. 1284ff. Der Unfruchtbarkeit der überhöhten Abstraktionen bei der Einführung des eingewandten Produktes ist sich Graßmann später selbst bewußt geworden. Er fügte aus diesen Gründen 1877, anläßlich der zweiten Auflage der Ausdehnungslehre
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100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122
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3 Graßmanns Beiträge zur Entwicklung der Mathematik von 1844, dieser einen Anhang bei, in dem er eine einfachere und verständlichere Definition des eingewandten Produktes gibt. Vgl. A1, S. 295. Vgl. A1, S. 209. A1, S. 213. A1, S. 247. Ebenda. A1, S. 249. Vgl. die Untersuchungen Graßmanns in H. Graßmann 1851b. Vgl. hierzu die Anmerkung von Scheffers in GW21, S. 393ff. Klein 1928, S. 132. Ebenda. Vgl. etwa Bloch 1951. Gelegentliche Erwähnung findet diese Kurventheorie noch 1929 bei dem „Graßmannianer“ A. Lotze in Lotze 1929. A1, S. 245. Es sind dies die Arbeiten von H. Graßmann 1846, 1848a, 1851a–c, 1852, 1855a–e, 1855g. Cremona 1860, S. 356f. Möbius 1827, S. X. A1, S. 259. Vgl. Klein 1927, S. 10ff. Vgl. A1, S. 263. Klein 1927, S. 11/12. Vgl. A1, S. 267. Vgl. A1, S. 272. Vgl. zum Graßmannschen Doppelverhältnis Blaschke 1948, S. 95f. sowie Keller 1963, S. 235ff. Möbius, der sich mit ähnlichen Problemen intensiv beschäftigt hatte, wurde auf diesen Zusammenhang, den er indirekt benutzt hatte, erst durch diese Arbeit Graßmanns aufmerksam. – Vgl. die Anmerkung von Engel zur Ausdehnungslehre von 1844 in GW11, S. 411ff. Vgl. A1, S. 285. Die Untersuchung von „Lückenprodukten“ erfolgt in umfassender Weise in der Ausdehnungslehre (A2) von 1861. Vgl. A1, S. 287ff. Die Beziehung der Graßmannschen Lückenprodukte zu den Tensoren wird u. a. in Lotze 1929, S. 79ff. dargestellt. Die entsprechende Passage des Leibnizschen Briefes ist in Originalsprache (franz.) wiederabgedruckt in GW11, S. 417–420. GW11, S. 418. Der Wortlaut der hier angegebenen deutschen Übersetzung entspricht dem ohne Quellenangabe angeführten Leibnizzitat in Bell 1967, S. 129. PREIS, S. 327/328. Vgl. den Brief Graßmanns an Hankel, 2. Februar 1867. Die entsprechende Passage ist abgedruckt in BIO, S. 110, Anm. Vgl. auch die Anmerkung vom Engel in GW11, S. 421. PREIS, S. 331. Das wiederum heißt, folgender Satz ist nicht allgemeingültig: (a c 8 b c) ^ (a c d 8 a c d) ) (a c d 8 b c d). Vgl. PREIS, S. 331. PREIS, S. 343. PREIS, S. 345. Ebenda.
Anmerkungen zum 3. Kapitel 137 138 139 140 141
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146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157
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PREIS, S. 347. Ebenda. Ebenda, S. 350. Vgl. auch die Anmerkung von Engel in GW11, S. 421. An dieser Stelle sei nur kurz auf die Würdigung der Ergebnisse Graßmanns in der „geometrischen Analyse“ durch Couturat verwiesen. – Vgl. Couturat 1969, S. 529–538. Vgl. Kapitel 1, Abschnitt 8. A2, S. 4. Vgl. die Bemerkungen von Wußing in Wußing 1969, S. 179. Mit diesen Untersuchungen ging Graßmann in Teilfragen über die sechs bzw. acht Jahre später erzielten Resultate von Weierstraß und Jordan hinaus. Vgl. Bourbaki 1971, S. 109. Vgl. Kapitel 4, Abschnitt 2 und 3. Klein 1926, S. 178. ZL, S. 3. A1, S. 22. ZL, S. 4. A1, S. 23. ZL, S. 6. A1, S. 24. A1, S. 22, Anm. LA, S. V. Ebenda. So erinnert sich A. Heintze an seine Schulzeit bei Justus Graßmann: „Namentlich auch in der Mathematik hatten wir keine schriftlichen Aufgaben, und das war nicht gut. Wir wurden zu sehr davon entwöhnt, und als nun einmal eine Arbeit zu liefern war, wurde sie größtenteils unordentlich angefertigt oder gar abgeschrieben und Graßmann hatte davon ungeheuren Ärger.“ (Heintze 1907, S. 44). Ebenda. Siehe Kapitel 2, Abschnitt 2. LA, S. 3. LA, S. 17. LA, S. 21. Interessanter Weise knüpft Helmholtz an die Graßmannsche Arithmetik später an, um zu erörtern, unter welchen Bedingungen sich physikalische Größen als benannte Zahlen fassen lassen. Seine Problemstellung lautet: „Was ist der objektive Sinn davon, daß wir Verhältnisse reeller Objekte durch benannte Zahlen als Größen ausdrücken, und unter welchen Bedingungen können wir das tun?“ (Helmholtz 1887, S. 304). Vgl. im Lehrbuch der Arithmetik den § 7. Division. In: LA, S. 45ff. Das der Übergang von den rationalen Größen der LA zu den reellen Größen der A2 von Graßmann nicht entwickelt wurde, sei nur vermerkt. A2, S. 12. Ebenda. R. Graßmann 1890c, S. VI. So auch bei Lewis 1995 und der vorzüglichen Arbeit von Radu 2000, S. 205ff. Schlegel 1878, S. 42. Detaillierte Analysen zum Nachfolgenden finden sich bei Radu 2000, S. 205ff. Vgl. LA, S. 3.
240
3 Graßmanns Beiträge zur Entwicklung der Mathematik
173 Vgl. Hao Wang 1957, S. 147. 174 LA, S. 4. 175 Daß die von Graßmann (LA, S. 4) angeführte Erklärung: „a C (b C e) D a C b C e“ konstruktiv nicht gedeckt ist, wird von Radu ausführlich erörtert (2000, S. 216ff.). 176 Wenn Schleiermacher vermerkt: „Die Identität des Prozesses und die Unveränderlichkeit des Verhältnisses der Vorstellungen zum Gegenstand sind also die beiden wesentlichen Merkmale des Wissens.“ (Schleiermacher 1942, S. 130), so war dies für Graßmann sicher ein starkes Argument für die Gültigkeit rekursiver Beweise und den „vorlogischen“ Charakter der Gültigkeit der vollständigen Induktion. 177 LA, S. 16. 178 LA, S. 17. 179 LA, S. 18. 180 Vgl. LA, S. 19. 181 Hao Wang 1957, S. 148. 182 Hao Wang 1957, S. 147. 183 Vgl. auch Radu 2000, S. 214. 184 LA, S. 3. 185 Vgl. R. Graßmann 1890f., S. 3–7. 186 Vgl. Zahn 1874, S. 583ff. 187 Vgl. Bourbaki 1971, S. 33/34. 188 Hankel 1867, S. 1–34. 189 Wußing 1969, S. 223, Anm. 224. 190 Vgl. Bourbaki 1971, S. 33, 34, 71. 191 Hankel 1867, S. 12. 192 Ebenda, S. 13. 193 Ebenda, S. 16. 194 Näheres hierzu in Wußing 1969 sowie in Bourbaki 1971. 195 Vgl. Abschnitt 1 dieses Kapitels. 196 Hao Wang betont: „It is rather well-known, through Peano’s own acknowledgement . . ., that Peano borrowed his axioms from Dedekind and made extensive use of Graßmann’s work in his development of the axioms.“ (Hao Wang 1957, S. 145). – Vgl. ferner Wußing 1969, S. 179. 197 Brief F. Kleins an F. Engel, 21. Januar 1911. In: BIO, S. 312. 198 Vgl. Klein 1974, S. 55, 58f. 199 Vgl. Klein 1974, S. 68. 200 Vgl. ebenda, S. 71. 201 Klein 1921, S. 320. 202 Wußing 1969, S. 143. Vgl. auch die ausführliche Würdigung Graßmanns und die daran anknüpfende Darlegung der affinen und projektiven Transformationen in Kleins „Elementarmathematik“ (Klein 1925). 203 Vgl. Ruzavin 1977, S. 59 sowie Wußing 1969, S. 223 Anm. 204 Eine detaillierte Rekonstruktion der Wirkungsbereiche Graßmanns im Problemfeld der Grundlegung der Geometrie durch Hilbert liefert Toepell 1995. 205 Vgl. Severi 1916. Siehe auch die Darlegungen in Burau 1953. 206 Wußing 1969, S. 178. 207 Vgl. ebenda, S. 179ff. 208 Dyck 1882, S. 2. 209 Ebenda. Vgl. ferner in der Arbeit von Dyck 1882, S. 43 Anm. 210 Whitehead 1898, S. 32.
Anmerkungen zum 3. Kapitel
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211 Whitehead 1898, S. V. 212 Ebenda, S. X. 213 Zur formalistischen Auffassung der Mathematik durch Whitehead vgl. auch Natorp 1901. 214 Birjukova und Birjukov (1997) verweisen im Kontext der Algorithmentheorie darauf, daß Graßmann in der „allgemeinen Formenlehre“ (A1 1844) bereits die formale Definition des Begriffs der abstrakten Gruppe (10 Jahre vor Cayley) und des Rings (70 Jahre vor Fraenkel) gab, ohne daß dieser Tatbestand in der Fachwelt bis heute gewürdigt worden wäre. 215 Vgl. hierzu auch die ausführliche Analyse in M. J. Crowes „A history of vector analysis“ (1994). 216 Zu den Graßmannianern siehe Schubring 1996b. Eine statistische Analyse der publizistischen Aktivität von Graßmannianern und Hamiltonianern findet sich in Crowe 1994. 217 Vgl. auch die von A. Lotze gewählte Terminologie in Lotze 1929. Eine instruktive Übersicht über verschiedene, bis 1920 benutzte Terminologien findet sich in Burali-Forti 1921, S. 239–244. 218 Polak versucht in seiner Hamilton-Biographie 1993, S. 233–236 nachzuweisen, daß Peano in seinem „Calcolo geometrico secondo l’Ausdehnungslehre di H. Graßmann“ (1888) nicht an Graßmann, sondern an Gibbs anknüpft, der 1881 und 1884 zwei kleine Arbeiten zu den „Elementen der Vektoranalysis“ verfaßt und 130 Exemplare an Freunde verteilt hatte, u. a. an G. Basso, Peanos Lehrer und J. Lüroth, einem Freund Peanos. Dies hätte zur Folge, daß Gibbs, der nach Polak weitgehend eigenständig die Vektoralgebra entwickelte, der eigentliche Ausgangspunkt der modernen Theorie der affinen Vektorräume sein würde und es faktisch keine Rezeption Graßmanns gegeben hätte (Vgl. die Übersicht in Zaddach 1994, S. 11). Die Argumentation Polaks, die sich insbesondere auf die Klarheit der Darstellung Peanos und die Dunkelheit entsprechender Passagen Graßmanns stützt, ist aber wenig überzeugend. Siehe auch die Peano-Biographie von Kennedy 2002. 219 Bourbaki 1971, S. 84. 220 Vgl. Klein 1925, S. 55ff. 221 Die Cliffordsche Algebra ist als eine Verallgemeinerung der Graßmannschen Algebra anzusehen. 222 Vgl. auch Bourbaki 1961, S. 140. 223 Vgl. etwa Gröbner 1966, S. 7. 224 Vgl. Pillis 1968. 225 Vgl. u. a. Eisenreich 1971, 132ff. 226 Vgl. hierzu Groh 1956. 227 Vgl. Cartan 1952, S. 38/39 sowie Cartan 1953, S. 241/242. 228 Vgl. Bourbaki 1971, S. 83f.
4 Genesis und Gehalt der philosophischen Auffassungen Hermann Günther Graßmanns in der Ausdehnungslehre von 1844
Die philosophischen und methodologischen Auffassungen Hermann Graßmanns liegen direkt auf dem von seinem Vater vorgezeichneten Weg. Die wesentlichen Anregungen, die sein Vater von der Pädagogik Pestalozzis, den kombinatorisch-synthetischen Auffassungen Leibniz’, dem konstruktiven Mathematikverständnis Kants und der Dialektik der romantischen Naturphilosophie empfing und zu einer eigenständigen philosophisch-mathematischen Anschauungsweise verschmolz, schlugen sich daher auch – modifiziert durch den Einfluß der Schleiermacherschen Dialektik – im Denken Hermann Graßmanns nieder.
Leibniz Geistesverwandtschaft mit Graßmann „. . . wie also die anderen Wissenschaften“ führt Leibniz aus „nach dem Beispiel der Mathematik Gewißheit anstreben müßten, so muß umgekehrt die Strenge der Mathematik nach dem Beispiel der anderen Wissenschaften durch eine mehr entgegenkommende Art der Behandlung gemildert werden . . . Aus demselben Grunde müssen auch die Beweise ohne den algebraischen Kalkül ausgeführt werden; denn obwohl dieser von höchstem Werte ist, von mir am höchsten geschätzt werden soll und bei Gegenständen, die wir auf andere Weise nicht herausbringen können, notwendig ist, muß man von ihm abstehen, sobald die Wahrheiten auf eine gewisse natürliche Art bewiesen werden können, welche die Seele durch die Begriffe der Dinge selbst führt.“1
In seiner Ausdehnungslehre entwickelt Hermann Graßmann Grundpositionen einer – für seine Zeit – in weiten Zügen tragfähigen philosophisch-methodologischen Begründung der Mathematik, welche sich in seinem mathematischen Schaffen bewährten und weit über das von der zeitgenössischen idealistischen Philosophie Geleistete hinausgingen. Als besonders bedeutsam erweist sich sein Versuch einer bewußten Einbeziehung der Dialektik in die Lösung philosophischer und wissenschaftstheoretischer Grundfragen.
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4 Das philosophische Konzept der Ausdehnungslehre von 1844
4.1 Die Genesis der Grundideen der Ausdehnungslehre Hermann Graßmann war sich 1844 bewußt, eine neue mathematische Theorie geschaffen zu haben. Dem Vorbild seines Vaters folgend, der sich 1829 bei der Veröffentlichung seiner neubegründeten „Geometrischen Combinationslehre“ (KRY) verpflichtet fühlte, auch die Entstehungsgeschichte seiner Ideen darzulegen, sah sich nunmehr auch Hermann Graßmann veranlaßt, dem Leser seiner Ausdehnungslehre mitzuteilen, wie er „Schritt für Schritt zu den . . . Resultaten . . . dieser neuen Disciplin“2 gelangt sei. Diese Angaben vermitteln uns, ergänzt durch einen Brief an Saint-Venant3 , einen relativ umfassenden Überblick über die einzelnen Phasen, die er bei der theoretischen Ausgestaltung seiner Vorstellungen zur Vektoralgebra und affinen Geometrie durchlief. Den ersten Anstoß für die Entwicklung der Vektoralgebra bildete für Hermann Graßmann, nach eigenen Aussagen, „Die Betrachtung des Negativen in der Geometrie“4 . Sofort fühlt man sich erinnert an die Frühschrift Kants „Versuch, den Begriff der negativen Größe in die Weltweisheit einzuführen“ (Kant 1912b) aus dem Jahre 1763. Inwieweit diese Schrift, die den Begriff des Negativen philosophisch zum Begriff des Dialektisch-Gegensätzlichen verallgemeinert, auf die Gedanken Graßmanns Einfluß hatte, ist indes nicht bekannt. Nach Beendigung seiner Universitäts-Studien hatte er in den Jahren 1830 bis 1832 begonnen, sich die wesentlichen Zusammenhänge der Mathematik anzueignen. Gestützt auf die Lehrbücher und Handschriften seines Vaters, betrieb er simultan seine Studien zur Arithmetik, Algebra und Geometrie. Die ersten Ergebnisse dieser Untersuchungen faßte er in einer kleinen, leider verlorengegangenen Schrift „Über die geometrische Analyse und über die Anwendung der Arithmetik und Algebra auf die Geometrie“ zusammen.5 Diese Spezifik seiner Studienweise, die Nahrung fand in der Darstellungsweise der Schriften seines Vaters6 , führte ihn somit schon früh, dem Denkansatz seines Vaters folgend, zu dem Versuch, Algebra und Geometrie auf eine neuartige, von Descartes abweichende Weise zu verknüpfen. Bestätigend lassen sich hierfür Aussagen Graßmanns anführen, nach denen er bereits 1832 über die Anfänge seines vektoralgebraischen Kalküls verfügte und im Besitz der Vektoraddition und der äußeren Multiplikation von Vektoren war.7 Über die einzelnen Schritte, die er bei der Ausarbeitung seines Kalküls durchlief, berichtet er im Vorwort seiner Ausdehnungslehre. Die Betrachtung des „Negativen in der Geometrie“ führte ihn dazu, „die Strecken AB und BA als entgegengesetzte Größen aufzufassen; woraus denn hervorging, dass, wenn A, B, C Punkte einer geraden Linie
4.1 Die Genesis der Grundideen der Ausdehnungslehre
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sind, dann auch allemal AB C BC D AC sei . . .“8 . Durch diese formale Übertragung einer arithmetischen Operation auf Zusammenhänge der Geometrie tat sich ihm aber ein Unterschied zwischen der Summe der Streckenlängen und der Summe der Strecken bei Berücksichtigung ihrer Richtung auf. Das Festhalten an der formalen Gültigkeit der Additionsgesetze führte ihn zur Verallgemeinerung der geometrischen Addition auf Strecken mit beliebiger Richtung! „Dies konnte auf’s Einfachste geschehen“, schreibt er, „indem das Gesetz, dass AB C BC D AC sei, auch dann noch festgehalten wurde, wenn A, B, C nicht in einer geraden Linie lagen. Hiermit war denn der erste Schritt . . . gethan, welcher in der Folge zu dem neuen Zweige der Mathematik führte.“9 Somit ergibt sich, daß Graßmann durch begriffliche Differenzierung (AB 6D BA), durch die Übertragung von Begriffsbildungen aus der Algebra auf die Geometrie („Addition“), durch Erweiterung des Zulässigkeitsbereiches dieser Begriffsbildungen (Zulassungen verschiedener Richtungen der zu addierenden Strecken) und durch die Forderung der Permanenz der bisherigen Operationen (AB C BC D AC gelte auch für beliebige Strecken) zur Aufdeckung neuer Strukturen in der Geometrie und zu einer neuen Synthese von Algebra und Geometrie gelangte. Nach der Aufstellung der Vektoraddition war die Übertragung des algebraischen Produktbegriffes auf das geometrische Operieren mit Strekken ein zweiter, unmittelbarer Schritt zur Begründung der Ausdehnungslehre. Ausgangspunkt hierfür bildete wiederum eine formale Ausdrucksweise seines Vaters. In der „Ebenen räumlichen Größenlehre“ (J. Graßmann 1824) hatte dieser die Rechteckfläche als Produkt zweier benachbarter Rechteckseiten charakterisiert.10 Hermann Graßmann greift diesen Gedanken auf und verallgemeinert den Produktbegriff für das Parallelogramm auf dem bereits bei der Vektoraddition vorgezeichneten Wege „als Produkt zweier an einander stossender Seiten desselben, . . . wenn man nämlich wiederum nicht das Produkt der Längen, sondern der beiden Strecken mit Festhaltung ihrer Richtungen auffasste“11 . Die Zusammenfassung mehrerer Eigenschaften eines geometrischen Objektes – d. h. die Betrachtung von Strecken unter gleichzeitiger Berücksichtigung von Richtungssinn und Länge – zu einer neuen Größe hatte Graßmann zu einem komplexeren geometrischen Gebilde geführt, das neuartige strukturelle Eigenschaften aufwies. Die gewachsene Komplexität dieser Größen bewirkte aber gleichzeitig eine Vereinfachung und Abkürzung der mathematischen Ausdrucksmittel und gestattete damit, tieferliegende mathematische Strukturen transparent zu machen. Im Folgenden ging Graßmann dazu über, „diesen Begriff des Produktes mit dem vorher aufgestellten der Summe in Kombination“12 zu bringen. Die hierbei zutage tretenden Zusammenhänge zeigten nach Graßmann „die auffallendste Harmonie“13 im Vergleich zur Addition
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4 Das philosophische Konzept der Ausdehnungslehre von 1844
und Multiplikation der Zahlen. Jedoch war er „anfangs betroffen, dass für diese neue Art des Produktes zwar die übrigen Gesetze der gewöhnlichen Multiplikation und namentlich ihre Beziehung zur Addition bestehen blieb, dass man aber die Faktoren nur vertauschen konnte, wenn man zugleich die Vorzeichen umkehrte“14 . Die Einfachheit der Grundgedanken Graßmanns scheint über die Genialität seines Ansatzes hinwegzutäuschen. Nachdrücklich betont indes Bell, indem er auf analoge Untersuchungen Hamiltons eingeht: „Daß sich unter Mißachtung des Vertauschungsgesetzes der Multiplikation ein sinnvolles, praktisch verwendbares System einer Algebra aufbauen ließ, war eine Entdeckung allerersten Ranges, bestenfalls vergleichbar dem Entwurf einer nichteuklidischen Geometrie.“15 Hamilton kam zu dieser Erkenntnis erst „nach fünfzehn Jahren vergeblichen Nachdenkens“16 . Zwar war auch Graßmann anfangs von der Verletzung der Kommutativität, die sich aus der Eigengesetzlichkeit des zugrunde gelegten Ansatzes ergab, irritiert, doch mußten ihm Beispiele nichtkommutativer Verknüpfungen aus den Schriften seines Vaters bekannt sein und ihn in seinen Zweifeln beruhigen.17 Mit seinen vektoralgebraischen Ideen hatte sich Graßmann in die geistige Nähe des bedeutenden Philosophen und Mathematikers Leibniz begeben. Dieser hatte als einziger unmittelbarer Vorgänger Graßmanns 150 Jahre zuvor ebenfalls einen von Descartes abweichenden Weg zur Anwendung der Algebra auf die Geometrie eingeschlagen. Die konkrete Ausgestaltung dieses Weges erwies sich jedoch allein bei Graßmann als fruchtbar. Nach 1832 ruhte die weitere Entwicklung seiner vektoralgebraischen Ansätze längere Zeit, da ihn, nach eigenen Angaben, sein „Beruf in andere Kreise der Beschäftigung hineinzog“18 . Erst seine Prüfungsschrift zur Theorie der Ebbe und Flut (EBBE) aus dem Jahre 1840 führte ihn „zu der Méchanique analytique des Lagrange und dadurch wieder auf jene Ideen der Analyse zurück. Alle Entwickelungen in jenem Werke gestalteten sich nun durch die Principien dieser neuen Analyse auf eine so einfache Weise um, dass oft die Rechnung mehr als zehnmal kürzer ausfiel, als sie in jenem Werke geführt war“19 . Vor dem Hintergrund seiner Ausarbeitungen zur Theorie der Ebbe und Flut erscheint die Begründung Graßmanns, daß ihn bis dahin sein Beruf an der Weiterentwicklung seiner geometrischen Analyse gehindert habe, nicht sehr stichhaltig. Zum einen fertigte er die letztgenannte Arbeit auch unter außerordentlichen Belastungen durch andersartige Beschäftigungen an20 , zum anderen hatte er 1832 offensichtlich noch keinen Begriff von der mathematischen Leistungsfähigkeit seiner theoretischen Ansätze21 . Erst die Bewährung seiner vektoralgebraischen Methode in der Anwendung auf ein Problem der theoretischen Mechanik – die Theorie der
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Ebbe und Flut – sollte ihn von ihrer Tragweite vollends überzeugen. Wie so oft in der Geschichte der Mathematik wurde damit eine physikalische Aufgabenstellung zum „Geburtshelfer“ einer mathematischen Theorie.
H. Poincaré zum Nutzen der Physik für die Mathematiker „Zuerst stellt uns der Physiker Probleme, deren Lösung er von uns erwartet. Indem er sie uns aber stellt, hat er uns den Dienst reichlich im voraus bezahlt, den wir ihm leisten können, wenn es uns gelingt, sie zu lösen. . . . Die Geschichte beweist das: die Physik hat uns nicht nur gezwungen, unter den Problemen, die sich uns in Menge darbieten, zu wählen, sie hat uns solche aufgenötigt, an die wir ohne sie nie gedacht hätten. Wie mannigfaltig auch die Einbildungskraft der Menschen ist, die Natur ist noch tausendmal reicher. Um ihr zu folgen, müssen wir Wege einschlagen, die wir bisher vernachlässigt hatten, und diese Wege führen uns oft auf Gipfel, von denen wir neue Landschaften entdecken. Was kann es nützlicheres geben?“22
Gleichzeitig wurden die inneren Widersprüche der analytischen Geometrie Descartes’, die in der Darstellungsweise Laplaces und Lagranges verstärkt hervortraten, zum eigentlichen Anlaß dafür, daß Graßmann seine eigenen Untersuchungen aus dem Jahre 1832 wieder aufgriff und fruchtbar machte.23 Die unmittelbare Übertragbarkeit mechanischer Zusammenhänge in die Sprache der Vektoralgebra, die für Graßmann darin zum Ausdruck kam, daß „jeder Fortschritt von einer Formel zur andern . . . unmittelbar nur als der symbolische Ausdruck einer parallel gehenden begrifflichen Beweisführung“24 erschien, bestärkte ihn, flankiert von den Auffassungen seines Vaters, daß die Ergebnisse der Mathematik, wenn sie eine „vollendete Darstellung der Synthesis des Geistes . . .“ sein wollten, „näher an die Synthesis der Natur in ihren Bildungen [sich] anschließen . . .“25 müssten, den eingeschlagenen Weg der theoretischen Untersuchungen weiter zu verfolgen. In der nun einsetzenden intensiven Beschäftigung mit der Vektoralgebra und der affinen Geometrie wandte sich Graßmann dem Studium des affinen Punktraumes zu. Er übertrug, vorerst noch beschränkt auf den dreidimensionalen Raum, den Additions- und Multiplikationsbegriff auch auf Operationen mit Punkten.26 Während dieser Untersuchungen entdeckte er, daß sich seine Schwerpunktkonstruktion eines Systems von Massepunkten vermittels geometrischer Summation der Punkte mit den Entwicklungen Möbius’ im „Barycentrischen Calcul“ (Möbius 1827) deckte. Die geistige Verwandtschaft bei der Behandlung der Geometrie, muß sich für Graßmann zudem in mindestens zwei weiteren Berührungspunkten mit Möbius gezeigt haben:
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4 Das philosophische Konzept der Ausdehnungslehre von 1844
Zum einen tritt bei beiden Forschern das gleiche Grundprinzip des Operierens mit orientierten Strecken hervor. So schreibt Möbius: „Ich bemerke nur noch, dass ich das schon von Mehrern gebrauchte Verfahren, nach welchem der positive oder negative Werth einer Linie durch die verschiedene Nebeneinanderstellung der die Endpunkte der Linie bezeichnenden Buchstaben ausgedrückt wird, hier durchgehend angewendet und auch . . . erweitert habe. Es wird hierdurch . . . die Anschaulichkeit der synthetischen Methode mit der Allgemeinheit der analytischen in möglichst nahe Verbindung gebracht, indem man mit Anwendung rein geometrischer Zeichen, dergleichen die für die Punkte einer Figur gewählten Buchstaben sind, die arithmetischen Beziehungen zwischen den Theilen der Figur durch Formeln darstellt, welche für alle möglichen Lagen der Theile Gültigkeit haben.“27 Zum anderen findet sich auch bei Möbius (wenngleich weniger ausgeprägt) die von Graßmann entfaltete Idee eines unmittelbaren algebraischen Operierens mit geometrischen Objekten. In diesem Sinne schreibt Möbius u. a.: „Allein unsere Formel [gemeint ist eine Schwerpunktsgleichung dreier Punkte – H.-J. P.] ist mehr, als ein blos abgekürzter Ausdruck dieses Satzes . . . jene Formel [stellt] zugleich eine Haupteigenschaft des Schwerpunktes in der Sprache der Algebra dar, und wird dadurch eben der Behandlung, wie jede andere algebraische Gleichung, fähig. . . . Die Rechnung mit solchen abgekürzten Formeln ist es nun, welche ich den barycentrischen, d. i. den aus dem Begriffe des Schwerpunkts abgeleiteten, Calcul genannt habe, einen Calcul, der es nicht nur mit wirklichen Zahlengrößen, sondern scheinbar auch mit blossen Punkten zu thun hat, dennoch aber von der gewöhnlichen Rechnungsweise der Algebra sich im Ganzen nicht unterscheidet.“28 Es ist verständlich, daß Graßmann von Möbius’ „Barycentrischem Calcul“ begeistert war, der als einzige zeitgenössische Arbeit des europäischen Kontinents seinen Ideen relativ nahe stand. Gleichwohl mußte er feststellen, daß Möbius nicht den Weg der Produktbildung in der Geometrie eingeschlagen hatte. Dieser Umstand veranlaßte ihn endgültig, seine Ergebnisse systematisch niederzulegen und für die Veröffentlichung zu bearbeiten. „Indem ich daher nun daran ging“, vermerkt er, „die so gefundenen Resultate zusammenhängend und von Anfang an zu bearbeiten, so dass ich mich auch auf keinen in irgendeinem Zweige der Mathematik bewiesenen Satz zu berufen gedachte, so ergab sich, dass die von mir aufgefundene Analyse nicht, wie mir Anfangs schien, bloss auf dem Gebiet der Geometrie sich bewegte; sondern ich gewahrte bald, dass ich hier auf das Gebiet einer neuen Wissenschaft gelangt sei, von der die Geometrie nur eine spezielle Anwendung sei. [Hervorheb. H.-J. P.]“29 Dieses sich hier abzeichnende Streben nach einer geschlossenen systematischen Entwicklung seiner theoretischen Auffassungen unter Zugrun-
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delegung des Prinzips der größten „Reinheit“ und höchster Allgemeinheit der Begriffsbildungen liegt wesentlich begründet in dem von Graßmann durchlaufenen Entwicklungsweg. Zum einen ist hierbei die späte Zuwendung zur Mathematik und der vorangehende, an Schleiermacher orientierte philosophische Bildungsgang zu nennen, zum anderen ist die intensive Rezeption der mathematisch-philosophischen Auffassungen seines Vaters anzuführen, dessen methodologische Prinzipien der Behandlung der Zahlenlehre und der „Geometrischen Kombinationslehre“ die von Hermann Graßmann vertretene Auffassungsweise vorzeichneten.30 Die weitgehend „voraussetzungsfreie“ und systematische Entwicklung der Ausdehnungslehre brachte Graßmann einen außerordentlichen Gewinn an mathematischer Tiefe. Früchte dieser Behandlungsweise waren u. a. die Begründung einer allgemeinen Theorie der Verknüpfungen (bei Graßmann „allgemeine Formenlehre“) und die Verallgemeinerung des traditionellen Geometriebegriffs. Erst durch die Untersuchung n-dimensionaler Räume, hebt er hervor, „traten die Gesetze in ihrer Unmittelbarkeit und Allgemeinheit ans Licht und stellten sich in ihrem wesentlichen Zusammenhang dar, und manche Gesetzmäßigkeit, die bei drei Dimensionen entweder noch gar nicht, oder nur verdeckt vorhanden war, entfaltete sich nun bei dieser Verallgemeinerung in ihrer ganzen Klarheit.“31 Dieser theoretische Gewinn war jedoch gleichzeitig verbunden mit einer Verschlechterung der Kommunikationsmöglichkeiten mit den Mathematikern seiner Zeit: Man mußte erst das ganze System Graßmanns begriffen haben, ehe man sich von der Bedeutung seiner Theorie, die noch dazu das traditionelle Mathematikverständnis sprengte, überzeugen konnte.32 Der Wunsch Graßmanns, daß seine Theorie „ein lebendiges Glied an dem Organismus des Wissens“33 werde, konnte daher 1844 kaum in Erfüllung gehen. In die systematische Entwicklung einer neuen mathematischen Disziplin war nach den Auffassungen Graßmanns eine weltanschaulich-methodologische Grundlegung mit eingeschlossen. Diese Einsicht hatte er vielen Mathematikern seiner Zeit voraus34 : „In der That ist es bei der Darstellung einer neuen Wissenschaft“, schreibt er im Vorwort seiner Ausdehnungslehre von 1844, „damit ihre Stellung und Bedeutung recht erkannt werde, unumgänglich nothwendig, sogleich ihre Anwendung und ihre Beziehungen zu verwandten Gegenständen zu zeigen. Hierzu soll auch zugleich die Einleitung dienen. Diese ist der Natur der Sache nach mehr philosophischer Natur . . .“35 Da er voraussieht, daß seine dialektischen Betrachtungen auf Grund des Mißkredits, in dem die Hegelsche Philosophie bei Mathematikern und Naturwissenschaftlern stand, auf wenig Gegenliebe stoßen würden, sieht er sich gezwungen, sich abzugrenzen: „Es herrscht nämlich noch
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immer unter den Mathematikern und zum Theil nicht mit Unrecht eine gewisse Scheu vor philosophischen Erörterungen mathematischer und physikalischer Gegenstände“; führt er aus, „und in der That leiden die meisten Untersuchungen dieser Art, wie sie namentlich von Hegel und seiner Schule geführt sind, an einer Unklarheit und Willkühr, welche alle Frucht solcher Untersuchungen vernichtet.“36 Ohne sich jedoch durch die Möglichkeit eines theoretischen Unverständnisses seitens der mathematischen Fachwelt von seinem Vorhaben abbringen zu lassen, entwickelt er in der Einleitung zur Ausdehnungslehre von 1844 seine in ein System gebrachten Auffassungen von der philosophischen Grundlegung der Mathematik.
4.2 Die philosophischen Grundprinzipien Hermann Graßmanns bei der Bestimmung des Wesens der Mathematik Die intensiven Arbeiten an einer konsequenten und systematischen Begründung der affinen Geometrie und der Vektoralgebra hatten Graßmann zur Theorie n-dimensionaler Mannigfaltigkeiten geführt, die derzeit weder eine Entsprechung in der Wirklichkeit gefunden hatte, noch sich mit dem tradierten mathematischen Geometrieverständnis vereinbaren ließ. Damit war er auf eine der Geometrien gestoßen, „die keinen physikalischen Raum beschreiben“37 . Diese Geometrien hängen jedoch, wie Klaus bemerkte, von der „geistigen Tätigkeit des Menschen [ab], . . . denn sie werden von den Mathematikern konstruiert!“38 . In der philosophischen Reflexion dieses Sachverhalts wurde Graßmann daher notwendig auf das Probleme des ontologischen Status der Mathematik verwiesen und sah sich zu einer grundsätzlichen Bestimmung des Wesens der Mathematik veranlaßt. „Die oberste Theilung aller Wissenschaften“, leitet er seine philosophischen Betrachtungen ein, „ist die in reale und formale, von denen die ersteren das Sein, als das dem Denken selbständig gegenübertretende, im Denken abbilden, und ihre Wahrheit haben in der Uebereinstimmung des Denkens mit jenem Sein; die letzteren hingegen das durch das Denken selbst gesetzte zum Gegenstand haben, und ihre Wahrheit haben in der Uebereinstimmung der Denkprocesse unter sich“39 . Unter den Begriff der realen Wissenschaften subsumieren sich nach Graßmann alle empirischen Wissenschaften; zu den formalen Wissenschaften zählt er die Dialektik und die reine Mathematik.40 Die sich in dem angeführten Zitat niederschlagenden weltanschaulichen Grundpositionen nötigen uns zu einer eingehenden Analyse, da ihr philosophischer Gehalt und ihre historische Bedeutsamkeit erst vor dem
4.2 Graßmanns Wesensbestimmung der Mathematik
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Hintergrund der geistigen Entwicklung Graßmanns deutlich hervortreten. In erster Linie muß hervorgehoben werden, daß sich Graßmann weder hier noch an anderer Stelle seiner philosophischen Auslotung der Mathematik veranlaßt sah, den Begriff Gottes heranzuziehen. Trotz seines theologischen Bildungsganges weicht er in dieser Hinsicht von der Darstellungsweise der mathematischen und naturwissenschaftlichen Schriften seines Vaters ab.41 Für ein explizites religiöses „Bekenntnis“ ließ ihm die konsequente theoretische Entwicklung seiner Ideen keinen Raum. Die Größe dieses wissenschaftlichen Realismus Graßmanns tritt besonders klar hervor, wenn man sich vergegenwärtigt, daß bedeutende Mathematiker seiner Zeit, wie Bolzano und Cantor, bei der Grundlegung der Mathematik noch nicht vermochten, ihre philosophischen Argumentationen ohne den Gottesbegriff und ohne die Unterstützung durch „die Lehren der Kirchenväter“42 zu führen. Graßmanns weitgehende Trennung von Religion und Wissenschaft ist in bedeutendem Maße dem Einfluß zuzuschreiben, den auf ihn die pantheistischen Momente der Schleiermacherschen Philosophie ausübten. Frühzeitig, schon in den Reden zur Religion (Schleiermacher 1913), hatte Schleiermacher die Loslösung der Religion von der Philosophie und der Moral gefordert und später, in seiner Dialektik (DIAL), bestimmt er den Begriff Gottes als den vom wissenschaftlichen Denken nicht erreichbaren Grenzbegriff des Urgrundes allen Seins.43
Schleiermacher (DIAL) zum Begriff des Wissens: § 14: „Die Regeln der Verknüpfung [der Begriffe im Denken – H.-J. P.], wenn man sie wissenschaftlich besizen will, sind nicht von den innersten Gründen des Wissens zu trennen. Denn um richtig zu verknüpfen kann man nicht anders verknüpfen als die Dinge verknüpft sind, wofür wir keine andere Bürgschaft haben als den Zusammenhang unseres Wissens mit den Dingen.“44 § 94: „In jedem Denken wird ein gedachtes außer dem Denken gesezt.“45 § 96: „Jeder Gedanke, der zwar auf ein außer ihm geseztes bezogen aber nicht als übereinstimmend gesezt wird, ist kein Wissen.“46 § 101: Wissen ist „Uebereinstimmung des Gedankens mit dem Sein“.47 Vorlesung 1818: „Nämlich wir sezen in jedem Denken außer dem Denken ein gedachtes selbst. Das gedachte kann in uns und außer uns sein, aber der Zustand und die Handlung in uns sind immer noch vom Denken verschieden, denn beide können sein ohne ein Denken derselben, also ist der Gegenstand, wenn er auch ein innerer ist, doch außer dem Denken, und in uns ist er nur, nicht sofern wir das Denken, sondern sofern wir das Sein sind.“48 Vorlesung 1831: „Wissen = Es ist dasjenige Denken, welches dem Sein entspricht.“49
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4 Das philosophische Konzept der Ausdehnungslehre von 1844
In seinen philosophischen Darlegungen schließt sich nun Graßmann unmittelbar den Auffassungen Schleiermachers an, dem er nach eigenen Aussagen „in geistiger Hinsicht so unendlich viel zu danken“50 hatte. Bereits seine vorstehend zitierte Wahrheitskonzeption – als Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein und der Denkprozesse unter sich – übernahm er aus den ersten Paragraphen der Schleiermacherschen Dialektik. Bedeutsam erscheint, daß Graßmann Schleiermacher in seinem gottfreien Ansatz des Begriffs des Wissens folgt. Der Realismus der Weltanschauung Graßmanns, der u. a. zum Ausdruck kommt in der Feststellung, daß der Gegenstand der empirischen Wissenschaften „ein selbständiges, außerhalb des Denkens für sich bestehendes“ Sein ist, das wir „im Denken abbilden“51 , bleibt letztlich, wie bei Schleiermacher, ambiguos, insofern der Status des Seins nicht näher bestimmt wird. Die letztliche Frage nach dem „Urgrund des Seins“, ist aber, im Kontext des biographischen Hintergrundwissens, für Graßmann keineswegs offen. So nimmt er in einer Spätschrift über den Abfall vom Glauben (H. Graßmann 1878) Partei für den Theismus und wider die materialistischen Tendenzen der Wissenschaft, welche er letztlich implizit in der Ausdeh-
„Über den Abfall vom Glauben. Mahnungen an die wissenschaftlich Gebildeten der Neuzeit“ (Hermann Graßmann 1878) „Schon seit Jahrzehnten hat sich der Abfall vom christlichen Glauben unter den Gebildeten in stets zunehmendem Grade und Umfange vollzogen, von den einen als Fortschritt freudig begrüßt, von den andern als Vernichtungskampf alles religiösen, sittlichen, geistigen Lebens beklagt.“52 „In solchen Zeiten gilt es“, fährt er daher fort, „fest und treu im Glauben zu stehen, nicht einen Schritt dem Andrängen der großen, ungläubigen Menge zu weichen; es gilt zu bekennen, ohne Scheu, ohne Furcht, ohne Hehl; es gilt aber auch, noch tiefer und reiner sich in die Offenbarung Gottes zu versenken . . . es gilt bei strengem Festhalten an der scharf und klar ausgeprägten Glaubensform, zu der wir uns bekennen, doch die Einigkeit im Geiste festzuhalten . . .“53 Insbesondere verteidigt Graßmann seinen unerschütterbaren Glauben an Wunder gegen die „ungläubige Wissenschaft“. Letztere argumentiere, daß die Wunder die von Gott geschaffenen Gesetze verletzten müßten, was zuzulassen, für einen Gott undenkbar wäre: „Und dieser seichte Schluß wird bis in die neueste Zeit hinein . . . wiederholt . . . Wenn man bedenkt, wie wenig wir von den Gesetzen der Natur wissen, wie uns die Gesetze des Pflanzenlebens und gar erst die des thierischen Seelenlebens gänzlich unbekannt sind, ja, wie wir von der Entwickelung der Welt und den Gesetzen, nach denen sie erfolgt, auch abgesehen von aller jener Unkenntniß, nur aus einer kurzen Spanne Zeit einen jedenfalls höchst unsicheren Schluß machen können, so müssen wir sagen, daß jener Beweis gegen die Wunder auf einer in der That an’s Wunderbare grenzenden Anmaßung beruht.“54
4.2 Graßmanns Wesensbestimmung der Mathematik
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nungslehre durch die historische Zurücknahme des Gottesbegriffes aus der philosophischen Grundlegung der Mathematik selbst befördert hatte. Die sich anschließenden Entwicklungen Graßmanns in der Einleitung zur Ausdehnungslehre bestechen durch die Geschlossenheit und die konsequente Ausgestaltung seiner einheitlichen Grundkonzeption. Im Anschluß an die Unterteilung der Wissenschaften in reale und formale geht er zu einer näheren Bestimmung der formalen Wissenschaften über, indem er sich eng an Schleiermacher anschließt. Hierbei unterliegen nun die formalen Wissenschaften nach seiner Auffassung im wesentlichen einer Zweiteilung. Sie „betrachten entweder die allgemeinen Gesetze des Denkens, oder sie betrachten das Besondere durch das Denken gesetzte, ersteres die Dialektik (Logik), letzteres die reine Mathematik“55 . Weiter führt er aus: Die Dialektik „ist eine philosophische Wissenschaft, indem sie die Einheit in allem Denken aufsucht, die Mathematik hingegen hat die entgegengesetzte Richtung, indem sie jedes Gedachte einzeln als ein Besonderes auffaßt“56 .
Quintessenz der Schleiermacherschen Dialektik: Die letzten 3 Paragraphen „§ 344. Die Idee des Wissens unter der isolirten Form des allgemeinen ist die Dialektik. § 345. Die Idee des Wissens unter der isolirten Form des besonderen ist die Mathematik. § 346. In jedem realen Denken ist daher so viel Wissenschaft als darin ist Dialektik und Mathematik.“57
Hieraus ergibt sich, daß Graßmann im Anschluß an Schleiermacher58 die Dialektik als vorrangig subjektive Dialektik begreift und die reine Mathematik in dem Bereich ideeller Konstruktionen ansiedelt. Indes läßt Graßmann, anders als Schleiermacher, die Frage nach dem Zusammenhang zwischen „realen“ und „formalen“ Wissenschaften – d. h. den Zusammenhang zwischen objektiver und subjektiver Dialektik einerseits und Mathematik und Wirklichkeit andererseits – in der Schwebe. Die Ursachen hierfür liegen bei Graßmann in der ausschließlich strukturellen Analyse der historisch gewordenen Wissenschaften und in dem damit verbundenen Verzicht auf eine Erklärung der Genesis des wissenschaftlichen Denkens. Außerordentlich bemerkenswert bleibt indes, daß er der Dialektik, wenn auch nicht unter der Form der Entwicklungsdialektik59 , einen so fundamentalen Platz im System der Wissenschaften einräumt, und das zu einer Zeit, da sich die Hegelsche Dialektik in den Augen der Mathematiker und Naturwissenschaftler disqualifiziert hatte.60
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In den weiteren Darlegungen entwickelt Graßmann seine sich auf die eingangs postulierte Wahrheitskonzeption stützende philosophische Gegenstandsbestimmung der Mathematik. Ist nach seinem Verständnis „Denken . . . nur in Bezug auf ein Sein, was ihm gegenübertritt und durch das Denken abgebildet wird . . .“61 , so kann nach der Zuordnung der Mathematik zu den „formalen“ Wissenschaften ihr Objekt nur als „ein durch das Denken selbst gesetztes, was nun wieder einem zweiten Denkakte als Sein sich gegenüberstellt . . .“62 , begriffen werden. Unter Zugrundelegung dieser Position wird für Graßmann die „reine Mathematik . . . daher die Wissenschaft des besonderen Seins als eines durch das Denken gewordenen. Das besondere Sein, in diesem Sinne aufgefasst, nennen wir eine Denkform oder schlechtweg eine Form. Daher ist die reine Mathematik Formenlehre.“63 Erläuternd fügt er noch hinzu: Es „scheint der Ausdruck Form wieder zu weit zu sein und der Name Denkform angemessener; allein die Form in ihrer reinen Bedeutung, abstrahirt von allem realen Inhalte, ist eben nichts anderes als die Denkform . . .“64 Das hier in äußerst abstrakten Termini umrissene Programm einer konstruktiven Grundlegung der Mathematik dient Graßmann im weiteren zur Gegenstandsbestimmung der verschiedenen mathematischen Disziplinen und zur Entwicklung der Grundbegriffe der Ausdehnungslehre.65 Bevor wir uns aber den damit verbundenen Fragen zuwenden, wollen wir kurz auf die geistigen Wurzeln dieser Konzeption eingehen. Die Idee einer konstruktiven Begründung der Mathematik geht auf Kant zurück. In der „Kritik der reinen Vernunft“ (Kant 1971), in der er sich um ein Verständnis der Erkenntnis als eines tätigen, aktiven Prozesses des Eindringens in das Wesen der Dinge bemühte, nehmen die Mathematik und die Philosophie als die zwei Formen der Vernunftserkenntnis66 einen hervorragenden Platz ein. In dem Versuch eine Theorie „synthetischer Urteile a priori“ zu begründen, wendet er sich in erster Linie der Mathematik zu. Die von ihm aufgeworfenen Fragen nach der Möglichkeit der Existenz der reinen Mathematik einerseits und die nach dem Wesen der Mathematik andererseits werden von ihm dabei recht unterschiedlich beantwortet. Während ihn die Beantwortung der ersten Frage – Wie ist Mathematik möglich? – zu subjektiv idealistischen Konsequenzen führt, die in den Ausführungen zur transzendentalen Ästhetik u. a. in der Leugnung der Objektivität von Raum und Zeit67 Ausdruck finden, so löst er die Frage nach dem Wesen der Mathematik – Was ist Mathematik? – durch den genialen Ansatz einer mathematisch-konstruktiven Grundlegung auf.68 Repräsentativ sei hierzu nur das folgende Zitat angeführt: „Die philosophische Erkenntnis ist die Vernunftserkenntnis aus Begriffen, die mathematische aus der Konstruktion der Begriffe. . . . Die philosophische Erkenntnis betrachtet also das Besondere nur im allgemeinen, die mathe-
4.2 Graßmanns Wesensbestimmung der Mathematik
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matische das Allgemeine im besonderen, ja gar im einzelnen, gleichwohl doch a priori und vermittels der Vernunft, so daß, wie dieses einzelne unter gewissen allgemeinen Bedingungen der Konstruktion bestimmt ist, ebenso der Gegenstand des Begriffs, dem dieses einzelne nur als sein Schema korrespondiert, allgemein bestimmt gedacht werden muß.“69 Mit diesen Auffassungen wurde Kant zum Ausgangspunkt einer sich gegen Ende des 19. Jhs. konstituierenden Richtung der Begründung der Mathematik, die über die Arbeiten von Brouwer, Weyl und Skolem zu den Ideen der konstruktiven Auffassung der Mathematik in der Gegenwart führte.70 Hermann Graßmann übernahm diese Anschauungsweise Kants in modifizierter Gestalt aus den Werken Schleiermachers und in vorzüglicher Weise aus den Schriften seines Vaters. Justus Graßmann hatte in seiner Abhandlung „Ueber den Begriff und Umfang der reinen Zahlenlehre“ (ZL) die Mathematikauffassung Kants von ihren subjektiv-idealistischen Momenten befreit. Das Wesen der Mathematik sieht er im Anschluß an Kant in dem Erzeugen „ihrer ersten Begriffe durch eine ihr eigenthümliche Synthesis (welche wir eine Construction im weitem Sinne) nennen“71 , wobei diese Synthesis „von dem Inhalte des zu verknüpfenden gänzlich absieht . . . das zu verknüpfende als inhaltslos setzt“72 . Der Gegenstand der Mathematik ist für ihn aber „nicht die Form dieser Synthesis, sondern das Produkt derselben . . .“73 . Die Abgrenzung von Kant besteht somit darin, daß sich der „mathematischen Synthesis nun in diesem Sinne keine Wahrheit beilegen [läßt], und dadurch eben unterscheidet sie sich von einem synthetischen Urteile . . .“74 . Die Inhaltlichkeit der Mathematik wird nach den Auffassungen J. Graßmanns dadurch gesichert, daß die in ihr formulierten Sätze „Aussagen [sind] über die Beschaffenheit jener eigentlich mathematischen Synthesis, und das was mit ihr zugleich gegeben ist“75 . Friedrich Schleiermacher wiederum geht davon aus, daß ein wirkliches Denken nur vorhanden ist, wenn es auf ein Sein bezogen wird. Daher muß es ein solches Sein auch für das reine (sprich wissenschaftliche) Denken in der Mathematik, für die Synthesis des Geistes geben. Entsprechend den Merkmalen des Wissens: „Identität des Prozesses und Unveränderlichkeit der Vorstellungen zum Gegenstand“76 ist mithin noch der Gegenstand für die Mathematik zu bestimmen. Der Gegenstand der reinen Mathematik ist nun für Schleiermacher das „Thun des Subjekts“, und er bemerkt: „Wie denn überhaupt Thun und Sein sich als Gegenstand des Denkens ganz gleich verhalten.“77 Schleiermacher konstatiert ferner, daß einzig die Denktätigkeit in der Mathematik mit dem Wissen anfängt, und expliziert: „Nämlich, wie wir uns über den Ausdruck ‚Denken‘ verständigt haben, können wir zwar die Operationen [gemeint sind die mathematischen Operationen – H.-J. P.] nicht vom Denken ausschließen, allein, so wie jede dieser Thätigkeiten mit
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4 Das philosophische Konzept der Ausdehnungslehre von 1844
einer vollkommenen Gewißheit anfängt, bildet sie ein gänzlich in sich abgeschlossenes Gebiet. . . . Seine Gewißheit aber hat es [das mathematische Denken – H.-J. P.] darin, daß es ein Thun ist, und sie bezieht sich lediglich darauf, indem eben das als Zeichen des Thuns gewordene Sein, oder der Calculus, als etwas Gleichgültiges beiseite gestellt wird. Als ein solches abgesondertes Gebiet also steht es dem reinen, auf das Sein sich beziehenden Denken ebensowohl als dem geschäftlichen gegenüber . . . Sobald es . . . heraustritt in allen seinen Anwendungen . . . wird [es] sich aber auch in Bezug auf das Sein seiner Ungewißheit bewußt . . .“78 . Deutlich treten Momente eines konstruktiven, „operativen“ Verständnisses des Wesens der Mathematik hervor, indem bereits die Anwendungsproblematik der Mathematik durchscheint.79 Von Hermann Graßmann wurde diese von Kant ausgehende, von Justus Graßmann modifizierte und durch die Schleiermachersche Konzeption des Wesens der Mathematik bereicherte Auffassung einer konstruktiven Begründung der Mathematik in seiner, der Ausdehnungslehre vorangestellten Charakterisierung der Mathematik als „Formenlehre“ aufgegriffen und zum Kernstück sowohl der weiteren philosophischen als auch mathematischen Untersuchungen erhoben. Damit nahm er eine mathematische Entwicklung vorweg, die sich erst gegen Ende des 19. Jhs., in Verbindung mit der Grundlagenkrise der Mathematik, ausformen sollte, und die in moderner Gestalt in den Arbeiten Lorenzens zur operativen Begründung der Mathematik sowie in den Untersuchungen Markovs zur Algorithmentheorie bedeutende mathematische Ergebnisse hervorbrachte. Mit der Bestimmung des Gegenstandes der Mathematik als „das Besondere durch das Denken gesetzte“80 , verbindet sich noch ein weiteres Moment der Vertiefung und gleichzeitigen Überwindung des traditionellen Mathematikverständnisses. Kant hatte die konstruktive Erzeugung mathematischer Objekte noch an den Größenbegriff geknüpft: „Die Form der mathematischen Erkenntnis ist die Ursache,“ vermerkt er, „daß diese lediglich auf Quanta gehen kann. Denn nur der Begriff von Größen läßt sich konstruieren . . .“81 . Bis in die Mitte des 19. Jhs. wurde unter Mathematik die Wissenschaft von den Größen und ihren Maßverhältnissen verstanden. Für Hermann Graßmann war diese traditionelle Bestimmung des Gegenstandes der Mathematik jedoch bereits zu eng geworden, da er, wie sein Vater, die Kombinatorik als einen wesentlichen Zweig der Mathematik begriff, Permutationen indes nicht als Größen in Erscheinung treten. Es ist daher nur konsequent, wenn er in der Ausdehnungslehre betont: „Der Name Grössenlehre eignet nicht der gesammten Mathematik, indem derselbe auf einen wesentlichen Zweig derselben, auf die Kombinationslehre, keine Anwendung findet, . . .“82 . Er weitet daher den Begriff
4.2 Graßmanns Wesensbestimmung der Mathematik
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der Mathematik aus als Lehre von den Formen. Neben Bolzano und Boole83 gehört er damit zu den Wegbereitern unseres modernen abstrakten Mathematikverständnisses, das Mathematik als „als eine Schatzkammer von abstrakten Formen, den mathematischen Strukturen“84 begreift.85 Das außerordentliche Abstraktionsniveau, das Graßmann bei der Grundlegung der Mathematik erreichte und das ihn in die Nähe Cantors, des Begründers der Mengenlehre, rücken läßt, wird an der folgenden Explikation seines Elementbegriffes deutlich: „Zuerst . . . setzen wir hier das Element“, schreibt er auf den ersten Seiten seiner Ausdehnungslehre, „worunter wir das Besondere schlechthin, aufgefasst als verschiedenes von anderem Besonderen verstehen; und zwar legen wir dem Elemente in der abstrakten Wissenschaft gar keinen andern Inhalt bei; es kann daher hier nicht davon die Rede sein, was für ein Besonderes dies denn eigentlich sei – denn es ist eben das Besondere schlechthin, ohne allen realen Inhalt –, oder in welcher Beziehung das eine von dem andern verschieden sei – denn es ist eben schlechtweg als Verschiedenes bestimmt, ohne dass irgend ein realer Inhalt, auf welchen es verschieden sei, gesetzt wäre.“86 Wird der Gegenstand der Mathematik in diesem Sinne als „Besonderes schlechthin“ erfaßt, so steht aber die Mathematik stets unter dem Blickwinkel des Allgemeinen, d. h. sie steht ihrer Anlage nach unter der potentiellen Möglichkeit der Interpretation durch die verschiedenartigsten Zusammenhänge der Wirklichkeit. Die Verwirklichung dieser Möglichkeit für die Ausdehnungslehre als eine durch Abstraktion aus der Geometrie gewonnene mathematische Wissenschaft zeigt Graßmann an Beispielen auch nichträumlicher Zusammenhänge, wie u. a. in der mathematischen Bearbeitung der Farbenlehre, bei der sich, wie er demonstriert, jede Farbvalenz als dreidimensionaler Vektor von Farbvalenzen darstellen läßt, Farben mithin als Repräsentanten nichträumlicher Ausdehnungsgrößen auftreten.87 Die Differenz zu Kant wird auch an der Einschätzung seiner Philosophie durch Robert Graßmann deutlich: „Kant behauptet ferner“, schreibt er, „dass der Mathematik zwei Anschauungen a priori (welche nicht aus der Erfahrung genommen, sondern notwendige Anschauungen a priori) seien: nämlich die Anschauung a priori der Zeit für die Zahlen und die des Raumes für die Raumlehre, zu Grunde liegen. Auch diese Behauptung beruht auf einem Irrtume Kants. In der strengen Mathematik, wie sie in der Denklehre entwickelt wird, liegen derselben gar keine Anschauungen zu Grunde.“88 Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild von den Auffassungen Hermann Graßmanns zur Begründung der Mathematik: Das Ziel der Wissenschaft ist die Aufdeckung der Wahrheit. Da Wahrheit aber in der Übereinstimmung des Denkinhaltes mit einem vom Denken un-
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abhängigen Gegenstande besteht, muß dem Denken als einem Korrespondenzprozeß stets ein von ihm unabhängiges Sein gegenübertreten. Seinen Gegenstand kann nun aber das mathematische Denken, das nicht unmittelbar auf die Erkenntnis der äußeren Welt gerichtet ist, nur durch einen ursprünglichen Akt der ideellen Konstruktion gewinnen. Die reine Mathematik beginnt daher konstruktiv mit dem Setzen einfachster Formen, die abstrahiert von allem realen Inhalte sind. Diese Formen treten sodann dem Mathematiker in einem zweiten Denkakte als Gegebenheiten gegenüber, werden vom ihm ideell reflektiert, verknüpft und umgeordnet. Die Sicherheit der mathematischen Erkenntnisse gründet sich auf die Beachtung der logischen Gesetze; das Aufsteigen zu immer komplexeren und differenzierteren mathematischen Zusammenhängen erfolgt auf der Grundlage der allgemeinen dialektischen Denkgesetze. Die Verknüpfung der mathematischen Formen wird durch die Tätigkeit des Intellekts vollzogen, so daß durch die „Bewegung“ des Denkens die mathematische Vielfältigkeit hervorgebracht wird. Damit sind die mathematischen Entwicklungen determiniert durch die dialektischen Gesetzmäßigkeiten des Denkens. Das Besondere, durch das Denken Gesetzte, erhält im Verlaufe seiner theoretischen Entwicklung immer reichere Bestimmungen, so daß es sich auf abstrakter Ebene zunehmend konkretisiert und seine Sonderheit nur in der Abstraktion vom empirischen Inhalt behält. Diese Konzeption der Mathematik beinhaltet, wie bereits dargestellt wurde, viele Momente, die auch heute noch von größter Aktualität sind. Auf Grund des hohen Abstraktionsniveaus sowohl seiner philosophischen als auch seiner mathematischen Auffassungen ist Graßmann in der Lage, bei der Analyse der Grundlagen der Mathematik zu einem neuen mathematischen Geometrieverständnis vorzudringen. Es sei ihm klar geworden, schreibt er, „dass die Geometrie keinesweges in dem Sinne wie die Arithmetik oder die Kombinationslehre als ein Zweig der Mathematik anzusehen sei, vielmehr die Geometrie schon auf ein in der Natur gegebenes (nämlich den Raum) sich beziehe, und dass es daher einen Zweig der Mathematik geben müsse, der in rein abstrakter Weise ähnliche Gesetze aus sich erzeuge, wie sie in der Geometrie an den Raum gebunden erscheinen“89 . Hatte sein Vater den Gegenstand der Mathematik als ein inhaltsleer Gegebenes betrachtet und inkonsequenter Weise die Geometrie trotzdem noch mit in die Mathematik aufgenommen90 , so entläßt Hermann Graßmann die Geometrie aus der reinen Mathematik, da er den physikalischen Raum nicht als ein Bewußtseinsprodukt ansieht und kreiert an ihrer Stelle seine abstrakte n-dimensionale Ausdehnungslehre. Gleichzeitig formuliert er eine für seine Zeit bemerkenswerte Kritik an der subjektividealistischen Raumauffassung Kants, wenn er schreibt: „. . . es ist klar,
4.3 Graßmanns Auffassungen zur Strukturierung der Mathematik
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wie der Begriff des Raumes keinesweges durch das Denken erzeugt werden kann, sondern demselben stets als ein gegebenes gegenübertritt. Wer das Gegentheil behaupten wollte, müsste sich der Aufgabe unterziehen, die Notwendigkeit der drei Dimensionen des Raumes aus den reinen Denkgesetzen abzuleiten, eine Aufgabe, deren Lösung sich sogleich als unmöglich darstellt.“91 Da sich Mathematik für Graßmann nicht auf Anschauung, sondern auf Denken gründet, kann gleichwohl die Kantsche Konzeption des Aprioris der räumlichen Anschauung toleriert werden, besteht kein Grund, sie als psychisches Phänomen zu verwerfen: Wenige Zeilen nach der Charakterisierung des objektiven Raumes geht Graßmann daher auf den Begriff der menschlichen Raumanschauung ein. Er führt aus: „Wenngleich wir nun sagten, es trete jene Anschauung dem Denken als selbständig gegebenes gegenüber, so ist damit doch nicht behauptet, dass die Anschauung des Raumes uns erst aus der Betrachtung der räumlichen Dinge würde; sondern sie ist eine Grundanschauung, die mit dem Geöffnetsein unseres Sinnes für die sinnliche Welt uns mitgegeben ist, und die uns eben so ursprünglich anhaftet, wie der Leib der Seele [Hervorheb. – H.-J. P.].“92 Erst sein Bruder Robert wird später den radikalen Bruch mit Kant vollziehen: „Ebenso ist es ein Irrtum Kants, wenn er sagt: Raum und Zeit seien nicht aus der Erfahrung, sondern Anschauungen a priori“, schreibt er 1890 in seiner „Einleitung in die Wissenslehre oder Philosophie“. „Das Kind weis, ehe es Augen und Hände bewegen lernt, nichts vom Raume; erst durch seine Bewegungen im Raume lernt es den Raum kennen. Ebensowenig weis der Mensch aus sich a priori, dass der Raum drei Ausdehnungen hat; vielmehr kann er aus sich beliebig viele Ausdehnungen setzen; aber der äusere Raum hat nur drei Ausdehnungen, dies weis der Mensch wieder allein aus der Erfahrung. “93 Die Brüder Graßmann zählen damit neben Lobaˇcevskij94 zu den ersten Mathematikern, die, ausgerüstet mit fundierten wissenschaftlichen Kenntnissen, die der Mathematik durch die Kantsche apriori-Konzeption des Raumes gesetzten Grenzen zu durchbrechen vermochten.
4.3 Die Auffassungen Hermann Graßmanns zur Neustrukturierung der Mathematik und zur Standortbestimmung der Ausdehnungslehre In seinen philosophischen Auffassungen zur Charakterisierung der verschiedenen mathematischen Disziplinen geht Hermann Graßmann davon aus, daß das Denken eine Tätigkeit der Einheits-, Entgegen- und Gleichsetzung, des Verknüpfens und Sonderns, daß es ein dialektischer Prozeß ist. Indem er konstruktiv den Gegenstand der Mathematik als ein
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„Besonderes durch das Denken Gewordenes“ auffaßt, ergibt sich für ihn nunmehr eine zweifache begriffsdialektische Bestimmung – zum einen die des „Besonderen schlechthin“, zum anderen die des „Werdens“. Diese begriffliche Entwicklung erfolgt nun – in Weiterführung der Ansätze seines Vaters in der „reinen Zahlenlehre“ (ZL) – innerhalb der dialektischen Gegensätzlichkeit von diskret und stetig einerseits sowie von Einzelnem und Allgemeinem (unter dem Aspekt von gleich und ungleich) andererseits. Seine Darstellung hebt an mit der begrifflichen Entwicklung der Modi des „Werdens“ mathematischer Formen: „Jedes durch das Denken gewordene kann auf zwiefache Weise geworden sein, entweder durch einen einfachen Akt des Erzeugens, oder durch einen zwiefachen Akt des Setzens und Verknüpfens. Das auf die erste Weise gewordene ist die stetige Form oder die Grösse im engeren Sinn, das auf die letzte Weise gewordene die diskrete oder Verknüpfungs-Form.“95 Ist demnach die diskrete Größe ein „blosses Zusammendenken“96 des Gegebenen, so wird der Prozeß des „Erzeugens“ einer stetigen Form bereits als ein komplizierter dialektischer Akt aufgefaßt. In Analogie zur Erzeugung der diskreten Form kann man „auch für die stetige Form dem Begriffe nach einen zwiefachen Akt des Setzens und Verknüpfens unterscheiden, aber beides hier zu Einem Akte vereinigt, und somit in eine unzertrennliche Einheit zusammengehend . . .“97 . Graßmann bringt damit zum Ausdruck, daß der dialektische Prozeß der Bewegung, des Werdens (expliziert an der Bewegung des mathematischen Denkens) in der begrifflichen Zergliederung stets zu Gegensätzlichkeiten (Setzen und Verknüpfen) führt, die in ihrer Einheit betrachtet werden müssen. „Beide Akte also“, betont er, „nämlich des Setzens und Verknüpfens gehen ganz in einander auf, so dass nicht eher verknüpft werden kann, als gesetzt ist, und nicht eher gesetzt werden darf, als verknüpft ist; . . . das was neu entsteht, entsteht eben nur an dem schon gewordenen, ist also ein Moment des Werdens selbst . . .“98 In dieser Weise ist das Werden ein stets sich lösender und neu setzender Widerspruch. Gliedert sich nun die Mathematik hiernach in stetige und diskrete, so sind diese gegensätzlichen Gebiete jedoch nicht absolut isoliert: „Der Gegensatz des Diskreten und Stetigen ist (wie alle wahren Gegensätze) ein fliessender, indem das Diskrete auch kann als stetig betrachtet werden, und umgekehrt . . . Das Diskrete wird als Stetiges betrachtet, wenn das Verknüpfte selbst wieder als Gewordenes und der Akt des Verknüpfens als ein Moment des Werdens aufgefasst wird. Und das Stetige wird als diskret betrachtet, wenn einzelne Momente des Werdens als blosse Verknüpfungsakte aufgefasst, und das so verknüpfte für die Verknüpfung als Gegebenes betrachtet wird.“99 Der zweite Gegensatz, der eine Sonderung mathematischer Disziplinen bewirkt, tritt hervor bei der Analyse des Begriffs des Besonderen:
4.3 Graßmanns Auffassungen zur Strukturierung der Mathematik
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„Jedes Besondere . . . wird ein solches durch den Begriff des Verschiedenen, wodurch es einem anderen Besonderen nebengeordnet, und durch den des Gleichen, wodurch es mit dem Besonderen demselben Allgemeinen untergeordnet wird. Das aus dem Gleichen gewordene können wir die algebraische Form, das aus dem Verschiedenen gewordene die kombinatorische Form nennen.“100 „Aus der Durchkreuzung dieser beiden Gegensätze101 [Stetig – Diskret, Gleich – Ungleich; H.-J. P.], von denen der erste auf die Art der Erzeugung, der letztere auf die Elemente der Erzeugung sich bezieht, gehen die vier Gattungen der Formen und die ihnen entsprechenden Zweige der Formenlehre hervor.“102 Bis zu diesem Punkt folgte Hermann Graßmann im wesentlichen den Gedanken seines Vaters.103 Die sich nun anschließende Ausgestaltung des dialektischen Schemas:
diskret
stetig
gleich ungleich
führt über die Entwicklungen seines Vaters hinaus. Stimmt Hermann Graßmann mit seinem Vater noch darin überein, daß der Gegenstand der Zahlenlehre die „algebraisch-diskrete Form“ und der Gegenstand der Kombinationslehre die „kombinatorisch-diskrete Form“ sei, so ergeben sich bei der Charakterisierung derjenigen mathematischen Disziplin, welche aus der „stetigen Synthese des Gleichartigen“ hervorgehe – also die „algebraisch-stetige Form“ zum Gegenstand habe – bereits theoretische Differenzen. Für Justus Graßmann war diese Disziplin die Geometrie. Hermann Graßmann jedoch verbindet mit dem Begriff der „algebraisch-stetigen Form“ – nachdem er die Geometrie aus dem Bereich der reinen Mathematik verbannt hatte – treffender die „intensive Größe“, d. h. die veränderliche Größe als „Grundlage der Funktionslehre, der Differenzial- und Integralrechnung“.104 Wesentlich ist nun die Bedeutung der „kombinatorisch-stetigen Form“ (ungleich und stetig), die für Justus Graßmann noch keinen Platz im Gefüge der Mathematik hatte:
diskret
stetig
gleich
Zahlenlehre
Geometrie
ungleich
Kombinatorik
?
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4 Das philosophische Konzept der Ausdehnungslehre von 1844
Ihr entspricht nach Hermann Graßmann die „extensive Größe“, die die Grundlage seiner Ausdehnungslehre bildet. „Es ist also die intensive Grösse gleichsam die flüssig gewordene Zahl“, führt er aus, „die extensive Grösse [d. h. die Vektoren und Multivektoren – H.-J. P.] die flüssig gewordene Kombination. [Hervorheb. – H.-J. P.]“105 Auf diese Weise erhält er folgendes vollständige Einteilungsschema der mathematischen Grunddisziplinen:
diskret
stetig
gleich
Zahlenlehre
Lehre von den intensiven Größen (Funktionslehre, Infinitesimalrechnung
ungleich
Kombinatorik
Lehre von den extensiven Größen (Ausdehnungslehre)
Die angeführten Darlegungen Hermann Graßmanns sind sehr aufschlußreich für das Verständnis der Entstehung seiner Theorie der n-dimensionalen Mannigfaltigkeit. Für das von der Dialektik durchdrungene Denken Graßmanns mußte es unzumutbar sein, daß das dialektische Schema seines Vaters nicht vollgliedrig war. Es mußte in seiner Unvollständigkeit daher einen heuristischen Druck auf ihn ausüben. Nachdem er die Geometrie aus dem Bereich der reinen Mathematik ausgeschlossen hatte, konnte sich seine Ausdehnungslehre, wenn auch vorerst begrenzt auf drei Dimensionen, als Lehre von den extensiven Größen im Sinne Kants106 , nur an der noch offenen Stelle des Schemas seines Vaters – also als „stetige Combination“107 – ansiedeln. In der damit gestifteten Analogie der Kombinationslehre mit der n-Gliedrigkeit der „Complexionen“ (Permutationen) drängte sich eine Verallgemeinerung auf n Dimensionen als denkmöglich auf. Es erscheint dem Verfasser als wahrscheinlich, daß dieses, aus der dialektischen Betrachtung entspringende Herangehen für Graßmann eine der Wurzeln seines verallgemeinerten Geometrieverständnisses bildete. Die Behauptung Enriques’: „Die Möglichkeit einer . . . Verallgemeinerung [des Geometriebegriffes auf das n-Dimensionale – H.-J. P.] wurde z. B. von Herbart angedeutet, dessen philosophische Ansichten, wie bekannt, einen starken Einfluß auf den Gedankengang Graßmanns und Riemanns ausgeübt haben“108 , eine Behauptung, die sich auch in der „History of science“109 findet, erscheint hingegen in dieser Absolutheit als unhaltbar. Für eine Beeinflussung Riemanns durch Herbart lassen sich eindeutige historische Belege anführen.110 In allen dem Verfasser zugänglichen
4.3 Graßmanns Auffassungen zur Strukturierung der Mathematik
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Schriftstücken Graßmanns fällt jedoch der Name Herbarts nie. Es ist einzig bekannt, daß ein Schwager Graßmanns, C. G. Scheibert, der Rektor der Friedrich-Wilhelmsschule in Stettin, ein Anhänger der philosophischen und pädagogischen Lehren Herbarts war.111 Daß von dieser Seite eine Beeinflussung Graßmanns durch Ideen Herbarts möglich war, ist nicht auszuschließen, jedoch auch nicht in der vorstehend geäußerten Rigorosität zu beweisen.
Riemann, Herbart und der Begriff der n-dimensionalen Mannigfaltigkeit Riemann stellte seine Konzeption der n-dimensionalen Mannigfaltigkeiten in seinem Habilitationsvortrag „Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ (Riemann 1876a) vor. Hier verwies er unmittelbar auf Anregungen Herbarts.112 In den philosophischen Fragmenten Riemanns (Riemann 1876b) vermerkt er ferner: „Der Verfasser ist Herbartianer in Psychologie und Erkenntnistheorie . . ., Herbart’s Naturphilosophie und den darauf bezüglichen metaphysischen Disciplinen . . . kann er meistens nicht sich anschliessen.“113 Es liegt die Vermutung nahe, daß es vor allem die Ausführungen Herbarts über die „Vorstellungsreihen niederer und höherer Ordnung“ in dessen „Psychologie“114 gewesen sein könnten, die Riemann zur Aufstellung des Begriffes der n-dimensionalen Mannigfaltigkeit führten. Hier heißt es u. a.: „Gerade hierin nun besteht die Verwebung der Reihen, dass, indem ihrer mehrere ablaufen, zugleich nicht nur jedes Glied eine von ihm ausgehende Reihe (gemeint ist eine Vorstellungsreihe – H.-J. P.) anregt, sondern dass auch die sekundären Reihen sich nach einer Regel in andern Reihen Glied für Glied vereinigt finden; so dass die Vereinigungspuncte jedesmal mehrfach gegeben sind, und dass die Construction unendlich vielfach in sich selbst zurücklaufe, ohne mit sich selbst in Mishelligkeit zu gerathen. Das Product solcher, sich gegenseitig hervorrufender Reihen ist allemal ein Räumliches, obgleich nicht nothwendig eins im sinnlichen Weltraum.“115
Mit der gleichen Berechtigung wie Enriques könnte man dann auch behaupten, daß Graßmann unter dem Eindruck der Frühschriften Kants zum Begriff des n-dimensionalen Raumes gelangt wäre. In Kants Schrift „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“ (Kant 1912a) aus dem Jahre 1746 finden sich nämlich im ersten Hauptstück „Von der Kraft der Körper überhaupt“116 die folgenden interessanten Gedanken: Die dreifache Ausdehnung des Raumes sei, so Kant, abhängig von der Wechselwirkung der Kräfte der Substanzen.117 Hiervon ausgehend schlußfolgert er, daß „aus einem andern Gesetze auch eine Ausdehnung von andern Eigenschaften und Abmessungen geflossen wäre. Eine Wissenschaft von allen diesen möglichen Raumesarten wäre ohnfehlbar die höchste Geometrie, die ein endlicher Verstand unternehmen könnte.“118
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4 Das philosophische Konzept der Ausdehnungslehre von 1844
Diese bemerkenswerten Überlegungen des jungen Kant beweisen, daß der „kritische Kant“ in seiner Raumauffassung dogmatischer war als der „vorkritische Kant“. Anknüpfungspunkte für Graßmann hätten sich hier durchaus finden lassen. Wenden wir uns indes wieder den Ausführungen Graßmanns in seiner Ausdehnungslehre zu. In einem Überblick wird von ihm der Gegenstandsbereich noch einmal in der folgenden Weise umrissen: „Wie in der Zahl die Einigung hervortritt, in der Kombination die Sonderung des Zusammengedachten, so auch in der intensiven Größe die Einigung der Elemente, welche ihrem Begriff nach zwar noch gesondert sind, aber nur in ihrem wesentlichen sich gleich sein die intensive Größe bilden, hingegen in der extensiven Grösse die Sonderung der Elemente, welche zwar, sofern sie Eine Grösse bilden, vereinigt sind, aber welche eben nur in ihrer Trennung voneinander die Grösse konstituieren.“119 Resümierend läßt sich hierzu feststellen, daß von Graßmann jeweils die Randbedingungen der Konstruktion mathematischer Objekte in ihre gegensätzlichen Momente zergliedert werden. Diese Gegensätze werden anschließend isoliert und gehen separat in die Grundlagen der jeweiligen mathematischen Disziplin ein, wobei eine Seite des Gegensatzes zum Ausgangspunkt der Betrachtungen erhoben wird, jedoch unter steter Voraussetzung der korrespondierenden Seite des Gegensatzes.120 In dieser Weise vollzieht Graßmann einen Übergang vom dialektischen Denken zum „metaphysischen“ Bestimmen, wodurch die Mathematik zu einer dialektisch entwickelten „Metaphysik“ gerät.121 Aber schon diese Bestimmung der Mathematik als eine dialektisch entwickelte „Metaphysik“ ist in sich dialektisch widerspruchsvoll und birgt die Relativierung der nichtdialektischen Aspekte in mindestens dreifacher Hinsicht: a) Das mathematische Denken ist seinem Wesen nach Bewegung und wie jede Bewegung dialektischer Natur. b) Die Grundbegriffe und Grundobjekte der Mathematik, selbst wenn sie aus der Isolation gegensätzlicher Seiten der dialektischen Einheit hervorgegangen sind, stellen selbst noch eine komplizierte dialektische Einheit dar, eine niedere Stufe dialektischer Komplexität und Entwicklungspotenz, die in der entsprechenden mathematischen Disziplin verbleibt. In diesem Sinn gilt, daß in jedem formalen mathematischen Konstrukt „. . . soviel an objektiver Dialektik stecken [kann], wie durch die Begriffsdefinitionen eingefangen wurde“122 . c) Daraus resultiert, daß durch Kombination der Grundbegriffe, durch Analyse, Synthese und Konstruktion neue Begriffe, Objekte und Zusammenhänge geschaffen werden bzw. sich notwendig konstituieren, die wieder notwendig dialektische Züge tragen (je differenter und kom-
4.3 Graßmanns Auffassungen zur Strukturierung der Mathematik
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plexer eine mathematische Konstruktion ist, desto größer ist die Potenz der dialektischen Entwicklungsmöglichkeiten im mathematischen Denken). Gleichzeitig sah Graßmann jedoch auch die objektive Dialektik der Naturerscheinungen und war sich der Möglichkeit bewußt, mit Hilfe der Mathematik verschiedene Zusammenhänge der Wirklichkeit herausheben zu können. „Auch ist klar“, stellt er fest, „wie jede reale Grösse [Hervorheb. – H.-J. P.] auf zwiefache Weise kann angeschaut werden, als intensive und extensive; nämlich auch die Linie wird als intensive Grösse angeschaut, wenn man von der Art, wie ihre Elemente aus einander sind, absieht, und bloss die Quantität der Elemente auffasst, und eben so kann der mit Kraft begabte Punkt als extensive Grösse gedacht werden, indem man sich die Kraft in Form einer Linie vorstellt.“123 Hatte Graßmann die mathematischen Disziplinen durch seine (historisch begrenzte) Klassifizierung relativ isoliert und damit versucht, größte begriffliche und inhaltliche Klarheit zu gewinnen, so ging er noch einen bedeutenden Schritt weiter, indem er eine allgemeine Formenlehre konzipierte: „Es kann der Zerspaltung der Formenlehre in die vier Zweige ein allgemeiner Theil vorangeschickt werden, welcher die allgemeinen, das heisst für alle Zweige gleich anwendbaren Verknüpfungsgesetze darstellt, und welchen wir die allgemeine Formenlehre nennen können.“124 Diese „allgemeine Formenlehre“ – ein Begriff, den später Hankel übernahm125 – sollte die Grundlage der gesamten Mathematik bilden. In diesem Vorgehen Graßmanns drückt sich ein zutiefst dialektisches Verständnis aus, das gepaart ist mit dem Streben nach größtmöglicher Abstraktion zur Hervorhebung des Allgemeinen im Einzelnen. Der partielle Umbruch der Mathematik, der von Graßmann durch die Entwicklung seiner Lehre von den extensiven Größen vollzogen worden war, veranlaßte ihn, die gesamte Mathematik einer eingehenden Analyse zu unterwerfen. Dieser Umbruch, der potentiell in der Entwicklung der bisherigen Mathematik enthalten war und von Graßmann – u. a. durch Übertragung (bedingte Analogie) von Termini, Regeln und Betrachtungsweisen aus der Arithmetik in die Geometrie („Negative“ Strekken, „Addition“ von Strecken, „Multiplikation“ von Strecken etc.) – in spezifischer Ausprägung verwirklicht wurde, involvierte eine mindestens dreifache erkenntnistheoretisch-methodologische Analyse: a) Analyse des Platzes der neuen Theorie im Gesamtgefüge der Mathematik; b) Bestätigung bzw. Revision der weltanschaulich-philosophischen Grundlagen des neuen mathematischen Gesamtgefüges; c) Analyse der Invarianz von Termini und Operationen bzgl. aller mathematischen Disziplinen bzw. Verallgemeinerung der Prinzipien und Begriffe, die für die gesamte Mathematik universal sind.
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4 Das philosophische Konzept der Ausdehnungslehre von 1844
Wurden die Punkte a) und b) in ihrer Behandlung durch Graßmann bereits ausführlich dargestellt, so ist c) im Zusammenhang mit dem Entwurf der „allgemeinen Formenlehre“ zu sehen. Durch die eben erwähnte Übertragung der mathematischen Sprache auf Gegenstände, für die sie streng genommen keine Gültigkeit mehr hatte, und die somit nur als Muster fungieren konnte, das neue Begriffe und Zusammenhänge erschloß (u. a. Nichtkommutativität der vektoriellen Multiplikation im Vergleich zur „gewöhnlichen“ Multiplikation), wurde die Aufmerksamkeit des Forschers auf das Invariante in jeder mathematischen Verknüpfung gerichtet. Das Ergebnis war die Aufdeckung der Struktur einer Anzahl formaler Verknüpfungen, die in den einzelnen Disziplinen, deren Gegenstände durch die je spezifische mathematische Synthese konstituiert wurden, ihre konkrete Ausgestaltung erfuhren. Ging Graßmann also philosophisch von der begrifflichen Aufspaltung der Einheit in die Vielfalt der mathematischen Disziplinen aus, so suchte er andererseits die verbliebene strukturelle Einheit in dieser Vielheit auf, die als innermathematische Grundlage der gesamten Mathematik nachträglich vorangestellt wurde.126 Auch bei der Konzipierung der allgemeinen Formenlehre bleibt sich Graßmann, der im Geiste Schleiermachers jegliche mathematische Axiomatik ablehnte, treu. Die allgemeine Formenlehre enthält dementsprechend auch keine Grundsätze, die angäben, was in der Mathematik zu gelten hätte, sie enthält weder eine inhaltliche noch eine formale Axiomatik – wofür sie nachfolgend häufig, so auch durch Whitehead bei seiner formalen Begründung der Mathematik, überaus produktiv verkannt wurde127 –, sondern sie verbleibt ihm Rahmen des konstruktiven Konzepts Graßmanns, das die Objekte der Mathematik durch eine ihr eigentümliche Synthesis erzeugt sieht. Sie entspringt den allgemeinen Bedingungen der mathematischen Synthese einerseits und bildet das vorweggenommene Allgemeine der konkreten Formen mathematischer Synthese anderseits.128 Die letzteren legitimieren das erstere. Was damit in der weiteren Entwicklung der Ausdehnungslehre als Interpretation erscheint, fungiert für den Leser als Heuristik und ist im Graßmannschen Sinne Desabstraktion.129
4.4 Die Auffassungen Hermann Graßmanns vom Wesen der mathematischen Methode und ihrem Verhältnis zur philosophischen Aufbauend auf der Analyse seiner eigenen schöpferischen Tätigkeit und anknüpfend an die Ideen seines Vaters, kommt Hermann Graßmann unter dem direkten Einfluß Schleiermachers zu wesentlichen Erkenntnissen über die Beziehung zwischen mathematischer und philosophischer
4.4 Graßmanns Auffassungen zur mathematischen Methode
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Methode. Ist schon das Einfließen dieser Erkenntnisse in seinen einzelwissenschaftlichen Schaffensprozeß beispielhaft, so ist ihm noch höher anzurechnen, daß er bemüht war, diese Erkenntnisse explizit darzustellen und damit den Versuch zu unternehmen, nicht nur „reines“ Wissen130 , sondern auch das methodische Rüstzeug zur Erlangung und Weiterentwicklung dieses Wissens zu vermitteln. Die Tragfähigkeit dialektischen Denkens wird am Vorgehen Graßmanns deutlich. Sein Ausgangspunkt ist folgender: „Das Eigenthümliche der philosophischen Methode ist, dass sie in Gegensätzen fortschreitet, und so vom Allgemeinen zum Besonderen gelangt; die mathematische Methode hingegen schreitet von den einfachsten Begriffen zu den zusammengesetzteren fort, und gewinnt so durch Verknüpfung des Besonderen neue und allgemeine Begriffe.“131 Erkennbar wird hier von Graßmann die Auffassung Kants über das Verhältnis von mathematischer und philosophischer Methode aufgegriffen.132 Er geht jedoch über Kant hinaus, wenn er – Schleiermacher folgend133 – die philosophische Methode als eine dialektische charakterisiert. Die veränderte Akzentuierung bei Graßmann im Verhältnis zu Kant ist ferner gekennzeichnet durch eine Wissenschaftsauffassung im Geiste der romantischen Naturphilosophie: „Während also dort [in der Philosophie – H.-J. P.] die Uebersicht über das Ganze vorwaltet, und die Entwickelung eben in der allmählichen Verzweigung und Gliederung des Ganzen besteht, so herrscht hier die Aneinanderkettung des Besonderen vor, und jede in sich geschlossene Entwickelungsreihe bildet zusammen wieder nur ein Glied für die folgende Verkettung, und diese Differenz der Methode liegt in dem Begriffe; denn in der Philosophie ist eben die Einheit der Idee das ursprüngliche, die Besonderheit das abgeleitete, in der Mathematik hingegen die Besonderheit das ursprüngliche, hingegen die Idee das letztlich angestrebte; wodurch die entgegengesetzte Fortschreitung bedingt ist.“134 Indem Graßmann die philosophische mit der mathematischen Methode vergleicht, kommt er zu dem Schluß, daß beide etwas gemeinschaftliches haben müssen. Dieses Gemeinschaftliche findet er nun einerseits in der Forderung der wissenschaftlichen Strenge, andererseits in der Forderung nach Übersichtlichkeit der Darstellung.135 Die Frage der Übersichtlichkeit spielt für ihn hierbei – resultierend aus der Auseinandersetzung mit der geometrischen Methode Euklids und Descartes’ – eine hervorragende Rolle, weil nur mit der Übersichtlichkeit für ihn auch eine freie Erkenntnis möglich ist, weil nur dann der Mensch zum Herrscher über den Stoff wird und unabhängig ist „von der besonderen Weise in der die Wahrheit gefunden war . . .“136 . Die Realisierung der Übersichtlichkeit knüpft Graßmann an den Begriff der Idee: „Auf dem jedesmaligen Punkte der Entwickelung ist die Art der Weiterentwickelung [in der Mathematik – H.-J. P.] wesentlich
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4 Das philosophische Konzept der Ausdehnungslehre von 1844
durch eine leitende Idee bestimmt, welche entweder nichts anderes ist, als eine vermuthete Analogie mit verwandten und schon bekannten Zweigen des Wissens, oder welche, und dies ist der beste Fall, eine direkte Ahnung der zunächst zu suchenden Wahrheit ist.“137 Das heuristische Muster (Analogie) und die Intuition (Ahnung) sind für ihn damit der Schlüssel zum mathematischen Schöpfertum. Wertet er auch die Rolle der Analogie als „Notbehelf“ ab, so beweist doch die Entstehungsgeschichte seiner Ausdehnungslehre das Gegenteil und bestätigt damit indirekt die Feststellung Poincarés, daß „. . . trotz der Ausnahmen . . . unzweifelbar . . . die sinnliche Anschauung in der Mathematik das gewöhnlichste Werkzeug der Erfindung ist“138 . Eingehend würdigt er jedoch die Bedeutung der Intuition. Nur „durch blinde Kombination der gewonnenen Resultate“139 gelangt man nicht zu einer neuen Wahrheit, betont er. Die leitende Idee ist „das in eins zusammenschauen der ganzen Entwickelungsreihe, die zu der neuen Wahrheit führt, aber mit noch nicht aus einander gelegten Momenten der Entwickelung und daher auch im Anfang nur erst als dunkles Vorgefühl; die Auseinanderlegung jener Momente enthält zugleich die Auffindung der Wahrheit und die Kritik jenes Vorgefühls“140 . Die Rolle der wissenschaftlichen Intuition, die Graßmann hier treffend charakterisiert, ist auch von anderen bedeutenden Wissenschaftlern in der Folgezeit wiederholt herausgestellt worden. Graßmann jedoch blieb nicht bei der Konstatierung des Sachverhaltes stehen, sondern zieht daraus unmittelbare Konsequenzen für die Darstellungsweise der Wissenschaft: „. . . die wissenschaftliche Darstellung [ist] ihrem Wesen nach ein Ineinandergreifen zweier Entwickelungsreihen, von denen die eine mit Konsequenz von einer Wahrheit zur andern führt, und den eigentlichen Inhalt bildet, die andere aber das Verfahren selbst beherrscht und die Form bestimmt.“141 Da nun aber in der Mathematik „diese beiden Entwickelungsreihen am schärfsten auseinander[treten]“142 , ist es für die Darstellungsweise notwendig, „dass der Leser möglichst in denjenigen Zustand versetzt wird, in welchem der Entdecker der Wahrheit im günstigsten Falle sich befinden müsste [Hervorheb. – H.-J. P.]. In demjenigen aber, der die Wahrheit auffindet, findet ein stetes sich besinnen über den Gang der Entwickelung statt; es bildet sich in ihm eine eigenthümliche Gedankenreihe über den Weg, den er einzuschlagen hat, und über die Idee, welche dem Ganzen zu Grunde liegt; und diese Gedankenreihe bildet den eigentlichen Kern und Geist seiner Thätigkeit, während die konsequente Auseinandersetzung der Wahrheit nur die Verkörperung jener Idee ist“143 . Graßmann bemüht sich in seiner Ausdehnungslehre, die historischen, methodologischen, psychologischen und logischen Aspekte seiner Wissenschaftsauffassung zu vermitteln. Er breitet – soweit ihm dies in der Reflexion seiner eigenen Auffassungen möglich ist – sein gesamtes For-
4.5 Graßmanns Ausdehnungslehre und Schleiermachers Dialektik
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schungsprogramm, sein „Paradigma“, vor dem Leser aus: den Bruch und die Elemente der Kontinuität seiner neuen Theorie, eingebettet in ein weltanschaulich-philosophisches Grundgerüst. Nicht zuletzt in diesem großangelegten Versuch liegt eine Ursache dafür, daß es einerseits zu einer Ignorierung seiner Forschungsergebnisse durch die mathematischen Zeitgenossen kam und daß andererseits, als sich seine Theorie als wertvoll im Ansehen der Mathematiker qualifiziert hatte, eine ausgeprägte mathematische Schule – die „Graßmannianer“ hervortrat.144
4.5 Die Graßmannsche Ausdehnungslehre und die Schleiermachersche Dialektik Immer wieder wird in der mathematikhistorischen Literatur die Frage aufgeworfen, ob die philosophische Form der Ausdehnungslehre von 1844 unter dem unmittelbaren Eindruck einer bestimmten philosophischen Richtung oder, eingegrenzter noch, dem Einfluß eines einzelnen Philosophen zuzuschreiben ist. Indirekte Anknüpfungspunkte an Leibniz, Schelling und Kant lassen sich zweifellos, auch tradiert über Justus Graßmann, nachweisen. Bei den direkten Einflüssen liegt die Sachlage komplizierter. Herbart wurde genannt,145 muß aber als äußerst unwahrscheinlich verworfen werden. Auch bei Fries, der ebenfalls angeführt wird, sprechen die Indizien eher dagegen.146 Daß Hermann Graßmann unter keines Philosophen direkten Einfluß stand, sondern unter dem seines jüngeren Bruders Robert, konnte gleichfalls als wenig überzeugend verworfen werden.147 Bleibt noch die in dieser Biographie durchgängig vertretene Auffassung, daß die von Hermann Graßmann in seinem der theologischen Prüfungskommission 1834 eingereichten Lebenslauf in Bezug auf Schleiermacher geäußerte höchste Wertschätzung für dessen vorbildhaftes philosophisch-methodologisches Herangehen an die Wissenschaft nicht nur ein Lippenbekenntnis148 war, sondern daß sie das weitere wissenschaftliche Schaffen Graßmann nachhaltig prägte. Einen solchen Einfluß Schleiermachers auf Graßmann, der sich insbesondere an der Reflexion zum Problemkreis einer „leitenden Idee“ der mathematischen Entwicklung erkennen ließe, hat wohl als erster A. R. Schweitzer (1915) in seiner Doktorarbeit ausgesprochen149 . Dann ruhten diese Überlegungen und wurden erst wieder (1977) von Lewis und davon unabhängig vom Autor (1979a) aufgegriffen. Lewis erörtert weitgehend separat zunächst Schleiermachers Dialektik und anschließend Graßmanns Ausdehnungslehre. Er kommt zu dem Schluß eines intensiven Einflusses Schleiermachers auf Graßmann, der jedoch nur unzureichend
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4 Das philosophische Konzept der Ausdehnungslehre von 1844
expliziert wird. Dies führte unter anderem dazu, daß Schubring (1996d) die Argumentation von Lewis nicht für stichhaltig hielt und jeglichen nennenswerten Einfluß von Schleiermacher auf Graßmann ausschloß, statt dessen aber, aufgrund bisher unbekannter Dokumente, eine starke philosophische Einflußnahme von Robert Graßmann auf seinen Bruder für wahrscheinlich erachtete. Zwar hat Lewis einige Punkte seiner Positionen von 1977 in einem Aufsatz von 2004 verteidigt, insgesamt aber, wie schon dem Titel zu entnehmen ist, sein Plädoyer für die Beeinflussung der Ausdehnungslehre durch die Gedanken der Schleiermacherschen Dialektik abgeschwächt. Daß Lewis gleichwohl ursprünglich im Recht war, ja, daß der Einfluß Schleiermachers noch höher anzusetzen ist, als von ihm 1977 veranschlagt, soll mit den nachfolgenden Darlegungen noch einmal untermauert werden. Die Begründung der Ausdehnungslehre, sowohl die innere Entwicklung ihrer Begrifflichkeit als auch die äußere Einordnung in das Ensemble der Wissenschaften ist wie aus einem Guß und fügt sich nahtlos in die Konzeption der Schleiermacherschen Dialektik ein. Da eine ausführliche Synopse hier zu weit führen würde, sollen an dieser Stelle die vielfältigen Belege, die von der Hochachtung der Brüder Graßmann für die Schleiermachersche „Erspähungslehre“ zeugen, zusammengefügt werden, indem eine knappe Rekonstruktion des Konzeptes der Ausdehnungslehre im Geiste der Schleiermacherschen Dialektik gegeben werden soll. Im Kontext der Dialektik liest sich die Grundlegung der Ausdehnungslehre dann wie folgt (in Klammern sind die Paragraphen der Jonasschen Ausgabe der Dialektik von 1839 angegeben, in denen die entsprechenden Positionen entwickelt werden. Graßmann zuschreibbare Auffassungen erscheinen im nachfolgenden Text kursiv.): Die Architektonik des Wissens beruht auf dem positiven doppelten relativen Gegensatz (§§ 289/290; §§ 340/341). Dieser findet seinen Urgrund im Gegensatz von Idealem und Realem in Vernunft und Natur, einem Gegensatz, dessen Gegensätzlichkeit sich – in wechselnder Dominanz – in beiden Seiten des Gegensatzes reproduziert (§ 341). Dementsprechend ist die oberste Teilung der Wissenschaften die in reale und formale (oder, wie es bei Schleiermacher heißt, in empirische und spekulative) (§ 342). Diese ihrerseits teilen sich – in sich – erneut in eine Gegensätzlichkeit des Realen und Formalen. Für die formalen Wissenschaften heißt dies, daß sie sich in die Wissenschaft des Allgemeinen (mit Dominanz der Spekulation) und in die Wissenschaft des Besonderen (mit Dominanz des Empirischen) untergliedern: letztere als Mathematik, erstere als Dialektik (§§ 344–346). Doch auch in der Mathematik ist der relative Gegensatz des Idealen und Realen nicht erloschen: Sie gliedert sich daher in einen mehr spekulativen Teil (die allgemeine Formenlehre)
4.5 Graßmanns Ausdehnungslehre und Schleiermachers Dialektik
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und einen mehr empirischen Teil (die vier, durch den doppelten relativen Gegensatz von gleich und ungleich sowie stetig und diskret generierten mathematischen Disziplinen). Andererseits hat auch die Dialektik neben einen mehr spekulativen einen mehr empirischen Part. Letzterer ist die mit der Mathematik verschwägerte formale Logik. Ist nun alles Wissen ein Denken (§§ 86ff.), d. h. ein Prozeß, in dem sich das Denken auf ein Sein bezieht (§§ 94ff.) und seine Wahrheit hat in der Übereinstimmung des Denkens mit diesem Sein (§§ 101ff.), so beruht das Wissen in der Mathematik als einer formalen Wissenschaft, die den empirischen Wissenschaften nahe steht (§ 346), auf einem Denken, das sich auf ein vom Denken selbst gesetztes Sein bezieht und seine Wahrheit hat in der Übereinstimmung des Denkens mit diesem Sein. Da jedes Denken ebenfalls unter dem Widerspruch des Realen und Idealen steht, ist es stets eine Einheit von intellektueller und organischer Funktion, von Begriff und Schema (§§ 105ff.). Das besondere Sein, das von der Mathematik als Gegenstand gesetzt wird, ist abstrahiert von allem realen Inhalte, reine Denkform des Realen, Höchstmaß an Idealität und Minimum an Anschauung: Begriffschematismus, frei für die Unterstellung von Realität. Da alles Wissen auf einen produzierenden Akt zurückgeht (§§ 87ff.), können der Mathematik nur die Bestimmtheiten dieses produzierenden Aktes des Setzen des Besonderen zugrunde liegen. Begrifflich kann nun aber – nach Graßmann – dieses Besondere nur als gleich oder ungleich, diskret oder stetig gesetzt werden. Diese vier Begriffe spannen ihrerseits einen positiven doppelten relativen Gegensatz auf, der alle von Schleiermacher geforderten Bedingungen erfüllt, um die Architektonik einer Wissenschaft zu begründen (§§ 289ff.). Die Analyse der durch den Gegensatz bestimmten Bedingungen der Möglichkeit der mathematischen Synthese und der mit ihr gesetzten Verknüpfungen ist Gegenstand der allgemeinen Formenlehre. Sie liefert das zu fordernde Allgemeine jeder konkreten Verknüpfung (Princip der Congruenz – § 331) und dient damit nicht als Beweisgrund, wohl aber als eine Heuristik für das Aufsuchen der konkreten Verknüpfungen in den einzelnen Zweigen der Mathematik. Als zweites Moment der Heuristik fungiert das „Princip der Analogie“ (§ 332), das für die Graßmannsche Ausdehnungslehre aus der Geometrie gewonnen wird. Ihr zur Seite steht im günstigsten Fall die Ahnung als Intuition der weiteren Entfaltungsmöglichkeiten einer mathematischen Konstruktion (§ 330). Damit wird die wahrhafte Entwicklung einer mathematischen Theorie das Ineinandergreifen zweier entgegengesetzter Methoden (§§ 240ff.), einer heuristischen, mehr philosophischen und einer architektonischen, mathematisch zwingend konstruierenden. Dergestalt läßt sich die Graßmannsche Ausdehnungslehre von 1844 als konsequente Umsetzung der Prinzipien der Schleiermacherschen Dialektik verstehen, wobei diese durch eine „Dialektik der Mathematik“ von
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Graßmann erweitert wird, so daß die Unzulänglichkeiten der Behandlung der Mathematik durch Schleiermacher kompensiert werden150 . Das von Justus Graßmann stammende Gegensatzpaar gleich/ungleich und diskret/stetig, bildet hierbei den philosophisch-mathematischen Ausgangspunkt für eine über Kant hinausgehende, völlig harmonische Einbettung der Mathematik in das Schleiermachersche Dialektik-Projekt. Wie aber kam Justus Graßmann zu diesem Ansatz? Die Vermutung, daß die Mathematik-Konzeption Justus Graßmanns ihrerseits schon unter dem Einfluß Schleiermachers entstand, daß sich also die Mathematikkonzeptionen von Justus und Hermann Graßmann in doppelter Vermittlung durch Schleiermacher ineinanderfügen, ist verlockend. Bekanntlich hatte Justus Graßmann zur Hochzeit der Naturphilosophie von 1799 bis 1801 in Halle studiert. Kurze Zeit später, 1804, wurde Schleiermacher nach Halle berufen und hielt erste Vorlesungen zur philosophischen Ethik. Es entwickelte sich eine innige Freundschaft zu Henrik Steffens der auf einen Lehrstuhl für Naturphilosophie berufen worden war. Abschriften der ersten Vorlesungen Schleiermachers kursierten unter Freunden. Auch der Schulrat Bartholdy aus Stettin, der sich für die Ausbildung der Elementarlehrer und die Gründung eines Pädagogischen Seminars einsetzte,151 bekam sie in die Hände. Als ein enger Freund sowohl Schleiermachers als auch Justus Graßmanns studierte er gemeinsam mit Gaß diese Schrift, machte sich zudem selbst eine Abschrift und äußerte sich sehr positiv über das Schleiermachersche Konzept. Nach einem Brief von Gaß an Schleiermacher vom Juli 1805 enthielten die Vorlesungen zur philosophischen Ethik eine umfassende Darstellung der transzendentalen Postulate Schleiermachers, in denen er seine eigene Position in Abgrenzung zu Schelling entwickelte. Gaß schreibt: „Bartholdy bemerkte besonders mit Wohlgefallen Ihre Abweichung von Schelling, dessen erste Vorlesung über das akademische Studium wir dabei zur Hand nahmen, und wünscht daß Sie sich demselben hierin nie mehr nähern möchten.“152 Wenn diese Entgegensetzung zu Schelling nun, wie Arndt schlußfolgert, im Insistieren auf die Relativität der Entgegensetzung von Idealem und Realem im Gebiet der objektiven Erkenntnis besteht153 , so liegen sehr starke Indizien dafür vor, daß auch Justus Graßmann schon 1805 mit Grundprinzipien der Schleiermacherschen Dialektik-Konzeption in Berührung kam. . . Da ferner bekannt ist, daß Gaß Schleiermachers Heft der Dialektik von 1814/15 in den Händen hielt154 , da dieser es ihm 1816, wie einst den „Entwurf zur Ethik“, zum Studium nach Breslau geschickt hatte, so ist nicht auszuschließen, daß Bartholdy, der u. a. als korrespondierendes Mitglied der Berliner wissenschaftlichen Deputation (ab 1810) häufiger mit Schleiermacher zusammentraf, ebenfalls über die Gedanken der
4.5 Graßmanns Ausdehnungslehre und Schleiermachers Dialektik
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Schleiermacherschen Dialektik gut unterrichtet war. Obgleich Bartholdy im Mai 1815 verstarb, ist es gleichwohl naheliegend, daß Justus Graßmann, der das Werk Bartholdys mit der „Raumlehre für Volksschulen“ von 1817 fortsetzte,155 über das Gedankengut der Dialektik Schleiermachers informiert und von ihr beeinflußt war. . . . Leider aber bewegen wir uns im Bereich der Vermutungen, da wohl nähere Beweise ausbleiben werden. Letztlich bleibt anzumerken, daß das faszinierende mathematischphilosophische Bauwerk der Ausdehnungslehre von 1844, dem Prozeß seiner mathematischen Ausgestaltung, der nach Robert Graßmann bereits 1847156 einsetzte, nicht standhielt und schon nach wenigen Jahren – gleichwohl fast unbemerkt – in sich zusammenstürzte. Mit der Arithmetik von 1861 brach das Grundschema des doppelten, die Mathematik begründenden Gegensatzes in sich zusammen. Damit war die Idee des Gesamtkonzeptes, einschließlich der Konstituierung einer allgemeinen Formenlehre, hinfällig. Zwar ging jetzt in einer grandiosen Konstruktion die gesamte Mathematik in Ausdehnungslehre auf, aber die philosophische Begründungsstruktur, die einst gegeben wurde, war nunmehr obsolet. Sie neu zu liefern hatte Graßmann – nicht zuletzt wohl auch aufgrund der Mißachtung seiner mathematischen und insbesondere auch mathematik-philosophischen Leistungen in der Fachwelt – nicht mehr in Angriff genommen.
Giuseppe Veronese: Grundzüge der Geometrie mehrerer Dimensionen. . . Ausgehend von einer inhaltlichen Übernahme wesentlicher Passagen der Einleitung Graßmanns in die Ausdehnungslehre von 1844 in seiner Vorrede157 , beginnt Veronese seine Schrift mit den folgende Paragraphen: „§ 1. Ich denke. § 2. Ich denke ein Ding oder mehrere Dinge. . . . § 3. Ich denke zuerst ein Ding, nachher ein Ding. . . . § 4. Def. Das, was in dem Gedanken einem Ding entspricht, wird Vorstellung, Begriff oder geistige Darstellung des Dinges genannt. § 5. Bez. Ein oder mehrere Dinge oder Begriffe werden mit Zeichen, z. B. mit Buchstaben des Alphabets, bezeichnet werden. . . . § 6. Def. Wenn ich ein Ding denke, so sagt man: Das Ding ist von dem Gedanken gegeben oder gesetzt; wenn ich an ein Ding denke, so sagt man: Das Ding ist dem Gedanken gegeben.“158 Es schließt sich eine Analyse der Grundoperationen gefolgt von einer Entwicklung der ersten „Eigenschaften der abstrakten mathematischen Formen“ an. Hierauf folgt die Entwicklung der Arithmetik und der Elementarsysteme einer Dimension, um schließlich in die Analyse des Kontinuums und der Formen mehrerer Dimensionen einzumünden.
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Gleichwohl läßt sich vermuten, daß die (philosophische) Begründung der Geometrie von mehreren Dimensionen, die Giuseppe Veronese 1891 gab – seine Schrift erschien genau 50 Jahre nach Graßmanns erster Ausdehnungslehre 1894 in deutscher Übersetzung –, dem neuen Mathematik-Konzept Hermann Graßmanns – wenngleich unter Absehung von der heuristischen Methode – sicher nahe gekommen wäre.159 Schlußbemerkung Einen Einblick in Leben und Werk Hermann Günther Graßmanns, dieses zu Unrecht heute vielfach verkannten und vergessenen Gelehrten, zu ge-
Abb. 47. Kupferstich Graßmanns aus dem ersten Band seiner Gesammelten Werke
Anmerkungen zum 4. Kapitel
275
ben war das Anliegen dieser Schrift. Es wurde erkennbar, daß Graßmann, verwurzelt in der Provinzialität seines – nicht nur geliebten – Stettiner Schulamtes, in eigentümlicher Weise an den Zeitgeist und die Fundamentalprobleme der von ihm bearbeiteten Wissenschaften anzuknüpfen vermochte und die zeitgenössische Wissenschaft übertreffend, gleichwohl verkannt, Bedeutendes vollbrachte. Gerade in der partiellen Überwindung überlieferter Denkhaltungen, im bewußten Rückgriff auf den philosophischen Zeitgeist seiner ideenschwangeren Umwälzungsepoche lag das historische Verdienst dieses Mannes, der mit vielen seiner Ideen der zeitgenössischen Mathematik bei der Bewältigung mathematischer Grundfragen vorausgriff. In der Reihe der hervorragendsten Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts nimmt Graßmann einen würdigen Platz ein. Die Bedeutung seiner wissenschaftlichen Forschungen, um deren Anerkennung er Jahrzehnte gerungen hatte, kann heute nicht mehr in Frage stehen. Die hoffnungsvollen Worte, die er 1861 im Vorwort seiner zweiten Ausdehnungslehre niederschrieb und mit denen diese Schrift ausklingen soll, sind durch die Entwicklung der Wissenschaft weitgehend bestätigt worden: „. . . ich bin der festen Zuversicht, dass die Arbeit, welche ich auf die hier vorgetragene Wissenschaft verwandt habe, . . . nicht verloren sein werde. Zwar weiss ich wohl, dass die Form, die ich der Wissenschaft gegeben, eine unvollkommene ist und sein muss. Aber ich weiss auch und muss es aussprechen, auch auf die Gefahr hin, für anmassend gehalten zu werden, – ich weiss, dass wenn auch dies Werk noch neue siebzehn Jahre oder länger hinaus müssig liegen bleiben sollte, ohne in die lebendige Entwickelung der Wissenschaft einzugreifen, dennoch eine Zeit kommen wird, wo es aus dem Staube der Vergessenheit hervorgezogen werden wird, und wo die darin niedergelegten Ideen ihre Frucht tragen werden.“160
Anmerkungen zum 4. Kapitel 1 2 3 4 5 6 7
Leibniz 1679, S. 64. A1, S. 7. Vgl. Kapitel 1. A1, S. 7. Näheres über diese kleine Schrift ist nicht bekannt. – Vgl. BIO, S. 36f. Vgl. Kapitel 2, Abschnitt 1. Vgl. Kapitel 1.
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8 A1, S. 7. Vgl. auch Justus Graßmanns Lehrbuch der ebenen und sphärischen Geometrie (1835) das unter § 59 „Ueber das Positive und das Negative in der Geometrie“ (S. 26ff.) und § 163 „Ueber das Positive und Negative im Raume“ (S. 70ff.) behandelt und darlegt, daß die Geometrie der eigentliche Ort negativer Größen ist und die Arithmetik über diesen Begriff nur verfügt, sofern er auf die Geometrie bezogen ist. 9 A1, S. 7. 10 Vgl. J. Graßmann 1824, S. 194. – Auf diese Passage der Schrift seines Vaters weist Hermann Graßmann im Vorwort seiner Ausdehnungslehre unmittelbar hin. – Vgl. A1, S. 8. 11 A1, S. 8. 12 Ebenda. 13 Ebenda. 14 Ebenda. 15 Bell 1967, S. 347. 16 Ebenda. 17 Justus Graßmann wies in seiner „reinen Zahlenlehre“ (ZL) nachdrücklich darauf hin, daß die als Potenzieren bezeichnet Verknüpfung von Basis und Exponent nicht kommutativ ist. – Ausführlich hierzu in Kapitel 2, Abschnitt 1. 18 A1, S. 8. 19 Ebenda. 20 Vgl. Kapitel 1, Abschnitt 4. 21 Vgl. den in Kapitel 1, Abschnitt 6 zitierten Brief Graßmanns an den Kultusminister Eichhorn, in dem klar zum Ausdruck kommt, daß Graßmann erst 1840 die Tragweite der vektoralgebraischen Untersuchungen erkannte. 22 Poincaré 1906, S. 114. 23 Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 2. 24 A1, S. 9. 25 KRY, S. 174. 26 Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 3. 27 Möbius 1827, S. XIV. 28 Möbius 1827, S. 16/17. 29 A1, S. 10. 30 Vgl. Kapitel 2, Abschnitt 1. 31 A1, S. 10/11. 32 Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 3. 33 A1, S. 16. 34 Vgl. auch die vielen in Kapitel 1, Abschnitt 5 angeführten ablehnenden Urteile bedeutender Mathematiker über die philosophische Anlage der Ausdehnungslehre. 35 A1, S. 15. 36 Ebenda. 37 Klaus 1965, S. 102. 38 Ebenda. 39 A1, S. 22. 40 Vgl. A1, S. 22f. 41 Bezüglich der religiösen Momente in den mathematischen Schriften Justus Graßmanns vgl. Kapitel 2, Abschnitt 1. 42 Ruzavin 1977, S. 172. 43 Vgl. Kapitel 2, Abschnitt 3. 44 DIAL, S. 7.
Anmerkungen zum 4. Kapitel 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79
80 81 82 83 84 85
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DIAL, S. 48. DIAL, S. 50. DIAL, S. 53. DIAL, S. 40, Anm. DIAL, S. 48, Anm. Lebenslauf Hermann Graßmanns aus dem Jahre 1834; zitiert nach BIO, S. 21. A1, S. 22. H. Graßmann 1878, S. 7. Ebenda, S. 9/10. Ebenda, S. 15. A1, S. 22/23. A1, S. 23. DIAL, S. 309. Bezüglich der Auffassungen Schleiermachers sei auf Kapitel 2, Abschnitt 3 verwiesen. Dies lag u. a. daran, daß Graßmann an die Dialektikkonzeption Schleiermachers, die vorrangig in einer „Struktur- und Funktionsdialektik“ bestand, anknüpfte. Zum „Mißkredit“ der Hegelschen Philosophie bei den Naturwissenschaftlern des 19. Jhs. vgl. Engels 1962a, S. 332ff. A1, S. 22. Ebenda. Ebenda, S. 23. Ebenda. Vgl. Abschnitt 3 des vorliegenden Kapitels. Vgl. die Darlegungen von Kant 1971, S. 744f. Vgl. die Ausführungen Kants in: Kant 1971, S. 92ff. Vgl. Šljachin 1976, S. 132. Kant 1971, S. 744/745. Vgl. Šljachin 1976, S. 131. ZL, S. 3. Ebenda. Ebenda. ZL, S. 3. Ebenda, S. 4. Schleiermacher 1942, S. 130. DIAL, S. 386, Anm. Schleiermacher 1942, S. 33. Prägnant hierzu Einsteins Bemerkung in „Geometrie und Erfahrung“: „Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“ In: Einstein 1955, S. 119–120. A1, S. 22/23. Kant 1971, S. 745. A1, S. 23. Vgl. Molodschi 1977, S. 210f. Bourbaki 1961, S. 218. Ab 1860 sollten die Brüder Graßmann den Name Größenlehre für die Mathematik wieder rehabilitieren und dafür die Kombinationslehre in den Bereich der Logik verbannen. A1, S. 47. Vgl. auch Molodschi 1977, S. 276/277.
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R. Graßmann 1890b, S. 70. A1, S. 10. Vgl. Kapitel 2, Abschnitt 1. A1, S. 23. A1, S. 24. R. Graßmann 1890b, S. 70. Vgl. die Ausführungen von Licis 1976, S. 52ff. über die philosophischen Positionen Lobaˇcevskijs. A1, S. 24. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 25. A1, S. 25. Ebenda. Es sei darauf verwiesen, daß die Auffassung von den sich kreuzenden Gegensätzen eine der Grundauffassungen Schleiermachers ist. A1, S. 25. Zur Unterteilung der Mathematik in verschiedene Disziplinen, wie sie bei Justus Graßmann erfolgte, vgl. Kapitel 2, Abschnitt 1. A1, S. 26. Ebenda, S. 27. Vgl. Kant 1971, S. 258/259. ZL, S. 6. Enriques 1907, S. 63/64. History of science. 1965, S. 34f. Man vergleiche etwa diese Auffassungen Herbarts mit den in Kapitel 3, Abschnitt 3 zitierten Ausführungen Riemanns zur Erzeugung n-dimensionaler Mannigfaltigkeiten. Näheres zum Verhältnis Scheiberts zur Herbartschen Philosophie findet sich in Müller 1926. Vgl. Riemann 1876a, S. 255. Riemann 1876b, S. 476. Herbart 1890, S. 409ff. Ebenda, S. 415. Kant 1912a, S. 22ff. Vgl. ebenda, S. 22/23. Ebenda, S. 23. A1, S. 26/27. Vgl. die Feststellung Graßmanns: „. . . wenn auch dem Gleichen immer schon irgend wie das Verschiedene anhaftet und umgekehrt, so bildet doch nur jedesmal das Eine das Moment der Betrachtung, während das andere nur als die voraussetzende Grundlage des ersten erscheint.“ (A1, S. 25). Der Begriff „metaphysisch“ steht hier im Sinne von „nicht dialektisch“ nicht im Sinne von „antidialektisch“. Vgl. Heitsch 1976, S. 56. Während in der A1 von 1844 das dialektische Moment überwiegt, dominiert in der A2 von 1862 die „metaphysische“ Herangehensweise. Erpenbeck/Hörz 1977, S. 133. A1, S. 27. A1, S. 28. Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 7. Vgl. A1, S. 28.
95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110
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Anmerkungen zum 4. Kapitel
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127 Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 7. 128 Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 3. 129 Vgl. auch die detaillierte Untersuchung von Radu 2000, S. 173ff. Sehr nahe kommen dem auch Birjukova/Birjukov 1997. 130 Er steht damit im positiven Gegensatz zum „Fürst der Mathematik“ Gauß, der fast nie einen Einblick in seinen wissenschaftlichen Schaffensprozeß gab. – Vgl. Wußing 1976, S. 64f. 131 A1, S. 30. 132 Vgl. Kants „Kritik der reinen Vernunft“ 1971, S. 744/745. 133 Näheres über die philosophischen Auffassungen Schleiermachers findet sich im Kapitel 2, Abschnitt 3. 134 A1, S. 30. 135 Vgl. A1, S. 30. 136 A1, S. 30. 137 Ebenda, S. 31. 138 Poincaré 1906, S. 25. 139 A1, S. 31. 140 Ebenda. 141 Ebenda. 142 Ebenda. 143 Ebenda, S. 32. 144 Vgl. hierzu u. a. die statistischen Analysen der publizistischen Aktivitäten der Anhängerschaft Graßmanns auf der einen und Hamiltons auf der anderen Seite in der zweiten Hälfte des 19. und zum Beginn des 20. Jhs. in: Crowe 1994, S. 109–149. 145 Vgl. Kapitel 4, Abschnitt 3. 146 Vgl. Kapitel 2, Abschnitt 2. 147 Vgl. ebenfalls Kapitel 2, Abschnitt 2. 148 Bei der Lauterkeit des Gemütes, das Hermann Graßmann Zeit seines Lebens an den Tag legte, erscheint mir ein solcher instrumenteller Umgang mit einem Lebenslauf zur Verbesserung der Chancen bei einer theologischen Prüfung nahezu undenkbar. 149 Den Hinweis auf Schweitzer fand ich bei Lewis 2004. Der ebenfalls bei Lewis zu findende Verweis auf eine intime Kenntnis Graßmannscher Denkweise bei Paul Carus der als Gymnasiast bei Graßmann in Stettin Unterricht hatte, ist nur bedingt gültig, da Carus noch in den 80er Jahren (Carus 1881) sich dezidiert gegen die mathematische Vorstellung n-dimensionaler Räume ausspricht: „Das ganze Unternehmen hat aber keinen anderen Werth, als daß faktische Unmöglichkeiten logisch richtig sein können. Es ist aus dem Bereich der Wissenschaft eine Parallele zu den Münchhauseniaden und bestätigt die unbestreitbare Thatsache, daß man Jemanden, der vorsichtig lügt, aus seinen Worten allein nicht widerlegen kann, da sich keine Widersprüche darin befinden.“ (Carus 1881, S. 54) Ganz anders dann 25 Jahre später (Carus 1908) bei seiner Grundlegung einer Philosophie der Geometrie, dort dann auch sehr lobend zu Graßmann. Bei Paul Carus verhält es sich wohl wie bei Victor Schlegel. Beide begeisterten sich für seine Ideen erst als sie nicht mehr in Stettin lebten. 150 Siehe auch R. Graßmann 1890b, S. 83. Ferner Kapitel 2, Abschnitt 2. 151 So schreibt Schleiermacher über Bartholdy an Gaß: „Von seinem Plan zum Seminarium hat er mir einiges in Berlin mitgetheilt, was mir besonders gefallen hat, und woraus ich zu meiner Freude ersehe, daß ich die Pestalozzische Idee und ihre eigentliche Geltung gerade ebenso aufgefaßt wie er. Hier soll nun auch ernstlich
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4 Das philosophische Konzept der Ausdehnungslehre von 1844 zur Combination des lutherischen und reformierten Gymnasiums geschritten werden.“ Brief von Schleiermacher an Gaß, Mai 1805. In: Schleiermacher 1852, S. 23. Brief von J. Chr. Gaß an Schleiermacher, 13. 07. 1805. In: Schleiermacher 1852, S. 25f. Vgl. Arndt 1986, S. XXIII. „Dankbar überschicke ich Dir durch Herrn H. das Heft der Dialektik zurück, mein Theurer Freund.“ Brief von J. Chr. Gaß an Schleiermacher, 31. 3. 1816. In: Schleiermacher 1852, S. 125f. Im Vorwort der Raumlehre für Volksschulen (1817) schreibt Justus Graßmann: „Ueber die Veranlassung und den nächsten Zweck dieser Schrift ist bereits in der Vorrede zu dem kürzlich herausgekommenen Bartholdyschen Versuch einer Sprachbildungslehre für Deutsche das Nöthige gesagt. Der Entwurf derselben verdankt seinen Ursprung einigen hier angelegten Armenschulen, deren Einrichtung und erste Begründung so wie die Vorbereitung der dabei anzustellenden Lehrer ich mit einigen bereits verstorbenen Freunden, insbesondere dem Schulrath Bartholdy, aus Liebe zur guten Sache freiwillig und unentgeltlich übernahm.“ (Graßmann 1817, S. III). Vgl. R. Graßmann 1891, S. 16f. Vgl. Veronese 1894, S. VIIff. Veronese 1894, S. 1–2. Vgl. auch Radu 2000, S. 166. A2, S. 10.
Chronologie zum Leben Hermann Graßmanns
1809
1814 1817 1820
1824 1827 1827 1827
1829 1830
1831 1831
1831
15. April: Hermann Günther Graßmann wird in Stettin geboren. Seit November 1806 ist die Festungsstadt durch Napoleonische Truppen besetzt. Hermann Graßmann besucht eine Privatschule und ab Quinta 7 1/2 Jahre das Stettiner Gymnasium. Von Justus Graßmann erscheint die „Raumlehre für Volksschulen, 1. Teil.“ (J. Graßmann 1817) im Druck. Herbst: Der Balladenkomponist Carl Loewe kommt nach Stettin und wohnt vorerst, für ein Jahr, im Hause der Graßmanns. Graßmanns Vater veröffentlicht die „Raumlehre für Volksschulen, 2. Teil.“ (J. Graßmann 1824). Die Programmschrift „Ueber den Begriff und Umfang der reinen Zahlenlehre“ (ZL) von Justus Graßmann erscheint. Möbius veröffentlicht seinen „Barycentrischen Calcul“ (Möbius 1827). 17. September: Hermann Graßmann legt die Reifeprüfung mit einem „Entlassungszeugnis No. 1“ ab. Anschließend nimmt er gemeinsam mit seinem Bruder Gustav ein dreijähriges Theologiestudium in Berlin auf. Es erscheint die „Physische Krystallonomie und geometrische Combinationslehre“ (KRY) von Justus Graßmann. Herbst: Hermann Graßmann beendigt sein Studium in Berlin und kehrt nach Stettin zurück. Bis Dezember 1831 beschäftigt er sich mit Mathematik, Physik, Mineralogie und Botanik. Ostern: Graßmann erhält eine der beiden freien Stellen am Stettiner Lehrerseminar. Dezember: Graßmann fertigt zur Selbstverständigung die Schrift: „Über die geometrische Analyse und über die Anwendung der Arithmetik und Algebra auf die Geometrie“ an. 17. Dezember: Erste Lehramtsprüfung Hermann Graßmanns.
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1833 1834 1835 1835
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Studien zur Botanik und zur Mathematik. Erste Anfänge der Vektoralgebra. Studium einer Vielzahl der „Dialoge“ des Platon. März bis Mai: Hermann Graßmann legt die erste theologische Prüfung ab. 29. September: Graßmann geht als Lehrer der Mathematik an die Berliner Gewerbeschule. Hermann Graßmann übernimmt die Korrektur des „Lehrbuches der Trigonometrie“ (J. Graßmann 1835) seines Vaters. Dezember: Graßmann löst sein Verhältnis zur Gewerbeschule und kehrt am 1. Januar 1836 nach Stettin zurück, wo er bis zu seinem Lebensende verbleibt. Graßmann nimmt seine Tätigkeit als Lehrer an der Ottoschule auf. 24. Mai: Hermann Graßmann wendet sich an das Stettiner Konsistorium um Zulassung zur zweiten theologischen Prüfung. 28. Februar: Gesuch Hermann Graßmanns an die Berliner Prüfungskommission um Zulassung zur Nachprüfung in Physik und Mathematik. 10. März: Hermann Graßmann erhält die Prüfungsaufgabe zum Thema „Ebbe und Flut“. Mai bis August: Ablegung der zweiten theologischen Prüfung. Schleiermachers „Dialektik“ (DIAL) wird aus dem Nachlaß herausgegeben. 20. April: Graßmann sendet die Prüfungsarbeit zur „Ebbe und Flut“ nach Berlin ab. Am 1. Mai legt er die mündliche Prüfung in Mathematik, Physik, Mineralogie und Chemie ab. Gemeinsam mit seinem Bruder Robert studiert Hermann Graßmann die „Dialektik“ (DIAL) Schleiermachers. Ostern: Hermann Graßmann wendet sich den Ideen der Prüfungsarbeit wieder zu und beginnt, Vorlesungen über die „Ausdehnungslehre“ im kleinen Kreis seiner Freunde zu halten. Ostern: Graßmann wechselt zur Friedrich-Wilhelmsschule über und erhält eine neugegründete Lehrerstelle. Herbst: Der erste Band der „Ausdehnungslehre“ (A1) liegt vollendet vor. 16. Oktober: Hamilton entdeckt die Quaternionen. Im gleichen Jahr erscheint in Deutschland Möbius’ „Mechanik des Himmels“ (Möbius 1887a). Graßmann besucht Möbius in Leipzig.
Chronologie zum Leben Hermann Graßmanns
1844 1845
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Graßmanns „Lineale Ausdehnungslehre“ (A1) erscheint im Druck. Hermann Graßmann veröffentlicht seine Abhandlung zur „Neue[n] Theorie der Elektrodynamik“ und gibt eine Selbstanzeige seiner Ausdehnungslehre (H. Graßmann 1845a, 1845b). Aus dem gleichen Jahr datiert sein erster Artikel zu einer „rein geometrischen Theorie der Kurven“ (H. Graßmann 1846), dem in den nächsten Jahren elf weitere folgen sollten. 2. Februar: Graßmann erfährt durch einen Brief von Möbius von der Ausschreibung einer Preisaufgabe zu Ehren des 200. Geburtstages Leibniz’. Graßmann studiert die „Ästhetik“ von Schleiermacher und im folgenden Jahr, gemeinsam mit seinem Bruder Robert, die Hegelsche Philosophie. Graßmann veröffentlicht gemeinsam mit Langbein, ein „Lesebuch für Schüler von acht bis zwölf Jahr“ (Graßmann/ Langbein 1868). 1. Juli: Graßmann erhält für seine „geometrische Analyse“ (PREIS) den zu Ehren Leibniz’ ausgestellten Preis zuerkannt. Dies ist die erste öffentliche Anerkennung der Ideen seiner Ausdehnungslehre. Herbst: Hermann Graßmann beginnt gemeinsam mit seinem Bruder an einer strengen Revision der bisherigen mathematischen Begriffe zu arbeiten. Mai: Graßmann bemüht sieh das erste Mal offiziell um eine mathematische Universitätsprofessur. Das Gutachten Kummers macht die Hoffnungen Graßmanns zunichte. Die „Hungerunruhen“ in Stettin führen Hermann und Robert Graßmann zur Beschäftigung mit der Tagespolitik. Gemeinsam studieren die Brüder Schleiermachers „Die Lehre vom Staat“ (1840) und Dahlmanns „Politik“ (1835). 18./19. März: Ausbruch der bürgerlichen Revolution in Deutschland. 1. April: Graßmann veröffentlicht seinen ersten politischen Artikel. 20. Mai bis 24. Juni: Hermann und Robert Graßmann geben die konservative „Deutsche Wochenschrift für Staat, Kirche und Volksleben“ (1848) heraus. Diese Zeitschrift wird am 1. Juli abgelöst durch die nunmehr täglich erscheinende „Norddeutsche Zeitung“ die die Brüder gemeinsam führen. August: Verlobung Hermann Graßmanns mit Marie Therese Knappe.
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1852
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1853 1853 1854
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12. April: Heirat Hermann Graßmanns. 27. September: Es erscheint der letzte Artikel Graßmanns in der „Norddeutschen Zeitung“. Im Februar 1850 scheidet er endgültig aus der Leitung der Zeitung aus, die sein Bruder allein weiterführt. Er nimmt seine Forschungen zur Mathematik und Physik wieder auf und beginnt mit dem Studium des Sanskrit. 9. März: Graßmanns Vater stirbt. Im Juli desselben Jahres wird er zum Nachfolger des Vaters am Stettiner Gymnasium bestimmt. Im darauffolgenden Monat erhält er den obligaten Professorentitel. 28. Oktober: Vortrag Graßmanns in der Stettiner Physikalischen Gesellschaft: „Über die neuesten Entdeckungen auf dem Gebiete der Farbenlehre“. Erstmals trägt er seine Farbengesetze vor. Im Dezember wird er als Nachfolger seines Vaters zum Vorsitzenden der Physikalischen Gesellschaft gewählt. Graßmann nimmt seinen Briefwechsel mit Möbius wieder auf. Er veröffentlicht einen Artikel zur Farbenlehre. Hamiltons „Lectures on Quaternions“ (Hamilton 1853) erscheinen, in denen Graßmann lobende Erwähnung findet. 5. Februar: Datierung der Graßmannschen Abhandlung „Sur les différents genres de multiplication“ (H. Graßmann 1855f), die zur Rechtfertigung von Prioritätsansprüchen gegen Cauchy verfaßt wurde. Im April richtet er aus dem gleichen Anliegen eine Prioritätsreklamation an die Pariser Akademie, die ohne Ergebnis bleibt. 10. Juni: Riemann hält seinen Habilitationsvortrag: „Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen“ (Riemann 1876a). 2. November: Graßmann referiert in der Physikalischen Gesellschaft über seine neue Vokaltheorie. bis 1856 Hermann und Robert Graßmann arbeiten gemeinsam an einer strengen Neubegründung der Zahlenlehre, der Ausdehnungslehre, der Logik und der Kombinationslehre. Es erscheinen fünf Abhandlungen Graßmanns zur Kurventheorie. Graßmann erhält in der Stettiner Freimaurerloge das Amt des Redners. Graßmann wird Mitglied des Vorstandes der Gesellschaft zur Evangelisierung Chinas. Ab Ostern 1858 redigiert er das Vereinsblatt „Mittheilungen aus China“ (1858–61). Graßmann veröffentlicht sein „Lehrbuch der Arithmetik“
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(LA). Im gleichen Jahr erscheint sein erster sprachwissenschaftlicher Artikel. „Die Ausdehnungslehre. Vollständig und in strenger Form bearbeitet“ (A2) wird gedruckt. 14. Januar: Hermann Graßmann bewirbt sich ein zweites Mal offiziell um eine Universitätsprofessur für Mathematik. Nachdem auch dieser Versuch ohne Erfolg bleibt, wendet er sich enttäuscht von der Mathematik ab und vertieft sich in das Studium des Sanskrit und des Rig-Veda. 4. September: Datierung des sprachwissenschaftlichen Artikels, in dem Graßmann sein Hauchdissimilationsgesetz entwickelt (H. Graßmann 1863). 6. Februar Graßmann wird auf Vorschlag Knoblauchs zum ordentlichen Mitglied der Naturforschenden Gesellschaft in Halle gewählt. Graßmanns Lehrbuch der Trigonometrie (H. Graßmann 1865) erscheint. 24. November: Beginn des Briefwechsels über Teilfragen der Ausdehnungslehre mit Hankel. Hankels Buch „Theorie der complexen Zahlensysteme“ (Hankel 1867) erscheint, in dem Graßmanns Werk gewürdigt wird. Für Graßmann scheint sich durch Vermittlung Grunerts eine erneute Möglichkeit für eine mathematische Professur zu ergeben. Sie zerschlägt sich jedoch bis zum März des nächsten Jahres. Januar: Klein stößt erstmals auf Graßmanns Werke durch Hankels Buch. Ostern: Graßmanns ältester Sohn nimmt ein Mathematikstudium in Göttingen auf. Er überbringt Clebsch und Stern je ein Exemplar des Hauptwerkes seines Vaters. Schlegel beginnt seine Arbeit am „System der Raumlehre. Nach den Prinzipien der Graßmannschen Ausdehnungslehre“ (Schlegel 1872a). Juli: Graßmann bespricht erstmals mit Fuess die Herstellung eines von ihm entworfenen Heliostaten, der 1872 fertiggestellt wird. Es erscheinen die „Deutsche[n] Pflanzennamen“ (H. Graßmann 1870) von Hermann Graßmann. 2. Februar: Clebsch richtet erstmals einen Brief an Graßmann. Herbst: Klein studiert Graßmanns Ausdehnungslehre im Hinblick auf die Erarbeitung seines „Erlanger Programms“
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Chronologie zum Leben Hermann Graßmanns
(Klein 1974). Er weist Lie auf die Behandlung des Pfaffschen Problems durch Graßmann hin. 1871 2. Dezember: Graßmann wird auf Veranlassung Clebschs zum Korrespondierenden Mitglied der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften gewählt. In der in der gleichen Sitzung von Clebsch gehaltenen Gedächtnisrede auf Plücker (Clebsch 1871) wird mehrfach auf die Verdienste Graßmanns hingewiesen. Durch diese Anerkennung bestätigt, wendet sich Graßmann wieder teilweise der Mathematik zu. 1872 Nach langer Unterbrechung erscheinen wieder die ersten mathematischen Abhandlungen Graßmanns. Im Dezember desselben Jahres schließt er seine Arbeiten zum Wörterbuch des Rig-Veda (H. Graßmann 1955) ab. Die redaktionelle Bearbeitung sollte sich noch bis 1875 hinziehen. 1872 Graßmann ist auf der Philologenversammlung in Leipzig. 1872 Spätherbst: Schlegels „System der Raumlehre“ (Schlegel 1872a) erscheint. 1872 Oktober/November: Lie besucht Graßmann in Stettin, um Auskunft über das Pfaffsche Problem einzuholen. 1872 7. November: Tod von Clebsch. 1874/75 Erste Vorboten der Erkrankung Graßmanns. 1875 August: Der Arzt stellt bei Graßmann einen Herzklappenfehler fest. 1876 11. März: Preyer besucht Graßmann in Stettin und diskutiert seine Theorie der Empfindungen. 1876 Graßmann wird zum Mitglied der American Oriental Society ernannt. Am 16. Juli erhält er auf Vorschlag Roths die Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen in Anerkennung seiner sprachwissenschaftlichen Arbeiten. 1877 Graßmann veröffentlicht und verfaßt noch eine Vielzahl mathematischer und physikalischer Arbeiten. 1877 27. August: Hermann Graßmann muß aus Krankheitsgründen den Unterricht aufgeben. 1877 26. September: Todestag Hermann Günther Graßmanns. 1878 Es erscheint seine letzte Schrift „Über den Abfall vom Glauben“ (H. Graßmann 1878). Gleichzeitig liegt die zweite Ausgabe seiner Ausdehnungslehre von 1844 im Druck vor. 1894 bis 1911 Erscheinen der Gesammelten Werke Graßmanns. Ein Verzeichnis aller Schriften Graßmanns befindet sich in (GW32).
Abkürzungen
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GW31
GW32
BIO
ENCYK
A1
Graßmann, H.: Gesammelte mathematische und physikalische Werke. Bd. 1.1. Herausgeg. von Fr. Engel unter Mitwirk. von E. Study. Leipzig 1894. (Reprint: New York 1969 u. 1972). Graßmann, H.: Gesammelte mathematische und physikalische Werke. Bd. 1.2. Herausgeg. von Fr. Engel unter Mitwirkung von H. Graßmann (d. J.). Leipzig 1896. (Reprint: New York 1972). Graßmann, H.: Gesammelte mathematische und physikalische Werke. Bd. 2.1. Herausgeg. von E. Study, G. Scheffers und Fr. Engel. Leipzig 1904. (Reprint: New York 1972). Graßmann, H.: Gesammelte mathematische und physikalische Werke. Bd. 2.2. Herausgeg. von J. Lüroth und Fr. Engel. Leipzig 1902. (Reprint: New York 1972). Graßmann, H.: Gesammelte mathematische und physikalische Werke. Bd. 3.1. Herausgeg. von J. Graßmann und Fr. Engel. Leipzig 1911. (Reprint: New York 1972). Graßmann, H.: Gesammelte mathematische und physikalische Werke. Bd. 3.2. Herausgeg. von Fr. Engel. Leipzig 1911. (Reprint: New York 1972). Engel, Fr.: Graßmanns Leben. Nebst einem Verzeichnisse der von Graßmann veröffentlichten Schriften und einer Übersicht des handschriftlichen Nachlasses. In: (GW32, S. 1–400). Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen. Bd. 1 bis 6. Herausgeg. im Auftrage der Akademien der Wissenschaften zu Göttingen, Leipzig, München und Wien sowie unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen. Leipzig 1898ff. Graßmann, H. (1844): Die Wissenschaft der extensiven Grösse oder die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische Disciplin. Erster Theil: Die lineale Ausdehnungslehre ein neuer Zweig der Mathematik, dargestellt und durch Anwendungen auf die übrigen Zweige der Mathematik, wie auch auf die Statik, Mechanik, die Lehre vom Magnetismus und die Krystallonomie erläutert. 1. Aufl. Leipzig 1844 (2. Aufl. Leipzig 1878) WA: GW11, S. 4–312.
288
Abkürzungen
A2
Graßmann, H. (1862): Die Ausdehnungslehre. Vollständig und in strenger Form begründet. Berlin 1862. WA: GW12, S. 1–383. Graßmann, H. (1861): Lehrbuch der Mathematik für höhere Lehranstalten. Teil 1: Arithmetik. Berlin. Schleiermacher, F. D. (1839): Dialektik. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse herausgeg. von L. Jonas. Berlin 1839. In: F. D. Schleiermacher. Sämmtliche Werke. 3. Abt.: Zur Philosophie. Bd. 4.2. Berlin. Graßmann, J. G. (1827): Ueber den Begriff und Umfang der reinen Zahlenlehre. Programmabhandlung des Stettiner Gymnasiums. Stettin. Graßmann, J. G. (1829): Zur physischen Krystallonomie und geometrischen Combinationslehre. Erstes Heft. Stettin. Graßmann, H. (1847): Geometrische Analyse geknüpft an die von Leibniz erfundene geometrische Charakteristik. Gekrönte Preisschrift. Leipzig 1847. WA: GW11, S. 321–398. Graßmann, H. (1840): Theorie der Ebbe und Flut. Prüfungsarbeit von 1840. In: GW31, S. 8–203.
LA DIAL
ZL
KRY PREIS
EBBE
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Quellenverzeichnis der Abbildungen
Abb. 2, 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7, 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19
Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22 Abb. 23 Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26
Abb. 27 Abb. 28 Abb. 29 Abb. 30 Abb. 31 Abb. 32 Abb. 33 Abb. 34
entnommen aus (Wehrmann 1911). entnommen aus (Löwe 1870). entnommen aus (Scheibert 1937). entnommen aus (G. L. Graßmann 1776). entnommen aus (Scheibert 1937). Titelseite aus (J. Graßmann 1817). Titelseite aus (J. Graßmann 1824). Bild der Berliner Universität um 1860. Mit freundlicher Genehmigung der Kustodie der Humboldt-Universität zu Berlin. Porträt von A. Boeckh mit freundlicher Genehmigung Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin (Porträtsammlung). entnommen aus (Schleiermacher 1910). entnommen aus (Steiner 1881). entnommen aus (Runze 1910). Titelseite aus GW11. entnommen aus (Guhrauer 1842). Titelseite aus (Graßmann 1847). aus: Festschrift zur Feier des 100. Geburtstages Eduard Kummers mit Briefen an seine Mutter und an Leopold Kronecker / hrsg. vom Vorstande der Berliner Mathematischen Gesellschaft. Leipzig/Berlin 1910. entnommen aus: Illustrated London News. Vol. 10, Nr. 263, 15. Mai 1847. entnommen aus (Dahlmann 1835). Titelseite aus (Dahlmann 1835). Kopie von (Graßmann 1848c). Kopie der Titelseite der Deutschen Wochenschrift für Staat, Kirche und Volksleben. 1848, Nr. 1 (20. 5. 1848). entnommen aus der Deutschen Wochenschrift für Staat, Kirche und Volksleben 1848, Nr. 5 (17. 6. 1848). erste Seite des von Graßmann ausgefüllten Personalbogens des Stettiner Provinzial-Schul-Collegiums vom 1. Juni 1866. Landesarchiv Greifswald. Rep. 62, Nr. 1050, S. 1. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung des Landesarchivs Greifswald. Den Hinweis auf diese Personalakte habe ich Schubring (1996c) entnommen, der die beiden ersten Seiten des Personalbogens Graßmanns auch erstmals veröffentlichte. Porträt von H. v. Helmholtz mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. entnommen aus (Wehrmann 1911). entnommen aus (Wehrmann 1894). entnommen aus (Runze 1910). Kopie des Handzettels „Geliebte Brüder in Christo!“ aus dem Jahre 1858. entnommen aus (Möbius 1885). entnommen aus (Kowalewski 1938). Porträt Hamiltons entnommen aus: Dublin University Magazine, Vol. XIX (1842), page 95.
314 Abb. 35 Abb. 36 Abb. 37 Abb. 38 Abb. 39 Abb. 40 Abb. 41 Abb. 42 Abb. 43
Abb. 44 Abb. 45 Abb. 46 Abb. 47
Quellenverzeichnis der Abbildungen Titelseite aus (Hamilton 1853). Titelseite aus (Graßmann 1861). Titelseite aus (Graßmann 1862). Tübinger Doktordiplom Hermann Graßmanns vom 18. Juli 1876. Aus (Reich 1995). Kopie mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Titelseite aus (Graßmann 1870). entnommen aus (Hankel 1874). mit freundlicher Genehmigung der universitären Kunstsammlung der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. entnommen aus (Zeitschrift für technische Physik. Bd. 7, 1926). aus der Chronik der Fachsektion Geschichte der Mathematik der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Dr. Peter Schreiber (Greifswald) und Herrn Prof. Dr. Michael v. Renteln (Karlsruhe). Auszug aus der ersten Seite von (J. Graßmann 1827). entnommen aus (Schleiermacher 1888). Porträt von H. Steffens mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. entnommen aus (GW11).
Personenregister
Alberti, Leon Battista (1404–1472), italienischer Renaissancekünstler, 184 Alembert, Jean-Baptiste le Rond de (1717–1783), französischer Mathematiker, Naturwissenschaftler und Philosoph, 174, 183 Ampère, André-Marie (1775–1836), französischer Physiker und Mathematiker, 45, 46 Apelt, Ernst Friedrich (1812–1850), Philosoph in Jena, XII, 43, 103, 104, 108 Apollonius von Perge (etwa 262–190 v. u. Z.), griechischer Mathematiker und Geometer, 235 Argand, Jean Robert (1768–1822), schweizerischer Mathematiker, 183, 190 Aristoteles (384–322 v. u. Z.), griechischer Philosoph der Antike, 8, 150 Arndt, Ernst Moritz (1769–1860), patriotischer Publizist und Schriftsteller, 6, 140, 148, 159, 161, 272, 280, 292 Arnim, Ludwig Achim von (1781–1831), romantischer Poet, Physiker und Naturphilosoph, 12 Baltzer, Richard (1818–1887), Mathematiker in Gießen, XII, 43, 97, 104, 108, 304 Bartholdy, Georg Wilhelm (1765–1815), Stettiner Schulrat, 3, 13, 14, 109, 111, 114, 174, 272, 279, 280, 289 Bassermann, Friedrich Daniel (1811–1855), gemäßigter liberaler Politiker, 60 Basso, Giuseppe (1842–1895), mathematischer Physiker in Turin, 241 Baumgarten, Sigmund Jakob (1706–1757), Theologe und Philosoph in Halle, 10 Bell, Erik Temple (1883–1960), amerikanischer Mathematiker und Mathematikhistoriker, 111, 112, 238, 246, 276, 289 Bellavitis, Giusto (1803–1880), italienischer Mathematiker, 70, 110, 190, 236, 289 Beltrami, Eugenio (1835–1900), italienischer Mathematiker und Physiker, 184 Bernoulli, Jacob I. (1655–1705), schweizerischer Mathematiker und Physiker in Basel, 175 Bethmann-Hollweg, Theobald von (1856–1921), konservativer Politiker, 1909/17 Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident, 89, 112 Binet, Jacques Philippe Marie (1786–1856), französischer Mathematiker und Astronom, 83 Biot, Jean Baptiste (1774–1862), französischer Physiker, 46, 132 Bleek, Friedrich (1793–1880), Theologe in Bonn, 132 Boeckh, August (1785–1867), klassischer Philologe in Berlin, 21, 23, 24, 313 Bolyai, Janos (1802–1860), Mathematiker, Mitbegründer der nichteuklidischen Geometrie, 184, 214 Bolzano, Bernard (1781–1848), tschechischer Philosoph und Mathematiker, 228, 251, 257
316
Personenregister
Boole, Georges (1815–1864), englischer Mathematiker, 186, 227, 228, 257 Bopp, Franz (1791–1867), Begründer der vergleichend-historischen Grammatik der indo-europäischen Sprachen, 75, 290 Bourbaki, Nicolas; Pseudonym einer französischen Mathematikerschule, 228, 233, 234, 239–241, 277, 290 Bowditch, Nathaniel (1773–1838), englischer Mathematiker, 188 Brandis, Christian August (1790–1867), Philosophiehistoriker in Berlin und Bonn, 132, 308 Brentano, Clemens (1778–1842), romantischer Dichter, 6 Brianchon, Charles Julien (1783–1864), französischer Mathematiker in Paris, 184 Brinckmann, Karl Gustav von (1764–1847), schwedischer Diplomat in Preußen, Frankreich und England, 151, 157–161, 178, 179 Brockhaus, Friedrich Arnold (1772–1823), Verleger, 91 Brouwer, Luitzen Egbertus Jan (1881–1966), niederländischer Mathematiker, 255 Bülow, Hans Adolf Karl Graf von (1807–1858), preußischer Politiker, 148 Bunsen, Robert (1811–1899), Chemiker in Heidelberg, 71 Burali-Forti, Cesare (1861–1931), italienischer Mathematiker, 241, 290 Cantor, Georg (1845–1918), Mathematiker, Begründer der Mengenlehre, 228, 251, 257 Cantor, Moritz (1829–1920), Mathematikhistoriker, XII, 43, 104, 108, 111, 116, 174, 290 Carnot, Lazare Nicolas Marguerite (1753–1823), französischer Mathematiker, Schüler von Monge, 184 Cartan, Élie (1869–1951), französischer Mathematiker, XV, 234, 241, 290 Carus, Paul (1852–1919), deutsch-amerikanischer Philosoph, Schüler am Stettiner Gymnasium, 279, 290, 304 Catel, Samuel Heinrich (1758–1838), Redakteur der VossischenZeitung, 177 Cauchy, Augustin-Louis (1789–1857), französischer Mathematiker, 41, 69, 81–83, 111, 132, 284, 304 Cayley, Arthur (1821–1895), englischer Mathematiker, 183, 186, 188, 205, 228, 231, 235, 241 Chasles, Michel (1793–1880), französischer Mathematiker, 185, 205, 209, 228 Clausius, Rudolf Justus Emanuel (1822–1888), Physiker in Zürich, Würzburg und Bonn, 8, 45, 108 Clebsch, Alfred (1833–1872), Mathematiker und Physiker in Karlsruhe, Gießen und Göttingen, XII, 97, 99–101, 112, 181, 193, 204, 235–237, 285, 286, 290, 291, 310 Clifford, William Kingdon (1845–1879), englischer Mathematiker in Cambridge und London, 241 Conrad, Carl Ludwig (1796–1861), Gymnasiallehrer für Mathematik und Französisch in Berlin, 38–40, 107, 192 Couturat, Louis (1868–1914), französischer Mathematiker und Logiker, 239, 291, 302 Crelle, August Leopold (1780–1855), deutscher Mathematiker, 47, 82 Cremona, Luigi (1830–1903), italienischer Mathematiker, 210, 238, 291
Personenregister
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Dahlmann, Friedrich Christoph (1785–1860), liberaler Politiker, Staatsrechtslehrer und Historiker, 55–57, 109, 139, 283, 291, 307, 313 Dedekind, Richard (1831–1916), Mathematiker in Berlin, 97, 229, 240, 307 Desargues, Gérard (1593–1661), französischer Mathematiker, 184 Descartes, René (1596–1650), französischer Philosoph, Mathematiker und Physiker, XX, 182, 186, 213, 244, 246, 247, 267 Diesterweg, Friedrich Adolf Wilhelm (1790–1866), fortschrittlicher Pädagoge und Schulpolitiker, 14, 115, 174, 291 Dohna-Schlobitten, Alexander Graf von (1771–1831), preußischer Innenminister, 147, 178 Dove, Heinrich Wilhelm (1803–1879), Physiker und Meteorologe in Königsberg und Berlin, 132 Drobisch, Moritz Wilhelm (1802–1896), Mathematiker und Philosoph in Leipzig, 43, 48–50, 109, 227 Droysen, Johann Gustav (1808–1884), konservativer Historiker, 57, 109, 291 Dürer, Albrecht (1471–1528), Maler und Graphiker in Nürnberg, 184 Dyck, Walther von (1856–1934), deutscher Mathematiker, XV, 231, 240, 291 Eichhorn, Johann Albrecht Friedrich (1779–1856), preußischer Staatsmann, Kultusminister, 39, 51, 53, 107, 109, 276 Einstein, Albert (1879–1955), Physiker, Begründer der Relativitätstheorie, 234, 277, 291 Engel, Friedrich (1861–1941), Mathematiker in Leipzig, Biograph H. Graßmanns, XII, XVI, 21, 30, 32, 38, 41, 68, 83, 99, 105–107, 110, 111, 176, 182, 195, 230, 235, 237–240, 287, 292, 296 Engels, Friedrich (1820–1895), Mitbegründer des Marxismus, XVI, 3, 5, 57, 64, 104, 109, 110, 140, 146, 164, 177, 179, 277, 292, 299, 303 Enriques, Federigo (1871–1946), italienischer Geometer, Philosoph und Mathematikhistoriker, 237, 262, 263, 278, 292 Enslin, Theodor Christian Friedrich (1787–1851), Berliner Verleger und Buchhändler, 88 Euklid (um 300 v. u. Z.), griechischer Mathematiker, 182, 183, 185, 201, 267 Euler, Leonhard (1707–1783), schweizerischer Mathematiker, Physiker und Astronom, 16, 182, 188 Faraday, Michael (1791–1867), englischer Physiker, 71, 144 Fechner, Gustav Theodor (1801–1887), Physiker und Physiologe in Leipzig, 48 Fermat, Pierre de (1601–1665), französischer Mathematiker, 182 Feuerbach, Ludwig (1804–1872), Philosoph, 169, 293 Fichte, Immanuel Hermann (1797–1879), Philosoph in Bonn und Tübingen, 132 Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814), Philosoph in Jena, Erlangen und Berlin, 8, 21, 148, 151, 153–157, 159, 163–165, 174 Fischer, Ernst Gottfried (1754–1831), Physiker und Mathematiker, 29, 293 Foucault, Jean Bernard Léon (1819–1868), französischer Physiker, 71 Fraenkel, Abraham (1891–1965), Mathematiker in Marburg, Kiel und Jerusalem, 241
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Personenregister
Francesca, Piero della (1410 ?–1492), italienischer Maler, 184 Francke, August Hermann (1663–1727), evangelischer Theologe und Pädagoge, 10 Francoeur, Louis (1773–1849), französischer Mathematiker, 132 Frege, Gottlob (1848–1925), Mathematiker und Logiker, 228 Friedrich II. (1712–1786), preußischer König von 1740 bis 1786, 1, 3 Friedrich Wilhelm I. (1688–1740), preußischer König (sog. Soldatenkönig), von 1713–1740, 1 Friedrich Wilhelm III. (1770–1840), preußischer König von 1797–1840, 55, 160 Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861), preußischer König von 1840–1857, 8, 55, 62 Fries, Jakob Friedrich (1773–1843), Philosoph und Mathematiker in Heidelberg, 135, 174, 269, 293 Fuchs, Emil (1874–1971), evangelischer Theologe in Leipzig, 155, 178, 293 Fuchs, Immanuel Lazarus (1833–1902), Mathematiker in Heidelberg und Berlin, 97 Fuess, Rudolf (1838–1917), Instrumentenbauer in Berlin, 74 Galilei, Galileo (1564–1642), italienischer Naturforscher, 142, 235 Galois, Evariste (1811–1832), französischer Mathematiker, 228 Gaß, Joachim Christian (1766–1831), Prediger in Stettin und Berlin, ab 1810 Theologe in Breslau, 272, 279, 280, 308 Gauß, Carl Friedrich (1777–1855), Mathematiker, Astronom, Geodät und Physiker in Göttingen, XII, 44, 45, 103, 108, 183, 184, 190, 192, 196, 235, 279, 311 Gergonne, Joseph Diaz (1771–1859), französischer Mathematiker in Montpellier, 185 Gibbs, Josiah Willard (1839–1903), amerikanischer Mathematiker, XV, 40, 233, 241, 293 Giesebrecht, Heinrich Ludwig Theodor (1792–1873), Pädagoge, Dichter und Historiker in Stettin, 7, 9 Gilbert, Ludwig Wilhelm (1769–1824), Mathematiker und Physiker in Halle und Leipzig, 12 Gneisenau, August Wilhelm Anton Graf Neithardt von (1760–1831), General und Militärtheoretiker, 148 Görres, Joseph von (1776–1848), Historiker und bürgerlich-liberaler Politiker, 65 Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832), Dichter, auch Naturforscher, 154 Goldfuß, Georg August (1782–1848), Zoologe, Mineraloge und Paläontologe in Bonn, 29 Grabow, Wilhelm (1802–1874), preußischer Politiker, Präsident der preußischen Nationalversammlung, 60 Graßmann, Adelheid (1812–1861), Schwester H. Graßmanns, 16 Graßmann, Agnes Klara (1855–1925), Tochter von H. Graßmann, 68 Graßmann, Alwine Marie (1810–1834), Schwester H. Graßmanns, 16, 131 Graßmann, Emma Dorothea Johanna (1850–1923), Tochter von H. Graßmann, 68 Graßmann, Emma Friederike Therese (1817–1867), Schwester H. Graßmanns, 16 Graßmann, Friedrich Heinrich Gotthilf (1784–1866), Onkel H. Graßmanns, Schulrat, 131 Graßmann, Gottfried Ludolf (1738–1798), Großvater H. Graßmanns, 9–12, 293, 302
Personenregister
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Graßmann, Heinrich August Friedrich (1824–1855), Bruder H. Graßmanns, 16 Graßmann, Hermann Ernst (1857–1922), Sohn von H. Graßmann, 68 Graßmann, Johanna Elise (1827–1861), Schwester H. Graßmanns, 16 Graßmann, Johanna Friederike (geb. Medenwaldt), (1785–1841), Mutter H. Graßmanns, 13, 16 Graßmann, Justus Gotthold Oswald (1818–1893), Bruder H. Graßmanns, 16, 78 Graßmann, Justus Günther (1779–1852), Vater H. Graßmanns, VII, XVII, 3, 7, 8, 12–16, 105, 108, 113, 115–118, 120, 122, 123, 126–130, 136, 137, 143, 147, 174, 188, 221, 222, 239, 255, 256, 261, 269, 272, 273, 276, 278, 280, 281, 290, 300, 306, 307, 309 Graßmann, Karl Friedrich Eduard (1820–1847), Bruder H. Graßmanns, 16 Graßmann, Karl Gustav (1807–1841), Bruder H. Graßmanns, 16, 20, 281 Graßmann, Karl Justus (1851–1909), Sohn von H. Graßmann, 68, 99, 106, 236 Graßmann, Karl Richard (1864–?), Sohn von H. Graßmann, 68 Graßmann, Klara Marie Therese (1866–1881), Tochter von H. Graßmann, 68 Graßmann, Konrad Günther (1867–1877), Sohn von H. Graßmann, 68 Graßmann, Ludolf Edmund (1861–?), Sohn von H. Graßmann, 68 Graßmann, Luise (1858–1859), Tochter von H. Graßmann, 68 Graßmann, Luise Mathilde (1805–1807), Schwester H. Graßmanns, 16 Graßmann, Marie Therese (geb. Knappe), (1824–1889), Frau H. Graßmanns, 67, 68, 283 Graßmann, Max Siegfried (1852–1917), Sohn H. Graßmanns, 68 Graßmann, Robert Helmuth (1854–1856), Sohn von H. Graßmann, 68 Graßmann, Siegfried Robert Ludolph (1815–1901), Bruder H. Graßmanns, VII, XVIII, 11, 16, 22, 28, 32, 35, 42, 51, 55, 60, 61, 86, 89, 92, 105–107, 112, 118, 130–143, 145–147, 169, 172, 173, 175–177, 219, 224, 227, 257, 259, 269, 270, 273, 282–284, 289, 305, 306, 309 Graßmann, Sophie (1830–1834), Schwester H. Graßmanns, 16 Grimm, Jacob (1785–1863), Sprachwissenschaftler, Erforscher der Volksdichtung, 6, 130 Grimm, Wilhelm (1786–1859), Sprachwissenschaftler, Sagen- und Märchensammler und -forscher, 6, 130 Grunert, Johann August (1797–1872), Mathematiker in Greifswald, XII, 44, 45, 89, 96–98, 100, 104, 108, 112, 132, 285 Grunow, Eleonore – Geliebte Schleiermachers, 156, 178 Hamilton, Sir William Rowan (1805–1865), irischer Mathematiker und Physiker, XV, 17, 84–86, 94, 96, 111, 183, 187, 190, 191, 194, 219, 227, 228, 230–233, 241, 246, 279, 282, 284, 296, 298, 299, 314 Hankel, Hermann (1839–1873), Mathematiker in Leipzig, Erlangen und Tübingen, XII, XV, 90, 94–97, 99, 112, 200, 219, 227–232, 234, 238, 240, 265, 285, 298, 299, 312, 314 Heaviside, Oliver (1850–1925), englischer Physiker, 233, 299 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831), Philosoph in Jena, Heidelberg und Berlin, 8, 22, 24, 119, 134, 135, 142, 152, 161, 164, 170, 177, 249, 253, 277, 283, 303
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Personenregister
Heine, Heinrich (1797–1856), Dichter und satirischer Publizist, 65, 110, 299 Helmholtz, Hermann von (1821–1894), Physiologe und Physiker, 71–74, 110, 144, 184, 198, 214, 224, 229, 235, 237, 239, 299, 302, 310, 313 Helvetius, Claude-Adrien (1715–1771), französischer Aufklärungsphilosoph, 156 Hengstenberg, Ernst Wilhelm (1802–1869), Theologe in Berlin, Orthodoxen Lutheraner, 21–23, 106 Herbart, Johann Friedrich (1776–1841), Philosoph und Pädagoge in Königsberg und Göttingen, 96, 196, 262, 263, 269, 278, 299 Herder, Johann Gottfried von (1744–1803), Geschichts- und Religionsphilosoph, Schriftsteller, 151, 154, 164 Hering, Hermann (?–1886), Pädagoge am Stettiner Gymnasium, 8 Hertzberg, Ewald Friedrich Graf von (1725–1795), preußischer Minister, 8 Herz, Henriette (1764–1847), Mittelpunkt der Berliner Literarischen Kreise, 148, 156, 161, 178, 179 Herz, Markus (1747–1803), Arzt und Philosoph in Berlin, 148 Heß, Christian (1803–1874), Rektor der Stettiner Ottoschule, 16, 35, 92 Hilbert, David (1862–1943), Mathematiker in Königsberg und Göttingen, 201, 231, 235, 240, 300, 306 Hindenburg, Karl Friedrich (1741–1808), Mathematiker, 105, 117 Hölder, Ludwig Otto (1859–1937), Mathematiker in Tübingen und Leipzig, 229, 300, 306 Hohenzollern, Dynastie brandenburgischer Kurfürsten (1415–1701), preußischer Könige (1701–1918), und deutscher Kaiser (1871–1918), 5, 8 Humboldt, Alexander von (1769–1859), Naturforscher universeller Bildung, 24, 130, 161, 172 Humboldt, Wilhelm von (1767–1835), preußischer Staatsmann, Staats- und Kunsttheoretiker, Sprachwissenschaftler, 13, 21, 130, 148, 149, 159–161, 172, 174 Huygens, Christian (1629–1695), niederländischer Physiker und Mathematiker, 48, 213 Jacobi, Carl Gustav Jakob (1804–1851), Mathematiker in Berlin und Königsberg, 219 Jahn, Friedrich Ludwig (1778–1852), Begründer der deutschen Turn- und Sportbewegung, 24 Jean Paul (eigtl. Jean Paul Friedrich Richter), (1763–1825), Schriftsteller, 148 Jonas, Ludwig (1797–1859), Theologe und Politiker, 79, 162, 270, 288, 308 Jonquières, Ernest de (1820–1901), französischer Mathematiker, 209 Jordan, Camille (1838–1922), französischer Mathematiker in Paris, 187, 239 Jungklaß – Pädagoge in Stettin, 176 Kameke, Georg von (1816–1893), preußischer General, 176 Kant, Immanuel (1724–1804), deutscher Philosoph in Königsberg, XI, XVII, XIX, XXII, 8, 114, 116, 118, 119, 121, 123, 150, 152, 156, 163–166, 168, 173–175, 179, 183, 243, 244, 254–259, 262–264, 267, 269, 272, 277–279, 300, 302, 310 Kathen, Charlotte von; Schwester Schleiermachers, 179
Personenregister
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Kepler, Johannes (1571–1630), Astronom und Mathematiker, 142, 235 Klein, Felix (1849–1925), Mathematiker in Erlangen, München, Leipzig und Göttingen, XII, XV, XX, 47, 99–101, 104, 108, 181, 183, 184, 187, 191, 209–211, 220, 224, 230, 231, 235–241, 285, 301, 304 Kleist, Heinrich von (1777–1811), Dichter der Aufklärung, 6 Klöden, Karl Friedrich von (1786–1856), Pädagoge, Direktor der Gewerbeschule in Berlin, 106, 107 Klopstock, Friedrich Gottlieb (1724–1803), Dichter der Aufklärung, 18 Klügel, Georg Simon (1739–1812), Mathematiker, 12, 105, 301 Knappe, Marie Therese. Siehe Graßmann, Marie Therese, 67, 68, 283 Knoblauch, Karl Hermann (1820–1895), Physiker in Bonn, Marburg und Halle, 71, 110, 285 Koch, Friedrich (?–1849), Pädagoge in Stettin, 3 Köller, von – Beamter in Pommern, 8 Königsberger, Leo (1837–1921), Mathematiker, 97 Körner, Theodor (1791–1813), Dichter, 6 Kotzebue, August von (1761–1819), Bühnenschriftsteller, 149, 161 Kronecker, Leopold (1823–1891), Mathematiker in Berlin, 227, 313 Krug, Wilhelm Traugott (1770–1842), deutscher Philosoph, XI Kuhn, Franz Felix Adalbert (1812–1881), Sprachwissenschaftler in Berlin, 76 Kummer, Ernst Eduard (1810–1893), Mathematiker in Breslau und Berlin, 51, 52, 109, 175, 283, 313 Kuntze, Friedrich (1881–1929), Philosoph in Berlin, 144, 177, 301, 302, 310 Lacroix, Sylvestre Francois (1765–1843), französischer Mathematiker in Paris, 40, 132 Lagrange, Joseph-Louis (1736–1813), französischer Mathematiker, 40, 41, 132, 183, 246, 247, 302 Lamé, Gabriel (1795–1870), französischer Mathematiker, 83, 185 Lambert, Johann Heinrich (1728–1777), Mathematiker, Physiker, Astronom und Philosoph, 184 Langbein, Friedrich Wilhelm Alexander (1819–1889), Pädagoge und pädagogischer Schriftsteller in Stettin, 51, 283, 296, 305 Laplace, Pierre-Simon (1749–1827), französischer Mathematiker und Astronom, 38, 40, 188, 247, 302 Legendre, Adrien-Marie (1752–1833), französischer Mathematiker, 29, 184, 302 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716), Philosoph, Historiker und Diplomat, Vorläufer der mathematischen Logik, XVII, XX, XXII, 48, 49, 88, 105, 114, 116, 117, 130, 136, 143, 150, 175, 182, 183, 190, 210, 212–215, 235, 238, 243, 246, 269, 275, 283, 288, 291, 294, 300, 302, 304, 312 Leonardo da Vinci (1452–1519), italienischer Maler, Bildhauer, Baumeister, Mathematiker, Schriftsteller und Forscher, 184 Leskien, Johann August Heinrich (1840–1916), Sprachwissenschaftler in Leipzig, 43, 108, 111 Levetzow, Albert Erdmann Karl Gerhard von (1827–1903), erster Präsident des deutschen Reichstags, 8
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Personenregister
Lie, Sophus (1842–1899), norwegischer Mathematiker in Kristiania (Oslo), und Leipzig, 39, 101, 183, 184, 187, 214, 230, 235, 286, 303 Lobaˇcevskij, Nikolaj Ivanoviˇc (1792–1856), russischer Mathematiker, 184, 214, 228, 259 Loewe, Carl (1796–1869), bedeutender Balladenkomponist in Stettin, 7–9, 15, 20, 104, 281, 303, 307, 313 Lorenzen, Paul (1915–1994), Mathematiker und Logiker in Erlangen, 122, 175, 256, 303 Lotze, Alfred (1882–1964), – Mathematiker in Stuttgart, 238, 241, 303 Lucian (etwa 120–180), griechischer satirischer Schriftsteller, 150 Lüroth, Jacob (1844–1910), Mathematiker in Karlsruhe, München und Freiburg, 241, 287, 296 Magnus, Heinrich Gustav (1802–1870), Physiker in Berlin, 41 Manteuffel, Otto Theodor Freiherr von (1805–1882), preußischer Staatsmann, 60 Marheinecke, Philipp Konrad (1780–1846), Dogmatiker und Kirchenhistoriker in Berlin, 21–23 Markov, Andrej Andreeviˇc (1856–1922), russischer Mathematiker in St. Petersburg, 256 Marx, Karl (1818–1883), Philosoph, Ökonom, Führer der internationalen Arbeiterbewegung, 14, 57, 65, 105, 109, 110, 155, 292, 293, 303 Maxwell, James Clerk (1831–1879), schottischer Physiker, 47, 73, 233, 303, 310 Mendel, David. Siehe Neander, 22 Meyer, Johann Tobias (1752–1830), Mathematiker in Göttingen, 30, 304 Miller, William Hallowes (1801–1880), englischer Mineraloge, 127 Mirabeau, Honoré-Gabriel-Victor Riqueti Coste de (1749–1791), französischer Politiker, 148 Möbius, August Ferdinand (1790–1863), Mathematiker und Astronom in Leipzig, XI, XIX, 30, 37, 41, 43, 47, 48, 50, 58, 69, 72, 79–82, 96, 103, 104, 107–111, 182, 185–192, 200–202, 204, 209, 210, 219, 227, 228, 230, 238, 247, 248, 276, 281–284, 304, 313 Moigno, L’Abbé Francois Napoléon Marie (1804–1884), französischer Jesuit und Mathematiker, 41, 304 Monge, Gaspard (1746–1818), französischer Mathematiker, 184, 235, 304 Montaigne, Michel de (1533–1592), französischer Moralphilosoph, Schriftsteller, Jurist und Politiker, 150 Morgan, Augustus de (1806–1871), französischer Mathematiker, 84, 111 Müller, Adam Heinrich (1779–1829), Staatstheoretiker, 65 Münchow, Carl Dietrich von (1778–1836), Astronom und Mathematiker in Jena und Bonn, 132 Napoleon I., Bonaparte (1769–1821), Kaiser der Franzosen von 1804 bis 1814 und 1815, 148, 158, 160 Natorp, Paul (1854–1924), Philosoph und Pädagoge, 241, 305 Neander, August Wilhelm – ursprünglicher Name war David Mendel (1789–1850), Kirchenhistoriker und Theologe in Berlin, 21, 22, 106, 131, 132
Personenregister
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Newton, Isaac (1643–1727), englischer Physiker, Mathematiker und Astronom, 46, 71, 72, 142, 143, 182, 311 Nietzsche, Friedrich Wilhelm (1844–1900), Philosoph und Schriftsteller, 169 Nitzsch, Karl Immanuel (1787–1868), Theologe in Bonn und Berlin, 132 Nüscke, Albert Emil (1817–1891), Stettiner Schiffbaumeister und Werftbesitzer, 5, 289 Ohm, Martin (1792–1892), Mathematiker in Berlin, 37, 41, 140, 177, 305 Oken, eigentlich Lorenz Ockenfuß (1779–1851), Naturforscher und Philosoph, 65 Oresme, Nicole (um 1320–1382), französischer Mathematiker und Theologe in Paris, 235 Ostwald, Wilhelm (1853–1932), bedeutender deutscher Physikochemiker, 74, 307 Pappos von Alexandria (um 320 u. Z.), griechischer Mathematiker, 184 Pascal, Blaise (1623–1662), französischer Mathematiker, Physiker. Schriftsteller und Philosoph, 175, 184 Pasch, Moritz (1843–1930), Mathematiker in Gießen, 235 Peano, Giuseppe (1858–1932), italienischer Mathematiker in Torino, XV, 181, 228–230, 233, 240, 241, 301, 305 Peirce, Benjamin (1809–1880), amerikanischer Mathematiker und Astronom, 228 Pestalozzi, Johann Heinrich (1746–1827), humanistischer Pädagoge, XVII, 14, 24, 115–117, 174, 187, 243, 304, 308, 310 Pfaff, Johann Friedrich (1765–1825), Mathematiker in Helmstedt und Halle, 101, 219, 234, 286, 290 Platon (427–347 v. u. Z.), griechischer Philosoph, XIX, 8, 31, 150, 156, 164, 167, 173, 282, 304 Plücker, Julius (1801–1868), Mathematiker und Physiker in Bonn, 100, 182, 185, 187, 204, 205, 228, 286 Poggendorff, Johann Christian (1796–1877), Physiker und Biograph, 15, 45, 71, 294, 295, 299, 306 Poincaré, Henri (1854–1912), französischer Mathematiker, theoretischer Physiker und Astronom, 176, 235, 247, 268, 276, 279, 306, 309 Poncelet, Jean Victor (1788–1867), französischer Ingenieur und Physiker in Metz und Paris, 41, 184–186, 306 Preyer, William Thierry (1841–1897), Psychologe und Physiologe, 286, 296, 298, 306 Prutz, Robert Eduard (1816–1872), demokratischer Schriftsteller und Literaturhistoriker, 8, 9 Raumer, Friedrich Ludwig Georg von (1781–1873), Historiker in Berlin, 21, 24, 106 Raumer, Karl Otto von (1805–1859), preußischer Kulturminister, Vertreter der Reaktion, 8 Reimer, Georg Andreas (1776–1842), Verleger in Berlin, 32, 161, 179 Reye, Karl Theodor (1838–1919), Mathematiker, 102, 306 Riemann, Bernhard (1826–1866), Mathematiker in Göttingen, XV, 43, 94, 96, 184, 196, 198, 227, 228, 235, 237, 262, 263, 278, 284, 306, 307, 309
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Personenregister
Ritter, Heinrich Julius (1791–1869), Philosophiehistoriker in Berlin, 21, 24, 106 Roth, Rudolf (1821–1895), Sanskritforscher in Tübingen, 91, 286 Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778), französischer Schriftsteller, Pädagoge und Aufklärungsphilosoph, 148, 150, 151 Saccheri, Girolamo (1667–1733), italienischer Mathematiker, 183 Sack, Johann August (1764–1831), preußischer Staatsmann, 3, 178 Saint-Venant, Adhémar Jean Claude Barré de (1797–1886), französischer Mathematiker, 69, 81–83, 106, 111, 244 Savart, Felix (1791–1841), französischer Physiker, 46 Scharnhorst, Gerhard Johann David von (1755–1813), preußischer General, 148 Scheffers, Georg (1866–1945), Mathematiker in Leipzig, 108, 238, 287, 296 Scheibert, Carl Gottfried (1803–1878), Rektor der Stettiner FriedrichWilhelmsschule, 8, 14–16, 41, 58, 105, 110, 137, 176, 177, 222, 263, 278, 304, 307, 309 Schelling, Friedrich Josef Wilhelm (1775–1854), Philosoph in Jena, München, Erlangen und Berlin, XIX, XXII, 117, 156–158, 163, 164, 166, 167, 170, 171, 173, 179, 180, 269, 272, 302, 307 Schill, Ferdinand von (1776–1809), Major, Kommandeur eines Berliner Husarenregiments, 160 Schiller, Friedrich von (1781–1841), deutscher Dichter, 148, 297 Schläfli, Ludwig (1814–1895), schweizerischer Mathematiker in Bern, 183 Schlegel, August Wilhelm von (1767–1845), Kritiker, Ästhetiker und Sprachwissenschaftler, 148 Schlegel, Friedrich von (1772–1829), Schriftsteller und Kritiker, 148–150, 156, 299 Schlegel, Victor (1843–1905), Pädagoge und Mathematiker in Stettin und Waren, XVI, 42, 99, 101, 104, 108, 111, 224, 239, 279, 285, 286, 307, 308 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768–1834), Theologe und Philosoph in Halle und Berlin, VII, VIII, XVIII, XIX, XXII, 8, 13, 21, 22, 24–28, 34, 41, 42, 55, 57, 65, 106, 110, 114, 117, 130, 133, 135, 136, 138, 139, 142, 145–174, 177–180, 219, 220, 240, 243, 249, 251–253, 255, 256, 266, 267, 269–272, 277–280, 282, 283, 288, 289, 291, 293, 303, 306, 308, 309, 311, 313, 314 Schmalz, Theodor Anton Heinrich (1760–1831), Theologe in Berlin, 148 Schmid, Joseph (1785–1851), Pädagoge, enger Mitarbeiter Pestalozzis, XVII, 113, 115, 117, 174, 175, 187, 308 Schneider, Friedrich Wilhelm (1801–1879), Mathematiker in Berlin, 30, 309 Schopenhauer, Arthur (1788–1860), Philosoph in Berlin und Frankfurt a. M., 169 Schröder, Ernst (1841–1902), Mathematiker in Karlsruhe, 108, 228, 229, 231, 305, 309 Schwarz, Hermann Amandus (1843–1921), Mathematiker in Halle, Göttingen und Berlin, 97 Schweikart, Ferdinand Karl (1780–1859), Jurist und Mathematiker, 184 Schweitzer, Arthur Richard (1878–1957), amerikanischer Mathematiker, 269, 279, 309 Schwerin, Maximilian Graf von (1804–1872), preußischer Staatsmann, 8 Sell, Johann Jakob (1754–1816), Pädagoge und Historiker in Stettin, 3
Personenregister
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Severi, Francesco (1879–1961), italienischer Mathematiker in Parma, Padua und Rom, 231, 240 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Earl of (1671–1713), englischer Moralphilosoph, 150 Skolem, Thoralf M. A. (1887–1963), norwegischer Mathematiker in Oslo und Bergen, 255 Spinoza, Benedikt (1632–1677), holländischer Philosoph, XIX, 8, 150, 153, 156, 164, 173 Staudt, Christian von (1798–1867), Mathematiker in Würzburg, Nürnberg und Erlangen, 185, 310 Steffens, Henrik (1773–1845), norwegischer Philosoph und Naturforscher in Halle, Breslau und Berlin, 65, 117, 148, 158, 163, 272, 292, 314 Stein, Karl Reichsfreiherr vom und zum (1757–1831), preußischer Staatsmann, 3, 21, 148, 149, 159 Steiner, Jakob (1796–1863), schweizerischer Geometer in Berlin, 31–33, 39, 41, 107, 185, 188, 191, 310, 313 Steinitz, Ernst (1871–1928), Mathematiker in Breslau, 197 Stern, Moritz Abraham (1807–1894), Mathematiker in Göttingen, 99, 100, 230, 285 Stiedenroth, Ernst (1794–1858), Philosoph in Greifswald, 132 Strauß, David Friedrich (1808–1874), Philosoph und Publizist, Religionskritiker, 22, 164, 169 Strauß, Gerhard Abraham (1786–1863), Theologe in Berlin, 21, 22, 106 Stubenrauch, Samuel Ernst Timotheus (1738–1807), Theologe, 147 Suffrian, Ludwig Eduard (1805–1886), Mathematiker und Pädagoge, 58 Sylvester, James Joseph (1814–1897), englischer Mathematiker in Woolwich, Baltimore, Oxford, 186 Taurinus, Franz Adolf (1794–1874), Jurist und Mathematiker in Köln, 184 Tilly, Joseph de (1837–1906), Mathematiker, 214 Torricelli, Evangelista (1608–1647), italienischer Physiker und Mathematiker, 235 Treviranus, Ludolph Christian (1779–1864), Botaniker in Rostock, Breslau und Bonn, 132 Twesten, August Detlev Christian (1789–1876), Theologe in Berlin, 173, 299 Vandermonde, Alexandre Théophile (1735–1796), französischer Mathematiker, 39 Vega, Georg Freiherr von (1754–1802), österreichischer Militär und Mathematiker, 29, 311 Veronese, Giuseppe (1854–1917), italienischer Mathematiker, 273, 274, 280, 311 Virchow, Rudolf Ludwig Carl (1821–1902), Pathologe und Anthropologe in Berlin und Würzburg, 8, 91, 311 Voss, Sophie Marie Gräfin von (1729–1814), Oberhofmeisterin der Königin Luise von Preußen, 179 Wallis, John (1616–1703), englischer Mathematiker in Oxford, 175, 182, 183 Weber, Carl Maria (1786–1826), romantischer Opernkomponist, 7 Weber, Wilhelm Eduard (1804–1891), Physiker in Halle, Göttingen und Leipzig, 48
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Personenregister
Wegeli, Ferdinand Alexander (1803–1886), Justizrat in Ückermünde, 16 Wehrung, Georg (1880–1959), Philosoph, 162, 164, 166, 168, 171, 178–180, 311 Weierstraß, Karl (1815–1897), Mathematiker in Berlin, 38, 227, 239 Wessel, Caspar (1745–1818), norwegischer Mathematiker, 183, 190 Wette, Wilhelm Martin Leberecht de (1780–1849), Theologe in Berlin, 149, 161 Weyl, Hermann (1885–1955), Physiker und Mathematiker in Zürich, Göttingen, Princeton, 235, 255 Wheatstone, Sir Charles (1802–1875), Physiker in London, 74 Whewell, William (1794–1866), englischer Mathematiker und Chemiker in Cambridge, 127 Whitehead, Alfred North (1861–1947), englischer Mathematiker und Philosoph, XV, 181, 232, 240, 241, 266, 311 Wigand, Otto (1795–1870), Verleger und Buchhändler in Leipzig, XII, 69 Willich, Ehrenfried von (1777–1807), – evangelischer Theologe, Freund Schleiermachers, 178, 179, 308 Willich, Henriette von (geb. Mühlenfels), (1788–1840), – Frau E. v. Willichs, später Gemahlin Schleiermachers, 149, 179, 308 Willis, Robert (1800–1875), englischer Physiker in Cambridge, 74 Witt, Jan de (1625–1672), niederländischer Staatsmann und Mathematiker, 182 Wolf, Friedrich August (1759–1824), Altertumswissenschaftler in Berlin, 148 Wolff, Christian (1679–1754), Philosoph und Mathematiker in Halle, 10 Zeller, Eduard (1814–1908), Philosoph und Philosophiehistoriker, 170, 180, 312 Zeune, Johann August (1778–1853), Geograph und Literaturwissenschaftler in Berlin, 21, 24, 106